Österreichisches Jahrbuch für Politik 2021 [1 ed.] 9783205215165, 9783205215141


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Österreichisches Jahrbuch für Politik 2021 [1 ed.]
 9783205215165, 9783205215141

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Österreichisches

Jahrbuch für Politik

österreichisches jahrbuch für politik 2021

Österreichisches Jahrbuch für Politik 2021 Herausgegeben von Andreas Khol, Stefan Karner, Wolfgang Sobotka, Bettina Rausch und Günther Ofner

Böhlau Verlag Wien · Köln

Redaktion: Dr. Christian Moser-Sollmann Redaktionssekretariat: Dr. Saskia Dragosits Anschrift: Tivoligasse 73, 1120 Wien Tel.: 01/81420-19 E-Mail: [email protected] Eine Publikation der Politischen Akademie Umschlagentwurf: Rebecca Ruminak Satz: Böhlau Verlag, Wien Typographie: Corporate S und Bembo Druck und Bindung: Generaldruckerei, Szeged © Politische Akademie 2022 Alle Rechte vorbehalten Böhlau, ein Imprint der Brill-Gruppe ISBN 978-3-205-21516-5 ISSN: 0170-0847

Inhalt XI Vorwort der Herausgeber

l e i ta r t i k e l 3 bettina rausch: Polarisierung, Skandalisierung, Moralisierung. Ein

schwieriges Jahr für Demokratie und Politik 17 wolfgang sobotka: Veränderung schafft Hoffnung. Die Ära Kurz

wahlen 105 karl jurka: Von Angela Merkel zu Olaf Scholz. Deutschlands Jahr des

­Regierungswechsels 117 andrea römmele: Bundestagswahl 2021

innenpolitik 127 werner zögernitz: Unterschiede zwischen den ­Verfahren in

Untersuchungs­ausschüssen und bei Gerichten/Ermittlungsbehörden 141 hans winkler: Grüne Erpressung und linke Geschichtspolitik 149 andreas unterberger: Er oder wir: Weg mit Kurz! Hintergründe und

politische Motive der Kurz-muss-weg-Agitation 163 kathrin stainer-hämmerle: Toter Oktober. Wie die Sozialdemokratie die Koalitionskrise nicht nutzen konnte 175 barbara stelzl-marx: KPÖ-Wiedererwachen? Eine Einordnung der Verklärung

V

österreichisches jahrbuch für politik 2020

189 andreas khol: Wie aus politischen U ­ nterstellungstribunalen wieder

parlamentarische Untersuchungsausschüsse werden könnten 211 paul schliefsteiner: Ein wert(e)neutraler Staatsschutz? Über die

Vorstellung von der „­ Entpoliti­sierung“ des Politischen 223 indra collini: NEOS – aus der Mitte für die Mitte 229 peter pelinka: 2021, ein wildes Jahr – auch für die SPÖ 235 maria maltschnig: SPÖ – ein breiter Vertretungs­anspruch für sozialen

und gesellschaftlichen Fortschritt 241 antonia gössinger: Die Kickl-FPÖ. Die neuen Königsmacher? 247 lothar höbelt: « Travailler pour le roi de Prusse ». Der kontraproduktive

Kickl-Kurs 255 bernhard heinzlmaier: Die grüne Renaissance. Ökologischer

Fanatismus und ­ideologischer Reinheitswahn 263 felix ehrnhöfer/julia preinerstorfer: Der grüne Wandel 271 magnus brunner: Die ökosoziale Agenda der ­Bundesregierung. Die ökosoziale Steuerreform

2021 aus der sicht der beobachter 283 289 295 301 309 317 323 331 341

VI

christian ultsch: Das unberechenbare Jahr der ­Brüche alois vahrner: (Um-)Brüche und Überraschungen andreas koller: Vertrauenskrisen allerorten richard grasl: Die sich nicht erfüllende ­Prophezeiung michael völker: Im Infight mit der Justiz walter hämmerle: Wider die falschen Propheten meinrad knapp: Das Problem mit den Prognosen hans bürger: Die schwierigen (ungeraden) Jahre in Österreich gernot bauer: Die Prognose als Wille und ­Vorstellung

inhalt

die corona-krise im zweiten jahr 349 david christopher jaklin: Falsch- und Desinformation im z­ weiten Jahr

der Corona-Pandemie. Einflussnahme (inter)nationaler Akteure und soziale Resilienz im Kontext hybrider Bedrohungen 361 franz schausberger: Corona und Föderalismus im Jahr 2021 377 wolfgang steiner: Überlegungen zur Weiterentwicklung der (Verfassungs-)Rechtslage zum Katastrophenschutz

europa 393 othmar karas: Der EU-Billionen-Kraftakt für Grün, Sozial & Digital.

Die EU stellt mitten in der Coronakrise historische Weichen 411 karoline edtstadler: Herausforderungen im ­Verfassungsbereich.

Regelung der Beihilfe zum Suizid, ­Abschaffung des Amtsgeheimnisses 421 günther ofner: Wenn Schildbürger Energiewende spielen. Europa auf

dem Weg in ein Blackout

medien 433 rudolf bretschneider: Meinungsumfragen als ­Meinungsgegenstand

wissenschaft 441 philip plickert: „Cancel Culture“ als Bedrohung der Wissenschafts-

und Meinungsfreiheit 455 manfred prisching: Wertewandel in der Zweiten Moderne 4 77 martin dolezal/dietmar halper/klaus poier: Kampagneneffekte durch p­ ersönliche Kontakte? Ergebnisse eines im Rahmen der ­oberösterreichischen Landtagswahl 2021 in Wels durchgeführten ­Wahlkampfexperiments

VII

österreichisches jahrbuch für politik 2021

485 thomas walter köhler/christian mertens: Ein Grundsatzdenker

wird 80. Andreas Khol – eine ideengeschichtliche Bilanz 495 wolfgang bachmayer: Nicht die Demokratie verliert ­Vertrauen,

sondern Politik und Medien 505 gabriel felbermayr: Corona in Österreich. Was geschah, und was jetzt

ansteht 519 martin kocher: Reformen am österreichischen Arbeitsmarkt

zeitgeschichte 535 faruk a jeti: 30 Jahre Unabhängigkeit Slowenien und Kroatien. 547 557 569 583 587 601 6 09

623

Die Rolle österreichischer Politiker susanne raab: Mädchen und Frauen als Motoren der Integration tristan pöchacker/wolfgang sobotka: Parlamentssanierung – der Countdown läuft! alexis wintoniak: Zur Generalsanierung des P ­ arlamentsgebäudes. Eine Zusammenfassung 2011–2021 christoph leitl: Julius Raab – retro? paul m. zulehner: Von der Nachhut zur Vorhut. 130 Jahre Rerum Novarum paul mychalewicz: Die christliche Gewerkschafts­bewegung am Beginn der Ersten Republik patrick griesser/wolfgang sobotka: Simon-Wiesenthal-Preis. Über die Auszeichnung sowie die ­Bekämpfung des Antisemitismus allgemein alexander purger: Satirischer Jahresrückblick: Was 2021 zum Glück alles nicht passiert ist

631 Biografien der Herausgeber und Autoren 6 39 Personenregister 641 Sachregister

VIII

vorwort der herausgeber

Die erste Adresse bei Corporate Public & Legal Communications

RGJ-Partner. Martin Himmelbauer, Silvia Grünberger, Wolfgang Rosam, Gerhard Jarosch

Foto: Ian Ehm

Image und Reputation sind für den Erfolg eines Unternehmens zunehmend die entscheidenden Faktoren. Denn die Öffentlichkeit urteilt binnen kürzester Zeit auf Grund der auf unterschiedlichsten Kanälen verfügbaren Informationen. Dieser Entwicklung folgend setzen wir bei Rosam. Grünberger.Jarosch & Partner das gesamte Spektrum der klassischen Kommunikationsarbeit ein: Corporate, Public und Legal Communications.

Vorwort der Herausgeber Schon das Vorwort des Jahrbuchs 2020 war von der Dramatik des Jahres 2020 geprägt: von den sich überstürzenden Ereignissen, von der Pandemie, von all den Begleiterscheinungen. Wir kamen zum Schluss, das Jahr 2020 sei nur mit den Jahren 1918 und 1945 zu vergleichen. Da hatte das Jahr 2021 gerade erst begonnen. Es wurde ein noch wesentlich dramatischeres als das vorangegangene. Das Jahr 2021 war in Österreich – wie auf der ganzen Welt – von der Pandemie geprägt: von Hoffnungen mit der Anwendung des Impfstoffs, von neuerlichen Katastrophen mit neuen Varianten des Virus, mit ungeahnten Impfdurchbrüchen. Dazu kam in Österreich die Dramatik eines innenpolitischen Jahres, das durch den neuerlichen Sturz von Bundeskanzler Sebastian Kurz gekennzeichnet war. Er wurde vor allam Opfer eines Zusammenwirkens aller anderen Parteien, auch des grünen Regierungspartners. Der Entzug ihrer Unterstützung und die Androhung der Grünen, mit den anderen Oppositionsparteien dem Kanzler das Misstrauen auszusprechen, hatten seinen Rückzug aus dem Amt zur Folge. Im Zusammenhang mit dem Ibiza-Untersuchungsausschuss (künftig: UA) wurde eine explosive politische Gemengelage erzeugt. Der Befragungsstil der vier Parteien (drei Oppositionsparteien und die grüne Regierungspartei), Strafanzeigen von immunen Abgeordneten, öffentliche Diskussionen im Zeichen der Schuldvermutung, die Sprengkraft europarechtswidrig beschaffter und verwendeter elektronischer Daten, die verfassungswidrig und rechtswidrig gestalteten Ermittlungen in zahlreichen Strafverfahren (der Großteil nach monatelangen Anprangerungen und Scherbengerichten sang- und klanglos eingestellt), das ständige Durchstechen geheimer Unterlagen an Medien, die nahezu einheitliche, von Schuldvermutungen geprägte veröffentlichte Meinung, geführt von ORF und manchen Zeitungen und Zeitschriften, erreichten eine solche Intensität und Dichte, wie man es bisher nicht gekannt hatte. Unser Jahrbuch steht ganz im Zeichen der Pandemie und des „Abschusses“ des Bundeskanzlers.

XI

österreichisches jahrbuch für politik 2021

Mitherausgeber Wolfgang Sobotka würdigt die politische Bilanz der Ära Kurz.* Mitherausgeberin Bettina Rausch analysiert unter anderem die politischen Ereignisse, die zu seinem Sturz führten. Beide Beiträge stellen wir dem Jahrbuch als unsere Leitartikel voran. Mitherausgeber Andreas Khol arbeitet anhand der Analyse des Verfahrens des UA und der damit verwobenen strafrechtlichen Vorverfahren peinliche zehn Fragen an die Verantwortlichen für strafrechtliche Ermittlungsverfahren heraus. Für das Verfahren schlägt er zehn Änderungen der maßgebenden Gesetze vor. Drei andere Autoren arbeiten auf dem gleichen Feld: Werner Zögernitz stellt die Unterschiede zwischen UA und Gerichten dar, während Andreas Unterberger Hintergründe der „Kurz muss weg!“Agitation beleuchtet. Hans Winkler schildert die „Grüne Erpressung“, die den Rückzug von Kurz bewirkte. Ein großer Teil des Jahrbuchs ist der Entwicklung der fünf im Natio­ nalrat vertretenen Parteien gewidmet – sie alle haben sich im Zuge der Pandemie und der Kanzler-Jagd substantiell verändert. Kathrin Stainer– Hämmerle befasst sich mit dem Ende der Vranitzky-Doktrin in der SPÖ, welche die Zusammenarbeit der SPÖ mit der FPÖ betrifft. Barbara StelzlMarx aus Graz konzentriert ihren Beitrag auf das „KPÖ-Wiedererwachen“ in dieser Stadt und ordnet die „Verklärung der KPÖ“ politisch ein. Eine Reihe von Autoren runden diesen Schwerpunkt durch Untersuchungen zum Wertewandel ab: Manfred Prisching, Thomas Köhler und Christian Mertens sowie Wolfgang Bachmayer. Eine erlesene Runde von Spitzenjournalisten analysiert das Jahr 2021, das die Problematik aller Prognosen unter Beweis stellt: Pandemiepro­gno­ sen, Voraussagen von Wirtschaftskatastrophen, der Regierungswechsel in Deutschland, andere politische Prognosen. Alle Autoren bestätigen das Phänomen der fehleranfälligen Prognosen in unruhigen politischen Zeiten. Aus ihm entstand, befördert durch entsprechende Berichterstattung, ein Vertrauensverlust in die Regierenden. Eine gängige Vorgangsweise war dafür ursächlich: Politiker werden bedrängt, Fragen zur ungewissen Zukunft zu * Ein außergewöhnliches Jahr und ein außergewöhnlicher Politiker bringen ein außergewöhnliches Jahrbuch. Um der Nachwelt das Außergewöhnliche zu vermitteln, bringen wir 86 Seiten KurzBilanz und Würdigung. Geplant war ein Drittel davon … wir konnten einfach nicht kürzen, die Fakten müssen auf den Tisch und im Jahrbuch auf viele Jahre leicht zugänglich bleiben! Andreas Kohl.

XII

leitartikel/vorwort

beantworten und geben schließlich dem Drängen nach. Treten dann später ihre stets vorsichtig und zögernd geäußerten voraussichtlichen Entwicklungen nicht ein, weil sich fundamental neue und unerwartbare, nicht vorhersehbare „Game Changer“ einstellten (Mutationen, Impfdurchbrüche, verändertes Ansteckungsverhalten u. v. a. m.), werden aus Prognosen plötzlich Versprechen, aus dem Nichteintreten der Prognose wird flugs ein Bruch eines Versprechens abgeleitet und aus der Prognose plötzlich eine Lüge des Politikers und daraus der Schluss: Alle Politiker lügen. Ein weiterer großer Schwerpunkt betrifft die Verfassungsfragen, die mit der Pandemie und der allgemeinen Entwicklung zusammenhängen: Karoline Edtstadler, Franz Schausberger und Wolfgang Steiner stellen die verfassungsrechtlichen Änderungsnotwendigkeiten des nationalen und internationalen Katastrophenschutzes dar: Transparenz (das moralisierende elfte Gebot des Zeitgeists) und den mangelhaften Grundrechtsschutz bei der Verwertung gestohlener Daten und von elektronischen Daten überhaupt. Klimaschutz, Wirtschaft und Arbeitsmarkt, ökosoziale Steuerreform, Herausforderungen der „grünen“ Energiepolitik, Staatsfinanzen: Auf diesen Gebieten geschahen wesentliche Veränderungen – ob es Reformen sind, wird sich weisen. Jedenfalls befassen sich damit im Jahrbuch Spitzenwissenschaftler, Politiker und Wirtschaftsfachleute – so Mitherausgeber Günther Ofner, Finanzminister Magnus Brunner, der neue Chef des WIFO Gabriel Felbermayr, Arbeitsminister Martin Kocher u. a. m. Wichtige Einzelthemen behandeln Othmar Karas (gerade eindrucksvoll zum 1. Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments gewählt), der den neuen mehrjährigen Finanzrahmen der EU von 2021 bis 2027 analysiert. Faruk Ajeti behandelt die Rolle österreichischer Politiker bei der Unabhängigkeit von Kroatien und Slowenien vor 30 Jahren. Susanne Raab stellt die Integrationspolitik dar – Integration vor Zuwanderung. Paul Michael Zulehner würdigt die vor 130 Jahren verkündete päpstliche Enzyklika Rerum Novarum, mit der die katholische Soziallehre begründet wurde. Vor 130 Jahren wurde auch Julius Raab geboren, Vater von Staatsvertrag und Neutralität und Begründer der Sozialen Marktwirtschaft in Österreich. Ihn würdigt Christoph Leitl. Am Staatsfeiertag 2022 wird Wolfgang Sobotka als Nationalratspräsident in das neu gestaltete, ausgebaute und vollkommen instand gesetzte Par-

XIII

österreichisches jahrbuch für politik 2021

lament am Ring einladen. Zusammen mit Tristan Pöchhacker stellt er in einem Artikel das Parlamentsgebäude in den größeren Zusammenhang seiner Bedeutung für die österreichische Demokratie und erläutert auch den neu geschaffenen, jährlich verliehenen Simon-Wiesenthal-Preis des Parlaments. Alexis Wintoniak schildert dieses außergewöhnliche Projekt in seinen bautechnischen Details und Abläufen. Wir hoffen, dass auch dieses Jahrbuch seinen Weg in die Bibliotheken von jenen findet, die sich als Wissenschaftler, Medienarbeiter oder Politiker in Stadt und Land mit der Gestaltung der Geschicke unseres Landes befassen! Wien, am 25. Jänner 2022 Die Herausgeber

XIV

leitartikel

bettina rausch

Polarisierung, Skandalisierung, Moralisierung Ein schwieriges Jahr für Demokratie und Politik

Das Jahr 2021 war – auch – geprägt von Fragen politischer Kultur und Diskurs­ fähig­keit. Der Umgang mit der Volkspartei und dem ehemaligen Bundeskanzler Sebastian Kurz sowie der Umgang mit der Corona-Pandemie zeigt Herausforde­ rungen, die Bestand haben werden. Polarisierung, Skandalisierung, Moralisierung, parteipolitische Instrumentalisierung von parlamentarischen Einrichtungen und staatsanwaltlichen Ermittlungen und das Messen mit zweierlei Maß sind Entwicklungen, die an den Grundfesten von Demokratie und Rechtsstaat rütteln. Zu oft hat die politische Auseinandersetzung Grenzen überschritten. Überlegungen zum Verständnis einer Bürgergesellschaft sind eine Chance, das Vertrauen in Demokratie und Politik wieder zu stärken.

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österreichisches jahrbuch für politik 2021

Der traurige Höhepunkt eines Jahres, das uns mit vielen Fragen nach der Zukunft von politischem Anstand, Debattenkultur und demokratischer Auseinandersetzung zurücklässt, war wohl das Cover einer „satirischen“ Beilage in der Wiener Stadtzeitung Falter. Aus der Ablehnung der Volkspartei im Allgemeinen und der Person Sebastian Kurz im Besonderen haben die Zeitung und ihre in den sozialen Medien höchst präsenten Akteure nie einen Hehl gemacht, journalistische Äquidistanz musste hinter die persönliche Meinung mit moralischem Absolutheitsanspruch zurücktreten. Zu Jahresende, Kurz war bereits zurückgetreten, gestalten diese Akteure also ein Cover, das die Lebensgefährtin von Kurz mit entblößter Brust und Baby im Arm zeigt, rund um sie mehrere Männer, die wohl Kurz und andere Politiker darstellen sollen. Eine tiefergehende – gar politische – Botschaft erschließt sich Betrachterinnen und Betrachtern nicht. „Witzig finden das wohl nur die Macher der Zeitschrift selbst“ urteilt die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“1; selbst Hans Rauscher bezeichnet das Cover in der Zeitung „Der Standard“ – Autor wie Medium der Kurz-Nähe völlig unverdächtig – als „Übergriff und überhaupt nicht lustig“2. Abgesehen von Ärger und Unverständnis, die die dargestellte Mutter – eine Privatperson ohne politische Funktion – und ihr familiäres, persönliches Umfeld empfinden, stellt sich die Frage, wie es so weit kommen konnte. Immerhin handelt es sich ja nicht um einen Tweet, der, möglicherweise im Zustand emotionaler Erregung und ohne Kontrollinstanz, auf die Schnelle abgesetzt wurde, sondern um ein Cover, an dem von der Idee über die Umsetzung bis hin zum Druck mehrere Menschen beteiligt waren. Die Aufmerksamkeit für Sexismen aller Art ist in den letzten Jahren gestiegen, auch unbedachte Alltagssexismen werden heute zu Recht thematisiert und kritisiert. Gerade der erwähnte „Falter“ leistet dazu wichtige und positive Beiträge. Umso verstörender ist es für viele, dass ebendieses Medium sich der Sexualisierung in derart primitiver Form bedient. Es drängt sich der Eindruck auf, dass moralisch Verwerfliches legitimiert wird, wenn es sich nur gegen die vermeintlich „Richtigen“ richte. Man stelle

1 https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kritik-an-sebastian-kurz-satire-sexistisch-undgeschmacklos-17699244/witzig-finden-das-wohl-nur-die-17699243.html 2 https://www.derstandard.at/story/2000132117477/schuss-ins-knie

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bettina rausch    |    polarisierung, skandalisierung, moralisierung

sich nur vor, ein bürgerliches Medium würde die kommunistische Grazer Bürgermeister Elke Kahr oder die SPÖ-Vorsitzende Pamela Rendi-Wagner in einer Fotomontage mit entblößter Brust zeigen, um damit was auch immer zu illustrieren. Die Aufregung wäre riesengroß und das zu Recht. Forderungen nach Inseratenstopps und Streichung der Presseförderung würden laut. Den Falter betreffend war davon nichts zu hören. Zweierlei Maß scheint sich zu einer legitimen Maxime zu entwickeln, wie wir im Jahr 2021 mehrmals erleben konnten. Das Falter-Cover war nur eine besonders drastische Grenzüberschreitung einer bedenklichen Entwicklung.

Demokratie und politische Kultur Von einem Jahr mit besonderen Herausforderungen für Demokratie und politische Kultur sprechen und schreiben Beobachterinnen und Beobachter des politischen Geschehens, auch viele politische Akteurinnen und Akteure – quer durch die politischen Spektren, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, je nach Standort – schließen sich dem Befund an. So arg sei es noch nie gewesen, wird ein Höhepunkt einer durchaus schon länger andauernden Entwicklung konstatiert. „Verrohung der Sprache“, „Spaltung der Gesellschaft“ und „Diffamierung politischer Mitbewerberinnen und Mitbewerber“ sind häufige Beschreibungen der kritisch beleuchteten Entwicklungen. Wobei man sich in Österreich nicht auf einer „Insel der Unseligen“ wähnen sollte. Ähnliche Entwicklungen werden international, jedenfalls in westlichen Demokratien, beobachtet, spätestens seit der ersten Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten (November 2016) und dem Referendum für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union (Juni 2016). Der britische Journalist und Politikwissenschaftler David Goodhart analysiert anhand dieser beider Beispiele, dass breite Bevölkerungsgruppen, die durch lokale und regionale Verwurzelung, niedrigere formale Bildung und geringere Einkommen charakterisiert sind, ihre Anliegen im politischen Diskurs nicht ausreichend wiederfänden, da dieser von elitären Gruppen und deren Anliegen dominiert werde3. Den

3

Goodhart, David (2017): The Road to Somewhere: The Populist Revolt and the Future of Politics.

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österreichisches jahrbuch für politik 2021

Verlauf gesellschaftlicher Spaltung sieht er also zwischen den beiden Gruppen, die er „Somewheres“ und „Anywheres“ nennt. Im Österreich des Jahres 2021 waren es zwei Themen, die oben genannte Entwicklungen befeuert haben: die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (so wie im größten Teil der Welt) sowie die Person Sebastian Kurz (als österreichisches Spezifikum). Andere Themen mit ähnlichen Konfliktpotenzialen – wie Klimaschutz, Migration oder die Zukunft der Europäischen Union, um nur beispielhaft drei zu nennen – wurden in den Hintergrund gedrängt, was uns aber nicht zur Illusion führen sollte, dass sie nicht wiederkämen.

Tonalität und Emotionalität politischer Kritik Sebastian Kurz hat Österreich zehn Jahre lang geprägt, als Staatssekretär, als Außenminister und zuletzt als Bundeskanzler4. Viele Errungenschaften dieser zehn Jahre werden noch nachhaltig positiv wirken. Zum Thema Integration hat er einen pragmatisch-positiven Zugang unter dem Motto „Integration durch Leistung“ etabliert, Österreichs Rolle in Europa und in der Welt hat er gestärkt – von der Ukraine-Krise über europapolitische Aspekte in der Migrationsfrage und als Vorkämpfer für den EU-Beitritt der Staaten des Westbalkans bis hin zu den engen Beziehungen zu Israel -, lange verschleppte Reformprojekte wie die Zusammenlegung der Krankenkassen hat er umgesetzt, den Familienbonus eingeführt, sein zentrales Anliegen der Entlastung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern konsequent in mehreren Stufen vorangetrieben und schließlich die Ökosoziale Steuerreform auf den Weg gebracht. Aber es waren über all die Jahre stets weniger die konkreten politischen Projekte, an den sich Kritikerinnen und Kritiker abgearbeitet haben, vielmehr waren es die politische Persönlichkeit und auch die private Person Sebastian Kurz selbst, die stetigen Angriffen ausgesetzt war. Hass und Häme haben ihn von Anfang an begleitet. Selten hat ein Politiker (und auch keine Politikerin) in Österreich stärker polarisiert: Auf

4 Vgl. für eine ausführliche Darstellung des politischen Weges von Sebastian Kurz den Beitrag von Wolfgang Sobotka in diesem Jahrbuch für Politik 2021.

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bettina rausch    |    polarisierung, skandalisierung, moralisierung

der einen Seite Fans und persönliche Unterstützerinnen und Unterstützer in einem in der österreichischen Politik bisher nicht bekannten Ausmaß, vergleichbar allenfalls mit der Unterstützung für Bruno Kreisky (Bundeskanzler 1970–1983), wenn auch in anderer Form in einer anderen Zeit. Auf der anderen Seite Kritikerinnen und Kritiker, die mit Verve und Inbrunst alles verteufelten, was er tat, sagte oder man ihm irgendwie zuschreiben konnte. Ähnlich, wenn auch aus heutiger Sicht betrachtet doch noch wesentlich harmloser, ging es Wolfgang Schüssel (Bundeskanzler 2000–2006). Es drängt sich das Gefühl auf, dass es vor allem Bundekanzler aus der Volkspartei sind, die die volle Wucht der Kritik in überbordender Emotionalität trifft, wenn auch erst in diesem Jahrtausend – den letzten Volkspartei-Bundeskanzler vor Schüssel (Josef Klaus, Bundeskanzler 1964–1970) betreffend sind derartige Anfeindungen nicht überliefert. In Rede steht hier Kritik, die weit über – in einer pluralistischen Demokratie immer erlaubte, ja sogar notwendige – sachliche Kritik hinausgeht, manchmal auch im Inhalt, vor allem aber in Tonalität und Emotionalität. Es ist immer eine Gratwanderung, wenn Vertreterinnen und Vertreter der Volkspartei monieren, dass es für eine Meinungselite einfach nicht okay sei, wenn ein Bürgerlicher Bundeskanzler ist. Auffällig ist jedenfalls, dass die Anfeindungen dann am stärksten sind, wenn der Rückhalt der Angefeindeten in der Bevölkerung besonders groß ist – man denke an die Wahlergebnisse von Wolfgang Schüssel 2002 (42,3 %) und Sebastian Kurz 2019 (37,5 %). Bemerkenswert ist speziell im Fall von Kurz der auffällige Gleichklang von Links und Rechts. Unter dem Motto „Kurz muss weg“ haben sich SPÖ und FPÖ gleichermaßen wiedergefunden, die SPÖ-Vorsitzende Pamela Rendi-Wagner war sogar bereit, einen SPÖ-Parteitagsbeschluss schlicht zu ignorieren, um mit der FPÖ gemeinsame Sache in einer Koalition gegen Kurz zu machen. Der gemeinsame Feind in einer Person steht offenbar über inhaltlichen Grundsätzen.

Die Justiz ermittelt Es waren im Jahr 2021 weniger inhaltliche Auseinandersetzungen, keine Differenzen in der Sache, die die Kritik an Kurz befeuert hätten. Vielmehr

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österreichisches jahrbuch für politik 2021

war es ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss5 in K ­ombination mit Ermittlungen der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, der die Munition für die Jagd auf Kurz liefern sollte. Obwohl der eigentliche Zweck eines Untersuchungsausschusses die Aufklärung politischer Verantwortung sein sollte, stand für die vereinigte Opposition das Ergebnis schon von Anfang an fest: Kurz ist schuld, Kurz muss weg. So diente der Untersuchungsausschuss nur mehr dazu, Auskunftspersonen „vorzuführen“, als wären sie Beschuldigte vor einem Tribunal und Informationen aus staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren und anderen Quellen, die aus guten – rechtsstaatlichen – Gründen nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind, an ebendiese Öffentlichkeit zu zerren. So werden wichtige parlamentarische und rechtsstaatliche Verfahren für politische Kampagnenführung anstatt sachliche Aufklärung instrumentalisiert. Ebendies trägt zum Verlust des Vertrauens in Demokratie und Rechtsstaat bei und führt letztlich zu Misstrauen bis hin zu offener Ablehnung „der Politik“ im Allgemeinen. Die Instrumentalisierung der Justiz für parteipolitische Zwecke war ein wesentliches Element der Kampagne gegen Kurz. Die Politische Akademie hat die Problematik schon im Frühjahr bei einem Online-Symposium6 thematisiert, handelt es sich doch um eine Methode, die auch international immer wieder angewandt wird, auch gegen Politikerinnen und Politiker. Die Vorgangsweise ist immer ähnlich: Es kommt zu einer Anzeige – gerne auch anonym – die Justiz ermittelt, wie es ihr Job ist, die Medien berichten, meist aufgeregt hechelnd, dass die Justiz ermittle, Details aus den Ermittlungen gelangen an die Öffentlichkeit – tendenziös und ohne Einordung in Gesamtzusammenhänge. Am Ende entsteht das Bild erwiesener Schuld, bevor das Ermittlungsverfahrungen überhaupt abgeschlossen ist, geschweige denn ein unabhängiges Gericht Recht gesprochen hat. Die Vorverurteilung funktioniert, der rechtlich notwendige Hinweis auf die Unschuldsvermutung verkommt zur formellen Makulatur. Zu Ende des Jahres 2021 kann man in einer Zwischenbilanz festhalten, dass viele der im Symposium der Politischen Akademie geäußerten

5 Vgl. zum Untersuchungsausschuss Khol, Andreas (2021): Der Ibiza-Untersuchungsausschuss auf abschüssigem Weg, in: Khol et al: Jahrbuch für Politik 2020 6 https://politische-akademie.at/de/themen2/nachbericht-die-justiz-ermittelt

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bettina rausch    |    polarisierung, skandalisierung, moralisierung

Sorgen Wirklichkeit wurden. Monatelang wurde dem Nationalpräsidenten vorgehalten, zur Leitung des Untersuchungsausschusses ungeeignet zu sein, weil Ermittlungen gegen ihn liefen. Die Ermittlungen sind inzwischen eingestellt, was aber nur mediale Randnotizen wert war, Entschuldigungen seitens politischer Mitbewerberinnen und Mitbewerber für die ungerechtfertigten Vorwürfe blieben aus. Ebenfalls eingestellt wurden inzwischen Verfahren gegen Hartwig Löger, gegen Gernot Blümel, gegen Mitarbeiter des Bundeskanzleramtes – mit ähnliches Ergebnissen, nämlich kaum medialer Aufmerksamkeit und keinerlei Entschuldigungen. Es ist der Justiz nicht vorzuwerfen, dass sie Ermittlungen anstellt, wenn Verdachtsmomente angezeigt werden. Sie muss sich aber den Vorwurf gefallen lassen, den Vorverurteilungen nicht mit aller Vehemenz entgegenzutreten und den Rechtsstaat zu verteidigen – immerhin handelt es sich bei der Unschuldsvermutung nicht nur um eine Bestimmung in der österreichischen Strafprozessordnung, sondern sogar um einen Grundsatz in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Was an den konstruiert wirkenden Vorwürfen gegen Kurz dran ist, bleibt zu Ende des Jahres noch offen – die Staatsanwaltschaft konnte sich bis zu Redaktionsschluss nicht zu einer Einstellung der Ermittlungen durchringen, aber auch keine rechtlich überzeugenden Argumente vorbringen. Aber fix ist: Was mit demokratischen Wahlen nicht erreicht wurde, ist auf diese Art gelungen. Am 2. Dezember 2021 trat Sebastian Kurz aus allen politischen Ämtern zurück.

Pandemie und Polarisierung Das zweite Thema, das die politischen Diskussionen des Jahres geprägt hat, war natürlich Corona. Eigentlich das erste, weil das aus Sicht der meisten Menschen wichtigere. Seit März 2020 beeinflusst, ja beherrscht das Coronavirus das tägliche Leben von uns allen. In der ersten Phase der Pandemie, im ersten Lockdown, ging ein Ruck von Solidarität und Zusammenhalt durch die Gesellschaft, die ersten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen (von Lockdown bis zu Wirtschaftshilfen und Kurzarbeit) wurden im Nationalrat einstimmig beschlossen, von einem „politischen Schulterschluss“ war die Rede.

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Doch im Verlauf der Pandemie veränderte sich das Bild. Solidarität und Zusammenhalt wichen Individualismen und Interessenskonflikten. Nicht nur Entscheidungen von Regierung und Parlament wurden infrage gestellt, sondern auch die Erkenntnisse von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wurden angezweifelt. Verschwörungstheorien boomten und kommen in überraschend breiten Gesellschaftsschichten an. Politische Parteien wechselten politisches Kleingeld, anstatt einen positiven Diskurs im Sinne immer besserer Lösungen zu führen. Die Konflikte verhärteten, die Sprache verrohte – im Parlament, in den Medien und ja, auch in Freundeskreisen und Familien. Gesucht werden Schuldige, nicht Lösungen. Phänomene, die sich wiederrum in allen westlichen, demokratischen Gesellschaften finden. Dass die Impfung die einzige Chance für eine nachhaltige Eindämmung der Pandemie darstellt, ist in der medizinischen Fachwelt weiterhin weithin unumstritten. Am 27. Dezember 2020 wurde in Österreich die erste Impfung verabreicht, nach anfänglicher Impfstoffknappheit (inklusive des Kurzzeit-Phänomens der „Impf-Vordrängler“) stand seit dem ­Sommer 2021 ausreichend Impfstoff für alle zur Verfügung. Dennoch blieb die Impf­ quote in Österreich unter den epidemiologischen Notwendigkeiten, die Einführung einer Impflicht wurde seitens der Bundesregierung in Aussicht gestellt7. Eine Studie8 der Statistik Austria zeigt, dass höhere Bildung und Erwerbstätigkeit mit einer höheren Impfquote einhergehen. Die Demonstrationen der Impfgegnerinnen und Impfgegner sind der (hoffentlich nicht nur vorläufige) Höhepunkt einer Zuspitzung – und ein exemplarisches Beispiel für Entwicklungen, die uns Sorge bereiten sollten, und zwar in vielfacher Hinsicht. Während die Forderung nach dem „Recht auf eigene Meinung“ zu Recht hochgehalten wird, wird sie gleichzeitig unzulässig überinterpretiert als ein „Recht auf eigene Fakten“, wenn etwa auf den Demonstrationen faktenwidrig behauptet wird, dass die Impfung nicht wirke oder die Intensivstationen vorwiegend von Patientinnen und Patienten mit Impfschäden belegt seien. Auch auf einer Demonstration von einer

7 Zu Redaktionsschluss war die Impflicht noch nicht vom Parlament beschlossen. 8 https://statistik.at/web_de/presse/127333.html

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bettina rausch    |    polarisierung, skandalisierung, moralisierung

Diktatur zu sprechen, wo doch gerade in einer Diktatur selbige Demonstration verboten wäre, ist unlauter. Gleichermaßen muss man einer pauschalen Verunglimpfung der Demonstrantinnen und Demonstranten entgegenwirken. Viele von ihnen sind geplagt von Sorgen und Ängsten, die man ihnen nicht vorwerfen sollte und die man ihnen vor allem nicht durch Vorwürfe nehmen kann. Sie alle als „Rechte“ zu bezeichnen, ist weder richtig noch sinnvoll. Ungeachtet persönlicher Meinungen und Präferenzen sollte man in einer pluralistischen Demokratie allen das Recht auf Demonstrationen, das Recht auf die öffentliche Bekundung ihrer Sorgen und Anliegen zugestehen – das gilt für Impfgegnerinnen und Impfgegner genauso wie für Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten. Auch hier wird fallweise mit zweierlei Maß gemessen. Nach der Solidarisierung folgte also die Politisierung, mit bedenklichen Folgen für die Demokratie – Institutionen wie Parlamente, Regierungen, politische Parteien und auch Politikerinnen und Politiker als Trägerinnen und Träger von Demokratie kommen unter Druck.

Politik als demokratischer Diskurs Insgesamt ging im Jahr 2021 eine Entwicklung weiter, wonach „die Politik“ grundsätzlich unter Negativ-Verdacht steht, während das Eintreten für „die Demokratie“ selbstverständlich zum guten Ton gehört. Der offensichtliche Widerspruch wird gerne übersehen – ist doch „Demokratie“ ohne „Politik“ nicht denkbar (umgekehrt gibt es in autoritären Staatsformen durchaus auch Politik). Demokratie bedeutet im Wortsinn die „Herrschaft des Volkes“, im modernen Verständnis also vor allem die Auswahl der politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger durch die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger aufgrund des gleichen, unmittelbaren, persönlichen, freien und geheimen Wahlrechts9. Der Begriff „Politik“ geht zurück auf die griechische Polis und bezeichnet seitdem die Regelung des Zusammenlebens in einem Gemeinwesen. Nach Thomas Meyer, deutscher Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Demokratietheorie, erzeuge politisches

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Vgl. in Bezug auf den Nationalrat Art. 26 Bundes-Verfassungsgesetz

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Handeln „diejenigen Regelungen des Zusammenlebens, die für die ganze Gesellschaft verbindlich gelten sollen“, jede Gesellschaft bedürfe solcher verbindlicher Regelungen10. Es ist heute en vogue, „Ent-Politisierung“ zu fordern und dabei zu vergessen, dass man damit in Wahrheit der „Ent-Demokratisierung“ das Wort redet. In Zusammenhang mit der geplanten Einrichtung einer Bundesstaatsanwältin bzw. eines Bundesstaatsanwalts wird gerne gefordert, er oder sie solle „unpolitisch“ sein. Nun, eine persönliche politische Meinung zu haben und an Wahlen teilzunehmen und sich dabei für eine Partei oder Person zu entscheiden, wird man ihr oder ihm ja wohl doch nicht absprechen (können). Bleibt die Frage, wer sie oder ihn einsetzen solle und wem sie oder er verantwortlich sein soll. Das Parlament als die demokratisch gewählte Vertretung der Bürgerinnen und Bürger erscheint logisch, auch im Sinne der Checks und Balances zwischen den drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative. Ein anderes Gremium einzusetzen (wobei sich wieder die Frage stellt, wer denn dieses Gremium einsetzt), mag charmant unpolitisch erscheinen, ist aber eben gleichzeitig auch undemokratisch, entzieht die Person der demokratischen Kontrolle. Die fortwährende Forderung nach der Verlagerung von Entscheidungen an vorgeblich unpolitische Gremien ist nichts anderes als ein Raubbau an der Demokratie. Sie ist – ob bewusst oder unbewusst – Ausdruck einer ablehnenden, ja destruktiven Grundhaltung gegenüber der Demokratie. Demokratie bedeutet immer Abwägung, Auseinandersetzung mit verschiedenen Meinungen, Diskussion und auch Reibung. Das ist das Wesen von Demokratie und auch gut so – genau darum soll das an den dafür vorgesehenen öffentlichen demokratischen Orten stattfinden. Die Alternative ist nämlich nicht mehr – oder gar bessere – Demokratie, sondern im Gegenteil: keine Demokratie. Anders gesagt: Politik, im Sinne der Gestaltung des Zusammenlebens, findet auf jeden Fall statt – die Frage ist nur, ob sie demokratisch oder undemokratisch stattfindet. Der geeignete Ort für den demokratischen Aushandlungsprozess, ja auch für die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen

10 Meyer, Thomas (2000): Was ist Politik?

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Zugängen ist in einer Demokratie das Parlament mit den gewählten Repräsentantinnen und Repräsentanten des Volkes.

Bürgergesellschaft Der Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern, von Wissenschaft und Interessenvertretungen steht dies nicht entgegen, ganz im Gegenteil. Dies in einem demokratischen Sinn weiterzuentwickeln, institutionell und mehr noch habituell, kann dazu beitragen, das Vertrauen in demokratische Institutionen und das Verständnis für demokratisch zustande gekommene Entscheidungen entscheidend zu fördern. Wir dürfen uns dabei nur nicht von Wenigen den Blick auf die Vielen verstellen lassen. Wenn etwa – speziell aus linken Kreisen – die Einbindung einer ohnehin nur diffus definierten „Zivilgesellschaft“ gefordert wird und damit gemeint ist, deren Meinungen letztlich auch zu folgen, wird das demokratische Prinzip von einer Oligarchie, der Herrschaft von wenigen, abgelöst. Auch dies ist eine Variante der „Spaltung der Gesellschaft“, nämlich die Spaltung zwischen einer besser gebildeten Elite, die sich gerne auch moralisch überlegen fühlt, und den anderen, die mit vielen Themen und Zugängen – Stichwort „wokeness“, um nur ein aktuelles Beispiel zu nennen – nichts mehr anfangen können. Ähnliche Überlegungen von David Goodhart11 wurden bereits oben dargelegt. In meinem Verständnis einer Bürgergesellschaft12 als Gemeinschaft freier und verantwortlicher Menschen ist tatsächlich jeder Mensch gleich viel wert, ihr und sein Wert liegt im Mensch-Sein an sich und nicht an einer moralischen Einordung. Das Anerkennen unterschiedlicher Moralvorstellungen soll und muss uns nicht daran hindern, für die eigene Moral zu werben. Im Sinne des bekannten Böckenförde-Diktums, wonach der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garan-

11 Goodhart, David (2017): The Road to Somewhere: The Populist Revolt and the Future of Politics. 12 Vgl. Rausch, Bettina (2021): Eine Gemeinschaft freier und Verantwortlicher Menschen, in: Mazal/Rausch: Bürgergesellschaft heute.

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tieren könne, sehe ich das Anerkennen der Menschenwürde als eine dieser Voraussetzungen. Zwar findet sich die Pflicht zur Achtung der Menschenwürde auch in Gesetzen, mit Leben erfüllt wird sie aber erst durch individuelles Handeln aus eigener Überzeugung heraus – und weit über das, was Gesetze regeln können, hinaus. Bürgerin oder Bürger zu sein fordert uns auf, aufeinander zuzugehen, einander mit Wertschätzung zu begegnen und schlichtweg anständig miteinander umzugehen. Anstand13 in Politik, Demokratie und Gesellschaft kann man nicht vorschreiben, Anstand müssen wir täglich leben und einander vorleben. Eine Bürgergesellschaft in diesem Sinn versteht den Bürger und die Bürgerin als Mitgestalterinnen und Mitgestalter des Gemeinwesens, ganz im Sinne der Entstehung des Bürgerbegriffs in der griechischen Polis14. Die Einladung zur Mitgestaltung bedeutet aber gleichermaßen auch, den Menschen an sich und auch mit seinen oder ihren Meinungen zu akzeptieren, unabhängig davon, ob man sie teilt. Das Abwerten von Meinungen trägt nicht dazu bei, Engagement zu fördern oder die Akzeptanz demokratischer Institutionen und demokratischer Entscheidungen zu verbessern. Die Alternative ist wenig erbauend und in Ansätzen durchaus schon erkennbar: Menschen wenden sich ab – von Parteien, von Politik und in letzter Konsequenz dann von der Demokratie. Trends wie „Cancel Culture“ – das Unterdrücken unliebsamer Meinungen – sind Wasser auf den Mühlen der Populisten (deren ureigenster Kern ja das Narrativ „Wir das Volk gegen die da oben“ ist15). Das Gegenteil brauchen wir: Nämlich das Auseinandersetzen mit unterschiedlichen Meinungen, ein Aufeinander-Zugehen, ein EinanderZuhören16. Wenn die Corona-Pandemie überwunden ist, als Ereignis, das unser Leben tagtäglich bestimmt und uns fordert, und andere Themen wie-

13 Vgl. Hacke, Axel (2017): Über den Anstand in schwierigen Zeiten und wie wir miteinander umgehen 14 Vgl. Varga, Simon (2021): Von der Bürgergemeinschaft zur Bürgergesellschaft. Politische Partizipation in Antike und Gegenwart, in Mazal/Rausch (Hg.): Bürgergesellschaft heute 15 Vgl. Müller, Jan-Werner (2016): Was ist Populismus? 16 Vgl. Hasselhorn, Benjamin (2021): Gesucht: Brückenbauer – Überlegungen zur Polarisierung westlicher Gesellschaften und ihrer Überwindung, in Mazal/Rausch (Hg.): Bürgergesellschaft heute

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der stärker in den öffentlichen Diskurs kommen, auch Themen bei Gesprächen am Stammtisch, am Arbeitsplatz, in der Familie, werden, wird das umso wichtiger sein. Klimakrise, Migration, die Zukunft der Europäischen Union und viele andere Probleme werden uns als Gesellschaft fordern und erfordern eine neue Gesprächskultur: Nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit ausgestreckter Hand. Nicht mit moralischer Überlegenheit, sondern mit menschlicher Wertschätzung. Nicht mit dem Absolutismus der eigenen Meinung, sondern dem echten Interesse an anderen Meinungen. In einer Demokratie ist jede Stimme gleich viel wert, in einer Bürgergesellschaft ist jede Bürgerin und jeder Bürger nicht nur gleich viel wert, sondern auch gleichsam wichtig, ja entscheidend. Es kommt auf Engagement und Einsatz, auf Haltung und Anstand, auf das Tun und Unterlassen eines und einer jeden Einzelnen an.

Literatur (teils im Text angesprochen, teils als Quelle der Inspiration für den Text und darüber hinaus) Goodhart, David: The Road to Somewhere: The Populist Revolt and the Future of Politics, 2017. Hacke, Axel: Über den Anstand in schwierigen Zeiten und wie wir miteinander umgehen, 2017. Khol, Andreas/Karner, Stefan/Sobotka, Wolfgang/Rausch, Bettina/Ofner, Günther (Hg.): Jahrbuch für Politik 2020, 2021. Mazal, Wolfgang/Rausch, Bettina (Hg.): Bürgergesellschaft heute. Grundlagen und politische Potenziale, 2021. Meyer, Thomas: Was ist Politik?, 2000. Precht, Richard David: Von der Pflicht, 2021. Müller, Jan-Werner: Was ist Populismus?, 2016. Weimer, Wolfram: Sehnsucht nach Gott, 2021.

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Veränderung schafft Hoffnung Die Ära Kurz „Sehr geehrte Damen und Herren! Veränderung schafft Hoffnung. Sie macht manchmal auch Reibung notwendig. Veränderung schafft Chancen, und sie schafft mancherorts auch Unsicherheit. Veränderung ist etwas, über das man immer unterschiedlicher Meinung sein kann, aber Veränderung ist nichts, das sich aufhalten lässt. Die Welt hat sich massiv verändert. Wir betreten heute ein völlig neues Spielfeld mit neuen Spielern in aller Welt, mit neuen Regeln und vor allem auch mit neuen Geschwindigkeiten. Insbesondere Globalisierung, Digitalisierung und Mobilität haben unser Österreich nicht nur verändert, sie werden unser Land immer stärker verändern.“1

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Kurz, S. (20. Dezember 2017), Rede zur Regierungserklärung, Parlament.

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Wer solche Gedanken an zentrale Stelle einer Regierungserklärung setzt, der ist bereit Risiken einzugehen und trotzdem Verantwortung zu übernehmen. Wenn man weiß, dass die neurobiologische Forschung der letzten Jahre ein Bild zeichnet, dass mehr als die Hälfte der Menschen in Mitteleuropa Veränderungen nicht zu ihrer primär gezeigten Lebenshaltung machen und nur ein kleiner Teil, eine kleine Gruppe, weniger als ein Fünftel der Menschen aktiv das Neue suchen und Veränderung selbstredend als Chance begreifen,2 dann bedient man mit dieser Erklärung der politischen Ausgangsituation einer Gesetzgebungsperiode keinen Mainstream. Sebastian Kurz – dem seine Mitbewerber und so manche Kommentatoren immer wieder vorhielten, sich nur nach dem Mainstream zu orientieren – hat klar gezeigt, wohin sich Österreich und auch die Europäische Union entwickeln müssten, dass es Veränderungen braucht und er dieses Ziel vor Augen habend, den Weg dahin aktiv mitgestalten möchte. Bei aller Affinität zu jeglichen Medien und situationsbedingter Kommunikationsfähigkeit zeigt diese Haltung sehr deutlich, Kurz geht es um den großen Wurf, die Vision und nicht um die kurzfristige mediale Wirksamkeit. Wer die Ära Kurz verstehen will, muss auch Sebastian Kurz verstehen wollen: Was macht seine Persönlichkeit aus? Was ist sein Verständnis von Politik? Welche Inhalte und welche Personen bilden sein politisches Umfeld? Selten zuvor wurde die ÖVP in einem bestimmten Zeitabschnitt so nachhaltig von einer Person nach außen und innen geprägt, wie durch Sebastian Kurz. Vielen war klar, dass sich eine ÖVP – die ihre besonderen politischen Exponenten, ihr politisches Fundament mit den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern in den Gemeinden hat, die durch starke Landes- und Teilorganisationen ihren Mitgliedern Identität gibt und die in ihrer DNA Individualität und Selbstbestimmtheit eingeschrieben hat – auf Bundesebene verändern muss, will sie nicht das Schicksal so mancher stolzer Christdemokratischen Parteien, die heute in manchen europäischen Ländern von der politischen Landkarte fast verschwunden sind, teilen.

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Häusel, H. (2019), Neuromarketing, S. 87

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Dabei ging es ab Mai 2017 zuerst um eine organisatorische Professio­ nalisierung und Neuorientierung, um sich danach in zahlreichen Öster­ reich-Gesprächen bis zum Parteitag im Juni auch inhaltlich neu aufzustellen. Sebastian Kurz wollte die Veränderung, er betrieb sie aktiv, er gab Leitlinien vor, er hörte aber auch zu und nahm auf.

Veränderung muss man wollen Wenn Kampagnenexperte Philipp Maderthaner meint: „Menschen hingegen interessieren sich für Werte und Überzeugungen, für Persönlichkeiten und Charakterzüge. Sie sind der Grund, warum sie sich für einen Kandidaten aussprechen oder einsetzen, sie sind der Grund, warum sie sich mit einer Person identifizieren. Fakten und Programme sind nicht mehr oder weniger als die logische Ableitung, die Beweisführung, für diese Werte und Überzeugungen“3, dann erscheint es notwendig, ein paar Charakterzüge von Sebastian Kurz näher zu beleuchten. Seine ganze politische Vita ist gekennzeichnet davon, dass überall dort wo er Verantwortung übernahm, Veränderung angesagt war. Sei es um der Position der Minderheit Gehör zu verschaffen oder ihr ein besonderes Profil zu geben, wie die Beispiele in seiner Zeit im Wiener Landtag belegen oder politische Forderungen, wie die 24 Stunden U-Bahn am Wochenende am Beginn seiner politischen Karriere, bis hin zum erst jüngst vollzogenen, durch ihn angestoßenen, Paradigmenwechsel mit der ökosozialen Steuerreform. Die angestrebte Veränderung löst oftmals umfassende Aktionen aus, wie die Rede vom 12. Mai 2017 deutlich gezeigt hat. 12. Mai 2017 – Außenministerium „Sehr geehrte Damen und Herren, wir haben alle mitverfolgt, dass sich in den letzten Tagen die Ereignisse überschlagen haben. Und viele fragen sich jetzt zurecht: Wie geht es weiter in der ÖVP? Und viele fragen sich natürlich auch: Wie geht es jetzt weiter in der Regierung?

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Hofer, T., Toth, B. (2017), Wahl 2017 – Loser, Leaks und Leadership, S. 57.

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Ich glaube, Sie wissen, ich bin nicht Chef der ÖVP. Ich kann daher auch nicht für die ÖVP sprechen. Ich kann nur für mich persönlich sprechen. Und ich glaube, die meisten von Ihnen kennen eigentlich auch meinen Zugang. Ich bin grundsätzlich ein Freund der Klarheit. Ich versuche das zu tun, was ich persönlich für richtig erachte und das auch ganz unabhängig davon, ob es gerade populär ist oder eben nicht. So habe ich bis jetzt immer versucht zu handeln. In der Integration, bei der Schließung der Westbalkan-Route und natürlich auch in der Türkei-Frage. Und ich habe für mich persönlich in den letzten Tagen die Entscheidung getroffen, dass ich diesem Stil auch in diesen aktuellen und schwierigen Fragen treu bleiben möchte. Wir alle wissen, es gibt das Angebot an mich, die Regierung fortzusetzen. Einfach wieder einmal nur Köpfe auszutauschen und so zu tun, als wäre nichts gewesen. Ich glaube, dass viele wahrscheinlich jetzt auch einfach den 17. Neustart ausrufen würden und verkünden würden, dass jetzt diesmal, wirklich, aber ganz wirklich, alles anders wird. Was wäre dann? Ich glaube, dass wir wenige Tage oder Wochen später wieder genau dort wären, wo wir immer waren. Es würden Minimalkompromisse getroffen werden, die in Wahrheit das Land nicht wirklich verändern. Und es würde vor allem der Dauerwahlkampf, den wir in den letzten Monaten erlebt haben, fortgesetzt werden. Ich glaube – und das glaube ich wirklich – jedem einzelnen, der sich in Österreich politisch engagiert, dass er das Land in eine ganz bestimmte Richtung verändern möchte. Ich glaube das Christian Kern, ich glaube das HC Strache und ich glaube das natürlich allen anderen Politikern. Ich glaube aber – als überzeugter Demokrat – auch daran, dass die Entscheidung, in welche Richtung sich jetzt ein Land jetzt wirklich genau entwickeln soll, dass diese Entscheidung eigentlich von den Wählerinnen und Wählern getroffen werden sollte. Und wir haben das wahrscheinlich alle schon vergessen: Aber die Letzten, die in Österreich wirklich gewählt wurden, das waren Werner Faymann und Michael Spindelegger. Danach gab es in unserem Österreich nur noch Parteientscheidungen aber keine Wahlentscheidungen mehr. Ich bin mir bewusst, dass sicherlich viele es anders sehen als ich. Ich bin mir bewusst, dass es viele in der ÖVP anders sehen. Ich bin mir bewusst,

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dass es auch Christian Kern anders sieht, dass er vielleicht sogar eine Minderheitsregierung versuchen wird. Ich bin mir auch bewusst, dass es nicht sonderlich populär ist. Und, es will ja, wie immer, nie jemand schuld sein an Neuwahlen. Und daher wird im Moment sehr viel taktiert, es wird von vielen etwas angedeutet, aber keiner will es aussprechen. Ich bleibe mir selbst treu und versuche auch in dieser Frage klar zu sein: Ich persönlich glaube nicht, dass es richtig wäre, diesen Dauerwahlkampf fortzusetzen. Ich persönlich glaube, dass vorgezogene Wahlen der richtige Weg wären, um in Österreich Veränderung möglich zu machen, um den Dauerwahlkampf im Rahmen zu halten und um auch sicher zu stellen, dass auch nach einer Wahl jahrelange kontinuierliche Sacharbeit geleistet werden kann. Und ich glaube auch, wenn wir diesen Weg gemeinsam – parteiübergreifend – ordentlich und anständig gehen, dann kann das auch das ganze politische System in Österreich stärken. Und es wäre nur gut und anständig. Die zweite Frage, sehr geehrte Damen und Herren, ist natürlich auch die Frage: Wie geht es weiter in der ÖVP? Und auch da habe ich persönlich eine ganz klare Haltung. Unabhängig davon, wer die Führung in der ÖVP übernimmt. Aus meiner Sicht ist klar: So wie es war, so kann es nicht bleiben. Eine moderne politische Kraft, die muss die besten Köpfe zulassen. Ganz gleich, ob sie ein Parteibuch haben oder nicht. Und auch egal, aus welchem Bundesland sie kommen. Und derjenige, der die Führung übernimmt, der muss die Möglichkeit haben, die inhaltliche Linie vorzugeben und der muss vor allem auch Personalentscheidungen treffen dürfen. Wie es in der ÖVP weitergehen wird, das kann ich Ihnen heute noch nicht sagen. Denn wie es in der ÖVP weitergehen wird, das liegt nicht an mir alleine. Sondern das liegt vor allem daran, ob meine Vorstellungen mitgetragen werden oder nicht. Und diese Entscheidung, die wird am Sonntag getroffen.Vielen Dank.“4

4 Kurz, S. (12. Mai 2017) Rede nach dem Rücktritt von Mitterlehner als Parteiobmann, Außen­ ministerium.

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Ist die Sache klar, folgt die Entscheidung Entschlossenheit im Handeln und das in einem Tempo, das sowohl seine Umgebung stets aufs Äußerste fordert und die politischen Mitbewerber, und auch so manchen internationalen Player, überraschte, weshalb sie seinem Tempo auch wenig entgegensetzen konnte, zählte zu seinen größten Stärken. Hat sich sein Gegenüber erst einmal auf einen Vorschlag, einen Verordnungs- oder Gesetzesentwurf eingestellt, ihn analysiert und Positionen dazu erarbeitet, kommuniziert Sebastian Kurz längst Inhalte zu anderen Themen, ohne dabei in der Sache oberflächlich zu sein. Tiefgreifende Veränderung wird besonders dann spürbar, wenn sie auch schnell geht. Es ist aber nicht nur die Geschwindigkeit im Handeln, sondern auch seine Gabe blitzschnell Gedanken aufnehmen zu können, sie zu verbinden und sie auf den Punkt zu bringen. Legt man in einer Besprechung die verschiedensten Sicht- und Herangehensweisen an ein Thema erstmals offen und diskutiert es kontroversiell, hat Sebastian Kurz oftmals blitzschnell komplexe Sachverhalte in klarer Strukturierung einfach verständlich auf den Punkt gebracht. Er kann zuhören, das wird gleichermaßen von Experten wie auch von so manchem Widersacher attestiert, er stellt Fragen, erarbeitet Zusammenhänge und entscheidet danach oftmals ganz schnell. Manchmal folgt die Feststellung, die Sache sei doch ohnehin vollständig klar, nur der Blick darauf war vielleicht getrübt oder verstellt. Auch in einer besonders herausfordernden Situation, wie dem Bekanntwerden des Ibiza-Videos und seiner politischen Folgen, fällt die Entscheidung nach Abwägung aller Argumente und der eingehenden Diskussion mit seinen Beratern und politischen Wegbegleitern noch am gleichen Tag. Nichts wird verschleppt, Kurz stellt sich den Tatsachen und begründet klar und verständlich seine Entscheidungen, sodass der Eindruck bleibt, es hätte gar nicht anders sein können. 18. Mai 2019 – Bundeskanzleramt „Meine sehr geehrten Damen und Herren, die letzten 24 Stunden waren an Dramatik kaum zu überbieten, und ich möchte daher mit Ihnen meine Einschätzung der Situation teilen. Ich bin vor zwei Jahren angetreten, um in diesem Land etwas zu verändern. Ein Land, das durch jahrelangen Stillstand in der großen Koalition gelähmt war.

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Ein Land, in dem das System oft wichtiger war als die Menschen. Und ein Land, in dem der politische Stil vor allem geprägt war von gegenseitigem Streit. Am 15. Oktober 2017 haben die Wählerinnen und Wähler die Veränderung gewählt. Ich habe damals versprochen: Ich werde mir selbst treu bleiben. Egal, was kommt. Ich werde Wahrheiten aussprechen, auch wenn sie unangenehm sind. Und ich werde tun, was richtig ist. Und das auch, wenn es Gegenwind gibt. Das war immer mein Stil. Und das wird auch so bleiben. Ich habe immer gewusst, dass der Weg mit der FPÖ als Regierungspartner Widerstand auslösen wird. Und doch muss man sagen: Die FPÖ war nach der Wahl die einzige Partei, die für eine Zusammenarbeit bereitgestanden ist. Wenn ich auf die inhaltliche Arbeit der letzten zwei Jahre zurückblicke, dann bin ich froh, dass wir genau das, was wir im Wahlkampf versprochen haben, auch in der Regierungsarbeit umsetzen konnten. Wir haben es geschafft, die Schuldenpolitik zu beenden, die Steuerlast für arbeitende Menschen deutlich zu senken und auch die illegale Migration nach Österreich massiv zu reduzieren. Wir haben wichtige Reformen in der Bildung eingeleitet, die Zusammenlegung der Sozialversicherungen auf den Weg gebracht. Und wir sind mittlerweile Vorreiter in der Digitalisierung. Für diese Arbeit möchte ich mich auch bei allen Mitgliedern der Bundesregierung bedanken. Und ich sage ganz bewusst, ganz gleich welcher Partei. Für diese inhaltlichen Erfolge war ich bereit, viel auszuhalten, viel in Kauf zu nehmen.Vom Rattengedicht über die Nähe zu radikalen Gruppierungen bis hin zu immer wieder auftauchenden Einzelfällen. Auch wenn ich es nicht immer öffentlich gesagt habe, sie können mir glauben, das war oft persönlich nicht einfach. Im Sinne der Sacharbeit habe ich nicht bei der ersten Verfehlung die Zusammenarbeit beendet. Aber nach dem gestrigen Video muss ich sagen: Genug ist genug. Auch wenn die Methoden, die an Silberstein erinnern, verachtenswert sind: Der Inhalt ist, wie er ist. Was über mich in diesem Video gesagt wurde, Beschimpfungen und Unterstellungen, ist dabei noch das geringste Problem. Wirklich schwerwiegend sind die Ideen des Machtmissbrauchs und der Umgang mit dem Steuergeld und der Umgang mit der Presse. Die FPÖ schadet mit ihrem Verhalten unserem Weg der Veränderung. Es ist ein Schaden für das Ansehen unseres Landes und es entspricht

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auch nicht meinem politischen Zugang, der Republik und den Menschen unseres Landes zu dienen. Vor allem aber habe ich in den Gesprächen mit der FPÖ heute nicht das Gefühl gehabt, dass es abseits der Rücktritte eine wirkliche Bereitschaft gibt für eine tiefgreifende Veränderung auf allen Ebenen der Partei. Natürlich könnte man jetzt alles Mögliche versuchen, um die eigene Macht abzusichern. Köpfe tauschen, als wäre nichts gewesen, oder einen fliegenden Wechsel zur SPÖ und wieder Stillstand, wie wir es jahrelang in Österreich hatten. Beides ist nicht das, was unser Land jetzt braucht. Und auch für mich ganz persönlich wäre es falsch. Denn ich bin nicht in die Politik gegangen, um ein Amt innezuhaben, sondern etwas daraus zu machen. Mein Ziel ist es einfach, für dieses Land zu arbeiten. Mit meinem politischen Zugang, mit einem Kurs, den die Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Aber eben ohne Einzelfälle, Zwischenfälle und sonstige Skandale. Das ist derzeit mit niemandem umsetzbar. Die FPÖ kann nicht. Die SPÖ unterstützt meinen Kurs inhaltlich nicht. Und die kleinen Parteien reichen nicht. Darum habe ich dem Bundespräsidenten vorgeschlagen, vorgezogene Wahlen in Österreich durchzuführen. Nur wenn die Volkspartei nach den Wahlen so stark ist, dass wir eindeutig den Ton angeben, kann unser Kurs der Veränderung konsequent fortgesetzt werden. Wenn Sie mit meinem Kurs zufrieden sind, wenn Sie diese Veränderung fortführen wollen, dann brauchen wir bei der nächsten Wahl klare Verhältnisse. Mit einem klaren Wahlauftrag. Dafür bitte ich Sie um Ihre Unterstützung!“5 Im gleichen Tempo wie eine Übergangsregierung präsentiert und angelobt wurde – nachdem die FPÖ aus allen Regierungsfunktionen ausschied – haben Sozialdemokratie und Freiheitliche die neue Linie der beiden Parteien festgelegt: Kurz abzuwählen und einen Wahltermin festzusetzen. Bildlich bekannt geworden ist das gefilmte Gespräch von Kickl und Drozda im Plenarsaal am Tag als der Nationalrat dem Bundeskanzler Kurz das Misstrauen ausgesprochen hat. Beispiele für seine schnelle Entscheidungsfähigkeit, wie das Erstellen der Übergangsregierung, und das daraus sich ergebende Mo-

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Kurz, S. (5. Mai 2019), Rede nach Bekanntwerden des Ibiza-Videos, Bundeskanzleramt.

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mentum, um sich nicht hertreiben zu lassen, sondern stets selbst das Tempo vorzugeben, gäbe es viele. All das zeigt nicht nur die Geschwindigkeit des Handelns, wenn er am Tag seiner Abwahl den Start seiner Wiederwahlbewegung bekannt gibt, es zeigt auch den enormen Kampfgeist der ihm innewohnt. Ein Ziel einmal vorgegeben, verliert er es auch trotz vieler Widrigkeiten nicht aus dem Auge.

Für Überzeugungen muss man kämpfen 27. Mai 2019, Politische Akademie „Vielen Dank liebe Freunde! Vielen Dank! Vielen, vielen Dank, dass ihr nach diesem wirklich schwierigen Tag heute alle hier seid. Vielen Dank für eure Unterstützung. Ich weiß, dass viele von euch mit gemischten Gefühlen heute da sind. Ich weiß dass viele hier, und in ganz Österreich, sich schwer tun, die Geschehnisse einzuordnen und viele ganz unterschiedliche Gefühle habe. Von Trauer, über Wut, bis hin zu Hoffnung, wie vielleicht die Wahl im September ausgehen könnte und ich kann euch nur sagen: Zurecht fragen sich viele wie geht es weiter und ich versteh all diese Emotionen. Denn wir haben als Volkspartei sehr hart gekämpft, dass wir 2017 diese Wahl gewonnen haben, wir haben alles gegeben, um eine gute Regierung zu bilden und uns bemüht die notwendigen Reformen in Österreich umzusetzen. Und ein Video mit Ideen des Machtmissbrauchs, der Korruption und Steuergeldverschwendung hat nicht nur die FPÖ beschädigt, sondern dieses eine Video hat auch die Zusammenarbeit in der Koalition zerstört. Und nicht nur, dass die Koalition zu Ende war: Die freiheitliche Partei hat sehr schnell eine neue Koalition gebildet, nämlich mit der Sozialdemokratie, geeint im Hass auf die Volkspartei und mit einem klaren Ziel, nämlich: Kurz muss weg. Und so ehrlich müssen wir sein: heute ist ihnen das auch gelungen. Sie haben es geschafft die Bundesregierung niederzustimmen und abzuwählen. Ich kann euch nur sagen, ich verstehe, dass gerade nach dem gestrigen Wahlergebnis (Anm.: Aus den Wahlen zum EU-Parlament 2019 am Vortag ging die ÖVP als klarer Wahlsieger hervor) viele sagen: ‚Das ist ungerecht. Das ist inakzeptabel.‘ Aber ich bitte euch, nehmen wir diese Entscheidung

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zur Kenntnis. Es ist eine demokratische Entscheidung und für Wut, für Hass und auch für Trauer ist überhaupt kein Platz. Wir sind alle, als Volkspartei, engagiert, weil wir ein klares Ziel haben und das ist unserem Land zu dienen. Wir haben uns in der letzten Woche bemüht, um alles zu tun, um Stabilität sicherzustellen, um eine handlungsfähige Regierung auf die Beine zu stellen. Wir haben nach dem Auftrag des Bundespräsidenten innerhalb von 24 Stunden Experten ausgewählt und wir haben gewährleistet, dass Aufklärung stattfinden kann und dass Stabilität in Österreich vorhanden ist. Wir haben uns bemüht und uns angestrengt. Und genau die gleiche Aufgabe haben wir auch jetzt im Moment. Ich habe vorhin nach der Abwahl im Parlament den Bundespräsidenten angerufen und habe ihm zugesichert, dass wir zur Verfügung stehen für eine ordentliche Übergabe an die Übergangsregierung und dass wir bedingungslos die Übergangsregierung unterstützen werden egal wen er aussucht. Denn es geht nicht um mich, es geht nicht um uns, sondern es geht um die Republik Österreich. Aber ich sage euch auch ganz klar: Genauso wie es jetzt wichtig ist, dass wir sicherstellen, dass es Stabilität in den nächsten Monaten gibt. Genauso wichtig ist es auch, wie es in den nächsten Jahren in Österreich weitergeht. Und liebe Freunde ich verspreche euch: Da werden wir kämpfen! Wir haben in den letzten Tagen bei all den Wahlveranstaltungen der FPÖ und SPÖ immer nur eines gehört: Kurz muss weg – das einzige Programm dieser beiden Parteien. Aber ich kann Ihnen nur eines sagen: Ich muss diese Parteien enttäuschen: Ich bin noch immer hier. Ich steh vor euch. Ich steh vor euch, als der der ich bin, als einer von euch, der etwas verändern möchte, ganz gleich, ob mit oder ohne Amt, ganz gleich, ob mit oder ohne Titel. Ich gebe euch ein Versprechen: die Veränderung die hier vor zwei Jahren begonnen hat, die wird mit dem heutigen Tag nicht enden. Wir können uns sicher sein, dass sie uns anpatzen werden. Wir haben erlebt, dass sie uns abwählen können. Aber sie können sicherlich nicht die Veränderung aufhalten, die von uns ausgeht. Wir werden die demokratische Entscheidung von heute zur Kenntnis nehmen, aber genauso bitte ich euch, dass wir die nächsten Monate quer durch Österreich unterwegs sein werden; mit den Menschen. Wir werden um die Unterstützung der Bevölkerung wer-

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ben. Denn heute hat das Parlament entschieden, aber am Ende des Tages, im September, entscheidet in einer Demokratie das Volk und darauf freue ich mich.Vielen Dank für eure Unterstützung.“6 Kampfgeist beweist Sebastian Kurz seit jeher. Nur, man merkt und sieht es ihm kaum an. Zu höflich, zu freundlich, zu entspannt und zu unprätentiös ist sein Auftreten und die Art seiner Begegnung. In der Jungen ÖVP, im Wahlkampf in Wien oder als es galt, seine Haltung zur Sperre der Balkanroute für die Migranten auch gegen europäischen Widerstand, den Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Steinmaier anführten, aber auch gegen den von Bundeskanzler Faymann und Vizekanzler Mitterlehner, durchzuhalten, zeigte er seine Durchhaltefähigkeit. Sein Kampfgeist hat ein starkes Fundament, das war und ist seine Überzeugung. War ein Thema, eine Idee einmal durchdiskutiert und als richtig erkannt, war das sein Standpunkt. Er tat stets alles, motivierte sein politisches Umfeld, überzeugte Zweifler, suchte Partner und Mitstreiter, um sein Anliegen weiterzutreiben, durch eine Art intrinsischer Motivation. Als Beispiel sei hier sein Kampf gegen den Antisemitismus und die Beziehung zu Israel genannt.

Haltung muss man spüren, nicht erklären Kein Bundeskanzler vor ihm, hat in so kurzer Zeit so viel zur klaren Haltung gegenüber jeglicher Art und Form zu Antisemitismus geleistet wie er. Ein Projekt von Kurt Tutter, ein Österreicher der nach Kanada immigrieren musste, die Shoah Namensmauer, wurde Jahre hindurch nicht mit dem nötigen Respekt behandelt. Kurt Tutter wurde von Mitgliedern der Bundes- und Stadtregierung in Wien im Kreis geschickt. Sebastian Kurz war es, dem es ein Anliegen war, den Nachkommen, der durch die nationalsozialistische Terrorherrschaft Gedemütigten, ihrer Identität und Persönlichkeit beraubten und ermordeten Jüdinnen und Juden, einen würdigen Platz des Erinnerns und Gedenkens zu geben. Er nahm das Anwachsen des Antisemitismus in Europa zum Anlass, den Kampf und die Maßnahmen dagegen

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Kurz, S. (27. Mai 2019), Rede nach dem Misstrauensvotum, Politische Akademie.

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in einem eigenen Ministerium zu verorten. Er beauftragte aus der besonderen Verantwortung Österreichs diesem Thema gegenüber eine eigene Strategie für den Kampf gegen den Antisemitismus, dem längst das Mittel des „Wiederbetätigungs“- Verbotsgesetzes allein nicht mehr gerecht wurde. Die Mittel für die Kultusgemeinde wurden erstmals überproportional erhöht, um einerseits jüdisches Leben in Österreich noch sichtbarer zu machen und andererseits den Sicherheitsbedürfnissen die notwendige Unterstützung zu geben. Sämtliche Aktivitäten des Parlaments dazu, wie Workshops gegen Antisemitismus der Demokratiewerkstätte, die Untersuchungen zur Lage des Antisemitismus in Österreich oder der Simon-Wiesenthal Preis wurden von Sebastian Kurz unterstützt. Er erkannte sehr klar, dass der Antisemitismus aus der Mitte der Gesellschaft kommt und an den Rändern deutlich sichtbar wurde. Den Antisemitismus der extrem Rechten und Neonazis hatte Österreich stets im Fokus. Das es aber genauso notwendig ist, den Antisemitismus von links, der sich als antizionistisch oder antiisraelisch zeigte, dabei dieselben bekannten Stereotypen bediente, wie „die Juden sind an allem Schuld“, „die Juden sind eine Gefahr für den Frieden“ und Ähnliches, zu bekämpfen, erkannte er. Klar war für ihn auch, dass der Antisemitismus, der von Menschen mit migrantischem und politisch islamistischem Hintergrund kommt, dass man diesem Antisemitismus aktiv zu begegnen hat. Das Ansteigen des Antisemitismus war eine europäische Herausforderung und deshalb ließ er im Rahmen des österreichischen Ratsvorsitzes eine Konferenz in Zusammenarbeit mit dem European Jewish Congress einberufen. Die Konferenz mit dem Titel „Europa – Jenseits von Antisemitismus und Antizionismus – Sicherung des jüdischen Lebens in Europa“ fand am 20. und 21. November 2018 statt und wurde ein außergewöhnlich großer Erfolg. Die europäische Kommissarin für Justiz, Verbraucherschutz und Gleichstellung Vera Juorová betonte, dass sich die Europäische Union bewusst sei, dass der Antisemitismus ein ernstes Problem darstellt, das jedoch nur gemeinsam zu bekämpfen sei. Die Gesellschaft darf dabei nicht passiv zusehen, wie der Antisemitismus wieder erstarke. „Ich habe nie gedacht, wieviel Mut es braucht, die eigene Stimme gegen den Antisemitismus zur erheben. Ich danke Ihnen Herr Bundeskanzler, dass Sie diesen Mut haben“, so Juorová. In Folge der Konferenz erscheint 2021 ein fünfbändiges Handbuch „An End to Antisemitism“, das von Wissenschaftlern der Universitä-

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ten New York, Tel Aviv und Wien bearbeitet und präsentiert wurde. Unter der österreichischen EU-Präsidentschaft haben alle EU-Innenminister einstimmig eine Erklärung zur Bekämpfung von Antisemitismus, bestehend aus einem gemeinsamen Sicherheitskonzept, angenommen. Mit dieser gemeinsamen Erklärung wurden alle EU-Mitgliedsländer und die Europäische Kommission aufgefordert, konkrete und nachhaltige Schritte zu setzen, um die jüdischen Gemeinschaften in Europa besser zu schützen und ihr Engagement gegen Antisemitismus zu verstärken. In seiner Regierungszeit wurde auch ein konsequentes Vorgehen gegen die in den letzten Jahren verstärkt in Österreich auftretende Gruppierung „Boycott, Divestment and Sanctions“ (BDS), die zum Boykott des jüdischen Staates, israelischer Produkte und Künstlern und Künstlerinnen aufruft, beschlossen. Der Beschließungsantrag vom 27. Februar 2020 ruft die Regierung dazu auf, der BDS Bewegung und ihre Ziele scharf zu verurteilen und ihre Veranstaltungen weder zu finanzieren, noch in anderer Form zu unterstützen. In keiner Ära wurden die Beziehungen zu Israel so eng geknüpft wie unter Sebastian Kurz. In direkten Gesprächen mit den Regierungsvertretern tauschte man sich zu den unterschiedlichsten Themen aus. Schlussendlich gipfelte die Haltung, dass das Existenzrecht Israels unverhandelbar ist und zur österreichischen Staatsräson gehört, in der Hissung der israelischen Flagge nach palästinensischen Terrorangriffen auf Israel auf dem Bundeskanzlerplatz und dem Außenministerium. Ein darüber hinaus gehendes Ergebnis dieser Politik ist die Tatsache, dass die wirtschaftlichen Beziehungen in dieser Zeit überdurchschnittlich wuchsen und Israelis heute zur größten außereuropäischen Besuchergruppe wurden. All das war nur erreichbar mit einer klaren Haltung, Engagement und Kampfgeist. Allein mit Kampfgeist lässt sich Antisemitismusbekämpfung ist dieser Form noch nicht bewerkstelligen, ganz wesentlich ist auch die Bereitschaft, viel Zeit und Arbeit in diese Themen zu investieren. 21. November 2018 – European Jewish Congress in Wien „Sehr geehrte Damen und Herren, geschätzte Gäste, ich freue mich sehr, dass ich jetzt bei Ihnen sein darf. Als ich hereingekommen bin, hat mich Rabbi Schneier mit einem freudigen ‚Good morning‘ begrüßt. Danach hat er gefragt: ‚Hast du Dich nach gestern Abend etwas ausruhen können?‘ Ich

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bin nicht erst jetzt hier, weil ich mich ausgeruht habe. Ich musste meiner verfassungsmäßigen Pflicht nachkommen und dem Parlament Rede und Antwort stehen und kann daher erst jetzt zur Konferenz dazu stoßen. Ich möchte aber umso mehr ,Danke‘ sagen allen Partnern, Unterstützern und Initiatoren, die diese Konferenz möglich gemacht haben. Ein ganz großes ‚Danke‘ für die gute Zusammenarbeit mit der Kultusgemeinde hier in Österreich mit Präsident Osi Deutsch. Und natürlich ein ganz großes ‚Danke‘ an Mosche Kantor. Vielen Dank, dass wir diese Konferenz gemeinsam ins Leben rufen konnten. Ich freue mich sehr über die Videobotschaft von Bibi Netanjahu, auch wenn ich zugebe, dass wir wahrscheinlich alle gern gehabt hätten, dass er heute bei uns dabei wäre. Wir haben natürlich Verständnis für die Situation in Israel und in der Regierung. Es sind keine einfachen Tage und es ist aber schön, dass er zumindest mit dieser Videobotschaft ein Stück weit indirekt dabei sein konnte. Ich habe mit ihm noch einmal telefoniert und er hat mir noch einmal gesagt, wie wichtig es ihm auch ist, dass wir uns in der Europäischen Union in die richtige Richtung bewegen, dass wir ein stärkeres Bewusstsein, nicht nur im Kampf gegen Antisemitismus, sondern auch für das Sicherheitsbedürfnis Israels entwickeln. Und ich glaube, die heutige Konferenz, die die erste ist in dieser Art unter dem österreichischen Ratsvorsitz, die kann ein wichtiger Schritt in diese Richtung sein. Ich sage ganz bewusst als junger Mensch mit gerade einmal 32 Jahren, dass es für mich eigentlich unvorstellbar ist, dass fast 100 Jahre nach der Shoah so etwas wie Antisemitismus überhaupt noch existiert. Es ist fast unvorstellbar, dass es nicht nur noch immer bestehenden, sondern in unserer Gesellschaft auch stetig neu importierten Antisemitismus gibt. Und ich glaube bei all der Arbeit, die in Österreich heute geleistet wird, damit an Schulen ein Bewusstsein für unsere Geschichte geschaffen wird, bei all der Arbeit, die heute geleistet wird, damit das, was hier stattgefunden hat, niemals vergessen wird, bei all der Arbeit, die geleistet wird, damit auch jeder in Österreich ein Bewusstsein hat, dass in Österreich es nicht nur Opfer, sondern vor allem auch viele Täter gegeben hat. Bei all der Arbeit, die hier geschieht, glaube ich, ist eines unerlässlich, und das ist der Kontakt mit Überlebenden, die selbst unmittelbar schildern können, was sie durchmachen mussten, was ihre Familien erlebt haben, was viele nicht überlebt haben. Und wenn auch diese Begegnungen oftmals schwierig und schmerzhaft sind – so war es zu-

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mindest für mich bei den ersten Gesprächen mit Überlebenden – so glaube ich doch, dass gerade dieser Kontakt mit Überlebenden die wirkliche Bewusstseinsänderung bei uns in Österreich sichergestellt hat. Und jetzt müssen wir uns aber eingestehen, dass meine Generation wahrscheinlich zu den letzten gehört, die diese Begegnungen überhaupt noch erleben darf. Dass Gott sei Dank in nicht allen Staaten der Holocaust stattgefunden hat und dass es daher auch nicht in allen Staaten für Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit gibt, mit Überlebenden zu sprechen. Das ist etwas, was hier in Österreich und in Deutschland stattfindet, aber gewiss nicht überall auf der Welt. Und wir müssen uns bewusst sein, dass Antisemitismus und Antizionismus heute mehr und mehr verschwimmen. Ich habe in der Schule als jüngere Generation in Österreich über den Holocaust gelernt. Ein wirkliches Bewusstsein habe ich erst entwickelt im Gespräch mit Überlebenden. Ein wirkliches Bewusstsein, wieviel Antisemitismus es heute noch gibt, habe ich erst in meiner politischen Tätigkeit erfahren, als ich Staatssekretär für Integration wurde. Ein wirkliches Bewusstsein, dass Antisemitismus und Antizionismus oft Hand in Hand miteinander gehen, und meist nur zwei Seiten einer Medaille sind, habe ich erst entwickelt, als ich Außenminister wurde. Und ich glaube, dass wir als Republik Österreich heute nicht nur die Verantwortung haben, den Blick zurückzurichten, auch ehrlich zu sein im Umgang mit unserer eigenen Geschichte, Gedenkstätten und Möglichkeiten zu schaffen wie zum Beispiel mit der Errichtung der Namensmauer in Österreich, sondern dass wir neben dem Blick zurück auch den Blick nach vorne richten müssen. Und wenn wir den Blick nach vorne richten, dann gibt es Gott sei Dank ganz viel an Möglichkeiten, viel, das wir tun können. Nichts womit wir unsere Geschichte ungeschehen machen können, aber sehr viel, wo wir unserer Verantwortung aufgrund unserer Geschichte gerecht werden können. Und ich darf mich ganz herzlich bei David Harris bedanken, der mich vor langer Zeit nach Jerusalem eingeladen hat und mir dort die Möglichkeit gegeben hat, beim HAC Global Forum dabei zu sein. Es war bewegend für mich und wir haben dort gemeinsam die Idee dieser Konferenz geboren. Wir haben uns damit auseinandergesetzt, was kann ein kleines Land wie Österreich tun im Konzert der Europäischen Union. Ich glaube, die Möglichkeiten sind manchmal größer als man denkt.

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Wir wollen also als Republik Österreich nicht nur den Blick zurück richten, sondern wir wollen den Blick nach vorne richten, unserer Verantwortung bewusst auch nachhaltige Schritte setzten. Und ich hoffe sehr, dass die einheitliche Definition von Antisemitismus dieser Konferenz, aber hoffentlich auch Ratsschlussfolgerungen zum Kampf gegen Antisemitismus und Antizionismus am Ende unserer Ratspräsidentschaft, wichtige Schritte nach vorne sein können. Ein Schritt nach vorne, damit Juden in Österreich, in Europa und darüber hinaus auch wirklich in Sicherheit leben können. Nur dann sind wir unserer historischen Verantwortung auch wirklich gerecht geworden.Vielen Dank für Ihren Einsatz!“7

Die Frage ist: Was kann ich tun? Gerade was die Leistungsbereitschaft betrifft, gilt Sebastian Kurz als beispielgebend, ein wirkliches „Zoon politikon“, besser noch als ein Politikbesessener, dem Politik als Gestaltungsanspruch in der Gesellschaft ein zentrales Anliegen war. Leistungsbereitschaft und Eigenverantwortung war nicht nur sein Anspruch in der Integrationspolitik, er stellte diesen Anspruch auch an sich selbst und lebte danach. Ein sprichwörtlicher Einsatz rund um die Uhr, unter Hintanstellung jeglicher privater und familiärer Aktivitäten, war sein Markenzeichen. Immer erreichbar und rastlos zu sein, was die aktuelle innen- wie außenpolitische Lage anlangt, prägte sein Wesen und seinen Arbeitsalltag.

Wer Menschen mag, der redet Als Klammer über seine Stärken sei seine Art der persönlichen Begegnung und seine Kommunikationsfähigkeit angesprochen. Sebastian Kurz ruht in seiner emotionalen Mitte. Seine Uneitelkeit ist nicht Marke, sondern Lebensart, die in seiner Lebensgeschichte vielfache Begründungen erfährt. Höflich, freundlich und empathisch begegnet er jedem Gesprächspartner, einzeln oder in der Gruppe, im kleinen Kreis wie im großen internatio-

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Kurz, S. (11. November 2018), Rede zum European Jewish Congress, Wien.

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nalen Format. Er kennt seine Rollen und Positionen und wird seiner Verantwortung in allen Formaten gerecht. Wer hätte ihn je unpassend agieren gesehen oder gehört? Wer hätte emotionale Ausbrüche oder dementsprechende Worttiraden jemals wahrgenommen? Es lassen sich keine Beispiele finden. Er ist an den Menschen grundsätzlich und an denen, die ihm Perspektiven eröffnen oder ihn fordern, besonders interessiert. Er gibt Interviews für kleine Journale, wie er genauso als Gast in den großen deutschen Polit-Talk-Runden vor einem Millionenpublikum zu bestehen weiß. Es freut ihn, wenn er beim Bergwandern von der sprichwörtlichen „Frau Maier“ angesprochen wird, genauso wenn ihm ein befreundeter Ministerpräsident um seine Einschätzung frägt. All das passiert gleichermaßen im „Off“ wie im „On“. Paul Ronzheimer meint, es gibt Politiker, die das Talent haben, vor einer Kamera immer so zu wirken, als würden sie sich interessieren. Und wenn die Kamera aus ist, wenden sich diese Politiker ab. So ist Kurz nicht. Auch wenn die Kamera aus ist, zeigt er Interesse.8 Dieses Beschreibung charakterisiert wohl seine Art der Begegnung am eindrucksvollsten und auch lange bevor er die Kanzlerschaft angetreten hat werden; seine Stärken wurden in der Zeitschrift „News“ vom 17. Dezember 2016 folgendermaßen beschrieben: „Das größte politische Talent seit Jörg Haider: Rhetorisch gut, Gefühl für das richtige Timing, Konzentrationsfähigkeit gepaart mit sozialer Intelligenz. So viel kann er gar nicht um die Ohren haben, dass er nicht jedem Gesprächspartner das Gefühl gibt, seine volle Aufmerksamkeit zu genießen.“ 9 Die Kommunikationsfähigkeit auf allen Kanälen und auch auf jenen, die gerade erst entstanden sind, bildet einen wesentlichen Teil seines Erfolgs. Seine Kommunikation dient immer dazu ein Bild zu zeichnen, eine Geschichte zu erzählen, auf Neudeutsch das richtige Narrativ zu treffen. Das passiert mit den traditionellen Medien TV, Zeitungen, Inserat und Plakat genauso wie im digitalen Raum. Er war der erste, der den digitalen Medienraum konsequent bearbeitete. Ihm war bewusst, dass er seine Genera-

8 Ronzheimer, P. (2018), ) Sebastian Kurz – Die Biografie, S. 187. 9 Dolna, V., Ortner, J., Weissenberger, E. (17. Dezember 2016), Wer wird Kanzler? Kern? Kurz? Strache? News Magazin, S. 50 ff.

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tion nur über die Kanäle von Online-Redaktionen und mit persönlichen Accounts auf digitale Plattformen auf Facebook, Twitter, Instagram und allen anderen neuen Kommunikationskanälen erreichen konnte. Durch konsequente Vorbereitung gelang es ihm und seinem Team letztendlich hunderttausende Unterstützerinnen und Rezipienten zu generieren und zu erreichen. Durch die Etablierung einer türkisen Bewegung mit dem Sprecher und dem Gesicht Peter L. Eppinger gelang es ihm vor allem in Wahlkampfzeiten traditionelle Kommunikationsstränge mit den neuen digitalen zu verknüpfen und eine „neue Zeit“ erkennen zu lassen.10 Auch wenn nur einige seiner besonderen Stärken skizziert wurden, lässt sich die eingangs gestellte Frage, wie Sebastian Kurz eigentlich wirklich ist, leicht beantworten. Er ist wie er ist, im kleinen, privaten Kreis wie am großen internationalen Podium. Im Interview wie im Gespräch mit Experten oder in der Unterhaltung mit einem Menschen, dem er auf der Straße begegnet. Auch wenn ihn seine Kritiker als Kunstfiguren stilisieren, muss man sie enttäuschen, er ist wie er auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Er verstellt sich nicht und verdreht sich nicht. Ja, er ist sich seiner vielfältigen und wechselnden Aufgaben in seinen Rollen und Positionen sehr bewusst. Der Mensch der dahinter mit seiner Erziehung, Erfahrung und daraus gewonnenen Haltung steht, ist immer der gleiche. „Er ist von Anfang an ein Typ gewesen, der für die meisten sehr sympathisch rüberkam und der sich selbst nicht als den Schlauesten im Raum angesehen hat. Wenn er glaubt, dass jemand anderes die Antwort besser weiß oder mehr zu erzählen hat, dann lässt er denjenigen auch sprechen. Er brauchte sich nicht in den Mittelpunkt drängen, denn er war immer schon automatisch im Mittelpunkt, egal ob er jetzt gesprochen hat oder nicht.“11 So beschreibt ihn Philipp Maderthaner, sein Kampagnenmanager, dessen Aufgabe es „lediglich“ war „…das einzig Richtige zu tun: Sebastian Kurz, zeigen wie er ist. So, wie wir, die wir ihn persönlich erleben dürfen, auch kennen. Als einen, der sich selbst nicht automatisch als Wichtigsten im Raum betrachtet. Als einen, der lieber zuhört als redet. Als einen, der eine besondere Wirkung hat auf

10 Hofer, T., Toth, B. (2017), Wahl 2017 – Loser, Leaks und Leadership, S. 60. 11 Ronzheimer, P. (2018), Sebastian Kurz – Die Biografie, S. 53.

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Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Einer, der bescheiden ist und fleißig. Der sich aus den Symbolen der Macht nichts macht. Der mit einer unglaublichen Verständlichkeit seiner Sprache besticht. Einer, der Politik mit der gleichen Leidenschaft betreibt, mit der er einen Berg besteigt. Und vor allem einer, der sich nicht verbiegen lässt, der keine Rolle spielt. Kein Schauspieler. Sondern einfach Sebastian Kurz, so wie er ist.“ 12

Lebenshintergrund Die Vita Sebastian Kurz wurde in zahlreichen Büchern umfassend dargestellt. Dass er im Spannungsverhältnis von Stadt und ländlicher Region aufwuchs, darf als allgemeinbekannt vorausgesetzt werden. Sein sprichwörtliches „In Bewegung Sein“, geistig wie körperlich, begleitet ihn bis heute. Einschneidende Erlebnisse, wie die Folgen des Zerfalls des ehemaligen Jugoslawiens, in Folge dessen sich Tausende aus den Nachfolgestaaten in Bewegung setzten – die Familie Kurz brachte sich auch in der Betreuung der Flüchtlinge persönlich ein – zahlreiche seiner Mitschüler stammten aus diesen Ländern und waren seine Freunde, oder auch die Arbeitslosigkeit seines Vaters haben mit Sicherheit emotionale Spuren hinterlassen. Sein Verantwortungsgefühl für die Mitmenschen wurde früh geweckt und zeigt sich in seiner Haltung, in schwierigen Zeiten für seine Familie auch seinen Beitrag leisten zu wollen und nach der Matura im Wesentlichen auf eigenen Beinen zu stehen. Seine Anfänge in der Politik, seine Projekte und Ideen in der Schule wie im Studium zeigen ihn als einen, der voran geht und manches neu und gegen den Mainstream denkt, wie am Beispiel der Diskussion um Studiengebühren in seiner politischen Anfangsphase, zu erkennen ist. Seine Zeit in der Wiener Landespolitik sehen wir heute als eine Zeit des Ausprobierens, des „Try and Error“, wo man Grenzen auslotete aber Projekte strukturiert aufzusetzen lernte und damit auch Erfolg erzielen konnte, wie mit der 24-Stunden-U-Bahn Kampagne.

12 Hofer, T., Toth, B. (2017), Wahl 2017 – Loser, Leaks und Leadership, S. 60.

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Schon in dieser Zeit war ihm bewusst, dass zum politischen Erfolg ein Netzwerk gehört. Er hielt intensiven Kontakt zu den Repräsentanten der Landesorganisationen der JVP, aber darüber hinaus auch nach ganz Europa, insbesondere nach Deutschland. Karl-Theodor Guttenberg, um nur einen zu nennen, war solch eine Kontaktperson, mit dem er sich immer wieder kurzschloss, austauschte und auch nach Guttenbergs Ausscheiden aus der Politik in Kontakt blieb. Diese Zeit schärfte sein politisches Verständnis im Umgang mit den Medien, insbesondere den Sozialen sowie für Politiker anderer Parteien, aber auch für das „Ticken“ der eigenen Partei und ihrer Länder- und Teilorganisationen.

Ankommen in der Politik Mit der Berufung durch den Bundesparteiobmann und Vizekanzler Michael Spindelegger, der ihn in seiner Arbeit und seinem Auftreten schon seit geraumer Zeit im Auge hatte, als Staatssekretär für Integration, betritt er für zehn Jahre die Regierungsbühne. Als jüngstes Regierungsmitglied wird Kurz von der medialen Öffentlichkeit keineswegs positiv aufgenommen. Dennoch gelingt es ihm durch seine politische Arbeit und gut gesetzte TVAuftritte nach relativ kurzer Zeit sein Image zu drehen. Vom ernstzunehmenden Jungpolitiker wird er als Außenminister zum Hoffnungsträger für viele, nicht nur für die Funktionäre der Volkspartei. Schon als Staatssekretär, dieser Abschnitt und auch der als Außenminister sind hinlänglich dokumentiert, zeigen bereits einige wesentliche Leitlinien seiner Politik. Integration durch Leistung, den Einfluss aus dem Ausland auf die islamische Glaubensgemeinschaft zu minimieren und vor allem den Politischen Islam und den Islamismus zu thematisieren und zu bekämpfen, bleiben fortan auf seiner politischen Agenda. Unterstützt durch ein bemerkenswertes Vorzugsstimmenergebnis bei der Nationalratswahl 2013 – er hatte mehr Stimmen als alle anderen Politiker – kam Vizekanzler Spindelegger dem Wunsch von Sebastian Kurz nach, das Außenministerium zu übernehmen. Zudem nahm er aus nachvollziehbaren Überlegungen die Integrationssektion aus dem Innenministerium mit ins Außenamt. Er machte auf dem internationalen Parkett eine außergewöhnlich gute Figur, er verstand es seine Schwerpunkte in der Balkanpolitik klar zu

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positionieren, führte umsichtig den OSZE-Vorsitz, insbesondere was den Konflikt Russland-Ukraine betraf, und legte Wert darauf, das Verhältnis zu Israel deutlich zu verbessern. Als Außenminister meisterte er schwierige diplomatische Situationen, wie die Rückholung einer Wienerin aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, die nach einer Vergewaltigung nicht beschützt und betreut, sondern verhaftet wurde. Er positionierte Wien als Konferenzstandort, wie die IranKonferenz eindrucksvoll unter Beweis stellte, spielte aktiv die Rolle im Vorsitz des Europarates und versuchte dynamische Entwicklungen, wie sie sich im Silicon Valley zeigten, für Österreich nutzbar zu machen. Durch seine Haltung und seinen Anspruch brachte er auch ins Außenministerium einen neuen Zugang wie Außenpolitik verstanden und gestaltet werden kann. Seine Rede anlässlich der Botschafterkonferenz am 06. September 2016 verdeutlicht das wohl sehr eindrücklich. 6. September 2016 – Botschafterkonferenz „Sehr geehrte Damen und Herren, geschätzte Ehrengäste, ich darf Sie, ebenso wie die zahlreich erschienenen Wirtschaftsvertreter, ganz herzlich begrüßen. Ich freue mich sehr, dass wir bereits zum dritten Mal das öffentliche Segment bei unserer jährlichen Botschafterkonferenz durchführen können. Ich freue mich sehr, dass wir die Möglichkeit haben, Ihnen einen Überblick über unsere Arbeit im Ministerium zu geben und natürlich sind wir alle dankbar dafür – die Botschafterinnen, Botschafter und ich – dass wir heute hier sind und uns der Austausch mit Ihnen allen ermöglicht wird. Mit all den Persönlichkeiten, die in den unterschiedlichsten Bereichen in Österreich tätig sind und unser Land ausmachen. Ich glaube, ich sage Ihnen nichts Neues, wenn ich damit beginne, dass wir alle in sehr bewegten Zeiten leben. Ich habe gestern mit einer Dame in Tirol am Flughafen geplaudert, die zu mir gesagt hat, dass sie im Moment sowieso alles so furchtbar findet, dass sie den Fernseher abdreht, wenn all die Kinder, aus den Krisenherden und Konfliktregionen dieser Welt, zu ihr ins Wohnzimmer kommen. Sie kann und will das alles nicht mehr sehen. Und wenn man das hört, dann hat man aufs erste Hinhören ein gewisses Verständnis dafür. Diese Reaktion ist ja etwas Menschliches. Wenn man

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dann etwas genauer darüber nachdenkt, dann merkt man schnell, dass man wahrscheinlich all diese hässlichen Bilder zwar aus dem Wohnzimmer aussperren kann, dass man aber nicht die Auswirkungen auf unser Land damit beenden kann. Wir leben mittlerweile in einer globalisierten Welt und alles, was rund um uns stattfindet, was in Europa geschieht, was in unserer Nachbarschaft passiert, das hat unmittelbare Auswirkungen auf unser Land. Das spüren wir alle Tag täglich und insofern ist es auch wichtig, dass wir auf der europäischen aber auch auf der internationalen Ebene mitgestalten. Wir, als Ministerium für Europa, Integration und Äußeres, haben in den letzten zwölf Monaten seit der letzten Botschafterkonferenz ein sehr bewegtes Jahr erlebt. Der Konflikt in der Ukraine, die Flüchtlingskrise, die Situation in Syrien, der Putschversuch in der Türkei, all das hat uns beschäftigt und Arbeit ausgelöst. Aber ganz besonders schwierig ist natürlich die Situation in unserer Europäischen Union. Ich habe den Donnerstag, den 23. Juni, eigentlich ganz gut begonnen, mit unserem Botschafter in London, Martin Eichtinger. Wir waren an diesem Abend gemeinsam in London beim Abendessen, zusammen mit dem führenden Meinungsforscher aus Großbritannien, der uns bei der Hauptspeise noch sehr siegessicher erklärt hat, dass das alles positiv ausgehen wird. Bei der Nachspeise hat er uns ganz stolz die ersten Umfragen gezeigt: 52% für den Verbleib in der Europäischen Union. Nach der Nachspeise, beim Gehen, hat er gesagt, dass es mindestens 55% werden und er geht jetzt ins Fernsehen, um das auch der Öffentlichkeit zu berichten. Ich weiß nicht, ob er noch immer als Meinungsforscher tätig ist. Die entscheidende Frage ist das für mich nicht. Entscheidend war, dass, als ich im Hotelzimmer angekommen bin, die Situation schon ganz eine andere war. Das Ergebnis war zwar von den Prozentzahlen so wie er es vorhergesagt hat, aber leider Gottes in die andere Richtung und die Entscheidung war ein Schaden für Großbritannien und ein Schaden für uns alle in der Europäischen Union. Und jetzt besteht natürlich die Notwendigkeit, das Verhältnis der Europäischen Union und Großbritanniens neu zu definieren. Ich bin da relativ optimistisch. Ich habe letzte Woche ein Gespräch mit Boris Johnson geführt, der eine sehr schillernde und extravagante Persönlichkeit ist und der in diesem Gespräch eigentlich sehr kompromissorientiert gewirkt hat. Und ich glaube, dass es gelingen wird, das Verhältnis zwischen der Europäischen Union und Großbritannien ordentlich zu re-

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geln, so dass auch weiterhin ein vor allem wirtschaftlicher Austausch möglich ist. Das Zweite, was wahrscheinlich für uns alle noch wesentlicher ist: Diese Entscheidung hat nicht nur in Großbritannien etwas ausgelöst, sondern sie war für uns alle ein Bruch mit dem Selbstverständnis, das wir bisher hatten. Zumindest mit dem Selbstverständnis, das ich bisher hatte. Wenn ich als Außenminister unterwegs bin, am Westbalkan und in anderen Staaten, habe ich bis jetzt immer nur Länder erlebt, die darauf gedrängt haben in die Europäische Union zu kommen, wenn sie nicht schon dabei waren. Und auf einmal tritt ein Land aus der Europäischen Union aus. Noch dazu ein sehr wesentliches, das seit langer Zeit eigentlich ein aktives Mitglied dieser Union war. Und das hat natürlich in unser aller Selbstverständnis etwas verändert. Wo ist die Strahlkraft, die wir früher hatten und wie geht es weiter, wenn jetzt sogar ein Staat die Europäische Union verlässt? Wie gehen wir damit um, und was gibt es vor allem jetzt zu tun? Ich bin das vor einer Woche bei einer Veranstaltung gefragt worden und hab dann nach kurzem Nachdenken gesagt: Jetzt müssen wir alle nicht nur überzeugte Europäer sein, sondern jetzt müssen wir sogar überzeugende Europäer werden! Ich war irrsinnig stolz, dass es so gut geklungen hat, viele haben genickt, einige haben sogar applaudiert. Es ist auch relativ gut angekommen. Und als ich dann weggegangen bin von der Veranstaltung, hat mich meine Wortbüchse ein bisschen nachdenklich gemacht und ich habe mir gedacht: Okay, neben dem, dass es gut klingt, was ist denn eigentlich ein überzeugender Europäer und wie schafft man es, jemanden von der Europäischen Union zu überzeugen? In einer Zeit, in der die Kritik immer mehr wird und in einer Zeit, in der sogar ein erstes Land ausgetreten ist? Ich glaube, das Erste ist ganz klar: Es braucht eine Vision und das Gute ist, diese Vision gibt es bereits und die müssen wir nicht erst erfinden, denn es ist eine Gute. Die Idee der Europäischen Union von einem Mehr an Frieden, an Wohlstand, an Sicherheit, an Stabilität, ist sicherlich heute wie damals die richtige Vision für die Europäische Union. Und ich glaube, dass was wir jetzt dazu beitragen können, was es wahrscheinlich braucht, ist, dass wir als europäische Politiker uns anstrengen, diese Vision nicht nur zu träumen, sondern, dass wir auch daran arbeiten, dass dieser Traum jeden Tag ein Stück mehr Wirklichkeit wird. Um mehr Frieden zu erlangen, heißt das, wahr-

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scheinlich eine noch aktivere gemeinsame Außen- und ich würde sagen in Zukunft auch vor allem Verteidigungspolitik zu führen. Um mehr Wohlstand zu erreichen, heißt wahrscheinlich auch weniger an Bürokratie zu verursachen – dies ist auch ein aktuelles Vorhaben der Kommission. Und für ein Mehr an Sicherheit und Stabilität heißt es vor allem ein Ende der illegalen Migration und eine Lösung für die Flüchtlings- und Migrationskrise. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich vor genau einem Jahr bei der Botschafterkonferenz sehr klar dafür eingetreten bin, dass wir die Außengrenzen schützen müssen und dass das europäische Projekt der grenzenlosen Europäischen Union nach innen nur dann funktionieren kann, wenn es ordentliche Außengrenzen gibt. Und als ich gesagt habe, wir müssen die Flüchtlinge und illegalen Migranten an der Außengrenze stoppen und dürfen sie nicht einfach nach Mitteleuropa weitertransportieren, bin ich damals massiv dafür kritisiert worden. Als wir ein halbes Jahr später, vor ziemlich genau einem halben Jahr, mit einigen anderen Staaten versucht haben die Westbalkanroute zu schließen, hat es einen Aufschrei in Europa und darüber hinaus gegeben, doch wurde diese Linie eine Woche später von den Staats- und Regierungschefs beschlossen. Ich glaube in dieser Frage, in der wir doch nach wie vor von einer Lösung entfernt sind, gibt es trotzdem Grund zu Optimismus, weil die Linie sich mehr und mehr verändert und immer mehr Mitgliedsstaaten der Europäischen Union einen realistischen Zugang wählen wollen. Ich glaube, der realistische Zugang muss sein, dass wir die Hilfe vor Ort ausbauen, dass wir legale Wege nach Europa schaffen, aber dass wir nicht die Schlepper entscheiden lassen, wer nach Europa durchkommt und wer nicht. Die Rettung im Mittelmeer ist notwendig und richtig, aber sie darf nicht mit dem Ticket nach Mitteleuropa verbunden sein. Es muss funktionierende Außengrenzen geben, wenn wir nicht wieder Grenzen innerhalb der Europäischen Union hochfahren wollen und ich glaube, das wollen wir alle nicht. In Österreich beschäftigen uns natürlich die Auswirkungen der Migrationsströme. Die Arbeit in der Integration, gemeinsam mit dem Expertenrat – vielen Dank Herr Professor Faßmann und vielen anderen, die heute auch hier sind – ist eine zutiefst spannende, aber sie ist im letzten Jahr wesentlich schwieriger geworden. Weil neben dem, was Herr Professor Faß-

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mann unlängst als klassische Integrationsarbeit bezeichnet hat – also Inte­ gra­tion all derer, die schon lange da sind, die in zweiter Generation hier sind, die frisch aus Deutschland oder Osteuropa zuwandern – neben all dieser Arbeit gibt es jetzt die Aufgabe, von den 90.000 Menschen die letztes Jahr angekommen sind, zumindest jene 50.000 zu integrieren, die einen positiven Asylbescheid bekommen. Wir haben massiv Sprachkurse ausgebaut, wir haben Werteschulungen geschaffen, die mittlerweile in vielen anderen europäischen Staaten auch eingeführt werden. Aber die größte Herausforderung, die haben wir am Arbeitsmarkt. Das AMS sagt, dass es vielleicht gelingen kann nach fünf Jahren 50 % der anerkannten Flüchtlinge am Arbeitsmarkt zu integrieren. Unser Expertenrat hat einmal gesagt, wenn wir ein Drittel nach fünf Jahren im Arbeitsmarkt haben, dann sind wir international schon sehr gut unterwegs. Irgendjemand hat sogar gesagt, dann wären wir wahrscheinlich Weltmeister. Wenn man das noch umdreht, dann bedeutet das, dass wir jahrelang Menschen haben werden, die keine Chance haben am österreichischen Arbeitsmarkt einen Beitrag zu leisten. Dass wir nach fünf Jahren noch immer 50 oder vielleicht sogar 70 % haben, die noch immer keinen Job haben und dass wir Menschen haben, die wahrscheinlich ihr Leben lang keine Chance am österreichischen Arbeitsmarkt haben. Und da möchte ich heute noch einmal dafür plädieren, dass wir in Österreich die Möglichkeit zu mehr gemeinnütziger Arbeit schaffen. Wenn es keine Möglichkeit gibt am regulären Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, dann braucht es neben dem Sprachkurs und der Ausbildung auch die Möglichkeit einen Beitrag zu leisten. Ich glaube, wir können nicht zusehen, wenn es Menschen gibt, die keine Aufgabe haben, die dadurch keine Wertschätzung erfahren und die vielleicht am Ende des Tages sogar ihr Selbstwertgefühl verlieren. Wenn jemand Teil unserer Gesellschaft sein möchte, dann müssen wir ihm auch die Möglichkeit geben, seinen Beitrag zu leisten. Neben den Herausforderungen, die wir in Österreich und in Europa haben, gibt es im Moment natürlich auch eine sehr angespannte Nachbarschaft. Gerade auch die Wirtschaft erlebt das täglich und wir sind mit vielen Unternehmen in Kontakt, die die Konsequenzen teilweise zu tragen haben. Das Ziel der Europäischen Union war grundsätzlich aber ein gutes, nämlich einen Gürtel der Stabilität rund um Europa zu bilden. Wenn wir uns die Situation heute ansehen, dann gibt es noch viel zu tun, um dieses Ziel zu er-

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reichen. Wir haben im Osten den Ukraine-Konflikt, der nach wie vor auch das Verhältnis zwischen der Europäischen Union und Russland belastet. Wir werden weiterhin versuchen uns da als ein Staat einzubringen, der den Dialog sucht und der versucht, den Gesprächskanal zwischen Russland und der Europäischen Union zu stärken, weil es am Ende des Tages Frieden nur mit, und nicht gegen, Russland geben wird. Wenn wir weiter südlich schauen, haben wir die Türkei mit einem Putschversuch, der zahlreiche Menschenleben gefordert hat. Mit einer Reaktion auf diesen Putschversuch, die ich als Säuberungsaktionen und auch ausufernde Menschenrechtsverletzungen zusammenfassen würde. Und wir haben das Problem, dass es in den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei wenig Ehrlichkeit gibt. Wir tun uns gerade aufgrund des Flüchtlingsdeals manchmal schwer, Fehlentwicklungen in der Türkei anzusprechen und wir tun uns umso schwerer dabei ehrlich zu sein, wenn es um die Beitrittsperspektive zur Europäischen Union geht. Unter vorgehaltener Hand treffe ich kaum jemanden der sagt, dass er für den Beitritt der Türkei in die Europäische Union ist. Die Türkei, und das hat sich beim Gymnich-Treffen am Wochenende wieder einmal bestätigt, rechnet aber damit, dass es diese Beitrittsperspektive nicht nur gibt, sondern dass es sie ehe baldigst geben sollte. Ich glaube, wir müssen einen Weg finden, um den ordentlichen Dialog, die Gespräche auf den Ebenen, die wir zur Türkei haben, aufrecht zu erhalten, die Zusammenarbeit vielleicht da und dort sogar noch zu stärken, aber gleichzeitig einen realistischeren Zugang wählen. Da orientieren wir uns sehr stark an dem Konzept, das damals unter Wolfgang Schüssel und Ursula Plassnik entstanden ist, in Richtung einer privilegierten Partnerschaft, einer Interessensgemeinschaft, zu gehen, aber rechtzeitig und ehrlich zu artikulieren, dass der Beitritt am Ende des Tages wahrscheinlich keine Option sein wird. Und wenn wir noch südlicher in unserer Nachbarschaft schauen, dann haben wir die Situation in Syrien, im Irak und in Libyen und ich bin froh, dass der Kampf gegen den IS-Terror dort immer erfolgreicher wird. Wir schaffen es, militärisch voranzukommen, aber es gibt noch immer tausende Menschen, die sich nicht nur von Europa auf den Weg gemacht haben, um im Irak und in Syrien zu vergewaltigen und zu morden, sondern, die sich jetzt teilweise wieder auf den Weg zurück machen. Die Terroran-

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schläge haben gezeigt, dass wir nicht nur militärisch gegen diese Terroristen vorgehen müssen, sondern, dass wir auch in Europa polizeilich und vor allem auch ideologisch gegen den IS-Terror und die Ideologie dahinter kämpfen müssen. Und was mir ganz besonders wichtig ist: Wir sind als Österreich ein Land, das in diesem militärischen Kampf keinen wirklichen Beitrag leisten kann, aber wir können humanitär einen Beitrag leisten. Und ich möchte an der Stelle ganz herzlich Danke sagen, dem Finanzminister und allen, die es möglich gemacht haben, dass wir unsere humanitäre Hilfe im Außenministerium vervierfachen können und dass wir in Zukunft die doppelte Summe an Mitteln für die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung haben. Ich glaube, dass das ein ordentlicher Beitrag ist, den wir leisten können, um das Leid anderswo in der Welt zumindest ein Stück weit zu lindern. Abschließend – sehr geehrte Damen und Herren – darf ich Ihnen allen Danke sagen für den guten Austausch, für die gute Partnerschaft, die wir mit den unterschiedlichsten Bereichen in Österreich haben. Wir sind dankbar für die gute Zusammenarbeit mit der Wissenschaft, mit der Kultur, mit der Wirtschaft, mit vielen Bereichen des öffentlichen Lebens. Wir profitieren als Österreichisches Außenministerium sehr von diesem Austausch. Wir versuchen im Gegenzug aber auch laufend unser Angebot weiter auszubauen. Wir haben im letzten Jahr das Wirtschaftsservice geschaffen, wir adaptieren gerade unser Vertretungsnetz mit einem Büro im Silicon Valley, einer neuen Botschaft in Singapur, einem Generalkonsulat in Chengdu in China, um vor allem auch an Orten tätig zu werden, wo wir Potential für die österreichische Wirtschaft sehen. Wir tun das in enger Abstimmung mit der Wirtschaftskammer und dem Wirtschaftsministerium und ich darf auch heute noch einmal die Einladung aussprechen: Nutzen Sie uns als Ministerium! Unser Motto ist ‚Weltweit für Sie da‘ und wir haben Freude daran, wenn wir Sie als Unternehmer, aber auch Sie als Individuen, in der Welt unterstützen und begleiten zu dürfen. Ich möchte schließen mit einem Danke an all unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Ministerium, an alle unsere Botschafterinnen und Botschafter, die sich Tag täglich, teilweise auch unter schwierigen Bedingungen, in der Welt für unser Österreich einsetzen und es macht mir jeden Tag Freude, Teil dieses Teams sein zu dürfen.

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Vielen Dank für Ihr Kommen und vielen Dank, dass Sie heute bei unserer Botschafterkonferenz dabei sind!“13

Der Weg zum Bundesparteiobmann und Kanzlerkandidaten Bald nach der Nationalratswahl 2013 bei der beide Regierungsparteien (SPÖ –2,4 %, ÖVP –1,9 %) verloren, die FPÖ und die Grünen gewonnen haben (FPÖ +2,9 %, Grüne +1,9 %) und die NEOS und das Team Stronach in den Nationalrat einzogen (Team Stronach 5,7 %, NEOS 4,9 %), wurde der Bundespartobmann und Vizekanzler Michael Spindelegger innerparteilich unter Druck gesetzt und vom langjährigen Kammerfunktionär und Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner offen und im „Off“ auf die unterschiedlichste Art kritisiert. Spindelegger warf entnervt das Handtuch, und trat ab 26. August 2014 als Bundesparteiobmann, Vizekanzler und Finanzminister zurück und noch am gleichen Tag wurde Reinhold Mitterlehner vom Parteivorstand einstimmig zum Bundesparteiobmann nominiert. Er hat, wie es Thomas Hofer in seiner Analyse festhielt, sich nicht nochmals, wie 2011, die Chance entgehen lassen, zum Bundesparteiobmann gekürt zu werden.14 In der Charakterisierung der Parteiobmannschaft von Reinhold Mit­terlehner kommt Thomas Hofer zu folgendem Befund: „Die einzige Chance seiner Obmannschaft – die Steuerreform 2015 – vergab Mitterlehner. Zwar hatte er der SPÖ ein zeitliches Ultimatum für deren Verlautbarung gesetzt, inhaltliche Junktimierungen, in etwa mit Reformen in für die ÖVP typischen Bereichen, fehlten aber. So verspielte Mitterlehner die ihm anfangs noch zugemessene Reformfähigkeit binnen weniger Monate. Von der 6 Milliarden schweren Reform blieb schließlich (für beide Koalitionspartner) nur ein kommunikatives Desaster und als Symbol dafür die gerade in ÖVP Wirtschaftskreisen heftig kritisierte Registrierkassenpflicht.“15 In der Bundespartei und den Landesparteien, die ÖVP Oberösterreich hatte sich vornehm zurückgehalten, war sehr bald nach dem Kanzlerwechsel in

13 Kurz, S. (6. September 2016), ) Rede zur Botschafterkonferenz, Wien. 14 Hofer, T., Toth, B. (2017), Wahl 2017 – Loser, Leaks und Leadership, S. 14. 15 Hofer, T., Toth, B. (2017), Wahl 2017 – Loser, Leaks und Leadership, S. 15.

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der SPÖ von Faymann auf Kern klar, dass man mit Mitterlehner nicht in die Wahl gehen könne. Desaströse Umfragewerte für die ÖVP unter 20 %, in der Direktwahl 43 % für Kern, 11 % für Mitterlehner und 25 % für Strache, belegten das deutlich. Mangelhafte innerparteiliche Kommunikation, Differenzen in der Regierung und ein stetes Nachgeben in wesentlichen Haltungsfragen wie der Steuerreform oder der Migration, brachten die ÖVP in eine bedrohliche Situation. Kern war 2016 als Bundeskanzler beeindruckend gestartet, mit markanten Formulierungen in seinen Reden: Kritik an der eigenen Partei, der SPÖ, der Regierung, natürlich die Volkspartei miteingeschlossen, die er indirekt alle als „Apparatschiks“ bezeichnete, und der „Machtversessenheit“ und „Zukunftsvergessenheit“ bezichtigte. Mitterlehner konnte dem smart auftretenden Kern nichts entgegensetzen. Nach dem überraschenden Coup in Wels, der großen Grundsatzrede, dem „Plan A“ Christian Kerns im Stile einer amerikanischen Wahlkampfshow und dem entwürdigenden öffentlichen Gezerre um die Unterschriftsetzung unter ein neuformuliertes Koalitionsdokument, reifte bei vielen Mitgliedern der VP-Regierungsmannschaft die Meinung, dass es so nicht weitergehen könne. Vizekanzler Mitterlehner versuchte noch mit untauglichen Mitteln seine Position zu halten, sah aber bereits den Schaden, den er angerichtet hatte und trat am Mittwoch, den 10. Mai 2017 als Vizekanzler, Parteiobmann und Wirtschaftsminister zurück.16 17 In einer beeindruckenden Rede am darauffolgenden Freitag, den 12. Mai, ergreift Sebastian Kurz die Initiative und stellt in einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz im Außenministerium im Alois Mock-Saal klar, dass er den ihm angebotenen Vizekanzler-Posten nicht annehmen werde und dass er für Neuwahlen eintrete, um einen Neustart für Österreich zu ermöglichen. Das ständige Streiten in der Koalition mit einem Minimalkompromiss am Ende, erweckt bei der Bevölkerung zurecht den Eindruck des Stillstandes. Die beiden Koalitionsparteien können nicht mehr, die große Koalition ist ausgelaugt. Wie es mit der ÖVP weitergehen sollte,

16 Ronzheimer, P. (2018), Sebastian Kurz - Die Biografie, S. 159. 17 Horaczek, N., Toth, B. (2018), Sebastian Kurz - Österreichs neues Wunderkind?, S. 103ff.

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wurde sehr schnell und zwar am Sonntag, den 14. Mai, entschieden. Der Bundesparteivorstand, der zusammen trat, akzeptierte die Bedingungen, die Kurz für die Übernahme des Parteiobmannes stellte und designierte ihn einstimmig zum neuen Parteiobmann. Die Bedingungen waren im Wesentlichen das Reißverschlussprinzip, Durchgriffsrechte bei der Kandidatenliste und freie Hand bei Regierungsteam, Generalsekretariat und Verhandlungen. All das wurde im Statut schlussendlich am Parteitag verankert. Die Person und das Agieren Emmanuel Macrons wurden in diesen Zeiten von Sebastian Kurz oftmals öffentlich und auch in den Parteigremien angesprochen. Dazu sollte man nochmals in Erinnerung rufen, dass Emanuel Macron 2015 ein Gesetz einbrachte, dass den Wirtschaftsstandort Frankreich stärken und den Arbeitsmarkt liberalisieren sollte. In der parlamentarischen Behandlung wurden 3000 (!) Abänderungsanträge eingebracht. Den Linken war es zu liberal und galt als ein Abbau des Sozialstaates und den Rechten als zu kompliziert und zu bürokratisch. Nach der Auseinandersetzung mit seinem Ministerpräsidenten Manuel Valls, trat Macron zurück und formte aus der neuen politischen Bewegung, die er im April dieses Jahres 2016 ins Leben rief (En Marche) zu einer eigenständigen Partei, mit der er zur Präsidentschaftswahl antrat und, wie wir wissen, Erfolg hatte. Den Spitzenrepräsentanten der ÖVP war es durchaus klar, dass sich die Partei ändern musste, um weiterhin fester Bestandteil der Parteienlandschaft bleiben zu können. Zu viele Beispiele gab es, wo bürgerliche Parteien diesen Zeitpunkt versäumt hatten und damit ihre Parteien in die Bedeutungslosigkeit führten. Ein Blick in die Reihen der im Parlament vertretenen Parteien genügte, um zu sehen welchen Aderlass die ÖVP schon bisher gewärtigen musste. Und jetzt ging es nicht um die Idee einer Neugründung der ÖVP, die in den 80er und 90er Jahren immer wieder überlegt wurde, es ging auch nicht um eine neue bürgerliche Partei, die war mit den NEOS schon am Markt und auch das Team Stronach war im bürgerlichen Segment verortet. Jetzt ging es um einen Relaunch der ÖVP. Und das traute man Sebastian Kurz zu und gab ihm dazu das Pouvoir. Am 1. Juli 2017 wurde Sebastian Kurz mit überwältigender Mehrheit, mit 98,7 %, zum Parteiobmann gewählt. Viele sprachen von Aufbruch, den man spürte – nicht nur durch die frische türkise Farbe und den zügig durchgezogenen Parteitag – viel

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mehr war es das, was er in seiner Rede ansprach, was Delegierte und Gäste meinten zu spüren. „Es steht außer Frage, dass wir tun wollen, was richtig ist. Und wir wissen das ja alle aus unserer politischen Erfahrung: Das ist nicht immer das leichteste. Es fordert nämlich zunächst einmal Mut, auch überhaupt einmal auszusprechen, was Sache ist. Und wenn ich mir die Situation in unserem Land so anschaue, dann habe ich schon das Gefühl, dass wir in Österreich uns ganz gern die Dinge schön reden. Wir sind ein Stück weit Weltmeister im weiterwurschteln geworden und wir sind nicht immer gut darin, Probleme zuzugeben. Wir sind viel besser darin zu sagen, dass eh alles super ist: bestes Sozialsystem, super Wirtschaftsstandort, wir schaffen das. Aber Veränderungsbereitschaft ist bei uns nicht wirklich gegeben.“18 So Sebastian Kurz am Parteitag. Aus einer oftmals formelhaft agierenden Partei wurde eine Bewegung. Die Franzosen würden „En Marche“ dazu sagen. Eine wesentliche Veränderung war damit vollzogen.

Ein Wahlkampf der besonderen Art Das Ergebnis fasste Politikberater Thomas Hofer zusammen: „Sebastian Kurz bescherte seiner Bewegung ein sattes Plus von 7,5 Prozentpunkten und brachte damit Seltenes zu Wege: Er entthronte einen amtierenden Kanzler, und das auch noch aus der traditionell undankbaren Position eines Juniorpartners in der Regierung. Erschwert hatte die Übung der Umstand, dass mit der FPÖ, die stärkste Oppositionspartei, über Monate hinweg alle öffentlich zugänglichen Umfragen dominiert hatte. Das Manöver gelang im Zuge eines der ungewöhnlichsten aber auch längsten Wahlkämpfe der jüngeren innenpolitischen Geschichte des Landes. Die Nationalratswahl 2017 war im internationalen Vergleich nicht nur reich an Skurrilitäten – wie die exorbitant hohe Zahl an TV-Debatten auf allen Kanälen, die klare und emotionale Parteinahme einzelner Medien für einen Kandidaten, oder die für die jeweilige Partei meist schädliche Medienpräsenz fragwürdiger Wahlkampfberater – sie offenbarte auch ein eklatan-

18 Kurz, S. (1. Juli 2017), Rede am Parteitag, Linz.

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tes Gefälle, was die Professionalität der einzelnen Kampagnenteams und der Spitzenkandidaten betraf.“ 19 Bereits unmittelbar nach dem Parteitag wurde die „Bewegung“ größer, wurde in vielen Orten sichtbar und bekam mit Peter L. Eppinger eine prominente Stimme, die man aus dem Radio kannte. Peter L. Eppinger, der launige Moderator und Kommentator, verstand es die Stimmung anzufachen und trug sie auf tausenden Tour-Kilometern durch das Land. Über 7000 Facebook-Fans mit großen Reichweiten brachten das Momentum des Aufbruchs „Zeit für Neues“ in alle Landesteile. Direkte, messbare Kommunikationskanäle wurden aufgebaut. Mit E-Mails, SMS- und WhatsAppNachrichten gelang es auf Knopfdruck, mehr als 250.000 Unterstützer persönlich zu erreichen. Entscheidend war die Spannung über einen so langen Zeitraum aufrecht erhalten zu können. Woche für Woche wurden neue Kandidaten, neue unterstützende Persönlichkeiten von Sebastian Kurz, vorgestellt und von Veranstaltung zu Veranstaltung entstand mehr Dynamik und ein größeres Publikum, bis zum Höhepunkt in der Wiener Stadthalle im September, wo mehr als 10.000 Fans mit ungeheurem Enthusiasmus den Spitzenkandidaten und sein Team feierten. Sebastian Kurz wurde so gezeigt, wie ihn die Menschen persönlich erlebten, da gab es keinen Bruch zwischen der eigenen Wahrnehmung und dem medialen Bild. Noch etwas hat diesen Wahlkampf in seiner Außergewöhnlichkeit noch größer gemacht: Ein „Dirty Campaigning“, davor zu Lande eher als Schmutzkübelkampagne bekannt, wie wir es noch nie in dieser Massivität erlebten, wurde sichtbar und auch enttarnt. Ist das „Negative Campaigning“ leider schon zum Standardrepertoire verkommen, so sah man 2016 schon klare Anzeichen für „Dirty Campaigning“. Im Wahlkampf 2017 überschritt man von Seiten der SPÖ wohl alle roten Linien, indem man auf einem von der SPÖ betriebenen Facebook Kanal mit dem Titel „Die Wahrheit über Sebastian Kurz“ dem ÖVP-Kandidaten haltlose antisemitische Tiraden unterstellte. Tal Silbersteins Kampagnenmachart wurde dechiffriert und fiel letzten Endes auf die SPÖ zurück.

19 Hofer, T., Toth, B. (2017), Wahl 2017 – Loser, Leaks und Leadership, S. 9.

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Trotz vieler Querschüsse und dem schon gewohnten „Negative Campaigning“ blieben Kurz und die ÖVP bei ihrer Linie, legten den Fokus auf die eigene Kampagne, ritten keine Attacken und fokussierten sich auf ihre Botschaft „Zeit für Neues“. Kurz bot den ÖVP Wählern eine kalkulierbare Veränderung an, indem er die Partei öffnete, bewies eine klare Haltung in den wichtigsten Themenstellungen, wie die Verbesserung der Standortqualität für die Wirtschaft, wer arbeitet muss davon auch leben können, Integration durch Leistung und in der so wichtigen Migrationsfrage. Wir kennen diese Strenge, diesen Narrativ, seit seiner Zeit als Staatssekretär bereits in ihren Ansätzen. Andreas Khol hat im Jahrbuch für Politik aus dem Jahre 2017 ausführlich den Wahlkampf analysiert und kommt zum Schluss: „Wahlkampf braucht ein gediegenes Handwerk, eine klare Strategie, die, einmal festgelegt, beibehalten wird, eine Vision, eine Idee und einen glaubhaften Spitzenkandidaten oder Spitzenkandidatin. All das hat diesmal für die ÖVP gestimmt, das Wahlergebnis zeigte es.“ 20

Das Ergebnis 2017

20 Politische Akademie (2018), Jahrbuch für Politik 2017, S. 85 ff.

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Die ÖVP konnte in den letzten 50 Jahren nur drei Mal als Erster am Wahl  abend durchs Ziel gehen. Sebastian Kurz hat die Wahl deutlich, mit dem größten Abstand zur Sozialdemokratie jemals, gewonnen. Der Stimmanteil wurde ausgebaut in den Ländern und in den urbanen Räumen – in Wien wurde die ÖVP Zweiter. Einen Zuwachs gab es in 93 von 94 Bezirken. Der SPÖ gelang es, die Position zu halten und kam knapp vor der FPÖ zu liegen, und das nur deshalb, da sich die Grünen durch Spaltung und andere Fehler selbst derart beschädigten, dass sie den Einzug in den Nationalrat verpassten. Das Verhältnis zur SPÖ war durch das „Dirty Campaigning“, orchestriert von Tal Silberstein, nachhaltig gestört und durch ihre Ankündigung keine Regierungsbeteiligung anzustreben, nahm sie sich selbst aus den Verhandlungen heraus. Wie gewohnt, gab der Bundespräsident dem Obmann der stärksten Partei den Auftrag zur Regierungsbildung, womit die Wahl auf Sebastian Kurz fiel. Die einzige realistische Variante eine Regierung zu bilden, war demnach eine ÖVP-FPÖ-Koalition. Noch war man skeptisch, ob es nicht doch eine Koalition zwischen den Zweit- und Drittpositionierten, also der SPÖ und der FPÖ, nach der Wahl geben könnte. Kern war dazu sicherlich bereit und auch in der FPÖ gab es Strömungen für eine Koalition mit der SPÖ. Letztlich wurde aus diesen Überlegungen doch nichts. Auch wenn die Option mit der FPÖ nun ernsthaft auszuloten war, gab es anfänglich Schwierigkeiten. Da waren die Sprüche der FPÖ gegen Kurz und auch Strache hatte sein Problem auf Kurz zuzugehen, hatte er ihn in den Wahlkampftagen doch sehr heftig angegriffen. Letztlich behielt der Pragmatismus die Oberhand, wobei es für die ÖVP klar war, dass eine Regierungsbildung nur dann in Frage käme, wenn die FPÖ ein klares Bekenntnis zum Kampf gegen den Antisemitismus, für eine starke Part-

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nerschaft mit Israel und eine unverrückbar klare Position zur europäischen Union ablegen würde. Der Kurzberater Stefan Steiner, als Mitglied in der Spitzengruppe, berichtet von einigen wenigen Vieraugengesprächen zwischen Kurz und Strache. Nach einem gemeinsam durchgeführten Kassasturz begannen die Verhandlungen zu Themen und Details in Untergruppen. Die in diesen Gruppen ungelösten Fragen wurden in der Spitzengruppe, der von ÖVP Seite Kurz, Blümel, Köstinger, Wöginger und Steiner angehörten, aufgelöst. Inhaltlich war die Themenlage so gestaltet, dass es eine doch beachtliche Schnittmenge zwischen den Programmpunkten und Überlegungen der ÖVP und FPÖ gab. Das vertrauensvolle Klima wurde dadurch gestärkt, dass nichts nach außen drang und es sehr bald klar war, dass man sich einigen wollte. Schlussendlich dauerten die Verhandlungen 51 Tage, vom 20. Oktober bis zum 10. Dezember 2017, sodass die Regierung am 18. Dezember vom Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen angelobt werden ­konnte.21 Nach der Angelobung in der Hofburg ging es über den Ballhausplatz in das Kanzleramt, wo Sebastian Kurz das Kreisky-Zimmer bezog. Die Amtsübergabe von Kanzler Kern an Kanzler Kurz dauerte mit einem Handschlag nur sehr kurz. Mit Bundeskanzler Kurz wurde ein neues Kapitel in der österreichischen Geschichte aufgeschlagen. Am 20. Dezember stellt sich die Regierung dem Nationalrat, wo Kurz seine Regierungserklärung abgibt. Hier ist sie im Wortlaut:

20. Dezember 2017 – Regierungserklärung „Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Sehr geehrter Herr Präsident des Nationalrates! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Vor allem aber liebe Österreicherinnen und Österreicher! Am 15. Oktober hat Österreich, am 15. Oktober haben Sie, liebe Österreicherinnen und Österreicher, eine Richtungsentscheidung getroffen. Sie haben sich für Verände-

21 Koller, A. (17. Dezember 2017), Kurz und Strache im Interview: „Mit erhobenem Haupt“ zur Angelobung, Salzburger Nachrichten.

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rung entschieden, für einen neuen Weg und damit auch für neue Chancen in unserem Land. Ich möchte mich heute nochmals für das große Vertrauen bedanken, das uns am 15. Oktober geschenkt wurde, und ich möchte mich noch einmal bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie uns Ihre Stimme gegeben haben. Ich verspreche Ihnen, wir werden damit behutsam umgehen. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.) Ich möchte heute aber auch die Gelegenheit nutzen, mich ganz herzlich bei Bundespräsident Alexander Van der Bellen dafür zu bedanken, dass er die Regierungsverhandlungen der letzten beiden Monate stets gut begleitet hat und mit Rat und Tat und da und dort auch mit Anregungen zur Verfügung gestanden ist, vor allem aber auch dafür, dass er uns am Ende sein Vertrauen geschenkt hat. – Vielen Dank, Herr Bundespräsident! (Beifall bei ÖVP und FPÖ.) Ganz besonders möchte ich mich heute aber auch bei den Mitgliedern der bisherigen Bundesregierung bedanken, bei all jenen, die in den letzten vier Jahren in Österreich Verantwortung getragen haben, bei all jenen, die in der Regierung ihren Beitrag geleistet haben. Stellvertretend für alle anderen Mitglieder der Bundesregierung möchte ich Christian Kern und Wolfgang Brandstetter herausstreichen und allen Danke für die professionelle Übergabe sagen, die in den letzten Tagen in den Ministerien stattgefunden hat. – Vielen Dank! (Beifall bei ÖVP und FPÖ sowie bei Abgeordneten von SPÖ und NEOS.) Sehr geehrte Damen und Herren! Veränderung schafft Hoffnung. Sie macht manchmal auch Reibung notwendig. Veränderung schafft Chancen, und sie schafft mancherorts auch Unsicherheit. Veränderung ist etwas, über das man immer unterschiedlicher Meinung sein kann, aber Veränderung ist nichts, was sich aufhalten lässt. Die Welt hat sich massiv verändert. Wir betreten heute ein völlig neues Spielfeld mit neuen Spielern in aller Welt, mit neuen Regeln und vor allem auch mit neuen Geschwindigkeiten. Insbesondere Globalisierung, Digitalisierung und Mobilität haben unser Österreich nicht nur verändert, sie werden unser Land auch immer stärker verändern. Als Bundesregierung verfolgen wir daher gemeinsam ein klares Ziel: Wir wollen auf diesem neuen Spielfeld Österreich wieder einen Platz an der Spitze ermöglichen. Wir wollen ein Comeback für Österreich schaf-

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fen, auf das wir gemeinsam stolz sein können und von dem alle in unserem Land profitieren. Wir glauben an unser Österreich. Wir glauben vor allem auch an die Menschen in unserem Land, und wir glauben daran, dass eine positive Zukunft vor uns liegt. Österreich und seine Menschen haben in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass wir oft mehr können, als man uns zutraut, und manchmal haben wir sogar bewiesen, dass wir mehr können, als wir uns selbst zutrauen. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.) Sehr geehrte Damen und Herren! Nach 1945 haben unsere Vorfahren aus den Trümmern dieser Republik unser Land wieder aufgebaut. In den Siebzigerjahren ist es gelungen, einen Sozialstaat zu schaffen, um den wir in aller Welt beneidet werden. In den 2000er-Jahren ist es uns gelungen, dass in Deutschland viele der Meinung waren, Österreich sei das bessere Deutschland. Zu jedem Zeitpunkt war es nicht nur die Politik, waren es nicht nur die Politiker, die Visionen vorgegeben haben, Ziele vorgelegt haben und sich engagiert und eingebracht haben, es waren vor allem die Menschen in unserem Land, die durch harte Arbeit ihren Beitrag geleistet haben und die unser Land dorthin gebracht haben, wo es heute steht. Als Vertreter der jüngeren Generation möchte ich heute all jenen Danke sagen, die in unserer Geschichte einen Beitrag dazu geleistet haben, dass wir so dastehen, wie es heute der Fall ist. (Beifall bei ÖVP und FPÖ sowie bei Abgeordneten der SPÖ.) Die Politik hat vor allem aber die Verantwortung, Richtungsentscheidungen zu treffen, nicht falsch abzubiegen und alles dafür zu tun, dass die Entwicklung auch in Zukunft eine positive ist. Gerade in den letzten Jahren waren Entwicklungen in unserem Land nicht immer zum Positiven, und die eine oder andere Entscheidung hat nichts Gutes für  unser Land gebracht. Gerade die Flüchtlings- und Migrationskrise hat dazu geführt, dass sich die Sicherheitssituation, aber auch das Zusammenleben in Österreich zum Negativen entwickelt hat. So stehen wir heute hier als neu gewählte Bundesregierung und bitten Sie, liebe Österreicherinnen und Österreicher, vor allem um eines, nämlich um Ihr Vertrauen, diesen neuen Weg gemeinsam mit uns zu gehen. Darauf freuen wir uns und darum bitten wir Sie. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.) Dem Vertrauen, um das wir Sie ersuchen, möchte ich als Bundeskanzler vor allem auch mit einem Versprechen begegnen: Ich verspreche Ihnen, unseren

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Weg werden wir als Bundesregierung nicht beendet haben, bevor Österreich nicht noch besser dasteht als heute. Wir werden alles tun, um Chancen, die sich uns bieten, zu nutzen und um vor allem bei Fehlentwicklungen gegenzusteuern. Ich verspreche Ihnen, unseren Weg nicht beendet zu haben, bevor arbeitenden Menschen in Österreich nicht wieder mehr zum Leben bleibt. Daher ist es unser Ziel, die Steuer- und Abgabenquote in Richtung 40  Prozent zu senken, damit die Menschen, die arbeiten gehen, nicht die Dummen in unserem Land sind. Wir haben uns vorgenommen, da ganz besonders bei den niedrigen und mittleren Einkommen anzusetzen. Die erste Maßnahme wird die Entlastung der Niedrigverdiener in unserem Land sein. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.) Unser Weg wird aber auch nicht beendet sein, bevor unsere Sozialsysteme nicht wieder wirklich treffsicher sind. Wir streben eine Veränderung bei der Mindestsicherung an, um Ungerechtigkeiten im System zu beenden. Unser Weg wird auch nicht beendet sein, bevor es nicht wieder mehr Ordnung und Sicherheit in unserem Land gibt. Unser klares Ziel ist der ordentliche Schutz der Außengrenzen auf europäischer Ebene und der Kampf gegen die illegale Migration. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.) Ich verspreche Ihnen auch, dass wir alles unternehmen werden, um eine Veränderung im Bildungsbereich zustande zu bringen, dass junge Menschen die Schule erst verlassen können, wenn sie ordentlich lesen, schreiben und rechnen können und nicht, wenn sie die Schulpflicht abgesessen haben. Nur so können wir sicherstellen, dass junge Menschen auch alle Chancen am Arbeitsmarkt haben. Und ich verspreche Ihnen, dass wir alles tun werden, um gut vorbereitet zu sein, um die Chancen der Digitalisierung für unser Land bestmöglich zu nutzen. Wir wollen die öffentliche Verwaltung ins digitale Zeitalter bringen, und wir wollen vor allem unseren Fokus auf die Einführung von 5G-Mobilfunk legen. Sehr geehrte Damen und Herren! All das können wir tun, und all das werden wir auch tun. Als Basis dafür haben wir in den vergangenen zwei Monaten ein Regierungsprogramm ausgearbeitet, in dem auf 180  Seiten unsere Ideen und Ambitionen zusammengefasst sind. An dieser Stelle möchte ich ganz besonders  Heinz-Christian  Strache und der Freiheitlichen Partei für die konstruktiven Verhandlungen dan-

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ken, denn neben den Visionen, den Zielen und den eigenen Ideen braucht es auch einen Partner, um diese umzusetzen. Vielen Dank für die guten Verhandlungen und dafür, dass wir gemeinsam zu einem Ergebnis gekommen sind! (Beifall bei ÖVP und FPÖ.) Jedes Programm, das auf den Boden gebracht werden soll, braucht vor allem eines, nämlich ein Team, das bereit ist, die Arbeit zu leisten. Bevor Heinz-Christian Strache die Minister der FPÖ vorstellen wird, möchte ich die Möglichkeit nutzen, die Ministerinnen und Minister der Volkspartei vorzustellen. (Abg. Schieder: Können sie sich nicht selber vorstellen?!) Unser Team ist ein breiter Mix aus Erfahrung in der Politik und Erfahrung in Wissenschaft und Forschung und in der Wirtschaft. Es ist ein breites Team aus Männern und Frauen, aus Jüngeren und Junggebliebenen, ein Team, das bereit ist, für unser Land zu arbeiten. Mit Elisabeth Köstinger hat das Hohe Haus heute eine Präsidentin verloren, aber wir als Bundesregierung haben eine starke Ministerin gewonnen. Elisabeth Köstinger wird das Ressort Nachhaltigkeit und Tourismus übernehmen, in dem erstmals die Umwelt- und die Energieagenden zusammengeführt sind. Das bedeutet eine große Chance, um unsere Ziele im Kampf gegen den Klimawandel auch wirklich zu erreichen. – Liebe Elisabeth, ich freue mich auf die Zusammenarbeit! (Beifall bei ÖVP und FPÖ.) Mit Universitätsprofessor Heinz Faßmann haben wir den ehemaligen Vizerektor der Universität Wien, einen anerkannten Wissenschaftler, den Chef des Expertenrats für Integration und jemanden gewinnen können, der ein sehr umsichtig agierender Mensch ist. Ich glaube, dass du alle Voraussetzungen mitbringst, um dieses so wichtige Ressort mit ruhiger Hand zu führen. Wir haben zum ersten Mal ein Ressort geschaffen, in dem die Bildung vom Kindergarten bis zu den Universitäten in einem Haus gebündelt ist, um auch den gesamten Bogen der Bildung, den wir in unserem Land anbieten können, unter einem Blick zu sehen. – Vielen Dank für deine Bereitschaft, diese Aufgabe zu übernehmen! (Beifall bei ÖVP und FPÖ.) Mit Margarete Schramböck haben wir eine erfahrene Managerin aus Österreich gewinnen können, die in zahlreichen österreichischen Unternehmen tätig war und vor allem im Bereich der Digitalisierung über eine extrem hohe Expertise verfügt. Wir schaffen erstmals nicht nur ein Wirtschafts-, sondern vor allem ein Digitalressort, mit dem Ziel, die Verwaltung

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digitaler zu gestalten, aber auch mit dem Ziel, die österreichischen Unternehmen bestmöglich in dieser Zeit des Wandels zu begleiten. – Liebe Margarete, vielen Dank für deine Bereitschaft! (Beifall bei ÖVP und FPÖ.) Josef Moser ist den meisten in diesem Haus wohlbekannt durch seine Tätigkeit als Rechnungshofpräsident. All jenen, die in der Vergangenheit Regierungsverantwortung hatten, ist er nicht immer nur positiv aufgefallen, weil er stets eingemahnt hat, einen sparsamen Umgang mit dem Steuergeld zu pflegen, und auch immer ein Treiber für Reform und Veränderung in unserem Land war. Ich freue mich sehr, dass du bereit bist, das Ministerium für Verfassung, Reform, Deregulierung und Justiz zu übernehmen, und bin voller Freude, mit dir gemeinsam die eine oder andere notwendige Veränderung in diesem Land einleiten zu können. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.) Hartwig Löger ist jemand, der für Verlässlichkeit steht. Er war Vorstandsvorsitzender der Uniqa Österreich und ist in Zukunft bereit, als Finanzminister auf das Steuergeld der Österreicherinnen und Österreicher aufzupassen. Gerade der sparsame Umgang mit Steuergeld ist eines der ganz großen Ziele unserer Bundesregierung.  – Vielen Dank  für deine Bereitschaft! (Beifall bei ÖVP und FPÖ.) Juliane Bogner-Strauß ist nicht nur dreifache Mutter, sondern vor allem auch eine erfolgreiche Universitätsprofessorin, und das noch dazu an der TU in Graz. Sie hat es geschafft, sich in einer Männerdomäne durchzuboxen. – Vielen Dank für die Bereitschaft, als Ministerin für Frauen, Familie und Jugend in dieser Bundesregierung einen Beitrag zu leisten! (Beifall bei ÖVP und FPÖ sowie des Abg. Strolz.) Gernot Blümel hat auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene politische Erfahrung gesammelt, kennt das Regierungsgeschäft durch seine Mitarbeitertätigkeit im Parlament, aber auch in diversen Regierungsbüros. Er wird nicht nur die Regierungskoordination ausüben, sondern übernimmt auch die Agenden für Kunst und Kultur, Medien und die europäischen Angelegenheiten. – Willkommen im Team! (Beifall bei ÖVP und FPÖ.) Mit Karoline Edtstadler haben wir eine erfolgreiche Juristin gewinnen können, die als Staatssekretärin im Innenministerium einen Beitrag leisten wird. Sie ist Oberstaatsanwältin und war zuletzt am Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg tätig. – Vielen Dank für die Bereitschaft, diese Bundesregierung zu verstärken! (Beifall bei ÖVP und FPÖ.)

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Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben ein starkes Team mit vielen unterschiedlichen Charakteren, aber lassen Sie mich vor allem eines festhalten: Aus meiner Sicht ist die entscheidende Frage nicht, woher jemand kommt oder in welchen Bereichen er bisher tätig war, sondern die entscheidende Frage ist, ob eine Regierung gute Arbeit für die Österreicherinnen und Österreicher leistet, ob eine Regierung Positives für die Menschen beitragen kann, für die Familien, die Unternehmer und Arbeitnehmer und vor allem auch für alle Generationen in unserem Land. Wir wollen eine Politik machen, die  den Menschen wieder dient, anstatt sie zu bevormunden. Das ist unser Versprechen an die Bevölkerung in Österreich, das ist die Veränderung, die wir zustande bringen wollen. Bei allem Willen und Mut zur Veränderung sind es vor allem drei zentrale Bekenntnisse, die uns auf diesem Weg Halt geben werden: ein Bekenntnis zu unserer Vergangenheit, ein Bekenntnis zur Europäischen Union und ein Bekenntnis zu einem neuen Stil. Präsident Sobotka hat zuvor schon darüber berichtet, dass 2018 das bedeutsame Jahr sein wird, in dem wir viele Jubiläen gemeinsam feiern werden und in dem wir anlässlich vieler anderer Jubiläen auch gemeinsam in Trauer zurückblicken werden. Unsere Republik feiert ihr 100-jähriges Bestehen, aber wir werden uns auch der beschämenden und traurigen Ereignisse rund um den März  1938 erinnern. Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei Bundespräsident außer Dienst Dr.  Heinz Fischer dafür bedanken, dass er bereit ist, die Vorbereitungen, aber auch die Abwicklung des Gedenkjahres 2018 zu übernehmen. – Vielen Dank, Herr Bundespräsident! (Allgemeiner Beifall.) Gerade im Jahr  2018 ist es unsere Pflicht, uns auch an die dunklen Seiten unserer Geschichte zurückzuerinnern, und wir müssen die Erinnerung an den Horror des Zweiten Weltkriegs vor allem auch dafür verwenden, davor zu warnen und uns immer wieder ins Bewusstsein zu rufen, dass so etwas nie wieder geschehen darf. Ich selbst habe in meiner Schulzeit das erste Mal in Ansätzen das Ausmaß des Terrors des Nationalsozialismus verstanden, im Gespräch mit Holocaustüberlebenden. Und erst einige Jahre später, während meiner Tätigkeit als Staatssekretär und danach als Außenminister, ist mir bewusst geworden, dass ich wahrscheinlich zu einer der letzten Generationen gehöre, die überhaupt noch die Möglichkeit gehabt hat, diese Gespräche zu führen.

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Für uns ist eines ganz klar: Antisemitismus hat in Österreich und in Europa keinen Platz. Wir werden mit aller Entschlossenheit gegen alle Formen des Antisemitismus ankämpfen, gegen den noch immer bestehenden, aber auch gegen den neu importierten. Das wird eine wesentliche Aufgabe unserer Bundesregierung sein. (Allgemeiner Beifall.) Neben der Gründung der Ersten Republik und den Anfängen des Zweiten Weltkriegs sind es auch andere Ereignisse, derer wir im nächsten Jahr gedenken werden: 1848 wollten die Menschen in ganz Europa die Fesseln von Absolutismus und Diktatur abstreifen, 1948 wurde die immens wichtige Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gemeinsam beschlossen, und 1968 kämpften die Bürgerinnen und Bürger in der damaligen Tschechoslowakei für Selbstbestimmung, Demokratie und Meinungsfreiheit. All das, wofür die Menschen im Zuge dieser Ereignisse gekämpft haben, wird heute durch die Europäische Union abgesichert und garantiert. Gerade das Gedenkjahr  2018 zeigt uns, wie wichtig das Friedensprojekt der Europäischen Union ist und wie wichtig es ist, unsere europäischen Werte hochzuhalten. Auch wenn die Europäische Union, und ich gebe das gerne zu, für meine Generation mittlerweile Selbstverständlichkeit geworden ist, so ist es notwendig, dass wir uns bewusst machen, dass die Europäische Union keine Selbstverständlichkeit ist. Und es ist noch notwendiger, uns bewusst zu machen, dass es unsere Aufgabe ist, daran zu arbeiten, dass sich unsere Europäische Union auch in Zukunft zum Positiven entwickelt.  (Beifall bei ÖVP und FPÖ.) Ich habe immer klar gesagt, dass diese Regierung eine proeuropäische sein wird, und das Programm, welches wir heute vorlegen, unterstreicht das auch. Ich habe in den ersten 48 Stunden meiner Amtszeit die drei Präsidenten des Rats, des Parlaments und der Kommission in Brüssel treffen dürfen und bereits erste Gespräche geführt, wie wir den Ratsvorsitz im zweiten Halbjahr 2018 anlegen werden. Wir haben im zweiten Halbjahr  2018 eine große Verantwortung, nicht nur für Österreich, sondern vor allem für unsere Europäische Union. Und wir haben die Chance, das Prinzip der Subsidiarität auf europäischer Ebene stärker zu verankern, sicherzustellen, dass die Europäische Union in den großen Fragen stärker wird und sich gleichzeitig in kleinen Fragen

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zurücknimmt, über die Nationalstaaten oder Regionen besser alleine entscheiden können. Wir haben auch die Pflicht, während unseres Ratsvorsitzes bei Fehlentwicklungen gegenzusteuern. Wir haben die Pflicht, dagegen anzukämpfen, dass die Schlepper entscheiden, wer nach Europa zuwandern darf, und nicht wir als Europäerinnen und Europäer. Wir haben die Pflicht, hinzusehen und nicht zu schweigen, wenn Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in manchen europäischen Ländern gefährdet sind. Und wir haben auch die Pflicht, als Österreich, ein Land im Herzen Europas, Brückenbauer zu sein, wenn die Spannungen zwischen Ost und West mehr und mehr werden. Wir haben die Verantwortung, klar im Umgang mit unseren Nachbarn zu sein. Das bedeutet, die Staaten am Westbalkan auf ihrem Weg in die Europäische Union zu unterstützen, aber gleichzeitig auch klar zu sagen, dass die Fehlentwicklungen in der Türkei dazu führen, dass die Türkei sicherlich keine Zukunft in der Europäischen Union haben wird. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.) Liebe Österreicherinnen und Österreicher! Wir geben heute das Versprechen ab, dass wir nicht nur proeuropäisch agieren werden, sondern dass wir uns aktiv auf europäischer Ebene zum Wohle Österreichs und zum Wohle der Europäischen Union einbringen werden. Unser drittes Bekenntnis, sehr geehrte Damen und Herren, das wir als Bundesregierung abgeben wollen, ist ein Bekenntnis zu einem neuen Stil und auch zu Werten, die unsere Arbeit prägen sollen. So neu die Herausforderungen sind, die auf unser Land in  den nächsten fünf Jahren zukommen werden, so zeitlos sind die Werte, auf die wir bauen wollen: Respekt, Anstand und auch Hausverstand. Lassen Sie mich ein paar Worte zum Respekt sagen: Als ich Staatssekretär für Integration wurde, habe ich mir zum Vorsatz gemacht, mit eigenen Ideen zu überzeugen und nicht andere anzupatzen oder schlechtzumachen. Als Bundesregierung haben wir schon bei den Verhandlungen einen guten Umgang miteinander gefunden und wollen diesen auch in Zukunft leben. Ich bin mir bewusst, dass es die Aufgabe der Opposition ist, zu kontrollieren, zu fordern und da und dort natürlich auch zu kritisieren. Das ist nicht nur ihre Aufgabe, sondern auch ihre demokratische Pflicht. Ich respektiere auch, dass das Regierungsprogramm nicht jedem gefallen kann,

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dass Sie wahrscheinlich auch nicht damit einverstanden sein werden; aber bitte respektieren Sie als Opposition auch, dass das Regierungsprogramm einzig und allein eines ist, nämlich die Umsetzung von Versprechen, die wir im Wahlkampf getätigt haben und für die wir auch gewählt wurden! Das Regierungsprogramm beinhaltet keine Überraschungen, sondern beinhaltet die Forderungen, für die beide Parteien gewählt wurden. (Lang anhaltender Beifall bei ÖVP und FPÖ.) Ich freue mich darauf, mit der Opposition in den nächsten fünf Jahren unsere Vorstellungen für Österreich zu diskutieren. Ich freue mich auf den Diskurs und die Debatte. Ich bitte aber auch darum, dass wir einen Weg finden, respektvoll miteinander umzugehen, und diese Diskussion stets in einem ordentlichen Ton und mit würdigen Aussagen in diesem Haus durchführen. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.) Das bringt mich zu einem zweiten wichtigen Wert, der Basis für unsere Arbeit sein soll, nämlich Anstand. Ich bin mir bewusst, dass wir als Regierung in Zukunft viele Entscheidungen zu treffen haben werden. Und Anstand beim Treffen von Entscheidungen bedeutet für mich vor allem, mit geliehener Macht sorgsam umzugehen. Das bedeutet, ein Bewusstsein dafür zu haben, dass man nicht jede Entscheidung wird richtig treffen können, das bedeutet aber auch, ein Bewusstsein dafür zu haben, dass man es sich nicht leicht machen darf. Ich verspreche Ihnen heute, dass wir uns bei den Entscheidungen, die wir zu treffen haben, stets bemühen werden, möglichst viele Meinungen anzuhören, und dass wir es uns nicht leicht machen werden, die notwendigen Entscheidungen für unser Land zu treffen. Ich verspreche Ihnen auch, dass wir stets das Wohl unseres Landes in den Mittelpunkt stellen werden und das Beste für Österreich geben werden. Und ich verspreche Ihnen vor allem, dass Anstand für uns auch bedeutet, einen ordentlichen Umgang mit Steuergeld zu pflegen. Nur wenn wir es schaffen, im System zu sparen, kann es uns gelingen, dass den Menschen wieder mehr zum Leben überbleibt. Nur eine Regierung, die ordentlich mit Steuergeld umgeht, verhält sich auch anständig gegenüber den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern unseres Landes. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.) Zu guter Letzt, sehr geehrte Damen und Herren, braucht es neben dem Respekt und dem Anstand, so denke ich, auch Hausverstand. Wir leben

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in einer Zeit, in der es eine Flut an Regulierung, an Gesetzen, Beschlüssen, Vorgaben und Verordnungen gibt. Wir regeln das Leben der Menschen bis ins kleinste Detail. Ich glaube, dass es wichtig ist, und das ist ein Ziel dieser Bundesregierung, dass wir es gemeinsam schaffen, wieder weniger an Regulierung zu produzieren und wieder mehr Eigenverantwortung zuzulassen. Der gesunde Hausverstand wird stets auch ein Kompass für unsere Politik sein. (Beifall bei ÖVP und FPÖ.) Sehr geehrte Österreicherinnen und Österreicher! Die Herausforderungen, die vor uns liegen, sind vielfältig. Man könnte fast sagen, es gibt Arbeit, wohin man schaut. Ich kann Ihnen nur sagen, dass wir uns als Bundesregierung auf unsere Tätigkeit freuen,  dass wir uns anstrengen werden, und ich kann Ihnen eines sagen: Wenn wir ein Comeback für Österreich zustande bringen wollen, dann wird uns das allen nur gemeinsam gelingen. Daran werden wir arbeiten, darauf freuen wir uns, und ich danke Ihnen nochmals für Ihr Vertrauen. (Lang anhaltender Beifall bei ÖVP und FPÖ.)22 Nicht nur, dass sich viele Regierungschefs nach seiner Wahl bei Sebastian Kurz gemeldet haben und ihm gratulierten, es fand auch die Regierungserklärung internationales Echo, insbesondere im europäischen Raum, was dieser Ausschnitt aus der Süddeutschen Zeitung noch verdeutlicht: „Österreichs Kanzler Sebastian Kurz versendet in seiner Regierungserklärung ein proeuropäisches Signal. Mit einem herzlichen Empfang bei seinem ersten Auftritt als Bundeskanzler im Parlament hat Sebastian Kurz nicht rechnen dürfen. Schon bevor er am Mittwochnachmittag seine Regierungserklärung abgibt, sind die Wogen hochgeschlagen: zum einen werden die Kandidaten von ÖVP und FPÖ bei der vorgeschalteten Neuwahl zum Nationalratspräsidium mit einem denkbar schlechten Ergebnis in ihre Ämter gehievt, weil die Opposition ein Zeichen des Protests setzen will. Zum anderen muss sich Kurz heftige Vorwürfe gefallen lassen, weil er vor seiner Antrittsrede vor den Abgeordneten noch schnell eine Auslandreise nach Brüssel eingeschoben hatte. Ein ‚proeuropäisches Signal‘ hat er damit senden wollen, zuhause aber ist ihm das von SPÖ und NEOES als ‚Missachtung‘ des Parlaments ausgelegt worden.

22 Kurz, S. (20. Dezember 2017), Rede zur Regierungserklärung, Parlament.

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Der Auftakt zeigt gleich in zweifacher Weise, was künftig auf Österreichs politischer Bühne zur Aufführung kommen dürfte: innenpolitisch sind harte Auseinandersetzungen zu erwarten zwischen der rechten Regierung und der links-liberalen Opposition. Außenpolitisch wird die Regierung aus ÖVP und FPÖ zunächst darauf bedacht sein, Befürchtungen der Partner zu zerstreuen.“23 Im Parlament wird die Regierung stets von einer gemeinsamen Opposition scharf kritisiert und attackiert. Manche Vertreter der Regierung legen das eine oder andere Mal auf die noble Zurückhaltung von der Regierungsbank aus weniger wert. Diskussionsfreudiger Parlamentarismus ist die Folge davon. Von den Zusehern oftmals als zu scharf in den Formulierungen verstanden, lösen die Diskurse stets eine intensive Reaktion in den Medien, insbesondere in den Sozialen Medien, aus. Außenpolitisch gelingt es durch das souveräne Auftreten von Kanzler Sebastian Kurz sämtlich Bedanken zu zerstreuen. Es zeigen sich keinerlei Reaktionen, wie das beim Zusammengehen zwischen der Schüssel-ÖVP und der Haider-FPÖ im Jahre 2000 noch der Fall war, ab. Ganz im Gegenteil: Das außenpolitische Auftreten des Kanzlers wird in Europa und darüber hinaus sehr bewusst und positiv wahrgenommen. Besuche in allen Weltregionen, Auftritte vor der UNO, Besuche bei den Präsidenten Russlands und Amerikas und bei allen Partnern in der Europäischen Union zeigen, Österreich ist auf der politischen Bühne wieder in ganz besonderem Maße präsent. Besondere Akzente kann Österreich während seiner Ratspräsidentschaft im Jahre 2018 setzen. Durch eine internationale EU-Afrika Konferenz werden nicht nur Themenstellungen der Migration und Entwicklungszusammenarbeit auf die Tagesordnung gesetzt, sondern auch das gegenseitige Verständnis und die politische Zusammenarbeit mit dem Wachstumskontinent gestärkt. Der oben schon erwähnte Kongress im November in Wien zur Sicherung des jüdischen Lebens in Europa, zeigt nicht nur die Haltung des Kanzlers in der Frage im Kampf gegen den Antisemitismus und seine Bedachtsamkeit auf nachhaltige

23 Mühlauer, A., Münch, P. (21. Dezember 2017), Kurz sieht sich als Mittler in Europa, Süddeut­ sche Zeitung.

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Ergebnisse, sondern auch den breiten internationalen Respekt und die Anerkennung seines Einsatzes für ein gutes und sicheres Leben der jüdischen Gemeinden in Europa. Kurz bleibt seinen Stärken treu, denn schon in der ersten Ministerratssitzung wird die Senkung des Arbeitslosenversicherungsbetrages für geringe Einkommen beschlossen und noch vor der Regierungsklausur wird die Einstellung der „Aktion 2000“ für ältere Arbeitslose, als eine teure und ineffiziente Maßnahme, um ältere Arbeitnehmer in ein Arbeitsverhältnis zurück zu bringen, die nur einige wenige SPÖ-geführte Gemeinden genutzt haben, angekündigt. Bis zu ihrem Ende durch die Veröffentlichung des Ibiza-Videos leistet die türkis-blaue Koalition eine meist gut abgestimmte Arbeit ohne öffentlichen Streit. Einzig die Irritationen im Innenministerium, die in einer völlig überschießenden Hausdurchsuchung im Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) ihren Gipfel erreichen und zu einem gleichnamigen Untersuchungsausschuss führen, belasten das Klima in der Koalition.

Regierung Kurz I – Bilanz Entsprechend dem 182-seitigen Regierungsprogramm „Zusammen für Österreich“ wurde die Arbeit der Koalitionsregierung von ÖVP und FPÖ so angelegt, dass die Regierung nach außen hin ohne Streit und öffentlich ausgetragenen Meinungsdifferenzen einen neuen Stil des politischen Miteinanders umzusetzen versuchte. Im Wesentlichen hielt das Einvernehmen, trotz des politischen Fouls in der BVT-Frage, bis zu ihrem Ende. Inhaltlich wurde vor allem durch eine solide Finanz- und Budgetpolitik, die 2019 einen Budgetüberschuss erzielte, welche die MaastrichtKriterien einhielt, ein Spielraum erwirtschaftet, der es möglich machte den Familienbonus einzuführen und den ersten Teil einer Steuerreform in Umsetzung zu bringen. Kleinverdienerinnen und –verdiener wurden entlastet, wobei besonders die Streichung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, die Senkung der Krankenkassenbeiträge und die überdurchschnittliche Erhöhung der Mindestpensionen bekannt sind. Eine neue Form der Mindest-

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sicherung und andere Vorhaben scheiterten an den Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes. Die Sozialversicherungsträger wurden gegen heftigen Widerstand aus der Ecke der Sozialpartner und Länder von mehr als zwanzig Einzelorganisationen zu fünf Sozialversicherungsträgern zusammengelegt. Damit wurden Voraussetzungen geschaffen, um österreichweit einheitliche Kostenersätze und Tarife für rund 90 Prozent der Versicherten zu gewährleisten. Ein „Mega-Projekt“, das seit Jahrzehnten angedacht wurde, ist heute als Reform längst von allen akzeptiert und in seiner Wirkung positiv anerkannt. Das Digitale Amt, Verwaltungsvereinfachungen, die Beseitigung von dutzenden zum Teil toten Rechtsvorschriften, die Flexibilisierung der Arbeitszeit und weitere Maßnahmen dienten der Stärkung des Wirtschaftsstandortes. Im Bereich des Unterrichtswesens wurden die Deutschförderklassen und der Ethikunterricht etabliert, der für jene Schülerinnen und Schüler verpflichtend wurde, die sich vom Religionsunterricht abgemeldet hatten. Darüber hinaus wurde eine Vielzahl von Maßnahmen zurückgenommen, die den Weg zu einer Einheitsschule geebnet hätten. Im Innenministerium war der Minister vor allem damit beschäftigt Führungskräfte auszutauschen und dort wo es nicht gelang, wie im BVT, brachte man eine staatspolitisch höchst sensible und international bestens vernetzte und anerkannte Organisationseinheit durch einen Hausdurchsuchungsbefehl öffentlich in Verruf. Dies schadete sowohl dem Ansehen Österreichs sowie seiner Sicherheit. Im Gegenzug bekam Österreich dafür Ausreisezentren, vormalige Asylzentren, an denen man neue Schilder montierte, teure Polizei-Pferde und begonnene Synergien ergebende Bauvorhaben wurden gestoppt oder an anderen Orten umgesetzt. Notwendige Gesetze, die den Bundestrojaner oder die Datenerfassung und Speicherung betroffen haben, wurden so formuliert, dass sie vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben wurden. Ein besonderes Gustostückerl war die angeschaffte Phantasie-Uniform des FPÖ Generalsekretärs des Innenministeriums. So verstand Kickl offenbar die Sicherheitspolitik, wobei sein Sekretär anlässlich eines Treffens freimütig einbekannte, dass er dazu da ist, um Sand ins Getriebe der Koalition zu streuen. Sehr bald zeigte sich der im Koalitionsgetriebe eingebrachte Sand als ein wahrer Steinhaufen, der in der Form der Ibiza-Videos schlussendlich die Koalition beendete.

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Ibiza-Video und die mittelbaren Folgen Am Freitag, den 17. Mai 2017, haben deutsche Medien angekündigt ein Video zu veröffentlichen, das den Vizekanzler und Parteiobmann der FPÖ, Heinz-Christian Strache, in Schwierigkeiten bringen wird. Im Laufe des Tages wurde immer deutlicher, dass dies größere politische Auswirkungen nach sich ziehen könnte. In Telefonaten zwischen Strache und Kurz meinte der Vizekanzler zunächst noch, dass er diese Probleme erklären und lösen könne. Welche Turbulenzen, welche Dynamik und welches Ausmaß mit dem Weiterspinnen der Idee, die FPÖ in ihrer Regierungsfähigkeit zu diskreditieren und schlussendlich die ÖVP bis heute ins Visier zu nehmen, einhergehen würde, hatte an diesem Tag niemand am Radar. Bereits der darauffolgende Tag, der 18. Mai, brachte das Ende der Koalition, nachdem der Videoausschnitt mit den bekannten Inhalten in der Öffentlichkeit gesichtet und bekanntgemacht wurde. Die Rücktritte von Strache und Gudenus waren notwendig geworden, waren aber zu wenig, um das Weiterregierungen mit der FPÖ zu ermöglichen. Denn Kickl, der zur fraglichen Zeit des Entstehens des Ibiza-Videos Generalsekretär der FPÖ war, wurde in diesem Zusammenhang als Innenminister untragbar. Zu einer personellen Veränderung an der Spitze des BMI war die FPÖ jedoch nicht bereit. Deshalb wurde auf Vorschlag des Bundeskanzlers Innenminister Kickl vom Bundespräsidenten Van der Bellen als Minister abberufen. Bekanntermaßen sind darauf alle FPÖ-Minister zum Rücktritt veranlasst worden. Das Expertenteam, das nun die Regierungsgeschäfte der ehemaligen FPÖ Minister übernahm, blieb nur kurz in seiner Funktion. Zur Rettung der Kurz-Regierung 1 gab es zu diesem Zeitpunkt kaum noch Hoffnung, wie es mit der Rede Kurz’ am 27.5. offensichtlich wurde. Nach den offensichtlichen Absprachen zwischen SPÖ und FPÖ, in Erinnerung zu rufen sei das Fernsehbild des Gesprächs zwischen Kickl und Drozda im Nationalratssitzungssaal, wurde schon am Montag, den 27. Mai, also einen Tag nach der Europa-Wahl, im Rahmen derer die ÖVP ein dementsprechend sensationelles Ergebnis erzielte, der Regierung das Misstrauen ausgesprochen, somit die gesamte Regierung abgewählt. In der Zweiten Republik ein erstmaliger Vorgang. Sebastian Kurz zog mit seiner Regierungsmannschaft aus dem Nationalratssitzungssaal aus, um sich postwendend auf die Neuwahlen einzustellen.

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In einer schnellorganisierten und improvisierten Auftaktveranstaltung an der Politischen Akademie, wo unerwartet unglaubliche 2000 Fans gekommen waren, schwor Sebastian Kurz seine Anhänger mit dem Ausspruch: „Heute hat das Parlament entschieden, aber am Ende der Tage, im September entscheidet in einer Demokratie das Volk und darauf freue ich mich“, auf den nächsten Wahlkampf ein. Auch im zurückliegenden Wahlkampf zum Europaparlament war schon die Formel „Kurz muss weg!“ zu hören. Diese fortan einheitliche Leitlinie der Opposition brachte Kickl gar auf Tafeln gedruckt ins Parlament mit, um sich an Kurz abzuarbeiten und seine tiefsitzenden Aggressionen gegenüber Sebastian Kurz ausleben zu können. Auf der außerparlamentarischen Seite, Kurz verzichtete auf sein Mandat, begann die Wahlbewegung wieder Schwung und Fahrt, wie zuletzt 2017, aufzunehmen und im Parlament galt das Spiel der freien Kräfte. Der Fristsetzungsantrag wurde zum Leitinstrument der parlamentarischen Klubs von SPÖ und FPÖ. Die Zeit bis zur neuerlichen Nationalratswahl wurde zu einem Tal der Tränen der Staatsausgaben. Da half auch kein gutgemeinter Appell des Finanzministers Müller für „Augenmaß und Verantwortungsgefühl“ in Budgetangelegenheiten zu sorgen. Man stellte „ungedeckte Checks“ in der Höhe von zwei Milliarden Euro aus. Das Volumen der Mehrheitsbeschlüsse hätte mehr als fünf Milliarden ausgemacht, aber nur drei Milliarden waren durch das Haushaltsgesetz finanziell bedeckt. Das Parlament hat zu dieser Zeit intensiv und schnell gearbeitet. In wenigen Monaten wurden die unsägliche „Hacklerregelung“, das generelle Rauchverbot in der Gastronomie, das Glyphosatverbot und die Beschränkung der Parteispenden beschlossen. Auch der Wahlsonntag, der 29. September 2019, wurde festgelegt. Der Sommer 2017 bedeutete für die ÖVP einen vier Monate langen Wahlkampf ohne Kanzlerbonus, gegen die einheitliche Kurz´sche Jagdgesellschaft, angeführt von SPÖ und FPÖ, die mit parlamentarisch beschlossenen „Geldgeschenken“ versuchte das Wahlvolk auf ihre Seite zu ziehen, zu führen. Die ÖVP hatte sich mit ihrer Kampagne strategisch darauf einzustellen. Auch als der Falter abgesaugte Daten der ÖVP-Buchhaltung samt Listen von Spendern veröffentlichte oder ein üblicher Vorgang bei der Amtsübergabe, das Vernichten von Datenträgern, zu einem Kriminalfall hochzustilisieren versucht wurde, nur weil der Mitarbeiter auf die Ein-

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zahlung von rund 80 Euro vergessen hatte, auch dann ließ sich Sebastian Kurz und die ÖVP nicht aus der Spur bringen und blieben – verglichen am politischen Mitbewerb – auf gewohnt hohem Niveau. Thomas Hofer nennt diesen Unterschied „Strategiegefälle“. 24 Aus dem WahlkampfSlogan 2017 „Zeit für Neues“ wurde die neue Linie „Unser Weg hat erst begonnen“ entwickelt. Im Unterschied zu 2017 wurde der Spannungsbogen nicht durchgehend aufgebaut, sondern man ließ in den ersten intensiven öffentlichen Aufschlägen in der Intensität des Wahlkampfes bewusst nach, um für das Finale genügend Kraft zu haben, wobei es wichtig war das Momentum der Abwahl wieder ins Spiel zu bringen. Dass SPÖ und FPÖ in ihrem Wahlkampf keine Themen setzen konnten und sich nur auf das Verhindern von Kurz fokussierten, mag eben ein Grund für ihr schlechtes Abschneiden sein. Spesenskandal bei der FPÖ und die Entsolidarisierung insbesondere von Gewerkschaftsbund und Arbeiterkammer bei der SPÖ taten wahrscheinlich ein Übriges. Die Grünen konnten jedoch auf Grund ihrer geschlossenen klaren Haltung, der Renegat Pilz spielte keine Rolle und verfehlte mit seiner JETZT-Truppe ganz klar den Einzug in den Nationalrat, und einem strategisch monothematisch ausgerichteten Wahlkampf auf das Thema Klimawandel wieder in den Nationalrat einziehen. Mit dem Slogan „Zurück zu den Grünen“ versuchte man die in den Wählerstromanalysen von 2017 klar zur Kern-SPÖ gewanderten Wähler wieder zurückzuholen, was auch gelang.25 Thomas Hofer resümiert zusammenfassend den Wahlkampf des Jahres 2019: „Was bleibt: Was insgesamt von diesem Nationalratswahlkampf bleibt, ist ein schaler Nachgeschmack. Auf dem Weg zur Emokratie agieren politische Spitzenvertreter immer weniger, sie reagieren nur auf vorhandene Stimmungen. Sie werden von klassischen Agenda-Settern zu flexibel agierenden Agenda-Servern. Die Politik nimmt die emotionalen Wellen wie sie kommen. Was zählt ist nicht unbedingt die Wahrheit, sondern die Wahrnehmung. Um den jeweiligen Gegner unter Druck zu setzen, werden – von welcher Seite auch immer – mehr oder weniger relevante Informationen über die Bande an die Öffentlichkeit gespielt. Man

24 Politische Akademie (2020), Jahrbuch für Politik 2019, S. 69. 25 Politische Akademie (2020), Jahrbuch für Politik 2019, S. 65 ff.

