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German Pages 469 [474] Year 2013
Daniel Menning Standesgemäße Ordnung in der Moderne
Ordnungssysteme Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit Herausgegeben von Jörg Baberowski, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael
Band 42
Daniel Menning
Standesgemäße Ordnung in der Moderne Adlige Familienstrategien und Gesellschaftsentwürfe in Deutschland 1840–1945
Oldenbourg Verlag München 2014
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT
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Inhaltsverzeichnis Vorwort
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Einleitung
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I. Adel und gesellschaftliche Ordnungsmodelle zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Nationalsozialismus 1. Gesellschaftsentwürfe und Adelsreformprogramme in der Mitte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1
33
Der Adel und das konservativ-ständische Verständnis gesellschaftlicher Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . Adelsentwürfe in der Adelsreformdiskussion . . . . . . Der politische Beruf des Adels . . . . . . . . . . . . . . Der sittliche Beruf des Adels und die ,adligen‘ Tugenden Adlige Aufgaben in der Gesellschaft . . . . . . . . . . . Wirtschaftliche Grundlage(n) – aber welche? . . . . . . Gemeinschaft bewahren . . . . . . . . . . . . . . . . .
35 42 45 51 56 59 64
2. Adelskonzepte und Gesellschaftsentwürfe von den 1860er bis in die 1930er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5
2.1
Der Adel, die konservative Berufsständegesellschaft und ihre Transformationen in der völkischen und radikalnationalistischen Bewegung . . . . . . . . . 2.2 Adlige Selbstverortungen . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Konservative Leitideen und adlige Adaptionen . . . 2.3.1 Familie und Familienverständnis . . . . . . . . . . 2.3.2 Grundbesitz, Landbindung und Agrarromantik . . 2.3.3 Ehre, Ansehen und Reputation . . . . . . . . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
74 84 109 111 124 142
II. Zwischen den Gesellschaftskonzepten I – Familiäre Organisationsstrategien bis 1918 1. Die Reform muss bei der Familie ansetzen – Familienverbände und Adelsreformdiskussionen östlich der Elbe . . . . . . . . . 173 1.1 1.2
Entstehungszeiten und Entstehungsräume der Familienverbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wege in den Familienverband – Gründungsanlässe und Gründungszwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
174 176
6
Inhaltsverzeichnis
1.3
Familientage, Familienstiftungen und Familiengeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was unterschied Familienverbände von frühneuzeitlichen Vorläufern familiärer Organisation? .
197
2. Den Glanz der Familie in verändertem Umfeld erhalten – Fideikommisse und Stammgüter in Südwestdeutschland . . .
201
1.4
2.1 2.2 2.3 2.4
Rechtliche Grundlagen des Statuserhalts . . . . Erscheinungsformen . . . . . . . . . . . . . . . Quantitative Bedeutung der Vererbungsformen im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . Extreme Kondominate . . . . . . . . . . . . . .
187
. . . . . . . .
203 207
. . . . . . . .
216 221
III. Zwischen den Gesellschaftskonzepten II – Familiäre Praxis bis 1918 1. Familienverständnis und familiäre Orientierung . . . . . . . . 1.1
229
Die ganze große Familie und ihr Interesse am Familienverband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Lob dem Verzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historische Verankerung und Intentionen der Familiengeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . .
258
2. Familie und Grundbesitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
269
1.2 1.3
2.1 2.2
Bindung ans Land oder reiche Stiftung? Die Allodifizierung in Nordostdeutschland . . . . . . . Ein Kondominat, ein Schloss und viele Teilhaber. Wie funktioniert da Landbindung? . . . . . . . . . . .
3. Die Ehre und die Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 3.2
229 245
270 279 287
Das Ansehen der Familie wahren – die Familienverbände und ihre Ehrenräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Erziehung durch Vorbilder in Familiengeschichten . . . 303
IV. Mit einer ,fremden‘ Gesellschaftsordnung konfrontiert – Familiäre Strategien und Realitäten in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus 1. Untergang und Fortbestand der Stammgüter in Südwestdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1
Die Aufhebung der Stammgüter und Fideikommisse . .
321 321
Inhaltsverzeichnis
1.2 1.3
Der Nationalsozialismus als „neue Hoffnung“ und der Angriff auf den Großgrundbesitz . . . . . . . . Die Suche nach Nachfolgeformen der Grundbesitzbindung . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Fortbestand und Transformation der Familienverbände in Nordostdeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 2.2
7
341 356 367
Der Untergang der Familienstiftungen . . . . . . . . . Das Band der Familie enger schlingen – Auf der Suche nach neuen Integrationsformen . . . . . . . . . . . . . Der Nationalsozialismus – Familienverbände zwischen Anpassung und Zerreißprobe . . . . . . . . . . . . . .
374
Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
405
Anhang: Vermögensentwicklung adliger Familienstiftungen 1877–1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
415
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
429
Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
431
2.3
Archivmaterial . . . . . . . . . . . . . . . Familiengeschichten/Regestensammlungen Familienzeitungen . . . . . . . . . . . . . Periodika . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . Internetmaterial . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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367
392
. . . . . . .
431 433 439 439 440 444 444
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
463
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
463 467
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist im Sommersemester 2012 von der Philosophischen Fakultät der Eberhard-Karls Universität Tübingen als Dissertation angenommen und im Jahr 2013 mit dem Dissertationspreis ausgezeichnet worden. Für die Veröffentlichung wurde der Text leicht überarbeitet und gekürzt. Während ich dieses Vorwort abfasse, sitze ich bei sommerlichen Temperaturen auf der Veranda, und die Sonne geht langsam hinter dem Horizont unter. Neben mir steht ein Vanilla Infused Porter – ein Bier, das nach Schokolade riecht und schmeckt. Doch nicht nur diese äußeren Bedingungen sind es, die mich glücklich auf die vergangenen Jahre, die Entstehungszeit dieser Arbeit zurückblicken lassen. Sondern es ist vor allem die tiefe Dankbarkeit, die ich gegenüber jenen Menschen verspüre, die diese Dissertation ermöglicht, ihre Entstehung begleitet haben und an die ich in diesem Moment denke. An erster Stelle möchte ich meinem Chef und gleichzeitigen Erstgutachter Ewald Frie (Tübingen) danken. Er hat die Arbeit immer mit Rat und Wohlwollen begleitet und mir zugleich viel Freiraum gewährt. Einen angenehmeren und inspirierenderen Doktorvater hätte ich mir nicht wünschen können. Renate Dürr (Tübingen) und Hans-Werner Hahn (Jena) haben dankenswerterweise weitere Gutachten abgefasst. Den Herausgebern der Reihe „Ordnungssysteme“ danke ich für die Aufnahme der Arbeit. Von Lutz Raphael (Trier) habe ich zudem einige wertvolle Hinweise zur Überarbeitung erhalten. Wilderich Graf Bodman und der Sankt Georgenverein der Württembergischen Ritterschaft haben mir erlaubt, ihre Archive ohne jede Einschränkung einzusehen. Ihr Material stellte eine willkommene Ergänzung zur Überlieferung der staatlichen Archive dar. Dank gebührt aber auch den Mitarbeitern der zahlreichen von mir besuchten staatlichen Archive, die allesamt mit viel Hilfsbereitschaft die Quellenrecherche unterstützt haben. Dass ich überhaupt in diesem Ausmaß in Archive reisen konnte, verdanke ich einem großzügigen Reisekostenstipendium der Fritz-Thyssen-Stiftung. Dass die Arbeit in dieser Form erscheinen kann, hat die VG Wort mit der Übernahme des Druckkostenzuschusses ermöglicht. Beiden Institutionen bin ich für die gewährte Unterstützung dankbar. Auf einer Reihe von Tagungen und Workshops sowie in Kolloquien konnte ich Grundgedanken oder einzelne Teile der Arbeit vorstellen. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern danke ich für viele kritische Nachfragen und konstruktive Hinweise. Ebenfalls konnte ich mich mit den Tübinger Adelsforscherinnen Chelion Begass, Johanna Singer und Alexa von Winning über manches Problem austauschen. Nicht minder dankbar bin ich den Kollegen und Kolleginnen, die zwar nicht direkt mit dem Thema befasst waren, aber auf vielfältige Art und Wei-
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Vorwort
se bei der Entstehung der Arbeit behilflich waren: Gabriele Lingelbach (Kiel) hat mir im Hinblick auf die Wissensorganisation manchen Hinweis gegeben. Benjamin Ziemann (Sheffield) und Jörg Neuheiser (Tübingen) haben vielen meiner Gedanken zugehört und diese immer wieder kommentiert. Die Tübinger Althistoriker brachten mich bei ungezählten Mensagängen auf andere Gedanken und sorgten dafür, dass mir das Lachen nicht verging. Katharina Kreuder-Sonnen (Gießen) hat mit mir über den Teilnehmerlisten adliger Familientage gebrütet und an der Aufbereitung für die statistische Auswertung mitgewirkt – was nicht so einfach ist, wenn sich Vornamen ständig wiederholen. Marlene Keßler (Tübingen) hat Literatur beschafft, Fußnoten überarbeitet, das Register erstellt und Formatierungen geändert. Die Sonne ist inzwischen untergegangen. Der Laptopakku neigt sich dem Ende zu. Das Bier habe ich ausgetrunken. Im Hintergrund spielt eine Band auf der County Fair. Doch einige Menschen sollen, nein müssen noch genannt werden: Christoph Koep (Stuttgart), seit langen Jahren ein verlässlicher Freund, der immer zuhört. Horst Hermann, mein Großvater, der leider den Abschluss dieser Dissertation nicht mehr erlebt hat, mit dem ich mich aber immer gern über die Eigenheiten des Wissenschaftlerdaseins unterhalten habe. Benjamin Zychlinski, der mich seit der Schreibphase durchs Leben begleitet und immer Verständnis für meine Arbeit und meine Eigenarten aufgebracht hat. And my parents on both sides of the Atlantic: Anne und Wolfgang Menning (Mülheim/Ruhr) – Rita and Ryan Christie (Cody, WY). They have given me more than I can say. To them I dedicate this book. Eugene, im Juli 2013
Einleitung Berlin– 20./21. Juli 1944: Um die Mitternachtszeit wurden im Bendlerblock Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim, Claus Graf Schenk von Stauffenberg, Werner von Haeften und Friedrich Olbricht nach dem missglückten Attentat auf Adolf Hitler und dem Versuch des Umsturzes der politischen Ordnung durch ein Standgericht zum Tode verurteilt und im Anschluss hingerichtet. In den folgenden Wochen wurden Berthold Graf Schenk von Stauffenberg, FritzDietlof Graf von der Schulenburg, Alfred Kranzfelder, Erwin von Witzleben, Erich Hoepner, Hellmuth Stieff, Albrecht von Hagen, Paul von Hase, Robert Bernardis, Friedrich Karl Klausing, Peter Graf Yorck von Wartenburg und etwa 200 weitere „Verräter“ ebenfalls hingerichtet.1 In der Zeit des größten Zivilisationsbruches fanden sich Mitglieder einer nobilitierten bayerischen Familie, eines ehemaligen Reichsrittergeschlechts, einer ursprünglich aus Geldern stammenden deutsch-niederländischen Familie und alte preußische Adelsgeschlechter mit Bürgerlichen zusammen, um ein verbrecherisches Regime in seinem Handeln zu stoppen. So gemischt diese Gruppe nach ihrer sozialen und regionalen Herkunft war, schon kurz nach dem Attentatsversuch wurde sie zu einer Einheit, als Adolf Hitler gegenüber Arbeitern bemerkte: „Ich habe von Anfang an gewußt, daß ihr das nicht gewesen seid. Es ist mein tiefster Glaube, daß meine Feinde die ,vons‘ sind, die sich Aristokraten nennen.“2 Und Robert Ley, Führer der Deutschen Arbeitsfront, sprach im Radio davon: „Degeneriert bis in die Knochen, blaublütig bis zur Idiotie, bestechlich bis zur Widerwärtigkeit und feige wie alle gemeinen Kreaturen, das ist die Adelsclique, die der Jude gegen den Nationalsozialismus vorschickt. . . . man muß . . . die ganze Brut ausrotten.“3 Nicht nur war hier der Grundstein für die Identifizierung von Adel und Widerstand unter veränderten Vorzeichen in der Nachkriegszeit gelegt4 , indem sich kurz vor dem Untergang der Adelswelt östlich der Elbe Adelsvertreter verschiedenster Regionen und sozialer Herkunftsmilieus zu einer Hand1
2 3 4
Die Auflistung folgt Peter Hoffmann: Stauffenberg und der 20. Juli 1944, München 1998, S. 95–96. Zur Würdigung des ,adligen‘ Elements im Attentat vgl. besonders Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2003, S. 585–593. Zitiert nach Max Domarus (Hrsg.): Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Von einem Zeitgenossen kommentiert. Bd. 2: Untergang, München 1965, S. 2127. Robert Ley: Gott schütze den Führer, in: Der Angriff, 23.7.1944. Eckart Conze: Aufstand des preußischen Adels. Marion Gräfin Dönhoff und das Bild des Widerstands gegen den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: VfZ 51/2003, S. 483–508; ders.: Adel und Adeligkeit im Widerstand des 20. Juli 1944, in: Heinz Reif (Hrsg.): Adel und Bürgertum in Deutschland. Bd. 2: Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 269–295; Malinowski: Vom König zum Führer, S. 587–593.
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Einleitung
lungseinheit zusammenfanden, sondern für die Gegenseite taugte ,Adel‘ auch als ausreichend distinkte Feindgruppe in einer Gesellschaft, die seit 25 Jahren keinen rechtlich definierten Adel und seit über 130 Jahren keinen staatlichfunktional definierten Adel mehr kannte. Die Auflösung der Ständegesellschaft scheint aus dieser Perspektive spurlos am Adel vorbeigegangen zu sein – einem Adel, der sich, wirkmächtig im kollektiven Bewusstsein der Nachkriegsgesellschaft verankert, mit einem Fanal der Aufrichtigkeit 1944 aus der Geschichte in die Welt der Erinnerung und autobiographischen Nostalgie verabschiedet zu haben scheint.5 Dass der Adel noch mehr als ein Jahrhundert, nachdem die frühneuzeitlich ständische Gesellschaftsordnung sich aufgelöst hatte, als distinkte Gesellschaftsgruppe ausgemacht werden konnte, ist ein Phänomen, an dem sich die Geschichtswissenschaft seit ihrer Blickerweiterung zur Sozial- und Strukturgeschichte immer wieder abgearbeitet hat. Besonders jene Historiker stoßen sich am Fortbestand des Adelsstandes, die die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts mit sozio-ökonomischen Theoriemodellen beschreiben und den Wandel von der Stände- zur Klassengesellschaft als die fundamentale Transformation gesellschaftlicher Ungleichheitsbedingungen ansehen. „Als ein jeden puristischen Systematiker störendes Paradoxon“, so Hans-Ulrich Wehler, stand der Adel „in der Verschmelzung von traditionalem Herrschaftsstand und agrarkapitalistischer Erwerbs- und Besitzklasse . . . – in Sombarts treffender Formulierung – im Zwitterzustand einer ,classe féodale‘“6 an der Spitze der ländlichen Gesellschaft. Zwar sei langfristig eine „Mutation zum agrarkapitalistischen Unternehmer“ erfolgt, diese habe aber vor allem zu verschärftem „Egoismus“7 in der Verteidigung der Eigeninteressen geführt. „Konservative Beharrung“, „betriebswirtschaftliche Elastizität“8 und der Staat hätten dem Adel sein Überleben gesichert. Nach Thomas Nipperdey ist in Deutschland die „gesellschaftliche Schichtung mit- und umgeprägt“ oder auch „politisch überformt“ worden durch den „Beamtenstaat“, das Militär und den Adel. Letzterem habe der Staat „sein Überleben als Stand oberhalb der Klassen oder seine Umbildung zur Grundbesitzer- und Herrschaftsklasse
5
6 7 8
Kritische Würdigungen dieser Öffentlichkeitskampagnen des Adels bei Eckart Conze: Aufstand des preußischen Adels. Marion Gräfin Dönhoff und das Bild des Widerstands gegen den Nationalsozialismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: VfZ 51/2003, S. 483–508. Zum Hervortreten der Nostalgie in Autobiographien nach 1945 Marcus Funck/Stephan Malinowski: Masters of Memory. The Strategic Use of Memory in Autobiographies of the German Nobility, in: Alon Confino/Peter Fritzsche (Hrsg.): Memory Work in Germany. New Directions in the Study of German Society and Culture, Urbana 2002, S. 86–103. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849 – 1914, München 1995, S. 107. Ders.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815 – 1845/49, München 1987, S. 155. Ebd., S. 160.
