Stückeschreiben: Claus Hammel, Heiner Müller, Armin Stolper [Reprint 2021 ed.] 9783112591727, 9783112591710


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German Pages 240 [241] Year 1982

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Stückeschreiben: Claus Hammel, Heiner Müller, Armin Stolper [Reprint 2021 ed.]
 9783112591727, 9783112591710

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Gottfried Fischborn

Stückeschreiben

Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Gottfried Fischborn

Stückeschreiben Claus Hammel, Heiner Müller, Armin Stolper

Akademie-Verlag • Berlin 1981

Die Rechte an den vom Verfasset verwendeten Zitaten aus Interviews liegen bei den Autoren.

Erschienen im Akademie-Verlag, DDR-1080 Berlin, Leipziger Straße 3—4 Lektor: Jutta Kolesnyk © Akademie-Verlag Berlin 1981 Lizenznummer: 202 • 100/170/81 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 4450 Gräfenhainichen • 5652 Bestellnummer: 753409 3 (2150/60) • LSV 8013 Printed in GDR DDR 7,50 M

Inhalt

Einleitung

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Claus Hammel - die „arbeitende Subjektivität" eines Dramatikers im Verhältnis zu Wirklichkeit und Theater „Rom oder Die zweite Erschaffung der Welt": Ideal und Wirklichkeit, Individuum und Gesellschaft Aneignungshaltung und Tätigkeit: Freundlichkeit, Strategiebewußtsein, Gelassenheit Widerspruch und Übereinstimmung: Autor und Theater . . Heiner Müller - die ,Wirklichkeit des Autors" in der Realität: Intention, Aneignung, Tätigkeit Ausgangspunkt „Zement": Analyse, Aneignung, Tätigkeit Zur Aufnahme des Stückes Analyse des ersten Teils Exkurs: Das heroische Pathos der Revolution Fortsetzung der Analyse des ersten Teils Antike-Aneignung und Autorenhaltung Das tragische Pathos der Revolution und die neue Lehrstück-Konzeption „Betroffenheit" als Aneignungshaltung und das Schreiben „aus der Mitte heraus" Analyse des zweiten Teils Historisierung des „Innenraums" Das tragische Moment „Die Schlacht" und „Traktor": Intention, Aneignung, Funktionsverständnis Die ursprüngliche „Schlacht" - Relationen zu Brecht . . Die konkrete deutsche Erscheinungsform 5

19 19 26 39

43 43 45 45 46 50 52 56 59 66 75 83 91 96 96 102

„Traktor": Weiterführen des „subjektiven Problems" . . Ein künstliches Fragment „ . . . der ein Autor noch ist und nicht mehr sein kann" . . Das Publikumsproblem Armin Stolper: Selbstentdeckung der künstlerischen Subjektivität Ausgangspunkte Selbstentdeckung der künstlerischen Subjektivität durch das Theater und im Widerspruch zu ihm Aneignungshaltung und poetische Konzeption in der Entwicklung. „Klara und der Gänserich" - zur Dialektik von Verlust und Gewinn. „Der Schuster und der Hahn" . . . .

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127 127 128

139 164

Zur Aneignungsweise des Dramatikers: Hypothesen Die Fragestellung. Abstrakter und konkreter Inhalt des Dramatischen Das Beispiel Volker Braun. Paradoxon des Dramatikers . . Belege und Varianten. Der historisch-konkrete „Spielraum" der dramatischen Aneignungsweise

164 172

Anmerkungen

199

Personenregister

236

178

Einleitung

Das Arbeitsverfahren: komplexe

Autorenbefragung

Zwischen Mitte Dezember 1973 und Ende Januar 1975 haben meine Kollegin und Mitarbeiterin Gerda Baumbach und ich fünfzehn Dramatiker der Deutschen Demokratischen Republik ausführlich nach ihrer Arbeit befragt. Es waren, geordnet nach der mehr oder minder zufällig zustande gekommenen Reihenfolge der Interviews: Volker Braun, Rudi Strahl, Horst Kleineidam, Heiner Müller, Armin Stolper, Rainer Kerndl, Peter Hacks, Siegfried Pfaff, Gerhard Rentasch, Claus Hammel, Günther Rücker, Helmut Baierl, Benito Wogatzki, Joachim Knauth, Rolf Schneider.1 An der Vorbereitung und Durchführung des Interviews mit Peter Hacks war Rolf Rohmer beteiligt. Rund 70 Stunden Tonbandaufnahmen, protokolliert auf über 1500 Manuskriptseiten, dokumentieren das Ergebnis. Die durchschnittliche Dauer der Gespräche betrug reichlich vier Stunden. Gefragt wurde nach dem Prozeß der künstlerischen Wirklichkeitsaneignung in seiner ganzen Komplexität, vor allem auch nach dem individuellen Arbeitsprozeß des Dramatikers als Methode und Verlaufsform der Tätigkeit des Stückeschreibens. Die Fragen betrafen das unmittelbare Wirklichkeitsverhältnis im Schaffensprozeß; die Methode der künstlerisch-dramaturgischen Verallgemeinerung im Zusammenhang mit der poetischen Konzeption; die Traditionsaneignung; Organisation, Verlaufsformen und Techniken des eigentlichen schriftstellerischen Arbeitsprozesses; die Aneignung für ein (Theater-) Publikum in der Dialektik von Struktur und Funktion des Kunstwerks Drama; das unmittelbare Tätigsein als Partner des Theaters. Nahezu im gleichen Umfang wurde jedoch auch die Widerspiegelung der gesellschaftlichen und - im engeren Sinne - sozialen Bedingungen ihres Schaffens im Bewußtsein der interviewten Autoren erfragt, also ihr individuelles Wertsystem und ihre Ansichten zu zentralen politischen, weltanschaulichen, ethisch-moralischen und natürlich ästhetischen Fragen. In gründlicher Vorbereitung auf die einzelnen Interviews 7

wurde der allgemeine Fragespiegel in Beziehung zur Persönlichkeit, zu dein vorliegenden Werk und der Talentspezifik unseres jeweiligen Partners akzentuiert, so daß sich das Eingehen auf die Individualität und das Prinzip der - relativen! - Vergleichbarkeit auf der Grundlage der genannten Parameter miteinander verbinden konnten. Das Grundmodell der Interviews war also weder soziologischer Natur — Stückeschreiber sind keine soziale Gruppe noch folgte es dem Brauch üblicher „Werkstattgespräohe"; am ehesten ließe es sich vielleicht in die Rubrik „vergleichende Persönlichkeitsforschung" einreihen - wenn man denn auf eine Rubrik aus wäre. Dieses Modell enthielt zunächst nicht weniger als 68 Fragen. Nicht alle haben sich bewährt, so daß nach den ersten Erfahrungen zwanzig bis dreißig von ihnen wieder fallengelassen oder nur dem einen und anderen Dramatiker gestellt wurden, dessen Werk und Arbeitsweise sie entsprachen. Vielfach ließen sich mehrere Anliegen in einer Frage zusammenfassen, so wie umgekehrt mehr summarisch formulierte Fragen in der konkreten Gespräohssituation sich des öfteren weiter differenziert haben. Hier setzte sioh gelegentlich die Abneigung des künstlerisch aneignenden Menschen durch, auf allgemein-theoretische Probleme in allgemeiner Weise einzugehen. Das war von uns, als wir das Interview-Modell erarbeiteten, zu wenig beachtet worden; was man hätte wissen können und auch zu wissen glaubte, mußte doch erst erfahren werden. Jedoch heißt das nicht, daß die Autoren keine Neigung zum theoretischen Reflektieren verspürt hätten, sobald dieses nur vom konkreten Kunstwerk oder von der eigenen, unmittelbaren Arbeits- und Lebenserfahrung ausgehen und wiederum in sie einmünden konnte. Das Gegenteil ist wahr: Das Streben nach Bewußtheit über das eigene künstlerische Tun und seine Gesetzmäßigkeiten ist bei den Stückeschreibern unseres Landes sehr stark ausgeprägt, auch das nach Mitteilung darüber und Austausch. Es hat ja in einigen markanten Fällen - wie zum Beispiel bei Peter Hacks - zu regelrechten Künstler-Ästhetiken geführt; andere wieder, und das zu erfahren war erregend für uns, haben solche Ästhetiken auch, wenn nicht auf dem Papier, so doch in den Köpfen. D a ß dieses Bedürfnis - jedenfalls nach Aussage fast aller befragten Autoren - in den vorhandenen gesellschaftlichen Organisationsformen unserer Literaturbewegung (etwa im Dramatik-Aktiv des Schriftstellerverbandes) nicht immer genügend Befriedigung findet, erklärt uns vorrangig das starke Interesse, das außerordentliche Entgegenkommen, auf die wir mit unserem Unternehmen trafen. Wenn

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ein Dutzend der fünfzehn Befragten eigens aus Berlin nach Leipzig kam, weil dort die besten tontechnischen Möglichkeiten gegeben •waren, ist das dafür ein Symptom. Diese erstaunlichen Reaktionen haben uns ermutigt und bewegt. Über den wissenschaftlichen Ertrag hinaus sind uns vielfache Anregung und Bereicherung, sind uns die Begegnungen mit Persönlichkeiten, die die dramatische Kunst und das Theater der D D R mitgeprägt haben, zu unvergeßlichen Erlebnissen geworden. Am Beginn der vorliegenden Arbeit muß der Dank an die genannten Autoren stehen.

Theoretische und methodologische

Grundlagen

Gegenstand der Arbeit ist die Subjektivität von Künstlern, die dramatische Literatur produzieren, betrachtet und erschlossen von der tätigen Seite ihrer künstlerischen Aneignung der Realität. Der häufig verwendete Begriff Atieignungshaltung geht von der durch Beobachtung und Befragung gestützten Hypothese aus, daß sich beim einzelnen Künstler die Aneignung der Realität als Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozeß zu einer besonderen, individuellen und über längere Zeiträume - manchmal ein Leben lang - stabilen Grundhaltung verdichtet, in der er seine aneignende Tätigkeit unternimmt. Der dazu komplementäre und gleichzeitig umfassendere Begriff ist der der Aneignungsweise, der die von der Aneignungshaltung ausgehende Einheit von Methode und künstlerisch-praktischer Tätigkeit bezeichnen soll. Als „arbeitende Subjektivität" begreifen wir im Anschluß an Dieter Sellenstedt und Volker Braun zum einen die praktische schriftstellerische Tätigkeit in ihrer individuellen Verlaufsform, zum anderen aber - und vor allem! - die Aneignungshaltung und -weise sozialistischer Künstler, bei der auf die eine oder andere Weise, und mindestens tendenziell, Lebenstätigkeit und künstlerische Arbeitstätigkeit, politisches und künstlerisches Handeln zusammenfallen: „Das Politische ist als menschliche Haltung Substanz des heutigen Gedichts, mit dieser Haltung steht oder fällt es; eine wirklich .arbeitende Subjektivität' (Dieter Schlenstedt) kommt ohne sie nicht aus. Und diese Haltung gewinnt und hat der Dichter nicht nur als Dichter." 2 Die Spezifik der künstlerischen „Aneignung dieser Welt" 3 im Unterschied zu den anderen Formen geistiger bzw. sinnlich-geistiger Aneignung, insbesondere zur wissenschaftlichen, ist in permanenter Diskussion. Ausgangspunkt sind dabei immer wieder die grundlegenden, 9

allseits bekannten Gedanken Karl Marx' aus den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten und vor allem aus seiner Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie.4 Woligang Heise hat in einer tiefgründigen Kritik der Fragestellung immanent nachgewiesen, daß diese Hinweise in erster Linie Orientierungspunkte für ein Arbeitsprogramm, nicht nur Anlaß immer neuer Deduktionen sein sollten. Eine Ausbildung der These von der Kunst als Aneignung der Wirklichkeit zu einer praktikablen Theorie sei nur möglich, „wenn diese These als Arbeitsprogramm verstanden und am Stoff der Künste historisch und systematisch durchgeführt und verifiziert wird, die Aneignung in bezug auf die sinnlichen und kommunikativen Medien, Formen und Funktionen als innerer notwendiger Zusammenhang nachgewiesen und als Aspekt der historisch-gesellschaftlichen Selbsterzeugung der Menschen durchsichtig gemacht wird". 5 Genau in diesem methodischen Verständnis und genau dazu versucht diese Arbeit, einen spezifischen Beitrag zu leisten. Den systematischen Diskussionsstand zur generellen Spezifik künstlerischer Aneignung, wie er etwa in der Polemik zwischen Kagan und Kuczynski sehr plastisch hervortritt, versuchen wir dabei immanent zu berücksichtigen.6 Komplizierter ist zu beschreiben, was wir unter „Aneignung" in bezug auf unseren Gegenstand verstehen wollen. Die Versuchung ist natürlich groß, diesen Begriff einfach zu gebrauchen und über ihn nur in der Zusammensetzung mit „ästhetisch" oder „künstlerisch" oder „dramatisch-theatralisch" zu reflektieren, nicht aber in seiner allgemeinen Bedeutung - so wie das in den marxistischen Kunstwissenschaften durchweg und wie selbstverständlich geschieht.7* Marx unterscheidet zwar verschiedene Formen, in denen sich das menschliche Bewußtsein die Wirklichkeit aneignet, aber gibt - und darin besteht vermutlich die allseits umsegelte Klippe - keine zusammenfassende Definition dieser Formen. In den Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie und im Kapital beschäftigt sich Marx mit dem Aneignungsprozeß im Bereich der m a t e r i e l l e n Produktion und Zirkulation. Er beschreibt ihn als einen gesellschaftlichen Prozeß, in dem durch materiell-produktive Arbeit als den „Stoffwechsel" des Menschen mit der Natur 8 die in der Natur vorgefundenen Naturstoffe und -kräfte umgeformt werden mit dem Ziel, sie in den Dienst produktiver und konsumtiver Bedürfnisbefriedigung zu stellen („Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse" 9 ) wobei der kapitalistische Aneignungsprozeß zur Aneignung fremder Arbeit durch die Kapitalistenklasse führt, während sich im Sozialis10

mus die arbeitenden Klassen die Früchte ihrer vergesellschafteten Arbeit als Ganzes aneignen und nach dem sozialistischen Leistungsprinzip verteilen können (Aneignungsgesetz des Sozialismus). 10 Die Aneignungsformen des menschlichen Bewußtseins und der Aneignungsprozeß in der materiellen gesellschaftlichen Produktion sind natürlich nicht ohne weiteres vergleichbar. Die allen gemeinsamen Merkmale bestehen offensichtlich erstens in der Umformung des Anzueignenden durch menschliche Tätigkeit zum Zwecke seiner Inbesitznahme mit dem Ziel der Befriedigung produktiver und konsumtiver menschlicher Bedürfnisse, zweitens in seiner damit verbundenen tieferen Erkenntnis und drittens in der wie immer erfolgenden „Vergegenständlichung" der Arbeit und des Produzenten im Produkt. Immerhin gibt es, soweit wir sehen, von Marx e i n e generelle Definition der „Aneignung" - in der freilich, im Jahre 1844, noch nicht die historisch-materialistische Basis, der materiell-produktive Aneignungsprozeß, als solche betont wird und die zudem ganz vom Individuum ausgeht, also die Aneignung noch nicht als gesamtgesellschaftlichen Prozeß erfaßt: „Der Mensch eignet sich sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art an, also als ein totaler Mensch. Jedes seiner m e n s c h l i c h e n Verhältnisse zur Welt, Sehn, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben, kurz, alle Organe seiner Individualität, wie die Organe, welche unmittelbar in ihrer Form als gemeinschaftliche Organe sind, sind in ihrem g e g e n s t ä n d l i c h e n Verhalten oder in ihrem V e r h a l t e n z u m G e g e n s t a n d die Aneignung desselben. Die Aneignung der m e n s c h l i c h e n Wirklichkeit, ihr Verhalten zum Gegenstand ist die B e t ä t i g u n g d e r m e n s c h l i c h e n W i r k l i c h k e i t ; sie ist daher ebenso vielfach, wie die menschlichen W e s e n s b e s t i m m u n g e n und T ä t i g k e i t e n vielfach sind; menschliche W i r k s a m k e i t und menschliches L e i d e n , denn das Leiden, menschlich gefaßt, ist ein Selbstgenuß des Menschen." 11 Neben der gerade für die ästhetische, speziell die künstlerische Aneignung so wesentlichen Betonung der Allseitigkeit, der Sinnlichkeit und der Vielfältigkeit menschlicher Aneignung fällt besonders auf, daß Marx geradezu die Aneignung der menschlichen, d. h. gesellschaftlichen Wirklichkeit mit ihrer B e t ä t i g u n g - verstanden als Verhalten zum anzueignenden Gegenstand - i d e n t i f i z i e r t . Diesen Grundgedanken gab Marx später bei seiner Durchdringung des materiellen gesellschaft11

liehen Produktionsprozesses nicht auf: „Das Eigentum, soweit es nur das bewußte Verhalten . . . zu den Produktionsbedingungen als den s e i n e n ist, das Dasein des Produzenten also als ein Dasein in den i h m g e h ö r i g e n objektiven Bedingungen erscheint, wird erst verwirklicht durch die Produktion selbst. Die wirkliche Aneignung geschieht erst nicht in der gedachten, sondern in der tätigen, realen Beziehung auf diese Bedingungen."12 Wenn das Eigentum erst durch die Produktion selbst verwirklicht wird, die Aneignung zuerst als Tätigkeit geschieht, Aneignung menschlich-gesellschaftlicher Wirklichkeit und ihre Betätigung zusammenfallen, so liegt darin die Verpflichtung, auch die Subjektivität künstlerisch aneignender Individuen vor allem aus ihrer wirklichen Tätigkeit zu erschließen. Das gilt (um so mehr, als beim sozialistischen Künstler das künstlerisch-aneignende und das tätig-praktische Verhalten zum wichtigsten „Gegenstand" - der sozialistischen Lebenspraxis - in der Tendenz mehr und mehr zusammenfallen.