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agiert nach dem Motto Bill Clintons legendärem Kampagnenmanager, James Carqille: ‚Für den Gegner ist es schwer, mich zu attackieren, wenn er gerade meine Faust in seinem Gesicht spürt.“26

Das Ergebnis 2019 Der Wahltag brachte ein Ergebnis, das in der Klarheit wenige erwarteten.

 

Die Volkspartei ging mit 37,4 % durchs Ziel und lag, das war die wahre Sensation, damit 16,2 % vor dem Zweiten, der SPÖ, die mit 22,2 % das schlechteste Ergebnis in ihrer Geschichte einfuhr. Der Wahlsieger hieß ganz klar Sebastian Kurz. Der Slogan „Wer Kurz will, muss Kurz wählen“ hatte klare Wirkung gezeigt. Politikberaterin Heidi Glück schrieb danach „Kurz ist kein Ideologe, aber ein Konservativer, Er steht für Werte wie Fleiß, Disziplin und Leistung.“27 Kurz geht auf die Menschen zu, er mag sie, seine Arbeit erfüllt ihn und das spüren die Wählerinnen und Wähler genauso im

26 Hofer, T., Toth B. (2019), Wahl 2019 – Strategien, Schnitzel und Skandale, S. 55. 27 Politische Akademie (2020), Jahrbuch für Politik 2019, S. 80.

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Fernsehen wie in der persönlichen Begegnung. Er ist ein Veränderer, der offen für Neues ist, ohne seine Wurzeln zu vergessen. Das und noch vieles mehr ist das Amalgam, das den Wahlsieger Sebastian Kurz ausmacht.

Wahlanalyse Wenngleich Wahlanalysen nach Wählerstromanalysen meist auf Schätzungen und auf vereinzelte Exit-Balls beruhen, geben sie doch in den großen Mustern eine Erklärung für den Wahlausgang. Manche Wählerströme lassen sich leichter erklären, da zwischen den einzelnen Wahlparteien „kommunizierende Gefäße“ zu bestehen scheinen, andere wiederum ergeben sich erst nach tiefgreifenden Analysen. Durch Sebastian Kurz hat die Volkspartei Zug um Zug ihre Wählersegmente zu tauschen begonnen. Einerseits hatte die ÖVP sowohl bei den Angestellten als auch bei den Arbeitern die relative Mehrheit, während sie andererseits im Wählersegment mit Uni-Abschluss deutlich von den NEOS und den Grünen überholt wurden, die in diesen Segmenten ein Drittel ihrer Wähler rekrutierten. Am Land gewinnt die ÖVP überproportional über 8 %, in den Städten werden es rund 4 %. Auch bei den jungen Wählerinnen und Wähler haben die NEOS und die Grünen, deutlich dahinter die FPÖ, mehr Wähleranteile als die ÖVP. Hingegen liegen sie beim Wählersegment über 60 Jahren nur mehr 1 % hinter der SPÖ. Grosso modo gehen die Stimmengewinne der ÖVP in der Nationalratswahl 2019 in allererster Linie auf das Konto der FPÖ, aber auch ein deutlicher Stimmenanteil konnte von der SPÖ gewonnen werden. Eine Erklärung dafür mag wohl sein, dass die Wähler nach der Abwahl Kurz trotzdem die Regierungsarbeit noch mit 58 % als zufriedenstellend betrachteten und das auch in der FPÖ und der SPÖ mit einem deutlich positiven Saldo. Die SPÖ, die 2017 taktische Stimmen von traditionellen Grün-Wählern erhielt, verlor diesen Anteil wieder an die Grünen, die sich ihren Anteil zurückholten und aus dem Nicht-Wähler-Anteil ebenso deutliche Zugewinne verzeichnen konnten. Auch in den Städten hat die SPÖ an die Grünen verloren. In den ländlichen Regionen gewannen die Grünen nur halb so viel als in den Städten, wo sie 14 % zulegen konnten. Vergleicht man nur die Endzahlen der Wahlergebnisse, so erfährt man nur wenig über die in-

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nere Struktur der Wählerschaft einer Partei. Dazu geben die Wählerstromanalysen, und auch wenn sie nur Schätzungen sind, einen wesentlich besseren Einblick. Die klare, verständliche Sprache und die nachvollziehbaren Erklärungen, die Sebastian Kurz den Wählerinnen und Wählern anbot, trugen letztendlich wesentlich dazu bei, dass die ÖVP auch bei den Wählerinnen und Wählern mit geringeren Einkommen und ohne höhere Schulbildung Zuwächse verzeichnen konnten. Dieser Trend hat sich auch bei der Wahl 2019 fortgesetzt.28

Am Weg zu Türkis-Grün Die Wahl war geschlagen, der Gewinner erhielt wie üblich vom Bundespräsidenten den Auftrag eine Regierung zu bilden. Die Ausgangssituation war im Vergleich zu 2017 eine andere, als sich die SPÖ nach der Wahl klar positionierte und keinesfalls einen Regierungsauftrag annehmen wollte, wodurch 2017 ohnehin nur die Option einer ÖVP-FPÖ Regierungskoalition gegeben war. Jetzt, 2019, standen drei Optionen einer Zwei-Parteien-Koalition zur Disposition: mit der SPÖ, mit der FPÖ und sogar mit den Grünen konnte eine Koalition gebildet werden. Sofort nach dem Regierungsbildungsauftrag durch den Bundespräsidenten ging Sebastian Kurz daran, mit allen Parlamentsparteien Sondierungsgespräche zu führen um auszuloten, wer bereit ist eine künftige Regierungszusammenarbeit und -verantwortung auf sich zu nehmen. In erster Linie ging es um grundsätzliche Übereinstimmungen und Schnittmengen und darum die differierenden Meinungen herauszuarbeiten. Diesmal war es die FPÖ, die sich schon in der ersten Gesprächsrunde aus den Verhandlungen herausnahm, da sie durch das Wahlergebnis kein Votum sah in eine Regierung zu gehen. Die SPÖ, die NEOS und die Grünen waren diesbezüglich offen. Insgesamt war es notwendig und nützlich dieses Gespräch zu führen, denn die polarisierende Stimmung während des Wahlkampfes sollte damit wieder einigermaßen aufgelöst werden.

28 Politische Akademie (2020), Jahrbuch für Politik 2019, S. 27 ff.

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Schlussendlich blieben die Grünen als möglicher Koalitionspartner übrig, nachdem auch die SPÖ von selbst die Gespräche von selbst für beendet erklärte und die NEOS für eine Mehrheit in einer 2-Partein-Koalition nicht ausreichten, aber, wie zum Ausdruck gebracht wurde, essentielle Beiträge für die politische parlamentarische Arbeit einbringen möchten. Die Verhandlungen mit den Grünen wurden daraufhin sehr strukturiert geführt, denn die Schnittmengen waren eher gering. Es brauchte einen guten Gesamtüberblick, um abwägen zu können, ob die Kompromisse möglich und tragfähig sind und bleiben. Entlang von Grundsatzfragen, die mit Klimaentwicklungen, Migration und Bildungsnotwendigkeiten gegeben waren, wurden konstruktiv und mit großem Arbeitseinsatz die Koalitionsverhandlungen eröffnet. Jedem Partner war klar, dass diese Gespräche besondere Herausforderungen bargen und man daher ergebnisoffen an die Sache herangehen musste. Beide Parteien Wahlgewinner, wenngleich in unterschiedlichen Größenordnungen, konnten das Wählervotum ins Treffen führen, das sie auf eine Regierungsfähigkeit verpflichtete. Da die Positionierung beider Parteien weit auseinander lagen, musste man einen anderen Weg der Kompromissfindung einschlagen, als er bisher üblich war. Hätte man gelernte Verhandlungsmuster übernommen, wäre der gemeinsame Nenner oftmals gegen Null geschrumpft, hätte Unbeweglichkeit bedeutet und zugleich die eigene Wählerschaft vor den Kopf gestoßen, da sich ihre Wahlparteien bis zur Unkenntlichkeit hätten verbiegen müssen. Es brauchte deshalb ein Mehr an Gesprächen und Diskussion, um den anderen näher und tiefer kennenzulernen. Nicht nur in der Themenstellung, sondern auch um einander in den parteiorganisatorischen Gefügen zu erfahren und um Respekt und nötige Toleranz zu entwickeln, die oftmals sehr unterschiedlichen, weit auseinanderliegenden, Positionen verstehen zu lernen und zu akzeptieren. Man überließ dem Partner schlussendlich jene Themenfelder, derentwegen er auch gewählt wurde. Das waren bei der ÖVP die Themen Sicherheit, Migration, Standort- und Steuerpolitik, und beide den Grünen Umwelt, Klima sowie Transparenz. In sechs Untergruppen wurde verhandelt. Was dort nicht gelöst werden konnte, kam in die Steuerungsgruppe, der die Parteiobmänner vorstanden. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Es war und ist ein tragfähiges Koalitionsprogramm mit dem Titel „Das Beste aus

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beiden Welten“.29 Das Ergebnis wurde mit großer Neugier und Erwartung von den eigenen Parteien und den Medien aufgenommen und sorgte auch im Ausland für Aufmerksamkeit. Denn die großen zentralen Themen mit denen sich unsere Demokratie beschäftig, fordern auch viele Länder Europas. Wie gehen wir mit unseren Sicherheitsbedürfnissen und der Migration um? Wie lassen sich Wachstum, Steuer- und Standortpolitik und Umweltqualität unter ein gemeinsames Dach bringen? Das Regierungsprogramm hat einen klaren Leitfaden, der abzuarbeiten war und ist. Die Mühen der Verwerfungen durch den Untersuchungsausschuss und vor allem durch die Corona-Pandemie stellen die Koalition vor große Herausforderungen das Programm wirkungsvoll abzuarbeiten.

Das Beste aus beiden Welten Die intensiven Koalitionsverhandlungen dauerten über die Weihnachtsfeiertage 2019 hinaus an. Die Endredaktion des Regierungsprogramms führte zum Titel „Aus Verantwortung für Österreich 2020–2024“. Die acht Schwerpunkte, die aus der Sicht der angehenden Regierungsparteien die wichtigsten Themen für die Weiterentwicklung Österreichs sind, spiegeln sich im Slogan „Das Beste aus beiden Welten“ deutlich wider. Aus diesen beiden unterschiedlichen Welten der neuen Koalitionsparteien wurde eine gemeinsame Regierungswelt aufgebaut, um das international Beachtung findende Regierungsprogramm abzuarbeiten. Das Tag für Tag, bis heute, gute Gelingen überrascht dabei vor allem nicht durch die unterschiedlichen Zugänge der beiden Koalitionäre, sondern dadurch, dass bereits trotz globaler Krise große Würfe, wie die ökosoziale Steuerreform oder die BVTReform gelungen sind. Denn was nicht im Regierungsprogramm inkludiert war, aber fast seit Beginn der Zusammenarbeit jegliche politische Arbeit prägt, ist eine Anleitung darüber, wie eine weltumspannende Gesundheitskrise, die COVID-19 Pandemie, wirkungsvoll bekämpft werden kann. Von Anfang der Regierungsarbeit der Türkis-Grünen Koalition an, hat COVID-19 sowohl die

29 Politische Akademie (2020), Jahrbuch für Politik 2019, S. 221.

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Gesellschaft in all ihren Ausformungen, und so auch die Regierung, in noch nie dagewesener Weise gefordert. Die ersten Meldungen kamen dazu schon Ende 2019 aus China. Von Pandemie war dabei zunächst nicht die Rede. Sogar die WHO war sich noch Wochen lang nicht über die Gefährlichkeit des Coronavirus im Klaren. Die acht Themenkomplexe und Schwerpunkte der Regierungsarbeit, zu denen sich die Pandemiebekämpfung gesellt hat, sind: Entlastung der arbeitenden Menschen, Bekämpfung des Klimawandels, Stärkung des Wirtschaftsstandortes, Soziale Sicherheit, konsequenter Migrationskurs, Bildung, nachhaltige Finanzen und Transparenz. Sie wurden nach der Angelobung der Regierung durch Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen am 7. Jänner 2020 dem Parlament am 10. Jänner in der Regierungserklärung von Kanzler und Vizekanzler vorgestellt. Basis für jede Regierungsarbeit ist ein solides Budget, weshalb sich die Regierung bei ihrer ersten Ministerratssitzung sofort mit diesem Thema befasste und die strategischen Ziele für das Budget und die mittelfristige Budgetplanung beschlossen. Da die Übergangsregierung Bierlein kein Budget beschlossen hatte, um der nunmehrig neugewählten Regierung nicht vorzugreifen, ging man nun daran ein Doppelbudget für 2020 und 2021 vorzubereiten. Ungeheure, unvorstellbare, ohne einer Pandemie nicht denkbare Geldmengen, wurden für die Bekämpfung, die Eindämmung und zur Abfederung der Folgeschäden in Wirtschaft, Bildung, Kultur und Freiwilligenorganisationen durch das Budget bereitgestellt. Die Regierung hält trotz der ungeheuren Belastungen durch COVID-19 auch an ihren im Regierungsprogramm formulierten Projekten fest und beginnt mit der Entlastung für arbeitende Menschen mit einem ersten Schritt der Senkung des Eingangssteuersatzes. Der große Wurf gelingt im Jahr 2021 mit der Ökosozialen Steuerreform, wo durch Familien- und Klimabonus, weiterer Senkung der Steuerstufen, Senkung der KÖSt und vielen anderen Maßnahmen ein Gesamtvolumen von 18 Milliarden erreicht wird. Die Ökologisierung steht in vielen Bereichen von Anbeginn auf der Tagesordnung der Regierungsarbeit. Die Pariser Klimaschutzziele und der „European Green Deal“ sind auch für die österreichische Regierung als Rahmenvorgaben zu berücksichtigen. Als Leuchtturmprojekte sind besonders die Neugestaltung der Flugabgabe, das Erneuerbaren-Ausbau-Gesetz

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und vor allem das 1-2-3-Ticket der österreichischen Jahresnetzkarte, ein Renner schlecht hin, und die CO2-Bepreisung bekannt. Doch auch abgesehen von der Ökologisierung und der Pandemiebekämpfung lässt sich die Bilanz der Regierung nach weniger als zwei Jahren sehen: In der Arbeitsmarktpolitik wurde ein „Sprungbrett“ gelegt, ein Programm für die Wiederintegration von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt, der „Frühstarter-Bonus“ hat die „Hacklerregelung“ abgelöst. Künftig werden mit „ReFocus Austria“ österreichische Exportunternehmen, in Zusammenarbeit mit der Wirtschaftskammer, aktiv durch österreichische Vertretungen weltweit unterstützt, um den Wirtschaftsstandort zu stärken. Bildungspolitisch wurde die Digitalisierung weiter vorangetrieben, mit einem eigenen Fach für digitale Grundbildung. Weitere 150.000 Endgeräte sind für Schulen angeschafft worden. Ein Sommerschulsystem wurde initiiert und Ethikunterricht eingeführt. Das Budget der Hochschulen hat sich um 12,5% erhöht – mehr als je zuvor. Im Bereich der Sicherheit wurde die Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienst, als eine Reform des BVT, aufgestellt und mit einem Anti-Terror-Paket die Sicherheit der Bevölkerung und der Polizei erhöht. Das zum dritten Mal in Folge höchste Budget für das BMLV bringt die längst nötige Anschaffung veralteter Systeme – bekanntgeworden sind vor allem die 18 Mehrzweck-Hubschrauber, für Grenz-, Terror- und Katastrophenschutz. Das Islamgesetz wurde, im Sinne eines Verbots des politischen Islam, angepasst. Für Opfer von Gewalt, am stärksten betroffen sind Frauen, wurden zielgerichtete Maßnahmen gesetzt. Ein langer Wegbegleiter der Innenpolitik, das Problem des in Teilen gekippten Paragraphen zur Sterbehilfe, wurde durch ein gut angenommenes Sterbehilfeverfügungsgesetz gelöst. International Beachtung findet die Stärkung der Entwicklungszusammenarbeit, und Österreichs Strategie für Antisemitismusbekämpfung. Auch die weitere Intensivierung der Zusammenarbeit mit unmittelbaren Nachbarschaften, wie das C5-Format oder die Slavkov/ Austerlitz-Treffen, und die gezielte Aufwertung der Europagemeinderäte durch die Bundesregierung zeigen wie mannigfaltig die Errungenschaften und Initiativen der türkis-grünen Koalition sind. Auch wenn dies medial, der Krise geschuldet, nicht vollends transportiert wird. Dies und vieles mehr wird Woche für Woche durch die Regierung erarbeitet, in Begutachtung geschickt, in Ausschüssen diskutiert und nachjustiert, um letztlich im Parla-

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ment, oftmals auch mit größeren Mehrheiten als die der türkis-grünen Regierungsparteien, beschlossen zu werden. Allein im Jahre 2021 wurden in 63 Plenarsitzungen 223 Gesetze verabschiedet und ein Drittel davon einstimmig beschlossen. Das gemeinsame Arbeiten in der Regierung wurde immer wieder durch die verschiedensten Querschüsse versucht zu torpedieren. Doch in der Legislaturperiode „Verantwortung für Österreich“ hat sich Sebastian Kurz immer wieder bemüht, seinem Anspruch „Neu zu regieren“ gerecht zu werden, um erfolgreiches regieren zu ermöglichen und Zusammenarbeit zu leben. Einhellig sprechen die Koalitionspartner, auch nach den Erfahrungen, die das Jahr 2021 mit sich brachte, von einer echten Partnerschaft mit gegenseitiger Wertschätzung. Diskussionen werden intern geführt und erst Ergebnisse gemeinsam der Öffentlichkeit präsentiert. Im überwiegenden Maße ist es Sebastian Kurz gelungen, sich über alle Jahre seiner Regierungsarbeit an diesen koalitionären Werten zu orientieren und sie auch der eigenen Partei und den jeweiligen Koalitionspartnern zu vermitteln.

Die Dimension des Ibiza-Untersuchungsausschusses Im Vergleich zu Deutschland werden in Österreich die Untersuchungsausschüsse nach außen hin traditionell als das wichtigste Kontrollinstrument des Parlaments, welches letztendlich die politische Verantwortung gegenüber der Regierung und anderen Bundesdienststellen hat, bezeichnet. Zu diesem Zweck werden Auskunftspersonen gemäß §41, Absatz 2, der Verfahrensordnung geladen, um den Abgeordnete Fragen zu Beweisthemen des Untersuchungsausschusses zu beantworten. Die Befragung darf nicht unbestimmt, mehrdeutig, verfänglich, beleidigend oder unterstellend sein und es dürfen keine Grund- oder Persönlichkeitsrechte verletzen werden. Das beschreibt die Papierform. In Deutschland wird der Untersuchungsausschuss stets als politisches Kampfmittel verstanden und auch so angesprochen, ohne dass das irgendjemanden stören würde, weder Parteien noch Medien. In Öster­ reich hingehen gehen die Wogen hoch, übt man nur ansatzweise Kritik am häufig auftretenden verhörmäßigen Fragenstil oder der immer wieder gezeigten Respektlosigkeit gegenüber der Auskunftspersonen oder der Ver-

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fahrensrichterin oder dem Verfahrensrichter. Dass der Vorsitzende taxfrei als befangen attackiert wird, obwohl es in der Verfahrensordnung und in der Geschäftsordnung dafür überhaupt keinen Rechtstitel gibt, gilt als politische Petitesse. Im bedeutungsschweren Brustton, die Demokratie jetzt und hier verteidigen zu müssen, wird Kritik als unzulässig verworfen, man verschließt sich jedweder Reform und ballert mit der Oppositionskanone munter darauf los. Gut so, aber dann sollte man ganz einfach zum Begriff politisches Kampfmittel, das der Untersuchungsausschuss auch in der Österreich ist, ebenso stehen. Strafrechtlich Relevantes oder andere Gesetzesverletzungen werden schlussendlich von Gerichten geklärt und über Moralverstöße in nicht für die Öffentlichkeit bestimmten, privaten, Kommunikationskanälen kann man geteilter Meinung sein. So weit so gut. Die Ergebnisse waren durchaus als dürftig zu bezeichnen, gemessen an der Dauer und der Vielzahl der geladenen Auskunftspersonen und der gelieferten Unterlagen. Da die im Ibiza-Video angeführten Personen Strache und Gudenus bereits zurückgetreten waren, spielte das Thema Ibiza keine wesentliche Rolle. Sehr schnell wandte sich der politische Angriff mit Vermutungen und Untergriffen vor allem gegen die ÖVP-Repräsentanten, insbesondere gegen den Bundeskanzler und den Finanzminister. Kein Verdacht konnte nur ansatzweise belegt oder anderweitig erhärtet werden. Einzig die Chat-Kommunikation von Thomas Schmid ergaben ein verstörendes Sittenbild. Das Maßschneidern einer Ausschreibung für eine Position für die man sich selbst bewarb, ist eindeutig als Fehlverhalten zu bewerten. Aber Thomas Schmid ist nicht die ÖVP. Er hat ihr maximalen Schaden zugefügt, weshalb seine Mitgliedschaft auch ruhend gestellt wurde. Viele Vorwürfe, die auch zu Anzeigen, Verfahren und Hausdurchsuchungen führten, sind bereits wieder eingestellt, ein Teil läuft noch. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass man den angezeigten Vorwurf der Falschaussage bei Sebastian Kurz auch nach einem Jahr von der Staatsanwaltschaft weder in die eine noch in die andere Richtung entscheiden konnte. Sie sollen nur zappeln, die Politiker der ÖVP. Fakt ist: Das politische Kampfinstrument des Untersuchungsausschusses hat im Zusammenwirken von Anzeigen, Hausdurchsuchungen und anhängigen Verfahren der ÖVP und ihren Repräsentanten geschadet und war möglicherweise ein Grund, warum bei

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so manchem Funktionsträger die Freude an der Politik, die Freude zu gestalten, verloren ging.30

Schlusspunkt Wieder waren es Chat-Kommunikationen von Thomas Schmid aus denen herausgelesen wurde, dass Sebastian Kurz ein Bestimmungstäter sein müsse, wobei es um die Delikte Untreue und Bestechlichkeit ging. In der Causa geht es um Inserate und manipulierte Umfragen in der Zeitung Österreich mit dem Ziel Kurz – er war 2016 noch Außenminister – zur Kanzlerschaft zu verhelfen. Ein auf 104 Seiten im journalistischen Duktus abgefassten Hausdurchsuchungsbefehl, der natürlich sofort in der Öffentlichkeit sowie in „Breaking News“ voll inhaltlich bekannt wurde, sollte ein neuer Impuls im staatsanwaltlichen Tonfall zu „Kurz muss weg“ gesetzt werden. Anhängige Ermittlungsverfahren, so bestimmt es die Strafprozessordnung, sind nicht öffentlich zu führen, um einerseits die Ermittlungen nicht zu gefährden und andererseits den Schutz der Betroffenen zu gewährleisten. So ist auch die Akteneinsicht sehr streng reguliert. Für gewöhnlich haben Hausdurchsuchungsbefehle, wie Experten einhellig versichern, wesentlich weniger Umfang. Je nach Komplexität des Sachverhalts kommen diese sogar mit einer einstelligen Anzahl an Seiten aus. Der Befehl, der zur Hausdurchsuchung führte, brauchte ganze 104 Seiten, um die vermutetet Beitragstäterschaft Kurz herzuleiten. Sebastian Kurz hat nach dem durch Rechtsbruch veröffentlichen Hausdurchsuchungsbefehl alle Vorwürfe mit schlüssigen Gegenargumenten zurückgewiesen. Er war im Zeitraum ebenso neben seiner Tätigkeit als Außenminister auch Chef der Politischen Akademie und der JVP. Dort hätte er genügend Möglichkeiten gehabt, um Umfragen in Auftrag zu geben. Alle Umfragen zur damaligen Zeit sahen ihn eindeutig als besten ÖVP-Kandidaten. Wieso sollte er als Außenminister über das Finanzministerium beschönigte Umfragen in Auftrag geben, wo das doch gar nicht notwendig gewesen ist? Sogar kritische Medien schrieben wenige Tage nach illegaler Veröffentlichung des Hausdurch-

30 Politische Akademie (2021), Jahrbuch für Politik 2020, S. 327 ff.

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suchungsbefehls, dass eine „Smoking Gun“, und vor allem eine Kausalkette zu Sebastian Kurz, noch fehle. Fakt: Der Schaden war angerichtet. Fast als könnte man eine Orchestrierung vermuten, wurden sofort medial Spekulationen und Druck hin zu Neuwahlen aufgebaut. Der gute Grund: Ermittlungen gegen den Bundeskanzler. Was dabei völlig ignoriert wurde, sind die jahrelangen Ermittlungen gegen Bundeskanzler Faymann darüber, ob das Reservieren eines Drittels des ÖBB-Werbebudgets rechtlich in Ordnung war.Vermutlich auch deshalb, weil dieser Akt zum Schutz der Ermittlungen und des Betroffenen nicht veröffentlicht wurde. „Es ist etwas, das viele Spitzenpolitiker schon erleben mussten, im Inland, aber auch im Ausland. Was diesmal anders ist, ist, dass der Koalitionspartner sich entschlossen hat, sich gegen den Beschuldigten zu positionieren.“31 Der Bundespräsident lud alle Parteichefs in die Hofburg, er bezeichnet die Chats als respektlos: „Was wir sehen, ist einmal mehr ein Sittenbild, das der Demokratie nicht gut tut.“ Vizekanzler Kogler gibt am 08. Oktober ein Statement ab, in dem er erklärt, dass er die Vertreter aller Oppositionsparteien zu Gesprächen eingeladen hat. Ihm gehe es um die Verantwortung für Österreich und darum Vorwürfe aufzuklären. Und dann kommt`s: „Es geht nicht bloß um die Vorhalte der WKStA, es geht darum, was aus diesen Chat-Nachrichten herausspringt. Direkt einem Schwarz-auf-Weiß, nämlich, dass es im Machtzentrum der ÖVP etwas Erschütterndes, etwas Erschreckendes, ein schauerliches Sittenbild gibt. Darum geht es auch. Darin stimmen wir auch mit allen anderen überein und deshalb ist entsprechend vorzugehen und dafür zu sorgen, dass es weitere Optionen geben kann.“ Und weiter meint er: „Der jetzige Kanzler ist nicht mehr amtsfähig, also die ÖVP hat die Verpflichtung für dieses Bundeskanzleramt jemanden vorzuschlagen, der untadelig ist und dann können wir die vielen, großen, wichtigen gemeinsamen Projekte und Reformen angehen. Das ist es, Dankeschön.“32

31 Kurz, S. (2. Dezember 2021), Rede zum Rückzug aus der Politik, Politische Akademie. 32 Kogler, W. (8. Oktober 2021), Stellungnahme nach Austausch mit Klubchefs der Parlamentsparteien, Vizekanzleramt.

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Die Unschuldsvermutung? Das gilt nicht für Sebastian Kurz „Kurz muss weg“ ist die Devise. Was die Oppositionsparteien seit Monaten skandieren, dem hat sich nun auch der Koalitionspartner angeschlossen. Ein Sittenbild? Schmid ist nicht die ÖVP. Viele Funktionäre in der ÖVP sind irritiert. Natürlich ob der Chats, aber auch ob des Koalitionspartners, der dem Kanzler den Sessel vor die Tür gestellt hat. Der Misstrauensantrag soll im Parlament Kurz zu Fall bringen. Erinnerungen an den 27. Mai 2019 werden geweckt. Soll man das alles nochmal durchmachen? Inzwischen wurden im Hintergrund Gespräche zu neuen Koalitionen geführt, denn zu Neuwahlen ist eigentlich niemand bereit, außer der FPÖ. Rendi-Wagner lotet schon aus, ob sich die Bundeskanzlerin für sie ausgeht. Kickl möchte auf Augenhöhe mitspielen und nicht nur eine Minderheitsregierung stützen. Die anderen wollen mit Kickl nicht ins schmuddelige rechte Eck gestellt werden. Das Meinungs- und Analysekarussell dreht sich immer schneller. Eine Pattsituation, in der der Parlamentarismus und die Regierung von Kickls Gnaden abhängig ist, während einer globalen Gesundheitskrise, die Fingerspitzengefühl und Expertise gefragt sind, drohte. Der Meinungsforscher Bachmayer meint auf die Frage einer Dame aus dem Publikum beim KURIER-Tag, ob Kurz zurücktreten werde, im O-Ton: „Ich halte das für die undenkbarste aller Varianten, denn das ist für die ÖVP die unangenehmste Variante, weil es so eine Art Schuldeingeständnis wäre.“ Es kommt anders: Am Samstag, den 09. Oktober, erklärt Kurz in einer Presseerklärung um 19.30 Uhr aus dem Bundeskanzleramt, im Sinne der Koalition, seinen Rücktritt als Bundeskanzler.

9. Oktober 2021, Bundeskanzleramt – Rücktritt als Bundeskanzler „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Österreicherinnen und Österreicher. Seit dem Tag, an dem ich begonnen habe, mich politisch zu engagieren, habe ich immer versucht, meinen Beitrag für unser Österreich zu leisten. In den letzten zehn Jahren durfte ich als Staatssekretär, als Außenminister und zuletzt als Bundeskanzler unserem wunderschönen Land dienen. Insbesondere die letzten eineinhalb Jahre, das haben Sie alle mitverfolgt, waren extrem fordernd für die gesamte Bundesregierung und insbe-

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sondere für mich. Denn wir haben gemeinsam unser Bestes gegeben, die Pandemie zu bekämpfen, die Wirtschaft zu stabilisieren und Arbeitsplätze zu retten. Sie haben alle mitverfolgt, dass in den letzten Tagen strafrechtliche Vorwürfe gegen mich erhoben worden sind. Diese Vorwürfe stammen aus dem Jahr 2016, sie sind falsch, und ich werde das auch aufklären können, davon bin ich zutiefst überzeugt. Es ist etwas, das viele Spitzenpolitiker schon erleben mussten, im Inland, aber auch im Ausland. Was diesmal anders ist, ist, dass der Koalitionspartner sich entschlossen hat, sich klar gegen mich zu positionieren. Viele sagen zu mir, das ist ungerecht, und sehr geehrte Damen und Herren, Sie können sich vorstellen, ich persönlich wäre auch dankbar, wenn die Unschuldsvermutung in unserem Land wirklich für alle Menschen gelten würde. Vermischt werden diese strafrechtlichen Vorwürfe mit SMSNachrichten, die ich teilweise in der Hitze des Gefechts geschrieben habe, manche davon sind Nachrichten, die ich so definitiv nicht noch einmal formulieren würde, aber ich bin eben auch nur ein Mensch mit Emotionen und auch mit Fehlern. Sehr geehrte Damen und Herren, ich gebe zu, in so einer schwierigen Zeit wie diesen Tagen bin ich extrem dankbar dafür, für all den Rückhalt, den ich hier erleben darf innerhalb der Volkspartei, in allen Bundesländern, in allen Teilorganisationen, und ich bin auch zutiefst dankbar für den Zuspruch, den ich von vielen in der Bevölkerung erhalten habe. Ganz besonders möchte ich mich bei allen bedanken, die in den letzten Tagen, in diesen schwierigen Tagen, meiner Familie und mir sehr viel Kraft gegeben haben. Nichtsdestotrotz, und darum geht es eigentlich, befinden wir uns nun in einer Zuspitzung zwischen beiden Koalitionsparteien und damit in einer Pattsituation. Und das, wo wir in Österreich noch immer in einer sehr sensiblen Phase sind. Die Pandemie ist noch nicht vorüber, der wirtschaftliche Aufschwung hat gerade erst begonnen, und das Budget und die ökosoziale Steuerreform, die sind zwar ausverhandelt, aber noch nicht beschlossen. In dieser durchaus kritischen Phase wäre es meiner Meinung nach unverantwortlich, in Monate des Chaos oder auch des Stillstands zu schlittern. Und genauso wäre es, das ist nur meine Sicht der Dinge, auch unverantwortlich, die Regierungsverantwortung in eine Vierparteienkoalition,

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ein Experiment, zu übergeben, das dann am Ende des Tages auch noch von Herbert Kickls Gnaden abhängig ist. Was es braucht, ist meiner Meinung nach Stabilität und Verantwortung, damit wir diese Phase der Pandemie noch bestmöglich bewältigen und damit wir auch sicherstellen, dass der wirtschaftliche Aufschwung, der gerade gestartet hat, bei allen Menschen ankommt und alle davon profitieren, insbesondere kleine und mittlere Einkommen und natürlich Familien. Das Regierungsteam der Volkspartei, das hat mir zugesichert, im Fall meiner Abwahl sofort selbst das Amt zu verlassen. Und ich gebe zu, ich bin für diese Loyalität und für diese Solidarität extrem dankbar. Das ist keine Selbstverständlichkeit in so einem großen Team. In dieser schwierigen Zeit sollte es jedoch aber niemals um persönliche Interessen und Parteiinteressen oder politische Taktiken gehen, denn mein Land ist mir wichtiger als meine Person. Und was es jetzt braucht, sind stabile Verhältnisse. Ich möchte daher, um die Pattsituation aufzulösen, Platz machen, um Chaos zu verhindern und Stabilität zu gewährleisten. Ich habe das Regierungsteam der Volkspartei ersucht, die Arbeit unbedingt fortzusetzen. Und ich habe als Obmann der Volkspartei, die stimmenstärkste Partei, dem Bundespräsidenten Alexander Schallenberg als neuen Regierungschef vorgeschlagen. Alexander Schallenberg hat nicht nur gute Arbeit als Außenminister geleistet, er hat auch schon in der Übergangsregierung eine wichtige Rolle eingenommen. Ich glaube, er verfügt auch über das notwendige diplomatische Geschick, das es vielleicht braucht, damit wir alle innerhalb der Koalition zwischen den Koalitionsparteien Vertrauen wieder aufbauen. Das Land braucht eine Regierung, die mit stabiler Hand agiert, und ich selbst werde als Parteiobmann und als Klubobmann ins Parlament zurückkehren und dort versuchen, meinen Beitrag zu leisten. Vor allem aber werde ich selbstverständlich die Chance nützen, die Vorwürfe, die gegen mich erhoben worden sind, zu entkräften und zu widerlegen. Sehr geehrte Damen und Herren, ich gebe zu, der Schritt ist kein leichter für mich. Und viele sagen mir den ganzen Tag über heute schon, ich soll mir das nicht gefallen lassen, nicht von der Opposition und auch nicht von unserem Koalitionspartner. Aber es geht nicht um mich, es geht um Österreich, es geht um Sie alle.

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Sehr geehrte Damen und Herren, denn Sie alle haben es sich verdient, dass sich die Politik nicht nur mit sich selbst beschäftigt, sondern dass die Politik für die Menschen in unserem Land arbeitet. Das war immer mein Zugang, das ist heute mein Zugang und das wird auch in Zukunft immer mein Zugang bleiben.Vielen Dank.“33 Alexander Schallenberg übernahm die Regierungsgeschäfte von Bundes­ kanzler Kurz. Einer wie er – der dieses Amt nie angestrebt hat, aber in seiner verantwortungsbewussten Art eines österreichischen Diplomaten – nimmt diese Aufgabe quasi als Statthalter wahr. Kurz kehrt als Klubobmann ins Parlament zurück, wo er sich zur Diskussion über das Budget, das ja im Wesentlichen seine verhandelten Projekte in Zahlen goss, einbrachte. Mit großer Disziplin lässt er die stets weitergeführten beleidigenden und oftmals mit „Schaum vor dem Mund“ artikulierten Polemiken über sich ergehen. Auch als er schon aus allen Funktionen zurückgetreten war, hörte die Polemik nicht auf. Die geschmackloseste und verwerflichste steuerte wohl der Falter bei, der am 22.12.2021 in „Best of Böse“ unter dem Titelbild „Geilzeit“, die heilige Familie mit Kurz als Josef, seiner Frau mit entblößter Brust als Maria und mit einem Kind darstellte. Das Titelbild schmückt pikanterweise einer Ausgabe, die dazu dient der ÖVP ein schlechtes Sittenbild zu unterstellen. Die Trennung von Parteiobmann- und Kanzlerschaft kann für eine ÖVP keine Dauerkonstellation sein. Es war, man spürte es, eine Frage der Zeit, wann es weitere, finale, Schritte geben würde. Er kam für alle überraschend. Nur der kleinste Kreis und seine Vertrauten wussten davon, dass er am 02. Dezember seinen Rücktritt von allen Ämtern öffentlich machen würde und dass er Karl Nehammer als Parteiobmann und Bundeskanzler vorschlagen würde. So wie er gekommen ist, nahm er auch seinen Abschied von der Politik, von seinen Freunden in der ÖVP und von seiner Verantwortung für Österreich: Stilvoll, konsequent, klar, ohne Häme, Nachtreten oder Larmoyanz, freundlich und höflich, so als hätten die 10 Jahre in der Spitzenpolitik

33 Kurz, S. (9. Oktober 2021), Rede zum Rückzug aus der Politik, Bundeskanzleramt.

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keinerlei Spuren an ihm und seinem Charakter hinterlassen. Sebastian Kurz bleibt der Mensch, der er ist. Er ist was er ist. Ein letztes Mal sein Wort:

2. Dezember 2021, Politische Akademie „Sehr geehrte Damen und Herren, wenn man auf einen prägenden Lebensabschnitt zurückblickt und im Blick zurück,  trotz aller  Herausforderungen,  die das Leben so mit sich bringt, vor allem eines empfindet,  nämlich Dankbarkeit,  dann, glaube ich, darf man sich sehr glücklich schätzen. Ich stehe heute hier vor Ihnen  und darf auf  zehn  Jahre politische Tätigkeit in der österreichischen Bundesregierung zurückblicken.   Zunächst  als  Staatssekretär, dann als Außenminister und zuletzt als Bundeskanzler und um ehrlich zu sein, bin ich für diese Zeit extrem dankbar.  Für all diese Erfahrungen, die ich machen durfte,  für alles, das uns gelungen ist.  Und ich hoffe natürlich sehr, dass ich meinen Beitrag auch leisten konnte, unser wunderschönes Österreich ein kleines Stück in die richtige Richtung zu bewegen. Zumindest habe ich stets mein Bestes gegeben und alles versucht.   Ich  habe  von Anfang an,  und sie haben das als Medienvertreter sehr genau  beobachtet,  aus meinen politischen Überzeugungen keine  Geheimnisse  gemacht.  Dass sich  arbeiten gehen in Österreich auszahlen muss und dass jeder,  der Arbeiten geht, auch von seinem Einkommen leben können muss.  Dass Migration nicht ungesteuert stattfinden darf,  sondern  es  auch Grenzen braucht. Und dass wir einen starken Wirtschaftsstandort  brauchen,  damit wir auch den Wohlstand in unserem Land aufrechterhalten können.   All diese Überzeugungen und klaren Positionen, die haben Zustimmung ausgelöst und gleichermaßen natürlich auch Ablehnung.  Und ich sage dazu,  ich glaube, dass das wichtig ist, in einer liberalen Demokratie, auch diese Debatten zu haben, und ich  habe  den Diskurs zu all diesen Themen persönlich eigentlich immer sehr geschätzt. Ich durfte in dieser unglaublich intensiven Zeit sehr viel lernen, denn die Politik ist extrem vielseitig und gerade die Aufgabe als Bundeskanzler bietet eine extreme inhaltliche Breite.

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Als dann die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft 2021 Ermittlungen unter anderem wegen des Verdachts von Korruption gegen Kurz aufnahm, gab er am 9. Oktober seinen Rückzug als Bundeskanzler bekannt. Knapp zwei Monate später, am 2. Dezember, erklärte Kurz seinen Rücktritt von allen politischen Ämtern. Vor allem aber bedeutet Spitzenpolitik,  und sie können sich das wahrscheinlich denken, vor allem auch stetig ein Wechselbad an Gefühlen. Zum einen, dass man etwas bewegen kann und wenn man das Gefühl hat, etwas zu tun, das man für richtig erachtet. Gleichzeitig ist es aber so, dass man jeden Tag so viele Entscheidungen zu treffen hat, dass man schon in der  Früh  weiß, dass jeden Tag auch falsche Entscheidungen dabei sein werden. Und darüber hinaus steht man unter ständiger Beobachtung, wird täglich kritisiert und hat fast ein bisschen das Gefühl, gejagt zu werden.  Und es wird sie vielleicht überraschen, aber sogar dieser Eindruck gejagt zu werden, hat eigentlich auch etwas Positives ausgelöst, denn es  hat mein Team und mich stets auch zu Höchstleistungen motiviert. Mein Team und ich haben in den letzten  zehn  Jahren fast rund um die Uhr gearbeitet. Wir haben alle die Aufgabe, die Funktion, die Tätigkeit für die Republik über fast alles andere gestellt. Und haben natürlich somit in den letzten zehn Jahren extrem viel Zeit investiert.   Ich gebe zu, es war für fast alles andere eigentlich kaum oder gar keine Zeit und vieles ist in dieser Phase wahrscheinlich auch nicht entsprechend möglich gewesen und manches ist vernachlässigt worden, insbesondere die eigene Familie. In den vergangenen Wochen, die nicht einfach waren und dann in den vergangenen  Tagen,  die sehr schön waren, insbesondere auch bei der Geburt des eigenen Kindes, ist mir dann aber mehr und mehr wieder bewusst geworden, wieviel Schönes und  Wichtiges es auch außerhalb der Politik gibt.   Und was mir ganz besonders wichtig ist, festzuhalten, dass ich überzeugt davon  bin, dass  es  das eine  ist,  für  eine  politische Tätigkeit hundert  Prozent  Zeit zu  investieren, das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit in so einer Funktion. Ich glaube, was es vor allem aber auch braucht, ist mit hundert Prozent Begeisterung dabei zu sein. Mit Begeisterung dabei zu sein und auch Freude an der Tätigkeit zu haben. Und ich kann ihnen nur sagen, ich für meinen Teil, ich war die letzten zehn Jahre mit hundertpro-

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zentiger Begeisterung dabei und ich hatte immer enorme Freude an der politischen Arbeit.   Die letzten Monate, die letzten Wochen, die letzten Tage ist diese Begeisterung bei mir ein bisschen weniger geworden, das hat sich verändert. Und ich glaube, nach einer so langen Zeit ist es durchaus auch ein natürlicher Prozess, dass Begeisterung weniger wird. In meinem Fall haben sicherlich auch die Entwicklungen der letzten Monate stark dazu beigetragen. Ich habe Politik immer verstanden als einen Wettbewerb der besten Ideen. Und in den letzten Monaten war aber mein politischer Alltag, kein Wettbewerb der besten Ideen mehr, sondern viel eher die Abwehr von Vorwürfen, von Anschuldigungen, von Unterstellungen und von Verfahren.  Und meine Leidenschaft für Politik, die ich  zehn  Jahre enorm hatte, die ist sicherlich in dieser Phase auch ein Stück weit weniger geworden. Und auch wenn es vielleicht dazu gehört, in solchen Spitzenpositionen immer wieder mit Vorwürfen zu kämpfen zu haben. Und ich weiß aus dem Inland von vielen Kollegen und vor allem auch aus dem Ausland von vielen anderen Regierungschefs, dass das tätig für viele  Normalität  ist,  Vorwürfen ausgesetzt zu sein. Aber wenn man es selbst erlebt, dann ist es doch etwas Kraftraubendes, etwas Zehrendes.   Und das hat zumindest in mir meine eigene Flamme ein bisschen kleiner werden lassen. Mir ist wichtig,  sehr geehrte Damen und Herren,  festzuhalten, dass,  und ich hoffe, Sie verstehen mich nicht falsch, ich möchte, ich möchte heute nicht behaupten, dass ich nie etwas falsch gemacht habe. Ich habe immer mein Bestes gegeben, aber ich  habe  selbstverständlich Fehlentscheidungen getroffen. Ich  habe es  immer wieder in gewissen Momenten auch nicht geschafft, meinen eigenen Ansprüchen gerecht zu werden.   Aber gleichzeitig möchte ich in aller Deutlichkeit sagen, ich bin weder ein Heiliger noch ein Verbrecher. Ich bin ein Mensch mit Stärken und Schwächen, mit Fehlern und  Erfolgen und allem, was sonst noch dazugehört. Und  gerade,  weil es Vorwürfe gegen mich gibt, die seit einigen Monaten im Raum stehen, ist mir wichtig, auch noch einmal festzuhalten: Ich freue mich persönlich auf den Tag, auch wenn es Jahre dauern kann, wo ich bei Gericht auch beweisen kann, dass die Vorwürfe gegen meine Person schlicht und ergreifend falsch sind.  

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Die heutige Entscheidung und das können sie sich wahrscheinlich vorstellen,  die ist mir nicht leichtgefallen. Aber ich sage dazu:  Es ist trotzdem so, dass ich keine Schwermut empfinde. Denn ich bin extrem dankbar für alles, was ich in den letzten zehn Jahren erleben durfte, und ich bin auch froh, über all das, was meinem Team und mir für Österreich gelungen ist.   Mit 35 Jahren darf ich jetzt zurückblicken auf mittlerweile zehn Jahre Dienst an der Republik, auf unglaublich viele Eindrücke, Erlebnisse und Erfahrungen.  Auf Begegnungen mit unglaublichen ­ Persönlichkeiten,  vom Dalai Lama  bis zum Papst, Gespräche mit den Präsidenten der Weltmächte USA, China und Russland. Die Vertiefung unserer Beziehungen mit unse­ren Freunden am Westbalkan, was mir immer ein besonderes Anliegen war.  Das Schmieden von Allianzen auf europäischer Ebene, um die Schuldenunion zu verhindern oder um für mehr Subsidiarität einzutreten.  Und,  meiner Meinung nach auch die notwendige Auseinandersetzung mit unserer Geschichte und der Versuch ein noch besseres Verhältnis mit dem Staat Israel aufzubauen.   Und auch innenpolitisch haben wir es, denke ich,  geschafft, einige Vorhaben zu verwirklichen, die mir immer ein großes Anliegen waren. Die Einführung des Familienbonus und eine steuerliche Entlastung für Familien, die CO2-Bepreisung, um eine schrittweise Transformation auch unseres Steuersystems sicherzustellen oder auch Modernisierungsschritte, die wir gesetzt haben,  die kritisiert worden sind, wie die Flexibilisierung der Arbeitszeit und andere, wo ich glaube, dass sie wichtig für unseren Wirtschaftsstandort waren.   Zuletzt ist natürlich alles im Fokus der Pandemiebekämpfung gestanden, wo wir stets versucht haben neben der gesundheitlichen Aspekte auch mit wirtschaftlichen Hilfen und Kurzarbeit alles zu tun, um das wirtschaftliche und das soziale Leid, das durch die Pandemie ausgelöst wird, so gut wie möglich in Grenzen zu halten.   Was mir immer am meisten Freude bereitet hat, das war quer durch Österreich unterwegs zu sein und mit Menschen aus ganz unterschiedlichen Ecken und Denkrichtungen zusammen zu treffen. Und das schönste Gefühl war eigentlich, wenn einem Menschen ihre ganz persönlichen Sorgen und Nöte geschildert haben  und man wusste,  man kann nicht nur zuhören, sondern man hat die Dinge zumindest ein Stück weit für diese Menschen in die richtige Richtung zu verbessern. Dass  es  uns gelun-

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gen  ist,  kleine Pensionen endlich ein Stück weit zu erhöhen,  dass es uns gelungen ist, kleinere Einkommen und Familien zu entlasten. Das ist etwas, was mir extrem wichtig war und wo ich einfach auch überzeugt davon bin, dass das die Ehre meines Lebens war und ist und an das werde ich mich auch immer erinnern.   Oft heißt  es  die Politik ist  ein  undankbares Geschäft.  Und mir ist wichtig, am heutigen Tag festzuhalten, dass ich das nicht so sehe, und ich möchte dem auch entschieden widersprechen. Ich halte es für unglaublich schön, sich für etwas einsetzen zu dürfen, woran man glaubt. Es ist unglaublich schön,  für die eigene Republik, für das eigene Land arbeiten zu dürfen und diesem dienen zu dürfen. Und auch wenn die Politik ein robustes Geschäft ist, keine Frage, so ist es doch so, dass im Gespräch mit den Menschen quer durchs Land man als Politiker immer auch sehr viel zurückbekommt.   Und daher,  sehr geehrte Damen und Herren,  stehe ich heute nicht nur sehr dankbar  da  für  diese  zehn  schönen Jahre, sondern ich möchte natürlich auch die Möglichkeit nutzen und ich hoffe, Sie gestatten mir das, und all den Menschen danke sagen, ohne die dieser ganze Weg und all das niemals möglich gewesen wäre. Ich möchte mich vor allem bei meinem Team bedanken, weil ich die Möglichkeit hatte, tagtäglich mit herausragenden Menschen zusammenzuarbeiten. Ich möchte mich bei den Ministerinnen und Ministern in meinen Regierungsmannschaften bedanken, die allesamt tagtäglich Großartiges leisten.   Ich möchte mich bei unseren Koalitionspartnern FPÖ und Grüne bedanken, denn trotz aller Unterschiede, und ja, die gibt es, ist es immer eigentlich gelungen, relativ professionell zusammenzuarbeiten.  Und mit vielen gab es auch auf menschlicher Ebene stets eine gute Basis. Ich möchte mich bei Bundespräsident Van der Bellen und Nationalratspräsident Sobotka bedanken, denn es ist keine Selbstverständlichkeit, dass der Auftritt im Ausland für die Republik  stets  gut abgestimmt war und gerade  in  Krisenzeiten  war  auch immer eine gute Zusammenarbeit im Inland gewährleistet. Und ich möchte mich bei Alexander Schallenberg bedanken, weil ich selbst weiß, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Und er war bereit, vor einigen Wochen in einer schwierigen Zeit Verantwortung zu übernehmen.  

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Ich möchte mich natürlich ganz besonders bei der Volkspartei bedanken die mich stets getragen und unterstützt hat. Meiner politischen Heimat, der Jungen ÖVP, den Ländern und Bünden für die Geschlossenheit in den Jahren, den Generalsekretären Stefan Steiner, Elli Köstinger, Axel Melchior und Karl Nehammer, die tolle Arbeit geleistet haben. Ich möchte mich bei denjenigen bedanken, die mich schon sehr früh unterstützt haben, als ich noch nicht in der Öffentlichkeit gestanden bin. In der  Jungen  ÖVP von Markus Figl bis Josef Pröll. Michael Spindelegger war es dann, der mir eine Chance als Staatssekretär gegeben hat. Hanni Mikl-Leitner hat mich damals in dieser für mich sehr schwierigen Phase als 24-jähriger zu Beginn in der Regierung sehr unterstützt.  Und natürlich möchte ich auch all jenen Danke sagen, die mich immer mit ihrer Lebenserfahrung unterstützt haben und ganz uneigennützig mir stets mit Rat und Tat zur Seite gestanden sind. Das sind sehr viele, stellvertretend für einige möchte ich hier Wolfgang Schüssel und Andreas Khol nennen. Vor allem aber, sehr geehrte Damen und Herren, gilt mein Dank den Wählerinnen und Wählern und den Unterstützerinnen und Unterstützern. Wir haben  zwei  Wahlkämpfe nicht nur führen, sondern auch gewinnen dürfen und das wäre niemals möglich gewesen ohne die Zehntausenden Unterstützerinnen und Unterstützer quer durch Österreich.   Und ich war mir eigentlich immer sicher, dass diese beiden Wahlkämpfe durch nichts zu toppen sind. Vor ein paar Tagen habe ich dann erlebt, dass die Geburt des eigenen Kindes noch einmal alles andere toppt, was man je  zuvor  gesehen oder erlebt hat.  So ein  kleines Baby kann man stundenlang anschauen und  ist  froh und glücklich darüber. Und insofern ist natürlich dieses Wunder etwas Einzigartiges. Aber abseits dieser persönlichen Freuden im Privatleben sind diese  zwei  Wahlerfolge sicherlich etwas, was ich niemals in meinem Leben vergessen werde,  wo ich danke sagen möchte und noch ein Leben lang eine große Freude darüber empfinden werde.   Wenn ich heute  den  Abschied  aus der Politik nehme,  dann  möchte ich noch einmal betonen, und das ist mir als Obmann der Volkspartei wichtig, dass ich überzeugt davon bin, dass es wichtig ist, dass es eine starke Volkspartei gibt. Die Grundwerte der Volkspartei, Fleiß, Eigenverantwortung, aber auch Solidarität, die haben einen Beitrag dazu geleistet, dass un-

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ser Land heute so lebenswert ist wie es ist. Und ich möchte an dieser Stelle auch klar sagen, dass gerade weil von manchen immer wieder der Eindruck erweckt wird, als wäre der Erfolg der Volkspartei auf eine Person oder auf meine Person in den letzten Jahren zurückzuführen, kann ich Ihnen nur sagen dieser Eindruck ist falsch.   Es gibt in der Volkspartei  unglaublich viele erfahrene Kräfte,  es gibt viele junge Talente und es gibt ganz viele Menschen, die quer durch die Gemeinden auf Landesebene, vor Ort oder auch auf Bundesebene das Feuer auch in sich tragen,  das  ich  zehn  Jahre lang hatte,  und die tagtäglich sich bemühen, Bestmögliches für unser Land zu leisten. Ich bin überzeugt davon, dass es auch in Zukunft eine starke Volkspartei geben wird, die gute Arbeit für unser wunderschönes Österreich leisten wird.  Und ich werde, um  das auch zu unterstützen, morgen eine Sitzung des Bundesparteivorstandes einberufen und werde meine Funktion als Obmann übergeben. Ich werde die Leitung des Clubs wieder an August Wöginger übertragen, der das schon jahrelang hervorragend gemacht hat. Und ich werde in den nächsten Wochen eine geordnete Übergabe all meiner politischen Funktionen sicherstellen. Für mich, sehr geehrte Damen und Herren, beginnt somit ein neues Kapitel in meinem Leben. Vor allem freue ich mich darauf, einmal Zeit mit meinem Kind und meiner Familie zu verbringen und ich werde das sehr genießen, bevor ich dann auch persönlich im neuen Jahr beruflich mich neuen Aufgaben widmen werde.   Ich gebe zu, ich stehe heute da und bin nicht nur gespannt auf diesen neuen Lebensabschnitt, sondern ich freue mich auch darauf. Aber mir ist wichtig zu betonen es war mir eine große Ehre der Republik  zehn  Jahre dienen zu dürfen. Vielen Dank.    Ich werde jetzt aufbrechen und  meinen Sohn und meine Freundin aus dem Spital abholen, vielen Dank.“34 Der gänzliche Rücktritt fand, so wie schon sein Schritt zur Seite im Oktober, beachtliches mediales Interesse in ganz Europa. Van der Bellen meint: „Ich habe mich bei Kurz für die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit bedankt.“ Rendi-Wagner: „Der Schritt war erwartbar, Kurz hat die Konse-

34 Kurz, S. (2. Dezember 2021), Rede zum Rückzug aus der Politik, Politische Akademie.

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quenz aus den letzten Monaten gezogen.“, Meindl-Reisinger: „Was letztlich auch bleibt, ist der Mensch, und dem gebührt auch Dank für seine Arbeit.“ Die FAZ sei stellvertretend für die internationale Medienlandschaft hier zitiert, wo auch das Resümee, das Stefan Löwenstein zog, es auf den Punkt brachte: „Ein Lebensabschnitt von zehn Jahren: Sebastian Kurz verlässt Österreichs Politik. Ob es ein Abschied für immer sein soll, bleibt offen. Die politische Akademie der Österreichischen Volkspartei, bei Nieselwetter: Die Kulisse ist in jeder Hinsicht passend für Sebastian Kurz, um seinen vollständigen Rückzug aus der Politik mitzuteilen. Nicht nur wegen des Wetters, sondern auch für die Erzählung von einem Kreis, der sich runde, oder einem Abschnitt, der zu Ende gehe. Hier hat vor einem Jahrzehnt der damalige ÖVP-Vorsitzende Michael Spindelegger sein Regierungsteam vorgestellt, mit dem damals 24 Jahre jungen Kurz als großer Überraschung. Hier hat Kurz selbst 2017 de facto die Parteispitze übernommen, indem er nach dem Rücktritt des ÖVP-Chefs (er hieß inzwischen Reinhold Mitterlehner) seine eigene Bereitschaft verkündete. Da herrschte, es war Mai, standesgemäß strahlender Sonnenschein. Jetzt also der Rücktritt: Kurz erläuterte seine Gründe. Sprach von Positionen und Überzeugungen, die ihn in seinem Handeln geleitet hätten, von Freude und Mühsal der Politik, dankte Mitstreitern und Wegbegleitern, Förderern und altvorderen Ratgebern. Sichtlich war er darum bemüht, nicht den Eindruck eines Abschieds in Bitterkeit zu hinterlassen – anders als zum Beispiel sein Vorgänger Mitterlehner. Als Grund für den vollständigen Rückzug gab er an, dass die notwendige hundertprozentige Begeisterung nicht mehr da sei angesichts der „Entwicklungen der letzten Monate“. Und auf der anderen Seite das neue Familienglück, da seine Lebensgefährtin am vergangenen Wochenende das erste Kind zur Welt gebracht habe. Erkennbar versuchte Kurz, dem Vorwurf seiner politischen Gegner entgegenzutreten, er sei ohnehin immer nur an der Macht interessiert gewesen, nicht an irgendwelchen Prinzipien. Er habe nach den Überzeugungen gehandelt, sagte er, dass „arbeiten gehen sich auszahlen muss“, dass „Migration nicht ungesteuert stattfinden darf, sondern Grenzen braucht“, und dass der Wirtschaftsstandort gestärkt werden müsse. Er dürfe dankbar im Alter von 35 Jahren auf „zehn Jahre Dienst an der Republik“ zurück-

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blicken, Begegnungen vom Dalai Lama bis zu den Präsidenten der Weltmächte, Allianzen auf europäischer Ebene. Wichtig seien ihm auch die Auseinandersetzung mit der Geschichte und ein noch besseres Einverständnis mit Israel gewesen. Ohne Fragen zu beantworten, verließ er nach etwa einer Viertelstunde den Raum. Eher scherzhaft sagte er auf einen Zuruf, was er jetzt denn machen werde: Er werde jetzt Sohn und Freundin aus dem Spital nach Hause bringen. Übrigens ist Meidling auch der Wiener Bezirk, aus dem Kurz stammt und in dem er wohnt. Nur allgemein hatte er davon gesprochen, dass er sich im kommenden Jahr „beruflich neuen Aufgaben widmen“ werde, sich bis dahin aber auf Kind und Familie freue. In der ÖVP ist von Angeboten aus der „internationalen Privatwirtschaft“ die Rede. Kein Außenstehender wird solche privaten Gründe beiseite wischen können. Zumal sich im Archiv Aussagen finden, wonach er selbst sich in zehn Jahren nicht mehr in der Politik sehe; dass dies ein „Lebensabschnitt“ sei, er aber auch noch etwas in der Privatwirtschaft oder einer Nichtregierungsorganisation vorhabe. Trotzdem liegt auf der Hand, dass der Grund für seinen Rückzug zu diesem Zeitpunkt in den politischen Umständen zu suchen ist. Säße er noch unangefochten im Kanzleramt am Wiener Ballhausplatz, so wäre er jetzt nicht gewichen, zehn Jahre hin, privates Glück her.“ (…)35

Epilog „Kurz muss weg“ soll für manche jetzt heißen, die ÖVP muss weg. Es ist die Kraft und Stärke als Volkspartei und Bewegung aus den Sympathisanten, den Mitgliedern, den Funktionären, den Mandataren und Spitzenrepräsentanten immer geeignete Persönlichkeiten präsentieren zu können, die Voraussetzungen für die höchsten Ämter des Staates und der Partei haben. Als Bundeskanzler und als Parteiobmann zu fungieren, Freude am Beruf zu haben, Bundeskanzler der Republik als Berufung zu empfinden, Karl Neham-

35 Löwenstein, S. (3. Dezember 2021), Ein Lebensabschnitt von zehn Jahren, Frankfurter Allge­ meine Zeitung.

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mer erfüllt alle Anforderungen und tut dies auch aus innerem Antrieb. Er kommt aus dem Team von Sebastian Kurz, wurde von Kurz vorgeschlagen, vom Parteivorstand designiert und dann, wenn dieses Buch erscheinen wird, ist er von den Delegierten des Parteitages am 14. Mai mit großer überzeugender Mehrheit gewählt worden. Karl Nehammer freut sich die Veränderung fortzusetzen. Er hat Kampfgeist und ist blitzschnell, hat stets Leistungsbereitschaft gezeigt, mag die Menschen und geht auf sie zu, ist empathisch, höflich, offen und kann sehr konsequent sein. An diesen Eigenschaften sieht man die Klammer zu Sebastian Kurz und trotzdem ist er ein anderer Bundeskanzler und Parteiobmann. Er ist wie er ist, der Karl Nehammer, eine neue Ära kommt.

31.01.2022, Sebastian Kurz im Interview Redaktion: Sebastian Kurz, herzlichen Dank, dich nach deinem Rückzug aus der Politik wieder treffen zu können. Du hast mittlerweile eine gewisse Distanz zu den Dingen gewonnen, die letzten Endes deinen Rückzug aus der Politik bewirkt haben. Wie blickst du heute auf die Ereignisse zurück? Kurz: Mir geht’s gut. Ich bin privat, aber auch beruflich, sehr zufrieden und dankbar und blicke gerne auf die 10 Jahre Regierungstätigkeit für Österreich zurück. Ich durfte sehr viel lernen, und habe immer versucht mein Bestes zu geben und konnte hoffentlich meinen Beitrag für Österreich leisten. Redaktion: Wenn du zurückblickst: Würdest du wieder diesen Weg in die Spitzenpolitik gehen? Kurz: Ja, natürlich. Politik ist nicht nur Wesentliches für eine funktionierende Gesellschaft und Demokratie, sondern es ist etwas Wunderschönes für das eigene Land, für die eigene Bevölkerung, tätig zu sein. Darüber hinaus habe ich stets auch Freude an der Zusammenarbeit mit vielen beeindruckenden Persönlichkeiten gehabt, mit denen ich jahrelang zusammenarbeiten durfte. Insofern ist Politik etwas, worauf ich nicht nur sehr gerne zurückblicke, sondern wo ich auch froh bin, wenn es viele Menschen jeden

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Alters und unterschiedlicher Herkunft und Prägung gibt, die bereit sind, sich politisch zu engagieren. Redaktion: Wenn wir zurückblicken in das Jahr 2017, lange Zeit warst du Jungpolitiker, dann auch ein sehr ernstzunehmender Jungpolitiker, später Staatssekretär, dann als Außenminister eine Art Zukunftshoffnung. Sehr unvermittelt ist im Mai 2017 Mitterlehner zurückgetreten, was viele überrascht hat. Hast du sofort gesagt: „Da müssen Neuwahlen her“? Hättest du nicht auch sofort in die Funktion des Vizekanzlers einsteigen können? Kurz: Ich glaube alles hat seine Zeit und das Wesen der Demokratie, unseres politischen Systems, ist, dass sich sowohl Herausforderungen als auch die dafür notwendigen Antworten stetig verändern, da ist alles immer im Fluss und heute ist die Situation eine andere als 2017. Aber damals war die Situation für mich, und diese Einschätzung haben viele geteilt, sehr klar. Nach langer Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokratie und Volkspartei ist nicht nur in der Bevölkerung die Zufriedenheit mit der Bundesregierung überschaubar gewesen, sondern auch innerhalb der Koalition gab es wenig Begeisterung für eine Fortsetzung der Zusammenarbeit. Redaktion: Du hast das Risiko der Neuwahlen auf dich genommen, denn normalerweise heißt es ja, der der Neuwahlen verlangt, bekommt die Rechnung präsentiert. Kurz: Natürlich war es ein extrem hohes persönliches Risiko und ich hätte auch tun können, was viele andere vermutlich getan hätten. Dankbar die sichere Position des Vizekanzlers annehmen. Ich war einfach überzeugt davon, dass es eine Veränderung braucht und ich glaube, dass das auch das Wesen einer vitalen funktionierenden Demokratie im Herzen Europas ist, dass es immer wieder Wechsel und Veränderung statt Stillstand gibt. Daher habe ich diesen Schritt damals gesetzt. Der Mythos oder die Vorhersage, dass derjenige, der Neuwahlen ausruft immer die Wahlen verliert, ist nicht eingetreten. Wir sind mit viel Vertrauen ausgestattet worden und haben versucht die Veränderung, die wir für richtig und notwendig empfunden haben, dann auch einzuleiten und ich glaube, dass es auch genügend Unterstützung da-

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für in der Bevölkerung gab, wir sind ja bei der nächsten Wahl, im Jahr 2019, nochmal gestärkt worden. Redaktion: Am Parteitag 2017 war eine enorme Aufbruchsstimmung spürbar, die sicherlich durch deine Person ausgelöst wurde. Welche Rolle hat in diesem Zusammenhang auch die Reform der Partei gespielt? Kurz: Wir haben damals einfach versucht, viele neue Persönlichkeiten in die Partei zu holen. Ich glaube die Volkspartei ist seit Jahrzehnten stark in den Gemeinden und in den Bundesländern verankert und kann hier auf extrem viel Expertise, Ressourcen und großartige Persönlichkeiten zurückgreifen. Wir haben versucht, das sogar noch zu toppen, indem wir zusätzlich versucht haben, Personen aus Wissenschaft, Forschung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft in unsere Bewegung zu bringen und durch diese Symbiose aus erfahrenen politischen Kräften und neuen Persönlichkeiten noch breiter zu werden im personellen Angebot, aber natürlich auch im Zugang und in der Expertise. Ich glaube, dass dieser Mix sicherlich auch mit ein Grund war, dass wir das Vertrauen geschenkt bekommen haben. Wir sind damals im Parlament nicht nur mehr geworden, sondern wir sind auch jünger, weiblicher und vielfältiger geworden. Ich werde nie vergessen als ich bei Minister Faßmann gefragt wurde: „Aus welchem Bundesland kommt denn der?“ Und ich geantwortet habe: „Na ja, ursprünglich aus Deutschland, aber er war jetzt lange als Vizerektor an der Universität Wien tätig.“ Diese Geschichte ist beispielhaft dafür, was wir damals versucht haben. Redaktion: Du giltst als exzellenter Wahlkämpfer und hast den Wahlkampf 2013 mit den meisten Vorzugstimmen erfolgreich beendet. Hättest du 2017 einen Wahlkampf erwartet, in dem durch „Dirty Campaigning“ alle roten Linien überschritten werden? Kurz: Na ja, die These dass man versuchen muss, aus einem sauberen Kandidaten einen schmutzigen zu machen, ist natürlich auch eine harte und unerwartete. Und ich habe natürlich unter all den Versuchen gelitten. Aber was ich dadurch gesehen habe ist, dass das gottseidank nicht von heute auf

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morgen funktioniert. Und insofern haben viele Versuche des „Dirty Campaignings“ damals nicht die Kraft entfaltet, die wir schon befürchtet haben. Redaktion: Du bist als erstes durch das Ziel gegangen und hast einen nicht erwarteten Sieg hingelegt. Was war das ausschlaggebende Argument mit den Freiheitlichen zu koalieren? Kurz: Anders als es damals dargestellt wurde, war mein Team geprägt von Menschen, die diese Koalition aus tiefer Überzeugung mit einem ganz klaren inhaltlichen Anspruch eingegangen sind. Es war sonnenklar, dass die größte Schnittmenge für unsere Überzeugungen im Bereich Stärkung des Wirtschaftsstandorts, Kampf gegen illegale Migration, Reformen im Sozialsystem und darüber hinaus mit der Freiheitlichen Partei gegeben sind. Daher haben wir diese Regierungskonstellation gestartet, in der es auch gelungen ist, bis zum Ende mit einem sehr hohen Tempo vieles umzusetzen, wovon wir inhaltlich bis heute überzeugt sind und was auch immer zu 100% unseren Überzeugungen entsprochen hat. Zugegeben, einige Themen polarisieren und werden von manchen differenziert gesehen. Redaktion: Ein außenpolitisches Risiko, wie die internationale Kritik 2000 an Wolfgang Schüssel, als er die Regierung mit den Freiheitlichen geschlossen hat, hast du nie gesehen? Kurz: Na ja, dass das immer wieder kritisch beäugt wurde und insbesondere auch medial oftmals beleuchtet wurde, das war vorherzusehen. Ich habe mich politisch engagiert, nicht um etwas zu sein, sondern um etwas zu tun. Und eine Wahl zu gewinnen ist schön, aber es ist ja nur Mittel zum Zweck, um dann auch die eigenen Überzeugungen umsetzen zu können. Und das war einfach in dieser Konstellation, trotz Kritik, mit Abstand am realistischsten. Ich bin nach wie vor beseelt von unseren Grundwerten, wie Freiheit, Eigenverantwortung, Leistungsbewusstsein und von dem Zugang, einen Staat zu formen, der ein starker Wirtschaftsstandort ist, mit einem treffsicheren aber schlanken Sozialsystem und der Fähigkeit, Grenzen zu haben und Grenzen zu schützen. All das was aus meiner Sicht einen modernen leis-

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tungsfähigen und somit auch lebenswerten Staat ausmacht. Daher haben wir diese Konstellation gewählt. Redaktion: Gab es in den Verhandlungen mit den Freiheitlichen auch Herausforderungen, die dich zweifeln ließen, dass ein Koalitionsübereinkommen zustande kommt? Kurz: Mit jedem Koalitionspartner gibt es Herausforderungen, mit jedem Koalitionspartner gibt es Schwierigkeiten. Parteien versuchen ja oft sich als möglichst unterschiedlich darzustellen und manche versuchen sich als besser, andere als schlechter, oder als moralisch überlegen beziehungsweise unterlegen darzustellen. Die Wahrheit ist, dass Koalitionsverhandlungen immer ähnlich ablaufen. Es geht um die Fragen: Wie viele der eigene Inhalte setzt man durch? Wie ist die Verteilung von Machtverhältnissen und Personal? Um diese Fragen gibt es stets ein Gezerre, ganz gleich welche Partei tätig ist. Ich habe Koalitionsverhandlungen mit SPÖ, FPÖ und Grünen erlebt und kann nur sagen hier verhalten sich alle eigentlich relativ ähnlich, die ÖVP eingeschlossen. Redaktion: Als Bundeskanzler bist du ganz bewusst wieder zurück in das ehemalige Kreisky-Zimmer übersiedelt. Wie war die Stimmung und dein Gefühl wieder dort zu sein? Kurz: Ich hab mir nie viel aus Räumlichkeiten oder Titeln gemacht, insofern hab ich jetzt dazu kein besonderes Gefühl, das ich beschreiben könnte. Ich habe die Tätigkeit immer als eine extrem große Verantwortung empfunden. Ich bin ein Mensch, der ständig versucht jeden Schritt des Tuns kritisch zu hinterfragen und zu diskutieren. Ehrlicherweise war gerade am Anfang unserer Regierungstätigkeit meine Emotion nicht durch irgendeinen Raum, einen Titel oder die Historie des Gebäudes geprägt, sondern ausschließlich durch den Druck, den man empfindet, wenn man so eine Tätigkeit ausüben darf. Den eigenen Anspruch, das umzusetzen, was man sich vorgenommen hat, währenddessen hunderterlei Dinge zu bewältigen sind, die im Tagesgeschehen ständig auf einen einprasseln.

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Redaktion: Wie würdest du den Regierungsvertrag und den Umgang mit den Freiheitlichen beschreiben? Kurz: Ich glaube, dass das ein sehr klassisch bürgerliches Programm war, mit ambitionierten Vorhaben. Die Zusammenarbeit war mit allen Koalitionspartnern, nicht nur mit der FPÖ, sondern auch mit den Grünen, stets eine professionelle und ordentliche. Redaktion: Ibiza hat nicht nur die Republik erschüttert, sondern hat auch international Aufsehen erregt. Was war der entscheidende Moment, wo du gesagt hast, die Zusammenarbeit ist nicht mehr möglich? Kurz: Da gab es damals einige Gespräche, auch mit Herbert Kickl, die uns dann zu dem Entschluss kommen haben lassen, dass die Regierungszusammenarbeit nicht fortgesetzt werden kann. Ich möchte festhalten, dass ich das damals schon gleichzeitig als sehr schade empfunden habe, denn in der Regierungsarbeit selbst, in den Projekten, die wir gemeinsam umgesetzt haben, war diese Regierung, zumindest aus meiner Sicht, sehr erfolgreich und ich glaube, dass sie in weiten Teilen der Bevölkerung auf sehr viel Unterstützung und Zustimmung gestoßen ist, auch wenn sich das nicht immer medial widergespiegelt hat. Redaktion: Die Abwahl im Parlament hat dich sicherlich betroffen gemacht, auch wenn du davon gewusst hast oder es ahnen konntest. Wie ist dieser Moment, wenn du dich zurück erinnerst? Kurz: Das war für mich eigentlich alles andere als ein dramatischer Moment, weil ich immer dankbar dafür war, in der Bevölkerung so viel Unterstützung erleben zu dürfen und dass wir keine absolute Mehrheit im Parlament hatten, das war mir ja immer klar. Insofern habe ich das selbstverständlich zur Kenntnis genommen, dass sich da eine Mehrheit gegen uns gestellt hat. Wir waren dadurch als Team aber auch sehr motiviert, bei der Nationalratswahl 2019 die Frage der Abwahl schlussendlich der Bevölkerung zu überlassen.

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Redaktion: Du hast praktisch am Absatz umgekehrt und noch am selben Tag der Abwahl auf der Politischen Akademie eine Rede gehalten: „Am Ende des Tages entscheiden nicht die repräsentativen Parteien, sondern die Bevölkerung.“, um wieder in den Wahlkampf zu ziehen. Wie war der Wahlkampf 2019 im Vergleich zu 2017? Kurz: Es war sicher eine Belastung für das ganze Team und auch für mich innerhalb von kürzester Zeit nochmal einen Nationalratswahlkampf durchführen zu müssen. Wir sind immerhin rausgerissen worden aus unserer Regierungsarbeit, die wir damals mit voller Leidenschaft betrieben haben. Es war ein Wahlkampf, in dem wir sehr viel Gegenwind erlebt haben, nachdem wir von Anfang an den Eindruck hatten, dass sich alle anderen Parteien auf die ÖVP einschießen würden. Das hat es für die Kandidatinnen und Kandidaten, inklusive meiner Person, nicht angenehmer gemacht, ständig mit so viel negativer Energie konfrontiert zu sein. Im Ergebnis hat es uns aber nicht geschadet. Redaktion: Hast du das Ergebnis erwartet oder hast du gezweifelt? Kurz: Ich war mir im Nationalratswahlkampf sehr sicher, dass wir die Wahl gewinnen würden, da ich den Eindruck hatte, dass es von der Bevölkerung sehr viel Unterstützung für unsere bisherige Arbeit gab. Insofern war es mir, anders als im Jahr 2017, wo es ein sehr offenes Rennen war, im Jahr 2019 sehr klar, dass wir als Erster durchs Ziel gehen würden. Mit so einem guten Ergebnis habe ich bei weitem nicht gerechnet. Insofern habe ich mich, wie im Jahr 2017, auch im Jahr 2019, im Ergebnis massiv verschätzt. Redaktion: Schlussendlich hat die ÖVP mit den Grünen koaliert. Mit einer Partei mit wesentlich kleinerer Schnittmenge. Du hast den Slogan „Das Beste aus den beiden Welten“ geboren. War es möglich diese Idee auch mit Leben zu füllen? Kurz: In manchen Bereichen ja und in anderen nein. Ich glaube, gerade im Versuch einen starken Wirtschaftsstandort und Klimaschutz unter einen Hut zu bringen, ist es uns gelungen. Die Ökosoziale Steuerreform, die wir zu-

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sammen auf den Weg bringen konnten, gibt glaube ich genau die Richtung vor, die wahrscheinlich nicht nur Österreich, sondern ganz Europa in den nächsten Jahrzehnten gehen wird. Eine niedrigere Besteuerung des Faktors Arbeit und dadurch eine Entlastung der arbeitenden Menschen. Gleichzeitig eine Erhöhung der Steuerlast in gewissen Bereichen, wie zum Beispiel klimaschädlichem Verhalten. Das sind Bereiche in denen die Zusammenarbeit sehr gut funktioniert hat. Natürlich gibt es darüber hinaus in sehr vielen anderen Themen ganz unterschiedliche Zugänge, was die Zusammenarbeit nicht immer einfach gemacht hat. Aber so ist das einfach in unserem System, wo Regierungen zurzeit immer Koalitionsregierungen sind. Redaktion: Der Untersuchungsausschuss, der nach Ibiza eingesetzt wurde, hat in erster Linie als politisches Kampfmittel gedient, das sagen auch deutsche Kolleginnen und Kollegen über diese Form des Ausschusses. Hat die ÖVP damals erkannt, was der Untersuchungsausschuss auch für sie bedeutet, oder ist man davon ausgegangen, dass sich dieser Ausschuss nur mit dem Fehlverhalten der Freiheitlichen auseinandersetzt? Kurz: Das weiß ich nicht. Was ich aber merke ist, dass das was hier in Österreich stattfindet, in vielen Ländern der Welt eigentlich undenkbar wäre. Eine Überschneidung von Justiz und Politik, eine ständige öffentliche Debatte über Akten oder Privates, wo oft sozusagen der erste Eindruck oder der erste Spin entscheidend ist, unabhängig davon wie die Wirklichkeit im Detail ist, das ist glaube ich etwas, was es so nicht überall auf der Welt gibt. Aber da muss sich jeder selbst ein Bild davon machen. Redaktion: Abgeleitet von dem Untersuchungsausschuss stellen wir einen neuen Politstil fest. Nicht mehr „Negative Campaigning“ und „Dirty Campaigning“ wie 2017, sondern Politik mit Anzeigen und staatsanwaltlichen Verfahren. Wo entwickelt sich die Politik deiner Ansicht nach hin? Kurz: Es ist leider Gottes ein Trend, der nicht nur bei uns stattfindet: Ich glaube daher, auch wenn das nicht sehr optimistisch klingt, dass sich dieser Trend weiterhin fortsetzen wird. Ich war immer ein Fan davon, in einer Demokratie Wählerinnen und Wähler entscheiden zu lassen und den poli-

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tischen Diskurs in der Sache hart zu führen, aber im Persönlichen und im Ton stets respektvoll. Ich glaube sozusagen, dass viele Veränderungen, die ursprünglich in Amerika beginnen, etwas zeitversetzt auch in Europa mehr und mehr um sich greifen. Insofern gehe ich davon aus, dass das was hier begonnen hat, auch in der Zukunft immer dominanter werden wird. Redaktion: Haben dich Angriffe auf deine Person und staatsanwaltliche Verfahren, die man angestrebt hat, letzten Endes zum Entschluss geführt, die Funktion zurück zu legen? Kurz: Ich würde sagen, zum einen, dass ich sehr dankbar bin für die 10 Jahre, in denen ich politisch meinen Beitrag leisten durfte in der Regierung. Zum anderen haben die Verfahren am Ende sicherlich eine große Rolle dabei gespielt, dass ich einfach nicht mehr dieselbe Freude empfunden habe und dieselbe Leidenschaft. Ich habe sicherlich in meinem Leben und auch in meiner politischen Tätigkeit nicht alles richtig gemacht, das ist ganz klar, aber ich habe mir strafrechtlich nie etwas zu Schulden kommen lassen und daher sehe ich die Verfahren im Inhalt sehr gelassen. Dass sie medial ein so großes Thema waren und dadurch auch Teile meiner Arbeit überlagert haben, das habe ich zur Kenntnis nehmen müssen, aber es hat natürlich nicht dazu beigetragen, dass die Begeisterung und Leidenschaft mehr geworden sind. Redaktion: Wenn du noch einmal zurückschaust und vergleichst was du dir für deine Regierungszeit vorgenommen hast. Was war das wesentliche wo du gesagt hast: „Das will ich machen, das will ich umsetzen.“ Kurz: Ein Thema was mir immer ein Anliegen war, war der Kampf gegen illegale Migration und die Steuerung der Zuwanderung. Zugang für eine gelungene Integration sollte Integration durch Leistung sein. Ich habe mich darüber hinaus stets für die Stärkung unseres Wirtschaftsstandortes eingesetzt, weil ich der festen Überzeugung bin, dass das die Basis für alles in einem Staat ist und ich habe immer stark dafür gekämpft, dass wir die Steuerlast für arbeitende Menschen, vor allem für kleine und mittlere Einkommen, für Menschen die ihr Leben lang gearbeitet haben, senken. Damit ein-

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fach den Menschen, die einen Beitrag leisten, auch mehr zum Leben bleibt. Das waren sicherlich Schwerpunkte, die mir wichtig waren und für die ich auch sehr viel Energie aufgewandt habe. Redaktion: Was hat dir am meisten Freude bereitet? Kurz: Am meisten Freude hat mir immer der Kontakt mit der Bevölkerung bereitet und die Möglichkeit zu haben, tagtäglich mit verschiedenen Personen zu tun zu haben – mit Menschen anderer Herkunft, unterschiedlicher sozialer Stellung, spannendem Background und verschiedener Einstellung zum Leben, das war eigentlich immer das Spannende in der Tätigkeit. Redaktion: Du hast Karl Nehammer als Kanzler der ÖVP vorgeschlagen, als deinen Nachfolger. Was waren die entscheidenden Momente, dass du gerade ihn vorgeschlagen hast? Kurz: Also das war nicht meine Entscheidung, sondern die Entscheidung der VP und der Repräsentanten im Parteivorstand. Ich habe den Karl Nehammer stets als jemanden erlebt, der jede Funktion, die er übernommen hat, mit großer Verantwortung, mit enormen Einsatz und auch Erfolg ausgeführt hat. Sowohl seine parteipolitischen Funktionen mit einem Mandat im Parlament und ganz besonders zuletzt seine Aufgabe als Innenminister. Daher bin ich ganz einfach überzeugt davon, dass er der Richtige ist. Redaktion: Abschließend: Was gibst du dem neuem Team mit auf den Weg für die Zukunft? Was ist dein Wunsch? Kurz: Da gibt’s weder einen Wunsch, noch einen Rat. Das war nie mein Zugang und wird es auch nie werden. Ich bin ein Staatsbürger mit einer klaren Wertehaltung, mit einem klaren inhaltlichen Koordinatensystem, das hat sich nicht verändert und daher weiß ich, wo ich ideologisch beheimatet bin. Aber ich empfinde keine Notwendigkeit irgendwelche Tipps zu äußern oder irgendwem Ratschläge oder Wünsche zu geben.

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Literatur Albrecht, T. (2019), Die Rhetorik des Sebastian Kurz. Dolna, V., Ortner, J., Weissenberger, E. (17. Dezember 2016), Wer wird Kanzler? Kern? Kurz? Strache? News Magazin. Häusel, H. (2019), Neuromarketing. Hofer, T., Toth, B. (2007), Wahl 2006 – Kanzler, Kampagnen, Kapriolen. Hofer, T., Toth, B. (2014), Wahl 2013 – Macht, Medien, Milliardäre. Hofer, T., Toth, B. (2017), Wahl 2017 – Loser, Leaks und Leadership. Hofer, T., Toth, B. (2019), Wahl 2019 – Strategien, Schnitzel und Skandale. Horaczek, N. Toth, B. (2017), Sebastian Kurz – Österreichs neues Wunderkind? Knittelfelder, K. (2020), Inside Türkis – Die neuen Netzwerke der Macht. Koller, A. (17. Dezember 2017), Kurz und Strache im Interview: „Mit erhobenem Haupt“ zur Angelobung. Salzburger Nachrichten. Kurz, S. (6. September 2016), Rede zur Botschafterkonferenz, Wien. Kurz, S. (12. Mai 2017), Rede nach dem Rücktritt von Mitterlehners als Parteiobmann. Außenministerium. Kurz, S. (1. Juli 2017), Rede am Parteitag, Linz. Kurz, S. (20. Dezember 2017), Rede zur Regierungserklärung, Parlament. Kurz, S. (11. November 2018), Rede zum European Jewish Congress, Wien. Kurz, S. (5. Mai 2019), Rede nach Bekanntwerden des Ibiza-Videos, Bundeskanzleramt. Kurz, S. (9. Oktober 2021), Rede zum Rücktritt als Bundeskanzler, Bundeskanzleramt. Kurz, S. (2. Dezember 2021), Rede zum Rückzug aus der Politik, Politische Akademie. Löwenstein, S. (3. Dezember 2021), Ein Lebensabschnitt von zehn Jahren, Frankfurter Allgemeine Zeitung. Mühlauer, A., Münch, P. (21. Dezember 2017), Kurz sieht sich als Mittler in Europa, Süddeutsche Zeitung. Nehammer, K. Rausch, B. (2018), Offen für Neues – Analyse und Einschätzungen zum ersten Jahr der neuen Volkspartei. Politische Akademie (2018), Jahrbuch für Politik 2017. Politische Akademie (2019), Jahrbuch für Politik 2018. Politische Akademie (2020), Jahrbuch für Politik 2019. Politische Akademie (2021), Jahrbuch für Politik 2020. Ronzheimer, P. (2018), Sebastian Kurz – Die Biografie.

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wahlen

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karl jurka

Von Angela Merkel zu Olaf Scholz Deutschlands Jahr des ­Regierungswechsels Für die CDU/CSU war 2021 ein Jahr des Desasters. Von 2013 bis 2021 hatte die CDU bundesweit 17,4 Prozentpunkte bei den Bundestagswahlen verloren. Merkels Fähigkeit, Krisen zu bewältigen, deckt in der historischen Betrachtung der Ära Merkel so manches zu, was nicht passierte. Merkel versäumte es, zeitgerecht die Nachfolge regeln. Scholz hatte dreizehn Monate zwischen Nominierung und Wahl, Laschet und Baerbock lediglich fünf Monate. SPD im Wahlkampf geschlossen. CDU/CSU zerstritten. Für die Grünen ein Zugewinn als Niederlage. CDU hatte im Konsenswahlkampf kein Thema. Bereits am Wahlabend waren sich die Experten einig, dass die Chancen für eine Ampel auf 70 % stünden. FDP und Grüne domi­ nieren die Verhandlungen. Haushaltspolitik bleibt der zentrale Konfliktpunkt der deutschen Koalition.

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2021 – Das Jahr des Desasters der CDU/CSU Wahlen werden von einer Partei dann gewonnen, wenn sie eine andere Partei verliert. Die SPD mit dem Spitzenkandidaten Olaf Scholz schloss die Bundestagswahl 2021 mit 25,7 % der Wählerstimmen ab – und wurde dadurch zum Wahlsieger. Bei der Bundestagswahl 2017 mit dem erfolglosen Kandidaten Martin Schulz hatte die SPD nur 20,5 % erreicht, bei der Bundestagswahl 2013 mit dem Spitzenkandidaten Peer Steinbrück waren es ebenso wie 2021 genau 25,7 % der Wählerstimmen für die SPD gewesen. So ändert sich das Verständnis von Wahlresultaten. Steinbrücks 25,7 Prozent im Jahr 2013 galten als schwere Niederlage der SPD; die gleichen 25,7 % von Olaf Scholz acht Jahre später betrachtete das politische Deutschland als Triumph der Sozialdemokratie.1 Das letzte Mal über 40 % lag die SPD mit 40,9 % bei den Bundestagswahlen 1998. Damit war damals Gerhard Schröder Bundeskanzler geworden. Die Automatik, dass Großparteien über 40 % des Elektorats erreichen ist – mit wenigen Ausnahmen – in Deutschland wie in Österreich Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die alten Großparteien sind zu Mittel-Parteien geworden, die sich freuen müssen, ein Viertel der Wähler zu erreichen und es nur in speziellen Situationen schaffen, bei bundesweiten Wahlen knapp ein Drittel der Wähler zu gewinnen. Ein Trend, der überall in Europa festzustellen ist. Dass aus der 25 % – Niederlage des Peer Steinbrück ein 25-%-Wahlsieg des Olaf Scholz und damit der SPD wurde, liegt am Desaster der CDU/CSU. CDU/CSU, die bei Bundeswahlen immer gemeinsam antritt – und es auch 2021 tat, erreichte diesmal weniger als die SPD mit 24,1 % der Wählerstimmen; 2017 waren es 32,9 % gewesen und 2013 triumphale 41,5 %. In den acht Jahren von 2013 bis 2021 hatte die CDU bundesweit 17,4 Prozentpunkte bei den Bundestagswahlen verloren. Für die CSU in Bayern sah es nicht besser aus: 2013 hatte die CSU in Bayern 49,3 Prozent

1 Dieser Essay greift nur einzelne der Ergebnisse der Bundestagswahl 2021 zum Verständnis der politischen Bewertung heraus. Eine umfassende, fundierte und lesenswerte Darstellung des Wahlergebnisses der deutschen Wahlen mit wissenschaftlicher Analyse findet sich im Beitrag von Andrea Römmele „Bundestagswahl 2021“ auf den Seiten 117 ff. dieses Jahrbuches.

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der Zweitstimmen, 2021 waren es in Bayern 31,7 %; die CSU hatte also 17,6 Prozentpunkte in acht Jahren auch in Bayern verloren. Dabei hatte es für die CDU/CSU auf dem Weg zur Bundestagswahl 2021 zuerst nicht so schlecht ausgesehen. Im Schnitt aller veröffentlichten Umfragen lagen CDU/CSU im Juni 2020 bei 39,1 %; also deutlich über dem Ergebnis von 2017 von 32,9 %, mit einer gewissen Hoffnung an das Traumresultat von 2013 wieder heranzukommen. Im Januar 2021 zeigten die Umfragen für die CDU/CSU 35,5, % bei einem Wert von nur 15 % für die SPD. Im Juli 2021 waren es für die CDU/CSU noch 28,1 % bei 16,2 % für die SPD. Unter dem Wert der SPD lag die CDU/CSU erstmal am 31. August 2021, weniger als einen Monat vor der Wahl. Was ging da schief?

CDU hatte die Niederlage 2017 ignoriert CDU/CSU hatte die Bundestagswahl 2017 mit einem Minus von 8,6 Prozentpunkten abgeschlossen. In der Freude, dass es gelungen war, die Kanzlerschaft von Angela Merkel zu retten, weil es nach der Wahl 2017 trotz Stimmenverlusten keine Koalitionsoption ohne die CDU/CSU gab, ignorierte die CDU das deutliche Minus. Es gab aus der zweiten und dritten Reihe der CDU im Herbst 2017 Forderungen nach einer kritischen Wahlanalyse und nach Reformen der CDU. Die CDU-Spitze, allen voran Angela Merkel und Wolfgang Schäuble, sahen keinen Grund für eine kritische Wahlanalyse und schon gar nicht für Veränderungen in der CDU. Kritikern wurde entgegengehalten, was sie denn eigentlich wollten. Das Wahlziel 2017 sei gewesen, dass Merkel Bundeskanzlerin bliebe – und das war doch wohl erreicht worden. In einer Fehlinterpretation des Ergebnisses der Bundestagswahl 2017 blickte die CDU und mehr noch die CSU auf den Zugewinn der Rechtsaußen-Partei AfD. Die AfD hatte 2013 4,7 % der Wählerstimmen erreicht und 2017 12,6 %, also 7,9 Prozentpunkte dazugewonnen. Obwohl die professionellen Analysen der Bundestagwahl 2017 klar zeigten, dass nur der kleinere Teil des Zugewinns der AfD 2017 aus einer Wählerwanderung von der CDU und CSU zur AfD bestanden hatte, fixierten sich weite Teile der CDU darauf, man müsse die Wähler von der AfD zurückholen. Als das beste Rezept dafür sahen viele in der CDU und CSU, sich der Themen der AfD anzunehmen.

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Erst nach der Wahlniederlage 2021 verfestigte sich in der CDU die Erkenntnis, dass die CDU als Partei vier Jahr lang den falschen Themen die Priorität gab. Statt der Modernisierung Deutschlands, den überfälligen Reformen in der Bildungspolitik, dem Bürokratie-Abbau und der Klimapolitik Vorrang zu geben, igelte sich die CDU auf das Flüchtlings- und Migra­ tionsthema, die innere Sicherheit und die klassische Familienpolitik ein. Angela Merkel spürte, dass ihre Partei falschen Prioritäten den Vorrang gab – und setzte sich von 2018 bis 2021 zunehmend von der eigenen Partei ab. Nach 16 Jahren Kanzlerschaft war die scheidende Angela Merkel allseits gelobt worden. Das geht in Ordnung. 16 Jahre Regierungschefin des größten und wirtschaftlich stärksten Staates in Europa, verbunden mit dem starken persönlichen Einfluss Merkels in der Europäischen Union, das ist schon eine Leistung. Und was Merkel konnte, war die Bewältigung von politischen Krisen, von der Finanzmarktkrise der Jahre 2007 bis 2011 bis zur Corona-Krise 2020. Das Management der Coronakrise erklärt auch, warum die Umfragewerte der CDU/CSU von unter 30 % im Jahr 2019 und Anfang 2020 im Laufe des Jahres 2020 auf fast 40 % anstiegen und Anfang des Jahres 2021 noch bei 36 % – also 12 Prozentpunkte über dem Wahlergebnis vom September 2021 – lagen. Man traute Merkel 2020 noch zu, diese Pandemie in den Griff zu bekommen. Die große Enttäuschung folgte 2021, da war Merkel allerdings in der Gesellschaft vieler Regierungschefs weltweit. COVID-19 war und ist nicht so leicht loszuwerden, wie man anfangs glaubte. Merkels Fähigkeit, Krisen zu bewältigen, manchmal nur zu moderieren, manche tatsächlich zu lösen, deckt in der historischen Betrachtung der Ära Merkel so manches zu, was nicht passierte. Die deutsche Wirtschaft ist zunehmend durch die Bürokratie gehemmt, bildungspolitisch ging nichts weiter, die große Steuerreform blieb aus und die Infrastruktur Deutschlands, von den Autobahnen bis zur Eisenbahn, vom Stromnetz bis zum Internet ist in schlechtem Zustand und in Europa nicht mehr konkurrenzfähig. Die deutsche Führungsrolle in Europa ist nicht unstrittig. Merkels Fehler in der europäischen Personalpolitik plus mangelnde deutsche Reformbereitschaft in Europa brachten die Franzosen in den Vordergrund, und Deutschland muss in Europa zunehmend reagieren, ohne Spielraum zum Agieren zu haben.

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Zeitgerecht die Nachfolge regeln In einer internen Analyse nach der an die Rot-Grüne Koalition 1998 verlorenen Bundestagswahl kritisierte die damalige Generalsekretärin der CDU, Angela Merkel, dass Helmut Kohl bereits 1996 das Amt an einen Nachfolger übergeben hätte müssen, damit ein/e neue/r Spitzenmann/Spitzenfrau der CDU genug Zeit gehabt hätte, mit dem Amtsbonus den Bundestagswahlkampf 1998 zu führen. Die Generalsekretärin Merkel unterstrich damals, dass sich dieser Fehler nicht wiederholen dürfe. Der Fehler hat sich wiederholt. 2018 und 2019 war Merkel im innersten Kreis der CDU immer wieder gebeten worden, die Nachfolge in der Kanzlerschaft zu regeln. Merkel übergab im Dezember 2018 den Parteivorsitz der CDU an die glücklose Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK). Dabei stand von Anfang an fest, dass Kramp-Karrenbauer keine Kandidatin für das Bundeskanzleramt sei. Nach dem Rücktritt von AKK als Bundesparteivorsitzende im Jänner 2021 legte sich Merkel neuerlich darauf fest, bis zur Bundestagswahl als Bundeskanzlerin im Amt bleiben zu wollen. Damit tas sie genau das, was Merkel 23 Jahre zuvor an Helmut Kohl kritisierte. Dass Merkel es unterließ, zeitgerecht die Nachfolge in der Kanzler­ schaft zu regeln, hätte jeden Kanzlerkandidaten/Kanzlerkandidatin in Schwierigkeiten gebracht. Der Kanzlerkandidat der SPD, Olaf Scholz, war von seiner Partei am 10. August 2020, also mehr als ein Jahr vor der Bundestagswahl formell nominiert worden. Der Kanzlerkandidat der CDU/ CSU, Armin Laschet wurde nach einer heftigen Kontroverse zwischen CDU und CSU und innerhalb der CDU am 20. April 2021 namhaft gemacht. Scholz hatte dreizehn Monate zwischen Nominierung und Wahl, Laschet lediglich fünf Monate. Scholz hatten den Amtsbonus des Vizekanzlers und Bundesfinanzministers, Laschet auf Bundesebene keine Regierungsfunktion, also keinen Amtsbonus. In der Literatur und in der Wahlforschung besteht weitgehend Einigkeit, dass ein/e neue/r Spitzenkandidat/ Spitzenkandidatin ein gutes Jahr benötigt, um sich im Wahlkampf ordentlich zu platzieren. Das Jahr hatte Laschet nicht, nicht einmal die Hälfte davon. Das hätte es jedem schwer bis unmöglich gemacht, die Bundestagswahlen noch zu gewinnen. Es entschuldigt die CDU/CSU nicht, dass auch die Grünen zu spät dran waren. Annalena Baerbock wurde am 19. April 2021 zur Kanzlerkan-

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didatin der Grünen nominiert; ebenfalls viel zu spät. In den Umfragen am 19. April 2021 lag CDU/CSU bei 28 %, also fast vier Prozentpunkte über dem späteren Wahlergebnis, die Grünen bei 21,4 %, mehr als sechs Prozent besser als das Ergebnis vom September, und die SPD bei 15,8 %, zehn Prozent unter dem späteren Resultat der Bundestagswahl.

Das Triell der Kanzlerkandidaten Es war nicht nur der Zeitpunkt der Kandidaturen, der das Duell der Kanzlerkandidaten, eigentlich das Triell von drei Kanzlerkandidat/innen und Kandidaten zu einem ungleichen Rennen machte. Bereits im April 2021, als nach den Umfragen die CDU/CSU noch deutlich vor den Grünen und Grüne und CDU/CSU beide vor der SPD lagen, zeigten die Umfragen nach der Akzeptanz der drei Kanzlerkandidat/innen ein anderes Bild als die Umfragen zu den Parteien. Im April 2021 gaben 43 % der Wahlberechtigten an, dass sie der Kanzlerkandidatur von Olaf Scholz zustimmen und sich Scholz als Bundeskanzler vorstellen könnten, also deutlich mehr als doppelt so viele Wählerinnen und Wähler, die damals im April sagten, dass sie die SPD wählen wollen. Nur 16 % der Wahlberechtigten stimmten in der Umfrage dem Kanzlerkandidaten Laschet zu; also deutlich weniger als die Zahl der CDU/ CSU-Wähler wollten Laschet als Bundeskanzler. Annalena Baerbock kam in diesen Untersuchungen auf lediglich 12 %; ebenfalls deutlich weniger als die Wähler der Grünen. Diese Differenz zwischen der Akzeptanz der Kandidaten kann nicht ausschließlich mit dem Zeitpunkt der Nominierung erklärt werden. Der Prozess der Nominierung spielte ebenso eine Rolle. Die SPD schaffte ein Meisterstück. Noch im November 2019 hatte Olaf Scholz die Kandidatur um den Parteivorsitz verloren. Die Mehrheit der SPD-Mitglieder wollte Scholz nicht als Vorsitzenden. Scholz und sein Co-Kandidatin um den Parteivorsitz, Klara Geywitz, inzwischen Bundesministerin für Wohnen und Bauwesen, erreichten im ersten Wahlgang magere 22,7 Prozent und im zweiten Wahlgang unterlagen sie gegen Saskia Esken und Norbert WalterBorjans mit 45,3 %. Auf dem SPD-Bundesparteitag, auf dem Scholz als Kanzlerkandidat nominiert wurde, erhielt er hingegen 96,2 % der Delegier-

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tenstimmen. Obwohl Scholz im linken Flügel der SPD umstritten und unbeliebt war und ist, stellte sich die SPD weitgehend geschlossen hinter den Kanzlerkandidaten. Die üblichen Verdächtigen aus dem linken Lager der SPD von Saskia Esken über Kevin Kühnert bis zu Ralf Stegner hielten sich zurück, wurden im Wahlkampf weitgehend aus dem Verkehr gezogen. Untypisch für die SPD, aber es funktionierte. Zur Geschlossenheit der SPD kam ein hochprofessioneller Wahlkampf, geleitet vom damaligen Generalsekretär der SPD, Lars Klingbeil, der seit November 2021 einer der beiden Bundesvorsitzenden der SPD ist. Klingbeil holte sich aus vielen Ecken die besten Wahlkämpfer der Bundesrepublik. In der CDU/CSU hingegen gab es ein Tauziehen um die Kanzlerkandidatur samt öffentlichem Austausch von Unfreundlichkeiten zwischen Parteifreunden. Am 11. April 2021 erklärten sowohl Laschet als auch der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Markus Söder ihre Bereitschaft, als Kanzlerkandidat der Union für die Bundestagswahl 2021 anzutreten. Obwohl Söder deutlich bessere Umfragewerte hatte und nicht nur in der CSU, sondern auch in der CDU breite Unterstützung fand, sprach sich der CDU-Bundesvorstand am Abend des 19. April 2021 in einer geheimen Abstimmung mehrheitlich für Laschet als Kanzlerkandidaten aus. Söder verzichtete am 20. April auf seine Kandidatur, womit Laschet als Kanzlerkandidat der Union (CDU und CSU) nominiert war. Der Abstimmung im Bundesvorstand war ein Treffen der CDU-Granden im Büro des damaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble vorausgegangen. Die alte Garde der CDU entschied sich dort für Laschet, weil man sich nach den Misserfolgen mit Franz-Josef Strauss (1980) und Edmund Stoiber (2002) nicht vorstellen konnte, dass die CDU/CSU mit einem CSU-Kandidaten eine Chance gehabt hätte. Zu den Fehlern, die Armin Laschet im Wahlkampf 2021 vom Beginn an machte, kam das Wahlkampf-Management. Obwohl die CDU-Zentrale im Konrad-Adenauer-Haus in Berlin unter AKK ausgedünnt worden war, hätte es in der Zentrale der CDU immer noch genug Leute gegeben, die etwas vom ordentlichen Wahlkampf-Management verstehen. Laschet misstraute der Berliner Bundesgeschäftsstelle und versuchte, den Wahlkampf von Düsseldorf aus mit seinem Stab in der Staatskanzlei von Nordrhein-Westfa-

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len und der NRW-Landes-CDU zu führen. Das ging schief. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Düsseldorf hatten weder die Erfahrung noch die Kenntnisse, wie ein komplexer Wahlkampf für eine Bundestagswahl geplant, organisiert und durchgeführt werden soll. Aufgrund mangelnder professioneller Betreuung kam es zu einer Viel­zahl von Pannen im CDU-Wahlkampf. Der sogenannte „Laschet-Lacher“ vom 17. Juli 2021 während der Rede des Bundespräsidenten FrankWalter Steinmeier im Flutgebiet in Nordrhein-Westfalen beeinflusste den Wahlkampf erheblich. Anschließend brachen die Umfragewerte der CDU/ CSU zur Bundestagswahl ein.

Grüne – ein Wahlsieg als Niederlage Gegenüber der Bundestagswahl 2017 steigerten sich die Grünen um fast sechs Prozentpunkte auf 14,8 %, von 8,9 % der Zweitstimmen 2017 auf 14,8 % 2021. Historisch gesehen das beste Wahlergebnis, dass die Grünen in ihrer Geschichte bei Bundestagswahlen je erreichten. Und trotzdem empfanden viele grüne Wählerinnen und Wähler – und die Funktionsträger sowieso – das Wahlergebnis 2021 als Niederlage. In den Umfragen im Mai 2021 lagen die Grünen noch bei über 25 % und rechneten sich Chancen aus, als Erste durchs Ziel zu gehen und die Bundeskanzlerin zu stellen. Im Wahlergebnis waren es mehr als zehn Prozentpunkte weniger. Der Vorsprung wurde vertan – und da gab es Parallelen zur CDU/CSU. Der Nominierung von Baerbock ging ein Tauziehen innerhalb der Parteispitze zwischen ihr und Robert Habeck voraus. Die Bundesgeschäftsstelle der Grünen, die dann auch für den Wahlkampf und das Wahlkampf-Management verantwortlich war, stand auf der Seite von Habeck. Der Wahlkampf wurde von der grünen Mannschaft ohne Ambition geführ, und Annalena Baerbock wurde lustlos betreut. Der von der Bundesgeschäftsstelle veröffentlichte Lebenslauf von Baerbock musste nach journalistischen Recherchen mehrfach korrigiert werden. An der Meldung der Nebeneinkünfte Baerbocks an den Deutschen Bundestag gab es Kritik; jedenfalls war die Meldung zu spät erfolgt.

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Keine Person ohne Thema! So einfach ist es allerdings nicht, den (relativen) Wahlerfolg von Olaf Scholz, die deutliche Niederlage von Armin Laschet und das Zurückbleiben Baerbocks hinter den Erwartungen mit zu später Nominierung und schlechtem Wahlkampf-Management zu erklären. Da war schon mehr passiert. Alle drei Kandidatinnen und Kandidaten konnten nicht für sich in Anspruch nehmen, charismatisch zu sein. Das war Merkel, als sie 2005 erstmals zur Bundeskanzlerin gewählt wurde, auch nicht. Merkel baute sich in ihrer Kanzlerinnenschaft als ruhige Problemlöserin auf. Genau das versucht Olaf Scholz nun ebenfalls. Ob es ihm gelingen wird, sei am Ende der Legislaturperiode beurteilt. Die Grünen und die FDP punkteten mit Themen: die FDP mit Digitalisierung, Bildung und Innovation; die Grünen mit Klimaschutz. Der CDU/CSU fehlte ein publikumswirksames Konfliktthema. Im Wahlkampf wurden Klimapolitik und Umweltschutz zu Konsensthemen. SPD, CDU/CSU, Grüne und FDP setzten auf erneuerbare Energie – und den Grünen gibt man zum Klimaschutz die Kompetenz. Die zentrale Rolle der Grünen und der FDP in den Koalitionsverhandlungen beruhte auf der jeweiligen Themenführerschaft in Kernbereichen. Grüne und FDP gewannen die Wahl bei den Wählern der Generation von 18 bis 40 Jahren – besonders signifikant, so die Wahlforscher, bei den Erstwählerinnen und -wählern. Die höchsten Stimmenanteile bei den Erstwählenden mit jeweils 23 % hatten FDP und Grüne, wobei die meisten Wahlforscher meinten, die FDP hätte bei den Erstwählern etwas mehr erreicht als die Grünen. Die früheren Großparteien konnten die jungen Menschen kaum ansprechen: SPD: 15 % der Erstwählenden; CDU/CSU: nur 10 %. Bei den Erstwählern erreichte die Linke etwas mehr als im Gesamtergebnis, nämlich 8 %, und die AfD weniger, nur 6 %.

Absage an die Ränder Ein erfreuliches Detail des Wahlergebnisses der Bundestagswahl 2021 war das Abschneiden der Parteien des rechten und linken Randes. Die rechtsaußen stehende AfD verlor 2,3 Prozentpunkte und hat jetzt „nur“ 10,3 %; die Linke verlor 4,3 Prozentpunkte, also fast die Hälfte ihrer Wähler und hält

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jetzt bei 4,9 %. In den Bundestag (5-Prozent-Grenze) kam die Linke nur aufgrund erreichter Direktmandate. Trotz der Coronakrise, trotz heftiger Demonstrationen von in vielen Fällen gewaltbereiten Impfgegnern setzte sich der radikale Rand bei der Bundestagswahl nicht durch. Für die SPD stellt sich auf Bundesebene die Idee einer Rot-Roten oder einer rot-rot-grünen Koalition nicht mehr. Und Friedrich Merz, der neue Bundesparteivorsitzende der CDU erteilte jeglicher Zusammenarbeit mit der AfD eine klare Absage.

Fünf Koalitionsoptionen – eine Zielrichtung Nach dem Wahlergebnis hätte es theoretisch fünf Koalitionsoptionen gegeben: – Große Koalition von SPD und CDU/CSU: Die wollte in Wahrheit keiner, weder die SPD noch die Union. Nur im Falle eines totalen Scheiterns der Verhandlungen mit Grünen und FDP hätte es sein können, dass es wie 2017, bevor alles scheitert, es wieder zu einer Großen Koalition kommt. – „Jamaika“ – CDU, CSU, FDP, Grüne: Der Versuch misslang 2017. Grüne und FDP wären nur bereit gewesen, mit der Union über „Jamaika“ zu reden, wenn mit der SPD nichts zu machen gewesen wäre. Danach sah es von Anfang an nicht aus. Die CDU – die CSU sogar noch früher – fand sich mit der Oppositionsrolle und der Unmöglichkeit von „Jamaika“ ab. – „Kenia“ – SPD, CDU, CSU, Grüne: War ein theoretisches Modell, für den Fall, dass Koalitionsverhandlungen neuerlich (wie 2017) an der FDP scheitern. Die Spitze der FDP – vor allem der Vorsitzende Christian Lindner – wusste, dass die Basis der FDP nicht akzeptieren würde, dass die FDP trotz eines guten Abschneidens bei der Wahl wieder nicht in die Regierung käme. – Deutschland – SPD, CDU, CSU, FDP: Diese Allianz gibt es in einem Bundesland (Sachsen-Anhalt). Wäre diskutiert worden, wenn die Verhandlungen mit den Grünen gescheitert wären. – Ampel – SPD, Grüne, FDP. Bereits am Wahlabend waren sich die Experten einig, dass die Chancen für eine Ampel auf 70 % stünden.

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Allerdings waren viele verblüfft, dass die Zusage von Olaf Scholz, die neue Bundesregierung würde bis Weihnachten 2021 stehen, nicht nur hielt, sondern sogar unterboten wurde. Bereits am 8. Dezember 2021 wählte der Deutsche Bundestag Olaf Scholz zum Bundeskanzler.

FDP und Grüne dominieren die Verhandlungen Den deutschen wie den internationalen Usancen bei Koalitionsverhandlungen entspricht es, dass die relativ stärkste Partei, also der Wahlsieger – das wäre die SPD gewesen – die Initiative ergreift. Das war auch in Deutschland immer so. Diesmal kam es anders. FDP und Grüne setzten sich zusammen und überlegten, wie eine Koalition funktionieren könnte. Olaf Scholz und die SPD ließen das zu, weil Scholz wusste, dort, wo sich die weit entfernt positionierten Grünen und die FDP einigen könnten, werde es einen Kompromiss mit der SPD geben können. Die zweite ungewöhnliche Neuheit war die Vereinbarung strikten Stillschweigens über die Inhalte der Verhandlungen. Und mehr noch – dieses Stillschweigen hielt. In Deutschland wie in Österreich gehörte es bisher zu den Usancen, dass Koalitionsverhandlungen unter heftiger Beteiligung der Medien stattfanden – was zwangsläufig zu vielen Zurufen von der Seitenlinie führte. Nur die ganz sensiblen personellen Entscheidungen blieben vertraulich, zumindest eine gewisse Zeit lang. Keine Neuigkeit, aber durchaus ein Konflikt, war die Frage, wie präzise die Koalitionsvereinbarung das Regierungsgeschehen vorherbestimmen soll. Die Grünen, die derartige Vereinbarungen nicht nur einem Parteitag, sondern der gesamten Parteibasis vorlegen müssen, wollten eine genaue Festlegung des Regierungshandelns in möglichst allen Details. Die SPD und die FDP lehnten das ab; vor allem wollte der zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewählte Bundeskanzler Scholz sich den Gestaltungsspielraum erhalten. Wichtige Themen sollten nur allgemein formuliert werden. Und so kam es. Die neue deutsche Koalitionsvereinbarung ist in einer Reihe von Punkten allgemein und wenig konkret geblieben.

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Österreichs Einfluss Es ist eher selten, dass sich innenpolitische Vorgänge in Österreich auf die Politik Deutschlands auswirken. Diesmal war es so. Die Grünen verlangten, durchaus nach österreichischem Muster, ein großes Klimaschutz-Ministerium, zu dem alle klimarelevanten Politikfelder ressortieren – von der Energie über den Umweltschutz bis zum Verkehr. Genau in diese Verhandlungsphase der deutschen Ampelkoalition fiel die Entscheidung der österreichischen Klimaministerin Leonore Gewessler, dass der Lobau-Tunnel nicht gebaut werden darf. Dass eine Ministerin mit einem Federstrich ein seit Jahren geplantes Straßenprojekt, das alle Genehmigungsverfahren erfolgreich durchlaufen hatte, einfach verbietet, fand auch in den deutschen Medien breiten Raum. Die Lobau-Tunnel-Entscheidung provozierte massiven Druck der Gewerkschaften auf die SPD und der am Straßenbau interessierten Wirtschaft auf die FDP. Resultat war, dass im letzten Moment das Verkehrsdossier nicht an die Grünen, sondern an die FDP ging.

Haushaltspolitik als zentraler Konfliktpunkt Neben Klima- und Umweltschutz ist der zentrale Konfliktpunkt die Haushalts- und die Steuerpolitik. Die FDP im Allgemeinen und der Bundesfinanzminister Christian Lindner im Besonderen fühlen sich der Schuldenbremse und der Sparsamkeit der öffentlichen Haushalte verpflichtet. Und zusätzliche Steuern möchte die FDP keinesfalls. Die Absicht der FDP zu sparen, gefällt der SPD, besonders dem linken Flügel, nicht und den Grünen schon gar nicht. Bundeskanzler Scholz erklärte zum Jahresende 2021, seine Regierung sei auf acht Jahre, also auf zwei Legislaturperioden angelegt. Es bleibt abzuwarten, ob und wie das funktioniert.

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Bundestagswahl 2021 Das Superwahljahr 2021 war in gleich mehrfacher Hinsicht besonders. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik stellte sich die Amtsinhaberin nicht der Wiederwahl, d. h. es gab keinen Kandidaten, der mit einem Kanzlerbonus in den Wahlkampf zog. Zum ersten Mal gab es auch drei statt der bisher üblichen zwei Spitzenkandidaten; aufgrund der anhaltend guten Umfragewerte beschlossen Bünd­ nis 90/die Grünen, auch mit einer Spitzenkandidatin ins Rennen zu gehen, um somit auch klar zu demonstrieren: wir spielen auf Sieg! Im Superwahljahr 2021 fanden zudem drei Landtagswahlen statt, die auch als Stimmungstest für die Bun­ destagswahl 2021 gewertet wurden: Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz im März 2021 sowie Sachsen-Anhalt im Juni. Der folgende Beitrag gliedert sich in drei Schritte. Zuerst sollen die Bundes­ tagswahlen als „Wendepunkt in der Wahlgeschichte Deutschlands“ (Schmitt-Beck 2021) diskutiert werden. Wie wählen Bürgerinnen und Bürger in einer zunehmend komplexer werdenden Welt? Daran anschließend werfen wir einen Blick auf die Wahlkampfstrategien und -dramaturgien der einzelnen Parteien. Den Abschluss bil­ den die möglichen Koalitionsoptionen und -verhandlungen.

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I. Wählen in der VUCA-Welt In der Wahlsoziologie geht man von drei die Wahlpräferenz bestimmenden Faktoren aus: die Parteibindung (langfristiger Faktor), Themen und Kandidaten (beides kurzfristige Faktoren). Die Parteibindung entwickelt sich in der Jugend und dem frühen Erwachsenenalter und wird stark von Bildung, Elternhaus, Peergroup beeinflusst. Diese Parteibindung, so die Väter des Ann-Arbor-Modells, ist langfristig und ändert sich im Laufe eines Lebens kaum. Sie kann sich abschwächen, schlägt aber selten in das andere Extrem um. Kurzfristige Faktoren sind die Elemente, die sich von Wahl zu Wahl ändern, nämlich Themen und Kandidaten. So viel zur Theorie. Die Praxis sieht anders aus – wir beobachten schon lange eine deutlich sinkende Parteibindung und damit einhergehend eine wachsende Volatilität des Wahlverhaltens. Hinzu kommt ein schleichender, aber kontinuierlicher Niedergang der Volksparteien und eine zunehmende Fragmentierung des Parteiensystems. Dies ist kein einzig und allein deutsches Phänomen, sondern eine Entwicklung, die wir in ganz Europa beobachten können. Mit dem Rückgang der Parteibindungen, dem Langfristfaktor, werden die kurzfristigen Faktoren in einem Wahlkampf, nämlich Kandidaten und Themen, umso wichtiger. Da diese sich im Regelfall von Wahl zu Wahl unterscheiden, wird auch ihre Kommunikation, d. h. der jeweilige Wahlkampf einer Partei, immer wichtiger. Daraus folgt, wie wir in jüngster Vergangenheit auch immer wieder feststellen konnten: Campaigns do matter! Das haben wir im US-Wahlkampf 2016 erlebt, im Brexit-Referendum 2017 und eben auch im deutschen Wahlkampf 2021. Das Akronym VUCA steht für volatil, uncertain, complex, ambiguous. So beschrieb das amerikanische Militär die Welt nach 1989. Die VUCAWelt fordert auch Parteien und Kandidaten im Wahlkampf extrem heraus. Wie labil der Puls der Wählerinnen und Wähler war, verdeutlicht die auf der folgende Seite abgebildete Grafik: ein Vergleich der Sonntagsfrage von Januar 2019 bis September 2021. Trotz vermeintlich konstanter Unterstützung der einzelnen Parteien, zeigen sich ungewöhnlich rapide Sprünge innerhalb der Umfragewerte. Dabei sehen wir die Union im Jahre 2019 auf einem Kurs konstant unter 30 Prozent – die Abnutzungserscheinungen nach 15 Jahren an der Regierung, einer schwachen Parteivorsitzenden (Annegret Kramp-Kar-

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amerikanische Militär die Welt nach 1989. Die VUCA-Welt fordert auch Parteien und Kandidaten im Wahlkampf extrem heraus. Wie labil der Puls der Wählerinnen und Wähler war, verdeutlicht die unten abgebildete Graphik: ein Vergleich Sonntagsfrage von Januar andrea römmele    |der    bundestagswahl 2021 2019 bis September 2021. Trotz vermeintlich konstanter Unterstützung der einzelnen Parteien, zeigen sich ungewöhnlich rapide Sprünge innerhalb der Umfragewerte.

renbauer), die die Partei nicht hinter sich einen kann, und einer Partei, die

Dabei sehen wir die Union im Jahre 2019 auf einem Kurs konstant unter 30 Prozent – die vor allem in Ostdeutschland massive Konkurrenz von der AfD erhält, sind Abnutzungserscheinungen nach 15 Jahren an der Regierung, einer schwachen sichtbar. Ebensolche Ausschläge, allerdings ins Positive, sind bei den GrüParteivorsitzenden Kramp-Karrenbauer), die beiden die Partei nicht hinter sich einen kann nen im Jahr 2019(Annegret zu verzeichnen. Es gelingt den Parteivorsitzenden und einer Partei, die vor allem in Ostdeutschland vonauf der (ReAfD erhält sind Annalena Baerbock und Robert Habeck, diemassive Partei Konkurrenz zu einen und sichtbar. Ebensolche Ausschläge, allerdings ins Positive, sind bei den Grünen im Jahr 2019 zu gierungs-)Kurs zu bringen. Die immer drängender werdenden klimapoliverzeichnen. Es gelingt den beiden Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und oben Robert Habeck, tischen Herausforderungen bringen das Kernthema der Grünen ganz die zu einen und auf (Regierungs)kurs Die immer drängender werdenden auf Partei die politische Agenda – Rückenwindzuimbringen. Umfragehimmel. Eine Partei, klimapolitischen Herausforderungen bringen 8,6 % das Kernthema der Grünen oben auf die die in der Bundestagswahl 2017 lediglich der Stimmen auf sichganz vereinigen konnte, fängt an vom Kanzleramt zu träumen. politische Agenda – Rückenwind im Umfragehimmel. Eine Partei, die in der Bundestagswahl Dagegen stehen weniger Ausschläge im Jahr 2019 fängt bei den anderen 2017 lediglich 8.6% der Stimmen auf sich vereinigen konnte, an vom Kanzleramt zu Parteien. Die SPD ist abgeschlagen rund um die 15-%-Marke, mal etwas träumen. mehr, mal etwasweniger weniger. Die linken Parteivorsitzenden Saskia Esken und Dagegen stehen Ausschläge im Jahr 2019 bei den anderen Parteien. Die SPD ist Norbert Walter-Borjans schaffen es zwar, die Partei in ruhigere Wasser zu abgeschlagen rund um die 15%-Marke, mal etwas mehr, mal etwas weniger. Die linken bringen, aber einen Anstieg Umfragewerten bringt dies esnicht Parteivorsitzenden Saskia Esken in undden Norbert Walter-Borjans schaffen zwar,mit die Partei in

sich. Relativ konstant sind auch FDP und die Linke bei ca. 10 % und auch die AfD hält sich im Jahr 2019 konstant zwischen 14 und 15 %.

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Die Pandemie ändert das Bild gewaltig: Unter der krisenerprobten Führung Angela Merkels in der ersten und auch zweiten Corona-Welle (bis Mitte März 2021) erfährt die Union ein Umfragehoch mit nahezu 40 % (das in allererster Linie auf das Konto von Angela Merkel geht). Krisen sind die Stunde der Exekutive, aber die Exekutive muss auch liefern. Und das tut Angela Merkel und ihr Team in der ersten sowie zweiten Corona-Welle. Die Menschen vertrauen ihr, sie trifft als Naturwissenschaftlerin den richtigen Ton und erfreut sich im 16. Jahr als Kanzlerin einer großen Popularität. Die Grünen fallen wieder zurück und pendeln sich bei der 20-%- Marke ein. Fast geräuschlos kürt die SPD im August 2020, im ersten Pandemie-Sommer, ihren Kanzlerkandidaten Olaf Scholz, Vizekanzler und Finanzminister der Großen Koalition. Dies ist kaum eine Meldung wert, manche Beobachter fürchten sogar, die SPD könne unter die 10-%-Marke fallen. Während bei der SPD alles in (für die SPD ungewohnt) ruhigen Bah­nen verläuft, brechen in der Union allerdings die Gräben auf. Mit dem Rücktritt der Parteivorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer geht der Kampf um den Parteivorsitz und damit verbunden auch um die Kanzlerkandidatur in der Union los. Drei Kandidaten stellen sich zur Wahl. In einer Stichwahl gewinnt der damals nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet gegen Friedrich Merz. Während Laschet mit dem Gewinn des Parteivorsitzes davon ausgeht, damit auch das erste Zugriffsrecht auf die Kanzlerkandidatur zu haben, läuft sich in München der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Markus Söder warm. Er war ein guter und strenger Corona-Krisenmanager, hat immer gemeinsam mit der Kanzlerin für scharfe und konsequente Maßnahmen plädiert und sich so auch die Stellung des Primus inter pares in der berühmt-berüchtigten Ministerpräsidentenrunde erarbeitet (diese Runde kommt während der Corona-Krise regelmäßig zusammen, um sich über Maßnahmen zu beraten und abzustimmen). Söder genoss auf einmal eine hohe Popularität, weit über Bayern hinaus, und forderte Armin Laschet heraus. Das Tauziehen um die Kanzlerkandidatur in der Union zog sich über drei bis vier Wochen im Frühjahr 2022 und brachte den denkbar schlechtesten Start für die Union in das Superwahljahr. Laschet wurde in einer brachialen Nacht- und Nebelaktion von den Altvorderen der CDU, nämlich Wolfgang Schäuble und

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Volker Bouffier, durchgeboxt, Söder hatte als „Kandidat der Herzen“ das Nachsehen und ließ dies Armin Laschet im Wahlkampf auch spüren.

II. Wahlkampfstrategie Doch blicken wir auf die Wahlkampfstrategien der Parteien. Die SPD rief ihren Kanzlerkandidaten Olaf Scholz früh aus und versammelte die gesamte Partei hinter ihm. Keine Gräben, keine Zerwürfnisse. Die zentralen Verantwortlichen, Lars Klingbeil und Wolfgang Schmidt, setzten auf die Erfahrung und Regierungsexpertise des Vizekanzlers und positionierten Olaf Scholz gekonnt als selbstverständlichen Merkel-Nachfolger. Er war der eigentliche Amtsinhaber in diesem Bundestagswahlkampf. Scholz strahlte Vertrauen aus, war Teil des Krisenmanagements in der ersten und zweiten Corona-Welle und konnte so als quasi Amtsinhaber auch auf zurückliegende Erfahrung und Erfolge verweisen. So wurde er nur schwer angreifbar vonseiten der CDU. Das war die strategische Meisterleistung der SPD-Kampagne. Die CDU hatte mit den Personalquerelen einen absoluten Fehlstart in den Wahlkampf und setzte zudem auf die falsche Strategie. Der CDUWahlkampf war auf Armin Laschet als Amtsinhaber ausgerichtet, einen Kandidaten, der als Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Bundeslandes Regierungserfahrung mit an den Tisch bringt. Die Gegnerin sollte Annalena Baerbock sein, die junge grüne Parteivorsitzende, die auch offen zugab, eben diese Erfahrung nicht zu haben, aber den neuen frischen Blick, den es brauchte. Erst in den letzten Monaten wurde deutlich, dass der entscheidende Gegner eben nicht Annalena Baerbock war, sondern Olaf Scholz. Und in diesem Duell war Laschet der Herausforderer, eine Rolle, in die er nicht hineinschlüpfte und die ihm auch nicht stand. Dies wurde vor allem in den TV-Triellen mehr als deutlich. Zu dieser strategischen Fehleinschätzung und -planung kam auch noch ein Kardinalfehler des Kanzlerkandidaten hinzu: mit der Flutkatastrophe im Ahrtal im Westen Deutschlands (das Ahrtal liegt in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen) musste Armin Laschet Krisenbewältigung im eigenen Bundesland betreiben. Eigentlich eine Chance für den Kanzlerkandidaten – als Exekutive kann man in Krisen immer punkten. Allerdings unterlief ihm ein folgenschwerer Fehler: Bei einer Ansprache des Bundespräsidenten im Ahrtal war Armin Laschet im

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Hintergrund zu sehen, wie er mit seinem Team scherzte und lachte. Diese Unsensibilität und auch Unprofessionalität schadete ihm nachhaltig und ist rückblickend ein Wendepunkt im Unionswahlkampf. Der Union fehlte zudem die Unterstützung aus der eigenen Partei. Einige Landesverbände hätten sich Markus Söder als Kanzlerkandidaten gewünscht und verweigerten Armin Laschet fast schon die Gefolgschaft. Die früher so gut funktionierende Kanzlerwahlvereinsmaschine war ins Stocken gekommen. Auch die (halbherzige) Unterstützung Angela Merkels zwei Wochen vor dem Wahltermin kam zu spät. Auch die Grünen hatten im Wahlkampf mit sich zu kämpfen. Während die Wahl Annalena Baerbocks zur ersten weiblichen Kanzlerkandidatin noch eine grandiose Inszenierung der Partei war und die Grünen kurz in ein Umfragehoch versetzte, brachten eigene Fehler der Kanzlerkandidatin – unnötig aufgeschmückter Lebenslauf, Plagiat in einem während des Wahlkampf herausgegebenen Buches – die Grünen schnell wieder deutlich unter 20 % in den Umfragen. Diesen Makel wurde die Kandidatin während des gesamten Wahlkampfes nicht wieder los. Zwar war das Kernthema der Grünen, Klimawandel und Umweltschutz, dominant wie nie, wurde aber auch durch die Flutkatastrophe im Ahrtal und die anhaltende Corona-Kkrise überschattet. Um den Wahlkampf und auch das sehr gute Ergebnis der FDP zu verstehen, muss man ihre Rolle in den letzten zwei Jahren genauer beleuchten. Erstens hat die FDP in der Corona-Krise eine sehr sichtbare konstruktive Oppositionsrolle eingenommen. Sie hat immer wieder in Zeiten des Lockdowns die Frage nach den Bürgerrechten gestellt und somit auch wieder den Markenkern der liberalen Partei aufpoliert. Hierbei wurde sie nicht mehr nur als eine wirtschaftsliberale Partei, sondern eben auch als eine Partei der Bürgerrechte wahrgenommen. Zweites hat die FDP schon im Wahlkampf 2017 das Thema Digitalisierung als ein Schwerpunktthema auf die politische Tagesordnung gebracht, was durch die Pandemie noch einmal dringlicher wurde. Die AfD hatte mehrere Probleme im Wahlkampf: Als eine Partei, die 2017 vehement gegen die Aufnahme von Flüchtlingen eintrat, ist ihr schlicht und ergreifend das Thema abhandengekommen. Des Weiteren gab und gibt es parteiinterne Auseinandersetzungen, die der Partei schaden, und sie hat in der Pandemie auch als Partei der Impfgegner kein gutes Bild

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abgegeben. Sie hat nach wie vor ihren Rückhalt und ihre Stärke in Ostdeutschland, wo sie eine starke Regionalpartei ist.

III. Wahlergebnis In den Wochen vor der Wahl zeichnete sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der SPD und der Union ab – doch die SPD behielt die Nase vorne und ging mit einem 1,6-%-Vorsprung als erste Partei über die Ziellinie. Die Union fuhr ihr schlechtestes Ergebnis ein und landete bei 24,1 %. Bei den Grünen war Freude und Enttäuschung zugleich zu sehen. Zwar legten sie 5,8 Prozentpunkte zu und landeten mit 14,8 % auf dem dritten Platz, aber das Ziel „Kanzleramt“ war deutlich verfehlt. Wieder einmal erlebten die Grünen, dass Umfragen keine Wahlstimmen sind. Die FDP konnte leicht dazugewinnen, AfD und die Linke verloren deutlich – aber ohne Frage: der Verlierer des Wahlabends war die Union. Mehrere Gründe lassen sich hierfür anführen: (1) Der Spitzenkandidat war eine Hypothek im Wahlkampf und war zu keinem Zeitpunkt unumstritten. (2) Es gelang der Union nicht, die Stimmen der Wähler zu halten, die 2017 Angela Merkel (und nicht CDU) wählten. (3) Die Union erkannte zu spät, dass die Strategie der SPD, mit Olaf Scholz den Amtsinhaberbonus einzunehmen, der CDU am gefährlichsten werden würde. Grüne und FDP konnten vor allem bei Erstwählerinnen und -wählern punkten. Jeweils 23 % der Erstwähler wählten entweder FDP oder die Grünen.

IV. Koalitionsoptionen Mit der massiven Schwächung der Volksparteien SPD und Union war schon länger klar, dass mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein Dreierbündnis die nächste Regierung bilden würde – die Ampel (SPD, FDP, Grüne) wurde ebenso diskutiert wie eine mögliche Jamaika-Koalition. Letztere wurde ja schon 2017 erfolglos zwischen der Union, FDP und den Grünen verhandelt, es scheiterte dann nach zähen Sondierungen an der FDP. In den Wochen vor der Wahl kursierte im politischen Berlin schon das Gerücht, dass sich FDP und Grüne treffen würden, um auszuloten, wer unter ihnen Kanzler würde. Denn es war klar, dass es ohne diese beiden Parteien wohl kaum eine Regierung geben würde, auch wenn rechnerisch eine erneute große Koalition möglich gewesen wäre.

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Genau dies bestätigte sich auch in den Tagen nach der Wahl: nach dem historischen Verlust der Union war schnell klar, dass eine Koalition mit dem großen Wahlverlierer nicht möglich wäre. Zudem implodierte die CDU geradezu, der Kanzlerkandidat Armin Laschet gab den Parteivorsitz ab, die Suche nach einem neuen Parteivorsitzenden begann, und es war schnell deutlich, dass die CDU in diesem Zustand nicht regierungsfähig ist. So nahmen SPD, FDP und die Grünen zügig Sondierungs- und danach Koalitionsverhandlungen auf. Bereits am 8. Dezember 2021 wurde Olaf Scholz als vierter sozialdemokratischer Bundeskanzler nach Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder gewählt. Die neue Koalition präsentiert sich nun als eine Fortschrittsregierung, die weitreichende und zukunftsweisende Projekte und Transformationen auf den Weg bringen will. Die Aufgaben sind enorm. Doch durch das stark veränderte Kräfteverhältnis zwischen den Parteien wird die Regierungsarbeit von einem Dreierbündnis geprägt sein, in dem jede Partei ihre eigenen Akzente setzen will. Diese sind zum Teil sehr unterschiedlich. Bereits an den Koalitionsverhandlungen, in denen besonders die FDP als kleinster Partner sehr viele Zugeständnisse erreichen konnte, hat sich diese Komplikation gezeigt. Gerade die Grünen könnten hier womöglich viel zu verlieren haben.

Literatur https://www.bpb.de/politik/wahlen/bundestagswahlen/ https://www.lpb-bw.de/publikation3566 Schmitt-Beck, Rüdiger et.al. (Hg.): The Changing German Voter, Oxford 2022 (i.E.) https://www.bundeswahlleiter.de/bundestagswahlen/2021/ergebnisse/bund-99.html Heike Klüver/Jae-Jae Spoon, Helping or Hurting? How Governing as a Junior Coalition Partner Influences Electoral Outcomes, in: Journal of Politics 4/2020, S. 1231–1242. Martin Elff/Sigrid Roßteutscher, All Gone? Change and Persistence in the Impact of Social Cleavages on Voting Behavior in Germany since 1949, in: Rüdiger Schmitt-Beck et al. (Hg.), The Changing German Voter, Oxford 2022 (i.E.). Kai Arzheimer, Another Dog That Didn’t Bark? Less Dealignment and More Partisanship in the 2013 Bundestag Election, in: German Politics 1/2017, S. 49–64; Roßteutscher et al. (Anm. 6), S. 207–217.

Evtl. allgemeinere Literatur Brettschneider, Frank: Wahlkampf: Funktionen, Instrumente und Wirkungen, in: Der Bürger im Staat 63 (2/2013), S. 190–198. Schäfer, Armin: Der Verlust politischer Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet, Frankfurt a. M./ New York 2015, 332 S.

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innenpolitik

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Unterschiede zwischen den ­Verfahren in Untersuchungs­ ausschüssen und bei Gerichten/ Ermittlungsbehörden Der Untersuchungsausschuss ist ein spezifisches Instrument parlamentarischer Kon­ trolle und der Selbstinformation des Parlaments. Da die Regierungskontrolle im Mit­ telpunkt der Untersuchung steht, stellt das Verfahren in erster Linie ein kontroll­ politisches Instrument der Opposition dar. Anders als ein Straf- und Verwaltungs­ verfahren hat ein Untersuchungsausschuss nicht die Erfüllung eines bestimmten Tatbestandes zu prüfen; sein Ziel ist die Aufklärung von Vorgängen zu politischen Zwecken. Die Tätigkeit des Untersuchungsausschusses unterscheidet sich auch sonst wesentlich vom Verfahren bei Gerichten und Ermittlungsbehörden. Dies trifft sowohl auf das Zustandekommen, die Abwicklung, die Dauer und die Leitung als auch auf das Ziel und die rechtlichen Konsequenzen beider Institutionen zu.

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I. Einleitung Der Untersuchungsausschuss (UA) ist gemäß Wiefelspütz1 ein spezifisches Instrument parlamentarischer Kontrolle und der Selbstinformation des Parlaments. Parlamentarische Untersuchungen haben die Funktion, den Parlamenten die Möglichkeit zu geben – unabhängig von Regierung, Behörden und Gerichten – mit hoheitlichen Mitteln, wie sie sonst nur Gerichten und Behörden zur Verfügung stehen, selbstständig die Sachverhalte zu prüfen, die sie in Erfüllung ihres Verfassungsauftrages als Vertretung des Volkes für aufklärungsbedürftig halten. Der UA ist nach seiner Auffassung eine „genuin politische“ und damit auch parteiische Veranstaltung, in deren Mittelpunkt die politisch-parlamentarische Auseinandersetzung, der politische Kampf, steht, was von einer idealisierenden, parlamentsfernen Betrachtungsweise häufig verkannt wurde und wird. Nach Glauben/Brocker2 sind UA, bei denen es sich um nichtständige Ausschüsse handelt, „Unterorgane des Parlaments“ und als solche mit besonderen Befugnissen ausgestattet, über die das Plenum selbst nicht verfügt. Hierzu gehören insbesondere die weitgehenden Beweiserhebungsrechte und die damit verbundenen Zwangsbefugnisse, die in dieser Form keinem anderen Gremium des Parlaments zustehen. Nach Plöd wiederum haben UA die Aufgabe, Sachverhalte zu untersuchen, deren Aufklärung im öffentlichen Interesse liegt und hierüber im Parlament zu berichten, damit das Parlament seine politische Entscheidung vorbereiten kann.3 Der UA ist jedenfalls das schärfste parlamentarische Instrument der Opposition zur Kontrolle der Regierung (Vollziehung). Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass Regierungsparteien im Wege von Minderheitsverlangen (Unterstützung durch 46 Abgeordnete) oder durch einen Mehrheitsbeschluss UA einsetzen.

1 Siehe Wiefelspütz, Das Untersuchungsausschussgesetz (2003), S. 28 f. 2 Siehe Glauben/Brocker, Das Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern (2011), 2. Auflage, S. 2 f. 3 Siehe dazu Plöd in „Die Stellung des Zeugen in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages“, S. 41.

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Nach dem Bericht des Geschäftsordnungsausschusses (GO-Ausschus­ ses) dient das Untersuchungsausschussverfahren der Information des Parlaments im Sinne einer Selbstinformation. Art. 53 B-VG gibt dem Nationalrat (NR) besondere Möglichkeiten, Informationen zu erlangen, die zur Wahrnehmung seiner Kontroll- und Gesetzgebungsfunktion notwendig sind. Anders als ein Straf- und Verwaltungsverfahren hat ein UA nicht die Erfüllung eines bestimmen Tatbestandes zu prüfen bzw. sich über konkrete Anbringen abzusprechen. Ziel des UA ist die Aufklärung von Vorgängen zu politischen Zwecken.5 In Anlehnung an den UA im Deutschen Bundestag wurde auch in Österreich per 01.01.2015 die Möglichkeit geschaffen, dass ein UA von einem Viertel aller Abgeordneten zum NR als Minderheitsrecht eingesetzt werden kann und dass für ein Viertel der Ausschussmitglieder eine Reihe von Verfahrensschritten im UA zur Verfügung steht (Untersuchungsgegenstand, Beweismittel, Ladung von Auskunftspersonen, Anfechtung beim Verfassungsgerichtshof u. a.m.). 4

II. Wichtigste Verfassungs- und Geschäftsordnungsbestimmungen für Untersuchungsausschüsse als Minderheitsrecht6 In diesem Zusammenhang sind insbesondere folgende Schritte zu erwähnen: 1. Die Einsetzung eines UA kann durch die Einbringung eines Verlangens von 46 Abgeordneten – also einem Viertel – im Plenum des NR erfolgen (Minderheitsverlangen), wobei jeder Abgeordnete gleichzeitig nur ein laufendes Verlangen unterzeichnen darf. Noch in derselben Sitzung wird – allenfalls nach einer kurzen Debatte – vom Präsidenten die Zuweisung an den GO-Ausschuss vorgenommen.

4 439 d.B./XXV. Gesetzgebungsperiode (GP) des NR. 5 Siehe dazu den Bericht des GO-Ausschusses, 439 d.B./XXV. GP, S. 2. 6 Siehe dazu auch Zögernitz, Nationalrat-Geschäftsordnung (2020), 4. Auflage, Anhang J: Einsetzungsverfahren von Untersuchungsausschüssen.

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Die Mehrheit der Abgeordneten kann demgegenüber eine unbegrenzte Anzahl von UA durch Beschluss einsetzen, bei denen jedoch im Verfahren einige Unterschiede bestehen. 3. Gegenstand der Untersuchung ist ein bestimmter abgeschlossener Vorgang im Bereich der Vollziehung des Bundes, wobei eine Überprüfung der Rechtsprechung ausgeschlossen ist. 4. Der GO-Ausschuss hat maximal acht Wochen Zeit für die Berichterstattung an den NR (Beginn der Beratungen innerhalb von vier Wochen; Bericht an das Plenum innerhalb weiterer vier Wochen). 5. Abänderungen des Untersuchungsgegenstandes bei Minderheitsverlangen sind im GO-Ausschuss nur mit Zustimmung aller anwesenden Vertreter der Einsetzungsminderheit möglich. 6. Zunächst wird die Größe des UA im GO-Ausschuss beschlossen. 7. Danach werden der Verfahrensrichter und der Verfahrensanwalt samt deren Stellvertretern im GO-Ausschuss gewählt. 8. Eine allfällige Verkürzung der gesetzlichen Verfahrensdauer (maximal 14 Monate) kann nur auf Antrag der Einsetzungsminderheit, der im Verlangen selbst enthalten sein muss, beschlossen werden. 9. Im GO-Ausschuss erfolgt auch die Fassung des g­rundsätzlichen Be­­ weisbeschlusses, wonach Organe des Bundes, der Länder, der Gemein­den und der Gemeindeverbände sowie der sonstigen Selbstverwaltungskörper – von wenigen Ausnahmen abgesehen – zur vollständigen Vorlage von Akten und Unterlagen im Umfang des Unter­suchungsgegenstandes verpflichtet sind. 10. Die Mehrheit im Ausschuss kann eine Unzulässigkeit (Gesetzwidrigkeit) feststellen und somit die Einsetzung zunächst blockieren. Die Minderheit kann in diesem Fall den Verfassungsgerichtshof anrufen, der endgültig entscheidet. 11. Mit Beginn der Behandlung des Berichtes des GO-Ausschusses im Plenum des NR gilt der UA – ohne weiteren Beschluss – als eingesetzt. 12. Anschließend erfolgt die Konstituierung des UA (die Klubs entsenden die Mitglieder und Ersatzmitglieder nach ihrem Stärkeverhältnis, und zwar nach dem d’Hondt’schen Verfahren, wobei allerdings jede im Hauptausschuss vertretene Partei mindestens ein Mitglied und Ersatzmitglied stellen kann).

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13. Funktionsträger des UA sind insbesondere: der Präsident des NR als Vorsitzender (allenfalls auch der Zweite oder der Dritte Präsident), der Verfahrensrichter, der Verfahrensanwalt sowie gegebenenfalls Ermittlungsbeauftragte bzw. Sachverständige; weitere Teilnehmer sind: Auskunftspersonen, Vertrauenspersonen als Berater der Auskunftspersonen sowie Medienvertreter (Letztere nur bei der Anhörung von Auskunftspersonen und Sachverständigen). 14. Das Beweiserhebungsverfahren dauert im Normalfall zunächst maxi­ mal 12,5 Monate (in die gesetzliche Frist von 14 Monaten sind nämlich drei Mal zwei Wochen für die Berichterstellung durch den Vorsitzenden aufgrund eines Entwurfes des Verfahrensrichters für Fraktionsberichte und für Stellungnahmen von betroffenen Personen einzuberechnen). Auf Antrag der Einsetzungsminderheit kann der UA auch eine vorzeitige Beendigung der Beweisaufnahme beschließen. 15. Auch im Verfahren selbst gibt es eine Reihe von Minderheitsrechten, und zwar insbesondere: Ladung von Auskunftspersonen, Anforderung von Akten und Unterlagen, ergänzende Beweisanforderungen, Befassung von Schiedsstellen bei Streitigkeiten u. a.m. 16. Die Verweigerung der Vorlage von Akten und Unterlagen, die den Untersuchungsgegenstand betreffen, ist nur in Ausnahmefällen zulässig. Es sind dies die Beeinträchtigung der rechtmäßigen Willensbildung der Bundesregierung und ihrer Mitglieder (exekutive Eigenverantwortung) sowie eine erhebliche Gefährdung von Staatsinteressen oder von Menschenleben. 17. Die Dauer des UA beträgt – wie erwähnt – zunächst 14 Monate. Diese Frist kann auf Wunsch der Einsetzungsminderheit zunächst um drei Monate und danach – auf Initiative der Einsetzungsminderheit – nochmals, allerdings mit Mehrheitsbeschluss, um drei Monate verlängert werden. Die gesetzliche Maximaldauer beträgt also 20 Monate. 18. Die Rechte der Auskunftspersonen, für die grundsätzlich Wahrheitspflicht besteht, wurden erheblich gestärkt. Zu ihrem Schutz gibt es zunächst den Präsidenten des NR als Vorsitzenden, den Verfahrensrichter, den Verfahrensanwalt sowie die Schiedsinstanzen, nämlich den Verfassungsgerichtshof, das Bundesverwaltungsgericht und die parla-

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mentarische Schiedsstelle, bestehend aus den Mitgliedern der Volksanwaltschaft; weiters erhalten die Auskunftspersonen Einsichts- und Korrekturmöglichkeiten beim Protokoll sowie ein Stellungnahmerecht im Ausschussbericht selbst (innerhalb von zwei Wochen). Der Entwurf des Ausschussberichtes wird durch den Verfahrensrichter für den Vorsitzenden innerhalb von zwei Wochen erstellt; Fraktionsberichte können innerhalb weiterer zwei Wochen vorgelegt werden; schließlich sind zwei Wochen für Stellungnahmen von betroffenen Personen vorgesehen. Nach Abschluss der Beweisaufnahme erstattet der UA – unter Berücksichtigung obiger Fristen – einen schriftlichen Bericht an den NR. Darin sind enthalten: der Verlauf des Verfahrens und aufgenommene Beweise sowie eine Darstellung der festgestellten Tatsachen und gegebenenfalls eine Beweiswürdigung sowie das Ergebnis der Untersuchung und auch allenfalls Empfehlungen. Die Tätigkeit des UA endet mit Beginn der Behandlung des Berichtes in der auf die Übergabe nächstfolgenden Sitzung des NR, wobei der maßgebliche Zeitpunkt vom Präsidenten in dieser Sitzung festgestellt wird. Die Berichterstattung an den NR hat jedenfalls spätestens bis zum 83. Tag vor einer NR-Wahl zu erfolgen, sodass in der heißen Wahlkampfphase keine Sitzungen dieses Gremiums zur Beweisaufnahme mehr stattfinden. Schiedsinstanzen zur Schlichtung von Streitigkeiten sind – wie erwähnt – der Verfassungsgerichtshof, das Bundesverwaltungsgericht und die parlamentarische Schiedsstelle, bestehend aus den Mitgliedern der Volksanwaltschaft. Eine Durchbrechung der beruflichen Immunität der Abgeordneten erfolgt bei grober Verletzung der Vertraulichkeits- und Geheimhaltungsbestimmungen des Informationsordnungsgesetzes (InfoG) durch Mitglieder des UA sowie im Falle von Vorwürfen der Verleumdung (Letzteres gilt auch im Plenum des NR). Die Möglichkeit der Verhängung eines Ordnungsgeldes (€ 500 – € 1.000) ist bei Vertraulichkeitsverletzungen im Rahmen des Untersuchungsausschussverfahrens – auch nachträglich – gemäß der Verfahrensordnung für Untersuchungsausschüsse (VO-UA) gesetzlich vorgesehen.

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26. Aufgrund der derzeitigen parlamentarischen Konstellation kann die Opposition (die Oppositionsparteien stellen 85 der 183 Mandatare) nur einen Minderheitsausschuss zeitgleich einsetzen.

III. Wesentliche Unterschiede zwischen den Verfahren in Untersuchungsausschüssen und bei Gerichten/Ermittlungsbehörden Laut Neisser haben parlamentarische Untersuchungsverfahren im Unterschied zu dem inquisitorischen Wesenszug gerichtlicher Untersuchungsverfahren einen politisch-informativen Charakterzug. Sie werden daher häufig auch zum Schauplatz der politischen Konfrontation von Fraktionen und damit zur Bühne oft populistischer Aktionen.7 Da sich das Verfahren im NR weitgehend an jenem im Deutschen Bundestag orientiert und sich dort bereits eine umfassende Literatur entwickelt hat, ist diese auch für Österreich von großer Bedeutung. Ziel und Verfahren von UA werden von den maßgeblichen deutschen Parlamentsexperten u. a. wie folgt charakterisiert: • „Parteiische Veranstaltung, in deren Mittelpunkt die politisch-parlamentarische Auseinandersetzung, der politische Kampf, steht.“8 • „Das allgemeine rechtsstaatliche Gebot der Unparteilichkeit einer staatlichen Untersuchung kann im parlamentarischen Untersuchungsverfahren keine Anwendung finden. … Parlamentarische UA sind maßgeblich von der politischen Auseinandersetzung geprägt.“9 • „Ein UA ist ein Teil des Parlaments, nicht Teil der rechtssprechenden Gewalt. UA sind politische Kampffelder, auf denen es gilt, für die eigene Person oder Partei politische Siege zu erringen …“ 10 Plöd befasste sich eingehend mit der Stellung der Zeugen (Auskunftspersonen) in einem parlamentarischen UA des Deutschen Bundestages und

7 Siehe dazu Neisser in: Kneihs/Lienbacher (Hg.), Rill-Schäfer-Kommentar Bundesverfassungsrecht, Art. 53 Rz 8 Lfg (2016). 8 Siehe dazu Wiefelspütz in: „Das Untersuchungsausschussgesetz“ S. 29 f. 9 Siehe dazu Glauben/Brocker in: „Das Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern“, S. 157 f. 10 Siehe dazu M. Plöd in: „Die Stellung des Zeugen in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages“, S. 55.

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stellte darin die wesentlichen Unterschiede zwischen einem parlamentarischen UA und dem gerichtlichen Verfahren dar.11 Wenngleich das österreichische Strafverfahren12 und die diesbezüglichen Bestimmungen nicht vollkommen mit der deutschen Situation ident sind, lassen sich obige Überlegungen zwanglos auf die österreichische Situation umlegen und insbesondere für die hier maßgeblichen Abgrenzungen zwischen UA und Ermittlungsbehörden/Gerichten heranziehen. Nun zu den Details: 1. Der Untersuchungsausschuss ist kein Gericht: „Untersuchungsausschüsse sind keine Gerichte, weder Strafgerichte noch sonstige Gerichte, die in einem justizförmigen Verfahren zu einer endgültigen vollstreckbaren Entscheidung kommen. Ihre Tätigkeit ist keine Rechtspflege, sondern die Ausübung eines verfassungsmäßigen Kontrollrechts des Parlaments. Untersuchungsausschüsse haben eine andere Aufgabe als Gerichte. Der UA übt das Enqueterecht des Bundestages aus. Aufgabe des Untersuchungsausschusses ist es, eine politische Entscheidung des Bundestages durch die Beweiserhebung und die Wertung des Beweisergebnisses vorzubereiten. Die Sachverhaltsfeststellungen im UA-Bericht sind nicht bindend. …“ 2. Der Untersuchungsausschuss ist Teil des Parlaments: „Ein UA ist Teil des Parlaments, nicht Teil der rechtssprechenden Gewalt. ‚Untersuchungsausschüsse sind politische Kampffelder, auf denen es gilt, für die eigene Person oder Partei politische Siege zu erringen; dabei kann sich das Gesichtsfeld verengen, können sich Gewichte verschieben und somit auch Grundrechtspositionen Privater leichter unter die Räder kommen.‘ Die Zusammensetzung der Mitglieder von Untersuchungsausschüssen ent-

11 Siehe dazu M. Plöd in. „Die Stellung des Zeugen in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages“, S. 55 ff. 12 Die diesbezüglich relevanten Bestimmungen sind in Österreich insbesondere in der Strafprozessordnung (StPO), im Strafgesetzbuch (StGB), im Richter- und Staatsanwaltschaftsdienstgesetz (RStDG) und in Art. 83 des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG) enthalten.

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spricht nicht dem Spruchkörper eines Gerichts. Dies ergibt sich bereits daraus, dass der Ausschussvorsitzende nicht mit dem gesetzlichen Richter vergleichbar ist … Der Richter muss über die Befähigung zum Richteramt verfügen (…). Über die Qualifikation für den Vorsitzenden in einem UA sagen weder Art. 44 GG13 noch das PUAG14 etwas, d. h. der Ausschussvorsitz und damit die Leitung eines Untersuchungsausschusses kann ohne Rücksicht auf die berufliche Qualifikation oder die parlamentarische Erfahrung jedem Abgeordneten übertragen werden.“15 3. Keine Ausschluss- bzw. Befangenheitsregeln: „Ein weiterer Unterschied ergibt sich daraus, dass es im PUAG keine Regeln über den Ausschluss eines Mitglieds gibt.16 … Das Recht auf den gesetzlichen Richter (…) ist in einem gerichtlichen Verfahren nicht gewahrt, wenn der Rechtssuchende vor einem Richter steht, der etwa wegen naher Verwandtschaft, Freundschaft oder Verfeindung die gebotene Unvoreingenommenheit vermissen lässt.17 Daher hat der Gesetzgeber durch … Vorsorge getroffen, dass die Richterbank von Richtern freigehalten wird, die dem rechtlich zu würdigenden Sachverhalt und den Verfahrensbeteiligten nicht mit der erforderlichen Distanz eines Unbeteiligten und daher am Ausgang des Verfahrens Uninteressierten gegenüberstehen. … Nach dem PUAG hat ein Mitglied des Untersuchungsausschusses nicht einmal anzuzeigen, wenn ein Zeuge von ihm als Mitglied des Untersuchungsausschusses anwaltlich vertreten wird. … “ 4. Keine Verpflichtung zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses: Die Staatsanwaltschaft ist, „soweit nicht gesetzlich etwas anderes bestimmt ist, verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern

13 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. 14 Gesetz für die Untersuchungsausschüsse im Deutschen Bundestag. 15 In der österreichischen Verfahrensordnung für Untersuchungsausschüsse (VO-UA) ergibt sich insofern ein formaler Unterschied, als in Österreich der Vorsitz entweder von einem der drei Natio­ nalratspräsidenten oder zeitweise auch durch die von diesen nominierten Stellvertretern geführt wird. 16 Dies gilt auch für die Verfahrensordnung für Untersuchungsausschüsse in Österreich. 17 Art. 83 Abs. 2 B-VG lautet: „Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.“

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zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen (sogenanntes Legalitätsprinzip). … Die Anforderungen, unter denen ein parlamentarischer UA eingesetzt werden kann, sind wesentlich geringer.“ Das PUAG bestimmt lediglich, dass der Bundestag auf Antrag von einem Viertel seiner Mitglieder die Pflicht hat, einen UA einzusetzen. In Österreich genügt hierzu sogar das bloße Verlangen eines Viertels der Abgeordneten zum NR.18 5. Kein streng normiertes justizförmiges Verfahren: „Ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren und das anschließende Strafverfahren sind streng normierte justizförmige Verfahren. Nach den durchgeführten Ermittlungen mit dem Ziel, den Sachverhalt umfassend von Amts wegen aufzuklären, erfolgt im Ermittlungsverfahren die Anklageerhebung …, wenn der Beschuldigte der Tat dringend verdächtig ist. Insoweit hat die Staatsanwaltschaft einen nicht unerheblichen Beurteilungsspielraum, aber keinen Ermessensspielraum, da die Staatsanwaltschaft dem Legalitätsprinzip unterliegt. Nach der Erhebung der öffentlichen Klage folgt das Eröffnungsverfahren (Zwischenverfahren). In diesem Verfahrensstadium prüft das Gericht, ob der Angeschuldigte nach dem Ergebnis des vorbereitenden Verfahrens (= Ermittlungsverfahren) einer Straftat hinreichend verdächtig ist. Ist dies der Fall, so beschließt das Gericht … die Eröffnung des Hauptverfahrens und bestimmt einen Termin zur Hauptverhandlung. Weist die Anklage essenzielle Mängel auf oder liegt ein Verfahrenshindernis vor oder scheidet eine Verurteilung des Angeschuldigten aus rechtlichen Gründen aus, weil der Sachverhalt keinen Straftatbestand erfüllt, oder besteht kein hinreichender Tatverdacht, so lehnt das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens ab (…). In der Hauptverhandlung entscheidet das Gericht über die Schuld des Angeklagten und setzt die Rechtsfolgen zur Ahndung der Straftat fest. Diese strenge Einteilung der verschiedenen Verfahrensschritte gibt es im UA-Verfahren nicht …

18 Siehe § 33 Abs. 9 des Geschäftsordnungsgesetzes 1975 (BGBl 410/175 i.d.g.F.).

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Eine Amtsaufklärungspflicht … ist dem PUAG fremd, im Unterschied zum Strafprozess, wo die Ermittlung des wahren Sachverhalts das zentrale Anliegen ist. …“ 6. Andere Verfahrensziele „Die Durchführung des Strafverfahrens hat zum Ziel, über die Schuld des Angeklagten zu entscheiden und im Falle der Verurteilung Rechtsfolgen zur Ahndung der Tat festzusetzen bzw. im Falle der Nichtschuld den Angeklagten von dem Vorwurf der Anklage freizusprechen. Ein UA verfolgt ein anderes Verfahrensziel. Parlamentsenqueten liegen vielfach globale Aufträge zugrunde, die zumeist auf die Aufklärung von Skandalen oder Missständen gerichtet sind. Auch der Verfahrensablauf wird von anderen Erwägungen bestimmt. Beim UA geht es um die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Ein UA dient parteipolitischen Zwecken. Es ist zu beobachten, dass z. B. anstehende Wahlen die Terminplanung des Untersuchungsausschusses bestimmen können.“ Plöd hält schließlich Folgendes fest: „Zusammenfassend ist festzustellen, dass Untersuchungsausschüsse keine Gerichte sind und dass die Verfahrensziele und der Verfahrensgang im Vergleich mit dem gerichtlichen Verfahren deutliche Unterschiede aufweisen. Daraus folgt, dass die Regeln über den Strafprozess auf Untersuchungsausschüsse nicht ohne weiteres übertragbar sind. Ein schematischer Transfer der Normen der StPO ins Enqueteverfahren ist von Art. 44 GG nicht gewollt. Bei jeder Vorschrift ist zu fragen, ob ihre Anwendung dem Sinn parlamentarischer Enqueten entspricht.“

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IV. Beachtung der Gewaltenteilung im Untersuchungsausschussverfahren Beim Untersuchungsausschussverfahren ist auch sicherzustellen, dass das in der Verfassung verankerte Prinzip der Gewaltenteilung zwischen Legislative und Gerichtsbarkeit strikt eingehalten wird. So stellte bspw. der damalige SPÖ-Klubobmann Andreas Schieder beim Beschluss der Verfahrungsordnung für UA fest, „dass das Parlament kein Gericht bzw. kein Gerichtssaal ist, sondern dass das Parlament die politische Verantwortung zu klären hat“.19 Bei derselben Gelegenheit hielt der damalige Zweite Präsident des NR, Karlheinz Kopf, laut Stenographischem Protokoll in seiner Rede folgendes fest: „Der UA ist kein Instrument der staatlichen Rechtsprechung, er ist ein Instrument der parlamentarischen Kontrolle, er ist ein Instrument der politischen Auseinandersetzung und er ist daher auch nicht objektiv – und hat auch nicht den Anspruch, objektiv zu sein.“20 Dieser eindeutige Wille des Gesetzgebers wurde beispielsweise beim sogenannten „Ibiza-Untersuchungsausschuss“ nicht immer beachtet. So kam es des Öfteren insofern zu einer Verquickung von Parlament und Gerichten, als Mitglieder bereits im UA durch Fragen an Auskunftspersonen ein Verfahren für die Strafjustiz vorbereiteten. Durch die Fragestellung sollten nämlich Widersprüche provoziert werden, um danach eine Sachverhaltsdarstellung wegen Verletzung der Wahrheitspflicht an die Staatsanwaltschaft übermitteln zu können. Dies stellt faktisch eine Durchbrechung des Prinzips der Gewaltenteilung dar und sollte in Zukunft unterlassen werden.

V. Ausblick Bei der Beschlussfassung (1. und 2. Lesung im NR) der derzeit geltenden Verfahrensordnung für UA im Jahr 2014 gab es Vorschusslorbeeren seitens

19 Siehe Stenographisches Protokoll (StenProt) der 46. Sitzung des NR am 23. Oktober 2014 der XXV. GP, S. 42. 20 Siehe StenProt der 53. Sitzung des NR am 10. Dezember 2014 der XXV. GP, S. 64.

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aller Parlamentsparteien. Als Beispiel seien folgende Zitate auszugsweise erwähnt:21 • Schieder (Klubobmann der SPÖ) - „beispielhaft für einen modernen Parlamentarismus“ - „positive Weiterentwicklung des Parlamentarismus“ • Kopf (2. Präsident des NR) - „Zäsur und Meilenstein in der Entwicklung des Parlamentarismus“ • Glawischnig (Klubobfrau der Grünen) - „historische Zäsur im Parlamentarismus“ • Pendl (Fraktionsführer der SPÖ bei den Verhandlungen) - „Quantensprung im österreichischen Parlamentarismus“ - „Paradigmenwechsel“ • Darmann (Fraktionsführer der FPÖ bei den Verhandlungen) - „Jahrhundertreform des Parlamentarismus in Österreich“ Es gab jedoch auch einige mahnende Worte in den Plenardebatten. So stellte beispielsweise der Abgeordnete Pendl fest, dass es nunmehr an den Abgeordneten liegen werde, was sie aus den neuen Bestimmungen machen und „wie man diese Chance, auf gleicher Augenhöhe mit den anderen Staatsgewalten zu agieren, mit Leben erfüllt“.22 Wenn man den 2021 beendeten Ibiza-Untersuchungsausschuss als Maßstab hierfür heranzieht, dürfte dies nicht optimal gelungen sein, da jede Fraktion und auch die Öffentlichkeit heftige Kritik am Verfahren selbst geübt hatten. Die Salzburger Nachrichten stellten sogar fest, „dass das Parlament sein schärfstes Kontrollinstrument beschädigt“ habe.23 Es ist nunmehr zu hoffen, dass der bei diesem UA oftmals gewählte Tribunalcharakter, indem einzelne Abgeordnete – wie im Strafprozess – als Ankläger und Richter aufgetreten sind, in Hinkunft nicht fortgesetzt wird. Andernfalls würde nicht nur das Kontrollinstrument selbst nachhaltig beschädigt, sondern das ohnehin bereits niedrige Image der Politik und seiner

21 Siehe dazu StenProt der 46. u. 53. Sitzung des NR der XXV. GP vom 23. Oktober und vom 10. Dezember 2014. 22 Siehe StenProt der 46. Sitzung des NR vom 23. Oktober 2014 der XXV. GP. 23 Siehe Salzburger Nachrichten vom 18. Juli 2021.

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Repräsentanten noch weiter sinken. Letzteres könnte längerfristig sogar zu einer echten Gefährdung unseres demokratischen Systems führen.

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Grüne Erpressung und linke Geschichtspolitik Der Phantomschmerz seiner Gegner und Feinde nach Sebastian Kurz. Die große Koalition taucht wieder am Horizont auf.

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Nur zwei Politiker in Österreich ragten 2021 aus dem Heer der Mittelmäßigen heraus: Sebastian Kurz und Werner Kogler. Der eine war Bundeskanzler, der andere hat ihn gestürzt. Die Rolle des Letzteren blieb eigenartig unterbelichtet, was durchaus in seinem Sinne sein dürfte. Im untrüglichen Gefühl des Machtpolitikers für den rechten Augenblick erklärte er Kurz für nicht mehr regierungsfähig und besiegelte damit dessen Schicksal. Damit prägte er die nun herrschende Interpretation der Kurz-Saga, die lautet: Ganz gleich, ob etwas von den juristischen Vorwürfen übrigbleibt, Kurz ist ein moralisches Problem und musste deshalb gehen. Dass Kogler ihm sehr freundliche und anerkennende Worte für die gemeinsame Arbeit nachrief, ist wahrscheinlich nicht einmal geheuchelt. Es ist die Fairness des Siegers, der gegenüber dem Unterlegenen leicht generös sein kann. „Die Mühlen der Justiz mahlen bekanntlich langsam“, schrieb eine Kommentatorin nach dem Rücktritt Kurz’ vom Kanzleramt, als ob das eine Selbstverständlichkeit wäre. Aber warum ist das in einem Rechtsstaat und in einer politisch äußerst heiklen Angelegenheit eigentlich so? Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) ermittelt gegen Sebastian Kurz wegen falscher Beweisaussage im U-Ausschuss. Er hat im Ausschuss ausgesagt, bei Bestellungen von Vorstand und Aufsichtsrat der ÖBAG keine aktive Rolle gespielt zu haben. Die Sache ist längst spruchreif, über Erhebung der Anklage oder Einstellung des Verfahrens wird aber offenkundig absichtsvoll nicht entschieden. Seit September wird auch wegen möglicher Korruptionsdelikte gegen Kurz ermittelt. Es geht um Bestimmungstäterschaft zu Bestechlichkeit und Untreue in der sogenannten Inseratenaffäre. Bei der Meinungsforscherin Sabine Beinschab sollen vor der Wahl 2017 Umfragen in Auftrag gegeben und vom Finanzministerium bezahlt worden sein. Die geschönten Ergebnisse wurden in der Tageszeitung „Österreich“ veröffentlicht, angeblich mit der Gegenleistung großer Inseratenaufträge. Alle Beschuldigten bestreiten die Vorwürfe, Kurz scheint jedenfalls informiert gewesen zu sein. „Mein politischer Alltag war zuletzt nicht der Wettbewerb der besten Ideen, sondern die Abwehr von Vorwürfen, Unterstellungen und Verfahren“, resümierte Kurz bei seinem Abschied bitter. Dies habe „in mir meine eigene Flamme ein bisschen kleiner werden lassen“. Er rechnet mit einer Anklage, weiß aber, dass es angesichts der Praxis der österreichischen Justiz

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noch Jahre dauern kann, bis „ich bei Gericht beweisen kann, dass die Vorwürfe gegen meine Person falsch sind“. Nur noch ein Nachspiel dreht sich um Siegfried Wolf, den Selfmademan und erfolgreichen Unternehmer aus der Steiermark, der unter dem Steirer Frank Stronach in den USA groß geworden ist. Die Bewunderung zwischen ihm und Kurz ist gegenseitig. Kurz wollte ihn auch einmal zum Aufsichtsrats-Vorsitzenden der ÖBAG machen. Seinen Sprecher, den früheren SPÖ-Bundesgeschäftsführer Josef Kalina, lässt er ausrichten, dass „Herr Wolf Wert auf die Feststellung legt, niemals für die ÖVP gespendet zu haben“. Mit dem hohen Steuernachlass für Wolf hat Kurz augenscheinlich nichts zu tun, er führt aber zu Thomas Schmid, ehemals Generalsekretär im Finanzministerium. Schmid gehörte nicht zum engsten Kreis um Kurz, hat sich aber aus Geltungssucht und Wichtigtuerei diesem angebiedert, und der merkte es nicht oder hielt jedenfalls nicht auf die gebotene Distanz. Dankbarkeit ist keine politische Kategorie, sagt man, dennoch ist es zumindest erstaunlich, wie anscheinend schmerzlos sich seine eigene Partei von Sebastian Kurz losgesagt hat und ihn zur Unperson werden ließ. Immerhin hat er die Volkspartei davor gerettet, zu einer Kleinpartei abzusteigen, unter ihm hat sie zwanzig Wahlen in Serie gewonnen, zweimal hat er sie zur Kanzlerschaft geführt. Selbst nach seinem Rücktritt konnte die ÖVP bei der überstürzten Neubesetzung von Ministerposten noch von den Erfolgen unter Kurz profitieren und es sich dabei leisten, jemanden wie Heinz Faßmann gehen zu lassen, weil sich ein Landeshauptmann einen Minister aus seinem Bundesland eingebildet hatte. Dass sich ausgerechnet zwei ÖVP-Landeshauptleute, die Wahlsiege im Fahrwasser von Kurz errangen, bei der Kritik an ihm besonders hervortaten, ist eine spezielle Facette von politischer Moral. Sie geben damit denen aus Justiz und Medien unausgesprochen recht, die Kurz in einer anhaltenden Kampagne zermürbt haben und die sich jetzt mit „seinem Skalp schmücken“, wie ein ehemaliger VP-Spitzenpolitiker bitter bemerkte. Was Kurz für die ÖVP bedeutet hat und welchen Verlust sie erlitten hat, mag eine Episode aus dem Wahlkampf 2019 illustrieren. Auf einem Marktplatz in Graz teilten junge VP-(bzw. Kurz-)Aktivisten in türkisen Leiberln Werbezettel aus. Da drängte sich eine ältere Frau heran und sagte: „Für einen Stammwähler“ (in der männlichen Form). Auf die Bemerkung

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eines Danebenstehenden: „Es gibt doch keine Stammwähler mehr“, entgegnet sie mit schnippischer Entschiedenheit: „Für Kurz schon“. Wann hätte sich die ÖVP je träumen lassen, dass sich die Rentner zu ihren Stammwählern zählen? Viel schwerer als die eigene Partei tun sich freilich seine Kritiker mit der Trennung von Kurz. Schon am Tag, nachdem er seinen Abschied genommen hatte, ergriff manche Leitartikler der Phantomschmerz nach dem Abwesenden und nach einer irgendwie erneuerten ÖVP: „Ein politisches Großtalent prägte ein Jahrzehnt die Spitzenpolitik und fand als Spielform eines modernen Konservativismus internationale Beachtung“, schrieb der Chefredakteur der Kleinen Zeitung, Hubert Patterer. „Zu den tragischen Aspekten zählt das Bedauern, dass einer wie er nicht mehr aus seiner Popularität gemacht hat.“ Patterer anerkennt auch das Verdienst, mit dem restriktiven Kurs in der Migration „den Markenkern der FPÖ“ ausgehöhlt und sie damit „vom Kanzlerthron“ ferngehalten zu haben. Gutzuschreiben sei ihm auch das „Herausführen des Landes aus der ewigen Wiederkehr Großer Koalitionen“. Wenn das alles stimmt, dann ist es auch eine Tragik, dass so jemand nicht an der Wahlurne besiegt, sondern aufgrund nach wie vor unbewiesener Vorwürfe durch eine unheilige Allianz aus Justiz und Medien um Amt und politische Existenz gebracht wurde. Nach dem erfolgreichen Misstrauensantrag gegen ihn und seine Regierung im Frühjahr 2019 konnte Kurz noch voll Zuversicht sagen: „Heute hat das Parlament entschieden, aber am Ende des Tages, im September, entscheidet in einer Demokratie das Volk.“ Noch viel deutlicher ist Oliver Pink in der „Presse“: „Das türkise Projekt, die dahinterstehende Idee war richtig.“ Bis Kurz sei die ÖVP „ein Spielball der Landesfürsten und anderer Machthaber von außen“ gewesen. Das habe auch dem Staat nicht gut getan. Man könne Kurz nicht vorwerfen, er habe kein politisches Konzept gehabt. „In Kurzversion“ sei das Projekt „eines der akzentuierten Politik in Sicherheits- und Zuwanderungsfragen, sozialer Rücksichtnahme bei gleichzeitiger Schaffung von Anreizen, einer Arbeit nachzugehen, der Förderung von Familien und der Wettbewerbsfähigkeit“. Pinks schlimmster Vorwurf an Kurz ist, dass „er fluchtartig das Schiff verlassen hat“.

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Das zentrale Narrativ über Kurz und die ÖVP ist das von der innerparteilichen „Demarkationslinie“ zwischen der guten alten, schwarzen, angeblich noch christlich-sozialen und der türkisen ÖVP, wie es der Meinungsforscher Peter Hajek formuliert. Als Repräsentanten dieser „eigentlichen“ ÖVP, die von Kurz gewissermaßen usurpiert wurde, gelten Franz Fischler, Othmar Karas und vor allem der klassische Vertreter der Sozialpartnerschaft Reinhold Mitterlehner. Letzterer kommt zu dieser Ehre freilich nur dadurch, dass er ÖVP-Obmann war, als Kurz mit seiner Ambition und seinem Projekt auf den Plan trat. Wolfgang Schüssel gehört nicht dazu, obwohl er innerhalb und außerhalb der ÖVP sogar dafür kritisiert wurde, dass er in ethischen und gesellschaftspolitischen Fragen zu katholisch und konservativ, also doch wohl christlich-sozial war. Dieses vermeintliche Paradox lässt sich aufklären: Schüssel verzeiht man auch in der ÖVP nicht, dass er an der Wende von 1999 zu 2000 nach der Macht gegriffen hat und das war eben nur mit der FPÖ möglich. Damit hat er ein altes Tabu der ÖVP gebrochen, das sie tief internalisiert hat, dass es sich für sie eigentlich nicht gehört, den Bundeskanzler stellen zu wollen, wenn sie dazu eine Koalition mit der FPÖ eingehen muss. Darüber kamen schon Josef Klaus 1970 und später auch Alois Mock nicht hinweg. Noch mehr abgehen wird Kurz seinen wirklichen Feinden und den Hasspredigern gegen ihn. Immer noch rufen sie: „Kurz muss weg“, obwohl er schon weg ist. Sie brauchen ihn, um ihre Geschichte über ihn weiterschreiben zu können: die des „Studienabbrechers“ und dann des herzlosen TeflonKanzlers und schließlich der Bedrohung für die Demokratie, die er angeblich gewesen sei. Die sonst politisch so Korrekten dürfen ihn sogar noch mit Frau und Kind verspotten und für seine Berufssuche in den USA verhöhnen. Kurz wird als ungehörige Störung der linken und linksgrünen Hegemonie empfunden, die in den Medien vorherrschend ist. In seiner kühlen, immer beherrschten Art wollte man mangelnde „Empathie“ erkennen, als ob das eine politische Kategorie wäre. Die Weigerung der ÖVP, Migranten aus Lagern in Griechenland nach Österreich zu holen, wird nicht nach ihrer politischen Bedeutung beurteilt, sondern als Bestätigung einer angeblichen Herzlosigkeit. Die von ihm organisierte Behandlung französischer COVID-Patienten in Österreich und Hilfsangebote an Portugal wurden dagegen kaum registriert.