Einleitung
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wesentlich erleichtert.“9 Der Adel, der einen Platz und eine Funktion in der ständischen Gesellschaft hatte, in der Klassengesellschaft aber nicht, schien die Ausbildung der Klassengesellschaft wahlweise unterlaufen, abgeblockt oder in seinem egoistischen Sinne ausgenutzt, auf jeden Fall aber seinen Fortbestand gesichert zu haben.10 In den letzten Jahren haben Historiker in den größeren Synthesen zur deutschen Geschichte vorsichtiger argumentiert. Jürgen Kocka geht zwar davon aus, dass sich die Klassengesellschaft am Ende des Kaiserreichs am stärksten ausgeprägt hatte, betont aber gleichzeitig, dass dieser Prozess nicht abgeschlossen war, sondern ständische Traditionen in Wahrnehmung und Handeln, auch außerhalb des Adels, fortlebten. Am deutlichsten sei die Klassenbildung in der Arbeiterschaft nachweisbar, während sich das Bürgertum ihr entzog. Geschlecht, Stadt-Land-Gegensatz und Religion seien zusätzliche Kriterien gewesen, die die vollständige Transformation der Gesellschaft in eine Klassengesellschaft verhindert hätten.11 Neben wirtschaftlicher Anpassung und obrigkeitlicher Protektion scheint der Adel, dieser Interpretation folgend, auch aufgrund der Nicht-Abgeschlossenheit der Klassenbildungsprozesse fortbestanden zu haben. Damit wird zwar der zeitliche Moment, an dem die Existenz des Adelsstandes aufhören, er in der Klassengesellschaft aufgehen musste, nicht mehr im Kaiserreich verortet, am grundsätzlichen klassentheoretischen Verlaufsmodell ändert dies aber wenig. Problematisch ist somit für die Adelsgeschichte, dass klassentheoretische Modelle grundsätzlich die Analyse solcher Gruppen behindern, die nicht in die Klassengesellschaft passten und trotzdem fortbestanden. Denn bei den beiden präsentierten Deutungen verschiebt sich einzig der Zeitpunkt, an dem der Adel in einer übermächtigen Klassengesellschaft aufgehen musste. Für den Adel bedeutet dies, dass ihm zwar eine partielle Modernisierung, besonders im Bereich der Landwirtschaft und der beruflichen Leistungsbereitschaft, zugeschrieben wird, ihm ansonsten aber weitestgehende Traditionalität oder gar Feudalität unterstellt werden muss. Es sind in den letzten Jahren verschiedene Modelle vorgeschlagen worden, mit denen diese dichotomische Interpretation des Wandels von der Stände- zur Klassengesellschaft umgangen werden sollte, die grundsätzlich den Adel nur als widerspenstiges Relikt vergangener Zeiten beschreiben kann, wenn sie sich nicht selbst widerlegen will. Vor allem die Kultur- und Alltagsgeschichte hat „Kategorien wie Modernität, Struktur und Prozeß oder 9
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Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918. Bd. I: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1998, S. 417f. Ähnlich: Hartwin Spenkuch: Das Preußische Herrenhaus. Adel und Bürgertum in der Ersten Kammer des Landtages 1854–1918, Düsseldorf 1998, S. 31. Friedrich Lenger: Industrielle Revolution und deutsche Nationalstaatsgründung (1849– 1870er Jahre), Stuttgart 2003, S. 139–154. Jürgen Kocka: Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart 2001, S. 98–138; Volker Berghahn: Das Kaiserreich 1871–1914. Industriegesellschaft, bürgerliche Kultur und autoritärer Staat, Stuttgart 2003, S. 201 u. 203.
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Einleitung
Klasse . . . wenn nicht für wissenschaftlich obsolet, so doch für dringend erweiterungsbedürftig erklärt“12 . An die Stelle von linearen Verlaufsmodellen und „objektive[n] Strukturen“, wie sie im Übergang von der Stände- zur Klassengesellschaft zum Ausdruck kommen, sind „dynamische Vorstellungen von der sozialen Praxis im Alltag“ gestellt worden. „Deutungs-, Wahrnehmungs- und Orientierungsweisen“ stehen im Zentrum dieser Untersuchungen, da sie „immer wiederkehrende, tagtägliche Orientierung“ des Handelns erlaubten.13 Für die Adelsgeschichte ist dies vor allem im Konzept des Wertehimmels von Marcus Funck und Stephan Malinowski ausgearbeitet worden. Sie wollten anhand adliger Autobiographien langfristig stabile Kernbestände des adligen Selbst- und Weltverständnisses ermitteln, die alltägliches Handeln strukturiert und den Adel als Gruppe konstituiert hätten.14 Nimmt man die anderen Arbeiten Malinowskis hinzu, lassen sich aber das Ausmaß und die Stabilität der Weltdeutung kaum eindeutig bestimmen. Denn grundsätzlich sind auch die Weltdeutungen, wollen sie nicht völlig irrational sein, auch wieder auf mindestens subjektiv wahrgenommenen beziehungsweise gedeuteten sozialen Strukturen oder deren Entwürfen fundiert. Die Reflexion dieser Tatsache fehlt allerdings, wenn Malinowski sich einerseits kritisch mit der Modernisierungstheorie auseinandersetzt, andererseits aber betont, „der Adel selbst hatte zwischen Französischer Revolution und Kaiserreich viel dafür getan, sich als un- und antimoderne Gruppe per se neu zu erfinden.“15 Nicht nur, dass er damit selbst ein normatives Moderneparadigma aufgreift. Sondern dieser Neuerfindung wird dann der adlige Wertehimmel gegenübergestellt, der sich durch ,lange Dauer‘ ausgezeichnet habe. Die als Quellengrundlage dienenden Autobiographien, die seit den 1920er Jahren erschienen, bieten die Werte und Handlungsorientierungen, die auch die ermittelten Handlungen zwischen spätem Kaiserreich und Nationalsozialismus erklären. Indem Funck und Malinowski allerdings von einer ,langen Dauer‘ dieser Werte ausgehen, transportieren sie im Kern klassentheoretische Deutungen, nämlich, dass es dem Adel möglich gewesen sei, neben teilweiser Anpassung an den 12 13 14
15
Hans-Peter Ullmann: Politik im deutschen Kaiserreich 1871–1918, München 1999, S. 61. Lothar Gall: Europa auf dem Weg in die Moderne 1850–1890, München 1997, S. 169. Marcus Funck/Stephan Malinowski: Geschichte von oben. Autobiographien als Quelle einer Sozial- und Kulturgeschichte des deutschen Adels in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: HA 7/1999, S. 236–270; Dies.: “Charakter ist alles!“ Erziehungsideale und Erziehungs-praktiken in deutschen Adelsfamilien des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Jb. für historische Bildungsforschung 6/2000, S. 71–91. Wesentlich differenzierteres Vorbild waren Manfred Hettling/Stefan-Ludwig Hoffmann: Der bürgerliche Wertehimmel. Zum Problem individueller Lebensführung im 19. Jahrhundert, in: GG 23/1997, S. 333–359; dies.: Zur Historisierung bürgerlicher Werte. Einleitung, in: Dies. (Hrsg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000, S. 7–21. Stephan Malinowski: Ihr liebster Feind. Die deutsche Sozialgeschichte und der preußische Adel, in: Sven O. Müller/Cornelius Torp (Hrsg.): Das deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 203–218, hier S. 203.
Einleitung
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gesellschaftlichen Wandel seit der Frühen Neuzeit weiterhin vergleichsweise konstanten Leitwerten zu folgen.16 Erst, so Malinowski in seiner Dissertation, „der Zusammenbruch institutioneller Strukturen [1918], die dem Adelshabitus seit Jahrhunderten als Rahmen gedient hatten, bereitete der sprichwörtlichen Stabilität adliger Weltdeutung und Verhaltensweisen ein Ende. . . . [D]er Adelshabitus und die in ihm aufbewahrten Denk- und Verhaltensvorgaben waren fortan entsichert.“17
Entweder hat es also bis 1918 eine stabile, weitgehend unangepasste Weltdeutung gegeben oder aber bereits vor 1918 eine inhaltliche Neuerfindung ,des’ Adels als „un- und antimoderne Gruppe“. Beides passt kaum zusammen. Da die Radikalisierung von mindestens kleineren Teilen des Adels vor 1918 und großen Teilen danach nicht in Abrede steht, und eine auch nur im Kern stabile Weltdeutung durch die Wandlungen des 19. Jahrhunderts hindurch zweifelhaft erscheint, vereinzelt auch bereits zurückgewiesen worden ist18 , wird man also von einer wesentlichen höheren Dynamik des Adelsverständnisses und seiner Weltdeutung schon vor 1918 ausgehen müssen. Silke Marburg und Josef Matzerath haben auf die Pluralisierung der Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert als Erklärungsmodell für die Fortexistenz des Adels verwiesen. Diese Pluralisierung habe im Gegensatz zur Frühen Neuzeit Legitimität besessen. Völliger Partikularisierung habe Vereinheitlichung entgegengewirkt. Adelsforschung habe sich daher auf die „Teilordnung“ des Adels zu konzentrieren „und nach den Gründen für die Stabilität und Durchsetzungskraft dieser Ordnung gegenüber neuen Formationen, etwa konkurrierenden Klassen“ zu fragen.19 Sodann sollen, im Gegensatz zu Funck und Malinowski, nicht Werte im Mittelpunkt der Untersuchung stehen, sondern „Generierungsprozesse einer . . . regionalen Adelskultur“.20 Schließlich hat Matzerath vorgeschlagen, den Zusammenhalt des Adels über die Definition von Gruppenzugehörigkeitskriterien wie Konnubium und Vergesellschaftung zu beschreiben. Dieses Verfahren, dass er als „Definition 16
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Ebenfalls für langfristig stabile Adelsselbstbilder plädiert Heinz Reif: Adel im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, S. 30. Neuerdings etwas flexibler klingt die Argumentation in Malinowski: Ihr liebster Feind. Malinowski: Vom König zum Führer, S. 224–225. Vgl. u. a. Josef Matzerath: An der Tafel Graf Günther von Bünaus auf Dahlen (1768–1841). Zur Küche des Adels im frühen 19. Jahrhundert, in: Martina Schattkowsky (Hrsg.): Die Familie von Bünau, Adelsherrschaften in Sachsen und Böhmen vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Leipzig 2008, S. 247–260; ders.: Der durchschossene Hut des Freiherrn v. Friesen. Zur Institutionalisierung von Adeligkeit, in: Eckart Conze/Monika Wienfort (Hrsg.): Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2004, S. 237–246; Ewald Frie: Adel und bürgerliche Werte, in: Hans-Werner Hahn/Dieter Hein (Hrsg.): Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung – Rezeption, Köln/u. a. 2005, S. 393–414. Silke Marburg/Josef Matzerath: Vom Stand zur Erinnerungsgruppe. Zur Adelsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Dies. (Hrsg.): Der Schritt in die Moderne, Sächsischer Adel 1763–1918, Köln/u. a. 2001, S. 5–16, hier S. 7. Ebd., S. 9.
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von ,analytischen Gruppen‘“21 bezeichnet, erlaubt es ihm im zweiten Schritt, auch bei in der Praxis abweichendem Verhalten, solange von einer Gruppe auszugehen, wie sich diese über die festgelegten Definitionskriterien als zusammengehörig zeigt. Expliziert worden ist dies in verschiedener Form. Auf der einen Seite hat Matzerath, anstatt von konstanten Weltdeutungen auszugehen, die inneradlige Kommunikation in den Vordergrund gestellt, die den permanenten Abgleich von Weltdeutungen ermöglicht habe.22 Auf der anderen Seite hat er unter anderem an den politischen Positionen südwestdeutscher Adliger in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu zeigen versucht, wie sich Adel „entkonkretisierte“. Die untersuchten Adligen waren Anhänger verschiedener politischer Richtungen von Demokraten bis hin zu Konservativen. Der Adel bestand dennoch fort, da man in der sozialen Praxis bereit gewesen sei, über unterschiedliche politische Positionen hinwegzusehen, und die gemeinschaftliche Zugehörigkeit zum Adel sozial manifestierte. Matzerath kommt so zu dem Ergebnis, dass sich „die Sozialformation Adel entkonkretisierte“ und „elastischer“ wurde.23 Vor allem historisch habe sich der Adel legitimiert. Damit entgehen Marburg und Matzerath zwar der klassentheoretischen Deutung, dass der Adel in der Moderne zwangsläufig hätte verschwinden müssen. Stattdessen könne man einen Wandel von einem konkreten Stand zu einer diffuseren Erinnerungsgruppe feststellen. Während die Notwendigkeit von Kommunikation zur Gruppenkonstitution kaum zweifelhaft sein kann, scheint der niedere Adel am Jahrhundertende jedoch immer noch als äußerst distinkte Gruppe existiert zu haben, ohne dass die Einbindung des ,Adelsproletariats‘ in eine spezifisch adlige Binnenkommunikation überzeugend gezeigt worden ist.24 Ebenso erscheint es fraglich, ob Erinnerung allein den Adel als Stand in der Moderne erhalten konnte. Schließlich scheinen die inneradlige Kritik an Standesgenossen, die auf dem Weg zu einem Elitenbündnis mit dem Bürgertum waren, ebenso wie die nach 21
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Josef Matzerath: „... nicht gegen, nein für das Volk sein muß die Aristokratie“, in: Eckart Conze/Sönke Lorenz (Hrsg.): Die Herausforderung der Moderne. Adel in Südwestdeutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Ostfildern 2010, S. 51–58, hier S. 52; ders.: Adel und Hauptstadt in der militärischen Gegenrevolution 1848/49, in: Heinz Reif (Hrsg.): Adel und Bürgertum in Deutschland. Bd. 1: Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 155–172. Ders.: Adelsprobe an der Moderne. Sächsischer Adel 1763–1866. Entkonkretisierung einer traditionalen Sozialformation, Stuttgart 2006; ders.: Der durchschossene Hut; ders.: Adelig werden und adelig bleiben. Bindekräfe im niederen Adel des 19. Jahrhunderts, in: Markus Denzel/Günther Schulz (Hrsg.): Deutscher Adel im 19. und 20. Jahrhundert. Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 2002 und 2003, St. Katharinen 2004, S. 289– 300; ders.: Was bildet den Adel? Gruppentypische Ausbildungswege und Bindekräfte, in: Ivo Cerman/Lubos Velek (Hrsg.): Adelige Ausbildung. Die Herausforderung der Aufklärung und ihre Folgen, München 2006, S. 83–93. Matzerath: nicht gegen, S. 57. Vergleiche dazu beispielweise die Aufstellungen über Berufe sächsischer Adliger und die vielen unstandesgemäß Beschäftigten in: Matzerath: Adelsprobe an der Moderne.