Die einzelnen Autoren und das Problem der Aktualität Diese Arbeit entstand 1975/76 als Dissertation B der Karl-MarxUniversität Leipzig. (Das Autorreferat erschien Anfang 1978 unter dem Titel Künstlerische Subjektivität und Wirklichkeitsaneignung in der Zeitschrift Theater der Zeit) Am Beginn der achtziger Jahre liegt sie als Buch vor. Dennoch wurde auf eine tiefgreifende Umarbeitung verzichtet. Drei Gründe waren dafür maßgebend: Erstens: In der Mitte der siebziger Jahre war in der Literatur- und Kunstentwicklung der DDR ein Prozeß bereits in vollem Gange, der wenig später treffend als fortschreitende „ästhetische Emanzipation" bezeichnet wurde 13 und der seine Wurzeln letztlich in der neuen Phase der sozialistischen Revolution seit dem VIII. Parteitag der SED hat. Dieser Prozeß hat sich bis heute - alle neuesten Erfahrungen, Akzente und auch Widersprüche eingeschlossen - kontinuierlich fortgesetzt. Worum es dabei in erster Linie ging und noch geht, hat Robert Weimann, ganz in Übereinstimmung mit den Ergebnissen dieser Arbeit, erst kürzlich noch einmal prägnant ausgedrückt, als er davon sprach, daß innerhalb der Verkehrsformen zwischen Kunst und Publikum das „Selbst-Entdecken" gegenüber dem „Gezeigt-Bekommen", das Nachdenken gegenüber dein Beweis, 12

die „Einladung zur Diskussion" gegenüber der „Einweisung der Leser" im letzten Jahrzehnt stärker hervorgetreten seien.14 Zweitens: Dem ordnet sich auch die besondere, in ihrer Bedeutung wachsende Rolle der künstlerischen Subjektivität zu; das war 1975 schon deutlich genug erkennbar, konnte daher auch so erfaßt und dargestellt werden. Dabei fiel vor allem auf, daß einerseits die unmittelbar aktive, entdeckerische, in den offenen Widersprüchen unserer Gesellschaftsentwicklung engagierte Rolle der künstlerischen Subjektivität von den untersuchten Dramatikern recht prononciert hervorgehoben wurde, was nicht zuletzt auch mit den Besonderheiten der Gattung und des Theaters zusammenhängt - und daß andererseits doch gerade dies ganz überwiegend aus dem Prinzip der tätigen, parteilichen Übereinstimmung mit der sozialistischen Lebenspraxis erwuchs und also das Gegenteil der Empfehlungen darstellte, die ein Garaudy den Künstlern im Sozialismus geben möchte. Wenn das subjektive Pathos in den Werken sozialistischer Künstler verstärkt aus der dialektischen Einheit von Parteilichkeit und - im Sinne von Marx und Brecht - kritischer Haltung erwächst, so ist das, auch wenn Mißverständnisse nicht ausgeschlossen sind, ein Gewinn für die Einheit von Künstlern und Partei. (Daß sich das subjektive Weltverhältnis bei einem der behandelten Hauptautoren vorübergehend bis zur Weltanschauungskrise entwickelte 2 , ist eine andere Frage und übrigens in der Literaturgeschichte kein neues Phänomen; wir kommen darauf zurück.) Drittens: Die Arbeit zielt vorrangig auf theoretische Ergebnisse oder Diskussions-Anregungen: zur Theorie der künstlerischen Subjektivität und der des künstlerischen Produzierens, zur Theorie des Dramas und des Theaters. Darauf gründet sich die Hoffnung, daß die hier demonstrierte Methode einer Untersuchung tätiger Künstler wie auch die wesentlichen inhaltlichen Ergebnisse - die u. E. durch die Entwicklung tendenziell bekräftigt, nicht widerlegt wurden - dem Risiko des moralischen Verschleißes einigermaßen entgehen konnten. Die primär theoretische Zielsetzung heißt nun freilich ganz und gar nicht, die im einzelnen untersuchten Autoren, ihre spezielle Aneignungsweise, ihre hier analysierten Stücke seien nicht auch für sich genommen einer der wesentlichen Zwecke der Arbeit! Eines ist ohne das andere nicht zu haben. Deshalb bleibt auch die Methode in den ersten drei Kapiteln streng induktiv. Theoretische Aspekte und Zusammenhänge werden in ihnen dort erörtert, wo sie 13

sich aus dem Gang der Einzeluntersuchung ergeben; sie mögen daher nicht immer rasch aufzufinden sein. Erst das letzte Kapitel stellt die Frage nach Wesen, Gesetzmäßigkeiten und dem „Spielraum" der dramatisch-theatralischen Aneignungsweise und ¡ihres Zusammenhangs mit der künstlerisch aneignenden Subjektivität in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft generell - in Verbindung mit der Gattungsentwicklung. Die poetisch-dramaüurgische Praxis, die Untersuchungen der ersten drei Kapitel und die Anhaltspunkte aus den Interviews ermöglichen nicht mehr - aber sie ermutigen immerhin dazu! - als den Versuch, ein Teilsystem von Arbeitshypothesen dem Meinungsstreit zu übergeben. Die drei Dramatiker, die wir im Sinne der „arbeitenden Subjektivität" bei ihrer Arbeit zu beobachten versuchten, verlangten je nach Individualität, Arbeitsweise, vorliegendem Werk, Materiallage und eigenen Absichten durchaus differenzierte Methoden der Untersuchung. Bei Claus Hammel kam es in erster Linie - im Zusammenhang mit seinem Stück Rom oder Die zweite Erschaffung der Welt und mit ausgewählten Aspekten seiner schriftstellerisch-praktischen Tätigkeit - darauf an, seine allgemeine politisch-ästhetische Aneignungshaltung im Ensemble der dramatischen DDR-Literatur zu würdigen. In den Untersuchungen zu Armin Stolper beobachteten wir vor allem die Arbeit eines Autors an sich selbst, die widerspruchsreiche Profilierung und „Selbstentdeckung" einer künstlerischen Subjektivität im Entwicklungsprozeß mehrerer Jahre. Darüber hinaus wird an den Beispielen Stolpers und Hammels betrachtet, wie sich im historisch konkreten Feld Individualität und Subjektivität von Dramatikern mit dem Theater und im Widerspruch zu ihm - in der Dialektik von Übereinstimmung, Widerspruch und widerspruchsvoller Übereinstimmung - ausprägen. Natürlich ist das Risiko des teilweisen Veraltens in überdurchschnittlichem Maße gegeben, sobald zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung lebendige Kunst-Produzenten gemacht werden, die glücklicherweise auch in der Zeit zwischen dem Erarbeiten und dem Erscheinen einer solchen Studie weiterproduzieren. Doch haben sich bei diesen beiden Autoren Grundpositionen und Entwicklungstendenzen, wie sie hier beschrieben werden, in den folgenden Jahren weiter bestätigt bzw. entfaltet. Daher konnte, so reizvoll das auch gewesen wäre, darauf verzichtet werden, neueste Stücke wie beispielsweise Hammels Humboldt und Bolivar oder der Neue Continent oder Stolpers Concerto dramatico nachträglich in 14

die Untersuchung einzubauen, was deren ganzes inneres Gefüge verändert und vor allem auch den historisch-genetischen Entwicklungspunkt, auf den es ja gerade ankam, verwischt hätte; der Verlust, der in diesem Verzicht liegen mag, scheint um so eher verschmerzbar, als die hier behandelten Stücke, wenngleich inzwischen keine theatralischen Novitäten mehr, auch für sich genommen u. E. wichtig genug sind, über zwei bis drei Theaterspielzeiten beträchtlich hinauszureichen. Künstliche, der fortschreitenden Entwicklung bloß hinterherjagende „Aktualisierung" würde vielleicht nur verhindern, d a ß die konkreten Stückanalysen zu Beginn der achtziger Jahre bereits als ein Beitrag zur Geschichte der dramatischen Literatur und des Theaters der D D R gelesen werden können. Dies gilt erst recht für das Kapitel über Heiner Müller - bei dem die Dinge komplizierter liegen. Dieser Teil der Arbeit dokumentiert den Entwicklungsstand des Autors bis etwa 1976. Wir haben uns nach reiflicher Überlegung entschlossen, es auch in diesem Fall im Prinzip dabei zu belassen, weil wir von der Hoffnung ausgehen möchten, daß die danach einsetzende weltanschaulich-politische Krise des Dichters von vorübergehender Natur sein wird, und eben deshalb durchaus das herausstellen möchten, was zuletzt an produktiver, an sozialistischer Kunstkonzeption erkennbar war. Immerhin konnte und mußte bereits Ende 1975 das Verhältnis des Autors zu seinem Publikum - und das heißt letztlich: zur ihn umgebenden Gesellschaft - als der neuralgische Punkt seiner ganzen Konzeption bestimmt werden, der diese, wie wir schrieben, „schließlich bis zu einem Extrem" treiben könnte, „das ihre Produktivität eines Tages in Frage stellt". 15 Ungefähr bis zum genannten Zeitpunkt ergab sich aus Heiner Müllers Schaffen ein Impuls, sich gleichsam mit allem Ernst, auch die Verluste nicht übersehend, auf die große Kompliziertheit, Widersprüchlichkeit und Langfristigkeit des menschheitlichen Weges zum Kommunismus einzustellen - und gleichzeitig doch die Ermutigung, sich dabei immer als Subjekt, als Produzent der Geschichte zu fühlen. So konnte seine Arbeit als ein spezifischer, wesentlicher Beitrag angesehen werden, den Erbauern der neuen Gesellschaft etwas von dem zu vermitteln, was man historisches „Strategiebewußtsein" nennen könnte - ein Begriff, der im ersten Kapitel dieser Arbeit genauer begründet wird. Bei aller schon sichtbaren Problematik war doch die dialektische Polarität von tragisch akzentuiertem „Weltempfinden"' (Kagan) 16 u n d Verwurzelung in der proletarisch-revolutionären 15

Tradition eines „operierenden" bzw. „eingreifenden" Theaters bei Müller mindestens bis zu Schlacht/Traktor keineswegs identisch mit Geschichtspessimismus, so daß es nicht besonders schwierig war, den Autor noch 1977 gegen einen solchen, bereits damals gelegentlich geäußerten Vorwurf in Schutz zu nehmen. 17 Müllers Konzeption verlor aber zunehmend die Qualität und die Souveränität einer sozialistischen Wirkungsstrategie, als seine Aneignungshaltung der „Betroffenheit" von der realgeschichtlichen Komplexität und Widersprüchlichkeit des weltrevolutionären Prozesses allmählich überging in allgemeine Skepsis und bei einem Text wie Hamletmaschine schließlich in einen Geschichtspessimismus, der, ohne damit identisch zu sein, wesentliche Berührungspunkte zu dem von Adorno haben dürfte. 18 Aus Betroffenheit wurde hier Verzweiflung, aus dem „kathartischen" Gefühlsstau der bloße Schock, aus der szenischen Extremsituation immer häufiger die des nackten Grauens, aus dem Menschen als Subjekt seiner Geschichte das anthropologistisch gesehene Ausgeliefertsein der Maschine Mensch an nicht beherrschbare, deformierende Zwänge. Zum Zeitpunkt, da diese Zeilen geschrieben werden, kreist anteilnehmende Sympathie gegenüber der Entwicklung eines großen Talentes um die Frage, wohin Müller von dem durch Hamletmas chine markierten Punkte aus gehen wird. Mögen sich jene Grundlagen der Biographie, der politischen Erfahrung, der künstlerischen Tätigkeit durchsetzen, die es Heiner Müller ermöglicht haben, über Jahrzehnte hinweg — bei allem Umstrittensein - die Geschichte des Theaters und der Literatur der D D R als Dichter der Arbeiterklasse mitzugestalten! Eine solche Erwartungshaltung scheint durch ein neues Stück des Autors legitimiert zu werden: Der Auftrag, ein vielschichtiger, von Reflexionen durchsetzter dramatischer Text nach Motiven aus Anna Seghers* Erzählung Das Licht auf dem Galgen. In dieser Erinnerung an eine Revolution die klassische der Bourgeoisie - wird geschichtlich-revolutionäres Handeln als objektive Möglichkeit der historischen Entwicklung wie als solche des einzelnen Subjekts gewiß auch problematisiert, noch mehr jedoch u. E . behauptet, verteidigt und tradiert. Hier wird letztlich der revolutionäre Auftrag nicht auf-, sondern weitergegeben. Außer bei fünfzehn Dramatikern der Deutschen Demokratischen Republik bedanke ich mich bei allen Freunden und Genossen, die mir mit Rat und Unterstützung, durch Gutachten oder durch praktische Förderung dieser Publikation geholfen haben - ganz besonders jedoch bei Frau Dr. Gerda Baumbach, den Herren Professoren 16

Dr. Rolf Rohmer und Dr. Claus Träger, bei Herrn Gerhard Wolfram, bei Frau Dr. Gudrun Klatt sowie bei Frau Lisa Lemke und Frau Regina Winkler. Und ich bedanke mich bei meiner Frau. Leipzig, Juli/August 1979

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Stückeschreiben

Gottfried Fischborn

Claus Hammel die „arbeitende Subjektivität" eines Dramatikers im Verhältnis zu Wirklichkeit und Theater „Rom oder Die zweite Erschaffung der Welt": Ideal und Wirklichkeit, Individuum und Gesellschaft Claus Hammel, vom Verfasser dieser Arbeit als ein „politischer Autor der siebziger Jahre" angesprochen, reagierte zur Verblüffung des Interviewers heftig ablehnend: „Ich bin nicht der politische Autor der siebziger Jahre - was immer damit gemeint sein mag." 19 Hammel fürchtete, von „einer geschmäcklerischen Ästhetik" als Produzent von „Gebrauchskunst" im Unterschied zur „eigentlichen" oder „wahren" Kunst (die dann offenbar nicht so gebraucht werde, wie er ironisch anmerkt) abgestempelt zu werden.20 Das sind gewiß realistische, auf Erfahrungen beruhende Befürchtungen. Doch entstand der Eindruck, daß Hammel nicht von dem umfassenden Verständnis einer politischen Kunst ausging, wie es vor allem Brecht und mit ihm die gesamte sozialistische Kunsttradition entwickelt hat, oder daß es ihm mindestens im Augenblick des Gesprächs nicht gegenwärtig war. Tatsächlich gehört Claus Hammel zu jenen DDR-Dramatikern, die von sich sagen, daß ihnen Brecht nie zum Problem, zum eigentlichen Schaffens-Problem geworden sei. 21 Brechts Einfluß auf seine Person beschreibt Hammel nicht von Seiten der künstlerisch-praktischen Tätigkeit des Stückeschreibens, sondern als allgemeine, emotional vermittelte ästhetische Anregung: als das durch Brecht offenbarte Erlebnis, wie vollständig Vernünftiges in Ästhetisches umschlagen, wie s c h ö n ein Gedanke dargeboten werden kann. 22 Entscheidend jedoch bleibt, daß Claus Hammel „seine künstlerische Begabung in den Dienst einer von ihm für richtig erkannten Politik" stellen will. 23 Er will „Miturheber" von „Aufklärung und Erkenntnis" sein, die sich aber in der Kunst zu unterscheiden hätten von bloßer „Würdigung, Illustration und Kommentierung gesellschaftlicher Prozesse". Als Schriftsteller möchte er „auch Lehrer" sein, jedoch durchaus, mit Lessing als Vorbild, als „ein Mann der Philosophie". 24 * Haltung und selbst Wortschatz solcher Aussagen - sie klingen wie 2*