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Seine eigene Partei ist nicht willens, sich zu ihm zu bekennen, und nicht fähig, die Zeit mit ihm als ihre eigene Erfolgsgeschichte zu erzählen. Sie überlässt es damit ihren politischen Gegnern, das historische Bild von dieser außerordentlichen Phase der österreichischen Politik zu zeichnen. Auch die sehr erfolgreiche Kanzlerschaft von Wolfgang Schüssel („Österreich, das bessere Deutschland“ schrieben deutsche Medien damals) wird bis heute negativ beschrieben. Das hat natürlich einen Zweck: Es soll sich nicht wiederholen, einen wie Kurz, der die Volkspartei erfolgreich macht, darf es nicht wieder geben. Wahrscheinlich war das politische Schicksal von Sebastian Kurz schon an jenem ominösen 18. Mai 2019 besiegelt, dem Tag, nachdem das IbizaVideo bekannt geworden war. Aber das ist eine VP-interne Angelegenheit. Auch damals nahmen ihm die Landeshauptleute das Heft aus der Hand und entschieden für Neuwahlen. Sie ließen ihm gar nicht die Möglichkeit einer Fortsetzung der Regierung mit der FPÖ, aber eben ohne Strache. Das erwies sich kurzfristig als richtig, denn Kurz fuhr im Herbst darauf jenen fulminanten Wahlsieg ein, von dem die ÖVP heute zehrt. Zwar wurde die neue türkis-grüne Koalition von den Medien auf fast peinliche Weise bejubelt, weil man die ÖVP damit auf den rechten (linken) Weg gebracht sah. Tatsächlich hatte die ÖVP nun aber keine andere Koalitionsoption mehr. Die FPÖ war zum Feind geworden und hat sich seither unter Herbert Kickl so radikalisiert, dass sie keine Regierungsoption ist, jedenfalls nicht für die ÖVP und solange Kickl seine Politik der verbrannten Erde fortsetzen darf. Das „Beste aus beiden Welten“, gemeint die Welt der ÖVP und jene der Grünen, wie es bei der Vorstellung des Regierungsprogramms hieß, war nicht mehr als ein verbaler Gag. In Wirklichkeit trennen Grüne und Volkspartei ideologisch Welten. Bei den Koalitionsverhandlungen bekamen die Grünen, was sie jetzt auch in Deutschland haben: ein Superministerium, mit dem sie unter dem Namen Klima auch Wirtschaftspolitik machen. Die Grünen sind ein Koalitionspartner, den Kurz noch nicht gekannt hatte. Während Regierungen normalerweise mit dem Versprechen aller Teilnehmer antreten, nun das gemeinsam unterschriebene Programm umzusetzen, haben die Grünen von Anfang an gesagt, dass nun das Verhandeln und Durchsetzen eigener Politik erst beginnt.

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Es war immer ein Vorteil der ÖVP gegenüber ihrer Konkurrenz, dass sie zumindest theoretisch mehr Regierungsoptionen hatte. Das ist jetzt vorbei. In den Umfragen ist sie zu einer von drei Mittelparteien abgesunken, irgendwo zwischen SPÖ und FPÖ. Jetzt taucht wieder die Große Koalition am Horizont auf. Schon raten altgediente ÖVPler ihrer Partei, sich für alle Fälle mit der SPÖ gutzustellen. Damit wäre dann das „Projekt Kurz“ endgültig zu Grabe getragen.

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Er oder wir: Weg mit Kurz! Hintergründe und politische Motive der Kurz-muss-weg-Agitation Der Ruf „Kurz muss weg!“ war mehreren, scheinbar sehr unterschiedlichen poli­ tischen Kräften von der SPÖ bis zur FPÖ gemeinsam. Diese Forderung war aber auch Leitmotiv vieler anderer Gruppierungen bis hin zu Teilen der Justiz – wenn­ gleich nicht von allen direkt ausgesprochen. Dieser Text analysiert die vielen, oft total unterschiedlichen Motive all dieser Gruppen, die teils auf die Angst vor einem großen politischen Talent, teils aber auch auf Aktionen des Sebastian Kurz zurückzuführen sind, die sich im Rückblick als Fehler erweisen.

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Am 18. Mai 2019 begleiteten tausende SPÖ-nahe Demonstranten vor dem Bundeskanzleramt das Ende der türkis-blauen Koalition mit lauten „Kurz muss weg!“-Sprechchören. Am 4. Jänner 2021 erklärte FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl bei einer Pressekonferenz: „Mein Kampfauftrag für 2021 lautet: ,Kurz muss weg!‘“ Am 22. Juli 2021 veröffentlicht der ehemalige grüne Parteichef Peter Pilz sein Buch „Kurz: Ein Regime“, in dem sich zwar nicht wörtlich die Forderung „Kurz muss weg!“ findet, das aber von der ersten bis zur letzten Zeile in ihrem Zeichen steht, so wie Pilz auch sein letztes, erfolgloses Antreten bei der Wahl 2019 einzig damit begründet hat, dass er „der Gegenpol zu Sebastian Kurz“ sei.

Drei sehr unterschiedliche politische Parteien, aber ein gemeinsames Ziel. Daneben verfolgten auch noch viele weitere Gruppierungen das gleiche Ziel, aber ohne es offen auszusprechen. Dieses Ziel wurde am Ende des Jahres 2021 erreicht, was  an seinem Beginn oder gar im Sommer 2019 niemand geglaubt hätte. Errang doch Sebastian Kurz 2019 den größten Wahlerfolg der ÖVP seit 2002. Was aber waren die Gründe und Motive dafür, dass die Person des Sebastian Kurz von so vielen Seiten ins Visier genommen wurde? Diese Gründe waren oft total unterschiedlich, aber es gab durchaus auch einige gemeinsame. Letztlich gibt es ja nur zwei Arten von Kurz-Feinden: Solche, die sich Kurz durch eigene Fehler geschaffen hat, und solche, denen er einfach zu erfolgreich gewesen ist. Im Folgenden werden die unterschiedlichen Motive gleichsam mit einem Seziermesser in 14 verschiedene aufgespaltet:

1. Jeder politische Gegner wird bekämpft Das ist an sich ein üblicher Vorgang: Jede Partei bekämpft die anderen, die ja alle Rivalen um Wählerstimmen sind. Ganz besonders werden immer Regierungsparteien und der Regierungschef bekämpft.

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2. Wahlsieger werden besonders intensiv bekämpft Ebenso logisch ist, dass immer jene Partei besonders angegriffen wird, die die letzten Wahlen gewonnen hat, wie es der ÖVP zweimal hintereinander gelungen ist. Gibt es doch dort die meisten Wähler zu holen, die noch nicht Stammwähler geworden sind.

3. Die Partei der Mitte als beliebtestes Ziel Der ÖVP-Chef ist auch deshalb immer ein ganz besonders interessantes Ziel, weil die ÖVP eine Partei der Mitte ist. Keine andere Partei hat durch eine solche Positionierung Ein- und Ausgangsventile in so viele verschiedene Richtungen, durch die Wähler hinein- und hinausströmen können. Hingegen haben die traditionellen Attacken der Linksparteien auf die FPÖ und umgekehrt deren Attacken auf die Linken ein ganz anderes Hauptmotiv als Wählergewinnung: Diese Attacken sollen die eigenen Reihen kampfesfreudig und in emotional aufgeladener Bewegung halten. Man will den eigenen Wählern zeigen, dass sich auf der Gegenseite etwas so Fürchterliches abspielt, dass man dagegen zusammenhalten muss. Man will zeigen, dass man die entschlossenste Partei gegen Rechts beziehungsweise Links ist.

4. Die Volkspartei ist Chef-abhängig Die oft steil hinauf- und hinuntergehenden Zacken der ÖVP-Wahlerfolge hängen fast immer mit der Stärke des Mannes an der Spitze zusammen. Siehe Leopold Figl, siehe Julius Raab, siehe Josef Klaus, siehe Wolfgang Schüssel und siehe eben Kurz. Dazwischen herrschte oft triste Ebbe. Daher ist es für alle politischen Konkurrenten bei der ÖVP besonders wichtig, den Parteichef zu bekämpfen.

5. Das Charisma des Sebastian Kurz Dies gilt ganz besonders, wenn dieser so charismatisch ist wie Sebastian Kurz, der an persönlicher Ausstrahlung national wie international alle Politiker seit Kreisky übertroffen hat.  Durch inhaltliche Akzente hat Kurz

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hingegen lediglich in einem einzigen Punkt wirklich geführt: nämlich mit seinem Kampf gegen die illegale Migration aus Afrika und Asien. Dieser wurde geradezu Teil seiner Identität. SPÖ und FPÖ hatten hingegen fast nie jemanden mit einer solchen Ausstrahlung an der Spitze – mit den großen Ausnahmen Bruno Kreisky und Jörg Haider. Diese beide hatten ihren Parteien historische Erfolge gebracht. Ihr Abgang hinterließ dann jeweils eine merkbare Krise. Für die  ÖVP war es nach dem Abgang von Schüssel und Kurz ganz ähnlich. Die Bedeutung der Person Kurz für die ÖVP hat etwa der SPÖAgent Silberstein richtig erkannt, weshalb er eine ganz auf die Demolierung von Kurz gerichtete Schmutzkübelkampagne mit kriminellen Methoden gestartet hatte – die allerdings 2017 erfolglos geblieben ist, weil die Aktion aufgeflogen ist. Die Volkspartei war unter Sebastian Kurz so stark auf eine einzige Person konzentriert, wie überhaupt noch nie in der Geschichte. Denn früher gab es dort einen Raab-Kamitz-Kurs, einen Klaus-Koren-Kurs (samt Hermann Withalm als drittem Mann), ein Erfolgsteam Schüssel-Grasser (samt einem weiteren inneren Küchenkabinett rund um Schüssel). Bei Kurz gab es das alles nicht. Er hatte nur ein starkes persönliches Kabinett, das fast wie eine Schattenregierung agierte. Aber dieses Kabinett blieb stets diskret im Dunkeln. In der Öffentlichkeit, in Partei, Regierung oder Klub gab es niemand sonderlich Führungsfähigen. Kurz mit seinem Gespür für parteiinterne Konstellationen hat es wohl sogar gezielt verhindert, dass irgendjemand in die Kronprinzenrolle hätte schlüpfen können. Das machte ihn parteiintern fast allmächtig, das machte aber umgekehrt seine Person zu einem umso interessanteren Angriffsziel. Denn es war sehr bald klar, dass die ÖVP ohne Kurz kopflos wird, auch wenn sie wie ein geköpftes Huhn noch eine Zeit lang weiterlaufen würde.

6. Die Rache der Hinausgedrängten Als einziger Bundeskanzler der Geschichte hat Kurz gleich zwei große andere Parteien gegen deren Willen aus der Regierung geworfen. Das war parteitaktisch ein großer Doppelerfolg. Dadurch hat sich Kurz aber gleich beide großen Konkurrenzparteien zu Todfeinden gemacht.

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So berechtigt ihm und seiner Partei beide Male der Hinauswurf auch erschienen sein mag, bei SPÖ wie FPÖ war seine Person seither als Hauptfeind vorgemerkt. Beide wussten (und sagten es auch): Ihre einzige Chance war: „Kurz muss weg!“

7. Die Folgen der Abhängigkeit von den Grünen Kurz hat sich dadurch nicht nur rachsüchtige Todfeinde geschaffen, sondern auch von der einzigen verbleibenden Partei abhängig, um nicht zu sagen erpressbar gemacht, mit der eine Koalition noch möglich war. Die Grünen sind aber ausgerechnet jene Partei, die der ÖVP unter allen politischen Konkurrenten ideologisch (wenn auch nicht unbedingt soziologisch) weitaus am fernsten steht. Emotional war Kurz aber auch für die Grünen der Hauptfeind geblieben. 

8. Die Rache der SPÖ Die  SPÖ wäre 2017 zweifellos  in der Regierung verblieben, hätte Kurz nicht gegen die große Koalition revoltiert. Daher war für sie die Schwächung der ÖVP nur das zweitwichtigste Ziel, wichtiger war die Rache an Kurz. Es gibt nur eine einzige Episode im Nachkriegsösterreich, da die Fußtruppen einer Partei ähnlich auf den Abschuss eines bestimmten Politikers einer Gegenpartei versessen waren. Das waren im Jahr 1966 die Anhänger der ÖVP, die vom Wahlsieger Josef Klaus in Sprechchören forderten, dass der SPÖ-Justizminister Christian Broda wegmüsse. Das war freilich skurril: Die von Jahrzehnten einer großen Koalition geprägten ÖVP-Anhänger haben damals einfach übersehen, dass ein absoluter Wahlsieger eigentlich gar keinen Minister einer anderen Partei benötigt. Hingegen hatte man vor der Wahl umso genauer sehen können, wie wichtig für die SPÖ (schon damals) die Instrumentalisierung der Justiz gewesen ist – siehe die Justizkampagnen gegen Franz Olah und Otto Habsburg. Zurück ins 21. Jahrhundert: Nach dem Scheitern von OrangeSchwarz im Jahr 2006, nach dem spektakulären Tod des Jörg Haider, nach

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der medial erfolgreichen, wenn auch nie bewiesenen Kriminalisierung des Eurofighter-Kaufes und nach der – wenn auch noch keineswegs rechtskräftigen – Vernichtung des Karl-Heinz Grasser durch die Korruptionsstaatsanwaltschaft war die ganze SPÖ überzeugt, dass es nie wieder ein SchwarzBlau geben könnte (oder welche andere Farbe sonst die beiden Lager gerade tragen …). Diese Perspektive hatte für die SPÖ 2006 bis 2017 einen komfortablen strategischen Ausblick auf ein ewiges Regieren bedeutet: Entweder sie regiert mit der ÖVP oder wechselt zu einer Linkskoalition, falls es für eine solche einmal eine Mehrheit geben sollte. Schwarz-Blau war hingegen unter ÖVP-Obmännern wie Reinhold Mitterlehner völlig undenkbar. Erst Kurz hat diese Regel gebrochen, so wie einst Schüssel. Auch daher musste er weg. Nachdem er weg war, schien die frühere SPÖ-Doppelmühle tatsächlich wiederhergestellt. Ein Zusammengehen von Karl Nehammer und Herbert Kickl ist tatsächlich undenkbar. Dafür sorgen schon die ressortbezogenen Kämpfe der beiden Ex-Innenminister; dafür sorgt die Corona-Radikalisierung von Kickl; dafür sorgt die Political Correctness von Nehammer. Das Blöde für die SPÖ war nur, dass nach dem FPÖ-Aus nicht sie, sondern die Grünen als Regierungspartner der ÖVP zum Zuge gekommen sind. Das war nicht nur neuerlich demütigend für die SPÖ, das war auch tatsächlich nach der politischen Logik erstaunlich, sind doch ÖVP und Grüne jene zwei Parteien, die im Parteienspektrum inhaltlich am weitesten auseinander sind, spielen doch die bei den Grünen verhassten Grundpfeiler wie Marktwirtschaft, Bauern und christliches Familienbild bei der ÖVP eine noch weit größere Rolle als bei der FPÖ, dem „offiziellen“ Hauptfeind der Grünen. Und in Sachen Anti-Migration, Law and Order und Heimatverbundenheit sind Schwarz und Blau etwa gleich. Auch die Koalition mit den Grünen war (noch) ein Werk von Kurz, während ohne ihn nach der nächsten, wann immer stattfindenden Wahl die Aussichten für ein Schwarz-Rot oder Rot-Schwarz jetzt wieder viel besser sind. Damit hatte die SPÖ gleich einen weiteren Grund für die Rache an Kurz – auch wenn es die Sozialdemokraten 2019 einer Regierungsteilnahme nicht nähergebracht hat.

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9. Die Rache des Herbert Kickl Noch viel enger als die SPÖ ist Herbert Kickl mit dem Slogan „Kurz muss weg!“ verbunden. Das zeigt schon der Anfang 2021 – selbst erteilte – Kampfauftrag. Auch bei vielen FPÖ-Demonstrationen ist dieser Spruch der zentrale Slogan geworden. Dabei war am Beginn des Jahres eigentlich noch ein anderer Kampfauftrag für Kickl viel wichtiger, von dem er aber naturgemäß nie offen sprach: Das war die Absetzung von Norbert Hofer als Parteichef, damit Kickl selber Parteichef werden kann. Beide Kampfaufträge sind aber ohnedies miteinander verquickt. Hat es doch zwischen Hofer und Kurz immer konstruktive Kontakte gegeben. War doch nach der Wahl 2019 eine neuerliche schwarz-blaue Koalition durchaus noch vorstellbar – hätte es nicht die Person Kickl gegeben. Weil dessen Politikstil eigentlich nur für eine Oppositionsrolle geeignet ist, weil die ÖVP die Verwundungen durch den einstigen Hinauswurf Kickls nie elegant aus der Welt hat schaffen können, und weil Kickls Corona-Verhalten – inzwischen – völlig inakzeptabel geworden ist. Kickl musste umgekehrt aus Eigeninteresse sowohl gegen Hofer wie auch gegen Kurz sein. Tatsächlich waren beide Ende 2021 nicht mehr Parteichefs. Während der Abschuss von Kurz auf einige Staatsanwälte zurückgeht, konnte Kickl seinen Rivalen Hofer selbst hinausintrigieren. Dafür sorgte vor allem sein radikaler Anti-Corona-Kurs. Kickl mobilisierte gegen Schutzmasken, gegen Tests, gegen Impfungen, gegen alle Maßnahmen – und für eine - höflich ausgedrückt – ungewöhnliche Behandlungsmethode. Er kam damit bei einem kleinen, aber für die FPÖ wichtigen Bevölkerungsteil sehr gut an, aber auch bei etlichen für Verschwörungstheorien anfälligen Linken wie der Ex-Grünen-Chefin Petrovic oder dem Autogegner Knoflacher. Die Ursache, warum für Kickl das „Kurz muss weg!“ so zentral war, liegt aber in den Stunden nach Auftauchen des Ibiza-Videos. Damals war in der Koalition zwar blitzschnell Einvernehmen erzielt worden, dass Strache als Vizekanzler abtreten müsse. Einige Stunden später aber – während draußen die SPÖ-Sympathisanten brüllten „Kurz muss weg!“ – schob der ÖVP-Obmann die Forderung nach, dass auch Innenminister Kickl zurücktreten müsse. Das war ein schwerer Fehler, der gleichzeitig die Koalition demolierte und Kurz einen Todfeind einbrachte. Denn es gab damals keinen konkreten

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Vorwurf gegen Kickl (außer dass er alle nervte). Daher war es für die FPÖ – eine Partei, bei der ein Flügel eine ganz emotionale Bindung zum Begriff „Ehre“ hat – völlig unzumutbar, noch einen zweiten mächtigen Spitzenmann zu opfern. Gleichzeitig war die Argumentation von Kurz fadenscheinig, es ginge nicht, dass ein FPÖ-Mann das Innenministerium leite, wenn gegen den (bisherigen) FPÖ-Obmann zu ermitteln sei. Das dürfte Kurz vor allem auf Rat oder auch auf Druck einiger ÖVP-Landeshauptleute gefordert haben, die dabei auch – wieder einmal – mit dem Bundespräsidenten kooperierten. Alexander Van der Bellen hatte natürlich auch eigene Motive, gegen Kickl zu sein. Diese waren nicht nur parteipolitisch gewesen, sondern wurzelten auch darin, dass Kickl jener Minister gewesen ist, der ihm am offensten Kontra gegeben hatte. Sollte Kurz das Argument von der Unmöglichkeit von Ibiza-Ermittlungen durch einen FPÖ-Innenminister ernst gemeint haben, dann ist er jedenfalls gleich doppelt falsch gelegen: • Dann hat er erstens übersehen, dass seit der Strafprozess-Reform der Minister Böhmdorfer und Strasser die Polizei mit all ihren Abteilungen zum bloßen Erfüllungsgehilfen der Staatsanwälte reduziert worden ist. Daher wäre jedes Bremsmanöver des Innenministers sofort zum dramatischen Skandal geworden. Außerdem können die Staatsanwälte jedes Verhör, jede Hausdurchsuchung und Beschlagnahme selbst durchführen. • Zweitens ist Kurz aber auch unglaubwürdig geworden, als dann Vorwürfe gegen die ÖVP zu untersuchen waren. Dann hätte nach dieser Logik umgekehrt ja auch die ÖVP das Innenministerium abgeben müssen, woran sie nie gedacht hat. Seit jenen Tagen des Jahres 2019 war für Kickl jedenfalls der ganz persönliche Rachebedarf unendlich groß. Und dieser Antrieb richtete sich primär gegen Kurz, weil dieser es ja war, der Kickl hinausgeschmissen hat, egal, wer Kurz diese Forderung in den Kopf gesetzt hat.

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10. Statt Corona sollte Kurz weg Wenige Monate nach der FPÖ-Verabschiedung aus der Regierung ist Corona ausgebrochen. Kickl setzte sehr bald – parteitaktisch nachvollziehbar, wenn auch wenig verantwortungsbewusst – auf den steigenden Frust vieler Bürger und diverse Verschwörungstheorien. Bar jeder Logik zwängte Kickl aber auch alle Anti-Corona-, Anti-Maske-, Anti-Lockdown-, Anti-Impf-Demonstrationen unter das Motto „Kurz muss weg!“. Am Ende war Kurz zwar – aus anderen Gründen – tatsächlich weg, aber die Pandemie unverändert da. Corona war jedenfalls für Kickl fünffach hilfreich: – Er setzte die FPÖ-Anhänger nach der Ibiza-Schockstarre und der Hofer-Noblesse wieder in Bewegung, was für eine ideologiearme politische Bewegung immer essenziell ist. – Er mobilisierte auch in solchen Ecken Wählermassen, die nie blau gewählt haben, sondern eher im esoterisch-alternativen linken Eck stehen oder die als Wirte eigentlich ÖVP-nahe sind. – Er konnte damit Hofer beseitigen, der Corona staatstragend behandelt hatte. – Er konnte die ihm eher skeptisch gegenübergestandenen Burschenschafter parteiintern ins Abseits bringen, weil dort viele Mediziner zu finden sind, die nichts von seinen Corona-Thesen halten. – Und er konnte den aus vielen Quellen gespeisten Corona-Unmut gegen seinen Hassgegner Kurz lenken.

11. Der Exklusivitätsanspruch der Populisten Sind die zuletzt genannten Motive für den Hass auf Kurz bei Rot und Blau unterschiedlich, so ist ihnen ein weiteres wiederum gemeinsam. Das „Weg mit Kurz!“ war für beide im Grund sogar überlebensnotwendig. Denn unter Kurz praktizierte erstmals auch die ÖVP einen kräftigen Populismus. Diesen gab es bis dahin nur bei Rot (seit jeher) und Blau (seit Haider), wenn auch zum Teil mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt. Populismus besteht im Aufstellen von Forderungen und Versprechungen, die kurzfristig bei Wählern gut ankommen, auch wenn klar ist, dass sie mittel- und langfristig nicht funktionieren können. Er äußert sich am häufigsten durch sozi-

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alpolitische Lizitation, die langfristig zu noch mehr Schulden, noch höheren Steuern, zu Inflation, Arbeitslosigkeit und einem Wohlstandsverlust führen muss, die aber kurzfristig Wählergruppen emotional anspricht, weil sie ihnen einen Nutzen vorgaukelt. Seit Sebastian Kurz hat auch die ÖVP einen starken Zug zum Populismus, einen stärkeren als unter allen anderen ÖVP-Obmänner vor ihm. – So setzte sich Kurz im Grund nie – im Gegensatz insbesondere zu Wolfgang Schüssel – für etwas ein, das unpopulär, aber notwendig ist. – So war Kurz bei den Pensionserhöhungen oft großzügiger als die Empfehlungen der Pensionskommission. – So gab es bei ihm nie „Sparpakete“. – So verlangte er nie ernsthaft eine Erhöhung des Pensionsantrittsalters, obwohl fast alle Wirtschaftsexperten sagen, dass das dringend notwendig wäre. Dieser immer auf Umfragen schielende  Kurz-Populismus war zusammen mit seiner charismatisch-sympathischen Wirkung und seinen grandiosen Kommunikationsfähigkeiten für die anderen populistischen Parteien eine fast letale Bedrohung. Können sie doch selbst nicht gut  mit dem früheren Argument der ÖVP arbeiten: „Aber wir sind verantwortungsbewusster“. Auch bei anderen großen Politikern – von Churchill bis Orbán – hat sich gezeigt: Sobald der Konservativismus Werte wie Tradition, Heimat, Familie, Christentum mit sozialpolitischem Populismus verbündet, während er gleichzeitig die Unterstützung durch die Wirtschaft halten kann, wird er als „Compassionate Conservativism“ auf viele Jahre zum schier übermächtigen Gegner. Diese Gefahr spürten Rot wie Blau. Was ein weiteres starkes Motiv für ihr: „Kurz muss weg!“ wurde.

12. Die Rache des Peter Pilz Letztlich ist aber Kurz nicht an der Rache von SPÖ oder FPÖ gescheitert, so laut diese auch verkündet worden ist. Er wurde vielmehr Opfer des Hasses von Peter Pilz, den ihm dieser schon 2019 geschworen hatte. Pilz legte es nur viel raffinierter an als die „Kurz muss weg!“-Sprechchöre. Sein

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Haupterfolg bestand im plötzlichen Wechsel seiner engen Parteifreundin Alma Zadić 2019 ins Lager der mit Peter Pilz verfeindeten Grünpartei und ihr Einrücken ins Justizministerium. Von dort konnte sie dann perfekt die Pilz-Hass-Strategie vorantreiben. Das war „der“ Jackpot für Pilz, der ihn voll über seine Wahlniederlage hinweggetröstet hat. Dieser Bestellung von Zadić zugestimmt zu haben, war umgekehrt der größte Fehler des Sebastian Kurz. Freilich war es ein Fehler, den damals auch sonst niemand in der ÖVP gesehen hat.

13. WKStA: Die tödliche Fehleinschätzung Zadić räumt radikal in zentralen Justizbereichen mit allen Nichtlinken auf, insbesondere dem lange mächtigen Strafsektionschef Christian Pilnacek und dem Leiter der Oberstaatsanwaltschaft Wien, Johann Fuchs. Kurz hat hingegen lange nicht einmal begriffen, dass die beiden das einzige Bollwerk gegen die linksradikale Kampftruppe der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft gewesen sind. Kurz bemerkte viel zu spät, welch massiv ideologischer Antrieb und Hass in dieser WKStA herrscht. Auch die Vernichtung von Karl-Heinz Grasser, eines einstigen bürgerlichen Stars, durch ein über ein Jahrzehnt gehendes Verfahren, das bis heute weit weg ist von einem rechtskräftigen Abschluss, war ihm keine diesbezügliche Lehre. Ebenso wenig war es die Tatsache, wie eng seit Jahren die Informationen zwischen Akten der WKStA und Peter Pilz beziehungsweise dem rotgrünen Zentralorgan „Falter“ geflossen sind. Ebenso wenig hat Kurz – oder seine Berater – beachtet, wie eng Zadić mit Pilz in der gemeinsamen Abgeordnetenzeit kooperiert hat. Ebenso wenig waren ihm die langfristigen Folgen der Tatsache klar, dass erster Chef der WKStA ausgerechnet ein grüner Ex-Abgeordneter gewesen ist.  Diese Fehler dürften erstens mit seinem nicht abgeschlossenen JusStudium zusammenhängen (was bei ihm mehr Hemmungen ausgelöst hat, sich zu Justizthemen zu äußern, als sie die Juristin Zadić, die neuerdings mit schweren Plagiatsvorwürfen zu kämpfen hat, zeigt). Und zweitens waren sie Folge des Versagens einer ganzen Reihe von überforderten ÖVP-Justizministern. Typisch für deren Versagen war die Tatsache, dass Justizminister Jo-

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sef Moser eine Mediation(!) zwischen der WKStA und den übergeordneten Organwaltern ansetzte, statt eine klare Entscheidung aufgrund der vielen bedenklichen Aktionen der WKStA zu treffen. Wer zwischen einer weisungsberechtigten Oberbehörde und einer nachgeordneten Behörde eine Mediation ansetzt, demontiert ganz eindeutig die Oberbehörde – wird sie doch plötzlich als gleichrangig hingestellt. Welche Schlüsselrolle die WKStA im Pilz-Kampf gegen Kurz spielt, ist auch an einem anderen nur scheinbar nebensächlichen Detail abzulesen: Gleich das erste Kapitel in seinem Anti-Kurz-Buch lautet „Die Köpfe der WKStA“! Das ist eine geradezu Freudsche Fehlleistung. Sie enthüllt die Schlüsselrolle der WKStA im Kampf der Kurz-Hasser oder zumindest dem von Pilz.

14. Er oder wir: Angeschossene Feinde sind die gefährlichsten Mindestens zweimal hat Kurz klar seine Aversion gegenüber anderen Akteuren in der politischen Arena zu erkennen gegeben, dann aber nicht die notwendigen Konsequenzen daraus gezogen. Das ist ein doppelter strategischer Fehler. Damit hatte er sich bis zum Ende seiner politischen Karriere Todfeinde geschaffen, die sich für seine Kritik rächen wollten – oder die darin angesichts der Position von Sebastian Kurz eine Dauerbedrohung für sich selbst sahen. Für beide wurde das „Kurz muss weg!“ der unausgesprochene innere Antrieb, auch wenn beide diesen Spruch höchstwahrscheinlich nie verwendet haben. Der erste dieser angeschossenen Feinde war der Europaabgeordnete Othmar Karas, dem es Kurz trotz Meinungsverschiedenheiten ermöglicht hatte, neuerlich auf einem ÖVP-Mandat ins EU-Parlament einzuziehen. Dort hat Karas ständig gegen Kurz intrigiert und praktisch in keiner einzigen Frage das gleiche Ziel wie dieser verfolgt. Der zweite angeschossene Feind war die WKStA. Diese wurde für Kurz ab dem Zeitpunkt, da Kurz in einem vermeintlich vertraulichen Hintergrundgespräch mit Journalisten die „roten Zellen“ in der WKStA kritisierte, der unerbittlichste und letztlich tödliche Gegner. Die schwere Politisierung der WKStA war in Juristenkreisen seit langem kein Geheimnis (auch ich habe sie in meinem Internet-„Tagebuch“ schon lange vor Kurz

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zahllose Male analysiert). Gleichzeitig kursierten in Wien Gerüchte, dass es Strafanzeigen gegen die WKStA-Staatsanwälte und Hausdurchsuchungen bei ihnen geben würde. Daher war für die WKStA-Mannschaft nachvollziehbarerweise im inneren Selbstverständnis klar: er oder wir. Dabei ist letztlich irrelevant, ob Kurz einen konkreten Plan gegen die WKStA gehabt hat (was unwahrscheinlich ist) oder ob er das nur aus Zorn über die einseitigen Aktionen der WKStA gesagt hatte, die jede linke Verschwörungstheorie mit großem Einsatz verfolgt, während sie alle Strafanzeigen gegen die Gemeinde Wien wegen der hunderten Millionen, die im Lauf der Jahre aus deren Imperium korrupt an Medien geflossen sind, voll ignoriert hat. Ab diesem Zeitpunkt war der Impetus der WKStA klar gegen die Person Kurz gerichtet. Und mit den Waffen, die die WKStA durch die Böhm­dorfersche Strafprozessnovelle bekommen hat, führt das für jeden, der in ihr Visier gerät, zur bürgerlichen Existenzvernichtung, die wohlgemerkt ganz ohne Urteil eines Gerichts vollzogen wird. So hat Kurz die letztlich erfolgreichste der vielen „Kurz muss weg!“Aktionen indirekt selbst ausgelöst. Um es martialisch zu formulieren: Tödliche Schüsse kommen fast immer aus einer Richtung, von der man es nicht erwartet und der man sich durch eigene Unachtsamkeit selbst ausgesetzt hat. Auch wenn man – so wie Kurz – noch so vorsichtig zu sein versucht.

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Mit Sicherheit bestens beraten.

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k a t h r i n s ta i n e r - h ä m m e r l e

Toter Oktober Wie die Sozialdemokratie die Koalitionskrise nicht nutzen konnte Pamela Rendi-Wagner löste durch ihr Gespräch mit FP-Chef Herbert Kickl im Herbst 2021 eine erneute Diskussion zur „Vranitzky-Doktrin“ der SPÖ aus. Seit 1986 schließt dieser erst 2004 offiziell beschlossene Grundsatz Koalitionen mit der FPÖ aus, wurde allerdings nie durchgängig auf jeder Ebene eingehalten. Ausnah­ men waren etwa Kärnten, das Burgenland, Linz und Stockerau. Der „Seitentritt“ von Sebas­tian Kurz zugunsten von Alexander Schallenberg beendete alle Versuche eines fliegenden Regierungswechsels auf Basis einer Vierparteieneinigung. Die SPÖ ersparte sich dadurch eine Zerreißprobe, verabsäumte jedoch eine strategisch not­ wendige Klärung. Durch den Kickl-Kurs der FPÖ stellt sich die Koalitionsfrage in naher Zukunft allerdings auch für alle anderen Parteien nicht mehr.

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Österreich erlebte im Herbst 2021 turbulente innenpolitische Tage. Es begann in den frühen Morgenstunden des 6. Oktober mit einer Hausdurch­ suchung der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft im Bundeskanz­ leramt sowie in der ÖVP-Zentrale. Eine Inseratenaffäre und manipulierte Umfragen sollten zunächst zum „Seitentritt“ als Bundeskanzler und schließlich auch zum Rückzug von Sebastian Kurz aus der Politik führen. Doch in den unmittelbar folgenden Stunden waren diese Konsequenzen noch nicht absehbar. Daher lösten die Hausdurchsuchungen in allen Parteien hektische Überlegungen über strategische Optionen aus. Auch in der SPÖ. Drei Tage nach der aufsehenerregenden Razzia traf sich die sozialdemokratische Parteichefin Pamela Rendi-Wagner mit FPÖ-Obmann Herbert Kickl zu Sondierungen. Vom Inhalt des Gesprächs drang wenig nach außen. Doch die Idee war PolitbeobachterInnen klar: Eine Koalition gegen die ÖVP war nur durch eine Einigung zwischen SPÖ und FPÖ möglich. Schließlich gelang am 27. Mai 2019 gemeinsam das erste erfolgreiche parlamentarische Misstrauensvotum der Zweiten Republik gegen einen Bundeskanzler. Bereits damals einte SPÖ und FPÖ die Gegnerschaft zu Kurz und seinem Team. Eine Wiederholung dieses historischen Aktes schien allerdings nicht möglich. So wechselte die FPÖ 2019 eher unfreiwillig die Fronten von einer Regierungspartei zur Oppositionsbank. Zwei Jahre später hingegen regierte Türkis-Grün, und der neue Juniorpartner war zu keinem derartigen Positionswechsel bereit. Die Grünen wünschten sich vor allem den eigenen Verbleib in der Regierung und drängten die ÖVP zwar zu Zugeständnissen, drohten aber nicht offen mit dem Ausstieg aus der Koalition. Mit bundesweit 1.582 neuen Infektionsfällen kündigte sich zudem die nächste CoronaWelle an. Eine erneut vorgezogene Nationalratswahl schien daher keine verantwortungsvolle Option. Keine Partei wollte deswegen das Unverständnis oder den Zorn der Wählerinnen und Wähler riskieren. Ein anderes historisches Experiment auf Grundlage der österreichischen Bundesverfassung bot sich hingegen an: Der fliegende Wechsel von Türkis-Blau zu einer Vierparteienregierung mit Billigung des Bundespräsidenten. Alexander Van der Bellen musste sich mit dieser heiklen Frage letztlich nicht befassen. Seine ehemalige Partei, die Grünen, und die türkise ÖVP behielten das Heft des Handelns in der Hand, mit ihren Forderun-

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gen, ihrer gegenseitigen Loyalität und ihren Personalrochaden. Doch das Treffen zwischen Rendi-Wagner und Kickl erzeugte innerhalb der SPÖ Unruhe. Denn die Frage „Wie hält es die SPÖ mit der FPÖ?“ treibt seit den 1980er-Jahren einen Keil zwischen die Parteiflügel. Um diesen intern schwelenden Konflikt nicht öffentlich diskutieren zu müssen, relativierte Rendi-Wagner ihr Gespräch mit Kickl. Es handle sich um keine Koalitionsverhandlungen, sondern nur um eine Sondierung von Möglichkeiten der Zusammenarbeit im Parlament gegen die türkise ÖVP. Selbst Vizekanzler und Grünensprecher Werner Kogler bekräftigte in einer ORF-Pressestunde am 7. November den Charakter sondierender Gespräche zwischen allen beteiligten Parteien. Da die Frage der Ressortzuteilung noch kein Thema war, wurde auch nicht über eine konkrete Beteiligung der FPÖ verhandelt, so seine Begründung. Die Reaktionen der grünen Basis auf eine Zusammenarbeit mit der FPÖ wären wohl kaum weniger polarisierend ausgefallen als jene der SPÖ-Funktionäre. Ob Schutzbehauptung oder nicht: Die Einigung zwischen SPÖ und FPÖ mit ihren gemeinsam 70 Mandaten war jedenfalls die Voraussetzung für eine Vierparteienkoalition gegen die ÖVP. Ob sie wirklich gelungen wäre und ob die Angst davor Sebastian Kurz zu seinem Rückzug veranlasste, wird sich nie beweisen lassen. Hellseherische Fähigkeiten bewies Rendi-Wagner, als sie bereits am 8. Oktober in der ZiB 2 über einen baldigen Rücktritt von Kurz spekulierte. Sie bekräftigte im Interview – allerdings erst auf Nachfrage –, dass sie als Bundeskanzlerin zur Verfügung stünde. Diese Aussage war nicht anders zu interpretieren als ihre Bereitschaft, sich zumindest zeitlich befristet von der FPÖ unterstützen zu lassen. Doch bereits 24 Stunden später schloss sich das Fenster zur Macht für die SPÖ-Chefin wieder. Statt einer rot-blau-grün-pinken Zusammenarbeit folgte der Außenminister und Kurz-Vertraute Alexander Schallenberg als neuer Bundeskanzler. Er war jene untadelige Persönlichkeit, nach der die Grünen verlangt hatten. Der Fortbestand von Türkis-Grün war gesichert.

Statt Machtübernahme interner Streit Doch in diesen Tagen standen nicht nur die ÖVP und die Regierungskoa­ lition am Scheideweg, sondern auch die SPÖ. Es hätte der Weg ins Bun-

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deskanzleramt sein können – oder zur Spaltung der Partei. Denn im roten Präsidium wurde die Aufnahme von Verhandlungen – selbst informeller Art – keineswegs von allen goutiert, wenn auch die Fronten nicht immer entlang der altbekannten Bruchlinien verliefen. Ein sonstiger Gegner Rendi-Wagners, der niederösterreichische Landesparteichef Franz Schnabl meinte gar: „Gespräche sind nie falsch.“1 Der notorische Rendi-Wagner-Kritiker HansPeter Doskozil, absolut regierender roter Landeshauptmann im Burgenland, drängte hingegen auf rasche Neuwahlen. Insbesondere die Wiener Partei mit Bürgermeister Michael Ludwig und die Gewerkschaft unterstützten hingegen die Idee ihrer Parteichefin für eine Mehrparteienregierung. Obwohl der Plan bereits nicht mehr relevant war, fand die innerparteiliche Diskussion über die Vorgangsweise der Parteichefin eine Fortsetzung. Doskozil meinte, es „war keine strategische Meisterleistung“, sich so früh aus der Deckung zu wagen.2 Mit der Annäherung an die FPÖ habe man an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Die Unterstützer von Rendi-Wagner hingegen argumentierten mit Staatsräson und damit, durch den Rücktritt von Kurz doch gewissermaßen erfolgreich gewesen zu sein. Die Herausforderung sei es aber nun, in einem Showdown im Parlament zwischen den Klubobmännern Kurz und Kickl nicht medial unterzugehen, so ein Funktionär der SPÖ.3 Aber auch die Erwartung, zusehen zu können, wie die Grünen mit dem Schattenkanzler Kurz kämpfen, reizte manche Rote. Sie gaben allerdings keine Antwort auf die Frage nach dem Nutzen, wenn der künftige Wunsch-Koalitionspartner auf diese Weise geschwächt wird. Landeshauptmann Doskozil fand mit seiner Forderung, als „selbstbewusste Partei“ in Neuwahlen zu gehen,4 keine ausreichende Unterstützung im Parteivorstand und behauptete, dies zu akzeptieren.5 Weitere Gründe, die wohl auch hinter der Ablehnung von vorgezogenen Wahlen standen, waren leere Wahlkampfkassen, wenig Hoffnung auf tatsächlich andere rechnerische Möglichkeiten für eine Mehrheit nach der Wahl und nicht zuletzt

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Der Standard vom 11. Oktober 2021, Seite 7. Die Presse vom 11. Oktober 2021, Seite 3 und 5. Die Presse vom 11. Oktober 2021, Seite 3. Die Presse vom 11. Oktober 2021, Seite 5. Der Standard vom 12. Oktober 2021, Seite 6.

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die Furcht vor einer Fortsetzung der endlosen Führungsdebatte in der SPÖ. Eine zentrale Frage lautete zudem, ob die Partei Rendi-Wagner verziehen hätte, was Alfred Gusenbauer, Hans Niessl oder auch Hans-Peter Doskozil getan hatten: mit der FPÖ zu reden oder sogar zu regieren. Im Oktober 2021 wurde es nur ein kurzes Liebäugeln zwischen Rot und Blau. FP-Chef Herbert Kickl trug seinen Teil bei, indem er auf Augenhöhe bei den Gesprächen und bei der Zusammenarbeit pochte. Obwohl zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu jenem radikalen Impf- und Systemgegner mutiert, den er spätestens im Dezember bei den Anti-Corona-Demonstrationen öffentlich zeigte, war klar, dass ihn und Rendi-Wagner mehr als ihre Haltung zum Pandemiemanagement trennte. Dennoch rechtfertigte die SPObfrau ihre Gespräche mit Kickl. „In dieser außergewöhnlichen Situation“ brauche es auch „außergewöhnliche Handlungen“. Dass die Grünen lieber mit Schallenberg weiterregierten als mit den Sozialdemokraten einen Neustart zu wagen, nannte Rendi-Wagner enttäuscht die „Fortsetzung einer Regierungsarbeit mit dem türkisen System“.6

Haider beendete Rot-Blau Um zu verstehen, warum das Gespräch zwischen Rendi-Wagner und Kickl innerhalb der SPÖ derart für Aufruhr sorgte, braucht es einen Blick zurück in die Geschichte, konkret ins Jahr 1986. Am Innsbrucker Parteitag stürzte Jörg Haider den damaligen Vizekanzler Norbert Steger mit einer Kampfabstimmung. Damit drängte Haider nicht nur den liberalen Flügel der Partei zurück, sondern auch die Vertreter der damals regierenden Kleinen Koalition mit der SPÖ. Diese entstand 1983 infolge des Verlusts der Absoluten nach zwölf Jahren und dem darauf folgenden Rücktritt von Bruno Kreisky. Fred Sinowatz führte das rot-blaue Kabinett als Bundeskanzler an, das aus zwölf weiteren SPÖ-Ministern und zwei FPÖ-Ministern neben Norbert Steger bestand. Nach der Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten 1986 und wegen der unglücklichen Rolle der SPÖ in diesem Wahlkampf legte Sinowatz sein Amt zurück. Franz Vranitzky folgte ihm als Bundeskanzler.

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Der Standard vom 11. Oktober 2021, Seite 7.

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Über die Gespräche zwischen Vranitzky und Haider im Vorfeld der Übernahme der FP-Obmannschaft gibt es unterschiedliche Interpretationen. Während der damalige Bundeskanzler in seinen Augen unmissverständlich klarlegte, dass die Koalitionsvereinbarung allein Steger betreffe, behauptete Haider am Parteitag in Innsbruck das Gegenteil. Ob er selbst tatsächlich mit einer Fortsetzung rechnete oder dies nur zur Beruhigung der Anhänger von Rot-Blau in seiner Partei diente, muss offenbleiben. Nach dem Parteitag beendete Vranitzky jedenfalls sofort die Zusammenarbeit und setzte Neuwahlen an. Es wurde ein schmutziger Wahlkampf mit zahlreichen Schmähreden Haiders gegen den Staat, die „Altparteien“ und die „Ausländer“. Kein Wunder also, dass Vranitzky – obwohl die FPÖ als Sieger aus der Wahl hervorging – die ÖVP als Partner bevorzugte und sich mit Alois Mock auf eine Neuauflage der Großen Koalition einigte. Jörg Haider beklagte daraufhin wiederholt eine „Ausgrenzung“ durch die SPÖ. Vranitzky achtete tatsächlich stets auf Distanz zur FPÖ, auch wenn er diese Haltung nie als immer geltende Doktrin seiner Partei etabliert sehen wollte. Doch der Umgang mit den Freiheitlichen prägte über Jahrzehnte auch das Selbstverständnis der österreichischen Sozialdemokraten. Die Freiheitlichen dürfen nicht regieren, und wenn, dann nicht mit Unterstützung der Sozialdemokratie. Das sollte den moralischen Preis einer Beförderung der FPÖ von der Oppositions- zur Regierungspartei in die Höhe treiben. 2004 wurde die bereits landläufig als „Vranitzky-Doktrin“ bezeichnete Ablehnung auf Antrag der Sozialistischen Jugend auch offiziell am Parteitag beschlossen: „Keine Koalition mit einer rechtspopulistischen FPÖ“. Der offizielle Beschluss war allerdings bereits eine Reaktion auf den Bruch dieses politischen Grundsatzes in Kärnten. Dort schloss Peter Ambrozy mit Jörg Haider ein Bündnis, das nicht länger als zwei Jahre halten sollte. Ein Argument für die mit Rotwein gefeierte „Chianti-Koalition“ bot die nach dem Proporzsystem zusammengesetzte Landesregierung. Doch in Kärnten erfolgte nicht der erste Tabubruch. Bereits 2003 hatte sich Alfred Gusenbauer heimlich mit Haider getroffen. Das Gespräch ging als „Spargelessen“ in die Geschichte ein. Nach der verlorenen Wahl in Kärnten musste sich auch der Bundesparteivorsitzende Gusenbauer einer Diskussion über seine Führungsschwäche und taktische Fehlentscheidung stellen. Die Haltungen innerhalb der SPÖ blieben immer gleich: Die Pragmatiker forderten mehr

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taktischen Spielraum, die Dogmatiker setzten sich allerdings per Parteitagsbeschluss durch. Den Ausschlag gab meist der jeweilige Parteivorsitzende. Werner Faymann etwa setzte wieder mehr auf Distanz zur FPÖ. Der Beschluss von 2004 galt für die Bundesebene, nicht für die Länder. So kam es nach der Kärntner „Chianti-Koalition“ 2015 im Burgenland zu einer frei verhandelten Zusammenarbeit zwischen Rot und Blau. Der damalige Landeshauptmann Hans Niessl war ein Befürworter der Öffnung der Partei Richtung FPÖ, während sein Wiener Kollege Michael Häupl dem wiederholt entgegentrat. Doch Niessl brauchte nur einen klaren Juniorpartner als Mehrheitsbeschaffer, während Häupl die Konkurrenz Heinz-Christian Straches um Platz eins fürchten musste. Eine prinzipielle Ablehnung der Zusammenarbeit mit einer Partei ist wohl tatsächlich wenig praktikabel, schränkt sie doch bei Verhandlungen zugunsten der anderen Parteien ein. Besonders deutlich wurde dies bereits im Jahr 1999, als Viktor Klima mit der SPÖ in Opposition gehen musste, obwohl sie die stärkste Partei war. Schließlich hinderte Wolfgang Schüssel keine Doktrin an einer Übereinkunft mit der FPÖ, nicht einmal unter Jörg Haider.

Von der Vranitzky-Doktrin zum Wertekompass Die FPÖ stellte seit der Übernahme durch Jörg Haider 1986 eine immer größere Konkurrenz für die Sozialdemokratie dar. Die rechtspopulistische FPÖ stieg rasch zur Arbeiterpartei auf, und auch die Nachfolger Haiders reklamierten für sich, die „wahren Vertreter des kleinen Mannes“ zu sein. So wählten 2002 noch 44 Prozent der Arbeiterinnen und Arbeiter die SPÖ und nur 10 Prozent die FPÖ. 2013 hatte die FPÖ mit 33 zu 24 Prozent schon die Nase vorn. Die Wählerwanderung zwischen den beiden Parteien wies mit zwei Ausnahmen – 1995 und 2019 – bei jeder Nationalratswahl einen negativen Saldo auf. Ab 1986 verlor die SPÖ insgesamt 1,232.000 Wählerinnen und Wähler an die FPÖ und konnte im Gegenzug nur 448.000 von ihr gewinnen.7 Die Rückeroberung dieser verlorenen Stim-

7 Siehe Haus der Geschichte/SORA: 100 Jahre Wahlverhalten, abrufbar unter: https://www. sora.at/wahlen/index.html (16.12.2021)

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men war regelmäßig eine Ankündigung aller neu gewählten SP-Obleute. Gelungen ist das nur Franz Vranitzky und Pamela Rendi-Wagner. Kein Vorsitzender wagte jedenfalls eine erneute Abstimmung über die „Vranitzky-Doktrin“. Eine Blanko-Anerkennung der FPÖ als politische Partnerin schien unvorstellbar. Gleichzeitig waren die Diskussionen über Bündnisse auf kommunaler Ebene stets unangenehm. So beendete die Linzer SPÖ ihre Zusammenarbeit mit der FPÖ nach der Ibiza-Affäre und kündigte ein freies Spiel der Kräfte an. Bereits 2012 platzte die blau-rote Koalition in Klagenfurt. Maria-Luise Mathiaschitz gelang es 2015, den freiheitlichen Bürgermeister Christian Scheider abzulösen. Der kehrte allerdings 2021 über eine Regionalpartei als Rathauschef zurück. Für den ehemaligen niederösterreichischen SPÖ-Landesgeschäftsführer Robert Laimer war die rot-blaue Kooperation in Stockerau nach den NÖ-Gemeinderatswahlen 2015 sogar „kein Sündenfall” und damit auch kein Bruch mit der Bundeslinie.8 Aufgrund der vielfältigen Interpretationen des Parteitagsbeschlusses suchte die Partei eine Lösung und glaubte, sie 2017 in Form eines „Wer­ te­kompasses“9 zu finden. Das von den beiden SP-Landeshauptleuten Peter Kaiser (Kärnten) und Hans-Peter Doskozil (Burgenland) ausverhandelte Papier versuchte den Verhandlungsspielraum der SPÖ auf Bundesebene auszuweiten bzw. aufrechte und geplante Koalitionen auf Landes- oder Gemeindeebene zu rechtfertigen. Ohne die FPÖ selbst explizit zu nennen, werden im Text Grundprinzipien für die künftige Zusammenarbeit mit politischen Mitbewerbern in Bundes- und Landesregierungen sowie auf Gemeindeebene festgelegt. Um für eine Zusammenarbeit infrage zu kommen, sollen zukünftige Partner bestimmte moralische, ethische und politische Voraussetzungen erfüllen. Immer wieder wird von allen Proponenten betont, dass es sich dabei um Maßstäbe für alle Parteien handle und nicht nur um eine Lex FPÖ. In einer Präambel werden zunächst die Eckpfeiler des politischen Selbstverständnisses zusammengefasst. Sieben Themenfelder definieren dann

8 https://www.diepresse.com/4672366/spoe-rot-blau-in-stockerau-kein-suendenfall 9 Abrufbar unter: https://www.spoe.at/wertekompass/ (16.12.2021)

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jene inhaltlichen roten Grundsätze, die unbedingt von politischen Partnern mitgetragen werden müssen. Die Legitimation einer endverhandelten Koalition benötigt einen möglichst breiten demokratischen Beteiligungsprozess, was wohl eine Abstimmung unter den Parteimitgliedern bedeuten würde. Zwingend vorgesehen ist die Einbindung der Basis allerdings nicht. Eine Zustimmung durch den Parteivorstand oder -ausschuss auf der jeweiligen Ebene (Bund, Länder oder Gemeinden) wird als ausreichend bezeichnet. Die sieben Themenfelder tragen die Überschriften „Unser Österreichverständnis“, „Menschenrechte“, „Österreich als Teil der Europäischen Union“, „Soziale Sicherheit“, „Gleichstellung der Geschlechter“, „Bildung sichert Chancengleichheit“ und „Freiheit der Kunst“. Darin verlangt die SPÖ etwa eine uneingeschränkte Anerkennung der österreichischen Nation, der Bundesverfassung, der Republik, der parlamentarischen Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Neutralität sowie ein Bekenntnis zur Sozialpartnerschaft. Selbst wenn die FPÖ manches anders gestalten würde, ist hier kaum eine grundsätzliche Ablehnung zu erwarten. Das Papier schließt aber eine Zusammenarbeit mit Parteien und Personen aus, „die in irgendeiner Form (rechts-)extreme, faschistische oder anderweitig demokratiefeindliche Haltungen und Strömungen unterstützen“. Manche Mitglieder der FPÖ würden hier wohl eine Diskussion auslösen, auch wenn die FPÖ selbst immer wieder ihre Distanz z. B. den Identitären betont. Das gemeinsame Auftreten bei den Anti-Corona-Demonstrationen und manche Wortmeldung dort von Funktionären der FPÖ – bis hin zu Parteichef Herbert Kickl – würden wohl dennoch einen Bruch der Koalition bedeuten. Der Schutz der Menschen- und Minderheitenrechte sowie das Bekenntnis zur EU als Friedensprojekt hingegen ist sehr vage formuliert und wohl selbst für die FPÖ erfüllbar. Ebenso „die Anerkennung des solidarischen Systems der Arbeitslosen-, Pensions-, Kranken- und Unfallversicherung als auch des Selbstverwaltungsprinzips in der Sozialversicherung“ oder der Schutz und die Stärkung des freiwilligen Engagements, das Ziel der Vollbeschäftigung oder des freien Hochschulzugangs sowie das „Bekenntnis zur regionalen Vielfalt von kulturellen Angeboten, der Vielfalt von künstlerischen Disziplinen und Formen sowie der Vielfalt an Zugängen zu Kunst und Kultur“. Etwas konkreter in Richtung FPÖ ist sicherlich die Formulie-

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rung gedacht, dass Partner „von einer die Menschen verunsichernden Ausgrenzungs- und/oder Sündenbockpolitik Abstand zu nehmen“ haben. Mit diesem Forderungskatalog an künftige politische Partner versuchte die SPÖ ihre pauschale Ablehnung einer Koalition mit der FPÖ vier Monate vor der Nationalratswahl 2017 zu beenden. Hintergrund war sicher der befürchtete eigene fehlende Handlungsspielraum bei Verhandlungen zugunsten einer Zusammenarbeit von Türkis und Blau. Dennoch stand damals auf der Homepage der Partei zu lesen, „eine Koalition mit der FPÖ auf Bundesebene ist nach wie vor äußerst unwahrscheinlich“, weil es u. a. an einem klaren Bekenntnis zu einem gerechten Sozialstaat und einer starken Arbeitnehmervertretung fehle.10 Die Widersprüchlichkeit im Verhältnis zur FPÖ dauerte trotz des „Wertekompasses“ bis heute an.

Herbstkrise ohne Profit für die SPÖ Im Oktober 2021 scheute die SPÖ letzten Endes Neuwahlen. Sie hatte es zwar ohnehin nicht in der Hand, denn ohne die Grünen war eine Mehrheit zur Auflösung des Nationalrates nicht gegeben. Die Entwicklung der Pandemie gibt ihr rückblickend recht, auch wenn sie in einigen Umfragen vorne lag. Doch ohne Wahlkampf lässt sich ein Wahlausgang schwer einschätzen. Ohne unumstrittene Spitzenkandidatin lässt sich eine Wahl schwer gewinnen. Ohne geeinte Partei lässt sich schwer eine Koalition verhandeln. Ohne Antworten auf zentrale Fragen wie Koalition mit der FPÖ oder Zuwanderung lässt sich schwer eine Partei einen. So haben sich manche Versäumnisse unabhängig von der Pandemie gerächt. Für die ÖVP, aber auch die FPÖ war es ein glücklicher Umstand, dass die größte Oppositionspartei nicht die Führung übernahm und sich als Erste einer alternativen Mehrheit präsentierte. Wobei die Zusammenarbeit für manche Beobachter und Parteikenner nach wie vor als zu hoher, eigentlich nicht akzeptabler Preis gesehen wurde. So schrieb Anton Pelinka: „Eigentlich hätte es die große Stunde der Opposition sein müssen.“ Doch das Kokettieren mit der FPÖ hat sowohl der SPÖ als auch den Neos einen

10 https://www.spoe.at/wp-content/uploads/sites/739/2019/02/faq.pdf

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Verlust der Glaubwürdigkeit beschert, meint Pelinka. In seinen Augen wäre allein die FPÖ die große Gewinnerin einer Vier-Parteien-Koalition gewesen, da sie aufgrund ihrer Fremdenfeindlichkeit, ihrer Verbindungen zur extremen Rechten und ihres gesundheitspolitischen Unsinns aus ihrer Isolation befreit würde. Dass SPÖ und Neos 2021 bereit gewesen wären, der FPÖ zu demokratischer Reputation zu verhelfen, zeige ein hohes Maß der Verluderung politischer Kultur. „Es ist alles nur Taktik, nichts ist Strategie: Diesen Vorwurf an Sebastian Kurz können SPÖ und Neos nun nicht mehr erheben. Sie haben den Großmeister der inhaltlichen Leere zu imitieren versucht. Sie habe (sic) nur an das Morgen gedacht und das Übermorgen ausgeblendet. Und die FPÖ? Der wäre – fast – ein strategischer Erfolg in den Schoß gefallen.“ 11 Die Oppositionsparteien konnten die Oktoberkrise nicht nutzen, sie ging an ihnen vorüber. Vielleicht war es wirklich die einzige Option, dass die Grünen und der Bundespräsident handelten. So muss Pamela RendiWagner noch weiter auf ihre Chance als erste gewählte Bundeskanzlerin hoffen, obwohl – hoffentlich allgemein bekannterweise – in Österreich der Regierungschef nicht gewählt wird. Die vielmehr erforderliche Grundlage einer Mehrheit im Parlament scheint hingegen in weite Ferne gerückt. Dass eine Zusammenarbeit zwischen SPÖ und FPÖ unwahrscheinlicher denn je erscheint, liegt an den handelnden Personen Rendi-Wagner und Kickl, die sich in Themen wie Pandemiemanagement und Migration, aber auch Klimawandel und Gleichstellung beinahe diametral gegenüberstehen. Sie scheitert vor allem an der Entscheidung der FPÖ, sich mit Parteichef Kickl auf einen fundamentalen Oppositionskurs zu begeben, mit Alleinvertretungsanspruch aller Unzufriedenen in diesem Lande. Das schließt die FPÖ für alle anderen als Koalitionspartner aus. Somit verliert die SPÖ im Vergleich zur ÖVP dieses Unterscheidungsmerkmal und wohl auch einen Teil ihres moralischen Anspruchs. In der Nachbetrachtung hätte Rendi-Wagner die Oktoberkrise nutzen sollen, um Klarheit zu schaffen. Dass ihr Tabubruch, mit Herbert Kickl ein Gespräch zu führen, derart ohne Folgen blieb, ist schade. Eine klärende

11 Der Standard vom 14. Oktober 2021, Seite 31.

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Debatte über die zukünftigen Machtoptionen fehlt der SPÖ daher weiterhin für eine stringente politische Strategie. Will die SPÖ als Nummer Eins eine Ampelkoalition mit Grünen und Neos? Will sie zurückkehren zur Zusammenarbeit mit der ÖVP? Wäre sie bereit, dafür auch als Juniorpartner zur Verfügung zu stehen? Oder hofft sie irgendwann doch auf die Unterstützung der FPÖ für die Rückkehr ins Kanzleramt? Wer sich alle Türen offenhalten will, wird am Ende wegen Entscheidungsschwäche scheitern. Pamela Rendi-Wagner hätte sich zumindest in der eigenen Partei mehr Bewegungsspielraum verschaffen können.

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KPÖ-Wiedererwachen? Eine Einordnung der Verklärung „Warum der rote Stern in der Steiermark aufging“ titelte die Kronenzeitung anläss­ lich des Wahlsiegs der Kommunistischen Partei Österreichs bei den Gemeinderats­ wahlen in Graz am 26. September 2021. Der Standard analysierte umgehend die „Rote Revolution“ in Graz und die Presse widmete einen großen Artikel mit dem Titel „Von Stalin zur Caritas: Die KPÖ“ dem „seltsamen Comeback“. Über neue Medien kursierten in Windeseile Fotomontagen vom „Aufsteirern in Graz“ im Stile nordkoreanischer Militärparaden oder eines Plakates mit Sichel und Hammer am Uhrturm. Der Wahlsieg stieß nicht nur national auf großes mediales Echo, sondern katapultierte die zweitgrößte Landeshauptstadt Österreichs auch international abrupt ins Zentrum des Interesses. Damit hatte die ÖVP unter dem seit 2003 amtierenden Bürgermeister Siegfried Nagl ebenso wenig gerechnet wie die Grazer KPÖ unter Stadträtin Elke Kahr selbst. Während der Wahlkampf davor eher als ein „Wahlschlaf“ mit vermeintlich klarem Ausgang gegolten hatte, war man nun in Graz plötzlich hellwach. War die KPÖ aus ihrem Dornröschen-Schlaf in Graz – und darüber hinaus – erwacht? Droht – zumindest der steierischen Landeshauptstadt – eine „rote Gefahr“, nachdem die Kommunisten in Österreich jahrzehntelang völlig aus der Mode geraten und kommunistische Parteien im ehemaligen „Ostblock“ sowie im Land des „großen Bruders“ der Sowjetunion implodiert waren? Welcher „Prinz“ – beziehungsweise wohl eher – welche „Prinzessin“ hatte die KPÖ wachgeküsst? Wie kommunistisch ist die neue Grazer Bürgermeisterin wirklich? Wie hatte sich die Partei seit ihrer Gründung vor mehr als 100 Jahren entwickelt? Der vorliegende Beitrag versucht eine Einordnung der Verklärung im historischen Kontext als Streifzug durch die Geschichte der KPÖ. Schließlich wird Gallionsfigur Elke Kahr immer wieder auf die bronzefarbene Büste von Karl Marx und die Werke von Vladimir Lenin in ihrem Büro oder auch ihren Umgang mit den unter Josip Tito verübten Verbrechen angesprochen. Überbleibsel aus einer „roten Zeitkapsel“, von denen man in Österreich lange annahm, dass sie bereits passé seien.

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„Hoch die sozialistische Republik!“: Von der Gründung der KPÖ bis zu ihrem Verbot Als am 12. November 1918 Franz Dinghofer als Präsident der Provisorischen Nationalversammlung die Republik Deutsch-Österreich ausrief, kam es bei dieser „Taufe“ der Ersten Republik zu einem politischen Eklat: Während der Rede, der eine große Menschenmenge vor dem Wiener Parlament beiwohnte, schnitten plötzlich kommunistische Soldaten den weißen Teil aus der neuen Nationalfahne in Rot-Weiß-Rot heraus und hissten die zusammengeknüpften rote Reste. „Hoch die sozialistische Republik“ hieß ihre Forderung, die sie auf einem Transparent auf der Rampe des Parlaments verlautbarten. Im Fokus stand die Überwindung der kapitalistischen Klassenverhältnisse nach dem Zerfall der Monarchie. Einige dieser Rotgardisten, die wenig später das Parlament stürmten, wollten ihre Resolution zur Gründung einer sozialistischen Republik überreichen. Aus Sicherheitsgründen ließen Parlamentsbedienstete die schweren Rollos vor den Fenstern herunter, was sich wie Maschinengewehrfeuer anhörte. In der Menschenmenge brach Panik aus, es wurde vereinzelt geschossen. Die Ausrufung der Republik war von Gewalt überschattet, Gewalt, die auch für die kommende Zeit prägend sein sollte.1 Nur wenige Tage zuvor, am 3. November 1918, war die Kommunistische Partei Österreichs entstanden, gegründet von rund 50 Revolutionären am linken Rand der Sozialdemokratie. Der sozialdemokratische Politiker Friedrich Adler hatte abgelehnt, sich an die Spitze einer solchen Bewegung zu stellen. Links von der Sozialdemokratie mit ihrer austromarxistischen Strategie und radikalen Sprache war ohnedies kein Platz. Die KPÖ ist somit die drittälteste Kommunistische Partei der Welt – nach der russischen und der finnischen. Im März 1919 sollte KPÖ-Mitbegründer Karl Steinhardt beim ersten Weltkongress in Moskau eine Brandrede halten und somit mitverantwortlich sein, dass Vladimir Lenin die Kommunistische Internationale

1 Oliver Rathkolb, Erste Republik, Austrofaschismus, Nationalsozialismus (1918–1945), in: Thomas Winkelbauer (Hg.), Geschichte Österreichs. Stuttgart 2018, S. 477–524, hier: S. 488f.; Hans Hautmann, Die KPÖ in der österreichischen Revolution, in: Manfred Mugrauer (Hg.), 90 Jahre KPÖ. Studien zur Geschichte der Kommunistischen Partei Österreichs. Wien 2009, S. 9–16, hier: S. 11.

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gründete. Doch anders als dieser aufsehenerregende Start der österreichischen Kommunisten vermuten lassen würde, errangen sie in der Ersten Republik nie einen Sitz im Parlament oder im Wiener Gemeinderat. Auch in der österreichischen Arbeiterklasse konnte sich die KPÖ nur marginal verankern. Während sich nach Russland auch in Ungarn ein Rätesystem etablierte, versanken Rätebewegung und Kommunismus in Österreich rasch in einer faktischen Bedeutungslosigkeit.2

Treibende Kraft der illegalen Arbeiterbewegung und des antifaschistischen Widerstandes Paradoxerweise erhielt die Kommunistische Partei Österreichs jedoch einen ungeahnten Aufschwung, als sie infolge der politischen Entwicklung in Österreich hin zur Kanzlerdiktatur unter Engelbert Dollfuß am 26. Mai 1933 per Notverordnung verboten wurde. Während sie im Ständestaat in der Illegalität weiter agierte, avancierte sie zum Sammelbecken junger Linker, die sich nach der Ausschaltung des Parlaments gegen den autoritären Kurs der Regierung wandten. Dabei war die Lage alles andere als einfach: Das im Mai 1933 verhängte Betätigungsverbot wurde von einer Verhaftungswelle begleitet, die auch zentrale Personen wie Parteiführer Johann Koplenig betraf. Insbesondere nach dem Arbeiteraufstand vom 12. Februar 1934 öffnete sich die Kommunistische Partei gegenüber enttäuschten Sozialdemokraten: Rund 12.000 Mitglieder der sozialdemokratischen Partei, vorwiegend Schutzbund-Angehörige, schlossen sich der verbotenen KPÖ an, wodurch sie in kurzer Zeit von 4.000 auf 16.000 Mitglieder anwuchs. Beide Arbeiterparteien im Untergrund waren nun annähernd gleich stark, während das durchschnittliche Stärkeverhältnis zwischen ihnen in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren noch 1:1000 betragen hatte.3 Die So-

2 Hannes Leidinger, „… von vornherein provisorischer Natur“: Rätebewegung und Kommunismus in Österreich 1918–1924, in: Stefan Karner – Lorenz Mikoletzky (Hg.), Österreich. 90 Jahre Republik. Beitragsband der Ausstellung im Parlament. Innsbruck – Wien – Bozen 2008, S. 91–100. 3 Herbert Steiner, Die Kommunistische Partei Österreichs und die nationale Frage, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), „Anschluß“ 1938. Eine Dokumentation. Wien 1988, S, 77–84, hier: S. 79; Winfried R. Garscha, Grundlinien der Politik der KPÖ 1920

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wjetunion nahm viele geflohene Schutzbündler auf, die der Verfolgung im autoritären Ständestaat entgehen wollten. Jene, die nicht weiter in den Spanischen Bürgerkrieg zogen, kamen jedoch vom Regen in die Traufe: Josef Stalin ließ sie als ausländische Spione verhaften und in das Lagersystem GULAG verbringen.4 Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 entwickelte sich die illegale KPÖ zur wichtigsten Kraft im österreichischen Widerstand. Nicht zuletzt, weil der „linke“ Widerstand anderen Gruppierungen wie dem katholisch-konservativen eine wichtige Erfahrung voraushatte: vier Jahre Widerstand gegen den Ständestaat. Keine andere politische Kraft im Land reagierte mit derartiger Vehemenz, Organisation und Mobilisierung zum Widerstand auf das NS-Regime. Keine andere Kraft hatte in der Folge einen höheren Blutzoll zu erleiden.5 Während ihrer Untergrundtätigkeit im Ständestaat waren schon vor 1938 Polizeiakten über führende kommunistische und sozialistische Aktivisten angelegt worden, derer sich die Nationalsozialisten für die sofort einsetzende Verfolgung bedienten.6

„Roter Stern über Österreich“: KPÖ und sowjetische Besatzung Während der NS-Zeit stellte der nationale Befreiungskampf gegen die „hitlerdeutsche Fremdherrschaft“ das zentrale Anliegen des kommunistischen Widerstandes dar, den er mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln voranzutreiben versuchte. Auch führende KPÖ-Funktionäre im Moskauer

bis 1945, in: Manfred Mugrauer (Hg.), 90 Jahre KPÖ. Studien zur Geschichte der Kommunistischen Partei Österreichs. Wien 2009, S. 17–35, hier: S. 26; Barry McLoughlin – Hannes Leidinger – Verena Moritz, Kommunismus in Österreich 1918–1938. Innsbruck – Wien – Bozen 2009, S. 302. 4 Barry McLoughlin, Die Schutzbund-Emigration, in: Barry McLoughlin – Hans Schafranek – Walter Szevera (Hg.), Aufbruch, Hoffnung, Endstation: Österreicherinnen und Österreicher in der Sowjetunion, 1925–1945. Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik, Wien 1997, S. 159–434, hier: S. 344–345. 5 Winfried R. Garscha, Linker Widerstand – „Rote Hilfe“ – Arbeiterwiderstand, in: Stefan Karner – Karl Duffek (Hg.), Widerstand in Österreich 1938–1945. Die Beiträge der Parlaments-Enquete 2005. Graz – Wien 2007, S. 53–62, hier: S. 53–S. 55. 6 Stefan Karner, Widerstand in Österreich – Gedanken zu einem breiten Feld der Forschung, in: Stefan Karner – Karl Duffek (Hg.), Widerstand in Österreich 1938–1945. Die Beiträge der Parlaments-Enquete 2005. Graz – Wien 2007, S. 23–S. 26, hier: S. 24.

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Exil verfolgten dieses Ziel.7 Als Ende März 1945 die ersten Rotarmisten bei Klostermarienberg österreichischen Boden betreten hatten und eine Befreiung Österreichs vom Nationalsozialismus in greifbare Nähe gerückt war, gingen die österreichischen Kommunisten durchaus von einer besonders aktiven Rolle der KPÖ im politischen Wiederaufbau Österreichs aus. Zu dieser Zeit widmete sich Stalin persönlich der österreichischen Frage: Auf der Suche nach einem geeigneten Chef einer Provisorischen Regierung ließ der Kreml-Chef „ein paar nützliche Österreicher“ unter den Exil-Kommunisten in Moskau auswählen und überprüfen. So kehrten am 12. April, am Tag vor der Befreiung Wiens durch sowjetische Truppen, mit Johann Koplenig und Ernst Fischer einige führende kommunistische Vertreter aus dem Moskauer Exil nach Wien zurück. Anders als von ihnen erhofft und eigentlich auch erwartet, betraute Stalin im Endeffekt allerdings keinen der österreichischen Kommunisten mit der Bildung einer provisorischen Regierung, sondern den Sozialdemokraten Karl Renner, der als Staatskanzler von 1918 bis 1920 maßgeblich am Entstehen der Ersten Republik beteiligt gewesen war.8 Die zweite Enttäuschung ließ nicht lange auf sich warten: Der Ausgang der Nationalrats- und Landtagswahlen am 25. November 1945, der ersten freien Nationalratswahlen seit 1930, übertraf die schlimmsten Befürchtungen sowohl der KPÖ als auch des Kremls. Mit nur 5,4 Prozent der Stimmen stellte das Ergebnis einen Schock dar. Im Nationalrat erhielt die KPÖ lediglich vier Mandate, die ÖVP 85 und die SPÖ insgesamt 76. Zwei Jahre lang – bis zum November 1947 – stellte die KPÖ in der von Leopold Figl gebildeten Konzentrationsregierung mit Karl Altmann den Minister für Energiewirtschaft und Elektrifizierung. Dieser legte sein Amt im Kontext der Auseinandersetzung des von der sowjetischen Besatzungsmacht abgelehnten Marshallplans zurück, woraufhin die KPÖ Oppositionspartei wurde. Die KPÖ versank praktisch in der Bedeutungslosigkeit. Dies war

7 Garscha, Linker Widerstand, S. 57. 8 Stefan Karner – Peter Ruggenthaler, Unter sowjetischer Kontrolle. Zur Regierungsbildung in Österreich 1945, in: Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Beiträge. Graz – Wien – München, S. 105–148, hier: S. 108– 110.

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Abb. 1: Gemeinsame Kundgebung von KPÖ und sowjetischer Besatzungsmacht in Leoben, Mai 1945. Quelle: BIK

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nicht nur für die österreichischen Kommunisten besonders schmerzlich, die sich gerade auch vor dem Hintergrund ihres unvergleichlich großen Einsatzes im Widerstand eine aktive Rolle in der österreichischen Nachkriegspolitik erwartet hatten, sondern auch für die sowjetische Besatzungsmacht.9 Die Rechnung, durch Basisarbeit und wirtschaftliche Unterstützung der KPÖ zu einem Wahlerfolg zu verhelfen, war nicht aufgegangen. Ganz im Gegenteil, latenter Antislawismus und das große Feindbild Rote Armee, das auf NS-Propaganda aufgebaut war und sich durch die Übergriffe zu Kriegsende verfestigt hatte, ließen das Stimmungsbarometer zunehmend in Richtung Westen ausschlagen. Negativ wirkten sich zudem der hohe Anteil von KPÖ-Angehörigen in der Wiener Polizei, die sowjetische Wirtschaftspolitik gegenüber Österreich oder die Verhaftungen österreichischer Zivilisten durch die sowjetische Besatzungsmacht aus.10 Auch die Entwicklungen in Österreichs Nachbarschaft trugen keineswegs zur Popularität der KPÖ bei, etwa, als 1948 die Kommunisten in der Tschechoslowakei die alleinige Macht an sich rissen oder als die Sowjets von Juni 1948 bis Mai 1949 die Zufahrtswege nach Berlin blockierten. Während der Blockade musste West-Berlin per Luftbrücke mit „Rosinenbombern“ versorgt werden – ein enormer Prestigeerfolg des Westens und Zeichen dafür, wie sehr die KPÖ als langer Arm Moskaus gesehen wurde.11 Für Wien trafen die Westmächte für alle Fälle entsprechende Vorkehrungen.12 Wie man heute weiß, verfolgten Teile der KPÖ-Führung auf Anraten der Jugoslawen Teilungsszenarien für Österreich. Moskau schob dem aber einen Riegel vor.13

9 Barbara Stelzl-Marx, Stalins Soldaten in Österreich. Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955. Wien – München 2012, S. 155. 10 Harald Knoll – Barbara Stelzl-Marx, Sowjetische Strafjustiz in Österreich. Verhaftungen und Verurteilungen 1945–1955, in: Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Beiträge. Graz – Wien – München 2005, S. 275– 322; Hans Hautmann, Kommunisten und Kommunistinnen in der Wiener Polizei, in: Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, 19. Jg. (2012), Nr. 2, S. 11–23. 11 Manfred Wilke, Der Weg zur Mauer. Stationen der Teilungsgeschichte. Berlin 2011; Mikhail M. Narinskii, The Soviet Union and the Berlin Crisis, 1948–49, in: Francesca Gori – Silvio Pons (Hg.), The Soviet Union and Europe in the Cold War, 1943–53. London – New York 1996, S. 57–75. 12 Erwin A. Schmidl, (Hg.), Österreich im frühen Kalten Krieg 1945–1958. Spione, Partisanen, Kriegspläne. Wien 2000. 13 Peter Ruggenthaler, Warum Österreich nicht sowjetisiert wurde: Sowjetische Österreich-

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Abb. 2: Die sowjetische Wirtschaftspolitik in Österreich trug zur antikommunistischen Stimmung in der Besatzungszeit bei. Quelle: ÖNB

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Hinzu kam die Angst vor einem kommunistischen Putschversuch in Österreich. Als sich nach dem von der österreichischen Regierung verkündeten 4. Lohn-Preis-Abkommen im Herbst 1950 Proteste zu einem Generalstreik ausgeweitet hatten, befürchtete man eine KPÖ-Machtübernahme.14 Mit dem am 15. Mai 1955 unterzeichneten Staatsvertrag und dem Abzug der Besatzungstruppen bis zum 25. Oktober 1955 fiel schließlich die Schutzmantelfunktion der sowjetischen Besatzungsmacht weg. Kommunisten, die in den sowjetisch verwalteten USIA-Betrieben gearbeitet hatten, fürchteten sich vor Repressalien. Und auch die Tatsache, dass erst nach dem Staatsvertrag – zehn Jahre nach Kriegsende – die letzten österreichischen Kriegsgefangenen aus „Sibirien“ heimkehren konnten, führte dazu, dass die KPÖ zunehmend in einen Dornröschenschlaf versank.

Krisen und Konflikte In den Jahrzehnten nach dem Ende der Besatzung verlor die Kommunistische Partei Österreichs weiter an Einfluss. Man hatte sich – so wie die anderen kommunistischen Parteien auch – am Marxismus-Leninismus in der Diktion Stalins orientiert. Nun distanzierte sich die KPÖ in der unter Nikita Chruschtschow eingeleiteten Tauwetter-Periode vom Stalinismus, ohne jedoch die Ursachen oder grundsätzlichen Probleme genauer zu analysieren. Der Ungarn-Krise 1956 folgte die Niederschlagung des Prager Frühlings durch den Einmarsch von Truppen von Warschauer-Pakt-Staaten, welche die KPÖ wie die meisten westeuropäischen kommunistischen Parteien verurteilte. Zugleich führte die Militärintervention 1968 zu einem offenen Ausbruch der „Parteikrise“ innerhalb der österreichischen Kommunisten. Nach einer anfänglichen Verurteilung der Ereignisse schwenkte die KPÖ auf die sowjetische Linie ein. Ernst Fischer, der im April 1945 aus dem Moskauer Exil zurückgekehrt und in der Provisorischen Regierung Renner das Staatssekretariat für Volksaufklärung, Unterricht, Erziehung und

Politik 1945 bis 1953/55, in: Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Beiträge. Graz – Wien – München, S. 649–726, hier: S. 671–673. 14 Ebd.

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Kultusangelegenheiten geleitet hatte, wurde 1969 wegen seiner Kritik am „Panzerkommunismus“ aus der Partei ausgeschlossen.15 Von 150.000 Mitgliedern in den ersten Nachkriegsjahren schrumpfte die KPÖ auf rund 36.000 im Jahr 1965 sowie weiter auf etwa 20.000 im Jahr 1974. Wenig überraschend verschlechterte sich die Lage durch die Implosion des Kommunismus in Osteuropa 1989 noch weiter. Dem Zusammenbruch des Ost-Blocks und der Auflösung der Sowjetunion 1991 folgte eine schwere parteiinterne Krise, verbunden mit dem Austritt zahlreicher Mitglieder. Hinzu kam eine bedrohliche Finanzkrise als Folge der Beschlagnahmung der Vermögenswerte der Firma Novum in der Höhe von etwa 100 Millionen Euro. Die deutsche Justiz hatte 2003 in zweiter Instanz entschieden, dass die ehemalige Firma Novum der SED und nicht der KPÖ gehört hätte. Durch die Vermögensverluste musste die KPÖ alle Beschäftigten kündigen und die Wochenzeitung „Volksstimme“ einstellen. Die Mitgliederzahl sank weiter und beträgt heute rund 2.500 Personen.

Resurrexit: der Sonderweg der Grazer KPÖ Vor dieser historischen Entwicklung stellt sich die Frage, wie ein Wahlsieg der KPÖ bei den Gemeinderatswahlen in Graz 2021 überhaupt möglich war. Wie es einer Partei gelingen konnte, die sich seit Jahrzehnten im permanenten Sinkflug befand und die österreichweit in der Bedeutungslosigkeit verschwunden war, die stimmenstärkste Gruppierung zu werden und den vermeintlich fest im Sattel sitzenden Bürgermeister der ÖVP zu stürzen. Ist Graz anders? Ist die ehemalige „Stadt der Volkserhebung“ zu einer kommunistischen Hochburg geworden, durchdrungen von Idealen von Karl Marx und Friedrich Engels? Welche Faktoren waren maßgeblich für diesen überraschenden Erdrutschsieg der Kommunisten verantwortlich? Der Grazer Soziologe Manfred Prisching schrieb in seinem Gastbeitrag in der Kleinen Zeitung, der Wahltriumph der Grazer Kommunisten

15 Manfred Mugrauer, „Oft setzte man sich über vernünftige Argumente hinweg …“ Die krisenhafte Entwicklung der KPÖ in den Jahren 1968 bis 1971, in: Manfred Mugrauer (Hg.), 90 Jahre KPÖ. Studien zur Geschichte der Kommunistischen Partei Österreichs. Wien 2009, S. 261–S. 318, hier: S. 261, S. 288.

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würde auf einem Missverständnis beruhen: Die Stimmbürger hätten „Politik und Sozialarbeit“ verwechselt und „eine Art Caritas“ auserkoren.16 Auch Günther Haller erklärt in der Presse das seltsame Comeback der KPÖ gleichfalls als Weg „von Stalin zur Caritas“.17 Dem ist wohl als primärem Faktor für den unerwarteten Erfolg zuzustimmen. Die neue Grazer Bürgermeisterin, Elke Kahr, konnte hier auf dem Weg aufbauen, den ihr Vorgänger eingeschlagen hatte: Ernest Kaltenegger hatte 2003 als Wohnbaustadtrat den sensationellen dritten Platz bei der Grazer Gemeinderatswahl und bei der steirischen Landtagswahl im Herbst 2005 den Einzug der KPÖ in einen österreichischen Landtag erreicht.18 Beides dürfte freilich nicht wegen einer massenhaften Bekehrung zur kommunistischen Ideologie mit Wirtschafts- und Europafeindlichkeit gelungen sein. Schließlich landete die KPÖ auch in manch traditionell bürgerlichem Bezirk auf Platz eins. Kaum vorstellbar, dass die viel zitierte „Hofratswitwe“ am – geografisch, nicht politisch gelegenen – linken Mur­ ufer von Kollektivierung und der Durchsetzung anderer marxistischer Visionen geträumt hatte. Die Parteizugehörigkeit hatten die Wähler wohl eher als „unvermeidliches Übel“ gesehen, das „man halt achselzuckend in Kauf nahm“.19 Vielmehr gewann die KPÖ wegen ihrer medial vermittelten und gelebten caritativen Ader: Ab 1998 hatte Kaltenegger mehr als die Hälfte seines Politiker-Einkommens für soziale Zwecke gespendet und einmal pro Jahr am sogenannten „Tag der offenen Konten“ Rechenschaft über die Verwendung abgelegt.20 Auch Elke Kahr führte die medial viel beachtete Praxis fort, einen beachtlichen Teil ihres Nettogehaltes zur unbürokratischen Unterstützung bedürftiger Bürger zur Verfügung zu stellen.21 Selbst aus einfachen Verhältnissen stammend, betonte sie in der „ZiB 2“, den Vergleich mit der Caritas

16 Manfred Prisching, Die Verwechslung von Politik und Sozialarbeit. Gastbeitrag, in: Kleine Zeitung, 28. September 2021, S. 10–11, hier: S. 10. 17 Günther Haller, Von Stalin zur Caritas: Die KPÖ, in: Die Presse, 2.10.2021, S. 31. 18 Ernest Kaltenegger, in: https://de.wikipedia.org/wiki/Ernest_Kaltenegger, abgerufen am 19.1.2022. 19 Haller, Von Stalin zur Caritas, S. 31. 20 Ernest Kaltenegger, in: https://de.wikipedia.org/wiki/Ernest_Kaltenegger, abgerufen am 19.1.2022. 21 Elke Kahr, in: https://de.wikipedia.org/wiki/Elke_Kahr, abgerufen am 19.1.2022.

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„als Ehre“ zu sehen.22 Und Kahr, seit 2005 Stadträtin – zunächst für Wohnbau, dann für Verkehr – punktete mit bürgernaher Mieterschutz-Politik. Es gelang ihr, sich „in den vergangenen Jahren monothematisch, aber nachhaltig als Interessensvertretung der Mieterinnen und Mieter“ zu etablieren. Dies überzeugte 28,8 Prozent der Wähler bei den Grazer Gemeinderatswahlen.23 Manfred Prisching bringt die Verwechslung mit Nächstenliebe auf den Punkt: „Die regionale Bevölkerung war von den unleugbar ‚echten‘ Aktivitäten so beeindruckt, dass sie die ‚Sozialarbeiterin‘ gewählt haben. […] Aber das ist nicht Politik.“24 In diesem Kontext einer zumindest teilweise als „unpolitisch“ zu betrachtenden Wahl ist auch das generelle Wahlverhalten der Grazer an diesem denkwürdigen 26. September 2021 zu sehen: 46 Prozent blieben zu Hause. Vor allem der ÖVP gelang es an diesem Sonntag mit Prachtwetter nicht, ihre Wähler zu mobilisieren, die anscheinend lieber auf die Weinstraße fuhren, als ins Wahllokal zu pilgern. Der „Erdrutschsieg“ der KPÖ ergab sich aus einem Zugewinn von 8,5 Prozentpunkten auf insgesamt 28,84 Prozent, während die ÖVP 11,88 Prozentpunkte verlor und mit 25,91 Prozenten auf den undankbaren zweiten Platz zurückfiel. Die Grünen unter der neuen Spitzenkandidatin Judith Schwentner, der nunmehrigen Vizebürgermeisterin, erreichten mit einem Zuwachs von 6,81 Prozentpunkten auf 17,32 Prozent das bisher beste Ergebnis ihrer Parteigeschichte in Graz.25 Dies bedeutete zugleich auch, dass bei den Wahlen – weil oder obwohl sie zumindest teilweise als „unpolitische Aktivität“ betrachtet wurden – viel vom jeweiligen Spitzenkandidaten abhing. Siegfried Nagl war in seiner beinahe drei Jahrzehnte umspannenden Amtszeit als Persönlichkeit populär. Er brachte 2003 als junger, dynamischer Bürgermeister frischen Wind in die Grazer Stadtpolitik und blühte in seiner Rolle als Stadtoberhaupt auf. Noch am Wahlabend gab er sichtlich enttäuscht bekannt, er werde „seine

22 Haller, Von Stalin zur Caritas, S. 31. 23 David Pesendorfer, Wie kommunistisch ist Elke Kahr wirklich? In: News, 39/2021, S. 24–27, hier: S. 24. 24 Prisching, Die Verwechslung von Politik und Sozialarbeit, S. 10. 25 Grazer Gemeinderatswahl 2021: Wahlergebnisse: https://www.graz.at/cms/beitrag/10378400/11506386/Grazer_Gemeinderatswahl_Wahlergebnisse.html, abgerufen am 25.1.2022.

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schützende und helfende Hand“ von Graz zurückziehen. Damit wird wohl ein Teil der Wähler, die die ÖVP eben nicht gewählt hatten, sondern ihr nur „einen kleinen Denkzettel“ verpassen wollten, nicht gerechnet haben. Stellt sich die Frage, wie kommunistisch die KPÖ in Graz tatsächlich ist und vor allem auch, wie sie mit der kommunistischen Vergangenheit umgeht.26 So sorgten etwa Elke Kahrs Verhältnis zum Kommunismus allgemein und die ihr vorgeworfene fehlende Distanzierung von Verbrechen des Tito-Regimes international für Wirbel.27 Verbrechen seien auch im Christentum passiert, so Kahr in einem Interview.28 Auch der Besuch des KPÖLandtagsabgeordneten Werner Murgg in Minsk im August 2021 stieß nicht nur regional auf Unverständnis.29 Hier kann man gespannt bleiben, ob künftig klar Stellung zu heiklen Themen bezogen oder eher herumlaviert wird. Schließlich bezeichnet sich Kahr selbst als Marxistin, die Politik als „stetigen Klassenkampf“ sieht. Der Marxismus habe sie gelehrt, „warum es in unserer Welt überhaupt ein Oben und Unten, ein Arm und Reich gibt.“30 Damit schließt sich wieder der Kreis hin zur gelebten Sozialarbeit. Welche Formen ein etwaiger „Klassenkampf“ in Graz annehmen wird und ob andere Ideale des realen Kommunismus in Graz realisiert werden, wird sich weisen. Spätestens in vier Jahren, wenn die Wähler wieder zur Urne schreiten.

26 Wahlprogramm KPÖ Graz, in: https://www.kpoe-graz.at/wahlprogramm-gemeinderatswahlgraz21.phtml, abgerufen am 25.1.2022. 27 Bernd Hecke, Gerald Winter-Pölser, Wirbel um „weitere Tito-Episode“ von Kahr, in: Kleine Zeitung, 2.12.2021, S. 27. 28 Das große Interview. Hat Nordkorea schon gratuliert, Frau Kahr?, in: https://www.krone. at/2517918, abgerufen am 25.1.2022. 29 „Lukaschenko-Whitewashing“: KPÖ-Mandatar im Belarus-TV sorgt für Wirbel, in: https:// www.diepresse.com/6040938/lukaschenko-whitewashing-kpoe-mandatar-im-belarus-tv-sorgtfuer-wirbel, abgerufen am 25.1.2022. 30 Pesendorfer, Wie kommunistisch ist Elke Kahr wirklich?, S. 24.

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Wie aus politischen ­Unterstellungstribunalen wieder parlamentarische Untersuchungsausschüsse werden könnten In meinem Beitrag „Wie aus politischen Unterstellungstribunalen wieder Parla­ mentarische Untersuchungsausschüsse werden könnten“ fasse ich in rechtspolitischen Sicht den Ibiza Untersuchungsausschuss des Nationalrats zusammen. Mein Beitrag ist in Ergänzung zum Beitrag von Werner Zögernitz zu lesen, der in diesem Jahr­ buch die Unterschiede zwischen Untersuchungsausschuss und gerichtlichen Verfahren erläutert. Die vom Verfahrensrichter in seinem Bericht vorgestellten Ergebnisse und die vielfältigen Beratungen ohne Ergebnisse führen mich zum Schluss, dass aus dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss ein Unterstellungstribunal wurde. Einlei­ tend stelle ich dann zehn Fragen zu offensichtlich folgenlosen Gesetzwidrigkeiten im strafrechtlichen Vorverfahren an die für die strafrechtlichen Ermittlungen Verant­ wortlichen – ohne sie als strafrechtlicher Laie selbst zu beantworten. Zu den parla­ mentarischen Untersuchungsausschüssen rege ich 10 Gesetzesänderungen an, um in Zukunft dieses Werkzeug des Parlaments Missbrauch sicherer zu gestalten.

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Einsetzung, Ablauf und Ergebnisse des Ibiza Untersuchungsausschusses Das Ibiza Video vom Sommer 2018 Am 17. 5. 2019 veröffentlichten zwei angesehene deutsche Medien einen sieben Minuten dauernden Videoausschnitt von einer strafrechtswidrigen, sieben Stunden dauernden Videoaufnahme, die ohne Wissen oder Zustimmung der Belauschten, also unter Verletzung der ihnen zustehenden Persönlichkeitsrechte angefertigt worden war. Der Ausschnitt zeigte die damaligen Oppositionspolitiker Heinz-Christian Strache (zum Zeitpunkt der Veröffentlichung Vizekanzler in der Regierung Kurz) und Abg. zum Nationalrat, Johann Gudenus im Sommer 2018, vor den Nationalratswahlen, im Gespräch mit einer Frau in einem Anwesen in Ibiza. Die Frau war angeblich Nichte eines russischen Milliardärs und besprach mit den beiden Oppositionspolitikern die gesetzwidrige Erlangung von öffentlichen Bauaufträgen, den verdeckten Kauf eines großen Mediums zur Beeinflussung der Öffentlichkeit, illegale Parteispenden u. a. m. wozu die beiden ihre Bereitschaft zeigten. Am 18. 5. 2019 legten beide (inzwischen Regierungspolitiker geworden) ihre politischen Ämter nieder. In der Folge zerbrach die Regierung Kurz an der von der FPÖ zurückgewiesenen Forderung des Bundekanzlers, dass auch der am Video unbeteiligte Innenminister Herbert Kickl ausscheiden müsse. Es folgten politische Turbulenzen, der Sturz der Regierung Kurz, die Einsetzung einer „Expertenregierung“ und Neuwahlen. Sie brachten einen deutlichen Wahlsieg der von Sebastian Kurz geführten ÖVP und ebenso überraschend den Wiedereinzug der Grünen in beachtlicher Stärke in den Nationalrat. Die Einsetzung des Ausschusses Noch während der Regierungsverhandlungen, die zur Koalition der ÖVP mit den Grünen am 7. 1. 2020 führten, bereiteten SPÖ und NEOS einen Antrag auf einen Ibiza-Untersuchungsausschuss (künftig UA) vor und brachten einen entsprechenden Minderheitsantrag ein. Der Nationalrat setzte dementsprechend am 22. 1. 2021 einen Untersuchungsausschuss betreffend mutmaßliche Käuflichkeit der türkis-blauen Bundesregierung (Ibiza-Untersuchungsausschuss) ein.

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Zum Verfahren des Nationalrats zur Behandlung von UA, die als Minderheitsrecht eingesetzt werden, hat Werner Zögernitz in diesem Jahrbuch eine vollständige und sehr informative Aufstellung zusammengestellt, auf die ich hiermit verweisen kann. Das Verlangen kam in den Geschäftsordnungsausschuss. Dort gelangte die Ausschuss-Mehrheit zum Ergebnis, dass es sich um ein verfassungswidriges Verlangen handle, weil zu viele Gegenstände, die nicht zusammenhängend und nicht abgeschlossen wären, enthalten seien. Anstatt das Begehren deshalb abzulehnen, strich die Ausschuss-Mehrheit den von den beiden Oppositionsparteien verlangten Verhandlungsgegenstand vorerst einmal zusammen. Die verfassungskonformen Teile wurden zu einem neuen Untersuchungs-Gegenstand zusammengekleistert. Der Verfassungsgerichtshof hob diese Entscheidung aus formalen Gründen auf, ohne in der Sache zu entscheiden, weil genau dies die Mehrheit nicht dürfe – die Geschäftsordnung verbietet dies expressis verbis. Die beiden Regierungsparteien nahmen in der Folge den sehr weit gefassten Untersuchungsgegenstand hin. Er betrifft ganz eindeutig nicht einen abgeschlossenen Vorgang, sondern eine Reihe von unabgeschlossenen Vorgängen, die zum Teil sogar erst bewiesen werden sollten: Gesetzeskauf, Postenschacher, illegale Parteienfinanzierung u. a. m. Die Aufklärung, wer die strafrechtswidrige Aufzeichnung zu verantworten habe und von allfälligen politischen Hintergründen führte zur Einleitung eines bis jetzt nicht abgeschlossenen Strafverfahrens durch die Staatsanwaltschaft (künftig StA) Wien. Während in der bisherigen Praxis der UA in der Regel die Opposition die Regierung ebenso geschlossen angriff und sich die Regierungsmehrheit ebenso verteidigte, gab dieser UA ein anderes, neues Bild. Die ÖVP musste in den Regierungsverhandlungen mit den Grünen offenbar hinnehmen – und unterschätzte die Tragweite dieses Zugeständnisses, – dass die Regierungsparteien keine Pflicht zum gemeinsamen Vorgehen und Abstimmen in einem UA vereinbarten. In der Folge stimmten die Grünen in allen wesentlichen Fragen mit der Opposition überein. Der verteidigenden Regierung standen so die Mehrheitsrechte im UA nicht zur Verfügung. Damit war in dieser Sonderform eines UA das innere Gleichgewicht der Verfahrensordnung zwischen Rechten der Minderheit (Opposition) und jenen der Mehrheit (Regierung) nicht gegeben.

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Der Ablauf des Ausschusses: von „Ibiza“ zu „Kurz muss weg!“ Die politische Gesamtlage brachte eine wesentliche Akzentverschiebung des gesamten Ausschusses: Die Antragsteller, unterstützt von Grün und FPÖ, waren immer weniger an den Vorkommnissen in Ibiza interessiert, an der Aufklärung des Zustandekommens des Abhörvorgangs, der Tragweite der darin ins Auge genommenen Gesetzesverletzungen und den sonstigen politisch anfechtbaren Vorgängen. Aus politischer Sicht war nämlich ein Ziel der Opposition schon erreicht: der FPÖ-Obmann gestürzt, die FPÖ aus der Regierung entfernt. Der UA richtete sich zunehmend und ausschließlich gegen die allein stehende Kanzlerpartei ÖVP und ihren in Wahlen unschlagbaren Bundeskanzler. Das politische Ziel wurde daher auch lautstark verkündet: „Kurz muss weg!“ Aufgrund einer Strafanzeige der SPÖ und NEOS-Fraktionsführer im UA ermittelte die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (künftig WKStA) gegen den Bundeskanzler wegen einer behaupteten Falschaussage im Ausschuss (ob Anklage erhoben wird, ist zur Zeit des Redaktionsschlusses des Jahrbuchs noch offen) und von Amts wegen behaupteter Delikte im Zusammenhang mit der Vergabe von Aufträgen zur Meinungsforschung und zu Inseraten in Printmedien. Auch hier läuft noch das Vorverfahren. Die ÖVP sah sich stets mit einer geschlossenen Front der drei Oppositionsparteien und des Regierungspartners konfrontiert. Die FPÖ, deren Spitzen in Ibiza auftraten und den Gegenstand des Videos bildeten, blieb verschont und agierte, als hätte die Partei mit dem Ganzen nichts zu tun. Die FPÖ war für SPÖ und NEOS der Mehrheitsbringer in allen Verfahrensfragen und wurde dafür geschont. Sonst immer wieder ins Eck der demokratischen Schmuddelkinder gestellt, wurde hier die FPÖ plötzlich und nachhaltig zum geschätzten Partner (dem die SPÖ-Vorsitzende zum Sturz von Kurz auch die breitere Zusammenarbeit, also offenbar eine Regierungsbeteiligung anbot). Der Untersuchungsausschuss nahm seine Arbeit am 4. Juni 2020 auf und schloss sie am 22. 9. 2021 ab. Der weit gefasste, m. E. verfassungswidrige Untersuchungsgegenstand wurde abgearbeitet. Auch die StA und die WKStA legten ihre Akten vor. Dabei wurden auch zahlreiche SMS-Nachrichten („Chats“) von Mobiltelefonen dem Ausschuss übermittelt, die von den Behörden beschlagnahmt worden waren. Nach einer Entscheidung

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des Verfassungsgerichtshofes mussten alle „abstrakt relevanten SMS“ dem Ausschuss vorgelegt werden. Dies legten die STA sehr weit aus, z­ ahlreiche Chats kamen in den Akt, die mit dem Untersuchungsgegenstand nicht wirklich zusammenhingen. Diese Chats wurden zum eigentlichen politischen Aufreger, und sie erbrachten als „Beifang“ Hinweise auf strafbare Handlungen außerhalb des Mandats des UA, die von der WKStA aufgegriffen und untersucht wurden. Wer die Geheimhaltungspflichten über die Akten verletzte, wurde nie geklärt, jedenfalls wurden alle noch so geheimen Aktenteile in den Medien veröffentlicht. Journalisten sind durch das Redaktionsgeheimnis wirkungsvoll geschützt und müssen die Quellen ihrer Informationen nicht preisgeben – können also auch rechtswidrig erlangte Informationen abdrucken. Die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen interessieren offenbar nur sie selbst, die zum Freiwild geworden waren. Ihr Grundrechtsschutz wird geopfert. Die Ergebnisse des Ausschusses in der Sicht des unabhängigen Verfahrensrichters Wie es der Verfahrensordnung entspricht, legte der unabhängige und weisungsfreie Verfahrensrichter (seine Tätigkeit wurde allgemein anerkannt) seinen Bericht vor –, jede Partei konnte in eigenen Berichten ihre Sicht der Dinge darlegen. Alle Parteien folgten den gleichen politischen Gesetzlichkeiten und legten dar, dass ihr Standpunkt vom Verfahren bestätigt wurde. Eine Rolle zur Beurteilung, was wirklich die Ergebnisse des Ausschusses waren, spielt nur der Bericht des Verfahrensrichters. Zum Vorwurf des gesetzwidrigen Postenschachers bei der Vergabe eines Vorstands­ mandates in der Casino Austria AG: Der Verfahrensrichter stellte ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen der früheren ÖVP-FPÖ-Regierung und dem Casino-Miteigentümer Novomatic-Konzern fest. Dennoch sei ein konkreter Deal nicht mit Sicherheit feststellbar. Es habe ihn aber sehr wahrscheinlich bei der Postenbesetzung gegeben.

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Zum Vorwurf der Schredder-Affäre als Beweisvernichtung für die Involvierung der ÖVP beim Zustandekommen des Videos: Nach dem Sturz von BK Kurz mussten er und sein Stab ihre Büros sofort räumen. Festplatten in Fotokopiergeräten wurden einer überkommenen Praxis folgend geschreddert. Die Antragsteller behaupteten, dies sei gesetzwidrig zur Beweisvernichtung erfolgt. Dafür, so der Bericht, gäbe es keine Anhaltspunkte. Zum Vorwurf gesetzwidriger Parteispenden für die ÖVP am Rechnungshof vorbei: Weder für ÖVP noch FPÖ gab es Anhaltspunkte für gesetzwidrige Partei­ spenden am Rechnungshof vorbei. Zum Vorwurf des Gesetzeskaufs bei einer Novelle des Glückspielgesetzes und des Privat-Krankenanstalten-Finanzierungsfonds-Gesetzes (Prikraf): Das Glückspielgesetz wurde gar nicht novelliert – wo kein Gesetz, da auch kein Kauf. Das Prikraf-Gesetz wurde tatsächlich geändert, und es hat Interventionen der FPÖ für die dann auch erfolgte Aufnahme der Privatklinik Währing gegeben, wofür im UA-Verfahren eine sachliche Begründung nicht gefunden werden konnte. Die Frage der Bestechung ist gerichtsanhängig. In einem Urteil 1. Instanz (nicht rechtskräftig) wurde der ehemalige FPÖ-Obmann dafür verurteilt. Zu den Folgen des permanenten Konflikts zwischen WKStA und der Weisungsspitze im Justizministerium: Der Bericht stellte ein zerrüttetes Verhältnis zwischen der Weisungsspitze im Justizministerium in der Person des Sektionschefs Dr. Christian Pilnacek und der Oberstaatsanwaltschaft Wien in der Person von OStA. Dr. Johann Fuchs fest. Dies habe aber zu keinen die Verfahren behindernden Weisungen geführt. Die beiden Justizminister Dr. Josef Moser und Dr. Clemens Jabloner (Letzterer in der Regierung Bierlein) hätten aktiver reagieren müssen und seien für das Fortdauern des Missstandes verantwortlich. Der Bericht des unabhängigen Verfahrungsrichters zeigt keine Korruption und keine Gesetzwidrigkeiten, und dennoch gilt in der veröffentlichten Meinung die Schuldvermutung:

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Der Bericht zeigt nach 14 Monaten ständiger Diskussionen und Korruptions-Behauptungen auf, dass es in den zentralen Gegenständen des Ausschusses nicht zu den behaupteten Missständen oder Gesetzwidrigkeiten gekommen ist. Korruption wurde überhaupt nicht nachgewiesen. Bei 4 von 6 Gegenständen gab es keine negative Feststellung. In einem Fall wurde eine starke Abhängigkeit von der Novomatic und die Wahrscheinlichkeit eines Deals angenommen; daran ist aber nichts Gesetzwidriges oder Korruptes. Die Novomatic als österreichischer Minderheitseigentümer der Casinos arbeitete systematisch mit dem anderen österreichischen Minderheitseigentümer, der Republik, zusammen, und zusammen machten sie aus dem Unternehmen, das in tschechische Hände gelangt war, wieder ein österreichisches. Ohne Deal wäre das nicht gegangen, ein Deal war also zielführend und nichts Verwerfliches. Das betraf auch Personalentscheidungen. Die harsche Kritik am Streit innerhalb der Staatsanwaltschaften wurde festgestellt, und dafür wurden zwei Minister politisch verantwortlich gemacht. Dieser Vorwurf hat auch nichts mit Korruption oder Gesetzwidrigkeit zu tun. Die veröffentlichte Meinung hat sich aber in eine konträre Richtung entwickelt. Sie ist überzeugt, dass das politische System der Bundesregierung durch und durch korrupt sei – und insofern ist sie auch ein Opfer der eigenen Berichterstattung. Denn in Österreich hat sich die Praxis eingebürgert, dass über Beschuldigungen und Verdächtigungen ausführlich berichtet wird, mit Zitaten aus an sich geheimen Akten, und der Eindruck dadurch verfestigt wird, all dies sei bereits bewiesenes Faktum – am Ende wird dann in Klammern angemerkt: „Es gilt die Unschuldsvermutung“. In Wirklichkeit zeigte der Bericht des Verfahrensrichters aber auf, dass der Großteil der Vorwürfe Unterstellungen waren. Zwei Jahre Berichterstattung im Sinne der Unterstellungen machte daraus aber eine herrschende Meinung. Verschärft wurde diese mediale Wahrnehmung und Berichterstattung durch das Zusammenwirken mit den staatsanwaltlichen Behörden der Justizverwaltung. In vielen Fällen handelt es sich ja um parallel laufende Verfahren. Der UA prüft die politische Verantwortung, die Staatsanwaltschaft die strafrechtlichen Konsequenzen. Die Justizbehörden sind verpflichtet, so wie alle Verwaltungsbehörden, dem UA die Akten vorzulegen – insbesondere von Ermittlungen im Vorverfahren. Die Staatsanwaltschaften werden regelmäßig mit Strafanzeigen von immunen Abgeordneten befasst, beginnen ihre Ermittlun-

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gen, berichten darüber, alles wird publik und monatelang diskutiert. In der Regel werden die Verfahren dann nach ein- bis zweijährigen Ermittlungen eingestellt. Bis dahin ist aber, trotz des Vermerks der Unschuldsvermutung – durch ausführliche Medienberichterstattung der Eindruck schon verfestigt: der Beschuldigte ist schuldig. Die Vorverurteilung ist zum österreichischen System geworden; dies trotz der ausdrücklichen und sinnvollen Bestimmungen der Strafprozessordnung, dass das Verfahren bis zur Anklageerhebung geheim bleiben müsse. Sinnvoll, denn in mehr als 95 % der Strafanzeigen an die StA besteht gar kein Anfangsverdacht, oder es wird dieser im Zuge der Ermittlungen zerstreut. Warum einen Betroffenen öffentlich machen? Die Praxis des UA in diesem Fall zeigte, dass die Strafverfolgungsbehörden zahlreiche Beschuldigungen angezeigt erhielten oder von Amts wegen Strafverfahren einleiteten. Gesetzeskauf, gesetzwidrige Postenvergabe, illegale Parteispenden, gesetzwidrige Beweismittelvernichtung: all dies wurde zuerst im UA behauptet, untersucht und führte zu Strafverfahren. Am Ende – nach zweijährigem Dauerfeuer in den Medien – die vom Rechtsstaatlichen her schändliche Bilanz: keine Ergebnisse im UA festgestellt, alles Unterstellungen (nur eine nicht rechtskräftige Verurteilung in einem kleinen Detail eines Gesetzeskaufs eines FPÖ-Mandatars), und in den Strafverfahren alles eingestellt (mit der genannten Ausnahme) oder seit Jahren anhängig, ohne Ergebnis. Als aktuelles Beispiel: Zwei Oppositionsabgeordnete zeigten zwei Mitarbeiter des Bundeskanzlers an, sie hätten Festplatten von Geräten im BKA schreddern lassen, um Beweismittel für den UA zu vertuschen. Sie wurden nach einem Jahr entlastet; das Verfahren wurde rechtskräftig eingestellt. Dies hinderte beide Abgeordneten nicht, die Causa später erneut anzuzeigen, weil spätere Aussagen im UA die ursprünglichen Vorwürfe bestätigt hätten. Ein weiteres Jahr verging, Ende Dezember 2021 wurden auch diese Ermittlungen eingestellt. Zwei jüngere Beamte standen zwei Jahre lang am Pranger, vorverurteilt, aufwendige Verteidigungskosten, keine Erstattung, und wenn man die Leute fragt: Natürlich sind, waren sie schuldig – so eine der üblichen sehr aufschlussreichen Leserbefragungen per Internet von „Heute“, z. B. am 5. 1. 2022: Auf die Frage „Ist die österreichische Politik korrupt?“, antworteten 85 % der zigtausend teilnehmenden Leser mit „Ja“!

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Dies in einer Woche, in der hintereinander 3 Verfahren vor der Anklage eingestellt wurden: das Verfahren gegen H. C. Strache wegen angeblicher Bestechung durch einen „Pokerkönig“; gegen zwei Bedienstete des BKA in der Schredder Sache, und ein Verfahren gegen einen Gesundheitsunternehmer in Tirol „Lab Truck“ (letzteres hat nichts mit dem UA zutun, lief aber ähnlich ab). Allgemeine Schlussfolgerung eines politischen Beobachters Ohne konkrete, personifizierte Schuldzuweisung ist aber folgende allgemeine Schlussfolgerung des Beobachters kaum strittig: aus dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss wurde ein parlamentarischer Unterstellungs­ sausschuss. Diese Feststellung wirft zahlreiche Fragen auf, die mit dem Verfahren des UA verbunden sind, und mit damit verbundenen Mängeln, deren Abstellung vielleicht wieder missbrauchssichere UA ermöglicht. Zehn Fragen, die sich dem strafrechtlichen Laien stellen Verbunden damit stellen sich für mich allerdings auch viele Fragen betreffend die Justizverwaltung, die bei dieser Entwicklung eine wichtige Rolle spielten. 1. Wie konnte aus der Unschuldsvermutung des Art. 6. der Europäischen Menschenrechtskonvention im Verfassungsrang in Österreich eine Schuldvermutung werden? 2. Warum werden Verstöße gegen die Unschuldsvermutung nicht geahndet und abgestellt? 3. Warum ist das gesamte Vorverfahren bis zu einer allfälligen Anklageerhebung in clamorosen (also Aufsehen erregenden) Fällen medienöffentlich? 4. Warum können Aktenbestandteile aus Strafakten straflos den Medien zugespielt und von diesen veröffentlicht werden? 5. Warum ist die zwingende Bestimmung der Strafprozessordnung totes Recht, das vorsieht, dass in clamorosen Fällen unabhängige Richter und nicht weisungsgebundene Staatsanwälte den Beschuldigten vernehmen? 6. Warum gelingt es der österreichischen Justiz nicht, die Geheimhaltung von Akten zu gewährleisten?

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Warum sind Beschuldigte im Vorverfahren bis zum Gerichtsverfahren de facto ohne Grundrechtsschutz und können ungeschützt jahrelang am Pranger stehen? 8. Warum werden die angemessenen Anwaltskosten bis zum Gerichtsverfahren, also im Vorverfahren, nicht vergütet, obwohl diese Vorverfahren beliebig lange dauern können – zwei bis drei Jahre sind nicht außergewöhnlich – und für den Beschuldigten hohe Anwaltskosten bedeuten? 9. Warum können in Österreich rechtswidrig beschaffte Beweismittel eingesetzt werden, und warum ist der Internet-Verkehr zwischen Privatpersonen nicht ebenso wirksam geschützt wie die Kommunikation in Briefen und der Telefonverkehr? 10. Warum funktioniert die Rechtsaufsicht innerhalb der Strafverfolgungsbehörden in clamorosen Fällen augenscheinlich nicht? Als Verfassungs- und Verwaltungsrechtler und als politischer Beobachter traue ich mir nicht zu, diese strafrechtliche Rechtsmaterie und Praxis so zu kennen, dass ich die Fragen beantworten könnte. Dazu wäre aber das Justizministerium berufen, dessen leitenden Beamten und dessen verantwortlichen Ministern diese – sagen wir einmal – fragwürdigen Zustände und Behauptungen auffallen müssten und die zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet und berufen sind. Unlängst dazu befragt, meinte laut „Kronen Zeitung“ (siehe unten) „das Ministerium“, dass daran nicht gearbeitet würde – obwohl im Regierungsprogramm vorgesehen –, weil dies nur die effektive Korruptionsbekämpfung behindern würde.

Antwortversuche eines Verfassungsrechtlers zu zehn Fragen betreffend die UA Im Folgenden befasse ich mich daher mit jenen Fragen, welche die Praxis der UA aufgeworfen hat, seitdem derartige Ausschüsse auch von einer Minderheit des Nationalrats eingesetzt werden können.

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Einsetzung und Bezeichnung eines UA Aus einem Mehrheitsrecht wurde daraus durch eine weitgehende Verfassungsänderung ab 2015 ein Recht von 25 % der Abgeordneten. In der Praxis der Sitzverteilung im Nationalrat nach den letzten Wahlen bedeutete dies, dass nur zumindest zwei Parteien gemeinsam das notwendige Viertel erreichten. Daraus wurde eine generelle Frontstellung Regierung – Opposition. Die lange verhandelte Verfahrensordnung gab der Minderheit ein Bündel von Rechten, vor allem das Recht auf Einsetzung, Bestimmung des Titels und des Gegenstands sowie das Recht auf die Ladung von Auskunftspersonen. Die Mehrheit wiederum entscheidet über alle anderen Verfahrensfragen, stellt naturgemäß im Nationalratspräsidium den Vorsitzenden und hat die Möglichkeit, wesentliche Entscheidungen durch den Verfassungsgerichtshof überprüfen zu lassen. Auch die Minderheit hat in bestimmten Fragen dieses Anfechtungsrecht. So wurde in der Verfahrensordnung ein Gleichgewicht zwischen (untersuchter) Regierung und (untersuchender) Opposition hergestellt. Die Lage beim Ibiza-UA ist aber eine einmalige, von niemandem vorausgesehene andere: Die beiden Regierungsparteien sind durch ihre Regierungsvereinbarung nicht zu gemeinsamen Vorgehen verpflichtet. Die Grünen ließen sich ihre Wunschrolle als Kontrollpartei durch die Koalition mit der ÖVP nicht nehmen. Sie behielten sich die freie Abstimmung im UA vor. Genau diese Frage war eines der wesentlichen Probleme, an denen 2003 die von Schüssel versuchte Koalition mit Alexander Van der Bellen gescheitert war. Dies hatte zur Folge, dass die ÖVP als Kanzlerpartei in allen Fragen betreffend den UA keine Mehrheit hatte. So konnte sie beispielsweise die zentrale Frage des Untersuchungsgegenstands nicht vom VerfGH prüfen lassen und musste das von den Grünen offensichtlich unterstützte Begehren hinnehmen, obwohl es den Regeln der Verfassung nicht entsprach. Die erste Forderung nach Änderung der Gesetzeslage lautet also: Die Regierungspartei muss wie jede größere Partei das Recht haben, den VerfGH mit der Frage des Untersuchungsgegenstandes zu befassen. Schon seit eh und je bestand das Ärgernis, dass die Bezeichnung des UA so gewählt werden konnte, dass damit die untersuchte Stelle einer Schändlichkeit bezichtigt werden konnte: z. B. wurde im Ibiza-UA in der Bezeichnung eine mutmaßliche Käuflichkeit der Bundesregierung behaup-

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tet, ohne jede Unschuldsvermutung – das „pickt“. Oder der nächste UA, den wieder zwei Oppositionsabgeordnete verlangt haben: betreffend Klärung von Korruptionsvorwürfen gegen ÖVP-Regierungsmitglieder (ÖVPKorruptions-Untersuchungsausschuss). Die zweite Forderung nach Änderung der Gesetzeslage lautet also: Die Bezeichnung des UA muss so gewählt werden, dass daraus nicht der Anschein einer Vorverurteilung entstehen kann. Gegenstand des Ausschusses Gegenstand des UA kann nur ein bestimmter Vorgang sein. Im Ausschussbericht zur Regelung des Gegenstands von UA heißt es zum Begriff „ein bestimmter Vorgang“: Ein bestimmter Vorgang ist ein bestimmbarer und abgrenzbarer Vorgang in der Vollziehung des Bundes. Die Untersuchung kann mithin nur inhaltlich zusammenhängende Sachverhalte betreffen. „Das Wort ‚ein‘ wird hier als unbestimmter Artikel und nicht als Zahlwort verwendet. Die Forderung eines inhaltlichen, personellen oder zeitlichen Zusammenhangs schließt aus, dass mehrere unterschiedliche Vorgänge oder Themen in einem UA untersucht werden, die nur lose miteinander verknüpft sind.“ Wenn nun mehrere Parteien, im Ibiza-UA waren es im Wesentlichen vier, gemeinsam einen UA unterstützen, versucht jede Partei Dinge untersuchen zu lassen, an denen gerade nur sie ein besonderes Interesse hat. So kam es beim Ibiza-UA zu einer Aneinanderreihung von völlig unzusammenhängenden Gegenständen. Einige davon waren nicht abgeschlossene, noch gar nicht untersuchte, geschweige denn festgestellte Sachverhalte, sondern Vorwürfe, lediglich Behauptungen, die der UA untersuchte wie ein Strafgericht und sich zur gerichtlichen Sachverhaltsfeststellung verstieg. Inhaltlich waren es fünf verschiedene Gegenstände. Der Geschäftsordnungsausschuss stellte dies bei der Behandlung des Verlangens auch fest, seine Antwort war allerdings das Zusammenstreichen der vielen unzusammenhängenden Vorgänge zu „einem bestimmten, abgeschlossenen Vorgang“. Er übersah dabei unverständlicherweise das ausdrückliche Verbot der Geschäftsordnung: Der Ausschuss dürfe nicht ein von ihm formuliertes Verlangen an die Stelle der antragstellenden Abgeordneten setzen. Der VerfG erkannte dies und hob die Entscheidung des GeO-Ausschusses auf. Der Ausschuss hätte nun neuerlich entscheiden müssen – und das Verlangen

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wohl zur Gänze ablehnen müssen. Mit den Grünen war dazu wohl keine Mehrheit zu finden. Der Gerichtshof hatte daher in der Sache selbst gar keine Entscheidungsmöglichkeit bekommen, und die Frage blieb ungeprüft und unbeantwortet. Das Ergebnis: ausufernde Untersuchungen, keinerlei greifbares Ergebnis, Nebensachen erhielten zentrale politische Bedeutung und gestalteten die Medien-Öffentlichkeit. Daher wiederhole ich die erste Forderung nach Änderung der Gesetzeslage: jede Regierungspartei,, die im Ausschuss zum Gegenstand der Untersuchung gemacht wird, und der Verfahrensrichter müssen das Recht haben, die Verfassungsmäßigkeit des Untersuchungsgegenstands vom VerfGH überprüfen zu lassen. Abgrenzungsprobleme mit gleichzeitig laufenden zusammenhängenden Gerichtsverfahren In der Praxis der Untersuchungsausschüsse bestand seit Einrichtung dieses Instruments der parlamentarischen Kontrolle das Problem, dass strafrechtliche Verfahren parallel zu den Verhandlungen des UA liefen. Das bedeutete, dass Beschuldigte im Strafverfahren als Auskunftspersonen im UA sich der Aussage entschlagen konnten. Die Protokolle des UA waren wiederum für die Staatsanwaltschaften interessant. Vorwürfe der Falschaussage konnten erhoben werden. Eine praktische Folge der Vorlage von Akten am Beginn der Ermittlungen durch die StA war sofort erkennbar: das Vorverfahren, das bis zur Anklageerhebung geheim bleiben sollte, wurde dadurch öffentlich. Damit verkehrte sich blitzartig die Unschuldsvermutung in eine Schuldvermutung. Das Beweisen des Vorliegens bestimmter Tatsachen und die strafrechtliche Bewertung liefen wiederum oft parallel mit dem UA und seiner Bewertung. Der UA wurde zum Gericht, wenn er strittige Sachverhalte beweisen und feststellen wollte, wozu sein Verfahren aber nicht taugt. In vielen Fällen hätte der Ausschuss den Ausgang des gerichtlichen Verfahrens abwarten müssen, um einen Vorgang als abgeschlossen zu sehen. Das hätte lange Unterbrechungen zur Folge, die niemand in Kauf nehmen wollte und konnte. Der UA konnte alle Ermittlungsergebnisse der Polizei und der Staatsanwaltschaften anfordern und musste sie erhalten. Geheime Ermittlungsergebnisse fanden sich flugs in den Zeitungen, kein UA war je wasserdicht! Die

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StA und die Polizei mussten alles vorlegen, was für den Untersuchungsgegenstand relevant war. Der Verfassungsgerichtshof legte diese Pflicht derart weit aus (alles auch nur abstrakt Relevante musste dem UA geliefert werden), dass weite Teile gerichtlich beschlagnahmter Informationen vorgelegt werden mussten und dann den Weg in die Medien fanden – was auch von Experten heftig kritisiert wurde: der langjährige Rechtsschutzbeauftragte beim Innenministerium, Univ.-Prof. Dr. Manfred Burgstaller, machte im Rechtspanorama der Zeitung „Die Presse“ vom 5. 7. 2021 den Verfassungsgerichtshof für das damit angerichtete „Schlamassel“ (so Burgstaller) verantwortlich. Eine besonders schändliche Rolle spielen in diesem Zusammenhang manche strafrechtlich und zivilrechtlich immune Abgeordnete durch ihre Strafanzeigen, durch ihre Qualifizierungen, Vorverurteilungen und Schuldzuweisungen trotz der Verfassungspflicht zur Unschuldsvermutung. Sie scheint für den Ausschuss ja nicht zu gelten. Die 3. Forderung nach Änderung der Gesetzeslage betrifft die Einrichtung eines besonderen, rasch wirksamen Grundrechts- und Verfahrensschutzes für Personen, die einerseits staatsanwaltlich Beschuldigte oder Angeklagte und andererseits Auskunftspersonen im UA oder von seinen Untersuchungen Betroffene sind. Sie sollten einen Anspruch auf Grundrechtsschutz einschließlich der Unschuldsvermutung haben. Die Vorsitzführung Bis zur Reform 2015 wurde einer der Abgeordneten des UA zum Vorsitzenden (VS) gewählt. Er gehörte in der Regel jener Partei an, gegen die sich die Untersuchung richtete, bzw. einer der beiden Mehrheitsparteien. Mit wenigen Ausnahmen (Botschafter Dr. Ludwig Steiner, ÖVP-Abg. und VS im Noricum-UA) wurden sie regelmäßig wegen ihrer Vorsitzführung kritisiert. Bei der Reform 2015 scheiterte der Vorschlag, einen unabhängigen, pensionierten Höchstrichter zum Vorsitzenden zu wählen, an der SPÖ. Sie bestand auf einem Abgeordneten – es wurde dann der Präsident des Nationalrats: damit sicherte sich die Kanzlerpartei – damals die SPÖ – den Ausschussvorsitz. Diese Regel begünstigte dann die im Ibiza-UA die zur Kanzlerpartei gewordene ÖVP. Zur Beratung in kniffligen Rechtsfragen wurde dem Präsidenten ein gewählter Verfahrensrichter beigegeben.

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Der Vorsitz durch den Präsidenten hat sich nicht bewährt – er wurde und wird immer der Parteilichkeit geziehen. Er sei nicht unbefangen, müsste also wegen Befangenheit sein Amt zurücklegen. Welch Missverständnis! Wer ist im Ausschuss unparteilich, unbefangen? Doch nur der unabhängige Verfahrensrichter, alle anderen Mitglieder sind Jäger oder Gejagte. Der Präsident gehört einer Partei an und hat volles Stimmrecht – er ist also nie unparteilich, und seine Pflicht ist die Wahrung des Gesetzes und der Verfahrensordnung – der UA ist kein unabhängiges Gericht! Diese Konstruktion hat sich nicht bewährt, wohl aber jene des Verfahrensrichters. Werner Zögernitz stellt in diesem Jahrbuch die Unterschiede zwischen Gericht und UA präzise klar, und unterstreicht damit, dass die Figur der Befangenheit im UA völlig unangebracht ist. Die 4. Forderung nach Änderung der Gesetzeslage: den Vorsitz führt ein Richter außer Dienst, der vom Ausschuss über Vorschlag des Präsidenten nach Beratung in der Präsidialkonferenz gewählt wird. Auskunftspersonen (AP), Rechtsschutz Vom Ausschuss Geladene können sich der Ladung nicht entziehen. Auch die Minderheit hat ein Ladungsrecht. Die Praxis zeigt eine oft willkürliche Handhabung durch die Antragsteller. Bekannt ist die Feststellung eines Höchstrichters: Vor Gericht wird ein angeklagter Mörder besser behandelt, als eine AP im Ausschuss. Gelindere Mittel, wie schriftliche Fragenbeantwortung oder Video-Vernehmung werden regelmäßig verworfen, der Ausschuss ist immer öfter im Machtrausch, vor allem im Ibiza UA hat sich dies gezeigt, in dem die Opposition ein klares politisches Ziel verfolgte – Kurz muss weg – und sich immer mehr zum politischen Tribunal entwickelte. Werner Zögernitz hat in seinem schon erwähnten Beitrag in diesem Jahrbuch die gegenüber der Rechtslage vor der Reform stark verbesserte Rechtslage zum Schutz der AP hingewiesen. Eine wesentliche Rolle spielt dabei der Ausschuss-Vorsitzende, also der Präsident. Er ist aber regelmäßig Zielscheibe nachhaltiger Angriffe durch die Opposition, auch in Fragen, die den Schutz der AP betreffen: Er muss Suggestivfragen verhindern, lässt also Fragen zu oder nicht, wird darob natürlich attackiert und ist daher stark gehemmt. Ein unabhängiger Präsident mit Verhandlungserfahrung würde den Rechtsschutz der AP sofort verbessern. Die Instrumente, schon jetzt verbes-

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sert, müssen weiter nachgeschärft werden, denn die Angriffe auf AP durch die befragenden Abgeordneten haben ein Ausmaß und eine Schärfe angenommen, die unerwartet und unabsehbar war. Dieser rüde und oft ordinäre Stil stellt das Ansehen des ganzen Ausschusses infrage. Weiter unten, bei der Darstellung der Befragungspraxis, wird näher auf das auch bei Werner Zögernitz herausgearbeitete (regelmäßig vorsätzlich missbrauchte) Strategieelement der Fraktionen im Ausschuss hingewiesen: durch wiederholtes Stellen derselben Fragen die AP in Unschärfen zu verwickeln, diese als Widersprüche zu deuten, um sie dann als Falschaussage der Staatsanwaltschaft anzuzeigen. Die 5. Forderung ist jene nach Änderung der Rechtslage: Der Ausschuss hat die Ladung zu begründen und vor allem darzulegen, warum ein gelinderes Mittel, z. B. die schriftliche Beantwortung oder die Video-Befragung nicht genügen. Den Auskunftspersonen sind neben den allgemeinen Kosten auch jene der angemessenen Rechtsvertretung zu ersetzen. Entschlagungsrechte Die bereits geschilderte häufige Parallelität von Strafgericht und UA, also von unabhängigem Gericht und politischem Kontrollorgan, führt in der Praxis immer wieder zu Problemen. Vor allem die Wahrnehmung von Entschlagungsrechten führt immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen; AP wird aus der Entschlagung ein Vorwurf gemacht. Der UA maßt sich immer öfter die Rolle eines Strafgerichts an und setzt das dort laufende Verfahren – ohne die gerichtlichen Schutzrechte für den Angeklagten – aus eigenem Ermessen fort. Hier ist eine rigorose Änderung nötig. Die mancherorts erhobene Forderung, dass im Falle einer strafgerichtlichen Untersuchung deren Gegenstand bis zum Abschluss des Verfahrens nicht in einem UA behandelt werden dürfe, wäre eine saubere Regel, aber im Hinblick auf die Dauer vieler Strafverfahren unbillig. Eine andere Regelung schafft Abhilfe. Die 6. Forderung nach einer Gesetzesänderung: Personen, gegen die als Beschuldigte eine strafbehördliche Ermittlung läuft, dürfen nicht als Auskunftspersonen geladen werden.

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Die Befragungs-Praxis der Abgeordneten Die Rolle eines UA ist politisch, die Fraktionen verfolgen in ihm verschiedenste politische Ziele, und daher sind UA nicht mit gerichtlichen Maßstäben zu messen und auch von Gerichten deutlich unterschieden. Dies müsste in der Befragungspraxis der Abgeordneten zum Ausdruck kommen. Was aber von vielen AP ständig erlebt und beklagt wird, ist das ständige neuerliche Stellen von Fragen, die bereits beantwortet wurden. So wirft man AP auch immer wieder vor, sich in zu vielen Fällen nicht erinnern zu können oder sich zu entschlagen – wenn man aber die Doppel- und Dreifach-Anfragen ausscheidet, schrumpft die Zahl gewaltig. Dies hängt, im harmloseren Fall, damit zusammen, dass eben fünf Fraktionen unabhängig voneinander ein Fragenprogramm ausarbeiten, das sie auch dann durchziehen, wenn die Fragen schon vorher von anderen gestellt wurden. Im heimtückischen Fall ist es aber Teil der Strategie eine AP in unterschiedliche Fragebeantwortungen zu verwickeln und daraus dann Falschaussagen zu konstruieren. Dies ist nicht erst seit dem Ibiza-UA der Fall – ich kann mich an ein derartiges Vorgehen in Ausschüssen schon vor Jahrzehnten erinnern. Die 7. Forderung nach einer Gesetzesänderung: Der Vorsitzende hat das Stellen von Fragen zu unterbinden, die schon früher gestellt und beantwortet wurden. Wenn ein unabhängiger Richter den Vorsitz führt, kann diese Selbstverständlichkeit wirksamer durchgesetzt werden, als derzeit bei einem politischen Vorsitz. Geheimhaltungsschutz beim Durchsickern an die Öffentlichkeit (Leaks) Die Frage der Geheimhaltung von Akten, die dem UA von Behörden vorgelegt werden müssen, begleitet die UA von Anfang an. Die modernen Kopier-, Fotografier- und papierlosen Weitergabe-Möglichkeiten haben das Problem ebenso potenziert, wie die gesamte Digitalisierung der Verwaltung – Stichwort elektronischer Akt. Die Aktenvorlage erfolgt elektronisch, auch die Akteneinsicht dazu Berechtigter (vor allem durch Anwälte von Verfahrensbeteiligten in Strafverfahren und Verwaltungsverfahren, aber dann im Ausschuss auch durch die Abgeordneten und ihre Mitarbeiter). Dazu kommt eine vielfach kritisierte Ausgestaltung der Vorlagepflicht durch

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die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs (siehe die schon erwähnte Kritik von M. Burgstaller), der die Verpflichtung der Behörden unverständlicherweise so weit ausgelegt hat, dass auch nur theoretisch mit dem Untersuchungsgegenstand zusammenhängende Akten vorgelegt werden müssen und vorgelegt werden können. De facto können die Behörden nun vorlegen, was immer sie wollen. Bemühungen eines Ministers, zumindest höchstpersönliche Personalakten vor der Veröffentlichung zu schützen, scheiterten auch am Verfassungsgerichtshof und dem Bundespräsidenten. So wird alles vorgelegt – und da der Gegenstand des UA in der Praxis verfassungswidrig weit gestaltet wird, wie oben beschrieben wurde, ist alles oder nahezu alles vorzulegen … Besonders heikel sind Akten der Staatsanwaltschaften – in der Regel und zwangsläufig voll von Unbewiesenem, Beschuldigungen, Denunziationen, Verleumdungen, höchstpersönlichen Vernehmungsprotokollen. Sie sollten alle von Gesetzes wegen geheim bleiben, finden aber regelmäßig den Weg zuerst in Redaktionen und dann straflos in die Öffentlichkeit. Redaktionen sind vom „Redaktionsgeheimnis“ (gesetzlicher Quellenschutz) wirksam geschützt. Journalisten können auch unter Gesetzesbruch weitergegebene geheime Informationen straflos veröffentlichen. Der im Ibiza-UA etablierte Weg war einfach und vielfach erprobt: ein Abgeordneter, ein Rechtsanwalt, ein Mitarbeiter der Verwaltung, der Strafbehörde oder horribile dictu sogar ein Staatsanwalt (meines Wissens aber nur in einem einzigen Fall bewiesen) geben eine geheime Information einem vertrauenswürdigen Medium bzw. Journalisten, welches bzw. welcher die Information dann veröffentlicht und den Informanten nicht preisgeben muss. Daher bleiben die zahlreichen Durchsickereien sanktionslos. Große Anstrengungen zum Auffinden des gesetzesbrechenden Informanten sind nicht bekannt. An der Geheimhaltung hat ja nur der Betroffene ein Interesse, dessen Recht verletzt wird. Die Medien könnten ohne den ständigen Geheimnisverrat ihre Seiten nicht füllen, und die Öffentlichkeit liebt solche Berichte. Lautstark wird der Gesetzesbruch auch verteidigt: Transparenz über alles! Eine Parteivorsitzende gibt sogar ganz offen die absichtliche verbotene Weitergabe von geschützten Informationen zu („mir kann eh nix passieren“) ein Beitrag zur österreichischen Staatsoperette. Die 8. Forderung nach einer Gesetzesänderung: das gesamte UA Verfahren ist zu durchforsten und Erfahrungen mit dem wirksamen Geheim-

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nisschutz in anderen Demokratien zu sammeln und auch in Österreich umzusetzen. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist endlich in Österreich umzusetzen: Elektronische Daten dürfen nur dann im Verfahren verwertet werden, wenn es um schwere Kriminalität geht. Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung ist zwingend vorzusehen. Davon ist in Österreich noch keine Spur. Problemfall Mobiltelefone Wie bereits einleitend festgehalten, sind die Ergebnisse des Ibiza-UA gering, wenn man die untersuchten behaupteten Vorgänge und die Erkenntnisse zu den anderen, abgeschlossenen Vorgängen aus dem Bericht des Verfahrensrichters zum Maßstab der Beurteilung nimmt. Misst man den UA allerdings an seinen politischen Folgen, so ist er der wirkungsvollste und ergebnisreichste aller Zeiten. Das politische und klar formulierte Ziel der drei Oppositionsparteien: „Kurz muss weg!“ wurde erreicht. Der Kanzler wurde erfolgreich politisch abgeschossen. Die in ca. 20 Wahlen in Bund, Ländern und Gemeinden hintereinander siegreiche ÖVP wurde erfolgreich zum Hauptangeklagten gestempelt. Obwohl kein einziges rechskräftiges Urteil eines Gerichtes zu den zahlreichen Korruptions-Beschuldigungen vorliegt, ist die veröffentlichte Meinung unter Führung des ORF davon mehrheitlich überzeugt, und auch ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung. Andere Minister mussten gehen, oder wichen dem Druck jahrelanger Vorverurteilungen, z. B. der Finanzminister. Die Weisungsspitze im Justizministerium wurde suspendiert und abgelöst – obwohl von einer Anschuldigung freigesprochen –, während ein anderes Verfahren noch lief. Ein Verfassungsrichter musste unter dem Druck von Anschuldigungen zurücktreten, usw. usw. Wie konnte es dazu kommen? Die Antwort ist auf den Punkt gebracht und zusammengefasst einfach: In den zahlreichen Ermittlungsverfahren der Strafbehörden wurden Mobiltelefone von Beschuldigten beschlagnahmt und grenzenlos ausgewertet. Verhängnisvoll erwiesen sich SMS-Botschaften und -Austäusche, sog. „Chats“, in denen zwischen Privat­ personen Informationen und Meinungen ausgetauscht wurden, die nie und nimmer für die Veröffentlichung bestimmt waren. Der Wortlaut solcher Chats wurde dann zu den Akten genommen, wenn er vermutliche Hinweise zu den Gegenständen des UA umfasste oder Hinweise auf sonstige

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strafbare Handlungen gab. Dieser sogenannte „Beifang“ war es, der zu zahlreichen Verfahren führte, in den meisten laufen die Ermittlungen seit nunmehr Jahren, ganz wenige wurden bisher angeklagt, vieles eingestellt, es gibt noch keine einzige rechtskräftige Verurteilung. Aber all diese Chats finden sich in den dem UA vorgelegten Akten und fanden sanktionslos den Weg in die Öffentlichkeit, wie schon oben dargelegt wurde. Eine wahre Fundgrube war das Mobiltelefon eines leitenden Beamten des Finanzministeriums: Er übersah, dass an die 300.000 derartiger Chats zwar von seinem Gerät gelöscht waren, aber in der „Cloud“ auf dem Computer seines MobiltelefonBetreibers in den USA gespeichert waren. Von dort beschaffte sie die Strafbehörde im Rechtshilfeverfahren. Die Verläufe sollten geheim, also privat, bleiben, wurden aber öffentlich, und einige wenige wurden dem Bundeskanzler zum Verhängnis, weil sie von der Sprache her als unangemessen beurteilt wurden. Die zahlreichen Rechtsfragen, die mit der Beschlagnahme und Auswertung von Mobiltelefonen verbunden sind, machen eines deutlich: Die Rechtsordnung ist in Bezug auf elektronische Datenverarbeitung und Digitalisierung noch nicht ausreichend ausgebildet. Der Schutz der persönlichen Freiheit, der Gedankenfreiheit, des Privat- und Familienlebens, wie sie die europäische Grundrechtscharta und die Europäische Menschenrechtskonvention vorsehen und garantieren, ist auf diesem Gebiet kaum vorhanden. Diese Lücke nützen die Behörden aus, wenngleich der Europäische Gerichtshof in einem einschlägigen Fall bereits 2021 entschieden hatte, dass derartige elektronische Daten nur im Fall schwerer Kriminalität herangezogen werden dürften und immer die Verhältnismäßigkeit geprüft werden müsse. Spitzenjuristen aus allen Bereichen haben auf diese klaffende Lücke hingewiesen. So die Strafrechtsprofessorin Dr. Susanne Reindl-Krauskopf, die auch Mitglied des Obersten Weisungsrates beim Justizminister ist, die vor dem einfachen Zugriff der Behörden auf sichergestellte Mobiltelefone warnt und ein Überdenken der Verfahrensregeln im UA fordert (Die Presse, vom 07.06.2021, Rechtspanorama auf S. 13). Ins gleiche Horn stößt etwas später der schon erwähnte Dr. Manfred Burgstaller (Rechtspanorama vom 05.07.2021). Durch eine Änderung der Strafprozessordnung müsse verhindert werden, dass vertrauliche Chats und Mails prominenter Persönlichkeiten im gleichen Ausmaß wie derzeit publik wer-

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den. Schon die Sicherstellung von Daten sollte einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung unterzogen und auf die Verfolgung gravierender Delikte beschränkt werden. Zuletzt hat der Wiener Anwalt Dr. Manfred Ainedter, Präsident der Vereinigung der Strafverteidiger in Wien, darauf gedrängt: Der derzeitige Umgang der Staatsanwaltschaften mit auf Mobiltelefonen gespeicherten Daten (Informationen) ginge über die gesetzliche Ermächtigung hinaus. Die „Absaugung“ von Chats z. B. müsse den gesetzlichen Regelungen zur Telefonüberwachung angeglichen werden. Nur wenn hinreichender oder dringender Tatverdacht bestehe, eine gerichtliche Bewilligung vorliege, und die zu ermittelnden Inhalte genau bezeichnet seien (also „Beifang“-Verbot), sei ein Zugriff zu ermöglichen. Letztlich müsse darüber immer ein Richter entscheiden. Veraktet dürfe nur werden, was strafrechtlich relevant sei, Privates oder ohne Bezug auf das Strafverfahren Stehendes dürfe nicht in den Akt. Dem Justizministerium ist dies offensichtlich nicht wichtig, dort huldigt man der Transparenz. Man wolle die effektive Korruptionsbekämpfung nicht behindern –, so wird das Ministerium in der Kronenzeitung vom 12.01.2022 zur Rechtfertigung der Untätigkeit zitiert. Die 9. Forderung nach einer Gesetzesänderung soll also eine gründliche Überarbeitung der Strafprozessordnung bringen, wie sie die genannten Experten vorschlagen: Sicherstellung der Grundrechte-Standards der Europäischen Grundrechtscharta und der Menschenrechtskonvention bei der Beschlagnahme von Mobiltelefonen, Laptops und und ähnlichen Geräten und Verwertung von elektronischen Daten nur bei schwerer Kriminalität und unter gerichtlicher Aufsicht. Die Tribunalisierung Werner Zögernitz hat in seinem magistralen Beitrag dazu Wichtiges herausgearbeitet. Ein Bündel von Maßnahmen ist erforderlich: wirksame Durchsetzung eines verfassungsgemäßen Untersuchungsgegenstands – ein abgeschlossener Vorgang! Führung des Ausschusses durch einen unabhängigen Richter im Ruhestand! Sachgerechte Gestaltung des Fragerechts der Abgeordneten! Saubere Abgrenzung des Verfahrens des UA von parallel laufenden strafbehördlichen Ermittlungen! Geheimnisschutz!

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Rechtsschutz und Verfahrenskosten Ein zeitgemäßer Rechtsschutz auch im Verfahren vor UA ist unabdingbar. Auch wenn es sich in der Regel nur um AP handelt, so ist dies eine technische Bezeichnung. In der Sache sind sie entweder Beschuldigte, Angeklagte, Zeugen oder alles zugleich. Das Verfahren vor dem UA ist für jeden dort Vorgeladenen brandgefährlich, weil er allzu leicht Opfer von Abgeordneten werden kann, die ihren Rechtsschutz durch die Immunität leider allzu oft für parteitaktische Manöver ausnutzen und dabei von keinen Skrupeln geplagt werden. Die Praxis der UA nach dem neuen Recht nach 2015 hat dies eindrucksvoll unter Beweis gestellt, daher werden in dieser Arbeit auch eine Reihe von Verbesserungen in der Form von Gesetzesänderungen vorgeschlagen: eine davon ist die 10. Forderung nach einer Gesetzesänderung: AP haben das Recht auf anwaltliche Begleitung und vorherige und nachgehende Betreuung: die angemessenen Verfahrenskosten sind dabei zu ersetzen.

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Ein wert(e)neutraler Staatsschutz? Über die Vorstellung von der ­„Entpoliti­sierung“ des Politischen Im Zuge der Reform des in schwere Turbulenzen geratenen Bundesamts für Verfas­ sungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) wurden immer wieder Vorstellungen und Forderungen laut, die Behörde möge durch diese Veränderungen „entpolitisiert“ werden. Der Beitrag greift diese Idee einer „Entpolitisierung“ des Staatsschutzes auf und legt dar, weshalb diese eigentlich kaum mit der Natur einer derartigen Insti­ tution vereinbar ist. Der Autor argumentiert, dass insbesondre im demokratischen Rechtsstaat die Auswahl derjenigen, die mit dem Schutz der Grundordnung des Gemeinwesens betraut werden, nicht nur, aber eben auch eine „politische“ Kompo­ nente hat. Er sieht den besten Weg zu einer „Entpolitisierung“ in der Schaffung von Qualifikationsmöglichkeiten und das verstärkte Engagement aller der bestehenden Rechtsordnung verpflichteten politischen Kräfte im Staatsschutz.

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Sicherheitspolitik ist, genau wie Sicherheitsforschung, in Österreich eher ein Rand- bzw. Nischenthema. Politisch spielen meist anlassbezogen Teilaspekte oder einzelne Phänomene eine Rolle und selbst dies für gewöhnlich nur für einen überschaubaren Zeitraum. „Innere Sicherheit“ als Ganzes war nie Gegenstand einer kontinuierlichen Auseinandersetzung. Wenig verwunderlich also, dass sogar Organisationseinheiten, die im Rahmen der Sicherheitsarchitektur der Republik besondere Aufgaben zu erfüllen haben, meist ebenso nur Beachtung finden, wenn „etwas passiert ist“, zumeist etwas Negatives. Dies galt gleichfalls für den mit dem Schutz des Staates und seiner Verfassung betrauten Teil der Exekutivgewalt, dem nunmehr nicht mehr existenten Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT). Im Jahr 2002 partiell unter dem Eindruck der Anschläge vom 11. September 2001 gegründet,1 wurde hier erstmals eine eigene Organisa­ tionseinheit – wenn auch als nachgeordnete Dienststelle im Innenministerium – geschaffen und verschiedene staatsschützende sowie nachrichtendienstliche2 Aufgaben gebündelt. Trotz seiner wohl unbestreitbar für jedes Gemeinwesen wichtigen und relevanten Funktion führte das BVT zeit seines Bestehens über weite Strecken das oben skizzierte gesellschaftliche und politische „Schattendasein“. Für eine Behörde, die ipso facto die Rolle eines zivilen Inlandsnachrichtendienstes erfüllte,3 wäre dies in der Theorie durchaus passend, doch führte diese „Nicht-Befassung“ gleichzeitig dazu, dass das Amt nicht nur für die Öffentlichkeit und streckenweise für die Politik ein unbekanntes Wesen blieb; es wurden ebenfalls internationale Entwicklungen hinsichtlich des Handwerkszeugs und der Ausbildung nicht nachvollzogen.4 Probleme bud-

1 Vgl. das Vorwort in den Verfassungsschutzberichten 2001, S. 3, und 2002, S. 5. 2 Es gibt einen Unterschied zwischen Geheimdiensten und Nachrichtendiensten, obwohl die Begriffe gerade medial oft synonym verwendet werden: Nachrichtendienste sammeln lediglich Informationen (Nachrichten) und werten diese aus. Geheimdienste haben zusätzlich weiterreichende Befugnisse. Sie führen z. B. verdeckte Operationen aus, die in die Hoheitsrechte anderer Staaten eingreifen. Österreich verfügt nur über Nachrichtendienste. 3 Das BVT und seine organisatorischen Vorgänger waren immer Polizeibehörden mit nachrichtendienstlichen Aufgaben. Allerdings erfüllten sie aufgrund ihres Aufgabenprofils faktisch diese Funktion. 4 Zur Stellung derartiger Organisationen in einem demokratischen Rechtsstaat vgl. Krieger, Wolfgang: Geheimdienste in liberaldemokratischen Staaten, in Voigt, Rüdiger: Staatsgeheimnisse: Arkanpolitik im Wandel der Zeiten, Wiesbaden 2017, S. 225 bis 235.

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getärer, struktureller und personeller Natur wurden so nicht nur nicht angegangen, sondern gleich gar nicht wahrgenommen. Dies änderte sich abrupt, als am 28. Februar 2018 im Auftrag der Wirtschafts- und Korruptionsstaatanwaltschaft eine Hausdurchsuchung im Hauptquartier des BVTs durchgeführt wurde. Das Oberlandesgericht Wien urteilte zwar später, dass diese weitgehend rechtswidrig erfolgte,5 der Schaden war jedoch angerichtet: Im Ausland kam es zu einem Vertrauensverlust, und Partnerdienste fuhren die Kooperation zurück.6 In Österreich selbst wurden die Vorgänge im und um das Amt zum Gegenstand ausführlicher medialer Berichterstattung, eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses und parteipolitischer Auseinandersetzungen. In Folge wurden mehrere (vermutete) Skandale7 bekannt, der Dienst kam kaum noch zur Ruhe. Dem Vernehmen nach trat eine massive Verunsicherung der Mitarbeiter sowie Demoralisierung ein. Als sich dann am 2. November 2020 einer der schwersten Terroranschläge in der österreichischen Nachkriegsgeschichte ereignete und bald bekannt wurde, dass diverse Informationen vorlagen, die es zumindest möglich erscheinen ließen, dass der Anschlag hätte verhindert werden können, war eine Reform unausweichlich. Diese stellte laut Innenministerium die „größte Verfassungsschutzreform der Zweiten Republik“8 dar. Im Zuge derer erhielt Österreich erstmals einen „echten“ zivilen Inlandsnachrichtendienst, allerdings weiterhin nicht als eigenständige Organi-

5 Sowohl die Vorgeschichte, das genaue „Wie und Warum“ es zu der Hausdurchsuchung kam, als auch die Entwicklungen danach sind äußerst vielschichtig und Gegenstand widerstreitender Erzählungen. Eine der umfassendsten Darstellungen findet sich bei Riegler, Thomas: Österreichs Geheime Dienste – Vom Dritten Mann bis zur BVT-Affäre, Wien 2019. 6 Thalhammer, Anna: BVT-Causa: Als sich die Geheimdienste von Österreich abwandten, in: Die Presse online, 21.03.2018; www.diepresse.com/5393081/bvt-causa-als-sich-die-geheimdienste-von-oesterreich-abwandten; O.A., Österreichs Geheimdienst sieht sich international isoliert, Der Spiegel online, 01.04.2019, https://www.spiegel.de/politik/ausland/oesterreichsgeheimdienst-sieht-sich-international-isoliert-a-1260732.html. 7 Als Beispiele seien exemplarisch die Weitergabe nordkoreanischer Passmuster, das Beherbergen eines syrischen Generals in Österreich („Operation White Milk“), die umstrittene Aufbewahrung von Daten, das Aufwerten zur Reparatur anvertrauter Mobiltelefone von Kabinettsmitgliedern mutmaßlich zum Zweck des Verkaufs der Informationen, genannt. Es ist insofern von vermuteten Skandalen zu sprechen, da teils die juristische Aufarbeitung noch läuft und teils das Niveau des Diskurses leider nicht über Schlagzeilen und Schlagabtäusche hinausging. 8 Pressemeldung des Innenministeriums vom 8. Juli 2021.

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sation, sondern als eine der beiden Säulen der neuen Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienst (DSN). Im Rahmen der politischen Auseinandersetzung bis zum B ­ eschluss 9 der Reform im Nationalrat wurde neben Defiziten im Bereich der Ausbildung und mangelnden Sicherheitsstandards immer wieder der mediale und politische Vorwurf erhoben, dass eine der R ­ egierungsparteien, namentlich die Österreichische Volkspartei (ÖVP), die von März 2000 bis Dezember 2017 und wieder ab Jänner 2020 den Innenminister stellte, Führungspositionen, sowie andere Stellen, in diesem äußerst sensiblen Bereich vor allem nach Parteizugehörigkeit oder zumindest (Partei-)Gunst vergeben hätte, worunter zusätzlich die Qualität des Personals gelitten hätte.10 Als Konsequenz wurde eine Objektivierung der Auswahl der Mitarbeiter sowie eine klarere Vorgabe hinsichtlich formaler Qualifikation und Ausbildungsstandards gefordert.11 Die „Entpolitisierung“ des österreichischen Staatschutzes wurde zu ­einem viel gebrauchten Schlagwort. Letztendlich wurde diese nicht nur von der Opposition verlangt, sondern ebenfalls von der Regierung verkündet – wenn auch auf die Führungsebene beschränkt: Die neuen gesetzlichen Vorgaben besagen, dass künftig ein direkter Wechsel aus der Bundesregierung, einer Landesregierung oder dem Nationalrat, dem Bundesrat, einem Landtag, einem Gemeinderat und den Wiener Bezirksvertretungen in die (obers­ten) Leitungsfunktionen der neuen Behörde ausgeschlossen ist. Für die meisten dieser Institutionen gibt es außerdem ein Verbot innerhalb von

9 Trotz der teils kontroversiell geführten politischen Auseinandersetzung wurde nach dem Beschluss die äußerst produktive Zusammenarbeit zwischen allen Parlamentsparteien hervorgehoben. 10 Selbiges wäre natürlich für ein Gemeinwesen in einem modernen demokratischen Rechtsstaat nicht tragbar. Dass die Rolle eines Inlandnachrichtendienstes bzw. Verfassungsschutzes gleichfalls in anderen Ländern gerade im Hinblick auf die politische Komponente und die politische Willensbildung kritisch bis problematisch gesehen wird, ist evident. Vgl. dazu die Beiträge in Lange, Hans-Jürgen/Lanfer, Jens (Hg.): Verfassungsschutz. Reformperspektiven zwischen administrativer Effektivität und demokratischer Transparenz, Wiesbaden 2016, oder Murswiek, Dietrich: Verfassungsschutz und Demokratie. Voraussetzungen und Grenzen für die Einwirkung der Verfassungsschutzbehörden auf die demokratische Willensbildung (= Schriften zum Öffentlichen Recht 1416), Berlin 2020. 11 Ebenfalls erweitert wurde die Sicherheitsüberprüfung der Mitarbeiter. Deren bisherige Ausgestaltung war einer der Kritikpunkte der ausländischen Partner.

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drei Jahren, nachdem man ihnen angehört hat, eine dieser Leitungsfunktionen im DSN einzunehmen.12 Es stellt sich die Frage, wie relevant diese neue Regelung in der Praxis sein wird, denn es war nie Gegenstand der Kritik, dass bisher Bundesminister, Landesräte oder Mandatare reihenweise von ihren politischen Posten direkt ins BVT wechselten, um dort fortan Führungspositionen zu besetzen. Vielmehr war teils eher allgemein von (vermuteten bzw. behaupteten) „schwarzen Netzwerken“ die Rede, die das BVT bzw. das gesamte Innenministerium durchzögen.13 Tatsächlich wurde mit dem Schlagwort „Entpolitisierung“ die Vorstellung und daraus abgeleitet die politische Forderung transportiert, dass der Staatschutz (hinkünftig) von Personen erledigt werden solle, die zwar Fachleute auf ihrem jeweiligen Gebiet sind, aber in ihrer Weltanschauung wertneutral sein sollten bzw. deren persönliche Einstellungen für ihre behördliche Tätigkeit keinerlei Rolle spiele. Diese Vorstellung ist bei nüchterner Betrachtung nicht nur im Kontext der österreichischen Gegebenheiten und staatlichen Realverfassung, sondern ganz allgemein im Zusammenhang mit den konkreten Aufgaben, die vormals das BVT und nunmehr die DSN erfüllen sollte bzw. woll, insb. die Bekämpfung des Extremismus jeglicher Couleur, lebensfremd. Die Idee

12 § 2 Abs. 3 Staatsschutz- und Nachrichtendienst-Gesetz. Weshalb hier zwischen direktem Wechsel und „Cooling-off“-Phase unterschieden wurde, ist aus den Erläuterungen zum Gesetzestext nicht ersichtlich. Vgl. 937 der Beilagen XXVII. GP – Regierungsvorlage – Erläuterungen zu § 2 Abs. 1 bis 3 13 O. A.: BVT-Ausschuss wühlt in politischen Netzwerken, in: Salzburger Nachrichten online, 13.02.2019, www.sn.at/politik/innenpolitik/bvt-ausschuss-wuehlt-in-politischen-netzwerken-65666704; Thalhammer, Anna/Postl, Elisabeth: BVT soll Infos für den ÖVP-Wahlkampf geliefert haben, Die Presse online, 07.05.2019 www.diepresse.com/5624297/bvt-soll-infos-fuer-denoevp-wahlkampf-geliefert-haben; Sterkl, Maria: BVT-Ausschuss: Manche Erinnerung verblasst schnell, Der Standard online, 21.05.2019 www.derstandard.at/story/2000103578805/manche-erinnerung-verblasst-schnell; Schmid, Fabian: Kritiker orten im Innenministerium „ÖVP-Netzwerke“, Der Standard online, 31.07.2019, www.derstandard.at/story/2000106908495/kritiker-orten-im-innenministerium-oevp-netzwerke; O. A.: „Geht um Ursache, nicht um Netzwerke“, orf.at, 16.11.2019 ; orf.at/stories/3144452/. Erstaunlich differenziert zu den Usancen der Zweiten Republik: Klenk, Florian: Polizisten, legt das Parteibuch weg!, in: Falter 38/21 vom 22.09.2021 www.falter.at/zeitung/20210922/polizisten--legt-dasparteibuch-weg/_cd6ef77349; weniger differenziert, derselbe: Das BVT ist komplett am Ende. Die ÖVP trägt daran die Schuld, in: Falter 04/21 vom 27.01.2021; www.falter.at/zeitung/20210127/ das-bvt-ist-komplett-am-ende--die-oevp-traegt-daran-die-schuld/_ab7d5ca63c

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der „Entpolitisierung“ widerspricht bis zu einem gewissen Grad sogar der Natur einer mit dem Staatsschutz betrauten Institution. Die Irritation über diese zunächst für viele vielleicht provokant klingende Aussage verliert hoffentlich etwas von ihrem Reizeffekt, wenn man sich vergegenwärtigt, mit welchem etwas direkteren und vielleicht „ehrlicheren“ Begriff man früher jene Staatsfunktion benannte, die heute mit Verfassungsschutz oder Staatsschutz14 bezeichnet wird: als politische Polizei. Das Wort Polizei meint hier jedoch nicht die Behörde oder ein Organ, sondern eine konkrete Tätigkeit. Namentlich hoheitliches Handeln durch die Exekutive15, das auf die Vorbeugung respektive Abwehr von Gefahren oder Störungen abzielt, wo nötig unter Anwendung von Zwang (s­gewalt). Im Kontext dieser politischen Polizei (daher des Staats- oder Verfassungsschutzes) geht es konkret um die Abwehr von Gefahren oder Störungen der politischen Verfasstheit und Organisation eines Gemeinwesens. Dass es eine derartige Kontrolle, gezielte Maßnahmen und damit Regulierung unter Einsatz der „Staatsgewalt“ selbst in (liberalen) westlichen Demokratien gibt, wird gerne ausgeblendet, mitunter sogar geleugnet.16 Doch kommt in der Realität kein irgendwie geordnetes, größeres Gemeinwesen, welches das Interesse und den Willen hat, den Fortbestand seiner etablierten Ordnung zu sichern, an dieser Funktion vorbei. Denn zum einen geht jedes bestehende System, oder zumindest seine Eliten davon aus, die bestmögliche Option für den Staat oder ein Volk zu sein. Zum anderen bedeutet der heute häufig als zu bekämpfend benannte „Extremismus“17, schon von seiner lateinischen Wurzel her nichts anderes als das Äußerste, Höchste oder Letzte. Die Anwendung des Begriffes und die Einordung in

14 Diese Begriffe werden ebenfalls synonym verwendet, obwohl sie nicht dasselbe meinen können. In Österreich wurden sie durch die Reform und das Bundesgesetz über die Organisation, Aufgaben und Befugnisse des Verfassungsschutzes (Staatsschutz- und Nachrichtendienst-Gesetz – SNG) nun juristisch differenziert. Ob sich dies im allgemeinen Sprachgebrauch widerspiegeln wird, ist zweifelhaft. 15 Hier ist die ausführende Gewalt als Gegenpart zu Judikative und Legislative gemeint. 16 So z. B. in Schubert, Klaus, und Klein, Martina: Das Politiklexikon, 7Bonn 2020, welches die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung nutzt. Hier wird der Begriff auf Diktaturen reduziert und postuliert, in Deutschland gebe es keine politische Polizei, da die dortigen Nachrichtendienste keine polizeilichen Befugnisse haben. Dass die Staatsfunktion aber natürlich trotzdem im Zusammenwirken zwischen Nachrichtendiensten und Polizei erfüllt wird, ist evident. 17 Wahlweise mit und ohne erläuterndes Adjektiv oder sonstige Spezifikationen.

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diese Kategorie spiegelt folglich bereits die Verortung einer Meinung oder Einstellung, gerade im politischen Kontext, wider. Dies gleichermaßen – oder insbesondre – in einer Demokratie. Dabei gilt, wie Bernhard Frevel so prägnant formulierte, dass „doch die Herausforderung jeder Verortung ist, dass hierfür ein Bezugspunkt benötigt wird, der z. B. von der aktuellen ‚gültig‘ verstandenen politischen Ordnung geprägt ist. […] Und eine politische Idee oder Ideologie, die zur gültigen Ordnung in besonderem Widerspruch stünde, würde dem Extremismus zugerechnet“.18 Daraus folgt, dass jene Menschen, die mit dem Schutz der bestehenden „gültigen Ordnung“ eines Gemeinwesens betraut wurden,19 nicht nur dieser Ordnung positiv, ja loyal gegenüber eingestellt sein müssen. Sie müssen gerade ob ihrer konkreten Aufgabe, bei der sie die meiste Zeit keiner direkten Kontrolle – schon gar nicht von außen – unterliegen, so verlässlich wie nur irgend möglich sein. Dies insbesondere „politisch“ respektive charakterlich, wobei die beiden Begriffe sicher nicht deckungsgleich sind. Denn diese Art der Verlässlichkeit meint hier natürlich nicht Loyalität zu einer bestimmten Partei oder Personengruppe – vielleicht bis hin zum Kadavergehorsam. Nein, sie bezeichnet vielmehr die schwer zu fassende Eigenschaft eines Menschen, in einem Weltbild mit dessen Werten verankert zu sein und dies durchaus „standhaft“. Weltbild und Werte müssen hierbei natürlich mit der übertragenen Aufgabe vereinbar sein, diese gleichsam fundieren, und (daher das Adjektiv „standhaft“) keines von beiden sollte bei Widerstand oder Verführung – wie einer vielleicht individuell günstigen Gelegenheit – „über Bord“ geworfen werden. Nun ist jedoch eine derartige (politische oder charakterliche) Verlässlichkeit eine Eigenschaft, die sich, gerade nach rechtsstaatlichen Maßstäben und zumal in einer sich als äußerst liberal verstehenden Demokratie kaum im Vorhinein objektivierbar messen lässt.20 So kann sich der Dienstherr nur über Anhaltspunkte und Umstände,

18 Frevel, Bernhard: Innere Sicherheit. Eine Einführung, Wiesbaden 2018, S. 40ff. Frevel geht ebenso auf den Umstand ein, dass freie Bezugspunkte es daher erlauben würden, alles als Extremismus einzustufen. 19 Oder vielleicht kommt ob des Umstandes, dass diese Personengruppe aufgrund der Natur ihrer Tätigkeit, diese fast immer verdeckt, respektive „im Geheimen“ ausübt, „denen man diese Aufgabe anvertraut hat“, der Wahrheit näher.. 20 Vielmehr kann primär beleuchtet werden, ob es in der Vergangenheit Verhalten oder Vor-

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die eben genauso gut „Selbstbekenntnisse“ sein können, an die Verlässlichkeit seines Mitarbeiters in diesem sensiblen Bereich herantasten. Diese Problematik mag sich anhand eines Blicks nach Deutschland etwas klarer herausarbeiten lassen: Aus historischen Gründen ist der Schutz der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ der Bundesrepublik anders organsiert, als es der Staatsschutz in Österreich bisher war und künftig sein wird. So sieht das deutsche Trennungsgebot ein striktes inhaltliches und organisatorisches Auseinanderhalten von nachrichtendienstlicher Tätigkeit und polizeilichem Handeln vor, die Verfassungsschutzbehörden auf Länderebene unterstehen tatsächlich den jeweiligen Landesinnenministern, und es werden sogar in den Parlamenten vertretene Parteien bzw. Teile derselben offiziell beobachtet.21 Und es gibt mit der Linken zumindest eine Bundestagspartei, die offen mit der Forderung zu Wahlen antritt, den Verfassungsschutz abzuschaffen.22 Auf der anderen Seite des politischen Spektrums hat sich der Ehrenvorsitzende der Alternative für Deutschland (AfD) zwar ebenfalls für eine Abschaffung ausgesprochen23, allerdings fand die Forderung nicht in dieser Schärfe Eingang ins Wahlprogramm. Die AfD strebt nun „lediglich“ eine Prüfung und Reform an, damit der „behördliche or-

gänge gab, die nahelegen, dass eine solche Verlässlichkeit nicht gegeben ist. Rechtsstaatlich und aus Sicht des Individuums mag eine derartige Art der Einschätzung unbefriedigend bis problematisch sein. Aber sie ist schwer bis gar nicht zu ersetzen. 21 Um nur einige deutsche Besonderheiten und Unterschiede exemplarisch zu nennen. Für einen guten Überblick zu Eckpunkten der deutschen Diskussion siehe die verschiedenen, teils widerstreitenden Beiträge im Sammelband Lange/Lanfer (Hg.): Verfassungsschutz. 22 Die Linke, Zeit zu handeln! Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit – Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2021, S. 118. Die Beschreibung des Aufgabenprofils der alternativen „Beobachtungsstelle Autoritarismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ lässt ein wenig das Bild einer Einrichtung zur Beobachtung des politischen bzw. ideologischen Gegners aufkommen. Vereinzelt gibt es innerhalb der deutschen Grünen und der SPD Strömungen, die diese Forderung unterstützen. Im Wahlprogramm der Grünen findet sich ein Ansatz, der jenem der Linken inhaltlich nicht unähnlich ist, allerdings weniger radikal. Die Grünen wollen neben einem Demokratiefördergesetz eine strukturelle Neuaufstellung der Behörde, zum einen mit der Schaffung eines „unabhängige[n], wissenschaftlich aus öffentlichen Quellen arbeitenden Instituts zum Schutz der Verfassung. Zum anderen mit einem verkleinerten Bundesamt für Gefahrenerkennung und Spionageabwehr, das mit rechtsstaatskonformen nachrichtendienstlichen Mitteln klar abgegrenzt von polizeilichen Aufgaben arbeitet“. Vgl. Bündnis 90/Die Grünen, Deutschland. Alles ist drin. Bereit, weil Ihr es seid. – Bundestagswahlprogramm 2021, O.O. 2021, S. 196. 23 Vgl. exemplarisch Wehner, Markus: Gauland will den Verfassungsschutz abschaffen, Frankfurter Allgemeine Zeitung online, vom 17.02.2019, www.faz.net/aktuell/politik/inland/afd-chefalexander-gauland-will-verfassungsschutz-abschaffen-16046113.html

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gansierte ‚Verfassungsschutz‘ […]in Zukunft nicht mehr als parteipolitisches Instrument gegen politische Gegner missbraucht werden kann.“24 Beide Parteien, sowohl Die Linke als auch die AfD, haben g­ emeinsam, dass Gruppierungen, Strukturen oder Strömungen innerhalb i­hrer Organisation oder einzelne ihrer Mitglieder Gegenstand der Beob­ach­tung durch deutsche Verfassungsschutzbehörden waren bzw. sind. In Deutschland werden also sogar in den Bundestag oder die Landtage gewählte Parteien, von den mit dem Verfassungsschutz betrauten Behörden als potenziell verfassungsfeindlich oder -gefährdend eingestuft.25 Damit stellt sich jedoch die Frage, ob Personen, die diesen faktisch durch Wahlen demokratisch legitimierten Parteien angehören, für Positionen in sensiblen staatlichen (Sicherheits-)Bereichen als geeignet anzusehen sind, selbst wenn sie sich persönlich nie etwas zuschulden haben kommen lassen. Dies eben, weil ihre politische Verlässlichkeit durch diese Zugehörigkeit (aus Sicht der jeweiligen deutschen Verfassungsschutzbehörden) infrage gestellt ist: Wer sich offen zu einer politischen Strömung, Weltanschauung oder Ideologie bekennt, welche von den mit dem Schutz der Ordnung eines Gemeinwesens betrauten Stellen als Gefahr eingestuft wird, dürfte in der Regel nicht geeignet sein, zum Schutz genau jener Ordnung eingesetzt zu werden.26 Diese Fragestellungen und Probleme, welche sich beim „offenen Bekenntnis“ zu einer Meinung oder einer politischen Partei ergeben, stellen sich natürlich gleichermaßen, wenn jemand in dieser Hinsicht ein „unbeschriebenes Blatt“ ist. Denn nur weil jemand sich nicht deklariert, kann er immer noch einer Weltsicht anhängen oder Kontakte pflegen, die zumindest im Kontext einer staatsschützenden Aufgabe problematisch sind. Diesem Umstand wird versucht durch eine erweiterte Sicherheitsüberprüfung, die ebenso das unmittelbare Umfeld umfasst, zu begegnen. Doch kann diese

24 Alternative für Deutschland, Deutschland. Aber normal! – Programm der Alternative für Deutschland für die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag, Dresden 2021, S. 16. 25 Diese Praxis ist in Deutschland nicht unumstritten. Die Überwachung von Mandataren ist nur eingeschränkt zulässig. Vgl. Adamski, Heiner: Verfassungsschutz und Observationen im Rechtsstaat, in GWP, 1-2014, S. 107 bis 115. 26 Die Redewendung „Den Bock zum Gärtner machen“ mag in den Sinn kommen. Allerdings sind diese Umstände, wie schon angeschnitten, aus der Sicht des jeweils betroffenen Individuums und mit Hinblick auf Bürger und Freiheitsrechte zumindest diskussionswürdig, was aber an anderer Stelle geschehen muss.

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ebenfalls wiederum nur dort etwas auffinden und aufzeigen, wo Einstellungen, Netzwerke, Kontakte etc. sichtbar bzw. in irgendeiner Form dokumentiert sind.27 Folglich erscheint es, zumal in einem kleinen Land wie Österreich, bis zu einem gewissen Grad praktischer und zumindest vermeintlich „sicherer“, wenn man auf Personen zurückgreift, die in irgendeiner Form bekannt sind bzw. die man aufgrund ihres Selbstbekenntnisses weltanschaulich einordnen kann. Dies umso mehr, als es hierzulande in den relevanten Bereichen nach wie vor keine einschlägigen Qualifikations- und Spezialisierungsmöglichkeiten gibt, man also lediglich aus dem allgemeinen Pool der Arbeitskräfte schöpfen kann. Dieser Mangel an Qualifikation und Know-how außerhalb der einschlägigen Institutionen wiegt wahrscheinlich schwerer als die Thematik der (politischen) Vernetzung. Die Idee der „Entpolitisierung“ blendet noch einen weiteren, gerade im Bereich Staatsschutz besonders wichtigen Aspekt aus: das individuelle Verständnis oder – wohl treffender – das Gefühl dafür, wo im oft diffusen Grenzbereich des politischen Diskurses die sprichwörtlichen „roten Linien“ verlaufen. Das heißt, die Fähigkeit einschätzen zu können, wo z. B. Meinungen zwar vielleicht heftig sind, oder kräftig – aber ungefährlich – aufeinanderprallen und wo es hingegen in eine Richtung geht, bei der es gilt wachsam zu sein. Auch hier dürfte eine Verankerung in einem eigenen Weltbild oder Wertesystem die beste Möglichkeit der Orientierung des Selbst und damit der Beurteilung des Gegenübers sein. Sprich, zur Wahrung der Bürger- und Freiheitsrechte seiner Zielobjekte muss der Staatsschützer ein politisch denkender Mensch sein, wiewohl kein Aktivist oder gar Fanatiker der „eigenen Sache“ – was immer diese auch sei. Österreich hatte seit 1945 immer eine stark politisierte Verwaltung. Für die ersten vier bis fünf Jahrzehnte war dies sogar Teil des Geheimnisses des Erfolges der Zweiten Republik. Dieses Auswählen (auch) nach politischen Kriterien galt genauso für die staatsschützenden Stellen des Innenministeriums, die gleich zu Beginn ein- und dann umgefärbt wurden. „[Man muss] Realist sein. Ein Nachrichtendienst ist immer auch im Interesse der

27 Dies ist im Übrigen nicht nur ein Problem, dass sich im Zuge der Prüfung hinsichtlich einer politischen oder charakterlichen Verlässlichkeit ergibt, sondern gleichfalls bei der Abwehr von Infiltrationsversuchen durch andere Dienste oder Organisationen, sprich der Spionageabwehr.