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1918 weite Teile des Adels erfassende Radikalisierung gegen Elastizität und die Bereitschaft zur Entkonkretisierung des Adels zu sprechen.25 Während also der Blick von Funck und Malinowski zurück ins 19. Jahrhundert Unschärfen für den Wandel des Adels im 19. Jahrhundert bedingt, scheint die Interpretation Matzeraths, die von 1800 aus den Wandel zu interpretieren versucht, die Situation um 1900 nur bedingt deuten zu können. Um diesen Perspektiven der Adelsgeschichte des 19. Jahrhunderts zu entgehen, die den Adel entweder vom Anfang oder vom Ende zu beschreiben versucht, kann man auf Jürgen Osterhammel zurückgreifen.26 Er hat ein weltgeschichtliches Modell von drei Phasen für das 19. Jahrhundert entwickelt, an dessen Anfang und Ende jeweils Transformationsphasen lagen und in dessen Kernphase das Eigene des 19. Jahrhunderts zu finden sei. Für die Adelsgeschichtsforschung hat Ewald Frie vorgeschlagen, das Phasenmodell auf seine Tragfähigkeit zu prüfen.27 Diese Forderung, die Adelsgeschichte im 19. Jahrhundert in verschiedenen Zeitschnitten aus ihrer jeweiligen Bedingtheit heraus zu verstehen, lässt sich mit einem Gedanken kombinieren, den Willam D. Godsey in seiner Arbeit zum Reichsritteradel im Mainzer Domkapitel entwickelt hat. Er geht davon aus, dass „our own understanding of nobility has become so different from what was earlier prevalent that it tends to be projected back in time.“ Aber: „Noble identity was not eternal and unchanging, depended decisively on its context, and existed in relation to the whole. When the frame of reference changed, then so did self-understanding.”28 Statt die Geschichte seiner Untersuchungsgruppe aus nationaler Perspektive zu begreifen, beschreibt er daher, wie sich im Gefolge der französischen Revolution die Konzeptionen von Nation und Nationalismus im reichsritterschaftlichen Adel wandelten, er also nicht von modernen Gesellschaftsentwürfen unberührt blieb, sondern zu dem sich wandelnden Bezugsrahmen Stellung beziehen musste. Aus diesen 25
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Vgl. dazu u. a. Malinowski: Vom König zum Führer, S. 460–475; Marcus Funck: Schock und Chance. Der preußische Militäradel in der Weimarer Republik zwischen Stand und Profession, in: Reif : Adel und Bürgertum II, S. 127–171, hier S. 171; Eckart Conze: Helden und Verräter. Zur Wahrnehmung politischer Aktivität im deutschen Adel des 19. und 20. Jahrhundert, in: Martin Wrede/Horst Carl (Hrsg.): Zwischen Schande und Ehre. Erinnerungsbrüche und die Kontinuität des Hauses. Legitimationsmuster und Traditionsverständnis des frühneuzeitlichen Adels in Umbruch und Krise, Mainz 2007, S. 367– 384. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, Müchen 2009; ders.: Die europäische Übergangsgesellschaft im globalen Zusammenhang, in: Ute Schneider/Lutz Raphael(Hrsg.): Dimensionen der Moderne. Fschr. für Christof Dipper. Frankfurt 2008, S. 707–726. Osterhammel selbst bezieht sich auf den älteren Aufsatz von Christof Dipper: Übergangsgesellschaft. Die ländliche Sozialordnung in Mitteleuropa um 1800, in: ZHF 23/1996, S. 57–87. Ewald Frie: Adelsgeschichte des 19. Jahrhunderts? Eine Skizze, in: GG 33/2007, S. 398– 415. William D. Godsey: Nobles and Nation in Central Europe. Free Imperial Knights in the Age of Revolution 1750–1850, Cambridge 2004, S. 10 u. 140.
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Einsichten lässt sich eine Fragestellung entwickeln, die nach den Bedingungen des Fortbestands des Adelsstandes aus einer Perspektive fragt, die nicht einem dichotomischen Entwicklungsmodell der Gesellschaft im 19. Jahrhundert folgt. Damit wird versucht, die Wandlungen adliger Weltdeutung und die Möglichkeiten des Fortbestands als Stand mit distinkten Merkmalen stärker in den Blick zu nehmen. Wenn Historiker den Wandel von der Stände- zur Klassengesellschaft seit den 1960er Jahren als analytisches Instrumentarium zur Erforschung des Gesellschaftswandels im 19. Jahrhundert aufgegriffen haben, so haben sie im Kern auf Versuche der Gesellschaftsbeschreibung des 19. Jahrhunderts zurückgegriffen und aus der Vielzahl der Entwürfe einen hervorgehoben. Neben diesem Entwurf hat es aber zahlreiche andere Entwürfe gegeben – so die bürgerliche Gesellschaft, die „klassenlose Bürgergesellschaft“ (Lothar Gall), die sozialistische Klassentheorie und berufsständische Modelle konservativer Provenienz, schließlich seit dem Ende des Jahrhunderts rassische Modelle, um nur einige zu nennen.29 Dies führt zur grundsätzlichen Frage nach dem Stellenwert, der Funktion und der Bedeutung, die solche Entwürfe für die Zeitgenossen hatten und den Historiker ihnen beimessen können.30 Spätestens in den 1830er Jahren befand sich die frühneuzeitliche Ständegesellschaft, auch für die Zeitgenossen wahrnehmbar, in einem Zustand der Auflösung. Das Gesellschaftsmodell, das aus der Perspektive der Zeitgenossen rückblickend über Jahrhunderte das Leben der Menschen geprägt zu haben schien, an dem sie ihr Verhalten orientiert hatten und das durch Gesetze abgesichert war, verschwand langsam – auch wenn sich der Abbau frühneuzeitlich ständischer Sonderrechte noch über das Jahr 1848 hinaus hinzog, letztlich erst mit der Weimarer Reichsverfassung 1919 abgeschlossen wurde.31 Zeitgleich entwarfen die Zeitgenossen permanent neue Gesellschaftsmodelle, die 29 30
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Vgl. zur Einführung Paul Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000. Die Studie verdankt im Folgenden viele Impulse der Arbeit von ebd. Ebenfalls anregend war Ralph Jessen/Sven Reichardt: Einleitung, in: Dies./Ansgar Klein (Hrsg.): Zivilgesellschaft als Geschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2004, S. 7–27. Die gesellschaftliche Ordnung der Frühen Neuzeit wurde im Gegensatz zum 19. Jahrhundert nicht in einem solchen Maß in Frage gestellt. Vgl. Peter-Michael Hahn: Ein Geburtsstand zwischen Beharrung und Bewegung. Der niedere Adel in der frühen Neuzeit, in: Günther Schulz (Hrsg.): Sozialer Aufstieg. Funktionseliten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, München 2002, S. 193–219, S. 196. Außerdem Ronald G. Asch: Einführung: Adel in der Neuzeit, in: GG 33/2007, S. 317–325, hier S. 319–320; Christophe Duhamelle: Der verliebte Domherr. Ein Familienkonflikt in der rheinischen Reichsritterschaft am Ende des 18. Jahrhunderts, in: HA 5/1997, S. 404–416; Walter Demel: Preußisches und bayerisches Adelsrecht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ein Vergleich der großen Kodifikationen, in: Maximiliane Kriechbaum (Hrsg.): Fschr. für Sten Gagnér zum 3. März 1996, Ebelsbach 1996, S. 151–181, hier S. 180; Ewald Frie: Adel und Hof im 19. Jahrhundert, in: Wolfgang Wiese/Katrin Rössler (Hrsg.): Repräsentation im Wandel. Ostfildern 2008, S. 77–84, hier S. 80.
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Alltagshandeln sinnvoll strukturieren und erwartbar gestalten sollten. Diese Modelle mussten an die sich wandelnden Realitäten des 19. Jahrhunderts angepasst werden. In den Worten Thomas Nipperdeys: „Die Entwürfe von Zukunft sind Bilder der Vergangenheit und Deutungen der Gegenwart zugleich. . . . Die Gesellschaft selbst wird politisch, artikuliert sich in unterschiedlichen Richtungen und sucht die politischen Entscheidungen zu beeinflussen. . . . Der politische Kampf ist zunächst – und in den Augen der Zeitgenossen gar – ein Kampf der Ideen davon, wie Staat und Gesellschaft aussehen sollen.“32
Hier ist der historische Ort der Gesellschaftsmodelle, sowohl der politischen als auch der „wissenschaftlichen“33 . Die Definitionen davon, wie die Gesellschaft sich verstehen sollte, welchem Modell sie entsprach oder in Zukunft entsprechen sollte, waren Kämpfe um Geltungsansprüche und -forderungen, da den Modellen nicht objektive gesellschaftliche Realität zugrunde lagen, sondern subjektiv wahrgenommene und gedeutete gesellschaftliche Strukturen.34 Zudem verbanden sich mit diesen Gesellschaftsmodellen stets Vorstellungen davon, nach welchen Regeln gesellschaftliche Ungleichheiten existieren und wie Machtteilhabe und -verteilung beschaffen sein und legitimiert werden sollten. Diese Modelle prägten das Bewusstsein und Verhalten ihrer Anhänger, aus ihrer Perspektive wurde die Gesellschaft interpretiert. Das Individuum war nicht objektiven Strukturen unterworfen und folgte diesen in seinem Handeln lediglich, wie es die Strukturgeschichte unterstellt
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Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1998, S. 286. Ähnlich Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S. 28. Cornelius Torp: Max Weber und die preußischen Junker, Tübingen 1998, bes. S. 80–96, hat gezeigt, wie die Webersche Junkerkritik zutiefst in seine Erwartungen und Entwürfe der gesellschaftlichen Zukunft eingebettet war. Arbeiten anderer deutscher Soziologen zwischen 1900 und 1930 über den Adel zeigen ebenfalls, wie stark das soziologische Nachdenken über den Adel eigentlich eine Auseinandersetzung um die Gestalt und Weiterentwicklung der Gesellschaft war. Hinweise dazu bei Wolfgang Schwentker: Die alte und die neue Aristokratie. Zum Problem von Adel und bürgerlicher Elite in den deutschen Sozialwissenschaften (1900–1930), in: L’Université de Milan (Hrsg.): Les noblesses européennes au XIXe siècle. Actes du colloque de Rome (21–23 novembre 1985), Paris 1988, S. 659–684. Grundlegend für dieses Verständnis und die in der Arbeit verfolgten theoretischen Prämissen: Karl Siegbert Rehberg: Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen und Grundkategorien zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen, in: Gerhard Göhler (Hrsg.): Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie, Baden-Baden 1994, S. 47–84; ders.: Institutionen als symbolische Verkörperungen, in: Tamás Meleghy/Heinz-Jürgen Niedenzu (Hrsg.): Institutionen. Entstehung, Funktionsweise, Wandel, Kritik, Innsbruck 2003, S. 33–53; ders.: Institutionelle Ordnungen zwischen Ritual und Ritualisierung, in: Christoph Wulf /Jörg Zirfas (Hrsg.): Die Kultur des Rituals. Inszenierungen, Praktiken, Symbole, München 2004, S. 247–265; M. Rainer Lepsius: Institutionenanalyse und Institutionenpolitik, in: Brigitta Nedelmann (Hrsg.): Politische Institutionen im Wandel, Opladen 1995, S. 392–403; Joseph Schumpeter: Die sozialen Klassen im ethnisch homogenen Milieu, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 57/1927, S. 1–67.
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hat, sondern durch Akteurshandeln wurden Gesellschaftsmodelle anerkannt (beziehungsweise abgelehnt), wurden diese Modelle in tägliche Interaktion umgesetzt und reproduziert. Aus dieser Warte wird auch verständlich, warum sich klassengesellschaftliches Handeln am besten in der protestantischen Arbeiterschaft nachweisen lässt.35 Aber in der Selbstwahrnehmung interpretierte nur ein Teil der Bevölkerung die Gesellschaft des Kaiserreichs als Klassengesellschaft, andere interpretierten sie in anderer Weise und stemmten sich gegen die Annahme klassengesellschaftlicher Deutungsmuster als allgemeinverbindlicher Gesellschaftsinterpretation – waren auf der Suche nach einer „anderen Moderne“36 . Das Kaiserreich war insofern ein Zeitalter der Auseinandersetzung um die zukünftige gesellschaftliche Ordnung.37 Man kann daher in Anlehnung an Godsey und Frie drei diese Arbeit leitende Hypothesen entwickeln: 35 36
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Berghahn: Das Kaiserreich, S. 201; Ullmann: Politik im deutschen Kaiserreich, S. 8. In einer Abwandlung von Thomas Rohkrämer: Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880–1933, Paderborn 1999; ders.: Cultural Criticism in Germany 1880–1933, in: History of European Ideas 25/1999, S. 321–339, hier S. 337. Zu den spezifischen Bedingungen bei der Entstehung der Theorien, die von einem Übergang von der Stände- zur Klassengesellschaft ausgehen vgl. Werner Conze/ Otto G. Oexle/Rudolf Walther: Stand, Klasse, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe 6, Stuttgart 1990, S. 155–284, hier S. 273 u. 281. Zur Beschäftigung der Zeitgenossen um 1900 mit den Fragen nach der gesellschaftlichen Entwicklung und den zutreffenden Beschreibungsmodellen vgl. Paul Nolte: 1900: Das Ende des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: GWU 47(1996), S. 281–300, hier S. 285–289; Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte III, S. 706f. Für einzelne Gruppen: Alexandra Gerstner: Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, Darmstadt 2008; Winfried Becker: Die Zentrumspartei und die Enzyklika Rerum Novarum. Zur Wirkungsgeschichte der Sozialenzyklika auf den politischen Katholizismus in Deutschland, in: Rheinische Vjbll. 56/1992, S. 260–277. Zu parlamentarischen Alternativkonzepten zur Klassengesellschaft: Hartwin Spenkuch: Herrenhaus und Staatsrat in der preußischen Verfassungsgeschichte (1849/54–1933). „Familientag der ostelbischen Junker“ und „Futterkrippe für politische Nullen“, in: Bundesrat (Hrsg.): Der Bundesrat im ehemaligen Preußischen Herrenhaus, Berlin 2002, S. 43–61, hier S. 49; Manfred Noe: Berufsständische Elemente in den deutschen Staatsverfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt 2000, S. 52–70 u. 86–109. Im Kern hat sich die Adelsforschung unter dem Stichwort der ,composite elite’ auch mit der Frage nach der Akzeptanz bestimmter gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen beschäftigt, aber die klassentheoretischen Prämissen dabei außer Acht gelassen. Vgl.: Spenkuch: Herrenhaus, S. 452; Torp: Max Weber, S. 74–79; René Schiller: Vom Rittergut zum Großgrundbesitz. Ökonomische und soziale Transformationsprozesse der ländlichen Eliten in Brandenburg im 19. Jahrhundert, Berlin 2003; Heinz Reif : Hauptstadtentwicklung und Elitenbildung: „Tout Berlin“ 1871 bis 1918, in: Michael Grüttner/Rüdiger Hachtmann/Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.): Geschichte und Emanzipation, Fschr. für Reinhard Rürup, Frankfurt/ New York 1999, S. 679–699. Allgemein der zusammenfassende Überblick bei Malinowski: Vom König zum Führer, S. 121–143. An der Auseinandersetzung waren die führenden Kreise im Staat selbstverständlich nicht unbeteiligt. Vgl. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, S. 419; Spenkuch: Herrenhaus, S. 441–455.