19

ein Kommentar zum Messingkauf - deuten darauf hin, daß Hammel dem Brechtschen Erbe tiefer verpflichtet sein könnte, als er selbst anzugeben weiß. Möglicherweise haben Stückeschreiber wie Stolper oder Kerndl oder eben Hammel Brecht nur in dem Sinne nicht „durchgemacht", wie man die heimatliche Landschaft nicht „durchmacht": Man wächst in ihr auf. Bei den Dramatikern der DDR verpflichtet der sozialistischen Kunsttradition im Brechtschen Sinne durchdringt das Politische durchweg Methode und ästhetische Position, auch noch dort, wo (was bei Hammel nicht der Fall ist) Brecht als „veraltet" empfunden, oder dort, wo mit geschichtlicher Notwendigkeit neue, weiterführende Aufgaben formuliert werden. Sogar die Sorge Claus Hammels, zugunsten einer anachronistischen Trennung von „seriöser" und „Gebrauchskunst" als „politischer Autor" beansprucht zu werden, fände wohl ihre solideste Untermauerung in den Notaten zum Puntila. In diesem Sinne isoll versucht werden, Claus Hammels Stück Rom oder Die zweite Erschaffung der Welt als das Werk eines politischen Autors von heute - also der siebziger Jahre - zu betrachten. Dabei geht es uns weniger um die Werkanalyse als solche - die weitgehend bereits durch die öffentliche Diskussion nach der Rostocker Uraufführung erbracht wurde 25 - , als vielmehr um die „arbeitende Subjektivität" (Volker Braun) des Autors, die, indem sie „die Verhältnisse bewußt angeht", Poesie a 1 s Politik betreibt. So bekommt Hammel zuletzt doch recht: „Die politische Dichtung wird die jetzige Dichtung überhaupt, man braucht sie nicht mehr so zu nennen, weil die Dichtung insgesamt aus ist auf die Macht der Menschen über ihre Verhältnisse." (Braun) 26 Die Macht der Menschen im realen Sozialismus über ihre Verhältnisse - so könnte man gleichermaßen Thema und Wirkungsabsicht der Komödie Rom umreißen. Der Autor zeigt, wie heute und hier neue Produktions- und Lebensverhältnisse geschaffen und in diesem Prozeß menschliche Wesenskräfte angeeignet werden. Das A b b i l d ist so strukturiert, daß es zugleich auch S i n n b i l d und E n t w u r f ist. Der Plan der Genossenschaftsvorsitzenden Victoria Remer zur Gründung einer Stadt aus mehreren Dörfern versinnbildlicht nicht allein den endgültigen Abschied von der „Idiotie des Landlebens" (Marx), sondern darüber hinaus überhaupt die „zweite Erschaffung der Welt" im Sozialismus - also die historische Selbstbefreiung der Arbeiter und Bauern, die die noch vorhandenen ökonomisch-materiellen und subjektiv-moralischen Grenzen der eigenen 20

Produktivität (nachdem die prinzipiellen sozialökonomischen und politisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen längst geschaffen sind) ständig weiter hinausschieben. Doch zum Zeitpunkt der Stückhandlung, 1972, ist die Gründung von Agro-Städten keine allgemeingesellschaftliche, landwirtschaftspolitische Aufgabe. 27 Die Vision der Remer wird dennoch Stück für Stück zu Realität, sie wirkt objektiv stimulierend auf das Durchsetzen industrieller Produktionsmethoden, einer großzügigen Betriebswirtschaft, „stabsmäßiger" Leitungsmethoden (wie es im Stück heißt) und schließlich auf den Kampf um eine konsequente, weitreichende Kooperation mehrerer Dörfer, den wir in der Gegenwartsebene der Stückhandlung verfolgen. Die „fixe" Idee Victorias wirkt vor allem subjektiv, als Stimulans des Handelns der Menschen; sie ist nicht nur dem Zuschauer oder Leser, sondern auch den Gestalten des Stücks Symbol 28 * einer Zukunfts-Wirklichkeit, die als reale Gegenwarts-Möglichkeit tätig-praktisoh von ihnen selbst entdeckt und geschaffen werden kann. Sie ist die „Aussicht auf eine Lebensform, die unserer Arbeitsweise entspricht", wie der Parteiarbeiter Schoknecht sagt.29 Ein Dorf mit dem originellen Namen Rom bei Parchim gab Hammel die Anregung für seinen Stücktitel. Das mecklenburgische Dorf Rom in der künstlerischen „Wirklichkeit des Autors" (Heiner Müller) zeigt das in b e i n a h e allen Dörfern der D D R b e i n a h e Mögliche - in dem „beinahe" steckt die Pointe. D e r Parteifunktionär Schoknecht, ein Nachfahr Fritz Weilers, der nach einem schweren Herzinfarkt seine Gesundheit in ländlicher Idylle wiederfinden soll bei „Kulhkettenrasseln, Hühnergackern und Nebel, der morgens von den Zweigen tropft", wählt sich dafür dieses Dorf, in -dem er 1960 mit Argumenten und Lautsprechergedröhn, mit Härte und Geduld die Genossenschaft gegründet hatte. Sein Erstaunen über das, was er vorfindet, vermittelt sich auch als kommunikativer Effekt; wir staunen mit Schoknecht, der das doch alles selbst angerührt hat, daß es so etwas tatsächlich geben soll: „Der Witz ist ja, dies ist einfach fällig. Und trotzdem fragt man sich, was steckt dahinter." Im sechsten Bild des Stücks geht Schoknecht der Frage nach. Er will von dem realpolitischen „Bremser" und Parteisekretär Erle wissen, was man eigentlich wie und warum getan hat, als man, von Victoria Remer inspiriert, daran ging, den Unterschied zur Stadt und die Differenz zur herrschenden Arbeiterklasse einzuebnen. Schoknechts Verblüffung, was alles s c h o n möglich ist („Masseninitiative, Wettbewerb, örtliche Reserven"), auch wenn man gleichzeitig 21

erfährt, was alles n o c h n i c h t möglich ist - diese Verblüffung ist in der Tat der Witz, der Humor an der Sache; als Ermutigung überträgt sich der Impuls auf den Rezipierenden: Ermutigung zum Selbstbewußtsein im praktisch-geschichtlichen Handeln. Hier ist die Quelle des Kcwnödischen in Hammels Stück: Der Widerspruch zwischen Schein und Sein tritt bei Aneignung des neuen Gegenstandes in eine neue Qualität ein. Der Schein trügt nicht, und das nur „scheinbar" Unglaubliche - das wir oft nur deshalb nicht mehr sehen oder wahrhaben wollen, weil wir es selber täglich machen! - antizipiert künftiges Sein. Scheinbare Utopie erweist sich als das schon beinahe Mögliche, als das mit Händen Greifbare - und doch, unter unseren Bedingungen, als abhängig von schöpferischer Phantasie, von starker Individualität, vom Verhalten aller Mitglieder der Gemeinschaft. Auch dieses Rom wird nicht an einem Tage erbaut, doch viele Wege führen dahin. Indem Hammels „Römer" Tag für Tag an einer Stadt bauen, die sie zu 'ihren Lebzeiten als solche vielleicht nicht mehr erleben werden und die dann, wie Erle meint, möglicherweise auch nicht Rom sein und heißen wird, nehmen sie einen Teil der „morgigen Freuden" (Makarenko) voraus.30* So ist Victoria Remers Stadt-Vision, zumal sie konfrontiert wird mit dem jeweils gangbaren nächsten Schritt und der Summe des gegenwärtig Machbaren, poetische Metapher für die als prozessuale Annäherung mögliche Vereinbarkeit von Ideal und Wirklichkeit - nicht aber einfach wörtlich zu nehmen als generelle „Annahme Hammels über die Art und Weise der Annäherung von Stadt und Land unter sozialistischen Verhältnissen", was dann freilich, wie Lennartz/Wieck schreiben, eine „verblüffend äußerliche Annahme" wäre. 31 Seit Mitte der sechziger Jahre umkreist ein qualitativ gewichtiger Teil der DDR-Dramatik dieses Verhältnis von Ideal und Wirklichkeit im real existierenden Sozialismus. Peter Hacks' Moritz Tassow gab ein intellektuell angelesenes Verständnis der Marxschen Frühschriften - das sich in die geschichtliche Praxis einmischen will, indem es sie arrogant ignoriert - in seiner Gefährlichkeit dem tödlichen Gelächter der Komödie preis, gleichzeitig die wirkliche Praxis des Sozialismus der pragmatischen Mittelmäßigkeit bezichtigend. In eine ähnliche Richtung zielten später, auf sehr unterschiedliche Weise, Volker Brauns Die Kipper und Christoph Heins Schlötel oder Was solls - allerdings ohne den bei Hacks zuletzt genannten Akzent. Die kritikwürdigen Helden dieser drei Stücke, fernab von Schwarzweißmalerei, vertraten dennoch partiell, das gesellschaftliche Ideal auch 22

einbringend, reale kommunistische Ziel- und Wertvorstellungen; beim Kipper Paul Baiuch, dessen Figurenaufbau dem Prinzip der dialektischen Negation der Negation folgt,32 können sie schließlich - so wird angedeutet - in der realen Praxis produktiv werden. In Heiner Müllers grandiosem szenischen Menschen- und Gesellschaftsbild Der Bau wurde der Bau des Sozialismus als bereits unmittelbare Realisierung der kommunistischen Perspektive, als eine ihrer Etappen erfaßt. Nach Ansicht mancher Interpreten allerdings - nicht nach unserer - habe Müllers Darstellung - den Widerspruch von Weg und Ziel (innerhalb der Einheit dieser beiden Seiten) produktiv-parteilich historisierend - zur Folge gehabt, daß der Kommunismus zum Teil als eine Art End- oder I d e a l - Z u s t a n d der Schwierigkeit gegenwärtiger Arbeiten für ihn gegenübergestellt werde.33 Sein Stück Zement ergab: „Der Kommunismus ist eine Arbeit, unsre." Auch Helmut Baierls Langer Weg zu Lenin orientierte auf den langen Weg der Geschichte als die alltägliche Tat zahlloser Revolutionäre. Erik Neutsch stellte die Frage Haut oder Hemd in seinem leider wenig erfolgreichen Schauspiel sehr praktisch anhand der Umgestaltung einer ganzen Landschaft und der Tätigkeit einer Prognose-Kommission - die Alternative, für die Gegenwart o d e r für die Zukunft zu leben und zu arbeiten, zurückweisend. Peter Hacks wiederum, fest auf dem Boden einer angeblich „postrevolutionären" Gesellschaft stehend, gelangen in seinen mythologisch-poetischen Märchenspielen aus einer gewissen (wie Hermann Kähler anmerkt) „wolkigen Höhe" beglückende poetische Formulierungen34 unseres realhumanistischen Menschenbildes, wobei „fröhliche Resignation"35 die Spanne zwischen niemals möglicher Erfüllung und ständiger Annäherung kenntlich macht. Dieser unvollständige, umrißartige Überblick verdeutlicht, daß Hammel in Rom die Dialektik von Ideal und Wirklichkeit mit der von uns beschriebenen Konstellation in einer sehr eigenständigen, nämlich ausgeprägt freundlich-ermutigenden Art und Weise ästhetisch-dramaturgisch erfaßt hat. „Einerseits sind Ideal und Wirklichkeit nicht voneinander zu trennen, andererseits ist allen Idealen ein antizipierendes Moment eigen." (Träger)36 Dieser Gedanke wird in der Komödie Rom dramaturgisch-praktisch, indem durch Victorias Stadt-Idee die Antizipation zur Lebenstätigkeit der Menschen innerhalb der Stückhandlung wird.37 Freundlichkeit und Ermutigung heißen aber nicht Verniedlichung oder Idyllisierung. Gewinn und Verlust stehen im Stück nah beiein23

ander, der Preis des Erreichten und des Erreichbaren wird genannt. Schoknechts Lebenserwartung steht auf dem Spiel, wenn er mitspielt - wenn er sich hineinziehen läßt in das Geschehen in diesem Nicht-inehr-Dorf Rom und schließlich gar Verantwortung übernimmt. Siggelkow, sein Arzt, gibt eine Antwort: „Aber Ziel ist jeden Tag." Es ist die einzig zulängliche und doch auch wieder unzulängliche Antwort für den, der an der Verkürzung des eigenen Lebens schmerzhaft die Differenz zwischen dem individuellen Dasein und dem des sozialen Kollektivs verspürt. Das steht etwa dem weit stärker tragödisch akzentuierten „Welteinpfinden" (Kagan) Heiner Müllers in seinem Stück Zement so fern nicht. Und es ist nicht unpolemisch gemeint: „Mir war es um eine gerechte, produktive Behauptung des individuellen Anspruchs des Menschen unserer Gesellschaft zu tun, um das Subjektive. Und um das Unlösbare bei allem Lösbaren."38 In der gegenständlichen und kompositorischen Struktur der durchgehenden Handlung39* wird dieses Anliegen noch stärker als bei Schoknecht am Verhalten der Victoria Ramer demonstriert. Auf dem Höhepunkt ihrer Erfolge geht sie aus Rom fort und läßt damit das Werk 'ihrer letzten zwölf Lebensjahre im Stich, ohne jemandem außer Schoknecht eine Erklärung dafür zu geben: Als dieser die Genossenschaft gründete, wurde Victoria von dem Mann verlassen, den sie liebte. Soweit es den in diesem Punkt konstruiert wirkenden Begründungen des Stücktextes zu entnehmen ist, wollte er am liebsten Arbeiter in der Stadt sein, zur Not auch Bauer, auf keinen Fall aber Genossenschaftsbauer. Jedenfalls war Victorias gesamtes Handeln lange Zeit dadurch motiviert, daß sie dem Manne, um ihn zurückzugewinnen, eine Stadt schaffen wollte. Nun aber ist die Illusion nicht mehr aufrechtzuerhalten, und Victoria will sie nicht durch eine neue ersetzen: daß privates Glück automatisch durch Wirken für die Gesellschaft ersetzbar wäre. Der Schluß ist, entsprechend der „freundlichen" Grundhaltung von Stück und Autor, versöhnlich: Victoria Remer, die auch durch Schoknecht Unersetzbare, kehrt zurück nach Rom, das e r r e i c h b a r e Glück bewußter wahrzunehmen und zu genießen die Chance, als eine Art „Weltbäuerin" zu sich zu finden. Die Motivation des Leistungsverhaltens dieser zentralen Gestalt des Stückes ist in der öffentlichen Diskussion immer wieder angezweifelt worden40 - bis zu einem gewissen Grade berechtigt, wenn zugleich berücksichtigt wird, daß gerade darin mittelbar ein grundlegender historischer Tatbestand und Widerspruch ästhetisch reflektiert wird. Wie Marx in der Kritik des Gothaer Programms entwik-