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Politik.“28 Dies konstatierte der als Innenminister der Expertenregierung unter Kanzlerin Bierlein berufene Präsident der Finanzprokuratur, Wolfgang Peschorn. Das mit der großen Koalition einhergehende Proporzsystem gehört nun schon seit längerem der Vergangenheit an, und die letzten beiden Jahrzehnte haben eine Bemühung um eine Objektivierung der Postenbesetzung gesehen, die durch die Bestrebungen dieser Tage, gegen Korruption und „Filz“ vorzugehen, erneut in den Vordergrund rücken dürfte. Doch einen wert(e)neutralen Staatsschutz kann es nicht geben. Dieser bildet vielmehr im Idealfall einen Querschnitt der, der bestehenden Rechtsordnung verpflichteten Bevölkerung, mit all ihren politischen Zugängen und Weltanschauungen ab. Und da die Auswahl derjenigen, die mit dem Schutz der Grundordnung des Gemeinwesens betraut werden, nicht nur, aber eben auch eine „politische“ Komponente hat, wäre das Effizienteste, was die Vertreter der verschiedenen politischen Strömungen tun könnten, wohl zum einen für adäquate einschlägige Ausbildungs- und Qualifikationsmöglichkeiten in- und außerhalb der staatlichen Institutionen zu sorgen und zum anderen befähigte Vertreter ihrer Weltsicht zu bestärken, beim Staatschutz tätig zu werden. Auf diese Art könnte mittel- bis langfristig eine „Entpolitisierung“ des österreichischen Staatsschutzes gelingen: indem nicht eine – nicht zu erreichende – Wert(e)neutralität angestrebt wird, sondern durch eine möglichst breite Integration der am Wohle der Republik interessierten Kräfte.

28 O.A.: „Geht um Ursache …“; interessant ist, dass Peschorn hier eine andere Art Netzwerke, namentlich eines von Beraterfirmen erwähnt, dieses aber in der weiteren öffentlichen Diskussion keine Rolle mehr spielte.

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NEOS – aus der Mitte für die Mitte NEOS hat sich seit der Gründung als liberale Kraft der Mitte etabliert. Liberal im wirtschaftlichen und progressiv im gesellschaftlichen Sinne steht die Partei für die Erneuerung Österreichs.

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„Der legitime Platz des Liberalen ist zwischen allen Stühlen.“ Marion Gräfin Dönhoff, 1971 Bei der Gründung von NEOS vor bald zehn Jahren ist nicht Ideologie im Fokus gestanden, sondern Idealismus und der Wunsch, dieses Land nach vorne zu bringen und unseren Kindern einen guten Ort zu hinterlassen. Bürgerinnen und Bürger, Menschen mitten aus dem Leben, sind angetreten, um Österreich zu erneuen. NEOS war und ist vom Gründungsgedanken her eine postideologische Unternehmung. Im Vordergrund stand nicht, ob eine so dringend nötige Reform des Bildungssystems eher „linke“ Ideen vom Aufstieg durch Bildung aufgriff oder eine dringend nötige Pensionsreform angesichts des demografischen Wandels als „rechts“ eingestuft wurde. Im Mittelpunkt steht und stand die beste Lösung für Menschen in diesem Land – frei von Ideologie. Die österreichische Innenpolitik steckte 2012 in der Sackgasse der Großen Koalition, die für Herausforderungen unserer Zeit keine Antworten, sondern nur kleinste gemeinsame Nenner hatte. Den Unternehmer/ innen, Lehrer/innen, Eltern und Studierenden, die sich bei NEOS aus der Taufe gehoben haben, war klar, dass das nicht reicht. Denn politischer Stillstand gefährdet nicht nur unseren Wohlstand, sondern vor allem die Chancen unserer Kinder, sich in dieser Republik entfalten zu können. Das politische Start-up NEOS wurde auch gegründet, um das politische System nachhaltig zu verändern. Viele unserer Vorschläge für ein neues Österreich von damals sind heute aktueller denn je, zahlreiche neue Ideen sind hinzugekommen und zehn Jahre nach der Gründung hat sich NEOS durch Wahlerfolge, mutige Oppositionspolitik und Regierungsbeteiligungen in Bund, Ländern und vielen Gemeinden etabliert. Wie das eingehende Zitat von Marion Gräfin Dönhoff andeutet, ist unsere Positionierung für die Menschen anstatt für die Mächtigen mit starkem Fokus auf die kommenden Generationen frei von dogmatischer Ideologie für Österreich untypisch. Liberale Parteien haben hier – anders als etwa in unserem Nachbarland Schweiz – keine große Tradition und werden dadurch oftmals durch ihre Nähe oder Distanz zur konservativen ÖVP oder der sozialdemokratischen SPÖ definiert. Wo NEOS steht, hat sich aber stets leicht beantworten lassen: Das neue Österreich hat sich stets als Partei der

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Mitte verstanden, als Bewegung von Menschen aus der Mitte der Gesellschaft für ebenjene Mitte. 

Links, rechts, liberal Wird in der Politik nach der Ideologie gefragt, beschränkt sich die Frage oft auf eine simple Positionierung: von links bis rechts. Während politische Ideologien auf der linken Seite ihre Ziele eher auf Umverteilung und Interventionismus ausrichten, sind sie auf der rechten Seite auf Kulturkämpfe und nativistische Maßnahmen getrimmt, die die soziale Ordnung der „guten, alten Zeit“ konservieren sollen. Beiden Seiten ist jedenfalls gemein, dass sie kollektiven Zwang und Staatsgewalt als Mittel zum Zweck sehen, um ihre Ideen durchzusetzen.  Konservativen und Sozialisten sei gemein, so formulierte es der österreichische Ökonom und Träger des Preises der Schwedischen Nationalbank in Erinnerung an Alfred Nobel, Friedrich August von Hayek, dass die soziale Ordnung die Folge von ständiger Beaufsichtung durch Autorität sei. Als Liberale hingegen ist dieses ständige Misstrauen gegen die Wähler/innen als Souverän der Demokratie eine Zumutung. Liberale befinden sich daher jenseits dieses simplen Links-Rechts-Spektrums, in einer eigenen Dimension von Freiheit und Selbstbestimmtheit (McCloskey, 2019). Politik ist für Liberale eben nicht der Ort, an dem eine Mehrheit eine Minderheit herumschubst und diese Mehrheit eben manchmal ein bisschen weiter links und manchmal ein bisschen weiter rechts steht. Politik muss der Ort sein, wo wir uns alle ausmachen, wie wir bei allen Unterschieden miteinander leben wollen – und das mit der größtmöglichen Selbstbestimmung. Wenn aber nun die von Medien und Kommentatoren gerne genützte Darstellung der ideologischen Verortung von links und rechts so unterkomplex ist, wie können wir dann die liberalen Ideen von NEOS verorten? Statt nur ein Parteienspektrum (von links bis rechts) kann man mehrere Ebenen, auf denen sich Parteien positionieren, betrachten: in der Gesellschaftspolitik – also jenen Themenfeldern, in denen sich entscheidet, wie viel Gestaltungsspielraum der Staat seinen BürgerInnen lässt, als Individuen zu entscheiden, wie und mit wem sie leben wollen, was sie aus ihrem Leben machen wollen und wie sie die demokratischen Institutionen orga-

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nisieren; in der Wirtschaftspolitik, in der wir uns auf die Freiheitsgrade für das unternehmerische und wirtschaftliche Handeln verständigen. NEOS ist dabei eine „klassische Partei der Mitte“, gesellschaftlich libertär und wirtschaftlich liberal positioniert (vgl. Johann; Jenny; Kritzinger). Das Programm von NEOS steht und stand unter anderem für eine deutliche Steuerentlastung, eine ambitionierte Bepreisung von CO2, eine Pensionsreform zur langfristigen Sicherung des Sozialstaats, gleiche Rechte unabhängig vom Geschlecht, Ausbau von Kinderbetreuungsangeboten entlang eines modernen Bildes von Familie sowie Aufstieg durch Bildung und eine radikale Reform der Parteienfinanzierung. Für eine kleine Oppositionspartei waren unsere Forderungen und Ideen inhaltlich oftmals sehr konkret: Keine andere politische Kraft hatte etwa ein fertig durchgerechnetes Konzept zur CO2-Bepreisung bzw. zu einer umfassenden Steuerentlastung in Österreich. Ein Kernwert von NEOS, evidenzbasiert zu Lösungen für die Herausforderungen beizutragen, ist hier immer wieder zum Tragen gekommen.

In der Mitte verwurzelt Aktuellere Vergleiche von Politologen für die Programme zur Nationalratswahl 2019 zeigen, dass sich an der Positionierung als klassischer liberaler Partei der Mitte eher wenig verändert hat. Aus deutscher Sicht wird NEOS als Partei für eine progressive Gesellschaft und liberale Wirtschaftspolitik auf Basis des Programms zur aktuellsten Nationalratswahl – ähnlich zur FDP – dem gesellschaftlich libertären und wirtschaftlich liberalen Parteienspek­ trum zugeordnet. (vgl. Thömmes und Thomeczek 2019). Es ist daher kein Wunder, dass sich NEOS als liberale Partei in der europäischen Parteienfamilie der ALDE eingefunden hat, in der sowohl gesellschafts- als auch wirtschaftsliberale Verbündete vertreten sind. NEOS hat sich in der Mitte etabliert und breiter verwurzelt. Das zeigt sich auch an den Umfragen der jüngeren Vergangenheit, die die Partei bei rund elf bis zwölf Prozent ausweisen und damit deutlich über dem Ergebnis der NRW 2019. Als bei der Gründung von NEOS vor zehn Jahren das Ziel ausgegeben wurde, „den politischen Stillstand in Österreich aufzubrechen“, ging es

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aber nicht nur um die Etablierung einer liberalen Partei, sondern auch um eine neue Form von Politik. Nicht nur der Einzug ins Parlament, in die Landtage oder Regierungen waren das Ziel, sondern auch neue Methoden und Spielregeln in der Politik zu verankern: NEOS verordnete sich von Anfang an Transparenz. Unsere Ausgaben und Einnahmen stehen – auch heute noch einmalig in Österreich – der Öffentlichkeit laufend online zur Verfügung. Auch die Offenheit der Partei für die Beteiligung von Bürger/innen war immer ein Kernanliegen, das vom Prozess der Vorwahl beim Erstellen der Wahllisten, über die Mitsprache der Mitglieder bis hin zu kollaborativ verfassten Wahlprogrammen und digitaler Mitsprache reicht. Auch war es nie Ziel, eine Partei von Berufspolitiker/innen zu etablieren, sondern gerade auch Menschen aus Wirtschaft und Gesellschaft einzubinden und Quereinstiege zu ermöglichen. Saubere und transparente Politik waren von Beginn an eine Kernforderung. Die jüngsten Skandale, die die österreichische Innenpolitik erschüttert haben, machen Maßnahmen für mehr Transparenz notwendiger denn je. In den 10 Jahren seit der Gründung hat sich NEOS als neue politische Kraft in Österreich etabliert, ist mit 15 Abgeordneten im Nationalrat, erstmals im Bundesrat und in sieben von neun Landtagen vertreten. In zwei Bundesländern, Salzburg und Wien, ist NEOS in Regierungsverantwortung.

Anker in turbulenten Zeiten Auch anhand der in diesem Jahrbuch gestellten Frage: Wie hat sich das Neue Österreich ideologisch entwickelt? zeigt sich, dass gerade die politischen Mitbewerber mit der Positionierung von NEOS noch immer ringen. Denn während viele Kernanliegen von NEOS unverändert geblieben sind, hat sich das politische Umfeld teils dramatisch verändert. Versprechen einer neuen Politik durch etablierte Parteien (Christian Kern bei der SPÖ, Sebastian Kurz bei der ÖVP) haben zwar kurzfristig zu Aufbruchstimmung geführt. Diese hielt im Falle der Sozialdemokratie jedoch nur kurz an (Plan A) und bei der Volkspartei von 2017 bis 2021. Diese zwischenzeitlichen ideologischen Neupositionierungen von ÖVP und SPÖ haben vor allem dazu beigetragen, dass in den vergangenen zehn Jahren drei Mal gewählt und noch öfter der Bundeskanzler ausge-

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tauscht wurde. Das Land jedoch hat von dieser personellen Dynamik wenig gehabt, weil sie nicht Hand in Hand mit politischer Reformdynamik ging. Immer noch verlassen zu viele junge Menschen ein teures Bildungssystem ohne Perspektive und immer noch zeigen internationale Indizes zur Wettbewerbsfähigkeit, dass Österreich zwar ein reiches Land ist, aber von der Substanz lebt. Immer noch ist der politische Apparat durch üppige Parteienfinanzierung ausgestattet und intransparent. Immer noch steuert das Pensionssystem angesichts des demografischen Wandels auf eine immer stärkere (Über-)Forderung des Bundeshaushalts zu. Auch eine echte Verwaltungsreform, die Aufgaben und Verantwortungen im österreichischen Föderalismus hinterfragt, steht immer noch an. Die Überwindung dieses politischen Stillstands ist nach wie vor das Ziel von NEOS und damit die Erneuerung des politischen Österreichs mit engagierten Menschen und lebensnahen Lösungen, die auch zukunftsfit sind. Das muss per se nicht ideologiegetrieben sein. Dringender denn je braucht die österreichische Politik liberale Konzepte ohne Scheuklappen und idealistische Menschen aus der Mitte, die mutig anpacken, um das Land zum Besseren zu verändern.

Literatur  Johann, David; Jenny, Marcelo und Kritzinger, Sylvia (2014): Mehr Wettbewerb bei Österreichs Wahlen? Die neue Partei NEOS und ihre engsten Konkurrenten. McCloskey, Deirdre (2019): Why Liberalism Works. Yale University Press. Adrian Léon Thömmes, Adrian L. und Thomeczek, Jan P. (2019): Wo stehen die Parteien in Österreich? Eine Analyse der Parteiprogramme zur Nationalratswahl 2019, Universität Münster.

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2021, ein wildes Jahr – auch für die SPÖ Die Perspektiven der SPÖ sind 2022 unklar wie selten zuvor: Sie kann wei­ ter in der Opposition gegen eine nun wieder schwarz-grüne Regierung verharren, nach Neuwahlen eine Dreierkoalition nach deutschem Vorbild anführen, oder eine rot-schwarze oder schwarz-rote bilden. Entscheidend wird dabei unter anderem ihre Lernfähigkeit sein, die inneren Personaldebatten abzustellen, sich Inhaltlich den Themen einer sich komplett wandelnden Arbeits- und Sozialwelt zu stellen, und ihre Bündnisfähigkeit strategisch ohne überholten Führungsanspruch zu beweisen.

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Wieder einmal! Da gibt es eine Tagung der SPÖ-Parteispitze (zu Jahresbeginn 2022 in Krems), und die öffentliche Debatte gilt weniger den angegebenen (Wirtschafts-)Themen als dem Dauerbrenner der vergangenen zwei Jahre: Ob die seit drei Jahren amtierende Parteivorsitzende Pamela Rendi-Wagner (PRW) geeignet sei, die Partei in die nächste Nationalratswahl zu führen. Anlass: das Fehlen des burgenländischen Landeshauptmannes Hans-Peter Doskozil, mit dem PRW nach ihrem schwachen Ergebnis beim Parteitag im Juni 2021 zusammengekracht war und der sich seit seinem entschlossenen polizeilichen Auftreten während der „Flüchtlingskrise“ von 2015 (die heute oft weniger als existentielle „Krise“ für zehntausende Menschen interpretiert wird als – ausschließlich – als Bedrohung heimischer Sozialsysteme) zum verdienten Wahlsieger in Österreichs kleinstem Bundesland entwickelt hat, für einige auch gleich zur Hoffnungsfigur für die gesamte Sozialdemokratie. Die Folgen waren vorhersehbar: eine – menschlich verständliche, strategisch fragwürdige – scharfe Kritik von PRW an Doskozil, weitere polarisierende Wortmeldungen in den sozialen Medien. Eine unendliche Geschichte, aber noch (?) ohne Happy End. Natürlich: Medien stürzen sich meist lieber auf leichter „verkaufbare“ Themen als auf Grundsatzfragen, am liebsten auf personellen Zwist. Aber irgendwann muss damit für Spitzenpolitiker Schluss sein, sonst sägen alle Beteiligte an jenem Ast, auf dem sie alle sitzen. Das weiß wohl niemand besser als die ÖVP, die sich ebenso lange wie fast lustvoll zwischen den sozialdemokratischen Regentschaften Kreiskys und Vranitzkys im parteiinternen „Absägen“ der eigenen Spitze geübt hatte, ehe ein scheinbarer Heilsbringer dieses Spiel in diesem schicksalhaften Jahr 2021 zu beenden schien. Marke: Cleveres Marketing schlägt einige Zeit alles, auch die Bereitschaft zu inhaltlichem Diskurs über substanzielle Reformen. Auch die SPÖ war nach dem endgültigen (?) Ende der „großen“ Koalition zu keinem wirklich alternativen anderen Politikmodell imstande. Sie erschöpfte sich seit dem katastrophal orchestrierten Abgang des arithmetisch recht erfolgreichen „Krisenbewältigers“ Werner Faymann und dem ebenso überstürzten seines großartig gestarteten Nachfolgers Christian Kern in internen Querelen und einem reinen Kurz-Bashing, der zum politischen Gottseibeiuns ab- und damit gleichzeitig auch aufgewertet wurde. So war die SPÖ nicht nur nicht weitergekommen, sondern in Umfragen sogar auf

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unter 20 Prozent abgestürzt. Auch deshalb, weil sie keine Persönlichkeiten an der Parteispitze zur Verfügung hatte, wie Bruno Kreisky und Hannes Androsch (vor deren unseligem Zerwürfnis) oder später Franz Vranitzky. Und keine vergleichbar großen Narrative: Kreisky stand für die überfällige Gesamtmodernisierung des Landes, Androsch für deren ökonomischen Teil, Vranitzky für die nötige Europäisierung durch den EU-Beitritt. Es liegt sicher nicht vorrangig an der jetzigen Parteichefin, dass die SPÖ keine auch nur annährend so große Breitenwirkung hat, wie in den 1970er- und 1980er-Jahren. Die Zeit der sogenannten Volksparteien, die möglichst alles für alle abdecken, ist endgültig vorbei, für rechte wie für linke (auch diese klare Unterscheidung ist heute komplizierter denn je). Im Gegenteil: Die SPÖ hätte vermutlich ohne sie bei der Wahl 2019 noch schlechter abgeschnitten. Unmittelbar zuvor hatte sie eine dramatisch-traumatische Parteikrise durchgemacht: Christian Kern, der mit dem „Plan A“ eine österreichische Variante des sozialliberalen Macronismus versucht hatte, war spektakulär gescheitert, weniger am Konzept, mehr an seiner Persönlichkeit. Und – natürlich – an Sebastian Kurz, der fünf Jahre lang in einem disziplinierten Marsch durch die schwarzen Institutionen seine Kader an den Machthebeln der ÖVP installiert hatte. Seither gab es in der SPÖ ein munteres Intrigieren vieler gegen viele und etlicher gegen eine, trotz einer überraschend positiv ausgefallenen Mitgliederbefragung für die Parteivorsitzende im Mai 2020 (71,4 Prozent Zustimmung). Diese wurde freilich bald darauf konterkariert von einem scheinbar weniger positiven Befund am folgenden Parteitag im Juni 2021: „nur“ 75 Prozent Zustimmung für die Parteivorsitzende, ohne Gegenkandidatur, vor allem ohne sicht- und hörbare Kritik der Delegierten. Danach aber vielfach Entsetzen und Wut, auch bei den wichtigsten Unterstützern Rendi-Wagners, in der Wiener Partei (die nach der Kampfabstimmung zwischen Michael Ludwig und Andreas Schieder vorgemacht hatte, wie man Lager versöhnen und dann eine Wahl gewinnen kann) und der Gewerkschaftsfraktion. Die ärgsten Wogen wurden bis Jahresende 2021 geglättet, aber wohl nicht nachhaltig. Immer wieder gab es Querschüsse gegen PRW, meist getarnt als Sorge um „die Partei“ und mögliche Wahlerfolge. Wenn diese Debatte von der ersten Frau an der Parteispitze nicht gestoppt werden kann, droht

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der SPÖ eine Bruchlandung à la SPD. Schrieb ich vor einem Jahr in der „Presse“– und ahnte nicht, wie schnelllebig und scheinbar oft beliebig sich politische Zustände ändern können: aus dem in der SPD eher unbeliebten Olaf Scholz, Verlierer der Abstimmung über den Parteivorsitz, ist ein fast schon umjubelter Bundeskanzler geworden, mit knapp 26 Prozent der Wählerstimmen, nach erfolgreichen Koalitionsverhandlungen mit den Grünen und Liberalen. Auch der SPÖ können öffentliche, faire Debatten wie der interne Ausleseprozess des letztlichen Kanzlerkandidaten Scholz guttun. Vor allem inhaltliche Klärungen: etwa darüber, wofür diese Partei steht, für wen sie kämpft: „Arbeiterpartei“ allein kann sie wohl nicht sein. Schon deshalb nicht, weil es immer weniger klassische Arbeiter gibt (Automatisierung/ Digitalisierung), wohl aber ein Sammelsurium voll, weniger oder gar nicht Beschäftigter, die sich immer seltener nach ihrer „Klassenlage“ orientieren, sondern – auch – nach ihren kulturellen, moralischen, bisweilen leider auch religiösen Vorlieben. Überhaupt: Es gibt immer weniger Stammwähler, aber immer mehr, die sich an Persönlichkeiten orientieren, die ihnen glaubwürdig Werte und mögliche Verbesserungen ihrer Lebenslagen anbieten, dafür Allianzen auch jenseits traditioneller Parteigrenzen schmieden. Das war in der SPÖ das Erfolgsgeheimnis der dreifachen sozialliberalen Wahlsiege Bruno Kreiskys. Sie endeten nach seinem öffentlichen Feldzug gegen Hannes Androsch. Und dann endgültig, als die Frontstellung zwischen „Ökologie“ und „Ökonomie“ im Wald von Hainburg nicht mehr zu kitten war. Politische Wahlen werden auch heute noch in der „Mitte“ gewonnen, sie ist nur heute ungleich flexibler und damit schwerer zu bestimmen als vor 50, 60 Jahren und verändert sich dem „Zeitgeist“ entsprechend bisweilen von Wahl zu Wahl. Diesem intelligent nachzuforschen, aber nicht opportunistisch nachzurennen, darin bestände die Wirkungsmacht einer Sozialdemokratie, welche auf soliden Grundwerten beruht: auf Menschenrechten, dem Geist der Aufklärung, der Sicherung des freiheitlichen Rechtsstaates, einer Wirtschaftspolitik, die ein Höchstmaß an sozialem Ausgleich anstrebt, bei gleichzeitiger Förderung des Leistungs- und Aufstiegsstrebens. Das alles unter Beachtung der gravierenden Änderungen in der digitalen Welt: Verhindert werden muss die Spaltung zwischen den Erfolgreichen der

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E-Ökonomie und den Verlierern in Gestalt des neuen Prekariats, den Leiharbeitern und Ich-AGs. Alles unter gleichzeitiger Beachtung der derzeit größten Herausforderung, welche die Menschheit bewältigen muss, des Klimawandels, zähmbar nur durch eine Energiewende mit Hilfe von Wissenschaft und Technologie (Hannes Androsch in dem in jeder Hinsicht umfassenden Gesamtwerk Androsch/Fischer/Maderthaner: Österreichische Sozialdemokratie seit 1889, Wien 2021). Keine ganz neuen Herausforderungen, schließlich wurde bereits vor 50 Jahren die notwendige „Versöhnung von Ökologie und Ökonomie“ beschworen. Nur: Damals lag die SPÖ bei über 40 Prozent, heute bei knapp 26. Und sie hatte bis vor kurzem in Sebastian Kurz einen Widersacher, der lange Zeit vor allem eins zu beherrschen schien: politische Kommunikation. Nach dessen Rückzug lag die SPÖ erstmals seit Beginn der Kurz-Ära bei einer Umfrage wieder knapp auf Platz eins, auch dank der extremen Beharrlichkeit und Disziplin der Parteivorsitzenden. Aber wirklich nachhaltig ist sie nicht erholt. Was nicht (nur?) an der dauerhaften Personaldiskussion liegt, sondern auch am prinzipiellen Rollenverständnis vieler E ­ xponenten. Beispiel Hans Peter Doskozil: Die SPÖ solle doch die Kandidatur eines Vertreters/einer Vertreterin für die Bundespräsidentenwahl im November stellen, gegen den „Kandidaten der Regierungsparteien“, auch wenn der Van der Bellen heißen sollte. Als ob nicht gerade dessen erste Wahl der entscheidende Fortschritt für die Bildung einer progressiven Allianz war, die erste große Niederlage der reaktionären Hälfte der Gesellschaft. Abgesehen von finanziellen Argumenten: Unter den jetzigen Voraussetzungen wäre eine Kandidatur der Sozialdemokraten gegen Van der Bellen der sichere Weg in das nächste Debakel nach der Präsidentschaftswahl von 2016. Pamela Rendi-Wagner wird dagegen in der SPÖ von manchen Funktionären gerade deswegen kritisiert, weil sie ihre Kritik „zu konstruktiv“ anlege, statt sie frontal in üblicher Politiker-Manier „auf den Punkt“ zu bringen und die Sozialdemokraten damit quasi automatisch wieder auf Platz eins. Immerhin: Die SPÖ scheint wieder etwas Tritt gefasst, sich einigermaßen erholt zu haben von der jahrelangen Lähmung. Und gar so schlecht scheint der sachlich-konstruktive Kurs ihrer Obfrau nicht anzukommen, auch wenn viele traditionelle Parteikader dagegen murren. Alles keine Garantie für eine nachhaltige Erholung, erst recht nicht für einen möglichen Wahlsieg im heurigen oder nächsten Jahr. Auch eine

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oft diskutierte Kandidatur des einzig nachhaltig (weil nachweisbar) erfolgreichen politischen Corona-Bekämpfers, Michael Ludwig, wäre keine solche: Er hat wohl mehr als genug damit zu tun, die Bundeshauptstadt weiter auf dem bisher so erfolgreichen Kurs zu halten. Freilich: Sollte die nun wieder schwarz-grüne Koalition am Kurs der grünen Energieministerin Leonore Gewessler gegen einen Autobahnring um Wien und damit auch gegen die Interessen Niederösterreichs scheitern, könnte der Ruf nach Ludwig unüberhörbar werden, und damit auch der Ruf nach einer rot-schwarzen Regierung auch in der SPÖ wieder etwas populärer. Eines ist jedenfalls sicher: Die SPÖ wird nur dann einigermaßen erfolgreich sein, wenn sie weder in selbstbeschädigende Personaldebatten zurückfällt noch sich in populistischen Verrenkungen verirrt, sondern sich den wirklichen Zukunftsfragen zuwendet, den Herausforderungen durch die drei D: Digitalisierung, Dekarbonisierung, demografischer Wandel, durch eine moderne Bildungs-, Klima-, Wirtschafts- und Forschungspolitik, als Leuchtturm der Wissenschaftsfreundlichkeit und Aufklärung. Und dadurch, dass sie in einer Hinsicht wieder zu den Wurzeln der Bewegung zurückkehrt: zu ihrem Internationalismus, symbolträchtig begraben mit den jämmerlichen Resten der Sozialistischen Internationale aus den Tagen eines Brandt, Palme und Kreisky. Der einzige auch für Sozialdemokraten nötige Impfstoff zur Immunisierung gegen Nationalismus, Provinzialismus und Rassismus. Und gegen die damit verbundene endgültige Auflösung ihrer zentralen Identität: Solidarität. PS: Es liegt in der Natur der extremen Schnelllebigkeit der heutigen Politik, dass auch in der SPÖ alle personellen Prognosen binnen Monatsfrist obsolet werden können– nicht aber die tiefer liegenden, auch international sichtbaren Probleme der Sozialdemokratie.

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SPÖ – ein breiter Vertretungs­ anspruch für sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt Finanzkrise und Corona-Pandemie haben die neoliberale Gesellschaftserzählung und das zugehörige Menschenbild schwer beschädigt. Für die Herausforderungen der Zukunft hat die Sozialdemokratie umfassende programmatische Antworten, für deren Umsetzung sie als breit verankerte Partei in einer heterogenen Gesellschaft die besten Chancen hat.

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Der Blick auf die internationalen Entwicklungen war für Sozial­demokra­t/ innen schon einmal unerfreulicher. Der sozialdemokratische Bundeskanzler in der Bundesrepublik Deutschland war dabei in letzter Zeit zwar die bedeutendste Kräfteverschiebung, aber bei weitem nicht der einzige Lichtblick. Mit Norwegen, Schweden, Finnland und Dänemark sind alle skandinavischen Länder sozialdemokratisch regiert. In Südeuropa hält sich neben Portugal und Spanien auch in Italien eine überraschend stabile Regierung mit führender sozialdemokratischer Beteiligung. Und im globalen Zusammenhang ist die Ablöse der rechtskonservativen Populisten in den USA und Israel ein Indikator für eine Krise der Konservativen und eine Renaissance eines sozialdemokratischen Gesellschafts- und Staatsverständnisses, während die Umfragen in Großbritannien (aber auch der Kanzlerwechsel in Österreich) ein Ende der konservativen „Anything goes“-Mentalität der vergangenen Jahre andeuten. Diese politische Entwicklung passiert vor dem Hintergrund des Bedeutungsverlustes der jahrzehntelang dominanten neoliberalen Gesellschaftserzählung, die in der Vergangenheit auch der sozialdemokratischen Programmatik und Glaubwürdigkeit zugesetzt hat. Schwer beschädigt wurde der Glaube an die Unfehlbarkeit von Märkten bereits durch die letzte große Finanz- und Wirtschaftskrise. Damals konnte sich allerdings der Mythos der verschwenderischen Staaten und der leistungsunwilligen Südeuropäer im Nachgang zur Eurokrise noch halten. Die Corona-Pandemie und ihre Folgen haben schließlich auch diese Narrative gehörig ins Wanken gebracht. Der Erfolg solidarischer sozialer Sicherungssysteme, die wichtige Rolle des Staates für Wissenschaft und Innovation und die Erkenntnis, dass große Gruppen an Leistungsträger/innen weit unter ihrer Bedeutung für die Gesellschaft entlohnt und anerkannt werden (Stichwort: Pflegekräfte und Pädagoginnen), stehen der alten Philosophie der Ellbogengesellschaft diametral entgegen. Sie stützen vielmehr den Kern sozialdemokratischer Politik und helfen der vermeintlich wenig greifbaren sozialdemokratischen „Erzählung“, konkret und sichtbar zu werden. Neben der beschriebenen schwierigen neoliberalen „Großwetterlage“ trug auch eine generelle Transformation der politischen Landschaft dazu bei, dass Wahlergebnisse jenseits der 40 % in den Demokratien Westeuropas mit Verhältniswahlrecht für kaum eine Partei mehr erreichbar sind. Die Ge-

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sellschaften sind heterogener geworden, Stammwähler/innen weniger und sogenannte Single-Issue-Parteien Teil des politischen Alltags1. In der politikwissenschaftlichen Debatte mehren sich (unter anderem deshalb) seit Jahren die Stimmen jener2, die den sozialdemokratischen Parteien nahelegen, den Anspruch einer linken Volkspartei abzulegen und sich in ihrer politischen Ausrichtung entweder an einem linksliberalen urbanen oder an einem wertkonservativen ländlich geprägten Milieu zu orientieren. Beides – so das gemeinsame Argument, unabhängig von der Empfehlung, in welche Richtung man sich orientieren sollte – wäre heute nicht möglich, sonst verliere man auf beiden Seiten. Ein Blick in die Parteigeschichte zeigt, dass aber genau dieser Anspruch einer sozial- und gesellschaftspolitischen Fortschrittspartei immer zentral für die sozialdemokratische Parteiidentität war. Schon zu den Anfängen der Sozialdemokratie in Österreich in den 1880er-Jahren stellte die Allianz der Arbeiterschaft mit einem liberalen Bürgertum eine feste Klammer dar, die unterschiedliche Lebensrealitäten, Milieus und sogar Nationalitäten hinter ein gemeinsames politisches Ziel vereinte. Die sozialdemokratische Reformagenda in den 1970er-Jahren war geprägt durch den Gleichklang von Sozialreformen auf der einen und gesellschaftlicher Modernisierung auf der anderen Seite. Die SPÖ hatte in dieser Zeit mehr als 700.000 Mitglieder und in einem strukturell konservativen Land eine absolute Mehrheit. Es wäre eine Illusiont zu glauben, dass die Wählerschaft der SPÖ in dieser Zeit eine homogene Vorstellung von der Gesellschaft hatte, trotzdem ist die SPÖ – erfolgreich – mit der gesamten Breite ihrer sozial- und gesellschaftspolitischen Themenpalette angetreten. Dieser Anspruch, als breit aufgestellte „Volkspartei“ eine fortschrittliche Agenda zu verfolgen, liegt also in gewisser Weise in der sozialdemokratischen DNA und unterscheidet sie auch maßgeblich von anderen Mittelinks-Parteien. In Verbindung mit einem – auch durch die Wirren des 20. Jahrhunderts nie ins Wanken geratenen – Eintreten für die Republik und ihre demokratischen Institutionen ist diese politische Orientierung die

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Siehe etwa die Parteienlandschaft in den Niederlanden. Siehe dazu die Arbeiten von u. a. Wolfgang Merkel, Tarik Abou-Chadi, Ernst Hillebrand.

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beste Voraussetzung, um die komplexen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen. Beispielhaft könnte man in diesem Zusammenhang die Bewältigung der Klimakrise nennen und die enorme politische Kraftanstrengung, die es dafür braucht. Klimapolitik passiert entweder in einem weitgehenden gesellschaftlichen Konsens und als gemeinsames Anliegen – oder sie passiert eben nicht. Zu tiefgreifend gestaltet sich die ökologische Transformation der Wirtschaft, der Mobilität, des Wohnens und Arbeitens, als dass sie über die Köpfe eines Großteils der Menschen umund durchgesetzt werden könnte. Der breite Politik- und Vertretungsanspruch der SPÖ ermöglicht es, die unterschiedlichen Lebensrealitäten zu berücksichtigen, die auch in diesem Zusammenhang verheerende Auswirkung von ökonomischer Ungleichheit wahrzunehmen und in die politische Debatte einzubringen. Dies findet schließlich auch in der sozialdemokratischen Programmatik ihren Ausdruck. Oft wird der SPÖ vorgeworfen, eine beliebige Vorstellung ­ihrer Zielgruppe und der politischen Kernanliegen zu verfolgen, sie wisse quasi nicht, für wen sie was wolle. Insgesamt ist jedoch schlicht die Wählerschaft der SPÖ heute heterogener als früher, was auch eine veränderte Gesellschaft und Arbeitswelt widerspiegelt. Der Dienstleistungssektor dominiert mit 65 % Anteil am Bruttoinlandsprodukt auch in Österreich die Wirtschaft, Teilzeitbeschäftigungen und andere „atypische“ Beschäftigungsverhältnisse sind keine Seltenheit und Kleinunternehmer/innen und Selbstständige leiden unter einer schiefen Verteilung von Steuern und Abgaben zugunsten der großen Privatvermögen ebenso wie Unselbstständige. In ihrem Grundsatzprogramm formuliert die SPÖ daher auch ihren Vertretungsanspruch folgendermaßen: „Wir sind die Partei der klassischen Industriearbeiter/innen, aber auch jener, die im Dienstleistungsbereich arbeiten. Wir sind die Partei der kleinen Selbstständigen und der Ein-Personen-Unternehmen, der hart arbeitenden Angestellten ebenso wie der kleinen und mittleren Unternehmen. Wir sind die Partei aller Menschen, deren Arbeitseinsatz die Grundlage für den eigenen Lebensunterhalt ist.“3

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Grundsatzprogramm der SPÖ 2018, S. 6.

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Eine moderne linke Volkspartei muss der steigenden Komplexität der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit gerecht werden. Die Aufgabe des Anspruches, ein politisches Angebot für den großen Teil der Bevölkerung darzustellen, wäre gleichsam eine Aufgabe des Selbstverständnisses als staatstragende, milieuverbindende, fortschrittliche Kraft, der es zuzutrauen ist, Lösungen für die zentralen Herausforderungen der Zeit zu finden und diese auch in einer empathischen und verbindenden Art umzusetzen. So wie durch die Sozialdemokratie die wichtigste politische Aufgabe des 20. Jahrhunderts – der Aufbau eines solidarischen Sozialstaats, der für die breite Bevölkerung Wohlstand schafft und sichert – gelungen ist, so kann sie mit dieser Orientierung auch die wichtigen Fragen der Gegenwart und der Zukunft angehen. Neben der bereits erwähnten Klimakrise ist das etwa die sich dramatisch zuspitzende Ungleichverteilung von Vermögen und damit auch von politischem und wirtschaftlichem Einfluss. Mittlerweile schlagen selbst die Ökonom/innen des Internationalen Währungsfonds und anderer internationaler Organisationen Alarm, da sich die zunehmende Konzentration von Kapital negativ auf die so wichtigen Innovationen und die wirtschaftliche Entwicklung auswirkt. Die SPÖ hat sich in ihrer Neujahrsklausur im Jänner dieses Jahres deshalb auch als Schwerpunkt auf die Entwicklung einer neuen Wirtschaftspolitik festgelegt, die die Kräfte von Staat und Wirtschaft bündeln soll und in der klare gesellschaftliche Ziele den Rahmen für die wirtschaftliche Entwicklung bilden. Ein Blick auf den Arbeitsmarkt zeigt aktuell eine sinkende Arbeitslosigkeit und – in manchen Branchen bereits – Ansätze eines leichten Arbeitskräftemangels, unter anderem bedingt durch demographische Faktoren. Diese Entwicklung könnte eine Chance für eine positive Transformation der Arbeitswelt für die Arbeitnehmer/innen bedeuten. Momentan zeigt sich das schon in jenen Berufen, die traditionell schlecht bezahlt sind und in denen die Arbeitsbedingungen zu wünschen übrig lassen, wie etwa dem Tourismus, aber auch die gesellschaftlich so wichtigen Berufsgruppen wie Pfleger/innen oder Pädagog/innen. Die SPÖ hat auch hier ein ambitioniertes Programm für eine Verbesserung von Arbeitsbedingungen, Ausbildung und mehr Lohn und Anerkennung vorgelegt. Und nicht zuletzt braucht es die Sozialdemokratie auch als die politi­ sche Bewegung, der immer am gesamtstaatlichen Interesse und am Funk­

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tionieren der demokratischen Strukturen und der Institutionen des Rechtsstaats gelegen ist. Eine Begriffsschöpfung, die in den letzten Jahren im politischen Diskurs aufgetaucht ist, ist jene der „illiberalen Demokratie“. Diese ist insofern bemerkenswert, als sie vorgibt, es gebe quasi eine einzige technische Anforderung an einen demokratisch verfassten Staat und das sei die Abhaltung von Parlamentswahlen. Alles andere – Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit, eine politische Kultur des Respekts gegenüber den Institutionen der Demokratie – sei im Wesentlichen Geschmackssache. Die politische Auseinandersetzung um die Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa wird nicht zuletzt von einer Sozialdemokratie geführt, die sich den Bürgerinnen und Bürgern gesamthaft verpflichtet fühlt. Und die sich der Weiterentwicklung der Demokratie zu einer „Sozialen Demokratie“ verschrieben hat, in der die gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen so gestaltet sind, dass alle Menschen, unabhängig von ihrer sozialen Verortung in der Gesellschaft, frei und gleichberechtigt teilhaben und mitbestimmen können.

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Die Kickl-FPÖ Die neuen Königsmacher? Herbert Kickl hat 2021 Norbert Hofer erfolgreich die Funktion des FPÖ-Bundes­ parteiobmannes streitig gemacht und sich als Galionsfigur der Pandemie-Maßnah­ men-Gegner etabliert. Mit diesem Total-Oppositionskurs konnte er den Abwärtstrend der Freiheitlichen vorerst stoppen. Doch als Partner für eine Regierungsbildung, in welcher Konstellation auch immer, kommt die Kickl-FPÖ nicht mehr infrage. Selbst für die ÖVP nicht, weil sie ihm nicht akzeptable Zugeständnisse machen müsste.

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Zum Jahresende 2021 erreichte die von ihm bewusst gedrehte Eskalationsschraube ihre (vorerst) höchste Stufe: FPÖ-Bundesparteichef Herbert Kickl verglich in einem ZiB2-Interview die Corona-Testpflicht für die Kinder in der Schule mit der Verfolgung von jüdischen Kindern in der NS-Zeit. Der Nationalsozialismus habe nicht mit einem Weltkrieg begonnen und nicht mit „irgendwelchen Vernichtungslagern“, sagte Kickl, „sondern er hat damit begonnen, dass man Menschen systematisch ausgegrenzt hat. Er hat damit begonnen, dass man zum Beispiel Kinder, weil sie jüdischer Abstammung gewesen sind, nicht in die Schule gelassen hat“. Es war seine Antwort auf den Vorwurf, dass sich bei den von ihm befeuerten Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen Teilnehmer/innen mit von den Nazis verfolgten Juden verglichen hatten. Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) sah mit der KicklAussage eine „rote Linie überschritten“. Welche Schlüsse daraus zu ziehen seien oder welche Konsequenzen die ÖVP zu ziehen bereit ist, sagte Sobotka nicht. Für Oskar Deutsch, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, war der Kickl-Vergleich „widerwärtig und antisemitisch“. Die Jüdische Hochschülerschaft zeigte den FPÖ-Bundesobmann wegen Verharmlosung des Nationalsozialismus an. Wohl zur Freude des Angezeigten, der sich am Ende des zweiten Pandemie-Jahres mit seinem Wüten gegen Österreich als vermeintliche „Impf-Diktatur“ endgültig als politische Galionsfigur der COVID-19-Maßnahmen-Gegner etabliert hatte. An diesem Kurs des FPÖ-Chefs änderten kritische Stimmen aus der eigenen Partei und vereinzelte Austritte von Funktionären, wie der Parteiobfrau im Kärntner Hermagor, eines Gemeinderates und von acht Parteimitgliedern im steirischen Spielberg, nichts. Solchen Austritten stünden überproportional viele Parteieintritte gegenüber, verlauteten Stimmen – unüberprüfbar – aus der FPÖ. Die frühere Parteichefin Susanne Riess fand die Politik von Herbert Kickl „verantwortungslos“. Für Beate HartingerKlein, Ex-Gesundheitsministerin und Kickls Kollegin in der türkis-blauen Regierung unter Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), war seine Empfehlung des Wurmmittels Ivermectin als Anti-Corona-Medikament „letztklassig und indiskutabel“. Der freiheitliche Chefideologe Andreas Mölzer konnte sogar einer Impfpflicht Positives abgewinnen. Und Norbert Hofer, den Kickl Mitte des Jahres als Parteichef abgelöst hatte, meinte, Politiker

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sollten keine medizinischen Ratschläge gegeben. Mölzer, Hofer und Kickl waren alle selbst an Corona erkrankt, mit unterschiedlichen Verläufen. Historiker Lothar Höbelt nannte den freiheitlichen Parteichef „Heilige Johanna der Impfgegner“ und sah in dessen Strategie, sich auf die Impfgegner zu konzentrieren, einen „schweren strategischen Fehler“. Kann man so sehen, muss man nicht. Die Umfragen am Jahresende wiesen für die FPÖ unter Kickl weit bessere Werte als bei der Nationalratswahl 2019 aus, mit steigender Tendenz. Neuwahlen waren nicht abzusehen, weil sich solche die Regierungsparteien ÖVP und Grüne nicht leisten konnten und sie den Oppositionsparteien SPÖ und Neos nicht wirklich gelegen gekommen wären. Laut nach Neuwahlen rief nur die FPÖ. Umfragen sind Momentaufnahmen. Die Wahlentscheidungen der Bürger/innen fallen großteils zu einem späten Zeitpunkt, in immer kürzerem Abstand zum Wahltermin. Ob dann, wenn der Nationalrat neu gewählt wird, die Corona-Maßnahmen noch ein entscheidendes Wahlargument sein werden, ist fraglich. Deshalb heißt es für die Parteichefinnen und -chefs, die Zeit zu nutzen, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, den Bekanntheitsgrad zu steigern, sich zu positionieren. Die einen versuchen es als konstruktive Alternative, Kickl versucht es als Scharfmacher der Nation. Die FPÖ ist nicht nur die Partei der nationalen, rechten Kreise. Sie war immer auch Auffangbecken für vermeintlich Zukurzgekommene und Wohlstandsverlierer. In der Pandemie sind die Menschen, die sich durch die Anti-Corona-Maßnahmen ihrer Rechte beraubt fühlen, Zielgruppe der Kickl-Politik. In den nächsten Jahren werden es die Menschen sein, die sich durch staatliche Einschränkungen für den Kampf gegen den Klimawandel benachteiligt fühlen. Oder die Flüchtlingsbewegung nimmt wieder zu. Das würde der FPÖ ihr angestammtes Anti-Ausländer-Thema zurückbringen, das ihr zwischenzeitlich Ex-Bundeskanzler und Ex-ÖVP-Chef Sebastian Kurz streitig gemacht hatte. Die Freiheitsrhetorik werde von Kickl zweckentfremdet, analysierte Zeithistorikerin Margit Reiter im Magazin „News“. Ähnlich wie bei der AfD oder Pegida in Deutschland benutzt man grundsätzlich positive Begriffe wie Freiheit, Demokratie oder Individualität, die eine Umdeutung erfahren. Dies, um ein durch die Pandemie gewachsenes Misstrauen gegen den Staat und viele seiner Institutionen zu transportieren und es populistisch zu

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vereinnahmen. Dadurch habe sich laut Reiter der gesamte politische Diskurs verändert und verschärft. Sein Pandemie-Kurs war erst der Anfang. Kickl kann es noch schärfer. Ob Asyl- oder Klimapolitik, der FPÖ-Chef wird auch abseits der Pandemie Angelpunkte für einen Total-Konfrontations- und Total-Oppositionskurs finden. Historikerin Margit Reiter erblickt in dieser Radikalisierung „durchaus eine demokratiepolitische Gefahr“. Wer stellt sich dieser Gefahr entgegen? In Kickls eigener Partei niemand von Bedeutung. Für Historiker Höbelt oder Chefideologen Mölzer sind die Wahlchancen die Messgröße. Die zum Jahresende 2021 aufgeflammten Gerüchte und Spekulationen, Kickl könnte eine kurze Funktionsdauer als FPÖ-Chef beschieden sein, waren zu dem Zeitpunkt verfrühte Abgesänge. Nur negative Wahlergebnisse könnten ihm gefährlich werden. Das Ergebnis bei der Bundespräsidenten-Wahl, dem einzigen planmäßigen Urnengang im Jahr 2022, wird der Kandidatin oder dem Kandidaten angerechnet werden, im Positiven wie im Negativen. Werden Landtagswahlen von 2023 auf 2022 vorverlegt oder gehen sie ein Jahr später schief, werden Verluste regionalisiert und Gewinne nationalisiert. Das war immer so, warum sollte es in Bezug auf FP-Chef Kickl anders sein? Von den in Funktion stehenden Mandataren erntete Kickl für seinen Corona-Kurs keine Kritik, mit Ausnahme einer sehr verhaltenen von Norbert Hofer, dem Dritten Nationalratspräsidenten. Dieser spekulierte mit dem Antreten bei der Bundespräsidenten-Wahl – zur Neuauflage des Duells mit Alexander Van der Bellen – oder wollte zumindest Nationalratspräsident bleiben. Deshalb ging Hofer – der nur für die Öffentlichkeit das freundliche Gesicht der FPÖ ist, dem hinter dieser Fassade eine harte Gangart jedoch durchaus nicht fremd ist – nicht auf Konfrontation mit seinem Nachfolger. Zumal Hofer als FPÖ-Chef in der Entscheidungsphase über den Parteivorsitz keinerlei Unterstützung aus den höherrangigen Funktionärskreisen erfuhr. Kickl hatte ihm von Jahresbeginn 2021 an nach dem Amt getrachtet. „Ich lasse mir nicht jeden Tag ausrichten, dass ich fehl am Platz bin“, sagte Hofer am 1. Juni und trat zurück. Die 88,24 Prozent Zustimmung am Parteitag für Kickl einige Wochen später waren kein überragendes Ergebnis, ein Misstrauensvotum sieht aber anders aus. Niemand stellte sich Kickl in den Weg. Der oberösterreichische FPÖChef Manfred Haimbuchner, der stets als Antipode Kickls galt, hat es sich in

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seiner Landesregierung als Koalitionspartner der ÖVP komfortabel eingerichtet. Deshalb war ein Antreten als Nachfolger von Hofer keine Option für ihn. Haimbuchner, der die Gefahr von Corona am eigenen Leib erfahren und auf der Intensivstation um sein Leben gekämpft hatte, trug sogar Kickls Anti-Impf-Kurs mit. Die niederösterreichischen Freiheitlichen, auf deren Mandat Kickl im Nationalrat sitzt, mit ihren Spitzen Udo Landbauer und Gottfried Waldhäusl sind in ihrer nationalen Ausrichtung und ihrem Anti-Ausländer-Kurs ohnehin von jeher auf einer Linie mit dem Bundesparteichef. Von den Steirern unter Mario Kunasek ist ebenfalls keine Palastrevolution zu erwarten, haben sie doch mit dem Finanzskandal in der Grazer FPÖ genug Probleme. Die Kärntner Freiheitlichen mit Parteiobmann Erwin Angerer sind treue Gefolgsleute ihres Landsmanns Kickl; und sie haben am eigenen Bedeutungsverlust und ihrer mutwilligen Preisgabe des Klagenfurter Bürgermeister-Sessels genug zu tragen, da braucht es keinen Konflikt mit der Bundespartei. Die Salzburger mit Parteiobfrau Marlene Svazek, einem Rhetorik-Talent mit großem Ehrgeiz und besten Aufstiegsprognosen, haben sich unmissverständlich hinter Kickl versammelt. Die übrigen Landesorganisationen mit ihren Parteiobleuten – die Vorarlberger Freiheitlichen mit Christof Bitschi, die Tiroler mit Markus Abwerzger und die Burgenländer mit Alexander Petschnig – sind vernachlässigbare Größen. Was sagt dieses Bild, was sagt dieser Zustand der Freiheitlichen Partei Österreichs über ihre zukünftige Entwicklung? Sind die Freiheitlichen die neuen Königsmacher? Wenn, dann nur für eine ÖVP-geführte Regierung. Nach dem Sturz von Sebastian Kurz waren die politischen Kräfteverhältnisse am Ende des Jahres 2021 allerdings so verteilt, dass sich eine ZweierKoalition von ÖVP und FPÖ nicht ausgehen würde. Für die SPÖ, die Grünen und die Neos ist eine Koalition mit den Freiheitlichen, nicht nur unter einem Parteichef Herbert Kickl, denkunmöglich. Selbst wenn in der SPÖ vereinzelt die Meinung aufblitzt, man müsse sich aus strategischen Gründen eine Zusammenarbeit mit der FPÖ als Option offenhalten, wird es nie dazu kommen: Es würde die Sozialdemokratische Partei zerreißen. Allein das Ausloten einer möglichen Übergangsregierung mit den Oppositionsparteien, nachdem die Grünen den Abgang von Bundeskanzler Sebastian Kurz gefordert hatten und die türkis-grüne Koalition vor dem Scheitern stand, hat der SPÖ-Bundesparteivorsitzenden Pamela Rendi-Wagner nicht gutge-

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tan – sie wurde von „Parteifreunden“ wie von den Medien heftig dafür gegeißelt. Für die Grünen gilt die gleiche unüberbrückbare Ablehnung der FPÖ. Und die Neos würden für eine Dreier-Koalition, wenn die ÖVP die Freiheitlichen mit in das Regierungsboot holen wollten, unerfüllbare Forderungen stellen. Unerfüllbar hohe Forderungen wären auch von Kickl zu erwarten, wenn die ÖVP wieder wegen einer Regierungszusammenarbeit bei der FPÖ anklopfen würde. Dass Sebastian Kurz ihn, Kickl, zum Schuldigen gestempelt hatte, an dem die türkis-blaue Koalition im Jahr 2019 zerbrochen ist, hat sich im Gedächtnis des FPÖ-Chefs eingebrannt. Seither sinnt Kickl auf Rache. „Kurz muss weg“, hatte Kickl zu Beginn des Jahres 2021 als Schlachtruf ausgegeben. Dass der Kanzler und ÖVP-Chef am Ende des Jahres tatsächlich weg war, wird die größte Genugtuung für Kickl gewesen sein. Endgültig gestillt wären seine Rachegelüste erst, wenn die ÖVP für eine Neuauflage einer Koalition mit der FPÖ vor ihm einen Offenbarungseid leisten müsste – eine Preisgabe von Positionen, bei denen die wieder zu ihren schwarzen, christlich-sozialen Wurzeln mutierte Volkspartei wohl nicht mehr mitkönne. Diese Freiheitlichen, die Kickl-FPÖ, als die neuen Königsmacher? Schwer vorstellbar.

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« Travailler pour le roi de Prusse » Der kontraproduktive Kickl-Kurs Der Rücktritt von Bundeskanzler Sebastian Kurz mag für FPÖ-Chef Herbert Kickl eine Genugtuung gewesen sein, aber strategisch war er für die Freiheitlichen ein klassischer Pyrrhus-Sieg.

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I. Strache-Waisen und Blinddarm-Fraktion Die FPÖ befand sich nach Straches Fall in einer kuriosen Position. Sie verfügte auf Bundesebene über zwei Spitzenpolitiker mit hohem Bekanntheitsgrad, die sich von ihrem Naturell und Image hervorragend für einen Auftritt nach dem Muster „good cop – bad cop“ eigneten: Den verbindlichen Norbert Hofer, Regierungskoordinator von Schwarz-Blau, der 2016 mit 35 % überraschend einen sensationellen Erfolg bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen eingefahren hatte, und als Kontrastprogramm Herbert Kickl, der als Innenminister zumindest formell als Grund für den Bruch der Koalition 2019 herhalten musste. Die Chancen und Gefahren eines solchen Szenariums liegen für jeden Beobachter auf der Hand und brauchen nicht länger ausgeführt werden. Dabei handelte es sich bei beiden streng genommen um Außenseiter: Hofer und Kickl waren die ersten beiden Obleute seit einem halben Jahrhundert, die nie an der Spitze einer Landesgruppe gestanden waren. Der Burgenländer Hofer stammt aus dem kleinstem Bundesland, das innerparteilich über kein besonderes Gewicht verfügte (es sei denn, als Vorzeigemodell einer Zusammenarbeit von Rot-Blau). Hofer war beliebt und insofern der logische Nachfolger, aber auch nicht Teil irgendwelcher Netzwerke und Seilschaften, die ihm besonderen Rückhalt verleihen konnten. Kickl wiederum war als engster Mitarbeiter Straches einflussreich, aber gerade deshalb nicht unbedingt beliebt; er entzog sich der altgewohnten innerparteilichen Dichotomie von „liberal“ versus „national“: Er gehört nicht dem Milieu der nationalen Vereine und Studentenverbindungen an, er war als Erfinder der „sozialen Heimatpartei“ auch nicht unbedingt ein Liberaler, der sich an den dirigistischen Vorgaben der „Sozialpartnerschaft“ reibt. Das Jahr, das auf „Ibiza“ folgte, war deshalb von einer latenten Spannung zwischen zwei Persönlichkeiten geprägt, die keinerlei Kerntruppen für sich mobilisieren vermochten. Dazu kommt, dass die FPÖ derzeit kaum über mächtige Landesorganisationen verfügt. Die einzige Ausnahme stellt Oberösterreich dar, das personell sehr gut aufgestellt war, wie nicht zuletzt die Bürgermeisterwahlen vom Herbst 2021 bewiesen. Die ostösterreichischen Landesorganisationen waren durch Straches Sturz gelähmt, die Kärntner immer noch vom Post-Haider-Syndrom in Mitleidenschaft gezogen. Die Steiermark verfügte über keine sehr homogene Struktur; die westlichen

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Landesorganisationen lecken ihre Wunden, seit sie 2018 mit ihren Koalitionshoffnungen enttäuscht wurden. Kickl hatte sich als Hypothek erwiesen, als es um die Verlängerung der bürgerlichen Koalition ging; doch er war ein Bollwerk gegen die Abspaltungstendenzen Straches, die auf so manche Funktionäre der Marke „duro e puro“ vielleicht Anziehungskraft hätten ausüben können. Unter diesen Voraussetzungen war Kickl eine Zeit lang nahezu unverzichtbar; er konnte von dieser Ausgangsbasis als Auffangbecken der Strache-Waisen eine überregionale Minderheit von Aktivisten begeistern, die ihre Frustration abreagieren wollten. Der Kreis derer, die auf Kickl setzten, war dabei keineswegs homogen, er reichte von polternden Exemplaren der BlinddarmFraktion bis zu eleganten Damen, die in einer ganz anderen Liga spielen. Der unerwartete Termin der „Hofübergabe“ war für die Partei schlecht; für Kickl gut.1 Kickl wurde ohne Gegenstimmen nominiert, gab sich innerparteilich versöhnlich und ließ nicht erkennen, wer neben oder unter ihm eine besondere Rolle spielen würde.

II. Gegen das Impfen statt gegen den Corona-Wahnsinn Thematisch waren jeder Neuaufstellung 2020/21 enge Grenzen gesetzt. Für langfristige ordnungspolitische Signale bietet eine Ausnahmesituation, die kurzfristige Maßnahmen erfordert, keine optimale Ausgangsbasis. COVID und die Reaktionen darauf überdeckten alle anderen klassischen freiheitlichen Themen, von den Inflationszielen der EZB bis zur Asylantenfrage (abgesehen davon, dass Kurz zumindest verbal in diesen Bereichen eine harte Linie verfocht). Die Krisenmaßnahmen boten natürlich überall in Europa immer wieder Anlass zu Kritik. Aber diese Kritik lässt sich schwerlich auf irgendeinen politisch-weltanschaulichen Nenner bringen. Fast alle Regierungen der EU von links bis rechts verfolgten ziemlich ähnliche Strategien. Man wird mit der Vermutung wohl nicht fehlgehen, dass routinierte Politi-

1 Immerhin: Zum Unterschied von Alexander Schallenberg erfuhr Hofer von seinem Rücktritt nicht erst nachträglich.

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ker dabei nicht „Experten“ vertrauten, sondern den Umfragen, die deutliche Mehrheiten für „harte Maßnahmen“ signalisierten. Es lag für eine Oppositionspartei nahe, an den Unmut der Bevölkerung über die Dauer der Maßnahmen zu appellieren: Der Slogan gegen den Corona-Wahnsinn hatte den Charme des Unbestimmten, das jeder mit seinen persönlichen „Vorlieben“ auffüllen konnte. Statt die Regierung beim Wort zu nehmen – „Für Geimpfte ist die Pandemie vorbei“ (Wieso dann noch Tests, Maskenpflicht, neue Lockdowns etc.?) –, ist Kickl in die Falle gegangen, die Impfgegner zu umschwärmen. Das mag von einer Grundrechtsperspektive aus seine Meriten haben. Aber mit einer Justament-Berufung auf (vermeintliche) Grundrechte kann man eben auch den Asylantenzuzug einfordern. Sich daran ein Beispiel zu nehmen, war riskant; den Anschein zu erwecken, ein medizinisches Detail, über das sich die Gelehrten streiten, zur Fahnenfrage einer Partei zu machen, noch riskanter. Das sind Thema für eine Bürgerinitiative: Die Ängste – vor der Pandemie und vor dem Impfen – gehen nun einmal quer durch alle Parteien. Und die berechtigte Kritik daran, dass die Regierung im kriegswirtschaftlichen Verfahren zwar der Wirtschaft Milliardenverluste beschert, aber nicht imstande ist, den Pflegekräften um ein paar Millionen mehr eine marktkonforme Entlohnung zu bieten, wurde von den Medien weit zurückhaltender kolportiert als die „Sager“ über Wurmmittel … Wenn es eine Konzentration von Impfskeptikern im Publikum gibt, so signalisieren alle Erfahrungswerte aus Wiener Schulen, dass es sich dabei in erster Linie um gewisse Zuwanderergruppen handelt – und dass laut Umfragen die Impfskeptiker zu zwei Dritteln aus Frauen bestehen. Beides sind nicht die primären Zielgruppen der FPÖ, die vielmehr jene Wähler zurückholen muss, die sich nach „Ibiza“ zu Kurz verlaufen oder in den sprichwörtlichen politischen Wartesaal zurückgezogen haben. Gastspiele von ehrlich empörten Querulanten aller Schattierungen sind dafür kein hinreichender Ersatz. Die Analyse der oberösterreichischen Wahlen zeigt, dass diese Gruppen meist weitab von der FPÖ liegen – und die entsprechende Liste die Blauen deshalb auch weit weniger Stimmen gekostet hat als von ihr zur ÖVP gewandert sind. Die Dämonisierung Kickls ist ­dabei natürlich ein Unsinn. (Wie war das noch einmal mit den ­Populisten, die unbedingt Feindbilder brauchen?) Seine Aufrufe zu Demonstrationen

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– samt den aus dem Zusammenhang gerissenen „Sagern“ – waren kein „staatsgefährdendes“ Verbrechen,2 sondern viel ärger: ein Fehler. Mit „Demos“ und ihren Nebenwirkungen (Staus, Kosten, Randalierer) tut niemand seiner Sache etwas Gutes. Früher einmal hat man diese Art von unbedanktem Engagement für lachende Dritte im Diplomatenjargon „travailler pour le roi de Prusse“ genannt.

III. Ein Pyrrhus-Sieg: Kraft durch Schadenfreude? Kickl und Kurz haben ein Erfolgsrezept kopiert, wie es die SPÖ seit Jahr und Tag vorexerziert. Sie haben eine Koalition miteinander öffentlich ausgeschlossen. Der SPÖ hat diese „Ausgrenzungsstrategie“ mehrmals eine geruhsame Auszeit in der Opposition eingebracht – und den Verlust der Hälfte ihrer Wähler. Kurz und Kickl sind dieser Droge erst seit kurzem verfallen – die Wirkungen sind dennoch bereits spürbar. Natürlich war Kickls Reaktion auf seinen Hinauswurf „menschlich verständlich“. Diese Formel ist verräterisch. Sie wird selten gebraucht bei Erfolgsstrategien, die keiner Entschuldigung bedürfen, sondern vorzugsweise bei Aktionen, die sich als kontraproduktiv erweisen. Natürlich waren Misstrauensanträge gegen Schwarz-Grün würdig und recht. Kurios war von Anfang an bloß der Tenor dieser Kritik, der im Vorwurf gipfelte, die Grünen seien zu schwarzen Ministranten mutiert. Wenn der Vorwurf zu Recht bestand, so konnte er schwarz-blauen Wechselwählern nur signalisieren, dass die ÖVP ihren Standpunkt offenbar besser durchsetzen konnte als die Grünen. Herz, was willst du mehr? (Und dabei hat die „Neue Freie Zeitung“ nicht einmal Inserate lukriert!) Grünwähler hingegen, die finden, dass Kickl mit seiner Kritik recht hat, werden ihn deshalb wohl kaum wählen, sondern rot, rot-rot, pink oder sonst was. Die FPÖ kann nur auf konservative Wähler setzen, die das Gefühl haben, die ÖVP sei umgefallen, nicht auf enttäuschte Linke. Einmal mehr lautet das Verdikt: „Travailler pour le roi de Prusse“. Gerade jetzt, nach dem Rücktritt von

2 Allerdings: Ein einziger Anti-WKR-Krawall hat in der Wiener Innenstadt mehr Schäden verursacht als alle Demos des Jahres 2021. Vielleicht wäre es zu viel verlangt, von frischgebackenen Stapo-Chefs so viel Einsicht zu erwarten …

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Kurz, mit einer ÖVP, die vor den Grünen in die Knie geht und von der alten Großen Koalition zu träumen beginnt, machen sich diese „opportunity costs“ besonders schmerzhaft bemerkbar. Wenn man schon für Grundrechte und gegen den „tiefen Staat“ auf die Straße geht, hätte man die Methoden der Korruptionsstaatsanwaltschaft ins Visier nehmen müssen. (En passant ist ja auch auffällig, wie zurückhaltend Medien darauf reagiert haben, als deren MannInnen das BKA überfielen – als Kickl im eigenen Ressort Nachschau hielt, war da gleich Feuer am Dach.) Kurz hatte mit Strache das eine gemein: Ihre Indiskretionen sind peinlich, aber angestellt haben sie nicht wirklich etwas (auch wenn Inquisitoren immer ein Haar in der Suppe finden werden). Oder rechnet man damit, dass Blau-Sympathisanten plötzlich von Mitleid mit Mitterlehner zu Tränen gerührt werden? Für die Methode, Anzeigen selektiv an Medien zu verteilen, kann Kurz nun wahrlich kein Copyright beanspruchen. Wer Feuer frei gegen türkise Seilschaften eröffnet, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, den Großkoalitionären in der ÖVP den Weg freizuschießen. Spätestens als sich die Grünen gegen Kurz festlegten, hätte man sich in die erste Reihe fußfrei zurückziehen müssen. Wieder einmal: „Travailler pour le roi de Prusse“. Der Rücktritt Kurz’ bedeutete einen Prestigegewinn für die Grünen. Der Gewinn für Kickl bestand in einem Kaffee mit Rendi-Wagner, dem als Kotau vor der post-theresianischen Keuschheitskommission gleich ein Dementi auf dem Fuße folgte, es habe sich da ja nur um ein Gespräch gehandelt, nicht um eine Liaison. Ohne den Charme der Dame gering zu achten, erhebt sich da doch sehr die Frage, ob sich’s dafürstand. Umfragen signalisieren, dass Schwarz-Blau inzwischen keine Mehrheit mehr hätte – und Rot-Blau nach wie vor nicht. Oder will man gar noch ein Techtelmechtel mit den Blimlingers und Brandstetters dieser Welt anschließen? Selbst wenn man wollte, die Linke setzt inzwischen nicht mehr auf Kickl als Königsmacher, sondern darauf, dass sie zum ersten Mal seit Kreisky eine Mehrheit erringen könnte. Der Rücktritt von Kurz mag für Kickl eine Genugtuung gewesen sein, aber strategisch, so lautet die einzig mögliche Folgerung, war er für die FPÖ ein klassischer Pyrrhus-Sieg.

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IV. Fazit K. und K. haben sich von „linken Zellen“ (wie es ein ÖVP-Sprecher tendenziell richtig formuliert hat) gegeneinander ausspielen und instrumentalisieren lassen. Ich würde nicht ausschließen, dass Kurz und Kickl – denen ja noch niemand vorgeworfen hat, dass sie unintelligent seien – aus ihren Fehlern gelernt haben könnten. Vielleicht haben sie es sogar – zu spät – erkannt, ganz im Sinne des abgewandelten Trump-Slogans: „Make America think again.“ Ich fürchte bloß, dass es bei den beiden – aus diversen Gründen – dafür inzwischen zu spät ist …

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bernhard heinzlmaier

Die grüne Renaissance Ökologischer Fanatismus und ­ideologischer Reinheitswahn Ohne Zweifel wird die gegenwärtige Politik von grünen Themen beherrscht. Die Corona-Pandemie hat die schrankenlose Ausdehnung grüner Diskurse, zumindest was die durch die juvenile Bewegung „Fridays for Future“ radikalisierte Klimade­ batte betrifft, zwar etwas in den Hintergrund gedrängt, aber die großen links-grünen Metadiskurse, die vor allem gesellschaftspolitische und kulturelle Themenstellungen und die moralische Regulierung der Sprache betreffen, bestimmen weiterhin die medial vermittelte Debatte.

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Die Frage, die sich nun stellt, ist, warum werden wir gerade heute von dieser epidemischen Ausbreitung grüner Diskurse heimgesucht? Soziologisch betrachtet, liegt es wohl an der Spaltung der gesellschaftlichen Mitte. Diese gründet einerseits in der Auflockerung und Liberalisierung der patriarchalen Strukturen der bürgerlichen Familie. Andererseits ist sie Folge der Entstrukturierung und Pluralisierung der medialen Kommunikation, durch die diese kleinteiliger wurde, was zur Folge hat, dass nun auch ideologische Positionen weithin Gehör finden, die früher nur wenige Menschen in medial isolierten radikalen Milieus erreichen konnten. Der abnehmende Einfluss der bürgerlichen Familie auf die politische Sozialisation in Kombination mit der Emanzipation des politischen Diskurses vom formierenden Einfluss von staatlichen und privatwirtschaftlichen Medienmonopolen hat die Spaltung der bürgerlichen Mitte in ein progressiv-linksliberales und in ein bürgerlich-konservatives Segment bewirkt.1 Der abgespaltene progressiv-linksliberale Teil besteht überwiegend aus Kindern aus bürgerlichen oder traditionellen sozialdemokratischen Familien, die keine Aufstiegsleistungen mehr erbringen müssen, weil ihre Eltern diese schon für sie erbracht haben, und die in der Regel für ihr materielles Auskommen keinen täglichen Kampf zu führen haben. Während die Eltern mit sehr konkreten materiellen Fragen wie der Kreditrückzahlung für das selbstgebaute Eigenheim oder der Finanzierung der immer länger dauernden und damit immer teurer werdenden Ausbildung ihrer Kinder beschäftigt sind, steigt unter den Jungen, die auf Basis des Wohlstandes ihrer Eltern eine materiell sorglose Existenz führen, die Tendenz, sich mit allgemeinmenschlichen, universellen und abstrakten Fragestellungen zu beschäftigen. Der französische Philosoph Gilles Deleuze hat schon in den 1990erJahren darüber gesprochen, dass sich Ideologien heute primär über die diskursive Vermittlung ausbreiten, und zwar auch dann, wenn sie den materiellen Interessen und praktischen Erfahrungen der Menschen widersprechend entgegenstehen. Ideologien sind für Deleuze gasförmige Phänomene, die

1 Vgl. Seesslen, Georg/Metz, Markus: Wir Klein-Bürger 4.0. Die neue Koalition und ihre Gesellschaft. Berlin 2021, S. 24.

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nicht mehr überwiegend in den ökonomischen Gegenständlichkeiten, den Technologien oder den Arbeitsmitteln stecken, sondern es sind vielmehr wirklichkeitsautonome Ideen, die ständig zirkulieren, uns wie Gas unsichtbar umgeben und uns ohne Unterlass subtil dazu drängen, an ihre Prinzipien und Werte zu glauben und diesen in unseren praktischen Handlungen zu folgen.2 In diesem Kontext betrachtet ist der Grund für die erfolgreiche grüne Renaissance eine Folge von Anpassungsleistungen an ein ideologisches System, dem die Menschen überwiegend unbewusst folgen und das vielfach kaum auf reale Notwendigkeiten bezogen ist. Wenn junge Menschen sich seit den 1980er-Jahren politisch engagieren, und diese Tendenz hält bis heute an, dann sind es in erster Linie die großen Menschheitsfragen wie der Weltfrieden, die friedliche Nutzung der Kernenergie, der gerechte Handel mit armen strukturschwachen Weltgegenden und die Umweltverschmutzung. In den letzten Jahren sind die Klimapolitik und identitätspolitische Anliegen hinzugekommen. Allen diesen Engagementkulturen haftet die Eigenschaft an, dass der überwiegende Anteil ihrer Aktivisten und Sympathisanten von den Problemen, die thematisiert werden, persönlich überhaupt nicht oder wenn, dann nur mittelbar betroffen sind. Die Mobilisierung zum Engagement erfolgt also nicht über die drängende Kraft selbsterfahrener Bedürfnisse und Interessen, sondern ist die Folge einer medial vermittelten ideologischen Einflussnahme. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat einmal geschrieben, dass alle jene, die von „der Jugend“ sprechen, bereits manipulieren, weil die Jugend der postmodernen Gesellschaft mehrfach gespalten und breit ausdifferenziert ist.3 Diesem Hinweis ist Gehör zu schenken. Denn auch wenn wir die grünen Protestbewegungen unserer Zeit betrachten, sehen wir dort nicht „die Jugend“ am Werk, sondern überwiegend ihren bildungsnahen Teil. Die grünen Parteien und die in ihrem Vorfeld agierenden Bewegungen werden dominiert von Studierenden oder von Universitätsabsolventen.

2 Deleuze, Gilles: Postskriptum über die Kontrollgesellschaft. In: Menke, Christoph/Rebentisch, Juliane (Hg.): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Berlin 2011, S. 5–12. 3 Bourdieu, Pierre: „Jugend“ ist nur ein Wort, in: Ders.: Soziologische Fragen. Frankfurt am Main 1993, S. 136–146.

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österreichisches jahrbuch für politik 2021

Die Universitäten sind heute zu einem gegenkulturellen Ort geworden. Sie stehen in ihren überwiegenden Teilen in scharfer Opposition zu den Denkweisen, Idealen und Interessen der vom Abstieg bedrohten Mittelschichten und den entkoppelten Unterschichten. Die dominierenden politischen und ökonomischen Institutionen und Strukturen des Landes, vor allem aber die Medien werden von akademischen Eliten beherrscht, die sich überwiegend aus Menschen zusammensetzen, die aus den, von ihrem konservativen Herkunftsmilieu abgespaltenen, progressivlinksliberalen Segmenten der Mitte kommen. Standpunkte der Mehrheit der Menschen der Mittel- und Unterschichten werden nicht mehr institutionell abgebildet. Das zeigt sich zum Beispiel an der Behandlung des Themas der Verfolgung von Menschen wegen ihrer religiösen Überzeugungen. Die global am stärksten verfolgte Religionsgemeinschaft ist die der Christen. Am meisten haben sie in muslimisch dominierten Ländern zu leiden. Darüber wird in unseren Medien aber kaum berichtet. Vielmehr dominieren Beiträge über Muslime, die Opfer eines weißen, begrifflich geschickt konstruierten angeblichen „antimuslimischen Rassismus“ wurden, die Berichterstattung. Dass die von den akademischen Eliten beherrschten politischen und medialen Institutionen und Einrichtungen die bürgerliche Mehrheit in Österreich nicht mehr repräsentieren, zeigen empirische Analysen, die sich mit den Werthaltungen und Einstellungen der Österreicher und Österreicherinnen beschäftigen. Das soll kurz am Beispiel der österreichischen Jugendwertestudie4 gezeigt werden, die jährlich vom Institut für Jugendkulturforschung durchgeführt wird. Aus ihr geht hervor, dass die Mehrheit der unter 30-Jährigen von konservativ-bürgerlichen Werten geprägt ist. Für diese jungen Menschen sind Werte wie Sauberkeit, Sicherheit, Sparsamkeit wichtig, und sie halten die bürgerliche Familie für den zentralen Stabilitätsfaktor von Kultur und Gesellschaft. Selbst in den progressiven, antibürgerlichen akademischen Milieus finden diese Werte eine große Zustimmung, auf viele der jungen Akademiker und Akademikerinnen scheint der Einfluss der Ideologien der universitären Eliten also doch nur oberflächlich einzuwirken. Trotzdem werden in den Medien häufig Menschen, denen Gemeinschaft,

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Österreichische Jugendwertestudie. Wien 2021

bernhard heinzlmaier    |    die grüne renaissance

Familie und Sicherheit wichtig sind, als rückständig oder gar „reaktionär“ beschrieben, während linksliberale Startup-Apologeten und postmaterialistische Lebensreformer, für die die bürgerliche Familie primär ein Hindernis für ihr narzisstisches Selbstverwirklichungsbestreben darstellt, ins Zentrum einer unterschwellig zustimmenden Berichterstattung gestellt werden. Die Diskrepanz zwischen den Werten der akademischen Eliten und denen der Bevölkerungsmehrheit zeigt sich auch drastisch, wenn es um das Thema Österreich geht. So sind über zwei Drittel der unter 30-jährigen Österreicher stolz darauf, Staatsbürger ihres Landes zu sein.5 In akademischen und linken Kreisen hingegen sind Österreichbewusstsein und Patrio­ tismus verpönt. Sie werden dort als „radikalisierter Konservatismus“ oder gar Rechtspopulismus etikettiert. Durch diesen rhetorischen Schachzug wird versucht, konservative Werte aus der legitimen politischen Kultur hinauszudrängen. Wer konservativ ist, so wird wenig subtil unterstellt, steht bereits mit einem Fuß auf der Seite des Rechtsradikalismus.6 Die Grünen und ihre Ideologie gehen auf die Studentenrevolte der 1960er-Jahre und die sogenannten „Neuen sozialen Bewegungen“ der 1970er- und 1980er-Jahre zurück. Alle diese Bewegungen waren vom außerparlamentarischen Kampf gegen das Establishment geprägt. Heute sind die Rebellen von damals das neue Establishment. Die wendigen antiautoritären und gesellschaftskritischen schlauen Füchse von gestern, sind zu den Mächtigen der Gegenwart, zu etablierten und satten Löwen geworden, die sich in den staatlichen Institutionen einbunkern und ihre Machtposition, wie ihre früheren Gegner, gegen neue aufstrebende gesellschaftliche Gruppen verteidigen. Die 1968er und die ihnen nachfolgenden Exponenten der „Neuen sozialen Bewegungen“ haben sich als neue Eliten etabliert und besetzen heute die Schlüsselpositionen in Staat und Medien. 7

5 Österreichische Jugendwertestudie. Wien 2021. 6 Strobl, Natascha: Radikalisierter Konservatismus. Eine Analyse. Frankfurt am Main 2021, 7 Der Soziologe Vilfredo Pareto hat eine Elitentheorie entwickelt, in der er zwischen der herrschenden Elite der etablierten Löwen und der sie herausfordernden, nicht-herrschenden Elite der schlauen Füchse unterscheidet. Wenn die Löwen dekadent werden und nicht mehr mit den Anforderungen der sich ständig verändernden gesellschaftlichen Umwelt zurechtkommen, werden sie von den Füchsen abgelöst. Für Pareto ist die Geschichte ein Friedhof der Eliten. (Pareto, Vilfredo: Allgemeine Soziologie, München 2005).

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österreichisches jahrbuch für politik 2021

Kommen wir noch einmal auf die Theorie von Gilles Deleuze von der Gasförmigkeit der Ideologien zurück, die sich von den materiellen sozialen und ökonomischen Bedingungen emanzipiert haben und aufgrund ihres luftförmigen Aggregatzustandes überall eindringen und ihre Wirkung entfalten können. Daraus erklärt sich die oft befremdliche Tatsache, dass die grünen Ideologien heute überall vorkommen, auch in politischen Parteien und Lagern, zu denen sie weltanschaulich, kulturell und der ökonomischen Interessenlage nach überhaupt nicht passen. Die Grünideologie ist aufgrund ihrer hochgradigen Abstraktheit – sie handelt ja überwiegend von bedrohlichen, aber unsichtbaren Gefahren und diffusen dystopischen Zukunftsprognosen, und nicht zuletzt wegen der Fähigkeit ihrer Chefideologen, sie zu sakralisieren, sie also in Glaubenslehren zu transformieren, die auf metaphysischen Gottesgeboten ruhen, überallhin anschlussfähig. Egal, ob jemand liberal, konservativ, sozialdemokratisch, kommunistisch oder sogar anarchistisch ist, wenn die großen existenziellen Menschheitsfragen von der alle entzückenden schwedischen melancholischen „Heiligen“ Greta Thunberg mit viel Pathos versehen präsentiert werden, dann öffnen sich alle Herzen und der Verstand verfällt der Agonie. Und jene, die der Aura des Spuks nicht verfallen, machen mit, weil sie einfach zur großen Weltrettungsbewegung dazugehören wollen. Man sollte nicht die Sakralität der links-grünen Politik der Gegenwart unterschätzen, denn sie operiert nicht nur mit heiligenähnlichen Figuren wie Greta Thunberg oder Luisa Neubauer, die ihre Auffassung mit einem Absolutheitsanspruch vortragen, als wären sie Abgesandte Gottes, es werden auch wahrliche Märtyrer-Geschichten über ihren selbstaufopfernden Einsatz für die große Sache verbreitet, die an klassische Heiligennarrative durchaus heranreichen. Idealtypisch dafür ist die grandiose, tragische Inszenierung der Wiener Lobautunnel-Baustellenbesetzer, die den kalten Winter in ihren Holzhütten zitternd vor Kälte verbringen, bedroht von einer ihnen ständig auflauernden übermächtigen Staatsgewalt. Sie nehmen dieses Leid für uns alle stellvertretend auf sich, um die Natur und damit unser aller Lebensgrundlage zu retten. Die, die sich dem absolut Guten verschrieben haben und sich für das große Ziel der Menschheitsrettung aufopfern, geben sich mit keinen halben Sachen zufrieden. Keinesfalls werden mäßige, halbherzige oder laue

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Positionen und Aktionen akzeptiert. Der wahre links-ökologische Aktivist brennt für seine Sache, duldet keine Kompromisse und ist radikal in seinen Aktionen. Der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy spricht von der gefährlichen Reinheit, die Bewegungen prägt, die von totalen Diskursen und Ideologien beherrscht werden, die glauben, im Dienste einer absoluten Wahrheit zu stehen. Lévy warnt besonders vor der Reinheit in der Politik, also vor Bewegungen und Parteien, die sich dogmatisch auf Traditionen, Prinzipien und alte Schriften beziehen, deren Inhalte nicht verhandelbar sind, und wenn notwendig, auch mit revolutionärer Gewalt durchgesetzt werden müssen. Der Zweck heiligt ihnen jedes Mittel und ihr unerbittliches Sprechen und Handeln mutet an, als wäre die Reinheit gerade aus der klösterlichen Abgeschiedenheit ausgebrochen, „um den Staat zu überschwemmen und sich jedermann aufzudrängen“. 8 Die Gefährlichkeit der links-ökologischen Ideologie beginnt immer dort, wo sie messianische, welterlösende Überzeugungen ausbildet. Erstes Anzeichen dafür ist das Hervortreten einer Dialektik, die zwischen Reinheit und sündiger Unreinheit oszilliert und die in ihrer Konsequenz das Bedürfnis nach Sauberkeit und Säuberungen entstehen lässt. Erste Anzeichen dafür sehen wir heute im Umgang der links-ökologischen Politik mit Sprache und Ideologien. So wird der Katalog der verbotenen Wörter immer länger und abstruser, genauso wie die Liste jener Institutionen, Bewegungen, Identitätsentwürfe und Glaubensgemeinschaften, die nicht mehr kritisiert werden dürfen. Jene, die Sprachtabus und Kritikverbote nicht beachten, werden in der Regel als Sexisten, Rassisten oder gar Rechtsextreme etikettiert und diskreditiert. Eifer und Fanatismus existieren in der linksgrünen Kultur längst nicht mehr untergründig, sie brechen seit geraumer Zeit an die Oberfläche durch und werden als strukturelle Alltagsgewalt wirksam. Gefahr droht der Demokratie immer von ihren politischen Rändern, dort, wo sich die Radikalen sammeln. Das große Problem unserer Zeit aber ist, dass sich aller Augen nur auf die Gefahren richten, die von rechts drohen. Das ist nicht zuletzt auf die geschickten Diskursstrategien von linken

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Vgl. Levy, Bernhard-Henri: Gefährliche Reinheit. Wien 1995, S. 79

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Ideologen und auf die Berichterstattung der von progressiv-linksliberalen Aktivisten dominierten Medien zurückzuführen. Schon lange warnen kritische Experten vor einer immer fundamentalistischer und radikaler werdenden Klimabewegung, auf die Fanatiker wie die linksradikal-anarchistische Gruppe „Extinction Rebellion“ immer größeren Einfluss bekommen. In der links-ökologischen Welt verstärken sich Eifer und Fanatismus. Die Reinheit der Sprache wird genauso zu einer immer größeren Obsession wie die Reinheit der Lehre. Kompromisse sind unter Grünen und Klima-Aktivisten unbeliebter als je zuvor. Die gefährliche Reinheit breitet sich aus. Was uns dadurch drohen könnte, formuliert Bernard-Henri Lévy pointiert: „Maximum an Reinheit = Maximum an Barbarei“9.

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Vgl. Lévy, Bernhard-Henri: Gefährliche Reinheit. Wien 1995, S. 79

felix ehrnhöfer/julia preinerstorfer

Der grüne Wandel Von der Oppositionspartei über außerparlamentarische politische Arbeit hin zur Regierungspartei. Die Grünen haben in den letzten vier Jahren einen harten Weg hinter sich. Das zweite Jahr in einer Koalition – und das zweite Jahr der CoronaPandemie – hat aber den Kulturwandel der Partei rasant beschleunigt und lässt sie stabiler denn je dastehen.

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Als Oppositionspartei hat man den Luxus, sich in einer idealen Welt zu bewegen. Die Vorhaben der Regierungsparteien können bewertet und kritisiert werden, die vorgeschlagenen Gegenprojekte müssen nicht auf Durchsetzbarkeit mit Koalitionspartnern oder die Umsetzbarkeit in bestehenden Strukturen geprüft werden. Man kann sich auf die ideale Welt der Parteiprogramme und höhere Ziele und Werte beziehen, ohne den Realitätstest bestehen zu müssen. Diese Oppositionskultur prägt die Grünen, auch wenn sie in Bundesländern und in Gemeinden bereits Regierungserfahrung gesammelt haben. Demgegenüber gehörte die ÖVP seit der parlamentarischen Geburtsstunde der Grünen im Jahr 1986 ohne Unterbrechung1 der Bundesregierung an. Nach der Nationalratswahl 2019 sind somit eine langjährige Oppositionspartei – die Grünen – und eine Partei, in deren DNA Regierungsverantwortung eingeschrieben ist – die ÖVP –, „aus Verantwortung für Österreich“ das Experiment einer gemeinsamen Regierung eingegangen. Für die Grünen war der Start in die Regierung herausfordernd: Sie mussten aus dem Nichts ihren Parlamentsklub und Kabinette der grünen Mitglieder der Bundesregierung aufbauen, ihre Regierungsarbeit und die interne Willensbildung organisieren und strukturieren. Die Grünen konnten dabei nicht auf bestehende Loyalitäten in Bundesministerien, eine langjährige Vernetzung in Vorfeldorganisationen, parteipolitisch zuordenbare Interessensverbände und langjährig etablierte Strukturen zur Nachwuchsförderung bauen. Das war während der Regierungsverhandlungen und in den ersten Monaten der Regierungsbeteiligung ein Nachteil. Da oder dort waren die Grünen aber auch in der Lage, diesen Startnachteil in einen Vorteil umzuwandeln: So rekrutierte Leonore Gewessler ihr Kabinett aus so unterschiedlichen Bereichen wie NGOs, Industriellenvereinigung und Bundesagenturen. Engagement für und Verbundenheit mit den Projekten des grünen Superministeriums waren zentrales Auswahlkriterium bei der Personalaus-

1 Selbst in der Zeit der Expertenregierung Bierlein verblieben zahlreiche ÖVP-Kabinetts­mitar­ beiter/innen in den allermeisten Bundesministerien an den Schaltstellen der Macht.

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felix ehrnhöfer/julia preinerstorfer    |    der grüne wandel

wahl, nicht eine absolvierte Ochsentour in der grünen Partei oder ihren Vorfeldorganisationen. Steiniger war und ist der Weg der Grünen aus der Welt einer Oppositionspartei hin zu umsetzbaren Kompromissen mit dem Koalitionspartner. Gute Ideen und gute Leute alleine reichen für eine Regierungspartei nicht aus. Diese Ideen auf den Boden zu bringen, ist noch einmal eine ganz andere Geschichte. Denn in der praktischen Regierungsarbeit ist die gute Idee alleine wenig wert. Man muss sie gegen Widerstände auf den Boden bringen. Und diese Widerstände kommen von vielen Seiten. Es müssen Beamt/innen motiviert werden, mit Hochdruck an der Sache zu arbeiten. Es müssen Bündnispartner/innen gewonnen werden, die nach innen aber auch nach außen die Vorhaben unterstützen und gemeinsam voranbringen. Und die auch dabei helfen, die Gegner/innen eines Vorhabens unter Druck zu setzen. Last but not least muss man auch intern dafür werben, dass „alles oder nichts“ im Regierungsalltag eben in aller Regel bedeutet, dass man weder „alles“ noch „wenig“ in Form eines mit dem Koalitionspartner erzielbaren schmerzhaften Kompromiss, sondern eben „nichts“ erreicht. Die Lernkurve Grüner Regierungsarbeit kann gut am Beispiel Plastikpfand illustriert werden: Im Herbst 2020 präsentierte Leonore Gewessler einen 3-Punkte-Plan gegen Plastikflut. Dieser umfasste eine Mehrwegquote, ein Plastikpfand und eine Herstellerabgabe für Plastikverpackungen. Für die Umsetzung des Plans gab es gute Argumente: Die EU hatte beschlossen ab 2021 eine Plastiksteuer einzuführen, die jeder Mitgliedsstaat für nicht-recyclte Plastikverpackungen zu bezahlen hätte. Weniger Plastikmüll würde also heißen, weniger Belastung für die Steuerzahler/innen. Zusätzlich lag eine noch unter Ministerin Köstinger in Auftrag gegebene Studie vor, die zeigt, dass die von der EU geforderte 90-prozentige PET-Flaschen-Sammelquote nur durch die Einführung eines Pfandes erreicht werden kann. Dennoch war der Koalitionspartner zunächst nicht bereit, die für den Plan nötige Änderung des Abfallwirtschaftsgesetzes (AWG) gemeinsam zu beschließen. Die ÖVP verwies darauf, dass nur einer der drei Punkte (Mehrwegquoten) Teil des Regierungsprogramms ist. Es entstand eine Deadlock-Situation: Die Umsetzung des gesamten Plans kam für die ÖVP nicht in Betracht, ein AWG ohne ausreichende Maßnahmen gegen die Plas-

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tikflut wäre für die Grünen eine schwere Niederlage gewesen. In der Trias „alles“, „wenig“ bzw. „nichts“ bedeutet Deadlock „Nichts“. Wenn inhaltliche Argumente am Koalitionspartner abprallen, bleibt als Ausweg nur das Instrument des „Package Deal“. Er ist das Ergebnis wechselseitiger Junktims: Lehnst du mein Vorhaben A ab, blockiere ich im Gegenzug dein Vorhaben B. Oder positiv formuliert: Gönnst du mir den Erfolg der Umsetzung des Vorhabens A, ermögliche ich Dir den Erfolg des Vorhabens B. Junktims sind ein sinnvolles Instrument des Interessensausgleiches und ein unverzichtbarer Bestandteil jeder Regierungsarbeit.2 Ende April 2021 erfolgte als erster Schritt die Einigung der Koalitionsparteien auf einen Begutachtungsentwurf: Dieser umfasste vom 3-Punkte-Plan lediglich die Mehrwegquoten, diese allerdings in einer sehr weitreichenden Form. Der Begutachtungsentwurf offenbarte massiv unterschiedliche Interessenslagen innerhalb der Wirtschaft: So war etwa für Diskonter im Lebensmitteleinzelhandel und große Teile der österreichischen Getränkeindustrie die alleinige Einführung von strengen Mehrwegquoten eine sehr schlechte Lösung. Sie bevorzugten eine Änderung der Mehrwegquoten bei gleichzeitiger Einführung eines Einwegpfandes. Als Katalysator wirkte auch der RRF, der europäische Wiederaufbauplan: Die Grünen konnten hier u. a. hohe Förderungen zum Aufbau einer Rücknahmeinfrastruktur durchsetzen, gerade für kleine Händler. Diese Mittel der EU setzten aber logischerweise die Einführung eines Pfandsystems voraus. Bundesministerin Gewessler konnte der Wirtschaft damit ein sehr attraktives Angebot machen: Förderungen aus EU-Mitteln für die Einführung eines Pfandsystems und darauf abgestimmte, adaptierte Mehr-

2 Der schlechte Ruf von Junktims resultiert aus dem Idealbild, dass es in der Politik ausschließlich darum geht, die jeweils beste Lösung für eine Sachfrage zu finden. Mit diesem Idealbild ist schwer vereinbar, dass zwei unzusammenhängende Sachfragen miteinander verbunden werden. Diese Vorstellung übersieht aber, dass aufgrund unterschiedlicher Interessen, Weltanschauungen etc. eben Uneinigkeit darüber herrscht, worin die jeweils „beste Lösung“ besteht. Politische Kompromisse sind somit das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses. Junktims verknüpfen mehrere dieser Aushandlungsprozesse miteinander und funktionieren dann, wenn das Ergebnis von beiden Seiten als besser erachtet wird als mehrere Einzellösungen bzw. auf diesem Weg überhaupt erst wechselseitige Blockaden aufgelöst werden können.

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wegquoten. In zahllosen Einzelgesprächen gelang es der Ministerin und ihrem Team,3 immer mehr Unternehmen für diese Lösung zu gewinnen. Auch Interessensgruppen außerhalb der Wirtschaft wie Umweltverbände, aber auch einige Gemeindevertreter/innen oder die L ­ andwirtschaft, die mit den Folgen achtlos weggeworfener Getränkeverpackungen zu Rande kommen müssen, unterstützten die Forderung nach Einführung ­eines Pfandes. Dass die Grünen mit keinen Verbänden und Interessensorganisationen fix verbunden sind, ermöglichte diesen eine Allianz aus Partne­r/ innen zu schmieden, die am gemeinsamen Ziel, am gemeinsamen Thema, an der gemeinsamen Lösung interessiert waren. Hilfreich in politischen Verhandlungen ist natürlich auch, wenn ein Großteil der Medien und der Bevölkerung hinter einem politischen Ziel stehen: Genau das war laut Umfragen beim Thema „Pfand“ der Fall. So konnten die Grünen im Zuge der Budgetverhandlungen für das Jahr 2022 schließlich die Einführung eines Einwegpfandes und ein System von Mehrwegquoten und somit zwei der drei ursprünglich vorgeschlagenen Punkte durchsetzen. Das Beispiel „Plastikpfand“ zeigt: Große Transformationen – und die wird es angesichts der schwelenden Klimakrise brauchen – der Industrie, der Energieerzeugung, der Infrastrukturplanung müssen gemeinsam und im Dialog erarbeitet werden, mit den Sozialpartner/innen, Unternehmen, der Zivilgesellschaft, dem Regierungspartner und auch mit den anderen Parlamentsparteien. Erfolgreiche politische Arbeit erfordert ein möglichst tiefgreifendes Verständnis für und Respekt vor den Interessenslagen der anderen Akteur/innen. Bei gleichzeitig klarem Blick auf das eigene übergeordnete Ziel. Neben dem Plastikpfand konnte das Klimaschutzministerium noch weitere Erfolge erzielen und damit der Rolle als Flaggschiff der grünen Regierungsarbeit gerecht werden: Mit dem Erneuerbaren Ausbaugesetz soll Österreichs Stromerzeugung bis 2030 ohne fossile Energieträger auskommen. Mit der Einführung des österreichweiten Klimatickets wird ein zen-

3 Unermüdliche Unterstützung erfuhr die Bundesministerin vor allem durch Sarah Wascher, die ebenso wie die Autor/innen dieses Beitrages im Kabinett der Bundesministerin tätig ist.

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trales Versprechen der Regierungsbeteiligung erfüllt. Die ökosoziale Steuerreform und die Einführung eines CO2-Preises ebnen den Weg zu einem Umbau des Steuersystems. Die Grünen konnten in den ersten zwei Jahren den Kulturwechsel von der Oppositionspartei hin zur verlässlichen Regierungspartei vollziehen. War man in der öffentlichen Kommentierung früher immer wieder versucht, die Grünen als „Chaostruppe“ oder politische Anfänger/innen zu bezeichnen, strahlen sie – auch angesichts der Turbulenzen des Koalitionspartners – heute vor allem eines aus: Stabilität sowie Durchsetzungs- und Umsetzungsfähigkeit. Ein Erfolgsfaktor ist sicherlich, dass Klimaschutz- und Umweltthemen längst nicht mehr Nischenthemen sind. Das konnte beim Wiedereinzug der Grünen ins Parlament beobachtet werden, und das wird sich so schnell auch nicht mehr ändern. Keine politische Partei kommt an diesem Thema mehr vorbei (außer sie positioniert sich konsequent als Klimakriseverharmloser/in). Viele der grünen Kernthemen sind im gesellschaftlichen und medialen Mainstream angekommen. In der Eurobarometer Umfrage von 2021 rangiert die Klimakrise nach der Pandemie auf Platz zwei der größten, derzeitigen gesellschaftlichen Probleme. Fast 70 Prozent der Österreicher/innen halten laut dieser Umfrage die Klimakrise für ein sehr ernsthaftes Problem, weitere knapp 20 Prozent für ein ziemlich ernstes – und verlangen auch von der Politik, hier Lösungen zu finden.4

Ausblick Die Grünen stehen Ende 2021 also besser da als noch vor einem Jahr und definitiv besser als noch vor vier Jahren. Sie konnten Erfolge für sich verbuchen, haben ihren Platz als Regierungspartei gefunden, ihre Arbeit ist professionell, strategisch und vorausschauend, zielorientiert. Wie die Partei Ende 2022 dastehen wird? Ohne in die Glaskugel sehen zu wollen: Wenn sie diesen Weg weitergeht, realpolitisch agiert, aber ihre „historische Mission“ der Bewältigung der Klimakrise im Fokus behält, ihre Regierungs-

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Quelle: https://ec.europa.eu/clima/system/files/2021-06/at_climate_2021_en.pdf

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mitglieder weiter Gelegenheit haben, Expertise und Engagement zu zeigen, neue Netzwerke und Allianzen schmiedet und auf Dialog setzt, und weiterhin politische Projekte konsequent auf den Weg bringt, anstatt sich mit sich selbst zu beschäftigen, steht die Ampel weiter auf Grün.

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Die ökosoziale Agenda der ­Bundesregierung Die ökosoziale Steuerreform Mit der ökosozialen Steuerreform gelingt die Brücke zwischen Wirtschaft und Kli­ maschutz. In Summe beträgt die Entlastung der Österreicherinnen und Österrei­ cher und der heimischen Wirtschaft bis 2025 rund 18 Milliarden Euro. Das BIPWachstum steigt durch die ökosoziale Steuerreform um bis zu 1 % an, die Beschäf­ tigung erhöht sich um bis zu 30.000 Personen. Die Ziele für den Klimaschutz sind ambitioniert und sollen mit der ökosozialen Steuerreform vorangetrieben werden: Bis 2030 will die Bundesregierung 100 % erneuerbaren Strom in und aus Österreich erreichen; bis 2040 soll die Klimaneutralität in Österreich geschafft werden – immerhin zehn Jahre vor der EU.

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„Österreich ist ein wunderbares Land. Geprägt von Natur und Landschaft in Vielfalt und Schönheit“, heißt es zu Beginn des Regierungsprogramms 2020–2024: „Aus Verantwortung für Österreich“. Um diese Natur und Landschaft bestmöglich zu bewahren, stellt der Klimaschutz eines der zentralen Ziele der Bundesregierung dar. Dabei bekennt sich die Bundesregierung zur Erfüllung der Ziele des Pariser Klimaübereinkommens und möchte Österreich zum Vorreiter für Klimaschutz in Europa machen. Ein zentraler Baustein ist die ökosoziale Steuerreform. Wir setzen damit die größte Transformation des Steuersystems um, die es jemals gab. Mit der ökosozialen Steuerreform entlasten wir arbeitende Menschen und Familien, stärken den Standort und setzen Anreize für umweltfreundliches Handeln. Während andere Länder Steuern erhöhen, senken wir die Abgaben. In Summe beträgt die Entlastung der Österreicherinnen und Österreicher und der heimischen Wirtschaft bis 2025 rund 18 Milliarden Euro. Der neue deutsche Finanzminister Lindner hat 30 Milliarden Entlastung bis 2025 angekündigt, wir entlasten um das Sechsfache im Vergleich zur deutschen Regierung. Wir sehen zudem keinen Widerspruch zwischen Ökologie und Ökonomie, sondern eine Ergänzung. Die durch die CO2-Bepreisung entstehenden Mehrkosten für die Bürger werden durch den Klimabonus ausgeglichen. Um den Wohlstand in Österreich zu erhalten und weitere Arbeitsplätze zu schaffen, setzen wir bewusste Maßnahmen wie die Senkung der Körperschaftsteuer. Damit kurbeln wir die Wirtschaft an und heben uns im europäischen Wettbewerb ab. Laut EcoAustria und dem WIFO steigt das BIP-Wachstum in den Jahren 2022 und 2023 durch die ökosoziale Steuerreform um bis zu rund 1 % an. Die Beschäftigung erhöht sich um bis zu rund 30.000 Personen. Mit der ökosozialen Steuerreform gelingt somit der Brückenschlag zwischen Wirtschaft und Klimaschutz. Und wir folgen dem Ansatz „Anreize statt Verbote“: Die ökosoziale Steuerreform setzt Anreize für umweltfreundliches Verhalten und nachhaltige Investitionen. In diesem Beitrag soll zuerst die klimapolitische Ausgangslage in Öster­reich skizziert und anschließend die wesentlichen Aspekte der Reform beschrieben werden. Schließlich wird auf mögliche Auswirkungen eingegangen und ein kurzer Ausblick gegeben.

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Klimapolitisches Umfeld Österreich möchte bis 2040 klimaneutral werden. Im Jahr 2019 lagen die Treibhausgasemissionen in Österreich bei 79,8 Millionen Tonnen. Davon wurden 29,6 Millionen Tonnen CO2 von Großanlagen im Industrie- und Energiebereich emittiert. Diese Emissionen sind Teil des Europäischen Emissionshandels (EU-EHS), wodurch eine gesamteuropäische Zielerreichung dieser Sektoren sichergestellt werden soll. Für die verbleibenden 50,2 Mt CO2e sind hingegen Reduktionsziele auf nationaler Ebene zu erfüllen. Hierzu zählen Emissionen aus den Bereichen Verkehr (24,0 Mt CO2e), Gebäude (8,1 Mt CO2e), Landwirtschaft (8,1 Mt CO2e), Energie und Industrie (außerhalb des EU EHS, 5,4 Mt CO2e), Abfallwirtschaft (2,3 Mt CO2e) und fluorierte Gase (2,2 Mt CO2e). Im Rahmen der Effort-Sharing-Verordnung ist Österreich verpflichtet, diese Emissionen deutlich zu reduzieren. Die EU erhöhte zuletzt mit dem „EU Green Deal“ das Ziel für die Reduktion der Treibhausgasemissionen bis 2030 auf mindestens 55 % (zuvor –40 %) im Vergleich zu 1990. Dadurch werden die Einsparanforderungen an die Mitgliedsstaaten noch herausfordernder. Zur effizienten Umsetzung dieses Vorhabens plant die EU ab dem Jahr 2026 die Einführung eines weiteren Emissionshandels für die – in nationalstaatlicher Verantwortung liegenden – Bereiche Gebäude und Verkehr. In Österreich sind aber im Straßenverkehr die Treibhausgasemissionen in den vergangenen Jahren sogar weiter gestiegen, statt zurückzugehen. Im Bereich Gebäude wurden hingegen deutliche Einsparungen erzielt, aber auch hier sind noch weitere Anstrengungen nötig, um die bestehenden Einsparpotenziale zu nutzen und die erhöhten Ziele zu erreichen.

Nationaler Emissionszertifikatehandel Ein Kernstück der ökosozialen Steuerreform ist der nationale Emissionszertifikatehandel. Die Bundesregierung führt erstmals eine CO2-Bepreisung ein, die einen kosteneffektiven Beitrag zur Einhaltung der unions- und völkerrechtlichen Zielvorgaben im Klimaschutz liefern soll. Um diese Form der CO2-Bepreisung möglichst rasch und verwaltungsarm zu implementieren, erfolgt die Einführung in drei Phasen.

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In der im Juli 2022 beginnenden Einführungsphase kommt es zu einer vereinfachten Form des Zertifikatehandels mit fixen Preisen, der über bewährte Kanäle der Finanzverwaltung abgewickelt wird. In der im Jänner 2024 folgenden Übergangsphase werden die organisatorischen und rechtlichen Voraussetzungen für einen Emissionshandel geschaffen, während weiterhin fixe CO2-Preise gelten. Die fixen Preise in den ersten beiden Phasen sollen es Bevölkerung und Handelsteilnehmern ermöglichen, sich auf das neue System einzustellen. Der Preis steigt dabei schrittweise von 30 Euro im Jahr 2022 auf 55 Euro je Tonne CO2 im Jahr 2025. Für das Jahr 2026 ist der Übergang in den freien Handel angedacht. Dann soll entweder ein freier Handel mit Emissionszertifikaten auf nationaler Ebene beginnen oder eine Überleitung in ein allfälliges Europäisches Handelssystem durchgeführt werden. Umfasst von diesem System sollen energetische Treibhausgasemissionen außerhalb des EU-Emissionshandelssystems (EU-EHS) sein, die durch die Nutzung von Kohle, Erdgas und Erdölprodukten entstehen. Hierdurch werden besonders emissionsarme Heiz- und Antriebsformen sowie neue emissionsmindernde Technologien noch stärker attraktiviert. Der Kauf eines Emissionszertifikats berechtigt den Handelsteilnehmer, bestimmte Stoffe (Mineralöle, Kraft- und Heizstoffe, Erdgas und Kohle) in Verkehr zu bringen und damit indirekt Treibhausgasemissionen zu verursachen. Der Handel findet im Sinne einer effizienten Umsetzung auf Ebene der Inverkehrbringer statt, da die Emittenten der betroffenen Energieträger potenziell jede Privatperson und jedes Unternehmen sind. Durch die Weitergabe der Kosten aus dem Emissionszertifikatehandel an die Verbraucher soll eine entsprechende Lenkungswirkung erreicht werden. Um die unterschiedlichen bestehenden und neuen organisatorischen und technischen Prozesse zusammenführen zu können und für alle Betroffenen einen One-Stop-Shop zu etablieren, wird der Emissionszertifikatehandel von einer neu zu schaffenden Behörde innerhalb der Finanzverwaltung administriert. So soll dieser bedeutende Schritt hin zur Ökologisierung des Abgabensystems bestmöglich umgesetzt werden.

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Kompensationsmechanismen Ein großes Risiko bei einer Bepreisung von Treibhausgasemissionen besteht in einer potenziellen Verlagerung der Emissionen ins Ausland (Carbon Leakage), wo Emissionen nicht oder nicht im gleichen Maße belastet werden. Firmen können sich mit einer Verlagerung die durch die CO2-Bepreisung entstehenden Kosten ersparen. Kommt es zu einer solchen Verlagerung, geht der beabsichtigte Lenkungseffekt hin zu Treibhausgasreduktionen verloren und kann sich sogar umkehren, falls im Zielland der Verlagerung beispielsweise niedrigere Umweltstandards gelten als im Inland. Zudem geht dadurch die Wirtschaftskraft der abgewanderten Unternehmen, Privatpersonen oder Produktionsanlagen verloren. Aus diesen Gründen gilt es, derartige Effekte bei der Einführung einer CO2-Bepreisung genau zu berücksichtigen und unbedingt zu vermeiden. Besonders relevant ist das für Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen. Zudem sollen bei der Reform auch die Unternehmen entlastet werden, deren unternehmerische Tätigkeit durch die CO2-Bepreisung erheblich erschwert wird. Deshalb sind Kompensationsmaßnahmen im Bereich Land- und Forstwirtschaft vorgesehen – auch, um direkte Effekte auf die Nahrungsmittelpreise zu vermeiden – und Regelungen für Carbon Leakage und Härtefälle sollen der Wettbewerbssituation und der besonderen Betroffenheit von Unternehmen Rechnung tragen. Um die Wirksamkeit der nationalen CO2-Bepreisung dabei bestmöglich zu bewahren, gelten für entlastete Unternehmen bestimmte Regeln. Land- und Forstwirte werden pauschal und somit unabhängig vom realen Verbrauch entlastet. Unternehmen, die unter die Carbon-Leakage-Regelung fallen, sind verpflichtet, einen Großteil ihrer Kompensationen in Klimaschutzmaßnahmen zu investieren. Firmen mit Entlastungen aus der Härtefallregelung müssen ein Energieaudit durchführen und dann die erhaltenen Entlastungen in Klimaschutzmaßnahmen investieren.

Der regionale Klimabonus Klar ist: Das Ziel ist nicht, mit der CO2 -Bepreisung zusätzliche Einnahmen zu generieren, sondern auf kommensneutral die Kostenwahrheit bei CO2 -Emissionen zu verbessern. Das eingenommene Geld soll also an die

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Bevölkerung zurückgegeben werden. Denn Mobilität und Heizen sind Grundbedürfnisse, die durch die CO2 -Bepreisung nicht gef ährdet werden sollen. Zwei Aspekte spielen daher bei der Rückvergütung eine entscheidende Rolle: Die Lenkungswirkung soll erhalten bleiben und der Einfluss der CO2 -Bepreisung auf die persönlichen Lebensumstände berücksichtigt werden. Das Instrument hierfür ist der regionale Klimabonus: Jede Person erhält anf änglich zwischen 100 und 200 Euro jährlich, wobei für Kinder ein Betrag in Höhe von 50 % vorgesehen ist. Die Abstufung orientiert sich am Wohnort und sieht je nach regionaler Struktur und öffentlicher Verkehrsanbindung abgestufte Beträge vor. Je mehr die Menschen auf den privaten Pkw angewiesen sind, desto höher ist auch der entsprechende Bonus. Durch die pauschale, vom Verbrauch unabhängige Rückvergütung pro Kopf bleibt der Lenkungseffekt erhalten, da sich die Rückvergütung so nicht auf das relative Preisverhältnis zwischen emissionsarmen und emissionsintensiven Produkten auswirkt. Jede und jeder Betroffene hat so einen Anreiz, im Rahmen seiner Möglichkeiten auf emissionsärmere Alternativen zurückzugreifen. Der regionale Klimabonus soll in den kommenden Jahren bei steigenden Einnahmen aus der CO2-Bepreisung ansteigen, so klimafreundliches Verhalten belohnen und dennoch auch unterschiedliche Anpassungsmöglichkeiten beachten.

Entlastung von Arbeitnehmern, Familien und Pensionisten Die Entlastung von Arbeitnehmern und Pensionisten macht den Großteil der Entlastungsmaßnahmen der ökosozialen Steuerreform aus. Wir entlasten die arbeitenden Menschen, insbesondere kleine und mittlere Einkommen, Familien sowie Pensionisten nachhaltig. Mit dem Ziel einer spürbaren Entlastung arbeitender Menschen soll mit 1. Juli 2022 zuerst die zweite Tarifstufe von 35 % auf 30 % gesenkt werden. Bereits ab 1. Jänner 2022 soll zur Umsetzung dieser Maßnahme (für das gesamte Jahr 2022) ein Mischsteuersatz von 32,5 % zur Anwendung kommen. Ab 1. Juli 2023 soll die dritte Tarifstufe von 42 % auf 40 % gesenkt werden. Auch im Jahr 2023 soll bereits ein Mischsteuersatz von 41 % zur Anwendung kommen.

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Zur weiteren finanziellen Entlastung von Personen mit niedrigeren Einkommen soll der Zuschlag zum Verkehrsabsetzbetrag von 400 auf 650 Euro angehoben werden. Für Pensionisten sollen sowohl der Pensionistenabsetzbetrag als auch der erhöhte Pensionistenabsetzbetrag angehoben werden und künftig 825 Euro bzw. 1.214 Euro betragen (bisher 600 Euro bzw. 964 Euro). Komplementär dazu werden für Nicht-Steuerzahler die maximalen Beträge für SV-Rückerstattung und SV-Bonus erhöht. Um Familien besonders stark zu entlasten, soll der Familienbonus Plus ab 1. Juli 2022 von 1.500 auf 2.000 Euro pro Kind (bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres) und Jahr erhöht werden. Für Kinder ab dem 18. Geburtstag soll der Familienbonus Plus von derzeit 500 auf 650 Euro pro Jahr erhöht werden. Für geringverdienende Bürger mit Kindern soll der Kindermehrbetrag von 250 auf 450 (350 im Jahr 2022) Euro pro Kind und Jahr erhöht werden. Zudem soll der Kindermehrbetrag zukünftig auf alle niedrigverdienenden Erwerbstätigen (bisher nur Alleinerzieher bzw. Alleinverdiener) mit Kindern ausgeweitet und als Negativsteuer ausbezahlt werden. Die Beteiligung von Mitarbeitern am Gewinn des Unternehmens soll attraktiver gemacht werden, indem Gewinnbeteiligungen bis zu 3.000 Euro im Kalenderjahr von der Einkommensteuer befreit werden. Um einen steuerlichen Beitrag zur Dekarbonisierung des Gebäudesektors zu leisten, sollen Pauschalbeträge als Sonderausgaben (Freibeträge vermindern die Steuerbemessungsgrundlage) geltend gemacht werden. So können für die thermisch-energetische Sanierung von Gebäuden Freibeträge in Höhe von 800 Euro pro Jahr und den Ersatz eines fossilen durch ein klimafreundliches Heizsystem („Heizkesseltausch“) Freibeträge in Höhe von 400 Euro pro Jahr geltend gemacht werden.

Entlastung von Selbstständigen und Unternehmen Zur Stärkung des Standorts Österreich im Sinne einer nachhaltigen, wachstumsfördernden Standortpolitik sind in der ökosozialen Steuerreform auch Entlastungsmaßnahmen für Unternehmen vorgesehen, die Investitionsanreize setzen und die Beschäftigung stärken. Der Körperschaftssteuersatz wird schrittweise von aktuell 25 % auf 23 % im Jahr 2024 reduziert. Auf diese Weise kommt es nicht nur zu einer spürbaren Entlastung der öster-

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reichischen Unternehmen, sondern auch zu einem wichtigen Signal im internationalen Standortwettbewerb. Dies ist besonders von Bedeutung, da in den vergangenen Jahren viele Länder ihre Körperschaftsteuersätze reduziert haben und Österreich daher aktuell sowohl über dem EU- als auch dem OECD-Schnitt liegt. Parallel zu den Körperschaften werden auch Personengesellschaften durch die Erhöhung des Grundfreibetrags beim Gewinnfreibetrag von 13 % auf 15 % nachhaltig entlastet. Zudem werden Bauern und Selbstständige ab 1. Juli 2022 bei den Beiträgen zur Krankenversicherung entlastet. Die Erhöhung der Grenze für die Sofortabschreibung von geringwertigen Wirtschaftsgütern von 800 Euro auf 1.000 Euro gibt einen steuerlichen Investitionsanreiz, stärkt die Liquidität und reduziert die Verwaltungslast der betroffenen Unternehmen. Um die Transformation der Unternehmen hin zu einer CO2-freien Wirtschaft gezielt zu unterstützen, wird zusätzlich die Möglichkeit eines ökologischen Investitionsfreibetrags eingeführt. Dieser sieht einen steuerlichen Freibetrag für Investitionen vor, der sich für ökologische Investitionen nochmals erhöht. Die Klassifikation orientiert sich dabei an der aktuell laufenden Investitionsprämie. So werden Unternehmen bei Zukunftsinvestitionen gezielt unterstützt. All diese Maßnahmen stärken den Standort Österreich dauerhaft und verbessern gleichzeitig die Bedingungen für nachhaltige Investitionen.

Erwartete Auswirkungen Das umfangreiche beschriebene Maßnahmenpaket betrifft jede Österreicherin und jeden Österreicher sowie jedes heimische Unternehmen. Die Auswirkungen sind deshalb auch ganzheitlich zu beurteilen, wobei ebenfalls die Wechselwirkungen zwischen den Maßnahmen zu berücksichtigen sind. Wegen der CO2-Bepreisung wird laut Umweltbundesamt durch die ökosoziale Steuerreform eine signifikante Reduktion bei den Treibhausgasemissionen in Höhe von 2,3 Mio. Tonnen CO2 im Jahr 2030 im Vergleich zum Basisszenario erwartet. Dies entspricht 6,8 % der adressierten Emissionen im Bereich Verkehr und 8,7 % im Bereich Gebäude. Hier ist von Bedeutung, dass die Kompensations- und Entlastungsmaßnahmen so gestaltet sind, dass der Lenkungseffekt der CO2-Bepreisung bestmöglich erhalten bleibt. Trotz

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der Einsparungen zeigt sich deutlich, dass die Reform alleine nicht für die Einhaltung der Klimaziele sorgen kann, sie liefert aber einen wichtigen Beitrag dafür und ergänzt bestehende und zukünftige Maßnahmen. Neben der umweltpolitischen Wirkung ist die soziale Verträglichkeit eines der Kernthemen bei der ökosozialen Steuerreform. Hier wirken sich besonders der regionale Klimabonus sowie die Maßnahmen zur Entlastung von Geringverdienern und die beitragsabhängige KV-Senkung für Selbstständige und Bauern positiv aus. Die regionale Differenzierung berücksichtigt die Gegebenheiten am Land und verhindert so gezielt Härtefälle, ohne die Lenkungseffekte der Reform zu gefährden. Gesamtwirtschaftlich wirken sich besonders die Kompensations- und Entlastungsmaßnahmen positiv aus und überkompensieren etwaige finanziell negative Effekte aus der CO2-Bepreisung. Durch die von der Reform ausgehenden Investitionsanreize und positiven Nachfrageeffekte wird laut EcoAustria und WIFO bis 2025 mit einer zusätzlichen Beschäftigung von rund 30.000 Personen und einem im Vergleich zum Basisszenario bis zu rund 1 % höheren BIP gerechnet. Die Reform ist also ein wichtiger Schritt zur Erreichung der Klimaziele Österreichs, ist sozial verträglich und stärkt die österreichische Wirtschaft.

Ausblick Der Klimawandel ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. In einigen Bereichen wurden hier bereits deutliche Fortschritte erzielt, in anderen wurden die bisherigen Ziele noch nicht erreicht. Mit der ökosozialen Steuerreform adressieren wir als Bundesregierung gezielt besonders die Bereiche, wo es sowohl die größten Anstrengungen braucht und die größten Potenziale für Treibhausgasemissionen liegen: Verkehr und Gebäude. Durch die ökosoziale Steuerreform alleine wird es freilich nicht gelingen, die anspruchsvollen Ziele in diesen Bereichen zu erreichen, sondern diese sind nur mit dem richtigen Mix aus Regeln, Förderungen, Investitionen und Verhaltensanpassungen zu erreichen. Doch die ökosoziale Steuerreform ist ein wichtiger und zentraler Meilenstein, der Klimaschutz mit beschäftigungsfördernder Wirtschaftspolitik und sozialer Verträglichkeit kombiniert und so klar zeigt, dass Wirtschaftswachstum, Beschäftigung, Fairness und Klimaschutz sich nicht gegenseitig ausschließen. Ganzheitliche Kon-

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zepte wie die ökosoziale Steuerreform zeigen, dass die Transformation nicht zwingend zulasten von wirtschaftlicher Aktivität und Wohlstand gehen muss, sondern rückt vielmehr die Chancen, die im Wandel liegen, in den Vordergrund. Für mich ist klar: Klimaschutz ist eine der zentralen Aufgaben unserer Generation. Unsere Ziele sind ambitioniert – darum müssen wir jetzt loslegen. Bis 2030 wollen wir eine Versorgung mit 100 % erneuerbarem Strom in und aus Österreich erreichen; bis 2040 wollen wir die Klimaneutralität in Österreich schaffen – immerhin zehn Jahre vor der EU. Diesen Weg gehen wir mit vollen Einsatz.

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2021 aus der sicht der beobachter

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Das unberechenbare Jahr der ­Brüche Anfang 2021 hatten die meisten ein Ende der Pandemie im Laufe des Jahres erwar­ tet. Es kam anders. Kaum jemand hätte mit einem Ende der Ära Sebastian Kurz oder mit einem Sieg des Sozialdemokraten Olaf Scholz bei der deutschen Bundes­ tagswahl gerechnet, mit Teuerungsraten von vier Prozent oder einer Rückkehr der radikalen Taliban an die Macht in Kabul. Das Jahr zeigte die Problematik von Vor­ hersagen auf: Prognostiker neigen zur Extrapolation bisheriger Entwicklungen und zur Unterkomplexität. Umwälzend und prägend sind zumeist die überraschenden Ereignisse.

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Der schlaue Prophet trifft seine Vorhersagen im Nachhinein. Wer zu Beginn des zweiten Seuchenjahres die Kühnheit besaß, Prognosen abzugeben, lag mit hoher Wahrscheinlichkeit daneben. Die Wandlungsfähigkeit des Coronavirus sprengte die Vorstellungskraft, und auch sonst lief einiges schief. 2021 fing mit großen Hoffnungen an – und endete mit bitteren Enttäuschungen. In seiner Neujahrsansprache noch hatte Bundespräsident Alexander Van der Bellen mitten im dritten Lockdown Optimismus versprüht. „Dieses Jahr wird besser“, sagte er und ließ sich zu folgendem Versprechen hinreißen: „Irgendwann in den nächsten Monaten wird sich langsam das Gefühl einstellen, dass die Pandemie vorbei ist oder zumindest unter Kontrolle.“ Das war keine Einzelmeinung, sondern die allgemeine Erwartungshaltung damals. Denn zu diesem Zeitpunkt erhielten Risikogruppen bereits die erste Tranche der Impfungen, die von der Wissenschaft sensationell schnell entwickelt worden waren. Hitzige öffentliche Debatten drehten sich in den ersten Monaten des Jahres um Lieferengpässe und unzureichende Bestellungen, um Impfdrängler und Impfneid. Doch es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis COVID-19 im Griff und ein ausreichender Teil der Bevölkerung immun dagegen ist. Mitte Februar hob eine dritte Welle an. Mutationen des Virus breiteten sich aus. Im März kletterte die Zahl der täglichen Neuinfektionen auf über 3.000. Am 23. März rechnete das COVID-Prognosekonsortium, ein wissenschaftliches Beratergremium der Bundesregierung, mit einem Anstieg auf 4.500 Fälle in der Folgewoche. Doch so weit kam es nicht. Wider Erwarten setzte eine Trendwende ein. Es lag möglicherweise am wärmer werdenden Wetter. Spätestens ab diesem Zeitpunkt betrachteten etliche Politiker die Prognosen von Experten mit Skepsis. Ende Juni präsentierte die ÖVP ihre Sommerplakate. Bundeskanzler Sebastian Kurz war darauf lachend mit einer Jungfamilie zu sehen. Darunter in dicken Lettern der Slogan: „Gemeinsam nach vorne schauen“. Und in kleinerer Schrift: „Die Pandemie gemeistert, die Krise bekämpft“. Das sollten Gegner dem ÖVP-Chef später noch kräftig unter die Nase reiben, ebenso wie eine Ansage, die er in der Nacht auf den 12. Juli in New York traf: „Für jeden, der geimpft ist, ist die Pandemie vorbei.“ Einen neuerlichen Lockdown hielten trotz der ansteckenderen DeltaVariante zunächst auch namhafte Epidemiologen für unwahrscheinlich.

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Doch dann zeigten erste Studien aus Israel, dass die Wirkung der Impfungen schneller als erwartet nachlässt. Auch Geimpfte steckten sich an, wenngleich sie deutlich weniger oft schwer erkrankten als Ungeimpfte. Israel begann deshalb im August mit den dritten, den Booster-Impfungen. Die österreichischen Entscheidungsträger warteten ab. Ein Fehler. Und in Österreich kam noch ein anderes gravierendes Problem hinzu: Obwohl es Vakzine im Überfluss gab, blieb die Impfrate bis in den September hinein unter 60 Prozent. Im Spätsommer warnten deshalb immer mehr Experten vor einer vierten Welle. Anfang September stellte die Bundesregierung einen Stufenplan für den Herbst vor. Darin war jedoch ein Systemfehler eingebaut. Denn man orientierte sich an der Belegung der Intensivbetten. Dort aber schlugen sich die Infektionszahlen, die bis Anfang Oktober auf hohem Niveau stagnierten, immer erst mit zweiwöchiger Verspätung nieder. Die Lage entglitt just in der Phase, in der eine der größten innenpolitischen Krisen der Zweiten Republik alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Eine fatale Koinzidenz. Am 6. Oktober tauchten Ermittler im Bundeskanzleramt und in der ÖVP-Zentrale mit einem Durchsuchungsbefehl auf. Die Vorwürfe der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft gegen Sebastian Kurz und neun weitere Beschuldigte lauteten auf Untreue, Bestechung und Bestechlichkeit: Um dem damaligen Außenminister Kurz 2017 Aufwind im Kampf mit Reinhold Mitterlehner um den ÖVP-Vorsitz zu verleihen, sollen der Tageszeitung „Österreich“ manipulierte Umfragen zugespielt und über das Finanzministerium abgerechnet worden sein. Ob Kurz jemals eine Bestimmungstäterschaft nachgewiesen werden kann, ist fraglich. Doch die grünen Koalitionspartner drängten ihn mit der ultimativen Forderung nach einer „untadeligen Person“ an der Spitze der Regierung aus dem Amt. Anfangs lehnte Kurz einen Rücktritt ab. Am 9. Oktober räumte er das Feld, zog sich auf die Funktion des Klubobmanns zurück und überließ seinem bisherigen Außenminister Alexander Schallenberg das Amt des Bundeskanzlers. Es war als Übergangslösung gedacht. Doch das Arrangement hielt nicht lang. Schallenberg trug sich als Bundeskanzler nur mit ein paar Absätzen in die Geschichtsbücher ein. Er kam nach Wochen des Zauderns nicht mehr umhin, entgegen anderslautender Versprechen einen vierten Lockdown ab dem 17. November zu verhängen. Zugleich kündigte er eine Impfpflicht an.

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Auch das war zuvor lang ausgeschlossen worden. So viel zur Halbwertszeit politischer Beteuerungen in Zeiten einer Pandemie. Am Ende des Lockdowns war Schallenberg schon nicht mehr Kanzler. Denn vier Tage zuvor, am 2. Dezember, hatte Sebastian Kurz seinen Abschied aus der Politik bekannt gegeben. Schallenberg kehrte ins Außenamt zurück, zum neuen Regierungschef stieg der bisherige Innenminister Karl Nehammer auf. Es war ein Drei-Kanzler-Jahr. Prognostiziert hatte das niemand. Wie auch? Seit der Zwischenkriegszeit war österreichische Innenpolitik nie so unberechenbar gewesen. Zu Beginn des Jahres war die ÖVP in Umfragen mit 37 Prozent vorangelegen. Am Ende war sie hinter die SPÖ abgestürzt – ebenso ihr Erfolgsgarant Sebastian Kurz, ungeschlagen in Wahlen, der jüngste zweifache Ex-Kanzler aller Zeiten. Seinen Lauf nahm das Schicksal, als das Wunderkind noch gar nicht am Zenit war: an einem Sommerabend auf Ibiza im Juli 2017, als FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache und sein Klubobmann Johann Gudenus einer vermeintlichen russischen Oligarchen-Nichte vor heimlich aufgestellten Kameras auf den Leim gingen und ihre Korrumpierbarkeit dokumentierten. Zwei Jahre später sprengte die Veröffentlichung des Ibiza-Videos die schwarz-blaue Koalition. Und im Netz der folgenden Ermittlungen, das die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft nach Zufallsfunden auf beschlagnahmten Mobiltelefonen immer weiter ausdehnte, verfing sich am Ende auch Kurz. Der Plot ist so unwahrscheinlich, dass die meisten Filmproduzenten ein solches Drehbuch wohl abgelehnt hätten. Zu Beginn des Jahres hätte auch kaum jemand auf Olaf Scholz als Sieger der deutschen Bundestagswahlen am 26. September gesetzt. Der spröde Sozialdemokrat hatte sich 2019 nicht einmal in seiner eigenen Partei bei der Wahl zum Vorsitzenden durchsetzen können. In Umfragen dümpelte seine SPD bis in den Frühsommer hinein bei 15 Prozent vor sich hin, weit hinter Union und Grünen. Doch darin war offenbar lang der Abschied der CDU-Langzeitkanzlerin Merkel lang nicht berücksichtigt. Und dem SPDFinanzminister Scholz gelang es paradoxerweise am besten, sich als ihr Erbe in Szene zu setzen – in einem werbetechnischen Geniestreich posierte er für das „Süddeutsche Magazin“, einmal sogar frech mit der Merkel-Raute. Der Spitzenkandidat der Union, Armin Laschet, strahlte hingegen zu wenig Führungskraft aus. Schon aus dem zähen Ringen mit CSU-Chef Markus Söder

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um die Kanzlerkandidatur war er geschwächt hervorgegangen. Den Rest gab ihm im Sommer ein unpassender Lacher im Flutgebiet. Auf Inhalte kam es im Wahlkampf ohnehin nur am Rande an. Es zählte die Person. Söder hätte allen Umfragen zufolge besser abgeschnitten. Doch die CDU-Führung rechnete damit, dass es sich mit Laschet schon ausgehen werde, gegen Scholz und die grüne Spitzenkandidatin Annalena Baerbock. Eine Fehlkalkulation. Die Demoskopen lagen diesmal übrigens erstaunlich gut. Eine komplette Fehleinschätzung führte zum größten außenpolitischen Debakel des Jahres. Im April noch glaubten die US-Nachrichtendienste, dass die afghanische Zentralregierung die Metropole Kabul nach einem Abzug der US-Truppen mindestens 18 Monate halten werde. Nachdem eine Provinzhauptstadt nach der anderen in die Hände der radikalen Taliban gefallen war, revidierten sie im August ihre Prognose auf 30 bis 60 Tage. Doch auch diese Rechnung ging nicht auf. Am 15. August übernahmen die islamistischen Extremisten Kabul kampflos. Die afghanische Armee, mit Milliarden US-Dollar aufgepäppelt, brach zusammen wie Pappmaschee. Präsident Ashraf Ghani, Gebieter über ein korruptes potemkinsches System, setzte sich ab. Die Taliban kehrten nach 20 Jahren an die Macht zurück. Die längste Militärintervention in der Geschichte der USA endete im Desaster. Der Westen hatte ein Kartenhaus in Afghanistan errichtet, das die Taliban systematisch untergruben – durch Einschüchterung, Infiltration und Deals mit lokalen Clans. Die 300.000 Soldaten der afghanischen Armee existierten großteils nur auf dem Papier. Mit dem Abzug der USA verlor sie ihr Rückgrat. Auch diverse Vorhersagen über den Fall Kabuls waren nicht hilfreich. Warum sollten die afghanischen Soldaten überhaupt kämpfen, wenn ihnen nach Meinung der USA nach 18, zwei oder einem Monat die Niederlage gewiss war? Die Prognosen der Amerikaner waren nicht nur falsch, sondern wirkten auch zersetzend. Die wirklich umwälzenden Ereignisse scheinen in Jahresvorschauen nur selten auf. Das war beim Fall der Berliner Mauer 1989 so, bei den Terroranschlägen am 11. September 2001, beim Finanzcrash 2008, bei der Annexion der Krim 2014, beim Brexit-Referendum und beim Sieg Donald Trumps 2016, bei der Pandemie und auch beim Absturz von Sebastian Kurz. Das Unerwartete hat oft die größten Konsequenzen. Der aus dem Libanon stammende Essayist und ehemalige Finanzmathematiker Nassim Nicholas

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Taleb nennt solche unvorhergesehenen, seltenen, aber umso wirkmächtigeren Phänomene „Schwarze Schwäne“. Man hält sie nicht für möglich, weil Schwäne doch gemeinhin weiß sind. Und dann tauchen sie doch auf – wie die Trauerschwäne, die der britische Naturforscher John Latham 1790 in Australien entdeckte. Prognostiker neigen zur Extrapolation. Sie schreiben bisherige Entwicklungen meist nur fort. Wer folgenreiche Abweichungen vorausahnen will, muss Mut zur eigenständigen und tiefschürfenden Analyse haben, zur Entzauberung von Scheinstabilität. Falsche Vorhersagen sind meist stark vereinfacht. Sie übersehen Faktoren, die zu Richtungsänderungen führen. Die Europäische Zentralbank setzte etwa in ihrer Prognose für 2021 den Anstieg des Verbraucherpreisindexes viel zu niedrig an, im Dezember 2020 mit 1,0 Prozent und im Juni 2021 immer noch mit lediglich 1,9 Prozent. Tatsächlich ging die Inflationsrate für das Gesamtjahr auf die Drei-Prozent-Marke zu. Und im Dezember beschleunigte sich die Teuerung im Vergleich zum Vorjahresmonat um über vier Prozent. Man hatte die Auswirkungen von Lieferengpässen sowie die Erhöhungen von Energie- und Lebensmittelpreisen unterschätzt. Manches lässt sich schlicht nicht vorhersagen, weil es eben überraschend kommt. „Events, my dear boy, events“, soll der ehemalige britische Premierminister Harold Macmillan (1957 bis 1963) geantwortet haben, als er gefragt wurde, was für ihn die größten Herausforderungen gewesen seien. Politiker handeln oft auf dem Markt der Hoffnungen. Die Pandemie hat manche gelehrt, vorsichtiger mit Versprechen umzugehen. Im November verbreitete eine neue Corona-Variation Schrecken: Omikron. Sie war ansteckender als ihre Vorgängerinnen, aber dem ersten Anschein nach etwas weniger gefährlich. Einige Virologen glaubten, Omikron könnte die letzte Zuckung der Pandemie sein. Die Weltgesundheitsorganisation aber warnte: Die Ausbreitung von Omikron könnte zu neuen heimtückischen Mutanten führen. Genaueres wusste man nicht. Im zweiten Jahr der Pandemie gingen einige Entscheidungsträger dazu über, die Ungewissheit bisweilen auch öffentlich zuzugeben. Die Unberechenbarkeit setzte sich fort. Und wer nicht berufsbedingt dazu verpflichtet war, verzichtete besser auf Prognosen und fuhr auf Sicht – wie durch eine Nebelbank.

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a l o i s va h r n e r

(Um-)Brüche und Überraschungen Von wegen schnelle Überwindung von Corona: Die Pandemie bleibt unberechenbar, das versprochene „Licht am Ende des Tunnels“ war nur jenes vor der Einfahrt in den nächsten Tunnel. Und auch die Impfung brachte noch keine endgültige Lösung, allerdings doch eine Abschwächung der Krankheitsverläufe. Völlig unabsehbar ist und bleibt die politische Lage, gerade auch in Österreich. Nach Regierungskrise und dem Rückzug von Sebastian Kurz wurde das Eis für Türkis-Grün zumindest etwas dicker. Prognosen für die Haltbarkeit bleiben aber unsicher.

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Vieles ist seit Anfang 2020 anders – in Österreich ebenso wie praktisch überall in der Welt. Die Corona-Pandemie sorgt unablässig und noch immer für ein turbulentes Wechselbad aus immer neuen Vorschriften, Einschränkungen, mehr oder minder harten Lockdowns, zwischenzeitlichen Öffnungen, Vertröstungen und stets neu gemachten Hoffnungen, die dann leider ebenso oft enttäuscht worden sind. Als am 1. Jänner 2020 Punkt Mitternacht die Pummerin und der Donauwalzer die Österreicherinnen und Österreicher in ein neues Jahr begleiteten, war COVID noch irgendeine Virus-Infektion irgendwo in China, von der kaum jemand ernsthaft Notiz genommen hat. Die erste türkisgrüne Regierung stand knapp vor dem Start. „Das Beste aus beiden Welten“ wurde wenig später von den Spitzen der beiden höchst unterschiedlichen Partner, ÖVP und Grüne, verheißen. Wenige Wochen danach versetzte Corona die Regierung in einen Krisenmodus, in dem sich die Koalition letztlich bis heute befindet. Die Hoffnung auf ein rasches Pandemie-Ende verpuffte nach einem relativ unbeschwerten Sommer mit dem Auftürmen der zweiten CoronaWelle im Herbst. Und so war der Start ins Jahr 2021 einer im Ausnahmezustand. Mitten in einem Lockdown, der schon seit Wochen andauerte und der letztlich erst Monate später zu Ende gehen sollte. Was vorher völlig undenkbar war: Im Tourismus fiel eine komplette Wintersaison inklusive Milliarden an Einnahmen einfach aus. Mit den von der Wissenschaft in beeindruckendem Tempo entwickelten Corona-Impfstoffen kam tatsächlich große Hoffnung auf, die Pandemie mit ihren massiven Freiheitseinschränkungen sowie wirtschaftlichen, sozialen und psychologischen Verwerfungen jetzt rasch überwinden zu können. Der damalige Bundeskanzler Sebastian Kurz sprach vom „Gamechanger“ Impfung und vom „Licht am Ende des Tunnels“, das jetzt wohl bald erreicht sei. Das Licht entpuppte sich nach einem neuerlich recht entspannten Sommer aber erneut als Irrlicht – oder eben eines vor der Einfahrt in den nächsten Corona- Tunnel. Ein Irrtum war auch die von Politik und Experten gemachte Hoffnung, dass die Impfung das COVID-Problem rasch und endgültig lösen kann. Die Impfquote in Österreich war laut Experten weiterhin deutlich zu niedrig, dafür wuchs der Widerstand von Impfgegnern zu einer breiten und zunehmend aggressiveren Protestwelle. Einer, die sich

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neben der Regierung auch zunehmend gegen andere Verantwortungsträger, die Polizei, die Wissenschaft, die Medien und sogar gegen das in der Pandemie aufs Äußerste geforderte Gesundheitspersonal richtete. Der oft beschworene Zusammenhalt in der Gesellschaft hatte größere Risse bekommen. Und diese Corona-Risse gingen auch durch unzählige Familien und früher gut harmonierende Freundschaften. Mit der deutlich ansteckenderen, aber offenbar doch etwas weniger gefährlichen Omikron-Variante wird auch der Impfschutz teilweise ausgehebelt, zumindest jener vor Ansteckung. Und leider stellte sich auch heraus, dass die Wirkung der Impfstoffe nicht so lange anhält, wie zunächst erhofft. Ein ständiger Bedarf für relativ rasches Nachimpfen könnte zur Regel werden, auch wegen noch zu erwartender weiterer Virus-Mutationen – und das ist auch nicht gerade ein zusätzlicher „Booster“ für die umstrittene Impfpflicht. Corona hatte und hat aber nicht nur Folgen fürs massiv angespannte und geforderte Gesundheitssystem oder für die Bildung der Kinder und Jugendlichen, sondern auch für die Wirtschaftskreisläufe. Die globalen Lieferketten sind gehörig aus dem Ruder gelaufen. Es gibt Verzögerungen und Mangel an Rohstoffen. Längere Wartezeiten bei Bestellungen sind an der Tagesordnung. Eine Folge der Probleme ist eine überaus kräftige Teuerungswelle, die etwa von der Europäischen Zentralbank zu lange verharmlost wurde, aber vor allem Bezieherinnen und Bezieher kleinerer Einkommen hart trifft. Am Arbeitsmarkt wiederum hat die Erholung nach dem ersten großen Corona-Schock weit rascher eingesetzt, als dies viele erwartet hatten. Zwar gibt es immer noch Kurzarbeit in verschiedenen Branchen und Sorgen wegen einer Pleitewelle, dies wird aber von einem eklatanten Fachund Hilfskräftemangel überlagert. Und dieser Mangel wird sich wegen der ungünstigen demografischen Entwicklung (die Babyboom-Generation nähert sich dem Pensionsalter) wohl noch deutlich zuspitzen. Dass Prognosen zuweilen schwierig sind, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen, ist ein gern gebrauchter, ironischer Satz, der oft Karl Valentin zugesprochen wird. Dass Prognosen oft dermaßen über den Haufen geworfen werden wie in der jüngeren Vergangenheit, ist freilich schon alles andere als gewöhnlich. Beste Beispiele dafür lieferte 2021 gerade auch immer wie-

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der die Politik, in Österreich ebenso wie beim großen Nachbarn Deutschland. Wer die Voraussage gewagt hätte, dass zum Jahresende Olaf Scholz deutscher Kanzler und in Österreich Karl Nehammer Regierungschef sein würde, wäre wohl nach entsprechenden Einsätzen in Wettbüros heute reich. Alles ist möglich, ist in diesen Monaten offenbar tatsächlich das Motto in der Politik. Nach 16 Jahren ging in der Bundesrepublik Deutschland die wechselvolle Ära von Angela Merkel zu Ende. Diese hatte Europa in diversesten Krisen trotz vielen Gegenwinds auch aus den eigenen politischen Reihen – immer wieder zusammengehalten, ob in der Euro-Schuldenkrise rund um Griechenland oder der vor Jahren eskalierten Flüchtlingskrise. Dass nach Merkel die Karten neu gemischt werden, war klar. Alle Prognosen deuteten aber selbst bis wenige Wochen vor der Wahl darauf hin, dass entweder weiterhin die Union aus CDU/CSU oder die erstarkten Grünen den künftigen Kanzler oder die Kanzlerin stellen würden. In der Union ging der farblose Armin Laschet nach einem aus dem Ruder gelaufenen Machtkampf mit Bayerns Ministerpräsident und CSUChef Markus Söder, dem bessere Chancen bei der Bundestagswahl eingeräumt wurden, als „Sieger“ ins Kanzlerrennen. Die Grünen ersparten sich eine ähnliche Schlammschlacht und einigten sich hinter den Kulissen auf Annalena Baerbock statt den populäreren Robert Habeck. Wohl auch das ein Fehler, zumal Baerbock im Wahlkampf auch noch etliche Schnitzer unterliefen. Am schwersten wogen die Plagiatsvorwürfe gegen etliche Passagen ihres Buches „Jetzt“. Laschets Wahlkampf kam inhaltlich auch nie so richtig in die Gänge, für heftige Empörung sorgte sein via TV-Kameras vielfach ausgestrahlter Lacher im deutschen Flutgebiet. So ging schließlich mit SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz ausgerechnet jener Mann als Erster ins Ziel, dem seine seit Jahren erfolglose Partei vorher noch die – weitgehend unbekannten – Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans an der Parteispitze vorgezogen hatte. Scholz verkündete unentwegt seinen Siegeswillen. Zunächst noch kaum ernst genommen, holte Scholz am Ende aber tatsächlich Platz eins und das Kanzleramt. Und das mit einer absoluten Premiere: Die Ampelkoalition mit FDP und Grünen ist ein europaweit und darüber hinaus beachtetes Novum, die selbstgefällige und in sich zerstrittene Union muss sich auf Jahre auf der harten Opposi­ tionsbank neu definieren.

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alois vahrner    |    (um-)brüche und überraschungen

In Österreich hielt die türkis-grüne Koalition trotz vieler Zerreißproben und Streitereien. Corona mag seit dem Start Anfang 2020 vieles an geplanten Regierungsvorhaben überdeckt und überschattet haben, die Pandemie wirkte (obwohl die Positionen auch hier immer wieder auseinanderliegen) doch vielfach auch als Kitt. Um Covid im Schach zu halten, muss bei oft so schwierig zu entscheidenden Fragen zusammengearbeitet werden. Die schwerste Belastungsprobe brachte die Chataffäre rund um Sebastian Kurz und sein engstes Umfeld. Nach dem Bekanntwerden der von der Staatsanwaltschaft untersuchten Vorwürfe rund um frisierte Umfragen, die dann, begleitet von Regierungsinseraten, bei einem Boulevardblatt gepusht worden seien, stand es in der Koalition Spitz auf Knopf. Die Grünen verlangten ultimativ den Rückzug von Kurz aus der Regierung. Dieser trat dann zunächst „zur Seite“ – als ÖVP-Klubchef ins Parlament –, um dann der Politik ganz Adieu zu sagen, mit einer Bilanz, die vor allem auch Enttäuschung hinterlässt. Von Höhenflügen und Ankündigungen einer neuen, sauberen Politik bleibt wenig über. Nach Kurz, dem weltweit jüngsten Zweifach-Altkanzler, übernahm zunächst Außenminister Alexander Schallenberg die Regierungsspitze, um dann nach wenigen Wochen Platz für den damaligen Innenminister Karl Nehammer zu machen. Drei Kanzler binnen weniger Wochen, das hat selbst Italien in seiner „Glanzzeit“ der Dauer-Regierungskrisen kaum geschafft.   Türkis-Grün überstand damit 2021, entgegen so mancher Prognosen, welche die ÖVP-Turbulenzen noch gar nicht mit einbeziehen konnten. Das hat durchaus handfeste politische Gründe: Auch die Grünen haben gehörig Lust an der Macht, und mit der taumelnden ÖVP haben sie aktuell mehr als davor. Für Neuwahlen hätte das Gros des Wahlvolks mitten in der akuten Corona-Krise keinerlei Verständnis. Zudem würde eine Neuwahl wohl beide Regierungsparteien schmerzlich treffen. Die ÖVP liegt in Umfragen weit unter dem letzten Wahlergebnis und müsste bei einem Urnengang sogar fürchten, von der intern zerstrittenen SPÖ überholt zu werden. Und die Grünen wären, zumal nach einer Neuwahl wohl wieder alles aus rechnerischen Gründen auf eine Ehe von SPÖ und ÖVP hinauslaufen würde, eine Regierungsbeteiligung, an der sie nicht nur wegen ihrer Klimaschutzziele Gefallen gefunden haben, wohl auf längere Zeit los. Das ist neben Corona bestens wirkender Kitt. Im Moment. Aber Vernunft und kühle, sachliche

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Berechnung sind gerade auch in der Politik nicht immer alleinige Faktoren. Und so sollte man mit der Prognose, dass es Türkis-Grün auch noch bis 2023 hinein schaffen wird, nach den jüngsten Erfahrungen vorsichtig bleiben.

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Vertrauenskrisen allerorten Die Pandemie zeigt die Schwächen unseres Systems gnadenlos auf. ­Vordringliche Aufgabe in den kommenden Monaten und Jahren ist es, verloren gegangenes Ver­ trauen wiederzugewinnen und den Staat auf neue Beine zu stellen. Die Aufräum­ arbeiten nach Corona dürfen nicht nur die Staatsfinanzen betreffen, nicht nur den Arbeitsmarkt und nicht nur verlorene Bildungsjahre. Es ist Zeit für eine neue Ge­meinsamkeit, eine nationale Aussöhnung.

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Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen. Niemand hätte vor einem Jahr gedacht, dass sich 2021 zu einem „Dreikanzlerjahr“ entwickeln würde. Niemand hätte gedacht, dass wir heuer dort stehen würden, wo wir schon ein Jahr zuvor standen, nämlich in einem pandemischen Minenfeld aus Inzidenzen, Mutanten und Lockdowns. Und all das garniert mit einem Vertrauensverlust in die Eliten, der demokratiegefährdende Ausmaße annimmt. Was kommt da auf uns zu? Einige problematische Entwicklungen scheinen sich so weit festgesetzt zu haben, dass man sie getrost ins Jahr 2022 fortschreiben kann. Im Folgenden eine Auswahl:

Vertrauenskrise I: Die ewige Pandemie Egal, ob man den regelmäßig vom SORA-Institut durchgeführten Demokratiemonitor zur Hand nimmt oder den ebenso regelmäßigen von einer Gruppe um Heinrich Neisser vorgelegten Demokratiebefund oder die Daten, die Unique Research regelmäßig für das „profil“ erhebt: Sie alle ­zeigen einen eindeutigen Trend. Das Vertrauen der Menschen in die Politik, in unser System, in unsere Politiker ist im Schwinden begriffen. Das hat nicht nur, aber in erster Linie mit der vermaledeiten Pandemie zu tun, die uns alle seit mehr als zwei Jahren im Banne hält. Stießen die Maßnahmen der Bundesregierung zu Beginn der Krise noch auf breites Verständnis bei den Bürgerinnen und Bürgern, so hat sich das im Laufe der Monate radikal gewandelt. Die Menschen wurden der Einschränkungen und Verbote ebenso überdrüssig wie die Politiker, die diese Einschränkungen verhängten. Und teilweise, das sei nicht verschwiegen, auch der Medien, die diese Einschränkungen guthießen. Die Pandemie hat zweifellos auch zu einer Polarisierung der Mediennutzer beigetragen, wie an Leserbriefen, sonstigen Zuschriften und vereinzelten Abo-Kündigungen bei vielen Medien ersichtlich wird. Der Vertrauensverlust, der somit sämtliche Meinungseliten betrifft, wird zweifellos vom Umstand befeuert, dass – abgesehen von der ersten Phase der Pandemie – die Regierenden in Bund und Ländern beim Kampf gegen die Pandemie vieles falsch gemacht haben. Verschleppte Entscheidungen, das Hin- und Hergeschiebe von Verantwortlichkeiten, mangelhafte Daten und Taten führten dazu, dass Österreich der Pandemieentwicklung hinterherhinkte. Wie schon im letzten Jahrbuch für Politik festgestellt, hält

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andreas koller    |    vertrauenskrisen allerorten

der Autor dieser Zeilen einen großen Österreichkonvent für erforderlich. Die Schwächen des bestehenden Systems, die eine effiziente Bekämpfung der Pandemie verhindert haben, müssen schonungslos analysiert, der Föderalismus auf die Höhe der Zeit gebracht werden.

Vertrauenskrise II: Der Fall Kurz Der im doppelten Wortsinn gemeinte Fall des Sebastian Kurz muss von zwei Seiten betrachtet werden. Da war auf der einen Seite eine junge Truppe, die auf ihrem Weg zur Macht auch Abwege beschritt, was letztlich zum Scheitern des ehrgeizigen Projekts Kurz führte. Und da war auf der anderen Seite eine fundamental-ideologische Gegnerschaft zu diesem Projekt, die sich mit nichts weniger zufriedengab als mit der Erfüllung ihres einzigen Anliegens, das da lautete: Kurz muss weg! Seit Wolfgang Schüssel hat kein Kanzler so sehr die politische Öffentlichkeit polarisiert wie Sebastian Kurz. Das hat zweifellos mit der Persönlichkeitsstruktur dieser beiden bürgerlichen Regierungschefs zu tun. Bei Kurz kommen noch die bekannt gewordenen Chatprotokolle hinzu, die den Eindruck verfestigen mussten, dass dieser junge talentierte Mann in der Spitzenpolitik fehl am Platz ist. Die heckenschützenartigen Aktionen der „Kurz-Apostel“ gegen Reinhold Mitterlehner, die schäbige Behandlung ehrbarer Kirchenvertreter, der teils pubertäre Umgangston in der Umgebung des politischen Wunderknaben, die getürkten Umfragen, die noch dazu offenkundig mit Steuergeld bezahlt worden waren – es war zu viel, was den Österreichern hier zugemutet wurde. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Der andere Teil der Wahrheit besteht darin, dass für einen gewissen Teil der Öffentlichkeit allein schon das Vorhandensein eines ÖVP-Bundeskanzlers einem heimlichen Naturgesetz widerspricht. Dem Naturgesetz nämlich, dass nur die SPÖ das Recht hat, eine Bundesregierung anzuführen. Vor allem ein nicht unerheblicher Teil der heimischen „Twitteria“ ist ein unbedingter Verfechter dieses Naturgesetzes.

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Vertrauenskrise III: Türkis-grüne Verwerfungen Dass die Grünen im Oktober des vergangenen Jahres Bundeskanzler Sebastian Kurz öffentlich die Amtsfähigkeit abgesprochen haben, die Unterstützung des gegen ihn gerichteten Misstrauensantrags ankündigten und den Kanzler somit zum Rücktritt zwangen, war ein beispielloser Vorgang, der die Koalition an ihre äußerste Belastungsgrenze brachte. Dass die Koalition diesen Vorgang überlebt hat, ist einzig und allein auf die Situationselastizität der ÖVP zurückzuführen: Dieser machtbewussten Partei ist der Besitz des Kanzlersessels weitaus wichtiger als die Frage, welcher ÖVP-Politiker auf diesem Sessel Platz nimmt. Ist es nicht Kurz, ist’s ein anderer, mag er nun Schallenberg heißen oder Nehammer oder sonst wie. Hauptsache ist, dass die ÖVP an der Macht bleibt. Dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der grüne Beitrag zur Entmachtung und Entfernung Kurz’ eine tiefe Vertrauenskrise zwischen der ÖVP und ihrem grünen Koalitionspartner ausgelöst hat. Als die ÖVP ihre schwerste Stunde hatte, haben ihr die Grünen die Unterstützung versagt. Der Spalt zwischen den beiden Partnern scheint zur Stunde der Abfassung dieses Textes gekittet zu sein, doch der Kitt ist brüchig. Ein Teil der grünen Sympathisantenszene ist ja seit Beginn dieser Koalition in heller Aufregung darüber, was die übermächtige ÖVP den Grünen alles an konservativen Maßnahmen, hartherzigen Migrationsentscheidungen und dergleichen mehr zumutet. Mindestens ebenso viel muten freilich die Grünen ihrem türkisen Koalitionspartner zu: Den Abschuss Sebastian Kurz’, die emsige Mitwirkung im Anti-ÖVP-Untersuchungsausschuss, die Verhinderung des Lobautunnels, die Ökosteuern … Ein geeichter Grün-Wähler müsste angesichts dieser Hitliste in wahre Verzückung ausbrechen. Doch nicht alle in der grünen Szene sehen das so. Der Widerspruch zwischen Verantwortungsethik (der sich die grüne Regierungs- und Parlamentsmannschaft verschrieben hat) und Gesinnungsethik (die in grünen Kreisen einen reichen Nährboden hat) löst erhebliche Spannungen in dieser Partei aus.

Vertrauenskrise IV: Der überspannte Verfassungsbogen Wenn’s um die FPÖ geht, kennt die SPÖ bekanntlich kein Pardon: Eine Koalition mit dieser Partei kommt nicht infrage, punktum. Dieser hehre

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Grundsatz gilt freilich nur für den Fall, dass es die ÖVP ist, die mit der FPÖ eine Koalition eingeht. Dann marschiert Österreich, findet die SPÖ, schnurstracks in den Faschismus. Ganz anders ist das im Falle rot-blauer Annäherungen, siehe beispielsweise das Burgenland unter Hans Niessl, von rotblauen Kooperationen unter Kreisky und Sinowatz zu schweigen. Als im vergangenen Herbst mit Sebastian Kurz die gesamte türkis-grüne Regierung wankte, hätte SPÖ-Vorsitzende Pamela Rendi-Wagner nichts dabei gefunden, eine rot-grün-pink-blaue Übergangsregierung zu bilden, notfalls sogar unter Einschluss Herbert Kickls. Dieser müsse ja nicht gerade Gesundheitsminister werden, schränkte die SPÖ-Chefin ein. Immerhin. Dessen ungeachtet ist es nicht gerade vertrauensbildend für den Durchschnittswähler, wenn für die Ideologiehüter der SPÖ der Schmuddelkindstatus der Freiheitlichen hauptsächlich davon abhängt, ob diese gerade mit der ÖVP kooperieren oder mit der SPÖ. Ganz schon viel Vertrauenskrisen also für ein einzelnes Jahr. Vordringliche Aufgabe der kommenden Monate und Jahre muss es also sein, verloren gegangenes Vertrauen wiederherzustellen. Die Aufräumarbeiten nach Corona dürfen nicht nur die Staatsfinanzen betreffen, nicht nur den Arbeitsmarkt und nicht nur verloren gegangene Bildungsjahre. Es ist Zeit für eine neue Gemeinsamkeit, eine nationale Aussöhnung. „Wir werden in ein paar Monaten einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen“, sagte der damalige deutsche Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zu Beginn der Coronakrise. Aus den paar Monaten sind ein paar Jahre geworden, aber ansonsten ist den Worten des konservativen Politikers nichts hinzuzufügen.

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richard grasl

Die sich nicht erfüllende ­Prophezeiung Im Jahr 2021 erwiesen sich viele politische Prognosen als falsch. Neuer deutscher Kanzler wurde entgegen allen Erwartungen der Sozialdemokrat Olaf Scholz, Seba­ stian Kurz musste seine politische Karriere beenden und die Prophezeiung vom bal­ digen Ende der Corona-Pandemie blieb ebenfalls unerfüllt. Warum die konkreten drei Vorhersagen schiefgingen, aber warum Prognosen auch immer öfter deren Verfas­ ser unter Druck bringen, versucht der Beitrag von KURIER-Chefredakteur-Stellver­ treter Richard Grasl zu erklären.

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Wir wollen die Zukunft immer ganz genau kennen, obwohl sie immer komplexer wird. Es vergeht kaum ein Tag ohne neue Umfrage, Studie oder Prognose. Erst zu Jahresbeginn 2022 ist Peter Klimek zum Wissenschaftler des Jahres gewählt worden. Er ist Komplexitätsforscher. Klimek berät im Prognosekonsortium auch die österreichische Bundesregierung und ist nach zwei Jahren Corona-Pandemie realistisch: „Ich frage mich in der Tat häufig, ob wir je irgendeine Grundlage für eine Entscheidung geliefert haben“, so Klimek in einem KURIER-Interview Anfang 2022. Komplexe Zusammenhänge, aus denen Prognosen erstellt werden, sind für die Politik jedoch eine wichtige Arbeitsgrundlage. Dass Politiker in Sachfragen häufig nach Umfragen entscheiden, ist mehrfach nachgewiesen. Dass Umfragen auch dazu beitragen sollen, Entscheidungen herbeizuführen, weil damit Stimmungen gemacht werden, ist im Jahr 2021 durch die sogenannte Inseraten-Affäre erstmals öffentlich in dieser Form bekannt­ geworden. Es existiert aber auch eine dritte Implikation: Wenn in der Realität nicht das eintritt, was in Umfragen vorhergesagt worden ist, entsteht erhöhter Druck auf die handelnden Personen, und der negative Soll/IstVergleich setzt eine sich noch stärker drehende Negativspirale in Gang. Die Realität entfernt sich dadurch noch schneller von der Vorhersage – eine „sich nicht erfüllende Prophezeiung“ also. Drei Beispiele aus dem Jahr 2021 sollen diese Thesen untermauern.

1. „Der nächste deutsche Kanzler ist ein CDU-Politiker“ Hätte man noch im Frühsommer des Jahres 2021 darauf gewettet, dass Olaf Scholz neuer deutscher Bundeskanzler wird, man hätte seinen Einsatz mehrfach zurückverdient. Betrachtet man den Durchschnitt der Umfragen der wichtigsten deutschen Meinungsforschungsinstitute im Juli, schien der Vorsprung der Unionsparteien uneinholbar. Die CDU lag bei 28,6 Prozent, während die SPD hinter den Grünen (18,7 %) nur auf Platz drei rangierte und bei 16,0 Prozent hielt. Doch wie kam es innerhalb von nur drei Monaten bis zur Wahl am 26. September 2021 zu dieser noch nie dagewesenen Aufholjagd eines in den Medien als langweilig bezeichneten Politikertyps wie Olaf Scholz. Auslöser für die Trendwende war das Hochwasser in der Eifel. Am 21. Juli

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unterlief dem CDU/CSU-Spitzenkandidaten Armin Laschet ein folgenschwerer Fehler. Während einer im TV übertragenen Rede des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier scherzte und lachte Laschet im Hintergrund, aber im TV gut sichtbar, mit seinem Gesprächsnachbarn. Während andere Politiker also in Krisensituationen zur Höchstform auflaufen und durch Führungsstärke sogar an Vertrauen gewinnen, verspielte Laschet seinen Vertrauensbonus. Bei weiteren Besuchen in der Eifel bekam er (ebenfalls vor laufenden TV-Kameras) den Ärger der von der Flutkatastrophe getroffenen Menschen ab. Scholz nutzte die Gunst der Stunde perfekt. Er reise als amtierender Finanzminister durch das Katastrophengebiet, versprach rasche Wirtschaftshilfen. Scholz trat sogar im Duett mit der amtierenden deutschen Kanzlerin Angela Merkel auf und positionierte sich somit als geeigneter Nachfolger der Langzeit-Kanzlerin. Sie hatte das Land zwar wenig innovativ, aber solide und mit ruhiger Hand durch die Krisen geführt. Und so machte Scholz aus seiner vermeintlichen Schwäche sogar einen Vorteil. Er würde die deutsche Politik zwar verändern, aber nicht Deutschland selbst. Das gefiel vor allem potenziellen Grün-Wählern, denen die radikalen Ansagen der auch nicht gerade ohne Krisen durch den Wahlkampf taumelnden Spitzenkandidatin Annalena Baerbock oft zu weit gingen. Da der Vorsprung von Laschet auf Scholz von Woche zu Woche schmolz, setzte sich die eingangs beschriebene Negativspirale noch stärker in Gang. Die von den Medien nun verkündeten Minuspunkte für Laschet ließen ihn noch stärker als möglichen Verlierer dastehen, während Scholz durch seine nachlesbare Aufholjagd für die Deutschen zum geeigneten Kanzler aufstieg. Doch zurück zu Angela Merkel. Sie trug trotz aller Erfolge während ihrer mehr als 16-jährigen Kanzlerschaft ebenso zur deutschen Wende im September 2021 bei. Zwei Jahre lang zelebrierte Merkel äußerst unglücklich einen Wechsel an der Parteispitze und eine völlig missglückte Kür von Armin Laschet zum Kanzlerkandidaten. Bereits nach der Übernahme des Parteivorsitzes durch die frühere saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer zeigte sich Merkels fehlender Wille, für klare Verhältnisse zu sorgen. War schon die Kür Kramp-Karrenbauers ein Drahtseilakt mit einer Kampfabstimmung gegen den bei der CDU-Basis beliebteren Friedrich Merz, so war die Wahl Armin Laschets zwar eindeutig (wieder ge-

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gen Merz und Norbert Röttgen), doch selbst danach war nicht klar, wer das Bündnis aus CDU und CSU in die Wahl führen würde. Und wieder war es Merkel, die sich fatalerweise zurückhielt. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder führte Laschet angesichts seiner eigenen, besseren Umfragewerte monatelang medial vor. Doch Laschet kämpfte um seine Nominierung und wurde schließlich in einer denkwürdigen nächtlichen Sitzung von alternden Parteigranden wie Wolfgang Schäuble oder Volker Bouffier gegen den Willen der Basis gekürt. Wer fehlte bei dieser Sitzung? Angela Merkel. Sie hat das Amt von der SPD übernommen, als sie Gerhard Schröder 2005 ablöste. Und sie gab es an die SPD zurück, weil sie ihrer wichtigen Aufgabe, einen Nachfolger zu küren, nicht nachgekommen ist.

2. „Die Pandemie ist (für Geimpfte) beendet“ Zweimal versagten im Jahr 2021 die Prognosen der Regierungspolitiker in Österreich, dass wir kurz vor dem Ende der Corona-Pandemie stehen würden. Zunächst war es der Beginn der Impfkampagne, die rund um den Jahreswechsel startete. Später verkündete Bundeskanzler Sebastian Kurz zu Beginn des Sommers, dass die Pandemie gemeistert wurde und dass sie für Geimpfte schon vorüber sei. Es solle keine Lockdowns für Geimpfte mehr geben. Alles erwies sich später als falsch. Die Gründe dafür sind aber mannigfaltig. Beginnen wir bei der Impfung. „Es ist ein historischer Tag. Es stehen uns zwar noch herausfordernde Monate bevor, und es wird noch eine herausfordernde Phase werden, aber wir nähern uns Schritt für Schritt, mit jeder Impfung, die durchgeführt wird, zurück in Richtung Normalität.“ Mit diesem Zitat von Bundeskanzler Sebastian Kurz beschwor die Bundesregierung am ersten Corona-Impftag in Österreich am 27. Dezember 2020 die Trendwende. Kurz wohnte den ersten Impfungen in einem Altersheim in einem Nebenzimmer gemeinsam mit Gesundheitsminister Rudolf Anschober bei. Als langfristig größtes Problem erwies sich die geringe Impfbereitschaft der heimischen Bevölkerung. Bis zu einer Quote von rund 60 Prozent Grundimmunisierten (gemeint waren vorerst zwei Impfungen) lief die Kampagne noch sehr gut, doch ab diesem Zeitpunkt – es war Anfang der Sommermonate – stellte sich zunächst eine Impfmüdigkeit ein, die über

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den Herbst zunehmend zu einer starken Polarisierung zwischen Befürwortern und Gegnern der Impfung führte. Spätestens seit der Diskussion um die Festlegung der Impfpflicht waren die Fronten verhärtet. Mit einer Grundimmunisierung von nur knapp 70 Prozent zum Jahresende 2021 war die Prognose, dass die Pandemie bald vorbei sein würde, ohnehin gescheitert. Denn der hohe Anteil an Ungeimpften führte noch im November 2021 zu einem weiteren Lockdown, auch für Geimpfte. Und dann kam noch ein weiterer Faktor ins Spiel: Die im November aufgetretene Omikron-Mutation mit sehr viel höherer Ansteckungsrate unterlief auch bei Geimpften den Schutz vor Ansteckung, nicht aber den vor schwerer Erkrankung. Dass es im Zuge einer Pandemie zu mehreren Mutationen kommt, weil das Virus sich weiter vermehren möchte, war aber bei der Erstellung der Prognosen durch unsere Spitzenpolitiker schon bekannt. Doch warum ließen sich vom Kanzler abwärts Spitzenpolitiker (es folgten auch noch die jeweiligen Nachfolger Alexander Schallenberg als Kanzler und Wolfgang Mückstein als Gesundheitsminister) zu derart gewagten Prognosen hinreißen? Das Motiv im Dezember 2020 war sicher die Ankurbelung des Impffortschritts. Im Sommer wollte die Regierung wohl einfach zur guten Stimmung beitragen. Denn nach 18 Monaten Pandemie war für die Bevölkerung ein Lichtblick auch ein psychologisch wichtiger Moment. Und in der Wirtschaft läuft bekanntlich vieles über Psychologie und gute Stimmung. Doch der kurzfristige Erfolg dieser Mut-Injektion wurde spätestens im Herbst zum Bumerang, und es war auch ein Grund dafür, warum sich der Bundeskanzler und die ÖVP in den Meinungsumfragen verschlechterten. Womit wir bei der dritten Prognose des Jahres 2021 wären.

3. „In Österreich gilt die Unschuldsvermutung“ Als die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft in der Causa CASAG auch gegen Spitzenpolitiker der ÖVP zu ermitteln begann, stieg die Nervosität im Umfeld der Parteispitze. Sebastian Kurz fühlte sich durch Ermittlungen wegen vermeintlicher Falschaussage im Ibiza-Untersuchungsausschuss offenbar unter Druck gesetzt. Er selbst, später Fraktionsführer Andreas Hanger, Verfassungsministerin Karoline Edtstadler und ÖVP-Vizegeneralsekretärin Gaby Schwarz („Man wird bei einer Hausdurchsuchung

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nichts mehr finden“) attackierten die Korruptionsstaatsanwälte. Und schon sehr bald verkündete Kurz, er werde sicher nicht zurücktreten, auch nicht bei einer Anklage, und wenn überhaupt erst nach einer letztinstanzlichen Verurteilung. Auch diese Prognose war falsch. Am Mittwoch, dem 6. Oktober 2021, kam es zur wohl größten Razzia gegen die heimische Spitzenpolitik, die es je in Österreich gegeben hat. Nicht nur das Kanzleramt wurde durchsucht, auch die Wohnungen von wichtigen Mitarbeitern im Umfeld des Bundeskanzlers wurden gefilzt, deren Handys beschlagnahmt. Schon am Tag der Razzia gelangten Details über die sogenannte Inseraten-Affäre und die Verwicklung des Bundeskanzlers in alle Medien. Auch im KURIER erschien ein Leitartikel des Autors dieser Zeilen mit dem Titel „Es wird eng für Sebastian Kurz“. Wenige Tage später trat Kurz unter Druck des grünen Koalitionspartners als Bundeskanzler zurück, wenige Wochen später auch als Partei- und Klubchef. Kurz merkte, dass er erstens durch die Vorwürfe politisch erpressbar wurde und zweitens den Landeshauptleuten in der ÖVP im Angesicht einer zerbröselnden Bundespartei das Wohlergehen der eigenen Landespartei wichtiger war das jenes jungen Mannes, der die ÖVP nach Mitterlehner von 18 auf rund 40 Prozent geführt hatte. Dass der Druck auf Kurz schon vor einer möglichen Anklage und weit vor einer möglichen Verurteilung so groß wurde, hing aber auch mit einer von vielen Medien, Bloggern, allen Oppositionsparteien und Teilen der Grünen veranstalteten Jagd auf Kurz zusammen. Klar war ihnen allen, dass Kurz selbst unter schwierigsten Bedingungen ein Erfolgsgarant für die ÖVP war. Er hatte selbst nach der erstmaligen Abwahl eines Kanzlers durch das Parlament in der österreichischen Geschichte bei den Nationalratswahlen 2019 zugelegt. Er war in sämtlichen Umfragen auch nach Bekanntwerden erster Vorwürfe mit persönlichen Topwerten ausgestattet. Daher musste Kurz weg. In diesem Zusammenhang sollte auch eine neue Kultur im Dreieck von österreichischer Innenpolitik, Justiz und Medien angesprochen werden. Das rasche, teils stark aus dem Zusammenhang gerissene, unvollständige Veröffentlichen von Aktenteilen hat dazu geführt, dass die Unschuldsvermutung zu einer hohlen Phrase wurde. Es ist üblich geworden, dass diverse Ermittlungsergebnisse vor deren Bewertung und Überprüfung durch un-

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abhängige Ermittler, Staatsanwälte und Richter politisch motiviert in die Öffentlichkeit gespielt werden. Eine Vielzahl von Verfahren, über die in den Medien seitenweise berichtet wurde, wurde im Herbst 2021 ohne Ergebnis wieder eingestellt. Der Schaden bleibt für jene, die dadurch in der Öffentlichkeit zu Unrecht beschuldigt wurden. Aus der Feder eines Journalisten mag diese Feststellung vielleicht unlogisch wirken. Doch auch die Medien sollten sich anlässlich dieser Vorkommnisse in Selbstreflexion begeben und über die Verwertung zugespielter Aktenteile nachdenken. Noch vor wenigen Jahren, als gegen den damaligen sozialdemokratischen Bundeskanzler Werner Faymann – ebenfalls wegen Medienkooperationen – ermittelt wurde, war das anders. Über das Verfahren wurde auch intensiv berichtet. Die Vorverurteilungen waren, obwohl Faymanns eigenes Ministerium direkt betroffen war, in keiner Weise so massiv wie bei Kurz. Er blieb noch viele Jahre Bundeskanzler. Und so kam es, dass die Prognose, dass Kurz bis zu einer Verurteilung Kanzler bleiben würde, im Oktober 2022 falsifiziert wurde. Vielleicht mit der Erkenntnis, dass harte Attacken auf die Justiz vor allem dann nach hinten losgehen können, wenn Zigtausende Chats aus der Cloud von Thomas Schmid noch nicht einmal ausgewertet worden sind. Und dass auch im Triumph politische Gegner und andersdenkende Bürger des Landes nicht laufend vorgeführt werden sollten.

Und 2022? Drei Prognosen bieten sich für das laufende Jahr 2022 an: Alexander Van der Bellen wird wieder Bundespräsident. Die türkis-grüne Regierung stabilisiert sich unter Kanzler Karl Nehammer. Und die Pandemie? Hier sollte man auf nichts wetten, denn selbst wenn Corona via Omikron schwächer wird, kann jederzeit ein ganz neuer Erreger auftauchen. Aber dann sollten wir aus falschen politischen Prognosen schon viel gelernt haben.

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Im Infight mit der Justiz Sebastian Kurz ging dem Konflikt mit der Justiz nicht aus dem Weg, er ahnte, dass die Ermittlungen der Korruptionsstaatsanwaltschaft letztendlich ihm gelten würden, das machte er sehr früh klar. Allerdings schien er die Auswirkungen und den Ausgang falsch eingeschätzt zu haben. Die Dynamik, die sich im Vorgehen der Staatsanwalt­ schaft noch entwickeln sollte, ließ sich schwer vorhersehen, da spielte ein Handy letztendlich die entscheidende Rolle.