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(1.) Der Adelsstand konnte so lange existieren, wie es eine relevante Gruppe von Anhängern von Gesellschaftsmodellen, also „frames of reference“ (Godsey) gab, in denen ein Adelsstand vorstellbar war. Adlige gibt es so lange, wie sich Menschen adlig fühlen, aber ein Adelsstand setzt ein gesellschaftliches Gesamtkonzept voraus. Insofern müssen verschiedene zeitgenössische Gesellschaftskonzepte ernst genommen werden, denn sie ermöglichten die Existenz eines Adelsstands, und diese unterschiedlichen Konzepte prägten die Weltwahrnehmung der Zeitgenossen. Von den konservativen, später auch nationalistischen und nationalsozialistischen Gesellschaftsvorstellungen her betrachtet, wird deutlich, warum ein Adelsstand in der Gesellschaft immer noch denkbar war und nicht in der Klassengesellschaft verschwand. Zudem kann dann untersucht werden, inwiefern es dem Adel als Stand gelang, sich innerhalb der Gesellschaftskonzepte, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert entworfen wurden, zu verorten. Hierzu sollen neben den abstrakten Diskussionen vor allem die praktischen Umsetzungen von Leitideen von Adel und Gesellschaft durch Adlige untersucht werden. Der Kampf ums Obenbleiben war aus dieser Perspektive nicht in erster Linie ein Kampf um inneradlige Strategien der Statusabsicherung, wie es die klassische Frage Rudolf Brauns impliziert, sondern der Kampf ums Obenbleiben war zunächst eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung um die Ordnung der Gesellschaft, ihre Ungleichheitsverteilung, ihr Oben und Unten. Und erst wenn das Oben hinreichend eindeutig war, der Adel also wusste, zu welchem Oben er wollte, machte es Sinn, passende Strategien und Medien auszuwählen und auszugestalten.38 Zugleich wird mit dem Blick auf Ordnungskonzepte der Gesellschaft geprüft, inwiefern es im 19. Jahrhundert unterschiedliche Formen der adligen Selbst- und Gesellschaftsbeschreibung gab, die es erlauben würden, einen eigenständigen Kern des 19. Jahrhunderts zu ermitteln, wie es Ewald Frie vorgeschlagen hat. Denn bislang hat die Forschung zur Adelsgeschichte, wie an Matzerath und Marburg sowie Funck und Malinowski gezeigt, vornehmlich von der Zeit um 1800 in das 19. Jahrhundert hinein- oder von 1918 in selbiges zurückgeblickt. Diese Arbeit wird daher in der Phase der offensichtlichen Auflösung der Ständegesellschaft seit den 1830er Jahren einsetzen, in der verstärkt neue Gesellschaftsmodelle auch auf konservativer Seite entworfen wurden.39 Sie endet mit dem Nationalsozialismus, da mit ihm ständische Gesellschaftsentwürfe noch einmal eine kurzfristige Blüte erlebten, bevor sie schon in der
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Rudolf Braun: Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben: Adel im 19. Jahrhundert, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Europäischer Adel 1750–1950, Göttingen 1990, S. 87– 95. Grundlegende Kritik bei Ewald Frie: Adel um 1800. Oben bleiben? in: Zeitenblicke 4/2005, Nr. 3. Zu konservativen Gesellschaftsentwürfen seit den 1830er Jahren bis zur Reichsgründung vgl. Doron Avraham: In der Krise der Moderne. Der preußische Konservativismus im Zeitalter gesellschaftlicher Veränderung 1848–1876, Göttingen 2008.
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späteren Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft unterdrückt wurden und nach 1949 in beiden deutschen Staaten jegliche Relevanz verloren.40 (2.) Zudem wird die Arbeit jene an die imaginierten Gesellschaftsstrukturen angepassten Strategien betrachten. Was vor dem Hintergrund des angenommenen Wandels von der Stände- zur Klassengesellschaft als bloße Defensiv- oder Beharrungsstrategie in der Forschung beschrieben worden ist, kann mit Blick auf die zugrunde liegenden gesellschaftlichen Vorstellungen und Erwartungen noch einmal überprüft werden. Manche Strategie, so die zweite Hypothese dieser Arbeit, wird aus dieser Perspektive als gezieltes Projekt im Rahmen einer (neu) entworfenen Gesellschaftsordnung zu verstehen sein und nicht als bloßes Festhalten und zähes Verteidigen aus der Defensive heraus – also als Beharrungsstrategie. Hierfür wird der Blick nicht auf Vereine, individuelle oder staatliche Akteure gerichtet. Denn einerseits ist die Rolle des Staates, individueller Akteure und der Vereine verschiedentlich untersucht worden, andererseits neigen diese Perspektiven dazu, den Adel aus den Handlungen und Meinungen Einzelner zu rekonstruieren und dabei den Adel als gesellschaftliche Großgruppe nicht immer genau fassen zu können. Stattdessen soll hier familiäres Handeln im Vordergrund stehen, denn auf dieser Ebene lässt sich die Verbreitung und Umsetzung von Strategien in größerer Breite im Adel nachverfolgen.41 (3.) Abschließend sollen dann die einzelnen Akteure genauer betrachtet werden. Denn, und dies ist die dritte Hypothese dieser Arbeit, wenn verschiedene Gesellschaftsmodelle miteinander um Geltung konkurrierten, dann konnten sich Individuen auch an verschiedenen Modellen oder innerhalb des von den Modellen abgesteckten Feldes bewegen. In den Handlungen des Individuums wird somit das Wissen über Gesellschaftsmodelle stets aktualisiert, angewandt und damit in seiner Relevanz bestätigt oder negiert. Auf der Ebene des Akteurshandelns spiegeln sich insofern die Wandlungen und Brüche in der adligen Auseinandersetzung mit sich wandelnden Gesellschaftsvorstellungen besonders deutlich wider. So lassen sich zugleich der Eigensinn und die Zweckrationalität von Akteurshandeln vor dem Hintergrund von Modellen beobachten.42 Und nicht zuletzt erlaubt es, der Frage 40 41
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Conze/Oexle/Walther: Stand, Klasse, S. 285–286; Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Die Betonung der Ertragsfähigkeit des Zugriffes auf den Adel über die Familie findet sich auch bei Malinowski: Ihr liebster Feind, S. 218. Außerdem die trotz mancher berechtigter Kritik von Charlotte Tacke: „Es kommt also darauf an, den Kurzschluss von der Begriffssprache auf die politische Geschichte zu vermeiden.“ ,Adel’ und ,Adeligkeit’ in der modernen Gesellschaft, in: NPL 52/2007, S. 91–123, wegweisende Arbeit von Eckart Conze: Von deutschem Adel. Die Grafen von Bernstorff im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2000. Für die Adelsgeschichte der Frühen Neuzeit jetzt vorgeschlagen von Alexander Jendorff : Eigenmacht und Eigensinn. Zum Verhältnis von Kollektivität und Individualität im alteuropäischen Adel, in: HZ 292/2011, S. 613–644.
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nachzugehen, inwiefern die familiären Strategien des Obenbleibens im Rahmen der imaginierten Gesellschaft funktional waren oder wo sie an ihre Grenzen stießen. Aus einer solchen prozessualen Sicht auf die Geschichte des Adels im 19. Jahrhundert lässt sich dann nach den Konstitutionsbedingungen des Adelsstandes in der Moderne fragen.43 Wie passte er sich in wechselnde Bezugsrahmen ein? Welche schuf er selbst? Damit trägt die Arbeit zu Fragen nach den Organisations- und Konstitutionsbedingungen der Gesellschaft im 19. Jahrhundert bei. Denn der Fortbestand des Adelsstandes war nach dem Ende der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft keine Selbstverständlichkeit mehr. Der Blick auf Strategien und Akteure erlaubt es zudem zu untersuchen, wie der Adel selbst zum Erhalt seines Standes beitrug. Statt die Gesellschaft in eine sich entwickelnde Klassengesellschaft einzuordnen, wird nach der Autoperspektive der Akteure und den Bedingungen für die Selbstkonstitution von Sozialgruppen gefragt. Die deutsche Sprache erleichtert eine solche Untersuchung nicht, weshalb hier auf einige terminologische Schwierigkeiten hingewiesen werden soll. Der Begriff ,Adel‘ impliziert, ähnlich wie der Begriff ,Bürgertum‘, verschiedene Bedeutungsgehalte. Erstens kann mit ,Adel‘ die Gruppe bezeichnet werden – also der ,Adelsstand‘. Die Zugehörigkeit zum ,Adelsstand‘ erwarb man in aller Regel durch die Abstammung von einem adligen Vater, in selteneren Fällen durch Nobilitierung. Der ,Adelsstand‘ kann im 19. Jahrhundert jedoch nicht als sozialhistorisches Phänomen definiert werden, da die sozialen Realitäten der Teilgruppen zu unterschiedlich waren. Neben dem Vermögen bestanden auch Trennlinien im Hinblick auf die Herkunftsregion, die Konfession und das Alter des Adels. Daher kann man den Adel in Deutschland auch in einzelne Adelsgruppen aufteilen, die aufgrund ähnlicher Konstellationen dieser Elemente eine ähnliche Stellung hatten beziehungsweise im 19. Jahrhundert ähnliche Erfahrungen machten – den preußischen Kleinadel, die ehemaligen Reichsritter in Südwestdeutschland, die Standesherren, die großgrundbesitzenden Junker Ostelbiens etc. Allerdings sind solche Einteilungen nicht immer unproblematisch.44 Die Zugehörigkeit zum Adel fand ihren Ausdruck in Privilegien – einem zweiten Bedeutungsgehalt, der im Begriff ,Adel‘ enthalten ist. Freilich wurden diese Privilegien im 19. Jahrhundert immer weniger und schließlich 1919 abgeschafft. Der Hauptteil der Privilegien, an denen Adlige partizipierten, beruhte ohnehin auf Grundbesitz und war daher nicht allen Adligen zugänglich.45 Schließlich kann mit ,Adel‘ drittens eine 43 44
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Damit versucht die Arbeit nicht zuletzt einen Beitrag zu leisten zum Problem der Definition des Adels im 19. Jahrhundert. Zu den Problemen dabei vgl. Frie: Adel um 1800. Vgl. zu solchen Einteilungen z. B. Reif : Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 1–9; Monika Wienfort: Der Adel in der Moderne, Göttingen 2006, S. 11–20; Malinowski: Vom König zum Führer, S. 34–46. Am Beispiel: Conze: Von deutschem Adel, S. 89–129.
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Idee gemeint sein – die Zeitgenossen sprechen hierbei von der ,Standesidee‘. Solche ,Standesideen‘ konnten im Adel diskutiert werden, wurden aber auch in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Bürgertum diskutiert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Neuadelsdiskursen aufgegriffen.46 Zentrale Bemühung des historischen Adels im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es, wie die Arbeit zeigen wird, ,Adelsstand‘, ,Adelsgruppen‘ und ,Standesidee‘ miteinander im Begriff ,Adel‘ zur Deckung zu bringen. Daher schwingen im Reden vom ,Adel‘ auch stets die unterschiedlichen Bedeutungsgehalte mit, und eine begriffliche Differenzierung ist nicht immer möglich. Die Arbeit vergleicht zwei Gruppen des deutschen Adels. Der östlich der Elbe, hauptsächlich in Preußen beheimatete, Kleinadel bildet die eine Untersuchungsgruppe. Diese Fraktion des Adels hat immer wieder das besondere Interesse der Historiker auf sich gezogen. Ihre Rolle auf dem Weg „vom König zum Führer“47 hat die Forschung besonders interessiert, wurde und wird dieser Teil des Adels doch für die fatale Entwicklung der deutschen Geschichte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verantwortlich gemacht. Besonders Fragen des wirtschaftlichen und politischen Machterhalts sind untersucht worden. Aus der Perspektive der Adelsforschung kann er als recht gut erforscht gelten, auch wenn zahlreiche Defizite bleiben.48 Die zweite Untersuchungsgruppe bilden die ehemaligen Reichsritterfamilien in Südwestdeutschland, die seit ihrer Mediatisierung 1805 Untertanen des Königs von Württemberg und des Großherzogs von Baden waren. Sie sind, bei allen historischen Unterschieden, das soziostrukturelle Äquivalent des Kleinadels östlich der Elbe. Während ihre Geschichte in der Frühen Neuzeit und auch der Prozess der Mediatisierung und die Entwicklung ihrer Rechtsverhältnisse im Deutschen Bund vergleichsweise gut untersucht sind49 , fehlt es weitgehend an neueren 46
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Vgl. u. a. Dieter Langewiesche: Bürgerliche Adelskritik zwischen Aufklärung und Reichsgründung in Enzyklopädien und Lexika, in: Elisabeth Fehrenbach (Hrsg.): Adel und Bürgertum in Deutschland 1770–1848, München 1994 , S. 11–28; Gerstner: Neuer Adel. So der Titel der Dissertation von Malinowski: Vom König zum Führer. Hier noch Einzelnachweise zu liefern, würde den Rahmen sprengen. Stattdessen sei auf die beiden Überblicksdarstellungen verwiesen, die den uneinheitlichen Forschungsstand widerspiegeln: Wienfort: Der Adel in der Moderne; Reif : Adel im 19. und 20. Jahrhundert. Außerdem der Forschungsüberblick bei Tacke: Kurzschluss. Überblicke über die Geschichte der Reichsritterschaft bis 1805/06 vor allem von Volker Press: Die Reichsritterschaft im Reich der frühen Neuzeit, in: Nassauische Ann. 87/1976, 101–122. Zur Mediatisierung: Christof Dipper: Die Reichsritterschaft in napoleonischer Zeit, in: Eberhard Weis (Hrsg.): Reformen im rheinbündischen Deutschland, München 1984, S. 53–73; Thomas Schulz: Die Mediatisierung des Kantons Kocher. Ein Beitrag zur Geschichte der Reichsritterschaft am Ende des alten Reiches, in: ZWLG 47/1988, S. 323–357; ders.: Die Mediatisierung des Adels, in: Württembergisches Landesmuseum (Hrsg.): Baden und Württemberg im Zeitalter Napoleons. Bd. 2. Aufsätze, Stuttgart 1987, S. 157–174; Gerrit Walther: Treue und Globalisierung. Die Mediatisierung der Reichsritterschaft im deutschen Südwesten, in: Volker Himmelein (Hrsg.): Alte Klöster, neue Herren. Die Säkularisation im deutschen Südwesten 1803, Ostfildern 2003, S. 857–872; Michael Puchta: „Indessen tritt hier der Fall ein, wo Gewalt vor Recht gehet.“ Die Media-
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sozial- und kulturgeschichtlichen Forschungen.50 Beide Gruppen zeichnen sich durch eine ähnliche wirtschaftliche Situation aus. Es herrschte eine Mischung aus Einkünften aus dem Grundbesitz und aus dem Dienst in Militär, Staatsverwaltung, Hof und Kirche vor. In ihrem Vermögen standen beide Gruppen hinter den Standesherren, die für Südwestdeutschland bisher betrachtet worden sind, zurück.51 Zugleich lässt sich innerhalb beider Gruppen aber auch eine starke Heterogenität zwischen wirtschaftlich mehr oder weniger erfolgreichen Individuen ausmachen. Zu den Unterschieden gehört neben der historisch-rechtlichen Dimension als landsässiger Adel in Nordostdeutschland und als Reichsadel in Südwestdeutschland die Quantität. In Südwestdeutschland gab es wesentlich weniger Adlige als östlich der Elbe. Eine letzte markante Trennungslinie bildet die Konfession. Während im Nordosten der Adel weitgehend homogen protestantisch war, war der ehemalige Reichsadel in katholische und protestantische Familien geteilt.52
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tisierung der schwäbischen Reichsritterschaft am Beispiel des Bezirks Allgäu-Bodensee, in: Mark Hengerer/Elmar L. Kuhn (Hrsg.): Adel im Wandel. Oberschwaben von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Bd. 2, Ostfildern 2006, S. 591–604; Rudolf Endres: „Lieber Sauhirt in der Türkei als Standesherr in Württemberg ...“ Die Mediatisierung des Adels in Südwestdeutschland, in: Himmelein: Alte Klöster, neue Herren, S. 837–856; Herbert Berner: Die Aufhebung des reichsritterschaftlichen Kantons Hegau-Radolfzell, in: Heinrich Büttner (Hrsg.): Aus Verfassungs- und Landesgeschichte. Fschr. für Theodor Mayer zum 70. Geburtstag, Lindau/Konstanz 1955, S. 203–227; Eberhard v. Waechter: Die letzten Jahre der deutschen Reichsritterschaft, in: Württembergische Vierteljahrshefte für LG 40/1934, S. 243–289; Ludwig Frhr. v. Stetten-Buchenbach: Vom Ende der Reichsritterschaft, in: Preußische Jbb. 113/1903, S. 481–549. Zur Rechtsstellung in den Mittelstaaten: Wolfgang v. Stetten: Die Rechtsstellung der unmittelbaren freien Reichsritterschaft, ihre Mediatisierung und ihre Stellung in den neuen Landen. Dargestellt am fränkischen Kanton Odenwald, Schwäbisch Hall 1973; Gustav Mangold: Die ehemalige Reichsritterschaft und die Adelsgesetzgebung in Baden vom Wiener Kongreß bis zur Erteilung der Verfassung (1815–1818), in: ZGO 46/1933, S. 3–108; Fehrenbach, Elisabeth: Das Erbe der Rheinbundzeit: Macht- und Privilegienschwund des badischen Adels zwischen Restauration und Vormärz, in: AfS 23/1983, S. 99–122; dies.: Das Scheitern der Adelsrestauration in Baden, in: Weis: Reformen, München 1984, S. 251–264. Ausnahmen bilden hier die beiden Sammelbände: Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hrsg.): Adel und Nationalsozialismus im deutschen Südwesten, LeinfeldenEchterdingen 2007; Conze/Lorenz: Die Herausforderung der Moderne. Außerdem die hervorragende Arbeit von Godsey, Nobles and Nation. Aus der Perspektive der Hofforschung auch Gisela Herdt: Der württembergische Hof im 19. Jahrhundert. Studien über das Verhältnis zwischen Königtum und Adel in der absoluten und konstitutionellen Monarchie, Phil. Diss., Göttingen 1970. Zu den Standesherren klassisch: Heinz Gollwitzer: Die Standesherren. Die politische und gesellschaftliche Stellung der Mediatisierten 1815 – 1918. Ein Beitrag zur deutschen Sozialgeschichte, Göttingen 1964. Von den neueren Arbeiten u. a. Siegfried Grillmeyer: Habsburgs Diener in Post und Politik. Das „Haus“ Thurn und Taxis zwischen 1745 und 1867, Mainz 2005. Außerdem die neuere Literatur bei Wienfort: Der Adel in der Moderne. Reif : Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 2–5. Außerdem für die Reichsritterschaft mit Blick aus der Frühen Neuzeit Press: Reichsritterschaft.