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kelt hat, eröffnet das in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft unumgängliche Leistungsprinzip einen historisch k o n k r e t e n , d. h. auch relativen Spielraum der Persönlichkeitsentfaltung, der - obgleich unendlich viel größer als im Kapitalismus - noch nicht vergleichbar ist mit jener Phase, da die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben kann: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.41 Ohne bürgerlichen bzw. revisionistischen Theorien vom „Leistungsdruck" in der sozialistischen Gesellschaft als Erscheinungsform der auch hier angeblich gegebenen Entfremdung das geringste Zugeständnis zu machen, ist doch richtig, daß der umfassenden Disponibilität und Allseitigkeit der Betätigung der Individuen, wie sie Marx für den reifen Kommunismus voraussagt,42 exakt bestimmbare historische Grenzen gezogen sind. Lenin wies darauf hin, daß die kommunistische Bewegung über die Errichtung von „immer weniger zünftlerischen Produktionsverbänden" allmählich darauf zusteuere, „die Arbeitsteilung unter den Menschen aufzuheben und allseitig entwickelte und, allseitig geschulte Menschen, die alles machen können, ... heranzubilden" - allerdings erst nach „einer langen Reihe von Jahren". 43 Victoria Remers Flucht aus Rom und ihre Rückkehr sind' Indizien dafür, wie schwierig es für das Individuum auf diesem langen Wege sein kann, die Grenzen der historischen Notwendigkeit (Lenin: „Die Notwendigkeit verschwindet nicht, indem sie zur Freiheit wird") 44 nicht bloß einzusehen und pflichtbewußt auszufüllen, sondern sie auch selbst als Freiheit zu empfinden, zu bewältigen, zu genießen. Ein Rest bleibt offen bei dem radikalen Versuch, als ein „besonderes Individuum" zugleich „die ideale Totalität, das subjektive Dasein der gedachten und empfundenen Gesellschaft für sich"45 sein zu wollen. Bei einer Zeitgenossin von 1972 ist das nicht verwunderlich; entscheidend bleibt - und das gehört zur „freundlichen" Grundhaltung des Stücks - , daß die Annäherung real möglich ist. In Victorias Entscheidung für Rom, als Arbeits- und Lebensform einer jener „immer weniger zünftlerischen Produktionsverbände", geschieht diese Annäherung. Allerdings reflektiert Hammel dieses Problem weniger historisch als vielmehr polemisch, als B e h a u p t u n g des „Subjektiven", des privaten Glücksanspruchs. Das führt dramaturgisch-praktisch dazu, daß Victoria ihr Ringen um Entscheidungen allein bzw. in langen Problemdebatten mit Schoknecht oder ihrem Sohn abmacht, kaum aber in praktisch-geistiger Auseinandersetzung mit den konkreten Aufgaben des von ihr geleiteten Kollektivs - das sie ja immerhin 25

verlassen will. Daß es dadurch zu einer gewissen, wie Schumacher schreibt, „Subjektivierung" des Konflikts kommt, bei der Victoria Remer teilweise als „Sprachröhre des individuellen Glücksanspruchs im Sozialismus" erscheint46, ist (selbst wenn Schumachers Verabsolutierung dieses Einwandes, den er auf das gesamte Stück bezieht, zu widersprechen ist) kaum zu leugnen, zumal auch die inneren psychischen Verhältnisse 4er Persönlichkeit, die Biographie als Motivationsgrundlage, nur spontan und unvollständig historisiert wurden. 47 * Claus Hammel hat neues Material zum spannungsvollen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft im entwickelten Sozialismus ästhetisch entdeckt und ausgearbeitet, aber die Rezipierenden bei der geschichtlichen Sinngebung zu sehr allein gelassen. So ist die von Hammel mitgemeinte Sinnbildlichkeit der Lebensgeschichte Victorias - sinnbildlich auch für die Kompliziertheit und Härte des sozialen wie individuellen Selbstbefreiungsprozesses der Bauern in der Deutschen Demokratischen Republik zwischen 1960 und 1972 - für den Rezipierenden gleichfalls nur schwer assoziierbar.48*

Aneignungshaltung und Tätigkeit: Freundlichkeit, Strategiebewußtsein, Gelassenheit Die unverwechselbare Aneignungshaltung Claus Hammels kann mit drei Begriffen annäherungsweise umschrieben werden: Freundlichkeit, Strategiebewußtsein, Gelassenheit. Dabei geht es nicht darum, die Vielschichtigkeit der „arbeitenden Subjektivität" eines Dramenautors in ein Begriffskorsett zu zwängen, vielmehr sind diese drei Begriffe zunächst als Arbeitshypothesen gedacht, die die Erkundung des Feldes erleichtern sollen - was u. E. mit dem gängigen ästhetischen Begriffsapparat nicht zur Genüge möglich ist. Erfüllen die drei Begriffe diesen primären Zweck, mögen sie wieder fallengelassen werden oder - falls sie verifizierbar waren und über ihnen die Komplexität der Tatbestände nicht vergessen wird - an den Schaffenshaltungen anderer Autoren überprüft werden. Dabei ist „Freundlichkeit" selbstverständlich kein neuer Begriff. In der Ästhetik Brechts ist er Synonym für P r o d u k t i v i t ä t als Haltung ¡bei der Aneignung von Wirklichkeit durch Kunstproduzenten wie -rezipienten, als Gegenstand der künstlerischen Aneignung und schließlich als Ziel der theatralischen Veranstaltung. 49 Auch Hammel macht, sogar sehr buchstäblich, .menschliche Produk26

tivität zum Gegenstand seines Stückes und zum Ziel seiner wirkungsstrategischen Konzeption. Aber die unmittelbar ermutigende Sicht des Ideal-Wirklichkeit-Verhältnisses in einer spezifischen Qualität des Komödischen zeigt eine neue Stufe an - bzw. eine Stufe, die Brecht naturgemäß erst mit den Katzgraben-Notaten erreichen konnte: die selbstverständliche Betonung der sicheren Wirklichkeitsmöglichkeiten der Menschen in der sozialistischen Gesellschaft, erwachsend aus der ebenso selbstverständlichen (nicht kritiklosen, nicht idyllischen!) Übereinstimmung des Künstlers mit dieser Gesellschaft. Grundlage dafür sind vielfältige Beobachtungen und Aktivitäten, ein ganzes Leben auch außerhalb von Literatur und Theater.50 Hammel wohnt den größten Teil des Jahres inmitten der Bauern, Fischer und Urlauber des Fischlandes. Er erwähnte in unserem Interview seine Mitarbeit in einer Kampfgruppe und sprach ausführlich über seine praktischen Sorgen als Funktionär des Schriftstellerverbandes der DDR. 51 Schließlich ist Hammel auch Leitungsmitglied des Volkstheaters Rostock. Auf solcher Basis ist sein Wirklichkeitsverhältnis originär, intensiv und unmittelbar - was bei ihm nicht heißt, daß es spontan oder vordergründig naiv wäre. Letztere Haltung lehnt Hammel, die Notwendigkeit exakter Studien und wissenschaftlicher Vorarbeit im Zusammenhang mit dem konkreten Stoff betonend, als unbrauchbar und anachronistisch ab: „Das ist möglich, aber das ist feuilletonistisch."52 Entscheidend bleibt, daß „die Antenne . . . dauernd auf Empfang gestellt" ist, „und zwar dort, wo die Dinge nach vorn bewegt . . . werden" - daß er der „Berufsgefahr" entgeht, „sich längst ein fixiertes Bild" von der Wirklichkeit gemacht zu haben - daß er nicht von e i n e m biographischen „Grunderlebnis" sein Leben lang zehrt.53 Die berechtigte Betonung einer originären und unmittelbar-empirischen Wirklichkeitsbeziehung des Künstlers treibt Hammel sogar zu einer weitgehend ungerechten, pauschalen Verdächtigung anderer, in den siebziger Jahren in der DDR-Literatur häufiger werdenden Aneignungsweisen und -gegenstände. Beinahe in einem Atemzug polemisierte er gegen die „Aufarbeitung überlieferter Mythen", wie sie von hervorragenden Dramatikern der DDR produktiv betrieben wird, gegen die „Kunst über Künstler" und schließlich gegen das Vordringen von Eheproblematik.54 Aber wer könnte bei aller Einseitigkeit den rationalen Kern dieser Polemik übersehen: daß da, wo es „mit der Kenntnis von der Umwelt hapert", unter Umständen eben auch nichts anderes bleibe „als die hausgemachte Ehe- und Schöpferkrise"?55 27

Diese ideologisch verwurzelte, weil nicht nur rational erkannte, sondern in der praktischen Lebens- und Kunsttätigkeit ständig g el e b t e und also immer erneuerte Übereinstimmung des Autors mit seiner Gesellschaft ist als gesellschaftliches „Verhältnis zwischen den Verhaltensweisen" (Lucien Sève) 56 so vollständig in der Künstlerpersönlichkeit „verinnerlicht", daß sich Hammel die tragische Dominanz eines Gegenstandes schon nicht mehr vorstellen kann oder eine solche Möglichkeit nicht länger akzeptieren will - bezeichnenderweise wie vor ihm Brecht und neben ihm Peter Hacks: „Eine Komödienauffassung sowohl im theatralischen Sinne als auch vielleicht im ideologischen Sinne ist bei mir eine grundsätzliche, weil sich mir noch keine Auffassung eines Lebensvorganges als nur tragisch präsentiert hat und ich auch keine Notwendigkeit sehe, . . . aus irgendeiner Erfahrung eine Tragödie zu ¡machen."57 Hingegen sind Hammels kommunikationsästhetische Vorstellungen nicht mehr, wie noch gegen Ende der sechziger Jahre, primär mit dem Komödischen verbunden. In der Nachbemerkung zu seinem Parabelspiel Ein Yankee an König Artus' Hof hatte er 1967 das spielerisch freie, lustvoll erkennende, auf bewußter Verabredung beruhende Kommuni2ieren von Theaterkünstlern und Publikum im Theater als einen „Treffpunkt des Menschen und der Gesellschaft mit sich selbst" recht apodiktisch ausschließlich der Komödie zugesprochen: „Das Spiel will, wie es sich gehört, die Einheit von Erkenntnis und Freude, den Haupttugenden eines guten Theaterabends. . . . Der Zuschauer möchte mitspielen können, und 'das gestattet ihm nur die Komödie." 58 1974, in unserem Interview, nahm Hammel nicht nur diese Verabsolutierung zurück, sondern betonte generell das erlebnishafte „Ankommen" eines Stücks in seiner theatralisch-gegenwärtigen Darstellung, die Fähigkeit eines Publikums, künstlerisch verdichtete Wirklichkeit nicht nur spielerisch zu behandeln, sondern auch naiv als gewissermaßen bares Lebensmaterial „ernstzunehmen", die „direkt übertragbaren Züge" für eigenes Verhalten. 59 * Dem entspricht seine ebenso bescheidene wie prägnante Formulierung für das, was er auf dem Theater unter „Aufklärung" jenseits bloßer „Illustration und Kommentierung gesellschaftlicher Prozesse" versteht: durch dramatische Gestalten und ihre Situationen E m p f e h l u n g e n zu geben, „im einfachsten Sinn des Wortes Augen zu öffnen".60 Dieses Wort schließt den Führungsanspruch des Autors im Rezeptionsvorgang des Publikums ebenso ein, wie es dessen Bevormundung ausschließt. Dramatische Kunst nicht als pragmatischer Zweck, 61 sondern als wirkli28

che Lebenshilfe (oder, wie Peter Hacks sagte, als Möglichkeit, „Leben zu üben"62): Das ist wiederum eine zutiefst „freundliche", kommunikative Haltung eines Autors seinem Publikum gegenüber. Doch wäre zweifellos die Grundhaltung, die wir „Freundlichkeit" genannt und beim Autor wie in seinem Werk näher beschrieben haben, einigermaßen flach und wenig wirksam, würde sie sich nicht mit S t r a t e g i e b e w u ß t s e i n verbinden. Es ist dabei die Rede von einer neuen Aneignungsqualität, die seit dem VIII. Parteitag der SED in der Dramatik der DDR verstärkt auftritt und sich deutlich als Gesetzmäßigkeit durchsetzt - in Stücken wie Müllers Zement, Hammels Rom, Brauns Tinka, Hacks' Adam und Eva, Baierls Lachtaube, Kerndls Nacht mit Kompromissen, Heins Schlötel, Heiduczeks Maxi, Eschners König Jörg u. a. m. Indem diese Werke Strategiebewußtsein genauer enthalten und zwingender vermitteln, wird die Geschichtlichkeit unserer Dramatik, verstanden als ein Kriterium des Realismus, im Vergleich zu vorangegangenen Etappen der Literaturentwicklung akzentuiert und weiterentwickelt. Die Autoren greifen häufiger und bewußter perspektivisch-strategische Fragen unserer Gesellschaftsentwicklung auf und verbinden sie mit der unmittelbaren Darstellung oder metaphorischen Beleuchtung gegenwärtiger bzw. historisch-gegenwärtiger Praxis. Die Formulierung und Praktizierung der vom VIII. Parteitag beschlossenen Hauptaufgabe, die sozialistische Integration als Alltag der Werktätigen, die Betonung der dialektischen Einheit beider Entwicklungsphasen der kommunistischen Gesellschaft, das neue Parteiprogramm - dies sind nur einige, besonders wichtige Stichworte, die darauf verweisen, warum und wie öffentliches strategisches Denken, vermittelt durch die Partei, in der Arbeiterklasse und der gesamten Bevölkerung neu belebt wurde. Innerhalb dieses öffentlichen strategischen Denkens nimmt die Kunst gerade in ihrer S p e z i f i k einen wesentlichen Platz ein, und in der praktischen wie theoretischen Ausprägung dieser Spezifik wird sie selbst zu einer strategischen Position, entsprechend dem vielzitierten Wort von Kurt Hager: „Wir können weder auf die Entdeckungen der Wissenschaft noch auf die Entdeckungen der Künste verzichten."63 In einer gesellschaftlichen Entwicklungsphase, in der objektiv „immer enger die Lösung ökonomischer und sozialpolitischer Probleme mit der allseitigen Entwicklung des Menschen, seiner Kultur, seiner inneren Reife"64 verknüpft werden muß, gewann die DDRLiteratur, wie Hermann Kant auf dem VII. Schriftstellerkongreß 1973 sagte, „ein neues Selbstverständnis, . . . das auch zusammenhängt mit 29

der besonders seit dem VIII. Parteitag gefestigten Einsicht in die Unaustauschbarkeit, Unersetzbarkeit künstlerischer Arbeit" 65 . So erfolgt die Herausbildung des strategischen Bewußtseins in der dramatischen Literatur der DDR in kunstspezifischer Weise. Es werden keine gesellschaftsstrategischen Prozesse illustriert, vielmehr wird zum eigentlichen Gegenstand der dramatischen Kunst zunehmend die Vergesellschaftung der menschlichen Beziehungen in der Dialektik von Sozialem und Individuellem, die Vermenschlicheng der gesellschaftlichen Beziehungen auf der Grundlage des real existierenden Sozialismus; das soll nicht nur abgebildet, es soll vor allem stimuliert werden. Strategiebewußtsein als eine - vorwiegend prognostisch orientierte - Gestalt von Geschichtsbewußtsein ist in dem Stück Rom nicht allein und nicht primär daran kenntlich, daß es um die Annäherung von Stadt und Land, von Arbeitern und Genossenschaftsbauern geht, auch nicht nur daran, daß die Gründung der Genossenschaft im „sozialistischen Frühling" 1960 (ohne daß die Verluste auf diesem Wege verschwiegen würden) in Beziehung zu den Errungenschaften der Gegenwart und den Möglichkeiten der Zukunft gesetzt wird, sondern erst daran, daß auf diesen gegenständlichen Grundlagen der Fabel menschliche SelbstverwirklichungsChancen im Sozialismus entdeckt und (über die poetisch-metaphorische Dimension der Fabel wie über eine spezifische Komödien-Gestalt) dem Publikum vermittelt werden als ein „Selbstvertrauen zum Überdurchschnittlichen" (Hammel). 66 In diesem Sinne hat Hammel mehrfach betont, das Stück sei kein „Landwirtschaftsstück", es sei ein „Menschenstück".67 Die Notwendigkeit des „strategischen" Blickes bei der Aneignung von Wirklichkeit gilt vermutlich verstärkt für den Dramenautor, der seine Wirkungen überwiegend vermittels des Theaterkunstwerkes Aufführung erzielen muß. Die Befragung der fünfzehn Stückeschreiber der DDR ergab, daß unsere Dramatiker - auch wenn sie sich nur selten öffentlich dazu äußerten - heftig engagiert sind in der seit 1972 entbrannten, intensiven Diskussion unter Theaterpraktikern und -Wissenschaftlern über Spezifik und Funktion der Theaterkunst in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. 68 Die Überlegungen dazu beziehen sich auf die unmittelbare Gegenwart, auf die nächsten Jahrzehnte sowie, im Vorgriff, auf die vollendete klassenlose Gesellschaft. Ausgehend von der Spezifik der Theaterkunst, vertraten die Dramatiker in den Interviews sehr unterschiedliche Positionen: von der einfachen Bestätigung der gegenwärtigen gesell30