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Es war bereits im Jahr zuvor, 2020, noch im Jänner. Sebastian Kurz war erst wenige Tage als Bundeskanzler im Amt, das zweite Mal schon. Am 7. Jänner war die neue Regierung angelobt worden, Kurz hatte einen neuen Koalitionspartner gefunden, die Grünen – ein durchaus interessantes Projekt. Wie würde sich Werner Kogler als Vizekanzler halten? Spannende Tage, nicht nur für den Kanzler, sondern auch für die Journalisten. Am 20. Jänner 2020 lud Kurz zu einem Hintergrundgespräch ins Springer-Schlössl in Wien-Meidling, in dem die „Akademie“ der ÖVP untergebracht ist, Funktionäre der Partei kennen dieses Anwesen gut. Sebastian Kurz hat Innenpolitik-Journalisten zu diesem vertraulichen Termin gebeten, nicht das erste Mal. In regelmäßigen Abständen bot Kurz von sich aus diese Möglichkeit an, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Oft genug war ein Spin – ganz klar, Gerald Fleischmann, der Medienbeauftragte des Kanzlers – bei solchen Terminen auch dabei. Kurz pflegte erst das anzubringen oder zu erzählen, was ihm wichtig war, dann wurden Fragen gestellt, schließlich gab es noch ein kleines Buffet, bei dem man ungezwungen plaudern und noch ein paar Themen vertiefen konnte. Für beide Seiten, Journalisten und Kanzler, eine lohnende Angelegenheit, eine unkomplizierte Art, wie man ins Gespräch kommen kann. Sehr lobenswert eigentlich, man hält Kontakt und kann dennoch auch Distanz wahren. Vertraulichkeit ist Voraussetzung, das hat fast immer gut funktioniert, nicht immer, aber meistens. Es war allerdings schon vorgekommen, dass Gewerkschafter noch während der Veranstaltung auf etwas reagierten, was dort gesagt wurde, da hatte ein Medienvertreter offenbar schon eine Nachricht verschickt. Aber das war die Ausnahme. Kurz – oder Fleischmann – definierte, was off-off ist, was also gar nicht berichtet werden darf, was als Information weitergetragen werden darf, aber ohne Quellenangabe, und was ganz offiziell zitiert werden darf. Dieses Mal sind etwa 15 bis 20 Medienvertreter anwesend, hauptsächlich Journalist/innen von Tageszeitungen, aber auch Kolleg/innen vom ORF. Von der Wiener Wochenzeitschrift „Falter“, die sich ja in einer Art Infight mit Kurz befindet, sei niemand anwesend. Dabei sei der Falter diesmal sogar eingeladen gewesen, hat es aber nicht wert befunden, diesen Termin auch wahrzunehmen. Das soll noch eine Rolle spielen. Kurz gibt einen sehr allgemeinen Rückblick auf die Regierungsbildung mit den Grünen und skizziert im gemütlichen Rahmen die aktuellen

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Themen in der Regierung. Er sitzt vorne, die Journalistinnen und Journalisten in einem Halbkreis vor ihm. Kurz gibt eine Einschätzung von Kogler als Vizekanzler ab, er skizziert, wie der Pakt mit den Grünen zustande kam, was sie einbringen, was er hochhält – bei der Asylpolitik hätten sie jedenfalls nichts zu bestellen. Kurz selbst kommt auf die Justiz zu sprechen, ohne dass ihn einer der Journalisten darauf angesprochen hat. Es geht vor allem um die Ermittlungen der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft gegen den früheren Finanzminister Hartwig Löger und andere ÖVP-nahe Persönlichkeiten in der Causa Casinos. Es ist Kurz sichtlich ein Anliegen. Und er empfindet das Vorgehen der Justiz offenbar als ungerecht. Es scheint ihn auch persönlich zu schmerzen: Er hatte Löger, den er beruflich kennt und dem er verbunden ist, in die Regierung geholt, damals noch in die türkis-blaue, und er fühlt sich mitverantwortlich dafür, dass Löger jetzt ins Visier der Justiz geraten war, was ihn privat stresste und beruflich im Fortkommen zumindest vorübergehend behinderte. Zu diesem Zeitpunkt ist noch keine Rede davon, dass sich Ermittlungen direkt gegen Kurz selbst richten könnten. Kurz spricht sinngemäß, aber nicht wortwörtlich, von einem roten Netzwerk in der Staatsanwaltschaft. Es würden gezielt Informationen und Aktenteile aus der Staatsanwaltschaft rausgespielt, um der ÖVP und letztendlich ihm zu schaden. Da komme jemand einem politischen Auftrag nach, suggeriert Kurz. An den Stehtischen, die um das Buffet aufgestellt sind, wird das Thema im Anschluss noch weiter diskutiert. Kurz geht das Thema offensiv an, unterstellt der Korruptionsstaatsanwaltschaft, in Kooperation mit den Medien eine politische Agenda zu verfolgen. Wieder beklagt er, was Löger angetan werde, er nimmt das persönlich. Die Staatsanwaltschaft füttere Medien gezielt mit Material, das zeige den – schlechten – Vorsatz hinter den Ermittlungen. Der implizierte Vorwurf: Die Medien würden dadurch manipuliert, und sie würden wiederum gezielt gegen Kurz und sein Umfeld schreiben. Kollegen weisen das noch an Ort und Stelle zurück. Kurz wird mehrfach darauf aufmerksam gemacht, dass die Akten vor allem durch die Akteneinsicht der Anwälte an die Medien geraten und nicht direkt von der Korruptionsstaatsanwaltschaft weitergereicht würden. Das will Kurz nicht hören.

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Ausgerechnet der „Falter“, der bei dem Termin nicht anwesend ist, macht schließlich den Vorwurf von Kurz, den dieser bei dem Hintergrundgespräch gegen die Korruptionsstaatsanwaltschaft erhoben hat, nämlich Teil eines roten Netzwerkes zu sein, öffentlich. Der „Falter“ braucht den Beweis der Richtigkeit dieser Aussagen nicht antreten; auch wenn das wortwörtlich so nicht gefallen ist, bestreitet Kurz die Intention seines Vorwurfes gar nicht. Kurz bleibt dabei: Die WKStA gehe gezielt und aus politischen Gründen gegen ihn vor. In den nächsten Tagen taucht ein uraltes Papier wieder auf, dieses würde belegen, wie die SPÖ Einfluss auf die Justiz nehme. Es geht um eine Besprechung in einer Rechtsanwaltskanzlei im Jahr 1997, bei dem sich auch SPÖ-Vertreter darüber beraten, wie man mehr SPÖ-loyales Personal im Justizapparat etablieren könne. „Kurier“ und „Presse“ berichten Anfang Februar 2020 darüber, Kurz selbst ruft am Wochenende jene Medien, die das nicht aufgegriffen haben, durch und verweist nachdrücklich auf diese Geschichte. Ein ganz ähnlich lautender Artikel in einer früheren Fassung wurde von einer angeblich involvierten Person allerdings geklagt, der „Kurier“ wurde dafür auch verurteilt. Das Thema schlägt keine großen Wellen mehr. Ein paar Tage später gibt es einen runden Tisch mit Vertretern der Justiz. Es soll eine Art Aussprache sein, genutzt hat das offenbar nicht viel. Zumindest Kurz sieht sich in seinen Vorbehalten bestätigt: Nach dem Termin tritt Kurz vor die Presse und erklärt unter anderem, „hochrangige Journalisten“ hätten ihm gegenüber bestätigt, Akten aus der Staatsanwaltschaft erhalten zu haben. Es folgt deswegen eine Anzeige der Neos, Kurz wird von einem Staatsanwalt einvernommen; der Inhalt dieser Aussage wird nicht bekannt. Die WKStA lässt sich jedenfalls nicht beirren. Vor allem tausende von Nachrichten, die auf dem Handy von Thomas Schmid sichergestellt werden, bringen Kurz immer mehr in Bedrängnis. Die Einschläge rücken immer näher an Kurz heran: Nun taucht er selbst in peinlichen Chatnachrichten auf. In Anordnungen der WKStA wird er nun ganz offiziell zur zentralen Figur. Etwa im Februar 2021, als erstmals in der Geschichte der Republik eine Hausdurchsuchung bei einem Finanzminister durchgeführt wird. Gernot Blümel, seit Jahren einer der engsten Vertrauten Kurz’, wird vorgeworfen, ein korruptes Angebot der Novomatic an den damaligen Außenminis-

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ter weitergetragen zu haben. Die ÖVP beginnt als Reaktion darauf, ihre Angriffe auf die WKStA zu intensivieren. Der Kanzler persönlich wirft den Ermittlern „viele Verfehlungen“ vor. Es ist wohl auch ein Vorspiel für den Moment, in dem Kurz selbst zum Beschuldigten werden würde. Erwartet wurde schon im Frühjahr eine Großaktion der WKStA samt schwerwiegenden Korruptionsvorwürfen. Doch die bleibt vorerst aus: Stattdessen wirft die Staatsanwaltschaft dem Kanzler vor, den Ibiza-Untersuchungsausschuss falsch informiert zu haben. Politisch hätte Kurz das überleben können: Gerade bei dem Delikt der Falschaussage lässt sich die Erzählung aufbauen, Kurz habe nicht absichtlich gelogen oder sei falsch verstanden worden. Kurz und die ÖVP bauen schon vor: Nein, auch wenn eine Anklage erhoben werden sollte, werde er als Kanzler nicht zurücktreten, der ganze Vorgang wird als lächerlich abgetan. Der Vorwurf der Falschaussage ist in der Tat etwas kompliziert. Am 24. Juni 2020 hatte Kurz vor dem Ibiza-Untersuchungsausschuss im Zusammenhang mit Postenbesetzungen bei der Staatsholding ÖBAG ausgesagt, er sei nicht in die Bestellung von Aufsichtsräten eingebunden gewesen – für die Staatsanwaltschaft und die Opposition eine Falschaussage, für politisch interessierte Beobachter eine Ungeschicklichkeit, für die breite Öffentlichkeit ist die ganze Causa nicht nachvollziehbar, jedenfalls kein Grund für einen Rücktritt. Spätestens ab September 2021 ist jedoch spürbar, dass da noch mehr gegen Kurz kommen werde. Nervös veranstaltet die ÖVP zwei bizarre Pressekonferenzen, in denen über bevorstehende Hausdurchsuchungen gemutmaßt wird. Es gibt Gerüchte über „etwas Großes“, das ist Gesprächsthema bei gut informierten Medien und selbstverständlich im Umfeld von Kurz, wo man etwas läuten hört, aber niemand weiß noch genau, was da eigentlich kommen wird. Am 6. Oktober ist es dann so weit: In einer Großaktion durchsuchen Ermittler auf Anordnung der WKStA mehr als zwanzig Orte, darunter die ÖVP-Zentrale und das Bundeskanzleramt. Dem damaligen Kanzler bleibt eine Razzia wohl nur deshalb erspart, weil sein Personenschutz – der vorgewarnt werden müsste – die Angelegenheit verkompliziert hätte. Die WKStA wirft, in aller Einfachheit gesagt, engen Beratern und Kurz selbst vor, einen korrupten Deal mit einer Meinungsforscherin und den Fellner-Brüdern abgeschlossen zu haben. Dabei geht es um beeinfluss-

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bare Berichterstattung, Inserate, manipulierte Umfragen und Scheinrechnungen, die dem Finanzministerium gestellt wurden. Alle Beteiligten bestreiten die Vorwürfe, es gilt die Unschuldsvermutung. In ihrer Begründung holt die Staatsanwaltschaft sehr weit aus und erzählt die Geschichte, wie Kurz bereits in seiner Zeit als Außenminister an der Machtübernahme in der ÖVP bastelte und wie er und seine Mitstreiter schließlich die Operation Ballhausplatz in die Wege leiteten. Doch abseits der strafrechtlichen Vorwürfe sind die Chatnachrichten, die im Durchsuchungsbefehl angeführt werden, politisch zu brisant, um folgenlos zu bleiben. Die Vorwürfe gegen Kurz – nämlich Anstiftung zu Bestechlichkeit und Untreue – sind schwerwiegend, aber die Begleitmusik ist entscheidend: der Ton, der in den Chats angeschlagen wird, die Packelei, die ersichtlich wird, die Arroganz einiger, die sich hier die Macht aufzuteilen scheinen, die Tricksereien, mit der politische Gegner – auch innerhalb der eigenen Partei – geschädigt werden sollen. Die Angriffe auf Reinhold Mitterlehner, Kurz’ Vorgänger als ÖVP-Chef, und die bewusste Desavouierung eines „Parteifreundes“ sorgen auch in Kreisen der Volkspartei, vor allem in der alten, schwarzen Volkspartei für schweres Murren. Den entscheidenden Anstoß liefern aber die Grünen. Mit all ihrem politischen Gewicht zwingen sie den Kanzler zum Rücktritt. Er sei nicht mehr tragbar, nicht mehr amtsfähig, und im Hintergrund, das ist kein großes Geheimnis, laufen bereits Gespräche über eine neue Koalition, alle gegen die ÖVP; die Grünen verschließen sich zumindest den Gesprächen darüber nicht. Für Kurz ist es vorläufig nur ein „Schritt zur Seite“, nämlich in den ÖVP-Parlamentsklub, dem er als Obmann vorsteht. Parteichef bleibt er vorerst. Es ist der Versuch eines geordneten Rückzugs, und Kurz will wohl noch nicht glauben, was da gelaufen ist. Dass letztendlich die Korruptionsstaatsanwaltschaft doch am längeren Ast sitzt. In den folgenden Wochen versucht die ÖVP noch intensiv, den AltKanzler durch sogenannte Litigation-PR reinzuwaschen: durch bezahlte Gutachten, Hintergrundgespräche und Schmutzkampagnen gegen investigative Journalisten sowie die WKStA. Am Donnerstag, den 2. Dezember, wendet sich Kurz zuerst an die „Kronen Zeitung“, dann beruft er eine Pressekonferenz ein und verkündet seinen Rückzug aus der Politik. „Ich

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bin weder ein Heiliger noch ein Verbrecher. Ich bin ein Mensch.“ Kurz spricht von einer Jagd auf seine Person, viel konkreter wird er dabei nicht; zwischen den Zeilen ist aber klar, wen er damit meint: die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft. Ausgerechnet an diesem Donnerstag wird im Parlament auch der sogenannte „ÖVP-Korruptionsuntersuchungsausschuss“ in die Wege geleitet. Hintergrundgespräch gibt es keines mehr, mittlerweile wissen wir: Sebastian Kurz tritt einen neuen Job in den USA an, abseits der Politik.

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Wider die falschen Propheten 2021 war einmal mehr kein gutes Jahr für leichtfertige Prognosen aller Art. Trotz­ dem werden weder Politik noch Medien aufhören, so zu tun, als wüssten sie, was die Zukunft bringt. Egal, ob der Verlauf der Pandemie, die Zukunft von Türkis-Grün oder der Ausgang der deutschen Bundestagswahl – auch für 2021 galt: Wer sich auf Prognosen verlässt, findet sich oft verlassen wieder. Trotzdem bleiben informierte Ver­ mutungen über die Zukunft für unsere moderne Gesellschaft unerlässlich. Der Wert guter Prognosen lässt sich daran erkennen, wie offen und transparent über das Aus­ maß an unsicheren Faktoren Auskunft gegeben wird. Das zählt auch zu den Quali­ tätsmerkmalen guten Journalismus.

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„Kurz wird Österreich länger regieren als Fidel Castro Kuba“, behauptete im Mai 2021 der omnipräsente Philosoph des aktuellen Zeitgeists, Richard David Precht, im österreichischen Privatfernsehen. Keine fünf Monate später war der Kanzler und einstige Hoffnungsträger einer allseits bedrängten Christdemokratie auch schon wieder Geschichte. Den – auf zwei Amtszeiten aufgeteilten – 38 Monaten Regierungszeit des politischen Himmelsstürmers stehen somit aufseiten des „Máximo lider“ 49 Jahre als alleinherrschender Diktator gegenüber. Prechts Prognose, die eigentlich mehr ein flotter Spruch ist, war natürlich ironisch zu verstehen. Doch sie beruhte auf einer im Kern wohl aufrichtigen Annahme einer weitgehend stabilen Parteienlandschaft in Österreich. Was der selbstverschuldete Sturz von Sebastian Kurz vor allem aufzeigt, ist das Ausmaß an Instabilität, das den grundlegenden politischen Machtverhältnissen zugrunde liegt – nicht erst seit gestern, sondern seit mehr als zwei Jahrzehnten. Wer hätte die geradezu irrwitzige Abfolge an innenpolitischen Erdbeben der vergangenen Jahre vorherzusagen gewagt, die in einem Herbst mit drei Kanzlern binnen weniger Wochen gipfelte? Diese längst chronisch gewordene Instabilität der Parteienlandschaft ist nicht ins tiefere Bewusstsein eingedrungen. Auch deswegen gleichen so viele Prognosen zur weiteren Entwicklung der heimischen Innenpolitik einer Wette beim Glücksspiel. Das lässt sich von den Vorhersagen der hochgerüsteten westlichen Geheimdienste über die Widerstandskraft der offiziellen Streitkräfte der afghanischen Regierung angesichts des Vormarschs der steinzeitislamischen Taliban hoffentlich nicht behaupten. Hunderte Milliarden US-Dollar hatten die USA samt Verbündeten in das Land am Hindukusch investiert, um stabile staatliche Strukturen aufzubauen. Und trotzdem stürzte dieser afghanische Staat im Sommer binnen weniger Wochen wie ein Kartenhaus in sich zusammen, noch bevor die USA ihren übereilten und ohne Absprache mit ihren Verbündeten durchgezogenen Abzug abgeschlossen hatten. Ziemlich weit daneben lagen auch die Prognosen zur deutschen Bundestagswahl. Jede Vorhersage, die man für möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich hält, beeinflusst das daran anschließende Verhalten. Der Tenor der medialen Berichterstattung im Vorfeld der deutschen Bundestagswahl war, dass Olaf Scholz, der Kanzlerkandidat der notorisch brustschwachen SPD,

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eigentlich ohne echte Chance auf die Nachfolge Angela Merkels sei. Das Endergebnis der Wahl vom 26. September sah dann deutlich anders aus. Zwar hatte sich die Möglichkeit eines SPD-Siegs im Endspurt des Wahlkampfs abgezeichnet, doch dank des kollektiven, weil ständig wiederholten Konsenses von der Scholz’schen Chancenlosigkeit widmete sich die kritische Öffentlichkeit lieber der schwarzen und grünen Konkurrenz. Armin Laschet, Friedrich Merz für die Union und auch Annalena Baerbock für die Grünen ist diese geballte Medienaufmerksamkeit über Wochen nicht gut bekommen. Am Ende war ihr Anspruch auf das Kanzleramt – im Fall von Merz auf die Kanzlerkandidatur – gewogen und für zu leicht befunden worden. Des einen Pech ist oft des anderen Glück. In dem Ausmaß, wie die Umfragen für Union und Grüne absackten, stiegen die Werte für Scholz und seine SPD. Doch da war der Wahlkampf fast schon vorbei. Möglich, dass Scholz kraft seiner langjährigen Erfahrung als Vizekanzler und Finanzminister auch trotz eines kräftigeren medialen Gegenwinds ins deutsche Kanzleramt gesegelt wäre. „Hätte, hätte, Fahrradkette“, parierte der ehemalige SPD-Politiker und gescheiterte Kanzlerkandidat Peer Steinbrück alle vergeblichen Spekulationen über ein „Was-wäre-Wenn“. Ändern lässt sich das Vergangene tatsächlich nicht mehr, aber daraus lernen könnten wir schon. Precht hin, Afghanistan und deutsche Bundestagswahl her: 2021 war geprägt von all den schnell verwelkten Prognosen über den weiteren Verlauf der Corona-Pandemie. Gleich zu Jahresbeginn und ungeachtet des dritten Lockdowns schien das Virus für die Optimisten bereits überwunden, waren doch die ersehnten Impfstoffe endlich im Anrollen. Und als im Sommer die Kanzlerpartei auf Plakaten verkündete: „Pandemie gemeistert, Krise bekämpft“, glaubten viele tatsächlich, die Sache hätte sich endlich erledigt. Werch ein Illtum, hätte Ernst Jandl gelästert. Als genauso wenig klug erwiesen sich im Nachhinein zwei Versprechen, mit denen die Regierung landauf und landab zog und nach denen es weder einen neuerlichen Lockdown für Ungeimpfte noch die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht geben werde. In der Nacht vom 18. auf den 19. November fielen dann allerdings auch diese roten Linien, als sich die Koalition angesichts einer unmittelbar bevorstehenden Überlastung des Gesundheitssystems eben doch in den Lockdown für alle fügte und im Ge-

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genzug dafür die allgemeine Impfpflicht ankündigte. Die Vertrauenswerte in die Politik rasselten in den Keller, und insbesondere die Impfpflicht macht die Gräben, die durch die Gesellschaft laufen, deutlich sichtbar. Die langfristigen Folgen dieser gesellschaftlichen Entwicklung sind noch längst nicht absehbar. Welche Lehren sind aus dieser höchst kursorischen Tour der schnell widerlegten Prophezeiungen zu ziehen? Auf keinen Fall die, Spekulationen über die Zukunft künftig zu unterlassen. Es ist kein Problem, sich dabei zu irren, und nicht einmal, sich zu verirren. Gerade in der Auseinandersetzung mit einem neuen Virus, über dessen Folgen und exaktes Verhalten zu Beginn alle, auch die Wissenschaft, im Dunklen tappte, sind Fehler und falsche Annahmen unvermeidlich. Zudem zählt es seit jeher zur Aufgabe von Politik, den Wählern ihre Version einer erstrebenswerten Zukunft aufzuzeigen. Zur Kritik an den bestehenden Verhältnissen gehört die Vision einer besseren Alternative. Zu den Aufgaben von Wissenschaft und Journalismus zählt es, diese „Ich-wünsche-mir-was“-Welt der Politik mit den harten Fakten einer nachprüfbaren Wirklichkeit zu konfrontieren und ihre Alternativen für die Zukunft auf Umsetzbarkeit zu prüfen. Wobei, auch das sei offen eingestanden, die Grenzen zwischen meinungsstarkem Journalismus und der Politik im engeren Sinne, bezogen auf die Deutungshoheit über die Zukunft verlässlich durchlässig sind. Dafür sorgt allein schon die Logik eines nachfrageorientierten Medienmarkts. Entscheidend ist bei all dem, dass die Grundlage jeder erkenntnissteigernden Vermutung über die Zukunft ein strukturiertes Nachdenken über Gegenwart und Vergangenheit bildet. Das hartnäckige Spekulieren über das mögliche Neue und die Stabilität des Bestehenden ist unveräußerlicher Teil der Natur der westlichen Moderne. Dabei sind selbst die klügsten Köpfe, sehr zur Belustigung der Nachwelt, nicht vor kolossalen Fehleinschätzungen gefeit. Solches Nachdenken lässt sich nicht aus dem Ärmel schütteln, schon gar nicht unter den Funktionsbedingungen einer Non-Stop-NewsMaschinerie, die darauf konditioniert ist, auf sämtlichen Kanälen ohne Unterlass möglichst knackige Schlagzeilen zu produzieren. Und Schlagzeilen haben nicht zwingend etwas mit Journalismus zu tun. Schlagzeilen begnügen sich oft schon mit einem kurzen Moment der Aufmerksamkeit, nach

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dessen Ablauf sie getrost dem kollektiven Vergessen anheimfallen können. Nichts garantiert eine solche Instant-Aufmerksamkeit zuverlässiger als eine Ankündigung, die so tut, als wäre ihr Eintreffen gewiss. Das triggert ein schier unbändiges Klick- und Leseverlangen und damit immer mehr und immer simpler gestrickte Prognosen. Es ist dies ein Markt, der seine Nachfrage selbst produziert, denn was sich liest, das wird auch geschrieben. Gegen diese Entwicklung braucht es Gegenkräfte. Als lernende und forschende Gesellschaften sind wir sehr wohl in der Lage, einen erkenntnissteigernden Blick auf die Zukunft zu erheischen. Ohne Garantien auf Zuverlässigkeit, aber eben doch. Die Quartals-, Halbjahres- und Ganzjahresprognosen der Wirtschaftsforscher etwa müssen zwar verlässlich im Nachhinein korrigiert werden, aber sie sind für Politik, Verwaltung, Wirtschaft wie auch Bürger als Planungsgrundlagen für das jeweilige Tun und Lassen längst unersetzlich. Das Gleiche trifft auf längerfristige Prognosen über Konsumverhalten, Verkehrsaufkommen, Klimadaten oder Bevölkerungsentwicklungen und anderes mehr zu. Nichts davon ist in Stein gemeißelt, weil diese Prognosen auf Schätzungen und Hochrechnungen von vorhandenen Daten unter Zuhilfenahme bestimmter Rechenmodelle beruhen. Aber sie ermöglichen Entscheidungsträgern und einfachen Menschen, die absehbaren Risiken ihres gegenwärtigen und künftigen Handelns abzuschätzen und über die Vor- und Nachteile öffentlich zu diskutieren. Nicht immer und nicht einmal immer angemessen, aber eben doch. Das ist, was zählt. Eine Voraussetzung dafür ist allerdings auch eine kritische Öffentlichkeit, welche die Regierenden dazu zwingt, Rechenschaft abzulegen über den Stand der jeweils bekannten und zumindest halbwegs gesicherten Informationen. Allein dies stellt sicher, dass möglichst viele solcher Informationen als Grundlage für Entscheidungen jeder Art gesammelt werden, um das Ausmaß an Nichtwissen beständig zu verkleinern. Erst diese Transparenz ermöglicht es, mithilfe unabhängiger Medien zu beurteilen, ob die Versprechen und die Handlungen der Politik auch tatsächlich auf seriösen Grundlagen fußen. Viel spricht daher dafür, dass die Berichterstattung der Medien über das Ausmaß unseres Nichtwissens in Bezug auf konkrete Fragestellungen mindestens so wichtig ist wie die Berichte über all das, was ist. Erst diese Transparenz ermöglicht es, bei Prognosen zwischen Vollholler, purem

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Glücksspiel und tatsächlich informierten Vermutungen über künftige Entwicklungen zu unterscheiden. Selten wurde uns die Bedeutung dieser Frage deutlicher vor Augen geführt als in den zurückliegenden zwei Jahren, in denen die Pandemie unseren gewohnten Alltag nunmehr auf den Kopf stellt. Erst wenn offengelegt wird, was wir nicht wissen, lässt sich die Qualität von Prognosen sinnvoll bewerten. Auf dass all die falschen Propheten möglichst wenig Zulauf bekommen.

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Das Problem mit den Prognosen Prognosen treten ein – oder eben auch nicht. Das ist an sich nichts Außergewöhn­ liches, aber trotzdem wirkt es im Rückblick auf das vergangene Jahr so, als wären ausgesprochen viele Prognosen falsch gewesen.

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Beginnen wir mit Corona: Erinnern Sie sich noch an die Hoffnung, als klar wurde, dass es eine Impfung geben wird. An den Gamechanger? An die Bürgermeister, die sich gnadenlos vorgedrängt haben. Diese große Hoffnung, die dann schlussendlich am Ende des Jahres wieder in einen Lockdown geführt hat. Erst der neidische Blick nach Israel oder in unser südliches Nachbarland nach Italien. Anscheinend hatten die Italiener alles richtig gemacht, Impfquote von 81 Prozent im Dezember1, der Green Pass und dann der Super Green Pass. Warum ging südlich des Brenners alles so viel besser? Und dann Ende Dezember steigen die Zahlen wieder massiv an und die Regierung in Rom muss wieder weitere Einschränkung verkünden. In einem Kommentar fasst Henryk M. Broder die Corona-Situation nach dem Jahr 2021 und im Hinblick auf die bevorstehende Omikron Welle im Dezember in der deutschen Welt so zusammen: Wir.Wissen.Nichts.2

Wissen beziehungsweise wussten wir wirklich nichts? Bereits im Sommer legte der Wiener Krisenstab Berechnungen vor, dass es spätestens im November in Österreich zu einer dramatischen Situation kommen werde; die Spitalsbetten werden wieder knapp und die Intensivstationen kommen wieder an ihre Kapazitätsgrenzen3. Diese Prognose war kein Geheimwissen, und leider gehört diese Prognose zu denen, die auch wirklich punktgenau eingetreten sind. Die Regierung unter Kanzler Sebastian Kurz wollte aber im Sommer von all dem nichts wissen. Pandemie gemeistert, die Krise bekämpft war das ÖVP-Motto4.

1 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1203308/umfrage/impfstoffabdeckungder-bevoelkerung-gegen-das-coronavirus-nach-laendern/ 2 Henryk. M. Broder: Wir.Wissen.Nichts. Eine Corona Bilanz 3 Thomas Hofer: Die Regierung hat bewusst die Unwahrheit gesagt 4 Michael Jungwirth: Übermotiviertes Plakat, die Delta Variante durchkreuzt türkise Kommunikationsstrategie

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Kurz hatte wohl schon genug von der Pandemie, die schleppende, den Sommer über einschlafende Impfkampagne war auch nicht in seinem Focus, die PR-Stunts um den Ankauf des russischen Impfstoffs Sputnik waren längst vergessen. Den Ball flach halten und auf keinen Fall die ­wichtigen Landtagswahlen in Oberösterreich gefährden, waren die Prioritäten Vielleicht ahnte Kurz ja schon, welche Krisen ihm im Herbst noch bevorstehen würden. Der grüne Regierungspartner war im Sommer ähnlich wie der grüne Vizekanzler das ganze Jahr über als Phantom unterwegs. Der neue Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein agierte ziemlich glücklos. Er kündigte Ende August an, dass er schon einen sehr konkreten Plan für den Herbst habe, den er aber erst später mitteilen werde. Allererstes Ziel war für Mückstein die Vermeidung von Schließungen5. Das ist dann auch in vollem Umfang gelungen: Am 20. November musste ganz Österreich wieder in den Lockdown. Der Einfachheit halber haben die nach dem Rücktritt von Sebastian Kurz wieder in der ÖVP erstarkten Landeshauptleute allen die Vorgehensweise Mücksteins bei der Landeshauptleute-Konferenz am Achensee in Tirol mitgeteilt. Dass diese Entscheidung auch der endgültige Machtverlust für den gerade zur Seite getretenen Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz war, der seinen Nachfolger Schallenberg mit einem ganz anderen Ziel zu der Konferenz geschickt hat, beleuchten wir gleich noch einmal im Detail. Fest steht, dass die Landeshauptleute dann mit der Impflicht, die den eigentlich zuvor ausgeschlossenen Lockdown auch für Geimpfte etwas erträglicher machen sollte, der Bundesregierung noch ein kleines Danaergeschenk mit auf den Weg gegeben haben. Die Prognose, dass die Impfpflicht die Regierung vor noch ziemlich große Probleme stellen wird, traue ich mich zu machen. Genauso erkennen wir recht klar im Rückblick, dass das Tragen von Sneakers bei der Angelobung eben doch noch lange nicht ausreicht, um das Amt des Gesundheitsministers auch wirklich bekleiden zu können.

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Mückstein kündigt „sehr konkreten Plan“ für Herbst an

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Zurück zu den Prognosen: die ÖVP ohne Sebastian Kurz, ist das denn wirklich denkbar? Wären Sie vor einem Jahr, im Jänner 2021, die Wette eingegangen, dass Sebastian Kurz mittlerweile an der amerikanischen West Coast auf Wohnungssuche ist und nicht mehr als Bundeskanzler auf dem Ballhausplatz in Wien residiert? Den Grad der Freiwilligkeit dieser Entscheidung von Kurz überlasse ich Ihrer Einschätzung. Es gilt auf jeden Fall die Unschuldsvermutung. Aber wie konnte die große Hoffnung der Konservativen, der von vielen so geschätzte und einst auch verehrte Stern der ÖVP so schnell innenpolitisch verglühen. Zumindest momentan einmal. Auf der einen Seite die Ermittlungen und die Hausdurchsuchung im Bundeskanzleramt, auf der anderen dann auch der Juniorpartner in der Regierung, die Grünen. Das Phantom Vizekanzler Werner Kogler tauchte kurzzeitig auf und mit seinen exzellenten Kontakten in die Steiermark konnte er zuerst dem steirischen Landeshauptmann und in Folge dann den anderen schwarzen Landeshauptleuten und der mächtigen Landeshauptfrau aus Niederösterreich ziemlich eindringlich klar machen, dass ein weiteres Festhalten an Sebastian Kurz die ÖVP in eine denkunmögliche Position bringen könnte, nämlich raus aus der Regierung. Der Machtverlust drohte. ÖVP und Opposition – das ist eine innenpolitische Memory-Paarung, die es aus ÖVP-Sicht einfach nicht geben kann. Das musste auch Sebastian Kurz zur Kenntnis nehmen. Dass die Grünen angetreten sind, um die Umwelt zu retten (auch eine spannende Prognose: Wird der Lobautunnel wirklich nicht gebaut?), ist ja schon allgemein bekannt, aber dass die Grünen auch den Verbleib der ÖVP in der Regierung gerettet haben, werden wahrscheinlich auch nicht viele vorausgesehen haben. Wovon wir aber ausgehen können für das kommende Jahr: Die Grünen haben in dieser Regierung an Selbstvertrauen gewonnen. Keine Rede mehr von „die ÖVP muss den Grünen auch kleine Erfolge gönnen, Luft zum Atmen lassen“. Die Infrastrukturministerin Leonore Gewessler hat sich mit dem Klimaticket, der ökosozialen Steuerreform und ihrem Nein zum Lobautunnel klar positioniert. Hier zeigt jemand auf, der ganz eindeutig noch mehr werden möchte.

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Karl Nehammer als neuer Kanzler, als dritter Kanzler in nur einem Jahr. Könnte man in Österreich auf politische Ereignisse wetten, wären Sie mit dieser Prognose, sagen wir abgegeben vor einem Jahr, oder spätestens beim ÖVP-Parteitag im August, bei dem Kurz mit 99,4 Prozent als Parteichef bestätigt wurde, spätestens heute Millionär. Back to the roots bei der ÖVP. Auch das ist keine Prognose, sondern innenpolitische Realität. Türkis bleibt zwar die Parteifarbe, aber das Gelb-Blau aus Niederösterreich schimmert doch im Kabinett von Karl Nehammer ziemlich eindeutig durch. Aber vielleicht hat Karl Nehammer ganz andere Qualitäten, die in Zeiten wie diesen ganz besonders gefragt sind: Langweilig und verlässlich. Diese Prognose wagt zumindest der Meinungsforscher Peter Hajek in unserer sonntäglichen Sendung gemeinsam mit Thomas Hofer auf ATV. Nach den Skandalen um die Chats, Hausdurchsuchungen und die Korruptionsvorwürfe sagte Peter Hajek in unserer Diskussion: „In unruhigen Zeiten verlässt man sich eigentlich gerne auf charismatische Poli­ti­ke­r/ innen, die vorgeben zu wissen, wo es langgeht. Davon haben die Wähle­r/ innen genug. Gesucht ist Verlässlichkeit und Sachverstand. Der Weg zurück zum Vertrauen der Bürger wird aber lang und steinig.“ Die dazugehörige Umfrage eine Woche später bestätigte seine Pro­ 6 gnose (s. Grafik auf der nächsten Seite) – so viele Wendungen, so vieles war nicht vorhersehbar bei der ÖVP und in der Regierung. Auch die Prognosen, was den Rückgang der Arbeitslosenzahlen in Österreich betrifft, waren deutlich defensiver, aber schon im September konnte der Arbeitsminister Martin Kocher verkünden, dass die Arbeitslosenzahlen in Österreich bereits wieder unter dem Vorkrisenniveau liegen7.

6 ATV-Frage der Woche: Langweiler an Regierungsspitze gesucht OTS0007, 12. Dez. 2021 7 Kurz/Kocher: Arbeitslosigkeit erstmals unter Vorkrisenniveau – 1.129 Personen weniger arbeitslos als in der Vergleichswoche 2019 < https://www.ots.at/presseaussendung/ OTS_20210921_OTS0035/kurzkocher-arbeitslosigkeit-erstmals-unter-vorkrisenniveau-1129-personen-weniger-arbeitslos-als-in-der-vergleichswoche-2019>

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Auch bei der Bundestagswahl in Deutschland haben manche Beobachter die Erfolgschancen der SPD und ihres Spitzenkandidaten Olaf Scholz vollkommen falsch eingeschätzt. Recht reumütig schreibt Markus Feldenkirchen, Autor im SPIEGELHauptstadtbüro zum Ende des Jahres: „… Bis zum Sommer des zu Ende gehenden Jahres habe ich keinen Pfifferling auf Olaf Scholz und die SPD gesetzt. Auf allen Kanälen, die mir zur Verfügung stehen, habe ich mit ernster Miene und innerer Überzeugung erklärt, dass die Sache für Scholz gelaufen sei. Dass seine Partei, die SPD, einfach unten durch sei. Und dass auch er, der Spitzenkandidat, nie und nimmer das in Wahlkämpfen entscheidende Momentum erzeugen könne …“8

8 Markus Feldenkirchen: Olaf Scholz (SPD) und sein unwahrscheinlicher Wahlsieg < https:// www.spiegel.de/panorama/olaf-scholz-spd-und-sein-unwahrscheinlicher-wahlsieg-die-irrenthesen-des-markus-f-a-a7e887c1-7ce3-44c0-b60a-94d84538072c>

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Ergebnis bekannt: Gibt es noch eine Konstante, auf die wir uns verlassen können? Vielleicht ja die SPÖ? Alles beim Alten nach diesem Jahr. Pamela RendiWagner nahezu gedemütigt beim Parteitag im Juni mit einer historischen Schlappe und gerade mal 75,3 Prozent Zustimmung als Parteichefin. Besonders glanzvoll war ihr Auftritt in der großen innenpolitischen Krise im Oktober auch nicht. Eine mögliche Kanzlerschaft in Reichweite schließt sie auf einmal eine Zusammenarbeit mit der FPÖ nicht aus. Auch hier ist das Ergebnis bekannt. Rendi-Wagner wird ein weiteres Mal beschädigt und der Dauerclinch mit Hans-Peter Doskozil geht unvermindert weiter. Der starke Mann in der SPÖ ist und bleibt der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig. Mit seiner Corona-Politik in Wien und seinen Fähigkeiten des 3D-Schachs auf dem Landeshauptleute-Gipfel am Achensee, bei dem es ihm gelingt, die ÖVP-Position zu drehen und den landesweiten Lockdown durchzubringen zeigt er den Genossen, wie es wirklich geht. Und genau aus Ludwigs Umfeld kommt möglichweise der neue SPÖ-Spitzenkandidat für die nächsten Wahlen im Bund auf noch recht leisen Sohlen. Peter Hanke. Aber Sie wissen ja, wie das mit Prognosen so ist …

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Im Juni 2007 ereignet sich in Österreich Seltsames, und vom Grundgedanken her eigentlich Folgenschweres. Dass dieser Grundgedanke aus Sicht der (Eigen-)Interessenvertreter vielleicht gut gemeint, die Folgen aber gar nicht gut waren, konnte man nicht ahnen. So ein Pech aber auch. In ungewohnter Eintracht beschließen im Sommer 2007 die regierenden Sozialdemokraten und die Volkspartei weniger Demokratie. Und zwar gleich um ein Fünftel weniger. Die Arbeitsperiode für das Parlament wird ohne viel Wirbel und ohne medialen Schlagabtausch mit der Opposition von vier auf fünf Jahre verlängert. Statt im Laufe eines Lebens rund 15bis 20-mal den Nationalrat wählen zu können, sollen zwölf- bis 16-mal auch genügen (die Milchmädchenrechnungen mögen verziehen werden). Als protestiert wird, ist es schon zu spät. Große Projekte brauchen große Zeiträume, sagen der rote Kanzler und der schwarze Vizekanzler. Was nicht im Plan stand: Beide regieren danach zwei statt fünf Jahre lang – nicht einmal. Im Oktober 2008 wird wiedergewählt. Zwischen 1991 und 2021, also in einem Zeitraum von 30 Jahren – verbraucht die frühere Insel der Seligen 15 Regierungen – macht alle zwei Jahre eine neue Regierung. Zieht man die diversen Kanzlerwechsel außerhalb von Neuwahlen ab (allein 2021 haben wir drei verschiedene Regierungschefs gesehen) kommt man noch immer auf zehn Gesetzgebungsperioden. Man kann also sagen: Statt fünf Jahren hält eine Legislaturperiode in den letzten drei Jahrzehnten genau drei Jahre. Drei statt fünf. Hätte man da nicht gleich bei vier bleiben können?

Was ist los in diesem Land? Kurz zusammengefasst: Eine Zweiteilung hat die Alpenrepublik in eine politische „Wackelzeit“ gestoßen, immer mehr sprechen von italienischen Verhältnissen, was (noch) übertrieben erscheint. 2015, als die Flüchtlingskrise ganz Europa erfasst, wird allen politischen Beobachtern klar: Das kann nicht mehr lange gutgehen. Tiefe Gräben tun sich auf – im Land des gemütlichen Kompromisses – zwischen den „Willkommens-Klatschern“ und den „Heimatverteidigern“, wie sich beide Lager gegenseitig verächtlich machen. Van-der-Bellen-Anhänger (Präsidentschaftskandidat und grünes Urgestein) und die „Blauen“ mit FPÖ-Spitzenkandidat Norbert Hofer. Als es Alexan-

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der Van der Bellen nach zwei Pannen-Wahlgängen beim dritten Mal knapp schafft, verspricht er, Gräben zuschütten zu wollen. Doch dann kommt Kurz. Der mit Mai 2017 neue ÖVP-Chef, 30 Jahre ist Sebastian Kurz damals – will zunächst polarisieren und wird so einige Monate später Bundeskanzler.

2015 – 2017 – 2019 – 2021 Der Zwei-Jahres-Rhythmus als verlässlicher Taktgeber für politische Erschütterungen der Republik zwischen Neusiedler See und Bodensee bleibt dem Land erhalten. Auf den Tag genau zwei Jahre nach seiner Wahl zum designierten ÖVP-Obmann knallt ein Video aus Ibiza mitten in den gemächlich verlaufenden Europa-Wahlkampf der Alpenrepublik. Danach ist nichts mehr so, wie es vorher war. Die Regierung muss gehen. Eine Expertenregierung kommt. Erst mit dem ersten Jänner 2020 kann der Altkanzler (der 33-jährige Sebastian Kurz) wieder regieren. Diesmal mit Grün. Und dann kommt 2021. Mehr Umbruch geht nicht, mehr Spaltung auch nicht. Von Brüchen bleiben immer Einzelteile übrig – meist sehr viele. Doch das Erstaunliche in diesem Land: Das, was oben bricht, landet unten links oder rechts, und das ist keineswegs politisch gemeint. Wir können auch sagen, nördlich oder südlich oder auf schwarzem oder weißem Untergrund – was es wohl am besten trifft. Die Grautöne sind endgültig verschwunden, im Land der neun Millionen Virologinnen und Virologen. Vorbei ist die Zeit der unzähligen Fußball-Teamchefs – sie, die Österreicherin von heute, er, der moderne Österreicher wissen, was Inzidenzen, Fallzahlen, Alpha-Delta- und Omikron-Varianten sind. Sie kennt Wirkungsgrade, er die Bettenauslastungen in Intensivstationen.

Wir sind alle Professoren Keine zum Berufsalter passende Ehrenprofessoren oder -doktoren. Nein, wir alle wissen, was hilft, was wirkt, was sicher nicht wirkt, was Nebenwirkungen hat, und was keine, und welches Pharmaunternehmen gut, böse, „ganz ok“ ist und welches gar nicht geht.

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Und weil wir alles wissen, haben wir natürlich auch eine eigene Meinung, die da keiner Einflüsterungen – „zu Unrecht“ – breit geschätzter Forscher bedarf. Und weil letztlich allen „das Geimpfte“ aufgeht, wenn sie über Corona reden und auf Expertenniveau diskutieren, sind alle Träger einer Meinung, die nicht ihrer eigenen entspricht, auf dem Holzweg. Was ja nicht allzu schlimm wäre, so ein Meinungsaustausch. Ist es aber 2021 doch geworden. Sehr schlimm sogar. Denn was wir in Österreich in den letzten Jahrzehnten kaum gekannt haben – und wenn, dann nur in zeitlich großen Abständen von vielen Jahren – ist der Kampf auf der Straße. Heute ist er Alltag. Impfgegner, Impfskeptiker, Freiheitliche, teils Rechtsextreme, Staatsverweigerer, auch Linksextreme, wenn auch zahlenmäßig weniger, mit allem Unzufriedene, Gerne-Protestierer, Polizeihasser, Esoteriker, Verschwörungstheoretiker … und viele weitere. Wer und wo auch immer. In Österreich ist es laut geworden. Quer durch die Bundesländer. Und nach Österreich ist auch die Gewalt zurückgekehrt. Aus den Wohnungen und Häusern hinaus auf die Straßen. Verletzte Sicherheitskräfte, verletzte Demonstrantinnen und Demonstranten. In Zeiten allgemeiner politischer Stabilität muss so eine bedenkliche Entwicklung nicht unbedingt ins Uferlose gehen, werden Demokratien all das aushalten. Doch was, wenn das Fundament für Stabilität fehlt? Dann kann das demokratiepolitisch gesehen durchaus gefährlich werden. Und es fehlt immer mehr. Dieses Fundament. Es heißt Vertrauen.

Als erstes geht das Vertrauen Zwar ist die allgemeine Skepsis über die von diversen Forschungsinstituten veröffentlichten Stimmungsindizes meist berechtigt, aber in bestimmten Zeiten fühlen sich selbst geführte Gespräche mit Menschen quer durchs Land nahezu wie eine Art von „Beleg“ für die Umfrageergebnisse der Institute an. Wenn’s wieder einmal ganz schlimm geworden ist, mit der Politikerbeschimpfung im eigenen Bekanntenkreis, oder von Menschen, die den (Hans) Bürger dann auch auf der Straße verärgert ansprechen, dann lässt sich das meist auch in Zahlen festmachen.

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Fast die Hälfte (46 Prozent) der Österreicherinnen und Österreicher sagen in einer repräsentativen Umfrage von SORA (2003 Befragte!) im August und September 2021, dass das politische System in Österreich weniger oder gar nicht funktioniert. Der schlechteste Wert der letzten Jahre. Und als die ÖVP-Inseratenaffäre mit doppeltem Kanzlerwechsel (Kurz – Schallenberg / Schallenberg – Nehammer) und ein neuerlicher Lockdown über das Land rollen, sinkt das Vertrauen gleich nochmals in dramatischem Ausmaß. Fast sechs von zehn Befragten (58 Prozent) sehen hierzulande ein kaum noch funktionsfähiges politisches System. Noch viel dramatischer fällt der Befund aus, wenn konkret zum österreichischen Gesundheitssystem befragt wird. Während die Arbeit von Ärztinnen und Ärzten zu beeindruckenden 85 Prozent und in Spitälern zu 83 Prozent als sehr oder eher positiv gesehen wird, stürzt dieser Wert bei Mitgliedern von Landesregierungen auf 43 Prozent ab, was aber noch immer einen Glanzwert im Vergleich zur Meinung der Menschen über die Arbeit der Bundesregierung darstellt. Fünf Prozent der Befragten sehen eine sehr gute Arbeit, 20 Prozent eine eher gute Arbeit. Der Rest ist eben nicht nur Schweigen. Er formt sich bei einer wachsenden Zahl von Menschen zu lautem Protest – je öfter Lockdown, desto lauter. Und keineswegs ist es so, dass es die üblichen Modernisierungsverlierer sind, die ihrem Unmut freien Lauf lassen; für sie sind staatliche Eingriffe und an ihnen vorbeilaufende politische Entscheidungsabläufe nichts wirklich Neues. Besonders wütend sind diesmal die sogenannte Mittelschicht und auch Menschen, denen es eigentlich finanziell und mit ihrem sozialen Status recht gut geht. Die ohnehin Schwächeren der Gesellschaft sind Kummer und Benachteiligung gewohnt, ihre Unzufriedenheit mit der ökonomischen Situation ist schon lange groß, da kann Pandemiebedingtes wie Abstand, Maske, Kontrollen und Co. nicht mehr viele nach unten ziehen. Objektiv gesehen müsste das aber alles nicht so sein. Österreichs Wirtschaft hat sich viel schneller erholt, als allgemein erwartet worden war. Eine Bruchlandung dieses dramatischen Jahres 2021 in vielen Lebensbereichen hatten die Skeptiker erwartet, aber kurz vor der Landung bescheinigt am 20. Dezember sogar die OECD in Paris, dass sich die österreichische Wirtschaft – „dank entschlossener staatlicher Maßnahmen“ – gut von der

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Corona-Krise erholt habe. Allerdings musste man bei diesem „OECDWirtschaftsbericht für Österreich“ den Eindruck gewinnen, die Krise gehöre der Vergangenheit an. Leider nicht. Die OECD führt auch an, dass der Arbeits- und Fachkräftemangel in Österreich weiter anhalte, die Erwerbsbeteiligung von Frauen und älteren Menschen erhöht sowie Arbeitskräfte und Kapital in stärker digitalisierte und weniger CO2-intensive Tätigkeiten umgelenkt werden müssten. Aus der Regierung heißt es umgehend, dass die Steuerreform genau das mache. Tatsächlich kommt 2022 erstmals diese umstrittene CO2-Bepreisung, für viele Wirtschaftsvertreter eine ganz schlimme Entscheidung, für Umweltvereinigungen ein lächerlich niedriger Einstiegspreis. Die OECD sieht sich da eher bei den grünen Kritikern, denn mit den eher zurückhaltenden Preisen für CO2 werde man das Ziel der CO2-Neutralität bis 2040 sehr schwer erreichen können. Allerdings wird die CO2-Bepreisung stetig ansteigen. Entscheidend für eine nachhaltige Erholung des Wirtschafts- und Tourismuslandes Österreich dürfte aber der Umbau des Arbeitsmarktes werden. Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose müssen Weiterbildung erhalten – und diese auch annehmen wollen. Dazu wird es auch einer höheren geografischen Mobilität bedürfen. Anders wird es wohl kaum gelingen, die – nur auf den ersten Blick ungewöhnliche – Problematik der Parallelität von Arbeitslosigkeit und Arbeitskräftemangel zu beheben. Kein Corona-Phänomen übrigens, allerdings durch diese Weltkrise noch viel deutlicher sichtbar geworden. Wirklich entscheidend für die innere Stabilität dieses Landes werden aber nicht nur die klar definierbaren Austragungsorte der Krise (Ökonomie, Gesundheitspolitik, Rechtliches und dergleichen) sein, sondern jene, in denen es „menschelt“, dort, wo Befindlichkeiten, Unzufriedenheiten, Ressentiments und Angst vor staatlicher Machtfülle zuschlagen. Die Lage im Land ist nicht ungefährlich, wenn sich Corona-Maßnahmen-Befürworter und -Gegner immer unversöhnlicher gegenüberstehen. Wenn erstmals, wie wir im Jänner 2022 erfahren durften, ab Mitte März jene Impfskeptiker und -Verweigerer Strafen zahlen müssten, wenn sie sich

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nicht an die ab 1. Februar 2022 geltende Impflicht halten – nach wochenlangen Diskussionen zwar ohnehin nur eine „Impfpflicht-light“ mit Betroffenen erst ab 18 statt ursprünglich geplanten 14 Lebensjahren und einer Art Gewöhnungsphase, in der noch nicht gestraft wird. Angespannter könnte die Lage auch dann werden, wenn die allgemeine Politikerbeschimpfung neue Höhen erreicht. An dieser Stelle erlaube ich mir, aus meinem vorletzten Buch („Selbstverständlich ist nichts mehr“, 2020) kurz zu zitieren: „Weg mit der Politikerbeschimpfung. Denn wer sollte dann noch Politiker, Politikerin werden? Und es passt in dieses Bild, dass fast jede Journalistin, jeder Journalist scheitert, wenn sie oder er tatsachlich die Seite wechselt. Nach wenigen Monaten erfährt es jeder Ex-Journalist, jede ExJournalistin am eigenen Leib, wie ungemein schwierig es ist, das besser zu machen, was man zuvor jahrelang kritisiert hat. In Erinnerung kommt einer der wenigen selbstreflexiven Leitartikel in Deutschland, nachdem man begriffen hatte, dass man mit dem Bundespräsidentschaftskandidaten Christian Wulff nicht fair – um es bei dieser sanften Formulierung zu belassen – umgegangen war.“ Unter dem Titel „Fürsorgliche Vernichtung“ schrieb einer der bekanntesten Journalisten Deutschlands, Hans-Ulrich Jorges, schon im April 2013 (!) als Chefredakteur des STERN, dass man endlich auch die Rolle der Medien diskutieren müsse. Er bezieht sich konkret auf den Umgang mit dem 2012 zurückgetretenen deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff, aufgestellt von der CDU, sowie den SPD-Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl 2013, Peer Steinbrück. Es ist Zeit – und Anlass wahrlich genug –, über Macht und Hybris der Medien nachzudenken. Auch selbstkritisch. Denn deren Auftreten und Wirkung haben sich verändert, dramatisch … Rudeljournalismus nenne ich das Phänomen. Die Verirrung von kritischem Journalismus, den es mit Zähnen und Klauen zu verteidigen gilt, in besinnungslose, lustvoll schmähende Kampagnen. Ohne Widerworte, ohne abweichende Stimmen, ohne Selbstbesinnung. Die gab es früher verlässlich, die gibt es heute immer seltener. Denn ideologische Gräben sind planiert, publizistische Lager aufgelöst. Das Rudel folgt Leitwölfen, vereint in Skandalisierung und Emotionalisierung. Das Ergebnis ist eine Medienrepublik, in der Journalisten nicht mehr argumentieren, wer regieren sollte und wer nicht, sondern in der sie darüber

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entscheiden. Das journalistische Ethos pervertiert zu fürsorglicher Vernichtung. Politiker verfolgen das mit angehaltenem Atem und geballter Faust in der Tasche – aber stumm … Niemand, der nicht ein wenig Einblick hat, macht sich darüber eine Vorstellung, welch unglaublicher Zeit- und Nervenaufwand in diesem Job steckt. Und noch dramatisch schlechter – jawohl schlechter – ist die Lebenswelt eines Politikers geworden, seit Smartphones alles, aber auch wirklich alles festhalten, sobald sich die Politikerin, der Politiker in der Öffentlichkeit bewegt. Jeder kleinste Fehler kann es ganz groß hinaus- und hinaufschaffen. In die nationale und – je nach Bedeutsamkeit der betreffenden Person – gar weltweite Empörung, genannt Shitstorm. Ein Bierglas zur falschen Zeit, eine Zigarette ohnehin nie mehr, ein Knicks vor dem russischen Präsidenten, der überraschenderweise zur Hochzeit angereist ist. Der Politik auf die Finger schauen, Missstände aufdecken, die vierte Macht im Staat sein. Kritischen Journalisten werden die selbstbelobigenden Formulierungen ob ihrer enormen Wichtigkeit in einer Demokratie bald ausgehen, so sehr fehlt manchen von ihnen das Talent zur Selbstreflexion. Selbstverständlich ist all das zu den Aufgaben von Medien eben Beschriebene demokratiepolitische Notwendigkeit – wer wird schon der Korruption das Wort reden, aber es geht um eine unzulässige Gleichmacherei: Ob an Stammtischen, auf Leserbriefseiten oder in den Sozialen Medien – eher öfter als selten gelten Politiker als unanständig und unfähig. Von Ausnahmen abgesehen, stimmt das nicht. Sowohl während der Wirtschaftskrise ab 2008 als auch – und vor allem – am Beginn der ersten Corona-Welle haben manche Politikerinnen und Politiker sehr wohl gezeigt, dass sie klug und besonnen handeln können. Tja. Leider zeigen einige, dass sie das gar nicht können. Oder vielleicht sogar könnten, aber um an die Macht zu kommen alles andere als klug gehandelt haben. Wie auch immer die vielen Verfahren gegen mittlerweile zurückgetretene Regierungsspitzenpolitiker von Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) oder dem jungen Alt-Alt-Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) oder Ex-Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) ausgehen, das Vertrauen in die Bundespolitik ist in diesem Land – wie erwähnt – im Keller. Drei Kanzler in einem Jahr – das war auch noch nie da. Nur Deutschland hat uns –

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wieder einmal – gezeigt, wie Farbwechsel auch vonstatten gehen ­könn(t)en. Der Übergang von der GroKo (Große Koalition) mit Langzeitkanzlerin Angela Merkel zur noch Mitte 2021 völlig farblos leuchtenden Ampelkoalition aus Rot-Grün-Gelb war professionell und weitgehend ohne Wut- oder Hassstimmung im Land. Trotz Corona. Trotz der auch in Deutschland immer heftiger geführten Debatte zwischen Maßnahmen-Befürwortern und Gegnern. In Österreich träumen Funktionäre der Sozialdemokraten, Grünen und NEOS-Liberalen von einer Austria-Ampel. Vielleicht sollten sie aber eine andere Kurzbezeichnung wählen. Die Corona-Ampel hat – obwohl in ihrer Grundidee kein unvernünftiges Instrument zur Beleuchtung der Corona-Lage in Österreichs Regionen – ihren kurzzeitig guten Ruf längst verspielt. Wie auch immer – sobald die vier „Top-Fragen“ – und die schon jahrzehntelang – die Debattenkultur in diesem Land mitprägen, wird alles wieder gut. Wer dirigiert das Neujahrskonzert? Wer gewinnt Kitzbühel? Wer ist Lugners Stargast am Opernball? Wer spielt die Buhlschaft in Salzburgs Jedermann? Das „gut“ gilt allerdings nur wieder, wenn (alle vier Male) auch Zuschauer dabei sein dürfen.

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Die Prognose als Wille und ­Vorstellung Wir haben verlernt, Ungewissheiten zu ertragen. Daher erwarten wir uns von Vor­her­ s­agen hundertprozentige Trefferquoten. 2021 wurde dieses Vertrauen erschüttert.

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Mitte Mai 2021, vier Monate vor der Bundestagswahl am 26. September, lag die SPD in Umfragen hinter CDU und Grünen an dritter Stelle. Armin Laschet wähnte sich schon im Kanzleramt. Auch nahezu alle Kommentatoren hielten das Rennen für gelaufen. Doch Peter Dausend, Redakteur im Berliner Büro der „Zeit“, stellte im Untertitel eines Artikels eine bemerkenswerte Überlegung an: „Olaf Scholz könnte doch noch Kanzler werden. Im Ernst? Ja, doch.“ Dausends Argumentation: Die SPD stehe geschlossen hinter ihrem Kandidaten Scholz – der noch dazu den Merkel-Typus verkörpere – und biete ein bürgernahes Wahlprogramm. Favorit Laschet würde durch Quertreiber in CDU und CSU beschädigt werden. Und die so hoch gehandelten Grünen und ihre Spitzenkandidatin Annalena Baerbock? Sie würden sich „in einer Debatte über Identitätspolitik“ verlieren. Alles in allem werde der SPD-Spitzenkandidat „unterschätzt“. Am 8. Dezember 2021 wurde Olaf Scholz in Berlin als Bundeskanzler vereidigt. War Dausends Analyse vom Mai 2021 reine Spekulation? Vision? Unverbindliche These? Prophezeiung? Gedankenspiel? Glückstreffer? Vor allem war sie eine qualitative Prognose, die quantitative Umfragen ausblendete und auf Wissen, Erfahrung und Gespür setzte. Erst Ende August 2021 sahen Umfrageinstitute wie Forsa und Allensbach auf Basis ihrer Daten die SPD an erster Stelle. „Zeit“-Leser hatten einen Info-Vorsprung, so sie Dausend nicht für übergeschnappt hielten. Dass die Umfragen Scholz monatelang als chancenlos auswiesen, sollte nur jene enttäuschen, die an deren Prognosekraft glauben. Und das tun, seien wir ehrlich, die meisten von uns: Wählerinnen und Wähler, Politikerinnen und Politiker, Journalistinnen und Journalisten. Da können die Meinungsforscher noch so oft klarstellen, ihre Umfragen seien bloß Momentaufnahmen und keine Vorhersagen der Zukunft.

Glaskugel und Wettersatellit In der Praxis vieler Wähler, Journalisten und Politiker ist kein Platz für Differenzierungen. Die Begriffe verschwimmen – als ob Glaskugel und Wettersatellit die gleichen validen Daten liefern würden: Vorhersage, Vorschau, Schätzung, Extrapolation, Berechnung, Prophezeiung, Szenario. Dankbar

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wird jede Art einer Prognose aufgenommen, solange sie nur die Zukunft betrifft. Die Sehnsucht zu wissen, was kommt, ist mächtig. Offenbar haben wir verlernt, Ungewissheiten zu ertragen. Prognosen helfen, uns die Zukunft besser vorstellen zu können. Unser Wille ist, dass diese Vorhersagen gefälligst fehlerfrei sind. Widrigenfalls entstehen unangenehme Dissonanzen. Was tun? Seit Jahren liest man in einschlägigen Selbsthilfe-Ratgebern von „Frustrationstoleranz“, „Resilienz“ und „Selbstbehauptung“. Eine Lebensberatung, die uns im Hier und Jetzt dabei hilft, neben Vergangenem auch Zukünftiges zu akzeptieren, wäre hilfreich. Wie übertrieben die Ansprüche an Vorhersagen sind, zeigte im Jahr 2021 der Umgang mit der COVID-19-Pandemie. Hielt sich die Wirklichkeit nicht vollständig an die Prognosen, war ein öffentlicher Aufschrei programmiert. Dabei sind hundertprozentige Trefferquoten trotz ausgeklügelter Tools unmöglich. Das COVID-Prognose-Konsortium, bestehend aus Experten der Technischen Universität Wien/DEXHELPP/dwh, der Medizinischen Universität Wien/Complexity Science Hub Vienna und der Gesundheit Österreich GmbH, erstellt wöchentlich Vorhersagen zu den COVID-19-Erkrankungszahlen. Sie verwenden dazu für Laien unverständliche Methoden wie das Agentenbasierte Simulationsmodell, das SIR-X Modell und das State Space Model. Dazu treten regelmäßig Experten auf, die nach besten Wissen und Gewissen Prognosen abgeben. Die einen sind Virologen, die anderen Epidemiologen und die dritten Statistiker. Mit der gebotenen Fairness ist festzustellen, dass sie das Infektionsgeschehen und die Belagszahlen in den Krankenhäusern gut vorhersagten. Perfektion ist Wunschdenken. Es hat einen Grund, warum sich einzelne Experten „Komplexitätsforscher“ nennen. Wenn sie sich irrten, dann „positiv“, indem Schreckensszenarien nicht wahr wurden, weil gerade diese die Bürger sensibilisierten. Prophezeiungen können sich nicht nur selbst erfüllen, sondern auch zerstören. Dieses sogenannte „Präventionsparadoxon“ ist überkomplex.

„Apodiktische Prognosen“ Geradezu trivial nahmen sich dagegen die Vorhersagen der Politik aus. Ein Kanzler oder Gesundheitsminister muss Komplexitäten reduzieren, um sie vermitteln zu können. Die Grenze zur Simplifizierung wurde dabei über-

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schritten. Die Warnungen des früheren Gesundheitsministers Rudolf Anschober, die folgenden Wochen würden „entscheidend“ sein, hatten am Ende maximal satirischen Wert. Zu oft sprach der frühere Bundeskanzler Sebastian Kurz vom „Licht am Ende des Tunnels“, während die Bürger sich in einer dunklen Höhle wähnen mussten. Kurz’ Feststellung, für Geimpfte sei die Pandemie vorbei, erwies sich als kolossal falsche Prognose. Der ExKanzler machte aus politischem Kalkül den Fehler, vor dem die Meinungsforscher – siehe oben – regelmäßig warnen. Er verwendete eine Momentaufnahme und überhöhte sie zur Vorhersage. Wenn es so etwas wie eine „apodiktische Prognose“ gibt, hat sie Sebastian Kurz damit abgegeben. Der Preis war hoch: Der damalige Kanzler schadete seiner persönlichen Glaubwürdigkeit und dem Krisenmanagement der Bundesregierung insgesamt. Allerdings war Kurz nicht der einzige, der irrte. Auch die Prognosen der Ökonomen waren nicht gerade punktgenau. In einem Papier von Dezember 2021 schreibt die Wirtschaftskammer: „Laut Prognosen des WIFO und IHS hat sich die österreichische Wirtschaft von der Corona-Pandemie schneller erholt als erwartet.“ Für 2022 rechnen die Forschungsinstitute mit einem Wachstum zwischen vier und fünf Prozent. Allerdings hält das IHS fest: „Durch Omikron hat sich die Prognose-Unsicherheit nochmals deutlich erhöht.“ Unsicher waren die Prognosen jedenfalls in Zusammenhang mit der Lage der heimischen Unternehmen. Die befürchtete Pleitewelle blieb aus. Laut Statistik Austria gab es im ersten Halbjahr 2021 sogar um ein Viertel weniger Insolvenzen als 2020, verglichen mit dem Vorkrisenniveau von 2019 waren es sogar um 57 Prozent weniger. Grund dafür sind die üppigen Staatshilfen. Mit deren Auslaufen könnten die Insolvenzen 2022 allerdings zunehmen. Die negativen Folgen der Pandemie für den Arbeitsmarkt fielen ebenfalls geringer aus als prognostiziert. Die Beschäftigungszahlen erreichen bereits wieder das Niveau vor der Krise. Laut einer WIFO-Prognose hätte dies erst im Jahr 2025 der Fall sein sollen. Die relativ geringen Arbeitslosenzahlen überraschten auch AMS-Vorstand Johannes Kopf. In einem Kommentar für die Wiener Stadtzeitung „Falter“ wagte er eine Erklärung für die „Fehlprognose“ (Kopf). Seriöse Prognosen würden auf fundierten Lehren aus der Vergangenheit basieren. Doch Erfahrungen mit einer weltweiten Pandemie

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gab es nicht. Die Krise erfolgte nicht in einem normalen Konjunkturzyklus und wurde auch nicht durch einen Finanzcrash ausgelöst. Corona sei „der erste globale, gesetzlich angeordnete Angebotsschock“ gewesen. Nie zuvor sei es der Wirtschaft verboten worden, Güter und Dienstleistungen anzubieten, die eigentlich weiterhin nachgefragt gewesen wären. An dieser singulären Konstellation mussten die Prognostiker scheitern. Ähnlich ist es in Gablers Wirtschaftslexikon nachzulesen. Grundlage jeder Prognose sei „eine allgemeine Stabilitätshypothese, die besagt, dass gewisse Grundstrukturen in der Vergangenheit und Zukunft unverändert wirken“. Doch genau diese Stabilität war im Jahr 2021 nicht mehr gegeben. Die neuen „Grundstrukturen“ wirken anders. Corona bedeutet eine Disruption im Prognose-Business.

Prognose-Kompetenz, Prognose-Moral Auch die politische Stabilität und mit ihr die Vorhersagbarkeit gingen 2021 verloren. Das Jahr brachte drei verschiedene Bundeskanzler und einen neuen ÖVP-Parteichef. Die Gemengelage, die zum endgültigen Rückzug von Sebastian Kurz führte, hätte jeden Komplexitätsforscher überfordert. Politik bedeutet, das Unerwartete zu erwarten und auf Ungeplantes mit Improvisationen zu reagieren. Ein dynamisches Geschehen wie im vergangenen Jahr entzieht sich jeder ernsthaften Prognose. Im Vergleich zur Politik ist die Wirtschaft ein einfaches System. Dennoch sind auch dort Vorhersagen eine Herausforderung. „Prognosen sind vieles, aber sicher keine halbwegs gesicherte Vorschau“, schreibt Josef Urschitz im Leitartikel der „Presse“ zum Jahresende. Exemplarisch führt er die Inflation in der Eurozone und den Bitcoin-Kurs an. Erstere war höher, letzterer tiefer als von Experten für das Jahr 2021 prognostiziert. Urschitz‘ Rat: „Man sollte Prognosen als das nehmen, was sie sind: Anhaltspunkte, an denen man fortgeschriebene Trends gut ablesen kann. Die man aber flexibel in die Tonne tritt, sobald sich der Wind merkbar zu drehen beginnt.“ Dazu müssten aber all jene, die (wie Politiker und Journalisten) quantitative Vorhersagen verwenden, eine gewisse Prognose-Kompetenz, ja Prognose-Moral entwickeln. Dazu zählt das Basiswissen, was Vorhersagen ver-

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mögen und was nicht; der Verzicht darauf, mit Prognosen Politik zu machen oder Umfragen zu steuern; und vor allem die Bereitschaft, Fehlprognosen im Nachhinein zu revidieren. Dies fällt naturgemäß am schwersten, wenn sich die eigenen Prognosen als falsch erweisen. Selbstkritisch sei angemerkt, dass die Bereitschaft, Irrtümer einzugestehen, gerade im Medienbereich unterentwickelt ist. Da man Journalisten (im Gegensatz zu Politikern) Fehlprognosen nur selten vorhält und es zudem ihrem Naturell entspricht, geben sie gern riskante Vorhersagen ab. Er oder sie „lehnt sich weit hinaus“, wie man so sagt. Anders als Wissenschaftler und Politiker sollten Journalisten das dürfen, ohne sofort als unseriös abgestempelt zu werden. Wissenschaftler müssen präzise sein, Politiker vorsichtig. Journalisten können (wie „Zeit“-Autor Peter Dausend) abwegige Szenarien zeichnen, die gerade wegen ihrer Unwahrscheinlichkeit neue Perspektiven öffnen. Im Internet zirkulierte ein Clip aus dem Jahr 2015, in dem ein Teilnehmer einer Expertenrunde prophezeit, Donald Trump würde die Vorwahlen der Republikaner zur US-Präsidentschaft gewinnen. Die Reaktion seiner Mitdiskutanten: brüllendes Gelächter. Das Privileg des Journalisten, gewagte Prognosen aufstellen zu dürfen, sollte mit einer entsprechenden Fehlerkultur einhergehen. Irrtümer sind keine Schande und nicht sinnlos. Es kann durchaus einen Erkenntniswert haben, wenn ein Journalist im Nachhinein exakt erklären kann, warum seine Prognose nicht zutraf. 

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die corona-krise im zweiten jahr

d av i d c h r i sto p h e r j a k l i n

Falsch- und Desinformation im ­zweiten Jahr der Corona-Pandemie Einflussnahme (inter)nationaler Akteure und soziale Resilienz im Kontext hybrider Bedrohungen. Die Corona-Pandemie brachte im zweiten Jahr abermals eine Vielzahl von Falschund Desinformationen auf nationaler und internationaler Ebene mit sich. Damit rückte die Thematik zwar in einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs, jedoch sind gleichzeitig Vermischungen von Termini zu verzeichnen, was eine kritische Auseinan­ dersetzung erschwert. Während die internationale Staatengemeinschaft Russland und China wegen diverser Anstrengungen westliche Impfstoffe negativ darzustellen kritisierte, zeichnete sich auf nationaler Ebene eine weitere Problematik ab. So prägte die Bildung einer zunehmend radikaler werdenden Parallelgesellschaft und die Instrumentalisierung von Falschinformationen vonseiten politischer Verantwortlicher in Österreich das Bild. In beiden Fällen traten bei der Verbreitung von Falsch- und Desinformation Messenger-Dienste wie Telegram zusehends in den Vordergrund. Vor allem im Kontext von hybriden Bedrohungen sind die Entwicklung von Parallelgesellschaften und die Polarisierung der Gesellschaft kritisch zu sehen, da sie Angriffsfläche für eine Instrumentalisierung von (inter)nationalen Akteuren sowie die Destabilisierung von demokratischen Prozessen, Grundwerten und dem sozialen Gefüge bietet. Politische Entscheidungsträger sind deshalb zu kurz-, mittel- und langfristigen Strategien aufgerufen, die eine soziale Resilienz sowie die Medien- und Forschungslandschaft stärken.

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Die Corona-Pandemie hat sich nicht nur durch maßgebliche gesundheitliche Auswirkungen auf die Gesellschaft dargestellt, sondern ebenso durch eine Vielzahl von Faktoren, die die internationale Staatenwelt, die Sicherheit der Menschen sowie wirtschaftliche Aspekte betreffen. Vor allem politische Akteure, aber auch nichtstaatliche und kriminelle Elemente haben die Pandemie als Mittel genutzt, um eigene Einflussbereiche auszudehnen oder gezielt Schaden anzurichten. Schlagwörter wie „Infodemie“ – geprägt durch die Weltgesundheitsorganisation1 – machten früh in der Pandemie die Runde; die Kanäle und Akteure der Falsch- und Desinformation rückten vermehrt in den Fokus der Forschungslandschaft sowie staatlichen Institutionen. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass allein seit 2021 Google Scholar 11.900 Resultate unter der Suchanfrage „disinformation covid-19“ verzeichnet.2 Aber nicht nur die akademische Auseinandersetzung mit der Thematik vervielfachte sich, sondern auch die Arbeit von Plattformen wie EUvsDisinfo (auf EU-Ebene) oder Mimikama (in Österreich). Diese widmen sich gezielt der Dokumentation und Richtigstellung von Falsch- und Desinformation. Während EUvsDisinfo mittlerweile 974 Artikel in seiner Datenbank unter „coronavirus“ auflistet,3 sind es bei Mimikama bereits über 1.600 Beiträge, die neben Desinformation auch Falschmeldungen und Informationsinhalte thematisieren.4 Aus diesem Grund widmet sich dieser Artikel Falsch- und Desinformation im zweiten Jahr der Pandemie und wie nationale, aber auch internationale Akteure die Krise für ihre jeweiligen Zwecke nutzten. Zuerst soll jedoch auf die Begrifflichkeiten bzw. exakten Definitionen von Propaganda, Falsch- und Desinformation eingegangen werden, da selbige die Bandbreite dieser „Infodemie“ besser greifbar machen und in weiterer Folge für Analysen, aber auch politische Strategien maßgeblich von Bedeutung sind.

1 https://www.who.int/health-topics/infodemic 2 https://scholar.google.com/scholar?hl=en&as_sdt=0%2C5&as_ylo=2021&q=disinformation+ covid-­19&btnG= 3 https://euvsdisinfo.eu/disinformation-cases/?text=coronavirus&date=&per_page= 4 https://www.mimikama.at/category/coronavirus-2019-ncov/

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Begrifflichkeiten und das unscharfe Vermischen Die Manipulation von Information und damit zusammenhängende Versuche, Einflüsse und Macht zu projizieren oder Agenden voranzutreiben, sind historisch gesehen keine Neuheit. Aus diesem Grund haben sich mehrere Begriffe etabliert, um dieses Phänomen zu beschreiben. Am bekanntesten und wohl auch ältesten ist das Wort „Propaganda“, das sich bis in die Gegenreformation zurückverfolgen lässt, aber vor allem durch Systeme wie dem Nationalsozialismus oder Stalinismus weitläufig bekannt ist. Dementsprechend ist es auch negativ im kollektiven Gedächtnis verankert. „Falschinformation“ ist in seiner Bedeutungsgeschichte schon im 17. Jhdt. anzutreffen, also in Bezug auf Alter und der Rezeption innerhalb der Gesellschaft, Literatur und Forschung ebenso ein geläufiger Terminus. Viel jünger hingegen ist der Begriff „Desinformation“ – der erst in den frühen 1950er-Jahren aufgetaucht ist – sowie das mittlerweile weit verbreitete Schlagwort „Fake News“. Gleichwohl diese Begriffe stark ineinandergreifen und sich eine Interdependenz nicht abstreiten lässt, muss man dennoch differenzieren, um nicht Gefahr zu laufen, die eigene Kommunikation zu kompromittieren. Wie grenzen sich diese Bezeichnungen jedoch untereinander ab? Als Propaganda wird die systematische Verbreitung von einseitiger und irreführender Information gesehen, die eine politische Sache oder Sichtweise voranbringen soll. Hierbei ist auch psychologische Kriegsführung inkludiert, die den Kampfgeist des Feindes brechen bzw. selbigen für die eigene Position gewinnen soll. Propaganda wird auch als Rekrutierungsmittel eingesetzt, wie zuletzt vor allem im Bereich des Terrorismus und Dschihadismus zu sehen war. Falschinformation ist im Gegensatz dazu ebenso irreführend und inkorrekt – jedoch ohne den Aspekt der bewussten Intention. Es handelt sich also um unabsichtlich verbreitete, falsche Information, die entweder aus Unwissen oder einem unvollständigen Informationsstand herrührt. Demgegenüber steht Desinformation, bei der es sich um eine „[…] Verbreitung von absichtlicher falscher Information [.]“ handelt, „[.] vor allem wenn diese von einem Staat oder dessen Vertreter an eine ausländische Macht oder die Medien geliefert wird, mit der Intention die Strategien oder Meinungen derer zu beeinflussen, die

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sie empfangen“.5 Hier ist somit nicht nur die Absicht ein maßgeblicher Punkt, sondern auch die strategische Komponente, ein spezielles Ziel zu erreichen. Propaganda und Desinformation unterscheiden sich insofern, als bei Letzterer konstruierte bzw. falsche Informationen verbreitet werden, während Propaganda einseitig und irreführend, sowie auf die ideologische Sphäre beschränkt ist. Da diese Begriffe oft synonym verwendet werden, ergeben sich Probleme in der Beurteilung von aktuellen Fällen von Falsch- oder Desinformation. Dass Donald Trump während seiner Präsidentschaft zudem noch den Begriff „Fake News“ prägte, erschwert die Analyse zusätzlich, da dieser zu einem allseits bekannten Schlagwort geworden ist, das nicht nur ansprechend ist, sondern auch durch die weit verbreitete Verwendung keiner weiteren Erklärung bedarf. Dabei bringt es aufgrund seiner Unschärfe einige Probleme mit sich. Nicht zuletzt die „High Level Group on fake news and disinformation“ versuchte bereits 2018 in einem Bericht für die Europäische Kommission diesbezüglich Klarheit zu schaffen. Die Expertinnen und Experten der Forschungsgruppe vermieden ausdrücklich den Begriff „Fake News“ aufgrund seiner „Untauglichkeit, die Komplexität der Desinformationsproblematik“ erfassen. Zudem stuften sie ihn als „inadäquat und irreführend“ ein, da er vor allem von politischen Entscheidungsträgern und deren Unterstützern verwendet wird, um unbeliebte Berichterstattung der Medien zu entwerten.6 Aus diesem Grund wird der Begriff in der Öffentlichkeit zumeist als politisiertes Schlagwort wahrgenommen, das vor allem mit schlechtem Journalismus und parteipolitischen Debatten assoziiert wird.7 Die Bedrohung von Desinformation liegt nicht nur in der irreführenden Information selbst, sondern aufgrund unserer digitalisierten Welt auch in strategisch eingesetzten, automatisierten Internetprofilen, Netzwerken, gezielter Werbung sowie den zahlreichen Möglichkeiten zu kommentieren, zu teilen und individuell Beiträge zu posten. Dabei werden in weiterer

5 Bentzen, Naja: Understanding propaganda and disinformation. European Parliamentary Research Service, PE 571.332. S. 1. 6 European Commission, A multi-dimensional approach to disinformation. Report of the High level Group on fake news and online disinformation. Luxembourg 2018, S. 10. 7 Nielsen, Rasmus Kleis; Graves, Lucas: “News you don’t believe”: Audience perspectives on fake news Rasmus. Oxford: Reuters Institute for the Study of Journalism. S. 1 und 4f.

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Folge demokratische Prozesse, gesellschaftliche Werte, Wissenschaft und Bildung sowie Wirtschaft und Gesellschaft angegriffen.8

COVID-19 Falsch- und Desinformation auf internationaler Ebene International gesehen warf die Staatenwelt vor allem Russland und China vor, groß angelegte und breit gefächerte Propaganda- und Desinformationskampagnen zu lancieren. Die vom Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) eingerichtete EUvsDisinfo-Plattform, die Desinformation vor allem mit Fokus auf Zentral- und Osteuropa thematisiert, informiert diesbezüglich in Form von Berichten des EAD und listet diese in ihrer Datenbank auf.9 Mit Blick auf dieses Informationsmaterial lässt sich erkennen, dass im zweiten Jahr der Pandemie der Umfang an Propaganda und Desinformation weiterhin signifikant war und sich an die Pandemie, die Corona-Maßnahmen sowie die Debatte um Impfstoffe anpasste.10 Die sogenannte Maskendiplomatie wurde von einer Impfdiplomatie abgelöst, die die Einflusssphären der Großmächte ausbauen und strategische Partnerschaften festigen soll. Dabei spielt Falsch- und Desinformation eine entscheidende Rolle. Russland nutzte beispielsweise weiterhin staatlich kontrollierte Medien, um die Maßnahmen der EU sowie ihrer Mitgliedsstaaten in einem negativen Licht darzustellen. Das Ansteigen von COVID-Erkrankungen wird aufgrund der Bemühungen europäischer Staaten als ein Zeichen für das Versagen westlicher Demokratien und offener Gesellschaften porträtiert. Gleichzeitig wurden nicht nur die Europäische Arzneimittelbehörde, sondern auch westliche Impfstoffe selbst zum Ziel von Propaganda- und Desinformationskampagnen. Russland verfolgte hier 2021 einen gesamtstaatlichen Ansatz, der staatlich kontrollierte Medien, diverse Netzwerke sowie Social-Media-Kanäle umfasste. Sogar diplomatische Profile in den Sozialen Medien wurden hierbei benutzt. Das Ziel bestand darin, das Vertrauen in

8 Ebda. 9 https://euvsdisinfo.eu/disinformation-cases/?text=coronavirus&date=&per_page= 10 EAD-Sonderbericht, Update: Kurzbewertung der Narrative und Desinformation zur COVID19-Pandemie (Aktualisierung: Dezember 2020 bis April 2021) April 28, 2021. https://euvsdisinfo. eu/de/ead-sonderbericht-update-kurzbewertung-der-narrative-und-desinformation-zur-covid19-pandemie-aktualisierung-dezember-2020-bis-april-2021/

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westliche Impfstoffe, europäische und nationale Institutionen zu untergraben und gleichzeitig den russischen Impfstoff Sputnik V als bessere Alternative zu bewerben.11 Zuletzt berichteten russische Staatsmedien ausführlich und live über die, auch in Österreich stattfindenden Demonstrationen gegen die Impfpflicht und Corona-Maßnahmen, um diese Narrative weiter voranzutreiben. Zu einem bedeutsamen Medium wurde insbesondere der Messengerdienst Telegram, der 2021 WhatsApp den Rang ablief, wenn es um Desinformation geht.12 In Gruppenchats wie z. B. „Актуальное с немецкого“13 werden unterschiedliche Inhalte geteilt, die Videos von Protestkundgebungen in Europa, sarkastische Memes auf Russisch und Deutsch, tendenziöse und aus dem Zusammenhang gerissene Medienberichte bis hin zu Verschwörungstheorien und Konferenzen von vermeintlichen Medizinern, die in westlichen Impfstoffen Mikrochips entdeckt haben wollen, umfassten. TelegramGruppen wie diese erreichen nicht nur russische Staatsbürgerinnen und -bürger, sondern auch im europäischen Ausland lebende Menschen. Dabei bedient man sich zusätzlich des Materials von Parallelgesellschaften und Gruppierungen wie den „Querdenkern“.14 Ähnlich verhielt es sich mit der Volksrepublik China. Vor allem im Kontext des geopolitischen Projekts der „One Belt One Road“-Initiative präsentiert sich China mitsamt seinen Impfstoffen als verlässlicher Partner mit einer stabilen Versorgung, die vor allem für Entwicklungsländer attraktiv ist. Im gleichen Atemzug werden ähnlich der Vorgehensweise Russlands westliche Impfstoffe, der Ursprung des Coronavirus sowie die Effizienz westlicher Demokratien in Zweifel gezogen. Auch China verwendet dabei staatlich kontrollierte Medien, Social Media und Stellvertretermedien.15 Dabei rückten Themen wie 5G, Bill Gates und andere Verschwörungstheorien

11 Ebda. 12 https://www.n-tv.de/panorama/Wie-Telegram-Gruppen-Menschen-fangenarticle22990426.html vgl. https://futurezone.at/digital-life/coronavirus-whatsapp-ist-die-groesste-fake-news-schleuder/400789952 13 Übersetzt: „aktuell aus dem Deutschen“ t.me/snemezkogo 14 Ebda. 15 EAD-Sonderbericht.

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in den Hintergrund, aber Narrative über vermeintliche US-Geheimlabore als Ursprungsorte des Virus hielten sich weiterhin hartnäckig.16 Für die EU sowie für Österreich ist vor allem der Einflussversuch Russlands und Chinas am Westbalkan relevant, wo primär Serbien als wichtiger Partner der Impfdiplomatie agiert. So begann das Land beispielsweise im Juni 2021 unter Lizenz Sputnik V herzustellen.17 Der Westbalkan als Sphäre geopolitischer Einflussversuche hat somit in den vergangenen Jahren weiter an Bedeutung gewonnen, was die Rolle Österreichs in der Region und auf EU-Ebene dementsprechend fordern wird.18

Entwicklungen auf nationaler Ebene – Parallelgesellschaften und Radikalisierung Auch in Österreich konnte ein Wandel in den Themen und Kanälen von Falsch- und Desinformation festgestellt werden. Bereits 2020 ließen sich vier Kategorien identifizieren, die auch 2021 aktuell waren (Verschwörungstheorien zu COVID-19, Trivialisierung des Virus, gefährliche Empfehlungen zu Diagnose und Behandlung, falsche Behauptungen bezüglich der Maßnahmen) – jedoch rückte in Österreich bzw. im deutschsprachigen Raum die Impfdebatte in den Vordergrund. Als Hauptkanäle der Falschund Desinformation dienten hierbei Internetblogs, Influencer auf Social Media sowie Telegram-Gruppen, die einer Reihe von parallelgesellschaftlichen Gruppen wie den „Querdenkern“, dem politisch rechten und rechtsextremistischen Spektrum, Esoterikern oder Staatsverweigerern zuzuordnen sind. Sogar die aus den USA bekannte QAnon-Bewegung schaffte es, die Krise auszunutzen und ihre Narrative mit denen der Querdenker zu kombinieren.19

16 Ebda. 17 https://orf.at/stories/3216042/ 18 Siehe hierzu die Ausgabe: Seeking Influence and Power along the Danube and the Western Balkans. In: Journal for Intelligence Propaganda and Security Studies, Vol. 15, Nr. 1/2021. 19 Das Phänomen Verschwörungstheorien in Zeiten der COVID-19-Pandemie. Bericht der Bundesstelle für Sektenfragen an die Bundesministerin für Frauen, Familie, Jugend und Integration. Wien 2021. S. 35.

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Die Polarisierung der Gesellschaft ausnützend, machten sich diese Gruppierungen die Unzufriedenheit mit den Corona-Maßnahmen, die Impfdebatte sowie die polarisierende politische Lage im Land zunutze, um ihre Narrative zu verbreiten. Dabei kam es zunehmend zu Botschaften oder Inhalten, die als antisemitisch einzustufen sind.20 Aufgrund der zunehmenden Radikalisierung und Festnahmen im Umfeld von Corona-Leugnern sowie diversen Gewaltandrohungen gegen medizinische Fachkräfte und Medienvertreter wird die Szene mittlerweile vom Verfassungsschutz als die größte Bedrohung für die Republik Österreich angesehen.21 Die Mobilisierung dieser Gruppen und allen voran die Verbreitung der damit einhergehenden Falsch- und Desinformationen erfolgte wie schon im Jahr 2020 nicht nur über die Sozialen Medien, sondern primär über Messengerdienste. Während mit Beginn der Corona-Pandemie vor allem WhatsApp und Facebook als Instrumente für Falsch- und Desinformation verwendet wurden, finden mittlerweile immer mehr Akteure mithilfe von Telegram eine ideale Plattform, um ihre Narrative zu verbreiten. Da der Messengerdienst viele Elemente von Social Media mit der Intimität und Echtzeit von persönlichen Nachrichten und der Viralität von aktuellen Nachrichten verbindet,22 griffen auch nationale Akteure dieses Mittel auf. Nicht zuletzt deshalb, da das Teilen von Telegram-Kanälen mithilfe allseits griffbereiter Mobilgeräte und Gruppengrößen von bis zu 200.000 Teilnehmern ein effektives Tool für die Verbreitung von Information ist. Ein Beispiel hierfür ist der Kanal „Factsheet Austria“,23 der im Laufe des vergangenen Jahres über 9.000 Abonnenten aufbauen konnte, die die Inhalte frei nach dem Schneeballprinzip teilen können. Grafisch ansprechend aufbereitet und mit Fußnoten zu seriösen Quellen versehen, werden jedoch Daten und Fakten teils willkürlich gedeutet, falsche Bilder gezeichnet und zuletzt auch zu Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen mobilisiert. Gleichzeitig werden die oft mit Ausschreitungen und Verhaf-

20 Ebda. 21 https://www.profil.at/oesterreich/grausame-energie-gewaltpotenzial-bei-corona-demossteigt/401832307 22 https://www.n-tv.de/panorama/Wie-Telegram-Gruppen-Menschen-fangenarticle22990426.html 23 T.me/FactSheetAustria

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tungen einhergehenden Proteste im Telegram-Kanal einseitig als friedlich und ohne Zwischenfälle dargestellt. Da für derartige Kanäle kein Impressum oder Sonstiges notwendig ist, lässt sich die Urheberschaft auch nicht ohne polizeiliche Ermittlungen feststellen. Sehr wohl lässt sich der Kanal jedoch aufgrund seiner Rhetorik und der Verlinkung zu einschlägigen „alternativen“ Nachrichtenkanälen dem politisch rechten Spektrum zuordnen. Vor allem auf politischer Ebene zeichnete sich 2021 durch die Instru­ mentalisierung von kursierenden Falschinformationen für parteipolitische Strategien aus. So nutzte FPÖ-Parteiobmann Herbert Kickl gängige Meldungen über das Arzneimittel Ivermectin, um innerhalb der Corona-Leugner Szene Unterstützung zu erhalten, und sorgte nicht zuletzt für Empörung, da er sich im Zuge eines ZiB-2-Interviews nicht von antisemitischen Codes bei Corona-Demonstrationen klar distanzierte.24 Wenngleich diese Aktivitäten sowohl von Bundeskanzler Schallenberg im November25 und in weiterer Folge von dessen Nachfolger Karl Nehammer aufs Schärfste verurteilt wurden, ließ Herbert Kickl nicht von seiner Rhetorik ab, die letzten Endes im Eklat rund um das ZiB-2-Interview endete. Hierbei ist ergänzend anzumerken, dass sich im Kontext der CoronaPandemie sowohl aktive als auch inaktive politische Akteure im Laufe der vergangenen zwei Jahre gegenseitig regelmäßig der Verbreitung von „Fake News“ und „Desinformation“ beschuldigten, und den Begriff dadurch nicht nur inflationär, sondern auch irreführend verwendeten.26 Ein weiteres Beispiel dafür, dass „Fake News“ als seriöser Terminus in der politischen Kommunikation, aber auch der Forschung selbst problematisch ist.

24 https://orf.at/stories/3241978/ 25 https://orf.at/stories/3238209/ 26 Vgl hierzu: https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20200327_OTS0110/fpoe-kicklnehammer-jagt-fake-news-und-produziert-gleich-selbst-welche oder: https://zackzack.at/2020/10/19/schon-wieder-corona-fake-news-aus-nehammer-ministerium-medien-brachten-falsche-zahlen/

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Falsch- und Desinformation im Kontext sozialer Resilienz und hybrider Bedrohungen Die Polarisierung der Gesellschaft und die Tendenz, dass Verschwörungstheorien von einem Randphänomen zu einem – wie es die Bundesstelle für Sektenfragen nennt – „gesellschaftlich stark präsenten Thema“ werden, aber auch die zunehmende politische Instrumentalisierung von gängigen Falschund Desinformationen für den parteipolitischen Wählerfang und Machtausbau, müssen ebenfalls im Licht der sozialen Resilienz und hybriden Bedrohungen gesehen werden. Desinformation zielt unter anderem auf die Grundfesten der Demokratie, der Gesellschaft und ihrer Werte ab. Eine polarisierte Gesellschaft, die sich aufgrund von gezielter Desinformation und Propaganda radikalisiert und in Parallelgesellschaften abdriftet, ist nicht nur innerhalb eines Staates gefährdet. Vielmehr sinkt dabei die soziale Resilienz gegenüber externen Einflussversuchen im Rahmen von hybriden Bedrohungen, die in ihrer Bandbreite von destabilisierenden Maßnahmen für wirtschaftliche Zwecke, bis hin zu kriegerischen Absichten reicht. Gesellschaftliche Bruchlinien, Parallelgesellschaften, aber auch politische Fraktionen laufen deshalb Gefahr, von externen Akteuren instrumentalisiert zu werden.27 Aufgrund der zunehmenden Radikalisierung innerhalb der Szene von Corona-Leugnern und Staatsverweigerern schwelt ein z­unehmendes Poten­ tial für gewaltsame Aktivitäten gegen medizinisches Fachpersonal, die freie Presse und die kritische Infrastruktur. Ein maßgeblicher Teil dieser Radi­kalisierung rührt von Falsch- und Desinformation her. Es gilt hier also gegenzusteuern, bewusstseinsbildenden Maßnahmen innerhalb der Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zu setzen, aber auch aktiv Strategien zu entwickeln, um diesem Trend entgegenzuwirken.

27 Jaklin, David: Desinformation und Covid-19: Österreich und die Europäische Dimension. In: Journal for Intelligence Propaganda and Security Studies, Vol. 13, Nr. 2/2019. S. 40.

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Schlussfolgerungen Die Problematik von Falsch- und Desinformation wird nicht mit der Corona-Pandemie enden. Aufgrund technologischer Fortschritte wird sich vielmehr das Gesicht selbiger sprichwörtlich ändern. Deep Fakes, computergenerierte Imitationen von Stimmen und komplexer werdende Strategien stellen die internationale Staatengemeinschaft vor neue Herausforderungen. Um dem Herr werden zu können, sind kurz-, mittel- und langfristige Strategien erforderlich. Als kurzfristige Mittel können Kampagnen zur Bewusstseinsbildung gesehen werden, wie z. B. jene der Stadt Wien.28 Dabei zeigt sich jedoch die Problematik der Begrifflichkeiten, um ernst genommen zu werden und Erfolge zu verzeichnen. So vermischt die Informationsplattform der Stadt z. B. Termini wie „Fake News“ mit Desinformation und sah sich im Rahmen ihrer Kampagnen auf Plattformen wie Facebook bereits Spott ausgesetzt, da in der Community „Fake News“ anders verstanden werden. Mittel- und langfristig gilt es „Media und Information Literacy“ zu unterstützen, also Mitmenschen die Fähigkeiten und Kompetenzen zu geben, Falsch- und Desinformation selbst zu erkennen. Durch diesen Aspekt kann vor allem über eine dementsprechende Bildungspolitik ein Fundament für eine resiliente Jugend und damit der Zukunft Österreichs gelegt werden. Die Politik ist somit gefordert, hier anzusetzen und Reformen voranzutreiben. Dies geht einher mit der Unterstützung von Internetusern und Journalisten, um den Kampf gegen Falsch- und Desinformation mithilfe von elektronischen Tools zu unterstützen – seien dies nun Meldestellen, -funktionen oder Identifikationsmöglichkeiten. Gleichzeitig ist die freie Medienlandschaft zu unterstützen, die sich aufgrund der Digitalisierung, des allgemeinen Wandels in der Medienwelt und der immer schneller werdenden Kommunikationsarten zunehmend unter Druck befindet. Auch die Forschungslandschaft selbst ist ein wichtiger Pfeiler – allen voran, um sich dem laufenden Wandel der Falsch- und Desinformationskreisläufe bewusst zu sein, Akteure, Kanäle und Narrative zu identifizieren und in weiterer Folge politischen Entscheidungsträgern

28 https://www.wien.gv.at/medien/fake-news/

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mit nachhaltigen Antworten auf diese Bedrohung unterstützend zur Seite zu stehen. Denn vor allem im Bereich der Politik und der Reaktion auf Falsch- und Desinformation ist es ratsam, den zeitlichen Abstand zwischen Identifikation, Analyse und nationalen Maßnahmen zu verkürzen, um Angriffe rechtzeitig zu erkennen und Lösungen zu bieten. Die Republik Österreich hat hier ausgezeichnete Grundvoraussetzungen. Das Land verfügt über ein hohes Bildungsniveau, die wirtschaftlichen, technologischen und finanziellen Mittel sowie eine breite ­Medienund Forschungslandschaft. Es liegt somit in der Hand aller politischen Verantwortlichen, hier die richtige Botschaft zu senden.

Literatur EAD-Sonderbericht, Update: Kurzbewertung der Narrative und Desinformation zur COVID-19-Pandemie (Aktualisierung: Dezember 2020 bis April 2021) April 28, 2021. European Commission, A multi-dimensional approach to disinformation. Report of the High level Group on fake news and online disinformation, Luxembourg 2018. Bentzen, Naja: Understanding propaganda and disinformation. European Parliamentary Research Service, PE 571.332. Jaklin, David: Desinformation und COVID-19: Österreich und die Europäische Dimension. In: Journal for Intelligence Propaganda and Security Studies, Vol. 13, Nr. 2/2019. S. 27–44. Nielsen, Rasmus Kleis; Graves, Lucas: “News you don’t believe”: Audience perspectives on fake news. Oxford: Reuters Institute for the Study of Journalism. Seeking Influence and Power along the Danube and the Western Balkans. In: Journal for Intelligence Propaganda and Security Studies, Vol. 15, Nr. 1/2021. Das Phänomen Verschwörungstheorien in Zeiten der COVID-19-Pandemie. Bericht der Bundesstelle für Sektenfragen an die Bundesministerin für Frauen, Familie, Jugend und Integration. Wien 2021.

Internet https://euvsdisinfo.eu https://www.disinfo.eu https://www.mimikama.at/

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Corona und Föderalismus im Jahr 2021 Auch das zweite Jahr der Corona-Pandemie war in Österreich nicht zuletzt neu­ erlich geprägt vom Spannungsfeld zwischen Bund und Ländern, was wiederholt zu einem ziemlich katastrophalen Erscheinungsbild der Verantwortlichen auf beiden Ebenen führte. Verantwortungs- und Entscheidungs-Pingpong zwischen Bund und Ländern, Vorschriften-Fleckerlteppiche und Regelungs-Wirrwarr boten sich vielfach dem kopfschüttelnden Normalbürger dar. Bei einer weltweiten Pandemie sind in einem Staat – und sei er noch so föderalistisch organisiert – entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip die Entscheidungen in erster Linie auf gesamtstaatlicher Ebene zu fällen. Wie auch immer: Auch nach zwei Jahren Pandemie gibt es keinerlei Hinweise, dass – zumindest in Europa – zentralistisch organisierte Staaten die Pandemie besser bewältigt hätten, als die wenigen Staaten mit föderalistischem Aufbau. Reformen des Föderalismus sind allerdings dringend notwendig.

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Politik an ihren Grenzen In normalen Zeiten ist es der große Vorteil des kooperativen Föderalismus, dass Lösungen in einem meist sehr zeitaufwendigen Verfahren ausverhandelt werden und die erzielten Kompromisse dann auf allen Ebenen gemeinsam umgesetzt werden. In Zeiten der Pandemie hat sich gezeigt, dass das normale Verfahren der Abstimmung zwischen Bund und Ländern viel zu kompliziert, zeitraubend und letztlich kontraproduktiv ist. Hier müssen Reformvorschläge für die Zukunft ansetzen, um für künftige Pandemien besser gerüstet zu sein. Die Österreichische Bundesverfassung teilt – ganz im Sinne des Subsidiaritätsprinzips – die Zuständigkeit im Gesundheitswesen betreffend Gesetzgebung und Vollziehung dem Bund zu, von dem die gesetzlichen Grundlagen zum Kampf gegen Pandemien zu erlassen sind. Vollzogen werden diese Rechtsvorschriften über die mittelbare Bundesverwaltung durch die Landeshauptleute und die ihnen unterstellten Landesbehörden, vor allem durch die Bezirksverwaltungen. Das Verhältnis zwischen Bund und Ländern bei der Corona-Bekämpfung im Jahr 2020 wurde bereits im Jahrbuch für Politik und ausführlicher im Bericht über den Föderalismus in Österreich behandelt.1 Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der weiteren Entwicklung dieser Beziehung im Jahr 2021. Zu Beginn der Pandemie gab die Bundesregierung klar vor, welche Maßnahmen zu setzen sind. Sie wurden sowohl von den Ländern als auch von Gemeinden und Städten ohne Murren zur Kenntnis genommen und in bestmöglicher Weise von den Ländern und Kommunen umgesetzt. Je länger die Krise dauerte, umso eigenwilliger wurde das Verhalten der Länder und umso schwächer wurde das Agieren der Zentralstellen. Das Ping-Pong-Spiel zwischen Bund und Ländern um die Verantwortung für unpopuläre Maßnahmen, einen Fleckerlteppich von Regelungen, die von der Bevölkerung

1 Peter Bußjäger, Mathias Eller: Zentrale oder regionale Corona-Bekämpfung? Eine Zeitreise durch den Verordnungsdschungel. In: Andreas Khol et al. (Hg.): Jahrbuch für Politik 2020. Wien, Köln Weimar 2021. 133–146. Ebenso Franz Schausberger: 100 Jahre Bundesverfassung. Spagat zwischen Zentralismus und Föderalismus. In: Andreas Khol et al. (Hg.): Jahrbuch für Politik 2020. Wien, Köln, Weimar 2021. 540 f. 45. Bericht über den Föderalismus in Österreich (2020). Institut für Föderalismus. Innsbruck. Wien, Hamburg 2021. 202–228.

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nicht mehr nachvollzogen werden konnten und nur mit Widerwillen oder gar nicht mehr akzeptiert wurden, waren die Folge. Die Möglichkeit der freiwilligen Koordination der Länder untereinander – etwa im Weg einer wesentlich öfter tagenden Landeshauptleutekonferenz – wurde leider nicht genützt.2 Dazu kam noch eine aufgeheizte, aggressive innenpolitische Auseinandersetzung, die zu tiefgreifenden Turbulenzen und Veränderungen in der Regierung führte. All das belastete natürlich das Agieren aller Verantwortlichen in ihrem Kampf gegen die Pandemie auf allen Ebenen des Staates. Verschärft wurde die Situation durch eine – im Vergleich zu anderen europäischen Ländern – äußerst verbreitete, durch heftige Demonstrationen unterstützte aggressive Ablehnung der COVID-Impfung, die auch in den Ländern, Bezirken und Städten Verbreitung fand. Unterstützt wurde diese Bewegung von der radikalen Agitation der Oppositionspartei FPÖ und einer neu auftretenden, impfkritischen Partei MFG (Menschen, Freiheit, Grundrechte). Generell kann man aber feststellen, dass auf allen Ebenen viel Gutes und Richtiges gemacht und entschieden wurde, aber eben auch viele Fehler und Versäumnisse unterliefen. Das ist auch nicht allzu verwunderlich, da man keine Beispiele aus der Vergangenheit hatte, aus denen man hilfreiche Lehren hätte ziehen können. Die letzte vergleichbare Pandemie – die Spanische Grippe – liegt ein Jahrhundert zurück und gibt keinerlei brauchbare Lehren. Kein Gegenwärtiger hatte bisher mit Vergleichbarem zu tun gehabt.3 Dazu kamen die ständigen Virus-Mutationen, die auch die Experten überforderten. Der jeweils geltende Schlüssel passte nicht mehr zum neuen Schloss. Die Politik auf allen Ebenen stieß an ihre Grenzen.

2 Im September 2021 kritisierte der Rechnungshof in seinem Rohbericht die Corona-Politik von Bund und Ländern vor allem in der Anfangszeit als „chaotisch und unübersichtlich“. Die Länder hätten die Vorgaben des Bundes unterschiedlich ausgelegt, und außerdem habe wegen des Unwillens der Länder zur Vergleichbarkeit ein „Datenchaos“ geherrscht. Wiener Zeitung (WZ). 21. 9. 2021. 7. Salzburger Nachrichten (SN). 21. 9. 2021. 3. 3 Franz Schausberger: Ähnlich und doch ganz anders. Spanische Grippe vor 100 Jahren und Corona heute. Salzburg 2020. Ebenso Manfried Rauchensteiner, Michael Gehler (Hg.): Corona und die Welt von gestern. Wien, Köln, Weimar 2021.

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Lockdown nach Weihnachten 2020 Beim ersten strengen, bundesweiten Lockdown vom 16. März bis zum 1. Mai 2020 wurden die Maßnahmen des Bundes sowohl von den Ländern als auch von der Bevölkerung noch gut akzeptiert. Unsicherheit und Angst spielten hier wohl auch eine Rolle. Man war froh, dass die Bundesregierung das Heft fest in die Hand genommen hatte. Wenn auch der Sommer 2020 eine Entspannung brachte, war klar, dass der Herbst und Winter wieder Verschlechterungen bringen würden und eine Strategie dafür auszuarbeiten war. Man wechselte von zentralen Vorgaben in eine Regionalisierung in Form des „Corona-Ampel-Systems“. Nachdem dieses Ampel-System, das am 4. September 2020 startete, am Konkurrenzdenken, dem mangelnden Mut und der Empfindlichkeit der Länder weitgehend gescheitert war4 und die Länder zudem mit dem sogenannten „Contact Tracing“ überfordert waren, musste es ab 21. September zu einer Rezentralisierung der Corona-Bekämpfung mittels eines „Lockdown light“ kommen. Dies reichte gegen die enorm steigenden Infektionszahlen nicht aus. Eine zweite COVID-Welle von November 2020 bis Jänner 2021 machte einen zweiten Lockdown von 17. November bis 6. Dezember 2020 mit einer Ausgangssperre und dem weitgehenden Verbot von Veranstaltungen und Gastronomie, begleitet von Massentests für die gesamte Bevölkerung, notwendig. Dann wurde der Lockdown wieder „light“, am 24./25. Dezember gab es weitere Erleichterungen. Aber dann mussten die Zügel wieder angezogen werden: Vom 26. Dezember 2020 bis zum 7. Februar 2021 wurde ein dritter Lockdown verordnet. Ein Lichtblick war, dass am 27. Dezember die ersten, wenigen Impfungen gegen Corona verabreicht werden konnten. Mit den Lockerungen nach diesem Lockdown stiegen aber die COVID-Zahlen im März und April 2021 wieder rapide an. Dazu trug auch bei, dass eine neue, ansteckendere Alpha-Mutation den bisherigen Typus verdrängte. Die Intensivstationen waren wieder am Limit, die Impfungen gingen nur schleppend voran.

4 Daniel Bischof: Die Pandemie als föderale Zerreißprobe. In: WZ, 14. 2. 2021. Föderalismus – Die Pandemie als föderale Zerreißprobe; Wiener Zeitung online

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Oster-Lockdown im Osten Mitte März 2021 gab es ein deutliches Ost-West-Gefälle. Die Inzidenz war im Burgenland viermal so hoch wie in Vorarlberg. Die Bundesregierung versuchte, die Strategie zu regionalisieren, was sich aber deshalb als schwierig herausstellte, weil innerhalb der Bundesländer sehr unterschiedliche Fallzahlen in den Bezirken festgestellt wurden. Im Vorfeld einer Gesprächsrunde des Bundes mit den Bundesländern am 22. März forderten die Landeshauptleute weitere Lockerungen, wogegen aber eindeutig die aktuelle Infektionslage sprach. Für Niederösterreich, Wien und das Burgenland zeigte sich dringender Handlungsbedarf. Bei den anderen Bundesländern blieb vorerst alles wie bisher. Am 23. März trafen die Landeshauptleute von Niederösterreich, Wien und dem Burgenland mit Gesundheitsminister Anschober zu einem „Ostgipfel“ zusammen. Der Gesundheitsminister drängte auf einen schnellen, harten zwei- bis dreiwöchigen Lockdown. Erst am nächsten Tag gaben die drei Länder ihren Widerstand auf, und man einigte sich auf einen Lockdown vom 1. bis zum 6. April, also über Ostern, nach dem Modell der früheren Lockdowns. Schließlich kam es dann aber doch ganz anders. Am 6. April wurde bei einem Corona-Gipfel im Kanzleramt vereinbart, den Lockdown für die östlichen Bundesländer bis 18. April auszudehnen. Auch die Schulen blieben auf Distance Learning. Die Begründung lag vor allem in der Überlastung der Intensivstationen der Krankenhäuser in diesen Ländern.5 Hatten sich die Landeshauptleute der östlichen Bundesländer zu diesem Zeitpunkt noch zum gemeinsamen Vorgehen und zur Solidarität bekannt, scherte der burgenländische Landeshauptmann Doskozil nach der vereinbarten „Osterruhe“ und ihrer Verlängerung aus. Während in Wien und Niederösterreich die Schulen bis 26. April und die Geschäfte bis 2. Mai geschlossen blieben, öffnete Doskozil für das Burgenland Schulen, Handel und körpernahe Dienstleister ab 19. April. Diese Ankündigung erfolgte kurz nachdem Gesundheitsminister Rudolf Anschober am 13. April seinen

5 SN. 25. 3. 2021. 4. Kurier (K). 6. 4. 2021. Bis 18. April: „Osterruhe“ im Osten wird verlängert | kurier.at

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Rücktritt aus gesundheitlichen Gründen bekannt gegeben hatte. Ihm folgte am 19. April der Arzt Wolfgang Mückstein von den Grünen nach. Schließlich zogen auch Wien und Niederösterreich am 2. Mai nach. Damit war der sogenannte „Ost-Lockdown“ beendet, und es galten für alle Bundesländer die bundesweit geltenden Regelungen (mit Ausnahme Vorarlbergs). Vor allem die lange Dauer der Entscheidungsfindung rief Kritik am Föderalismus hervor, der sich nach Ansicht seiner Gegner in Krisen als nicht effizient zeigte. Das Zusammenspiel von Bund und Ländern habe durchaus Sinn, meinte Alexander Purger, selbst grundsätzlich dem Föderalismus gegenüber positiv eingestellt6, aber es müsse krisenfester gemacht werden. „Wenn die Corona-Krise irgendwann vorbei ist, wird man sich diesbezüglich Gedanken machen müssen: über die Entscheidungsmechanismen im Bundesstaat, die sich derzeit ziehen wie ein Strudelteig, über eine klarere Aufgabenverteilung in der Bundesverfassung und über Landeshauptleute, die nicht nur dann stets zur Stelle sind, wenn es etwas Positives zu verkünden gibt, sondern die auch bereit sind, Verantwortung für unpopuläre Maßnahmen zu übernehmen.“7

Österreichweite Öffnung am 19. Mai Mit 19. Mai rief die Bundesregierung das weitgehende Ende der noch bestehenden Corona-Einschränkungen aus. Die Schulen wurden bereits ab 17. Mai mit einem umfangreichen Testprogramm wieder geöffnet. Zentral war für die Öffnungen die sogenannte 3-G-Regel: geimpft, genesen, getestet.8 Kurze Zeit später, bei der Landeshauptleute-Konferenz am 21. Mai, wurde der Druck der Länder auf die Bundesregierung für weitere Öffnungen erhöht. Die Ländervertreter standen ihrerseits unter dem Druck ihrer regionalen Wirtschaft und ihrer Vereine. Daraus wurde allerdings nichts. Angesichts des rasanten Anstiegs der Corona-Infektionszahlen durch die Delta-Variante, insbesondere unter den

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Alexander Purger: Nieder mit dem Zentralismus! Wien 2015. Alexander Purger: Ein sich ziehender Strudelteig namens Bundesstaat. In: SN. 25. 3. 2021. 2. SN. 11. 5. 2021. 3.

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Jungen, sagte die Bundesregierung ihre geplanten Lockerungen ab und schärfte bestehende Regelungen nach. Ab 22. Juli wurde der Zugang zur Nachtgastronomie eingeschränkt. Für die Umsetzung des PCR-Testprogramms waren die Länder verantwortlich, was diese vor große Herausforderungen stellte. Nur in Wien gab es mit „Alles gurgelt“ eine fertige PCRSchiene. In den anderen Ländern war die Testinfrastruktur zum Teil bereits wieder zurückgefahren worden. Man murrte, aber man bemühte sich.9 Sehr unterschiedliche Positionen nahmen die Länder auch bei den Tests in Kindergärten ein; in fünf Ländern wurden Kinder unter sechs Jahren gar nicht getestet. Obwohl die Kindergärten in die Zuständigkeit der Länder fallen, traten mehrere Länder für eine bundesweit einheitliche Lösung ein. Hier wäre wohl eine Abstimmung der Länder auf freiwilliger Basis am Platz gewesen, wofür aber niemand die Initiative ergriff. Kein Wunder, dass sofort wieder Stimmen laut wurden, die die Konzentrierung des Kindergartenwesens beim Bund forderten.10

Das Impfen und die Bundesländer Anfang 2021 hatte eine breite Impfkampagne gegen COVID begonnen. Die Anforderungen an die einzelnen Bundesländer beim Impfprogramm waren unterschiedlich. Daher wurden Konzept und Umsetzung regionalisiert und den Ländern überlassen. Allerdings, es fehlten ausreichend Impfstoffe, klare Zielvorgaben, Impfziele und -strategien für die verschiedenen Impfgruppen. Die unterschiedlichen Strategien bei den Impfstellen und die ständigen Veränderungen der Impfpläne sorgten für ein Impf-Wirrwarr, die öffentliche Diskussion drehte sich um sogenannte „Impfdrängler“.11 Schon im Mai 2021 wurde in der Corona-Kommission auf die geringe Impfbereitschaft in Österreich hingewiesen und eine „zielgruppenspezifische Kommunikationsarbeit“ für Impf-Skeptiker angeregt. Dem wurde weder auf Bundesebene noch in den Ländern wirksam entsprochen.12

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K. 17. 7. 2021. 4/5. SN. 12. 8. 2021. 1 und 3. Die Presse (DP). 13. 3. 2021. 4. K. 21. 11. 2021. 4.

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Der Fünf-Stufen-Plan der Bundesregierung Bereits im Sommer wiesen erste Modellberechnungen für Herbst und Winter 2021 darauf hin, dass mit der vorhandenen geringen Impfquote eine erneute Überlastung des Gesundheitssystems drohe. Die Stadt Wien agierte schon damals vorsichtiger als die übrigen Bundesländer. Die Fehleinschätzung vieler war, dass das Ärgste überstanden sei. Im August warnten Experten mit Nachdruck vor einer vierten Welle. Im Hinblick auf die extrem ansteckende Delta-Variante war der Impffortschritt viel zu gering. Härtere Maßnahmen unterblieben vorerst sowohl in den Ländern als auch seitens des Bundes – nicht zuletzt wegen der oberösterreichischen Landtagswahlen am 26. September. Bei dieser Wahl kandidierte erstmals die impfkritische Partei MFG und erreichte auf Anhieb 6,2 Prozent und drei Sitze im Landtag. In einer Zeit, in der sich die Politik, insbesondere die Bundesregierung, vereint und mit vollen Kräften der Bekämpfung der Pandemie widmen sollte, kam es zu tiefgreifenden innenpolitischen Turbulenzen und Veränderungen in der Regierung. Am 9. Oktober trat Sebastian Kurz völlig überraschend von seinem Amt als Bundeskanzler zurück. Am 11. Oktober wurde der bisherige Außenminister Alexander Schallenberg zum neuen Bundeskanzler bestellt. Alle diese Vorgänge hemmten nicht nur die Aktionsfähigkeit der Bundesregierung, sondern wirkten sich natürlich vor allem auf die von der ÖVP geführten Bundesländer aus. Nach einem Online-Corona-Gipfel mit den Landeshauptleuten verkündeten Bundeskanzler Schallenberg und Gesundheitsminister Mückstein am 22. Oktober einen Corona-Fünf-Stufenplan der Regierung mit Verschärfungen für Ungeimpfte. Seit Mitte September galt ja bereits ein „Drei-Stufenplan“, der sich an der Belegung der Intensivstationen orientierte. Dieser wurde nun um zwei weitere Stufen ergänzt. Der neue Stufenplan endete bei einer Auslastung von über 600 Betten mit einem totalen Lockdown für Ungeimpfte. Darüber hinausgehende, schärfere Maßnahmen konnten die Länder selbst anordnen, wovon einige Länder – etwa Wien, Salzburg, Oberösterreich – Gebrauch machten.13

13 Der Standard. „Lockdown für Ungeimpfte“: Das ist der Fünf-Stufen-Plan der Regierung – Corona & Politik – derStandard.at › Inland

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Vierte Welle Anfang November 2021 befand sich Österreich in der vierten Welle der Pandemie, ausgelöst durch die Delta-Variante. Dazu kam noch, dass niemand – auch nicht die Experten – mit dem fatalen Rückgang des Impfschutzes auf vier bis sechs Monate gerechnet hatte. Einige Länder kündigten Verschärfungen in Eigenregie an, Wien preschte schon am 4. November mit verschärften Regeln vor und setzte die anderen Bundesländer und den Bund unter Druck. Bei einem Krisengipfel mit den Landeshauptleuten am 5. November im Bundeskanzleramt wurden verschärfte Corona-Maßnahmen und eine Beschleunigung des Stufenplans beschlossen, um vor allem die Zügel für die Ungeimpften anzuziehen. Aus der 3G-Regel wurde ab 8. November flächendeckend eine 2G-Regel.14 Zu diesem Zeitpunkt war die Lage in Salzburg und Oberösterreich am dramatischsten. Wegen der kritischen Lage in den Intensivstationen standen in diesen beiden Bundesländern regionale Lockdowns im Raum, ähnlich dem Ost-Lockdown zu Ostern. Die Entscheidung lag bei den beiden Ländern, die für schärfere regionale Maßnahmen zuständig waren. Das Prognosekonsortium der Bundesregierung ließ am 10. November eine Bombe platzen: In zwölf Tagen werde die kritische Grenze von 600 Intensivbetten erreicht sein, dann müsse es zu einem generellen österreichweiten Lockdown für Ungeimpfte kommen.15

Lockdown für Ungeimpfte in Salzburg und Oberösterreich Am 10. November am Abend bat Gesundheitsminister Mückstein die beiden genannten Landeshauptmänner zu einer Krisensitzung. Die Experten drängten auf einen Lockdown zumindest für Ungeimpfte in diesen beiden Bundesländern, in denen am Wochenende zuvor die Impfstraßen geschlossen worden waren. Die beiden Landeshauptleute wehrten sich aber ent-

14 SN. 6. 11. 2021. 2. 15 DP. 13. 11. 2021. 4.

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schieden gegen einen regionalen Lockdown für Ungeimpfte. Das Gespräch endete ergebnislos und wurde am 12. November fortgesetzt. Während Haslauer bei seiner ablehnenden Haltung blieb, machte der oberösterreichische Landeshauptmann Stelzer am Tag darauf eine komplette Kehrtwendung und kündigte neben dem Lockdown für Ungeimpfte ab 15. November noch weitere Verschärfungen an. Der Salzburger Landeshauptmann wollte hingegen den Lockdown für Ungeimpfte weiter verhindern, kündigte aber zumindest regionale Verschärfungen an, wurde allerdings von den aktuellen Ereignissen überrollt. Dies alles lieferte den Kritikern des österreichischen Föderalismus wiederum einiges an Munition. Am 12. November einigten sich schließlich Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein und die beiden Landeshauptmänner doch auf einen Lockdown für Ungeimpfte in Oberösterreich und Salzburg. Das beinahe tägliche Hin und Her war aber noch nicht zu Ende.

Österreichweiter Lockdown für Ungeimpfte Am 14. November 2021 beriet sich die Bundesregierung neuerlich mit den Landeshauptleuten. Davor kündigte Bürgermeister Ludwig für Wien eine weitere Verschärfung der Corona-Maßnahmen an und startete außerdem die Impfung für Kinder zwischen fünf und elf Jahren.16 Bei der Konferenz einigte man sich auf einen österreichweiten Lockdown für Ungeimpfte, der schon am nächsten Tag, dem 15. November, in Kraft trat. Einen Tag danach deutete der Gesundheitsminister Verschärfungen auch für Geimpfte – etwa eine nächtliche Ausgangsbeschränkung – an. Dazu kündigten weitere Bundesländer schärfere Maßnahmen an. Die Verwirrung war komplett. Die Corona-Maßnahmen änderten sich täglich, es herrschte ein „Regel-Dschungel“.17

16 SN. 13. 11. 2021. 2. 17 Mückstein berief sich dabei auf ein „Unabhängiges Statement der Wissenschaft“, das von zahlreichen Experten unterzeichnet und veröffentlicht worden war. SN. 16. 11. 2021. 2. K. 17. 11. 2021. 5.

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Der Bund hatte zwar das Mindestmaß an Corona-Regeln vorgegeben, aber: Einige Länder verschärften sie, andere hatten bereits schärfere, wieder andere warteten ab und akzeptierten nur zähneknirschend die Vorgaben des Bundes. Die Impfstrategie gegen Corona ist Ländersache. Wie nicht anders zu erwarten, gab es deshalb auch für die Auffrischungsimpfung („Booster-Impfung“) unterschiedliche Regelungen. Wien ermöglichte die Auffrischungsimpfungen für alle schon vier Monate nach dem zweiten Stich. Zögernd folgten die Länder Salzburg, Tirol und Vorarlberg. Die Steiermark, das Burgenland und Niederösterreich ließen das „Boostern“ erst nach sechs Monaten zu.18

Allgemeiner Lockdown für alle in Oberösterreich und Salzburg Am 18. November gab Landeshauptmann Haslauer angesichts der dramatischen Situation in den Salzburger Spitälern seinen Widerstand auch gegen einen Lockdown für alle (wie wenige Tage zuvor beim Lockdown für Ungeimpfte) auf. Zuvor hatte schon Landeshauptmann Stelzer den generellen Lockdown für sein Land verkündet. Diese Kehrtwende kam – wie zahlreiche Experten betonten – äußerst spät. Der Lockdown galt ab 22. November bis spätestens 17. Dezember, egal, was bundesweit beschlossen würde. Dann sollte er für die Geimpften wieder enden. Inzwischen aber ging die Diskussion bereits in Richtung eines generellen, österreichweiten Lockdowns, zu dem sich die Landeshauptmänner von Wien, Burgenland und Kärnten bereits bekannten, der aber von Tirol, Niederösterreich und der Steiermark klar abgelehnt wurde. Ein neuerliches Länder-Chaos.

18 K. 19. 11. 2021. 5. Der Standard. 9. 11. 2021. Corona-Maßnahmen: Wie Föderalismus nicht funktioniert – Petra Stuiber – derStandard.at › Diskurs

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Vierter österreichweiter Lockdown für alle vom 22. November bis zum 12. Dezember 2021 Für das Wochenende 19./20. November war eine Landeshauptleute-Konferenz in Tirol am Achensee angesetzt, an der auch Bundeskanzler Schallenberg und Gesundheitsminister Mückstein teilnahmen. In der Nacht vom 19. zum 20. November einigte man sich aufgrund der dramatischen Gesamtsituation schließlich in der „Achenseer Erklärung“ auf einen flächendeckenden Lockdown für alle und die Einführung einer Impfpflicht mit 1. Februar 2022. Der harte Lockdown galt vom 22. November bis 12. Dezember für ganz Österreich (in Oberösterreich bis 17. Dezember). Die Aufhebung des Lockdowns ab 12. Dezember galt aber nur für Geimpfte, für NichtGeimpfte blieb er aufrecht. Am Arbeitsplatz galt die 3G-Regelung. In den Schulen gab es Präsenzunterricht und Betreuung in den Kindergärten. 19 Eltern, die ihre Kinder nicht in die Schulen schicken wollten, konnten diese zu Hause lassen. Gleich am ersten Tag des Lockdowns waren die Schulen aber zu rund drei Viertel gefüllt. Probleme gab es, da in mehreren Bundesländern das Nachverfolgen von Kontakten der Infizierten an Schulen eingestellt worden war.20 Wie dramatisch die Situation an den Krankenhäusern war, zeigte sich im Bundesland Salzburg, wo am 24. November die ersten vier Intensivpatienten mit dem Hubschrauber in das AKH nach Wien geflogen werden mussten. Auch in den Spitälern Oberösterreichs und Niederösterreichs wurde die systemkritische Auslastungsgrenze überschritten.21 Genau in dieser herausfordernden Phase kam es neuerlich zu einer innenpolitischen Erschütterung mit gravierenden Veränderungen: Am 3. Dezember legte Sebastian Kurz alle seine politischen Ämter zurück und schied gänzlich aus der Politik aus. Am 6. Dezember wurde der bisherige Innenminister Karl Nehammer als neuer Bundeskanzler angelobt und übernahm auch die Funktion des ÖVP-Bundesparteiobmannes.

19 DP. 20. .11. 2021. 1 – 3. K. 20. 11. 2021. 3. 20 SN. 23. 11. 2021. 1. K. 23. 11. 2021. 4. 21 SN. Aus Stadt und Land. 24. 11. 2021. 4. DP. 26. 11. 2021. 13.

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Nach einem Treffen mit den Landeshauptleuten und Experten wurden vom neuen Bundeskanzler am 9. Dezember gemeinsam mit dem Vorsitzenden der Landeshauptleute-Konferenz, Platter, und dem Wiener Bürgermeister Ludwig die Modalitäten für das Ende des am 12. Dezember auslaufenden Lockdowns bekannt gegeben. Es ging um Öffnungsschritte „mit Sicherheitsgurt.“ Der Lockdown sollte zwar wie geplant am 12. Dezember enden, aber in unterschiedlichen Schritten in den Bundesländern. Der Bund gab einen Mindeststandard, die „Unterkante“, vor, die die Länder nicht unter- aber sehr wohl überschreiten durften. Es konnte also in den Ländern nur Verschärfungen geben. Die Länder machten von ihren Gestaltungsmöglichkeiten unterschiedlich Gebrauch, es kam zu einem z. T. heftig kritisierten „Fleckerlteppich“.22 Die Frage war allerdings, ob nicht die neue, noch viel ansteckendere Omikron-Variante dies alles wieder infrage stellen würde. Doch das ist bereits ein Thema für das nächste Österreichische Jahrbuch für Politik.

Zusammenfassung 1. Zu Beginn der Pandemie im März 2020 wurde die COVID-Bekämpfung von der Bundesregierung mit harter Hand von Wien aus gesteuert. Der Schutz der Bevölkerung vor dem Virus wurde zur Staatsräson erklärt. 2. Einige Monate später gab es einen Paradigmenwechsel. Der Kampf gegen das Virus wurde im Sinne des österreichischen Föderalismus regionalisiert. Dies führte zu landes- bzw. bezirksweisen Ampelregelungen und kleinräumigen Aus- und Einreisesperren.23 3. Auf Grund des praktischen Föderalismus konnte und wollte der Bund seine Kompetenz nicht ohne Kooperation mit den Ländern voll zum Einsatz bringen. In einem häufigen Pingpong-Spiel wurde versucht, sich die Verantwortung für die unpopulären Maßnahmen gegenseitig zuzuspielen. Die medial verbreitete Behauptung, erst nach dem Abgang von Sebastian Kurz als Bundeskanzler hätten die Länder auch

22 K. 27. 11. 2021. 9. SN. 9. 12. 2021. 3. 23 Manfred Perterer: COVID-Politik wie eine Ziehharmonika. In: SN. 8. 11. 2021. 1.

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in der Pandemie-Bekämpfung das Ruder in die Hand genommen, ist durch nichts zu belegen. Die Länder waren während der gesamten Pandemie voll in die Maßnahmen eingebunden. Die Länder wiederum kritisierten den Bund häufig, weil es zu wenig österreichweit geltende Entscheidungen gab, waren aber nicht in der Lage und willens, sich untereinander besser zu koordinieren, um einheitliche Vorgangsweisen zustande zu bringen. Dies wäre im Rahmen öfter tagender Landeshauptleutekonferenzen, Konferenzen der Landesamtsdirektoren und der Länder-Gesundheitsreferenten durchaus möglich gewesen. Auch dort, wo die Zuständigkeit klar bei den Ländern lag, etwa im Kindergartenwesen, gab es keine Koordination, eher den Versuch der Länder, die Verantwortung dem Bund zuzuschieben und österreichweite Regelungen zu verlangen. Das gleiche galt für die Frage der Impfpflicht für spezielle Berufe im Zuständigkeitsbereich der Länder. Auch da gab es einen unzumutbaren Fleckerlteppich an Regelungen. Der Druck der regionalen Wirtschaft, insbesondere des Tourismus auf die Landespolitik, erschwerte stringente regionale Entscheidungen bezüglich der Pandemie. Zu groß ist die Nähe und Abhängigkeit der regionalen Entscheidungsträger von diesen Bereichen. Auch die Rücksicht auf die Landtagswahl in Oberösterreich hat notwendige und rasche Entscheidungen für Verschärfungen verhindert. Der Föderalismus ist in vielen Bereichen richtig und gut, die Frage ist, ob er bei überregionalen Krisen, Katastrophen und Pandemien die notwendige Entscheidungskapazität aufweist. Nach der weitgehenden Bewältigung der Krise wird es dringend notwendig sein, auf allen Ebenen eine möglichst objektive und sachkundige Evaluierung durch unabhängige Expertenkommissionen vorzunehmen. Nur so ist es möglich, sinnvolle und notwendige Lehren für die Zukunft zu ziehen. Lehren aus der Vergangenheit für den Kampf gegen eine Pandemie gibt es nicht. Bund und Länder müssen daher aus den Erfahrungen der Coronakrise eine grundlegende Strategie zur Pandemie-Bekämpfung ausarbeiten, die bei künftigen ähnlichen Krisen angewendet werden kann.

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10. Am Ende der Pandemie wird der Föderalismus nicht grundsätzlich infrage gestellt, allerdings reformiert werden müssen. Denn es gibt keinerlei Hinweise, dass zentralistisch organisierte Staaten die Pandemie besser bewältigt hätten.

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wolfgang steiner

Überlegungen zur Weiterentwicklung der (Verfassungs-)Rechtslage zum Katastrophenschutz Der Katastrophenschutz (Katastrophenprävention und Katastrophenhilfe) ist – wie andere Bereiche auch – regelmäßig Gegenstand der Diskussion im Sinne einer gesamtstaatlichen Neuregelung der (Verfassungs-)Rechtsgrundlagen. Wenngleich sich die geltenden Regelungen und die föderalistischen und kommunalen Strukturen in der Praxis der Katastrophenfälle der vergangenen Jahre weitgehend bewährt haben, gibt es dabei Zentralisierungstendenzen, denen die Länder seit Jahren die Forderung der Weiterentwicklung des Systems in Richtung einer Stärkung der Landeshaupt­ leute als zentrale Koordinatoren und umfassend zuständige Entscheidungsträger in Krisen und Katastrophenfällen entgegensetzen. Ausgehend von zentralen Kompetenz-(Zuständigkeits-)Fragen und auf der Basis der Erfahrungen der Praxis werden dabei sowohl die organisatorischen Rahmenbedingungen, vor allem auch die Frage der generellen „Ausrufung einer Katastrophe“ als Anknüpfungspunkt für bestimmte Maßnahmen, als auch grundrechtliche Aspekte zu berücksichtigen sein. Die Resilienz einer Rechtsordnung zeigt sich auch darin, dass sie insbesondere in Krisen und Katastrophen liberal-rechtsstaatliche Grundsätze einhält, die demokratische Legitimation notwendiger Beschränkungen sicherstellt, Eingriffe nur auf das unbedingt nötige inhaltliche und zeitliche Ausmaß beschränkt und auch eine Ordnung für den Übergang bzw. die Rückführung in den „Regelbetrieb“ bereithält.

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1. Einleitung Im Bundesstaat wird die Verteilung der Zuständigkeiten in Gesetzgebung und Vollziehung auf den verschiedenen Ebenen fast zwangsläufig immer wieder hinterfragt. Diskussionsbeiträge sind meist mit dem „Standort“ der Person verknüpft, welche die Forderung nach Änderung erhebt. Wenngleich sich gerade auch in den verschiedenen – als solche eingeordnete – „Katastrophenfällen“ der jüngeren Geschichte die regionalen Strukturen, die über die Verhältnisse vor Ort informiert sind, bewährt haben, werden immer wieder Stimmen für eine Zentralisierung, zum Teil unter dem Deckmantel der „Verrechtlichung des gesamtstaatlichen Krisenmanagements“, laut. Im folgenden Beitrag sollen – nach einer kurzen Begriffsübersicht und der Darstellung der verfassungsrechtlichen Ausgangslage sowie einem punktuellen Abriss der jüngeren Geschichte von Reformideen und -initiativen – einige Aspekte einer möglichen Weiterentwicklung zur Diskussion gestellt werden. Auf bestehende unionsrechtliche Bezüge (vgl. nur beispielsweise Titel XXIII AEUV „Katastrophenschutz“) kann hier nicht weiter eingegangen werden.

2. Begriffsübersicht Unter Katastrophen werden von Literatur und Rechtsprechung Ereignisse verstanden, bei denen (über einen Notfall hinaus) Leben oder Gesundheit einer Vielzahl von Menschen, die Umwelt oder bedeutende Sachgüter in ungewöhnlichem („großem“) Ausmaß gefährdet oder geschädigt werden und die Abwehr oder Bekämpfung der Gefahr oder des Schadens einen koordinierten Einsatz der dafür notwendigen personellen oder materiellen Ressourcen erfordert. Der Katastrophenschutz kann in die beiden Bereiche Katastrophenprävention und Katastrophenhilfe untergliedert werden, die jeweils unterschiedliche kompetenzrechtliche und in weiterer Folge materienspezifische Anknüpfungspunkte haben.

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3. (Verfassungs-)Rechtlicher Rahmen Das B-VG enthält kein systematisch geschlossenes „Notstandsrecht“ im Sinne einer umfassenden verfassungsrechtlichen Vorsorge für staatliche Katastrophenlagen, insbesondere ist im B-VG auch kein eigener Kompetenztatbestand „Katastrophenschutz“ enthalten. Zur Regelung des Katastrophenschutzes – als kompetenzrechtlich komplexem Begriff („Querschnittsmaterie“) – kommt im Ergebnis weder dem Bund noch den Ländern eine umfassende oder abschließende Kompetenz zu. Demnach sind derzeit die einzelnen Inhalte im Rahmen der Zuständigkeit für die jeweilige Sachmaterie zu regeln. Der Bund kann also Anordnungen zum Katastrophenschutz auf Gebieten treffen, die der Zuständigkeit des Bundes zugeordnet sind. Für Naturkatastrophen ist etwa der Tatbestand des Art 10 Abs 1 Z 10 B-VG zu nennen („Wasserrecht; Regulierung und Instandhaltung der Gewässer zum Zwecke der unschädlichen Ableitung der Hochfluten …; Wildbachverbauung“). Für „technische“ Katas­tro­phen bieten darüber hinaus insbesondere folgende Kompetenztatbestände Grundlagen für bundesgesetzliche Regelungen: • Art 10 Abs 1 Z 7 B-VG: Waffen-, Munitions- und Sprengmittelwesen • Art 10 Abs 1 Z 8 B-VG: Angelegenheiten des Gewerbes und der Industrie • Art 10 Abs 1 Z 9 B-VG: Verkehrswesen bezüglich der Eisenbahnen und der Luftfahrt sowie der Schifffahrt, …; Kraftfahrwesen; … Bundesstraßen • Art 10 Abs 1 Z 10 B-VG: Bergwesen; Sicherheitsmaßnahmen auf dem Gebiet elektrischer Anlagen und Einrichtungen; Dampfkesselund Kraftmaschinenwesen • Art 10 Abs 1 Z 11 B-VG: Arbeitsrecht, im Besonderen Arbeitnehmerschutz • Art 10 Abs 1 Z 12 B-VG: Gesundheitswesen, insb. Strahlenschutz. So weit nicht Kompetenzen des Bundes bestehen, fällt der Bereich der Katastrophenprävention aufgrund der Generalklausel des Art 15 B-VG in die Zuständigkeit der Länder. Demgegenüber sind für Hilfs- und Rettungsmaßnahmen (auch) im Katastrophenfall generell (soweit die Katastrophenhilfe nicht im Einzelfall

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von einer Bundeskompetenz erfasst ist) die Länder zuständig, denen grundsätzlich die Materien „Rettungswesen“, „Feuerpolizei“ (worunter auch die Gesichtspunkte „Brandbekämpfung“ und „technische Hilfeleistung bei Unglücksfällen“ zu subsumieren sind) und „Katastrophenhilfe“ zukommen. Durchbrochen wird diese grundsätzliche Länderkompetenz im Bereich der „Katastrophenhilfe“ lediglich insoweit, als Art 10 Abs 1 Z 7 B-VG den Bund ermächtigt, Vorschriften über die erste allgemeine Hilfeleistung zu erlassen. Der Bundesgesetzgeber hat von dieser Kompetenz im § 19 Sicherheitspolizeigesetz Gebrauch gemacht und darin eine erste allgemeine Hilfeleistungspflicht für die Sicherheitsbehörden verankert, die ungeachtet der Zuständigkeit einer anderen Behörde zur Abwehr der Gefahr besteht und mit dem Einschreiten der zuständigen Behörden, der Rettung oder der Feuerwehr endet. Weitere im Katastrophenfall möglicherweise relevante Kompetenztatbestände (z. B. hinsichtlich des Bundesheers oder der Krankenanstalten) müssen hier unbeachtet bleiben; Gleiches gilt für Vollzugsfragen in Zusammenhang mit dem den Gemeinden verfassungsrechtlich garantierten eigenen Wirkungsbereich. Ebenfalls nur hingewiesen werden kann in diesem Zusammenhang darauf, dass der (Bundes-)Verfassungsgesetzgeber die gegebene Kompetenzzuordnung im Rahmen von Art 44 B-VG jederzeit ändern kann, wie dies etwa mit dem BVG über die Unterbringung und Aufteilung von hilfs- und schutzbedürftigen Fremden (BGBl I 2015/120) aus Anlass der Flüchtlingsbewegung (zeitlich befristet) gemacht wurde (vgl. in diesem Zusammenhang auch das Oö. Unterbringungs-Sicherstellungsgesetz, LGBl 2015/88 idF LGBl 2016/37).

4. Grundrechtlicher Rahmen Regelungen des Katastrophenschutzes, insbesondere staatliche Maßnahmen zur Katastrophenbekämpfung, stehen regelmäßig in einem Spannungsverhältnis zu verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Dies betrifft etwa die Duldung von Eigentumseingriffen (Betretungsrechte, Heranziehung von Hilfsmitteln), aber auch die Heranziehung von Privaten zu notwendigen Dienstleistungen im Fall von Notständen oder Katastrophen, die das Leben

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oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen (vgl. Art 4 Abs 3 lit c EMRK). Die damit verbundenen Grundrechtseinschränkungen durch den einfachen Gesetzgeber sind – entsprechend der Grundrechtsformel des VfGH – nur zulässig, wenn sie den Wesensgehalt des Grundrechts nicht verletzen und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen. Danach sind Beschränkungen der Grundrechte durch einfaches Gesetz zulässig, wenn sie – durch ein öffentliches Interesse geboten (d. h. das Ziel der Regelung muss im öffentlichen Interesse liegen), – zur Zielerreichung geeignet (d. h. das zur Erreichung des im öffentlichen Interesse gelegenen Ziels eingesetzte Mittel muss tauglich sein), – notwendig und adäquat (d. h. der Einsatz des Mittels muss zur Zielerreichung erforderlich sein und das eingesetzte Mittel muss das „gelindeste“ sein, das das Grundrecht möglichst wenig einschränkt; und zwischen dem öffentlichen Interesse und der durch den Eingriff verkürzten Grundrechtsposition muss ein angemessenes Verhältnis bestehen) und – auch sonst sachlich zu rechtfertigen sind. Eine darüber hinausgehende Suspendierung von Grundrechten ist grundsätzlich nicht vorgesehen. Art 15 EMRK erlaubt zwar – mit gewissen Ausnahmen – „im Falle eines Krieges oder eines anderen öffentlichen Notstandes, der das Leben der Nation bedroht“, ein vorübergehendes Außerkraftsetzen der Konventionsrechte im unbedingt erforderlichen Umfang. Eine allfällige Suspendierung einzelner Grundrechte bleibt in Österreich grundsätzlich dem (Bundes-)Verfassungsgesetzgeber vorbehalten, der dabei allenfalls auch unionsrechtliche, sich aus Staatsverträgen ergebende sowie die für eine Gesamtänderung geltenden Schranken (z. B. im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip) zu beachten hat.

5. Bisherige Ideen und Initiativen Wenngleich sich der gegebene Rechtsrahmen im Wesentlichen bewährt hat, gab es verschiedene Ideen, diesen weiterzuentwickeln, um verschiedenen typischen Problemlagen zu begegnen. Die Initiativen (im Wesentlichen jene seit 2002) können hier nur skizziert werden: • Die Landeshauptleute-Konferenz befasste sich in ihrer Tagung im März 2002 mit der Rolle der Landeshauptleute als zentrale Krisenmanager in Krisen- und Katastrophensituationen, nahm dabei ein Pa-

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pier Oberösterreichs (in dem u. a. diese Rolle der Landeshauptleute formuliert ist) zur Kenntnis und ersuchte den Bund, die darin vorgeschlagenen Änderungen der Bundesverfassung umzusetzen. Dieser Punkt wurde u. a. in einer außerordentlichen Tagung im August 2002 bekräftigt, bei der die Bundesregierung eine Zusage abgab, sich zu bemühen, eine parlamentarische Mehrheit für eine entsprechende bundesverfassungsrechtliche Verankerung zu gewinnen. Der Österreich-Konvent beschäftigte sich (2003–2005) unter dem Stichwort „Verbesserung der Zuständigkeit im Katastrophenschutz“ mit der Zuordnung des Kompetenztatbestands „Katastrophenhilfe“, zu dem verschiedene Varianten (Kompetenz der Länder oder der sog. „3. Säule“) dargelegt wurden. Im Bericht über die Beratungsergebnisse ist dazu festgehalten, dass es die überwiegende Ansicht war, dass den Ländern eine ausdrücklich verankerte Kompetenz im Bereich der „Katastrophenhilfe“, dem Bund hingegen eine Koordinationskompetenz für bestimmte überregionale Lenkungsaufgaben zukommen soll. Im Entwurf der sog. Expertengruppe Staats- und Verwaltungsreform im Bundeskanzleramt (168/ME XXIII. GP – Stand: 11. März 2008) war der Kompetenztatbestand „Katastrophenhilfe“ in einem Art 12 B-VG neuer Prägung (entsprechend der „3. Säule“ mit sog. konkurrierender Gesetzgebung) vorgesehen. Der Katastrophenschutz sollte weiterhin eine Annexmaterie bilden, die der jeweiligen Sachmaterie folgt. Im Art 102 Abs 5 B-VG war eine generelle Zuständigkeit des Landeshauptmannes zur Erlassung der erforderlichen Maßnahmen vorgesehen, soweit dies zur Abwehr eines offenkundigen, nicht wieder gutzumachenden Schadens für die Allgemeinheit oder zur Hilfeleistung nach einem außergewöhnlichen Ereignis notwendig wird. Die Einschränkung auf Angelegenheiten der unmittelbaren Bundesverwaltung sollte entfallen. Darüber hinaus wurde nicht mehr darauf abgestellt, ob die Maßnahmen zu einer Zeit notwendig werden, zu der die obersten Organe der Verwaltung des Bundes wegen höherer Gewalt dazu nicht in der Lage sind; vielmehr sollte der Landeshauptmann verpflichtet sein, unverzüglich das Einvernehmen mit den zuständigen obersten Organen der Verwaltung herzustellen. Darüber hinaus sah der vorgeschlagene Art 102 Abs. 5 B-VG vor, dass bei einem

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länderübergreifenden Katastrophenfall der zuerst einschreitende Landeshauptmann die entsprechenden Maßnahmen zu erlassen hat, bei einem bundesweiten Katastrophenfall der Bundeskanzler. Im Arbeitsprogramm der Bundesregierung 2013–2018 fanden sich unter der Rubrik „Koordination im Katastrophenfall verbessern“ neben dem Ziel der Schaffung klarer Zuständigkeiten im Bereich des staatlichen Krisen- und Katastrophenmanagements die im Entwurf der Expertengruppe enthaltenen Vorschläge zur Änderung des Art 102 Abs 5 B-VG. Entsprechend dieser Ankündigung im Regierungsprogramm setzte das BMI verschiedene punktuelle Initiativen auf technischer Ebene, mit denen sich die Landeshauptleute-Konferenz in ihrer Tagung im Mai 2017 zum Thema Staatliches Krisen- und Katastrophenschutzmanagement (SKKM) befasste. Dabei wurde vom BMI ein SKKMGesetz in Aussicht gestellt, mit dem die Position der Landeshauptleute als zentrale Krisenmanager gestärkt werden sollte. In verschiedenen Schreiben haben die Länder dazu ihre Positionen deponiert und Ländervertreter für weitere Gespräche nominiert. Weitere Beschlüsse der Landeshauptleute-Konferenz (u. a. vom November 2017 und November 2019) bekräftigten die Forderung bzw. Haltung in Richtung der Stärkung der Stellung der Landeshauptleute im Bereich des Krisen- und Katastrophenmanagements. Auch das Regierungsprogramm 2020–2024 enthält unter der Überschrift „Krisen- und Katastrophenschutz“ das Ziel der Entwicklung umfassender rechtlicher Rahmenbedingungen für das staatliche Krisen- und Katastrophenschutzmanagement (unter Beachtung der Bundes- und Landeskompetenzen). Mit Entschließung „betreffend Verrechtlichung des gesamtstaatlichen Krisenmanagements“ vom 14. Oktober 2020 (105/E XXVII. GP) forderte der Nationalrat die Bundesregierung auf, dem Nationalrat ehestmöglich einen Gesetzesvorschlag zu unterbreiten, mit dem das gesamtstaatliche Krisenmanagement auf eine umfassende gesetzliche Grundlage gestellt und institutionalisiert wird, mit dem Ziel der Stärkung und Effizienzsteigerung des staatlichen Krisen- und Katas-

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trophenschutzmanagements. Integraler Bestandteil dessen sollen u. a. sein: o eine klare Definition des Krisenfalles und dessen Ausrufung, o klare Strukturen und Zuständigkeiten unter Beachtung der Bundes- und Länderkompetenzen, o Mitwirkungs-, Protokoll- und Dokumentationspflichten, Informationsflüsse und Abläufe des Krisenmanagements in Normalund in Krisenzeiten o sowie Maßnahmen zur Krisenvorsorge, der Krisenprävention sowie der Krisenbewältigung, die auch vulnerable Gruppen, wie etwa Kinder und Menschen mit Behinderungen, berücksichtigen. • Zuletzt enthielt ein (gemeinsamer) Ministerrats-Vortrag (des BKA, des BMI, des BMKKöDS und des BMLV) vom 26. Oktober 2021 (3/11) die Ankündigung eines Bundes-Krisensicherheitsgesetzes (einschließlich einer Änderung des BundesVerfassungsgesetzes). Der Gesetzentwurf soll (u. a.) insbesondere folgende Punkte vorsehen: o Schaffung einer verfassungsrechtlichen Grundlage zur Krisenvorsorge, o die ummfassende Definition einer Krise im Kompetenzbereich des Bundes und formelle Feststellung einer Krise durch Verordnung der Bundesregierung im Einvernehmen mit dem Hauptausschuss des Nationalrates, o die Einrichtung der Funktion eines Beraters bzw. einer Beraterin der Bundesregierung (Regierungsberater bzw. Regierungsberaterin) für alle gesamtstaatlichen strategischen Belange der umfassenden Landesverteidigung, Krisenvorsorge, Krisenbewältigung und staatlichen Resilienz. Der Ministerialentwurf sollte nach Fertigstellung im Laufe des Novembers 2021 einer sechswöchigen Begutachtung unterzogen werden (im Zeitpunkt der Fertigstellung des Manuskripts dieses Beitrags – Mitte Dezember 2021 – war dieser Entwurf noch nicht veröffentlicht).

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6. Mögliche Weiterentwicklung Auf der Basis der skizzierten Problemlage könnte eine tlw. Neuregelung bzw. Klarstellung der Kompetenzen im Bereich des Katastrophenschutzes folgende (vereinfacht dargestellte) Eckpunkte umfassen: • Die Landeshauptleute werden als Koordinatoren und umfassend zuständige Entscheidungsträger zur Krisen- und Katastrophenbewältigung eingesetzt. • Die Angelegenheiten der Katastrophenprävention (vorbeugender Katastrophenschutz) sind vom jeweiligen Materiengesetzgeber (Bund oder Land) zu regeln. • Die Angelegenheiten der Katastrophenhilfe (Hilfs- und Rettungsmaßnahmen im weitesten Sinn), die schon vom Begriff her auf eine unmittelbare zeitliche Nähe zum Ereignis beschränkt ist, einschließlich der vorbeugenden organisatorischen Maßnahmen, sind von den Ländern zu regeln. • Die Angelegenheiten der längerfristigen Folgenbeseitigung sowie der Überführung in den „Regelbetrieb“ fallen wiederum in die Zuständigkeit des jeweiligen Materiengesetzgebers. Ob darüber hinaus eine Erklärung durch (überprüfbaren) Rechtsakt (Verordnung) einer Region zum Notstandsgebiet oder eines Ereignisses zum Katastrophenfall als Anknüpfungspunkt für bestimmte Maßnahmen notwendig ist („Ausrufung des Krisenfalls“), wäre noch sorgfältig abzuwägen, kann aber wohl empfohlen werden. Eine entsprechende bundesverfassungsrechtliche Bestimmung könnte (z. B. anstelle des geltenden Art 102 Abs 5 als Art 107 B-VG) in etwa wie folgt lauten: „Artikel 107. (1) Soweit dies zur Abwehr eines offenkundigen, nicht wieder gutzumachenden Schadens für die Allgemeinheit oder zur Hilfeleistung nach einem außergewöhnlichen Ereignis erforderlich ist, kann der Landeshauptmann das Landesgebiet oder Teile davon durch Verordnung vorübergehend zum Notstandsgebiet oder ein Ereignis zum Katastrophenfall erklären. Im Notstandsgebiet und für den Katastrophenfall kann der Landeshauptmann im zur Schadensabwehr und zur Hilfeleistung erforderlichen Ausmaß alle Kompetenzen, die nach Verfassungsgesetzen oder einfachen Gesetzen

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des Bundes und der Länder anderen mit Aufgaben der Bundes-, Landesund Gemeindeverwaltung betrauten Organen zustehen, an sich ziehen. Diese Befugnis umfasst auch die Ermächtigung zur Erlassung von Notverordnungen (Art 18 Abs 3 bis 5 sowie Art 97 Abs 3 und 4 B-VG) sowie zur Erteilung von Weisungen an Organe, die im Sinn des Art 20 Abs 1 nicht dem Landeshauptmann nachgeordnet sind. (2) Die Erklärung zum Notstandsgebiet oder Katastrophenfall ist auf höchstens zwölf Tage befristet und unverzüglich aufzuheben, wenn die Voraussetzungen gemäß Abs 1 erster Satz nicht mehr gegeben sind oder der Nationalrat oder der Landtag des betreffenden Landes dies verlangt; damit treten auch die Anordnungen nach Abs 1 außer Kraft. Eine Verlängerung oder nochmalige Erklärung bedarf der Zustimmung des Nationalrats oder des Landtags des betreffenden Landes. (3) Die näheren Bestimmungen können durch Landesgesetz geregelt werden. Für Schäden oder sonstige Ereignisse, die deren örtlichen Wirkungsbereich nicht überschreiten, können durch Landesgesetz auch für den Bezirkshauptmann und den Bürgermeister dem Abs 1 erster und zweiter Satz entsprechende Befugnisse vorgesehen werden.“ Mit einer solchen Regelung wären die Hauptprobleme der derzeit geltenden Rechtslage behoben. Der Landeshauptmann würde ausdrücklich zum zentralen Entscheidungsträger bei Krisen und in Katastrophenfällen, unabhängig von der im „Normalfall“ geltenden Zuständigkeit (u. U. mehrerer verschiedener) anderer Behörden und Organe. Die Form der Verordnung sichert einerseits das nötige Maß an Rechtsstaatlichkeit und Publizität, ermöglicht andererseits aber auch die notwendige Raschheit und Flexibilität. Grundrechtseinschränkungen bedürfen auch in diesem Fall einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage, die – falls nicht vorhanden – auch im Katastrophenfall ein Tätigwerden des Gesetzgebers notwendig machen würde. Mit Abs 3 würde ein besonderer Kompetenztatbestand geschaffen werden, der es dem Landesgesetzgeber ermöglichen würde, nähere Regelungen, auch im Sinn einer – dem Subsidiaritätsprinzip entsprechenden – „abgestuften“ Zuständigkeitskonzentration Bürgermeister – Bezirkshauptmann – Landeshauptmann, zu schaffen.

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Die Erlassung oder der Weiterbestand einer solchen Verordnung des Landeshauptmanns könnte gegebenenfalls auch an die Zustimmung der Bundesregierung gebunden werden, für Nationalrat und Landtag könnten auch deren zuständige (Haupt-)Ausschüsse vorgesehen werden. Will man eine solche Konstruktion mit der Erklärung eines „Notstandsgebiets“ oder Ausrufung eines „Katastrophenfalls“ nicht vorsehen, würde sich allenfalls auch eine Ausweitung auf der Basis der bestehenden Formulierung des Art 102 Abs 5 B-VG anbieten. Die Bestimmung könnte dann (anstelle des geltenden Art 102 Abs 5) in etwa wie folgt lauten: „Artikel 107. Soweit die sofortige Erlassung von Maßnahmen zur Abwehr eines offenkundigen, nicht wieder gutzumachenden Schadens für die Allgemeinheit oder zur Hilfeleistung während oder nach einem außergewöhnlichen Ereignis notwendig wird, hat der Landeshauptmann an der Stelle der zuständigen Organe die erforderlichen Maßnahmen zu treffen.“ Abgerundet werden könnte diese Regelung noch um eine Kompetenzzuordnung des übergeordneten länderübergreifenden Krisen- und Katastrophenmanagements zum Bund sowie allenfalls flankierend um notwendig erachtete organisatorische Bestimmungen (Stichwort „Krisenkabinett“). „Soweit eine Katastrophe über die Grenzen eines Bundeslandes Auswirkungen entfaltet oder grenzüberschreitende Auswirkungen hat, sind die übergeordneten Maßnahmen vom Bundeskanzler im Einvernehmen mit den zuständigen Bundesministern zu treffen.“ Ergänzend dazu sollte auch das Verfahren zur Sicherung der Grundrechtsgewährleistung weiterentwickelt werden. So müsste sichergestellt werden, dass alle staatlichen Maßnahmen (insbesondere auch Verordnungen) jedenfalls auch dann vom VfGH überprüft werden können, wenn die im Zeitpunkt der Entscheidung allenfalls bereits außer Kraft getretene Norm für den Antragsteller keine unmittelbare Wirkung entfaltet (siehe in diesem Sinn bereits die jüngste Rechtsprechung des VfGH nach Individualanträgen zur Überprüfung von COVID-19-Verordnungen). Neben der Feststellung der Rechtswidrigkeit sollte für solche Fälle auch ein Modell einer (über die engen Voraussetzungen des AHG hinausgehenden) finanziellen Entschädi-

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gung für Rechtseingriffe vorgesehen werden. Auch eine Vorabkontrolle der Rechtmäßigkeit, insbesondere von Verordnungen, sollte ergänzend ernsthaft in Erwägung gezogen werden. Dabei wäre u. U. auch eine „Erstkontrolle“ der Verordnungen durch die Landesverwaltungsgerichte mit einer erst nachgängigen Kontrolle durch den VfGH zu überlegen. Für (behauptete) Rechtseingriffe durch individuelle Maßnahmen wäre der Rechtschutz durch ein (allenfalls auch beschleunigtes) Verfahren bei den Landesverwaltungsgerichten sicherzustellen.

7. Resümee Regelungen für Krisen- und Katastrophenfälle bilden den Härtetest einer Rechtsordnung. Aus kompetenzrechtlicher Sicht sind dabei zunächst die jeweiligen Materiengesetze gefragt, zumal die Regelungen und deren Vollziehung meist ein spezifisches Fach-Know-how erfordern. Katastrophenschutz- oder -hilfegesetze mit ergänzenden Organisationsbestimmungen und subsidiäre Eingriffsklauseln runden das Gesamtsystem ab. Das damit mögliche Sonderregime für Krisen- und Katastrophenfälle muss einerseits auf diese Ausnahmefälle beschränkt werden und andererseits höchsten demokratischen und rechtsstaatlichen Ansprüchen und Überprüfungsmodalitäten unterliegen.

Literatur Abbrederis, Pandemiebekämpfung aus Sicht der Landesverwaltung. Ein Erfahrungsbericht aus der Praxis, JRP 2021, 145 Biwald/Bröthaler/Getzner/Mitterer (Hg.), Krisenfester Finanzausgleich. Herausforderungen und Optionen zur Krisenbewältigung (2021). Bußjäger, Katastrophenprävention und Katastrophenbekämpfung im Bundesstaat (2003). Bußjäger (Hg.), Katastrophenschutz als Verantwortung im Bundesstaat (2007). Bußjäger, Interkommunale und kommunale Kooperationsmodelle im Risiko- und Katastrophenmangement; Rechtliche Gestaltungsspielräume, in: Kanonier/Rudolf-Miklau (Hg.), Regionale Risiko Governace: Recht, Politik und Praxis (2018), 271. Bußjäger/Egger, Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Grundlagen staatlicher Krisenkommunikation, ÖJZ 2021/8. Fuchs, Katastrophenhilfe, in: Pürgy (Hg.), Das Recht der Länder II/1 (2012) 20 (241). Hauer, Ruhe, Ordnung, Sicherheit (2000). Hörtenhuber, Katastrophenschutz als Problem der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung, ZfV 2007, 154. Holzinger, Die Notstandskompetenz des Landeshauptmannes im Sinne der B-VG-Novelle 1984 (1988). Mayer, Lassing – Eine juristische Nachlese, ecolex 1999, 201. Müllner, Rechtliche Rahmenbedingungen der Katastrophenbekämpfung (2016). Müllner, Katastrophenhilfeeinsatz: Wer trägt die Kosten? RFG 2017/03, 140.

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Reindl-Krauskopf/Schulev-Steindl u. a., Resilienz des Rechts in Krisenzeiten, Studie im Auftrag des BMI (2016), https://bmi. gv.at/bmi_documents/2025.pdf (dl 22.12.2021). Steiner, Legistische Parameter für ein resilientes Recht – Versuch in einer Themenlandkarte, in: Kai von Lewinski (Hg.), Resilienz des Rechts (2016) 99 (Zweitabdruck in Irresberger/Steiner/Uebe [Red], Linzer Legistik-Gespräche 2015 [2016] 67). Steiner, Verständlichkeit und Qualitätskontrolle bei der Gesetzgebung in Krisensituationen in Österreich, ZERL Sonderausgabe 2021, https://zerl.uni-koeln.de/rubriken/sonderausgabe-2021/steiner-2021-verstaendlichkeit-gesetzgebung-krisensituationen-oesterreich (dl 22.12.2021).

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europa

UM POLITIK ZU VERSTEHEN, MUSS MAN DIE HINTERGRÜNDE KENNEN. www.tt.com

othmar karas

Der EU-Billionen-Kraftakt für Grün, Sozial & Digital Die EU stellt mitten in der Coronakrise historische Weichen

Hinter dem sperrigen Titel „Mehrjähriger Finanzrahmen 2021–2027“ verbirgt sich eine historische Weichenstellung in Europa. Mit 2.018 Mrd. Euro hat die EU nicht nur das bisher größte EU-Investitionspaket aller Zeiten auf den Weg gebracht, auch bei Einnahmen und Ausgaben wurden total neue Wege beschritten. Ein Teil des Geldes wird erstmals gemeinsam im großen Umfang auf dem Kapitalmarkt aufge­ nommen. Die Vergabe vieler neuer EU-Programme ist strikt an die Einhaltung von drei Hauptzielen gebunden: dem grünen, digitalen und sozialen Wandel. Gleichzei­ tig wird die Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit gestärkt.

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Das Jahr 2022 begann wie das alte geendet hat. Das Coronavirus scheint alles, auch die europäische Politik in seinen Bann zu ziehen. Schlechte Nachrichten drohten einmal mehr unseren Alltag zu dominieren. Europa hat in den ersten Monaten des Corona-Schocks kein gutes Bild abgegeben. Erst wurden in einigen Ländern in Panik die Grenzen wieder hochgezogen. Zudem gab es da und dort ein Schaulaufen für die nationale Bühne, wer „aus Brüssel“ am schnellsten den meisten Impfstoff nach Hause bringt. Der eine und andere Kommentator formulierte sogar sehr spitz: Wo bleibt eigentlich die EU, wenn man sie einmal wirklich dringend braucht? Diese Unkenrufe sind längst verhallt. Europa hat nach dem ersten Pandemie-Schock rasch wieder in die Spur gefunden und viele richtige Lehren aus der Krise gezogen. Wir haben gelernt, dass es nicht die richtige Antwort ist, nationale Grenzen wieder hochzuziehen, sondern noch mehr zu kooperieren. Durch die von der EU massiv unterstützten Investitionen und Anstrengungen in der Forschung wurde in Rekordzeit für alle EuropäerInnen ausreichend Impfstoff gegen Corona produziert, in mehr als 150 Länder exportiert und 4.600 Mio. Impfdosen für alle Mitgliedstaaten gesichert1. Durch den Einsatz des EU-Parlaments wurden Klarheit, Transparenz und Kontrolle bei der Impfstoffbeschaffung sichergestellt2. Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) wurde weiter gestärkt3 und übernahm eine wichtige Rolle bei der Impfstoffprüfung. Als nachhaltigste Antwort auf die größte Gesundheits- und Sozialkrise in der Geschichte der EU wurde das größte EU-weite Investitionsprogramm aller Zeiten in der Höhe von 2.018 Mrd. Euro (zu jeweiligen Preisen) beschlossen. Schwerpunkt im neuen Programm „Next Generation EU“ werden Investitionen in den Klimaschutz

1 KOM (2022). Sichere Corona-Impfstoffe für die Menschen in Europa. Website der KOM (Jän. 2022). https://ec.europa.eu/info/live-work-travel-eu/coronavirus-response/safe-covid-19-vaccines-europeans_de (abgerufen am 05.01.2022). 2 EP (2021). COVID-19-Impfstoffe: Europaabgeordnete fordern mehr Klarheit und Transparenz. Pressemitteilung. Website des EP. (Jän. 2021). https://www.europarl.europa.eu/news/de/pressroom/20210111IPR95308/covid-19-impfstoffe-europaabgeordnete-fordern-mehr-klarheit-undtransparenz (abgerufen am 05.01.2022). 3 Rat (2021). Vorläufige Einigung zwischen Rat und EP über Stärkung der EMA. Website des Rates (Okt. 2021). https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2021/10/28/ provisional-agreement-between-council-and-european-parliament-to-reinforce-european-medicines-agency/ (abgerufen am 05.01.2022).

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und die Digitalisierung sein. Zudem werden wir damit auch unsere Sozialund Gesundheitssysteme unabhängiger, krisenfester, vernetzter handelnd machen. Hoffentlich! Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass wir uns auf ein so großes EUBudget einigen würden? Wer hätte noch vor einem Jahr gewettet, dass wir uns auf die Rechtsstaatlichkeit als Voraussetzung für die Vergabe europäischer Mittel einigen würden? Wer hätte vor einem Jahr gesagt, dass wir bei den Klimazielen noch stärker aufs Tempo drücken und beschließen werden, die Treibhausgasemissionen in zehn Jahren um 55 % zu senken? Wer hätte daran gedacht, dass wir gemeinsam bis 2050 die EU klimaneutral machen wollen? Europa, von Kritikern oft und gerne totgesagt, gibt mitten in einer Jahrhundert-Pandemie ein politisches Lebenszeichen, das seinesgleichen sucht. Denn das Virus kennt keine nationalen Grenzen, und unser gemeinsamer Kampf gegen das Virus darf auch keine nationalen Grenzen kennen. Die Formel, „in der Not ist sich jeder selbst der Nächste“ hat sich daher einmal mehr sehr rasch als Sackgasse erwiesen. Europa hat die Coronakrise als klaren Auftrag verstanden, die Zusammenarbeit zu intensivieren. Robert Schuman, einer der Gründerväter der EU, hat schon 1950 gewusst: „Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung. Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen.“ Die Antworten der EU auf Corona und die Herausforderungen der Zukunft sowie das größte Investitionsbudget aller Zeiten sind sehr konkrete Taten der Solidarität, der weiteren Stärkung der Gemeinschaft.

Das EU-Budget: Europas Politik und Zukunft, gegossen in Zahlen Kaum ein Thema wird in Europa so heiß diskutiert wie das EU-Budget. Der EU-Langzeithaushalt – auch bekannt als „Mehrjähriger Finanzrahmen“ (MFR) – ist Europas Politik und Zukunft, gegossen in Zahlen. Leider wird das Thema teils von der völlig falschen Seite angepackt. Anstatt über die Fakten, Investitionen, Projekte zu informieren und für den Mehrwert der Gemeinschaft zu werben, wird den BürgerInnen Sand in die Augen gestreut. Mangelnde Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit gesellen sich zu Nationalismus und Populismus. Das führt zu einer verzerrten Wahrnehmung,

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Missverständnissen und Verunsicherung in der Bevölkerung und gefährdet obendrein die Handlungsfähigkeit und Zukunft einer Gemeinschaft, deren Teil wir sind. Das verzerrte Bild vieler Menschen vom EU-Budget wird durch Umfragen der EU-Kommission belegt. Laut den Eurobarometern aus 20184 und 20195 nennen 30 % der europäischen BürgerInnen die Verwaltung als den Bereich, wo die meisten EU-Mittel hinfließen. In Österreich sind es gar 37 %, in Deutschland 43 % und in Italien 29 %. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: 95 % der EU-Mittel fließen zurück in die Länder, Regionen, Gemeinden, Universitäten und werden in Projekte für eine klimaneutrale Wirtschaft, nachhaltiges Wachstum, Digitalisierung, sozialen Zusammenhalt und Wettbewerbsfähigkeit investiert. Nur fünf Prozent sind Verwaltungsausgaben, wovon ein Fünftel auf den Betrieb des EU-Parlaments mit derzeit 705 Abgeordneten und 24 Amtssprachen fällt6.

 

4 KOM (2018). Eurobarometer 90.3: Europeans and the EU budget (Nov. 2018). https:// europa.eu/eurobarometer/surveys/detail/2215 (abgerufen: 21.12.2021). 5 KOM (2019). Eurobarometer 92.3: EU budget (Nov. 2019). https://europa.eu/eurobarometer/surveys/detail/2255 (abgerufen: 21.12.2021). 6 EP (2021). Der Haushalt: So schöpft das EP seine jährlichen Geldmittel optimal aus. Website des EP. https://www.europarl.europa.eu/about-parliament/de/organisation-and-rules/parliaments-budget (abgerufen: 21.12.2021).

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Dazu sei auch angemerkt: Bei den EU-Institutionen arbeiten etwa 55.000 Menschen, die für rund 450 Mio. BürgerInnen zuständig sind. Damit kommt ungefähr ein EU-Bediensteter auf 8.000 EinwohnerInnen. Zum Vergleich: Die Stadt Wien beschäftigt rund 60.000 Bedienstete, wodurch ein/e Bedienstete/r auf 31 EinwohnerInnen kommt; in Paris einer auf 45. So gesehen steht die EU bescheiden da. Das oft zitierte Beispiel des Wanderzirkus des EU-Parlaments zwischen Brüssel und Straßburg macht 0,06 % des EU-Budgets aus. Das Europaparlament hat sich selbst bereits mehrmals für einen einzigen Parlamentssitz ausgesprochen. Fakt ist, dass der geltende EU-Vertrag drei Sitze vorsieht: In Straßburg finden die meisten Plenartagungen statt, in Brüssel tagen die Ausschüsse und in Luxemburg ist das Generalsekretariat. Wollte man das ändern, bräuchte es eine Vertragsänderung und Einstimmigkeit unter allen Mitgliedstaaten. Eine hypothetische Frage, weil Frankreich strikt dagegen ist, den historisch begründeten Sitz in Straßburg aufzugeben, oder Deutschland nicht bereit wäre – aus guten Gründen – die EZB abziehen zu lassen. Die EU ist kein Zentralstaat, die EU sind wir alle. Die irreführende „Nettozahlerdebatte“ verstärkt die verzerrte Wahrnehmung, da sie den Mehrwert der europäischen Zusammenarbeit ausblendet. Es stimmt einfach nicht, dass die einen nur geben und die anderen nur nehmen. So funktioniert keine Gemeinschaft, die als Ganzes mehr ist, als die Summe ihrer Teile. In Wahrheit ist der Mitgliedsbeitrag keine Ausgabe, sondern eine Investition in unsere Zukunft. Gemeinsam sind wir stärker als allein, und die Zusammenarbeit spart uns Geld. Ein Euro aus dem EU-Budget bewirkt mehrere Euros an Folgeinvestitionen. Zum Beispiel hat das EUForschungsprogramm Horizon Europa gezeigt, dass ein investierter Euro in Forschung und Entwicklung binnen 25 Jahren eine Rendite von elf Euro bringen kann7. In Wirklichkeit gibt es kein Land, das mehr ins EU-Budget einzahlt, als es Mehrwert aus dem EU-Haushalt lukriert. Oder was sind uns Friede, Grundfreiheiten, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Wohlstand, Sicherheit, eine gemeinsame Währung, der Binnenmarkt etc. wert?

7 Commitment and Coherence, High Level Expert Group (2015). https://op.europa.eu/en/ publication-detail/-/publication/7e74df87-ebb0-11e8-b690-01aa75ed71a1/language-en/formatPDF/source-80689114 (abgerufen: 21.12.2021).

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Nehmen wir Österreich als Beispiel: Laut EU-Kommissionsberechnungen bringt uns allein der Binnenmarkt einen Mehrwert von mehr als 35 Mrd. Euro pro Jahr8. Unser Nettomitgliedsbeitrag liegt im Vergleich dazu bei knapp 1,3 Mrd. Euro. Nach 25 Jahren EU-Mitgliedschaft lag Österreichs Wohlstand um 16 % und unsere Beschäftigung um 13 % höher, als sie es ohne Mitgliedschaft wären. Unsere Exporte in andere EU-Staaten haben sich mehr als verdreifacht. Und pro Jahr entstehen hierzulande 18.500 Arbeitsplätze dank des Binnenmarkts9. Unsere gemeinsame Währung, der Euro, ist stärker und härter als der Schilling je war. Und das sind nur einige wirtschaftliche und soziale Vorteile. Hinzukommen Reisefreiheit, Bildungsprogramme, Forschungsaktivitäten, der Wegfall der Roaming-Gebühren, die offeneren Grenzen, die eCard und vieles, vieles mehr. Um einen Beitrag zur Schließung der Lücke zwischen gefühlter und tatsächlicher Realität zu leisten, startete die Generaldirektion für Kommunikation des Europaparlaments unter meiner Zuständigkeit als Vizepräsident 2019 die Informationsoffensive „Ich zähle auf Europa“10. Damit werden umfassende Fakten zum Mehrwert europäischer Projekte online bereitgestellt. Zudem initiierte das EU-Parlament Ende 2021 eine „One-StopShop“-Website zum Aufbauplan „Next Generation EU“. Um maximale Transparenz zu gewährleisten, sollen auf einer einzigen Website alle Informationen zur Umsetzung der Zukunftsprojekte übersichtlich zusammengefasst und laufend aktualisiert werden. Auf dem Online-Portal „Europa in meiner Region“ werden EU-Projekte greifbar dargestellt11. Mittels mehre-

8 KOM (2019). EU budget for the future. Technical briefing on EU’s next long-term budget (5 November 2019) https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/about_the_european_commission/eu_budget/2019-11-05_eu_budget_technical_briefing_-_with_covers.pdf (abgerufen: 20.12.2021). 9 Die Vertretung der KOM in Österreich (2020). Brücken bauen im Herzen Europas. Vica Druch (Dezember 2020) https://ec.europa.eu/austria/sites/default/files/ek_vertretung_2020_­ bruecken_bauen_im_herzen_europas_02.pdf (abgerufen: 20.12.2021). 10 EP (2021). Der langfristige EU-Haushalt. https://www.europarl.europa.eu/news/de/headlines/priorities/mfr (abgerufen: 21.12.2021). 11 ESIF (2021). Europa in meiner Region. Website der KOM (2021). https://ec.europa.eu/regional_policy/en/policy/communication/euinmyregion/ (abgerufen: 05.01.2022).

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rer Newsletter beantworte auch ich in diesem Zusammenhang häufig gestellte Fragen.12, 13, 14, 15

Der Weg zum größten EU-Investitionspaket aller Zeiten Das EU-Langzeitbudget 2021–2027 ist in mehrfacher Hinsicht historisch. Zum einen wurde es in herausfordernden Zeiten verhandelt: Ende 2019 brach die Corona-Pandemie aus und Anfang 2020 trat das Vereinigte Königreich aus der EU aus. Zum anderen ist der aktuelle MFR aufgrund seiner gemeinsamen Errungenschaften geschichtsträchtig: Das größte EUInvestitionspaket der Geschichte umfasst eine in diesem Umfang noch nie dagewesene Anleihebegebung, einschließlich der bislang weltweit größten Emission grüner Anleihen, die erstmalige Verknüpfung der EU-Mittelvergabe an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit und den Fahrplan zur Einführung neuer eigener Einnahmen der EU (sogenannter „EU-Eigenmittel“). Doch wo Licht ist, ist auch Schatten: Bis heute hinterlassen die irreführende „Nettozahlerdebatte“, die Kürzungen auf Kosten gemeinsamer Zukunftsprogramme und das EU-Budget-Veto von Polen und Ungarn einen bitteren Beigeschmack. Für das Verständnis des aktuellen MFR lohnt es sich, zunächst einen Blick zurück auf dessen Zustandekommen zu werfen. Denn der EU-Langzeithaushalt ist ein komplexes wie faszinierendes Thema, das am besten am konkreten Verhandlungsverlauf veranschaulicht wird. Der Grundstein für den sechsten MFR wurde bereits im Mai 2018 gelegt. Der Kommissionsvorschlag beantwortete langjährige Forderungen des EU-Parlaments: eine Stärkung der Budgetfinanzierung über neue eigene Einnahmen der EU und einen neuen Mechanismus, um die Mittel-

12 Karas, Othmar (2020). Newsletter: EU-Budget für 2021–2027 (20. Feb. 2020). Website von Othmar Karas. https://othmar-karas.at/eu-budget-nl/ (abgerufen: 20.12.2021). 13 Karas, Othmar (2020). Newsletter: Aufbauprogramm #NextGenerationEU. (31. Mai 2020). Website von Othmar Karas. https://othmar-karas.at/nextgenerationeu-nl/ 14 Karas, Othmar (2020). Newsletter Nr. 213: Q&A zu Next Generation EU. (6. Juli 2020). Website von Othmar Karas. https://othmar-karas.at/nextgenerationeu-qa-nl/ (abgerufen: 20.12.2021). 15 Karas, Othmar (2020). Newsletter: Aktuelles zum EU-Haushalt 2021–2027 (1. Dez. 2020). Website von Othmar Karas. https://othmar-karas.at/newsletter-aktuelles-zum-eu-haushalt-2021-2027/ (abgerufen: 20.12.2021).