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Einleitung
Die Arbeit gliedert sich in vier Abschnitte. Abschnitt I wird die Adelsmodelle, die innerhalb gesellschaftlicher Gesamtmodelle entworfen wurden, untersuchen. Hierzu müssen einerseits die Adelsreformdebatten der 1840er und 50er Jahre untersucht, andererseits die sich im Anschluss an diese Reformdebatte daraus ergebenden Konsequenzen und Adelsleitbilder betrachtet werden, die zwischen den 1860er und 1930er Jahren Relevanz besaßen. Darauf folgend (II) werden die familiären Strategien der beiden Untersuchungsgruppen im Kampf ums Obenbleiben auf ihre Zusammenhänge mit den Adelskonzepten und ihre innere Funktionsweise hin untersucht. Der folgende Abschnitt (III) wird sich den Handlungsvarianten widmen, die im Spannungsfeld von Gesellschaftsentwürfen und Familienstrategien in der Zeit bis 1918 entstanden, und wie diese genutzt werden konnten. Der abschließende Abschnitt der Arbeit (IV) wendet sich der Zeit nach 1918 zu und wird in komprimierter Weise untersuchen, in welcher Form die Familien ihre Strategien und individuellen Handlungsweisen an das gewandelte gesellschaftlich-politische Umfeld anpassen konnten und welche Konsequenzen dies für das Akteursverhalten hatte. Die Quellengrundlage besteht für die Adelsmodelle der Mitte des 19. Jahrhunderts aus publizierten Entwürfen. Für die Adelskonzepte seit den 1860er Jahren, die familiären Organisationen und deren Praxis wurde vor allem auf die archivalischen Überlieferungen der Adelsfamilien selbst zurückgegriffen. In Nordostdeutschland erwiesen sich die Überlieferungen der Familienverbände als sehr ertragreich. Darüber hinaus konnten die besonders seit 1918 durch die Verbände veröffentlichten Familienzeitungen herangezogen werden.53 Die Quellendichte variiert dabei jedoch zwischen den Familien erheblich. Statt sich daher auf einzelne Familien mit guter Überlieferung oder auf besonders große Familien zu beschränken, hat die Arbeit versucht, so umfassend wie möglich das überlieferte Archivmaterial in den besuchten Archiven zu erheben.54 Dadurch bildet das Material ein Spektrum von großen und kleinen, bekannten und weniger bekannten Geschlechtern ab, was Verallgemeinerungen der Ergebnisse erlaubt. Für Südwestdeutschland wurde in erster Linie auf die in den staatlichen Archiven überlieferten adligen Familienarchive zurückgegriffen. Von den noch im privaten Besitz befindlichen Archiven konnte das Archiv der Grafen Bodman eingesehen werden. Es wurden vor allem Akten im Zusammenhang mit der familiären Organisation im Umfeld des Grundbesitzes ausgewertet. Um allgemeine Tendenzen beobach53 54
Ein großer Teil dieser Familienzeitungen befindet sich in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresden. Sie werden zur Vereinfachung FZ-Familienname zitiert. Eine Ausnahme bilden die Familien v. Bülow und v. Schwerin. Bei Letzterer waren Teile der Akten wegen Schimmelbefalls im LAG gesperrt. Bei der Familie v. Bülow wurde vor allem die Familienzeitung berücksichtigt, hingegen konnte die Überlieferung im LHASA-WR – Rep. E v. Bülow nicht mehr untersucht werden. Beide Familien wurden jedoch ausführlich von Kathleen Jandausch: Ein Name, Schild und Geburt. Niederadlige Familienverbände der Neuzeit im südlichen Ostseeraum, Bremen 2011, untersucht.
Einleitung
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ten zu können, wurde das Grundbesitzvererbungsverhalten jener Familien, deren Akten nicht in Archiven überliefert sind, über Regierungsblätter und -akten, Familiengeschichten und die Literatur ermittelt, so dass alle ehemaligen Reichsritterfamilien, die im Stichjahr 1918 über Großgrundbesitz in Baden oder Württemberg verfügten, erfasst wurden. Schließlich wurden auch Akten beziehungsweise Zeitschriften der beiden spezifisch für die Region gegründeten Adelsvereine, des „St. Georgenvereins der württembergischen Ritterschaft“ und des „Vereins Katholischer Edelleute Südwestdeutschlands“, ausgewertet, um einen vertieften Einblick in die sich wandelnden Adelsbilder zu bekommen. Abschließend bilden für beide Regionen gleichermaßen die publizierten Familiengeschichten eine ergänzende Quellengrundlage.55
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Familiengeschichten werden mit FG-Familienname und Erscheinungsjahr zitiert.
I. Adel und gesellschaftliche Ordnungsmodelle zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Nationalsozialismus
Dieses Kapitel setzt zwei Zeitschnitte, die sich in die Einteilung eines kurzen 19. Jahrhunderts einfügen. Der erste Zeitschnitt umfasst die Mitte des 19. Jahrhunderts, der zweite hat seine Wurzeln in den 1860er Jahren und reicht bis in die Zeit des Nationalsozialismus. Die Untersuchung beider Zeitschnitte wird jeweils zwei Ziele verfolgen: Zunächst sollen ,die‘ gesellschaftlichen Ordnungsentwürfe betrachtet werden, in denen der Adel auch im 19. und 20. Jahrhundert noch einen Platz hatte und die der Adel rezipierte. Sodann wird es um die Selbstverortungen des Adels innerhalb dieser Ordnungsentwürfe gehen. Die Tatsache, dass der Adel im 19. Jahrhundert weiterhin als Stand gesehen wurde und sich diese Wahrnehmung bis in den Zweiten Weltkrieg hinein nicht wandelte, deutet bereits an, dass im Untersuchungszeitraum keine Öffnung gegenüber anderen als (modifiziert) ständischen gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen stattfand. Vielmehr verband der Adel sein Schicksal mit solchen Ideologien, die weiterhin eine Ständegesellschaft propagierten.1
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Dies bedeutet nicht, dass es in der Praxis nicht auch Adelsreformprogramme liberaler Provenienz gegeben hat. Allerdings ging es bei diesen nicht um die Aufrechterhaltung des alten (modifizierten) Adels, sondern um eine Elitensynthese aus Bürgertum und Adel. Vgl. dazu Langewiesche: Bürgerliche Adelskritik.
1. Gesellschaftsentwürfe und Adelsreformprogramme in der Mitte des 19. Jahrhunderts Das Adelsrecht und die Reprivilegierung des Adelsstandes nach den Reformen der Zeit um 1800 waren in den Ländern des Deutschen Bundes höchst unterschiedlich. Was die Adelsgruppen nach 1815 verband, war die Hoffnung auf eine (modifizierte) frühneuzeitlich-ständische Renaissance. Diese konnte regional unterschiedlich lange gepflegt und in unterschiedlichem Maße verwirklicht werden. Auf lange Sicht sollte sich aber die Hoffnung auf eine dauerhafte Etablierung einer modifizierten frühneuzeitlich-ständischen Ordnung als Illusion erweisen. Zur Desillusionierung des Adels trug nicht nur die fortschreitende Auflösung der überkommenen Ständegesellschaft bei, sondern auch die Regierungen, die nicht alle und nicht im gleichen Maße bereit waren, den Adel in seinen Rechten zu restituieren beziehungsweise ihm die in der Bundesakte von 1815 zuerkannten Rechte zuzugestehen.1 Dies hatte Folgen. Die Infragestellung und Auflösung der frühneuzeitlichen Ständeordnung und der Stellung des Adels innerhalb dieser, der (gefühlte) Verlust von Differenzkriterien gegenüber anderen Gesellschaftsgruppen, das Fehlen spezifisch adliger Funktionen in der Gesellschaft und der relative Bedeutungsverlust des Adels wurden von den Zeitgenossen wahrgenommen und kritisiert. In einer seit den 1830er Jahren anschwellenden Adelsreformdiskussion wurde nach den Ursachen für den Niedergang des Adels gefragt, und Lösungsvorschläge wurden niedergeschrieben.2 Während zahlreiche Autoren die Schuld auf der 1
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Hartwig Brandt: Adel und Konstitutionalismus. Stationen eines Konflikts, in: Fehrenbach: Adel und Bürgertum, S. 69–81, hier S. 73; Horst Conrad: Die Kette. Eine Standesvereinigung des Adels auf dem Wiener Kongreß, Münster 1979, S. 15–16; Wehler: Gesellschaftsgeschichte II, 141–142 u. 160; Kocka: Lange 19. Jahrhundert, S. 122. Für Westfalen: Heinz Reif : Westfälischer Adel 1770–1860. Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite, Göttingen 1979, S. 450. Ewald Frie hat mehrfach auf die Offenheit der Situation zwischen 1790 und 1830 hingewiesen, in der sich die Strukturen der alten Gesellschaftsordnung auflösten. Vgl. Ewald Frie: Ziegel, Bajonett und spitze Feder. Adelskultur in Brandenburg 1790–1830, in: Denzel/ Schulz : Deutscher Adel, S. 83–94; ders.: Friedrich August Ludwig von der Marwitz 1777–1837. Biographien eines Preußen, Paderborn 2001. Diese Wahrnehmung ist in den verschiedenen Adelsreformprogrammen jeweils enthalten. Eine ausführliche Abwägung der Problematik bietet der anonyme, aus den 1830er Jahren stammende Aufsatz: Grundherrlicher Adel – Stellung des Adels in Deutschland, in: GLAK – 69 Roeder v. Diersburg, Kasten 76. Als weitere Beispiele: NN: Ueber Nennung und Verhältnisse des ersten Erbstandes, in: ZfddA 2/1841, S. 374; Panagiotas Kondylis: Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986, S. 406; Carl August Graf v. Drechsel: Ueber Entwürfe zur Reorganisation des deutschen Adels im 19. Jahrhundert, Ingolstadt 1912, S. 41. Eindeutig positiv sieht die Entwicklung Sartorius
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I. Adel und gesellschaftliche Ordnungsmodelle
Seite der Regierungen suchten, die dem Adel seine angemessene Stellung entzogen und damit die Ordnung beziehungsweise Wohlfahrt des Gesamtstaates gefährdet hätten3 , kritisierten andere den Adel selbst. Sie hielten Mangel an Gemeingeist, ökonomischem Sinn und wissenschaftlicher Qualifikation sowie Verarmung für die Ursachen des Niedergangs. In der Ursachenforschung war somit keine Einigkeit herzustellen.4 Dafür war man sich aber unter den Reformautoren bezüglich der Notwendigkeit von Konsequenzen weitgehend einig. Denn, so ein anonymer Autor in der „Zeitung für den Deutschen Adel“, glaube „die Monarchie, mit Dienern, welche Alles verlieren, wenn sie ihren Dienst verlieren, und welche, ohne die leiseste Gegenvorstellung wagen zu dürfen, nach der Pfeife des Dienstes oder der Herrn tanzen müssen, auf die Länge Ordnung erhalten zu können in einem Volke, welches aus Proletariern, Speculanten und Rabulisten bestehen wird?“5
Ein anderer Autor ergänzte im selben Blatt: „Die Mitglieder des Herrenstandes [sollten] sich nicht durch den Wahn täuschen lassen, daß ihr Interesse gesichert bliebe, wenn die gediegene Phalanx einer kräftigen adlichen Ritterschaft, in welcher immer die größte intensive Kraft des Standes gelegen hat, sich in der Masse der übrigen Stände verliert.“6
Adelsreformen standen somit nicht nur in eminentem Bezug zur Weiterentwicklung der Gesellschaft an sich. Der in Tübingen promovierende Volkswirtschaftler und frühe Soziologe Albert Schäffle sah sie gar als Teil einer großen Gesellschaftsreform an. „Wir bemerken ... eine doppelte Richtung des Standes: einerseits das Streben nach einer eigenthümlichen ständischen Reorganisation, andererseits ein praktisches Eingehen auf das Gesammtleben der Nation, einerseits einen verjüngten Drang nach einer seinen Lebensverhältnissen entsprechenden socialen und politischen Sonderstellung, andererseits erhöhte Spontaneität socialer Bethätigung und größere Receptivität für die wahlverwandten Elemente der übrigen Gesellschaft. Und gerade hiedurch tritt das Problem der Adelsreform in den Zusammenhang einer allgemeinen socialen Tendenz der Zeit und nimmt unter verwandten Zeitaufgaben eine hervorragende Stelle ein.“7
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v. Schwansee: Erbfolge des Adels. Erbfolge im Grundbesitze, in: ZfddA 2/1841, S. 41f. Dass diese Wahrnehmung auch außerhalb des Adels vorhanden war, zeigt Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S. 38. U. a. NN: Programm der Adelsreunion, in: ZfddA 1/1840, S. 193; NN: Herstellung des Teutschen Ordens unter zeitgemäßer Veränderung, in: ZfddA 1/1840, S. 273. Einzelnachweise würden an dieser Stelle zu weit führen. Es sei auf die verschiedenen Programmentwürfe in der ZfddA verwiesen, die auch die Auseinandersetzung um die Gründe des „Niedergangs“ des Adels widerspiegeln. Außerdem: Karl S. Bader: Zur Charakteristik des Reichsfreiherrn Joseph von Laßberg, in: ZWLG 5/1941, S. 124–140, hier S. 128. NN: Betrachtungen über die Gegenwart und die Zukunft des Adels und des gesellschaftlichen Zustandes überhaupt. Vorschläge zur Gestaltung der Zukunft, in: ZfddA 1/1840, S. 81. NN: Was ist uns geblieben?, in: ZfddA 1/1840, S. 302. Hervorhebung im Original. Albert Schäffle: Der moderne Adelsbegriff als Beitrag zur Frage der Reorganisation des
1. Gesellschaftsentwürfe und Adelsreformprogramme
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Ein reines Festhalten am Status quo erschien somit immer weniger möglich oder wünschenswert. Ebenso hielten die meisten Autoren die schlichte Wiederherstellung der Vergangenheit für nicht praktikabel. In Auseinandersetzung mit Gesellschaftsentwürfen, die zunächst betrachtet werden sollen, wurden seit den 1840er Jahren Versuche unternommen, die Position des Adels in der Gesellschaft neu zu verorten, wurde versucht, „eine richtige Ansicht von der Bedeutung des Adels im Staate zu verbreiten“.8 Der Oberzeremonienmeister am preußischen Hof, von Stillfried, stellte sein Adelsreformprogramm 1843 unter das Motto: „Schwimmen oder Untergehen“.9 Aber in welchem gesellschaftlichen Umfeld sollte der Adel „schwimmen“?