schaftlichen Funktion und des „Intendantentheaters" als Institution 69 bis hin zu Überlegungen über die Aufhebung der Trennung zwischen Spielern und Zuschauern (bei Voraussetzung der entsprechenden ökonomischen Bedingungen) und über das Theater s p i e l als Modell gesellschaftlicher Prozesse, als Verfahren, im gemeinsamen Durchspielvorgang gesellschaftliche Möglichkeiten „spielerisch" zu erproben. Doch ein gemeinsamer Nenner all dieser Ansichten ließe sich, verallgemeinernd, etwa wie folgt formulieren: Mit der nach ihrer gesamten Daseins- und Wirkungsweise u n m i t t e l b a r öffentlichkommunikativen Kunst des Theaters kooperierend, kann das eigentliche Feld des Dramenautors in der sozialistischen Gesellschaft kaum in operativ-taktischen Bereichen liegen. Theater ist weder ein „Ersatz für nichtwahrgenommene Demokratie" (Hammel) 70 , noch sollte es, wie Helmut Baierl meinte, Konflikte aufgreifen, die durch einen Brief erledigt werden könnten. 71 In einem analogen Sinn sagte Heiner Müller, er glaube nicht an „Theater als Zweck"72, und er wies bei anderer Gelegenheit darauf hin, daß durch sozialistische Demokratie, durch die sozialpolitische Praxis des sozialistischen Staates dem Dramatiker ein ganzer Bereich tradierter Konflikte - da sie ja dem Individuum nicht mehr als Probleme existentieller Art entgegentreten als Gestaltungsaufgabe abgenommen sei.73 Auch Armin Stolper meinte, er wolle nicht, „daß Theater irgend etwas ausrichtet, geraderichtet, zurichtet", wobei er sich mit dieser gewiß überspitzten Formulierung nicht etwa als Vorkämpfer eines neuen l'art pour l'art verstand; vielmehr ging es ihm gerade um ein Theater, das als „ein Pionier der Wirklichkeit" auftritt, das sich imstande hält, „die .ungenormten Wirklichkeiten zu erforschen" (wie Stolper, Aragon zitierend, erläuterte). 74 Und Peter Hacks betonte ausdrücklich, mit jedem seiner Stücke „ein Neuestes" aufzugreifen und ins öffentlich-gesellschaftliche Bewußtsein zu heben. 75 * Ein ausgesprochen erfolgreicher Lustspieldichter wie Rudi Strahl anerkannte die Aussage, daß er „prinzipiell in keinem anderen Bezugs- und Wirkungsfeld als unsere meistgenannten Poeten"76 unter den Dramatikern schreibe, nachdrücklich und bekräftigte in einem Brief an den Verfasser, daß er dies als die zentrale Verpflichtung seines Schaffens betrachte.77 Daß seine Stücke in genrespezifischer Weise diesem Anspruch tatsächlich weitgehend entsprechen, kann hier leider nur behauptet, nicht im einzelnen untersucht und nachgewiesen werden. 78 In diesen Aussagen unterschiedlichster Stückeschreiber, die ergänzt werden könnten, wird deutlich, daß die Dramatiker der DDR 31

so sehr ihr Funktionsverständnis vom Theater in gegenwärtiger und prognostischer Sicht auch voneinander abweichen mag! - erstens durchweg den Gegenstand ihrer künstlerischen Aneignungstätigkeit und die Funktion des sozialistischen Theaters als einheitlichen Zusammenhang sehen, daß sie zweitens die eigene „Entdeckerhaltung" (Illustration oder bloße Exegese ablehnend) stark betonen und mit der Spezifik des Theaters als öffentlichem „Massenkommunikationsmittel" (Wekwerth) 79 in Verbindung bringen und daß sie drittens Theater als direkten, vordergründig pragmatischen „Zweck" mit dessen Wesen und dein der dramatischen Literatur für unvereinbar halten. Kurz: die Dramatiker der D D R betonen die strategische Natur ihres Schreibens und der Theaterkunst. Dadurch verlieren selbstverständlich die sogenannten „kleinen" bzw. überwiegend „unterhaltsamen" oder die eher „publizistischen" Genres nichts von ihrer Wichtigkeit, ja Unentbehrlichkeit. Im Gegenteil (das Beispiel Rudi Strahl weist darauf hin): Auch sie sind - indem die gerade im Theaterbereich hartnäckig tradierte Trennung zwischen „seriöser" und „unterhaltender" bzw. „Gebrauchs-Kunst" allmählich überwunden wird dieser Entwicklung zuzuordnen. Der sich verstärkt ausprägenden „strategischen" Grundhaltung bei den Dramenautoren entspricht o b j e k t i v ein gewachsener „Spielraum" (Lenin) 80 künstlerischer Betätigung. Seit Beginn der siebziger Jahre ist deutlicher geworden, daß allein die sozialistische Gesellschaft dem dramatischen Autor auch die reale Möglichkeit geben kann, sich gewissermaßen selbst zu den Gesellschafts-Strategen zu gesellen, ja ihn geradezu als solchen fordert. Grundlage dafür ist die Erkenntnis von der Bewußtheit und Planbarkeit gesellschaftlicher Prozesse durch die Partei der Arbeiterklasse. Das heißt freilich nicht, daß es keine Reibungsflächen zwischen künstlerischer Subjektivität und gesellschaftlicher Erwartung mehr gäbe. Einerseits können durchaus auch notwendige, realistische „Entdeckungen", vermittelt durch das Medium einer ausgeprägten künstlerischen Individualität, zunächst als befremdend oder unbequem empfunden werden; und andererseits ist das Verhältnis von Parteilichkeit und Kritik für den Künstler im konkreten Schaffensprozeß als umfassendes, tätiges „historisches Bewußtsein" immer neu zu erringen. Wir werden wiederholt auf diese Problematik zurückkommen. Claus Hamtnel gab einen gerade durch seine spontan-gesprächsweise Äußerungsform besonders aufschlußreichen Hinweis, \tfie sehr „strategisches" Bewußtsein als Grundhaltung eines Künstlers in der 32

sozialistischen Gesellschaft in der Persönlichkeitsstruktur verinnerlicht werden kann. Hammel wünschte sich - und formulierte damit einen Teil seines ästhetischen Programms - , „daß Politiker sich häufiger berufen könnten auf Erkenntnisse aus unserer Literatur und Kunst, auf Erkenntnisse, die Philosophen und Politiker nicht so gefunden haben"81. In der längst selbstverständlich gewordenen Praxis, daß führende Schriftsteller zu bedeutenden nationalen oder internationalen Fragen öffentlich Stellung nehmen, sieht Hammel „schon deutlich ausgedrückt den Wunsch nach einer führenden Mitarbeit des Künstlers an der politischen Führung einer Gesellschaft"82. Doch wünscht sich Hammel, daß der eigentliche künstlerische Beitrag noch stärker in diesem Sinne genutzt würde, und er versteht dies durchaus auch als Selbstkritik und als Auftrag für sich. Hammel bezieht sich als Beispiel auf die Gepflogenheit der Zeitung Neues Deutschland, im „Keller" ihrer Wochenendbeilage eine Zitatenzusammenstellung zu einem bestimmten politisch-gesellschaftlichen, ethisch-moralischen oder philosophischen Problem von zentralem Interesse abzudrucken. Dabei fällt ihm auf, daß dort - obwohl neben politischen und gesellschaftswissenschaftlichen Texten auch poetisches „Material" angeboten wird - nur selten DDR-Schriftsteller zu Wort kommen.83 Für Hammel ist dies ein Indiz - er ist nicht auf die Herstellung sentenzenreicher Kunstwerke aus! Es geht ihm um eine Literatur, die noch stärker „Material wird zur Arbeit mit der Gesellschaft", denn „dann ist Literatur . . . wirklich lebendig."84 Auf dieser Basis ist ihm Autorität des Künstlers in der Gesellschaft ein erstrebenswertes Ziel - eine Autorität, die, aus dem künstlerischen Beitrag und seiner konsequenten gesellschaftlichen Nutzung erwachsend, dann auch die unmittelbare politische Stellungnahme eines Autors vor „seinem" Publikum noch wirksamer machen würde.85 Und Hammel fragt sich, ob nicht doch der „Gebrauchswert" der DDR-Literatur in diesem umfassenden Sinne noch zu gering sei, ob nicht „doch zu viel Illustration da ist"86, ob sich in der Tat zu wenig Gedanken finden, die im „Keller" des Neuen Deutschland zitiert werden könnten. Im Priraip freilich ist sich Claus Hammel seiner Wirkungsmöglichkeiten als dramatischer Autor sicher, so wie er die „sicheren Wirkungsmöglichkeiten" (Rohmer)87 seiner Gestalten in der Gesellschaft betont. Diese Sicherheit, die durchaus nicht mit Selbstsicherheit oder der Abwesenheit schöpferischer Probleme gleichgesetzt werden kann, ist wesentliche Grundlage einer in der Persönlichkeit verankerten 3 Stückeschreiben

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grundsätzlichen Lebens- und Schaffenshaltung, die man wohl am ehesten als „Gelassenheit" bezeichnen könnte. Sie ergibt sich aus der prinzipiellen Übereinstimmung mit der sozialistischen Gesellschaftspraxis, aus dem „strategischen" Bewußtsein einer konkreten Gesellschaftsfunktion der eigenen künstlerischen Tätigkeit und aus seiner spezifisch „freundlichen" Aneignung«- und Vermittlungshaltung, aber ebenso aus der Langfristigkeit eines individuellen politisch-ästhetischen Programms sowie aus der programmatischen wie gleichermaßen tätig-praktischen Übereinstimmung mit einer bestimmten Theaterarbeit, der des Volkstheaters Rostock unter Hanns Anselm Perten. 88 Diese „Gelassenheit" reicht bis in die Verlaufsformen der schriftstellerischen Tätigkeit. Sie schließt heftiges und mitunter sogar einseitiges Engagement in der öffentlichen Kunstdiskussion und auch im eigenen Werk nicht aus. Wiederholt war in der Sekundärliteratur von der „polemischen Korrespondenz" 89 die Rede, die innerhalb der DDR-Dramatik zwischen sehr unterschiedlichen politisch-ästhetischen Konzeptionen besteht,90 obwohl die Kontroverse von den Autoren selbst bisher nur ansatzweise öffentlich ausgetragen wurde. 91 * Dabei wurden in der Literatur immer wieder die Werke und Ansichten Peter Hacks' und Volker Brauns einander gegenübergestellt. Doch reicht 'die Kontroverse weit über diese beiden Autoren hinaus, ja man kann sagen, daß fast alle der fünfzehn befragten Dramatiker auf individuelle Weise in irgendeiner konstitutiven Beziehung zu den dabei aufgeworfenen Problemen stehen (anhand der Tätigkeit Heiner Müllers und Armin Stolpers wird das in den folgenden Kapiteln noch exemplifiziert). Untersucht wurden im Zusammenhang mit Braun und Hacks bislang überwiegend deren Abbildungsabsichten und ihre funktionellen bzw. wirkungsstrategischen Intentionen; hingegen wurden Aneignungs- und Arbeits h a l t u n g e n der künstlerischen Individualität noch kaum berücksichtigt. Unter diesem Aspekt kann die Kontroverse als ein Gegensatz von B e t r o f f e n h e i t und G e l a s s e n h e i t begriffen werden. Und hier nun gewinnt der Briefwechsel zwischen Anna Seghers und Georg Lukäcs aus den Jahren 1938/39 objektiv zunehmend an Aktualität. Damals verteidigte Anna Seghers bekanntlich die Unmittelbarkeit des Erlebens und der Gestaltung im Schaffensprozeß und nannte Dichter wie Kleist, Lenz, Bürger, deren persönlichstes, unmittelbares „Betroffensein" von den gesellschaftlichen Umbruchprozessen ihrer Zeit in der Gestalt ihrer Werke wiederkehrt, so daß darin nach Seghers die „Richtung auf die Reali-

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tät" häufig intensiver vergegenständlicht sei als in den Werken der deutschen Klassik - während sich für Lukäcs die Qualen und Krisen vom Autor abzulösen hatten, indem sie durch formende Gestaltung (bei Lukäcs weitgehend gebunden an ein traditionelles Formenensemble) zum Ausgleich und zur Ruhe gebracht, also in einer gelassenen, abgeklärten Weise ästhetisch objektiviert werden sollten.92 In einem vergleichbaren Sinne spielt die Auseinandersetzung um „Gelassenheit" oder „Betroffenheit" als Autorenhaltungen, die auch im abgeschlossenen Werk noch auffindbar sind, gerade unter Dramatikern der DDR - aber nicht nur unter dramatischen Autoren93 erneut eine große Rolle. Bereits während der Herstellung dieser Arbeit vertraten wir öffentlich die These, „daß es hier kein abstraktes Entweder-Oder geben kann", daß sich in -unserer historischen Situation beide Haltungen als produktiv erweisen können: Wir befinden uns in der DDR in keiner „Übergangsperiode" mehr, wohl aber in einem offenen revolutionären Prozeß (also nicht in einer „postrevolutionären" Gesellschaft) — .und nehmen aktiv teil am weltweiten Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus.94 Gerade die Autorenposition Glaus Hammels läßt erkennen, daß die schöpferische Haltung der „Gelassenheit" sich unter unseren Verhältnissen anders darstellt als für einen sozialistischen Autor der dreißiger Jahre, da sie nämlich nicht mehr, wie von Seghers und Brecht für die damalige Zeit befürchtet, tendenziell „'den Bedürfnissen unseres Kampfes" entgegensteht.95 So will Hammel auf seine Weise nicht weniger an den „offenen Enden unserer Revolution"96 wirken als Volker Braun; sein Wunsch nach noch stärkerer politisch-strategischer Mitarbeit des Künstlers zeigt dies sehr deutlich, und der individuelle Glücksanspruch als Triebkraft und auch als dialektischer Widerspruch zu den objektiv gegebenen Möglichkeiten des Handelns im Sozialismus, auf den die Komödie Rom zielt, ist ein solches „offenes Ende". Freilich sollen in dieser Konzeption die Probleme, inneren Auseinandersetzungen, Arbeitsschwierigkeiten des Autors nicht mit denen seiner Gestalten vermengt, sondern im Kunstwerk objektiviert, in der künstlerischen Form „aufgelöst" werden. Kein Zuschauer „darf um Gottes willen später . . . merken, was das gekostet hat . . . , etwas Bestimmtes so aufzuschreiben, wie der Zuschauer es sieht"97. Das überwiegende Betroffensein von geschichtlichen Widersprüchen, das Nicht-FertigSein oder -Werden mit einem Problem, objektiviert in der betont „offenen" Struktur des dramatischen Kunstwerks, bleibt eine große 3*

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kommunikative Möglichkeit des Dramas auch innerhalb der sozialistischen Gesellschaft, wie Versuche Volker Brauns oder Heiner Müllers nachdrücklich erweisen. Stücke wie Hammels Rom oder Baierls Lachtaube bieten eine andere Möglichkeit, und nur Menschen, die der Praxis des real existierenden Sozialismus fremd gegenüberstehen, können letztere als „apologetisch" oder „harmonisierend" disqualifizieren.98 Sie ist auch so wenig „klassizistisch", daß etwa Hammel mit seinem Seitenhieb gegen die „Aufarbeitung überlieferter Mythen" wie selbstverständlich in die Polemik gegen Peter Hacks einstimmte, die (trotz eines gewissen rationalen Kerns) der wirklichen Leistung dieses Dichters, der auf seine Art immer auf „ein Neuestes" zielt, keineswegs gerecht wird. Diese Position als Aneignungshaltung drängt nach der Souveränität des Komödienschreibers, auch im praktischen Schaffensprozeß. Wie sie sich auf die Arbeit überträgt, hat uns Rudi Strahl im Interview mit einer gewissen Ursprünglichkeit und Naivität, aber gerade deshalb besonders prägnant gesagt: „Qualität ist die Totalität einer Geschichte, wie klein oder wie groß sie auch sein mag. . . . Für den Moment, in dem jemand etwas produziert, muß er, glaube ich, ein lieber Gott sein, .der eine Welt schafft. Er muß daran glauben, und wenn er dieser liebe Gott ist, dann sucht er die Vollkommenheit."99 Claus Hammel gehört unter den befragten Autoren zu denen - im Unterschied beispielsweise zu Müller oder Braun - , die die Brechtsche Aussage, die dramatisch-theatralische Fabel sei ein „nach Ideen zurechtgemachter"100 Vorgang, ohne jeden Vorbehalt akzeptieren und in ihrer eigenen schriftstellerischen Tätigkeit bestätigt finden. Die Skepsis, daß aus diesem methodischen Ansatz die Realität und der dramatische Grundvorgang als gegenständlich-materieller Kern ihrer theatralischen Abbildung ideell oder gar idealistisch manipuliert bzw. ein allzu perfekter Konstruktivismus daraus erwachsen könnte, teilt er nicht. Obwohl er die Einheit von Fabelfindung, Figurengestaltung und ideeller Durchdringung im Schaffensprozeß betont, gilt Hammels Skepsis eher einer Haltung, die die führende, strukturierende Rolle von ideeller und Wirkungsabsicht auch während der eigentlichen Schreibtätigkeit leugnen möchte. Er räumt ein, daß die Geschichte (Fabel) im Verlaufe der Arbeit wichtiger werden kann als die ursprüngliche Idee, berichtet aber, daß ihm dies in seinem eigenen Schaffen bisher noch nicht geschehen sei.101 Das heißt allerdings nicht, daß Hammel sich nicht auch vom Stoff führen ließe - mehr jedoch vom selbst gesetzten, durchaus „konstruk36