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vergabe an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit zu knüpfen. Das Verhandlungsmandat des Europaparlaments ließ nicht lange auf sich warten und lag bereits im November 201816 vor. Das EU-Parlament forderte unter anderem mehr Mittel für Zukunftsinvestitionen, eine Aufrechterhaltung der Gelder für die Kohäsions- und Landwirtschaftspolitik, eine Erweiterung der neuen eigenen Einnahmen der EU und eine Verschärfung des Rechtsstaatsmechanismus17. Einiges davon sollte sich durchsetzen. Das ursprüngliche Ziel, noch vor den Europawahlen 2019 eine politische Einigung zu erzielen, wurde aufgrund der langwierigen Verhandlungen im Rat der Mitgliedstaaten nicht erreicht. Unter dem österreichischen Ratsvorsitz wurde Ende 2018 zwar der Entwurf einer „Positionierung“ veröffentlicht, eine konkrete Bezifferung der Mittelzuweisungen wurde aber erst Ende 2019 von der finnischen Ratspräsidentschaft vorgelegt18. Während die Kommission einen MFR im Umfang von 1.134 Mrd. Euro, d. h. in der Höhe von 1,11 % des Bruttonationaleinkommens (BNE) der EU27 vorsah, forderte das Parlament 1,3 % und der Rat 1,07 %. Im Vergleich zum Kommissionsvorschlag kürzte die „finnische Verhandlungsbox“ die Mittel für Erasmus+ um 20 %, die Mittel für die Digitalisierung um 15 % und die Mittel für den Verteidigungsfonds um die Hälfte. Das EU-Parlament machte daher klar, dass dieser Vorschlag weit unter seinen Erwartungen liege19 und nicht einmal ausreichen würde, „die eigene Strategische Agenda des Rates zu finanzieren“20. Für eine weitere Zuspitzung sorgte das ambitionierte

16 Entschließung des EP vom 14. Nov. 2018 zum Mehrjährigen Finanzrahmen 2021–2027: Standpunkt des Parlaments im Hinblick auf eine Einigung (2018/0166R(APP)). https://eur-lex.europa.eu/ legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:52018IP0449&from=DE (abgerufen: 20.12.2021). 17 Legislative Entschließung des EP vom 4. April 2019 zur Verordnung über den Schutz des Haushalts der Union im Falle von generellen Mängeln in Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip (2018/0136(COD)). https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-8-2019-0349_ DE.html (abgerufen: 20.12.2021). 18 MFR 2021–2027: Verhandlungsbox mit Zahlen. 14518/1/19 (5. Dez. 2019). https://data. consilium.europa.eu/doc/document/ST-14518-2019-REV-1/de/pdf (abgerufen: 22.12.2021). 19 EP (2019). MFF: Commission’s plan “impossible to implement” with Finnish proposal. Pressemitteilung. Website des EP (10. Dez. 2019). https://www.europarl.europa.eu/news/de/pressroom/20191202IPR67826/mff-commission-s-plan-impossible-to-implement-with-finnish-proposal (abgerufen: 20.12.2021). 20 EP (2019). President Sassoli urges Council to agree on goal of climate neutrality by 2050. President’s speech at the European Council. Website des EP (12. Dez. 2019). https://www.europarl.europa.eu/the-president/en/newsroom/president-sassoli-urges-council-to-agree-on-goal-ofclimate-neutrality-by-2050 (abgerufen: 06.01.2022).

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Arbeitsprogramm der neuen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sowie der Anstoß für die Konferenz zur Zukunft Europas. Allein auf 30 Mrd. Euro bezifferte das Parlament den zusätzlichen Finanzierungsbedarf der Forderungen von der Leyens nach einer Verdreifachung (statt Verdopplung) von Erasmus+, dem neuen Fonds für einen gerechten Übergang im Zuge des „Green Deal“ sowie der neuen EU-Garantie gegen Kinderarmut. Es zeichnete sich also eine Pattsituation ab: Wie kann die Lücke zwischen den Erwartungen an die Zukunft und der Realität geschlossen werden, wenn die Mitgliedstaaten ihre Beiträge trotz der Faktenlage nicht an die Zukunftsherausforderungen anpassen können oder wollen? Wie kann die Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit der EU gesichert werden? Um einen Ausweg aufzuzeigen, brachte ich im November 2019 in einem Schreiben an Ursula von der Leyen eine MFR-Finanzierung mittels gemeinsamer Zukunftsanleihen ins Spiel21. Wenige Monate später, im April 2020, forderte das EU-Parlament ein umfangreiches Aufbaupaket als Antwort auf die Corona-Pandemie, das unter anderem „durch den Unionshaushalt garantierte Konjunkturbonds“ finanziert werden sollte22. Corona sorgte zweifelsohne für ein neues Verhandlungsmomentum. Ende Mai 2020 legte die EU-Kommission einen Vorschlag vor23, um den MFR im Lichte der Krise mit dem neuen Aufbauplan „Next Generation EU“ in Höhe von 750 Mrd. Euro massiv aufzustocken. Die EU-Kommission sollte dazu ermächtigt werden, erstmals gemeinsame Anleihen in dieser Höhe am Kapitalmarkt aufzunehmen – besichert durch das EU-Budget. 500 Mrd. Euro sollten in Form von nichtrückzahlbaren Zuschüssen und 250 Mrd. Euro in Form von Krediten investiert werden. Die Rückzahlung sollte durch die neuen EU-Eigenmittel erfolgen. Einen wichtigen Teilbe-

21 Karas, Othmar (2020). Pattsituation bei EU-Budget überwinden. Website von Othmar Karas (24. Jän. 2020). https://othmar-karas.at/pattsituation-uberwinden/ (abgerufen: 04.01.2022). 22 Entschließung des EP vom 17. April 2020 zu abgestimmten Maßnahmen der EU zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie und ihrer Folgen (2020/2616(RSP)). https://www.europarl.europa. eu/doceo/document/TA-9-2020-0054_DE.html (abgerufen: 06.01.2022). 23 KOM (2020). MFR-Rechtsvorschriften. Website der KOM (Mai 2020) https://ec.europa.eu/ info/publications/mff-legislation_de (abgerufen: 01.01.2022).

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reich des Aufbauplans, das Technische Hilfsinstrument (TSI), durfte ich als Chefverhandler des Europaparlaments betreuen24. Wenig später kam es auf Ratsseite zu einem Durchbruch. Die EUStaats- und Regierungschefs einigten sich nach ihrem zweitlängsten Verhandlungsmarathon der Geschichte, von 17. bis 21. Juli 2020, auf die Grundzüge zum MFR und Aufbauplan25. Doch der Teufel steckte wie stets im Detail: Die gemeinsame Anleihebegebung wurde zwar gebilligt, aber der Anteil an nicht rückzahlbaren Zuschüssen von 500 auf 390 Mrd. Euro reduziert und der Anteil an Krediten auf 360 Mrd. Euro erhöht. Diese Kürzung ging vor allem auf Kosten gemeinsamer Zukunftsprogramme für Forschung, Klima, Digitales und Gesundheit, von denen alle Mitgliedstaaten profitieren. Das Investitionsprogramm InvestEU blieb knapp 40 % unter seinen MFRVorläuferprogrammen. Ein neu geplantes Solvenzhilfeinstrument wurde ganz gestrichen. EU4Health wurde von 9,4 auf 1,7 Mrd. Euro gekürzt. Und der Fonds für einen gerechten Übergang sollte 17,5 statt 37,5 Mrd. Euro erhalten. Warum wurde den SteuerzahlerInnen durch diese Kürzungen „nichts erspart“? Weil die EU-Länder für die Aufnahme der Zuschussmittel am Kapitalmarkt nicht „zahlen“, sondern anteilsmäßig haften. Die Anleihen werden durch das EU-Budget garantiert und die Rückzahlung soll nicht über die nationalen Haushalte erfolgen, sondern über die neuen EU-Eigenmittel. Mit großer Mehrheit beschloss das Europaparlament, das EU-Gipfel­ ergebnis in dieser Form abzulehnen. Zum einen bedauerte es die K ­ ürzung der Zuschüsse, auf die es aufgrund der für den Aufbauplan gewählten Rechts­g rundlage26 keinen Einfluss hatte. Zum anderen bekräftigte es, seinen Segen nicht ohne einen verbindlichen Rückzahlungsfahrplan mittels neuer eigener Einnahmen zu geben. Es folgten harte Verhandlungen zwi-

24 Karas, Othmar (2020). Karas zum EU-Budget: „Zeit der Ausreden ist vorbei“. Website von Othmar Karas (1. Okt. 2020). https://www.eppgroup.eu/de/wie-wir-es-umsetzen/mit-eulaendern/osterreich/nachrichten/karas-zum-eu-budget-zeit-der-ausreden-ist-vorbei (abgerufen: 05.01.2022). 25 ER (2020). Schlussfolgerungen zur außerordentlichen Tagung des ER (17., 18., 19., 20. und 21. Juli 2020). EUCO 10/20. https://www.consilium.europa.eu/media/45136/210720-eucofinal-conclusions-de.pdf (abgerufen: 05.01.2022). 26 Flexibilitätsklausel in Artikel 122 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union.

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schen Parlament, Rat und Kommission, die schließlich am 10. November 2020 vorläufig abgeschlossen werden konnten. Leider wurde der zwischen Parlament und Rat ausverhandelte Kompromiss durch ein EU-Budgetveto in Geiselhaft genommen: Nachdem der Rat die Einigung mit dem Parlament per qualifizierter Mehrheit beschlossen hatte, legten Ungarn und Polen am 19. November ein Veto gegen das Gesamtpaket ein. Erst durch die Aufnahme einer (rechtlich unverbindlichen) Zusatzerklärung zum Rechtsstaatsmechanismus in die Schlussfolgerungen der EU-Staats- und Regierungschefs vom 11. Dezember konnte die Blockade gelöst werden27.

Verhandlungsergebnis und Erfolge Mit der Zustimmung des EU-Parlaments am 17. Dezember 2020 wurden der neue MFR und „Next Generation EU“ Wirklichkeit – mit insgesamt 1.824 Mrd. Euro (zu Preisen von 2018) und 2.018 Mrd. Euro (zu jeweiligen Preisen), wie erwähnt, das größte EU-Investitionspaket aller Zeiten. Auch wenn der Rotstift des Rates deutliche Spuren hinterlassen hatte, konnten wichtige Verbesserungen durchgesetzt werden: Das Parlament sicherte zusätzlich 16 Mrd. Euro für EU-Zukunftsprogramme wie Horizont Europa, EU4Health und Erasmus+ zu, um Forschung zu fördern, die Gesundheitssysteme zu stärken und EuropäerInnen mehr Bildungschancen zu eröffnen. Es setzte den rechtlich verbindlichen Fahrplan zur Einführung neuer EU-Eigenmittel wie Abgaben für Digitalkonzerne und große Umweltverschmutzer durch, damit die Kosten des Wiederaufbaus nicht zulasten der SteuerzahlerInnen gehen (erste Vorschläge dazu machte die Kommission Ende 202128). Es wurden klare Kriterien der Mittelvergabe festgelegt (z. B. müssen mind. 37 % der nationalen Projekte den Klimaschutz und mind. 20 % die Digitalisierung unterstützen). Und das EU-Parlament erreichte eine verstärkte Einbindung bei der Umsetzung und Kontrolle der Aufbau-

27 ER (2020). Schlussfolgerungen zur Tagung des ER (10. und 11. Dezember 2020). EUCO 22/20. https://www.consilium.europa.eu/media/47346/1011-12-20-euco-conclusions-de.pdf (abgerufen: 20.12.2021). 28 KOM (2021). Die Kommission schlägt EU-Eigenmittel der nächsten Generation vor. Website der KOM (Dezember 2021). https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ ip_21_7025 (abgerufen: 01.01.2022).

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pläne sowie einen Rechtsstaatmechanismus, bei dem bereits gehandelt werden kann, wenn Missbrauch droht, und Strafen schneller verhängt werden.

 

„Next Generation EU“ umsetzen, Lehren ziehen und Zukunft gestalten Seit dem Beschluss des neuen EU-Langzeitbudgets ist viel passiert. 2021 stand die Ausarbeitung und Kontrolle der nationalen Aufbaupläne sowie die erste erfolgreiche Begebung „grüner Anleihen“ im Mittelpunkt29. Mit Ausnahme der Niederlande reichten alle EU-Staaten ihre Aufbaupläne ein. Bis Jahresende wurden 22 Pläne angenommen und rund 54 Mrd. Euro an Vorfinanzierungen an 18 Länder ausbezahlt. Das Europaparlament brachte sich in dieser Phase über Entschließungen30, Plenardebatten und vier öffentliche Anhörungen ein31. Dabei unterstrich das Parlament die Bedeutung der Ein-

29 KOM (2021): NextGenerationEU: Europäische Kommission gibt erfolgreich erste grüne Anleihe zur Finanzierung einer nachhaltigen Erholung aus. Website der KOM (12. Okt. 2021). https:// ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_21_5207 (abgerufen: 05.01.2022). 30 EP (2021). Das Auskunftsrecht des Parlaments mit Blick auf die laufende Prüfung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne. Website des EP (20. Mai 2021). https://www.europarl.europa. eu/doceo/document/TA-9-2021-0257_DE.pdf (abgerufen: 05.01.2022). 31 EP (2021). Recovery and Resilience Dialogue with the European Commission. Website des EP (9. Dez. 2021). https://www.europarl.europa.eu/thinktank/de/document/IPOL_ IDA(2021)689473 (abgerufen: 05.01.2022).

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bindung der BürgerInnen, Sozialpartner und Zivilgesellschaft und forderte auch auf meine Initiative verstärkte Investitionen in langfristige Strukturreformen, grenzüberschreitende Projekte und Maßnahmen für Weiterbildung, Umschulung und Zukunftskompetenzen32. Denn die Wiederaufbau-Milliarden müssen nicht nur in Zukunftsprojekte investiert werden, sondern auch in die Menschen. Für Österreich wurde der „Next Generation EU“-Turbo im Oktober 2021 gezündet. Das erste frische EU-Geld in der Höhe von 450 Mrd. Euro ist ein wichtiger Anstoß für die 27 Reform- und 32 Investitionsvorhaben, die Österreich in seinem Aufbauplan skizziert hat. Insgesamt soll Österreich rund 4,5 Mrd. Euro aus dem Aufbauplan erhalten, wovon 46 % für Klimaschutz und 41 % für Digitalisierung aufgewendet werden sollen. Allein in die umweltfreundliche Mobilität sollen mehr als 850 Mio. Euro zweckgebunden fließen. Ohne „Next Generation EU“ gäbe es diese „UmweltMilliarde“ für den emissionsfreien Verkehr nicht und wohl keine so umfassenden Pläne für den Bahnnetzausbau, emissionsfreie Öffis und das neue Klimaticket. Vollkommen klar ist: Die EU-Aufbaumilliarden müssen den BürgerInnen zugutekommen und dürfen nur bei strikter Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit und demokratischer Grundsätze fließen. Sie dürfen weder nationale Budgetlöcher stopfen, rückwärtsgewandt ausgegeben werden, noch in dunklen Löchern oder in der Vetternwirtschaft versickern. Kein Aufbauplan darf genehmigt werden, der den gemeinsam vereinbarten Zielen nicht entspricht. Bei vier Aufbauplänen gab es 2021 kein grünes Licht: In Bulgarien und Schweden kam es aufgrund von Regierungswechseln zu Verzögerungen; bei den Plänen Polens und Ungarns wegen der Bedenken hinsichtlich Rechtstaatlichkeit, Unabhängigkeit der Justiz, Medienfreiheit und Antikorruption. Sowohl die polnische als auch die ungarische Regierung haben konkrete Reformempfehlungen der EU erhalten, um diese Missstände zu beheben. Doch leider stellen sie sich der eigenen Bevölkerung noch immer in den Weg.

32 Karas, Othmar (2021). Karas will „Ausbildungs-Scheck“ aus dem Wiederaufbaufonds. Website von Othmar Karas (09. Juni 2021) https://othmar-karas.at/karas-will-ausbildungs-scheckaus-dem-wiederaufbaufonds/ (abgerufen: 06.01.2022).

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Im Umgang mit Orbán, Kaczyński und Co. braucht es nicht nur Dia­ log, sondern auch entschlossenes Handeln. Eine überwältigende Mehrheit – acht von zehn EU-BürgerInnen – wollen EU-Gelder an die Achtung der Rechtsstaatlichkeit binden, und der neue Rechtstaatsmechanismus ist dafür scharfes Instrument. Doch während der Europäische Gerichtshof (EuGH) 2021 fast im Wochentakt Gesetze in Ungarn und Polen für unvereinbar mit EU-Recht erklärte und empfindliche Geldbußen verhängte, kam es (bis Redaktionsschluss dieses Beitrags am 10. Jänner 2022) zu keiner Aktivierung des Rechtstaatsmechanismus durch die EU-Kommission. Das Argument: Eine dafür erforderliche, wasserdichte Begründung benötige Zeit, und ein EuGH-Urteil zu den Klagen der beiden Länder gegen den Mechanismus solle zunächst abgewartet werden. Das Europaparlament gab sich damit nicht zufrieden. Im Oktober 2021 klagte es die EU-Kommission vor dem EuGH wegen Untätigkeit33, und gemeinsam mit Abgeordneten der vier größten Fraktionen stellte ich eine dringliche Anfrage zur raschen Anwendung des Mechanismus34. Als Fortschritt konnte zu Jahresende die Versendung informeller Mahnschreiben der Kommission an Polen und Ungarn verbucht werden35. Auch in Zukunft lebt der Erfolg des Aufbauplans „Next Generation EU“ und des EU-Langzeitbudgets 2021–2027 von der konsequenten Umsetzung des gemeinsam Beschlossenen. Neben der lückenlosen Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit, braucht es mutige Zukunftsprojekte und die Annahme der neuen eigenen Einnahmen der EU. Davon wird abhängen, ob wir das gemeinsam gesteckte Ziel erreichen und der jungen Generation, den Kindern und ihren Enkeln eine bessere, grünere, eine digitalere, eine demokratischere, eine sozialere EU und hoffentlich auch Welt zu hinterlassen.

33 EP (2021). Parliament files lawsuit against Commission over rule of law mechanism. Website des EP (29. Oktober 2021) https://the-president.europarl.europa.eu/en/newsroom/parliamentfiles-lawsuit-against-commission-over-rule-of-law-mechanism (abgerufen: 06.01.2022). 34 Karas, Othmar (2021): Anfrage mit Vorrang zur Anwendung der neuen Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union. https://www.europarl.europa.eu/doceo/ document/P-9-2021-004585_DE.html (abgerufen: 06.01.2022). 35 Politico (2021). Brussels takes step toward rule-of-law penalty process with Poland, Hungary. Website von Politico (19. Nov. 2021). https://www.politico.eu/article/eu-rule-of-law-penaltyprocess-poland-hungary/. (abgerufen: a06.01.2022).

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Welche Lehren lassen sich schon jetzt für das EU-Budget ziehen? Auf Basis der obigen Ausführungen kristallisieren sich vor allem drei Handlungsempfehlungen heraus: Erstens muss der irreführenden „Nettozahlerdebatte“ in Zukunft verstärkt entgegenwirkt werden. Eine Versachlichung der Debatte ist dringend notwendig. Zweitens muss das Einstimmigkeitsprinzip im Rat der Mitgliedstaaten fallen. Das EU-Budgetveto von Ungarn und Polen hat erneut gezeigt, dass das Einstimmigkeitserfordernis nur den Nationalisten, Populisten und Erpressern hilft und Europa schadet. Auch das bisherige Scheitern der EU-Digitalsteuer und die uneinheitliche EUAußenpolitik sind darauf zurückzuführen. Drittens gilt es, die demokratische Legitimierung, parlamentarische Transparenz und Kontrolle vollständig sicherzustellen. Das Europaparlament muss endlich ein eigenes Initiativrecht erhalten und die Rechtsgrundlage im EU-Vertrag36, die für den Aufbauplan „Next Generation EU“ (und zuvor für eine Haushaltsgarantie des Euro-Rettungsschirmes „ESM“ und das EU-Kurzarbeitshilfeinstrument „SURE“) herangezogen wurde, sollte (zumindest) um ein Zustimmungsrecht des EU-Parlaments ergänzt werden. Die Debatte um die Zukunft Europas ist die Gelegenheit, um gemeinsam mit den BürgerInnen diese Lehren entschlossen zu ziehen und die EU besser, handlungsfähiger und demokratischer zu machen.

EU-Budget-Turbo als Chance für BürgerInnen und Wirtschaft nutzen Wir können aber dank des historischen Durchbruchs beim MFR 2021– 2027 aber auf einem neuen und breiteren Fundament agieren. Das EULangzeitbudget bietet uns nicht nur bei der Coronakrise, sondern vor allem bei der weltweiten Klimakrise die Chance, massiv und nachhaltig gegenzusteuern. Der Klimawandel ist mit vielen lokalen Katastrophen auch in Europa schneller angekommen als vielfach erwartet und befürchtet. Wir alle spüren: Wir sind ökologisch mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Mein persönliches Hauptanliegen ist es, die Ursachen dieser globalen He-

36 Flexibilitätsklausel in Artikel 122 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union.

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rausforderung zu bekämpfen und diese zugleich als Chance der Wirtschaft zu nutzen. Es ist die vornehmste Aufgabe der Politik, hier und jetzt Rahmenbedingungen für die richtige Balance im Spannungsfeld zwischen Wirtschaft, Umwelt und sozialem Zusammenhalt zu sorgen. Dass wir die Klimaziele erreichen müssen, steht außer Streit. Dass nur dadurch auch unsere wirtschaftliche Zukunft und der soziale Zusammenhalt gesichert werden, sollte eigentlich auch außer Streit stehen. Alle drei Ziele sind nur in einer vernünftigen Zusammenschau zu erreichen. Das ist de facto nicht mehr und nicht weniger als gelebte ökosoziale Marktwirtschaft. Wir dürfen diese nicht mehr nur in Sonntagsreden würdigen. Wir müssen sie zu unser aller Vorteil nun konsequent mit Leben erfüllen. Man kann und darf in diesen Veränderungsprozessen aber nicht mit einem Strich über alles drüberfahren, sondern muss regionale Ausgangslagen, Produktionsmöglichkeiten, Ausbildungssituation, Ressourcen, Energieversorgung und vieles mehr berücksichtigen. So kann man auch ein breites Bewusstsein dafür schaffen und die Menschen bei den notwendigen Veränderungen mitnehmen. Denn eines ist sonnenklar: Wir werden in vielen Bereichen etwas ändern müssen, um auf diesem Planeten weiterhin gut leben zu können. Viele österreichische und europäische Firmen sind auch in Sachen Umwelttechnologie in vielen Bereichen „hidden champions“. Mit dem „Green Deal“ der EU und den EU-Investitionsprogrammen zur Wiederbelebung der Wirtschaft nach der Coronakrise wird erstmals europaweit ein einmaliger Turbo für nachhaltige und grüne Investitionen gezündet. Es war schon bisher der Ehrgeiz vieler Firmen in Österreich und Europa, bei Umwelttechnologien globaler Marktführer zu sein. Jetzt ist fix: Wir haben ernsthaft Weltmeister-Potenzial. Wenn wir die Programme der EU richtig und gut nützen, ist es realistischer denn je, dieses Ziel auch zu erreichen: Österreich und Europa als Ganzes können und sollen Weltmarktführer beim Transfer vom fossilen ins CO2-freie Zeitalter werden. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass uns das gelingen kann, wenn wir etwas vom europäischen Geist mit in unseren politischen Alltag nehmen. Denn dieser hat die politische Kraftanstrengung für das größte EUInvestitionsbudget aller Zeiten erst möglich gemacht. Viele, die erstmals als BesucherInnen ins Europäische Parlament kommen, wundern sich: Da wird in den Plenardebatten zur Sache geredet. Wer anderer Meinung ist, sagt das

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sehr klar. Aber niemand wird beschimpft. Parteipolitischer Hickhack war mir auch persönlich immer schon fremd. Denn gegenseitige Blockaden und Hickhack bedeuten Stillstand. Nur das Miteinander bringt uns politisch weiter. Das ist das tägliche Brot meiner Arbeit im Europaparlament. Das ist mein Credo in der Politik in und für Europa, in und für Österreich. Noch sind wir nicht dort. Aber wir haben 2021 wichtige Schritte in die richtige Richtung gesetzt. Europa verschreibt sich drei großen neuen Zielen: Grün. Digital. Sozial.

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Herausforderungen im ­Verfassungsbereich Regelung der Beihilfe zum Suizid, ­Abschaffung des Amtsgeheimnisses Dieser Beitrag erörtert zwei Vorhaben, die im Jahr 2021 behandelt wurden. Einer­ seits die neue Regelung des assistierten Suizids, die aufgrund einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs aus dem Dezember 2020 notwendig geworden ist und mit Anfang 2022 in Kraft getreten ist. Begleitend wurde der Ausbau der Hos­ piz- und Palliativversorgung beschlossen. Andererseits wird die im Regierungspro­ gramm 2020–2024 enthaltene Abschaffung des Amtsgeheimnisses diskutiert. Das verfassungsrechtlich verankerte Amtsgeheimnis soll abgeschafft und ein neues Recht auf Information eingeführt werden. Zudem soll eine Pflicht, gewisse Informationen proaktiv zu veröffentlichen, etabliert werden. Im Februar 2021 wurde ein entspre­ chender Begutachtungsentwurf präsentiert.

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Ganz abgesehen von COVID-19 und der immer noch nicht beendeten Pandemie hat das Jahr 2021 die Politik erneut vor viele Herausforderungen gestellt. Zwei davon möchte ich in diesem Beitrag herausgreifen und beleuchten: die Regelung des assistierten Suizids, die mit 1. 1. 2022 in Kraft getreten ist, und die Abschaffung des Amtsgeheimnisses, die noch nicht beschlossen wurde.

1. Regelung der Suizidassistenz Im Dezember 2020 entschied der Verfassungsgerichtshof, dass das Verbot der Mitwirkung am Selbstmord in §  78 StGB1 teilweise verfassungswidrig sei2 und daher mit Ende des Jahres 2021 außer Kraft treten würde. Dies war insofern überraschend, als der Verfassungsgerichtshof im Jahr 2016 noch dargelegt hatte, dass es im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers liege, ein generelles Verbot der Mitwirkung am Selbstmord zu regeln.3 In der Entscheidung G 139/2019 vom 11. Dezember 2020 sah der Verfassungsgerichtshof einen Verstoß gegen das – von ihm in dieser Form erstmals explizit festgestellte – Recht auf freie Selbstbestimmung, das wiederum aus dem Recht auf Privatleben, dem Recht auf Leben und dem Gleichheitsgrundsatz abgeleitet wurde. Dem Verfassungsgerichtshof zufolge beinhaltet dieses Recht auf freie Selbstbestimmung neben dem Recht auf Gestaltung des Lebens auch das Recht auf ein „menschenwürdiges Sterben“. Damit verbunden ist auch das Recht eines Suizidwilligen, bei seinem Tod die Hilfe eines dazu bereiten Dritten anzunehmen.4 In der Entscheidung hielt der Verfassungsgerichtshof zudem fest, dass der Gesetzgeber tätig werden müsse, um Missbrauchsgefahr zu vermeiden und sicherzustellen, dass die Entscheidung, sterben zu wollen, auf einem dauerhaften Willen und einem aufgeklärten und informierten Entschluss beruhe. Der Gesetzgeber müsse Maßnahmen vorsehen, damit die betroffene Person die Entscheidung frei, ohne den Einfluss anderer fassen könne.

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§ 78 StGB, BGBl 60/1974 idF BGBl I 201/2021. VfGH G 139/2019 – 71. Vgl. VfSlg. 20.057/2016. VfGH G 139/2019 – 71, Rz 74.

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Das Außerkrafttreten des Satzteils „oder ihm dazu Hilfe leistet“ in § 78 StGB wurde aus diesem Grund mit 31. 12. 2021 festgesetzt, womit nur ein Jahr zur Verfügung stand, um diese insbesondere gesellschaftspolitisch heikle Frage zu diskutieren und eine entsprechende Regelung zu schaffen. Bei einem bloßen Außerkrafttreten der als verfassungswidrig festgestellten Wortfolge wäre ab Anfang 2022 jede Form der Beihilfe zum Suizid ohne Schranken rechtlich zulässig gewesen. Nicht aufgehoben wurde die Strafbarkeit des zweiten Falls der Mitwirkung am Selbstmord in § 78 StGB5, die Verleitung zur Selbsttötung sowie die Bestimmung zur Tötung auf Verlangen nach § 77 StGB. Schon lange vor dem Erkenntnis des VfGH im Dezember 2020 wurde das Thema Suizidassistenz bzw. Beihilfe zum Suizid ebenso breit wie kontrovers diskutiert. Hier ist insbesondere die parlamentarische Enquete „Würde am Ende des Lebens“ im Jahr 2015 hervorzuheben,6 deren Ergebnisse und Ansätze nichts an Aktualität verloren hatten, wenngleich die Frage der Abschaffung des Verbots der Sterbehilfe nun mit einem Mal beantwortet war. Daher veränderte sich die Diskussion hin zu mannigfaltigen und sehr konkreten Fragestellungen. Die Kernfrage war stets, wie Suizidassistenz so reguliert werden kann, dass einerseits der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs hinsichtlich des Rechts auf ein selbstbestimmtes Sterben entsprochen und anderseits Missbrauch verhindert werden kann. Um eine Lösung zu finden, habe ich in meiner Funktion als Verfassungsministerin bereits im Dezember 2020 erste Gespräche mit betroffenen Institutionen und Interessenvertretern geführt. Justizministerin Alma Zadić, die für die legistische Umsetzung hauptverantwortlich war, lud im April 2021 zu einem breit aufgestellten Dialogforum, das in hybrider Form abgehalten wurde und sicherstellen sollte, dass sich viele direkt in den Diskussionsprozess einbrachten.7 Auf Basis des Berichts des Dialogforums begannen im Spätsommer schließlich intensive Verhandlungen über einen vom Justizministerium vorgelegten Entwurf.

5 § 78 StGB, BGBl 60/1974 idF BGBl I 201/2021. 6 Sieh dazu https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXV/A-HA/A-HA_00002_00344/ index.shtml. 7 Abrufbar unter https://www.bmj.gv.at/themen/Dialogforum-Sterbehilfe.html.

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Aus Sicht der ÖVP war es in den Verhandlungen vorrangiges Ziel, eine präventive und restriktive Lösung zu finden. Insbesondere musste auch aus verfassungsrechtlicher Sicht und in Entsprechung der Entscheidung des VfGH sichergestellt werden, dass nur jenen Hilfe geleistet werden kann, die einen ernsthaften, dauerhaften und freien Sterbewillen haben. Zudem sollte durch Aufklärung, Therapiemöglichkeiten und den Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung der Leidensdruck der Betroffenen reduziert werden. Oberste Aufgabe und Ziel des Staates ist es weiterhin, Suizide zu verhindern. a) Eckpunkte des Sterbeverfügungsgesetzes Am 23. Oktober 2021 wurden der Begutachtungsentwurf zum Bundesgesetz über die Errichtung von Sterbeverfügungen (Sterbeverfügungsgesetz) sowie die Änderung des Suchmittelgesetzes und des Strafgesetzbuches präsentiert. Die Begutachtungsfrist belief sich auf nur drei Wochen, was verständlicherweise kritisiert wurde. Auch ich hätte mir eine längere Frist gewünscht. Es befriedigt nur bedingt, dass die kurze Frist durch die breite Einbindung der Zivilgesellschaft im Rahmen des Dialogforums zumindest etwas kompensiert werden konnte. Das Sterbeverfügungsgesetz wurde am 22. Dezember 2021 im Bundesrat beschlossen und damit gerade rechtzeitig, um ein Inkrafttreten mit 1. Jänner 2022 zu ermöglichen.8 Mit dem Gesetz wurde ein Prozess aufgesetzt, an dessen Ende nach Erfüllung aller Voraussetzungen die suizidwillige Person ein Rezept für ein tödliches Präparat ausgestellt bekommt. Neben dem Vorliegen der Volljährigkeit und der Entscheidungsfähigkeit muss die suizidwillige Person an einer „unheilbaren, zum Tod führenden Krankheit“9 oder „einer schweren, dauerhaften Krankheit mit anhaltenden Symptomen […], deren Folgen die betroffene Person in ihrer gesamten Lebensführung dauerhaft beeinträchtigen“10, leiden. Diese Beschränkung wurde bereits als zu eng kritisiert. Diesbezüglich möchte ich darauf hinweisen, dass der Verfassungsgerichtshof selbst seine Argumentation aus dem medizinischen Kontext der

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BGBl I 242/2021. § 6 Abs 3 Z 1 Sterbeverfügungsgesetz (StVfG). § 6 Abs 3 Z 2 StVfG.

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Patientenverfügung, der Einwilligung in die Unterlassung der Heilbehandlung und palliativmedizinische Behandlung ableitet. Hervorzuheben ist, dass es in diesen Fällen um Personen am Ende ihres Lebens – und nicht um mitunter auch gesunde, suizidwillige Personen – geht. Eine weitere Voraussetzung sieht das Gesetz in Ableitung der Entscheidung des VfGH darin, dass der Entschluss zu sterben frei und selbstbestimmt, ohne Zwang und Beeinflussung von Dritten gefasst werden muss. Diese freie Entscheidung setzt auch eine entsprechende Information voraus: Das Gesetz sieht eine Aufklärung durch zwei Ärztinnen bzw. Ärzte vor, die festhalten müssen, dass die Person entscheidungsfähig ist und den Sterbeentschluss selbstbestimmt geäußert hat.11 Eine/r der beiden Ärzt/innen muss zudem über eine palliativmedizinische Ausbildung verfügen, um auch über palliativmedizinische Möglichkeiten aufklären zu können. Ergeben sich Hinweise darauf, dass eine psychische Erkrankung Grund für den Sterbewunsch sein könnte, so ist dies zusätzlich durch einen Psychiater oder eine Psychiaterin abzuklären. Die Aufklärung muss unter anderem Behandlungsund Handlungsalternativen, einen Hinweis auf Angebote für Psychotherapie und Suizidprävention sowie allfällige weitere Beratungsangebote umfassen. Sind die Voraussetzungen erfüllt, so kann die suizidwillige Person nach einer „Abkühlungsphase“ von drei Monaten (in der terminalen Phase einer tödlichen Krankheit von zwei Wochen) bei einem Notar oder der Patientenvertretung eine Sterbeverfügung errichten lassen.12 Mit dieser Sterbeverfügung kann die sterbewillige Person in der Apotheke das tödliche Präparat beziehen, um sich damit zu einem von ihr selbst bestimmten Zeitpunkt das Leben zu nehmen. Eine Mitwirkung und Hilfeleistung an diesem Akt kann dabei nur freiwillig erfolgen. Keiner, der daran mitwirkt, weder Einzelpersonen noch Institutionen, darf aufgrund der Hilfeleistung oder der Verweigerung der Mitwirkung benachteiligt werden. Dies ist ganz essenziell, um nicht nur suizidwillige Personen vor Druck zu schützen, sondern auch jene, die um Mithilfe bei einem Suizid gebeten werden.

11 12

§ 7 StVfG. § 8 StVfG.

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Grenzen setzt das Gesetz hinsichtlich der Geschäftemacherei mit dem Suizid, indem jede Form der Werbung für die Hilfeleistung zum Suizid untersagt ist. Für das Anbieten oder Durchführen der Hilfeleistung darf man sich zudem keinen wirtschaftlichen Vorteil versprechen lassen oder annehmen. Strafrechtlich sanktioniert bleibt wie bisher die Tötung auf Verlangen sowie das Verleiten dazu, sich selbst zu töten. Die Hilfe beim Suizid ist darüber hinaus strafbar, wenn sie einer Person geleistet wird, die minderjährig ist, wenn sie aus einem verwerflichen Beweggrund geleistet wird oder wenn sie bei einer Person geleistet wird, die nicht an einer unheilbaren, zum Tod führenden Krankheit oder einer schweren, dauerhaften Krankheit mit anhaltenden Symptomen, deren Folgen die Person in ihrer gesamten Lebensführung dauerhaft beeinträchtigen, leidet.13 Zudem muss die Person ärztlich aufgeklärt worden sein. Auch wenn manchen diese Strafbestimmung zu wenig streng ist, weil so nicht jede Form der Beihilfe zum Suizid außerhalb der restriktiven Bestimmungen des Sterbeverfügungsgesetzes strafbar ist, ist sichergestellt, dass die suizidwillige Person durch zwei Ärzte aufgeklärt worden sein muss. Der vom Sterbeverfügungsgesetz vorgezeichnete Weg führt zudem zu Rechtssicherheit für alle Beteiligten. b) Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung Oberste Aufgabe des Staates bleibt es, Suizide zu verhindern. Dies leitet sich neben der moralischen Verpflichtung auch aus Art. 2 der EMRK, dem Recht auf Leben, ab. Dies soll einerseits durch den Prozess gelingen, in dem durch Information und Aufklärung hoffentlich in vielen Fällen Alternativen und der Weg zu einer besseren Behandlung aufgezeigt werden. Anderseits soll diese Zielsetzung durch den Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung und die Absicherung ihrer Finanzierung erreicht werden. Die gesetzliche Grundlage wird aktuell im Parlament verhandelt.14 Dies entspricht im Übrigen auch den Forderungen der parlamentarischen Enquete „Würde am Ende des Lebens“15 und der einstimmig verabschiede-

13 § 78 StGB, BGBl 60/1974 idF BGBl I 242/2021. 14 Hospiz- und Palliativfondsgesetz – HosPalFG (151/ME), 1290 BlgNR XXVII. GP. 15 Abrufbar unter https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXV/A-HA/A-HA_00002_ 00344/index.shtml.

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ten Entschließung des Nationalrats vom Dezember 2020.16 Viele, in diesem für die Gesellschaft so wichtigen Bereich engagierte Menschen, allen voran Waltraud Klasnic, Präsidentin der Dachverbandes Hospiz Österreich, haben diesen Schritt seit Jahren vorbereitet. Ziel ist der flächendeckende Auf- und Ausbau sowie die Sicherung des laufenden Betriebes des Angebotes der Hospiz- und Palliativversorgung. Vorgesehen ist dafür eine Drittelfinanzierung durch Bund, Länder und Sozialversicherungsträger. Der Bund leistet hier Zweckzuschüsse in der Höhe der vom jeweiligen Bundesland budgetierten Leistungen. Die Dotierung des Fonds wird schrittweise ausgebaut, beginnend mit dem Jahr 2022 mit 21 Millionen, 2023 mit 36 Millionen; im Jahr 2024 sollen schließlich 51 Millionen Euro für die Kofinanzierung zur Verfügung stehen. Damit wird es für Personen am Ende ihres Lebens endlich Erleichterungen und einen besseren Zugang zu Palliativ- und Hospizversorgung geben und insbesondere im mobilen Bereich das Angebot ausgebaut werden.

2. Abschaffung des Amtsgeheimnisses und Einführung eines Rechts auf Information Das Regierungsprogramm 2020–2024 „Verantwortung für Österreich“ enthält einen eigenen Abschnitt „Kontroll- und Transparenzpaket Informationsfreiheit“, der die Einigung auf die Abschaffung des Amtsgeheimnisses sowie die Schaffung eines einklagbaren Rechts auf Informationsfreiheit in Stichworten enthält. Die Amtsverschwiegenheit ist seit der B-VG-Novelle 1925, also bereits seit der Ersten Republik, verfassungsrechtlich verankert. Die Diskussion über ihre Zeitgemäßheit besteht auch schon seit längerem. Bereits 1987 wurde die Geheimhaltungspflicht in Art 20 Abs 3 B-VG beschränkt und eine Auskunftspflicht in Abs 4 eingeführt. Die Diskussion ging allerdings weiter, und 2014 folgte mit Einbringung einer Regierungsvorlage durch die damalige Koalition aus SPÖ und ÖVP

16 Entschließung betreffend Sicherstellung der Finanzierung der Hospiz- und Palliativversorgung, im Besonderen für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, 131/E XXVII. GP.

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ein Vorstoß zur Abschaffung des Amtsgeheimnisses.17 Der Entwurf wurde allerdings nie beschlossen. Dieser lange Prozess der Abschaffung der Amtsverschwiegenheit soll nun entsprechend dem Regierungsprogramm ein Ende finden. Am 22. Februar 2021 wurde daher nach intensiven Verhandlungen ein Begutachtungsentwurf mit einer Frist von acht Wochen versandt.18 In diesem Entwurf wird vorgeschlagen, dass Art. 20 Abs. 3 und 4 BVG entfallen und an ihre Stelle ein Recht auf Informationsfreiheit treten soll. Ein weiterer wesentlicher Bestandteil des Entwurfs ist die proaktive Pflicht zur Information: Informationen von allgemeinem Interesse sind ehestmöglich proaktiv zu veröffentlichen. Neben der Regelung im Verfassungsrang sollen im „Bundesgesetz über den Zugang zu Informationen (Informationsfreiheitsgesetz – IFG)“ die nähere Ausgestaltung dieser Rechte sowie besondere Verfahrensbestimmungen geregelt werden. Der 100. Geburtstag unserer Verfassung war aus meiner Sicht ein guter Anlass, um das B-VG in dieser Hinsicht auf den Stand unserer Zeit zu bringen. Die Auskunftsrechte wurden in den letzten Jahren bereits ergänzt, und auch die Judikatur von Verwaltungsgerichtshof und Verfassungsgerichtshof hat mit Blick auf die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in den letzten Jahren bereits mehrfach wesentliche Entwicklungen festgehalten:19 So ist etwa kein besonderes rechtliches Interesse an der Auskunftserteilung erforderlich.20 Bestehen berechtigte Gründe, die gesamte Auskunft zu verweigern, so ist die Auskunft trotzdem so weit wie möglich zu erteilen.21 Ebenso wurde entschieden, dass es zweckmäßig sein kann, den Zugang zu Informationen, nicht nur die Auskunft darüber, zu gewähren.22 Dies kann geboten sein, wenn der Zugang zu Informationen für die Aus-

17 Bundesverfassungsgesetz, mit dem das Bundes-Verfassungsgesetz geändert wird (Abschaffung der Amtsverschwiegenheit und Schaffung einer Informationsverpflichtung), 395 BlgNR XXV. GP. 18 Bundesgesetz, mit dem das Bundes-Verfassungsgesetz, das Rechnungshofgesetz 1948 und das Verfassungsgerichtshofgesetz 1953 geändert und ein Informationsfreiheitsgesetz erlassen werden, 95 XXVI. GP. 19 Maßgeblich etwa EGMR [GK] 8.11.2016, Magyar Helsinki Bizottság, 1830/11. 20 VwGH 29. Mai 2018, Ra 2017/03/0083 (Magistrat Wien, Wr. Auskunftspflichtgesetz). 21 VwGH 24. Mai 2018, Ra 2017/07/0026 (UBA-GmbH, Auskunftspflichtgesetz Bund). 22 VwGH 29. Mai 2018, Ra 2017/03/0083 (Magistrat Wien, Wr. Auskunftspflichtgesetz).

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übung der Meinungsfreiheit notwendig ist. Das ist insbesondere relevant, wenn der Informationswerber „public watchdog“ ist und die Informationsgewährung daher besonders im öffentlichen Interesse liegt, etwa bei Journalisten. Diese Judikatur der Höchstgerichte zeigt das veränderte Bild von Bürgerinnen und Bürgern, die ein Recht auf Information haben. Auch wenn die österreichische Rechtsordnung Auskunftsrechte kennt und die Rechtslage entsprechend der genannten Judikatur auszulegen ist, ist es an der Zeit, dass der Staat sich auch zu diesem neuen Verhältnis von Bürger und Staat und dem seit 1925 erheblich gestiegenen Informationsbedürfnis bekennt. Dies kann freilich nicht bedeuten, dass die Öffentlichkeit Zugang zu jeglicher Information bekommen kann. Dementsprechend listet der Entwurf zur Abschaffung des Amtsgeheimnisses auch Geheimhaltungsgründe auf. Dazu zählen neben integrations- und außenpolitischen Gründen die nationale Sicherheit, die umfassende Landesverteidigung und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, die Abwehr eines erheblichen wirtschaftlichen oder finanziellen Schadens und die Wahrung überwiegender berechtigter Interessen eines anderen. Zu denken ist dabei insbesondere an den Datenschutz, ein Recht, das seinerseits in den letzten Jahren eine massive Aufwertung erfahren hat. Die Abwägung zwischen dem Informationsinteresse und allenfalls entgegenstehenden Geheimhaltungsgründen kann im Einzelfall schwierig sein. Das ist einer der Gründe, wieso der Entwurf Gegenwind erfahren hat. Für die auskunftsverpflichteten Stellen, insbesondere kleine Gemeinden, kann diese Abwägung sehr fordernd sein. Auch besteht die Sorge vor einzelnen querulatorischen Antragstellern, die mit ständigen Anfragen den sonstigen Betrieb lähmen könnten. Starke Kritik gab es auch hinsichtlich des Kreises der Auskunftsverpflichteten, der über Verwaltungsorgane hinausgeht. Umfasst sind im Entwurf auch die Organe der Gesetzgebung, der Gerichtsbarkeit sowie Rechnungshof, Landesrechnungshöfe und Volksanwaltschaft. Zudem soll das Recht auf Zugang zu Information auch gegenüber den der Kontrolle des Rechnungshofes unterliegenden Stiftungen, Fonds, Anstalten und Unternehmungen gelten. Die Novelle sieht hier – entsprechend dem Regie-

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rungsprogramm – eine Ausweitung der Rechnungshofkontrolle durch die Senkung des Schwellenwerts der öffentlichen Beteiligung von 50 % auf 25 % vor. Für Unternehmen, die erstmals von einer Auskunftspflicht umfasst sein sollen, bedeutet dies besonderen Anpassungsbedarf. Hier ist bei den Geheimhaltungsgründen auch die Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit maßgeblich. Vonseiten der Gerichtsbarkeit wurde die Einbeziehung in die Auskunftspflicht abgelehnt, ebenso von Seiten der Gesetzgebung. Mit Blick auf die etwa 200, teils sehr ausführlichen und substanziellen Stellungnahmen zum Ministerialentwurf lässt sich der Trend ableiten, dass das vorgeschlagene Modell als nicht weitgehend genug gesehen wird, sofern man nicht selbst von der Auskunftspflicht betroffen ist. Im Fall der eigenen Betroffenheit erscheint der Entwurf hingegen als zu weitgehend. Manche mögen sich hier an das sogenannte „Florianiprinzip“23 erinnert fühlen. Die Stellungnahmen zeigen jedenfalls die Schwierigkeit auf, im Spannungsfeld zwischen Informationsinteresse und Geheimhaltungsgründen einen Weg zu finden, der Informationssuchenden ihr Recht auf Auskunft gewährleistet und es den Auskunftsverpflichteten ermöglicht, Begehren möglichst ressourcenschonend abzuarbeiten und ihre oder die Interessen anderer wahren zu können. Ich bin weiterhin zuversichtlich, dass sich ein Ausgleich zwischen validen Geheimhaltungsinteressen und weitreichender Transparenz finden lassen wird. Allen Beteiligten muss allerdings klar sein, dass das Recht auf Information, um wirksam zu sein, von den Auskunftsverpflichteten gelebt werden muss. Hier ist ein Kulturwandel notwendig, den das vorgeschlagene Gesetz unterstützen, aber nicht alleine leisten kann. Ein konsensuales Vorgehen mit allen Beteiligten erachte ich daher – abgesehen von der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit in Nationalrat und Bundesrat – als zwingend notwendig.

23 „Heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus, zünd and’re an“.

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Wenn Schildbürger Energiewende spielen Europa auf dem Weg in ein Blackout

Auf kaum einem anderen Politikfeld wird derart ideologiegetrieben und wirklich­ keitsfern herumgefuhrwerkt wie in der Energiepolitik. Dabei geht in unserer moder­ nen, hochkomplexen und vielfach vernetzten Welt nichts ohne Strom. Der Wert der Versorgungssicherheit ist mit dem BIP gleichzusetzen. Der Generalstab des österrei­ chischen Bundesheeres hat wohlbegründet das Risiko eines flächendeckenden StromBlackouts in den nächsten fünf Jahren mit 100 % eingeschätzt. Trotzdem wird wei­ ter verharmlost und weggeschaut. Was notwendig wäre, um die Dekarbonisierung erfolgreich zu gestalten und das Schlimmste zu verhindern, wird in diesem Beitrag dargestellt.

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Als ich 2005 mein Buch zum Thema Versorgungssicherheit veröffentlicht habe, stand nach „Droht uns ein Blackout?“ noch ein Fragezeichen. Jetzt, 17 Jahre später, wäre das Fragezeichen fehl am Platz. Ja, mit hoher Wahrscheinlichkeit droht uns ein Black-out, also ein flächendeckender, längerfristiger Stromausfall. In seiner aktuellen Risikoanalyse geht der Generalstab des österreichischen Bundesheeres sogar davon aus, dass in den kommenden fünf Jahren mit 100%iger Wahrscheinlichkeit mit einem solchen Blackout zu rechnen ist. Und was das bedeutet, drückt der Sicherheitsexperte Herbert Saurugg sehr klar aus: „Das Thema Black-Out wird völlig unterschätzt und nicht verstanden. Das Chaos wird derart schlimm, dass man es sich nicht vorstellen kann!“ Wer es sich im Detail vorstellen möchte, dem ist zu empfehlen, den Bestseller des österreichischen Autors Marc Elsberg zu lesen. In „Blackout“, millionenfach verkauft, wird sehr realistisch beschrieben, welche dramatischen Auswirkungen auf jeden Einzelnen und die gesamte Gesellschaft die andauernde Absenz von Strom hat. Elsberg geht dabei von einer CyberAttacke als Ursache aus, was besonders unterstreicht, wie abhängig wir von technischen Systemen und deren fehlerfreiem Funktionieren sind und wie wichtig Cybersecurity für uns geworden ist.

Deutlicher Warnschuss Am 8. 1. 2021 war es aber kein Cyberangriff, der Europas Stromversorgung um Haaresbreite in die Knie zwang. Exakt um 14.05 Uhr fiel in einem kroatischen Umspannwerk ein Lastschalter. Die durch dieses an sich unbedeutende Ereignis in Gang gesetzte Kettenreaktion führte diesmal aber binnen Sekunden zu einer europaweiten Erschütterung der Stromversorgung. Das osteuropäische Netz trennte sich vom westeuropäischen, aufgrund fehlender Produktion entstand im Westnetz ein massives Defizit an Stromangebot, wodurch die Frequenz um mehr als 30 Basispunkte unter die notwendigen 50 Hertz fiel. Die Folge: großflächige Sofort-Abschaltungen von Verbrauchern, wobei durch den beispiellosen Frequenzabfall tausende Anlagenteile bei Endverbrauchern zerstört wurden. In buchstäblich letzter Sekunde gelang die Stabilisierung im Westnetz, womit ein große Teile Europas betreffender Stromausfall dank der raschen Reaktion der Versorgungsnetzbetreiber gerade noch verhindert werden konnte. Es war haarscharf, und die

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Folgen waren schwerwiegend, weil bei vielen Verbrauchern wesentliche Komponenten ihrer Anlagen zerstört worden waren. Ein dramatischer Weckruf, der aber von der Energiepolitik weitgehend ignoriert wurde und beschwichtigend bagatellisiert wird, denn die notwendigen Schlussfolgerungen aus diesem dramatischen Vorfall passen so gar nicht zu den ideologiegetriebenen, technische Notwendigkeiten negierenden, grün motivierten Wunschträumen, wie die unbestritten notwendige Energiewende weg von CO2 zu bewerkstelligen wäre. Gut gemeint ist aber leider noch lange nicht gut gemacht. Das zeigt der Blick zu unserem nördlichen Nachbarn mehr als deutlich.

Erneuerbaren-Ausbaugesetz beschlossen Angesichts unseres hohen Anteils an Wasserkraft in der Stromerzeugung hat Österreich eine bessere Ausgangsposition. Nach langer Diskussion und noch längerer Sondierung mit der Europäischen Kommission wurde nun im Jänner 2022 die endgültige Fassung des Erneuerbaren-Ausbaugesetzes im österreichischen Parlament beschlossen. Mit diesem Gesetz werden die wesentlichen Rahmenbedingungen für Investitionen in den Ausbau der Stromproduktion in den Bereichen Wind, Fotovoltaik, Wasserkraft und Biomasse geregelt. Insofern ist das Gesetz eine wichtige Vorausetzung, um die angestrebte Ausweitung von aus erneuerbaren Quellen erzeugtem Strom durch ein entsprechendes Förderregime zu unterstützen. Allerdings ist mehr als fraglich, ob diese Ziele auch tatsächlich erreicht werden, denn es fehlt eine koordinierte Gesamtplanung. Viele wesentliche Fragen sind offen. Es fehlt ein integrierter Netzausbauplan. Dieser wird vor allem durch zu lange und zu bürokratische Genehmigungsverfahren und lokale Widerstände, fehlende Flächenwidmung und fehlende übergeordnete Planung behindert. Dasselbe gilt für Projekte mit Langfristspeicherkapazität. Offen ist auch nach wie vor, in welchen Gebieten etwa Flächen-Fotovoltaik errichtet werden kann, wobei klar ist, dass mit der Bestückung von Dächern auf Bauwerken das angestrebte Mengenziel nicht erreicht werden kann. Deshalb ist die Erreichung der für 2030 propagierten energiepolitischen Ziele eines Zubaus an erneuerbarer Stromproduktionskapazität von 27 Terawattstunden völlig unrealistisch.

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Bekenntnis zur Wasserkraft – aber ohne konkrete Projekte So sind etwa fünf Terawattstunden an Wasserkraftkapazität eingeplant, allerdings gibt es bis heute kein genehmigtes Projekt, was angesichts des üblichen enormen Zeitbedarfs für Planung und Umsetzung offenlegt, dass dieses Ziel jedenfalls verfehlt wird.

Entscheidender Engpass – fehlender Netzausbau Da Wind und Fotovoltaik nur geringe Volllaststunden in der Produktion aufweisen, muss, um die entsprechenden Strommengen zu erzielen, die an das Netz angeschlossene Kraftwerksleistung österreichweit bis 2030 praktisch verdoppelt werden, was heißt, dass ein zweites 380-KV-Höchstspannungsnetz quer durch Österreich errichtet werden muss. Die Beispiele der Teilnetze Burgenland-Leitung und Salzburg-Leitung haben jeweils rund 30 Jahre vom Projektstart bis zur Inbetriebnahme gedauert, wie soll nun ein derartiger Netzausbau bis 2030, also in acht Jahren erfolgen, wenn sich an den Rahmenbedingungen nichts ändert, im Gegenteil, die Voraussetzungen für die Austrian Power Grid und andere Projektbetreiber durch die Umsetzung der Aarhus-Konvention und Forderungen von NGOs weiter erschwert und vom zuständigen Ministerium unter grüner Ägide keine Maßnahmen zur Verfahrensbeschleunigung ergriffen werden. Ohne Netzausbau gibt es aber auch keine Möglichkeit, die geplante Erzeugung von Wind- und Sonnenstrom aufzunehmen und zu verteilen; gleichzeitig nimmt die Versorgungsqualität und Sicherheit weiter ab, nicht zuletzt als Folge der immer volatileren Erzeugung. So sind Spannungsschwankungen im Höchstspannungsnetz und in den Verteilnetzen an der Tagesordnung, was angesichts immer sensiblerer Anlagen ein dramatisches Standortproblem darstellt. Und der Betreiber des Höchstspannungsnetzes, die APG, muss immer öfter eingreifen, um Versorgungsunterbrechungen zu verhindern – so 2018 an rund 300 (!!!) Tagen im Jahr; die Kosten für den Redispatch haben 2021 bereits mehr als 400 Millionen Euro betragen. Noch 2011 waren lediglich Eingriffe an zwei Tagen nötig; das zeigt, in welcher atemberaubenden Geschwindigkeit die früher vorhandenen Netzreserven aufgebraucht wurden und die Strom-Versorgungssicherheit in Österreich abgenommen hat.

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Strafzuschlag für österreichische Stromkunden Fehlende Netzkapazitäten und die völlig widersinnige und falsche Zustimmung des österreichischen Stromregulators zur Auftrennung der gemeinsamen Netzzone mit Deutschland nach mehr als 20 Jahren europäischer Strommarktliberalisierung führten im Herbst und Winter 2021/22 zu exorbitanten Zusatzkosten für österreichische Stromkunden. Der in Deutschland schon vor Jahren vorsorglich eingekaufte Strom hat sich deshalb im Preis teilweise verdreifacht, die Mehrbelastung der Stromkunden, vor allem der Industrie, mit einer „Österreichermaut“ hat allein von Oktober bis Dezember zumindest 500 Millionen Euro betragen. Dabei gab und gibt es keinen österreichischen Strom-Terminmarkt, auf dem eine vorsorgliche Eindeckung mit Strom möglich ist, wie sie für eine risikominimierende Strombeschaffung unerlässlich ist. Es gibt also keine marktbezogene, sachliche Grundlage für eine eigene österreichische Strompreiszone. Dass die Regulierungsbehörde dem 2018 trotzdem zugestimmt hat – wie auch der Reservierung von 70 % (!!!) der Netzkapazität für europäische Stromtransite – kann leider nur als Schildbürgerstreich angesehen werden. Dabei wäre es Hauptaufgabe des Stromregulators, der seit Gründung seinen Personalstand rasant nach oben geschraubt hat, für funktionierende Marktbedingungen und die Verbesserung der Versorgungssicherheit zu sorgen – leider eine Fehlanzeige!

Wenn Schildbürger Energiewende spielen Die deutsche Misere, die natürlich auch Österreich und ganz Europa betrifft, lässt sich kaum treffender beschreiben, als es Josef Urschitz im Wirtschaftsteil der „Presse“ in seinem Beitrag mit „Wenn Schildbürger Energiewende spielen“ vom 14. 1. 2022 beschrieben hat, denn die größte Gefahr für die Stabilität der Stromversorgung in Europa geht aktuell ohne Zweifel von Deutschland und den dortigen energiepolitischen Fehlentwicklungen aus. Und das zwölf Jahre nach der Energiewende. Urschitz: „Nach der Abschaltung von Kernkraftwerken geht in Deutschland der CO2-Ausstoß der Stromerzeugung in die Höhe, Kohle ist wieder wichtigster Energieträger. Ein Lehrbeispiel für sündteures Versagen von Ideologie in der Energiepolitik!“

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In der zweiten Jännerwoche 2022 sprang nämlich der CO2-Mix der deutschen Stromproduktion über die Marke von 500 Gramm pro Kilowattstunde und war damit mehr als doppelt so klimaschädlich wie die öster­reichische und siebenmal so CO2-intensiv wie die französische Stromproduktion. Und das nachdem im letzten Jahrzehnt mehrere Hundert Milliarden Euro in die sogenannte deutsche Energiewende geflossen sind, wobei zur steigenden Klimaschädlichkeit der deutschen Stromerzeugung noch der mit Abstand höchste Strompreis in Europa kommt. Gleichzeitig müssen bei Starkwind die Windräder in Norddeutschland blockiert werden, da die Überproduktion nicht abgeleitet werden kann, gibt es doch nach wie vor keine Stromleitungen aus dem Norden zu den Verbrauchern im Süden und zahlen die deutschen Strombezieher daher für den „Geisterstrom“ der von den blockierten Windrädern NICHT produziert wird. Man kann dem Wall Street Journal nicht ruhigen Gewissens widersprechen, wenn es die deutsche Energiepolitik als „the world dumbest energy policy“ charakterisiert. Es ist ein wirklicher Treppenwitz der Geschichte, dass gerade Angela Merkel, eine Physikerin, als CDU-Bundeskanzlerin Protagonistin und Hauptverantwortliche für eine völlig kontraproduktive und chaotische deutsche Energiepolitik geworden ist. Und ihre Nachfolger sind offenbar wild entschlossen, mit noch höherem Tempo in die falsche Richtung zu rasen. Denn die nun beschleunigt geplante Abschaltung nicht nur aller Kernkraftwerke, sondern bis 2030 auch der gesicherten Leistung aus den Kohlekraftwerken – bei der gleichzeitig propagierten Erhöhung des bilanziell über das ganze Jahr gerechneten Ökostromanteils aus Wind und Fotovoltaik auf 80 %, beantwortet nicht die Frage, wie die Versorgung in der winterlichen Dunkelflaute ohne Sonne und Wind aufrechterhalten werden kann. Im Sommer gibt es einen Erzeugungsüberschuss, im Winter einen eklatanten Versorgungsmangel. Großflächige Stromabschaltungen und im schlimmsten Fall ein ganz Europa treffender Blackout könnten die Folge sein. In Bezug auf den in ganz Europa geplanten massiven Ausbau von Foto­voltaik ist auch zu berücksichtigen, dass es inzwischen de facto ein Monopol Chinas bei der Erzeugung von PV-Modulen und entsprechend notwendigen technischen Geräten wie Gleichrichtern etc. gibt. Zuletzt

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wurden innerhalb kürzester Zeit die Preise für PV-Module aus China um mehr als 30 Prozent erhöht, infolge des Fehlens alternativer Produzenten bleibt aber den Nachfragern keine andere Wahl, als weiter in China zu ordern. Abgesehen davon fragt auch niemand nach, unter welchen Umweltbedingungen die diesbezügliche Erzeugung in China stattfindet und welche gravierenden Umweltschädigungen sie hinterlässt. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch darauf, dass als eines der Hauptargumente für Tempo und Ausmaß der deutschen Energiewende vorgebracht wurde, dass damit eine deutsche Fotovoltaik-Industrie aufgebaut werden soll, eine Zielsetzung, die, wie viele andere in diesem Zusammenhang, total verfehlt wurde. Besonders dramatisch ist dabei das Fehlen von Kapazitäten zur Langfristspeicherung von Strom. Zwar wird intensiv an neuen Speichermedien geforscht, es ist aber nicht zu erwarten, dass es für die benötigten Mengen wirtschaftlich leistbare Langzeitspeicher auf konventioneller Basis, etwa Batterien, geben wird. Wasserstoff könnte ein geeignetes Speichermedium sein, aber die Verfügbarkeit der notwendigen Mengen wird erst wesentlich später als bis 2030 zu erwarten sein.

Strom- und Gaspreise explodieren Der Winter 2021/22 hat dabei bereits einen Vorgeschmack geliefert, was das in der Realität bedeutet. Die Strompreise sind an den Börsen um mehr als 600 Prozent auf neue, absolute Rekordwerte geklettert, der Großhandelspreis für Erdgas hat sich in der Spitze sogar verachtfacht. Eine dramatische Entwicklung, die unter anderem die Inflation auf den höchsten Wert seit mehr als 30 (!!!) Jahren getrieben hat und Wirtschaft und Konsumenten dramatisch belastet. Wobei durch Elektromobilität und Einsatz von Strom in der Wärmeversorgung bzw. bei der Erzeugung von Wasserstoff der Stromverbrauch bis 2030 zusätzlich um 30 bis 50 % steigen wird. Um die entstehende Erzeugungs-Lücke zu überbrücken, müssten bis 2030 allein in Deutschland ca. 60 bis 90 Gas-Großkraftwerke gebaut werden, was natürlich auch die Energieabhängigkeit von Russland weiter erhöhen würde. Und es müsste in großen Mengen Atomstrom aus Frankreich und Tschechien wie auch Kohlestrom aus Polen importiert werden würden. Wobei

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dann diese Länder trotzdem ungeniert von deutschen Grünbewegten ob ihrer Form der Stromerzeugung kritisiert werden. Besonders hart ins Gericht mit der deutschen Energiepolitik ging auch ausgerechnet der Chef der finnischen Grün-Partei, Atte Harjannes. So meinte er in einem Interview: „Gleichzeitig aus der Atomkraft und der Kohlekraft auszusteigen, bedeutet eine hohe Nachfrage nach Gas für eine lange Übergangszeit. Ich wünschte, es gäbe (in Deutschland, Anm.) einen wissenschaftsbasierten Ansatz.“ Seine eigene Position erläutert Harjanne, der als Grüner die Errichtung eines neuen Atomkraftwerkes in Finnland fordert, dann folgendermaßen. „Wir haben einen etwas anderen Hintergrund als die deutschen Grünen und andere Prioritäten. Unser oberstes Ziel ist, CO2 neutral zu werden, und dafür wollen wir auf Basis der Wissenschaft alle Möglichkeiten ausschöpfen. Wenn die Einbeziehung von Atomkraft uns am schnellsten dorthin führt, heiligt der Zweck diese Mittel.“ Anfang Jänner gab es übrigens die Meldung, dass deutsche Wissenschaftler einen neuen Typus von Atomkraftwerken, den Dual-Fluid-Reaktor, entwickelt haben, in dem kein Atommüll anfällt und der sich im Störfall automatisch abschaltet; Prototypen sollen in Kürze entstehen. Deutschland ignoriert in der Energiepolitik auch die Schlussfolgerun­ gen des ansonsten als so unantastbar und wegweisend angesehenen IPCCKlimaberichts, der im Energiekapitel 5.5.69 sagt, dass für eine sichere Energiewende „eine intensivere Nutzung von Technologien, wie erneuerbare Energie, Kernenergie und CCS“ benötigt wird. Bezeichnenderweise ist Letzteres, nämlich die Abscheidung von CO2 bei der Kohleverstromung und die Verpressung in geeignetem Gestein in Deutschland gesetzlich verboten, wie übrigens auch in Österreich; eine sachlich fundierte Grundlage dafür fehlt allerdings. Aber im europäischen Versorgungssystem gilt gnadenlos „Mitgefangen-Mitgehangen“. Kein Land in Kerneuropa kann sich von den Problemen separieren oder sich diesen entziehen, das Stromnetz ist eng verwoben und integriert, der gemeinsame Energiebinnenmarkt wurde in den letzten Jahrzehnten weiter vorangetrieben. Leider aber stand meist kurzfristiger politischer Aktionismus im Vordergrund, die notwendigen Grundlagen für

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eine nachhaltig gesicherte Versorgung werden negiert und vernachlässigt. Diese Grundlagen müssten der Leitstern jeglicher Energiepolitik sein.

Drei gleichwertige Ziele: Versorgungssicherheit – Preisgünstigkeit – Dekarbonisierung Eine sach- und lösungsorientierte Energiepolitik muss drei Ziele wohlbalanciert gleichzeitig verfolgen: Versorgungssicherheit als jederzeit gesichertes Gleichgewicht zwischen Stromerzeugung und Stromverbrauch, sowie Preisgünstigkeit als soziales Erfordernis und Grundbedingung für Wettbewerbsfähigkeit und Umweltverträglichkeit, in erster Linie mit dem Erfordernis der Dekarbonisierung. Die Vernachlässigung auch nur eines dieser Ziele verunmöglicht die Erreichung aller Ziele. Eine wirksame Blackout-Vorsorge muss alle diese Ziele im Auge haben, wobei die Grundlage ausreichende, gesicherte Erzeugungsquellen und ein leistungsfähiges Netzsystem sind. Die heute feststellbaren Defizite sind gleichzeitig die Ansatzpunkte für zukunftsorientierte Maßnahmen, um die Versorgungssicherheit auch während der Energiewende in Richtung Dekarbonisierung sicherzustellen. Entscheidend ist, im europäischen Stromnetz entsprechende Kapazitätsreserven neu aufzubauen, denn aktuell werden die Netze bereits im Grenzbereich betrieben, was die Wahrscheinlichkeit von Störungen und Ausfällen drastisch erhöht und im Fall von ungeplanten Ausfällen die Reaktionsmöglichkeiten sehr einschränkt. Allein in Österreich sind unmittelbar Investitionen von mehr als drei Milliarden Euro in den Netzausbau notwendig, jede Verzögerung, etwa durch überlange Verfahren, gefährdet die Stabilität des Systems und seine Fähigkeit, neue, volatile Erzeugungsquellen einzuspeisen. Der weitere Ausbau von erneuerbarer Stromerzeugung und immer dezentralere Einspeisungen müssen ergänzt werden um stabile Grundlast­ erzeugung, zumindest für eine lange Übergangszeit zu gewährleisten, was leider den Plänen etwa Deutschlands diametral zuwiderläuft. Die Entscheidung der Europäischen Kommission, Atomkraft und Gaskraftwerke in der Taxonomie als erneuerbar einzustufen, ist vor diesem Hintergrund rational und richtig. Die Tatsache, dass praktisch unsere gesamte Zivilisation auf Sys-

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temen beruht, die eine stabile und gesicherte Stromversorgung brauchen, und diese Systeme immer sensibler auf Störungen im Netz reagieren, macht weitere Investitionen notwendig, um die Versorgungsqualität wieder zu verbessern. Versorgungsqualität und Versorgungssicherheit sind daher auch entscheidende Standortfaktoren für den Erhalt wesentlicher Wirtschaftsbereiche, erst recht für die Ansiedlung neuer Unternehmen im Hochtechnologiebereich. Überdacht werden muss auch das bisherige Marktmodell der europäi­ schen Energieliberalisierung, denn eine wesentliche Voraussetzung, um im Störfall rasch und effektiv gegensteuern zu können, ist eine notwendige Koordinierung und Kooperation zwischen Netzbetreibern und Erzeugung. Die gegenwärtigen Marktregeln begünstigen Entscheidungen der einzelnen Marktteilnehmer in Richtung der Optimierung ihrer eigenen Interessen, was es für die Netzbetreiber massiv erschwert, Stabilisierungsmaßnahmen rasch und wirksam umzusetzen. Die Verhinderung des Blackouts kann daher nur durch eine konsistente, an technischen Gesetzlichkeiten orientierte, nachhaltige Energiepolitik angestrebt werden sowie eine bessere Abstimmung zwischen Erzeugern, Netzbetreibern und Kunden. Das Erfordernis der Dekarbonisierung erhöht zusätzlich die Komplexität des Prozesses. Diese kann aber nur gelingen, wenn die Versorgungssicherheit gewährleistet ist, denn eine gravierende Folge eines Blackouts könnte, infolge der unermesslichen Schäden, die er auslöst, sein, dass das gesamte Anliegen der Energiewende in den Augen der Bevölkerung desavouiert und damit dauerhaft konterkariert wird.

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medien

rudolf bretschneider

Meinungsumfragen als ­Meinungsgegenstand „Auch die öffentliche Meinung überschätzt sich“ (M. de Montaigne)

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Dass Meinungsumfragen vielfach einen schlechten Ruf haben, ist nicht neu (1). Normalerweise taucht Kritik allerdings meist nach Wahlen auf: wenn man glaubt, Fehlprognosen konstatieren zu können. Der Medienspott ist allerdings bald vergessen, und auch die Kritiker publizieren munter weiter. Medien haben den Aufstieg der Meinungsforschung von Beginn an begleitet, haben sie benutzt und kritisiert. Man ließ befragen, um der „schweigenden Mehrheit eine Stimme zu geben“ (2), um die Neugier bezüglich wahrscheinlicher Wahlausgänge zu befriedigen, um Themen zu „machen“ oder zu verstärken. Die Zahl der Veröffentlichungen von Meinungsforschungsresultaten hat sich in den letzten Jahrzehnten vervielfacht (3). Ihre Verwendung hat die unterschiedlichsten Formen angenommen. So werden die Methoden der empirischen Sozialforschung von politischen Institutionen als Planungshilfe benutzt; man lotet Problembewusstsein in verschiedenen Bevölkerungsgruppen aus, definiert mit ihrer Hilfe relevante Zielgruppen, lässt Bekanntheits- und Vertrauenswerte messen und verfolgt gesellschaftliche Trends, die den Rahmen für politisches Handeln abgeben u.v.a.m. Es gibt auch eine Reihe von verständlichen Gründen, sich um die „öffentliche Meinung“ zu kümmern. Die „vox populi“ hat den Nimbus der „vox dei“, und auf einen Rückhalt in der Bevölkerung durch den Verweis auf Meinungsforschungsdaten verweisen zu können, erleichtert die Argumentation; selbst dann, wenn von „Gott“ ansonsten kaum die Rede ist und das „Volk“ als Ganzes ohnehin unauffindbar ist. (4) In den Jahrzehnten seit ihren Anfängen in Österreich (ca.1950/51) haben sich Häufigkeit und Funktion der politischen Meinungsforschung stark verändert. War sie ursprünglich ein Instrument für Institutionen wie Parteien, Verbände, Behörden etc., wurde sie zunehmend als Instrument zur „Durchleuchtung des Wählers“, ja gelegentlich sogar als Mittel der Partizipation (miss)verstanden. (5) Zunehmend verloren die politischen Institutionen das Quasi-Monopol auf die „Veranstaltung“ von (teuren) Meinungsbefragungen. Mit methodenbedingt sinkenden Kosten traten auch einzelne Medien als Auftraggeber auf. Und die Parteien entdeckten Meinungsforschungsergebnisse als Teil des politischen Marketings: Man „beweist“ mit passenden Umfrageergebnissen, dass eine Bevölkerungsmehrheit den eigenen Standpunkt teilt, den Spitzen-

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kandidaten schätzt, zur Partei wechselt usw. Gleichzeitig lanciert man, wenn möglich, negative Befunde zu den politischen Mitbewerbern und beschäftigt sie damit, gegen ein „Verlierer-Image“ zu kämpfen. Das Ziel ist z. B. erreicht, wenn diese in Interviews nicht mehr danach gefragt werden, wofür sie stehen, sondern weshalb sie in Umfragen so schlecht liegen. Infolge der massiven Zunahme der speziell im Vorfeld von Wahlen erscheinenden Studien zu Partei- und Kandidatenpräferenzen wird die Frage nach dem möglichen Einfluss solcher Veröffentlichungen immer wieder gestellt, ohne dass es zu klaren Antworten kommt. Nachvollziehbarerweise. Wahlkämpfe verlaufen nun einmal sehr verschieden. Und die Rolle der Meinungsforschung in ihnen kann je nach Menge, (Un-)Gleichartigkeit der Resultate, Erwartungen, politischer Konstellation etc. recht unterschiedlich sein. Mit abnehmender politischer Bindung an Parteien steigt zwar die Möglichkeit eines relativ stärkeren Einflusses jeglicher Kommunikationsinhalte, aber dennoch wird eine direkte, klar nachweisbare Wirkung von Meinungsforschungs-Veröffentlichungen in Zweifel gezogen. (6) Sowohl über „bandwagon“- als auch „underdog“-Effekte wurde oft spekuliert; aber ein einfacher Zusammenhang zwischen wahrgenommener Veröffentlichung und Ausbildung einer Wahlabsicht lässt sich nicht schlüssig nachweisen. Zu vielfältig sind die unterschiedlichsten intervenierenden Variablen: die Unterschiedlichkeit der ausgewiesenen Resultate, die Auswirkung auf die Medien, die Parteifunktionäre und die Anhängerschaft, die Wichtigkeit der Wahl. Am ehesten kann es bei mehrstufigen Wahlverfahren zu einer Art „Fallbeil-Effekt“ kommen: wenn durch nachdrücklich kommunizierte Umfrageergebnisse jene Personen begünstigt werden, die mit größerer Wahrscheinlichkeit in eine Stichwahl kommen. Dass „gefälschte“ Umfrageergebnisse je zu einer Beeinflussung des Wahlergebnisses geführt hätten, ist (mir) nicht bekannt; auch dass aufgrund verfälschter Befunde die Nominierung eines Spitzenkandidaten erfolgt ist, schließe ich für Länder, in denen mehrere unabhängige Meinungsforschungsinstitute existieren, so ziemlich aus. Es ist auch schwer zu sagen, was zweifelsfrei als eine „Fälschung“ bezeichnet werden kann (außer das mit der Datenerstellung befasste Institut gesteht eine solche ein, oder das Resultat ist so weit von jedem plausiblen Ergebnis entfernt, dass es nur mehr mit Dummheit/Fehlern erklärt werden kann).

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Eine „Fälschung“ würde dann vorliegen, wenn man die Rohdaten einer Umfrage, wie sie sich nach einer (zulässigen und notwendigen) Gewichtung des Ausgangsmaterials der Analyse ergeben, bewusst verändert, um ein gewünschtes Resultat zu erhalten. Aber: Nicht jeder Arbeitsschritt, der nach einer nachvollziehbaren Gewichtung erfolgt, ist eine „Fälschung“! Bei der „Hochschätzung“ der sogenannten „Sonntagsfrage“ wird meist nicht auf präzise gleichbleibende statistische Modelle zurückgegriffen. Oftmals bezieht man sich auf Erfahrungswerte, zieht die Ergebnisse weiterer Fragen für die Zuteilung der „nicht-deklarierten Befragten“ heran, glättet die Werte (falls man über Daten aus vielen Messzeitpunkten verfügt); ja es soll auch schon vorgekommen sein, dass man sich an den Daten anderer erfahrener Wahlforscher orientierte. Die Unsicherheit der Meinungsforschungsdaten resultiert also bei weitem nicht nur aus der Größe der zugrunde liegenden Stichprobe (und der Repräsentativität für eine definierte Grundgesamtheit), sondern u. a. auch der Art, wie die „Nichtdeklarierten“ (oft bis zu 20–25 % der befragten Personen!!) zugerechnet werden. Die oft zitierte „Schwankungsbreite“ der Daten ist also nicht plus/minus 3 % (bei 1.000 Personen), sondern höher (in unbestimmtem Ausmaß). Bei den Wahlen von 2017 waren die Einschätzungen meist ziemlich gut. Einen Sieg der ÖVP mit Kurz datengestützt darzustellen, war nicht besonders riskant und auch nicht außergewöhnlich. Dass man sich durch einen „Sieg“ in den Umfragen eines Instituts einen Sieg bei Wahlen kaufen kann, wie das verschiedentlich insinuiert wurde, ist angesichts der großen Zahl der publizierenden Institute eine ziemlich absurde These. Es genügt in diesem Zusammenhang leider nicht, den Schaden, der für Forschungsinstitute durch den Fälschungsvorwurf gegen Research Affairs wahrscheinlich entstanden ist, durch Regeln für Mindeststichprobengrößen (7) abwenden zu wollen. Und auch der immer wieder auftauchende Vorschlag, die Veröffentlichung von Studienergebnissen innerhalb einer bestimmten Vorwahlphase zu verbieten, ist in Zeiten des „Netzes“ kaum zielführend (9). Gescheiter ist es, gelassen zu bleiben und sich der Unsicherheit jeglicher Hochschätzungen bewusst zu sein.

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Anmerkungen 1 2 3 4 5 6

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Bretschneider, Rudolf: Warum die Meinung einen schlechten Ruf hat. In: WAS Nr.112 Hg. Michael Steiner, Graz-Wien 2019 Lippmann, Walter: Die öffentliche Meinung (1922!). Bretschneider, Rudolf: Umfragen werden journalistisches Ereignis. In: Busek, Erhard, und Hüffel, Clemens, Politik am Gängelband der Medien, Wien 1998. Rosanvallon, Pierre: Le peuple introuvable, Gallimard 1998. Ähnliches hat Karl Blecha in die Diskussion gebracht, der die Nutzung der empirischen Sozialforschung durch die Politik stark vorangetrieben hat. Maier, Jürgen und Brettschneider, Frank: Wirkungen von Umfrageberichterstattung auf Wählerverhalten, in: Zerback, Thomas (Hg.) Sozialforschung im Internet, Wiesbaden 2009. Siehe auch: Interview mit F. Brettschneider in RNZ Berlin 2021 zur Bundestagswahl. Vorschläge für eine ordentliche Berichtlegung und Veröffentlichung liefert der Vdmi (www.Vdmi.at).

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„Cancel Culture“ als Bedrohung der Wissenschaftsund Meinungsfreiheit Konflikte um eine drastisch verschärfte politische Korrektheit und identitätspolitische Ansprüche erzeugen an Universitäten und in der weiteren Gesellschaft ein Klima der Einschüchterung. Im Namen der „Cancel Culture“ breiten sich Phänomene wie Veranstaltungsboykotts, Rednerausladungen und sprachliche Tabuisierung rasant aus. Einzelne Akademiker und Akademikerinnen werden Opfer regelrechter „Hexen­ jagden“. Der Raum für als legitim angesehene Kontroversen wird eingeschränkt. Dies ist besonders im englischsprachigen Raum ausgeprägt, wo sich in akademischen Institutionen eine bedrohliche, ideologisch linke Monokultur etabliert hat, die sich aber in Ansätzen auch schon in den deutschsprachigen Ländern entwickelt. Insge­ samt droht dies den öffentlichen Debattenraum durch Tabuzonen zu verengen – mit schwerwiegenden Folgen für die Wissenschafts- und Meinungsfreiheit sowie für die Demokratie.

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Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit sind Grundlagen moderner Demokratien. Ein offener Diskurs mit freiem Austausch von Meinungen und Standpunkten ist konstitutiv für freiheitliche Ordnungen. Max Weber prägte einst mit seinen Thesen zu „Wissenschaft als Beruf“ das Verständnis einer werturteilsfreien Wissenschaft, die sich im pluralistischen Austausch von Argumenten und Befunden übt.1 Natürlich sah Weber, dass auch materielle und ideelle Interessen den alltäglichen Wissenschaftsbetrieb prägen und damit Diskurse und Politikempfehlungen beeinflussen. Gerade auch um solche Einflüsse offenzulegen, sollte sich der wissenschaftliche Austausch idealerweise über rationale Argumente und empirische Evidenzen vollziehen. Für den liberalen Philosophen Karl Popper war diese Logik auch für moderne, offene Gesellschaften insgesamt unverzichtbar.2 Insofern fordern die Grundregeln der von Popper skizzierten offenen Gesellschaft, dass sich der Meinungswettbewerb an der Überzeugungskraft von Argumenten und Evidenzen orientiert. Die Realität an vielen Hochschulen wie auch in den öffentlichen Debatten insgesamt sieht allerdings anders aus. Die „Cancel Culture“ ist zu einer realen Gefahr für die Wissenschaftsfreiheit geworden. Während es in den Jahren um 1968 herum ideologische Trümmer marxistischer Entwürfe waren, die den Diskurs dominierten, haben sich jetzt neue Feinde der offenen Gesellschaft formiert, und es entwickelt sich ein „toxisches“ Klima, in dem Andersdenkende, meist Konservative und auch Liberale, attackiert und sozial vernichtet werden sollen: Beschimpfungen, Bedrohungen und Attacken, Konferenzausladungen, Forderungen nach Entlassungen sind, besonders im angelsächsischen Raum, keine Seltenheit mehr. Ein besonders vergiftetes Feld sind Gender-Themen. In Großbritannien etwa berichtete die „Sunday Times“ von 200 Akademikern, die vor allem wegen kritischer Ansichten über „Transgender-Fragen“ angegriffen würden.3

1 Max Weber: Wissenschaft als Beruf, in Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1922. 2 Karl Popper: The Open Society and Its Enemies, Erstausgabe London 1945. 3 Sian Griffiths: 200 academics tell of death threats and abuse as battle rages for free speech, Sunday Times, 17. Oktober 2021.

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Das prominenteste jüngste Opfer war die feministische Philosophin Kathleen Stock von der Universität Sussex, die nach einer aggressiven Mobbingkampagne von Transgender-Aktivisten ihre Professur aufgab. Ihr war „Transphobie“ vorgeworfen worden, weil sie darauf beharrt, dass es ein biologisches Geschlecht gibt, das über der Gender-Selbstidentifikation stehe. Die Aktivisten feierten Stocks Rückzug mit der Liedzeile „Ding-dong. The witch is dead“ (aus der Verfilmung des „Zauberer von Oz“).4 Damit zeigten sie unfreiwillig, dass sie in der Tradition der Hexenjagden stehen. Die britische Hochschulministerin beklagte ein „toxisches Umfeld“ an der Universität. Selbst die linksliberale „taz“ merkte zum Fall Stock und ihren „woken“ Gegnern an, dass sich ein „transaktivistischer Furor“ ausgetobt habe, der ein „antifreiheitliches Wokistan“ anstrebe.5 Die „Cancel Culture“, frei als „Löschkultur“ oder „Absagekultur“ übersetzbar, greift besonders in der englischsprachigen Welt um sich. Sie wird von linksidentitären, vermeintlich progressiven Ideologien befeuert, die sich im postmodernen Zeitgeist auf der moralisch überlegenen Seite der Gesellschaft wähnen. Grundsätzlich sollen Minderheitengruppen mit diversen sexuellen, ethnischen bzw. rassischen Identitäten vor Diskriminierung geschützt werden, die ihnen von der Mehrheitsgesellschaft zugefügt werden könnte. Sprache genießt hierbei eine zentrale Funktion: Sie dient als performatives Instrument der Gestaltung und Umgestaltung individualisierter Identitäten.6 Durch Sprache wird institutionelle und soziale Realität geschaffen. Sprache ist Machtressource und Herrschaftsverhältnis. Gegen gesellschaftliche Feindfiguren wird der Diskursabbruch in Anschlag gebracht. Es greift die kampagnenartige „Cancel Culture“, die Andersdenkende aus dem akademischen und sozialen Diskurs auszulöschen versucht. Neu an dieser Entwicklung ist insbesondere die Kombination von politischen Forderungen, persönlicher Betroffenheit und moralischem Druck, der über soziale Medien wie Twitter aufgebaut wird, die eine neue

4 Gina Thomas: Kampagne von Transaktivisten. Philosophin Kathleen Stock tritt zurück, FAZ net 31. Oktober 2021. 5 Jan Feddersen: Professorin tritt nach trans*-Eklat ab: Antifreiheitliches Wokistan, taz, 1. November 2021. 6 Judith Butler: Excitable Speech: A Politics of the Performative, London und New York, 1997.

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Dynamik und Schnelligkeit in Kampagnen bringen. Die Selbstbezeichnung der linken Aktivisten als „woke“ verweist auf ihren Anspruch: „Erwacht sein“.7 Die konfrontative Rhetorik der Trump-Administration hat in Amerika die linksidentitäre Bewegung befeuert. Eine besonders schlagkräftige Repräsentantin wurde die „Black Lives Matter“-Organisation. Dabei reicht das Spektrum der neuen, „woken“ Identitätslinken weit über das Repertoire klassischer linksradikaler, mittlerweile im gesellschaftlichen Mainstream angekommener Mobilisierungsthemen wie „Antifaschismus“, „Antirassis­ mus“ und „Antisexismus“ hinaus. So gehören etwa auch weite Teile der Klimabewegung zu diesem Spektrum. Kontinuitäten zur klassischen Linken sind augenfällig. Man wähnt sich weiterhin moralisch überlegen, weil man auf der Seite des Fortschritts kämpft. Auch in den Jahren der 1968er-Bewegung gab es Kampagnen gegen meist konservative und liberale Professoren, denen linke, damals vom Sozialismus träumende Studenten und ihre Sympathisanten das universitäre Leben zur Hölle machten und ihre Lehrtätigkeit durch „Teach-ins“, „Sitins“ und lautstarke Proteste in Hörsälen behinderten. Dies wurde damals durch die Theorie der „repressiven Toleranz“ von Herbert Marcuse gerechtfertigt.8 Allerdings sind auch markante Unterschiede festzustellen. Die angebliche Ausbeutung in der kapitalistischen Gesellschaft ist nicht mehr zentraler Anklagepunkt der Gesellschaftskritik. Stattdessen geht es primär um Ausgrenzung und Diskriminierung. Die neue progressive Bewegung basiert nicht mehr auf den Positionen des „wissenschaftlichen Sozialismus“, sondern vornehmlich auf den programmatischen Thesen der Gender- und postkolonialen Studien. Politisches Subjekt ist nicht mehr die Arbeiterklasse als Trägerin einer historischen Befreiungs- und Erlösungsmission, sondern das fluide Kollektiv diverser Minderheitsidentitäten, die nach individueller Selbstverwirklichung streben. Die Universität soll als Hauptaustragungsort

7 Kate Ng: What is the History of the Word ‘Woke’?, The Independent, 22. Januar 2021. 8 Herbert Marcuse: „Repressive Toleranz“, in: Robert Paul Wolff, Barrington Moore und Herbert Marcuse: Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt 1967, S. 93–128, hier S. 121. Amerikanische Erstveröffentlichung 1965.

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linksidentitärer Kulturkämpfe zum „Safe Space“ werden ohne störende Ansichten, die den linksidentitären, progressiven widersprechen. Die Ursprünge der linksidentitären „Cancel Culture“ liegen im englischsprachigen Raum. Subkulturen der linksalternativen Szene mit verwandten akademischen Milieus vermischend, wurden seit den 2010er Jahren Universitäten erstmals als „Safe Spaces“ für angeblich diskriminierte, vor allem aber emotional und psychisch leicht (selbst durch Mikroaggressionen) zu verletzende Minderheitengruppen deklariert. In der Folge hat es vor allem an amerikanischen und britischen Universitäten prominente Fälle von „Cancel Culture“ gegeben: Konferenzen wurden boykottiert, Vorträge abgesagt, Redner ausgeladen, wenn lautstarke Aktivistengruppen über soziale Medien gegen sie protestierten. Es sind teils bizarre Vorfälle. Hohe Wellen geschlagen hat zuletzt der schon erwähnte Fall der Philosophin Kathleen Stock, die im Oktober 2021 nach einer jahrelangen Kampagne gegen sie, die zuletzt in Psychoterror mit „Stock-out“-Protesten von Vermummten mündete, ihre Professur in Sussex aufgab. Auch andere feministische Wissenschaftlerinnen, die Oxford-Historikerin Selina Todd oder die Kriminologin Jo Phoenix, die das biologische Geschlecht nicht als beliebig sozial konstruierbare Größe auffassen, stehen im Visier von Transgender-Aktivisten. Aber auch islamkritische feministische Autorinnen werden bedroht und gecancelt. So wurde etwa die islamkritische feministische Autorin Ayaan Hirsi Ali nach aktivistischem Druck wiederholt von Vorträgen an Universitäten ausgeladen. Aber auch den Evolutionsbiologen Richard Dawkins hat es nun mehrfach getroffen, teils wegen Islam-, teils wegen Gender-Kritik.9 Auch in Frankreich gab es ähnliche Fälle.10 In Deutschland hat es ebenfalls viel diskutierte „Cancel Culture“Vorfälle an den Hochschulen gegeben. Linksextremisten haben schon seit den späten 1960er-Jahren immer wieder Hetzkampagnen gegen unliebsame

9 Vgl. Eoghan Moloney: Trinity College Historical Society rescind Richard Dawkins invitation over author’s stance on Islam and sexual assault, The Independent (Irland), 29. September 2020; Allison Flood: Richard Dawkins loses ‘humanist of the year’ title over trans comments, The Guardian, 20. April 2021. 10 Lucien Scherrer: In einer Diskussion mit Studenten kritisiert der deutsch-französische Professor Klaus Kinzler den Begriff „Islamophobie“. Kurze Zeit später benötigt er Polizeischutz, nzz.ch vom 14. September 2021.

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Professoren entfacht Jürgen Habermas ließ sich damals sogar zu der Bemerkung hinreißen, er sehe „Linksfaschisten“ am Werke). In jüngerer Zeit gab es wieder entsprechende Vorfälle, auch wenn die Intensität des kampagnenartigen Klimas sich von den 1968er-Zeiten unterscheidet. Der Historiker Jörg Baberowski und der Politologe Herfried Münkler, beide von der Humboldt-Universität Berlin, waren prominente Opfer jüngerer Kampagnen. Die organisierte Störung der Makroökonomie-Vorlesungen des ehemaligen AfD-Vorsitzenden Bernd Lucke an der Universität Hamburg wurde unter anderem mit der Behauptung begründet, Lucke würde aufgrund seiner politischen Vergangenheit einzelne Studenten traumatisieren.11 In Wien blockierten linke Studenten die Vorlesungen des FP-nahen Historikers Lothar Höbelt. Gegen eine Diskussion über das islamische Kopftuch an der Goethe-Universität Frankfurt, organisiert von der Ethnologin Susanne Schröter, machten Aktivistinnen mobil, die sich angeblich von der kritischen Hinterfragung des Kopftuchtragens traumatisiert fühlten. Es kam sogar zu Handgreiflichkeiten.12 In diese Reihe von Cancel-Culture-Vorfällen gehört auch der Fall des Historikers Helmut Bley, der von der Stadt Hannover von einer Veranstaltung zum Kolonialismus ausgeladen wurde, weil eine Protestinitiative meinte, ein „alter weißer Mann“ könne sich nicht in die Traumata „schwarzer“ Menschen hineinversetzen und dürfe sich daher nicht zum Thema äußern.13 Das Magazin Cicero schrieb schon 2019 in einer Titelgeschichte über eine aufziehende „Jagd auf die Professoren“.14 Die FAZ-Wissenschaftsredakteurin Heike Schmoll nannte es die „Selbstzerstörung der Wissenschaft“, wenn kontroverse, offene Debatten nicht mehr möglich seien, weil eine Seite im Namen „politischer Korrektheit“ kaum verhohlen Zensur ausüben dürfe.15 Der Präsident des Deutschen Hochschulverbands, der Kölner

11 Maximilian Senff: AfD-Mitgründer hält letzte Vorlesung des Semesters: Don’t Lucke Back In Anger, Der Spiegel, 29. Januar 2020. 12 Chantal Louis: „Das ist antidemokratisch!“, Emma, 17. Januar 2020, https://www.emma.de/ artikel/das-ist-antidemokratisch-337441. 13 Vgl. Rassismus-Debatte: Nach Protesten: Stadt sagt Veranstaltung mit hannoverschem Afrika-Experten ab, Hannoversche Allgemeine Zeitung, 29. März 2021. 14 Christoph Schwennicke: Die Jagd auf die Professoren, Cicero, 29. Mai 2019. 15 Heike Schmoll: Selbstzerstörung der Wissenschaft, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. No­vember 2019.

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Rechtswissenschaftler Bernhard Kempen, warnt schon länger vor diesen Problemen. Kempen sorgt sich, „dass wir ganz allmählich eine Verengung des Diskurskorridors erleben“. Es gebe eine bedenkliche „Tabuisierung von Thesen und Themen“.16 Der Hochschulverband, der mehr als 30.000 Professoren und Professorinnen in Deutschland vertritt, hat im April 2019 eine Resolution verabschiedet, in der die Wissenschaftlervereinigung sich „gegen Denk- und Sprechverbote an Universitäten“ wendet. Die Toleranz gegenüber anderen Meinungen sinke. Das beschädige die Debattenkultur an den Universitäten. Jeder Student, jede Studentin und jeder Wissenschaftler müsse Thesen, Ansichten und Forschungsergebnisse „ohne Angst zur Diskussion stellen können“, betonte Kempen in einer Pressemitteilung. Differenzen seien im argumentativen Streit auszutragen, „nicht mit Boykott, Bashing, Mobbing oder gar Gewalt“.17 Die bekannt gewordenen Fälle von Akademikern, die wegen „umstrittener“ Meinungsäußerungen gecancelt oder gar entlassen wurden, sind allerdings nur die Spitze des Eisberges. In den USA und Kanada wurden von der National Association of Scholars seit Juni 2020 bis Oktober 2021 mehr als 190 Fälle von „Cancel Culture“ gezählt. Für jeden dieser gezählten Fälle dürfte es Dutzende andere, die nicht öffentlich bekannt werden, geben.18 Parallel dazu grassiert besonders an den angelsächsischen Bildungs­ institutionen das Unwesen, Lehrpläne zu „entkolonialisieren“. Wer sich widersetzt, ist „Rassist“. An der Londoner School of Oriental and African Studies forderten Aktivisten, dass die Seminarlektüre mindestens zur Hälfte für „nichtweiße“ Autoren reserviert sein müsse.19 An der Universität Oxford störten sich „woke“ Musikwissenschaftler an der „weißen Vorherrschaft“

16 Interview im Deutschlandfunk, 16. November 2020: „Wir erleben eine Verengung des Diskurskorridors.“ 17 DHV-Pressemitteilung vom 10. April 2019: „Freie Debattenkultur muss verteidigt werden“. 18 David Acevedo: Tracking “Cancel Culture” in Higher Education, National Association of Scholars Blog, 15. Oktober 2021. https://www.nas.org/blogs/article/tracking-cancel-culture-inhigher-education. 19 Jonathan Petre: They KANT be serious! PC students demand white philosophers including Plato and Descartes be dropped from university syllabus, Mail on Sunday, 8. Januar 2017.

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in der klassischen Musik. Mozart und Beethoven seien „weiße“ Komponisten „aus der Periode der Sklaverei“; dies sei „ein Schlag ins Gesicht“ für schwarze Studenten und verursache ihnen „Schmerzen“.20 Den historischen Säuberungen der „Cancel Culture“ fiel auch der Aufklärungsphilosoph David Hume zum Opfer. Hume hatte in einer Fußnote in seinem Essay „Of National Characters“ aus dem Jahr 1753 über eine „natürliche Inferiorität“ Nichtweißer geschrieben. Der Hume Tower, ein Hochhaus auf dem Campus, wurde im Herbst 2020 umbenannt.21 Dabei musste die Universitätsleitung zugeben, dass Humes Ansichten dem damaligen Zeitgeist entsprachen. Der Nationalökonom Adam Smith, ein Freund und Kollege Humes, wurde ebenfalls als „Rassist“ angeprangert, weil er in seinem bahnbrechenden Werk über den „Wohlstand der Nationen“ zwischen „wilden“ und „zivilisierten“ Nationen unterschied.22 Auch Isaac Newton ist umstritten. An der Universität Sheffield wurde diskutiert, inwiefern der berühmte Mathematiker, Physiker und Astronom von kolonialen Aktivitäten profitiert hätte. Die Ingenieursfakultät will nun die angeblich „eurozentrische“ Schlagseite der Naturwissenschaften überwinden und diese „inklusiver“ machen.23 Vor diesem Hintergrund kommentierte der Soziologe Frank Furedi, was sich an britischen Universitäten abspiele, erinnere an die chinesische Kulturrevolution. Es gebe einen regelrechten Krieg gegen die Vergangenheit, die pauschal als verbrecherisch und moralisch belastet denunziert werde. So mache sich eine Tendenz breit, historische Figuren an heutigen Moralvorgaben zu messen und sie, falls sie diesen nicht genügten, erinnerungspolitisch auszulöschen.24 Die Parallele zu George Orwells e­pochaler Dystopie „1984“ und ihrer Rezeption des sozialistischen Totalitarismus

20 Craig Simpson: Sheet music is colonialist, say Oxford academics, The Sunday Telegraph, 28. März 2021. 21 BBC: Edinburgh University renames David Hume Tower over ‘racist’ views, 13. September 2020. https://www.bbc.co.uk/news/uk-scotland-edinburgh-east-fife-54138247 22 Roland Boer: Savage peoples: the racism of Adam Smith in Wealth of Nations, The Conversation, 12. Mai 2015, https://theconversation.com/savage-peoples-the-racism-of-adam-smithin-wealth-of-nations-35675. Der Ankläger Boer lehrte als Professor an der Universität Newcastle. Inzwischen ist der selbsterklärte Kommunist an die linientreue Pekinger Renmin-Universität gewechselt. 23 Ewan Somerville: Isaac Newton latest historical figure swept up in ‘decolonisation’ drive, The Daily Telegraph, 24. April 2021. 24 Frank Furedi: If Isaac Newton can be cancelled, no one is safe, Spiked-Online, 27. April 2021.

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liegt auf der Hand. Dort heißt es zum Umschreiben der Geschichte: „Who controls the past, controls the future: who controls the present, controls the past.“25 Allerdings lassen sich auch schon vor den totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts historische Referenzen für derartigen geschichtssäubernden Furor ausmachen. Kulturkämpfe mit neuen sprachlichen Ausdrücken und zudem einer neuen Zeitrechnung kannte schon die Französische Revolution. Insofern könnte man die linksidentitäre Bewegung als jüngste Generation des kleinbürgerlich-revolutionären Jakobinertums bezeichnen. Was moralische Selbstüberhöhung und Kompromisslosigkeit angeht, sind die Parallelen jedenfalls unübersehbar.26 Nicht zu vergessen sind zudem die Parallelen zum religiösen Fanatismus, der sich in Europa historisch besonders eindrücklich in den moralischen Säuberungsvorstellungen protestantischer Sekten ausdrückte.27 Insofern steht „Cancel Culture“ von ihren Wurzeln her betrachtet nicht nur gegen Diskursfähigkeit, sondern auch gegen die Vernunft selbst. Gegen diese Entwicklungen regt sich seit einiger Zeit prominenter Widerstand. Ein offener Brief von 153 amerikanischen und britischen Intellektuellen hat 2020 weltweit Aufsehen erregt. „Der freie Austausch von Informationen und Ideen, der Lebensnerv einer liberalen Gesellschaft, wird von Tag zu Tag mehr eingeengt“, warnten die Unterzeichner, unter ihnen der Linguist Noam Chomsky, der Politologe Francis Fukuyama, der Sozialpsychologe Jonathan Haidt, die Schriftstellerin J. K. Rowling, der Schriftsteller Salman Rushdie und der Psychologe Steven Pinker. Interessanter­ weise stammt der Brief aus einem eher linksliberalen Elitenmilieu. Die Autoren beklagen „Intoleranz gegenüber Andersdenkenden, öffentliche Anprangerung und Ausgrenzung sowie die Tendenz, komplexe politische Fragen in moralische Gewissheiten zu überführen“. Und weiter: „Unabhängig von den Details der einzelnen Fälle wurden die Grenzen dessen, was ohne

25 George Orwell: Nineteen Eighty-Four, Erstveröffentlichung London 1949. 26 Frank A. Meyer: Debattenkultur versus Cancel Culture – Robespierre in Berlin, Cicero, 3. September 2020. 27 Christopher Schelin: Cancel culture looks a lot like old-fashioned church discipline, The Conversation, 1. Mai 2021.

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Androhung von Repressalien gesagt werden darf, immer enger gezogen.“28 Mittlerweile hat sich in den Vereinigten Staaten eine „Academic Freedom Association“ gegründet, der hunderte Hochschullehrer beigetreten sind. Dabei sind neben Konservativen wie dem Historiker Niall Ferguson auch wichtige linke Gelehrte wie der afroamerikanische Philosoph Cornel West.29 Die britische Regierung hat ein aufsehenerregendes Weißbuch vorgelegt und bereitet sogar gesetzliche Schritte vor, um die Meinungsfreiheit an den Universitäten zu verteidigen. Akademiker, die aufgrund unliebsamer Meinungsäußerungen um ihre berufliche Position fürchten müssen, sollen sich künftig an einen staatlichen „Free-Speech Champion“ – eine Art Ombudsmann – wenden und sollen Schadenersatz fordern können, wenn Universitäten ihre Redefreiheit einschränken. Versuche, unliebsamen Rednern die Redefreiheit zu entziehen, sollen für illegal erklärt werden.30 Dieser Vorstoß traf aber auch auf harsche Kritik. Die Dozentengewerkschaft UCU erklärte die „Cancel Culture“ gar zu einer „Phantombedrohung“.31 Dabei griff die Regierung Johnson mit ihrer Vorlage eine Initiative der australischen Regierung auf, welche die akademische Rede- und Meinungsfreiheit in einem neuen Gesetz, dem „Higher Education Support Amendment (Freedom of Speech) Bill 2020“ garantiert. Wie weit die autoritären Neigungen von „Cancel Culture“-Befürwortern in Deutschland gehen, haben die Sozialwissenschaftler Matthias Revers und Richard Traunmüller jüngst empirisch untersucht.32 Sie befragten Studenten des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften der Frankfurter Goethe-Universität zu ihren Einstellungen hinsichtlich der Frage, ob sie

28 Vgl. A Letter on Justice and Open Debate, Harper’s Magazine, 7. Juli 2020. In Deutschland wurde der Brief in der Wochenzeitung „Die Zeit“ veröffentlicht, unter der etwas missverständlichen Überschrift „Liberalismus: Widerstand darf kein Dogma werden“, Die Zeit, 8. Juli 2020. 29 Ariel H. Kim und Simon J. Levien: Harvard Professors Help Found Nonprofit Committed to Academic Freedom, The Harvard Crimson, 11. März 2021. 30 Peter Walker: Government to appoint „free-speech champion“ for English universities, The Guardian, 14. Februar 2021. 31 Tim Lezard: “Biggest threat to academic freedom comes from ministers, not cancel culture” – UCU responds to government’s ‘free speech’ champion, Union News, 16. Februar 2021. 32 Matthias Revers und Richard Traunmüller: Is Free Speech in Danger on University Campus? Some Preliminary Evidence from a Most Likely Case, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 72/2020, S. 471–497.

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umstrittene Standpunkte zu Themen wie Gender, Zuwanderung und Diversität tolerieren könnten. Die Ergebnisse der Studie fasste die FAZ so zusammen: „Die Befragung von knapp tausend Studenten überwiegend aus dem linken Spektrum brachte den alarmierenden Befund, dass ein beträchtlicher Anteil von Studenten mit anderen Meinungen nicht konfrontiert werden will. Ein Drittel bis die Hälfte der Befragten sind dagegen, Redner mit abweichenden Meinungen zu den am meisten umstrittenen Themen Islam, Geschlecht und Zuwanderung an der Hochschule zu dulden. Noch höher ist der Anteil derer, die solchen Personen keine Lehrbefugnis geben würden, wiederum ein Drittel will ihre Bücher aus den Bibliotheken verbannen.“33 Allerdings finden sich solche autoritären Einstellungen nicht nur unter Studenten. In einer 2020 publizierten Allensbach-Umfrage unter Hochschullehrern teilte immerhin ein Viertel der Befragten die Meinung, dass es an Universitäten nicht erlaubt sein sollte, sich der „gendergerechten Sprache“ zu verweigern.34 In Deutschland haben sich angesichts dieser Tendenzen im Februar 2021 knapp 70 Professorinnen und Professoren zu einem „Netzwerk Meinungsfreiheit“ zusammengeschlossen, das inzwischen rund 600 Mitglieder zählt und viel Aufmerksamkeit in den Medien erregt hat. „Wir widersetzen uns allen Bestrebungen, die Freiheit von Forschung und Lehre aus ideologischen Motiven einzuschränken“, heißt es im Gründungsmanifest. Sie beklagen, dass versucht werde, „Forschung und Lehre weltanschaulich zu normieren und politisch zu instrumentalisieren“. Es werde Konformitätsdruck erzeugt, der immer häufiger dazu führt, wissenschaftliche Debatten im Keim zu ersticken.35 Die Politologin Barbara Zehnpfennig hat in diesem Sinne in der FAZ betont, dass die neu erstandene, ohne soziale Medien nicht denkbare Deutungsmacht identitärer Eliten den akademischen Diskurs über Konfliktthemen gesellschaftlicher Diversität empfindlich einengen würde.36

33 Thomas Thiel: Meinungsfreiheit an der Uni: Toleranz im geschlossenen Zirkel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. November 2020. 34 Deutscher Hochschulverband: „Die Forschung in Deutschland ist frei, aber …“, Pressemitteilung vom 12. Februar 2020. 35 Vgl. www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de. 36 Barbara Zehnpfennig: Worüber man nicht spricht, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Mai 2021.

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Grundsätzlich geht es der Identitätslinken mit ihrer „Cancel Culture“ um ideologische Hegemonie und die Macht, im medialen wie auch im akademischen Raum je nach Interessenlage weitreichende Sprechverbote zu erteilen; ein Ritual, das in Verbindung mit öffentlicher Demütigung und ritueller Selbstkritik wiederum an Maos Motto „Bestrafe einen, erziehe hundert“ erinnert. Einer wird öffentlich denunziert, als „umstritten“ markiert und isoliert. Im Zuge der inszenierten Empörungswelle steigern sich punktuelle Vorwürfe zu kampagnenhaften Anklagen. Das Signal an alle anderen – potentiellen Abweichler – ist klar: Passt auf, sonst ergeht es euch ähnlich. Wie Elisabeth Noelle-Neumann in ihrem Buch „Die Schweigespirale“ plausibel gezeigt hat, bewirkt die Angst vor sozialer Isolierung, dass Menschen verstummen, wenn sie fürchten, wegen ihrer Ansichten sanktioniert zu werden.37 Eine solche Schweigespirale ist aber Gift für die freiheitliche Demokratie, die vom Austausch unterschiedlicher Ansichten lebt. Diese Entwicklung bedroht eindeutig die Wissenschaftsfreiheit. Für Großbritannien, die USA und Kanada hat der Londoner Politikwissenschaftler Eric Kaufmann in mehreren empirischen Untersuchungen gezeigt, wie stark sich dort inzwischen ein akademisches Klima der Einschüchterung bis hin zur Selbstzensur breitgemacht hat. Kaufmanns große, repräsentative Umfragen zeigten, dass sich besonders Konservative kaum noch frei fühlen, ihre Meinung zu äußern. Etwa drei Viertel der konservativen Akademiker in den USA und Großbritannien an den sozialwissenschaftlichen Fakultäten berichteten, dass sie ein feindliches Umfeld erlebten.38 Diese Entwicklung hat auch etwas mit der zeitgeistkompatiblen Durch­setzung linker Hegemonie zu tun, gerade an den Eliteuniversitäten. An der Harvard Faculty of Arts and Sciences, der größten der zwölf Fakultäten der führenden amerikanischen Universität, wurde 2020 eine Umfrage durchgeführt, die ergab, dass konservative Professoren dort fast zu einer „aussterbenden Spezies“ geworden sind.39 Von 236 Fakultätsmitgliedern der

37 Elisabeth Noelle-Neumann: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut, München 1980. 38 Eric Kaufmann: Academic Freedom in Crisis: Punishment, Political Discrimination, and SelfCensorship, Center for the Study of Partisanship and Ideology (CSPI) Report 2, 2021. Vgl. auch Eric Kaufmann: Academic Freedom is Withering, Wall Street Journal, 28. Februar 2021 39 Nathalie L. Kahn: ‘An Endangered Species’: The Scarcity of Harvard’s Conservative Faculty,

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philip plickert    |    „cancel culture“

Faculty of Arts and Sciences, die an der Umfrage teilnahmen, bezeichneten sich nur sieben (3 Prozent) als „etwas“ oder „sehr konservativ“, wogegen 183 (78 Prozent) sich als „etwas“ bis „sehr liberal“ bezeichneten, was im amerikanischen Sprachgebrauch linksliberal oder links meint. Harvard ist kein Ausreißer in dieser Hinsicht, schrieb die Studentenzeitschrift „Harvard Crimson“ unter Verweis auf eine Umfrage an der Universität Yale: „Von den 314 Antworten dort identifizierten sich nur 7 Prozent der Fakultät als Konservative.“ Eine empirische Studie von Mitchell Langbert, die auf einer Befragung von fast 8.700 Professoren der 51 top-gerankten Liberal Arts Colleges der USA basiert, erbrachte schon 2018 das Ergebnis, dass es ein Übergewicht von 10 zu 1 von Demokraten versus Republikanern gebe. Werden die beiden Militärakademien herausgerechnet, sind sogar zwölfmal mehr registrierte Demokraten als Republikaner als Lehrende aktiv. Konservative sind damit eine verschwindende Minderheit, es breite sich ein homogenes „progressives“ Klima aus, resümierte Langbert.40 Eine YouGov-Umfrage für eine Studie Kaufmanns unter Professoren in Großbritannien ergab, dass sich 53 Prozent von ihnen als links, 9 Prozent als rechts der Mitte einordneten.41 Der Politologe Matthew Goodwin von der Kent University kam in einer Studie für das Legatum Institute zu einer sogar noch stärker ausgeprägten Links-Dominanz von fast drei Vierteln der Dozenten in den Sozialwissenschaften in den vier wichtigsten angelsächsischen Ländern. Goodwin sprach von einer „ideologischen Monokultur“, aufgrund derer nicht-linke Akademiker dazu übergingen, sich selbst zu zensieren.42 Im deutschsprachigen Raum dürften die politischen Präferenzen des akademischen Personals besonders in den sozialwissenschaftlichen Fächern ähnlich ausgeprägt sein.

The Harvard Crimson, 9. April 2021. https://www.thecrimson.com/article/2021/4/9/disappearance-conservative-faculty/ 40 Mitchell Langbert: Homogeneous: The Political Affiliations of Elite Liberal Arts College Faculty, Academic Questions, Springer, 19. April 2018. 41 Remi Adekoya, Eric Kaufmann, Tom Simpson: Academic freedom in the UK, Protecting viewpoint diversity, Policy Exchange 2020, S. 52. 42 Vgl. Edward Malnick: Right-wing academics ‘self-censoring’; Report warns of a higher education ‘monoculture’ where lecturers dislike anyone not Left-wing, The Sunday Telegraph, 16. Januar 2022.

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Der an den Universitäten aufgekommene Meinungsdruck spiegelt dabei teils auch allgemeine gesellschaftliche Tendenzen wider. In einer Allensbach-Umfrage zur Meinungsfreiheit in Deutschland äußerten annähernd zwei Drittel der Bürger, man müsse heute „sehr aufpassen, zu welchen Themen man sich wie äußert“, denn es gäbe viele ungeschriebene Gesetze, welche Meinungen akzeptabel und zulässig wären.43 Mehr und mehr Bürger fühlen sich dadurch zunehmend in die Ecke der Sprachlosigkeit gedrängt, dies befeuert Zweifel an der freiheitlichen Demokratie. Als Fazit bleibt festzuhalten, dass sich die Bedrohung der Wissenschafts- und Meinungsfreiheit durch eine linksidentitäre „Cancel Culture“ nicht nur aus innerakademischen Zusammenhängen heraus verstehen lässt. Im Kern ist es ein Angriff auf den offenen Meinungsaustausch und die liberale Grundordnung, das Fundament der pluralistischen Demokratie, die durch Denk- und Sprechverbote deformiert und bedroht wird. Universitäten und Regierungen sind gefordert, die Wissenschaftsfreiheit gegen diese Tendenzen aktiver als bisher zu verteidigen. Sicher ist: Diese neuesten Feinde der offenen Gesellschaft werden uns in den kommenden Jahren weiterhin beschäftigen.

43 Renate Köcher: Allensbach-Umfrage: Immer mehr Tabuthemen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Mai 2019.

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Wertewandel in der Zweiten Moderne Vom Wertewandel ist heutzutage seltener die Rede, ganz anders als noch vor der Jahrtausendwende (Hillmann 1989; Klages und Kmieciak 1984; Inglehart 1989). Das kann nicht darin begründet sein, dass es ihn nicht mehr gibt, wohl eher darin, dass die Zeiten so turbulent geworden sind, dass man sowohl in deskriptiver als auch in normativer Sicht mit der Gesellschaft ohne­hin nicht mehr zurande kommt.

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Das Reden von „Werten“ wird heute denn auch als ein wenig pathetisch empfunden, der Begriff hat so wie jener des „Wertewandels“ Patina angesetzt, vor allem bei jenen, die Coolness beweisen wollen (Wackwitz 2011). Ansonsten gibt es die banalen Wertäußerungen, für die sich alle d­ eswegen „kritisch“ ins Zeug legen, weil sich alle dafür ins Zeug legen. Wir sind für: Nachhaltigkeit, Frauengleichberechtigung, Solidarität, Demokratie, ­Offenheit und Toleranz, Frieden, Menschenrechte usw. Wir sind gegen: Rassismus, Antisemitismus, Ausbeutung, Armut, sexuelle Belästigung, Gewalt, Populismus, Pädophilie, Kolonialismus usw. Aber das ist bloß das Kräuseln von semantischen Wellen über den Tiefen und Untiefen einer undurchsichtigen Werteszenerie. In der Gesellschaft der zweiten Moderne, in der alles drüber und drunter zu gehen scheint, sind eher Begriffe wie Pluralität, Liquidität, Volatilität, Inkonsistenz und Multikulturalität angesagt, wenn es um die Beschreibung der Faktizitäten, aber eben auch der Normativitäten der Zweitmoderne geht. Das klingt beinahe, als ob sich nichts mehr sagen lässt. Häufig verwendet wird aber das Wertsegment Menschenwürde und Menschenrechte: Allgemeinbegriffe, die als Allzweckwaffe eingesetzt werden. Oder es ist von dem Wertsegment Respekt, Anerkennung und „Augenhöhe“ die Rede, bei allen, die keinerlei Ansätze oder Bemühungen zeigen, sich auch nur ein wenig Respekt zu verdienen. „Freiheit“ kommt bei den Impfgegnern neuerdings ins Spiel, wenn sie Vulgäranarchismus meinen. Die persönliche Wertewelt wiederum löst sich auf in den „multiplen Selbsten“, in den „Wer-bin-ich-undwenn-ja-wie-viele?“-Konstellationen (Precht 2012) oder in der „Flüchtig­ keit“ aller Zusammenhänge (Bauman 2003), trotz aller Identitätsarbeit, trotz aller Beschwörung von Authentizität. Der Markt für Psycho-Beratung wächst, aber die Sachlage wird nicht übersichtlicher.

Wertebeobachtungen und Wertetheorien Ein Rückblick auf die Wertwandeltheorien und -beobachtungen des 20.  Jahrhunderts lohnt sich deshalb, weil ähnliche Denkfiguren aktuell immer wieder vorgebracht werden. Man kann beispielsweise an Abraham Maslow erinnern, an seine Pyramide von den niedrigen bis zu den höheren Bedürfnissen (Maslow 1954); eine irgendwie plausible Reihung von Wün-

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schen, derzufolge wir in der reichen Gegenwartsgesellschaft fast alle längst die Spitze der Pyramide erreicht haben müssten – jene Stelle, wo durchwegs intellektuelle und ästhetische Bedürfnisse vorherrschen. Aber dass Intellektualisierung, persönliche Reife und Ästhetik schlechthin Zeichen der Zeit wären, würden selbst professionelle Optimisten kaum behaupten. Wir könnten es mit der Wertkonvergenz probieren, einer Angleichung von Werthaltungen und Lebensstilen innerhalb einer Gesellschaft – wo doch alles für alle zugänglich und verfügbar ist und die Gesetze der Imitation zu den gesellschaftlichen Grundprinzipien gehören (Tarde 2017). Noelle-Neumann hat vor Jahrzehnten gefragt: Werden wir alle Proletarier? (Noelle-Neumann 1978). Die Antwort ist schwierig: Abgesehen davon, dass sich die Proletarier nicht mehr definieren lassen und die Verwendung des Begriffs wohl in die Liste der gängigen Sprechverbote fällt, ist mit der Konvergenz in Wahrheit eine Angleichung auf irgendwelchen „oberen“ Etagen gemeint. (Ein paar Rest-Marxist/innen mögen immer noch den Eintritt der endgültigen Verelendung aller Arbeitnehmer/innen erwarten; auch das wäre eine Konvergenz. Aber das kommt hauptsächlich in Ländern vor, in denen marxistische Illusionsträger politischen Einfluss erzielen konnten.) Die Diffusität des Begriffs Proletarier/innen bedeutet überdies nicht, dass es nicht – auf allen Bildungs- und Einkommensniveaus – „Proleten“ geben kann; aber da ist etwas anderes gemeint. Ansonsten sehen wir eher eine allgemeine Pluralisierung der Lebens- und Wertewelt anstelle einer Vereinheitlichung. Oder sollte hinter der Vielfalt doch ein hohes Maß an Konformismus stecken? Schließlich müssen auch die „Individualist/innen“ der zweiten Moderne ihre „demonstrative Besonderheit“ auf eine Art und Weise zur Geltung bringen, die von den anderen, die ebenfalls ihren Individualismus präsentieren wollen, verstanden wird – also gibt es Muster der Persönlichkeitspräsentation, an die sich alle in hochkonformer Weise halten (Prisching 2006); und es gibt eine gemeinsame Geisteshaltung, derer sich zweitmoderne Individualisten befleißigen müssen: Man weiß, was man sagen muss, und man kennt in Anbetracht zunehmender wertbeladener Tabuisierungsbereiche die sprachlichen Verbotszonen. Aber trotz der vermuteten Konformisierung im Dienste der Individualität sehen wir doch auch Polarisierungsprozesse, die auf unversöhnliche Wertewelten hinauslaufen, wie wir sie in den Jahrzehnten zuvor nicht wahrgenommen haben. Eine der Kon-

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fliktzonen lässt sich mit political correctness und wokeness bezeichnen; das sind die psychischen Entfaltungsgebiete für Ereiferung und Selbstgerechtigkeit. Möglicherweise stimmt aber auch beides, nur in verschiedenen Bereichen: Einerseits wächst konsumistische, modische, typologische Konformität, andererseits wächst themenbezogene, feindseligkeitsauslösende Polarisierung, und beides zur gleichen Zeit. Wir könnten zurückgreifen auf klassische Thesen vom generellen Werteverfall, der in eine kulturpessimistische Betrachtung eingebettet ist: Alles ginge den Bach hinunter. Manchmal verbinden sich mit einer solchen resignierenden Äußerung romantisierende Vorstellungen von der (noch einigermaßen) geschlossenen Gesellschaft aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Prompt würde freilich jede:r Halbgebildete einwenden, dass sich auch schon die alten Griechen über die Jugend beklagt hätten, und glauben, er/ sie habe damit das Argument vom Tisch gewischt. Aber die Frage „Was hält unsere Gesellschaft überhaupt zusammen?“ ist durchaus berechtigt (Heitmeyer 1997), vor allem dann, wenn schon vor der Jahrhundertwende vom aufkommenden Narzissmus (Lasch 1995) und von der „Ego-Gesellschaft“ gesprochen sowie mangelnder Gemeinsinn, Absahnermentalität, Sozialhilfeschwindel, Steuerhinterziehung und Subventionsbetrug konstatiert wurden. Das ist wohl nicht weniger geworden. Etwas ernsthafter könnten wir die These eines zunehmenden Werterelativismus überlegen, derzufolge die normativen Elemente allesamt nicht mehr so ernst genommen werden. Das wäre in einer weltoffenen, flüssigen, pluralistischen Geisteshaltung durchaus zu erwarten. Schließlich werden die eigenen Werte permanent von anderen Vorstellungen „kontaminiert“. Aber wieder drängt sich das Gegenargument auf, dass es offenbar auch neue Bewertungen gibt, die von manchen sehr ernst genommen werden (wie etwa feministische Anliegen). Zudem kann man fundamentalistische Wertewelten nicht übersehen, deren Ernsthaftigkeit außer Zweifel steht (so etwa rechtsradikale, linksradikale oder islamistische Gewaltfantasien). Es ist gar von einer neuen Epoche der Fundamentalismen die Rede (Meyer 1989; Salamun 2005; Breuer 2020). In der Tat spielt man nicht locker mit Werten herum, wenn man als islamischer Terrorist sein eigenes Leben einsetzt – aber natürlich könnte es sich um wenige Randfiguren handeln; doch auch ein

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paar rechtsradikale Formationen gebärden sich durchaus so, dass man an die Ernsthaftigkeit ihrer Absichten glauben kann. Wir könnten uns der alten Max-Weber-These von einer Rationalisierung der gesellschaftlichen Strukturen und Werte anschließen: Dann können nur noch Werte gedeihen, die sich in die Apparatehaftigkeit des technisierten gesellschaftlichen Gesamtgebildes einfügen. Heute würde man wohl eher von Prozessen der Metrisierung und Standardisierung (Mau 2017) oder von einem „normalistischen“ Druck sprechen, der alle Verhaltensweisen nach den Geboten der „großen Maschinerie“ einebnet und ordnet (Link 2013). Oder sollte man nicht ganz im Gegenteil eine Irrationalisierung der Weltauffassungen und der Wertewelt konstatieren, wie sie unter anderem in Impfgegnerschaften zutage tritt, mit wirren Berufungen auf (anarchistische) „Freiheit“ und skurrilen Referenzen auf (romantische) Natürlichkeit oder auf (fundamentalistische) Gottesbehütung? Durch den Zerfall einigermaßen gefügter und sozialstrukturell verankerter Wertauffassungen ist insofern alles möglich und nichts zwingend, sodass im Gewirr der geistigen Verhältnisse auch Verrücktheiten unterschiedlicher Ausprägung ihren Platz in einer pluralistischen Landschaft finden – was nicht weiter schlimm ist, solange die Lebensmöglichkeiten anderer dadurch nicht eingeengt werden. Irrationalisierung kann man aber ebenso mit einer kosmopolitisch-multikulturellen Perspektive (wenn sich Menschen einer quasi-asiatischen Esoterik hingeben) (Höllinger 2014) wie mit den Prägungen einer flexiblen HyperKonsumgesellschaft verbinden (Prisching 2006). Wir könnten uns an das Modell der „einsamen Masse“ erinnern (Riesman 1956), in dem ein Entwicklungsgang gezeichnet wird, von traditionsgeleiteten Individuen über innengeleitete Typen hin zu außengeleiteten Menschen. Die Letzteren lassen sich von allen aktuellen Impulsen, Moden und Peers treiben. Das kommt uns insofern bekannt vor, als die konsumistische Marktwirtschaft immer stärker davon lebt, dass Menschen ihre spontanen, keineswegs existenzwichtigen Impulse in Kaufakte übersetzen. Die Kommunikativierung aller Lebensbereiche macht die „Außenlenkung“ durch Botschaften und Bilder zu einer neuen Realität: eine Art „Influencer-Gesellschaft“ in einem erweiterten Sinn. Im Angebot hätten wir auch noch die allgemeinere These vom „Unbehagen in der Modernität“, einem Unbehagen, welches zu entmoderni-

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sierenden Gegenströmungen führt (Freud 1994; Ehrenberg 2011). Daniel Bell hat sich in seinem Buch über „Cultural Contradictions“ den Kopf darüber zerbrochen, ob sich diese beiden Entwicklungen vereinbaren lassen (Bell 1976). Es geht um kollidierende Werthaltungen: (a) Im Bereich von Arbeit, Wirtschaft und Technik ist mehr an Rationalität, Formalität, Standardisierung und Selbstdisziplin gefordert, weil in einem verflochtenen System jedes Individuum funktionieren muss (Elias 1978/79); doch (b) sind im Freizeit- und Kulturbereich die Leitprinzipien Emotion, Spontaneität, Drogen, Erlebnis vorherrschend – wie sind diese beiden Welten vereinbar? Schließlich kann man doch nicht beim Verlassen des Arbeitsplatzes einen psychischen Hebel umlegen, um für die nächsten Stunden von der einen in die andere Welt „umzusteigen“. Die Vereinbarkeit ist noch ungeklärt, auch wenn Zeitbeobachter die „Künstlerkritik“ in das Wirtschaftsleben vordringen sehen und dergestalt einen „neuen Geist des Kapitalismus“ vorfinden (Boltanski und Chiapello 2003), sodass der anpassungsfähige Kapitalismus Kritik und Kreativität in domestizierter Form einbezieht und zum eigenen Vorteil nutzt. Mit der neuen Freizeit- und Event-Orientierung der zweiten Moderne verbindet sich auch die vor einiger Zeit noch weitverbreitete These vom „Postmaterialismus“, die plausibel zu machen versucht hat, dass die materialistisch-konservativen Werte von emanzipatorisch-nichtmaterialistischen abgelöst werden (Inglehart 1977). In einer anderen Formulierung: dass die Tendenz von Pflicht- und Akzeptanzwerten zu Selbstentfaltungswerten geht (Klages 1984). Nicht Wirtschaftswachstum, sondern gutes Leben; nicht Karriere, sondern lebenswerte Städte. In der Unverbindlichkeit einer Fragebogensituation lässt sich das schon sagen. Sonderbarerweise haben die Menschen ihre ökologische Handlungsbereitschaft jahrzehntelang auf diese Weise zum Ausdruck gebracht, und doch haben zarte Politikansätze jeweils zu wilden Protesten geführt. In diesen Jahren hat man jedoch idealisierende Vorstellungen über die postmaterialistischen Werte gepflogen, die mit allen liberalen, ökologischen und alternativpolitischen Vorstellungen vereinbar schienen: einfach eine befreite, harmonische, bessere Welt, ohne Gier und Kosten. Was man in den Umfragen gefunden hat, waren allerdings wohl eher die Illusionen und Selbsttäuschungen der oberen Mittelschicht mittlerweile ist Ernüchterung eingetreten. Allerdings haben sich einige die-

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ser Wertideen sehr wohl verbreitet: Kaum jemand würde es heute wagen, die Ökologie-Idee einfach abzutun. Aber auch die Entgegensetzung von materialistischen und postmaterialistischen Werten lässt sich komplizieren: Helmut Klages hat vor mehr als zwanzig Jahren eine große Gruppe von Menschen (etwa ein Drittel der Bevölkerung) gefunden, die sich um eine Wertesynthese, eine Vereinigung gegensätzlich erscheinender Werte, bemühten, und er hat sie in positiver Weise als „aktive Realisten“ bezeichnet: pragmatisch, rational, konstruktiv, kritikfähig, flexibel, selbstsicher. Aber das löst weitere Fragen aus: Wie kommen sie zur Synthese gegensätzlicher Werte? Um welche Werte handelt es sich? Können sie sich damit in der Gesellschaft behaupten? Und dann, leider: Es ist nur ein Drittel. Wenn sich ansonsten größere destruktive Gruppen finden, die man heute sicher bei 15 Prozent veranschlagen kann (wobei sich Grauschattierungen bis zu 30 Prozent der Bevölkerung verfolgen lassen), dann gilt das alte Prinzip, dass Destruktivität immer geringere Ressourcen erfordert als Konstruktivität und demgemäß gute Chancen hat, sich durchzusetzen. Brechen wir diese Theorienbesichtigung – mit ihrer jeweils aktuellen politischen Anwendung – ab: Wir stoßen, wie sich gezeigt hat, rasch auf Widersprüchlichkeiten, wenn wir erkunden wollen, wie es mit der Wertewelt der Zweiten Moderne steht. Doch möglicherweise ist dieser auf den ersten Blick verwirrende Befund gerade der empirisch richtige: Die späte Moderne ist von verwirrender Vielfalt gekennzeichnet, verschiedene soziale Gruppen wollen und werten Unterschiedliches. Also müssen wir uns mit den gesellschaftlichen Verankerungen einer derart wertdifferenzierten Welt auseinandersetzen.

Ressourcen für Wertauffassungen Die alten Klassenmodelle und Schichtmodelle haben insofern eine materielle Verzerrung aufgewiesen, als die Einkommens- und Vermögensverhältnisse auch für Verhalten, Denkweise und Lebensstil entscheidend sein sollten – und in gewissem Maße war das auch der Fall. Arbeiter hatten ihr Lebensumfeld, ihre Werte, ihre „Arbeiterkultur“. Bauern hatte ihre Werte. Städter oder Bürger wieder andere. Die Aristokraten oder die Kapitalisten wurden ebenso von ihrer Lebenslage geprägt. Wie du lebst – so bist du, so siehst du,

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so denkst du, so fühlst du. Es ist eine wissenssoziologische Perspektive, wie sie von Karl Mannheim entwickelt wurde: Klassenlage legt nicht nur gewisse Interessen, sondern auch Weltsichten nahe (Mannheim 1929). Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts konnte man tatsächlich noch das Bild eines Rechtsanwalts mit gutem Einkommen als Idealtypus eines Menschen mit großbürgerlichem Lebenszuschnitt entwerfen: Kleidung (gediegen, Anzug dezent, meist vom Schneider), Stil seiner Wohnung (wahrscheinlich Stilmöbel), Automarke (Mercedes). Man konnte annehmen, dass er sich für den Kulturbetrieb der Stadt interessierte (Opernabonnement), und spekulieren, wohin er auf Urlaub fuhr. So einfach geht es nicht mehr. Die Geschlossenheit solcher Lebenskreise oder Lebenskonstellationen hat sich aufgelöst, selbst bei Rechtsanwälten. Damit kann man auch nicht mehr von einem konsistenten Wertekosmos einer Gesellschaft ausgehen. Der Auflösungsprozess war schon vorher im Laufen, schließlich hat die Spaltung der Christenheit in der frühen Neuzeit bereits das einheitliche Weltbild zerrissen. Die Aufklärung hat im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte eine Diesseitsreligion geschaffen, die Vision einer verbesserbaren und perfektionierten Welt; und die religiös-konservativen Werte sind erschüttert worden, obwohl die religiöse Substanz nur langsam geschwunden ist (Eßbach 2014, 2019). Während die Religiosität sich in der Masse stark „verdünnt“ und eher in folkloristische Dimensionen verfrachtet hat, haben sich bestimmte „Kerne“ intensiviert: in eine fundamentalistische Religiosität oder in quasi-evangelikale Zirkel. In diesen kleinen Gruppen finden sich auch Impfgegner: Wenn ohne Gottes Willen kein Vogel vom Himmel fällt, dann ist alles, was geschieht, Gottes Wille – und man braucht auf Infektionsgefahren nicht zu achten. Die offizielle Kirche hat sich auf eine derartige Wirklichkeitsverweigerung nicht eingelassen, auch wenn sie zur Existenzbedrohung durch das Virus erstaunlich wenig zu sagen hat. Die Romantiker im frühen 19. Jahrhundert sind vor der Moderne zurückgeschreckt, sie plädierten für Heimat, Natur, Harmonie, Religion, gesundes Leben (Safranski 2009). In sonderbaren Verästelungen haben solche Lebensauffassungen ihren Weg in die Bohème an der Wende zum 20. Jahrhundert gefunden und sind in den 1960er-Jahren von der jüngeren Generation wieder aufgenommen worden – denn 68er-Protest, Neomarxismus

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und Popkultur haben wesentliche romantische Elemente aufgewiesen (Pri­ sching 2005). Die Modernismen wurden von den Romantikern als Verirrungen betrachtet, so wie es auch die Retro-Romantiker der Gegenwart tun. Gegenwärtige Werthaltungen, die sich auf Natur und Nachhaltigkeit beziehen, knüpfen oft nahtlos an diese Traditionen an; ebenso Natürlichkeitsargumente (gesundes Immunsystem, ausreichende Homöopathie) im Kontext des Impfstreits, die eine Anschlussfähigkeit für alle Arten von Esoterik ermöglichen. Die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts boten eine andere Antwort auf einen, wie sie meinten, existenzbedrohenden Wertezerfall in einer Gesellschaft, in der zentrifugale Kräfte nach allen Richtungen wirksam waren. Diese „Zerfledderung“ der Gesellschaft könne nur durch eine starke Hand (des linken oder rechten Führers) wieder zusammengebunden werden. Dass sich die Hauptvertreter solcher Modelle (wie Lenin und Stalin, Hitler und Mao) unter die großen Verbrecher des 20. Jahrhunderts einreihen, hat nicht verhindert, dass sich gegenwärtige Ideologen des Autoritarismus (linker oder rechter Prägung) zuweilen von ihnen faszinieren lassen (vgl. Heitmeyer 2018; Henkelmann et al. 2020). Die autoritäre Option gewinnt Resonanz, wenn die Gesellschaft tatsächlich turbulenter wird, die sozialen Gruppen nach allen Richtungen auseinanderdriften, Polarisierungen sich verstärken, jedes wert- und haltgebende Rahmenwerk unscharf wird. Die Pop-Kultur arbeitete sich von einer Anti-Mainstream-Strömung (mit ihren teilweise bewusst destruktiven Botschaften) aus den 1960/70erJahren vor bis in die Mitte der Gesellschaft (Prisching 2018), in einem Prozess, den man als eine Art von „Popisierung“ der Gesellschaft bezeichnen kann. Das Körperliche, das Ausgeflippte, das Verweigernde, das Eventhafte, das Ästhetisierende und Inszenierte, die Entertainment-Relevanz, zusammen mit Sex und Drogen, die Bedeutung von Musik und „Star“tum – viele Elemente davon sind in die Breite der zweitmodernen Gesellschaft vorgedrungen. Jede Papstmesse wird zu einem Event. Jede Demonstration wird zu einer Hybridveranstaltung mit Lustigkeitscharakter. Parteitage sind ästhetisiert-bildhafte Vorführungen für die Medien. Persönliche Identität wird auf Instagram gebastelt. Die „richtige“ Popmusik definiert die Person. Da gibt es schon viele Ansatzpunkte für „Anti-haftes“ (als Gegenhaltung um

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des Dagegenseins willen) und Konstruiertes (in beliebigen Beschuldigungshaltungen). Die Luxusgesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben zumindest eine klare Wertehierarchie: Die höchsten Werte findet man in Multioptionalismus und Konsum. Die neuen Kathedralen sind die Shopping Malls. Dafür gibt es viele Belege. Die Vermarktlichung aller Lebensbereiche lässt alle Dinge unter dem Aspekt der Kaufbarkeit erscheinen: Die Objekte werden unterteilt nach kaufbar und nicht kaufbar, leistbar und unerschwinglich (Prisching 2006). Identitätskonstruktion läuft zu einem Gutteil über Kaufen. Gemeinschaftsbildung ist vom Kaufen geprägt. Reputation und Status, Vergleich und Ranking werden auf die Symbolik von Objekten abgebildet. Das ist die eine Seite. Die Freiheit der Märkte ist hingegen für viele auch Ausgangspunkt von Risiken. Die alte, immer wieder erneuerte Spielart der Kritik ist die Zuweisung aller Übel dieser Welt an das Wirken eines Kapitalismus, dem ein ganz anderes, allerdings kaum je spezifiziertes Modell einer harmonischen, armutsfreien und stresslosen Welt gegenübergestellt wird (neuerdings wird sie abgebildet auf das Modell eines Grundeinkommens, der neuesten Spielart der alten Paradies- und Schlaraffenlandmärchen). Die neueste Variante der Kapitalismuskritik hat mehr Substanz, nämlich der Vorwurf der ökologischen Risiken, Zerstörungen und Gefährdungen. Werte rund um Umwelt, Klima, Nachhaltigkeit und Ressourcen (einschließlich Veganismus, Tierrechten und vielen anderen Seitensträngen) befinden sich seit Jahren im Aufstieg, so weit, dass „Nachhaltigkeit“ für manche zur umfassenden Gesamtwelterklärung, zur neuen Religion und zur beinahe exklusiven Wertquelle für alle Lebensumstände wird. – Insgesamt gibt es viele einzelne, einander überlagernde und widersprechende, verstärkende und bremsende Einflüsse. Es herrscht deshalb auch viel Chaos in den Köpfen.

Differenzierung: von den Klassen zu den Clustern Werte schweben nicht nur luftig über den Köpfen. Kann man überhaupt von „den“ Werten einer Gesellschaft sprechen, wo doch die Menschen so unterschiedlich leben? Aber was wäre eine Gesellschaft, wenn die Menschen nicht Gemeinsamkeiten, auch normativer Art, aufwiesen?

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Wenn wir uns auf ein Schlagwort für die Moderne/Zweitmoderne einigen wollen, dann wäre es wohl die Differenzierung. Meist wird sie auf die funktionale Aufgliederung einer Gesellschaft bezogen: Kirche ist etwas anderes als Pharmaindustrie, Universität etwas anderes als Eisenbahnverkehr. Die „Einwohner/innen“ solcher Subsysteme, Subkulturen oder Interaktionsbereiche leben unter jeweils unterschiedlichen Bedingungen, was für ihre Weltansicht nicht ohne Folgen bleibt. Ein Chirurg lebt in hohem Maße in einer „Chirurgenwelt“, eine Lehrerin in einer „Lehrerinnenwelt“. Mit Recht sagt Armin Nassehi: „Vielleicht muss man beginnen, die Theorie funktionaler Differenzierung als eine Theorie zu lesen, die nicht nur den effizienzsteigernden, arbeitsteiligen, für kulturelle Formen indifferenter werdenden und gewissermaßen befriedenden Aspekt sieht, sondern das, was Differenzierung auch ausmacht: das Auseinanderdriften von Lebensformen und funktionalen Handlungslogiken, die Gefahr einer Entkoppelung von Inklusionslogiken und Lebenslagen, den Limitationsverlust von Optionssteigerungen“ (Nassehi 2001, S. 355). Kurz: Arbeitsteilig und lebenspraktisch nützliche Differenzierung ist nicht nur effizient, sie bringt unterschiedliche Persönlichkeiten hervor, sie spaltet sogar die Menschen. Der Aufstieg der Lebensstile hat mit Pluralisierung und Individualisierung, Dynamisierung und Flexibilisierung zu tun, Prozesse, die nicht nur als Beschreibung faktischer Zustände zu verstehen sind, sondern auch normativen Gehalt gewinnen: Eine Person auf der Höhe der Zeit hat nun einmal individuell-individualisiert-selbstentfaltet zu sein (Prisching 2019). Der Reichtum einer Gesellschaft wird dabei vorausgesetzt, die über freie Ressourcen verfügt, um diese zum „Styling“ von Person und Umgebung einzusetzen. Noch vor siebzig Jahren war es Ziel einer erfolgreichen Sozialisation, dass der Sohn so werden sollte wie der Vater, die Tochter so wie die Mutter. Wie die Festtagskleidung aussah und zu welchen Gelegenheiten man sie trug, war vordem eine ziemlich festgelegte Angelegenheit, bis hin in subtile Signalsysteme. Inzwischen sehen sogar die Eltern die Erziehungsziele anders – denn irgendwann in der Pubertät wird jedem und jeder angesonnen, in einem Selbstentfaltungsprozess Eigenständigkeit, Besonderheit und Identität zu entwickeln, in einem Prozess, der bis zur Singularisierung, also zur Einzigartigkeit führen soll (Reckwitz 2017). Damit ist zwar jede:r Ju-

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gendliche überfordert, dennoch ist der gesellschaftlichen Botschaft kaum zu entrinnen. Der zweite einheitsauflösende Faktor ist die Vervielfältigung von Klüften, Ungleichheiten, Polarisierungen. Einkommen und Vermögen bleiben eine wesentliche Kategorie, aber wir haben viele andere Gegensätze zu gewärtigen: Männer und Frauen, Stadt und Land, Gebildete und Ungebildete, Alte und Junge, Einheimische und Ausländer. In Anbetracht dieser „Cleavages“ muss man seine Anforderungen an eine einheitliche Wertewelt reduzieren: Der Wertpapierhändler in der Frankfurter Innenstadt lebt in einer anderen Wirklichkeit als der ehemalige Stahlarbeiter mit seinem Häuschen an der Dortmunder Peripherie. Der Schulabbrecher, der experimentierfreudig mit IT-Adressen im Alter von 20 Jahren seine erste Million verdient hat, lebt in einer anderen Welt als der universitäre Sprachphilosoph, dem es im Alter von 35 Jahren in harter, wenig gewürdigter Arbeit gelungen ist, seine erste Festanstellung zu bescheidenen Konditionen zu erlangen. Der Nebenerwerbsbauer aus der Oststeiermark und der nigerianische Immigrant, der Volksschullehrer in Klosterneuburg, der Baggerfahrer aus Bregenz und der lebenslustige Tiroler Skilehrer, die konstruktivistische linksintellektuelle Feministin und der konservative katholische Priester aus Niederösterreich – sie haben nicht viel miteinander zu tun. Da ist es mehr Pathos oder Wunsch, sie auf eine angeblich festgefügte Grundlage „europäischer Werte“ (Jacobs 2006) zu stellen und an ihre Zusammengehörigkeit zu glauben. Das macht die Frage nach dem gemeinsamen Wertehorizont allerdings nur noch dringender: Gruppen, die nicht viel miteinander zu tun haben, darf man sich ja nicht als kunterbuntes, multikulturelles Nachbarschaftsfest vorstellen. Die Frage danach, was eine Gesellschaft (auf der Werteebene) zusammenhält, ist nicht müßig, trotz aller Vielfaltsbegeisterung. Der „Konsens über Nichtkonsens“ reicht für das Betreiben einer staatlichen und sozialen Ordnung nicht aus. Dann lassen sich eben die einen impfen und die anderen nicht. Die einen begrüßen eine Liberalisierung der Freitodregelung, andere sind entsetzt. Die einen wollen Straßen bauen, die anderen Autos verbieten. Da kann man sich nicht immer in der „Mitte“ zum Kompromiss finden.

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Lebensstile: Cluster, Milieus, Lagerungen Um die Vielfalt der Lebenslagen in den Blick zu nehmen, finden wir unseren Ausgangspunkt nach dem Zweiten Weltkrieg, damals noch mit vergleichsweise festgefügten sozialen Strukturen. Manche haben am mittlerweile längst obsoleten Klassenkampfmodell festgehalten, in dem einander Kapitalisten und Proletarier gegenüberstanden. Ihnen hat Helmut Schelsky seine These von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ entgegengehalten (Schelsky 1953). Bald gab es das berühmte Zwiebelmodell von Martin Bolte (Bolte und Hradil 1988) oder das Sozialstrukturhäuschen von Ralf Dahrendorf (Dahrendorf 1957): einleuchtende grafische Darstellungen einer herkömmlichen Konfiguration von kleiner Oberschicht, großer (in sich differenzierter) Mittelschicht und kleiner Unterschicht. In diesen Jahrzehnten wurde immer die Mittelschicht als der Sitz der bürgerlichen Tugenden und der gesamtgesellschaftlichen Werte, damit als das eigentlich stabilisierende Element der Gesellschaft angesehen. Unter dem Aspekt der Wertorientierung hat man sowohl der Unterschicht als auch der Oberschicht ein gewisses Misstrauen entgegengebracht. Auf jeden Fall haben diese einfachen Modelle im Laufe der letzten Jahrzehnte nicht mehr ausgereicht. Wir haben es zunehmend mit Weltbetrachtungen zu tun, die sich nicht mehr einfach aus Einkommensverhältnissen – oben, Mitte, unten – ableiten lassen. Zusätzliche Komponenten spielen eine wichtige Rolle für den Lebensstil, also für die kulturellen Präferenzen und für die Art der Lebensführung. Das sind (natürlich) die erworbenen Bildungsqualifikationen, aber auch Variablen wie Geschlecht, Wohnort (Stadt oder Land), Alter oder ethnische Zugehörigkeit. Einfache Varianten solcher Aufteilungen finden sich schon bei Pierre Bourdieu (Bourdieu 1987) oder bei Gerhard Schulze (Schulze 1992). Die Idee Bourdieus, dass es neben dem ökonomischen Kapital auch noch kulturelles, soziales und symbolisches Kapital gibt, Ressourcen, die an Unterschiede in Geschmack und Lebensstil gebunden, aber ebenso wichtig für Lebenserfolg und Karriere sind wie das ökonomische Kapital, hat in einer Gesellschaft der Zweiten Moderne, in der Bildungszertifikate durch Generalisierung und Massenbildung weniger Wert haben, durchaus eine neue Relevanz bekommen: Man bekommt den aussichtsreichen Job, weil man (neben dem

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Zertifikat) über Bekannte Zugang zum „Spielfeld“ der „guten“ Jobs bekommt und/oder sich zu „benehmen“ weiß. Gerhard Schulze hat schließlich das ganze Feld geöffnet. Im Prozess der Pluralisierung, Flexibilisierung und Individualisierung haben sich nämlich Milieus herausgebildet, die Lebensweisen nicht nur nach oben und unten ausdifferenzieren, sondern auch noch nach grundsätzlichen Werthaltungen oder Lebenseinstellungen: von einer traditionellen Wertewelt über eine Modernisierungsperspektive bis zu einer „zweitmodernen“ Neuorientierung. In den Sinus-Milieus sind diese Cluster dargestellt worden. Es handelt sich somit um zwei Dimensionen: Die eine (vertikale) Dimension entspricht der traditionellen Rangordnung – ein gehobenes Milieu zeichnet sich aus durch entsprechende Bildung, Einkommen und Beruf. Die andere (horizontale) Dimension beschreibt drei Wertorientierungen: (a) Auf dem konservativen Pol hält man an den tradierten Werten und Verhaltensweisen fest, man ist an das nähere Umfeld angepasst und zurückhaltend, will nicht auffallen. (B) Die Mitte ist gekennzeichnet durch Modernisierung und Individualisierung (Selbstverwirklichung und Authentizität, Emanzipation, Selbstständigkeit). (C) Auf dem anderen Pol findet sich Neuorientierung, Originalität, Experimentierfreudigkeit bis hin zur „Ausgeflipptheit“; es ist die geistig und geografisch mobile kreative Avantgarde. Die Selbstdarstellung der Individuen spielt sich in diesem Koordinatensystem ab, nicht zuletzt durch die Dekoration des Körpers, der Kleidung und der Kosmetik. Die Tattoodichte und die originelle Haargestaltung nehmen von A nach C deutlich zu, die Opernbesuchshäufigkeit nimmt ab. Auf der A-Position oben: gewisse Weinkenntnisse, hohes symbolisches Potenzial der Lebensgestaltung. C-oben: Kokain-Erfahrungen. A unten: Einkäufe im Billigladen. C-unten: Aussteiger, nicht unter den besten Verhältnissen, manchmal bloße Überlebensorientierung mit Betäubungscharakter. – Die Oberschicht ist keine einheitliche Sozialformation mehr. Da gibt es auf der einen Seite (A) den schon erwähnten konservativen Rechtsanwalt mit Stilmöbeln und einem Konzertabonnement; aber auf der anderen Seite (C) die junge Architektin, die einen riesigen Dachboden für ihr Studio ausgebaut hat, mit casual-Kleidung herumläuft und zum Jazz-Festival fährt. Am unteren Level gibt es auf der einen Seite (A) die Bewohner des kleinen suburbanen Häuschens, das mit Gartenzwergen dekoriert ist; auf der anderen Seite (B, C)

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Hedonisten, den Mechanikerlehrling mit gebrauchtem, aber rundum aufgemotztem BMW, mit dem dadurch abgesicherten Lebenssinn, am Wochenende motorisch, alkoholisch und sexuell „aufzudrehen“. Insgesamt ergeben sich üblicherweise etwa acht bis zwölf Cluster, die auch die jeweils ganz unterschiedlichen Werthaltungen beschreiben: konservative und moderne, angepasste und durchgedrehte, reiche und arme, biedere und ausgeflippte. Die Sinus-Studien waren zunächst Marketing-Instrumente, aber sie haben eine übersichtliche Landkarte geboten, und im akademischen Raum hat Michael Vester mit ihnen weitergearbeitet (Vester 2001). Nun leben wir in einer dynamischen oder liquiden Gesellschaft, da gibt es Verschiebungen, auch bei den Lebensstilgruppen. Andreas Reckwitz hat deshalb versucht, aktuelle Aufstiegs- und Abstiegsprozesse nachzuzeichnen (Reckwitz 2019). Relativ einfach zu beschreiben sind die oberen und unteren Etagen der Gesellschaft, schwieriger wird es mit der Mittelklasse. (a) Am oberen Rand geht es nicht so sehr um die obersten 10 %, deren Einkommen von den anderen überschätzt wird, sondern eher um 3 % und ganz besonders um das oberste Prozent. Dort hat in den letzten Jahrzehnten eine exorbitante Steigerung von Einkommen und Vermögen stattgefunden. Manchmal hat es sich für die Startposition um ererbtes Vermögen gehandelt, oft waren die Vermögenden auf „Winner-takes-it-all“-Märkten tätig, manchmal waren es bloß glückliche Zufälle: Man war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Die Werthaltungen der Akteure sind kosmopolitisch, materiell orientiert, ungebunden: Was ist die Goldene Regel? Wer das Gold hat, macht die Regeln. (b) Am unteren Rand finden wir strukturell unsichere Lebensbedingungen. Die Akteure leben oft von familiärer oder staatlicher Unterstützung. Es sind Personen aus deindustrialisierten Gebieten, Angehörige der unteren Dienstleistungsklasse, Bildungsverlierer. Man lebt von der Hand in den Mund. Der Lebensstil ist geprägt von ungesunder Ernährung, die gelebten Geschlechtermodelle sind von gestern, die Einstellung ist lokalistisch, es herrscht politische Indifferenz – und steigendes Unbehagen. Denn nicht nur Politik wird als Spiel anderer Leute wahrgenommen – „alles“ erscheint als Spiel irgendwelcher korrupten und repressiven Eliten. (c ) Die mittlere Etage, immer noch am größten, aber in sich höchst unterschiedlich, lässt sich im einfachsten Fall in die neue und die alte Mit-

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telklasse sondern. In der alten Mittelklasse finden sich Reste aus der indus­ triellen Moderne, die in einer digitalisierten Welt beinahe schon überflüssig geworden sind. Wertorientierungen sind Selbstdisziplin, Fleiß, Ordnung; es herrscht ein Ethos der Notwendigkeit. Aber Leistungen und Qualifikationen aus diesem Cluster werden entwertet. Die neue Mittelklasse verfügt über hohe Qualifikationen und kulturelles Kapital. Sie ist meist mit immaterieller Arbeit beschäftigt, glaubt an den Fortschritt, ist eine urbane Gruppe. Wertorientierungen sind geprägt durch Selbstentfaltung, Einzigartigkeit, ein authentisches Leben, Kosmopolitismus. Nun sind die Wertauffassungen mit der sozialstrukturellen Situierung verknüpft – doch sind sie so intensiv damit verknüpft, dass diese Relation genügt? Sagt mir die Einordnung in die neue Mittelschicht „alles“ Relevante über die Person? Kumkar und Schimank haben gegen das Reckwitzsche Modell vorgebracht, dass es nicht die sozialstrukturellen Verschiebungen beschreibt, sondern nur deren Beschreibungen, also die Selbstbilder einer Gesellschaft, die zur Beruhigung der Klassen dienen sollen (Kumkar und Schimank 2022). Diese Kritik muss man nicht für überzeugend halten. Aber ein anderer Einwand, den sie vorbringen, ist durchaus berechtigt: Genügt es, die alte und die neue Mittelklasse zu beschreiben, oder sind nicht doch weitere Differenzierungen nötig? Schließlich haben die Sinus-Milieus sich bereits mit einer weit differenzierteren Cluster-Topographie beschäftigt. Man kann also die Diagnose von Reckwitz durchaus akzeptieren, doch scheint sie auf einer so allgemeinen Ebene angesiedelt zu sein, dass man den Prozessen in der Gesellschaft selbst noch nicht hinreichend nahekommt. „Bei genauerem Hinsehen“, so meinen Kumkar und Schimank, werde „erkennbar, dass diese Frontstellung zwischen zwei und nur zwei kulturellökonomisch-politischen Profilen in den Mittelschichten real in ganz vielen Hinsichten nicht aufgeht. So umfasst die ‚alte Mittelklasse‘ bei Reckwitz unter anderem sowohl das Kleinbürgertum der selbstständigen Kleinunternehmer als auch Facharbeiter – zwei Gruppen, die sozialpolitisch sehr wenige gemeinsame Interessen haben dürften. Viel mehr Interessendivergenzen als -übereinstimmungen finden sich auch in der ‚neuen Mittelklasse‘, zum Beispiel bei Bankern, Managern und Organisationsberatern auf der einen gegenüber Lehrern, Sozialarbeitern und Krankenhausärzten auf der anderen Seite.“ (Kumkar und Schimank 2022, S. 30). Damit sind wir, bei Ak-

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zeptanz der von Reckwitz beschriebenen Prozesse, für eine genauere (auch erfahrungsmäßig plausible) Gruppenunterscheidung doch wieder auf SinusMilieus oder ähnliche Landkarten verwiesen.

Die großen Trends und ihre Wertimplikationen Die Meta-, Mega- oder Hypertrends (oder wie immer man sie nennen mag) kommen – in ihren Wirkungen auf das Wertgefüge – hinzu. Individua­ lisierung mag zu einer sinnvollen Selbstbewusstheit führen, landet aber nicht selten im Narzissmus. Pluralisierung erweitert den Horizont, bietet aber auch die Option zur schnoddrig-antisolidarischen Indifferenz. Globalisierung führt zur Multikulturalisierung (Malik 2018), sodass alle möglichen Wertwahrnehmungen und Werterfahrungen zusammenkommen: Manchmal trägt dies zur Bewusstwerdung der eigenen Wertewelt bei, manchmal aber bloß zur Konfusion. Die Kommunikativierung aller Lebensbereiche (Knoblauch 2016) führt zur Wertrelativierung, weil man andauernd mit unterschiedlichen Sichtweisen konfrontiert ist und zudem die Relevanzstrukturen der Gesellschaft durch den Modus der Kommunikation eingeebnet werden; Medien verwischen den Unterschied zwischen dem Wichtigen und dem Unwichtigen. Endergebnis des Medieneinflusses kann sowohl mehr Verständnis für andere Personen und Gruppen als auch Polarisierung, Abgrenzung und Fundamentalisierung sein. Digitalisierung führt zu bestimmten Eigendynamiken für das Leben in der elektronischen Welt, deren Ergebnisse unbestimmt sind (Maasen und Passoth 2020): Während man sich zu Beginn von der Zugänglichkeit und Verfügbarkeit des Netzes mehr Verständnis, öffentlichen Diskurs und Demokratisierung erwartet hat (Aufwertung der Demokratie), ist diese Apparatur eher zu einer der Desinformation geworden, hinsichtlich derer man noch nicht weiß, wie man Hass, Aggressivität und Dummheit in den Griff bekommen kann (Gefährdung der Demokratie). Auch andere Spaltungen der Gesellschaft haben Wertimplikationen, ohne dass die einzelnen Einflüsse in diesem Zusammenhang verfolgt werden können. So findet sich ein zunehmender Stadt-Land-Gegensatz, der in Umfrage- und Wahlergebnissen klaren Ausdruck findet; pauschal gesagt: Der ländliche Raum hegt offenbar größere Sympathie für autoritäre Ansagen. Die Abfolge der Genera­ tionen wird von allen Sozialwissenschaftlern mit dem Wertewandel verbun-

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den, allein schon wegen der unterschiedlichen Erfahrungen während des Sozialisationsprozesses: von der „skeptischen Generation“ (Schelsky 1953) und den „68ern“ über die Generation Golf bis zu den Millennials (Howe und Strauss 2000); pikanter sind Bezeichnungen wie die „Generation Prekär“, die „Generation YouTube“ oder die „Generation Maybe“ (Jeges 2014). Die Vielfalt der Jugendszenen (siehe dazu jugendszenen.com) schließt sich mit teilweise höchst unterschiedlichen Horizonten den „Insassen“ von diversen Subkulturen an.

Resümee Es handelt sich um einen Mythos, wenn man sich eine frühere Wohlgeordnetheit der Gesellschaft vorstellt, die von einer gemeinsamen Wertebasis (mit mehr Friedlichkeit, Gemeinschaftlichkeit, Verständnis und Solidarität als heute) getragen war. (a) Die Äußerlichkeiten der Geschichte stimmen damit nicht überein. Der Anteil der Menschen, der auf gewaltsame Weise zu Tode kommt, war noch nie so gering wie in den westlichen Gesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts (Pinker 2013). (b) Richtig ist, dass es so etwas wie einen gemeinsamen „Wertebaldachin“ (Soeffner) gab, das christliche Europa, mit gewisser Wirksamkeit der Lehren in die Gesellschaft hinein. (c) Der Eindruck der Wohlgeordnetheit entsteht aber auch, weil Gruppen mit unterschiedlichen Wertauffassungen in einer fragmentierten, in gewissem Sinne füreinander „unsichtbaren“, also wenig verflochtenen und wenig interagierenden Gesellschaft nebeneinandergestellt waren. Unterschiedliche Werte konnten mangels „Kenntnis“ und mangels „Berührung“ nur selten kollidieren – wenn doch, ging es ohnehin oft blutig zu. Nun hat aber die Interferenz von unterschiedlichen Werte-Clustern Schritt für Schritt zugenommen, sie ist in der „Kommunikativierung“ der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts geradezu explodiert. Die Werte-Cluster sind (allein schon durch umfassende Sichtbarkeit) aufeinander losgelassen. Das irritiert die Wertbestände selbst, es produziert aber auch Konflikte. Hans-Georg Soeffner stellt fest: „Je heterogener, pluralistischer, ‚multikultureller‘ und ‚multiethnischer‘ Gesellschaften strukturiert sind, um so partialisierter und parzellierter treten symbolische Formen und ihre Einzelelemente nebeneinander auf.“ Das spricht für eine generelle Fragmentierung

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der zweitmodernen Gesellschaft; aber dabei bleibt es nicht. „Die Konkurrenz unterschiedlicher Weltanschauungen auf den gegenwärtig beobachtbaren Märkten der Sinnentwürfe; die Zergliederung moderner Gesellschaften in ethnische Inseln, Ghettos und Reservationen; die Formierung ‚überregionaler‘, bildungs- und schichtorientierter Lebensstil- und Geschmacksgruppierungen; nicht zuletzt eine übernationale ‚Globalkultur‘ der Medien, Moden und Konsumgewohnheiten – sie alle bringen Vielfalt, neue Bündnisse, überraschende Überschneidungen und Wahlverwandtschaften ebenso hervor wie Konkurrenz, Kampf und Antagonismen zwischen den symbolischen Formen, genauer: zwischen Gruppierungen, die sich über solche Formen interpretieren bzw. ein- und ausgrenzen“ (Soeffner 2000, 255f.). Wir haben es also mit der folgenden Konstellation zu tun: (a) Die „alte Fragmentierung“ (auch unterschiedlicher Lebens- und Wertordnungen) war durch wechselseitige Nichtwahrnehmung stabilisiert. Dazu ist eine gewisse gemeinsame Wertegrundlage gekommen, die im europäischen Kontext allein schon durch das Christentum gewährleistet wurde. (b) Spaltungen, wie sie etwa durch die innerchristlichen Feindseligkeiten entstanden, sowie die allgemeine Schwächung des „Wertebaldachins“ in der Neuzeit wurden eine Zeit lang durch den erstarkenden Staat kompensiert, bis hin zu nationalistischen Gemeinsamkeitsideologien. (c) Doch nun haben wir es mit einer „neuen Fragmentierung“ zu tun, die durch technisch-organisatorische Entwicklungen wie auch durch Individualisierungsideologien produziert wurde. Dazu kommen die allgemeine Sichtbarkeit und allgemeine Vergleichbarkeit, durch welche die Fragmente aufeinanderprallen. Die jeweils unterschiedlichen „Kerne“ wiederum werden durch die kommunikativen Mittel deutlicher herauspräpariert und intensiviert: fundamentalistische Inseln. Das ist eine Konstellation, in der sich der Staat möglicherweise eine Zeit lang zum „Erfüllungsgaranten der eudämonistischen L ­ ebenserwartung der Bürger“ (Böckenförde 2006, S. 113) machen kann, aber das mag in einer Gesellschaft, die durch parallele Entwicklungen durcheinander ge­ würfelt wird, auf Dauer nicht reichen. Vorderhand bleibt nur ein ­„fragiler Pluralismus“ (Soeffner und Boldt 2014) übrig, auch für die Werte, ein Pluralismus, in Anbetracht dessen man gesamtgesellschaftliches muddling-through betreiben muss. Die Frage der gemeinsamen Werte löst sich nicht in Wohl-

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gefallen auf, auch nicht im Sinne der karikaturhaften Liberalität eines „Jedem seine eigenen Werte“. Denn Kultur ist ein System der kollektiven Musterbildung, der Standardisierung, der Gemeinsamkeit. Es gibt (in diesem Sinne) keine „Privatkultur“ (Grau 2018). Es ist nicht nur die Epidemie schuld, wenn sich Menschen nach einer (früher abgetanen) „Normalität“ sehnen. Das Problem ist die „zweitmoderne“ Welt. Modernität bedeutet: Vielfalt und Krise. Damit sind Vielfalt und Krise der Wahrnehmungen und Deutungen, der Vorder- und Hinterbühnen, der Fakten und der Normen gemeint. Es besteht enormer Lernbedarf (Nassehi 2012).

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Kampagneneffekte durch ­persönliche Kontakte? Ergebnisse eines im Rahmen der ­oberösterreichischen Landtagswahl 2021 in Wels durchgeführten ­Wahlkampfexperiments Wahlkämpfe haben aufgrund schwächer gewordener Parteibindungen an Bedeutung gewonnen. Wie stark die Effekte verschiedener Kampagnenformen tatsächlich sind, ist mit der traditionellen Umfrageforschung jedoch nur schwer zu bestimmen, wes­ halb das Interesse an experimentellen Methoden der Wahlforschung gestiegen ist. Ein auf Initiative der Politischen Akademie durchgeführtes Projekt im Rahmen der ober­ österreichischen Landtagswahl 2021 zeigt die Möglichkeiten von Feldexperimenten, aber auch die damit verbundenen Probleme. Die Ergebnisse des in Wels durchge­ führten Experiments deuten die Existenz von Kampagneneffekten durch persönliche Kontakte mit potenziellen Wählerinnen und Wählern (Tür-zu-Tür-Kampagne bzw. Hausbesuchs-Tour) an und zeigen gleichzeitig das Desiderat weiterer angewandter politikwissenschaftlicher Forschung auf.

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Wahlkämpfe und experimentelle Wahlforschung Am Beginn der Wahlkampfforschung wurden starke Kampagneneffekte vermutet, doch erbrachte die erste große Wahlstudie in den USA einen insgesamt negativen Befund (Lazarsfeld et al. 1944). Der Fokus der Forschung richtete sich daraufhin auf stabile, langfristige Faktoren des Wahlverhaltens wie soziale Klasse, weniger auf die kurzfristigen Effekte einer Kampagne. In den vergangenen Jahrzehnten ist das Interesse an Wahlkämpfen jedoch erneut stark gestiegen (vgl. Schoen 2005), und die klassische Frage, ob Kampagnen das Wahlergebnis tatsächlich beeinflussen, wurde angesichts schwächer gewordener Parteibindungen und einer gestiegenen Wechselbereitschaft zunehmend bejaht. In jüngster Zeit konzentrierte sich die Wahlkampfforschung auf die Nutzung sozialer Medien, die neben dem Fernsehen eine immer größere Rolle in den Kampagnen der Parteien einnehmen. Aber auch klassische Kampagnenformen wie Tür-zu-Tür-Wahlkämpfe (Kruschinski/Haller 2018) wurden untersucht. Die systematische Analyse von Kampagneneffekten ist jedoch herausfordernd. Kampagnen von Wahlsiegern werden in journalistischen und wissenschaftlichen Nachbetrachtungen häufig als besonders innovativ bewertet, wogegen die Kampagnen der Verlierer automatisch negativ bewertet werden. Ferner scheitern Fragen nach dem veränderten Wahlverhalten als eine mögliche Folge von Kampagneneffekten bei vielen Befragten an einer mangelnden Erinnerungsleistung oder nachträglichen Rationalisierungen. Eine alternative Möglichkeit, die Effekte von Kampagnen zu untersuchen, bieten experimentelle Methoden, die in der Politikwissenschaft insgesamt an Bedeutung gewonnen haben (Druckman et al. 2011): SurveyExperimente (Umfrageexperimente) können noch der Befragungsmethode zugeordnet werden, da sie den Effekt unterschiedlicher Formulierungen testen. Natürliche Experimente nutzen Veränderungen von als relevant erscheinenden, von der Forschung selbst aber nicht beeinflussbaren Faktoren, etwa den Wechsel des Wahlsystems. Laborexperimente ermöglichen im Gegensatz dazu die direkte Beeinflussung von Faktoren, die – so die Annahme – das Verhalten oder die Einstellungen von Menschen beeinflussen. Zusätzlich können die untersuchten Personen in Experimental- und Kon­ trollgruppen eingeteilt werden, sodass das Treatment, etwa ein Werbespot, auf eine bestimmte Personengruppe beschränkt werden kann. Offen bleibt

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jedoch stets, inwieweit die Ergebnisse auf die „reale“ Welt übertragen werden können. Bei Feldexperimenten, die außerhalb von Laboren stattfinden, fällt es hingegen schwerer, das Treatment und die Einteilung der untersuchten Personen in Experimental- und Kontrollgruppen zu überwachen. Im Bereich der Wahlforschung konzentrierten sich Feldexperimente bislang vor allem auf die Beeinflussung der Wahlbeteiligung, weniger auf die Wahlentscheidung für einzelne Parteien bzw. Kandidatinnen und Kandidaten (Gerber 2011). Auch das einzige bislang in Österreich durchgeführte (publizierte) Feldexperiment widmete sich der Wahlbeteiligung, konkret der Beteiligung bei der Wiener Gemeinderatswahl von 2015 (Thomas et al. 2016). Freilich stellt sich bei Feldexperimenten der Wahlforschung ganz besonders auch ein wissenschaftsethisches Dilemma. So wünschenswert diesbezügliche Studien wären, so problematisch wäre bzw. ist es, wenn seitens der Wissenschaft durch Experimente Wahlkämpfe und damit demokratische Entscheidungen beeinflusst würden bzw. werden. Selbst eine durch derartige Experimente verursachte Veränderung der Wahlbeteiligung kann – angesichts von zumindest nicht auszuschließenden parteipolitischen Nebeneffekten – nicht von vornherein als unproblematisch angesehen werden, eine direkte Beeinflussung des parteipolitischen Erfolgs oder Misserfolgs von Parteien kann es in keinem Fall. Die aus der Wissenschaftsethik abzuleitenden Grenzen der experimentellen Wahlforschung sind daher eng und sind auch eng auszulegen. Sie wurden in diesem Sinne auch bei dem in diesem Beitrag dargestellten Wahlkampfexperiment beachtet und insofern berücksichtigt, als der Feldversuch völlig unabhängig von den das Experiment begleitenden Wissenschaftlern durchgeführt wurde. Diese haben im Vorhinein lediglich hinsichtlich allgemeiner Wahlkampfforschung sowie der tauglichen Methoden zur Auswertung derartiger Experimente beraten sowie im Nachhinein die Ergebnisse des Experiments untersucht und ausgewertet.

Der Feldversuch in Wels In einem mithilfe der ÖVP Oberösterreich durchgeführten Projekt der Politischen Akademie wurde im Vorlauf der am 26. 9. 2021 abgehaltenen oberösterreichischen Wahlen in einem ausgewählten Sprengel eine Hausbe-

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suchs-Tour organisiert. Die Stadt Wels wurde bewusst ausgewählt, weil dort vonseiten der ÖVP eine direkte Ansprache von Wählerinnen und Wählern über Hausbesuche sonst kaum erfolgt. Die dafür notwendigen Personalressourcen sind im Regelfall nicht vorhanden. Am 22. 9. waren insgesamt vier Personen von 16:00 bis 18:30 Uhr unterwegs. Ihr Ziel war es, die rund 800 Wahlberechtigten im Sprengel bzw. eine Person pro Haushalt (bei insgesamt rund 300 Haushalten) persönlich anzusprechen, wobei mit den Worten „Liebe Grüße vom Landeshauptmann“ ein vorbereitetes „Wahlkampfsackerl“ überreicht werden sollte. Dieses enthielt einen Folder, der für eine Vorzugsstimme für Landeshauptmann Thomas Stelzer warb, sowie einen Eiskaffee, Stifte und Süßigkeiten. Die unmittelbaren Reaktionen der Kontaktierten wurden insgesamt als positiv bewertet. Wurde niemand angetroffen, wurde das Präsent vor der Haus- bzw. Wohnungstür abgestellt. War dies aufgrund eines fehlenden Zugangs in das Gebäude nicht möglich, wurde stattdessen ein Türhänger in das Postfach geworfen. Letzteres betraf rund ein Zehntel der Wohneinheiten. Tabelle 1 zeigt die (möglichen) Auswirkungen des Treatments, d. h. der persönlichen Kontaktaufnahme bzw. der Hinterlassung des Präsents oder der Nachricht. Die angeführten Prozentpunktdifferenzen vergleichen die Werte von 2021 mit jenen von 2015. Da über die Struktur der Sprengel keine systematischen Informationen vorliegen, ist der Vergleich über Zeit die beste Analysestrategie. Die im Experimentalsprengel 311 erzielten Ergebnisse werden auf drei Arten verglichen: (1) mit dem Trend in einem auf Basis lokaler Expertise als strukturgleich identifizierten Sprengel, (2) mit dem Mittelwert der Trends in 52 (weitgehend) unveränderten Sprengeln sowie (3) mit dem Mittelwert der Trends in 40 tatsächlich unveränderten Sprengeln, d. h. einer Teilgruppe der in Variante 2 erfassten Sprengel. Die Einschätzung der räumlichen Stabilität der Sprengel basiert auf einem Vergleich der Adressen (siehe Anmerkungen bei Tabelle 1). Zuletzt ist die Veränderung des Gesamtergebnisses für Wels angeführt. Dieses umfasst neben den Experimental- und Kontrollsprengeln alle nicht ausgewählten Sprengel, darunter auch Spezialfälle wie Pflegeheime. Die abgegebenen Wahlkarten sind bei dieser Wahl bereits bei den einzelnen Sprengelergebnissen berücksichtigt.