1.1 Der Adel und das konservativ-ständische Verständnis gesellschaftlicher Ordnung „Organisch aber ist im allgemeinen das lebendig Gegliederte; ein organisches Wirken und Verfahren also ein solches, welches in dem gegliederten Zusammenhange und Einklange des Lebens sich bewegt, entwickelt und fortschreitet; es steht entgegen einesteils dem atomistischen Zustande, und andererseits allem Wirken und Verfahren in Masse. Das ist ja aber auch im Politischen das Wesen alles revolutionären Beginnens, erst den Staatskörper . . . in seine Elemente aufzulösen, und dann . . . mit diesen einzelnen Atomen in Masse dynamisch, d. h. nach einem bloßen Gegengewicht der Kräfte zu wirken.“10 Friedrich Schlegel (1823)
Die Stellungnahme Schlegels offenbart einige Grundzüge konservativer Gesellschaftsdeutung, die für das 19. und 20. Jahrhundert zentral bleiben sollten. Zunächst ist da das Denken in organologischen, gegliederten Gesellschaftsformationen, aus denen ein Zustand der sozialen Ausgeglichenheit (nicht jedoch der Gleichheit) und der Harmonie resultieren sollte. Sodann verdeutlicht Schlegel aber noch einen zweiten Wesenszug konservativen Denkens deutschen Adels, in: Deutsche Vierteljahrs-Schrift 3/1856, S. 318–392, hier S. 323f. Wobei es sich bei Schäffles Reformschrift offenbar um einen Teil der Promotion des Autors an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen handelt. Vgl. Art.: Albert Schäffle, in: Helmut Marcon/Heinrich Strecker (Hrsg.): 200 Jahre Wirtschafts- und Staatswissenschaften an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Leben und Werk der Professoren. Die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Tübingen und ihre Vorgänger (1817–2002), Stuttgart 2004, S. 246. 8 Georg Funke: Der Adel als Repräsentant des provinziellen Lebens, in: ZfddA 2/1841, S. 149. 9 Die Metapher ist freilich schillernd und lässt vielfältige Deutungen im Hinblick auf das Verhältnis von Adel und Gesellschaft zu. Rudolf Graf v. Stillfried-Alcántara: Vorschläge zu einer den alten und neuen Zwiespalt der Stände versöhnenden Reorganisation des Adels, Berlin 1843, S. 1. 10 Friedrich Schlegel: Signatur des Zeitalters (1823), zitiert nach Martin Greiffenhagen: Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, München 1971, S. 202.
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I. Adel und gesellschaftliche Ordnungsmodelle
über gesellschaftliche Ordnung: Das Denken in Gegensätzen. Konstitutiv für diese Gegensätze sind die konkurrierenden Gesellschaftsentwürfe zunächst liberaler, dann sozialistischer Provenienz.11 Dieses Kapitel wird daher in zwei Schritten vorgehen. Zunächst sollen das dichotomische Denken, seine Grundlagen und Folgen in den Blick genommen werden, daran schließt sich die Frage nach der konkreten Ausgestaltung der organisch gegliederten Gesellschaft und dem Ort des Adels innerhalb dieser Gesellschaft an. Zentral ist dem Reden über eine Ordnung der Gesellschaft, nicht nur aus konservativer Sicht, das Denken in dichotomischen Kategorien. Dies bedeutet: Zwischen den Positionen schien eine Vermittlung unmöglich – es gab nur richtig oder falsch. Diese Dichotomien sind in der konservativen Gesellschaftsvorstellung prinzipiell angelegt und lassen sich als Konstante nicht nur im 19. Jahrhundert, sondern bis weit ins 20. Jahrhundert hinein begreifen.12 Sie finden sich auch bei den Fortentwicklern konservativer Ideen in der völkischen Bewegung und der neuen Rechten. Die konkreten Begrifflichkeiten erlauben eine scharfe Abgrenzung und verweisen damit auf die Entwicklung des Konservatismus als Ideologie, zunächst im Gegensatz zum Absolutismus, dann seit dem Beginn des 19. Jahrhundert zum Liberalismus und schließlich zum Sozialismus. Die Dichotomien beruhen jedoch auf einer verzerrten und vereinfachten Wahrnehmung der Gegenseite. Denn der Konfliktaustrag erfolgt nicht in Form einer detaillierten Auseinandersetzung mit dem Programm der Gegenseite, sondern in Form von Schlagworten: ,Ordnung‘ und ,Chaos‘, ,Stadt‘ und ,Land‘, ,Beruf ‘ und ,Erwerb‘, ,Kultur‘ und ,Zivilisation‘, ,Idealismus‘ und ,Materialismus‘, ,Monarchie‘ und ,Demokratie‘, ,konservativ‘ und ,liberal‘ – die Kette ließe sich lange fortsetzen – sind solche konservativen Gegensatzpaare.13 Charlotte Tacke hat mit Blick auf 11
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Zur Unzufriedenheit mit gesellschaftlichen Zuständen und Gesellschaftsentwürfen von liberaler, konservativer und sozialistischer Seite seit den 1750er Jahren und gemeinsame Merkmale vgl. die Überblicke bei Paul Nolte: Zivilgesellschaft und soziale Ungleichheit: Konzeptionelle Überlegungen zur deutschen Gesellschaftsgeschichte, in: Jessen/Klein/ Reichardt: Zivilgesellschaft, S. 305–326; ders.: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S. 21–22 u. 45–51; Lothar Gall: Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft, München 1993, S. 23–24; ders.: Vom Stand zur Klasse? Zur Entstehung und Struktur der modernen Gesellschaft, in: HZ 261/1995, S. 1–22. Christoph Nonn: Das 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn 2007, S. 129–162; Gall: Vom Stand zur Klasse?; Frank Möller: Aufbruch ins 20. Jahrhundert. Gegenwartserfahrung und Zukunftserwartung der wilhelminischen Elite zur Säkularwende 1900, in: GWU 50/1999, S. 730–739, hier S. 737. Die „zunehmende Dichotomisierung der Wahrnehmung“, die laut Malinowski: Vom König zum Führer, S. 476, in den 1920er Jahren erfolgt, ist insofern schon viel früher präsent. Vielfältige Beispiele finden sich bei Jens Flemming: „Führersammlung“, „politische Schulung“ und „neue Aristokratie“. Die „Herrengesellschaft Mecklenburg“ in der Weimarer Republik, in: Karl C. Führer/Karen Hagemann/Birthe Kundrus (Hrsg.): Eliten im Wandel. Gesellschaftliche Führungsschichten im 19. und 20. Jh. FS für Klaus Saul zum 65. Geburtstag, Münster 2004, S. 123–154, hier S. 124f. Hervorragend seziert Kondylis: Konservativismus, S. 22, den Begriff der Ordnung.
1. Gesellschaftsentwürfe und Adelsreformprogramme
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adlige Selbstbeschreibungen ebenfalls die Verzerrungswirkung dieser Weltwahrnehmung festgestellt: „Die Unterscheidung zur negativen Beschreibung des anderen dient dazu, die eigene Überlegenheit zu demonstrieren. ,Ihr Gegensatz ist auf ungleiche Weise konträr.‘ Das Unterschiedene des einen ist nicht identisch mit der Selbstbeschreibung des anderen.“14 Diesem schwarzweiß-Denken ist jedoch ein Absolutheitsanspruch der eigenen Position zu Eigen, der Vermittlungsformen zwischen den Positionen nur schwerlich anerkennen kann, beruhen diese doch allesamt auf einem „falsch verstandene[n] Zeitgeist“.15 Dieses Denken war auch im Adel weit verbreitet.16 Für den Adel war an dieser Weltwahrnehmung und -beschreibung jedoch nützlich, dass Dichotomien die Bildung von Allianzen zwischen ihm und anderen Gesellschaftsgruppen – seit den 1890er Jahren mit den Bauern, dann mit der neuen Rechten und der völkischen Bewegung und ihren (klein-)bürgerlichen Trägerschichten und schließlich in den 1920er und 30er Jahren mit dem Nationalsozialismus – erleichterten.17 Ein Versuch, die konservativen Gesellschaftsvorstellungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts zusammenzufassen, bleibt auf eine ganze Reihe von Verallgemeinerungen angewiesen. Verschiedene Spielrichtungen des Konservatismus, wie zum Beispiel der Beamtenkonservatismus oder der Sozialkonservatismus, können hier ebenso wenig en detail betrachtet werden wie die Fortentwicklung verschiedenster Deutungsmuster des Konservatismus.18 Wichtiger als 14 15
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Tacke: Kurzschluss, S. 98. Hans v. Aufseß an Kronprinz Maximilian v. Bayern, München 12.6.1831, in: Dietrich Hakelberg: Adliges Herkommen und bürgerliche Nationalgeschichte. Hans von Aufseß und die Vorgeschichte des „Germanischen Nationalmuseums“ in Nürnberg, in: Heinrich Beck/u. a. (Hrsg.): Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, Berlin 2004, S. 523–576, hier S. 559. Zur verzerrten Wahrnehmung aus Sicht des Adels vgl. Michael Seelig: Der Kampf gegen die Moderne. Krisenwahrnehmung und -bewältigung im „Deutschen Adelsblatt“ um 1900, in: Michael Grundwald/Uwe Puschner (Hrsg.): Krisenwahrnehmungen in Deutschland um 1900. Zeitschriften als Foren der Umbruchszeit im wilhelminischen Reich / Perceptions de la crise en Allemagne au début du XXe siècle, Bern 2010, S. 451–476, hier S. 455; Monika Wienfort: Gesellschaftsdamen, Gutsfrauen und Rebellinnen. Adelige Frauen in Deutschland 1890–1939, in: Conze/Dies.: Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 2004, S. 181–203, hier S. 202; Malinowski: Vom König zum Führer, passim. Ebd., S. 476–482 u. 492–496. Als neue Zusammenfassung, trotz einer Reihe Fehler im Detail, lesenswert Sven-Uwe Schmitz: Konservativismus, Wiesbaden 2009. Für eine knappe Zusammenfassung der Forschungsrichtungen vgl. Axel Schildt: Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jh. bis zur Gegenwart, München 1998; Wolf Nitschke: Adolf Heinrich Graf v. Arnim-Boitzenburg (1803–1868). Eine politische Biographie, Berlin 2004, S. 21–29. Als Forschungsüberblick: Hans-Christof Kraus: Preußischer Konservatismus im Spiegel seiner Forschungsgeschichte – Versuch eines Überblicks, in: JbGMOD 47(2001), S. 73– 97. Für die Kernzeit des 19. Jahrhunderts jetzt v.a. Avraham: In der Krise der Moderne. Traditioneller und der Sonderwegsthese verpflichtet: Robert M. Berdahl: The Politics of the Prussian Nobility. The Development of a Conservative Ideology 1770–1848, Prin-
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I. Adel und gesellschaftliche Ordnungsmodelle
die vielfältigen Unterschiede zwischen den einzelnen Richtungen sind hier jene zwei für alle Richtungen des Konservatismus konstitutiven Elemente, die auch für diese Arbeit relevant sind: Das konservative Menschenbild und die von den Konservativen beschriebene Ordnung der Gesellschaft. Das Menschenbild blieb, trotz unterschiedlicher Begründungslinien und der Öffnung für soziale Mobilität in der Jahrhundertmitte, gleich. Der Glaube an die Vernunftfähigkeit des Menschen, Teil des liberalen Erbes der Aufklärung, wird von den Konservativen zurückgewiesen. Zwar könne der Einzelne nach Tugenden, vor allem christlichen, streben, die Masse sei aber immer tugendlos. Sie müsse daher zergliedert, das Individuum in Gruppen beziehungsweise Stände eingebunden werden. Nur so sei ein Funktionieren der Gesellschaft sichergestellt. Deshalb wird von den Konservativen über das Individuum in aller Regel auch nicht allein nachgedacht, sondern es wird immer in seiner gesellschaftlichen Eingebundenheit gesehen. Der Mensch sei unauflöslich mit Volk, Stand und Familie verwachsen. In diese Gruppen müsse der Einzelne integriert werden, in sie müsse er hineinwachsen. Wahre „Freiheit könne nur in der Korporation . . . erlebt werden, Persönlichkeit sei nie Individualität, sondern eingebettet in Familie und Stand.“19 Neben Rechten hat der Mensch vor allem Pflichten – Pflichten gegenüber der Familie, dem Stand und dem Gesellschaftsorganismus, in die er eingebunden ist. Gegenüber den Anforderungen des Staates, des Standes und der Familie habe das Individuum zurückzustehen, könne dafür aber auch die Solidarität der jeweiligen Gemeinschaft erwarten. Mit dieser gesellschaftlichen Einbindung und der Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft positionierten sich die Konservativen in Opposition zum liberal-bürgerlichen Individualismus, der aus Sicht der Konservativen das Individuum aus seinen gesellschaftlichen Bindungen und Verpflichtungen herauslösen wollte. Innerhalb der ,natürlichen‘ Gruppen, in denen der Mensch lebt, so die Vorstellung des Konservatismus weiter, wird er mit tradierten ,Autoritäten‘ konfrontiert. Diese würden akzeptiert beziehungsweise müssten akzeptiert werden. Daraus begründeten sich natürliche Hierarchien, die einer demokratischen Gesellschaft fehlten. Wo natürliche Hierarchien existieren, kann unter den Menschen aber auch keine Gleichheit existieren. Durchgängig ist im konservativen Denken die Annahme von der fundamentalen Ungleichheit der Menschen vorhanden. Vor Gott seien die Menschen zwar gleich, die
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ceton 1988. Zu verschiedenen Spielarten im Einzelnen u. a.: Hermann Beck: Die Rolle des Sozialkonservatismus in der preußischen Geschichte als Forschungsproblem, in: JbGMOD 43/1995, S. 59–91; Julius H. Schoeps: Doktrinär des Konservativismus? Ernst Ludwig von Gerlach und das politische Denken im Zeitalter Friedrich Wilhelm IV, in: Ders./Peter Krüger (Hrsg.): Der Verkannte Monarch. Friedrich Wilhelm IV. in seiner Zeit, Potsdam 1997, S. 413–426. Axel Schildt: Konservatives Menschenbild. Konstanz und Wandel, in: Burghardt Schmidt (Hrsg.): Menschenrechte und Menschenbilder von der Antike bis zur Gegenwart. Hamburg 2006, S. 220–229, hier S. 224; Schmitz: Konservativismus, S. 13.