tiv" erarbeiteten Grund-Bedingungsgefüge der Fabel. Im Interview berichtete er, daß er für die letzte, endgültige Fassung von Rom die Geschichte zunächst einmal von Schoknecht aus erzählt und sich das auch vor der Niederschrift des Textes notiert habe (wir geben hier allerdings Hammels mündliche Nacherzählung wieder): „Ein Mann war schwerkrank, kriegt Erholungsurlaub auf dem Land verordnet, kommt auf das Dorf, wo er vor 12 Jahren die Genossenschaftsbildung hat abschließen helfen, findet das Dorf zwar noch, findet die Leute, aber das Dorf ist längst nicht mehr wiedererkennbar, und die Leute halt auch nicht. Er dachte sich zu erholen, aber der ruhige Platz auf dieser Welt, wo man ganz weg ist von der Welt, den gibt es nicht mehr."102 Die damit gegebenen Voraussetzungen im Sinne, notierte sich Hammel dann auch die Geschichte der Victoria Remer, und zwar wiederum nur „bis zu einem bestimmten Punkt"103, d. h. in diesem Falle im wesentlichen ihre biographische Vorgeschichte. Nachdem auf diese Weise die beiden Hauptgestalten, ihre Geschichten und deren determinierende Umstände im Umriß erarbeitet waren, traten für den Autor stärker „Spielmöglichkeiten, die ich mir nicht mehr vorschrieb"104, in den Vordergrund. Das ideelle „Zurechtmachen" im Brechtschen Sinne nahm jetzt die Form von Fragen an, die sich der Autor stellte - veranlaßt vom Sujet und gleichermaßen von seinen Absichten - , deren Beantwortung er aber nunmehr „dem Schreiben überließ": „Haut so eine Victoria endgültig in den Sack, schmeißt sie alles hin - oder kommt sie wieder? Belastet man Schoknecht inhuman mit der Führung einer solchen Sache, die er sich ja letzten Endes selber eingebrockt hat, oder nicht?"105 Der vorliegende Stücktext könnte freilich zu der voreiligen Schlußfolgerung verleiten, daß da, wo Hammels ideell und dramaturgisch konstruierende („zurechtmachende") Tätigkeit aufhörte bzw. einer größeren Spontaneität beim Arbeiten wich, auch die Probleme anfangen: Da, wo Schoknecht und Victoria zum erstenmal wirklich hart aufeinandertreffen, weicht die Handlung der Debatte - wie auch ein Großteil der Kritik vermerkte. Voreilig wäre das aber deshalb, weil zumindest zu überprüfen wäre, ob sich nicht gerade darin Wandlungen im Begriff des dramatischen Handelns selbst äußern, die mit der nichtantagonistischen Natur wesentlicher Konfliktinhalte im Sozialismus zusammenhängen. Das Gespräch, die Debatte, ist im Leben eine adäquate Form des Austragens von Widersprüchen zwischen Sozialisten, ist unmittelbare Erscheinungsform des Handelns.106 Schon Wischnewskis Kommissarin in der Opti37

mistischen Tragödie verändert das Kräfteverhältnis in der anarchistischen Abteilung vorwiegend durch eine Reihe von Gesprächen: mit Alexej, mit dem Bootsmann, dem Offizier. Und auch Schoknecht und Victoria haben etwas miteinander auszutragen: Victorias Lebensbilanz, ihre Entscheidung, die Folgen für den genesenden Schoknecht. In beiden Fällen gilt: „Das Wort ist selber schon Aktion"107 - eine für das Drama immer zutreffende Prämisse, die aber mit dem Zurücktreten gewalttätigen, auf die Vernichtung des Gegners zielenden Aktionismus im Sozialismus zu qualitativ neuartiger Wertigkeit gelangt. Die Bevorzugung des Debattierens als Handlungsform in einigen Hammel-Stücken - sehr stark in Morgen kommt der Schornsteinfeger - hängt gerade bei diesem Autor zudem wieder mit seiner freundlich-aufklärerischen, auf „Empfehlungen" ausgehenden Grundhaltung zusammen, mit seinem Vertrauen, daß das Publikum seine eigenen Angelegenheiten ernst nehmen wird, wenn sie verhandelt werden. Das Problem ist also in Rom nicht so sehr das gesprächsweise Austragen des Konflikts der Remer - obwohl hier die Kongruenz von Handlung und Debatte in der Tat nicht durchweg gegeben ist - , sondern dessen teilweise Subjektivierung im Rückzug der Gestalt auf sich selbst: Mit den Menschen, für die sie gearbeitet hat, debattiert sie nicht. Die hier beschriebenen Arbeitsschwierigkeiten hängen, um noch einmal Rudi Strahl zu zitieren, mit Hammels Bemühen zusammen, „die Totalität einer Geschichte, wie klein oder wie groß sie auch sein mag", vollständig als poetische Gestalt zu objektivieren und auf diesem Wege „Vollkommenheit" anzustreben. Dafür spricht allein schon die fast zehnjährige Entstehungsgeschichte des Stücks. Da es sich aber nicht um eine „kleine", sondern um eine „größere" Geschichte handelt als jemals zuvor im Schaffen Hammels, war ihre „Totalität" schwer zu erlangen. Hammel empfindet offenbar selbst, daß er noch nicht völlig zu der dafür, wie er meint, unentbehrlichen „Gelassenheit" vorstoßen konnte: „Ich betrachte diese Komödie als die Vorstufe zu einem Roman, der mir die Gelegenheit zu gelassenerer Schilderung gibt."108 Auf der anderen Seite möchte Hammel, um diese Haltung auf der neuen, anspruchsvolleren Stufe seines Schreibens auch als Stückeschreiber voll zu erreichen, die handwerklichen Erfahrungen aus seiner bisherigen Dramenproduktion aktivieren. Am Anfang dieser Tätigkeit, so berichtet er, habe er sich durch die ersten eigenen Versuche, aber sehr stark auch durch die Lektüre von ihm geliebter Stücke (von Gorki, Tschechow* Shaw, 38

Dürrenmatt, Anouilh) „um ihrer Konstruktion willen"109 - einen „geheimen Mechanismus"110 für die handwerklich-technische Seite des Stückeschreibens erworben, dem er später vertraute. Wir glauben, mit dem oben versuchten Nachvollzug des Schaffensprozesses an Rom beschrieben zu haben, wie dieser „Mechanismus" wirkt und wo er an seine Grenzen stieß. Hammel meint heute, er müsse wieder stärker beherzigen, daß konkrete Wirkungen vom Autor auf handwerkliche Weise vorprogrammiert werden können.111 Selbstkritisch vermerkt er, daß er die dramaturgische Leichtigkeit von Frau Jenny Treibet oder den spielerisch-theatralischen Einfallsreichtum von Ein Yankee an König Artus' Hof nie wieder ganz erreicht habe.112 Nach der relativen Leichtigkeit, auch Geschwindigkeit, mit der er seine vorangegangenen Stücke verfaßt hatte, fing er mit der langwierigen Arbeit an Rom noch einmal an, schreiben zu lernen, „d. h., jetzt einmal das wahrzunehmen, was ich glaube gelernt oder zumindest erkannt zu haben bei Menschenbeschreibern wie Gorki"113. Für die nächsten Arbeiten wünscht er sich, unter Überwindung einer gewissen „Schwerlastigkeit" der Schreibweise jene Vorzüge der früheren Werke mit der noch tiefer lotenden Methode von Rom verbinden zu können.114 Die Bewußtheit über die eigenen Mittel wird reaktiviert und angestrengt, dem „geheimen Mechanismus" nicht mehr vorbehaltlos vertraut, um d a s zu erreichen: eine optimale Verbindung von spielerisch-komödischer Leichtigkeit, Eleganz und Effektivität mit hohem, auf die ästhetisch umgesetzte „Totalität" des jeweiligen Gegenstandes zielendem Anspruch an sozialistischrealistische Welt- und Menschendarstellung. Das schaffensästhetische Ideal heißt Souveränität. Widerspruch

und Übereinstimmung:

Autor und

Theater

Glaus Hammels Verhältnis zur Theaterkunst im allgemeinen, zu den Theatern der DDR im besonderen hat sich mehrfach gewandelt; die wechselnden Auffassungen korrespondieren mit wechselhaften eigenen Erfahrungen. Als er 1963 Fontanes Frau Jenny Treibet dramatisch adaptiert hatte, sah er das nicht als eine literarisch-künstlerische Tätigkeit an - obwohl sie das tatsächlich war! - , sondern als ein Stück geleisteter Theaterarbeit: „Die Dramatisierung von Romanen ist eine Angelegenheit des Theaters, nicht der Literatur."115 Sein im gleichen Jahr uraufgeführtes Schauspiel Um neun an der 39

Achterbahn wollte er buchstäblich als ein Theater-Stück, „vom Theater nur ein Stück"116, verstanden wissen. Den Text verglich er mit der Partitur eines Orchesterwerks, die durch bloße Lektüre nicht zum Klingen kommt, und in Ehrfurcht vor den schöpferischen Möglichkeiten der Schauspielkunst setzte er die assoziative Kraft des literarischen Wortes geradezu herab: „Was dasteht, sind Worte. Aber was sind Worte gegen Menschen, wenn sie sie aussprechen oder verschweigen."117 In jenem für Hammel erfüllten und erfolgreichen Anfangsjahr seines Schreibens, als die beiden Stücke kurz nacheinander am Berliner Maxim-Gorki-Theater herauskamen und eine äußerst wohlwollende Aufnahme fanden, lebte der Autor in „einer glücklichen Arbeitsgemeinschaft mit Ensemble und Regisseur"118 (Horst Schönemann). Er empfand sich „als einen integrierten Bestandteil, als Libretto-Lieferant in einem Ensemble"119. Und es kam ihm nicht in den Sinn, mit der eigenen künstlerisch-literarischen Subjektivität dem Theater auch als Herausforderer g e g e n ü b e r t r e t e n zu wollen. Trotzdem forderte Hammel in seiner Nachbemerkung zum Stück, die „Doppelbödigkeit" der Achterbahn-Fabel gerade durch eine naive Darstellung des szenisch-dramatischen „Vordergrundes" herauszustellen.120 Bei den folgenden Stücken Ein Yankee an König Artus' Hof und Morgen kommt der Schornsteinfeger - entstanden 1967 und 1968 verstärken sich solche Hinweise für die szenische Realisierung und zielen prägnanter darauf, die theatralische Gestalt der Aufführung aus der gesamten geistig-sinnlichen und ästhetisch-kompositorischen Struktur des jeweiligen Werkes abzuleiten.121 Bekenntnisse des Autors zum Primat des Theaters gegenüber der dramatischen Literatur fehlen hingegen nunmehr völlig. Weniger das gewachsene Selbstbewußtsein des Stückeschreibers „an sich" dürfte dafür verantwortlich sein - der öffentliche Erfolg der beiden Stücke war weit weniger eindeutig - als vielmehr die vergleichsweise weitaus widersprüchlichere, kompliziertere Situation im damaligen Erfurter Schauspielensemble, mit dem Hammel eng zusammenarbeitete und das seine Werke zur Uraufführung brachte. Das Selbstbewußtsein stieg also gerade dadurch, daß erstmals nicht nur Übereinstimmung, sondern auch produktiver Widerspruch gefordert war. Etwa seit Beginn der siebziger Jahre nun fühlt sich Hammel eindeutig als ein Literatur produzierender Künstler, der nicht für das Theater schreibt, sondern für das Publikum,122 dessen Schöpfungen allerdings, um das Publikum zu erreichen, der Vermittlung durch das Theater unabdingbar bedürfen. In diesem Sinne trat Hammel 40

immer wieder als Anwalt seiner Dramatiker-Kollegen auf, legitimiert dazu nicht nur durch die eigene Leistung, sondern auch als Vorsitzender des Aktivs Dramatik beim Schriftstellerverband der DDR. Er forderte einerseits, daß ihre Stücke r i c h t i g gespielt, also nicht als „Rohmaterial", sondern als Kunstwerke behandelt werden, und andererseits forderte er, daß sie ü b e r h a u p t gespielt werden. Mit Autorennamen, Stücktiteln und Aufführungszahlen rechnete er den Theatern der Republik mehrmals öffentlich ihre Versäumnisse in dieser Hinsicht auf, warf ihnen vor, ihre Verleger-Funktion gegenüber den dramatischen Autoren ungenügend zu erkennen und wahrzunehmen, sich damit häufig objektiv zwischen den Autor und sein Publikum zu stellen.123 Im Gespräch zeigte sich Hammel, wie auch andere der interviewten Autoren, betroffen und erschüttert von der Tatsache, daß ein dramatischer Dichter vom Range Alfred Matusches erstmals kurz vor seinem Tode theatralisch wirklich überzeugend durchgesetzt werden konnte - in der von Peter Sodann besorgten Karl-Marx-Städter Uraufführung des Van Gogh.m So eindeutig Claus Hammel mit diesen Äußerungen tatsächlich im Namen seiner Kollegen sprechen konnte, so unbezweifelbar es ihm um die Sache ging, sowenig wird diese Feststellung durch die andere gemindert, daß Hammels Engagement auch von eigenen, enttäuschenden Erfahrungen mitgetragen war. Wie nahezu jede Polemik war auch diese nicht frei von Vereinfachungen und Einseitigkeiten (so blieben die Verdienste vieler Theater um die Gegenwartsdramatik gänzlich, die reale Komplexität praktischer Theaterarbeit nahezu unberücksichtigt); doch hat u. a. der III. Theaterkongreß der D D R 1975 ihre prinzipielle Berechtigung bestätigt, indem er nachdrücklich darauf orientierte, neben dem (allzu!) verbreiteten Uraufführungs-Ehrgeiz vorhandene, wichtige Werke weit stärker zu nutzen - wobei auch immer wieder Hammels Rom genannt wurde, das zum Zeitpunkt des Kongresses nur auf spärliches Interesse der Theater gestoßen war.125* So ist das Problem für Hammel weder von seiner objektiven noch von seiner subjektiven Seite ausgeräumt. Allerdings lebt Hammel gegenwärtig, was die Beziehung des Dramatikers zum Theater angeht, in einem Widerspruch zwischen genereller Unzufriedenheit mit dem Theater der Republik und persönlicher Befriedigung über seine weit über das Stückeschreiben hinausreichende Beteiligung an der Rostocker Theaterarbeit. Seine Stimme hat in allen wesentlichen Belangen dieser Arbeit Gewicht; als künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter des Generalintendanten 41

wird er nicht in den kräftezehrenden Alltagsbetrieb des Theaterlebens integriert; wohl aber wirkt er mit an allen konzeptionellen Entscheidungen politischer, theaterpolitischer und ästhetischer Natur. Als Autor fand er zurück zu jener „glücklichen Arbeitsgemeinschaft mit Ensemble und Regisseur", nur diesmal, wie es scheint, auf gesicherten Grundlagen und auf einer höheren Stufe. So nimmt es nicht wunder, daß Hammel von neuem über das unerschöpfliche Thema der Beziehungen von Drama und Theater, Dramatikern und Theaterkünstlern nachdenkt. Im Herbst 1974 sagte er im Interview: „Es gibt jetzt eine Entwicklung, von der ich nicht einmal sagen könnte, ob ich nicht wieder einen Rückfall erleide in die frühere Vorstellung, daß ein Theaterstück ein wichtiger, aber nicht alleinbestimmender Bestandteil eines Theaterabends sein soll." 126 Hammels These von der „Verleger-Funktion" schien das Theater auf die Rolle des Vermittlers zwischen dramatischer Literatur und ihrem Publikum reduzieren zu wollen, ihm also im Grunde eine originäre ästhetische Wirklichkeitsbeziehung und das eigenständige ästhetische Wesen einer selbständigen, schöpferischen Kunst abzusprechen. Heute würde Hammel allenfalls sagen: Die Rolle des Vermittlers hat das Theater a u c h . Bei anderer Gelegenheit wurde versucht, das Prinzip einer arbeitsteiligen Übereinstimmung von Dramatikern und Theaterkünstlern - auch entgegen Vorstellungen von historisch verfrühter Aufhebung von Arbeitsteilung oder vom Primat der theatralischen Aneignung im Verhältnis zur dramatischen Literatur - als produktiv-widersprüchliche Wechselbeziehung theoretisch zu umreißen. 127 Daß auf dieser Grundlage die Übereinstimmung wirklich „funktionieren" kann - dafür gibt Mitte der siebziger Jahre die Zusammenarbeit zwischen dem Autor Claus Hammel und dem Volkstheater Rostock ein Beispiel.