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Tabelle 1: Veränderungen bei der Wahlbeteiligung und den ÖVP-Anteilen in Wels: 2021 ­verglichen mit 2015 (Prozentpunktdifferenzen) Landtagswahl Wahl­ beteiligung Experimentalgruppe: Sprengel 311

ÖVP

Gemeinderatswahl Wahl­ beteiligung

ÖVP

–8,4

2,4

–10,4

–9,3

(1) der strukturgleiche Sprengel 211

–10,9

–4,5

–10,2

–7,1

(2) 52 (weitgehend) unveränderte Sprengel

–10,8

-0,7

–13,0

–4,7

(3) 40 unveränderte Sprengel (Mittelwert)

–11,5

-0,3

–13,7

–4,6

Gesamtergebnis Wels

–10,2

-0,7

–12,6

–4,8

Kontrollgruppen (drei Varianten)

(Mittelwert)

Quelle: Magistrat der Stadt Wels, eigene Berechnungen Anmerkung: Die Einteilung der Sprengel basiert auf dem Vergleich der erfassten Adressen. Für jeden Sprengel wurde das Ausmaß der Veränderung aufgrund dazu- bzw. weggenommener Straßen, aber auch aufgrund von Änderungen bei den erfassten Hausnummern mit einem Prozentwert ausgedrückt. „Unveränderte Sprengel“ blieben von 2015 bis 2021 gleich und haben daher einen Stabilitätswert von 100 %, „weitgehend unveränderte“ Sprengel müssen einen Stabilitätswert von mindestens 80 % erreichen. Beispiel: Ein 2015 aus vier Straßen bestehender Sprengel wurde als „weitgehend unverändert“ eingeordnet, wenn 2021 nur eine fünfte Straße dazukam, also vier von fünf Straßen gleich blieben (80 %). Kamen zwei Straßen hinzu, sank der Stabilitätswert auf 67 % und der Sprengel wurde nicht mehr berücksichtigt.

Die Daten in Tabelle 1 deuten bei der Landtagswahl einen Effekt des Treatments sowohl bei der Wahlbeteiligung, die im Sprengel 311 weniger stark zurückging, als auch bei den Parteistimmen an. Nur im Experimentalsprengel konnte die ÖVP, verglichen mit 2015, zulegen. Bei der parallel durchgeführten Gemeinderatswahl, auf die im Rahmen des Treatments nicht hingewiesen wurde, zeigen sich diese Effekte nicht. Dieses positive Resultat muss jedoch relativiert werden. Einige Probleme des Projekts sind mit der angewandten Methode verbunden: Selbst wenn nur unveränderte Sprengel verwendet werden, kommt es aufgrund von Umzügen, Todesfällen und der Erlangung des Wahlrechts über das Alter oder eine Einbürgerung zu Veränderungen der wahlberechtigten Population. Aufgrund der sechsjährigen Legislaturperiode ist dieses Problem in Oberösterreich etwas größer als in anderen Kontexten.

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österreichisches jahrbuch für politik 2021

Andere Probleme sind eine Folge der spezifischen Vorgehensweise: Zentral ist vor allem die Auswahl, die sich auf unveränderte Sprengel beschränken sollte. Bei der erwähnten Wiener Studie konnte etwa nur ein Drittel der Sprengel aufgenommen werden (Thomas et al. 2016, 4). In Wels war 2021 der Anteil der unveränderten Sprengel deutlich größer. Ferner sollten statt nur einem Experimentalsprengel mehrere Sprengel für das Treatment ausgewählt werden, um zufällige Ergebnisse (weitgehend) ausschließen zu können. Die angesichts der kleinen Fallzahl von insgesamt 71 Sprengeln grundsätzlich mögliche bewusste Auswahl eines Experimental(311) und eines Kontrollsprengels (211) leidet vor allem an den Änderungen der Sprengelgrenzen. Im Experimentalsprengel fielen 2021 sechs von 40 zuvor erfassten Straßen weg, während zwei 2015 noch nicht existierende Straßen dazukamen (Stabilitätswert: 81 %). Die Anzahl der Wahlberechtigten bei der Landtagswahl sank von 944 auf 788. Im Kontrollsprengel war der Stabilitätswert mit 88 % höher. Andere potenzielle Einflussfaktoren, die auf das Ergebnis im Sprengel 311 einwirken hätten können (z. B. spezifische Ereignisse oder im Sprengel wohnende KandidatInnen), gab es laut ÖVP Wels nicht.

Ausblick Experimentelle Methoden spielten in der österreichischen Wahlforschung bislang keine Rolle. Der im Rahmen der oberösterreichischen Landtagswahl 2021 in Wels durchgeführte Feldversuch zeigt das Potenzial dieser Methode, aber auch die damit verbundenen Herausforderungen. Das im Rahmen der Analyse identifizierte Indiz für Effekte einer Tür-zu-Tür-Kampagne bzw. Hausbesuchs-Tour sollte sowohl aufseiten der Politik als auch der Wissenschaft Interesse an weiteren Untersuchungen wecken. Von der Politischen Akademie der ÖVP sind bereits weitere Experimente geplant. Der Wissenschaft sind – wie oben dargelegt – aus wissenschaftsethischer Sicht hinsichtlich eigener Experimente in Wahlkämpfen enge Grenzen gesetzt. Insofern kann die wissenschaftliche Untersuchung solcher Experimente politischer Parteien als Bereicherung der Wahlkampfforschung angesehen werden.

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Literatur Druckman, J. N./Green, D. P./Kuklinski, J. H./Lupia, A. (Hg.) (2011). Cambridge Handbook of Experimental Political Science. Cambridge: Cambridge University Press. Gerber, A. S. (2011). Field Experiments in Political Science, in: J. N. Druckman/D. P. Green/J. H. Kuklinski/A. Lupia (Hg.): Cambridge Handbook of Experimental Political Science, Cambridge: Cambridge University Press, 115–138. Kruschinski, S./Haller, A. (2018). Back to the roots?! Der datengestützte Tür-zu-Tür-Wahlkampf in politischen Kampagnen, in: M. Oswald/M. Johann (Hg.): Strategische politische Kommunikation im digitalen Wandel, Wiesbaden: Springer Fachmedien, 289–317. Lazarsfeld, P. F./Berelson, B./Gaudet, H. (1944). The People’s Choice. How the Voter makes up his Mind in a Presidential Campaign. Third Edition, New York: Columbia University Press. Schoen, H. (2005). Wahlkampfforschung, in: Jürgen W. Falter/Harald Schoen (Hg.): Handbuch Wahlforschung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 503–542. Thomas, K./Ennser-Jedenastik, L./Nyhuis, D./Johann, D. (2016). Feldstudie zur Wahlbeteiligung bei der Wiener Landtags- und Gemeinderatswahl 2015 (Austrian National Election Study, AUTNES).

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t h o m a s wa l t e r kö h l e r / c h r i s t i a n m e r t e n s

Ein Grundsatzdenker wird 80 Andreas Khol – eine ideengeschichtliche Bilanz Andreas Khol zähle „zu den wenigen österreichischen Politikern, die den Eindruck vermitteln, sie hätten eine Vorstellung vom Menschen und der Gesellschaft, der ihr politisches Handeln folgt“,1 konstatierte die Wochenzeitung „Die Furche“ schon vor fast 20 Jahren. Tatsächlich gehört der Jubilar – Khol wurde am 14. Juli 2021 80 Jahre alt – zu den versiertesten Grundsatzdenkern des Landes. So hat er nicht nur an verschiedenen Grundsatzprogrammen mitgearbeitet und zeichnete als langjähriger Direktor der Politischen Akademie für deren Vermittlung verantwortlich, sondern befasste sich auch mit aktuellen ideologischen Trends – hier exemplarisch dargestellt am Konzept des Neokonservativismus – und propagierte in mehreren Schriften die Idee einer Bürgergesellschaft.

1

Christdemokrat, Grundsatzdenker, Parlamentarier. In: Die Furche, 20.02.2003.

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Politik aus christlicher Verantwortung Als bekennender Christdemokrat setzte sich Khol immer wieder mit dem Verhältnis zwischen christdemokratischen Parteien und den christlichen Kirchen auseinander und stellte mehrfach klar: Die ÖVP ist – wie ihre Schwesterparteien – keine „christliche“ Partei, sondern eine, deren Grundsätze auf der Soziallehre der Kirche(n) und deren tragenden Grundsäulen Personalität, Solidarität und Subsidiarität beruhen, in der „in eigener Souveränität […] Politik aus christlicher Verantwortung“2 praktiziert wird. Maßgebend für ihn ist dabei die lehrmäßige Note Joseph Ratzingers, des späteren Benedikt XVI., der 2002 als Präfekt der Glaubenskongregation präzisierte, dass es nicht Aufgabe der Kirche sein könne, „konkrete Lösungen – oder gar ausschließliche Lösungen – für zeitliche Fragen zu entwickeln, die Gott dem freien und verantwortlichen Urteil eines jeden überlassen hat“.3 Politiker, die sich christlichen Grundwerten verbunden fühlen und ihnen folgen wollen, müssen sich mit Aussagen der Päpste, Bischöfe etc. auseinandersetzen, in der politischen Entscheidung sind sie aber nur ihrem eigenen Gewissen verpflichtet. Dies kann auch zu widersprechenden Ergebnissen führen, die gleichberechtigt nebeneinanderstehen, wenn etwa einmal das Prinzip der Solidarität, von jemand anderem jenes der Subsidiarität stärker betont wird. Dem entsprechend verstand und versteht sich die ÖVP – anders als ihre Vorgängerin – nie als christliche Partei im Sinne des politischen Katholizismus, sondern als eine Partei „offen für Christen und alle anderen, die sich aus welchen Gründen immer zu solchen Werten bekennen“ (1972), als christdemokratische Partei (1995) bzw. als „christdemokratisch geprägte Volkspartei“ (2015). Ihre gesellschaftlichen Zielsetzungen „wurzeln nicht im Übernatürlichen, suchen ihre Rechtfertigung nicht in der göttlichen Offenbarung“.4

2 Zitat Khols in: Paul M. Zulehner, Der bunte Schwarze – Eine Annäherung. In: Thomas Walter Köhler/Christian Mertens (Hg.), Demokratie braucht Meinungen – Andreas Khol zum 80. Geburtstag (Wien 2021), S. 194–206, hier S. 203. 3 Zitiert nach: Andreas Khol, Eine freie Kirche in einem freien Staat – Kommentar der anderen. In: Der Standard,10.08.2021. 4 Ders., Lebt die Kirche Österreichs im Irrtum? In: Die Presse, 25./26.06.1977.

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An die Adresse der katholischen Kirche richtete Andreas Khol allerdings bereits in den 1970er-Jahren – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Annäherung Kardinal Königs an die SPÖ – die Kritik, dass ihre Soziallehre „nicht mit beliebigem Inhalt ausgefüllt werden“ könne und bedauerte eine „immer stärkere Verallgemeinerung der christlichen Soziallehre“, die so die Eigenschaft verliere, Mittel der Abgrenzung zwischen den Parteien zu sein. Im gleichen Beitrag analysierte er die Unvereinbarkeit der Soziallehre mit Marxismus („Klassenkampf steht gegen Nächstenliebe; personelles Menschenbild steht gegen Kollektivismus; […] Zentralverwaltungsstaat und Zentralverwaltungswirtschaft gegen Subsidiarität“) und „Uraltliberalismus“ („Hier steht das individualistische Menschenbild dem gemeinwohl­ orientierten Menschenbild gegenüber; die christliche Solidarität dem Wettbewerbsdenken; die individualistische Freiheit der durch das Gemeinwohl beschränkten Freiheit des Christen“).5

ÖVP-Programmarbeit Wie wir bereits gesehen haben, war und ist Andreas Khol – anders als manche seiner Altersgenossen – immer ein Anhänger klar konturierter Grundsatzpolitik. Auch den Terminus „Ideologie“ scheute er nie, sondern betonte deren Wichtigkeit: „Die Anziehungskraft politischer Bewegungen wird zu einem guten Teil von der Ideologie bewirkt, die eine Partei vertritt; eine Ideologie, die sie von anderen Parteien unterscheidet, die ihr Gesellschaftsprogramm auch im Gefühlsbereich verankert.“6 Bereits Mitte der 1970erJahre konsta­tierte er „den Bankrott der reinen, an der Effizienz orientierten Sachpolitik“ und kritisierte „das Vernachlässigen der weltanschaulichen Fragen“ zugunsten einer „Herrschaft der Experten und Technokraten“7 – ein Befund, der uns heute noch aktuell vorkommt.

5 Ebenda. 6 Andreas Khol, Vorbote des Kurswechsels? – Das Zukunftsmanifest der Österreichischen Volkspartei. In: Ders./Günther Ofner/Alfred Stirnemann, Österreichisches Jahrbuch für Politik 1985 (München/Wien 1986), S. 207–256, hier S. 234. 7 Ders., Grundsätze der Ideologiedebatte. In: Tiroler Tageszeitung, 09.11.1976.

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Eine wichtige Funktion einer Programmdiskussion habe der Prozess selbst: Die Analyse bestehender Zustände, die Erarbeitung auf den Grundwerten der Partei beruhender Lösungsvorschläge lösen idealerweise innerparteiliche Diskussionsvorgänge aus, dienen der Selbstreflexion und der Anbindung neuer Fachleute an die Partei. Daraus entstehe eine „Selbstbindung der Partei in all ihren Gliederungen“. Derart besitzt die Programmfindung eine integrative Funktion. Fehlt eine solche Grundsatzorientierung, verfalle – so Khol – eine Partei „leicht in den Populismus oder die Technokratie. Populismus bedeutet die Politik nach Meinungsforschung. […] Technokratie wiederum ist die Herrschaft des Sachzwangs, oft des vermeintlichen und vorgeschobenen Sachzwangs.“8 Das programmatische Profil der ÖVP bis 1970 war für Andreas Khol von einem gewissen „Ideologiedefizit“9 geprägt. Die Konzentration auf Sachpolitik und innerparteilichen Interessenausgleich sowie die überragende Stellung von Persönlichkeiten in Regierungsfunktionen überlagerten eine echte Grundsatzorientierung. Gefördert wurde dieser Pragmatismus zusätzlich durch den bündischen Charakter der ÖVP, sodass für viele Funktionäre „die Kombination von Katholischer Soziallehre und Antimarxismus als ideologischer Unterbau“10 genügte. Erst in die Rolle der Opposition gedrängt, wurde der ÖVP – so das Khol’sche Narrativ – die Niederlage auch im Kampf um die Sprache und die Notwendigkeit einer Ideologiediskussion bewusst. Die deutlich ideologisch akzentuierte Politik der SPÖ-Alleinregierung unter Kreisky provozierte die Partei zur Gegenbewegung. In einem intensiven zweijährigen Diskussionsprozess wurde 1972 das „Salzburger Programm“ beschlossen, das er als „eine Synthese aus christlich-demokratischem, der katholischen Soziallehre folgendem Denken und ordo-liberalen Wirtschaftsvorstellungen“11 qualifizierte. Dieses Programm sei „an den Eckwerten der christlichen Soziallehre ausgerichtet“, wozu er insbesondere das „personalistische Menschen­

8 Ders., Wozu heute noch Grundsatzprogramme? In: Ds. et al. (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 2007 (Wien/Köln/Weimar 2008), S. 61–70, hier S. 65. 9 Ders., Vorbote des Kurswechsels?, hier S. 209. 10 Ebenda, S. 211. 11 Ebenda, S. 214.

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bild, die partnerschaftliche Solidarität und die bürgernahe und menschliche Aufgabenteilung zwischen Staat und nichtstaatlichen Gruppen und dem Einzelnen (Subsidiarität)“12 zählte. In verschiedenen Texten führte der damalige Direktor der Politischen Akademie die Grundwerte des Programms näher aus, arbeitete die Unterschiede insbesondere zum Menschenbild der SPÖ heraus und veranschaulichte diese mit praktischen Beispielen etwa in der Schul-, Steuer- oder Demokratiepolitik. Mit zeitlichem Abstand vollzog er eine partielle Distanzierung vom „Salzburger Programm“, das „in manchen seiner Ausprägungen […] nur verständlich aus der „Saison“ sozialdemokratischen, emanzipatorischen, progressiven Reformdenkens“13 verständlich sei. Dabei verwies er auf die ängstliche Vermeidung des Wortes „konservativ“ im Programm, die Inhaltsleere des Begriffs „fortschrittliche Mitte“ oder im Text verwendete Begriffe wie „Chancengleichheit“ oder „Selbstverwirklichung“. In einem umfangreichen Beitrag beschäftigte sich Khol mit dem 1985 auf einem „Zukunftskongress“ verabschiedeten „Zukunftsmanifest“ der ÖVP. Die unter Josef Taus gestartete Ideologiediskussion in der ÖVP sollte die „Akzente in der Interpretation und Anwendung des Salzburger Programms, ohne Infragestellung seiner Grundsätze, […] ändern“.14 Der Prozess fand vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Diskussionen über Postmaterialismus und Neokonservativismus statt. In seiner ideologischen Bewertung arbeitete Khol die christdemokratischen Wertvorstellungen, die das „Manifest“ durchziehen, heraus: „“Das ganze Zukunftsmanifest atmet christdemokratischen Geist, ist am christlich-demokratischen Menschenbild orientiert.“15 Der Postmaterialismus äußere sich in einer Fortschrittskritik (Kritik an der Überbetonung materieller Ziele), im neuen Verhältnis zur Natur, zur Lebensqualität und hat einem starken direktdemokratischen Akzent. Die neokonservative Akzentuierung des Papiers sah er etwa im Bekenntnis zu Eliten und Tugenden, in der Kritik an überdimensionierter Staatstätigkeit und in der Betonung von Eigenvorsorge und Eigenleistung gegeben.

12 Andreas Khol, Der Mensch – Bild oder Abbild. In: Österreichische Frau, 11.12.1977, S. 4. 13 Ders., Vorbote des Kurswechsels?, S. 215. 14 Ebenda, S. 218. 15 Ebenda, S. 254.

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Zum „Wiener Programm“ (1995) sind keine längeren Analysen des damaligen ÖVP-Klubobmanns bekannt. Viele Jahre später bewertete er dieses aber als „kantiges, originelles […], aber weitgehend unbekanntes Programm“, das „vom Gedanken der neuen Gesellschaftsverträge und der ökosozialen Marktwirtschaft gekennzeichnet“16 sei. Bereits 2007 konstatierte er eine Vernachlässigung der politischen Programmarbeit in allen Parteien. An die Stelle schriftlicher Programme trete ein „diffuses Programmgefühl“,17 also eine Tradierung unreflektierter Selbstzuschreibungen sowie eine Strategie des pragmatischen „­Muddling Through“ mit den Konsequenzen Orientierungsverlust, Profilschwäche und Ideenarmut. Er selbst lässt die weitere Entwicklung offen: „Ob die Verweigerung oder Vernachlässigung der programmatischen Grundsatzarbeit auf Dauer das Antlitz der österreichischen Parteiendemokratie prägen wird, muss dahingestellt werden.“18

„Neokonservativ“ Befasste sich Khol schon in seinem Grundsatzartikel zum „Zukunftsmanifest“ näher mit gesellschaftspolitischen Befunden aus neokonservativer Perspektive, widmete er 1987 einen umfangreichen Text der Analyse eines Neokonservativismus – eine in den 1970er-Jahren in den USA modern gewordene politische Strömung, der er mit unverkennbar großer Sympathie begegnete. Wie bereits beim historischen Konservativismus europäischer Prägung handle es sich um einen unbestimmten Begriff, bei dem es sich um kein ideologisches Lehrgebäude oder eine geschlossene Geschichtsphilosophie handle. Mit Recht wies er auf die unterschiedliche Bedeutung des Begriffs „konservativ“ in verschiedenen Kulturen hin, so etwa in Europa nach 1945, wo er vielfach mit „reaktionär“ gleichgesetzt wurde und wird. Einen Neokonservativismus wertete Khol als „Antwort auf die reife Industriegesellschaft“19 und deren gesellschaftspolitische Fehlentwicklun-

16 Khol, Wozu heute noch Grundsatzprogramme?, S. 62. 17 Ebenda, S. 61. 18 Ebenda, S. 70. 19 Andreas Khol, Neokonservativismus: Was unterscheidet ihn von traditionellem Konservativis-

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gen. So habe die totale Emanzipation zur Abwertung aller Bindungen (insbesondere in Ehe und Familie) geführt, der Autoritätsabbau zu Wert- und Sinnverlust, die Tendenz zu maximaler Selbstverwirklichung zu Anspruchsdenken und Egoismus, der Gleichheitsgedanke zu Nivellierung oder die „Demokratisierung aller Lebensbereiche“ zu unakzeptablen Eingriffen in das Privateigentum. Der bürokratisch aufgeblähte Sozial- und Steuerstaat habe neue Abhängigkeiten und Autoritäten geschaffen, der Staatsanteil am Wirtschaftsleben, verbunden mit Interventionismus und Protektionismus, sei immer mehr gewachsen. Auf Basis dieser Gesellschaftsanalyse entwickle der Neokonservativismus, in der Khol’schen Lesart eine „Synthese von ordo-liberalem Gedankengut und konservativem Denken“,20 eine ideologische Offensivkraft; es gehe nicht um Bewahren, sondern um „eine grundsätzlich andere Art von Politik, […] einen Kurswechsel, eine Wende in mehr oder weniger drastischer Form“.21 Als bedeutendste Elemente neokonservativer Ideologie führte er das Bekenntnis zu demokratisch gebildeten und offenen Eliten („Ohne Eliten funktioniert die Gesellschaft nicht […]“22), die Zurückdrängung des Staatseinflusses, die Redimensionierung des Sozialstaates zugunsten von mehr Selbstverantwortung und Freiheit für den einzelnen, die Deregulierung (Abbau von Rechtsvorschriften), die Stärkung von Privateigentum und des internationalen Freihandels sowie das von striktem Antikommunismus geprägte Prinzip „Frieden in Freiheit“ an. Hinweise auf die praktische Umsetzung dieser Ideologie etwa in den USA unter Ronald Reagan oder in Großbritannien unter Margaret Thatcher, mit denen der Jubilar im Rahmen seiner internationalen Aktivitäten in gutem Kontakt stand, rundeten seine Analyse ab.

mus? In: Ders./Günther Ofner/Alfred Stirnemann (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 1987 (Wien/München 1988), S. 103–126, hier S. 107. 20 Ders., Vorbote des Kurswechsels?, S. 244. 21 Ders., Neokonservativismus, S. 122. 22 Ebenda, S. 123.

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Plädoyer für die Bürgergesellschaft Als politischer Denker bekannt wurde Andreas Khol insbesondere auch mit dem von ihm entwickelten Modell einer neuen „Bürgergesellschaft“, die eine „Vision für das 21. Jahrhundert“23 sein sollte. Dabei griff er bis zu einem gewissen Grad auf den Befund zurück, den er schon in seiner Auseinandersetzung mit dem Neokonservativismus angestellt hatte: Bedrohung des Gesellschaftsvertrages, Verstaatlichung der Solidarität, mangelnde Treffsicherheit des Wohlfahrtsstaates, zunehmender Egoismus und schleichende Entmündigung, kulminierend in der Warnung: „Die Gesellschaft ist auf dem besten Wege, im Zuge dieser Entwicklungen zum Polizei- und Therapiestaat zu verkümmern.“24 Die erstrebte Bürgergesellschaft – Khol spricht auch von einer „solidarischen, bürgernäheren Verantwortungsgesellschaft“25 – bediene sich ungenutzter Solidaritätsvorräte, unterstütze bereits bestehende Solidaritätsgruppen, stärke durch mehr Freiheit und Verantwortung für den Bürger die Demokratie, bewirke eine neue Aufgabenteilung zwischen Staat und Bürger und vermittle den Menschen ein Mehr an Lebenssinn. Die Bürgergesellschaft ist für ihn eine Ergänzung der Sozialen Marktwirtschaft im gesellschafts- und demokratiepolitischen Bereich. So wie diese dem Markt einen staatlichen Rahmen verschaffe, müsste es auch in der Bürgergesellschaft staatliche Rahmenbedingungen für das Handeln freier Vereinigungen geben. Die ideologische Verankerung der Bürgergesellschaft findet er in den Grundwerten der Katholischen Soziallehre: Subsidiarität, Partnerschaft, Solidarität, Freiheit durch Emanzipation vom Staat und Verantwortung für sich und die Mitmenschen. Im Zuge seiner Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten unterzog Khol 2016 seine damals fast 20 Jahre alten Gedanken einer umfassenden Aktualisierung. Er urgierte eine „neue Grundwertebestimmung“26 und destilliert aus den „ideologischen, politischen Archetypen […] Kon-

23 Andreas Khol, Durchbruch zur Bürgergesellschaft (Wien 1999), S. 11. 24 Ebenda, S. 12. 25 Ebenda, S. 20. 26 Andreas Khol, Auf die Stärken unseres Landes bauen – Mit der Kraft der Bürgersolidarität (Wien/Graz/Klagenfurt 2016), S. 126.

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servativismus, Liberalismus, christlicher Solidarismus und demokratischer Sozialismus“27 28 Bausteine heraus, „die sich bewährt haben und inzwischen ideologisches Allgemeingut geworden sind […]“.28 Sie sollen als neues Fundament einer Gesellschaft im 21. Jahrhundert dienen. War diese Mischung aus Grundwerten und politischen Errungenschaften vermutlich dem Wahlkampfziel geschuldet, (auch ideologische) Anschlussfähigkeit jenseits der Parteigrenzen herzustellen, beschrieb Khol in weiterer Folge die „Kraft der Bürgersolidarität“,29 aufbauend auf Gemeinwohl, Solidarität (Bereitschaft zum Ehrenamt) und Subsidiarität (Übertragung von Aufgaben an kleine, selbstorganisierte Gruppen und private Einrichtungen). Wesentliche Träger der Bürgersolidarität sollten die Vereine sein. Als Nebeneffekt erwartete sich Khol durch das Einüben demokratischer Entscheidungskultur in diesen eine generelle Stärkung der Demokratie. *** Sich selbst bezeichnete der Jubilar im Sommer 2021 als „christ­demo­krati­ sche[n] Konservative[n]“.30 Bewährte Grundwerte gelte es demgemäß an neue Gegebenheiten anzupassen. Von diesem Selbstverständnis ist das ideengeschichtliche Werk des jung gebliebenen Achtzigers geprägt und gut nachzuvollziehen. Mit dem Bekenntnis zum konservativen Flügel der Christdemokratie ergänzt Andreas Khol – als Grundsatzdenker und Grundsatzhandler – zugleich das Bedürfnis des liberalen und sozialen Flügels der Christdemokratie nach Gleichrangigkeit in Theorie und Praxis im Rahmen der Österreichischen und Europäischen Volkspartei. Dass der Jubilar an einem 14. Juli – dem Jahrestag des Ausbruchs der Französischen Revolution – geboren wurde, ist insofern kein trennender Widerspruch, sondern versöhnendes Aperçu der Geschichte. Denn –

27 28 29 30

Ebd., S. 131. Ebd., S. 140. Ebd., S. 177. Konservativ-Sein als Tochter der Zeit. In: Wiener Zeitung, 14.07.2021.

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was wenige wissen – es war die Französische Revolution, worin die Christ­ demokratie in ihren drei Flügeln entstand und woraus sie über „Rerum novarum“ und „Centesimus annus“ bis heute integrativ wirkt.31

Quellen und Literatur (Auswahl) Andreas Khol, Auf die Stärken unseres Landes bauen – Mit der Kraft der Bürgersolidarität (Wien/Graz/Klagenfurt 2016), unter Mitarbeit von Herwig Hösele. Ders., Wozu heute noch Grundsatzprogramme? In: Ds. et al. (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 2007 (Wien/Köln/Weimar 2008), S. 61–70. Ders., Durchbruch zur Bürgergesellschaft (Wien 1999). Ders., Mein politisches Credo – Aufbruch zur Bürgersolidarität (Wien 1998). Ders., Neokonservativismus: Was unterscheidet ihn von traditionellem Konservativismus? In: Ders./Günther Ofner/Alfred Stirnemann (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 1987 (Wien/München 1988), S. 103–126. Ders., Vorbote des Kurswechsels? – Das Zukunftsmanifest der Österreichischen Volkspartei. In: Ders./Günther Ofner/Alfred Stirnemann (Hg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 1985 (München/Wien 1986), S. 207–256. Thomas Walter Köhler, Sei wie Gott, werde Mensch – Eine Archäologie der Christdemokratie. In: Ders./Christian Mertens (Hg.), Demokratie braucht Meinungen – Andreas Khol zum 80. Geburtstag (Wien 2021), S. 294–317. Hans Maier, Revolution und Kirche – Zur Frühgeschichte der Christlichen Demokratie (Freiburg 1988). Christian Mertens, Die EDU im Dienst der europäischen Integration. In: Köhler/Mertens (Hg.), Demokratie braucht Meinungen, S. 71–79. Wolfgang Schüssel, Der Grundsatztreue. In: Köhler/Mertens (Hg.), Demokratie braucht Meinungen, S. 282–292. Paul M. Zulehner, Der bunte Schwarze – Eine Annäherung. In: Köhler/Mertens (Hg.), Demokratie braucht Meinungen, S. 194–206.

31 S. Hans Maier, Revolution und Kirche – Zur Frühgeschichte der Christlichen Demokratie (Freiburg 1988).

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w o l f g a n g b a c h m ay e r

Nicht die Demokratie verliert ­Vertrauen, sondern Politik und Medien Kaum eine Woche verging zuletzt, in der nicht als Folge von Pandemie-Chaos, Chat-Affäre, Impfstreit, Kanzlerrücktritt und Regierungsumbildung von Vertrauens­ verlust, Beschädigung oder gar Niedergang der Demokratie gesprochen wurde. Dabei wurden völlig verschiedene Faktoren zusammen gemischt wie das in den Chats ver­ mittelte Sittenbild in der Politik, Kritik an der Justiz oder Polizei, Zwist zwischen Impfbefürwortern und Gegnern, Hin und Her bei der Impfpflicht, Pannen im Pan­ demie-Management, laute Massendemos und der Rücktritt des Kanzlers mit Aus­ tausch der halben Regierung. Rasche Umfragen und politische ExpertInnen sahen die demokratischen Grundfesten bedroht, Medien hatten eine neue Schlagzeile und zogen gleich das beliebte Neuwahl-Gespenst aus der Lade, politische Kommentato­ rInnen und die üblichen Bedenkenträger warnten besorgt. Auf den folgenden Seiten will ich anhand von seriösen kontinuierlichen Umfragen, Daten und Fakten belegen, dass wir zwar ein außergewöhnlich turbulentes politisches Jahr hinter uns haben, aber die Eckpfeiler unserer Demokratie ihre Stabilität bewiesen haben und der Parlamentarismus daraus weiter gestärkt hervorgehen wird.

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Natürlich gab es in den beiden letzten Jahren genügend Gründe für Unzufriedenheit;, die Pandemie hat das noch verstärkt, obwohl viele sachliche Belege zeigen, dass die für Menschen und Wirtschaft nachteiligen Folgen sehr gut abgefedert wurden. Aus Studien wissen wir, dass viele Menschen deutliche Unzufriedenheit mit dem Krisenmanagement äußern, ein Großteil davon aber gleichzeitig mit den Hilfszahlungen, Homeoffice und Kurzarbeit zufrieden war, sogar über Einkommensverluste wird – abgesehen von unvermeidlichen Einzelfällen – vergleichsweise selten geklagt. Viele Menschen haben sich mit der anhaltenden Krise mit ständig neuen Lockdowns durchaus arrangiert und sich in fast biedermeierlicher Manier zurückgezogen. Manchen wird es schwerfallen, nach Ende der Pandemie wieder die erforderliche Disziplin, Strukturierung und den Leistungswillen abzurufen. Andere wieder, wie die Held/innen der Krisenbewältigung im Gesundheitssystem und Handel, werden dann erleichtert in den Normalmodus zurück schalten können. Der Streit um die Impfpflicht und die Konflikte um die Impfverweigerer werden sich noch weiter zuspitzen, die Risse gehen da ja quer durch unser ganzes Land, durch die Parteien sowieso, auch durch die Familien, sogar die Wissenschaftler, JuristInnen und Verfassungsexperten sind sich uneinig. Das ist sicher ein Grund zur Sorge, vor allem was die Solidarität und den Zusammenhalt in der Gesellschaft betrifft. Aber was hat das bitte mit dem von manchen behaupteten Vertrauensverlusten in das demokratische System zu tun? Sind nicht gerade die in vielen Sonntagsreden zitierte Meinungsfreiheit, Vielfalt und Pluralität wesentlichste Elemente von demokratischen Systemen, was aber genauso gut mit anderen Worten beschrieben werden kann, wie Meinungsverschiedenheiten, Konflikte und Proteste – und das soll dann gleich zu Vertrauensverlusten in die Demokratie führen? Wenn also viele Menschen in Umfragen und ExpertInnen von solchen Vertrauensverlusten sprechen, so meinen sie eigentlich die ständigen Konflikte und Angriffe in der Politik und den anhaltenden Fokus auf Missbrauch, Korruption, Affären und Skandale, sie sehen aber deshalb nicht die Demokratie gefährdet. OGM hat dazu jenseits von schnellen Tagesumfragen Forschungssysteme entwickelt, die etwas mehr differenzieren und tiefer blicken lassen. So

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zeigen die folgenden Grafiken einige Vergleiche aus dem Vertrauensindex, der seit 20 Jahren von OGM in Kooperation mit der APA erstellt wird. Die Grafik 1 bezieht sich auf die letzten beiden Jahre, der erste Wert von Jänner 2020 ist der letzte Befund vor Ausbruch der Coronakrise. Wie sich an Vergleichen mit der Zeit davor zeigt, waren die Vertrauenswerte im Jänner durchaus gut – kurz davor kam es ja zur neuen türkis-grünen Regierung.

Grafik 1

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Der nächste Messpunkt im März 2020 demonstriert aber sehr anschaulich, wie mit Ausbruch der Pandemie und der Furcht vor den damals noch völlig unbekannten Gefahren von Corona das Vertrauen in die Regierungspolitiker mit einem noch nie dagewesenen All-Time-High geradezu explodiert ist. Das betraf insbesondere das damals regelmäßig im Fernsehen auftretende „Corona-Quartett“ aus Bundeskanzler, Vizekanzler, Gesundheits- und Innenminister. Wieso vertrauten aber die Menschen, unabhängig von Geschlecht, Alter und Parteisympathie, den Regierungsspitzen derart? Weil sie sich in dieser Krisenangst sofort um ihre „Generäle“ scharten, die sie laufend informierten und vor allem gemeinsam mit einer Stimme sprachen. Es mag auch aus demokratiepolitischer Sicht traurig klingen, aber Krisengefahren nutzen den Politikern, sofern sie gemeinsam an einem Strang zu ziehen scheinen, entscheiden, Anweisungen geben und führen. Die Einigkeit unter den Politikern begann aber bald zu bröckeln, es kam zu Eifersüchteleien um die Gunst des Publikums, gegenseitiger Kritik und Uneinigkeit über die Vorgangsweise. Trotzdem blieb das Vertrauen mit plus 30 Punkten zu Beginn des Sommers hoch, weil das Ende der Krise angekündigt und den Menschen ihre Freiheit wieder gegeben wurde. Mit weiteren Lockdowns und ab April 2021 der Chat-Affäre stürzte das Vertrauen aber ab, mit dem Rücktritt von Bundeskanzler Kurz rutschte es ins Minus. Aber stecken wir nun wirklich in einer tiefen politischen und demokratischen Systemkrise? War das öffentliche Vertrauen in die Politik und Demokratie zuvor höher? Die folgende Grafik verdeutlicht, wie kurz das mediale und öffentliche politische Gedächtnis ist. Weil die Vertrauenswerte lagen laut OGMVertrauensindex in den letzten zehn Jahren fast durchwegs niedriger. Das ins Minus abgestürzte politische Vertrauen infolge von mangelhaftem Krisen-management, Chat-Affäre, Rücktritt des Kanzlers, Regierungsumbildung und Impfstreit relativiert sich bei einem Blick auf die Vertrauenskurve seit 2010 (die Werte zeigen den gesamten Durchschnitt für alle PolitikerInnen). In den Jahren 2010 bis 2013 (Regierung Faymann/Spindelegger) waren die Vertrauenswerte noch tiefer als heute, auch in den danach folgenden

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Jahren bis Herbst 2017 (Regierung Faymann bzw. Kern/Mitterlehner) ist das Gesamtvertrauen nur knapp positiv, mit der neuen türkis-blauen Regierung und dann der Ibiza-Affäre sinkt es wieder ins Negative. Das zeigt, dass die aktuelle Vertrauenskrise in die Politik nichts Neues ist, sondern nur an die Zeit vor der Pandemie anschließt.

Grafik 2

Ein aussagekräftiger Beweis, dass wir aus Sicht der breiten Öffentlichkeit zwar wieder in einer Vertrauenskrise stecken, diese sich aber primär auf die Politik und keineswegs auf das demokratische System bezieht, zeigt der Vertrauensindex für Institutionen. Im Vergleich zum letzten Index vor der Pandemie gibt es fast nur Gewinner, allen voran das Bundesheer, die Polizei, das AMS, die Kranken- und Pensionsversicherung, sogar die Finanzämter. Es haben also vor allem jene Institutionen Vertrauen gewonnen, die für Hilfen, Sicherheit, Schutz und Stabilität stehen.

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Grafik 3

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Das bedeutet also, dass die Menschen in Österreich trotz aller Unzufriedenheit, Affären und Konflikte die staatlichen, demokratischen Institutionen als stabilen Faktor in bewegten Zeiten sehen. Von einer demokratiepolitischen Krise und starken Vertrauensverlusten ist also nur in Medienberichten über oppositionelle Attacken, besorgte Äußerungen von Expertinnen und Umfragen die Rede, in denen ja häufig nicht die tatsächliche öffentliche, sondern die veröffentlichte Meinung wiedergegeben wird. Das erinnert an die Berichte und die vielen Umfragen rund um die Flüchtlingswelle 2015, die eine öffentliche Refugees Welcome-Stimmung vermittelten, was mit der tatsächlichen Mehrheitsmeinung der breiten Öffentlichkeit aber wenig zu tun hatte. Erst nachdem die FPÖ von einem Wahlerfolg zum nächsten eilte, an die Spitze der Wahlumfragen kletterte und Sebastian Kurz mit diesem Thema die Nationalratswahlen 2017 gewann, wurde das Bild zu Zuwanderung und Asyl bei Medien differenzierter. Dass die Berichterstattung in den Medien einen entscheidenden Einfluss auf die öffentliche Meinung hat, ist ja absolut nichts Neues. Das folgende Beispiel illustriert aber sehr anschaulich, in welchem Ausmaß die Medienberichte auch bei ganz anderen Themen zu einem stark verzerrten öffentlichen Meinungsbild weit abseits der mehrheitlichen Realität führen können, ohne dass damit den Medien eine Schlagseite durch einseitige Berichterstattung unterstellt werden könnte. Während des ersten Lockdowns war häufig über zunehmende Konflikte und Gewalt in den Familien zu lesen und zu hören. Natürlich waren das alles Tatsachenberichte, das ist ja das Wesen und die Kernaufgabe der Medien. PolitikerInnen und ExpertInnen kamen dazu häufig zu Wort mit Forderungen nach mehr Gewaltschutz, Personal und Mittel – alles verständlich, richtig und notwendig. Das hat aber gleichzeitig ein öffentliches Meinungsbild erzeugt, dass im Zuge der Lockdowns durch Home Office, Einschränkungen bei Gastronomie, Kultur, Ausgehen, Reisen in den Familien Konflikte und Gewalt an der Tagesordnung waren. Eine OGM-Umfrage unterstreicht das, beweist aber auch mit gezielteren Fragestellungen, dass die Meinung über zunehmende Gewalt in den Familien vor allem ein Medieneffekt ist. So meinte ein Drittel aller Befragten, dass es in den Haushalten während des ersten Lockdowns mehr Gewalt

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als in der Zeit davor gegeben hätte, weitere 30  % vermuteten mehr Spannungen und Konflikte, aber nur 16  % glaubten an mehr Miteinander und Harmonie während des Lockdowns. Soweit zum öffentlichen Meinungsbild. Wenn aber nach tatsächlichen Wahrnehmungen im eigenen Lebensumfeld und Wohnbereich gefragt wurde, verdreht sich das in dieser Umfrage erhobene Vermutungsbild plötzlich ins Gegenteil: nur mehr 4  % berichten von mehr wahrgenommener innerhäuslicher Gewalt während des Lockdowns, nur mehr halb so viele von mehr Spannungen und Konflikten, aber doppelt so viele von mehr Miteinander.

Grafik 4

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Grafik 5 und 6

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Knapp die Hälfte aller Befragten konstatierte aufgrund der eigenen Wahrnehmungen und Beobachtungen, dass sich im Haushalts- und Familienklima durch den Lockdown nichts Wesentliches im Vergleich zu vorher geändert hätte. Darüber und über mehr verfügbare Zeit zugunsten der Partnerschaft, Erziehung, Halbe-Halbe, mehr familiäre Kommunikation und Miteinander war nichts zu hören. Das ist auch wenig überraschend, weil solche Nachrichten kommen meist gar nicht in die Redaktionen, das hätte ja auch keinen News-Wert. Jetzt soll nicht die unverzeihliche Gewalt in Familie oder gegen Frauen kleingeredet werden, jeder Fall ist einer zu viel. Aber es zeigt, dass Medienberichte auch ein verzerrtes Bild entstehen lassen können. So berichten Hochzeitsplanerinnen, Scheidungsanwälte und Ehebera­ tungsstellen, dass es weniger Hochzeiten und eine Welle von Scheidungsanträgen während des Lockdowns gab.Schon seit vielen Jahren zeigen Umfragen das Bild einer ständig wachsenden Kriminalität. Die offizielle Anzeigenstatistik spricht eine andere Sprache, auch wenn es noch immer zu viel Kriminalität gibt. Fazit dieser Vergleiche von Umfragen zu Meinungstrends, tatsächlichen Wahrnehmungen und Verhaltensweisen der Menschen und offiziellen Statistiken: Etwas mehr ruhiges Blut und kühler Kopf täten gut, unser demokratisches System ist nicht gefährdet, die Menschen im Lande vertrauen der Demokratie und ihren Institutionen trotz aller Aufregungen und Konflikte mehr, als die Befürchtungen einzelne ExpertInnen und PolitikerInnen vermuten lassen. Nicht alles, worüber in Medien berichtet wird, trifft auf die Mehrheit der Menschen zu. Dabei ist hier nur von den redaktionellen Medien die Rede. Wenn es um Beiträge in den sozialen Medien geht, kann ich nur den Rat geben, vieles davon weniger ernst zu nehmen.

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g a b r i e l f e l b e r m ay r

Corona in Österreich Was geschah, und was jetzt ansteht1

Die Corona-Pandemie hat Österreichs Wirtschaft massiv getroffen. Nach steilen Abstürzen erfolgten starke Erholungsphasen. Insgesamt ist das Land mittelmäßig gut durch die Krise gekommen. Per Ende 2021 fehlen zu dem im Jahr 2019 prognosti­ zierten Bruttoinlandsprodukt etwa fünf Prozent. Das ist deutlich mehr als im EUDurchschnitt. Auch die durchschnittliche Überschusssterblichkeit liegt nur im Durch­ schnitt. Das muss aufgearbeitet werden. In der Krise hat sich der Arbeitsmarkt nach anfänglich hohem Anstieg der Arbeitslosigkeit resilient gezeigt. Dennoch ist es nun notwendig, angesichts hoher Langzeitarbeitslosigkeit und Arbeitskräfteknappheit, eine umfassende Arbeitsmarktreform anzugehen, um auf beiden Seiten des Marktes die Anreize für Beschäftigung zu stärken. Zur Bewältigung der wirtschaftlichen Heraus­ forderungen – von der Energiewende bis hin zum demografischen Wandel – ist Pro­ duktivitätswachstum der Schlüssel zum Erfolg. Dafür braucht es unter anderem eine rege Investitionstätigkeit im Land, die mit steuerlichen Anreizen und einem Abbau von bürokratischen Barrieren belebt werden sollte.

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Eine Langfassung dieses Aufsatzes ist im WIFO-Monatsbericht Jänner 2022 erschienen.

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Eine Krise ganz anderer Art Seit nunmehr zwei Jahren wütet die Coronakrise. Mittlerweile gibt es in Österreich bereits fast 1,5 Millionen nachgewiesene Corona-Infektionen; fast 14.000 Menschen sind der Krankheit erlegen. Abbildung 1 zeigt auf der rechten Achse die Hospitalisierungsrate – die Anzahl der an COVID-19 erkrankten Personen in Krankenhausbehandlung pro Million Einwohner. Diese Kurve zeichnet das relevante Pandemiegeschehen nach. Je höher die Rate, umso wahrscheinlicher ist es, dass das Gesundheitssystem über seine Belastungsgrenze geht. Die dunkel hinterlegten Bereiche in der Abbildung messen die Intensität der Lockdown-Maßnahmen. Hier ist es wichtig, daran zu erinnern, dass trotz des allgemeinen Ärgers über die lästigen Einschränkungen, ihre wirtschaftlichen Folgen sehr ungleich verteilt sind. Einige wenige Branchen verlieren immer wieder massiv an Umsatz und Wertschöpfung, sei es durch behördliche Auflagen, sei es durch freiwillige Verhaltensänderungen der Kunden. Andere bleiben aber ziemlich ungeschoren oder gehen sogar mit Umsatzzuwächsen durch die Krise. Der Princeton-Ökonom Markus Brunnermeier spricht bei diesem zweigespaltenen Konjunkturgeschehen von einer K-Rezession. Der interruptive Charakter der Coronakrise zeigt an, dass staatliche Unternehmenshilfen und die Zahlung von Kurzarbeitergeld in den am stärksten betroffenen Branchen zur Überbrückung temporärer Umsatz- und Ertragseinbußen bzw. zur Vermeidung von Entlassungen und Einkommens­ einbußen sinnvoll sind. Österreich hat hier bisher vergleichsweise großzügig geholfen, was beispielsweise die OECD (OECD, 2021) in ihrem letzten Länderbericht herausgearbeitet hat. Auf diese Weise konnten Unternehmensinsolvenzen vermieden werden. Es ist sogar so, dass, im Unterschied zu normalen Rezessionen, in den Krisenjahren 2020 und 2021 weniger Unternehmen Insolvenz anmeldeten als im Jahr 2019, wobei hier auch die vorübergehende Aussetzung der Insolvenzantragspflicht und die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank wichtig war.

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WWWI, % linke Achse

Hospitalisierungsrate, rechte Achse

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0 J F M A M J '20

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J F M A M J '21

J

A

S

O N D

J '22

 

Abbildung 1: Wirtschaftsaktivität und COVID-19-Hospitalisierungsrate im Zeitablauf Quelle: WWWI: Wöchentlicher Index der Wirtschaftsaktivität des WIFO-Instituts; %-Abweichung vom Jahresmittel 2019; linke Achse. Hospitalisierungsrate: Our World in Data, Anzahl der COVID-19-Erkrankten in stationärer Krankenhausbehandlung pro Million; rechte Achse. Die Intensität der Graufärbung im Diagrammhintergrund zeigt die Stärke der Eindämmungsmaßnahmen gemäß dem Oxford-Stringenz-Index.

Es ist notwendig, dass die verschiedenen Corona-Hilfsmaßnahmen systematisch auf ihre Wirksamkeit, Treffsicherheit und Kosten evaluiert werden. Dazu sollte das Bundesfinanzministerium Evaluationsstudien in Auftrag geben und die notwendige Datenbasis zur Verfügung stellen. Abbildung 1 zeigt auf der linken Achse, wie sehr sich die aggregierte wöchentliche wirtschaftliche Aktivität vom Durchschnittsniveau des Vorkrisenjahres 2019 unterscheidet. Mit nur wenigen Ausnahmen lag die Wirtschaftsleistung bis Anfang 2022 andauernd unter oder auf dem Vorkrisenniveau. Offenbar sind Wirtschaftsleistung und Infektionsgeschehen negativ miteinander korreliert, aber der Zusammenhang wird im Zeitablauf schwächer. Phasen strenger Lockdowns sind mit einem Absinken der Wirt-

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schaftsleistung verbunden, aber auch bei konstanten Regeln kann verändertes Infektionsgeschehen zu neuen wirtschaftlichen Kosten führen, wie das Geschehen etwa im April 2021 zeigte. Die abnehmende Korrelation zwischen wirtschaftlichen Einbußen und Infektionsgeschehen hat einerseits mit Lerneffekten in den betroffenen Branchen, in der Administration der Wirtschaftshilfen und im Verhalten der Bürgerinnen und Bürger zu tun und andererseits mit der simplen Tatsache, dass der Immunisierungsgrad der Bevölkerung steigt, ob durch Impfungen oder durch überstandene Infektionen. Es ist davon auszugehen, dass dieser Trend trotz Schwankungen bestehen bleibt und die Pandemie allmählich ihren Schrecken verliert. Die wirtschaftspolitische Aufmerksamkeit kann daher verstärkt auf die langfristig wohlstandsrelevanten strukturellen Themen gerichtet werden.

Internationaler Vergleich: Mittelmaß Bevor aber von Transformation und Reformen die Rede ist, drängt sich die Frage auf: Wie hat sich Österreich bisher im internationalen Vergleich geschlagen? Das ist zwar erst nach Ende der Pandemie abschließend zu beurteilen, doch bereits jetzt ist ein Blick auf die Übersterblichkeit und die seit Beginn der Pandemie akkumulierten Wachstumsverluste relativ zum hypothetischen Wachstumspfad ohne Pandemie interessant. Abbildung 2 zeigt beide Größen in einem Diagramm. Die Übersterblichkeit berücksichtigt einerseits, dass die Pandemie das Gesundheitssystem unter Stress setzt und die Behandlung anderer Krankheiten erschwert, und andererseits, dass die Maßnahmen zum Schutz von Infektionen durch das Coronavirus auch andere ansteckende Krankheiten verhindern. Österreich hat im internationalen Vergleich die Pandemie bisher mittelmäßig bewältigt. Abbildung 2 zeigt, dass Österreich über alle bisherigen Wellen eine kumulierte Übersterblichkeit von circa 0,16 % der Bevölkerung zu beklagen hat. Damit befindet sich das Land in engster Nachbarschaft zu Belgien oder den Niederlanden. In Deutschland, der Schweiz, Schweden oder Frankreich liegt die Übersterblichkeit bisher allerdings um ein Drittel niedriger. Noch niedriger ist sie in Finnland, Norwegen oder in ostasiatischen Ländern. In Neuseeland oder Australien ist die Übersterblich-

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keit sogar negativ – die Eindämmungsmaßnahmen haben dort mehr Leben gerettet, als das Virus gekostet hat. Daneben gibt es aber eine Vielzahl von Ländern mit höheren Übersterblichkeitsraten als Österreich: Italien, Großbritannien oder die USA sind hier zu nennen oder auch alle ost- und südosteuropäischen Länder, für die Daten vorliegen.

 

Abbildung 2: BIP-Einbußen und Übersterblichkeit Quelle: OECD, World Mortality Data Set, eigene Berechnungen und Darstellung. Regressionsgerade hat Steigung von –4,2 (Standardfehler: 2,14). N = 44 (Länder, für die die OECD eine Konjunkturprognose anstellt und für die Übersterblichkeitsdaten verfügbar sind). Irland ist als Ausreißer nicht in der Analyse enthalten.

Auch hinsichtlich der wirtschaftlichen Auswirkungen liegt Österreich im Mittelfeld, allerdings eher im unteren Bereich. Abbildung 2 zeigt auf der Ordinate den Unterschied im prognostizierten Niveau des realen BIP zum vierten Quartal 2021 in der OECD Prognose von November 2019 (vor Ausbruch der Pandemie) und im Dezember 2021. Dieses Maß berücksich-

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tigt, dass die Länder ohne Pandemie gewachsen wären, allerdings mit unterschiedlichen Raten. Nach Prognose der OECD wäre das österreichische BIP zum Ende des Jahres 2021 ohne Corona circa 2,8 % größer, als es am Ende des Jahres 2019 gewesen wäre; tatsächlich ist es um 2,0 % kleiner. In Summe fehlen also fast 5 Prozentpunkte Wachstum. Deutschland wäre nach OECD-Schätzung ohne Corona um einen Prozentpunkt langsamer gewachsen als Österreich und hat das vierte Quartal 2021 ohne Lockdown überstanden; daher fehlen nur 2,1 Prozentpunkte Wachstum. Das WIFO sieht trotz der aktuellen Eintrübung im Jahr 2022 eine weitere Erholung der Wirtschaft (Ederer & Schiman, 2021). Im Frühjahr sollte die Wirtschaftsleistung das Vorkrisenniveau dauerhaft übersteigen und getragen von einem starken Konsum im Jahresdurchschnitt um etwa 5 % über dem Jahr 2021 zu liegen kommen. Die Unsicherheit bleibt allerdings groß; nicht nur wegen der direkten Einwirkungen der Corona-Pandemie, sondern auch wegen Risiken im verarbeitenden Gewerbe. Der Finanzpolitik sei geraten, die Erholung nicht durch überstürzte Budgetkonsolidierung zu gefährden.

Industrie: Stagnation nach stürmischer Erholung Aktuell leidet der Industriesektor immer noch unter Materialengpässen. Am Beginn der Pandemie waren es ausbleibende Vorprodukte aus China und Norditalien, die die größten Bremsspuren in der Industrieproduktion hinterlassen haben. Danach kam es aber zu einer globalen Erholung, die überraschend schnell verlief. Sowohl der globale Güterhandel als auch die Industrieproduktion legten einen V-förmigen Verlauf hin. Schon im November 2020 übertraf der Mengenindex des Welthandels sein Vorkrisenniveau; die Industrieproduktion entwickelte sich synchron dazu. Im März 2021 lag der Welthandel um 6 Prozent über dem Vorkrisenniveau, die globale Industrieproduktion um 2,5 Prozent. Seither stagnieren beide Maße allerdings. Grund sind wieder Materialengpässe und Knappheiten, unter anderem in der maritimen Logistik. Für Österreich ist ermutigend, dass der industrielle Kern der Volkswirtschaft trotz aller Probleme in guter Verfassung ist. Das zeigt der Verlauf der Industrieproduktion im Vergleich mit den Nachbarländern; siehe Abbil-

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dung 3. In Österreich ist in den ersten Monaten der Pandemie die Produktion stark eingebrochen, hat sich dann aber überraschend schnell wieder erholt. Das gilt für die Nachbarländer, für die Eurozone und den globalen Durchschnitt. Die Erholung ging in Österreich aber weiter: der Index stand im Durchschnitt der drei letztverfügbaren Monate um knapp 3 Prozent über dem unmittelbaren Vorkrisenwert; in der Eurozone lag er um fast 1,5 Prozent darunter. Vor allem die Schwergewichte Deutschland und Frankreich sind für diese Entwicklung verantwortlich; Italien liegt hingegen über dem Vorkrisenniveau. 9 der EU-Länder (außer Irland) haben seit Krisenausbruch höhere Niveaus als Österreich;16 geringere. Hier gehört Österreich also zum oberen Mittelfeld. Deutschland hingegen bildet das Schlusslicht. 110 100 90 80 70 60

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2020‐01

2019‐01

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Tschechien

Deutschland

Italien

Ungarn

Österreich

Slowenien

Slowakei

Schweiz

Abbildung 3: Industrieproduktion in Österreich und Nachbarländern

 

Quelle: Eurostat. Indexwerte: Februar 2020 = 100. Eigene Berechnungen und Darstellung

Hohe Preise Hohe Preise sind ein zunehmendes Thema. Vor allem die Erzeugerpreise in der Industrie legen stark zu; beispielsweise waren sie im November 2021 in Österreich um 15,3 % höher als im November des Vorjahres, eine höhere Steigerungsrate wurde seit Beginn der Zeitreihe noch nie gemessen. Vor allem Energie und Vorprodukte metallischer Art trieben den Index nach

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oben. Die Dynamik ist im Wesentlichen importiert – österreichische Produzenten bezahlen deutlich mehr für Rohstoffe und Vorprodukte. Es scheint unvermeidlich, dass die hohen Produzentenpreise in den nächsten Monaten wenigstens teilweise an die Konsumenten weitergegeben werden. Daher rechnet das WIFO im Jahr 2022 mit einer Inflationsrate von 3,3 % im Jahresdurchschnitt. Die Preissteigerungsraten werden aber sehr ungleich über Produkt- und Dienstleistungskategorien verteilt sein. Das bedeutet, dass Haushalte mit unterschiedlichen Warenkörben unterschiedlich betroffen sein werden. Hier wäre es wünschenswert, dass die öffentliche Statistik Inflationsraten nach Einkommens–, Beschäftigungs- und Altersgruppen ausweist. Nur so kann gut abgeschätzt werden, wie die höheren Preise die Inzidenz von Armut verändern. Die steigenden Preise werden jedenfalls zu einem sozialpolitisch brisanten Thema. Daher ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung die Einnahmen bei der neuen CO2-Bepreisung in den Bereichen Verkehr und Wohnen in Form eines pauschalen Klimabonus an die Bevölkerung zurückgeben wird. Die Haushalte, Unternehmen, Tarifpartner und der öffentliche Sektor sollten sich darauf einstellen, dass die Inflationsraten vermutlich auch langfristig nicht mehr so niedrig sein werden wie vor der Coronakrise. Die Europäische Zentralbank selbst hat ihr asymmetrisches Inflationsziel von „unter aber nahe 2 %“ angehoben, indem sie nun symmetrisch 2 % anstrebt. Dazu kommen realwirtschaftliche Trends wie ein weniger stark wachsendes globales Arbeitskräfteangebot, neue Barrieren im internationalen Handel oder höhere Energiepreise im Zuge der Dekarbonisierung des Energiesektors, die auf ein weiterhin expansives geldpolitisches Umfeld und expansive Fiskalpolitik stoßen. In den USA bahnt sich zwar eine restriktivere Geldpolitik an; die Eurozone ist aber noch nicht so weit, und fiskalpolitisch überwiegen aufgrund der Investitionsprogramme im Zuge der Klimapolitik die expansiven Impulse.

Investitionen als Schlüssel zur Bewältigung von Transformationsprozessen Österreich, Europa und die Welt haben mit parallel laufenden Herausforderungen zu tun, die eine fundamentale Anpassung des Wirtschaftssystems er-

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fordern. Erstens erfordert der Klimawandel eine international abgestimmte und ambitionierte Reduktion der Treibhausgasemissionen, und zwar – nach langen Jahren des Stillstands – in sehr kurzer Zeit. Zweitens geht nach vielen Jahrzehnten das Wachstum der Erwerbsbevölkerung zu Ende, sowohl in Österreich als auch in der europäischen Nachbarschaft. Das bedeutet, dass man grundsätzlich neu über die Arbeitsmarktinstitutionen nachdenken muss (mehr dazu weiter unten). Und drittens ist das Tempo des technischen Wandels sehr hoch, was einerseits Chancen beschleunigter Wohlstandsschaffung mit sich bringt, andererseits aber auch das Risiko, international abgehängt zu werden. Die österreichische Bundesregierung hat mit der ökosozialen Steuerreform die Weichen für einen klimagerechten Umbau der österreichischen Volkswirtschaft gestellt. Das WIFO hat kritisiert (Kettner-Marx, Loretz & Schratzenstaller, 2021), dass die gewählten Preise für CO2 sehr niedrig sind, und erst allmählich eine gewisse Lenkungswirkung entfalten dürften. Klar ist, dass der erfolgreiche Umbau der Wirtschaft massive Investitionen braucht, beispielsweise für den Ausbau der Produktion erneuerbarer Energien sowie der Stromnetze im In- und Ausland. Klar ist auch, dass diese Investitionen vor allem aus dem privaten Sektor kommen müssen. In Österreich stammen circa 80 % der gesamten Investitionen aus dem privaten, 80 % aus dem staatlichen Bereich. Die Politik muss Sorge tragen, dass die Anreize dafür stimmen. Dafür sind unter anderem eine ambitionierte CO2Bepreisung, komplementäre Investitionen in die öffentlichen Netze und eine investitionsfreundliche Standortpolitik, insbesondere der Kapitalmärkte erforderlich. Sowohl die Energiewende als auch die an Schwung gewinnende demografische Transition können nur mit Produktivitätswachstum bewältigt werden – es gilt, mit geringerem Einsatz von Ressourcen und Arbeitskraft den breiten Wohlstand und damit den sozialen Frieden zu bewahren. Der technische Wandel wird hier Möglichkeiten bieten. Doch sollte klar sein, dass nur durch Investitionen wirklich Produktivitätswachstum erzielt werden kann. Daher ist die beste Transformationspolitik eine, die (privatwirtschaftliche) Investitionen erleichtert. Dies erfordert attraktive und verlässliche steuerliche Rahmenbedingungen. Dazu braucht es ein verlässliches Marktdesign, wie zum Beispiel einen modernisierten und ausgedehnten

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Emissionshandel, um Kostenwahrheit und damit die richtigen Investitionsanreize herzustellen. Schließlich ist es zentral, alle Vorhaben von vornherein europäisch zu denken. So müssen eine Vertiefung der europäischen Kapitalmarktunion und die Verwirklichung eines adäquaten europäischen Strommarktdesigns auf die Agenda. Eine politische Mikrosteuerung der Energiewende, zum Beispiel durch die Taxonomieverordnung der EU, ist hingegen problematisch, weil damit Lobbyismus Tür und Tor geöffnet wird und die volkswirtschaftlichen Kosten steigen.2

Elemente einer Arbeitsmarktreform In der Krise geriet der österreichische Arbeitsmarkt massiv unter Druck. Obwohl das Instrument der Kurzarbeit stark eingesetzt wurde, stieg die Arbeitslosigkeit dramatisch an. Im April 2020 gab es in Österreich mehr als 520.000 Arbeitslose, fast 230.000 Personen mehr als im Vergleichsmonat des Vorjahres. Dazu kamen Personen in Schulung. Seither hat sich die Anzahl der Arbeitssuchenden aber stetig zurückgebildet, mit einer kleinen Unterbrechung in den Wintermonaten 2020/21. Der österreichische Arbeitsmarkt hat sich gegenüber der Krise also als resilient erwiesen, weil nach dem starken Einbruch ein schneller Rückprall erfolgte. Dennoch ist die Arbeitslosenquote in Österreich mit 8,1 % immer noch höher als in der Zeit vor der großen Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008/09 oder als etwa in Deutschland. Außerdem drohen sich strukturelle Schwierigkeiten auf dem österreichischen Arbeitsmarkt zu verfestigen. Nach Angaben des Arbeitsmarktservice Österreich lag im Jahr 2021 die Anzahl der Langzeitarbeitslosen bei knapp über 80.000 und somit um 67 % über dem Durchschnittsniveau von 2019. Auch die Zahl der Langzeitbeschäftigungslosen (die Personen in Schulung oder Krankenstand umfasst) ist mit fast 132.000 Menschen um mehr als 30 % höher als im Jahr 2019. Jede ernsthafte Arbeitsmarktreform muss sich vor allem um diese Personengruppe kümmern.

2 Siehe dazu Felbermayr (2022), Kostenwahrheit statt Taxonomie, Kurier 17.1.2022 (https:// kurier.at/meinung/gastkommentar/kostenwahrheit-statt-taxonomie/401874002)

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Eine zweite Gruppe, die im Mittelpunkt stehen muss, sind Personen ab 50 Jahren. Sie machen ziemlich genau ein Drittel der Arbeitslosen aus; im Vergleich zum Vorjahr ist hier die Arbeitslosigkeit nur um 12 % zurückgegangen, während sie in der Gruppe der Personen von 25 bis 49 Jahren um fast 21 % sank. Arbeitslosigkeit im Alter ist stark korreliert mit Langzeitarbeitslosigkeit, aber die Korrelation ist natürlich nicht vollständig. Eine dritte wichtige Gruppe ist jene der ausländischen Arbeitskräfte. Aktuell liegt der Anteil von Personen ohne österreichische Staatsbürgerschaft in der Erwerbsbevölkerung bei über 22 %; unter den Arbeitslosen liegt der Anteil der Ausländer jedoch bei über einem Drittel. Seit Beginn der 1990er-Jahre ist der Ausländeranteil unter den Arbeitslosen ständig schneller gestiegen als in der gesamten Erwerbsbevölkerung. Für die genannten drei Gruppen sind vor allem Qualifizierungsmaßnahmen und eine effizientere Vermittlung wichtig. Hier passiert in Österreich bereits viel; dennoch ist eine ständige Evaluierung und Weiterentwicklung der Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik erforderlich. Angesichts der multiplen Transformation der österreichischen Volkswirtschaft sind in diesen Bereichen sicher auch höhere finanzielle Mittel notwendig. Es ist sehr zu begrüßen, wenn der Arbeitsminister an einer Arbeitsmarktreform arbeitet, denn die Absenkung der Arbeitslosigkeit bringt eine mehrfache Dividende: Sie entlastet staatliche Haushalte durch höhere Einnahmen und niedrigere Ausgaben, und sie führt zu einem makroökonomischen Impuls durch höhere Arbeitseinkommen. Gleichzeitig geht es nicht darum, die Arbeitslosenquote unter allen Bedingungen zu minimieren. Jobwechsel, auch unfreiwillige, sind für die gesamtwirtschaftliche Produktivitätsentwicklung wichtig, zumal in ­Zeiten der Transformation. Für das Entstehen guter, neuer Arbeitsbeziehungen („matches“) braucht es allerdings hinreichend Zeit. Eine gut konstruierte Arbeitslosenversicherung ist nicht nur aus verteilungspolitischen Gründen wichtig, sie erhöht auch die Effizienz der Volkswirtschaft – also den erzielbaren Output (Acemoglu und Shimer, 1999). Das zentrale Ziel der Reformbestrebungen muss sein, die E ­ ffizienz des Systems so zu verbessern, dass dieses bei gleichen (oder niedrigeren) Kosten großzügiger gestaltet werden kann. Neben Anpassungen in der Struk­tur

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der Arbeitslosenversicherung könnte es sinnvoll sein, die Notstandshilfe vollständig im Bundesbudget unterzubringen, so wie dies in Deutschland der Fall ist. Damit könnten die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung in etwa halbiert werden. Eine solche Senkung der Lohnnebenkosten würde positive Beschäftigungsanreize schaffen und sich dadurch wenigstens teilweise selbst finanzieren. Das WIFO hat in einer Reihe von Studien die Arbeitsmarktinstitutionen evaluiert und Reformoptionen untersucht. Dabei kommt klar heraus, dass in der Verbesserung der Vermittlungseffizienz von Arbeitslosen das größte Potenzial liegt. Veränderungen der Strukturparameter des Arbeitslosengeldes hingegen sind für die Inzidenz von Arbeitslosigkeit weniger entscheidend. Sie können aber für das Gerechtigkeitsempfinden sehr wichtig sein. Fakt ist, dass die Nettoersatzrate in Österreich in den ersten Monaten der Arbeitslosigkeit im internationalen Vergleich knapp bemessen ist, in späteren Monaten hingegen aber großzügiger ausfällt. Außerdem ist gut belegt, dass ein relativ hoher Anteil der Arbeitslosen nach kurzer Zeit wieder vom bisherigen Arbeitgeber beschäftigt wird. Dieses „Parken“ in der Arbeitslosigkeit macht circa einen Prozentpunkt der Arbeitslosenquote aus und könnte ein Hinweis auf einen einvernehmlichen Missbrauch des Systems sein. Schließlich ist es möglich, steuer- und sozialversicherungsfrei bis zur Geringfügigkeitsgrenze von circa 486 Euro hinzuzuverdienen. Es kann bei geringen Einkommen passieren, dass eine arbeitslose Person mit Arbeitslosengeld und geringfügiger Beschäftigung mehr Nettoeinkommen hat als mit einem normalen Job, aber keine Sozialversicherungsbeiträge bezahlt werden. Es braucht ein abgestimmtes Reformpaket; isolierte Maßnahmen sind wenig hilfreich, weil zwischen den einzelnen institutionellen Parametern des Systems Wechselwirkungen existieren, die berücksichtigt werden müssen. So könnte eine Anhebung der Nettoersatzrate dazu führen, dass das kurzfristige „Parken“ in Arbeitslosigkeit noch attraktiver erscheint. Oder eine zu starke Beschränkung der Zuverdienstgrenzen könnte dazu führen, dass Arbeitslose den Kontakt zur Arbeitswelt verlieren oder aber in den Pfusch ausweichen. Die Reform sollte die Anreizkompatibilität des Systems steigern, indem sie das so genannte moralische Risiko reduziert, also die Anreize zur

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Herbeiführung des Versicherungsfalles verkleinert. Auf Arbeitgeberseite könnte man die Beiträge in die Arbeitslosenversicherung vom Verhalten abhängig machen: wer häufig Arbeitslosigkeit produziert, zahlt höhere Beiträge, wer das selten tut, zahlt niedrigere – das alles bei insgesamt etwas reduzierter Beitragslast. Die Literatur spricht hier von „experience rating“, siehe dazu ausführlich Eppel und Mahringer (2020). Bei den Zuverdienstmöglichkeiten wäre zu überlegen, ob diese nicht in den ersten sechs Monaten der Arbeitslosigkeit (bei höheren Ersatzraten, siehe oben) deutlich reduziert (eventuell sogar ganz abgeschafft) werden sollten, und danach wenigstens sozialversicherungspflichtig werden sollten. Das sollte die Anreize, schnell „normale“ Jobs zu finden, verbessern.

Literatur Acemoglu, Daron und Robert Shimer. (1999). Efficient Unemployment Insurance. Journal of Political Economy, 107(5), 893–928. Baumgartner, J., Fink, M., Moreau, C., Rocha-Akis, S., Lappöhn, S., Plank, K., Schnabl, A., Weyerstrass, K. (2020). Wirkung der wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur Abfederung der COVID-19-Krise. Mikro- und makroökonomische Analysen zur konjunkturellen, fiskalischen und verteilungspolitischen Wirkung. WIFO. https://www.wifo.ac.at/wwa/pubid/66958 Brunnermaier, Markus (2021), Resilient Society, Colorado Springs. Ederer, S. & Schiman, S. (2021). Prognose für 2021 bis 2023: Neuerlicher Lockdown verzögert Konjunkturerholung in Österreich. WIFO-Konjunkturprognose Dezember 2021 hier in diesem Monatsbericht. Eppel, R., & Mahringer, H. (2020). Die Chancen und Risiken eines Experience rating in der Arbeitslosenversicherung. Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 21(1), 90–104. OECD (2021), OECD Economic Surveys: Austria 2021, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/eaf9ec79-en. Kettner-Marx, C., Loretz, S., & Schratzenstaller, M. (2021). Steuerreform 2022/2024 Maßnahmenüberblick und erste Einschätzung. WIFO Monatsberichte, 94(11), 815–827.

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WIR MACHT’S MÖGLICH. Es ist nicht der Einzelne, der die Welt verändert. Es ist die Gemeinschaft, die stärker ist als alles andere. Das Wir, das füreinander sorgt und füreinander Mehrwert schafft. Aus der Region und für die Region und die Menschen, die darin leben. So ermöglichen wir die Verwirklichung großer Träume und gestalten eine nachhaltige Zukunft. wirmachtsmöglich.at Impressum: Raiffeisen-Holding Niederösterreich-Wien, F.-W.-Raiffeisen-Platz 1, 1020 Wien.

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m a r t i n ko c h e r

Reformen am österreichischen Arbeitsmarkt Österreichs Arbeitsmarkt hat sich im zweiten Halbjahr 2021 von den massiven Herausforderungen durch die Corona-Pandemie 2020 und im ersten Halbjahr 2021 erholt. Weiterhin bestehen aber Verwerfungen zwischen Branchen und Sektoren und damit gleichzeitig Personalmangel und Unterauslastung von Betrieben. Die Pande­ mie hat Österreichs strukturelle Herausforderungen am Arbeitsmarkt noch offensicht­ licher gemacht. Neben Mismatch-Phänomenen sind hier vor allem die Langzeitar­ beitslosigkeit und die demografische Entwicklung zu nennen. Reformen am Arbeits­ markt müssen daher vor allem bei der Qualifizierung und optimalen Vermittlung von Arbeitssuchenden ansetzen und das bestehende Arbeitskräftepotenzial besser nutzen. Das Arbeitslosenversicherungssystem muss, neben der Einkommenssicherung, die richtigen Anreize für eine rasche Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt setzen. Ansätze dazu werden hier aufgezeigt.

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Arbeitsmarktlage in Österreich Der österreichische Arbeitsmarkt weist eigenständige strukturelle und konjunkturelle Entwicklungen auf und ist daher nur begrenzt mit den Arbeitsmärkten in benachbarten Staaten vergleichbar. Wenn man die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Österreich in den letzten 15 Jahren näher betrachtet, so fällt auf, dass die zwei tiefen wirtschaftlichen Krisen vergleichsweise rasch und gut am Arbeitsmarkt verdaut werden konnten. Nach der Finanzkrise gegen Ende des ersten Jahrzehnts in diesem Jahrhundert erholte sich der Arbeitsmarkt enorm schnell, und auch die Erholung nach dem am Arbeitsmarkt bisher schlimmsten Jahr der Pandemie 2020 war überraschend schnell. Abbildung 1 zeigt die Entwicklung der Arbeitslosenquote nach nationaler Definition seit 2007.

  Abbildung 1: Entwicklung der österreichischen Arbeitslosenquote nach nationaler Definition Quelle: AMS-Daten

Man kann der Abbildung entnehmen, dass die Arbeitslosigkeit nach der Finanzkrise rasch gesunken ist und 2011 den seither tiefsten Wert erreicht hat. Ungleich stärker war der Anstieg der Arbeitslosigkeit zu Beginn der Co-

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rona-Pandemie. Im Jahr 2020 erreichte sie fast 10 % nach nationaler Definition. Allerdings sieht man – trotz langem Lockdown im Winter und Frühjahr 2021 – schon 2021 eine starke Entspannung am Arbeitsmarkt. Bereits im Herbst wurden die Arbeitslosenquoten der Vergleichsmonate 2019 unterschritten. Aufgrund des Winters und des Frühjahrs war aber die Arbeitslosigkeit 2021 im Jahresdurchschnitt natürlich noch höher als 2019. Für 2022 sagen aber beide großen Wirtschafts- und Sozialforschungsinstitute Österreichs, das Institut für Höhere Studien (IHS) und das Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) (Ertl et al., 2021; Ederer und Schiman, 2021), auch im Jahresdurchschnitt eine geringere Arbeitslosenquote als 2019 voraus, und das trotz weiterhin zu erwartenden, teilweise massiven Einschränkungen durch Corona-Maßnahmen, vor allem im Bereich persönlicher Dienstleistungen, Gastronomie, Hotellerie und Veranstaltungen sowie Kunst, Kultur und Sport. Die Entwicklung ist umso bemerkenswerter, als das Vergleichsjahr 2019 das Jahr mit der geringsten Arbeitslosigkeit seit 2012 war.

  Abbildung 2: Entwicklung der beim AMS gemeldeten offenen Stellen Quelle: AMS-Daten

Die große Dynamik am Arbeitsmarkt ab Frühjahr beziehungsweise Sommer 2021 zeigt sich auch in der Zahl der offenen Stellen, die sehr rasch nach der Öffnung von Gastronomie und Hotellerie in Österreich im Laufe des Mai

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2021 Rekordstände erreichte. Abbildung 2 zeigt die Entwicklung der beim Arbeitsmarktservice (AMS) gemeldeten offenen Stellen über die Jahre. Was sind die Gründe für die unerwartet rasche Erholung des österreichischen Arbeitsmarkts im Laufe des Jahres 2021? Ex post lassen sich mehrere Faktoren erkennen, die ex ante nicht so klar waren, wenn man etwa auf die Prognosen von IHS und WIFO (Bittschi et al., 2021; Ederer, 2021) blickt, die Anfang 2021 noch von einer höheren Arbeitslosigkeit als 2019 bis 2024 oder sogar 2025 ausgegangen waren (siehe etwa Baumgartner et al., 2020; Weyerstraß, 2021). Zum einen erfolgte die weltwirtschaftliche Erholung, gerade im Bereich der Warenproduktion, schon im ersten Halbjahr 2021, fast unbemerkt wegen der Krise in den durch Corona-Maßnahmen eingeschränkten Bereichen der Wirtschaft. Davon profitierten vor allem die österreichische Industrie und Teile des Gewerbes. Zum Zweiten erholte sich der inländische Konsum und die Konsum­ stimmung bei weitem schneller, als dies viele erwartet hatten. Ein Grund für die rasche Aufhellung der Stimmung war sicher der vergleichsweise geringe Einbruch der verfügbaren Einkommen infolge von Kurzarbeit und verschiedener finanzieller Hilfspakete (z. B. Härtefallfonds, Einmalzahlungen, temporäre Aufstockung der Notstandshilfe auf das Niveau des Arbeitslosengeldes). Viele Menschen waren bereit, versäumten Konsum nachzuholen und taten dies angesichts der teilweise noch begrenzten internationalen Möglichkeiten vor allem im Inland, sei es durch Gastronomiebesuche, Urlaube oder durch die Umsetzung von Reparatur- und Bauvorhaben im privaten Bereich. Letztere führten im Sommer zu einem Boom im Bausektor und in den Baunebengewerben, der durch eine hohe Immobiliennachfrage noch weiter befeuert wurde. Zum Dritten unterstützten die von der Bundesregierung gesetzten Maßnahmen zur Abfederung der Auswirkungen der Corona-Gesundheitseinschränkungen auf dem Arbeitsmarkt seine Erholung (Baumgartner et al., 2020). Das wichtigste Instrument darunter war sicher die Kurzarbeit, die neben der Einkommenssicherung mit 80–90 % des Lohnes, unabhängig von der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit, auch das fast augenblickliche Ausweiten der Kapazitäten nach der Aufhebung starker pandemiebedingter Einschränkungen erlaubte. Aber auch andere Maßnahmen entfalteten im Laufe des Jahres 2021 ihre positive Wirkung. Die Corona-Joboffensive, die

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zusätzliche finanzielle Mittel zur Qualifizierung von arbeitslosen Menschen bereitstellt, und das Programm „Sprungbrett“, das ebenfalls zusätzliche finanzielle Mittel zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit bietet, haben jeweils ihren Anteil an der Reduktion der Arbeitslosenquote. Zuletzt gibt es weitere Faktoren, deren Einfluss nicht ausreichend untersucht ist, um eine abschließende Einschätzung über ihre Effekte auf die Reduktion der Arbeitslosigkeit geben zu können: (i) Die weiter bestehende großzügige Kurzarbeitsmöglichkeit durch die sogenannte „Corona-Kurzarbeit“ drückte die Arbeitslosigkeit zusätzlich. Allerdings waren Ende 2021 laut Auswertungen aus dem AMS lediglich etwa 13.000 Personen seit Beginn der Pandemie durchgehend in Kurzarbeit. Das heißt, dass der Effekt der Kurzarbeit in Zeiten von Lockdowns und starken Einschränkungen positiv wirkte und Hunderttausende Menschen vor der Arbeitslosigkeit bewahrt hat, dass aber in Zeiten des Aufschwungs der negative strukturkonservierende Effekt offensichtlich begrenzt war. (ii) Die Maßnahmen zur Verhinderung von Liquiditätsproblemen und Insolvenzen von Unternehmen – neben den verschiedenen Zuschüssen wie etwa Fixkostenzuschuss, Verlustersatz, Ausfallsbonus und Umsatzersatz waren das vor allem Stundungen von Vorschreibungen durch Steuerbehörden und Sozialversicherung sowie Garantien – haben 2020 und 2021 zu einer unterdurchschnittlichen Insolvenzquote beigetragen. Dadurch wurden Arbeitskräfte von Unternehmen gebunden, die unter normalen Umständen vielleicht nicht mehr am Markt (gewesen) wären. (iii) Durch die Pandemie veränderte sich auch der Zufluss an Arbeitskräften aus dem Ausland. Waren in den 2010er-Jahren noch jährlich viele Saisonarbeitskräfte aus den Ländern der Europäischen Union und durch Asylmigration viele Arbeitskräfte zusätzlich auf den österreichischen Arbeitsmarkt gekommen, reduzierte sich dieser Zufluss durch die Pandemie. Saisonarbeitskräfte, gerade im Tourismus, orientierten sich aufgrund der vergleichsweise großen Unsicherheit bezüglich möglicher Einschränkungen oder Schließungen der sie anstellenden Unternehmen, aber auch bezüglicher möglicher Einschränkungen oder Schließungen im grenzüberschreitenden Verkehr oft um und

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wechselten in andere Branchen in ihren Heimatländern. Die Zahl der Migrantinnen und Migranten mit Asylstatus nahm durch die Pandemie ebenfalls ab, nachdem die Zahlen schon vor der Pandemie im Vergleich zu 2015 und 2016 stark zurückgegangen waren. Insgesamt stellte sich der Arbeitsmarkt in Österreich seit Beginn der Pandemie als überaus volatil dar. Neben großen Veränderungen im Aggregat, gab es auch Verwerfungen zwischen den Branchen und Sektoren und gleichzeitig Phänomene von Überschuss und Knappheit, selbst innerhalb von Berufen und Branchen.

Die strukturellen Herausforderungen des österreichischen Arbeitsmarkts Abseits der großen Volatilität des Arbeitsmarkts durch die Pandemie zeichnet sich der österreichische Arbeitsmarkt durch eine Reihe von strukturellen Herausforderungen aus. Diese waren schon vor der Pandemie erkennbar, haben sich allerdings durch Letztere teilweise verschärft. Mindestens vier große Herausforderungen lassen sich identifizieren. Mismatch. Der österreichische Arbeitsmarkt zeichnet sich durch ausgeprägte Mismatch-Phänomene aus. Von einem Mismatch spricht die Arbeitsmarktforschung, wenn Arbeitskräfteangebot und Arbeitskräftenachfrage unausgewogen sind. Der österreichische Arbeitsmarkt weist sogar zwei ausgeprägte Mismatch-Charakteristika auf. Erstens gibt es mehr ungelernte Arbeitssuchende als offene Stellen für Menschen ohne zusätzlichen Bildungsabschluss als jenen der Pflichtschule. Man spricht von einem qualifikatorischen Mismatch. Österreich ist hier keine Ausnahme. Praktisch alle Staaten in der Europäischen Union sehen sich mit ähnlichen Problemen konfrontiert. Je geringer die formelle Qualifikation, desto geringer ist auch die Chance, bei Arbeitslosigkeit rasch wieder eine Beschäftigung zu finden. Es nimmt nicht wunder, dass daher sowohl auf nationaler Ebene als auch auf europäischer Ebene ein immer stärkerer Fokus auf Qualifizierungsmaßnahmen liegt. Zweitens gibt es in Österreich einen sehr ausgeprägten regionalen Mismatch mit Bundesländern oder Bezirken, die faktisch Vollbeschäftigung aufweisen, und mit Bundesländern oder Bezirken mit substan­ziell

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höheren Arbeitslosigkeitsquoten. Die regionale Mobilität innerhalb Österreichs ist im internationalen Vergleich nicht besonders hoch, wobei natürlich auch andere vergleichbare Staaten – etwa Italien oder Schweden (jeweils zwischen Norden und Süden) – mit ähnlichen Problemen bei der regionalen Mobilität von Arbeitskräften konfrontiert sind. Abbildung 3 zeigt die Arbeitslosenquoten der Bundesländer in Österreich im Jahresschnitt 2021. Langzeitarbeitslosigkeit. Es gibt verschiedene Definitionen für das Phänomen der Langzeitarbeitslosigkeit. Grundsätzlich messen alle den Anteil oder die Zahl der Menschen, die länger nicht in Beschäftigung sind, die aber dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Das Maß, das die tatsächliche Zahl an langzeitarbeitslosen Menschen für viele anwendungsorientierte Fragen am besten abbildet, ist die sogenannte Langzeitbeschäftigungslosigkeit. Darunter fallen alle Personen, die aktuell arbeitslos gemeldet sind und mindestens ein Jahr entweder arbeitslos gemeldet waren oder sich zeitweise auch in durch das AMS initiierte Schulungs- beziehungsweise Weiterbildungsmaßnahmen befunden haben. Abbildung 4 zeigt die Entwicklung der Langzeitbeschäftigungslosigkeit über die letzten 15 Jahre. Dass nach tiefen Rezessionen – wie infolge der Finanzkrise und infolge der Corona-Pandemie – die Langzeitbeschäftigungslosigkeit ansteigt und danach langsam, über die Jahre zurückgeht, ist ein bekanntes Phänomen. Der starke Anstieg der Langzeitbeschäftigungslosigkeit zur Mitte des letzten Jahrzehnts zeigt allerdings, dass es sich dabei in Österreich auch um ein strukturelles Problem handelt und nicht nur um ein konjunkturelles. Auch der Anteil der Langzeitbeschäftigungslosigkeit an der gesamten Arbeitslosigkeit ist in den letzten 15 Jahren stark gestiegen. Dies erfordert ein systematisches Gegensteuern, weil die volkswirtschaftlichen, aber auch die individuellen Kosten der Langzeitbeschäftigungslosigkeit besonders hoch sind. Demografische Entwicklung. Die vorgegebene demografische Entwicklung Österreichs reduziert in den kommenden Jahren das Arbeitskräftepotenzial in Österreich. Das liegt vor allem an geburtenstarken Jahrgängen, die in den nächsten fünf bis 15 Jahren in Pension gehen werden, und geburtenschwächeren Jahrgängen, die in diesen Jahren auf den Arbeitsmarkt kommen werden. Nun wird das Arbeitskräftepotenzial nicht alleine durch die

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  Abbildung 3: Arbeitslosenquoten der Bundesländer im Jahresdurchschnitt 2021 Quelle: AMS-Daten

inländische Geburtenrate bestimmt. Erwerbsquoten verschiedener Gruppen (etwa Ältere oder Frauen), Teilzeit- und Vollzeitquoten, Migration und die Dauer von Ausbildung und Beschäftigungsunterbrechungen spielen eine wichtige Rolle. Trotzdem wird der Effekt der Alterung der Gesellschaft im angegebenen Zeitraum so groß sein, dass er nicht einfach ausgeglichen werden kann. Ein sinkendes Arbeitskräftepotenzial führt aber ab einer gewissen Schwelle zu geringerem Potenzialwachstum und damit geringerem Wohlstand. Verschärft wird die Situation in Österreich dadurch, dass die demografische Entwicklung in vielen Staaten der Welt fast gleichläufig ist, insbesondere in der Europäischen Union. Die demografische Entwicklung führt damit nicht nur zum Wettbewerb um Arbeitskräftepotenzial aus den Ländern mit Arbeitskräfteüberschuss, sondern sicher auch zu stärkerem Wettbewerb um vor allem gut ausgebildete Arbeitskräfte innerhalb der Europäischen Union. Gerade der Wettbewerb mit Deutschland um die eigenen österreichischen Arbeitskräfte darf angesichts der gemeinsamen Sprache und der größeren Wirtschaftsstrukturen Deutschlands nicht vernachlässigt werden.

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  Abbildung 4: Entwicklung der Langzeitbeschäftigungslosigkeit in Österreich Quelle: AMS-Daten

  Abbildung 5: Entwicklung der Zahl der unselbständig Beschäftigten in Österreich Quelle: AMS-Daten

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Digitale und ökologische Transformation. Im Gegensatz zur noch vor einigen Jahren vorherrschenden Angst, dass die Digitalisierung im großen Stil per Saldo Arbeitsplätze vernichten würde, scheint sich die Entwicklung zumindest aktuell anders darzustellen. Obwohl selbstverständlich Arbeitsplätze und ganze Berufe gefährdet sind und sich eine schleichende Veränderung der Branchen- und Berufsstruktur ergibt, hat die Zahl der unselbständig Beschäftigten über die letzten Jahre in Österreich – mit Ausnahme von 2009 und 2020 – konstant zugenommen, wie Abbildung 5 zeigt. Es wurden also zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen, wobei es sich zwar zum Teil um Teilzeitarbeitsplätze handelt, aber auch die geleistete Summe an Arbeitsstunden in Österreich signifikant gestiegen ist. Wenn durch die digitale Transformation Arbeitsplätze verloren gingen, wurden demnach mehr neue Arbeitsplätze geschaffen als verloren gingen. Die Notwendigkeit der Dekarbonisierung der Wirtschaft, die in vielen Bereichen arbeitsintensiv sein wird, verstärkt aller Voraussicht nach die Arbeitskräftenachfrage und wird etwaige negative Effekte aus der Digitalisierung auf die Arbeitskräftenachfrage zusätzlich ausgleichen.

Reformnotwendigkeiten am österreichischen Arbeitsmarkt Aus den im vorhergehenden Abschnitt angesprochenen Herausforderungen ergeben sich zumindest vier Ansatzpunkte und Notwendigkeiten für Reformen am österreichischen Arbeitsmarkt. Arbeitskräftepotenzial. Die im vorhergehenden Abschnitt beschriebene demografische Entwicklung vorausgesetzt, wird eine zentrale Aufgabe der Arbeitsmarktpolitik des kommenden Jahrzehnts die Sicherung des Arbeitskräftepotenzials. Dabei dreht sich die Debatte in Österreich, aber zum Beispiel auch in Deutschland, oft um die Frage der Zuwanderung von außerhalb der Europäischen Union. Dabei ist es wahrscheinlich illusorisch, dass sich der Arbeitskräftebedarf alleine aus ausländischen Arbeitskräften decken lässt. Im Gegensatz dazu hat Österreich im Vergleich zu anderen europäischen Ländern noch Potenzial bei der Erwerbsquote älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und bei der Reduktion von Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen, um das Arbeitskräftepotenzial zu erhöhen. Die dafür notwendigen Maßnahmen – zum Beispiel bei der Vereinbarkeit von Beruf

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und Familie – sind eine wichtige Voraussetzung zur Steigerung des Arbeitskräftepotenzials. Außerdem geht es natürlich auch darum, durch Qualifizierungsmaßnahmen das Arbeitskräftepotenzial gerade in jenen Bereichen des Arbeitsmarkts auszubauen, wo die Knappheit besonders groß ist und noch größer werden wird – bei den Fachkräften. Eine bessere Messung und Prognose des Fachkräftebedarfs ist in diesem Zusammenhang ein Desideratum. Qualifizierung. Die Europäische Union hat sich im Rahmen des Sozialgipfels in Porto das Ziel gesetzt, dass 60 % der Erwerbstätigen jedes Jahr eine Fortbildung genießen. Österreich ist von diesem Ziel, das in den nächsten Jahren umzusetzen ist, nicht weit entfernt. Das Qualifikationsniveau der Erwerbstätigen in der Zukunft wird, unabhängig von solchen politisch gesetzten Zielen, sehr wahrscheinlich der entscheidende Faktor in der aktiven Arbeitsmarktpolitik sein. Dies gilt insbesondere für Länder mit vergleichsweise hohen Löhnen wie Österreich. Hier zeigt sich auch ein massives Problem jeder traditionellen aktiven Arbeitsmarktpolitik: Sie setzt dort an, wo Menschen bereits ihren Arbeitsplatz verloren haben, oft schon einige Zeit in der Arbeitslosigkeit verbracht haben und bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz nicht erfolgreich waren. Mit anderen Worten: Die aktive Arbeitsmarkpolitik ist kurativ; sie versucht Defizite auszugleichen, wenn der Schaden schon eingetreten ist; beziehungsweise versucht sie Chancen am Arbeitsmarkt zu verbessern, wenn die Chancen schon schlechter sind, als sie noch vor einigen Monaten waren. Ein Paradigmenwechsel wäre, wenn aktive Arbeitsmarktpolitik stärker präventiv wirken könnte, also Arbeitslosigkeit durch rechtzeitige Qualifizierungsmaßnahmen verhindern oder so kurz wie möglich halten könnte. Ein solcherart veränderter Fokus würde ein stärkeres Gewicht auf die aktive Arbeitsmarktpolitik und ein geringeres Gewicht auf die passive Arbeitsmarktpolitik (der Versicherungsaspekt der Arbeitslosenversicherung) legen, weil weniger Menschen ihren Arbeitsplatz verlören. Allerdings reicht ein Blick auf die öffentliche aktive Arbeitsmarktpolitik bei weitem nicht aus, wenn es um das notwenige Ausmaß an Qualifizierungsmaßnahmen geht. Qualifizierungsprogramme müssen eingebettet sein in eine Gesamtstrategie, in der die Unternehmen und die Beschäftigten eine zentrale Rolle spielen. Im Idealfall unterstützt die öffentliche Hand Maßnahmen, die von Unternehmen und Arbeitnehmerinnen beziehungsweise Arbeitnehmern ausgehen, deren wahrgenommener Ertrag aber jeweils

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nicht groß genug ist, um die sinnvollen Maßnahmen von sich aus zu initiieren, deren gesamtwirtschaftlicher Ertrag aber höher ist als ihre Kosten. Zudem geht es darum die in naher Zukunft nachgefragten Fähigkeiten, Fertigkeiten und Berufe noch besser zu prognostizieren, um Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik – wie zum Beispiel Arbeitsstiftungen oder Umschulungsprogramme – noch zielgerichteter gestalten zu können. AMS-Vermittlung. Grundsätzlich ist eine rasche Vermittlung im Zusammenhang mit den richtigen Maßnahmen aus dem Köcher der aktiven Arbeitsmarktpolitik immer wünschenswert. Angesichts der demografischen Entwicklung und der Knappheit an Fachkräften wird sie aber noch relevanter. Hier geht es unter anderem um die bestmögliche Unterstützung des Vermittlungsprozesses durch eine möglichst umfangreiche Erfassung von offenen Stellen und deren Charakteristika und eine möglichst umfangreiche Erfassung der Fähigkeiten, Präferenzen und Einschränkungen der Stellensuchenden, um das herbeizuführen, was man in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung den perfekten Match nennt; also jene Kombination aus Unternehmen und Stellensuchenden, die für beide optimal ist. Dafür braucht es sowohl eine gute Datengrundlage als auch ausreichend ausgestattete persönliche Beratung. Arbeitslosenversicherungsreform. Lange schon gab es keine größere Reform des Arbeitslosenversicherungsrechts in Österreich. Österreich weist eine der höchsten Beitragsraten zur Arbeitslosenversicherung in der OECD auf, bietet aber auch sehr viele Leistungen aus der Versicherung. Neben dem klassischen Arbeitslosengeld und den Mitteln für die aktive Arbeitsmarktpolitik sind das etwa die Bildungskarenz und die Altersteilzeit. Wenn man sich die klassische Arbeitslosenversicherung ansieht, fallen vor allem zwei österreichische Besonderheiten auf: (i) eine über die Zeit relative konstante Bezugshöhe und der zeitlich praktisch unbefristete Bezug der Notstandshilfe und (ii) die zeitlich unbefristete Möglichkeit, während des Bezugs der Arbeitslosenversicherung zeitlich unbefristet beschäftigt zu sein. Im Herbst 2021 hat das Bundesministerium für Arbeit den Startschuss für eine breite Debatte über die Arbeitslosenversicherung in Österreich angestoßen. Das Ziel ist es, Menschen aus der Arbeitslosigkeit rascher in gute Beschäftigung zu bringen und dabei ihr Einkommen besser abzusichern. Im Laufe des ersten Halbjahres 2022 soll ein Gesamtentwurf vorgelegt werden,

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der ausbalanciert, evidenzbasiert und zukunftsweisend (also unabhängig von den Herausforderungen der Pandemie) die Arbeitslosenversicherung weiterentwickelt. Dabei soll die Beitragshöhe nicht steigen und das grundsätzliche System mit Arbeitslosengeld und zeitlich praktisch unbefristeter Notstandshilfe erhalten bleiben. Diskutiert wird über eine stärkere Degressivität des Leistungsbezugs, das heißt, über eine höhere Ersatzrate in einer ersten Phase und dann ein stufenweises Absinken, über Einschränkungen bei der Möglichkeit des Zuverdiensts und über die verschiedenen Formen von aktiver Unterstützung, Sanktionen und Zumutbarkeitsbestimmungen. Gerade weil die verschiedenen Aspekte eng zusammenhängen, ist ein Gesamtpaket so wichtig, um eine ausgewogene Reform zustande zu bringen, die die oben genannten Ziele erreichen soll. Ein Inkrafttreten wäre ab 2023 angedacht. Bis zur Vorstellung eines Vorschlags wird eine hohe zweistellige Anzahl an Gesprächen mit Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Sozialpartnerschaft und dem Arbeitsmarktbereich, den politischen Vertreterinnen und Vertretern in Bund und Ländern, Arbeitssuchenden und Arbeitssuchendenorganisationen geführt, und viele Arbeitslosenversicherungssysteme in europäischen Ländern werden im Detail analysiert worden sein.

Fazit Österreichs Arbeitsmarkt als Ganzes hat sich vergleichsweise rasch von den massiven Herausforderungen durch die Corona-Pandemie erholt. Allerdings gibt es naturgemäß Bereiche des Arbeitsmarkts, in denen die Pandemiefolgen noch lange erkennbar sein werden, weil sich auch zwischen den Branchen die Gewichte verschoben haben. Gerade in den Bereichen Gastronomie, Hotellerie, Veranstaltungen, Kunst, Kultur und Sport gibt es, aufgrund der durch die Pandemie verursachten Einschränkungen, besonders große Personalprobleme. Unabhängig von der Pandemie hat Österreich strukturelle Herausforderungen am Arbeitsmarkt zu meistern. Neben Mismatch-Phänomenen sind hier vor allem die Langzeitarbeitslosigkeit und die demografische Entwicklung zu nennen. Dazu kommt ein rapider Umbau der Wirtschaft durch Digitalisierung und Dekarbonisierung, der zusätzliche Mismatch-Problematiken am Arbeitsmarkt erzeugt.

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Reformen am Arbeitsmarkt müssen daher vor allem bei der Qualifizierung und optimalen Vermittlung von Arbeitssuchenden ansetzen. Die Alterung der Gesellschaft zwingt uns, das bestehende Arbeitskräftepotenzial besser zu nutzen. Das Arbeitslosenversicherungssystem muss, neben der Einkommenssicherung, die richtigen Anreize für eine rasche Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt setzen.

Literatur Baumgartner, J., Fink, M., Lappöhn, S., Moreau, C., Plank, K., Rocha-Akis, S., Schnabl, A., Weyerstrass, K. (2020). Wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Abfederung der COVID-19-Krise. Mikro- und makroökonomische Analysen zur konjunkturellen, fiskalischen und verteilungspolitischen Wirkung. https://irihs.ihs.ac.at/id/eprint/5703/ Bittschi, B., Fortin, I., Grozea-Helmenstein, D., Hlouskova, J., Hofer, H., Koch, S.P., Kunst, R.M., Molnarova, Z., Reiter, M.; Sellner, R. et al. (2021). Prognose der österreichischen Wirtschaft 2021–2022: Wirtschaft zurück auf Wachstumskurs. Wirtschaftsprognose / Economic Forecast 116. Ederer, S. (2021). Verzögerte Erholung bei erneutem Lockdown. Prognose für 2021 und 2022. WIFO-Monatsberichte 94(4): 265–278. Ederer, S., Schiman, S. (2021). Prognose für 2021 bis 2023: Neuerlicher Lockdown verzögert Konjunkturerholung in Österreich. WIFO-Konjunkturprognosen, Dezember 2021. Ertl, M., Fortin, I., Grozea-Helmenstein, D., Hlouskova, J., Hofer, H., Koch, S.P., Kunst, R.M., Molnarova, Z., Reiter, M., Weyerstrass, K. (2021). Winter-Prognose der österreichischen Wirtschaft 2021–2023. Aufschwung setzt sich fort trotz Inflation und Corona-Risiken. Wirtschaftsprognose / Economic Forecast 120. Weyerstrass, K. (2021). Fiscal policies in Austria during the COVID-19 pandemic. A macroeconomic assessment. In: IHS Blog, 15 November 2021.

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zeitgeschichte

Große Projekte bieten große Möglichkeiten

faruk a je ti

30 Jahre Unabhängigkeit Slowenien und Kroatien Die Rolle österreichischer Politiker

Österreich und Jugoslawien hatten nach dem Zweiten Weltkrieg gute bilaterale Beziehungen – sowohl in der blockfreien Bewegung als auch in der Gruppe der neu­ tralen Länder –, und an diesen Beziehungen bestand größtes außenpolitisches Inte­ resse.1 Die Leitlinien der österreichischen Jugoslawienpolitik in den 1980er-Jahren waren der Erhalt der territorialen Integrität und die wirtschaftliche Sanierung Jugo­ slawiens durch die Unterstützung der wirtschaftlichen internationalen Maßnahmen. Die österreichische Bundesregierung unterstützte die Bemühungen Jugoslawiens zur Reform in der Wirtschaft. Die österreichische Außenpolitik war maßgeblich beteiligt an der Errichtung des EFTA-Entwicklungsfonds für Jugoslawien sowie an der Ein­ beziehung Jugoslawiens in die „Quadrangulare“.2

1 Der Beitrag ist die aktualisierte Fassung eines Kapitels des Buches „Die Kosovopolitik Österreichs in den Jahren 1866–1999“, das heuer in der Hildesheimer Reihe des Georg W. Olms Verlags veröffentlicht wird. 2 Die Quadrangulare umfasste Italien, Jugoslawien, Österreich und Ungarn.

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Aus mehreren Gründen hatte und hat Österreich besonderes Interesse an der Stabilität auf dem Balkan. Die Instabilität Jugoslawiens und der mögliche Konflikt zwischen den jugoslawischen Teilrepubliken hatten direkte Auswirkungen auf Österreich und auf die südosteuropäische Region. Albanien, Bulgarien, Rumänien und Ungarn waren zu dieser Zeit in der schwierigen Phase des Übergangs zur Demokratie und zu einem liberalen marktwirtschaftlichen System. Der Konflikt in Jugoslawien hatte für Österreich auch wirtschaftliche Schäden zur Folge. Jugoslawien war ein wichtiger Handelspartner Österreichs, und ein möglicher Krieg würde die österreichischen Exporte negativ beeinflussen. Wegen der historischen Beziehungen und der geografischen Nähe war Österreich auch unmittelbar von den Flüchtlingsströmen betroffen. Die jugoslawische Föderation war ein beliebtes Urlaubsziel für Österreicher, und die vielen Gastarbeiter aus Jugoslawien in Österreich haben die Beziehungen zwischen den beiden Ländern noch verstärkt.

Österreichische Außenpolitik zur Zeit der jugoslawischen Krise Österreich hat die Entwicklungen in Jugoslawien mit besonderer Besorgnis verfolgt, vor allem dort, wo die politische Situation in Jugoslawien nach dem Tode Titos (am 4. Mai 1980) dramatisch angespannt war. Die Nationalitätenkonflikte verschärften sich insbesondere mit der Machtübernahme von Slobodan MiloŠeviċ, mit dem der Staatszerfall Jugoslawiens und die späteren blutigen Ereignissen verbunden sind. Milosevic hatte den vorhandenen serbischen Nationalismus genutzt, das jugoslawische System von Tito zu beseitigen, um eine Rezentralisierung Jugoslawiens unter serbischer Dominanz zu ermöglichen. Diese Politik von MiloŠeviċ war nichts anderes als die Schaffung eines großserbischen Staates, basierend auf den vorgesehenen Plänen des Memorandums der Serbischen Akademie der Wissenschaften von September 1986.3

3 Ajeti, Faruk (2021): Die Kosovopolitik als Konstante der österreichischen Außenpolitik, in: Khol, Andreas/Karner, Stefan et al. (Hg.): Jahrbuch für Politik 2020. Böhlau Verlag, 2021, S. 455–467; Ajeti, Faruk (2020): Österreichs Vorreiterrolle in der Kosovopolitik, in: Europäische Rundschau, 48. Jahrgang, Nr. 1/2020, S. 101–104.

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Für Außenminister Alois Mock war klar, dass der Zerfall Jugoslawiens nicht mit dem Krieg im Juni 1991 in Slowenien oder später Kroatien angefangen hat, sondern der „Auflösungsprozess Jugoslawiens hat genau genommen mit den Entwicklungen im Kosovo im Jahre 1987 begonnen und beschleunigte sich ab 1991“.4 Am 25. Juni 1991 erklärten Kroatien und Slowenien ihre Unabhängigkeit. Einheiten der Jugoslawischen Volksarmee (JNA) begannen eine militärische Offensive gegen die Slowenen und später auch gegen Kroatien. Angesichts der Kriegshandlungen zwischen der jugoslawischen und der slowenischen Armee an der Südgrenze Österreichs befürchtete die österreichische Regierung, dass die Kriege in Jugoslawien eine „Gefahr für die Sicherheit auch im übrigen Europa werden könnten“.5 Erstmals seit der Ungarnkrise 1956 und der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 wurden das österreichische Bundesheer und die österreichische Bevölkerung mit militärischen Auseinandersetzungen an den österreichischen Grenzen konfrontiert. Österreich sah sich durch bewaffnete Auseinandersetzungen auf slowenischem Gebiet in unmittelbarer Grenznähe und mehrfache Verletzungen des österreichischen Luftraumes durch die Luftwaffe der Jugoslawischen Volksarmee herausgefordert. Das österreichische Bundesheer wurde in Alarmbereitschaft versetzt.6 Nach Ausbruch des Krieges zwischen der jugoslawischen Volksarmee und der slowenischen Territorialverteidigung hat die österreichische Regierung im Rahmen des KSZE-Konfliktmechanismus von Belgrad verlangt, binnen 48 Stunden zu den „außergewöhnlichen militärischen Maßnahmen“ Stellung zu nehmen, die von Wien als bedrohliche Aktivitäten bezeichnet wurden. Die Antwort Belgrads war dürftig, Österreich und die anderen Nachbarstaaten Jugoslawiens hätten keinen Grund zur Besorgnis.7

4 Mock, Alois (Hg.) (1997): Das Balkan-Dossier. Der Aggressionskrieg in Ex-Jugoslawien – Per­ spektiven für die Zukunft. Dokumentiert von Herbert Vytiska. Signum, Wien, S. 55. 5 Außenpolitischer Bericht 1991, S. 123. 6 Vgl. Ségur-Cabanac, Christian (1992): Militärischer Sicherungseinsatz 1991. Schutz der Staatsgrenze gegenüber Jugoslawien, in: Truppendienst 2, S. 167–177; Rauchensteiner, Manfried (2011): Entschlossenes Zuwarten. Österreich und das Werden Sloweniens 1991. Archiv für Vaterländische Geschichte und Topographie (Band 102). Verlag des Geschichtsvereines für Kärnten, Klagenfurt am Wörthersee. 7 Gehler, Michael (2005): Österreichs Außenpolitik der Zweiten Republik. Von der alliierten

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Außenminister Mock hatte sich seit der Übernahme des Außenministeriums im Herbst 1986 von der aktiven und globalen Außenpolitik Bruno Kreiskys abzugrenzen versucht. Dabei sprach er sich für eine „realistische Neutralitätspolitik“ und gegen „einseitige Parteinahmen, die weder einer klugen Neutralitätspolitik noch der Sache selbst nützlich sind“ aus.8 Mock legte seinen Fokus auf Europa und auf Nachbarschaftspolitik. Einer der engsten Mitarbeiter von Alois Mock, Albert Rohan, führte zum Engagement von Alois Mock in der Nachbarschaftspolitik, insbesondere am Balkan, aus: „Mock war mit Leib und Seele interessiert an zwei Dingen – an Mitteleuropa und am Balkan […]. Mock hat praktisch täglich neue Ideen gehabt, neue Vorschläge, und wir mussten diese auf ihre Praktikabilität prüfen und umsetzen“.9 Außenminister Mock gehörte zweifellos zu den wenigen europäischen Politikern, die die Entwicklungen in Jugoslawien mit besonderer Aufmerksamkeit und Sorge verfolgten. Angesichts der politischen Wende in Mittel-, Süd- und Osteuropa, der problematischen Verhältnisse zwischen den Völkern in Jugoslawien, der wirtschaftlichen Probleme und des steigenden Nationalismus der serbischen Führung war es die Einschätzung von Alois Mock, dass die Bewahrung dieser Völker unter einer Zentralregierung unmöglich war. Während internationale Spitzendiplomaten „demonstrative Betriebsamkeit zur Schau stellten, war Wien zur heimlichen Drehscheibe des Krisenmanagements geworden. Österreichs Außenminister Alois Mock gewann international an Statur. Er war laut und entschieden genug, um nicht überhört zu werden“.10 Er definierte sich als „Anwalt für die bedrängten Völker Jugoslawiens“.11 Mit Beginn der Jugoslawien-Krise schlug Außenminister Mock zum ersten Mal im Mai 1991 die Entsendung einer Friedenstruppe vor und die Bildung eines internationalen Vermittlungsgremiums (Weisen-Rat) aus drei

Besatzung bis zum Europa des 21. Jahrhunderts (2 Bände). Studien Verlag, Innsbruck u. a., S. 703. 8 Kramer, Helmut (2006): Strukturentwicklung der österreichischen Außenpolitik (1945–2005). In: Dachs, Herbert et al. (Hg.): Politik in Österreich. Das Handbuch. Manz, Wien, S. 829. 9 Persönliches Interview mit Albert Rohan, Wien, 24. 2. 2017. 10 Scharsach, Hans-Henning: Kroatiens Hoffnungen ruhen auf Österreich, in: Kurier, 5. 10. 1991, S. 3. 11 Ajeti, Faruk: Alois Mock als „Anwalt“ der bedrängten Völker. Die Presse, 2 June 2017.

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bis fünf europäischen Persönlichkeiten, die keine Regierungsfunktion ausüben, „jedoch über große politische Erfahrung und hohes internationales Ansehen verfügen“.12 Der Vorschlag von Außenminister Mock wurde von der jugoslawischen Zentralregierung und der serbischen Seite als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Jugoslawiens abgelehnt. Nach der Vertiefung der Krise bzw. mit dem Ausbruch des Krieges in Slowenien wurde ein ähnliches Vermittlungsforum – wie Mock vorgeschlagen hatte – gegründet, nämlich die „EG-Troika“-Mission der EG-Außenminister, bestehend aus dem Italiener de Michelis, dem Luxemburger Poos und dem Holländer van den Broek. Die EG-Troika reiste am Abend des 28. Juni 1991 nach Belgrad zu Gesprächen mit den Vertretern der jugoslawischen Bundesregierung sowie mit den Präsidenten Kucan und Tudjman. Der österreichische Bundespräsident Kurt Waldheim unterstützte den Vorschlag von Außenminister Mock: „Die Mission der EG-Troika resultierte aus den eindringlichen Warnungen Österreichs vor den Entwicklungen in Jugoslawien.“13 Nach diplomatischem Druck und Verhandlungsinitiativen der EGTroika wurde die militärische Auseinandersetzung – der „Zehn-TageKrieg“ – durch den Waffenstillstand in Slowenien vom 3. Juli und durch das Abkommen von Brioni vom 7. und 8. Juli beendet. Die Vereinbarung sah vor, dass sich die Einheiten der JNA aus Slowenien – unter EG-Überwachung – zurückziehen würden, sowie eine dreimonatige Suspension der Unabhängigkeitserklärung Sloweniens und Kroatiens. Die Intervention der EG-Troika richtete sich – wie beim ersten Auftreten in Belgrad am 29. Juni und in Brioni – auf den Erhalt Jugoslawiens und gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen Sloweniens und Kroatiens. Die EG-Troika erreichte am 15. Juli, dass sich die JNA aus Slowenien zurückzog, konnte aber nicht verhindern, dass der Krieg in Kroatien ausbrach.

12 Kurier, 10. 6. 1991. 13 Vorarlberger Nachrichten, 25. 7. 1991.

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Österreichische Außenpolitik der zwei Geschwindigkeiten gegenüber der jugoslawischen Krise In der Vertiefung der jugoslawischen Krise versuchte Österreich kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den Völkern zu verhindern und zur Wahrung des Friedens, der Sicherheit und Demokratie in der Region beizutragen. Um dies zu erreichen, betrieb die österreichische Diplomatie nicht nur die Internationalisierung der Krise, sondern vertrat bei den internationalen Organisationen die Prinzipien der „traditionell aktiven Mitarbeit Österreichs“.14 Um die Beilegung der Jugoslawien-Krise zu internationalisieren, unternahm Österreich weitere diplomatische Aktivitäten als nichtständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates (März 1991-Mai 1992). Der österreichische UN-Botschafter, Peter Hohenfellner, hatte den Auftrag von Außenminister Mock erhalten, eine dringliche UN-Sicherheitssitzung zur Jugoslawien-Krise zu beantragen. Am 7. August 1991 lenkte Österreich als erster Staat die Aufmerksamkeit des UN-Sicherheitsrates auf die Lage in Jugoslawien, und am 19. September stellte es einen Antrag auf dringende Behandlung der Krise wegen Gefährdung des Friedens und der Sicherheit in der Region. Als Resultat dieser Initiative wurde der Sicherheitsrat auf der Außenministerebene am 25. September einberufen und beschloss die erste Resolution des UN-Sicherheitsrates über Jugoslawien (Waffenembargoresolution 713). Die nachbarschaftliche Kompetenz Österreichs wäre wahrscheinlich nicht weltweit anerkannt worden, „wäre Österreich nicht Mitglied des Sicherheitsrates gewesen“, sonst „hätte so eine Sitzung vielleicht gar nicht stattgefunden“.15 Der österreichische Diplomat Gerhard Jandl, der Mitglied der österreichischen Sicherheitsratsdelegation in New York war, schrieb: „Es gab fast niemanden, der die Anrufung des Sicherheitsrates wegen Jugoslawien für eine gute Idee hielt.“16 Jugoslawien hatte als eines der UN-Gründungsmitglieder ein großes internationales Prestige, auch

14 Mock, Alois (1994): Die Haltung Österreichs in der Balkankrise und die Beziehungen zu den Nachfolgestaaten auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien, in: Khol, Andreas/Ofner, Günther/ Stirnemann, Alfred (Hg.): Österreichisches Jahrbuch für Politik 1993, Wien, S. 113. 15 Jandl, Gerhard (2000): Österreichs Rolle im Kosovo-Konflikt, in: Österreichisches Jahrbuch für internationale Politik 1999. Braumüller, Wien, S. 59. 16 Jandl 2000, S. 58. Mehr dazu siehe Jandl, Gerhard (2022): Balkanpolitik, in: Handbuch zur Außenpolitik Österreichs.

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aufgrund seiner Rolle und Führungsmacht der Blockfreien-Bewegung (bis September 1991 war es Vorsitzland der Blockfreien-Bewegung). Insbesondere wegen der Staaten der Dritten Welt, zu denen Jugoslawien gute Kontakte hatte und bei denen es große Sympathie genossen hat, und aufgrund der möglichen Ängste vor Domino-Effekten der Unabhängigkeitserklärungen von Slowenien und Kroatien und den folgenden Grenzänderungen sowie der erfolgreichen Rhetorik der jugoslawischen bzw. serbischen Führung bezüglich ihrer Rolle in den beiden Weltkriegen war es für die österreichische Delegation schwer, die UN-Institutionen mit der jugoslawischen Frage zu befassen. Gegenüber der Entwicklung in Jugoslawien wurde die österreichische Bundesregierung „mit zwei Geschwindigkeiten gefahren“.17 In seinen Erinnerungen schreibt Bundeskanzler Franz Vranitzky, dass Österreich „zwei verschiedene Außenpolitiken“ verfolgte, und zwar eine des Bundeskanzlers und eine des Außenministers.18 Außenminister Mock plädierte für einen friedlichen Übergang zur Demokratie in den jugoslawischen Teilrepubliken, wobei die Anwendung des Selbstbestimmungsrechtes friedlich erfolgen und die Rechte aller Volksgruppen garantiert werden müssten.19 Bundeskanzler Vranitzky nahm eine zurückhaltende Haltung im Jugoslawien-Konflikt ein und betonte das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren jugoslawischen Angelegenheiten, während Außenminister Mock aufgrund des brutalen Vorgehens der serbischen Politik ein aktiveres Engagement verfolgte und auch andere europäische Staaten hiervon zu überzeugen versuchte. „Die Zeit ist vorbei, mit Appellen zur Gewaltlosigkeit etwas zu erreichen. Man muss handeln, um einen Bürgerkrieg zu vermeiden, der Auswirkungen auf ganz Europa hätte“.20 Bundeskanzler Vranitzky lehnte einen Alleingang Österreichs ab und vertrat die Ansicht, dass sich Österreich das Instrument der

17 Kroner 1992: 52, zit. in Zeitler, Klaus Peter (2000): Deutschlands Rolle bei der völkerrechtlichen Anerkennung der Republik Kroatien unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Außenministers Genscher. Tectum, Marburg, S. 109. 18 Vranitzky, Franz (2004): Politische Erinnerungen. Paul Zsolnay Verlag, Wien, S. 360. 19 Vgl. Wohnout, Helmut (2004) (Hg.): Vom Durchschneiden des Eisernen Vorhangs bis zur Anerkennung Sloweniens und Kroatiens. Österreichs Außenminister Alois Mock und die europäischen Umbrüche 1989–1992, in: Andrea Brati/Michael Gehler (Hg.), Grenzöffnung 1989. Innenund Außenperspektiven und die Folgen für Österreich, Wien – Köln – Weimar. 20 Mock 1997, S. 72.

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Anerkennung vorbehalten und erst dann anwenden solle, wenn auch eine Reihe von anderen Staaten sich zu einer Anerkennung bekannt hätte.21 Die Anerkennungsfrage Sloweniens und Kroatiens wurde ein Dauerthema in der österreichischen Politik, für die Bundesregierung erwuchs daraus sogar ein Koalitionsstreit. Für Bundeskanzler Vranitzky war die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens eine Option, aber „diese kann im Gleichschritt mit anderen Staaten realisiert werden“.22 Am 3. September 1991 präsentierte Außenminister Mock im Ministerrat den Antrag auf Anerkennung Sloweniens und Kroatiens. Er bekräftigte seine Initiative mit der Begründung, dass Österreich eine „moralische Verpflichtung“ habe.23 Mock deklarierte, dass man Kroatien nicht im Stich lassen könne, wie es mit Österreich 1938 beim Einmarsch deutscher Truppen geschehen sei.24 Bundespräsident Waldheim erklärte, dass der „Zeitpunkt für möglichst rasche Anerkennung Sloweniens und Kroatiens durch Österreich gekommen“ sei.25 Waldheim unterstützte keinen Alleingang Österreichs, sondern versuchte, dass „Österreich als Mahner gegenüber jenen auftritt, die diesen Schritt noch verzögern“.26 Am 5. Dezember hatte der österreichische Nationalrat die Bundesregierung aufgefordert, die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens vorzunehmen und „darüber im Lichte der Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates und des diesbezüglichen Zeitplanes anderer europäischer Staaten in einer Sitzung des Ministerrates so schnell wie möglich zu entscheiden“.27 Die österreichische Bundesregierung beschloss am 10. Dezember, dass „Österreich die Republiken Slowenien und Kroatien völkerrechtlich anerkennen wird, wenn dies im Einklang mit dem diesbezüglichen Zeitplan anderer europäischer Staaten steht“.28 Am 16./17. Dezember, in einer Sondersitzung der EG-Außenminister in Brüssel, einigten sich die EG-Mitgliedstaaten nach langen Bera-

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Vgl. Kurier, 4. 9. 1991, S. 5. Die Presse, 7. 8. 1991, S. 4. Kärntner Tageszeitung, 5. 9. 1991. Vgl. Kurier, 18. 9. 1991, S. 2. Kurier, 9. 12. 1991, S. 2. Der Standard, 9. 12. 1991, S. 5. Sten. Prot. NR, XVIII. GP, 49. Sitzung, 5. Dezember 1991, S. 4905, S. 4977. Außenpolitischer Bericht 1991, S. 130.

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tungen, die Unabhängigkeit aller jugoslawischen Republiken, die die staatlichen Kriterien erfüllen, anzuerkennen. Alle jugoslawischen Republiken sollen bis 23. Dezember ihren Wunsch nach Anerkennung bei der EG stellen. Aufgrund der fehlenden Einigung bei den EG-Mitgliedstaaten wurde von den EG-Außenministern vereinbart, dass die getroffene Entscheidung am 15. Jänner 1992 durchgeführt wird. Am gleichen Tag anerkannte Österreich Slowenien und Kroatien. Die deutsche und österreichische Außenpolitik wurde wiederholt für die „vorzeitige“ und „verfrühte“ Anerkennung der nördlichen Republiken Jugoslawiens kritisiert. Mocks Nachfolger als Außenminister, Wolfgang Schüssel, sagte: „Das haben […] Mock und Hans-Dietrich Genscher als Erste gespürt und daher eine sehr proaktive Politik geformt, die in Europa zunächst nicht konsensfähig war“.29 Seitens der französischen Regierung wurde die österreichische Außenpolitik „in hohem Maße dafür verantwortlich“ gemacht, „dass es zum Krieg in Jugoslawien gekommen ist“.30 Albert Rohan vertrat hier eine gegensätzliche Meinung. Anstatt die Unabhängigkeitserklärungen Sloweniens und Kroatiens sofort anzuerkennen und zu internationalisieren sowie Belgrads gewaltsames Vorgehen gegen Ljubljana und Zagreb nicht zu akzeptieren, „vermittelte die Staatengemeinschaft durch ihre Haltung in Belgrad den sicheren Eindruck, dass sie die unter dem Deckmantel einer Verteidigung des alten jugoslawischen Staates durchgeführte großserbische Expansion tolerieren werde“.31 Die Sozialdemokratische Partei (SPÖ) pflegte – wie die anderen europäischen linken Parteien – Kontakte sowohl mit den herrschenden kommunistischen Politikern Jugoslawiens als auch mit reformistischen Gruppierungen der jugoslawischen Teilrepubliken. In seinen Erinnerungen schreibt Bundeskanzler Vranitzky über seine Sorgen bezüglich der politischen Zukunft Jugoslawiens: „Der Zerfall des alten Jugoslawiens war nach dem

29 Schüssel, Wolfgang (2014): Er hat sehr früh die Zeichen der Zeit erkannt, in: Mock, Alois: Visionen im Spiegel der Zeit. Alois Mock Institut – Forum für Zukunftsfragen. Stein, Bad Traunstein, S. 39. 30 ÖSTA, ADR, BMAA, GZ. 101.03.00/244-II.6/92, Französische Kritik an der österr. Jugoslawien-Politik, vom 3. Juli 1992, Wien. 31 Rohan, Albert (2002): Diplomat am Rande der Weltpolitik. Begegnungen, Beobachtungen, Erkenntnisse. Molden, Wien, S. 171.

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Abtreten Titos nicht mehr aufzuhalten, und dies war das Ergebnis meiner mehrjährigen Erfahrung im Umgang mit Balkanthemen“.32 „Es gab damals zwei Möglichkeiten“, schildert Heinz Fischer die Überlegungen der Sozialdemokraten, „Versucht man das, was den einzelnen Teilstaaten Jugoslawiens gemeinsam ist, unter einem gemeinsamen Dach zu erhalten, oder gibt man den nationalen Strömungen in diesen Ländern Raum. Die Entscheidung ist von den Nationalitäten in Jugoslawien getroffen und von Österreich anerkannt worden.“33 Diese Sensibilität wurde von den anderen europäischen Staaten kaum zuteil. Eva Nowotny beschreibt die zurückhaltende Position der englischen Regierungschefin: „Ich war selbst dabei bei einem Gespräch, das Vranitzky mit Margaret Thatcher gehabt hat, da wurde schon gekämpft in Jugoslawien, und das muss vor 1990 gewesen sein, sie war noch Premierministerin und Vranitzky hat über Jugoslawien gesprochen, und sie hat gesagt, ‚Franz, you exaggerate so. […]. We have lived with Ulster for so long. You will learn to live with it.‘“34 Die Österreichische Volkspartei (ÖVP) hatte Kontakte zu Regimegegnern, wobei die Ideologien und Motivation dieser Gruppierungen für die ÖVP keine Rolle spielten. Als Vizebürgermeister der Stadt Wien war Erhard Busek einer der hochrangigen ÖVP-Politiker, der diese Kontakte auf der intellektuellen Ebene seit dem Jahr 1987 – während seiner ersten Reise nach Jugoslawien – aufbaute. Besonders hervorzuheben ist die Vorreiterrolle der ÖVP bei der Internationalisierung des Kosovo-Problems im Rahmen der Europäischen Demokratischen Union (EDU). Seit der Gründung der EDU im Jahr 1978, als eine Organisation der west- und mitteleuropäischen christ-demokratischen Parteien, spielten ÖVP-Politiker eine bedeutsame Rolle. Der erste Präsident der EDU war ÖVP-Obmann Josef Taus und nach ihm war Alois Mock Präsident; Andreas Khol war Exekutivsekretär der EDU und nach ihm Alexis Wintoniak.

32 Vranitzky 2004, S. 355. 33 Fischer, Heinz (2018): Spaziergang durch die Jahrzehnte; begleitet von Herbert Lackner. Ecowin, Salzburg, München, S. 124 34 Persönliches Interview mit Eva Nowotny, Wien, 7. April 2017.

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Die EDU war für die ÖVP ein ideales Instrument, die Themen, die der ÖVP wichtig waren, zu behandeln, da der Vorsitzende und der Exekutivsekretär der EDU aus den Reihen der ÖVP kamen. Alexis Wintoniak, Klubsekretär für Außen- und Europapolitik im ÖVP-Parlamentsklub und internationaler Sekretär der ÖVP-Bundespartei von 1995 bis 2002, schildert, die „ÖVP-Linie war, dass insgesamt das Thema Jugoslawien auf die europäische bzw. internationale Ebene gebracht werden muss“.35 Andreas Khol in seiner Funktion als außenpolitischer Sprecher der ÖVP im Parlament und Exekutivsekretär der EDU reiste am Dezember 1990 im Auftrag des Lenkungsausschusses der EDU zu einer Fact-Finding-Mission36 nach Jugoslawien, um sich über die jugoslawischen Entwicklungen im Verfassungsreformprozess, über die Wirtschaftsreform, die Demokratisierung und den Schutz der Minderheiten zu informieren.37 Die EDU-Konferenzen und Tagungen, bei denen die konservativen Parteiführer Europas vertreten waren, spiegelten die Uneinigkeit der europäischen Staaten bei den wichtigen Fragen der Jugoslawienpolitik wider. Die Entwicklungen in Jugoslawien und vor allem die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens waren nur einige der Fragen, wobei es oft zu keinem gemeinsamen Standpunkt innerhalb der EDU kam. Die Franzosen (unter Leitung des Pariser Bürgermeisters und Oppositionsführers Jacques Chirac), die griechischen und spanischen Konservativen waren hier sehr zurückhaltend, während anderseits die ÖVP die serbische Aggressionspolitik gegen Kroatien, Bosnien-Herzegowina und die Menschenrechtsverletzungen im Kosovo scharf verurteilte, sodass es für die ÖVP-Vertreter nicht leicht war, ihre Position in der Kosovo-Frage im Rahmen der EDU-Tagungen einzubringen. Das bestätigt Andreas Khol: „In der EDU haben wir Jahre gebraucht, bis wir das positive Vorurteil der ehemaligen Alliierten Frankreich und England gegenüber Serbien überwinden konnten.“38

35 Persönliches Interview mit Alexis Wintoniak, Wien, 1. März 2017. 36 Die erste Fact-Finding-Mission nach Jugoslawien fand von 5. bis 8. Dezember 1990 unter Leitung von Andreas Khol (ÖVP), Bernd Fischer (CDU) und Esther Schollum (ÖVP) statt. 37 Vgl. Interim Report for the Purpose of the EDU Mission to Yugoslavia envisaged by the Steering Committee (Belgrade-Sarajevo-Prishtina). In: European Democrat Union. Yearbook 1990, p. 327–337 38 Persönliches Interview mit Andreas Khol, Wien, 2. Februar 2017.

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Nicht nur auf der diplomatischen Ebene zeigte Österreich starkes Engagement. Auf der humanitären Ebene war Österreich einer der aktiven europäischen Staaten. Als unmittelbarer Nachbar war Österreich seit dem Beginn der kriegerischen jugoslawischen Auseinandersetzungen von den Flüchtlings- und Asylwerberströmen betroffen. Ende 1993 hielten sich ca. 70.000 Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet in Österreich auf. Über 40.000 Flüchtlinge waren in Betreuung von Bund und Ländern, etwa 30.000 Personen waren bei Verwandten und Bekannten untergebracht (weder vom Bund noch von den Ländern finanziell unterstützt) und 1.400 Asylwerber befanden sich in Bundesbetreuung. Von 1991 bis Ende 1993 leisteten Bund, Länder und die österreichische Bevölkerung direkt rund 3,3 Milliarden Schilling an humanitärer Hilfe zugunsten der Kriegsopfer.39

39 Außenpolitischer Bericht 1993, S. 437.

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Mädchen und Frauen als Motoren der Integration Als Integrationsministerin ist es mir ein besonderes Anliegen, Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund in ihrer Selbstbestimmung zu stärken und in ihrem Inte­ grationsprozess zu unterstützen. Sie sind wertvolle Multiplikatorinnen in den Com­ munities und in ihren Familien, die zentrale Werte des Zusammenlebens in Öster­ reich vorleben und an die nächste Generation weitergeben können. Daher gilt es, die erfolgreiche Integration von Mädchen und Frauen als eine Chance für die gesamte Integrationsarbeit in Österreich zu sehen und entsprechend voranzutreiben.

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Einleitung Als Bundesministerin für Frauen, Familie, Integration und Medien bin ich für mehrere Querschnittsmaterien zuständig, die die Lebensbelange von Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund in Österreich unmittelbar berühren. Von der Familienpolitik über Fragen des Deutscherwerbs, der Arbeitsmarktintegration und Wertebildung bis hin zu den zentralen Themen der Frauenpolitik, dem Gewaltschutz sowie der Stärkung und Förderung der Gleichstellung von Frauen und Mädchen. Mein Verständnis von Politik ist dabei keines, das Frauen vorschreibt, wie sie ihr Leben leben sollen. Die Politik soll aber sehr wohl den bestmöglichen Rahmen schaffen, in dem sich Mädchen und Frauen – unabhängig von ihrer Herkunft – entfalten können und frei von Zwängen und Benachteiligung Chancen ergreifen und Wege einschlagen können, die ihnen Österreich bietet. Dafür setze ich mich mit ganzer Kraft ein. Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist in Österreich heute (so wie in anderen liberalen Demokratien) ein zentraler Wert unserer Gesellschaft, ein Wert, der hart erkämpft wurde und der nicht selbstverständlich ist. Dabei geht es insbesondere um die freie Wahl der Ausbildung, des Berufs oder des Partners, aber auch um individuelle Freiheiten und Rechte, die in Österreich unabhängig vom Geschlecht gewährleistet sind. Sie sind rechtlich verankert, etwa in der österreichischen Bundesverfassung. Diese Errungenschaften der letzten Jahrzehnte sind ein hohes Gut. Sie werden immer wieder bedroht, und wir müssen sie auch immer wieder verteidigen. Denn bei der Gleichberechtigung von Mann und Frau dürfen wir keinen Schritt zurückgehen. Im Durchschnitt des Jahres 2020 lebten rund 2,1 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Österreich, was einem Anteil von 24,4 % an der Gesamtbevölkerung entspricht1. Nicht alle, aber doch viele dieser Zuwanderinnen und Zuwanderer stammen aus Herkunftsländern, in denen Frauen weniger Rechte haben und nicht gleichberechtigt und selbstbestimmt leben können. Diese patriarchalen Strukturen und Rollenbilder

1 https://www.integrationsfonds.at/fileadmin/content/AT/Fotos/Publikationen/Statistikbroschuere/OEIF_Statistisches_Jahrbuch_2021.pdf

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werden dann auch in Österreich übernommen und vielfach an die nachfolgende Generation weitergegeben. Dies ist insbesondere von Bedeutung, weil Frauen und Mütter „Integrationsmotoren“ unserer Gesellschaft und Vorbilder für kommende Generationen sind. Sie spielen eine zentrale Rolle in den Integrationsverläufen ihrer Kinder und sind somit ein zentraler Fokus meiner Arbeit als Integrationsministerin.

Maßnahmen im Jahr 2021 Im Jahr 2021 hat das Bundeskanzleramt (BKA) im Integrationsbereich insgesamt 41 Frauenprojekte mit einem Fördervolumen von 2,9 Millionen Euro gefördert. 14 dieser Projekte fokussieren sich ganz konkret auf den Gewaltschutzbereich (insg. rd. € 960.000). Die Förderauswahl für das Jahr 2021 wurde auf der Webseite des BKA veröffentlicht2. Diese Projekte bieten nicht nur Beratung und Hilfestellung, sondern haben auch die Stärkung von Mädchen und Frauen zum Ziel. Darüber hinaus hat der Österreichische Integrationsfonds (ÖIF) Mittel für Projekte in einer Höhe von zwei Millionen Euro in ganz Österreich vergeben.3 Diese kommen vorrangig Projekten zugute, durch die Frauen an den Arbeitsmarkt herangeführt werden sollen, die derzeit nicht arbeiten oder überhaupt noch nie gearbeitet haben, aber auch Maßnahmen, die dazu beitragen, patriarchale Strukturen aufzubrechen und von kulturell bedingter Gewalt betroffene Mädchen und Frauen zu unterstützen. Um das Thema „Frauen und Integration“ fachlich zu behandeln, haben wir im September 2021 die 1. Österreichische Integrationskonferenz mit diesem Schwerpunkt veranstaltet. Gerade weil dabei die Arbeit mit und die Mitwirkung von männlichen Jugendlichen und Männern für den Schutz von Frauen so wichtig ist, war es mir eine besondere Freude, dass wir den Psychologen Ahmad Mansour als Hauptredner gewinnen konnten. Ahmad Mansour ist Initiator vieler Projekte gegen Radikalisierung, Unterdrückung im Namen der Ehre und Antisemitismus und der festen Überzeu-

2 https://www.bundeskanzleramt.gv.at/agenda/integration/projektfoerderung/foerderschwerpunkte/allgemein.html 3 https://www.integrationsfonds.at/themen/foerderungen/frauenaufruf2021/

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gung, dass erfolgreiche Integration von Frauen mit Migrationshintergrund gleichzeitig Emanzipation bedeutet. Für Männer aber bedeute Integration seiner Erfahrung nach vielmals den Verlust von patriarchalen Machtstrukturen, weswegen sie sich oft gegen Integration (von Frauen) wehren. Dieser Herausforderung müssen wir uns in der Integrationsarbeit natürlich stellen. Im Rahmen der Konferenz konnte ich außerdem ein umfassendes Maßnahmenpaket vorstellen, das unter anderem zusätzliche 3,6 Millionen Euro für Projekte zum Gewaltschutz sowie zur Stärkung von Frauen und Mädchen mit Migrationshintergrund vorsieht. Ein wesentlicher Baustein ist dabei auch die erste bundesweite Koordinierungsstelle zu weiblicher Genitalverstümmelung (FGM), die als zentrale Anlaufstelle für Betroffene sowie Einrichtungen, die bundesweit betroffene Frauen und Mädchen betreuen, fungieren wird. Die Stelle hat mittlerweile bereits ihre Vorarbeit aufgenommen. Der Austausch mit Expertinnen und Experten, Praktikerinnen und Praktikern, die sich im Speziellen für die Rechte von Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund einsetzen, und mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die dazu forschen, ist enorm wichtig und bietet wichtige Impulse für die Weiterentwicklung unserer Arbeit. Ich denke da beispielsweise an die Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi, die erste Richterin in ihrem Heimatland Iran, die sich weltweit aktiv für Frauenrechte einsetzt die 2003 als erste muslimische Frau den Friedensnobelpreis erhalten hat und die ich zuletzt im März 2021 im Rahmen einer digitalen Veranstaltung zum Thema „Selbstbestimmung von Frauen“ getroffen habe. Ich bin froh, dass wir immer wieder Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis für solche und ähnliche Veranstaltungen gewinnen können und werde diesen Austausch weiterhin pflegen.

Gewalt an Frauen im Kontext von Migration und Integration Gewalt an Frauen ist auch in Österreich traurige Realität. Oft wird diese hinter verschlossenen Türen ausgeübt, vom eigenen Ehemann, vom Partner oder Expartner. Im schlimmsten Fall führt das bis zum Mord. Gemeinsam mit dem Innenminister und der Justizministerin habe ich eine Studie über die Frauenmorde der letzten elf Jahre in Auftrag gegeben, die die Taten und

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Ursachen näher beleuchten soll, um präventiv noch besser und zielgenauer Maßnahmen setzen zu können. Eine erste Analyse wurde beim Gewaltschutzgipfel im Herbst 2021 präsentiert und ergab: In 80 Prozent der Fälle kannte der Täter das Opfer, vielfach aus einer familiären Beziehung. Zum Großteil waren die Täter unter 40 Jahre. Die meisten Morde und Mordversuche hat es in Wien gegeben. Bei einem generellen Ausländeranteil in Österreich von 17 Prozent, liegt der Anteil der Täter mit ausländischer Staatsbürgerschaft bei 33 Prozent, was eine Überrepräsentanz bedeutet.

Ehrkulturelle Gewalt Eine spezielle Herausforderung im Kontext von Gewalt gegen Frauen und Mädchen, der wir uns stellen müssen, stellt das Phänomen sogenannter ehrkultureller Gewaltformen dar. Während Gewalt an Frauen selbstverständlich kein kulturspezifisches Phänomen darstellt, gibt es jedoch gewisse Formen von Gewalt, die in bestimmten Kulturen vorkommen. Dazu zählen ehrkulturelle Gewaltformen wie Zwangsheirat, Kinderehe oder weibliche Genitalverstümmelung, die Frauen und Mädchen mit Migrationshintergrund betreffen können, auch wenn sie schon lange in Österreich leben. Darüber hinaus können Frauen und Mädchen bestimmten Kleidungsvorschriften, den Vorgaben und Urteilen von Sittenwächtern oder Freizeitbeschränkungen unterworfen sein. Innerhalb der jeweiligen Communities werden diese Phänomene oft nicht als Gewaltformen erachtet. Umso wichtiger ist es, dass wir als liberale demokratische und freie Gesellschaft diese Gewaltformen gegen Mädchen und Frauen in der Integrationsarbeit erkennen, benennen und dagegen konsequent vorgehen. Ich erachte es als essentiell für den Schutz dieser Mädchen und Frauen, dass wir als Staat und als Gesellschaft ganz klar aufzeigen, dass diese Phänomene eindeutig unseren grundlegenden Werten und Gesetzen widersprechen und in Österreich nicht geduldet werden. Die betroffenen Mädchen und Frauen müssen wissen, dass sie in Österreich geschützt sind und die Gesetze und die Sicherheitsbehörden auf ihrer Seite stehen. Um Menschen mit Migrationshintergrund gegenüber dem Thema ehrkulturelle Gewalt zu sensibilisieren, ist es entscheidend, auch mit Burschen und Männern

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zu arbeiten. Das Projekt „Heroes Steiermark“ verfolgt den Ansatz, Gewalt im Namen der Ehre in der direkten Arbeit mit jungen Männern zu behandeln. In Schulworkshops diskutieren speziell ausgebildete Jugendliche aus ehrkulturellen Milieus, die sogenannten „Heroes“, mit Gleichaltrigen u. a. über Identität und patriarchale Geschlechterverhältnisse. Die Bereitschaft der jungen Menschen sich über solche sensiblen Themen und mitunter über eigene oder Familienmitglieder betreffende Vorstellungen zu unterhalten und diese zu reflektieren, ja sogar zu überdenken, beeindruckt mich jedes Mal aufs Neue und bestärkt mich darin, den Kampf gegen ehrkulturelle Gewaltformen weiter voranzutreiben. Erst im Oktober durfte ich der Eröffnung einer neuen Einrichtung, die sich dem Kampf gegen Zwangsheirat widmet, beiwohnen: der ersten Beratungsstelle gegen Zwangsheirat in Tirol, die in den Räumlichkeiten der Bildungs- und Beratungseinrichtung „Frauen aus allen Ländern“ etabliert wurde. Dort können sich Frauen und Mädchen, die von einer Zwangsehe betroffen oder bedroht sind, beraten lassen. Mich freut es besonders, dass es uns gelungen ist, auch in Westösterreich ein Beratungsangebot zu instal­ lieren, womit wir nun gemeinsam mit den Vereinen „Orient Express“ in Wien und „DIVAN“ in Graz ein flächendeckendes Unterstützungsangebot bei Zwangsheirat sicherstellen können. Ich werde mich weiterhin dafür einsetzen, dass Mädchen und Frauen in Österreich ein gewaltfreies Leben führen können, egal woher sie kommen und bin daher froh, dass wir so viele maßgeschneiderte Projekte fördern können, um gegen Gewalt in Kontext von Migration und Integration anzukämpfen. So fließt die Erhöhung des Integrationsbudgets für das Jahr 2022, nämlich plus 1,75 Millionen Euro, auch in zusätzliche Maßnahmen gegen Gewalt an Frauen.

Frauen mit Migrationshintergrund und Arbeitsmarktintegration Ein weiterer Schwerpunkt der Integrationspolitik liegt auf dem Thema Arbeitsmarktintegration von Frauen mit Migrationshintergrund. Wenn wir uns den österreichischen Arbeitsmarkt ansehen, zählen geflüchtete Frauen zur herausforderndsten Zielgruppe. Neben oft unzureichenden Sprach- und Berufsqualifikationen sind nicht zuletzt auch patriarchale Rollenbilder er-

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heblich dafür verantwortlich, dass Frauen nicht den Weg ins Berufsleben beschreiten. Denn viele Zuwanderinnen genießen, wie bereits gesagt, weder die gesetzliche noch die gesellschaftliche Gleichstellung in ihren Herkunftsländern. Diese Ungleichbehandlung wird in Österreich oftmals weiterhin gelebt und Mädchen und Frauen der Zugang zu Bildung sowie der Eintritt in den Arbeitsmarkt durch ihr soziales Umfeld erschwert. Die Konsequenz patriarchaler Rollenbilder zeigt sich in diesem Kontext auch quantitativ, etwa in den Erwerbsbeteiligungs- und Arbeitslosenquoten von Frauen mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Auffällig sind deutlich unter dem Durchschnitt liegende Erwerbsquoten bei türkischen Frauen, die im Alter von über 24 Jahren nach Österreich kamen (Jahrgang 2007 nach zehn Jahren: 45 %, Jahrgang 2011 nach sechs Jahren: 35 %, Jahrgang 2016 nach einem Jahr: 34 %).4 Im Dezember 2021 lag die Arbeitslosenquote von Frauen aus der Türkei bei 19,3 Prozent. Bei Syrerinnen (54,7 %), Afghaninnen (46,7 %), Irakerinnen (41,3 %) und Iranerinnen (20,8 %) lag der Wert sogar deutlich höher. Im Vergleich dazu lag die Arbeitslosenquote von Österreicherinnen bei nur 5,7 Prozent und somit deutlich unter jenen der Zuwanderinnen5. Dies ist nicht nur für den österreichischen Arbeitsmarkt, sondern auch für die Zukunftsperspektiven und persönlichen Schicksale der Frauen ein gravierendes Problem. Gerade die wirtschaftliche Unabhängigkeit ist nämlich ein zentrales Element für ein freies und selbstbestimmtes Leben in Österreich. Daher ist der Fokus auf die Arbeitsmarktintegration der rund 46.474 ausländischen arbeitslosen Frauen6 für mich ein wichtiges Anliegen. Neben den Maßnahmen des Arbeitsmarktservice, das hier die primäre Zuständigkeit hat, gibt es zahlreiche Projektförderungen, Beratungsformate- und Kurse des ÖIF sowie Mentoring-Programme, die sich dem Thema „Arbeitsmarktintegration“ widmen und bundesweit Informationen und Unterstützung für Frauen mit Migrationshintergrund bieten.

4 https://www.integrationsfonds.at/fileadmin/content/AT/Fotos/Publikationen/Forschungsbericht/FoBe_Erwerbsverlaeufe_Gesamt_Ansicht.pdf 5 amis Arbeitsmarktinformationssystem 2022: https://www.dnet.at/Amis/Datenbank/ DB_Al.aspx 6 Stand Dezember 2021.

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Darüber hinaus war die Einführung des Integrationsgesetzes im Jahr 2017 ein zentraler Schritt, um Frauen in der Integrationsarbeit zu erreichen und die Arbeitsmarktintegration voranzutreiben. Durch die eingeführte Verpflichtung können Frauen nicht mehr von Männern an der Teilnahme gehindert werden, und so konnte beispielsweise der Frauenanteil in Werteund Orientierungskursen seit dem Integrationsgesetz verdoppelt werden. So gelingt es uns immer besser, Frauen mit Migrationshintergrund mit Beratungsangeboten zu erreichen und deren Integration in den Arbeitsmarkt sowie ihre Selbsterhaltungsfähigkeit zu unterstützen und weiter voranzutreiben. Neben dem Integrationsgesetz wurden in den letzten Jahren weitere rechtliche Anpassungen geschaffen, um nachhaltige Integration in Österreich zu ermöglichen und qualifizierte Frauen mit Migrationshintergrund möglichst rasch in den Arbeitsmarkt zu integrieren, was ihnen ein selbstbestimmtes und sicheres Leben ermöglicht. So trat etwa im Jahr 2016 das Anerkennungs- und Bewertungsgesetz für im Ausland erworbene Qualifikationen in Kraft. Es trägt dem Gedanken Rechnung, dass der Einstieg in den Arbeitsmarkt ein zentraler Schritt für eine erfolgreiche Integration in Österreich darstellt. Mit neuen und kürzeren Verfahren sowie verbesserten Serviceleistungen werden Zuwanderinnen und Zuwanderer sowie Asylberechtigte dabei unterstützt, ihre Fähigkeiten möglichst rasch am Arbeitsmarkt einzubringen.

Empowerment Wie eingangs bereits dargelegt, ist es mein Ziel, Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund zu stärken und zu fördern. Meine Erfahrung in der Integrationsarbeit hat mir gezeigt, dass dazu positive Vorbilder äußerst gut geeignet sind, weshalb ich die Initiative ZUSAMMEN:ÖSTERREICH7 des Österreichischen Integrationsfonds besonders zielführend finde. Erfolgreiche Menschen mit Migrationshintergrund (z. B. Polizistinnen und Polizisten, Lehrerinnen und Lehrer, Unternehmerinnen und Un-

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https://www.zusammen-oesterreich.at/

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ternehmer) gehen als Integrationsbotschafter und Integrationsbotschafterinnen an Schulen und sprechen mit Schülerinnen und Schülern darüber, wie ihre Integration in Österreich gelungen ist und wie sie es geschafft haben, ihre beruflichen Träume und Ziele zu verwirklichen. Im Herbst 2021 feierte die Initiative ihr zehnjähriges Jubiläum, was gleichzeitig auch der Startschuss für den neuen Schwerpunkt „Geh deinen Weg!“ von ZUSAM­ MEN:ÖSTERREICH war, der sich insbesondere an Mädchen und junge Frauen richtet. Im Zentrum der Schulbesuche stehen nun Mädchen und junge Frauen, die mit den Integrationsbotschafterinnen und Integrationsbotschaftern ihre Chancen und Möglichkeiten diskutieren und ermutigt werden, ihr Leben in Österreich selbstbestimmt in die Hand zu nehmen, sich zu bilden und eigene Ziele zu verfolgen. Für viele Mädchen aus patriarchalen Familienstrukturen ist es nämlich noch immer nicht selbstverständlich, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und ihre Träume zu verwirklichen. Häufig fehlt es gerade in migran­ tischen Communities an weiblichen Vorbildern im persönlichen Umfeld, die einen eigenständigen Weg abseits veralteter Rollenbilder bereits gegangen sind. Beeindruckt hat mich in diesem Zusammenhang eine türkischstämmige Integrationsbotschafterin, die, trotz der Widerstände in ihrer Familie ihren Weg gegangen ist und nun Justizwachebeamtin ist. Wenn sie in Uniform in einer Schulklasse steht und über ihren Werdegang berichtet, die Höhen und Tiefen beschreibt und die Mädchen in der Klasse ermutigt, sich gegen Benachteiligung von Mädchen und Frauen sowie patriarchale Strukturen stark zu machen, bewirkt das – insbesondere bei Mädchen – enorm viel. Die ehrenamtlichen Integrationsbotschafterinnen und Integrationsbotschafter leisten Hervorragendes und gestalten die Integration in Österreich auf eine ganz besondere persönliche Art und Weise mit.

Integration durch Leistung Neben all den Projekten und speziellen Initiativen möchte ich die Wichtigkeit der Regelmaßnahmen in der Integrationsarbeit nicht unerwähnt lassen, die Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund in besonderer Weise zugute kommt.

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Bereits seit Beginn der gezielten Integrationspolitik im Jahr 2011 – damals in Form eines Staatssekretariats, angesiedelt im Bundesministerium für Inneres, war klar, dass für eine erfolgreiche Integration Migrantinnen und Migranten bestmöglich in ihren Integrationsbemühungen unterstützt werden müssen. Dazu zählen insbesondere adäquate Integrationsangebote und zielgerichtete Integrationsmaßnahmen. Neben den erwähnten Projektförderungen sind auch Sprachkurse, Werte- und Orientierungskurse sowie diverse Vertiefungskurse des ÖIF umfasst. Dabei ist für eine gelingende Integration in die österreichische Gesellschaft nicht die Herkunft entscheidend, sondern die Bereitschaft, sich aktiv einzubringen. Daher lautet das Motto: „Integration durch Leistung“. Das bedeutet: Zugewanderte müssen sich aktiv um Integration bemühen, also die Sprache lernen, die Werte und Rechte akzeptieren bzw. achten und eine rasche Selbsterhaltungsfähigkeit erlangen. Dieses Bemühen wird vom Staat gefordert und gefördert. Im Umkehrschluss heißt das: Wer sich nicht aktiv einbringt und keine Integrationsbemühungen setzt, muss mit Sanktionen rechnen. Damit setzen wir ein eindeutiges Zeichen in Richtung der Frauen (und Männer), dass sie ihre Integration aktiv mitgestalten müssen. Die gesetzliche Verpflichtung zur Teilnahme an Integrationsmaßnahmen hilft auch im Speziellen Frauen, wie an früherer Stelle erläutert. So sieht das Integrationsgesetz für Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte die Erfüllung von bestimmten Integrationsmaßnahmen wie etwa Deutschkursen, Werte- und Orientierungskurse sowie die Unterzeichnung einer Integrationserklärung vor, wobei bei Nichterfüllung Sanktionen, wie etwa die Kürzung von Sozialleistungen drohen.

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Parlamentssanierung – ­ der Countdown läuft! Die bewegte Geschichte der österreichischen Demokratie hat sich sehr früh an einem Ort konzentriert – dem österreichischen Parlament mit „seinem“ Gebäude an der Wiener Ringstraße. Gesetzgebung in einer bundesstaatlichen Demokratie bedarf nicht nur einer komplexen immateriellen institutionellen Hierarchie – wie im öster­ reichischen Fall Nationalrat und Bundesrat, neun Landtage, EU-Gremien und kommunale Ebene –, sondern auch eines materiellen, raumgebenden und würde­ vollen Rahmens. Das Parlamentsgebäude wird dieser Rolle seit seiner Eröffnung 1883 als Symbol der österreichischen Demokratie und als Ort des Austausches und der Debatte gerecht. Das Haus der Volksvertretung bietet Raum für jene Entschei­ dungen, die Österreichs Zukunft maßgeblich entschieden und entscheiden. In seiner langen Geschichte wurde die österreichische Demokratie – wie auch „ihr“ Gebäude – oftmals beschädigt, jedoch immer wieder aufgebaut und verbessert. Dabei hat sich in der Vergangenheit gezeigt: Partizipation festigt Demokratie. Das Hohe Haus als Zusammenkunft von Mandataren wie auch als Bauwerk ist das Ergebnis von gesell­ schaftlichen und globalen Errungenschaften und Herausforderungen und damit reich an erhaltenswerten Facetten und in Umsetzung befindlichen Erweiterungen. Nach der baulichen Sanierung ist es nun angezeigt, das vorhandene Potenzial zu nutzen und das Gebäude nicht nur zu öffnen, sondern seine Besucher auch einzubinden. Was 2005 mit Andreas Khols Grundsteinlegung für ein Besuchszentrum im Parlamentsgebäude begonnen und im Zuge der 2014 gestarteten Sanierung einen neuen Umfang erreicht hat, wird 2022 finalisiert: ein Parlament, das seinen Kernaufgaben Raum, Sicherheit und ein konstruktives Umfeld bietet und zugleich für alle Mitmenschen zugänglich, stolz und sichtbar, informativ und reich an Kultur ist.

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Zuallererst: „Demokratie braucht Raum“ So lautet der Titel des Buchs zur Sanierung, welches die umfangreiche Generalsanierung und Modernisierung des historischen Parlamentsgebäudes bis zum Jahr 2018 darstellt und zusammenfasst. Um die spannende Geschichte des eindrucksvollen Profanbaus und seine Verwendungs-, Bau- und Sanierungsphasen zu thematisieren fand auch schon ein lesenswerter Beitrag im „Jahrbuch für Politik 2014“ Eingang. Darin wurden die Genese des Parlamentsgebäudes bis zum Jahr 2014 und die Entscheidungsfindung zur Sanierung durch den Parlamentsvizedirektor Alexis Wintoniak aufgerollt, der die bautechnische Komponente der Sanierung auch in diesem Band ausführt. Sowohl die Darstellung der Gründe, die eine Sanierung notwendig gemacht haben, als auch eine Beschreibung des Bauprojekts selbst, das man getrost als spektakuläre Meisterleistung österreichischer Architektur, Bauund Handwerkskunst bezeichnen kann, wird in gebührender Art und Weise vorgestellt und müssen an dieser Stelle als bekannt angenommen werden, um nicht den Rahmen des „Jahrbuchs für Politik“ zu sprengen. Nicht erst seit der Sanierung ist klar, „Demokratie braucht Raum“ – und mit dem Parlamentsgebäude hat die österreichische Demokratie einen würdigen Sitz an der Wiener Ringstraße. Mit der Wahl zum Präsidenten des Nationalrats im Jahr 2017 durfte ich als eine der mit diesem Amt verbundenen Funktionen auch jene des „Bauherrn“ über die Parlamentsbaustelle übernehmen. Dabei war 2017 bereits ein großer Teil der Planungen abgeschlossen und die Sanierung selbst in vollem Gang. Bei einer Bestandsaufnahme hat sich jedoch gezeigt, dass ein noch größeres Potenzial an Möglichkeiten ausgeschöpft werden könnte. Dazu kam, dass trotz sorgfältigster Vorerkundungen und höchst professioneller Begleitung des Großprojekts unmöglich sämtliche Kostenrisiken abschätzbar waren. Das Parlamentsgebäudesanierungsgesetz sah einen Kostendeckel in Höhe von 352,2 Millionen Euro vor – ohne die Möglichkeit, auf Neuerungen entsprechend zu reagieren. Im Einvernehmen aller Parteien wurde beschlossen, einen 20%igen Kostenpuffer vorzusehen. Aus mehreren Gründen wurde es notwendig, diesen Kostenpuffer in Anspruch zu nehmen. So fand einerseits eine massive Ausweitung der Leistungen statt, andererseits wurde die Republik und damit auch das Sanierungsvorhaben mit unvorhersehbaren Ereignis-

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sen konfrontiert. Dies spiegelt sich auch im Text der Gesetzesänderung aus dem Jahr 2020 wider: „Wenn dies infolge unabwendbarer bzw. unvorhergesehener Ereignisse oder zusätzlicher Erfordernisse notwendig ist, kann dieser Betrag um höchstens 20 Prozent überschritten werden“. Die COVID19-Pandemie war weder vorhersehbar noch abwendbar und hat nach wie vor massive Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft. Notwendige Kontaktbeschränkungen, Einreisebeschränkungen und diverse Präventionsmaßnahmen haben auch im Bauablauf ihre Spuren hinterlassen. Trotz Präventionskonzepten und stetigen Bemühungen war und ist die Personalsituation, bedingt durch Quarantäne und Erkrankungen, angespannt. Bei einem derartig hochkomplexen Bauprojekt können einzelne Ausfälle zu massiven Terminverschiebungen führen, eine Bauzeitverlängerung und damit steigende Kosten sind unvermeidbar. Die Pandemie hatte auch massive Auswirkungen auf globale Lieferketten, was die Verfügbarkeit von diversen Materialien, sowohl im Bauals auch im Elektrotechnikbereich stark einschränkt. Den zuletzt auf über 9 % gestiegenen Baupreisindex, der damit mehr als dreimal so hoch lag wie im schlimmsten Fall prognostiziert, Mehrkosten durch diverse Massenmehrungen, genauso wie verschiedene Zusatzpakete, etwa die Sanierung der Fassade und Außenbereiche, die vorgezogene Instandsetzung des Rampengebäudes und der Vollausbau der Ausschusslokale, können durch die Budgeterhöhung aller Voraussicht nach bedeckt werden. Die Instandsetzung der Rampe und die Aufwertung des abhörsicheren Raums waren wirtschaftlich sinnvolle Entscheidungen – diese wären technisch auf einem veralteten Stand geblieben, was potenziell immense Wartungs- und Folgekosten verursacht hätte, geschweige denn das Sicherheitsrisiko, zwei verschiedene Niveaus in Haus- und Elektrotechnik zu verantworten. Verdeutlicht man sich die grundsätzliche Intention der Sanierung, das Haus nicht nur auf den Stand des 21. Jahrhunderts zu bringen, sondern dieses noch viel stärker zu öffnen und damit auch künftig das besondere Bemühen um Transparenz und Bürgernähe zu leben, erklären sich viele nachträgliche Adaptierungen. Neben der Notwendigkeit, den Parlamentarierinnen und Parlamentariern einen modernen Arbeitsplatz bei höchsten Sicherheitsstandards zur Verfügung zu stellen, wurde darüber hinaus auch die Chance ergriffen, einen Raum für Demokratiebildung, Austausch und gelebte Teilhabe zu schaffen.

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Demokratie braucht Zugänglichkeit Um die genannten Ziele zu erreichen, ist es unerlässlich, Barrieren aller Art abzubauen – in Gebäuden, in der Vermittlung von Informationen und vor allem in den Köpfen. Darum steht es außer Frage, dass so vielen Menschen wie möglich Teilhabe am demokratischen Prozess und am parlamentarischen Alltag ermöglicht wird und der Raum, der der Demokratie zusteht, für die Gesellschaft zugänglich und inklusiv gestaltet wird. Zwei Prozentzahlen verdeutlichen, warum der Abbau von Barrieren nicht nur ein Trend sein wird, sondern dauerhaft notwendig ist, und der Parlamentsumbau nur als eine von vielen richtungsweisenden Umbauten gesehen werden kann: Laut WHO leben 15 % der Weltbevölkerung – umgelegt auf Österreich rund eine Million Menschen – mit einer Behinderung. In unserem Nachbarland Deutschland sind 87 % aller Menschen mit einer Behinderung durch Krankheit oder Unfall unvorbereitet und überrascht in diese veränderte Situation, in ein Leben mit einer Behinderung gekommen. Dies bedeutet eine plötzliche Veränderung hin zu einem Alltag mit zahlreichen Barrieren. Die Antworten unserer Gesellschaft auf diese Herausforderungen, die immerhin jeden sechsten Menschen und deren Angehörige betreffen, sind Barrierefreiheit und Inklusion – der Wille, allen Menschen Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Dies findet in verschiedenen Formen statt. Die größte Bekanntheit, weil im Alltag mancherorts ersichtlich, genießt der Abbau von physischen Barrieren in Gebäuden und der Infrastruktur. Im digitalen Raum, in der Sprache und nicht zuletzt in den Köpfen stecken wir noch in inklusiven Kinderschuhen. Die Parlamentssanierung steht daher auch im Zeichen einer inklusiven Benutzerorientierung, die in das breite Spektrum an Fähigkeiten des künftigen Parlamentsgebäudes implementiert wurde. Begleitet wird das Parlament durch unabhängige Berater und Branchenführer im Bereich Inklusion: MyAbility und Architektur b4. Als Ziel steht die Zertifizierung des Gebäudes nach den Standards von „Fair für alle“. Neben gelebter Solidarität handelt es sich dabei auch um die Vorsorge für die eigene Freiheit und Selbstbestimmung, die durch einen Unfall oder eine Krankheit tagtäglich eingeschränkt werden könnten. Sie sind daher unbestritten Ergebnis und Kernanliegen demokratischer, vernünftiger und vor allem praxisbezogener Überlegungen.

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Im Rahmen der Planungen wurde zuallererst eine weitgehende physische Barrierefreiheit in allen für die Öffentlichkeit zugänglichen Berei­ chen und den Räumen des Plenar- und Sitzungsbetriebs sichergestellt. Darüber hinaus wurden neben gesetzlichen Muss-Bestimmungen auch Kann-­Optionen aus den einschlägigen Normen und Empfehlungen externer Experten umgesetzt. So erfüllen auch nicht-öffentliche Arbeitsräum­ lichkeiten strenge Kriterien oder können im Bedarfsfall rasch und einfach barrierefrei gemacht werden. Großzügig ausgeführte Lifte verbinden für mobilitätseingeschränkte Personen die öffentlichen Bereiche im U ­ nter-, Erd- und Dachgeschoß. Induktive Höranlagen ermöglichen es, sowohl hörbehinderten Abgeordneten als auch Zuschauern auf der Galerie, den Sitzungsbetrieb zu verfolgen. Ein taktiles Leitsystem zieht sich durch das Besuchszentrum und andere Bereiche, das mit großer Sorgfalt eine Orientierung durch die neuen Angebote auch für Menschen mit Sehbehinderung bieten soll. Ein taktiles Modell des Gebäudes wird es Sehbehinderten ermöglichen, das Parlament als Gebäude wahrzunehmen. Unterfahrbare Medienstationen öffnen das interaktive Angebot auch für Nutzer von Rollstühlen, angepasste Schriftgrößen der Inhalte und barrierefreie Orientierungsmöglichkeiten ermöglichen es auch Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen, die keine entsprechende Ausrüstung besitzen, selbstständig und selbstbestimmt teilzunehmen. Ebenso können elektronische Geräte an Menschen mit einer Behinderung ausgegeben werden, die selbst keine entsprechenden Geräte bei sich tragen. Dadurch können, um nur zwei Beispiele zu nennen, im Gebäude bei der Orientierung oder der Wissensvermittlung im Besuchszentrum Informationen über mehrere Sinne verteilt werden. Barrierefreiheit geht jedoch über die physische Dimension hinaus. Künftig werden im Sinne der Teilhabe aller Besucherinnen und Besucher am demokratischen Prozess auch geistige und immaterielle Inhalte und Eigenschaften des Parlaments – also auch digitale und analoge vermittelte Information – barrierefrei zugänglich gestaltet. Das bedeutet, dass Informationen auch in einfacher Sprache vermittelt werden – Schätzungen gehen von knapp einer Million funktionaler Analphabeten in Österreich aus, die so erreicht werden können. Selbst das Logo des Parlaments wird adaptiert, um in mehreren Sinnen erfahrbar zu sein. Weiters sei erwähnt, dass ein Prozess

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aufgesetzt wird, der auch die Organisation „Parlament“ inklusiver gestalten soll, was auch Personalschulungen umfasst. Dieses Engagement des Parlaments ist aber nur eines von vielen, um als Haus der Demokratie mit Wandel und Fortschritt Schritt zu halten. Vor einigen Jahrzehnten war es noch nicht vorstellbar, die Arbeit des Parlaments in Echtzeit nach außen tragen zu können. Heute ist es für uns selbstverständlich geworden, dass der ORF die Debatten im Nationalrat live überträgt und die Parlamentskorrespondenz die Vorgänge im Hohen Haus für alle zugänglich dokumentiert. Mit Beginn der Pandemie haben digitale Kommunikationsmöglichkeiten dermaßen an Bedeutung gewonnen, wie es zuvor nicht vorstellbar gewesen wäre. Mit der Parlamentssanierung soll daher nicht nur die Zugänglichkeit für alle Menschen garantiert sein, sondern das Parlament auch Zugang zu längst notwendigen Veränderungen bekommen, ohne zukünftige Möglichkeiten zu „verbauen“. Unter diesen Gesichtspunkten nicht auch Internetauftritt und Kommunikationsmöglichkeiten zu überarbeiten, erschiene geradezu anachronistisch. Deshalb wird parallel zur physischen Sanierung des Gebäudes auch ein Relaunch der Homepage des Österreichischen Parlaments realisiert und der Parlamentsdirektion und den Mandataren neue Kommunikationsmöglichkeiten geboten. Damit können sowohl vor Ort, bei einem Besuch oder Austausch im Hohen Haus, als auch digital sämtliche Inhalte zeitgemäß, barrierefrei und in gewohnt hoher Qualität zugänglich und sichtbar gemacht werden.

Demokratie braucht Sichtbarkeit Inhalte zugänglich, frei von Barrieren und für so viele Menschen wie möglich erlebbar zu gestalten, ist nur der erste Schritt. In weiterer Folge ist dafür zu sorgen, dass diese Inhalte auch bei den Menschen ankommen. Neben den aufgewerteten und neuen digitalen Angeboten für Parlamentsdirektion und Mandatare nimmt das neu geschaffene Besuchszentrum in der Agora einen zentralen Platz ein. Die Agora befindet sich ein Stockwerk unter der altbekannten Säulenhalle. Ebenda und im Demokratikum, einem direkt angeschlossenen Nebenraum, finden sich Ausstellungen, die Geschichte und Funktion der österreichischen Demokratie interaktiv vermitteln und erlebbar machen. Den Auftrag zur Gestaltung des Besuchszentrums in Agora und

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Demokratikum erhielt das renommierte Atelier Brückner im Rahmen einer europaweiten Ausschreibung. Diese können im Besuchszentrum auch ihre Erfahrungen aus der Gestaltung des Besucherzentrums im Europäischen Parlament, des „Parlamentariums“, einfließen lassen. Das „Eintauchen“ in Geschichte und Parlamentarismus ermöglichen interaktive Medientische. Eine Seite der Agora ist der Geschichte von 1848 bis heute gewidmet, demgegenüber wird den Gästen die Möglichkeit geboten, über die Bedeutung von Demokratie, Grundrechten und Rechtsstaat zu reflektieren und zu erfahren, welchen Wert die parlamentarische Demokratie für jeden von uns bietet. Besucherinnern und Besucher sollen beim Besuch der Ausstellung miteinander ins Gespräch kommen, um die Kernaufgabe eines Parlaments, den Austausch von Überlegungen und Ideen auch an diesem wesentlichen Platz im Gebäude zu erleben. Das Demokratikum bietet Besucherinnen und Besuchern die Möglichkeit, den parlamentarischen Betrieb näher kennenzulernen. Dort erfährt man auf verständliche Art und Weise, wie die Gesetzgebung abläuft, welche Positionen die Parlamentsklubs zu aktuellen Fragestellungen vertreten und wie mannigfaltig die Rollen des National- und Bundesrats sind. Auch gänzlich neu finden Besucherinnen und Besucher zwischen dem Besuchszentrum und der Bibliothek ein vom neuen Gastronomiepächter betriebenes Café, in dem sowohl hinsichtlich Verköstigung als auch Einrichtung Wiener Kaffeehaustradition auf moderne Funktionalität trifft. Ein Besuch des Parlamentsgebäudes führt künftig auch in einen weiteren Bereich, der für die Öffentlichkeit – ebenfalls gänzlich neu – zugänglich gemacht wurde: das Dachgeschoß. Neben einem Restaurant auf hohem Niveau, betrieben von dem motivierten Team der „Labstelle und Partner“, kommen Gäste in den Genuss einmaliger Ausblicke auf den für die Öffentlichkeit zugänglich gemachten Dachterrassen. Ebenfalls im Dachgeschoß finden Besucherinnen und Besucher einen völlig neuen, verglasten Gang rund um den Plenarsaal, der sowohl einen Blick hinunter auf Abgeordnetentribüne, Regierungsbank und Präsidium als auch hinauf zu den Quadrigen erlaubt. Vor allem junge Besuchergruppen, als Gäste der Demokratiewerkstätte – haben dadurch künftig die Möglichkeit, während einer laufenden National- oder Bundesratssitzung mit dem Führungsteam des Parlaments, dem Lehrkörper und ihren Schulkolleginnen und -kollegen in einen Austausch zu treten, um beispielsweise Fragen oder Kritik zur Debatte zu äußern, ohne dabei den Sitzungsbetrieb zu stören.

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Mit einem Besuch des Parlaments werden junge Menschen, sozusagen die zukünftigen Teilnehmer an der Demokratie, die Geschichte der Demokratie und Republik sowie deren Abläufe interaktiv erleben, während sie live einer Sitzung des National- oder Bundesrats folgen. Ziel ist es, Besucherinnen und Besuchern des wiedereröffneten Parlamentsgebäudes ein neues Maß an Demokratiebildung anbieten zu können.

Demokratie braucht Information Die Art, wie Informationen konsumiert werden, hat sich in jüngster Zeit stetig weiterentwickelt. Damit haben sich auch die Bedürfnisse der Bevölkerung verändert, und die notwendigen Fähigkeiten der Abgeordneten, über ihr demokratisches und parlamentarisches Wirken zu informieren, haben sich erweitert. Doch auch die Aufnahme von Statements und das Abhalten von Diskussionsrunden wird in Zukunft einen Raum brauchen – und im zeitgemäß ausgestalteten Auditorium finden. Das Auditorium ist mit dem Besuchszentrum verbunden und mit einer Videowand sowie zahlreichen technischen Einrichtungen ausgestattet. Abgeordnete können hier zeitgemäß Pressekonferenzen abhalten, Podiumsdiskussionen führen und Informationen in einer der Zeit entsprechenden Umgebung verteilen. Neben der Öffnung steht auch die effiziente und durchdachte Belegungsplanung im Fokus. Das Auditorium ist dementsprechend so lokalisiert, dass es sowohl vom Plenarsaal, als auch vom dahinter liegenden neuen Ausschusslokal in kürzester Zeit erreicht werden kann. Im Jahr 2018 wurde bereits begonnen, das Spektrum an Medienangeboten für Abgeordnete und die Parlamentsdirektion mit Podcasts, Videos und der neue Talk-Reihe „Politik am Ring“ auszubauen. Besucherinnen und Besucher können sich auf interaktiven Medientischen und durch Ausstellungen mit tagesaktuellen Neuigkeiten und Meldungen aus der Vergangenheit auseinandersetzen und sich sowohl über traditionelle Medien als auch neue Formate informieren. Bei der inhaltlichen Konzeption und Bearbeitung wird das Parlament durch die Kuratoren Gerhard Jelinek, Christoph Kotanko und Angelika Simma-Wallinger begleitet. Die schnelllebige Informationsweitergabe hat sich in vielen Bereichen in das Internet verlagert. Doch ein Blick auf Universitäten zeigt, dass zur

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tiefgehenden Recherche die Bibliothek nach wie vor ein zentraler Ort der Informationsbeschaffung und -vermittlung ist. Eine detailreiche Prüfung von Informationen und Recherche zu sämtlichen Fragen betreffend Parlament und Demokratie soll auch weiterhin am Ort des Geschehens möglich sein, weshalb die Parlamentsbibliothek unter der Prämisse, auch künftig eine Präsenzbibliothek zu sein, aufgewertet und restauriert wurde. Als „Bibliothek des Reichsrathes“ wurde sie 1869 gegründet. Von 1883 bis 2017, 134 Jahre lang, war die Bibliothek im historischen Parlamentsgebäude am Ring untergebracht. Im Zuge der Sanierung wurde sie ins Palais Epstein verlagert, die originalen Einbauten wurden fachmännisch restauriert und in Schuss gebracht. Das Informationsangebot dieser zentralen Anlaufstelle für Demokratie- und Parlamentarismus-Forschung umfasst mehr als 370.000 Bücher, 42.000 Aufsätze, 260 nationale und internationale Fachzeitschriften und Zeitungen sowie zahlreiche Online-Datenbanken mit entsprechendem thematischen Schwerpunkt. Der Parlamentsbibliothek ist das Parlamentsarchiv angeschlossen, das die Archivalien der gesetzgebenden Körperschaften seit 1861 umfasst. Die Bibliothek soll als Ort atmosphärisch sowohl ein gedankenversunkenes, stilles Erweitern des Wissens ermöglichen, als auch ein lebendiger Teil des Besuchszentrums sein. Diesem Gedanken folgend wurde das Architekturbüro Bernard-Walten-Moser BWM beauftragt, eine lebendige und berührbare Ausstellung von Archivgut und Literatur zu installieren. Im Zentrum der Bibliothek findet sich eine eigene Ausstellung, die sich mit dem Antisemitismus und seiner Geschichte beschäftigt. Unterstützt wird die Wissensvermittlung auch durch eine Videoinstallation von Peter Weibel. Dieser Platz der Ausstellung über Antisemitismus und seine Bekämpfung wurde thematisch bewusst in der Bibliothek des Parlaments gewählt. Denn Antisemitismus fußt immer auf antidemokratischen Gesinnungen und steht im klaren Widerspruch zu Wissen und Bildung. Die Antisemitismusstudie des Parlaments hat gezeigt: Bildung ist die beste Antisemitismusprävention. Der historischen Verantwortung bewusst, beschränkt sich die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Antisemitismus nicht allein auf diese Installation, sondern zeigt auch verbotene bzw. zur Verbrennung angeordnete Literatur und ist eine sehenswerte Möglichkeit der Bewusstseinsbildung. Die Gräuel des NS-Regimes samt Auswirkungen auf die

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Gesellschaft und den drastischen Folgen, insbesondere für jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger, werden Besucherinnen und Besuchern dort vor Augen geführt.