1. Gesellschaftsentwürfe und Adelsreformprogramme
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gottgegebene Ordnung der Gesellschaft sei aber, solle sie funktionieren, auf Ungleichheit aufgebaut.20 Dabei wird zwischen den konservativen Denkern jedoch ein Wandel ersichtlich. Es zeigt sich „ein Abwenden von der deterministischen Auffassung zur Stellung des Menschen in der Gesellschaft.“21 Die Geburt soll auch aus Sicht konservativer Denker seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr zwangsläufig die soziale Stellung bestimmen. Mithin wurden Kanäle für gesellschaftliche Mobilität geöffnet und damit eine Abkehr von der geburtsständischen Begründung sozialer Ungleichheit vollzogen. Besonders deutlich ist dies bei Friedrich Julius Stahl. Festzuhalten bleibt aber, dass die Integration sozialer Mobilität nicht soziale und rechtliche Egalisierung zur Folge haben sollte, da dies die Ordnung insgesamt in Frage gestellt hätte. Ungleichheit sollte erhalten bleiben, weil sie Herrschaft rechtfertigte. Denn, so Otto Gerhard Oexle: „,Harmonie in der Ungleichheit‘ als ein von Gott gesetzter Zustand der Welt ist . . . das Grundmodell aller Reflexionen über die gesellschaftliche Ordnung in Ständegesellschaften und wird als der tragende Grund für die Existenz dieser Ordnung selbst verstanden. Damit verknüpft ist . . . die Rechtfertigung der Herrschaft von Menschen über Menschen. Denn die Verschiedenheit . . . unter den Menschen und damit die Vielfalt der Stände . . . ist demzufolge, unbeschadet aller naturrechtlichen oder eschatologischen Gleichheit, eine Folge der Sünde; deshalb muß der Mensch den Menschen beherrschen.“22
Diese Vorstellung von der Ungleichheit der Menschen, die eine Folge der Funktion sei, für die ihre Gesellschaftsgruppe vorherbestimmt sei, bildet den Anschlusspunkt, um genauer auf die gesellschaftliche Ordnung zu blicken. Kernbestandteil der Beschreibung und Begründung der gesellschaftlichen Ordnung ist, wenn auch unterschiedlich akzentuiert, ihr organischer Charakter – in dieser Betonung eine Besonderheit des deutschen Konservatismus. Dieser Organismus ist Teil göttlicher Offenbarung. Die Organismustheorien haben verschiedene Implikationen: „Politisch tendiert die Neigung, Kollektive zu personifizieren“, wie es mit organologischen Metaphern geschieht, „dahin, ein Ziel der Übertragung zu schaffen und die Konstitutionsform der Einherrschaft zu rechtfertigen.“23 Gesellschaftlich geht mit organologischen Auffassungen stets der Bezug auf ständische Gesellschaftsvisionen einher. „Wie jede Pflanze als Produkt verschiedener organischer Funktionen zu begreifen ist, so soll auch staatliches Wirken als die organische Gliederung naturhafter Funktionen verstanden werden. Hier rückt die biomorphe Vorstellung nahe an die anthropomorphe Staatstheorie heran. . . . Bis in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg erscheint unter Konservativen die ständische Gliederung als die in fast psychologischem Sinne natürliche: ,Je näher die
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Schildt: Konservatives Menschenbild; Avraham: In der Krise der Moderne, S. 68–131; Kondylis: Konservativismus, S. 263–266; Schmitz: Konservativismus, S. 12–14, 36 u. 41; Greiffenhagen: Das Dilemma des Konservatismus, S. 207f. Avraham: In der Krise der Moderne, S. 87. Otto G. Oexle: Aspekte der Geschichte des Adels im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Wehler: Europäischer Adel, S. 19–56, hier S. 35f. Greiffenhagen: Das Dilemma des Konservatismus, S. 206.
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I. Adel und gesellschaftliche Ordnungsmodelle
menschliche Gesellschaft der Natur steht, desto näher hält sie an der ständischen Gliederung fest.‘“24
Jeder Bestandteil des Organismus, also jeder Stand, habe eine Funktion für die Gesamtheit zu erfüllen. Nur so könne die Gesundheit des Organismus und gesellschaftliche Harmonie garantiert werden.25 „Organische Gliederung der Gesellschaft ist Civilisation“, schrieb Wilhelm Heinrich Riehl in seiner ,Bürgerlichen Gesellschaft‘.26 Freilich wird ab der Mitte des 19. Jahrhunderts an der ständischen Gliederung eine entscheidende Veränderung konservativer Gesellschaftsvisionen deutlich. Diese Veränderung war Folge eines fundamentaleren Vorgangs – der Trennung von Staat und Gesellschaft.27 Eine Trennung zwischen Staat und Gesellschaft war dem konservativen Denken zunächst fremd. Der Staat wurde im Anschluss an das Modell der ,societas civilis‘, wie es für das 19. Jahrhundert aktualisiert worden war, als eine fortgeschrittene oder höhere Stufe der allgemeinen menschlichen Ordnung angesehen. Die Gesellschaft und der mit ihr verbundene Staat konstituierten sich aus dieser Perspektive von der patriarchalischen Familie aus, die vom Familienhaupt beherrscht wurde. „Im Rahmen dieses Denkens konstituierte sich die ,öffentliche‘, im eigentlichen Sinne ,politische‘ Sphäre nur auf dem Wege des Zusammenschlusses der ,Familienhäupter‘ . . . oder der Stände zum Gemeinwesen.“28 Der Einzelne steht also nicht unmittelbar zum Staat, sondern ist mit ihm über jeweilige Zwischengewalten verbunden. Familien, Oikoi, Stände und Korporationen bilden die jeweils höheren Stufen der Organisation der Gesellschaft. Sie erfüllen unterschiedliche gesellschaftlich benötigte Zwecke. Ihr Funktionieren garantiert zugleich die naturgemäße und harmonische Existenz der Gesellschaft. Um ihre unterschiedlichen Funktionen für die Gemeinschaft erfüllen zu können, benötigen die Stände und Korporationen aus Sicht der Konservativen unterschiedliche (Vor-)Rechte, und ihnen kommen unterschiedliche Freiheiten zu. Der Adel hat in dieser Gesellschaft die Stellung als Zwischengewalt zwischen Monarch und Bauern inne. Insofern ist ihm eine genuine, für das Funktionieren der 24 25
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Ebd., S. 211f. Schmitz: Konservativismus, S. 13 u. 31. Friedrich Wilhelm IV. sah das Ideal einer wieder zu begründenden gesellschaftlichen Ordnung in der imaginierten Ständeordnung des Mittelalters, in der jeder Mensch seinen Platz gehabt habe, an seinen Stand gebunden und nicht isoliert gewesen sei. In dieser auf Gottes Entscheidung beruhenden hierarchischen Gesellschaft seien die Privilegien nicht umstritten gewesen, sondern die ehrbare Gesinnung der oberen Stände habe ihre Vorrechte regelmäßig legitimiert. Die Stände seien durch Treue und nicht durch eine Verfassung miteinander verbunden gewesen. FrankLothar Kroll: Herrschaftslegitimierung durch Traditionsschöpfung. Der Beitrag der Hohenzollern zur Mittelalter-Rezeption im 19. Jahrhundert, in: HZ 274/2002, S. 61–86, hier S. 71–73. Wilhelm Heinrich Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart 1854, S. 180. Avraham: In der Krise der Moderne, S. 36–67; Greiffenhagen: Das Dilemma des Konservatismus, S. 200 u. 204. Kraus: Preußischer Konservatismus, S. 91.
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Gesellschaft wichtige Aufgabe zugeschrieben.29 Blickt man auf die konkrete Ausgestaltung der Ständegesellschaft im konservativen Denken, so basierte diese bis in die 1850er Jahre hinein häufig auf einer nur leicht modifizierten frühneuzeitlichen Geburtsständegesellschaft. Adam Müller hatte den Nähr-, Wehr- und Lehrständen noch einen Verkehrsstand hinzufügen wollen.30 Wilhelm Heinrich Riehl ergänzte den Dreischritt aus Adel, Bürgertum und Bauern um den vierten Stand der Arbeiter.31 Dies waren aber gegenüber der Frühen Neuzeit nur geringfügige Modifikationen. „Der moderne Staat unterwirft nun die Rechte und Freiheiten der societas seiner souveränen Allmacht und löst somit schließlich die societas auf, indem er sich auf einen höheren Staatszweck beruft, dem sich alles andere unterzuordnen habe“.32 Daraus geht die Trennung von Staat und Gesellschaft hervor und die Funktion des Adels als Mittler- und Herrschaftsstand der societas civilis verloren. Die Anerkenntnis dieser Tatsache rief einen fundamentalen Wandel des Konservatismus hervor. „Das Konservieren bezieht sich [im Folgenden] . . . auf das Tempo der Veränderung und nicht mehr auf ein ganz bestimmtes Sozialmodell“, die societas civilis.33 Führender Denker dieser geistigen Weiterentwicklung war Friedrich Julius Stahl.34 Die Gesellschaftsvision des Konservatismus fand bei ihm Anschluss an Bilder einer liberalen, vom Markt bestimmten Gesellschaft. An die Stelle der traditionellen Stände, die politische und ökonomische Funktionen hatten und auf dem Kriterium der Geburt basierten, trat nun das Prinzip des am Markt orientierten Berufsstandes.35 Dies ist auch der Grund, warum Stahl bei der Begründung von Ungleichheit zwischen Menschen soziale Mobilität zuließ. Denn eine berufsständische Gesellschaft musste zwangsläufig intergenerationelle Mobilität zwischen den Berufen zulassen, andernfalls wäre sie eine geburtsständische 29
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Kondylis: Konservativismus, S. 262–267; Avraham: In der Krise der Moderne, S. 56–67. Aus der Perspektive der Adelsforschung hat Heinz Reif: Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 43, geschrieben: „Der aufgeklärte Absolutismus und seine Bürokratie wurden als Varianten eines langfristigen Staatbildungsprozesses erkannt, der dem Adel feindlich war, auf Auflösung der hergebrachten ,Hausvätergesellschaft‘ (societas civilis) wie aller ständischen Korpora und auf eine nivellierte Untertanengesellschaft zielte. In der Französischen Revolution hatten die bindungslos, religiös indifferent, zum Teil sogar gottlos gewordenen Untertanen alle legitime, historisch gewachsene und damit gottgewollte Ordnung in abschreckender Weise zerstört. Reformabsolutismus und Revolution, Staatssouveränität und Volkssouveränität schienen Ausfluß gleichartigen, verirrten, künstlich konstruierenden Denkens, zwei Seiten derselben fatalen Medaille zu sein.“ Einziger Ausweg war daher aus Sicht des Adels die Wiederbelebung der ständischen Zwischengewalten und der Religion. Adam Müller: Elemente der Staatskunst. Bd. 2, hrsg. v. Jakob Baxa, Wien 1922, S. 41. Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft. Kondylis: Konservativismus, S. 272. Ebd., S. 410. Zu seiner Bedeutung als neuem Vordenker des Konservatismus vgl. Avraham: In der Krise der Moderne, S. 45–50; Berdahl: Politics, S. 348–373. Kondylis: Konservativismus, S. 414.
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Gesellschaft gewesen. Dies bedeutete aber auch, dass Ehren, Rechte und Pflichten nicht mehr durch den Geburtsstand determiniert werden durften, sondern durch den Berufsstand bestimmt werden mussten. Dies hatte für den Adel Konsequenzen. Frühneuzeitlich war er die universelle Führungsschicht gewesen. In einer berufsständisch differenzierten Gesellschaft waren Führungspositionen nicht mehr generell, sondern nur noch für bestimmte Berufsfelder beschreibbar.36 Welche Funktion, oder besser: welchen Beruf, der Adel hier übernehmen konnte, und ob doch noch eine Rolle als universelle Führungsschicht möglich war, bildete den Kern der Adelsreformdiskussionen.37 Dass der Adel als Stand nicht obsolet sei, darüber bestand Einigkeit unter konservativen Denkern. Viele ihrer Gedanken sollten in die Adelsreformdiskussion Eingang finden.38 Deutlich wird anhand des Dargestellten zunächst, dass die konservative Gesellschaftsvision in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Aktualisierung und Anpassung an die gesellschaftlichen Zustände erfuhr. Sodann zeigt sich, dass die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts aus konservativer Sicht weiterhin in ständischen Begriffen beschrieben werden konnte. Schließlich zeigt sich, dass konservative Gesellschaftsvisionen Bezugsrahmen darstellten, in die Adel als Gesellschaftsstand weiterhin eingeordnet werden konnte und in denen er weiterhin eine Funktion haben konnte. Wollte der Adel als Stand fortexistieren, so musste er jedoch mit der Trennung von Staat und Gesellschaft und deren Auswirkungen auf die gesellschaftliche Ordnungsvision nach neuen Differenzkriterien – neuen Standesdefinitionen – suchen, die in der Lage waren, ihn von anderen Sozialgruppen zu unterscheiden und für die er, zumindest gemäß Geltungsanspruch, über besondere Eignungskriterien verfügte. Um eine solche Neubestimmung ging es in der Adelsreformdiskussion der Jahrhundertmitte.
1.2 Adelsentwürfe in der Adelsreformdiskussion Den Diskutanten der Adelsreformbewegung schien eine Neubestimmung beziehungsweise Wiederbefestigung der adligen Stellung in erster Linie innerhalb der vorgestellten konservativen ständisch strukturierten 36 37
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Frie: Adel um 1800, Abs. 1–5. Insofern gilt es zu prüfen, ob die Aussage von Berdahl: Politics, S. 230, zutrifft, dass „obviously the concept of Stand was important to the nobility as a means of differentiating society and as a primary category for shaping popular social perceptions. But it was difficult for the nobility to recover ground lost, as the concept of Stand was emptied of its meaning or permutated by events over which it had little control.” Oder, ob eine Neudefinition des Standes gelang. Avraham: In der Krise der Moderne. Für das Beispiel Friedrich Julius Stahls vgl. besonders Berdahl: Politics, S. 354–370.