Heiner Müller — die „Wirklichkeit des Autors " in der Realität: Intention, Aneignung, Tätigkeit

Ausgangspunkt Heiner Müller, in seinen Werken, ist nicht autobiographisch; er hat das mit seinem Antipoden Peter Hacks gemeinsam.128 „Ich habe ein paarmal versucht, über mich zu schreiben, und das hat mich immer ganz schnell gelangweilt, weil es mir nicht wichtig genug erschien."129 Das bloß Subjektive könnte weder „wichtig" werden für ein Publikum, noch wäre seine literarische Fixierung ein Weg zur Wahrhaftigkeit in der Kunst, zum Realismus. Befragt nach seinem wichtigsten Kriterium für die literarische Qualität eines Textes, antwortet Müller: Kunst müsse immer in irgendeiner Weise Realität in Frage stellen oder neue Realität sichtbar machen: „Das ist das einzige Kriterium, sonst darf man dafür kein Geld ausgeben."130 Hier ist für Müller im Jahre 1975 die objektiv gegebene Grenze des Sich-selbst-Aussprechens, die folgerichtig im künstlerischen Produktionsprozeß selbst - da in der Struktur der Persönlichkeit integriert und gleichsam „verinnerlicht" - regelrecht zur Barriere wird: „Bond schreibt viel mehr auf, als ich noch aufschreiben könnte. Zum Beispiel im Lear, da, wo die Wehleidigkeit anfängt, oder die Wehleidigkeits-Philosophie. Das sind so Sachen, die kann man denken, wenn es einem schlecht geht, aber wenn man sie aufschreibt, dann stimmen sie schon nicht mehr. Ich könnte gar nicht so lange einen Bleistift halten, um das aufzuschreiben."131 Dieser Dichter, in anderer historischer Landschaft arbeitend als Edward Bond, kann seinen Bleistift nur halten für „Stimmiges" und „Wichtiges" für realistische Darstellungen und realistische Absichten. Doch bereits mit dieser Haltung ist er in seinen Produktionen „anwesend". Im folgenden soll versucht werden, anhand der Stücke Zement, Schlacht und Traktor (andere Texte, vor allem das Lehrstück Mauser, gelegentlich einbeziehend) diese „Anwesenheit" eines sozialistischen Autörs, der allem Autobiographischen im engeren Sinne so fernsteht, in seinen Werken genauer zu untersuchen. Bs geht um die Ermitt43

lung jener „Authentizität der Urheberschaft", die Volker Braun im Interview als s e i n wichtigstes Kriterium literarischer Qualität angab. 132 Weiterhin wäre zu fragen, wie es Müller versteht, sich selbst in die Zeit zu verwickeln, so daß er „vorhanden ist (in seinen Werken G. F.) und daß zugleich die Nerven der Zeit getroffen sind", danach, wie er „in einer ganz unverwechselbaren Art identisch ist mit seinem Anliegen, das zugleich gesellschaftlich relevant ist". 133 Aspekte der künstlerischen Tätigkeit und der Lebenstätigkeit überhaupt - einschließlich axiologischer und biographischer Informationen - müssen in die Untersuchung einbezogen werden. Die Stücke selbst können nicht - schon gar nicht bei der hier gestellten Aufgabe! - allein aus dem unmittelbaren Vergleich Wirklichkeit-Abbild betrachtet werden. Auch sie sind als „Gegenstand" nicht „nur unter der Form des O b j e k t s o d e r d e r A n s c h a u u n g " voll begreifbar, sondern erst „als s i n n l i c h menschl i c h e T ä t i g k e i t , P r a x i s . . . , subjektiv". 134 Widerspiegelung selbst ist aus marxistisch-leninistischer Sicht vor allem eine geistige T ä t i g k e i t , vermittelt durch die gesellschaftliche Praxis. Die innere Verwandtschaft von praktisch-geistiger und künstlerischer Aneignung135 verstärkt noch die Notwendigkeit solcher Betrachtungsweise: Der Künstler a r b e i t e t mit realem, „praktischem" Wirklichkeitsmaterial und läßt gerade dadurch - als Einheit von Genuß und Erkenntnis - Gesetzmäßiges gewahr werden, regt eingreifendes Verhalten an, läßt menschliche Ideale buchstäblich „lebendig" erscheinen. So sind im Kunstwerk nicht nur der reale Abbildungsgegenstand und die künstlerische Subjektivität des Schöpfers in ihrem „objektiven Gehalt" (Träger) 136 „vergegenständlicht", sondern auch der künstlerische Produktionsprozeß selbst - eine Tatsache, die gerade für Position und Entwicklung Heiner Müllers von großer Bedeutung ist. Schließlich sind uns Müllers Wirkungsstrategien von Belang bei ihm eine Haupterscheinungsform der von Volker Braun namhaft gemachten Identität des Autors mit seinem gesellschaftlich relevanten Anliegen. Nicht nur durch den künstlerischen Produktionsprozeß, sondern auch durch die - vermittels der künstlerischen Gesamtstruktur - vorgeschlagene Rezeptionsweise sind Müllers Stücke, wie alle realistischen Kunstwerke, keine „Finalprodukte". Denn erst die „Konsumtion" ist es, „wodurch das Produkt Produkt, . . . wodurch der Produzent Produzent wird". 137

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„Zement": Analyse, Aneignung, Tätigkeit Zur Aufnahme des Stückes In jeder Phase seiner Entwicklung als Stückeschreiber war Heiner Müller heftig umstritten. Das hat in den sechziger Jahren die Aneignung seiner Dramen durch die Theater der D D R zu großen Teilen verhindert und behindert sie zum Teil noch heute.138* Stärker aber als bei früheren Gelegenheiten - etwa bei der Debatte über den Bau - wurde in den Diskussionen um Zement nach dem Roman von Gladkow (Uraufführung 1973 im Berliner Ensemble, Regie Ruth Berghaus) deutlich, daß mit dem Stück eine ausgeprägte individuelle politisch-ästhetische Sicht auf die Realität, eine besondere Aneignungshaltung und Aneignungsweise zur Diskussion steht. Diese Aneignungshaltung in ihrer Prägnanz forderte ihrerseits wiederum den Kritikern neben sachlich wägenden Argumenten und Urteilen Haltungen ab: Der Grad des kämpferisch-emotionalen Engagements für oder gegen dieses Stück ist überdurchschnittlich. Die Härte, die „dramatische" Zuspitzung, die extreme Rigorosität, mit denen Müller den Verlauf der sowjetrussischen Revolution im Jahre 1921 - im Ubergang zum Wiederaufbau der Volkswirtschaft und zur Neuen Ökonomischen Politik, aber noch im Kampf gegen bewaffnete konterrevolutionäre Banden - auf die Bühne bringt, die psychischen Zerreißproben, denen seine Gestalten auf ihren widersprüchlichen Wegen ausgesetzt sind, lösten Betroffenheit aus. Betroffenheit als Erschütterung, Beteiligtsein, vertieftes historisches Selbstverständnis und auch als Erschrecken, Verschrecktsein, Verwirrung, Skepsis. Zu konstatieren war im Zusammenhang mit Müller einmal mehr, was Peter Hacks bei Erscheinen des Philoktet als „Unruhe angesichts eines Kunstwerks" bezeichnet hatte: „Ein großes Kunstwerk kann uns irremachen. Wir lesen Philoktet und erkennen die Verbesserungsbedürftigkeit unserer Gedanken über Kunst." 139 Freilich beschränken sich einige Rezensenten im Falle Zement auf Irritation. Heiner Müller glaubt zu wissen, daß der spröde, mißverständlich auf die Darstellung von Produktionsprozessen als solchen hindeutende Titel dazu beigetragen habe, den Publikumserfolg seines Stükkes zu erschweren.140 Ob dem so ist, sei dahingestellt (es ist kaum nachprüfbar und hier nicht von Belang) - die prozessuale Struktur der Fabel gibt Müller recht, sein Stück zu nennen wie Gladkow seinen Roman: Zement. Es ist trotzdem bemängelt worden, daß 45

Müller „die Arbeit . . . in der direkten Gestaltung weitgehend ausgespart" habe, wobei zugestanden wurde, „daß es sehr schwierig ist, diese Produktionssphäre auf die Bühne zu bringen". Aber das Thema des Stückes sei gerade „die Selbstschöpfung des Menschen durch befreite Arbeit" am geschichtlichen Beginn dieses Weges. Deshalb stehe das genannte Problem „ungelöst im Raum", so daß uns Müller „die Gestaltung des Hauptproblems, nennen wir es ruhig Arbeitswelt, . . . doch in starkem Maße schuldig" bleibe. Andererseits sagt derselbe Kritiker, Ernst Schumacher, treffend: „Im Handlungsablauf geht es immer mittelbar oder unmittelbar um den Aufbau des Zementwerkes." 141

Analyse des ersten Teils Wieweit „die Arbeit . . . in der direkten Gestaltung" - also als D a r stellung konkreter Arbeitsverrichtungen in der materiellen Produktion - für die ä s t h e t i s c h e Erfassung der geschichtlichen Rolle der befreiten Arbeit möglich, nötig, unabdingbar oder aber in d i e s e r Weise eher hinderlich bzw. nicht kunstspezifisch sei, ist durchaus umstritten. 142 Einigkeit besteht hingegen unter sozialistischen Künstlern und Kunsttheoretikern darüber, daß es in jedem Falle auf den „menschlichen Bezug" ankommt - also in diesem Falle darauf, die geschichtliche Relevanz der komplizierten Aufbauarbeit russischer Arbeiter und Bauern des Jahres 1921 im Kampf gegen die Konterrevolution und um die Festigung der jungen Sowjetmacht poetisch zu verallgemeinern, bei der zum ersten Male in der Geschichte der produktive Arbeitsalltag selbst zu einer revolutionären Aktion wurde. Als „menschlicher Bezug" muß sich das im Kunstwerk vor allem darin zeigen, daß für die Masse der Arbeiter in diesem Prozeß prinzipiell neue Möglichkeiten (und Anforderungen) für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit entstehen. Denn zum ersten M a l e beginnt zu gelten: „ D i e S u r p l u s a r b e i t der Masse hat aufgehört, Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein, ebenso wie die N i c h t a r b e i t d e r W e n i g e n für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes. Damit bricht die auf dem Tauschwert ruhende Produktion zusammen, und der unmittelbare materielle Produktionsprozeß erhält selbst die Form der Notdürftigkeit und Gegensätzlichkeit abgestreift." D a m i t beginnt die tatsächliche „freie Entwicklung der Individualitäten". 1 4 3

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Allerdings steht diese Entwicklung .historisch-konkret an ihrem schweren Anfang, in einem einzelnen, rückständigen, von der scheinbar übermächtigen internationalen Reaktion eingekreisten Land - sie enthält auch tragische Aspekte. Schumachers Auffassung folgend, daß es im Stück immer um den Aufbau des Zementwerkes gehe, wollen wir versuchen, die Struktur des Werkes in ihren Grundzügen zu beschreiben - aber unter Konzentration auf den „menschlichen Bezug", d. h. vor allem auf die Entwicklung wichtiger Gestalten, besonders des Gleb Tschumalow und der Dascha. Es geht uns hierbei insbesondere um einige Aspekte der poetischen Konzeption und der künstlerischen Aneignungstätigkeit (als Einheit von Aneignungshaltung und Aneignungsweise) des Autors Heiner Müller; wir haben nicht die Absicht oder Hoffnung, den erstaunlichen politischen, geistigen, sinnlichen und ästhetischgestalterischen Reichtum dieses Kunstwerkes ausschöpfen zu können, eingedenk einer von Müller mehrfach erzählten Anekdote über die Tänzerin Anna Pawlowa: „Die wurde gefragt, was sie mit einem bestimmten Tanz sagen wollte, und da sagte sie, wenn sie das anders hätte sagen können als durch diesen Tanz, hätte sie sich nicht dieser Strapaze unterzogen." 144 Im ersten Bild Schlaf der Maschinen trifft der demobilisierte Rotarmist und Regimentskommissar Gleb Tschumalow, Held des Bürgerkriegs, auf einen Maschinisten, der die Maschinen des stillgelegten Zementwerks vor Plünderern bewacht - nicht „für unsere Sowjetmacht", wie Gleb meint, sondern weil er es nicht ertragen könnte, sie verrosten zu sehen. Aber: „Bei den Maschinen werd ich zur Maschine" 145 - ein Arbeiter, der, verurteilt zur Unproduktivität und ohne Hoffnung, verzweifelt versucht, ein Arbeiter zu bleiben: „Arbeiter gibt es nicht, ich bin der letzte." Auf seine Art stemmt er sich gegen die Demoralisation seiner Klassengenossen, die das Werk für ihre Ziegen und Schweine ausschlachten. Wer immer die Produktion in Gang brächte, dem würde er seine Hand geben. Tschumalow setzt entgegen: „Begraben hast du dich wie ein Besitzer./ Merkst du nicht, wie unser Leben anders wird./ Arbeiterrußland, der neue Planet/ Aus Blut und Feuer hier mit unsern Händen." Am Schluß ist Tschumalow für den Maschinisten eine Hoffnung: „Tschumalow, Bruder, mach daß unser Werk lebt" - der Maschinist sagt jetzt „unser". Wenn in Claus Hammels Rom Bauern in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, ihre Produktions- und Lebensverhältnisse und 47

dabei sich selbst verändernd, eine Stadt gründen wollen und sich dabei auch der herrschenden Arbeiterklasse annähern, so faßt Müller (umgekehrt) die Situation, auf die sein Heimkehrer stößt, im Bild des Dorfes, das „aus allen Löchern wächst" und die Stadt zu verschlingen droht. Tschumalows erster Gang gilt dem Werk. Dieses wird so von Anfang an als sachliche Grundlage wie poetisches Symbol für den Wiederaufstieg, die Selbstbehauptung, die Produktivität der Klasse und ihrer einzelnen Individuen gesetzt - aber nur insofern, als es „für unsere Sowjetmacht" in Gang gesetzt werden muß und sie zu stärken hat. Der Arbeiter, der seine Maschinen, in sie vernarrt, allein um ihrer selbst willen bewacht, aber „deine Sowjetmacht" sagt, ist lediglich die mechanische Umkehrung des Maschinenstürmers. E r verhält sich nicht wie ein befreiter Besitzer, sondern wie ein egoistischer, bornierter; er wird nicht Persönlichkeit, sondern selbst zur Maschine. E r grenzt sich ab von der Demoralisation, aber er isoliert sich. Als er „unser Werk" gesagt hat, ist er Tschumalows erster Verbündeter. Damit hat die Heimkehr des Odysseus - so heißt das zweite Bild bereits begonnen. Tschumalows Erfahrungen, als er auf ehemalige Freunde und Bekannte trifft, sind verwirrend: Man hat ihn nicht erwartet, man freut sich nicht, daß er zurück ist, niemand begrüßt ihn. Ironisch sagt er schließlich zu sich selbst: „Willkommen in der Heimat, Bolschewik." Am Anfang wie am Schluß der Szene kräht, buchstäblich, nur ein Hahn nach ihm - wodurch Müller mit grandiosem Humor das Schmerzliche an Glebs Situation unterstreicht und gleichermaßen relativiert. Das Schmerzlichste aber ist die erste Begegnung mit Dascha, seiner Frau. Nachdem Tschumalow von Motja bereits angedeutet bekam, daß Dascha, die „rote Witwe", mit ihren Freiern und der Partei fremdgehe, sein Kind Njurka ein verhungerndes Bündel Elend sei, hat auch sie nur auf Sekunden Zeit für ihn, empfängt ihn scheinbar kalt und unpersönlich. Sie muß für drei Tage aufs Dorf, um unter den Bäuerinnen revolutionäre Arbeit zu leisten; so teilt sie Gleb nur eben mit, daß Njurka im Kinderheim sei. Keinen Augenblick sind die beiden allein. Gleb erwartet eine Ehefrau und glaubt sich zum Narren gehalten, als ihn Dascha mit „Genosse" anspricht. Alleingeblieben mit dem Hahn, zieht er das Fazit: „Ich bin Tschumalow, Held des Bürgerkriegs. Ich hatte eine Frau." Die Erfahrung verbindet sich mit der anderen: „Was habt ihr aus dem Werk gemacht, ihr Hunde." Durch die Kontrastierung der Szene mit ihrem Titel beginnt zugleich die Aneignung antiker Mythologie und Motivik, die in die 48