Demokratie braucht Kultur Österreichische zeitgenössische Kunst ist weit über unsere Landesgrenzen hinaus bekannt. Neben der Literatur und den Archivarien der Parlamentsbibliothek sollen auch Kunst und Kultur den Horizont erweitern und zum Denken anregen. Das Parlamentsgebäude wirkt durch seinen zentralen Standort entlang der Ringstraße und seiner elementaren Funktion im Staatsaufbau, auch ohne es zu betreten, bereits als Visitenkarte der Republik Österreich und der heimischen Kunstgeschichte. Die Bedeutung von Kunst und Kultur im öffentlichen Raum liegt nicht nur im ästhetischen Zugewinn. Sie regt zum Nachdenken an und findet sodann den Weg in die Mitte der Gesellschaft. Das Einbringen von zeitgenössischer Kunst in einem bewusst für die Öffentlichkeit zugänglich gemachten Raum von so zentraler Bedeutung ist kein einfaches Unterfangen. Die Herausforderungen liegen sowohl in der Technik als auch in ­einer Auswahl, die dem Standort gerecht wird. Daher wurde der Direktor des Leopold Museums, Hans-Peter Wipplinger, als Kunstkurator bestellt, um diesen Prozess zu begleiten. Sich der großen Verantwortung bewusst, ist es gelungen, die Werke bedeutender österreichischer Künstlerinnen und Künstler in situ zu installieren und somit auch einer internationalen Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Bei der Platzierung wurde darauf geachtet, dass möglichst viele Menschen bewusst, aber auch unbewusst mit den Kunstwerken in Kontakt kommen. So werden die Künstler Peter Kogler, Martina Steckholzer und Esther Stocker in den für die Besucher zentralen Hauptstiegenhäusern für die Gestaltung verantwortlich sein, Eva Schlegel wird mit ihren über die Grenzen hinweg bekannten Spiegelskulpturen auch im Parlament ein Symbol für Sichtbarkeit und Reflexion setzen. Im neuen Herzstück der Demokratiewerkstatt, dem neu geschaffenen, verglasten Besucherumgang im Dachgeschoß des Plenarsaals kommen insbesondere unsere jungen Gäste mit Peter Sandbichlers Resonanzkörpern in Kontakt. Heimo Zobernig setzt mit seinen Interferenzen deutliche Akzente

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im Empfangssalon: Die schwer zu handhabenden Farben erzeugen je nach Lichteinfall unterschiedliche Aspekte – in klarer Abgrenzung zur sich sonst durch das Parlament ziehenden Monochromie. Brigitte Kowanz beleuchtet wesentliche Momente der österreichischen Geschichte. Dieser unvollständigen Auflistung zur Kunst im Parlament sei mit einer herzlichen Einladung, sich selbst ein Bild über die beeindruckenden Installationen zu machen und das Parlament mit offenen Augen zu besichtigen, ein Ende gesetzt. Und so viel sei verraten: Auch ohne das Parlamentsgebäude zu betreten, wird man die eine oder andere Installation nicht übersehen können. Im Zuge der Sanierung wurde unter Einbindung von Franz-Josef Wein, dem aus Deutschland stammenden, über die Grenzen bekannten und renommierten Leiter der Floristmeisterschule an der Akademie für Naturgestaltung, die florale Gestaltung des Parlaments auf ein internationales Niveau gehoben. Seien es die Büroräumlichkeiten oder offizielle Empfangsräume, die Verbindung zur Natur im Innen- sowie im Außenbereich eines öffentlichen Gebäudes fällt insbesondere dann auf, wenn sie fehlt. Zahlreiche wissenschaftliche Studien deuten darüber hinaus an, dass eine entsprechende Begrünung ihren Teil dazu beiträgt, Diskurse zu entschärfen und ein konstruktives Arbeitsklima zu schaffen. Viele Ziele und Aspekte der Sanierung des Parlaments, wie Offenheit und Transparenz, wurden bereits genannt. Nicht ohne Grund wurden zu guter Letzt auch die Notwendigkeit eines konstruktiven Arbeitsklimas und die Entschärfung des Diskurses genannt. Denn gerade diese Themen waren in den letzten Jahren Hauptanliegen der Bevölkerung an das Hohe Haus und innerhalb der Bundespolitik. So können wir guter Hoffnung sein, dass diese Maßnahmen zu den Erwartungen von Politik und Gesellschaft beitragen und wir uns auf einen fairen, inhaltsbezogenen und produktiven demokratischen Alltag und einen offenen Austausch mit der Gesellschaft – ab dem 26. Oktober 2022 im wiedereröffneten Parlamentsgebäude – freuen können!

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alexis wintoniak

Zur Generalsanierung des ­Parlamentsgebäudes Eine Zusammenfassung 2011–2021

Die Generalsanierung des Hohen Hauses am Ring ist in der Zielgeraden und der Weg für einen Neuanfang des parlamentarischen Betriebs wird frei. Nach mehr als zehn Jahren Projektlaufzeit wird das Gebäude am Ring ab Herbst 2022 seine Pfor­ ten wieder für MandatarInnen, MitarbeiterInnen und BesucherInnen öffnen. Damit schließt sich ein weiterer architektonischer Jahresring in der Geschichte dieses einzig­ artigen Baujuwels, und ein über das Bauwesen weit hinausgehendes Vorhaben wird finalisiert. In dieser Schlussphase sollen Hintergrund, Ausgangssituation, Beschluss­ lage, Zielvorgabe, Konzeption und Durchführung chronologisch zusammengefasst werden. Eine Würdigung dieses Großprojekts möge nach dessen Abschluss erfolgen, aber so viel kann mit Sicherheit schon jetzt gesagt werden: Das Ergebnis wird nicht nur eine Bereicherung der Baukultur Österreichs sein, sondern vor allem einen wür­ digen, zeitgemäßen Rahmen für den Parlamentarismus unseres Landes bieten. Und der Weg dorthin ist wohl auch einmalig: Ein Jahrzehnt politischer Konsens über die Sanierung des Parlamentsgebäudes als zentraler Ort unserer Demokratie.

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Vorgeschichte mit Folgen – ein Parlament kommt in die Jahre Das ehrwürdige Hohe Haus am Ring war in die Jahre gekommen. So prächtig es auch immer noch war, wurden die Schäden und Mängel doch zusehends offensichtlicher. Gebaut von 1874–1883 war das Meisterwerk des großen Architekten Theophil Hansen mehr als 130 Jahre lang ununterbrochen in Betrieb. Das geniale, klar strukturierte räumliche Grundgerüst hatte es mit seiner Flexibilität und Adaptierbarkeit möglich gemacht, dass das Gebäude unter ganz unterschiedlichen Rahmenbedingungen, von der Monarchie über die Erste Republik bis in das 21.  Jahrhundert dem Parlamentarismus angemessen dienen konnte. Zwar wurde das Gebäude laufend instandgehalten und repariert, größere bauliche Interventionen gab es aber nur im Zuge des Wiederaufbaus in den 50er-Jahren, nachdem 1945 Bombentreffer große Teile des Gebäudes zerstört hatten, dann mit dem Ausbau von Büroräumlichkeiten in den Obergeschoßen in den 1970er-Jahren und schließlich die Schaffung eines neuen BesucherInnenzentrums und Eingangsbereichs unterhalb der Parlamentsrampe von 2003–2005. Nach diesem Rampenprojekt sollte als Nächstes der Nationalratssitzungssaal renoviert werden. Gerade hier war der Erneuerungsbedarf besonders offensichtlich, die Arbeitsbedingungen für Abgeordnete und MitarbeiterInnen, die Möglichkeiten für die Teilhabe der Öffentlichkeit am politischen Geschehen, aber auch die technische Ausstattung dieser zentralen Räume der Republik waren nicht mehr entsprechend. Nach einem Architekturwettbewerb im Jahr 2008 ging man an die Planung. Dabei war es nur naheliegend, auch die Räumlichkeiten unter und über sowie neben dem Plenarsaal genauer zu untersuchen. Das Resultat war ernüchternd: Auch hier wurde massiver Sanierungsbedarf geortet. Wie war dann wohl der Zustand in den anderen Gebäudeteilen? Es folgte ein technischer Gebäude-Scan, der klar belegte, dass das gesamte Gebäude dringenden Sanierungsbedarf aufwies. Eine Machbarkeitsstudie des Architekturbüros Frank & Partner und des Ingenieurkonsulenten Werner Consult sowie von zahlreichen Fachplanern ergab ein umfassendes Bild des Gebäudezustandes, des Sanierungsbedarfs, aber auch der Entwicklungspotenziale des Hauses.

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Von der Entscheidungsgrundlage bis zum Gesetzesbeschluss – im Konsens Nach intensiven Beratungen mit den Fraktionen, in der Präsidialkonferenz und im „Baukomitee“, erteilte dann die Präsidentin des Nationalrates im Sommer 2011 den Auftrag an die Parlamentsdirektion, die Vorbereitungen für die Sanierung des Parlamentsgebäudes zu treffen. In der Folge wurde ein Projektteam der Parlamentsdirektion eingesetzt, im Frühjahr 2012 folgten die Ausschreibungen der Projektsteuerung und der Begleitenden Kontrolle, Ende 2012 startete das hochkomplexe Vergabeverfahren der Generalplanerleistungen. Im Zuge des Verfahrens wurde aber immer deutlicher, dass für die Vergabe der Generalplanerleistungen ein klares Programm mit einem definierten Rahmen für die Sanierung erforderlich ist. So entwickelte und erarbeitete das Projektteam gemeinsam mit der Projektsteuerung, der Begleitenden Kontrolle und weitere technischen Konsulenten eine umfassende Entscheidungsgrundlage. Diese Entscheidungsgrundlage umfasste das gesamte Spektrum von der Restnutzung des Gebäudes mit Notmaßnahmen, der Instandsetzung, der Grundsanierung, der Nachhaltigen Sanierung, der architektonischen Neugestaltung bis hin zu einem Neubau, jeweils mit Zeit- und Kostenrahmen sowie den Absiedelungserfordernissen. Diese Entscheidungsgrundlage konnte unmittelbar nach den Nationalratswahlen vom Oktober 2013 vorgelegt werden. Im Jänner 2014 sprach sich die Präsidialkonferenz einhellig für die Nachhaltige Sanierung des Parlamentsgebäudes aus. Auch der Kostenrahmen, die Gesamtabsiedelung des Parlaments, die Einbindung der parlamentarischen Klubs und die Errichtung einer Projektgesellschaft als Joint Venture der Parlamentsdirektion und der Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) sowie die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für das gesamte Projekt wurden einhellig beschlossen. Dieses Parlamentsgebäude-Sanierungsgesetz, in dem die von der Präsidialkonferenz vorgegebenen Rahmenbedingungen festgeschrieben wurden, wurde am 9. Juli 2014 im Nationalrat und am 24. Juli 2014 im Bundesrat einstimmig beschlossen. Schon ab dem Frühjahr 2014 waren auf der Grundlage einer entsprechenden Vereinbarung zwischen Parlamentsdirektion und BIG MitarbeiterInnen der BIG an Bord und arbeiteten im Projektteam mit. Die Parlamentsgebäude-Sanierungsgesellschaft m.b.H. wurde im November 2015 gegründet. In dieser Gesellschaft wurden die Planung, die Ausschreibungen, die Bauvor-

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bereitungen und die Bereitstellung der Interimslokation bis 2018 abgewickelt. Mit der folgenden Realisierungsphase übernahm die BIG als „Erstellerin“ das Baumanagement und die Parlamentsdirektion konzentrierte sich als „Bestellerin“ auf die Bauherrenagenden und NutzerInnen-Interessen.

Beratungsmarathon auf den Spuren von Hansen – der Generalplaner wird bestellt Mit der Grundsatzentscheidung zur Nachhaltigen Sanierung konnte im Laufe des Jahres 2014 das Generalplanerverfahren zum Abschluss gebracht werden. Im Mittelpunkt des Verfahrens stand eine 25-köpfige Jury, bestehend aus den NationalratspräsidentInnen, VertreterInnen aller Fraktionen, des Bundesrates, der Parlamentsdirektion sowie ArchitektInnen und BauwirtschaftsexpertInnen als FachpreisrichterInnen, die numerisch die Mehrheit bildeten. Unter dem Vorsitz von Architekt Ernst Beneder gab es nach tagelangen Beratungen eine einvernehmliche Reihung der eingereichten Projekte, und nach Abschluss des Verhandlungsverfahrens stand Ende August das Ergebnis fest: Die Bietergemeinschaft der Architekten Christian Jabornegg und András Pálffy in Kooperation mit AXIS Ingenieurleistungen ZT wurden als Generalplaner bestellt. In der Jurybewertung hieß es zu diesem Projekt zusammenfassend: „Die Adaption des Parlamentsgebäudes an die zukünftigen Anforderungen erfolgt in mehreren Schritten, die sich an dem architektonischen Konzept Theophil Hansens orientieren und so in der Summe wiederum ein homogenes Bild ergeben sollen. Die historischen Räume werden nachhaltig instand gesetzt, gleichzeitig soll ihre Prägnanz durch die teilweise Rücknahme von Einbauten späteren Datums wiederhergestellt werden. Zusätzliche öffentliche Räumlichkeiten werden im Bereich von Erd- und Dachgeschoß hergestellt und erweitern damit für BesucherInnen die Möglichkeit, am parlamentarischen Leben in einem wesentlich größeren Umfang als bisher teilnehmen zu können. […] Ziel ist eine substanzielle Instandsetzung des Parlaments, die Schaffung effizienter Arbeitsbereiche sowie ein erweitertes räumliches Angebot, das dem zunehmenden öffentlichen Bedürfnis nach Information und Transparenz vor Ort Platz verschafft.“ Diese Darstellung des Projekts erfolgte damals naturgemäß nur anhand von Skizzen, Plänen, Renderings und Textbeschreibungen. Heute aber

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zeigt sich, dass die Realisierung genau dieser Beschreibung entspricht. Das Projekt konnte so umgesetzt werden, wie von der Jury erhofft. Der gesamte Planungsprozess und in der Folge auch der Realisierungsprozess wurde von dem im Oktober 2018 eingesetzten „Nutzerbeirat“, dem die Vertreter der Fraktionen, des Bundesrates, der Parlamentsdirektion und der Personalvertretung angehören, begleitet. Bis Ende 2021 trat dieses Gremium 44-mal zusammen, zumeist im Rahmen von halbtägigen Klausuren, in denen sämtliche für die NutzerInnen relevanten Aspekte behandelt wurden. Ebenfalls im Herbst 2014 wurde auf der Grundlage des Parlamentsgebäude-Sanierungsgesetzes der „Bauherrenausschuss“ eingesetzt. Ihm gehören die Mitglieder der Präsidialkonferenz – bestehend aus den drei PräsidentInnen des Nationalrates, den Klubobleuten und der Präsidentin des Rechnungshofes – mit beratender Stimme an. Dem Bauherrenausschuss ist regelmäßig, in der Regel vierteljährlich, über den Projektfortschritt zu berichten, insbesondere hinsichtlich der Termine und Kostenentwicklung. Damit wurden auch sämtliche Grundsatzentscheidungen zum Projekt dem Bauherrenausschuss vorgelegt und wie im Nutzerbeirat erfolgten die Stellungnahmen bzw. Beschlüsse stets einhellig.

Demokratiequartier im Herzen der Republik: Ein Parlament zieht um Unmittelbar nach der Entscheidung über die Nachhaltige Sanierung im Jänner 2014 wurden die Optionen für eine Gesamtabsiedelung des Parlamentsgebäudes geprüft. Auch hier wurde wieder eine Entscheidungsgrundlage zu den verschiedenen Möglichkeiten entwickelt und den Fraktionen präsentiert. Am 4. Dezember 2014 fasste der Bauherrenausschuss wiederum einhellig den Beschluss, dass Nationalrat und Bundesrat während der Sanierungsphase in der Hofburg tagen sollten und auf dem Heldenplatz bzw. im Bibliothekshof der Hofburg drei temporäre Pavillons für Büroräume und Sitzungslokale errichtet werden sollen. Für die Nutzung des Redoutensaaltraktes und weiterer Räumlichkeiten der Hofburg wurde ein Verwaltungsübereinkommen mit der Burghauptmannschaft getroffen, für die Errichtung der Pavillons wurde wiederum eine europaweite Ausschreibung durchgeführt. Im Frühjahr 2016 konnte die Strabag als Totalunternehmer

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beauftragt werden, und bereits im Sommer 2016 begannen die Arbeiten zur Errichtung der temporären Pavillons. Jeweils auf einer Grundfläche von ca. 30 × 40 Metern sollten so am Heldenplatz zwei dreigeschoßige und im Bibliothekshof ein viergeschoßiges Gebäude mit insgesamt rund 10.000 m2 Nutzfläche erbaut werden. Es wurde eine neuartige modulare Holzbauweise gewählt, wonach die Bauelemente wiederverwendet werden können. Plangemäß konnten die Arbeiten im Juli 2017 abgeschlossen werden. Auch die Adaptierung der Redoutensäle war ein wahrer Kraftakt. Wo im Februar 2017 noch getanzt wurde, fand ein halbes Jahr später die erste Sitzung des Nationalrates statt. Unter der Regie der Burghauptmannschaft und der Parlamentsgebäude-Sanierungsgesellschaft m. b. H. wurde in Rekordzeit der große Redoutensaal zum Plenarsitzungssaal umgebaut. Durch ein „Saal im Saal“-Modell, eine schlank dimensionierte Stahl-Holz-Konstruktion für die Podeste der ansteigenden Sitzreihen, des Präsidiums und der Galerie für BesucherInnen und Medien, blieb die historisch denkmalgeschützte Bausubstanz weitestgehend unberührt. In den kleinen Redoutensaal wurden Arbeits- und Besprechungskojen eingebaut, damit den Fraktionen in der Nähe des Sitzungssaals ausreichend Infrastruktur zur Verfügung steht. Mitte Juli 2017 wurden die Räume in der Hofburg an das Parlament übergeben. Die Absiedelung des Parlamentsbetriebs in die Hofburg und in die Pavillons am Heldenplatz und im Bibliothekshof war ein weiteres organisatorisches und logistisches Großprojekt. Nach monatelangen Vorbereitungen mit allen betroffenen Organisationseinheiten wurden innerhalb nur weniger Wochen über 700 Arbeitsplätze, über 7.000 Möbel- und Inventarstücke, 1.500 EDV-Geräte und knapp 6.000 Umzugskartons fast zu 100 Prozent punktgenau übersiedelt. Auch während der Übersiedlungsphase war der parlamentarische Betrieb gewährleistet, und Nationalrat und Bundesrat konnten jederzeit ihren verfassungsmäßigen Aufgaben in vollem Umfang nachkommen. Über vier Jahre Vollbetrieb der Interimslokation haben bestätigt, dass sowohl das Provisorium in der Hofburg, wie auch die Interimsbauten am Heldenplatz und im Bibliothekshof in vollem Umfang funktionieren. Für rund zwei Drittel der MandatarInnen und viele MitarbeiterInnen ist die Interimslokation auch der bisher einzige Ort ihres parlamentarischen Schaf-

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fens – nur ein Drittel der MandatarInnen war vor 2017 im historischen Parlamentsgebäude als Abgeordnete/r bzw. Bundesrat/Bundesrätin tätig. Aber auch wenn die Interimslokation technisch gut funktioniert, fehlt dennoch das einende Gravitationsfeld des historischen Parlamentsgebäudes. Bei insgesamt 13 Betriebsstätten (Hofburg, Pavillon Burg, Pavillon Ring, Pavillon Hof, Reichsratsstraße 1, Reichsratsstraße 3, Reichsratsstraße 7, Reichsratsstraße 9, Doblhoffgasse, Bartensteingasse, Palais Epstein, Löwelstraße und Stubenring) ist trotz allen organisatorischen und logistischen Aufwands das effiziente Arbeiten und vor allem das Zusammenwirken und der Zusammenhalt der unterschiedlichen Organisationseinheiten eine stetige Herausforderung. Die automatische persönliche Begegnung, sei es in der Säulenhalle, in der Cafeteria, auf einem der zahllosen Gänge im Parlamentsgebäude – ermöglicht unbürokratische, informelle, schnelle Abstimmungen und Problemlösungen. Persönliche Begegnungen und Aussprachen abseits des aufgeheizten Sitzungsbetriebs waren auch immer ein wesentliches Element der politischen Kultur im Hohen Haus am Ring. Aber die durch die Fragmentierung der Interimslokation bedingten Hindernisse waren sicherlich nur ein Vorspiel zu den pandemiebedingten Restriktionen … aber das ist eine andere Geschichte.

Die Bauphase: spektakuläres Kranballett am Ring Zurück zum Bau: Nach einer Vielzahl von Abstimmungsgesprächen mit dem Nutzerbeirat, den Fraktionen, allen Diensten und Abteilungen der Parlamentsdirektion und den verschiedenen internen und externen NutzerInnen-Gruppen legte der Generalplaner im September 2015 den vertieften Vorentwurf zur Sanierung des Parlamentsgebäudes vor. Im November 2015 wurde dieser durch die Bauherrin freigegeben, es folgte die Erstellung des Entwurfs und das Ansuchen um behördliche Baugenehmigung. Am 29. Juli 2016 wurde der überarbeitete Entwurf des Generalplaners endgültig freigegeben. Nun konnten die Ausschreibungen der ausführenden Gewerke beginnen. In Summe folgten 123 Vergabeverfahren (davon 23 nach Widerruf im zweiten Anlauf) mit der Beauftragung von 99 Firmen. Nachdem die Absiedelung des Parlamentsgebäudes im August 2017 abgeschlossen war, folgten ab September 2017 die Bauvorbereitungen.

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Diese umfassten in erster Linie das vollständige Ausräumen des Gebäudes und vor allem die Sicherung der historischen Bausubstanz. Gleichzeitig wurde das Baufeld vorbereitet, ein Bauzaun errichtet, vor und hinter dem Gebäude Containerdörfer aufgestellt etc. 2018 nahm dann die Baustelle rasant Fahrt auf. Der erste spektakuläre bauliche Eingriff war zweifellos die Entfernung des Glasdachs samt Stahlkonstruktion über dem Plenarsitzungssaal des Nationalrates. Über diese Öffnung erfolgten dann der Zu- und Abtransport des Baumaterials sowie der Maschinen. Weithin sichtbar wurde die Baustelle durch vier große Baukräne. Das erste Jahr war von Abbrucharbeiten geprägt. Dabei mussten die historisch wertvollen Teile gesichert und geschützt werden bzw. die historisch wertvollen Gegenstände fachgerecht demontiert und zur Restaurierung abtransportiert werden. 2019 war dann geprägt von statisch hochsensiblen Operationen, einerseits den Vorbereitungen für den Ausbau unter dem Bundesversammlungssaal für ein neues großes Ausschusslokal; andererseits den Eingriffen unter der Säulenhalle, wo ein neues BesucherInnenzentrum entsteht. Parallel zu den groben, schweren Arbeiten wurde in anderen Teilen des Gebäudes mit der Restaurierung der Oberflächen begonnen. Denkmalpflegerisches Ziel bei der Bearbeitung der historischen Oberflächen waren vorrangig die Reinigung und die Konservierung, damit die Patina erhalten bleibt, aber das Gebäude in neuem Glanz erstrahlen kann. 740 Fenster und 500 Türen wurden vor Ort restauriert sowie thermisch und sicherheitstechnisch adaptiert. Das größte und zugleich spektakulärste Ereignis des Baujahres 2020 war sicherlich der Einbau der Glaskuppel über dem Plenarsitzungssaal des Nationalrates. Die Glaskuppel hat einen Durchmesser von 28 Metern und besteht aus rund 460 Scheiben. Aber auch der Rest des Daches mit seinen rund 12.000 m2 wurde komplett saniert. Unter dem Dach liegen nun neu erschlossene, für die Öffentlichkeit zugängliche Bereiche, der Umgang über dem Nationalratssitzungssaal mit direktem Blick in den Saal, multifunktionale Sitzungsräume sowie ein großer moderner Gastronomiebereich und vier Terrassen mit einem atemberaubenden Blick über die Stadt. 2020 war auch das Jahr der Haustechnik. Nach Abschluss der Baumeisterarbeiten lag nun der Schwerpunkt auf den neuen Installationen im Bereich Heizung, Klima, Lüftung, Sanitär sowie Elektrotechnik. Auch 2021

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waren täglich zwischen 300 und 500 ArbeiterInnen auf der Baustelle. In allen Teilen des Gebäudes wurde parallel gearbeitet, der Entwurf – wie sieben Jahre davor von der Jury beschrieben – nahm Gestalt an. Neben dem fortdauernden Schwerpunkt „Haustechnik“ ging es 2021 bereits an die Fertigstellung der Oberflächen und die Möblierung. Vor allem aber war 2021 das Jahr der „inhaltlichen“ Formgebung: Nach gesonderten, aber abgestimmten Planungen wurden neue Akzente im BesucherInnenzentrum, in der Bibliothek, im gesamten BesucherInnen-Bereich, in der Demokratiewerkstatt, in der Gastronomie und in der künstlerischen Gestaltung gesetzt. Und während manche Bereiche des Hauses praktisch schon fertiggestellt sind, bleibt an anderer Stelle noch genug zu tun, um die Rückübersiedelung 2022, die Betriebsbereitschaft ab September 2022 und die Eröffnung im Oktober 2022 zu garantieren.

Kostenrahmen und Zeitpläne: ein Jahrhundertprojekt auf dem Prüfstand Der Generalablaufplan vom September 2014 sah ursprünglich ein Bau-Ende im Sommer 2020 vor. Bald stellte sich heraus, dass dieses Zieldatum zu ambitioniert war. Vor allem mussten im Jahr 2016 und 2017 eine Reihe von Vergabeverfahren widerrufen werden, da aufgrund der Hochkonjunktur die Kostenlimits bei weitem überschritten worden wären. Dies führte zu Verzögerungen von rund neun Monaten, womit die Übergabe des Gebäudes für Frühjahr 2021 angesetzt wurde. Eine zweite wesentliche Bauzeitverlängerung folgte im Jahr 2020. Bereits im Winter 2019 zeichnete sich ab, dass seitens der ausführenden Firmen mehr Zeit benötigt wird, in der ersten Welle von COVID-19 war dann im Frühjahr 2020 klar, dass der aktuelle Bauzeitplan nicht einzuhalten war. Vor dem Hintergrund, dass eine Bauzeitverlängerung und damit auch eine Kostenerhöhung unumgänglich waren, wurde das Projekt nochmals geprüft, ob im Zuge der Entwicklungen seit der Freigabe des Vorentwurfes im Jahr 2015 bzw. des Entwurfs im Jahr 2016 neue Anforderungen entstanden waren, die ursprünglich nicht berücksichtigt wurden, nun aber sinnvollerweise das Projekt ergänzen sollten. Wiederum wurde für die politische Entscheidungsebene eine Entscheidungsgrundlage erstellt, mit dem Ergebnis, dass der Bauherrenausschuss im Mai 2020

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abermals einhellig beschloss, das Projekt um den Vollausbau eines weiteren großen Ausschusslokales unter dem Bundesversammlungssaal, die vollständige Sanierung der Außenfassade, die Schaffung von Abhörschutz für die großen Lokale im Erdgeschoß sowie die Neuerrichtung eines abhörsicheren Raumes und die Neugestaltung der Rampe zu etweitern. Mit diesen neuen Maßnahmen und insbesondere unter Berücksichtigung der bereits bekannten Behinderungen durch COVID bzw. mit Risikovorsorge für weitere COVID-­bedingte Einschränkungen wurde ein neuer Terminplan mit Übergabe des Gebäudes an die Parlamentsdirektion mit Juli 2022 freigegeben. Während bis zu diesem Zeitpunkt der Kostenrahmen gemäß den Vorgaben des Parlamentsgebäude-Sanierungsgesetzes aus dem Jahr 2014 gehalten hatte, war klar, dass eine weitere Bauzeitverlängerung aufgrund der Behinderungen durch COVID und der Realisierung zusätzlicher, nicht kalkulierter Maßnahmen auch zu einer Kostenerhöhung führen würden. Schon im Fünf-Parteien-Antrag zum Parlamentsgebäudesanierungsgesetz 2014 und im Bericht des vorberatenden Wirtschaftsausschusses wurde hinsichtlich des Kostenrahmens von 352,2 Mio. Euro auf eine 20%ige Toleranz verwiesen. Diese Toleranzgrenze wurde nun mit einstimmigen Beschlüssen des Nationalrates am 17. November 2020 und des Bundesrates am 3. Dezember 2020 freigegeben. Mit Stand Ende 2021 kann dieser angepasste Termin- und Kostenrahmen eingehalten werden.

Weitere Orte des parlamentarischen Betriebs Wie bereits erwähnt, ist der parlamentarische Betrieb neben dem Hohen Haus am Ring auch in diversen Nebengebäuden verortet, von denen die Bürohäuser Reichsratsstraße 1 und 9 Eigentum der Republik/Parlamentsdirektion sind. Diese beiden Häuser wurden in den 1980er-Jahren erworben und für den Parlamentsbetrieb adaptiert. Auch hier stand schon lange Sanierungsbedarf an, dieser wurde aber von der Dringlichkeit der Sanierung des Parlamentsgebäudes überschattet. Man ging von einer weiteren Nutzbarkeit von einigen Jahren aus und schob so die Entscheidung, auch hier Arbeiten zu beginnen, weiter auf. Vor dem Hintergrund der Belegungsplanung, wonach die Häuser Reichsratsstraße 1 und 9 zu „Abgeordnetenhäusern“ werden sollten, wurde immer klarer, dass ein so beträchtlicher Unterschied in

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technischer Ausstattung und nachhaltiger Nutzbarkeit schwer vermittelbar sein würde. Somit wurde die BIG beauftragt, auch zu diesen Gebäuden eine Machbarkeitsstudie zu erstellen. Wieder auf Grundlage der verschiedenen Optionen, auch hinsichtlich der Finanzierungsmodelle, wurde nach Beratungen in der Präsidialkonferenz das Vorhaben im Juni 2019 einhellig freigegeben. In der Folge wurde wieder ein Vertrag zwischen Parlamentsdirektion und BIG aufgesetzt, der Ende 2019 abgeschlossen wurde. Damit übernahm die BIG auch das Management der Generalsanierung der Nebengebäude in der Reichsratsstraße 1 und 9. Im Wesentlichen umfasst auch diese Sanierung alle Bereiche vom Keller bis zum Dach, insbesondere die Erneuerung der Haustechnik, der Fenster, Dächer und Fassaden, die Sanierung sämtlicher Sanitäranlagen, Böden und Oberflächen im Innenbereich sowie eine Erneuerung der Sicherheitsanlagen. Wie auch bei der Sanierung des Hauptgebäudes wird auch bei den Nebengebäuden die „klimaaktiv Gold“-Zertifizierung angestrebt. Wiederum folgten die üblichen europaweiten Ausschreibungen, nach diversen Vorarbeiten konnten dann die Hauptmaßnahmen Anfang 2021 in Angriff genommen werden. Mit Stand Ende 2021 lagen beide Projekte im vorgegebenen Bauzeitplan (Fertigstellung im Mai 2022) und im freigegebenen Kostenrahmen (rund 42 Mio. Euro). Für die Zeit der Sanierung der Nebengebäude musste ein weiteres Ausweichquartier gefunden werden. Nach kurzen, effizienten und konstruktiven Verhandlungen konnte bereits im Sommer 2019 ein Vertrag mit der Wirtschaftskammer Wien über die Anmietung des gesamten ehemaligen WKW-Gebäudes am Stubenring 8–10 abgeschlossen werden. Eine weitere Übersiedlung folgte; rund 270 Arbeitsplätze wurden von der Reichsratsstraße an den Stubenring übersiedelt, das Gebäude für den Parlamentsbetrieb adaptiert und schon Mitte September 2019 in Betrieb genommen.

Die Raumformel: Belegungsplanung als Balanceakt Ein heikles Thema ist naturgemäß die Belegungsplanung, also die Entscheidung, wo welche Funktionen verortet sind und wem welche Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt werden. Nach der Geschäftsordnung obliegt diese Entscheidung dem/der Präsidenten/Präsidentin des Nationalrates, aber auch hier wurde lange um einen Konsens gerungen. Letztlich konnte dieser nicht

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ganz erzielt werden: In der Präsidialkonferenz vom 9. Mai 2019 fand die von der Parlamentsdirektion nach zahlreichen Verhandlungen mit den Klubs vorgelegte Grobbelegung die Zustimmung von ÖVP, FPÖ, JETZT und NEOS, nicht aber der SPÖ, die mit der Reduktion ihrer Klubräumlichkeiten im Hauptgebäude und einer Neuordnung der PräsidentInnen-Büros nicht einverstanden war. Daran änderte sich auch nach den Nationalratswahlen 2019 nichts; die adaptierte Belegungsplanung wurde im März 2021 nach weiteren Beratungen in der Präsidialkonferenz mit Zustimmung von ÖVP, FPÖ, Grünen und NEOS freigegeben. Die zukünftige Belegung erfolgt nach folgenden Kriterien: Die Sitzungs-, Ausschuss-, Veranstaltungs- und sonstige öffentliche Räume sind vorab vom Verteilungsschlüssel auszunehmen. Insgesamt gilt folgende Raumformel: Jeder Klub erhält eine Sockelfläche von 900 m2. Pro Mandat (Nationalrat und Bundesrat) hat jeder Klub zusätzlich Anspruch auf je 35 m2. Zusätzlich erhält jeder Klub einen Klubsitzungssaal bzw. Klubstützpunkt im Parlamentsgebäude. Die Aufteilung der Flächen im Parlamentsgebäude erfolgt ebenfalls proportional zur Klubstärke. Die drei größeren Klubs werden jeweils in einem der vier Eckbereiche des Gebäudes verortet, jeweils nach dem Schema Klubsitzungsräumlichkeiten im Erdgeschoß, Klubleitung im ersten Stock/Beletage, Büroräumlichkeiten im zweiten Obergeschoß. Die Räumlichkeiten der ÖVP sind im Gebäudeteil Ringstraße/Stadiongasse, die Räumlichkeiten der SPÖ im Bereich Stadiongasse/ Reichsratsstraße und die Räumlichkeiten der FPÖ im Bereich Reichsratsstraße/Schmerlingplatz angesiedelt. Die Räumlichkeiten des Grünen Klubs sind im Erdgeschoß Schmerlingplatz-seitig, die Räumlichkeiten der NEOS im Erdgeschoß Eckbereich Schmerlingplatz/Ring angesiedelt. Die weiteren Klubflächen werden konsolidiert in jeweils einem Bürogebäude untergebracht: die ÖVP im Haus Reichsratsstraße 1, die SPÖ im Haus Reichsratsstraße 9, die FPÖ im Haus Reichsratsstraße 7, die Grünen weiterhin in der Löwelstraße, die NEOS in einem neu angemieteten und adaptierten Gebäude in der Hansenstraße. Die Büros der PräsidentInnen bleiben weiter in der Beletage des Hauptgebäudes verortet, wobei jetzt das Büro des Präsidenten im Eckbereich Ring/Schmerlingplatz untergebracht und die Zweite Präsidentin wie auch der Dritte Präsident im Ringstraßen-seitigen Mittelteil der Beletage verortet sind. Auch die Parlamentsdirektion ist großteils in

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Nebengebäuden untergebracht, im Hauptgebäude sind lediglich die Büros des Direktoriums und die „sitzungsnahen“ Organisationseinheiten, insbesondere der Nationalrats- und Bundesratsdienst, vorgesehen.

Alle Zeichen stehen auf Rückkehr – die Inbetriebnahme als logistischer Kraftakt Während die technische Inbetriebnahme im Gebäude am Ring bereits seit Herbst 2021 erfolgt, gilt es auch die „parlamentarische“ Inbetriebnahme vorzubereiten. Um diesen logistischen Kraftakt in Angriff zu nehmen, wurde parlamentsintern ein umfassendes Programm entwickelt: In 47  Einzelprojekten bereiten die MitarbeiterInnen der Parlamentsdirektion den Parlamentsbetrieb im sanierten Parlamentsgebäude vor. Diese Themen umfassen u. a. die Feinbelegungsplanung, die Standardmöblierung, die Sondermöblierung, Kunst im Parlament, die Medientechnik, den Betrieb des BesucherInnenzentrums, die Bibliothek, die Gastronomie, die Veranstaltungslogistik, das Besuchermanagement, die Demokratiewerkstatt, die Außenraumgestaltung, das Zutritts- und Zonierungssystem, die langfristige Sicherstellung von Nachhaltigkeit und Barrierefreiheit etc. etc. Die Zielsetzung ist dabei klar vorgegeben: Mit September 2022 soll die Betriebsbereitschaft sichergestellt sein. Dies fordert von allen Beteiligten ein hohes Maß an Engagement und Verantwortung, denn für sämtliche Projekte sind die Zuständigkeiten personell und finanziell klar festgelegt. Auf der Grundlage von regelmäßigen Monitoring-Runden wird der aktuelle Stand der einzelnen Projekte im „Project Management Office“-Portal der Parlamentsdirektion erfasst und monatlich nach dem Ampelsystem in einem Dashboard zusammengefasst – ein Frühwarnsystem, mit dem einerseits die Einhaltung des Zeitplans garantiert werden soll und andererseits Kollisionen bzw. mögliche gegenseitige Behinderungen rechtzeitig erkannt werden können. Angesichts dieser Vielzahl von Prozessen und Anforderungen wird deutlich, dass noch ein gutes Stück des Weges zu gehen ist, bevor im Herbst 2022 das Hohe Haus wieder für den parlamentarischen Betrieb und die Besucherinnen und Besucher geöffnet werden kann. Solange bleibt das „Projekt Sanierung Parlament“ ein Vorhaben höchster Komplexität, das allen

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Mitwirkenden viel Engagement, Arbeit und Leistungsbereitschaft abverlangt. Ein Blick hinter die noch eingehüllten Fassaden des Baujuwels zeigt aber bereits jetzt eines ganz deutlich: Es hat sich gelohnt!

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Julius Raab – retro? Julius Raab war im wahrsten Sinn des Wortes Baumeister der Zweiten Republik. Als Bundeskanzler brachte er die Freiheit und Unabhängigkeit mit dem Staatsver­ trag nach Österreich, als Wirtschaftskammer-Präsident gründete er die Bundeswirt­ schaftskammer und legte mit der Außenwirtschaftsorganisation den Grundstein für Exporterfolge und Wohlstand in Österreich, mit der Gründung einer Sozialversiche­ rung auch für Selbstständige schaffte er ein Sicherheitsnetz auch für diese Bevölke­ rungsgruppe, als Sozialpartner war er immer um Augenmaß, Respekt und Toleranz bemüht. Sein Leitmotiv ist heute noch gültig: „Ein freies Österreich in einem einigen Europa in einer friedlichen Welt!“

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Bei Julius Raab geht es um wesentlich mehr als Dankbarkeit, die man dem Baumeister der Zweiten Republik und der Unabhängigkeit Österreichs entgegenbringt. Da gibt es noch etwas: Richtungsweisend für die Zukunft. In allen Veränderungen der Zeit ist doch auch Kontinuität sichtbar und spürbar: bei den Werten, den Fundamenten und bei den Perspektiven. Zu den Werten: Solidität, Seriosität, Fleiß, Gemeinschaftsdenken, Verantwortungsübernahme, ja auch Nächstenliebe. All dies schien eine Zeit lang aus der Mode gekommen zu sein. Aber Werte unterscheiden sich eben von Modeströmungen dadurch, dass sie zeitlos gültig sind. Und diese Gültigkeit muss man sich auch immer wieder bewusst machen. Raab hat mit diesen Werten ein gesundes Eigeninteresse mit sozialen Bindungen und einem übergeordneten Verantwortungsbogen verknüpft, mit Einfachheit, Bescheidenheit, Genügsamkeit. Bedurfte es erst der Corona-Krise, dass wir uns mit diesen Begriffen wieder mehr auseinandersetzen und damit vom immer Schneller, immer Höher, immer Mehr, gedanklich abrücken? Raab könnte hier die Post-Corona-Antwort schon vorgedacht haben! Zu den Fundamenten: Mit dem Raab-Kamitz-Kurs hat Raab die wirtschaftliche Erholung eingeleitet, hat in den Wiederaufbau Österreichs investiert, dabei aber Budgets mit Überschüssen bewerkstelligt, eine Sozialpartnerschaft installiert, die heute noch weltweit als Erfolgsmodell bestaunt wird, erstmalig eine Sozialversicherung für Selbstständige eingeführt und politisch mit dem Staatsvertrag die Krönung seines Lebenswerkes erbracht. Miteinander statt gegeneinander. Leben und leben lassen. Nie von jemandem etwas verlangen, was diesen überfordert. Wie viele Konflikte in unserer Zeit könnten wir uns ersparen, würden wir diese ganz einfachen Kernsätze stärker beachten? Zu den Perspektiven: Die kleinen Handels- und Gewerbetreibenden waren Julius Raab immer ein Herzensanliegen. Er hat gewusst, von ihnen hängen Arbeitsplätze, Einkommen, Steuern und Wohlstand ab. Diese Betriebe lassen sich Neues einfallen, bilden Menschen aus und geben ihnen Sinn auf den Lebensweg mit. Österreich, Europa und die ganze Welt hingen im Denken Raabs zusammen: „Für ein freies Österreich in einem einigen Europa und einer friedlichen Welt!“ Genau das waren seine Worte und sie seien allen Nationalisten ins Stammbuch geschrieben.

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christoph leitl    |    julius raab – retro?

Österreich liegt heute im Herzen Europas und hätte von hier aus die Möglichkeit, den Gang der Dinge in der Welt mitzubestimmen. Dazu benötigt es aber auch Partnerschaften mit der Welt. Wirtschaftsabkommen, Sozialprojekte, ökologisches Gesamtdenken. Die Dimension einer Kreislaufwirtschaft ist genau das, was dem Vernunftdenken eines Julius Raab innewohnte. Ressourcen, die man benützt hat, nachher wieder in den Kreiszulauf zurückzuführen. Weg von der Wegwerfgesellschaft, hin zu einer Wiederverwendungsgesellschaft. Vielleicht hätte es Julius Raab pathetischer formuliert, etwa im Sinne einer Verantwortung für die Schöpfung. Aber läuft es nicht gerade darauf hinaus? Die großen Probleme sind heute nur mehr weltweit zu lösen. Wir spüren heute, dass kaum ein Problem nur innerhalb eines Landes lösbar ist, sondern wir die europäische und in vielen entscheidenden Fragen sogar die globale Ebene benötigen. Wenn wir danach handeln, dann haben wir das geistige Erbe Julius Raabs verstanden. Und dann hat uns der Wegweiser in die Zukunft abermals einen wertvollen Dienst erwiesen! Anmerkung der Herausgeber: Im Jahrbuch für Politik werden anlässlich ihrer runden Geburtstage regelmäßig jene Staatsmänner gewürdigt, welche die Fundamente der erfolgreichen Zweiten Republik Österreich gebaut haben. Zu ihnen zählt Julius Raab, einer der Väter der Sozialpartnerschaft,  Architekt des österreichischen Staatsvertrags durch Neutralität nach dem Muster der Schweiz und jener Politiker, der Soziale Marktwirtschaft mit dem Raab-Kamitz-Kurs durchsetzte. 

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paul m. zulehner

Von der Nachhut zur Vorhut 130 Jahre Rerum Novarum Die kühne Industrialisierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat eine drängende „Soziale Frage“ entstehen lassen. Die Erfindung der Dampfmaschine hat die Herstellung von Gütern revolutioniert. Arbeitsprozesse wurden aufgeteilt. Bau­ steine für Produkte wurden maschinell hergestellt und in getrennten Arbeitsvorgän­ gen zusammengefügt. Das Handwerk verlor seinen goldenen Boden. Die vorindu­ strielle Ständeordnung geriet rasch in Auflösung. Eine gewaltige Landflucht setzte ein: aus der Landwirtschaft, aus den Handwerksbetrieben. Viele Menschen zogen in die Städte, die durch die soziale Binnenmigration rasant anwuchsen. Die Arbeitsmi­ grant/innen verloren nicht nur ihre Standeszugehörigkeit, sondern auch die damit verbundenen sozialen Rechte. Es war die Geburtsstunde des Industrieproletariats.

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Berichte über eine trostlose Lage Die Lebensbedingungen der Industrialisierungsverlierenden waren erbärmlich. Die schon sehr frühen Berichte über die Lage klingen trostlos. Besonders bedrückend sind Berichte über die damals verbreitete Fabriksarbeit minderjähriger Kinder. Das österreichische Staatsarchiv besitzt ein Handbillet des Kaisers Joseph II. aus dem Jahre 1786, in welchem dieser Maßnahmen zur Hebung der Hygiene der in den Fabriken arbeitenden Kinder anordnet, da er bei einem Besuch in den Fabriken von Traiskirchen „unendliche Gebrechen in der Reinlichkeit der Kinder“ festgestellt habe.1 Um 1820 berichtet Bischof Augustin Gruber von Laibach, später Erzbischof von Salzburg, an den Kaiser Franz I., dass in den Pfarren der Krainer Bergwerksgebiete fast die gesamte Bevölkerung im Berg oder in der Schmiede arbeite. Selbst die sieben- bis neunjährigen Mädchen stünden den ganzen Tag hinter dem Amboss; damit sie diese Last aushielten, gebe man ihnen ständig größere Mengen alkoholischer Getränke. In einigen Häusern wohnten oft mehrere Familien in einem Zimmer. Krankheit und Trunksucht seien an der Tagesordnung.2 Am 18. Oktober 1839 erging an alle Landesstellen und die Niederösterreichische Regierung eine Verordnung der kaiserlichen Hofstelle, gegen die zu frühe Verwendung und die übermäßige Anstrengung der Kinder in den Fabriken Maßnahmen zu ergreifen.3 Das Maximum der Arbeitszeit habe vom 9. bis zum 12. Lebensjahr in täglich 10, vom 12. bis zum 16. Lebensjahr in 12 Stunden zu bestehen. Eine Stunde Ruhe müsse diese Arbeitszeit unterbrechen. Gegen diese Vorschläge hatten aber die Gewerbevereine von Niederösterreich und Böhmen protestiert, da sie den Fabriksbetrieb hemmen könnten. Nicht nur die Arbeitsverhältnisse der Kinder waren sehr schlecht, sondern auch deren Lebensverhältnisse generell. So besaß in Österreich jede Manufaktur damals besondere Räume für die Kinder, die sog. Kinderhäuser. Darin schliefen oft vier bis fünf Kinder in einem Bett, nachdem sie 13 und mehr Stunden hindurch gearbeitet hatten.4

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Staatsarchiv, cop. saec. XVIII, Papier 845 Folien, Handbilletenprotokoll 1786, Nr. 899. 1820 II 14, KFA 234/42/3. Allg. Verwaltungsarchiv, Studienhofkommission 18E, NÖ 7285/1839. Brenn, W.: Die Arbeiterfrage im Vormärz, phil. Diss. Wien 1955.

paul m. zulehner    |    von der nachhut zur vorhut

Verbreitet war auch Frauenarbeit unter miserablen Bedingungen. So waren 1845 in den 647 österreichischen Baumwoll- und Papierfabriken von je 1.000 Arbeitern 430 Männer, 420 Frauen und 150 Kinder. Die Löhne waren erschreckend niedrig. Es herrschte himmelschreiendes Elend: 1847 bekam ein Arbeiter in der Woche 3 Gulden und 57 Kreuzer, was einem Sachwert von 80 kg Kartoffeln entsprach.5 Nach dem Ende der Zensur im Jahre 1848 werden die Quellen häufiger. Eine Flugschrift aus dem Revolutionsjahr trägt den Titel „Was 100.000 Proletarier vom Wiener Reichstag verlangen; oder: Wiens furchtbarer Feind, welcher die Stadt zu verderben droht.“ Darin ist in keineswegs arbeiterfreundlichem Grundton zu lesen: „Einen weit schrecklicheren Feind als Windischgrätz birgt das Innere der Stadt selbst, welcher tagtäglich an Größe und Macht zunimmt und mit schrecklichem Verderben droht. Es ist das Darniederliegen der ganzen Industrie und des Handels, das Stocken aller Geschäfte; die allgemeine Verdienstlosigkeit, mit einem Wort: Das traurige Proletariat, das gefräßige Ungeheuer, welches unzählige Menschen, vielleicht selbst den Staat als Opfer zu verzehren droht.“6 Um deren Lage abzumildern, erließen der Magistrat und der provisorische Bürgerausschuss einen Aufruf „an die mildthätigen Bürger und Bürgerinnen Wiens“. Dort hieß es: „Durch die schwierigen Zeitverhältnisse und die theilweise Stockung der Erwerbsquellen sind viele unserer den arbeitenden Klassen angehörigen Mitbürger in augenblickliche unverschuldete Dürftigkeit geraten … Es fehlt daher in den ärmeren Klassen der Hauptstadt nicht nur an den Mitteln zur Beschaffung der täglichen Nahrung, sondern auch an der notwendigen Leibeskleidung.“7

Karl Marx Die soeben zitierten Dokumente zeigen, dass viele das Elend wahrgenommen haben. Der Kaiser und seine Dienststellen suchten eine Abmilderung.

5 Zenker, Ernst Viktor: Die Wiener Revolution in ihren sozialen Voraussetzungen und Beziehungen, Wien 1897, 60. 6 Flugschriftensammlung im Wiener Diözesanarchiv. 7 Flugblatt vom 8. Mai 1848.

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Bischöfe intervenierten. Es gab Appelle an die Wohltätigkeit der Bürgerinnen und Bürger: „Klingelbeutelsozialreform“ spottete später die Arbeiterzeitung. An das wohlverstandene Selbstinteresse der Fabrikeigentümer wurde appelliert. Der französische Dominikaner Jean B. Lacordaire (1802–1862) beobachtete von Paris aus die frühkapitalistische Entwicklung in England. In einer Predigt formulierte er eine weitsichtige Erkenntnis: „Man muss der Freiheit immer Gerechtigkeit abringen!“ Die liberal konzipierte Freiheit der frühkapitalistischen Fabrikherren werde der katastrophalen Lage des ausgebeuteten Industrieproletariats nicht gerecht. Er versuchte die Freiheit der einen mit Gerechtigkeit für die anderen zu verweben: ein Versuch, dem sich später die christlichsoziale Bewegung verschrieben hatte. Die oft aus christlicher Nächstenliebe erwachsenen Vorschläge bewegten sich allerdings im Rahmen der bestehenden Gesellschaft. Der Versuch wurde gemacht, das Industrieproletariat als „vierten Stand“8 in die vorindustrielle Gesellschaftsstruktur einzubinden und ihm auf diese Weise bessere Lebensverhältnisse zu sichern. In kirchlichen Kreisen wurde diese Idee noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein verfolgt und die Lösung in einem modifizierten Ständestaat9 gesucht. Es war Karl Marx, der die Lösung der mit der Industrialisierung entstandenen „Sozialen Frage“ nicht im Rahmen der vorindustriellen Gesellschaft suchte. Er ging vom Ende der ständischen Gesellschaft aus. Es brauchte nicht Reformen im gesellschaftlichen Rahmen, sondern eine Revolution des Rahmens selbst. Mit der Industrialisierung sei die Zeit der Klassengesellschaft angebrochen. Marx bekämpfte folglich alle gesellschaftlichen Machthaber, welche diesen revolutionären Übergang verhindern wollten: die Herrscherhäuser, den Adel, das liberale Kapital und – mit diesen historisch eng verwoben – die Kirchen. In einem Gedicht des Arbeitsdichters Georg Herwegh hört sich das dann so an:

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Jantke, Carl: Der vierte Stand, Wien 1955, Herder. Dafür steht die Sozialenzyklika von Pius XI.: Quadragesimo anno, 1931.

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„Der Staat ist in Gefahr! Der ja noch niemals sicher war, − niemals sicher war, der Staat ist in Gefahr! Wen fürchtet denn der Staat? Das Volk, das er betrogen hat, geplündert, ja betrogen hat, das fürchtet jetzt der Staat. Doch nicht der Staat allein! Es müssen mehr Verbrecher sein, mehr Verbrecher sein, ’s ist nicht der Staat allein. Pfaff, Adel, Kapital, die stehlen alle auf einmal zu gleicher Zeit, stehlen auf einmal, Pfaff, Adel, Kapital.“10

Rerum novarum Papst Leo XIII. war es, der sich vor 130 Jahren in der ersten Sozialenzyklika der katholischen Kirche der „Sozialen Frage“ gestellt hat. Die Enzyklika „Rerum novarum“ beginnt mit den Worten: „Der Geist der Neuerung, welcher seit langem durch die Völker geht, mußte, nachdem er auf dem politischen Gebiete seine verderblichen Wirkungen entfaltet hatte, folgerichtig auch das volkswirtschaftliche Gebiet ergreifen. Viele Umstände begünstigten diese Entwicklung; die Industrie hat durch die Vervollkommnung der technischen Hilfsmittel und eine neue Produktionsweise mächtigen Aufschwung genommen; das gegenseitige Verhältnis der besitzenden Klasse und der Arbeiter hat sich wesentlich umgestaltet; das Kapital ist in den Händen einer geringen Zahl angehäuft, während die große Menge verarmt; es

10 Zitiert nach Steiner, Herbert: Die Arbeiterbewegung in Österreich 1867–1889, Wien 1964, 100.

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wächst in den Arbeitern das Selbstbewußtsein, ihre Organisation erstarkt; dazu gesellt sich der Niedergang der Sitten. Dieses alles hat den sozialen Konflikt wachgerufen, vor welchem wir stehen.“ (RN 1) Schon in diesem Einleitungsparagrafhen der Enzyklika übernimmt der Papst Ausdrücke aus der Marx’schen Analyse. Er nennt die „neue Produktionsweise“, die sich wegen der neuen Produktionsmittel (der Dampfmaschine) entwickelt hat. Und dann spricht er nicht mehr von der vorindustriell-ständischen Gesellschaft, sondern vom Gegenüber einer „besitzenden Klasse“ und „Arbeitern“. Die Akkumulation des Kapitals in den Händen weniger wird ebenso gesehen wie die Massenverarmung im Proletariat. Er versteht, dass sich die Ausgebeuteten und Unterdrückten selbstbewusst organisieren. Beiläufig vermerkt er sichtlich verständnisvoll, dass in solcher Not die Sitten niedergehen. In dieser knappen Würdigung der Jubiläumsenzyklika sollen lediglich zwei Aspekte herausgeschält werden.

(Zu) spät Die Enzyklika wurde 43 Jahre nach der politisch revolutionären Programmschrift „Das Kapital“11 von Karl Marx veröffentlicht. Fast ein halbes Jahrhundert ist sozialpolitisch eine gar lange Zeit. Der Papst war spät dran. Zu spät? Damit wird nicht gesagt, dass sich die Kirche(n) nicht mit der „Sozialen Frage“ beschäftigt hätten. Die christlichen Kirchen haben schon vor dem „Kapital“ von Marx eine beachtliche soziale Praxis entwickelt. Die Barmherzigen Schwestern des Vinzenz von Paul entfalteten eine kräftige karitative Arbeit. Vinzenzvereine wurden gegründet. Der spätere Erzbischof von Wien, Anton Gruscha, sagte 1857 in einer Predigt: „In die Fabriken wie in das Handwerk wird die Kirche durch Vereine und Genossenschaften mit ihrem Muttersegen eintreten, in der arbeitenden Klasse wird sich die Herr-

11 Marx, Karl: Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie: Ungekürzte Ausgabe nach der zweiten Auflage von 1872. Mit einem Geleitwort von Karl Korsch aus dem Jahre 1932, Neuauflage München 2009.

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schaft der Liebe entfalten. Wo eine Fabrik sich aufbaut, wird die Kirche ein Institut christlicher Pflege bauen.“12 Viele weitere Namen und Initiativen wären hier vorzustellen. Zu erinnern wäre voran an den Mainzer Sozial-Bischof Wilhelm Emmanuel Ketteler. Oder an Bischof Augustin Hille aus Leitmeritz. Dieser hatte sich 1857 „an die sämtlichen Herren Fabriksbesitzer“ seiner Diözese mit dem Aufruf gewandt, sich sowohl für das leibliche als auch das geistig-seelische Wohl der Arbeiter verantwortlich zu wissen. Sowohl die Betriebsverfassung wie die Gesinnung aller Beteiligten sollte durch eine Art „Christlicher Hausordnung“ verändert werden. Erwähnung verdient auch der Kapuziner Theodosius Florentini, der in der Schweiz und in Böhmen eigene Fabriken errichtete, in denen er den Arbeitenden einen angemessenen Lohn bei verkürzter Arbeitszeit zusicherte. Seine fremdartig anmutende Lösung lautete: „Fabriken müssen zu Klöstern werden!“ In einer Papierfabrik versuchte er es sogar mit einem Miteigentum der Arbeiter. Die vielfältige soziale Praxis war so kräftig, dass selbst Karl Marx nicht umhin konnte, sie ungewollt zu würdigen. In einem Brief von 1869 schrieb er an Friedrich Engels nach London: „Bei dieser Tour durch Belgien, Aufenthalt in Aachen und den Rhein hinab habe ich mich überzeugt, dass energisch, speziell in katholischen Gegenden, gegen die Pfaffen losgegangen werden muß … Die Hunde kokettieren, wo es passend erscheint, mit der Arbeiterfrage.“13

Regional gut vorbereitet Die erste Sozialenzyklika war aber nicht nur durch eine engagierte soziale Praxis, sondern auch durch die Entwicklung sozialer Theoriebausteine vorbereitet worden. Das alte Zinsverbot war neu in die Diskussion eingebracht worden, und damit die Kritik an arbeitslosem Einkommen. Die romantischkatholischen Schulen eines Adam Müller oder Franz Baader rangen um eine „organische Lösung“ der „Sozialen Frage“. 1884 bis 1889 leitete Kar-

12 Bischof, Franz: Kardinal Anton Gruscha und die Soziale Frage, Diss., Wien 1959, 171. 13 Marx-Engels, Briefwechsel, Berlin 1950, Bd. 4, 272.

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dinal Gaspard Mermillod die Studiengruppe „Union catholique d’études sociales et économiques“ (Katholische Union für Sozial- und Wirtschaftsstudien), die bei der Vorbereitung der Enzyklika Rerum novarum federführend beteiligt war. Zu dieser „Freiburger Vereinigung“ hatte auch der für die christlichsoziale Bewegung in Österreich gewichtige Karl Freiherr von Vogelsang eine enge Beziehung. „Die Lösung der Arbeiterfrage“, so schrieb dieser, „kann nichts anderes sein als das Aufhören der Arbeiterklasse … ihre Absorption von der Besitzerklasse.“14 Diese knappen Hinweise auf die der Enzyklika von Leo XIII. vorausgehende soziale Theorie und soziale Praxis belegen, dass Lehräußerungen eines Papstes nicht vom Himmel fallen, sondern durch regional wirkende mutige Denker und noch mehr Praktiker vorbereitet werden. Das relativiert das „spät“ oder gar „zu spät“ von Rerum novarum.15

Von der Nachhut zur Vorhut Die sozialen Lehren der verschiedenen christlichen Kirchen haben sich seit 1891 in einem bewegten Auf- und Ab weiterentwickelt. Alle Päpste haben seither zu deren Entfaltung beigetragen. Von Gewicht sind „Pacem in terris“ (1963) von Johannes XXIII. sowie „Populorum progressio“ (1967) von Paul VI. Dem Papst aus dem Osten, Johannes Paul II., verdankt die katholische Lehrtradition bedeutende Sozialtexte wie „Laborem exercens“ (1981), „Sollicitudo rei socialis“ (1987) und „Centesimus annus“ (1991). Mit „Deus caritas est“ (2005) hat sich auch Benedikt XVI. mit einem Beitrag zur Soziallehre geäußert. Die Kirche verwendet zudem andere Werkzeuge, um sich zu sozialen Fragen der Zeit zu Wort zu melden, etwa zum Frieden (Botschaften zum inzwischen 54. Weltfriedenstag am ersten Jänner) oder zur Migration (inzwischen gibt es 107 Botschaften zum Welttag der Migranten und Flücht-

14 Lentner, Leopold: Das Erwachen der modernen katholischen Sozialidee, Wien 1951, 40. 15 Mehr zur Vorgeschichte von Rerum novarum in: Schasching, Johannes: Die soziale Botschaft der Kirche von Leo XIII. bis Johannes XXIII. im Auftrag der Katholischen Sozialakademie Österreichs, hg. von Johannes Schasching, Innsbruck-Wien-München 21963, 11–67. Ich hatte die Ehre, mit meinem damaligen Institutschef Johannes Schasching SJ als sein Assistent an der Universität Innsbruck an der Erarbeitung dieser Einleitung nachhaltig mitzuwirken.

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linge). Damit begleitet die Kirche mit ihren sozialen Lehren durch die Zeit: sie lehrt „die Welt“, lernt aber zugleich auch immer von ihr. Die Kirche sucht dabei auf der Höhe der Zeit zu sein, auch in den Äußerungen des Papstes. Es ist erfreulich, dass die Kirche in sozialen Belangen heute nicht mehr (zu) spät dran ist. Schon gar nicht kann Papst Franziskus nachgesagt werden, er gehöre zu einer sozialpolitischen Nachhut. Das Gegenteil kann gut begründet behauptet werden: Papst Franziskus erweist sich in entscheidenden Fragen der Menschheit als sozialpolitische Vorhut.

Ein politischer Papst Zunächst versteht sich Papst Franziskus selbst als einen hochpolitischen Papst. Manche werfen ihm das vor. Aber er rechtfertigt sich dafür mit klaren Worten. In seiner letzten Enzyklika „Fratelli tutti“ (2020) schreibt er dazu, dass die Kirche – ganz im Sinn von Gaudium et spes (GS 36) – zwar eine relative Autonomie der Politik respektiere, ihre Mission aber nicht auf den privaten Bereich beschränken könne. Sie dürfe beim Aufbau einer besseren Welt nicht abseitsstehen, noch dürfe sie es versäumen, die seelischen Kräfte [zu] wecken, die das ganze Leben der Gesellschaft bereichern können. Dann betont er wörtlich: „Es stimmt, dass religiöse Amtsträger keine Parteipolitik betreiben sollten, die den Laien zusteht, aber sie können auch nicht auf die politische Dimension der Existenz verzichten, die eine ständige Aufmerksamkeit für das Gemeinwohl und die Sorge um eine ganzheitliche menschliche Entwicklung umfasst. Die Kirche hat ‚eine öffentliche Rolle, die sich nicht in ihrem Einsatz in der Fürsorge oder der Erziehung erschöpft‘, sondern sich in den ‚Dienst der Förderung des Menschen und der weltweiten Geschwisterlichkeit‘ stellt“ (FT 272). Kurzum: Für den Papst ist die Kirche keine politische Partei, aber sehr wohl politisch parteilich.

Laudato si’ Bezeichnend sind auch die Themen, zu welchen sich der Papst lehramtlich zu Wort meldet. Unter seinen Enzykliken ragt jene über die Schöpfung heraus. Sie trägt den Titel des Sonnengesangs des Poverello Franz

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von Assisi: Laudato si’ (Gepriesen sei; 2014). Dieses Schreiben bietet nicht nur eine Analyse der Bedrohung des Klimas, an der internationale Expert/innen mitgewirkt haben. Es werden auch Prinzipien formuliert, an deren sich die höchst dringliche Klimapolitik der Menschheit orientieren kann. Ein markantes Merkmal ist die Verwebung von Ökonomie und Ökologie – eine Herausforderung, der sich derzeit alle Regierenden stellen müssen. Das Klima ist aber nicht nur die einzige große Herausforderung der Menschheit. Dazu kommt, dass durch eine neue Technologie das bewährte soziale System vor einem Umbau steht. Es ist jetzt nicht mehr die Indus­ trialisierung und die durch sie ausgelöste „alte“ Soziale Frage, sondern die Digitalisierung (Roboterisierung), welche eine „neue“ Soziale Frage hervorbringt. Mit der Digitalisierung wird, so die Prognosen der Fachleute, ein Teil der bislang stabilen Arbeitsplätze verloren gehen. Neue werden entstehen. Im Zuge des Umbaus, der wohl mehrere Generationen dauern wird, wird es „Digitalisierungsverlierende“ geben. Die Pandemie hat die Digitalisierung notgedrungen beschleunigt. Zugleich hat sie selbst zusätzliche soziale Probleme geschaffen.16 Zu den Pandemieverlierern gehören junge Menschen, durch Homeschooling überforderte Eltern, noch mehr Alleinerziehende; die häusliche Gewalt hat in den Lockdowns zugenommen. In Tourismusgebieten haben viele ihren Familienbetrieb zusperren müssen. Manche konnten aus der Kurzarbeit nicht mehr in die Vollzeitarbeit zurückkehren. Zugleich finden sich neben den Pandemieverlierenden auch Pandemiegewinner: Pharmakonzerne, Onlineshops, die Paketbeförderer, die Maskenhersteller. Eine ambivalente Seite der Digitalisierung sind die neuen sozialen Medien. Sie haben erfreulicherweise in der Pandemie oft eine virtuelle Beziehung zwischen Älteren und Jüngeren ermöglicht und damit Vereinsamung eingedämmt. Sie haben dazu beitragen, dass die Arbeitswelt, die Bildung, aber auch Gottesdienste nicht völlig kollabiert sind. Zugleich haben

16 Zulehner, Paul M.: Bange Zuversicht. Was die Menschen in der Coronakrise bewegt, Ostfildern 2021.

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sich über die Jahre hinweg in den sozialen Medien Pornografie, Cyberkriminalität und das Experiment Bitcoin angesiedelt. Manche Mitmenschen verlieren ihren Kontakt zur analogen Wirklichkeit und leben nur noch in ihrer virtuellen Blase und was dort an Erzählungen kursiert, über deren Wahrheitsgehalt sie sich kaum Gedanken machen.

Fratelli tutti Der Papst hat sich manchen dieser akuten sozialpolitischen Herausforderungen bislang eher kursorisch gestellt. In seiner bislang letzten Sozialenzyklika „Fratelli tutti“ (2020) beklagt er mit Blick auf die sozialen Medien eine „Täuschung der Kommunikation“: Die Privatsphäre werde oftmals verletzt, zerstörerische Hassgruppen mit hoher sozialer Aggressivität und verbaler Gewalt bildeten sich im Netz, Ideologien ließen ihre Scham fallen. Wer sich immer mehr in den sozialen Medien aufhält, verpasse die Begegnung mit der Wirklichkeit und verliere so wahre Weisheit. Es könne dann auch leicht ausgeblendet werden, was in der Wirklichkeit an sozialem Elend besteht. Verloren gehe das einfühlsame Zuhören, das Schweigen und damit eine authentische Kommunikation. Das Kernstück von „Fratelli tutti“ ist aber die „universelle Geschwisterlichkeit“ aller Menschen in der einen Welt. Damit greift der Papst für die katholische Soziallehre einen Aspekt auf, der von Wahlen abhängigen Politikern in demokratischen Gesellschaften eine Weltgemeinwohlpolitik überhaupt erst möglich macht. Dazu braucht es nämlich eine Mehrheit von Menschen, die eine ökosoziale Gemeinwohlpolitik wählen. Das aber werden sie nur dann tun, wenn sie mit der Tugend der Solidarität stark ausgestattet sind. Die universelle Geschwisterlichkeit ist also die Voraussetzung dafür, dass die sozialen Lehren der Kirche überhaupt eine Chance haben, in der realen Politik berücksichtigt zu werden. Dabei ist reale Politik in Zeiten der Globalisierung immer Weltsozialpolitik, was jede nationale Außenpolitik zur Weltinnenpolitik macht. Papst Franziskus sucht die Grundlegung dieser Tugend der universellen Solidarität in der menschheitsalten Lehre von der tiefen Einheit des Seins. Sie findet sich in der griechischen Philosophie ebenso wie im Mit-

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telalter (Bonaventura) oder heute etwa bei Ken Wilber17 und wird durch das Bild der „Kette des Seins“ (Chain of Being) symbolisiert. Es ist eine Weisheit, welche als „Resonanz“ in den Neurowissenschaften neu entdeckt wird. Die Einheit des Seins spielt auch in allen zeitgenössischen Ökotheorien eine entscheidende Rolle. In der Ökologie bedeutet diese Theorie der Kette des Seins, dass sich der Mensch nicht aus der Natur herausnehmen kann und sich auch dieser gegenüber schon gar nicht alles herausnehmen kann. Wir sitzen alle in einem Boot – Franziskus betont dies immer wieder und verweist dabei auf die Erfahrungen der Weltgemeinschaft in der Pandemie (FT 30, 32). Theologisch ist diese anthropologische Weisheit gut begründbar: Wenn es nur einen Gott gibt, dann ist jede und jeder einer und eine von uns. Eine Politik des „Wir und die Anderen“ oder nationalistische Formeln wie „* first“ machen dann keinen Sinn mehr. Gibt es aber diese tiefe Einheit allen Seins – vom Stein bis zu Gott, was einen Panentheismus nahelegt − , dann folgt nach allen Regeln der Philosophie aus dem Sein das Handeln. „Agere sequitur esse“, so das einschlägige Axiom der Philosophen. Wenn jede eine, wenn jeder einer von uns ist, dann ist auch Aylan Kurdi, der in der Ägäis ertrinkt, einer von uns. Und das Mittelmeer oder der Ärmelkanal werden dann zu unseren größten europäischen Friedhöfen, in denen Angehörige von uns ertrunken sind. Natürlich ist der Papst politischer Realist genug, wenn er mit Blick auf die Ertrunkenen mahnt, die Weltgemeinschaft sei sozialethisch dazu verpflichtet, alles Erdenkliche tun, dass eine Flucht aus der Heimat (in Afghanistan, in Afrika) nicht nötig ist. Es gelte, die drei Hauptursachen der Flucht zu bekämpfen, so gut es geht, also Krieg (deshalb auch sein Kampf gegen den ständig wachsenden Waffenhandel), die Hoffnungslosigkeit der Armut sowie die Klimakatastrophen. „Ideal wäre es, wenn unnötige Migration vermieden werden könnte, und das kann erreicht werden, indem man in den Herkunftsländern die Bedingungen für ein Leben in Würde und Wachstum schafft, sodass jeder die Chance auf eine ganzheitliche Entwicklung hat“ (FT 129). Solange das aber nicht der Fall ist, mahnt Papst Franziskus zu stär-

17 Wilber, Kenneth: The Integral Vision: A Very Short Introduction to the Revolutionary Integral Approach to Life, God, the Universe, and Everything, 2007 (Integrale Vision: Eine kurze Geschichte der integralen Spiritualität, München 2009).

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kerer Solidarität mit den Schutzsuchenden: „Solange es jedoch keine wirklichen Fortschritte in dieser Richtung gibt, ist es unsere Pflicht, das Recht eines jeden Menschen zu respektieren, einen Ort zu finden, an dem er nicht nur seinen Grundbedürfnissen und denen seiner Familie nachkommen, sondern sich auch als Person voll verwirklichen kann“ (FT 129). Konkret heißt das für ihn: „Aufnehmen, schützen, fördern, integrieren.“ 130 Jahre katholische Soziallehre: ein stolzes Jubiläum, eine überschaubare Zeit, in der die Kirche gelernt hat, nicht hinter den Sorgen und Ängsten der Welt herzuhinken, sondern mit diesen empathisch Schritt zu halten: noch mehr – es ist eine Kirche, in der heute ein Papst im Amt ist, der versucht, der Politik voraus zu sein. Kurzum: Es gab eine erfreuliche Entwicklung von der Nachhut zur Vorhut.

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Die christliche Gewerkschafts­ bewegung am Beginn der Ersten Republik Die Enzyklika „Rerum Novarum“ von Papst Leo XIII. im Jahr 1891 gab den Start­schuss für die verschiedenen christlichen Arbeiterorganisationen in Österreich. Bereits 1892 wurde der „Christlichsoziale Arbeiterverein Niederösterreichs“ wesent­ lich durch den christlichen Arbeiterführer Leopold Kunschak mitgegründet.1 Als Gründung der christlichen Gewerkschaften kann die Errichtung der Reichsgewerk­ schaftskommission im Jahr 1906 gelten.

1 Vgl. Paul Mychalewicz, Leopold Kunschak. Ein Leben für Wien, Österreich und die christlichen Arbeiter, Wien 2003, S. 10f.

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Während des Ersten Weltkriegs hat die gesamte Gewerkschaftsbewegung stark gelitten. Eine große Anzahl von Funktionären und Mitgliedern musste an die Front, viele von ihnen sind auch gefallen. Franz Hemala, eine zuverlässige zeitgenössische Quelle, nennt „zwei der besten Vorkämpfer der christlichen Gewerkschaftsbewegung: Georg Schmid, den Obmann des christlichen Holzarbeiterverbandes, und Grotz, der unermüdliche Vertrauensmann der oberösterreichischen Lederarbeiter“2. Natürlich war die Kriegszeit auch für die freien Gewerkschaften (so nannten sich die sozialdemokratischen Arbeitervertreter) schwierig, doch die revolutionäre Stimmung zu Kriegsende kam ihnen zweifellos zugute. Ludwig Reichhold spricht von einer „Machtzusammenballung von Partei, Gewerkschaft und Volkswehr“3.

Das Entstehen der Richtungsgewerkschaften Für alle nach 1945 Geborenen, die aus eigenem Erleben nur mehr den einheitlichen Österreichischen Gewerkschaftsbund kennengelernt haben, stellt sich die Frage, warum es überhaupt verschiedene gewerkschaftliche Richtungen, das heißt sogenannte Richtungsgewerkschaften gab. Die Grundfrage ist wohl, wie sehr politische und weltanschauliche Fragen von einer beruflichen Vertretung ferngehalten werden. Es ist lohnend, die Argumentation Franz Hemalas in seiner Schrift „Warum christliche Gewerkschaften?“ näher zu verfolgen. Er weist darauf hin, dass in England eine einheitliche Gewerkschaftsbewegung erhalten blieb, weil auf die katholische Minderheit entsprechend Rücksicht genommen wurde, sei es in der Schulfrage, die von der Diskussion auf Gewerkschaftskongressen ausgenommen wurde, wie auch im Programmablauf eines solchen Kongresses, der auch die Möglichkeit zur Teilnahme an Messen und anderen Gottesdiensten vorsah.4 Tatsächlich wäre dergleichen in Österreich angesichts einer militanten Freidenkerbewegung in der Sozialdemokratie völlig undenkbar gewesen.

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Franz Hemala, Geschichte der Gewerkschaften, Wien 1922, S. 133. Ludwig Reichhold, Geschichte der christlichen Gewerkschaften Österreichs, Wien, S. 255. Franz Hemala, Warum christliche Gewerkschaften?, Wien 1924, S. 4ff.

paul mychalewicz    |    die christliche gewerkschafts­b ewegung

Sowohl in den deutschsprachigen – als auch anderen Ländern – gab es eine ausgeprägte Zersplitterung der Gewerkschaftsbewegung. So bestanden in Deutschland freie, christliche und noch andere Gewerkschaften, in der Schweiz beziehungsweise in Österreich eben freie, christliche und völkische Gewerkschaften.5 Hemala argumentiert, „dass alles Streben der christlichen Arbeiterschaft dahin ging, wenn nur irgendwie möglich, die einheitlichen Gewerkschaftsorganisationen aufrecht zu erhalten. Die christlichen Arbeiter haben nicht ohne Not den Schritt der Trennung durchgeführt“.6 Man war nicht glücklich mit der Situation. „Diese Spaltung ist vielfach als ein großes Übel empfunden worden.“7 Bemerkenswert ist die weitere Argumentation: „Von sozialdemokratischer Seite hat man mit Vorliebe auf die Arbeitgeberorganisationen hingewiesen, die sich eine einheitliche Organisation geschaffen und bis zum heutigen Tage erhalten haben, unbekümmert um die Weltanschauung der ihnen angeschlossenen Mitglieder.“8 Dem hält Hemala entgegen: „Freilich vergessen die Tadler der Zersplitterung der Gewerkschaften, dass die Arbeitgeberorganisationen peinlich bemüht waren, politische und religiöse Streitfragen von ihrer Berufsvereinigung fernzuhalten. Die Gewerkschaften haben das leider nicht getan und die Folge davon ist die fortschreitende Zersetzung und Trennung der Gewerkschaften nach der Weltanschauung ihrer Mitgliedschaft.“9 In der Folge verweist der führende christliche Gewerkschafter auf den 1. Gewerkschaftskongress in Wien (24. bis 26. Dezember 1893), auf dem unter anderem einstimmig beschlossen wurde: „Sie (die gewerkschaftliche Organisation) hat deshalb, um den Kampf nach allen Seiten hin erfolgreich durchführen zu können, auch der politischen Mitteln nicht zu vergessen und stellt sich deshalb voll und ganz auf den Boden und die Prinzipien der Sozialdemokratie.“10 Entsprechende Wortmeldungen, wie etwa Viktor Adlers, verstärkten noch den Eindruck, dass für Andersdenkende kein Platz in den Gewerkschaften war.

5 Hemala, Warum?, S.3. 6 Hemala, Warum, S.4. 7 Hemala, Warum?, S.3. 8 Ebenda. 9 Hemala, Warum?, S. 3f. 10 Protokoll des 1. Gewerkschaftskongresses, S. 23, zitiert bei Hemala, Warum?, S. 12.

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Diese expliziten Festlegungen stammen aus der Zeit, bevor noch eine Gründung christlicher Gewerkschaften in Frage stand, lediglich christlichsoziale Arbeitervereine wurden – wie eingangs erwähnt – nach und nach gegründet. Diese wurden jedoch von sozialistischer Seite massiv bekämpft. Der Grund lag darin, wie Ludwig Reichhold festhält, dass man „im Wesentlichen von der marxistischen Geschichtstheorie aus(ging), nach welcher der Sozialismus das politische Bewusstsein der Arbeiterklasse darstellte, neben dem ein anderes Bewusstsein nicht gelten gelassen wurde, da es nur ,klassenfeindlich‘ sein konnte. Das war die Barriere, die dem Verständnis der Gründung Kunschaks (des Christlichsozialen Arbeitervereins) von Seiten der Sozialisten entgegenstand, in der mehr als eine unerwünschte Konkurrenz um die Stimmen der Arbeiterschaft gesehen wurde, nämlich ein Angriff auf die Einheit der Arbeiterklasse, die in der marxistischen Theorie ihre wissenschaftliche Basis gefunden zu haben schien“.11 Die zitierten Darstellungen machen es nachvollziehbar, warum es in den ersten Jahrzehnten zu keiner einheitlichen Gewerkschaftsbewegung kam. Ein überparteilicher Gewerkschaftsbund, wie er im Jahr 1945 geschaffen wurde, setzte einen Bewusstseinsbildungsprozess voraus, der eben noch nicht stattgefunden hatte. In der gegebenen Zeit um 1900 sah man auf christlicher Seite keinen anderen Weg als die Gründung eigener Gewerkschaften. Wie Reichhold erläutert, traf man auf dreierlei Widerstände. Der oben beschriebene Widerstand der bereits bestehenden sozialistischen Gewerkschaften ist offensichtlich.12 Die christlichen Gewerkschaften mussten sich aber auch gegen die Unternehmer durchsetzen, denn sie waren im bestehenden Wirtschaftssystem nicht eingeplant, „wobei es ihnen wenig half, dass sie den Klassenkampf ablehnten, da die Unternehmer in ihnen eine ebensolche Kampforganisation erblickten wie in den sozialistischen Gewerkschaften“.13 Schließlich galt es aber noch, den Widerstand der christlichen Arbeiter selbst zu überwinden, „deren mangelndes Standesbewusstsein, das ihnen erst anerzogen

11 Reichhold, Christliche Gewerkschaften, S. 95. 12 Reichhold, Christliche Gewerkschaften, S. 118f. 13 Reichhold, Christliche Gewerkschaften, S. 119.

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werden musste, sie für eine gewerkschaftliche Kampforganisation nicht gerade empfänglich machte.“14 Aus all den genannten Gründen entstanden nach- beziehungsweise nebeneinander weltanschaulich unterschiedlich ausgerichtete Gewerkschaften, für die gemeinhin die Bezeichnung Richtungsgewerkschaften verwendet wurde.

Die christlichen Gewerkschaften als Richtungsgewerkschaften Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs mussten sich alle Richtungsgewerkschaften neu organisieren. Wie schon eingangs erwähnt, fanden die sozialdemokratischen Gewerkschaften für sich die weitaus günstigsten Bedingungen vor. Sie waren bereits vor dem Krieg die bei weitem größte Organisation, und sie profitierten von der nunmehr vorhandenen revolutionären Stimmung. An die zweite Stelle kamen mit großem Abstand die christlichen Gewerkschaften. Nicht zu unterschätzen, vor allem bei den Angestellten, waren jedoch auch die völkischen und nationalen Gewerkschaften. Die kleinste Gruppierung bildeten jedenfalls die Kommunisten. Diese wurden von den Sozialdemokraten völlig marginalisiert. Das Verhältnis der einzelnen Richtungsgewerkschaften zueinander war damit entscheidend von der politischen Großwetterlage geprägt. Daher waren die sozialdemokratischen Gewerkschaften generell in der Offensive, wogegen die christlichen sich in der Defensive befanden. Wie schwer sich letztere in der neuen Situation zurechtfanden, zeigte sich schon in der Frage der Staatsform. Bis zuletzt hielt man an der Monarchie fest. So erklärte der Vorsitzende der Zentralkommission der christlichen Gewerkschafter, Franz Spalowsky, am christlichen Arbeiterkongress im September 1918: „Wir bekennen uns ferner zur monarchischen Staatsform, weil wir überzeugt sind, dass das Verantwortungsgefühl der christlichen Monarchen eine ungleich größere Gewähr für die Gerechtigkeit darstellt, als manche andere, den Namen der Demokratie missbrauchende Staatsform.“15 Auf

14 Ebenda. 15 Der christliche Gewerkschafter, 11. Oktober 1918, S. 1.

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diesem Kongress wurde ein „Ausschuss“ gebildet, der auch noch am 9. November 1918 für die Monarchie eintrat, wenngleich man bereits von der Existenz Deutschösterreichs ausging.16 Das erste Bekenntnis zur Republik erfolgte erst nach dem 12. November, das heißt nach deren Ausrufung. Der Ausschuss des christlichen Arbeiterkongresses erließ einen entsprechenden Aufruf. Darin wird festgestellt, dass sich der Staatsratsrat und die provisorische Nationalversammlung, wenngleich ohne Volksabstimmung, für die Republik entschieden hätten. Überdies hätte Kaiser Karl den österreichischen Völkern freigestellt, sich für eine Staatsform zu entscheiden. Daher wird die eigene Anhängerschaft aufgerufen, unter den geänderten Umständen für die Republik DeutschÖster­reich und die Ziele der christlichen Arbeiterschaft zu kämpfen.17 In dieser Vorgangsweise kommt zum Ausdruck, wie sehr die christliche Arbeiterbewegung beziehungsweise deren Gewerkschaften sich in der Defensive befanden. Die Staatsform wurde lediglich akzeptiert, weil eben bereits vollendete Tatsachen geschaffen worden waren. Der revolutionäre Schwung schlug sich auch in einer anderen – letztlich kurzlebigen – Einrichtung nieder, den Arbeiterräten. Diese sahen sich als Vertretung der gesamten österreichischen Arbeiterschaft, allerdings wurden sie als ein Instrument einer gemeinsamen Aktion des Proletariats innerhalb des Sozialismus angesehen. Folgerichtig wurden die christlichen Gewerkschaften von der Wahl zu den Arbeiterräten ausgeschlossen. Diese wählten daher eigene Arbeiterräte. Bis 1921 war der Spuk aber vorbei.18 Inzwischen gab es auch die Räterepubliken in Bayern und Ungarn nicht mehr. Möglicherweise erreichte man durch die österreichischen Arbeiterräte eine gewisse Kanalisierung der revolutionären Stimmung und ersparte sich so die Erfahrung einer Räterepublik.19 Es war dies die einzige Zeit, in der die Kommunisten in einem Bereich eine – wenn auch beschränkte –

16 Christlichsoziale Arbeiterzeitung, 9. November 1918. Vgl. auch: Reichhold, Christliche Gewerkschaften, S. 237 ff. 17 C. G., 22. November 1918, S. 1. 18 Paul Bernhard Wodrazka, Und es gab sie doch! Die Geschichte der christlichen Arbeiterbewegung in Österreich in der Ersten Republik, Frankfurt/Main 2003, S. 112f. 19 Vgl. Stiftung für die Pflege und Tradition der christlichen Arbeiterbewegung (Hg.), Die christlichen Gewerkschaften in Österreich, Wien 1975, S. 102.

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Bedeutung erlangten. Der Einzug in den Nationalrat gelang ihnen in der Ersten Republik jedenfalls nie. Insgesamt betrachtet war die unmittelbare Nachkriegszeit im Hinblick auf die Richtungsgewerkschaften und ihr Verhältnis zueinander von einer gewissen Ambivalenz gekennzeichnet. Einerseits strebten die Sozialdemokraten in den Betrieben eine Monopolstellung an, andererseits arbeiteten Vertreter der Sozialdemokraten und der christlichen Gewerkschaften in der großen Koalition bei der Durchsetzung großer Sozialreformen zusammen. Es war dieses Monopolstreben, das die christlichen Gewerkschaften als „Terror“20 bezeichneten und wohl auch so empfanden. Worin bestand nun dieser Terror? „Diese Terrorakte liefen immer nach dem gleichen Schema ab. Zunächst wurde ein Ultimatum gestellt, bis zu dem Tag sich ein oder mehrere Arbeiter der sozialdemokratischen Gewerkschaftsorganisation angeschlossen haben musste(n). Leistete der Arbeiter Widerstand, so wurde er mit Gewalt (Schlägen!) entweder zum Ausfüllen der Beitrittserklärung gezwungen oder zur Unterzeichnung eines Ansuchens um sofortige Entlassung genötigt.“21 Auf politischer Ebene versuchten sozialdemokratische Spitzenpolitiker zu kalmieren. So sicherte Staatskanzler Karl Renner den christlichen Gewerkschaftern bei einer Vorsprache am 17. September 1919 ausdrücklich die Koalitionsfreiheit, das heißt den Zusammenschluss in einer eigenen Organisation, zu. Ebenso deutlich trat der sozialdemokratische Bürgermeister von Wien, Jakob Reumann, bei einer Beschwerde auf und untersagte den sozialdemokratischen Straßenbahnern, auf Plakaten zur Weigerung der Zusammenarbeit mit Nichtorganisierten aufzurufen.22 Welchen Sinn kann die Beschäftigung mit dieser Kampfzeit vor hundert Jahren haben? Es ist wohl die Erkenntnis, dass sozialer Frieden nicht

20 Zum Beispiel Reichspost, 7. April 1919, S. 4. Die wohl umfassendste Darstellung dieses Themas findet sich immer noch in Wilfried de Waal, Betriebsterror und christliche Gewerkschaften. Das Entstehen des Antiterrorgesetzes. Diss. Univ. Wien, Wien 1979. 21 Wodrazka, Christliche Arbeiterbewegung, S. 114. Vgl. auch Hemala, Gewerkschaften, 208ff. 22 Fritz Klenner, Die österreichischen Gewerkschaften. Vergangenheit und Gegenwartsprobleme. Band 1, Wien 1951, S. 1052f. Vgl. auch Leopold Kunschak, Österreich 1918 bis 1934, 2. Aufl., Wien 1935, S. 59.

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als selbstverständlich angenommen werden kann, sondern es eines langen Wegs und der gemeinsamen Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur bedurfte, um zu einer gedeihlichen Zusammenarbeit in der Gewerkschaftsbewegung zu finden.

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Simon-Wiesenthal-Preis Über die Auszeichnung sowie die ­Bekämpfung des Antisemitismus allgemein „Damit das Böse gedeiht, braucht es nur gute Menschen, die nichts unternehmen“ Simon Wiesenthal (1908–2005) Die Pandemie und die damit verbundenen Demonstrationen haben uns mehrfach aufgezeigt, dass der Kampf gegen Antisemitismus aktueller denn je ist. Judenfeind­ schaft zeigt sich wieder offener. Immer lauter und ungeschminkter sowie radikaler im Ton werden antisemitische Hassbotschaften verbreitet. Seit Jahren beobachten wir europaweit eine besorgniserregende Zunahme von Antisemitismus. Die Komplexität dieses Problems erfordert komplexe Antworten! Tragen wir doch als Gesellschaft alle die Verantwortung dafür, jeder Form von Judenhass, ganz gleich welcher Prägung, entschieden entgegenzutreten und jeder Art von Judenfeindlichkeit einen entschlos­ senen Kampf anzusagen. Antisemitismus zu bekämpfen heißt, die Werte zu vertei­ digen, die einem friedvollen und gedeihlichen Zusammenleben zugrunde liegen. Mit dem Simon-Wiesenthal-Preis wird nunmehr die Zivilgesellschaft vor den Vorhang geholt; es sollen Projekte unterstützt und viele Menschen und Organisationen ange­ spornt werden, sich gegen Antisemitismus und für die Aufklärung über den Holocaust einzusetzen.

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Antisemitismus ist ein uraltes Phänomen. In der Weltgeschichte m ­ angelt es nicht an Beispielen für Judenhass, von Diskreditierung bis hin zur millio­ nenfachen Ermordung. Der Bogen lässt sich spannen von den biblischen Amalekitern und dem ägyptischen Pharao, über Haman, die Gemetzel bei der Zerstörung Jerusalems, die Vertreibung der Juden aus Medina, die Kreuzzüge, das Massaker von Granada, die Schmähungen durch Martin Luther, Oscar Wilde, Charles Dickens, die Vertreibung der Juden von der Iberischen Halbinsel und die spanische Inquisition, die Pogrome, Paul de Lagarde, Wilhelm Marr, Adolf Stoecker, Henry Ford, der Ku-Klux-Klan, Haj Amin al-Husseini und die Farhud in Bagdad bis hin zu Adolf Hitler und die Tragödie der Shoah. Diese Liste ließe sich noch um ein Vielfaches verlängern und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, doch dahinter verbirgt sich millionenfaches Leid, verbergen sich unzählige brutal ermordete Jüdinnen und Juden. Antisemitismus ist eine mehr als 2000 Jahre alte negative kulturelle Tradition, dessen Wurzeln weit in die vorchristliche Zeit zurückreichen. Die Ablehnung des Judentums bzw. Ressentiments gegen Jüdinnen und Juden entspringen nicht unmittelbar dem europäischen Kulturkreis, allerdings wurde Judenfeindschaft seit Jahrhunderten in unseren Breiten epigenetisch vererbt. Antisemitismus zeigt sich in unterschiedlichen Formen und ist europaweit in den letzten Jahren wieder verstärkt zu beobachten. Unsere vom Parlament beauftragten Studien belegen deutlich, dass wir heute drei markante Ausformungen des Antisemitismus in unterschied­ lichsten Schattierungen vorfinden. Der Antisemitismus kommt immer aus der gesellschaftlichen Mitte und wird an den gesellschaftlichen ­Rändern deutlich sichtbar. Es existieren nach wie vor Formen des r­echtsextremen Antisemitismus mit all seinen Verschwörungsmythen, zu denen nach 1945 die Leugnung des Holocaust hinzukam. Der linke Antisemitismus präsen­ tiert sich in einem anderen Gewand und versteckt sich oft hinter AntiZionismus und dekonstruiert den Staat Israel. Er tritt verstärkt im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt auf. Das Feindbild vom angeblich allmächtigen Juden ist nun ersetzt und erweitert worden durch das Feindbild eines angeblich aggressiv agierenden Staates Israel. Eine dritte, in Europa relativ neue Ausprägung des Judenhasses ist der „importierte Antisemitismus“, der durch jene Menschen repräsentiert wird, in deren ur-

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sprünglichen Herkunftsländern Antisemitismus als Staatsdoktrin verbreitet wird. 77 Jahre nach der Shoah tritt Antisemitismus wieder offener in Erscheinung; er äußert sich nun unverhohlener und deutlich sichtbarer – bis hin in den strafrechtlichen Bereich. Vorurteile, die früher insgeheim angedacht wurden, werden jetzt offen ausgesprochen. Gleichzeitig müssen wir feststellen, dass eine Verharmlosung des Holocaust salonfähig wird – wenn sich Zeitgenossinnen und Zeitgenossen im Zuge von Demonstrationen beispielsweise einen Judenstern mit der Aufschrift „ungeimpft“ anheften, verleugnen sie so die Gräueltaten der nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie, indem sie die Verbrechen relativieren, wissend, dass die Verharmlosung der Shoah ein zutiefst antisemitischer Akt ist. Hand in Hand damit bietet das Internet eine Plattform, auf der Gleichgesinnte sich leichter finden und antisemitisches Gedankengut verbreiten können. Vor allem die letzten Monate haben gezeigt, dass der Antisemitismus im Internet regelrecht explodiert ist. Besonders in Sozialen Medien nehmen die Qualität und die Quantität von Judenhass zu. Für die deutsche Antisemitismusforscherin und Kognitionswissenschaftlerin Monika Schwarz-Friesel sind judenfeindliche Ressentiments mittlerweile keine Randgruppenphänomene, sondern in der Mitte der Gesellschaft verhaftet. Und der Kampf gegen den Antisemitismus – auch das ist bemerkenswert – beginnt daher nicht an den extremen Rändern, er beginnt in der Mitte der Gesellschaft! Die Lage der Jüdinnen und Juden ist ein Gradmesser dafür, wie es um die Gesellschaft und ihr Versprechen von Sicherheit und Freiheit für alle steht. Wer Jüdinnen und Juden verfolgt, wird nicht zögern, auch alle anderen zu verfolgen, die ihm missliebig sind. Antisemitismus ist eine besonders gravierende Bedrohung, nicht nur für die jüdischen Gemeinden, sondern für uns alle – für unsere Demokratie, für unsere Werte, für die Vielfalt in unserer Gesellschaft. Gerade aus diesem Grund ist es für unser Parlament von hoher Wichtigkeit zum Schutz der Demokratie und der jüdischen Gemeinden, sich dem Antisemitismus offen zu stellen. Was können und müssen wir tun, um allen Formen des Antisemitismus wirkungsvoll die Stirn zu bieten? Die Komplexität des Antisemitismus erfordert durchdachte Antworten, um ihn erfolgreich bekämpfen zu kön-

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nen. Dass sich alle jüdischen Bürgereinnen und Bürger sicher fühlen können, muss unser oberstes Ziel sein. Wir sind daher gefordert, alles dafür tun, dass sie auf dieses Land, auf unsere Demokratie vertrauen können. Deshalb ist es richtig und wichtig, jüdische Einrichtungen umfassend zu schützen und deren bauliche Sicherheit zu verbessern. Zu dieser Verantwortung bekennt sich die Bundesregierung sehr klar im Regierungsprogramm 2020. Es reicht jedoch bei weitem nicht, dieser rechtsstaatlich gebotenen Pflicht nachzukommen. Mindestens so wichtig ist, der breiten Öffentlichkeit noch viel stärker ins Bewusstsein zu rufen, dass jüdisches Leben ein essenzieller Teil unserer Kultur ist und die Kreativität, der Unternehmergeist, der Scharfsinn sowie der Forschergeist jüdischer Österreicherinnen und Öster­reicher unsere Gesellschaft enorm und nachhaltig bereichert haben und bis auf den heutigen Tag bereichern. Dem eingedenk wird der österreichische Nationalrat in der Benennung seiner Sitzungsräumlichkeiten auch die Namen großer jüdischer Gelehrter verwenden, um ein öffentliches Zeichen zu setzen. Der Nationalrat, der außer in seiner Funktion im Nationalfonds keine operativen Tätigkeiten ausübt, hat sich vorrangig das Ziel gesetzt, die allgemeine Einstellung, die Haltung, das sogenannte Mindset zum Thema Antisemitismus und Holocaust nachhaltig zum Positiven zu verändern. Wir haben in Österreich ein funktionierendes Verbotsgesetz, wir haben eine Antisemitismusstrategie, und wir haben eine Reihe von würdigen Gedenkveranstaltungen. Was wir zudem benötigen, ist ein breites gesellschaftliches Engagement, das den versteckten, codierten, epigenetisch weitergegebenen, aus der Mitte der Gesellschaft kommenden Antisemitismus auf allen Ebenen bekämpft und ihm wirksam entgegentritt. Die Ergebnisse der Antisemitismusstudie des Österreichischen Parlaments machen deutlich, dass junge Menschen mehr über den Holocaust und zur Zeitgeschichte wissen wollen und das gut ausgebildete junge Menschen weniger antisemitische Stereotype bedienen wie ältere, weniger gebildete Personen. Einmal mehr erweist sich klar, dass Bildung der nachhaltigste Ansatz ist, wenn es darum geht, Antisemitismus wirksam einzudämmen und dafür zu kämpfen, ihn nicht salonfähig werden zu lassen. Deshalb hat das österreichische Parlament im Rahmen seiner Demokratiewerkstätte einen Workshop und verschiedene Unterrichtsmodule mit dem Titel „Bildung

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gegen Vorurteile“ etabliert, wobei das Ziel darin liegt, Heranwachsende darin zu schulen, Vorurteile zu erkennen, darauf sensibel zu reagieren und dagegen aufzutreten. Trotz dieser Anstrengungen kann die Politik im Kampf gegen den Antisemitismus in erster Linie nur Instrumente zur Verfügung stellen, die von allen verwendet und eingesetzt werden müssen. Nachhaltiger Erfolg stellt sich erst dann ein, wenn es uns gelingt, die Zivilgesellschaft auf breiter Basis zu ermutigen, gegen jedwede Form des Antisemitismus aus einer inneren Haltung heraus aufzustehen. Dies gelingt insbesondere durch Bildung, aber auch durch Zivilcourage im täglichen Leben. Genau aus diesem Grund, um das bürgerliche Engagement anzuspornen und zu unterstützen, wurde der Simon-Wiesenthal-Preis ins Leben gerufen.

Der Simon-Wiesenthal-Preis Die Idee, einen Preis für besonderes zivilgesellschaftliches Engagement gegen Antisemitismus und/oder für Aufklärung über den Holocaust ins Leben zu rufen, entstand im Rahmen einer Israel-Reise im Juli 2018. Einer der Programmpunkte war ein Austausch mit der Enkelin Simon Wiesen­ thals, Rachel Kreisberg. In darauffolgenden Gesprächen nahm die Idee dieses Preises immer konkretere Formen an. Der Vorschlag, diesen Preis nach Simon Wiesenthal, dessen Leben im Zeichen der Aufklärung über den Holocaust stand, zu benennen, fand im November 2018 die Unterstützung der Familie Wiesenthal: „Gerade in der heutigen Zeit, in der Rassismus und Antisemitismus zunehmen, in der der Holocaust vermehrt geleugnet wird, ist der Entschluss Österreichs, einen Simon-Wiesenthal-Preis ins Leben zu rufen, von sehr großer Bedeutung“, so Paulinka Kreisberg, Tochter von Simon Wiesenthal. Der Preis sei ganz im Sinne ihres Vaters. Dieser habe immer gegen Antisemitismus und für die Erinnerung an die Opfer des Holocaust gekämpft. Simon Wiesenthal hätte es als eine große Ehre empfunden, dass der Preis seinen Namen trägt, so seine Tochter. Simon Wiesenthal (1908–2005) war einer der außergewöhnlichsten Persönlichkeiten der Zweiten Republik und hat wie kaum ein anderer die Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus weltweit geprägt. Vom Tag seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Mauthausen an machte

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er es sich zur Lebensaufgabe, der Opfer des Naziterrors zu gedenken und die Täter ihrer Taten zu überführen. Seine Waffe war der Rechtsstaat. Wiesenthals Methode war es, die NS-Verbrecher und NS-Verbrecherinnen ausfindig zu machen und vor Gericht zu bringen. Den Grundsatz, dass eine Demokratie mit allen Mitteln gegen Unrecht und ein Verdrängen der eignen Geschichte kämpfen müsse, verfolgte Wiesenthal rigoros. Sein Interesse galt dabei vor allem der Aufarbeitung des Nationalsozialismus, hier setzte er sich auch besonders für eine funktionierende österreichische Nachkriegsjustiz ein. Wiesenthal war ein unbeirrbarer Mahner und Kämpfer gegen den Antisemitismus in einer Zeit, in der die Verbrechen des Nationalsozialismus vielfach verdrängt wurden. Dies verschaffte ihm international viel Anerkennung. Im Nachkriegsösterreich hingegen erlebte er vielfachen politischen Widerstand, insbesondere auch durch den damaligen Bundeskanzler Bruno Kreisky, und Ablehnung gegenüber seinen Bemühungen, die NS-Gewaltverbrechen aufzuklären und die Verantwortlichen strafrechtlich verfolgen zu lassen. Erst spät wurde sein Lebenswerk auch in Österreich sowie international anerkannt und geehrt. Der Simon-Wiesenthal-Preis ist ein weiterer Schritt, um Bewusstsein für dieses Kapitel unserer Vergangenheit zu schaffen, und gleichzeitig soll er das Andenken an den Architekten, Publizisten und Schriftsteller Simon Wiesenthal ehren, der zeit seines Lebens unermüdlich gegen die Gleichgültigkeit gegenüber den Verbrechen des Nationalsozialismus gekämpft hat. Ein entsprechender Gesetzesentwurf wurde am 17. Juni 2020 von ÖVP, SPÖ, Grünen und NEOS eingebracht und am 7. Juli 2020 im Nationalrat beschlossen. Der Grundstein für den Simon-Wiesenthal-Preis wurde so gelegt. Durch eine Novelle des Nationalfondsgesetzes (Bundesgesetzblatt I Nr. 94/2020) wurde der Nationalfonds der Republik Österreich mit der Durchführung zur Verleihung des Simon-Wiesenthal-Preises beauftragt.

Ziel des Preises Ziel der Arbeit der möglichen Preisträgerinnen und Preisträger ist es, das Wissen über den Holocaust aktiv zu vermitteln, zu stärken und zu verbreiten, das Verständnis in der Gesellschaft für die Mechanismen und Folgen des

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Antisemitismus zu schärfen sowie das Bewusstsein für die Gefahren des Antisemitismus in der Gegenwart zu erhöhen. Sensibilität und Verständnis sollen vor allem dort geschaffen werden, wo eine kritische Haltung zum Antisemitismus besonders gefördert werden soll. Besondere Kriterien für die Zuerkennung der Auszeichnung sind u. a.: • die aktive Beteiligung in einem zivilgesellschaftlichen Projekt gegen Antisemitismus; • die aktive kritische Auseinandersetzung mit Antisemitismus; • das besondere Engagement in der Aufklärung über den Holocaust und seine Folgen; • der Einsatz für Maßnahmen, die dem Antisemitismus entgegenwirken. Der Preis wird jährlich an bis zu drei Personen oder Personengruppen als Auszeichnung für ihr besonderes zivilgesellschaftliches Engagement gegen Antisemitismus und für die Aufklärung über den Holocaust verliehen. Der Preis ist jährlich mit insgesamt 30.000 Euro dotiert und wird in zwei Kategorien vergeben: • zivilgesellschaftliches Engagement gegen Antisemitismus (7.500 Euro); • zivilgesellschaftliches Engagement für die Aufklärung über den Holocaust (7.500 Euro). Darüber hinaus wird der Hauptpreis als Auszeichnung für besonderes zivilgesellschaftliches Engagement gegen Antisemitismus und/oder für die Aufklärung über den Holocaust vergeben, der mit 15.000 Euro dotiert ist.

Die Simon-Wiesenthal-Preis Jury Die Jury des Simon-Wiesenthal-Preises setzt sich aus anerkannten Persönlichkeiten des öffentlichen oder kulturellen Lebens im In- oder Ausland sowie Personen mit wissenschaftlicher Reputation auf dem Gebiet der Zeitgeschichte oder in einem anderen einschlägigen Wissenschaftszweig zusammen. Zudem ist der Präsident der Israelitischen Religionsgemeinschaft in Österreich sowie eine Vertreterin oder ein Vertreter der Familie Simon Wiesenthals Teil der Jury. Die Jury schlägt dem Kuratorium des Nationalfonds die möglichen Jahrespreisträgerinnen und -preisträger vor.

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Das Kuratorium des Nationalfonds hat einstimmig folgende Mitglieder für die Jury für die Dauer einer Gesetzgebungsperiode bestellt: Barbara Stelzl-Marx – Universitätsprofessorin für europäische ­Zeitgeschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz, Leiterin des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung, Graz – Wien – Raabs und Vizepräsidentin der Österreichischen UNESCO-Kommission. Katharina von Schnurbein – seit Dezember 2015 Antisemitismusbeauftragte der EU-Kommission, zuvor Beraterin des Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso für den Dialog mit Kirchen, Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften. Wurde von den anderen Jury-Mitgliedern einstimmig zur Vorsitzenden der Jury gewählt. Brigitte Bailer-Galanda – Dozentin für Zeitgeschichte an der Universität Wien. 2004–2014 wissenschaftliche Leiterin des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes, 1998–2003 Stellvertretende Vorsitzende der Historikerkommission der Republik Österreich zur Erforschung von Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigung seit 1945. Monika Schwarz-Friesel – Antisemitismusforscherin und Kognitionswissenschaftlerin an der Technischen Universität Berlin. 2014 erhielt sie für ihre Forschung einen Doctor honoris causa von der Universität Debrecen. Von 2004 bis 2010 leitete sie in Kooperation mit der Brandeis University (Boston, USA) und der Hebrew University of Jerusalem das Projekt „Aktueller Antisemitismus in Deutschland“, von 2014 bis 2020 das von der DFG geförderte Pilotprojekt „Antisemitismen im World Wide Web“. Oskar Deutsch – Seit 2012 Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien und der Israelitischen Religionsgesellschaft Österreich, zuvor war er ab 1999 Vizepräsident. Seit seiner Jugend war Oskar Deutsch ehrenamtlich in diversen Organisationen der jüdischen Gemeinde tätig. Er ist Gründungsmitglied des Sportclubs Maccabi Wien und war Vizepräsident der Maccabi Europa.

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Ariel Muzicant – Bis heute ist er Vizepräsident des Europäischen Jüdischen Kongresses (EJC) und Vorstandsmitglied des Jüdischen Weltkongresses (WJC). Zudem war er von 1998 bis 2012 Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG) sowie von 1980 bis 1994 Gründer und Präsident der Zwi-Perez-Chajes-Schule in Wien. Ariel Muzicant wurde von der Familie von Simon Wiesenthal als deren Vertreter ernannt.

Simon-Wiesenthal-Preis 2021 Im ersten Jahr seines Bestehens sind für den Simon-Wiesenthal-Preis insgesamt 274 gültige Bewerbungen eingelangt, davon 136 aus Österreich. Die anderen Bewerbungen kamen aus 30 verschiedenen Ländern – darunter 28 aus Deutschland, 14 aus Israel, 14 aus den USA; darüber hinaus langten Bewerbungen aus den verschiedensten Staaten Europas, Asiens, Südamerikas, sowie aus Australien und Kanada ein. In ihren Bewertungen achtete die Simon-Wiesenthal-Preis-Jury insbesondere auf das ehrenamtliche Engagement, auf die von den Projekten ausgehende Nachhaltigkeit und ihren innovativen Charakter. Nach Beratung und Abstimmung hat die Jury dem Kuratorium des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus nachstehende Bewerberinnen und Bewerber als Preisträgerinnen und Preisträger für den Simon-Wiesenthal-Preis 2021 vorgeschlagen. In Anbetracht der Tatsache, dass der Simon-Wiesenthal-Preis im Jahr 2021 zum ersten Mal vergeben wird, und unter der Berücksichtigung, dass es heute bedauerlicherweise nicht mehr viele Überlebende des Holocaust gibt, denen man eine Ehrung zukommen lassen kann, wurden für den ersten Hauptpreis des Simon-Wiesenthal-Preises von der Jury einstimmig vier Zeitzeuginnen und Zeitzeugen vorgeschlagen, da ihr Lebenswerk und ihr Dienst an der Gesellschaft eine besondere Würdigung verdienen. Die Genannten, die mit ihrem Einsatz beispielhaft für großes zivilgesellschaftliches Engagement stehen, sollen den Preis stellvertretend für alle Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erhalten. Die Vergabe des Hauptpreises an Einreichungen von Überlebenden der Shoah wird einmalig aus Anlass der ersten Vergabe des Simon-Wiesenthal-Preises vorgeschlagen und soll keinen Präzedenzfall für künftige Vorschläge darstellen. Die Vorgeschlagenen kommen aus vier

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Ländern – Großbritannien, Israel, Österreich, Italien – und haben auf vielfältige Weise ihr Leben in den Dienst der Erinnerung an die Shoah und der diesbezüglichen Bildung gestellt:

Lily Ebert (Großbritannien) Lily Ebert ist eine 97jährige Holocaust-Überlebende und seit den 1980erJahren als Zeitzeugin aktiv. Obwohl die Vergangenheit immer auf ihr lastet, erhebt diese außergewöhnliche Frau bis ins hohe Alter ihre Stimme, um Zeugnis abzulegen, sodass sich dieses Grauen niemals wiederholen möge. Während des vergangenen Jahres hat sie viel Zeit darauf verwendet, Content für Twitter und Tik Tok zu produzieren, um mehr und vor allem junge Menschen zu erreichen. Gemeinsam mit ihrem Enkelsohn Dov hat sie Millionen Menschen erreicht.

Zwi Nigal (Israel) Zwi Nigal wurde 1923 in Wien geboren. 1939 flüchtete er mit der JugendAlijah nach Palästina und kämpfte in der britischen Armee gegen Nazideutschland. Sein Vater wurde im Holocaust ermordet. Seit seiner Pensionierung hält er als Zeitzeuge Vorlesungen vor jährlich durchschnittlich etwa 1.500 Schülerinnen und Schülern in Deutschland und Österreich, 2018 auch an seinem alten Gymnasium in Wien.

Karl Pfeifer (Österreich) Karl Pfeifer wurde 1928 in Baden bei Wien geboren. 1938 floh er mit seinen Eltern nach Ungarn. Ihm gelang die Flucht nach Palästina, von dort kehrte er 1951 nach Österreich zurück. Karl Pfeifer ist journalistisch tätig. Er war von 1982 bis 1995 Redakteur der „Gemeinde“, des offiziellen Organs der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Anfang der 1990er-Jahre und bis 2005 arbeitete er als Wiener Korrespondent des israelischen Radios und als freier Journalist des antifaschistischen Londoner Magazins „Searchlight“ sowie des jüdischen Internetmagazins „haGalil“. Er setzt sich in seiner journalistischen Arbeit stets aktiv gegen Antisemitismus ein.

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Liliana Segre (Italien) Liliana Segre wurde am 30. Januar 1944 gemeinsam mit ihrem Vater nach Auschwitz deportiert. Bei der Selektion wurde Segre für die Arbeit in einem Rüstungsbetrieb ausgewählt, die sie etwa ein Jahr lang verrichtete. Während ihrer einjährigen Gefangenschaft überstand sie drei weitere Selektionen. Ende Januar 1945 musste sie im Zuge der Evakuierung des Konzentrationslagers den Todesmarsch in Richtung Deutschland aufnehmen, ehe sie im KZ Malchow, einem Außenlager des KZ Ravensbrück, am 30. April 1945 befreit wurde. Die 91-jährige Mailänderin ist bis heute als Zeitzeugin im Fernsehen, in Theatern, Schulen und bei Events aktiv. 1997 war sie als Zeitzeugin Protagonistin im Dokumentarfilm „Memoria“, der bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin gezeigt wurde. Sie wurde zu einer der wichtigsten moralischen Autoritäten Italiens. 2018 wurde sie für ihre Verdienste zur Senatorin auf Lebenszeit ernannt; sie ist Präsidentin des Sonderausschusses gegen Intoleranz, Rassismus und Antisemitismus sowie Mitglied im Parlamentsausschuss für das Kinder- und Jugendalter. Seit 2019 steht sie aufgrund zahlreicher Drohungen unter Polizeischutz. Liliana Segre hat bereits zahlreiche internationale Ehrungen erhalten. Sie ist Autorin und Koautorin zahlreicher Artikel und Bücher. Die Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen liegt ihr besonders am Herzen.

Weitere mögliche Preisträger Für den weiteren Preis für zivilgesellschaftliches Engagement für Aufklärung über den Holocaust schlägt die Simon-Wiesenthal-Preis-Jury die „Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz“ vor, eine in Österreich und international anerkannte Forschungseinrichtung, die ganz im Sinne von Simon Wiesenthal tätig ist. Die Jury begründet ihren Vorschlag auch damit, dass die Arbeit der Forschungsstelle der Arbeit von Simon Wiesenthal inhaltlich besonders nahekommt und auch ähnlichen Schwierigkeiten gegenübersteht. Für den Preis für zivilgesellschaftliches Engagement gegen Antisemitismus schlägt die Jury das „Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus“ vor, welches in Deutschland ehrenamtlich großartige Arbeit leistet. Bei Demonstrationen werden vor Ort die verschiedenen aktuellen Erschei-

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nungsformen von Antisemitismus dokumentiert. Die Öffentlichkeit wird über die Gefahren informiert, Aufklärung erfolgt über die Medien ebenso wie durch Bildungsangebote, die sich vor allem auch an junge Menschen richten.

Resümee Das österreichische Parlament hält es für unerlässlich, dass unsere Demokratie gegen gesetztes Unrecht und gegen ein Verdrängen der historischen Wahrheit kämpft, und fühlt sich dazu verpflichtet, die Geschichte der Zweiten Republik kritisch zu beleuchten und dem Antisemitismus, egal in welcher Form er auch immer aufschlägt, entschlossen entgegenzutreten. Es bleibt eine fortwährende und immer wieder neue Aufgabe für uns alle, jede Form des Antisemitismus zu bekämpfen. Unabhängig von Religion, Herkunft, Staatsangehörigkeit und politischer Überzeugung sind die in Österreich lebenden Menschen Träger der verfassungsrechtlich verankerten Grundrechte. Es muss selbstverständlich sein, dass sich Menschen jüdischen Glaubens in unserer Gesellschaft frei bewegen und sicher fühlen können, damit wir schlussendlich alle dieses Grundrecht leben können. Das muss unser gemeinsames Ziel im Sinne einer europäischen, auf einem christlich-jüdischen Fundament ruhenden abendländischen Kultur und ihrer Werte und Traditionen sein. Gemeinsam müssen wir immer wieder aufs Neue dem Ungeist des Antisemitismus die Kraft der Demokratie und einer starken Zivilgesellschaft entgegenstellen – an allen Orten, auf allen Ebenen, online wie offline. Dabei soll der Simon-Wiesenthal-Preis all jene ermutigen und vor den Vorhang bitten, die ein so unermüdliches Engagement im Kampf gegen Antisemitismus und für die Aufklärung über den Holocaust an den Tag legen – für unsere Demokratie, für unser friedliches gesellschaftliches Zusammenleben. Erst wenn Politik, Medien und Zivilgesellschaft bereit sind, jede Form von Antisemitismus zurückzuweisen, erst dann wird sich etwas ändern.

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Literatur Benz, W. (2010). Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Griesser, P., Martino, A. (2019). Antisemitismus in Europa wirksam bekämpfen – Herausforderungen und Maßnahmen. Wien. ÖGfE Policy Brief, 23’2019, https://oegfe.at/wordpress/wp-content/uploads/2019/11/OEGfE_Policy_Brief-2019.23_dt.pdf Kuebler, E. (2005). Antisemitismusbekämpfung als gesamteuropäische Herausforderung: Eine vergleichende Analyse der Maßnahmen der OSZE und der EUMC (Vol. 148). LIT Verlag Münster. Lange, A., Mayerhofer, K., Porat, D. & Schiffman, L. (2019). General Introduction “An End to Antisemitism!”. In: A. Lange, K, Mayerhofer, D. Porat & L. Schiffman (Ed.), Volume 1 Comprehending and Confronting Antisemitism: A Multi-Faceted Approach (pp. 3–12). Berlin, Boston: De Gruyter. https://doi.org/10.1515/9783110618594-003. Mc Clintock, M., & Sunderland, J. (2004). Antisemitismus in Europa. Human Rights First, abrufbar unter: https://www.humanrightsfirst.org/wp-content/uploads/pdf/GR-Antisem-II-web.pdf (Zugriff: 30.01.22). Pelinka, A.: Simon Wiesenthal und die österreichische Innenpolitik. Referat im Rahmen der Tagung „Österreichs Umgang mit der NS-Täterschaft“ anlässlich des 90. Geburtstags von Simon Wiesenthal, Wien, 2./3. Dezember 1998. Link: https://bit.ly/38VuBtj (Zugriff: 30.01.22). Salzborn, S. (2013). Israelkritik oder Antisemitismus? Kriterien für eine Unterscheidung. Kirche und Israel. Neukirchener Theologische Zeitschrift. Schwarz-Friesel, M. (2013). Die Sprache der Judenfeindschaft. Schwarz-Friesel, M. (2015a). Hg., Gebildeter Antisemitismus. Eine Herausforderung für Politik und Zivilgesellschaft. Baden-Baden: Nomos. Schwarz-Friesel, M., 2015b. Aktueller Antisemitismus: Konzeptuelle und verbale Charakteristika. Schwarz-Friesel, M. (2020). Judenhass im Internet: Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl. Special zu Tom Segev „Simon Wiesenthal“. Die Lebensdaten von Simon Wiesenthal. Link: https://bit.ly/3tNwCiY (Zugriff: 30.01.22). Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust Studien. Lebenslauf Simon Wiesenthal. Link: https://bit.ly/2LLnNpp (Zugriff: 30.01.22) Wiesenthal, S. (1995). Recht, nicht Rache. Ullstein. Whine, M. (2014). Combating Antisemitism in Europe. Israel Journal of foreign Affairs, 8.

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alex ander purger

Satirischer Jahresrückblick: Was 2021 zum Glück alles nicht passiert ist Nehmen wir einmal an, irgendwer hätte Ihnen zu Jahresbeginn 2021 vorhergesagt, die ÖVP werde in diesem Jahr drei Stück Kanzler produzieren, Pamela RendiWagner werde zu Jahresende immer noch SPÖ-Vorsitzende sein und die FPÖ werde sich unschätzbare Verdienste um die Entwurmung der Bevölkerung erwerben. – Sie hätten den Propheten glatt der Notfallpsychiatrie überantwortet. Dabei hatte er Ihnen noch gar nicht verraten, dass Graz 2021 in die Hände der Kommunisten fallen wird …

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Man sieht: Es ist unmöglich zu beschreiben, was in diesem Jahr in Österreich passiert ist. Niemand würde einem glauben. Ein Jahresrückblick kann sich daher nur damit befassen, was alles nicht geschehen ist. Nur das hat die Chance, geglaubt zu werden. Lesen Sie selbst: Gleich zu Jahresbeginn wird Bundespräsident Alexander Van der Bellen in die Berufsvereinigung der Erwerbssatiriker aufgenommen. Grund: Er hatte das Neue Jahr mit der Feststellung „Dieses Jahr wird besser“ eingeleitet. Wenig später wird ein weiteres Zitat mit einer schönen Belohnung honoriert: Arbeitsministerin Christine Aschbacher erhält für ihre Dissertation – Zitat: „Annahmen sind wie Seepocken an der Seite eines Bootes; sie verlangsamen uns“ – den Literaturnobelpreis, hat damit finanziell ausgesorgt und verlässt daraufhin die Politik. „Nobelpreise sind wie Luftballone an der Seite einer Gondel; sie erhöhen uns“, sagt sie zum Abschied. Und wenn wir schon bei Zitaten sind: Zu Anfang des Jahres, als Corona-Impfungen noch derartige Mangelware sind, dass nur Bürgermeister eine erwischen können, versucht Bundeskanzler Sebastian Kurz die Menschen mit einem paradeiserroten Vergleich zu beruhigen. „Sie erinnern sich alle noch an die Ketchup-Flaschen, wo man lange gebraucht hat, bis was rausgekommen ist, und dann ist auf einmal ein ganzer Schwall rausgekommen. Ähnlich wird es bei der Impfung sein“, sagt er. Damit sollte Kurz völlig recht behalten. Was er zu diesem Zeitpunkt nicht wissen konnte, ist, dass der beschriebene Ketchup-Effekt nicht nur bei Impfungen, sondern auch bei Vorwürfen gegen ÖVP-Bundeskanzler eintritt. Und das kam so: Als Kurz im Ibiza-Untersuchungsausschuss vorgeladen wird (der sich um alles, nur nicht um Ibiza dreht), grüßt er beim Betreten des Ausschusslokales mit „Grüß Gott“, was empörte Reaktionen der anderen Parteien auslöst. Sie zeigen sich fassungslos darüber, dass der Bundeskanzler die verfassungsrechtlich abgesicherte Trennung von Kirche und Staat mit Füßen tritt, und nachdem sie eine Stunde lang vor Zorn in ihr Taschentuch geweint haben, bringen die Neos bei der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft eine Strafanzeige gegen Kurz wegen der Verbreitung klerikal-faschistischer Propaganda im öffentlichen Raum ein. Die WKStA nimmt umgehend Ermittlungen gegen Kurz und geschätzte 3:000 weitere ÖVP-Politiker auf. Bei einer Aufsehenerregenden Razzia in Kurzens Wohnung beschlagnahmt sie dessen Tagebuch, woraufhin

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wenige Tage später die Bombe platzt: In sämtlichen Printmedien ist ein von der Staatsanwaltschaft selbstverständlich streng vertraulich behandelter Tagebucheintrag von Kurz nachzulesen, in dem es heißt: „O Gott, morgen muss ich in den U-Ausschuss!“ Damit ist nach der Ansicht aller befragten Rechtsexperten (die anderen wurden entweder nicht befragt oder sind keine Experten) der Straftatbestand der Vermengung von Kirche und Staat in Tateinheit mit skandalöser Missachtung parlamentarischer Einrichtungen klar erfüllt. Der Rücktritt von Kurz ist damit nach Ansicht aller befragten Rechtsexperten, Oppositionspolitiker, Politologen und Leitartikler unausweichlich. Als Kurz nach diesem lupenreinen Urteilsspruch dennoch nicht zurücktritt und damit eine unfassbare Missachtung der österreichischen Realjustiz zu erkennen gibt, wird der Ketchup-Hahn etwas weiter aufgedreht und die Vorwürfe sprudeln ab sofort wie aus der preiswerten Familienflasche. So werden weitere Seiten aus seinem (von der WKStA, wie gesagt, streng vertraulich behandelten) Tagebuch veröffentlicht und in der obersten Anklagebehörde – dem Burg­thea­ter – öffentlich zur Verlesung gebracht. Für besondere Empörung sorgen dabei einfach fassungslos machende Tagebucheintragungen wie „Schön, dass endlich wieder einmal die Sonne scheint“ oder „Heute gab’s zu Mittag eine Leberknödelsuppe“. Vor a­llem wegen dieses letzten Eintrags sieht die WKStA nun Gefahr in Verzug und beschlagnahmt sämtliche Tagebücher aus dem Suppendunstkreis der ÖVP. Dabei stellt sich heraus, dass auch Thomas Schmid einen Leberknödel wollte, woraufhin Kurz antwortete: „Kriegst eh alles, was du willst.“ Und Gernot Blümel sagte ergänzend zu Schmid: „Du bist Mitesser.“ Nachdem sie in diesen moralischen Abgrund geblickt haben, rücken nun selbst die grünen Koalitionspartner von Kurz ab und erklären ihn für nicht mehr amtsfähig. Als der von oben bis unten mit Ketchup bekleckerte Kanzler daraufhin immer noch nicht zurücktritt, beginnen die Grünen mit der Opposition über eine Anti-Kurz-Vier-Parteien-Koalition zu verhandeln. Als Kanzlerin ist die selbst in der eigenen Partei zu 75 Prozent hoch angesehene Pamela Rendi-Wagner vorgesehen, die bezüglich der Ressortverteilung nur zwei Wünsche hat: Hans Peter Doskozil möge bleiben, wo der Pannobile wächst, und Herbert Kickl solle nicht Gesundheitsminister werden. Kein

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Problem, heißt es aus der FPÖ: Wie wär’s mit Innenminister? Dann könnte Kickl die Corona-Demos, bei denen er den Einpeitscher gibt, gleich selbst auflösen, was ungeahnte Synergien verspricht. Ein Problem könnte nur sein, dass die Pferde von Kickls berittener Polizei nicht mehr entwurmt werden können, weil er das gesamte Entwurmungsmittel für sich selbst und die sonstigen Impfgegner braucht. Egal. Hauptsache, Kurz ist weg. Die ÖVP reagiert auf die Herausforderung der Anti-Kurz-Koalition wie ein Mann und stellt sich zu 100 Prozent hinter ihren Kanzler, was den Vorteil hat, dass dies eine Position ist, von der aus sie ihn wenige Tage später bequem meucheln kann. Vor die Alternative gestellt, entweder für ihren Parteichef zu kämpfen und deshalb vielleicht in Opposition gehen zu müssen oder Kurz fallen zu lassen und dadurch an der Macht zu bleiben, trifft die ÖVP eine zutiefst menschliche Entscheidung, die von grenzenloser Dankbarkeit für die Leistungen von Kurz für das Wohl der Partei gekennzeichnet ist: Sie zwingt ihn zum Abgang. Die Nachfolgefrage ist schnell gelöst. Die ÖVP erfindet das System des „Kanzlers der Woche“. Jeder kommt einmal dran. Es beginnt – streng nach dem Alphabet – Außenminister Alexander Schallenberg, dann kommt Innenminister Karl Nehammer und so weiter. Bald ist man mit der Regierungsriege durch und die einzelnen Abgeordneten kommen an die Reihe. Bei Redaktionsschluss dieses Buches ist gerade Andreas Hanger der Kanzler der Woche. Er hatte schon davor Wert auf die Feststellung gelegt, kein Satireprojekt zu sein. Und wenn schon: Ehrlich gesagt ist es ja völlig gleichgültig, wer nach Kurz für die ÖVP im Kanzleramt sitzt. Wofür hat man schließlich Landesfürsten, nicht wahr? Am Ende ist Kurz jedenfalls weg, das Virus aber noch da. Nach Experimenten mit einem mittlerweile verstorbenen Babyelefanten gelingt der Regierung im Laufe des Jahres ein genialer Schachzug gegen Corona: Sie setzt einen neuen Gesundheitsminister ein, der sich vom alten dadurch unterscheidet, dass er bei der Angelobung zum dunklen Anzug weiße Turnschuhe trägt. Angesichts dieser modischen Kampfansage an den guten Geschmack reagiert das Virus vollkommen verstört und schlittert in eine Identitätskrise, sodass es fortan in unzähligen Varianten auftritt. Eine der odiosesten erhält den Namen Omikron, was zutiefst abzulehnen ist, da es frauenfeindlich und altersdiskriminierend ist. So etwas Böses wie eine Vi-

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rusvariante kann man nur nach dem Bösesten benennen, was es derzeit auf Erden gibt, und das ist der alte, weiße Mann. Es muss also Opikron heißen. Nicht nur das Virus, auch seine Bekämpfung setzt auf Varianten: 3G, 2G, 2Gplus, 1G, 0G, minus 1G, na geh – wirklich alles wird ausprobiert. Die Österreicher müssen sich auf Komplett- und auch Teil-Lockdowns einrichten, von denen abwechselnd die obere und die untere Körperhälfte betroffen ist. Zwischendurch, wenn die Corona-Experten grad nicht hinschauen, kommt es auch zu behutsamen Öffnungsschritten, nicht aber in der NachtGastroskopie. Gegen die Maßnahmen formiert sich eine neue Freiheitsbewegung, die eine grundlegend neue Form des Liberalismus entwickelt, der auf die Freiheit des Virenschleuderns abzielt. Das ist nur allzu verständlich: Man wird ja wohl noch mit offener TBC auf die Straße gehen und jedem, dem man begegnet, ins Gesicht husten dürfen! Das sind genau die Freiheitsrechte, für die unsere Vorväter gekämpft und geblutet haben! Die Freiheit der Virenverbreitung einzuschränken, führt geradewegs in die faschistische Diktatur und zu einer Spaltung der Gesellschaft, die nicht hinzunehmen ist. Wir sind das Volk! Mein Huster gehört mir! Wir beugen uns nicht den bezahlten Pharma-Agenten von der Ostküste! Und es soll jetzt bitte niemand mit dem Mainstream-Gerede daherkommen, dass TBC eine gefährliche Krankheit sei. Atomwaffen sind viel gefährlicher, und sind die verboten? Na eben. Wir drucken diese kluge Argumentation mit freundlicher Genehmigung von Herbert Kickl ab, der sie entwickelt hat und der es damit 2021 glücklicherweise an die Spitze der FPÖ geschafft hat. Vor ihm saß dort ja dieser Mainstream-ferngesteuerte Norbert Hofer, der meinte, dass sich TBC-Kranke beim Husten die Hand vor den Mund halten sollen. Ein Wahnsinn, so eine Freiheitseinschränkung! Gut, dass dieser Mann weg ist von der Parteispitze. Apropos Parteispitze: Diese hätte beinahe auch Pamela Rendi-Wagner verlassen müssen, nachdem sie am SPÖ-Parteitag die Delegierten nicht restlos überzeugen konnte, sondern ein Rest von 25 Prozent blieb. Aber dann durfte sie doch bleiben, und zwar sozusagen als diskursive Mindestsicherung der Partei. Schließlich haben die diversen Flügel der SPÖ einander wenig bis nichts zu sagen, und Parteitreffen, bei denen keiner was sagt,

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sind irgendwie blöd. Da springt nun Rendi-Wagner als Gesprächsmindestsicherung ein, und immer, wenn sich irgendwo drei SPÖler treffen, haben sie jetzt ein Thema zu bereden, nämlich die Obfraudebatte. Und damit die Partei auf das Thema nur ja nicht vergisst, wurden zwei Regionalverantwortliche ernannt, die nichts anderes zu tun haben, als die SPÖ ständig an die Obfraudebatte zu erinnern. Es sind dies der Regionalverantwortliche Ost, Hans Peter Doskozil, und der Regionalverantwortliche West, Georg Dornauer. Beide machen ihre Sache sehr gut, sodass die SPÖ getrost ins neue Jahr gehen konnte. Und wir alle mit ihr. So, das also ist der Nicht-Stand der Dinge. All das ist 2021 nicht passiert. Oder etwa doch?

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biografien der herausgeber und autoren personenregister sachregister

biografien

Faruk Ajeti, Dr., ist Affiliated Researcher im Österreichischen Institut für Internationale Politik (OIIP) in Wien. Er war Austrian Marshall Plan Visiting Scholar an der Nitze School of Advanced International Studies an der Johns Hopkins University in Washington DC. Dieser Artikel basiert auf einer Dissertation im Institut für Politikwissenschaft an der Uni Wien zum Thema „Die Kosovopolitik Österreichs in den Jahren 1986–1999“, die der Autor vor kurzem abgeschlossen hat. Wolfgang Bachmayer, Meinungsforscher und politischer Analyst, Gründer und Geschäftsführer des OGMInstituts in Wien. Gernot Bauer, Mag. rer. soc. oec., geb. 1970, Studium der Handelswissenschaften an der Wirtschaftsuniversität Wien; Absolvent des Lehrgangs für Magazinjournalismus der Universität Wien und des trend-profilVerlags; seit 1998 Innenpolitik-Redakteur beim Nachrichtenmagazin „profil“; Autor der satirischen profil.atKolumne „Bauer sucht Politik“. In seinen Artikeln widmet er sich nach eigenem Bekunden „dem Innenleben der Parteien und der Lebenswelt der Politiker“. Rudolf Bretschneider, Prof. Dr., geb. 1944, ist ein österreichischer Sozialwissenschaftler, Publizist und Meinungsforscher. Bretschneider hat zahlreiche Publikationen zu Fragen der Sozialforschung, der österreichischen Kultur und Identität in sozialwissenschaftlichen bzw. öffentlichen Organen verfasst. Magnus Brunner, Dr. iur., geb. 1972, stammt aus einem Vorarlberger Familienunternehmen und studierte Rechtswissenschaften in Innsbruck, Wien und London. Durch den ehemaligen Landeshauptmann von Vorarlberg, Herbert Sausgruber, kam er mit der Politik in Berührung. Bei ihm war Brunner Büroleiter und Pressesprecher, bevor er als politischer Direktor in den Österreichischen Wirtschaftsbund nach Wien wechselte. Danach war er von 2007 bis zu seiner Bestellung als Staatssekretär im Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie am 7. Jänner 2020 Vorstand der OeMAG Abwicklungsstelle für Ökostrom AG. Von 2009 bis zur Angelobung der Bundesregierung im Jänner 2020 war Dr. Magnus Brunner auch Mitglied des Österreichischen Bundesrates, ab 2017 auch dessen Vizepräsident. Brunner ist seit 6. Dezember 2021 Bundesminister für Finanzen. Zuvor war er von 7. Jänner 2020 bis 6. Dezember 2021 Staatssekretär im Bundesministerium für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie. Hans Bürger, Mag., Journalist und Buchautor, geb. 1962, Studium der Volkswirtschaftslehre/Nationalökonomie an der Johannes Kepler Universität in Linz, 1985 und 1986 Freier Redakteur der „Kronen Zeitung OÖ“ (Landespolitik und Wirtschaft), seit 1987 beim ORF: Ressortleitung Innenpolitik/EU, (seit 1998) ZiB-Chefkommentator Innenpolitik/EU seit 2000, Live-Berichterstattung von 55 EU-Gipfeln quer durch Europa, 50 Wahlen (NR, BP, EU, LTW). Indra Collini, Magistra, geb. 1970, ist Landessprecherin NEOS Niederösterreich und Präsidentin des NEOS Lab.

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Martin Dolezal, Dr., geb. 1971, Studium der Politikwissenschaft und der Geschichte an der Universität Wien, Habilitation an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Gegenwärtig Senior Scientist am Fachbereich Politikwissenschaft der Paris Lodron Universität Salzburg (PLUS) und Fellow am Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien. Forschungsschwerpunkte: „konventionelle“ und „unkonventionelle“ Formen der politischen Partizipation sowie Fragen des Wahlverhaltens und des Parteienwettbewerbs. Karoline Edtstadler ist Bundesministerin für EU und Verfassung im Bundeskanzleramt. Die Juristin und Richterin wurde 2016 als Expertin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg entsandt. Danach war die gebürtige Salzburgerin als Staatssekretärin im Innenministerium und als ÖVP-Delegationsleiterin im Europäischen Parlament tätig. Felix Ehrnhöfer, Dr., ist seit 2020 Kabinettschef von Bundesministerin Leonore Gewessler. Davor war er stellvertretender Kabinettschef von Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein und von 1991 bis 2005 Direktor des Grünen Parlamentsklubs. Gabriel Felbermayr, PhD Univ.-Prof. MMag., Felbermayr ist seit 1. Oktober 2021 Direktor des Österreichischen Institutes für Wirtschaftsforschung (WIFO) in Wien und Universitätsprofessor an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU). Gabriel Felbermayr wurde im Juni 1976 in Steyr (Österreich) geboren. Nach Studien der Volkswirtschaftslehre und der Handelswissenschaften an der Johannes Kepler Universität Linz ging er an das Europäische Hochschulinstitut in Florenz, wo er mit Aufsätzen zu Wachstum in offenen Volkswirtschaften promoviert wurde. Von 2004 bis 2005 war er Associate Consultant bei McKinsey & Co. in Wien. Von 2005 bis 2008 war er Akademischer Rat an der Universität Tübingen, wo er sich im Fach Volkswirtschaftslehre habilitierte. Von 2009 bis 2010 hatte er einen Lehrstuhl für Internationale Wirtschaft an der Universität Hohenheim (Stuttgart) inne. Von 2010 bis 2019 leitete er das ifo Zentrum für internationale Wirtschaft an der Universität München, wo er auch als ordentlicher Professor für Internationale Wirtschaft tätig war. Von 2019 bis September 2021 führte er das Kiel Institut für Weltwirtschaft als Präsident. Felbermayr hat eine Vielzahl von Artikeln in internationalen wissenschaftlichen Zeitschriften, in Policy Briefs und in Zeitungen veröffentlicht. Antonia Gössinger, geb. 1958, lebt in der Gemeinde Liebenfels/Kärnten, war Chefredakteurin der „Kleinen Zeitung Kärnten und Osttirol“. Seit Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben ist sie freie Journalistin und Kolumnistin. Gössinger ist Trägerin renommierter Journalisten-Preise: des Kurt-Vorhofer-Preises, zwei Mal des Concordia-Preises für den Einsatz für die Pressefreiheit sowie eines Sonderpreises für die Kategorie „Mut“ des Branchen-Magazins „Journalist:in“. Vom Militärkommando Kärnten wurde sie als „Wehrpolitische Kärntnerin des Jahres 2020“ geehrt und vom Land Kärnten wurde Gössinger 2021 mit dem „Großen Goldenen Ehrenzeichen des Landes Kärnten“ ausgezeichnet. Richard Grasl, Mag., geb. 1973, ist Chefredakteur-Stellvertreter der Tageszeitung KURIER. Er leitet dort auch die Online-Plattform kurier.at und verfasst Leitartikel. Grasl hat an der Wirtschaftsuniversität Handelswissenschaften studiert. Seine journalistische Karriere begann im ORF NÖ und führte ihn auch in die ORF-Redaktion der ZiB 2. Von 2010 bis Ende 2016 war er kaufmännischer Direktor des ORF.

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biografien

Patrick Griesser, Mag. MSc. Diplomstudium der Politikwissenschaften an der Universität in Innsbruck und Masterstudiengang in Political Communication an der Universität in Amsterdam; leitete das Büro des Europaabgeordneten Heinz K. Becker, langjähriger Vorsitzender der fraktionsübergreifenden Arbeitsgruppe gegen Antisemitismus im Europäischen Parlament (EP-WGAS) in Brüssel. Er hat bei der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Bekämpfung von Antisemitismus vom 1. 6. 2017 mitgewirkt, die Übersetzung sowie die europaweite Verbreitung der IHRA-Arbeitsdefinition zu Antisemitismus vorangetrieben und zahlreiche Veranstaltungen zu dem Themenbereich auf nationaler und europäischer Ebene organisiert; seit 2020 Referent für Gedenkkultur und die Bekämpfung des Antisemitismus im Büro des ersten Nationalratspräsidenten Wolfgang Sobotka. Dietmar Halper, Dr., geb. 1969, Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Wien, 1994 bis 1996 Rechtsanwaltsanwärter, 1996 bis 2000 Klubdirektor des ÖVP-Landtagsklubs Burgenland; 2001 bis 2008 Landesgeschäftsführer der ÖVP Burgenland; 2008 bis 2020 Direktor der Politischen Akademie der ÖVP; seit 2019 Lektor an der FH Campus Wien; seit 2020 selbstständig im Bereich Analyse – Strategie – Kampagne. Walter Hämmerle, Dr., geb. 1971, ist Journalist und Chefredakteur der „Wiener Zeitung“. Bernhard Heinzlmaier, Prof. Mag., geb. 1960, ist Sozialwissenschaftler sowie Unternehmensberater und in der Jugendforschung tätig. Heinzlmaier ist Mitbegründer des Instituts für Jugendkulturforschung und leitet das Marktforschungsunternehmen T-Factory in Hamburg. Lothar Höbelt, geb. 1956, ao. Univ.-Prof. für neuere Geschichte an der Universität Wien 1997–2021, wissenschaftlicher Leiter des Freiheitlichen Bildungswerkes 2000–2002, einschlägige Veröffentlichungen: Defiant Populist. Jörg Haider and the Politics of Austria (2003), Aufstieg und Fall des VdU. Briefe und Protokolle aus privaten Nachlässen 1948–1955 (2015); Die Zweite Republik und ihre Besonderheiten (2020). David Christopher Jaklin, Mag. Dr. phil., ist unabhängiger Forscher und Affiliated Researcher am Austrian Center for Intelligence, Propaganda and Security Studies (ACIPSS). Er promovierte an der Karl-Franzens-Universität Graz und forschte in einer Reihe von Institutionen zu Themen internationaler Sicherheitspolitik, teils im Rahmen von Kooperationsverträgen mit dem BMLV. Seine Schwerpunkte umfassen hybride Bedrohungen, Desinformation und die Privatisierung von Sicherheit. Zuletzt war er inhaltlich und konzeptionell für das ACIPSS Kooperationsprojekt „Seeking Influence and Power“ mit der Konrad-Adenauer-Stiftung verantwortlich. Karl Jurka, Prof. Dr., seit 1990 Politikberater und freiberuflicher Lobbyist in Berlin und Wien mit Präsenz in Paris. Geschäftsführender Gesellschafter der Jurka P.S.A. GmbH; zuvor zehn Jahre Wahlkampfmanager und Bundesorganisationsreferent der ÖVP; Studienleiter der Politischen Akademie der ÖVP 1978–1980; Studium der Rechtswissenschaften in Wien, Promotion 1977, Verleihung des Titels Professor 2005. Othmar Karas, Dr. M.B.L.-HSG, geb. 1957, Ybbs/Donau, ist ein österreichischer Politiker und seit 1999 Abgeordneter zum Europäischen Parlament. Seit Anfang 2022 ist Karas dessen Erster Vizepräsident. Die Funktion des Vizepräsidenten hatte er bereits von 2019 bis 2021 und von 2012 bis 2014 inne. Karas ist Absolvent der Studien der Politikwissenschaft (Universität Wien) sowie des Europäischen und internationalen Wirtschafts-

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rechts (Hochschule St. Gallen), seit 2007 mit Unterbrechungen als Lektor an österreichischen Universitäten tätig und seit 2013 Ehrenprofessor der Donau-Universität. Seit 1998 ist Karas Präsident des Hilfswerks Österreich. Außerdem ist er Obmann des 2009 von ihm gegründeten überparteilichen BürgerInnen Forums Europa. Karas promovierte 2018 zum Thema „Die europäische Demokratie: Grenzen und Möglichkeiten des Europäischen Parlaments“ und ist unter anderem Herausgeber und Autor mehrerer europapolitischer Fachpublikationen sowie früherer Beiträge zum Österreichischen (2019, 2015) und Steirischen (2014) Jahrbuch für Politik. Andreas Khol, Univ.-Prof. Dr. iur., geboren 1941, Universität Wien für Verfassungsrecht 1969; 1966 bis 1969 Sekretär im Verfassungsgerichtshof; 1969–1974 internationaler Beamter im Generalsekretariat des Europarates; 1972 Tit.ao. Univ.-Prof. Wien; 1974–1992 Politische Akademie der ÖVP; 1971 bis 1973 Betriebsratsobmann im Europarat; 1983–2006 Tiroler Mandatar zum Nationalrat; 1994–2002 Obmann des ÖVP-Parlamentsklubs; 2002–2006 Präsident des Nationalrates; 2005–2016 Obmann des Österreichischen Seniorenbundes; 2016 Präsidentschaftskandidat der ÖVP; 2016 Ehrenpräsident des Seniorenbundes. Meinrad Knapp, geb. 1974, MA, Studium International Relations in Wien und Washington, Moderation von „ATV Aktuell: Die Woche, der politische Wochenrückblick mit Thomas Hofer und Peter Hajek“ und ATV Aktuell. Lektor an der FH Wien der WKW für Journalismus und Medienmanagement. Martin Kocher ist österreichischer Bundesarbeitsminister und karenzierter Professor an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Davor war er Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Höhere Studien in Wien und Präsident des Fiskalrates. Er lehrte und forschte an der LMU München, der Universität von East Anglia, der Universität Amsterdam und der Universität Innsbruck, die ihm das Doktorat in Volkswirtschaftslehre verlieh. Darüber hinaus war er Dekan und Studiendekan in München. Die Forschung von Martin Kocher konzentriert sich auf die Bereiche Öffentliche Finanzwissenschaft, Verhaltensökonomik und Experimentelle Wirtschaftsforschung. Seine mehr als 60 wissenschaftlichen Artikel sind in den wichtigsten Fachzeitschriften der Wirtschaftswissenschaften publiziert. Thomas Walter Köhler, Prof. Dr. phil. MSc, Studien der Geschichte und Publizistik, Kommunikations- und Rechtswissenschaften an der Universität Wien; Sprachdiplome der Universitäten Perugia sowie Santiago de Compostela und Salamanca; arbeitet wissenschaftlich und kunstschaffend sowie als Psycho- und Logothera­ peut (www.lebenmitsinn.at); vielfältige Publikationen zu Geschichte und Politik, Pädagogik und Psychologie; mit Christian Mertens Herausgeber der „edition mezzogiorno“. Andreas Koller, Dr., geb. 1961, seit 1983 innenpolitischer Journalist, ist stellvertretender Chefredakteur, innenpolitischer Ressortleiter und Chef der Wiener Redaktion der „Salzburger Nachrichten“. Er ist Präsident des Presseclubs Concordia, Sprecher von Senat 2 des Österreichischen Presserats, Vorsitzender des Publizistikbeirats des Verbands Österreichischer Zeitungen (VÖZ) und Träger mehrerer Auszeichnungen (Kurt-Vorhofer-Preis, René-Marcic-Preis, Verfassungspreis, „Journalist des Jahres“). Christoph Leitl, langjähriger Präsident der Julius-Raab-Stiftung und des Julius-Raab-Stipendienfonds, Initiator einer Gedenkveranstaltung anlässlich des 120. Geburtstages von Julius Raab im Reichsrat-Sitzungssaal des

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biografien

österreichischen Parlaments, Herausgeber einer Kurzbiografie von Julius Raab sowie eines Anekdotenbüchleins mit ernsten und humorvollen „G’schichterln“ über Julius Raab. Maria Maltschnig, Mag., geb. 1985, studierte Sozioökonomie an der Wirtschaftsuniversität Wien. Nach Tätigkeiten in der Arbeiterkammer, im Bundesministerium für Finanzen und bei den Österreichischen Bundesbahnen wurde sie Kabinettschefin des österreichischen Bundeskanzlers. Seit Herbst 2016 ist sie Direktorin des Karl-Renner-Instituts, der politischen Akademie der Sozialdemokratischen Partei Österreichs. Christian Mertens, Prof. Mag. phil., Studium der Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Wien, freiberufliche wissenschaftliche und journalistische Tätigkeit, 1991–1999 Politischer Referent, seit 1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Wienbibliothek im Rathaus; Mit- und Alleinkurator mehrerer Ausstellungen sowie Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen; mit Thomas Walter Köhler Herausgeber der „edition mezzogiorno“. Paul Mychalewicz, Mag. phil, geb. 1955, Studium der Anglistik und Geschichte an der Universität Wien. Bis 2020 Lehrer an einem Gymnasium. Seit 2016 Lehrbeauftragter an der Pädagogischen Hochschule Wien. Autor von Beiträgen zu historischen und politischen Themen und Gastkommentaren in „Die Presse“, „Wiener Zeitung“, „Der Standard“, „Die Furche“. Publikationen u. a. zur Erweiterung Wiens sowie zu Leopold Kunschak und den christlichen Gewerkschaften. Günther Ofner, Dr. iur., geb. 1956 in Rohr (Burgenland), 1974–1976 Bundesobmann der Union Höherer Schüler; bis 1983 Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Wien; seit 1982 wirtschaftspolitischer Referent der FCG; 1982–1984 Ausbildungsleiter einer Versicherung; 1984–1992 Studienleiter bzw. stellvertretender Direktor der Politischen Akademie mit Schwerpunkt Forschung, Publikationen und Mandatareausbildung; seit 1987 Universitätslektor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien; seit 1985 Mitglied des Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen; 1990–1994 Vizepräsident der Bundesarbeitskammer; ab 1992 stellvertretender Abteilungsleiter im Auslandsbüro der Verbundgesellschaft; 1994 Bestellung zum Mitglied des Vorstandes der BEWAG; ab April 2004 Vorstandsvorsitzender in der UTA Telekom AG; ab März 2005 Vorstand der Burgenland Holding AG und Leiter Mergers & Acquisitions/Strategische Planung der EVN AG; Vorstandsvorsitzender von EVN Macedonia Holding und EVN Albania Holding; seit 2011 Finanzvorstand der Flughafen Wien AG: seit 1981 Herausgeber des „Österreichischen Jahrbuchs für Politik.“ Peter Pelinka, Dr., geb. 1951, Historiker und Politikwissenschaftler, Promotion 1978, Journalist seit 1980, u. a. Chefredakteur der AZ, von „NEWS“ und „FORMAT“, ORF-Moderator von „Zur Sache“ und „Offen gesagt“, 19832011 Lektor am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft der Uni Wien, mehrere Bücher zur österreichischen Zeitgeschichte (unter anderem über Wolfgang Schüssel, Franz Fischler, Heide Schmidt, Franz Vranitzky, Hannes Androsch und Gerhard Zeiler), seit 2015 Gesellschafter und Trainer der Medienberatungsfirma „Intomedia“. Philip Plickert, Dr., ist Ökonom und London-Korrespondent der Wirtschaftsredaktion der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Er war Lehrbeauftragter an der Goethe-Universität Frankfurt.

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Tristan Pöchacker, Mag. iur.; geboren 1995 in St. Pölten; Diplomstudium der Rechtswissenschaften an der Universität Wien; seit 2019 Dissertationsstudium am Institut für Österreichisches und Europäisches Öffentliches Recht an der Wirtschaftsuniversität Wien; 2019–2021 Referent für Recht und Internationales im Österreichischen Gemeindebund; seit 2021 Referent für juristische Angelegenheiten im Büro des ersten Nationalratspräsidenten Mag. Wolfgang Sobotka. Klaus Poier, Univ.-Prof. Dr., geb. 1969, Universitätsprofessor und Institutsvorstand am Institut für Öffentliches Recht und Politikwissenschaft der Universität Graz; 2009–2010 Visiting Fellow am European University Institute in Fiesole; 2003–2005 Mitglied im Österreich-Konvent, als Verfassungsexperte mehrfach beteiligt an weiteren Verfassungsverhandlungen, insbesondere auch bei den Regierungsverhandlungen auf Bundesebene 2013, 2017 und 2019; seit 2015 Mitglied des Stiftungsrates des ORF; ab 2022 österreichisches Mitglied des Beratenden Ausschusses zum Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarats. Julia Preinerstorfer ist seit 2020 Referentin im Kabinett von Bundesministerin Leonore Gewessler. Davor war sie bei NGOs und Interessensvertretungen sowie als freie Journalistin und Kommunikationsberaterin tätig. Manfred Prisching, Univ.-Prof. am Institut für Soziologie an der Universität Graz. Studium der Rechtswissenschaften (Dr. jur. 1974) und der Volkswirtschaftslehre (Mag. rer. soc. oec. 1977); Habilitation für Soziologie 1985. Auslandsaufenthalte u. a. in Maastricht, an der Harvard University und an den Universitäten von New Orleans, Little Rock, Las Vegas. 1997–2001 wissenschaftlicher Leiter der FH Joanneum. Langjähriges Mitglied des Österreichischen Wissenschaftsrates. Alexander Purger, geb. 1965, ab 1988 freier Mitarbeiter und später innenpolitischer Redakteur in der Wiener Redaktion der Tiroler Tageszeitung; seit 1993 innenpolitischer Redakteur der Salzburger Nachrichten; seit 2008 stellvertretender Leiter der Wiener Redaktion; Autor der satirischen Kolumne „Purgatorium“; Autor der Kanzlerbiografie „Offengelegt“ über Wolfgang Schüssel. Susanne Raab, MMag. Dr., ist seit Jänner 2020 Bundesministerin für Frauen und Integration im Bundeskanzleramt. Im Jänner 2021 wurden ihr zusätzlich die Agenden „Familie und Jugend“ übertragen. Seit 5. Jänner 2022 ist Susanne Raab Bundesministerin für Frauen, Familie, Integration und Medien im Bundeskanzleramt. Susanne Raab absolvierte die Studien der Rechtswissenschaften und der Psychologie an der Universität Innsbruck. Anschließend arbeitete sie als Universitätsassistentin am Institut für Zivilrecht an der Universität Innsbruck und als wissenschaftliche Mitarbeiterin am European Centre of Tort Law in Wien. Währenddessen absolvierte sie ihr rechtswissenschaftliches Doktorat mit dem Schwerpunkt europäisches Zivilrecht. Bettina Rausch, geb. 1979, Mag. phil., MBA (Health Care Management), ist Präsidentin der Politischen Akademie der Volkspartei und Abgeordnete zum Nationalrat. Sie war fünf Jahre lang Mitglied des Bundesrates und weitere fünf Jahre lang Abgeordnete zum Niederösterreichischen Landtag. Sie ist Herausgeberin zahlreicher Publikationen, zuletzt des Sammelbandes „Christlich-soziale Signaturen. Grundlagen einer politischen Debatte,“ gemeinsam mit Simon Varga, und des Sammelbandes „Bürgergesellschaft heute. Grundlagen und politische Potenziale“ gemeinsam mit Wolfgang Mazal. Seit 2018 ist Rausch Mitherausgeberin des „Jahrbuchs

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biografien

für Politik“. An der Donau-Universität Krems und an der IMC Fachhochschule Krems ist Rausch als externe Lektorin tätig. Andrea Römmele, Prof. Dr., ist eine deutsche Kommunikationswissenschaftlerin und Professorin an der Hertie School of Governance in Berlin. Neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit arbeitet sie in der Kommunikationsberatung für Parteien und Unternehmen. Franz Schausberger, geb. 1950, Dr. phil., Univ.-Prof. für Neuere Österreichische Geschichte an der Universität Salzburg, 1979–1996 Abgeordneter zum Salzburger Landtag; 1989–1996 ÖVP-Klubobmann; 1996–2004 Landeshauptmann von Salzburg und Landesparteiobmann der Salzburger ÖVP. Mitglied des Ausschusses der Regionen, Sonderberater der Europäischen Kommission, Vorstand des Instituts der Regionen Europas; Präsident des Karlvon-Vogelsang-Instituts; stv. Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats „Haus der Geschichte Österreich“. Paul Schliefsteiner ist Direktor des Austrian Center for Intelligence, Propaganda and Security Studies (ACIPSS). Er studierte Rechtswissenschaften, Geschichte und Philosophie in Graz und International Sicherheit mit Schwerpunkt Terrorismusforschung am George C. Marshall Center. Diverse Publikationen insb. zu Terrorismus und Extremismus im österreichischen Kontext. Wolfgang Sobotka, Mag., geb. 1956, ist Präsident des österreichischen Nationalrates. Von 2016 bis 2017 war er Bundesminister für Inneres der Republik Österreich. Von 1998 bis 2016 war er Landesrat in der niederösterreichischen Landesregierung und hatte von 2009 bis 2016 die Funktion des Landeshauptmann-Stellvertreters inne. Kathrin Stainer-Hämmerle, MMag. Dr., war Politik- und Rechtswissenschaftlerin an den Universitäten Innsbruck und Klagenfurt (IFF) und wechselte 2009 als Professorin für Politikwissenschaft an die Fachhochschule Kärnten, wo sie seit 2019 die Bachelor- und Masterprogramme für Public Management sowie die Forschungsgruppe Trans_space für den gesellschaftlichen Wandel leitet. Wolfgang Steiner, geb. 1962, Mag. Dr. iur., bis 1991 Universitätsassistent am Institut für Verwaltungsrecht und Verwaltungslehre der Universität Linz – JKU; seit 1986 Lehrbeauftragter an der JKU, 1991–2004 Mitarbeiter im Amt der Oberösterreichischen Landesregierung Verfassungsdienst und in der Oö. Landtagsdirektion; 1994/1995 Dienstzuteilung im Bundeskanzleramt Verfassungsdienst; 2004–2009 Vizepräsident und Präsident des Unabhängigen Verwaltungssenats OÖ; seit 2010 Direktor des Oö. Landtags und Leiter der Direktion Verfassungsdienst im Amt der Oö. Landesregierung; Honorarprofessor für Öffentliches Recht der JKU Linz; Mitglied der Österreichischen Juristenkommission; Ersatzmitglied des Menschenrechtsbeirats der Volksanwaltschaft; Autor zahlreicher Beiträge zum gesamten Bereich des Verfassungs- und Verwaltungsrechts mit Schwerpunkt Legistik, Organisationsrecht, Verfahrensrecht und Digitalisierung. Barbara Stelzl-Marx, Univ.-Prof. Dr., geb. 1971, ist Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung und Professorin für europäische Zeitgeschichte der Karl-Franzens-Universität Graz. Stelzl-Marx wurde 2019 als österreichische „Wissenschaftlerin des Jahres“ ausgezeichnet.

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österreichisches jahrbuch für politik 2021

Christian Ultsch, Mag., geb. 1969, ist seit 2004 Leiter des Außenpolitik-Ressorts der Tageszeitung „Die Presse“ und seit 2009 zugleich Chefredakteur der „Presse am Sonntag“. Er schloss sich der „Presse“ 1996 nach einem Studium der Politikwissenschaften, des Völkerrechts und der Volkswirtschaft an. Von 2003 bis 2004 war er Korrespondent in Berlin. Andreas Unterberger, Dr., ist österreichischer Jurist, Politikwissenschaftler und Journalist. Er betreibt seit 2009 unter www.andreas-unterberger.at einen politischen Blog. Er war 14 Jahre lang Chefredakteur der Tageszeitungen „Die Presse“ und „Wiener Zeitung.“ Davor war er Außenpolitik-Ressortleiter der „Presse“, deren Redaktion er 31 Jahre lang angehört hatte. Er hat mehrere Bücher verfasst, zuletzt „Das war 2020 – Lockdown, Freiheit, Migration“. Alois Vahrner, geb. 1966, ist seit 1988 Redakteur der „Tiroler Tageszeitung“, zunächst in der Wirtschaftsredaktion, deren Leitung er später übernahm. 2005 wurde Vahrner stellvertretender Chefredakteur, seit Ende 2008 leitet er zusammen mit Mario Zenhäusern als Chefredaktions-Doppelspitze die führende Tageszeitung Tirols. Vahrner ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter. Michael Völker ist seit der Gründung des „Standard“ im Jahr 1988 Mitglied der Redaktion, er ist Ressortleiter Innenpolitik und Chronik, sowie Chef vom Dienst. Hans Winkler, Dr., geb. 1942, ist ein steirischer Journalist und Redakteur. Alexis Wintoniak, Mag. rer. soc. oec., geb. 1965, Studium der Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien; 1989–1990 Verwaltungspraktikum bei der Europäischen Kommission; 1991–1992 Trainee bei der Vereinigung der österreichischen Industrie; 1992–1994 Studienleiter an der Politischen Akademie; 1995– 2002 Klubsekretär für Außen- und Europapolitik im ÖVP-Parlamentsklub und Internationaler Sekretär der ÖVP-Bundespartei; 1996–2002 Exekutivsekretär der Europäischen Demokratischen Union (EDU); 2000–2002 Generalsekretär-Stellvertreter der Europäischen Volkspartei (EVP); 2002–2006 Leiter des Büros des Präsidenten des Nationalrates; 2005–2008 Leiter des EU- und Internationalen Dienstes der Parlamentsdirektion; seit 2009 Parlamentsvizedirektor; seit 2015 Generalbevollmächtigter für die Sanierung des Parlamentsgebäudes. Werner Zögernitz, Prof. Dr., ist derzeit Präsident des Instituts für Parlamentarismus und Demokratiefragen in Wien. Als langjähriger Parlamentsklubdirektor kennt er das Parlament und seine Arbeit in Theorie und Praxis ausgezeichnet. Er ist Autor der Standardkommentare zu den Geschäftsordnungen des Nationalrates und Bundesrates. Ferner ist er Co-Autor eines Kommentars zum Parteiengesetz 2012 und Verfasser zahlreicher wissenschaftlicher Beiträge über Fragen der Verfassung, des Parlamentarismus und der Demokratie sowie damit zusammenhängender Themen. Schließlich ist er Träger des Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst I. Klasse. Paul M. Zulehner ist emeritierter Pastoraltheologe, Religions- und Werteforscher. Er lehrte zuletzt an der Universität Wien. Die Langzeitstudie Religion im Leben der Österreicherinnen und Österreicher 1970–2020 dokumentiert die Entwicklung der religiösen Dimension einer modernen Kultur über ein halbes Jahrhundert.

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Personenregister Angerer, Erwin 245 Aschbacher, Christine 624 Baerbock, Annalena 109 ff., 287, 303, 319, 342 Bailer-Galanda, Brigitte 616 Blümel, Gernot 9, 51, 312, 338 Bogner-Strauß, Juliane 56 Bourdieu, Pierre 257, 467 Brandt, Willy 124, 234 Chirac, Jacques 545 Dausend, Peter 342 Deleuze, Gilles 256 Deutsch, Oskar 242, 616 Doskozil, Peter 166, 230, 329, 365, 628 Ebadi, Shirin 550 Ebert, Lily 618 Edtstadler, Karoline 56, 305 Esken, Saskia 110, 119, 292 Faßmann, Heinz 40, 55, 94, 154 Faymann, Werner 20, 45, 78, 169, 230, 307 Fischer, Heinz 57, 544 Franziskus, Papst 595, 598 Genscher, Hans-Dietrich 543 Gewessler, Leonore 116, 234, 264, 326 Geywitz, Klara 110 Ghani, Ashraf 287 Goodhart, David 5, 13 Habeck, Robert 112, 119, 292 Haider, Jörg 33, 152, 168 Haimbuchner, Manfred 244 Hansen, Theophil 570 Hofer, Norbert 155, 241 ff., 332 Hofer, Thomas 44 ff., 67, 327 Hohenfellner, Peter 540 Höbelt, Lothar 243, 446 Jandl, Gerhard 540 Kahr, Elke 5, 185 Kalina, Josef 143 Kern, Christian 20, 45, 227, 230

Kickl, Herbert 81, 97, 146, 154, 164, 242, 248, 299, 625 Klasnic, Waltraud 417 Klaus, Josef 7, 145 Kogler, Peter 566 Kogler, Werner 142, 165, 310, 326 Köstinger, Elisabeth 55 Kowanz, Brigitte 567 Kramp-Karrenbauer, Annegret 109, 120, 303 Kreisberg, Paulinka 613 Kreisky, Bruno 7, 151, 488, 538, 614 Kunschak, Leopold 604 Kurz, Sebastian 5 ff., 151, 158, 190, 227, 233, 243, 284, 298, 310, 324 Landbauer, Udo 245 Laschet, Armin 109, 120 ff., 286, 303 Lévy, Bernard-Henri 261 Lindner, Christian 114, 272 Löger, Hartwig 9, 311 Ludwig, Michael 166, 231, 329 Maderthander, Philipp 19, 34 Mansour, Ahmad 549 Marx, Karl 589 ff. Merkel, Angela 105, 304, 339, 426 Merz, Friedrich 114, 303, 319 Milosevic, Slobodan 536 Mitterlehner, Reinhold 27, 252, 306 Mock, Alois 45, 145, 537 Mölzer, Andreas 242 Mückstein, Wolfgang 305, 325, 366, 370 Muzicant, Ariel 617 Nehammer, Karl 82, 91 f., 286, 307, 327, 626 Nigal, Zwi 618 Patterer, Hubert 144 Pfeifer, Karl 618 Pilnacek, Christian 159 Pilz, Peter 150, 158 Pink, Oliver 144 Plassnik, Ursula 42 Pröll, Josef 88 Raab, Julius 151, 584 f.

Rendi-Wagner, Pamela 89 Renner, Karl 179 Riess, Susanne 242 Rohan, Albert 538 Ronzheimer, Paul 33 Schallenberg, Alexander 81, 87, 165, 626 Schäuble, Wolfgang 107, 120, 304 Schieder, Andreas 138, 231 Schmid, Thomas 76, 307, 312, 625 Schnurbein, Katharina von 616 Schramböck, Margarete 55 Schröder, Gerhard 106, 124, 304 Schulz, Martin 106 Schuman, Robert 395 Schüssel, Wolfgang 145, 151, 169, 543 Schwarz-Friesel, Monika 616 Segre, Liliana 619 Söder, Markus 111, 120, 286, 304 Spalowsky, Franz 605 Spindelegger, Michael 20, 36, 44, 498 Steckholzer, Martina 566 Steinbrück, Peer 106, 319, 337 Steiner, Stefan 51, 88 Steinmeier, Walter 112, 303 Stelzer, Thomas 480 Stelzl-Marx, Barbara 616 Stocker, Esther 566 Stoiber, Edmund 111 Strache, Heinz-Christian 20, 54, 65 ff., 155, 190, 248, 338 Strauss, Franz-Josef 111 Svazek, Marlene 245 Taus, Josef 489, 544 Tito, Josip 175 Trump, Donald 5, 287, 346 Tutter, Kurt 27 Van der Bellen, Alexander 51, 73, 89, 164, 624 von der Leyen, Ursula 401 von Schnurbein, Katharina 616 Vranitzky, Franz 167 f., 231, 541 Waldheim, Kurt 167, 539 ff. Wiesenthal, Simon 609 ff. Wipplinger, Hans-Peter 566 Wolf, Siegfried 143 Zadić, Alma 159, 413

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Sachregister 3-G-Regel 366 Afghanistan 287, 319, 598 Agora 562 Aktion 2000 63 Alterung 526, 532 Ampelkoalition 116, 292, 339 Amtsgeheimnis 412, 417 Ann-Arbor-Modell 118 Anreizkompatibilität 517 Anti-Ausländer-Thema 243 Antislawismus 181 Anti-Zionismus 610 Arbeitskräftepotential 525, 528 Arbeitslosenquote 514, 553 Arbeitslosenversicherungsreform 530 Atomkraft 428 Baden-Württemberg 117 Barrierefreiheit 560, 581 Berliner Mauer 287 Besatzungsmacht 179 Bestechlichkeit 77, 142, 285 Beweiserhebungsverfahren 131 Black Lives Matter 444 Black-Out 422 Böckenförde-Diktum 13 Bruttoinlandsprodukt 238, 505 Budgetkonsolidierung 510 Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung 63, 212 Bürgergesellschaft 3, 13, 492 f. Cancel Culture 14, 442 f., 445 f. Centesimus annus 494 Charisma 151 Chat-Affäre 498 Chianti-Koalition 168 CO2-Bepreisung 86, 226, 273, 513 Compassionate Conservativism 158 Corona-Kommission 367 Corona-Kurzarbeit 523 Corona-Welle 120 Cybersecurity 422 Debattenkultur 4, 447 Dekarbonisierung 234, 277, 512

Demografische Entwicklung 525, 531 Demokratiebildung 559 Digitale Transformation 528 Dirty Campaigning 48 ff., 94 EG-Troika 539 Elektromobilität 427 Ellbogengesellschaft 236 Energiepolitik 423 ff. Entpolitisierung 214 f. Erneuerbaren Ausbaugesetz 267 EU-Budget 395 ff. Europäische Arzneimittelagentur (EMA) 394 Europäischer Auswärtiger Dienst (EAD) 353 European Jewish Congress 28 Extrapolation 288 Fallbeil-Effekt 435 Feldexperiment 479 Fiskalpolitik 512 Florianiprinzip 420 Flüchtlingskrise 38, 230, 292, 332 Fratelli tutti 595, 597 Galionsfigur 242 Geheimhaltungsschutz 205 Gemeinwohlpolitik 597 Generalsanierung 558 ff. Green Deal 73, 401 große Koalition 45, 114, 124, 147 Hochwasser 302 Hospiz- und Palliativversorgung 414 Ibiza-Affäre 170, 449 Ideologiedefizit 488 Impfbereitschaft 304, 367 Impfgegner 10, 123, 243, 426, 459, 626 Impfpflicht 285, 319, 354, 372, 495 Industrieproletariat 590 Inflationsrate 288, 512 Inklusion 560 Inseratenaffäre 142 Integrationsgesetz 554 Internationalismus 234 Jamaika-Koalition 123 Jugoslawische Volksarmee (JNA) 537

Katastrophenprävention 378, 385 Katholische Soziallehre 599 Kette des Seins 598 Kinderehe 551 Klassenkampf 187, 604 Klimabonus 73, 275, 512 Klimaneutralität 280 Körperschaftssteuersatz 277 K-Rezession 506 Kulturwandel 420 Kultusgemeinde 28, 242, 616 Kurzarbeit 9, 291, 514, 522, 596 Landflucht 587 Langzeitarbeitslose 336, 514 Laudato sí 595 Lebensstil 461, 467 Legislaturperiode 75, 113, 332 481 Lobautunnel 260, 298, 326 Marxismus 183, 487 Mehrjähriger Finanzrahmen 395 Migrationshintergrund 548 f. Mismatch 524 f Mitgliederbefragung 231 Mittel-Parteien 106 Modernisierungsverlierer 335 Neokonservativismus 489 f. Nettozahlerdebatte 397, 399, 407 Netzausbau 424 Next Generation EU 394 ff. Notstandsgebiet 385 Notstandshilfe 516, 530 ÖBAG 142, 313 Oberlandesgericht Wien 213 öffentliche Meinung 434 Ökologische Transformation 528 Ökosoziale Steuerreform 6, 80, 268, 271 Österreichischer Integrationsfonds (ÖIF) 549 Österreich-Konvent 382 Parlamentssanierung 560 Parteibindung 118, 478 Plan A 45 Plastikpfand 265 Pleitewelle 291, 344 Polis 11 Pop-Kultur 463 Postmaterialismus 489

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Prager Frühlings 1968 537 public watchdog 419 QAnon 355 Quellenschutz 206 Raab-Kamitz-Kurs 584 Räterepublik 606 Rechtspopulismus 259 Rechtsschutz 203, 21 refugees welcome 501 Regierungskontrolle 127 Regionale Mobilität 525 Rerum novarum 587 ff. Richtungsgewerkschaften 602 ff. Rudeljournalismus 337 Safe Spaces 445 Saisonarbeitskräfte 523 Salzburger Programm 488 f. Schweigespirale 452 Shoah 610 ff. Silicon Valley 37, 43 Sinus-Milieus 468 f. Sonntagsfrage 118, 436

Soziale Frage 587 ff. Soziale Heimatpartei 248 Sozialpartnerschaft 145, 531, 584 Spanische Grippe 363 Staatsräson 29, 166, 373 Standortpolitik 72, 277, 513 Sterbeverfügungsgesetz 414 Strafprozess-Reform 156 Subsidiaritätsprinzip 362 f. Suizid 411 f. TBC 627 Telegram 349, 354 ff. Transphobie 443 Triell 110 Tür-zu-Tür-Kampagne 477 U-Ausschuss 142, 625 Überschusssterblichkeit 505 Übersterblichkeit 508 f. Ukraine-Konflikt 42 Ukraine-Krise 6 Ungarnkrise 1956 537 Unschuldsvermutung 8, 195 ff., 305, 326

Unterstellungssausschuss 197 Verschwörungstheorie 161 Versorgungssicherheit 421, 422 ff. Vertrauensverlust 213, 296, 495 Vorkrisenniveau 327, 507, 510, Vranitzky-Doktrin 163, 168 f. VUCA (volatil, uncertain, complex, ambiguous) 118 Wahlkampfexperiment 477 Wasserkraft 423 f. Wertekompass 169 ff. Wertesynthese 461 Wertewandel 455 ff. Westbalkan 20, 39, 86, 355 Wirtschaftsund Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) 8, 83, 142, 159, 164, 285, 311, 624 Zivilgesellschaft 94, 267, 405, 414 Zoon politikon 32 Zwangsheirat 551 f.

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