Struktur des Werkes und ihre Historizität eingegangen ist. Dieser „Odysseus" kehrt nicht zu einer Gattin heim, die in treuer Zärtlichkeit allein seiner Rückkunft gelebt hat. Keiner hat nur auf ihn gewartet - die Menschen sind mit sich, ihrer Not, mit der „Produktion des Überlebens" (wie Badjin später sagt) beschäftigt. Tschumalows naive Erwartung, als Held des Bürgerkriegs, als ein „König" in klare, nach neuen Prinzipien geordnete, nur noch auszubauende Verhältnisse zu kommen, wird bitter enttäuscht. Polja, die Romantikerin, kündigt ihm - erstmalig ein weiteres Grundmotiv des Stückes anklingen lassend - die Qualen der Administration an, die „Langeweile der Sowjetarbeit". Aber wie Odysseus seine Frau und sein Volk vom Terror der Freier zu erlösen und Gerechtigkeit herzustellen hat, steht auch vor Tschumalow eine Mission: das Zementwerk wiederaufzubauen. Das wird er freilich nicht allein können: Der Inhalt des Heldentums stellt sich anders dar als von den alten Mythen tradiert - anders selbst als in der Phase des Bürgerkriegs. Das ist eine Motivik, die Müller worin er sich als wirklicher Brecht-Nachfolger erweist - vom Lohndrücker über Bau, Philoktet, den Horatier bis zu Traktor immer wieder beschäftigt hat. In Traktor wird sie thematisch. Sein nächster Weg führt Gleb ins Fabrikkomitee (drittes Bild: Äpfeichen, wo rollst du hin}), wo sich die Arbeiter Loschak und Gromada als Beauftragte ihrer Klasse redlich mühen, mit den Ansprüchen und Stimmungen der teils erbitterten, teils müßiggängerisch sich vergnügenden Belegschaft fertig zu werden. Es gibt keine Stiefel, kein Petroleum, kein Brot - und vor allem keine Arbeit. Wer noch arbeitet, bastelt Feuerzeuge in der Schlosserei, wenn er sich nicht darauf beschränkt, seine private Ziege zu melken. Die noch nicht völlig demoralisiert sind, fordern produktive Arbeit, andere nur Brot oder wie die Awdotja - bessere Stiefel. D a gibt sich Gleb zu erkennen: „Genossen, das bin ich, Tschumalow." Brüderlich begrüßen ihn Loschak und Gromada, in ihrer eigenen Hilflosigkeit setzen sie alle Erwartungen in ihn: „Ihn werden wir vor unsern Karren spannen / Und der Zement marschiert wie die Armee." Aber die Menge kennt keine konkrete Hoffnung mehr, sie ist taub gegenüber Tschumalows leidenschaftlichen Appellen - und anderes steht ihm noch nicht zur Verfügung! - , das Werk in Gang zu bringen. Nach all den bitteren Erlebnissen mit Dascha und den Klassenbrüdern bricht der naivoptimistische Erwartungshorizont des Heimkehrers vorerst endgültig zusammen: „Wär ich an der Front." Gleb will resignieren, gibt scheinbar auf - er fordert seine Brotration. Gelächter und Hohn - Stimmen: 4

Stückeschreiben

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„Hast du ausgesungen. - Jetzt singt er unser Lied. - Der Bauch will essen." - reißen ihn davor zurück, sich auf das Niveau derer zu begeben, die sich abgefunden haben: „Tschumalow unverständlich . . . Tschumalow reißt sich das Heind auf. Seine Brust ist mit Narben bedeckt. Akkordeon aus. Schweigen." Heiner Müller, ein Dichter voller Beredtheit und Sprachgewalt, versagt seiner Gestalt an dieser Stelle die Worte und geht, wie sonst nur ganz selten, zur Regieanweisung über.146 Mit dialogsprachlichen Mitteln, vermittels der Worthandlung ist die Situation Tschumalows und der Belegschaft hier nicht mehr erfaßbar. Exakt beschreibt die Regieanweisung den Vorgang: Tschumalows, des eben noch wortgewaltigen Provokateurs und Agitators seiner Kollegen, schließliche Hilflosigkeit geht zunächst in Sprachlosigkeit über und dann in die unmittelbar gestische Aktion. Das gestische Pathos des Wortes ist abgelöst durch die wortlos pathetische Geste. Verzweifelt und mit verzweifelten Mitteln erreicht Tschumalow eine kommunikative Wirkung, die vorher nicht möglich war: Hohn und Gelächter verstummen, die Klassenbrüder schweigen beschämt. Diese höchste Zuspitzung der szenischen Handlung weist zugleich auf das Bedenkliche der Lage: Die Sprache als natürlichstes und umfassendstes Mittel zwischenmenschlicher Kommunikation ist außer Kraft gesetzt - übrigens auch deshalb, weil Tschumalows Pathos, solange er zu seinen Genossen s p r i c h t , vorerst eines der Beschimpfung, der Provokation und des allgemeinen Forderns, nicht aber das Pathos konkreter Argumentation, eines konkreten Programms sein kann. Exkurs: Das heroische Pathos der Revolution Kommen wir noch einmal auf die öffentliche Aufnahme des Stückes zurück: In einem Redaktionsgespräch der Zeitschrift Theatsr der Zeit über das Werk sagte Irene Böhme in differenziert-verständnisvoller Auseinandersetzung mit einem häufigen Gegenargument: „Ich verhehle nicht, daß diese Konfrontation ungeheuer weh tut. Es ist schmerzlich, vorgeführt zu bekommen - und das hat uns das Theater lange nicht abverlangt - , welchen zähen, bitteren Kampf Menschen führen müssen. Man wagt kaum, eine direkte Beziehung zu sich selbst herzustellen. Und man wünscht sich auch, dieser Dramatiker möge aufhören, auf sein Publikum einzutrommeln. Es ist eine menschliche Sehnsucht, das Verlangen nach Besinnungsmomenten, das Hoffen auf 50

Auflösung des Widerspruchs in Harmonie. Jedoch der Kampf des Lebens, der Klassen erlaubt das in Wahrheit nicht."147 Es geht uns hier noch nicht darum, warum Heiner Müller auch „auf sein Publikum eintrommelt" - das tut er wirklich, und darauf wird zurückzukommen sein - , sondern darum, auf welche Weise er ihm u. a. sozialistische Impulse a u s t r a g i s c h e m M a t e r i a l übermittelt, o h n e die undialektische „Auflösung des Widerspruchs in Harmonie" zu gewähren. Gleb Tschumalows erste Begegnung mit den Klassenbrüdern in einer Situation, in der gesamtgesellschaftlich die Machtfrage des „Wer wen?" beileibe nicht entschieden ist! - enthält individuell wie überindividuell die Möglichkeit der Tragödie. Vor allem wird doch hier auf Gleb selbst „eingetrommelt"; in der nächsten Szene, Das Bett, wird sich das fortsetzen. Und dennoch münzt er selbst seine Verzweiflung in eine Aktion um, die, geprägt von Hilf- und Sprachlosigkeit und bloß halbmächtig, trotzdem keineswegs ohne Wirkung bleibt. Widerlegt ist das höhnische „Der Bauch will essen" als der Weisheit letzter Schluß. Die „Magenfrage" beginnt unter den neuen historischen Machtverhältnissen ihr Vorzeichen zu ändern: Erst die Produktion in Gang bringen - dann mehr essen. Die tragische Erschütterung über Glebs drohende Resignation bekommt ihren entscheidenden Akzent durch das Erlebnis, daß dieser Arbeiter unter a l l e n Umständen - auch den schwersten - zur geschichtlichen Aktion gelangt. Das wiederholt sich im Stück und nicht nur bei GleG. In der vorletzten Szene bleiben Polja und Iwagin, soeben in tragischer geschichtlicher Konstellation ungerecht aus der Partei ausgeschlossen, aktive Revolutionäre. Die Gestalten können sich die Bedingungen, unter denen sie Geschichte machen, nicht aussuchen; aber sie bleiben immer deren Akteure. Keine der progressiven Figuren des Stückes steigt jemals aus der revolutionären Aktion aus, obwohl die Versuchung dazu (etwa bei Polja in der NÖP-Szene oder selbst bei Dascha nach dem Tod ihres Kindes) mitunter groß ist. Es nimmt ein wenig wunder, daß dieser klare Tatbestand, der in der größten Härte der Konflikte immer wieder transparent wird, von Kritikern wie Verteidigern des Stücks in der Diskussion kaum berücksichtigt wurde. Dabei tritt er bei einem assoziativen Rückblick auf Heiner Müllers 1958 entstandenen Lohndrücker noch eindeutiger zutage. Der Titelheld durchbricht dort den verhängnisvollen Kreislauf des „erst mehr essen, daxin mehr arbeiten" aus durchaus anderen Motiven als Gleb Tschumalow; Balke denkt zunächst einmal weit mehr an den eigenen Bauch als dieser, auch hat er eine Schuld aus 4*

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der Zeit des Faschismus gutzumachen. Und die Fabel kann sogar so gelesen werden, daß Balke zu seiner bahnbrechenden Neuerertat teilweise auch durch die Angst vor dem Parteisekretär Schorn motiviert wird, den er bei den Nazis denunziert hatte. Selbstverständlich ist die unterschiedliche historische Einbettung der beiden Fabeln bedingt und legitimiert - die Geschichte Balkes entspricht sehr genau der tatsächlichen Situation in der Sowjetischen Besatzungszone während der ersten Nachkriegsjahre. Heiner Müller kennt keinerlei linearen Fortschrittsbegriff, auch nicht, wenn es um den Gang der sozialistischen Revolution geht. Er kennt ihn so wenig, wie ihn Lenin kannte, der einen solchen Fortschrittsbegriff als grundsätzlich bürgerlich-liberal bezeichnet und sarkastisch verspottet hatte. 148 Aber daß Müller bei der anderen historischen Konkretheit des Gegenstandes als im Lohndrücker - so sehr er immer die Härte, die Widersprüchlichkeit des Prozesses betont, dabei durchaus auch auf „offene Enden" u n s e r e r Revolution zielend ! - das Pathos der ersten proletarischen Revolution in seinem Stück Zement u n g e b r o c h e n zum Tragen bringt, es noch in den schmerzlichsten Vorgängen (z. B. in der Makar-Tschibis-Episode) gestalterisch freisetzt: Das sollte gebührend berücksichtigt und gewürdigt werden.

Fortsetzung der Analyse des ersten Teils Nach diesem Exkurs wenden wir uns wieder der durchgehenden Handlung des Stückes zu: der Szene Das Bett. 7M Hause muß Gleb Tschumalow erleben, daß er kein Heim mehr hat: Kalt, verkommen, schmutzig ist die ehemals von Dascha sorgsam gepflegte gemeinsame Wohnung. Wütend und ratlos beginnt er die Einrichtung zu zertrümmern. Dascha ist nicht mehr s e i n e Frau: „Besitzer gibt es nicht mehr", hält sie ihm entgegen, als er sie so nennt. Sie pocht auf ihre neue Freiheit, die sie in der Arbeit im Exekutivkomitee, bei der Organisation der Frauen, im Kampf gegen die Holzkrise, die konterrevolutionären Banditen, den Sumpf der Korruption täglich bewähren muß. Gleb hat sein verhungerndes Kind im Heim gesehen. Dascha weint, als er davon spricht, aber es gibt für sie keine Alternative zu ihrem gegenwärtigen Leben: „Gut, Gleb. Wenn du sie füttern willst. Bleib du / Zu Hause. Spiel die Mutter für dein Kind. Ich / Hab keine Zeit." Gleb versucht sie zu demütigen, zu vergewaltigen sein Besitzeranspruch ist tief verwurzelt. Dascha, dem Ansturm Glebs 52

zunächst beinahe erliegend, wehrt sich mit dem Gewehr. Sie gesteht ihm ihre Liebe. Doch eine sexuelle Vereinigung ist nicht möglich: „Auf die alte Art wirst du / Deine Frau nicht mehr finden." Daschas vordergründig extreme Kälte und Härte sind nicht nur für Gleb, sondern auch für den Rezipierenden zunächst kaum noch nachvollziehbar. Doch sind sie widersprüchlicher Natur: Dascha entscheidet sich für die revolutionäre Tätigkeit und gegen ihr Kind aber sie weint; sie hat mit anderen Männern geschlafen und tut es noch - aber hat doch immer nur auf Gleb gewartet; sie verschließt sich Gleb und will sich nicht von ihm „besitzen" lassen - aber sie liebt ihn und versucht, ihm einen neuen Weg zu „seiner" Frau zu weisen. Der Zuschauer oder Leser wird dadurch nicht versöhnt und soll nicht versöhnt werden. Ein Rest bleibt offen und wird vom Dichter offengelassen - gerade dieser „Rest" ist es, der erschütternd wirkt und zunächst das Empfinden, dann aber auch das Nachdenken über die Dialektik des geschichtlichen Prozesses provoziert. Es geht um die Dialektik von Gewinn und Verlust in bezug auf die Persönlichkeitsentwicklung. Dascha Tschumalowas starke individuelle Potenzen wurden - wir erfahren es später genauer - durch das allmähliche Hineinwachsen in den revolutionären Kampf überhaupt erst aus ihrem Schlaf geweckt; sie ist nicht mehr das unpolitische, liebende Haus-Weibchen, das sie einst war. Aber: „Auch der Haß gegen die Niedrigkeit / verzerrt die Züge."149 Dascha versagt sich Gleb nicht nur, weil er ihr als „Besitzer" entgegentritt; sie ist auch selbst, mindestens vorübergehend, unfähig geworden, mit ihrer Liebe die Kluft zu überbrücken - so sehr sie das möchte. Die unerhörte Härte des Kampfes und der eigenen Erlebnisse (die wir später, in dem Bild Medeakommentar, genauer erfahren) ist nicht ohne Folgen geblieben: „Kalt war der Weg durchs Feuer." Heiner Müller, daraufhin befragt, bestätigte im Interview, daß bei Dascha „deutlich sektiererische Züge in ihrem Emanzipationsstreben" auftreten. Er ordnete sie so ein, wie auch die Stückhandlung selbst die Dialektik von Gewinn und Verlust erfaßt: „Das spricht überhaupt nicht gegen dieses Streben, das bedeutet nur, daß in jedem Kampf eben auch Krampf auftritt." Und, in verallgemeinernder Zuspitzung: „Denn jeder Kampf bedeutet einen zeitweiligen Persönlichkeitsverlust."150 Wenn wir nach Analyse der ersten vier Bilder des Stücks, die wir als Exposition bezeichnen können, den bisherigen Ablauf überschauen, ergibt sich folgendes: Im ersten Bild (Schlaf der Maschinen) erkundigt sich Tschumalow nach dem Werk; im zweiten (Heimkehr 53

des Odysseus) wird er erstmalig mit der so stark veränderten Dascha konfrontiert; das dritte Bild (Äpfelchen, wo rollst du hin?) 2eigt Gleb in Auseinandersetzung mit der Belegschaft des Werks, nicht zur Resignation bereit, aber noch ohne konkretes Programm; das vierte Bild (Das Bett) vertieft den bereits vorher knapp in seinen faktischen Grundlagen umrissenen Konflikt mit Dascha. Eine halbschematische Darstellung kann - in starker Vergröberung 1 - das Prinzip verdeutlichen: W (1) - D (2) < - W (3) < - D (4). (W = Werk, D = D a scha, < = Eskalation, Steigerung.) W oder D bezeichnen dabei die dominierenden Inhalte der jeweiligen Szene, immer in bezug auf Tschumalow, dessen Weg von der Front in den neuen Alltag verfolgt wird; dabei ist zu berücksichtigen, daß Gleb in den „Werk"Szenen sein Problem mit Dascha, in den „Dascha"-Szenen das Werk, sein Hauptanliegen, niemals vergessen kann. B e i d e Probleme sind aber nicht primär persönlicher, sondern öffentlicher Natur, sind Probleme der Bevölkerung, der Klasse, auch das Dascha-Problem: durch Daschas gesamte Entwicklung seit Glebs Weggang zur Front und ihre jetzige Tätigkeit. Das drückt sich in der Zuordnung von Duo- und Massenszenen aus, die einem anderen Rhythmus als dem des gleichmäßigen Wechsels (also n i c h t analog zur W-D-