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Gesellschaftsmodelle möglich. Konsequenterweise waren die Adelsreformprogramme häufig mit konservativ-organologischen Metaphern durchsetzt, ging man davon aus, „daß ein Volk nur dann sich glücklich fühlen . . . kann, wenn seine Verfassung aus seinem innern, geschichtlich entwickelten Leben hervorgegangen ist.“39 Dies schloss liberale Adelsreformmodelle oder auch einen politischen Adelsliberalismus nicht grundsätzlich aus, doch sie scheinen insgesamt von geringer Bedeutung gewesen zu sein.40 Auch gab es schon zu diesem Zeitpunkt Stimmen, die Adel und Liberalismus trotz bedauerlicher Ausnahmen für schlechterdings unvereinbar erklärten.41 Adelsreformen nach konservativen Gesellschaftsprinzipien waren jedoch kein reines Projekt des Adels. Zahlreiche Bürgerliche sahen für einen reformierten Adel im 19. Jahrhundert durchaus eine Zukunft. Der Adelsstand sollte nach den Plänen adliger und bürgerlicher Diskutanten in je unterschiedlicher Weise vergangenen Ballast ablegen und in der Gegenwart auf spezifische Funktionen und eine spezifische ökonomische Grundlage gestellt werden.42 Blickt man auf die Inhalte der Reformprogramme, so ist es sinnvoll, einen analytischen Leitrahmen festzusetzten. Hier soll ein an den Quellen orientiertes System von Differenzierungen genutzt werden.43 Man kann die Diskus39 40
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NN: Was ist uns geblieben?, in: ZfddA 1/1840, S. 297. Bürgerliche Adelsreformvorschläge hat vor allem Langewiesche: Bürgerliche Adelskritik, untersucht. Zum Adelsliberalismus vgl. den Aufsatz von Christof Dipper: Adelsliberalismus in Deutschland, in: Dieter Langewiesche (Hrsg.): Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. Göttingen 1988, S. 172–192. Friedrich Baron de la Motte Fouqué: Anmerkung, in: ZfddA 2/1841, S. 10. Zu solchen in der Forschung beachteten Projekten vgl. u. a. Elisabeth Fehrenbach: August Wilhelm Rehbergs Adelskritik und seine Reformbestrebungen im Königreich Hannover, in: Winfried Speitkamp (Hrsg.): Konflikt und Reform. Fschr. Helmut Berding, Göttingen 1995, S. 151–167. Zum Forschungsstand vgl. Fehrenbach: Rehberg; dies.: Geschichtsinteressen des Adels. Freiherr vom Stein und die Gründung der „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde“, in: Dieter Hein (Hrsg.): Historie und Leben. Der Historiker als Wissenschaftler und Zeitgenosse. Fschr. für Lothar Gall zum 70. Geburtstag, München 2006, S. 645– 656; dies.: Die bayerische Adelspolitik in der Verfassungsdiskussion des rheinsch-westfälischen Adelskreies um den Freiherrn vom Stein, in: Dieter Albrecht/ Karl O. Aretin/ Winfried Schulze (Hrsg.): Europa im Umbruch 1750–1850, München 1995, S. 267–278; Heinz Reif : Friedrich Wilhelm IV. und der Adel. Zum Versuch einer Adelsreform nach englischem Vorbild in Preußen 1840–1847, in: ZfG 43/1995, S. 1097–1111; ders.: Adelspolitik in Preußen zwischen Reform und Revolution, in: Hans-Peter Ullmann/Clemens Zimmermann (Hrsg.): Restaurationssystem und Reformpolitik. Süddeutschland und Preußen im Vergleich, München 1996, S. 199–224, hier S. 211f.; ders.: Adelserneuerung und Adelsreform in Deutschland 1815–1874, in: Fehrenbach: Adel und Bürgertum, S. 203–230. Syntheseversuche auf begrenzter Grundlage und für begrenzte Fragestellungen bieten Gunther Heinickel: Adelsidentität nach der Ständegesellschaft: Der preußische Adel in adelspolitischen Bildern und Vorschlägen um 1840, in: Reif : Adel und Bürgertum 1, S. 51–81; Robert v. Friedeburg: Das Modell England in der Adelsreformdiskussion zwischen Spätaufklärung und Kaiserreich, in: Ebd., S. 29–49. Explizit findet sich diese Gliederung bei Albert Schäffle: Der moderne Adelsbegriff als Beitrag zur Frage der Re-
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sionen verschiedenen Bedeutungskernen zuordnen, mit denen die Rolle des Adels spezifiziert werden sollte. Hierbei war die Antizipation der Ordnung der zukünftigen Gesellschaft nach Berufsgruppen, also nicht mehr in Form einer societas civilis, für den Adel bei der Suche nach seiner neuen Stellung von Bedeutung. Der Reichsfreiherr Joseph von Laßberg brachte dies in einem Brief vom 27. April 1849 auf den Nenner: „Daß man ietzt sagt: der adel ist aufgehoben und: es wird in der naechsten generation keine edelleute mer geben, das macht mich nur lachen und kommt mir vor, wie wenn jemand sagte: es wird eine zeit geben, wo keine schneider und keine schuster, und keine müller und weber mer sein werden“.44
Laßberg war davon überzeugt, dass es für den Adel auch in der Zukunft noch einen Beruf geben würde. Indem er den Adligen mit handwerklichen Berufsständen verglich, gab er dieser Überzeugung Ausdruck. Die Feststellung Ewald Fries – „Adel war kein Beruf, und konnte auch keiner werden“45 – wäre wohl auf seine Ablehnung gestoßen. Es musste der Adelsreformdiskussion ,nur‘ darum gehen, den Beruf und damit die Aufgabe, die der Adel für die zukünftige Gesellschaft übernehmen sollte, zu bestimmen. Wie sollten also diese Eigentümlichkeiten, wie sollten adlige Differenzkriterien, aussehen? „,Adelsreformkonzepte‘ in der nachständischen Epoche sind“, so Gunter Heinickel, „der Versuch unter den Bedingungen der abnehmenden Bedeutung von Adelseigenschaften zur Qualifizierung von Führungspositionen der immer stärkeren Trennung zwischen ,Adelseigenschaften‘ und den ,Kriterien von Elitefunktionen‘ entgegenzuwirken, diese wieder in ein engeres Verhältnis zu bringen.“46
Zwei Felder schienen hierfür besonders geeignet. Einerseits suchten die Reformprogrammautoren immer wieder nach einem spezifischen politischen Beruf des Adels. Andererseits konnten sie dem Adel einen sittlichen Beruf zuschreiben, mussten dann aber auch klären, worum es sich dabei handeln sollte. An diese beiden Felder schloss sich ein disparates Feld sozialer Aufgaben des Adels in der zukünftigen Gesellschaft an. Hier soll geklärt werden, inwiefern die imaginierten Berufe des Adels tatsächlich als Differenzkriterien gegenüber anderen Gesellschaftsgruppen praktikabel waren und ob sie vor dem Hintergrund der sich um die Jahrhundertmitte wandelnden Gesellschaft überhaupt umsetzbar waren. Als weitere hier zu betrachtende Diskussionsgegenstände folgen die Fragen nach der wirtschaftlichen Grundlage des Adels und den Möglichkeiten zum Gruppenzusammenschluss. Die jeweiligen Programme konnten selbstverständlich Elemente dieser fünf Felder in verschie-
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organisation des deutschen Adels, in: Deutsche Vierteljahrs-Schrift 19/1856, S. 318–392, hier S. 329–392. Eine andere Analysemöglichkeit bei Heinickel: Adelsidentität, S. 57. Zitat nach Bader: Charakteristik, S. 127. Ähnlich: W. R.: Ernste Mahnung an den deutschen Adel, in: ZfddA 3/1842, S. 245. Frie: Adel um 1800, Abs. 5. Heinickel: Adelsidentität, S. 59.
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denen Kombinationen vereinen, was hier aber nicht näher betrachtet wird. Vielmehr soll es um den Horizont der in den jeweiligen Feldern denkbaren Optionen gehen. Daraus soll ein Reservoir von Leitideen für den Adelsstand gewonnen werden, deren Aneignung durch die im weiteren Verlauf der Arbeit betrachteten Untersuchungsgruppen in der zweiten Jahrhunderthälfte geprüft werden kann. 1.2.1 Der politische Beruf des Adels „Man gebe nur dem Adel eine politische Stellung und alles Auffallende, was ihn jetzt hin und wieder begleitet, jeder Versuch, mit leeren Vorzügen zu prunken, der nur aus dem unbehaglichen Gefühl politischer Nichtigkeit hervorgeht, würde bald verschwinden.“47 Fr. L. B. von Medem (1842)
Mit dieser Forderung nach einer politischen Definition des Adels stand von Medem nicht allein. Sie lassen sich bis in die 1860er Jahre nachweisen.48 Allerdings stand der Aufgabe, eine politische Stellung des Adels in der Gesellschaft zu definieren, neben der Auflösung der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft ein zweites Problem im Wege, das mit der Gesellschaftstransformation in engem Zusammenhang stand. Mit der Auflösung der alteuropäischen „societas civilis“ ging, wenn auch sehr langsam, die Trennung von Staat und Gesellschaft einher. Damit verlor der Adel seine intermediäre Herrschaftsstellung zwischen Volk und Monarch. Dieser Prozess wurde von den meisten Programmatikern der Adelsreform eher unbewusst reflektiert. Einige hellsichtige Autoren brachten die Veränderung aber durchaus auf den Punkt. Ein als W.R. auftretender Autor betonte, dass die Trennung von Staat und Gesellschaft erst durch den Entzug von Herrschaftsrechten, die er als ,Nivellierung‘ interpretierte, zustande komme. Hierdurch verliere der Adel seine politische Unabhängigkeit gegenüber Volk und Monarch.49 Friedrich Julius Stahl konzipierte den Adel vor dem Hintergrund dieses Wandels als politischen Stand, indem er nach Axel Schildt „zwischen bloßen Berufsgruppen, die für das Funktionieren des Gemeinwesens durchaus wichtig seien, und politischen Ständen [unterschied], deren wichtigster für ihn der grundbesitzende Adel als Mittler zwischen Monarch und Volk blieb. Diesem Stand mußte deshalb in einer Volksvertretung das entscheidende Gewicht zukommen.“50
Der nur verklausuliert genannte Autor und Stahl griffen damit auf das wohl häufigste politische Reformkonzept für den Adel zurück und übertrugen 47 48 49 50
Fr. L. B. v. Medem: Über die Grundlagen der Stände mit besonderer Rücksicht auf den Adel, in: ZfddA 3/1842, S. 135. Vgl. Reif : Adelserneuerung, S. 216; ders.: Adelspolitik, S. 214–223. Für August Wilhelm Rehberg in Hannover vgl. Fehrenbach: Rehberg, S. 160. W. R.: Ernste Mahnung an den deutschen Adel, in: ZfddA 3/1842, S. 242. Schildt: Konservatismus, S. 59.
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ihm damit, an Montesquieu anschließend, die Aufgabe, einerseits das Volk vor dem Absolutismus des Monarchen und andererseits den Monarchen vor der Despotie des Volkes zu schützen.51 Bei Stahl wäre damit der Adel als politischer Stand zwischen Staat und Gesellschaft getreten, ohne einem von beiden anzugehören. Auch andere Autoren forderten eine solche Festlegung des Adels – auch noch nach 1848.52 Freilich ging bei den meisten Autoren der Unterschied Stahls zwischen Berufsgruppen des Gemeinwesens und dem Adel schon verloren. Hier war es dann der auf Grundbesitz basierende Adel, dem eine politische Stellung zugesprochen wurde, ohne dass sein Ort im Spannungsfeld der Trennung von Staat und Gesellschaft expliziert wurde.53 Stattdessen wurde betont, dass der Großgrundbesitz die notwendige „Unabhängigkeit des Characters“54 schaffe. Andere Qualifikationskriterien, die der Adel für seine politische Tätigkeit mitbringe, wurden ergänzt. So repräsentiere er das von den Tagesereignissen unabhängige Dauerhafte55 , könne parlamentarisch taktvoll auftreten56 und besitze eine spezielle Sittlichkeit.57 „Erziehung, Familienverbindung und nähere Stellung zum Staatsoberhaupte“ sowie Besetzung von „Staatsämtern“58 selbst würden es ihm ermöglichen, die Staatszwecke richtiger zu erfassen. Orientierung am Gemeinwohl statt an Egoismen, Vaterlandsliebe und Tüchtigkeit ergänzten den Katalog der (vermeintlichen) adligen Vorzüge. Mit diesen zusätzlichen Differenzkriterien sollte auch sichergestellt werden, dass nicht jeder Käufer eines Großgrund-
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Den Platz des Monarchen im Montesquieu’schen Dreischritt konnte auch die Verwaltung einnehmen. Vgl. Laurenz Hannibal Fischer: Der Teutsche Adel in der Vorzeit, Gegenwart und Zukunft vom Standpunkte des Bürgerthums betrachtet. Bd. 2, Frankfurt 1852, S. 250; Rudolf Graf v. Stillfried-Alcántara: Vorschläge zu einer den alten und neuen Zwiespalt der Stände versöhnenden Reorganisation des Adels, Berlin 1843, S. 31f. u. 37. Vgl. zur bürgerlichen Kritik an den Mittlerideen Werner Conze/Christian Meier: Adel, Aristokratie, in: Brunner/Conze/Koselleck: Geschichtliche Grundbegriffe 1, Stuttgart 1972, S. 1–48, S. 36. Vgl. Drechsel: Entwürfe, S. 56, 71 u. 73; Fischer: Der Teutsche Adel II, S. 253. Zum Beispiel in der Denkschrift Clemens Fürst zu Metternich-Vinnenburgs (vgl. Drechsel: Entwürfe, S. 38). NN: Ein Wort für den Deutschen Adel in Preußen, in: ZfddA 4/1843, S. 8. M. Graf v. Moltke: Ueber den Adel und dessen Verhältniß zum Bürgerstande. Hamburg 1830, S. 57. Am bekanntesten sind hier die gescheiterten Reformpläne Friedrich Wilhelms IV. Vgl. Reif : Friedrich Wilhelm IV; außerdem NN: Was ist uns geblieben?, in: ZfddA 1/1840, S. 302. Stillfried-Alcántara: Vorschläge, S. 37; Schäffle: Adelsbegriff, S. 361f. Er wird auch als der „naturgemäße Vertreter der staatlichen Zukunft“ bezeichnet. Vgl. Fischer: Teutsche Adel II, S. 251. Ebd., S. 249–250; W. R.: Ernste Mahnung an den deutschen Adel, in: ZfddA 3/1842, S. 242. NN: Wonach sollen wir streben?, in: Ebd., 2/1841, S. 33. W. R.: Ernste Mahnung an den deutschen Adel, in: Ebd., 3/1842, S. 242.
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besitzes automatisch zum imaginierten ,Adel‘ gehören würde.59 Hier deutet sich die Verknüpfung mit den allgemeinen sittlichen Kriterien des Adels an. Die politische Vertretung selbst wurde auf den verschiedensten Ebenen des Staates gefordert – in den Gemeinden, auf Distrikt-, Kreis- und Landesebene.60 Manche forderten sie gar als Anbahnung der Reichseinigung beziehungsweise forderten eine Repräsentation der Mediatisierten am Bundestag, wie sie in der Bundesakte 1815 angedacht worden war.61 Diese Reformprogramme verweisen damit insgesamt auf die frühneuzeitlichen Ursprünge des Konservatismus und der dem Adel im Entstehungszusammenhang zugeschriebenen Aufgabe, ein bestimmtes Sozialmodell – die ständische, durch landständische Vertretung gesicherte, societas civilis – vor Veränderungen von Seiten des Volkes oder der Monarchen zu bewahren.62 Argumentativ wurden sie immer mit dem Beispiel Englands untermauert, wo der reiche, grundbesitzende Adel die Stellung als Mittler zwischen Volk und Regierung seit langer Zeit erfolgreich einnehme.63 Mit der Auflösung der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft und der Trennung von Staat und Gesellschaft veränderte sich jedoch der Referenzrahmen für den Adel. Dies kommt in anderen Adelsreformprogrammen zum Ausdruck. In ihnen zeichnet sich teils untergründig, teils offensichtlich ab, dass der Adel in Zukunft nur noch eine von mehreren gesellschaftlichen Gruppierungen sein könn(t)e, die, wie Panjotas Kondylis feststellte, „wie jede andere auch, um ihre Interessen innerhalb eines konstitutionellen Regimes zu kämpfen hätte, um sich vom Staat möglichst viele Vorteile zu verschaffen.“64 In einer solchen Konstellation konnte der Adel nicht mehr Mittler sein. Damit einher gingen zwei Bewegungen: Einerseits wandelte sich der Begriff ,Konservativ‘ weg von ,Konservieren‘ hin zum Anschluss an den Fortschrittsglauben – Ziel wurde, „das Traditionelle nach Möglichkeit, aber nicht gewaltsam, zu bewahren, wie auch für sein möglichst graduelles und schmerzloses Absterben zu sorgen, bei gleichzeitiger Anpassung seines lebensfähigen Teils an die Welt des Fortschritts“65 . Ein Autor, der mit R. zeichnete, argumentierte in diesem
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Graf Karl v. u. zu Giech. Vgl. Drechsel: Entwürfe, S. 57. Vom Adel gefordert wird dies in einer Eingabe an König Ludwig I., bei der es um die Gründung einer Korporation, ausgehend vom fränkischen Adel, ging. Vgl. ebd., S. 30. Außerdem: Fischer: Teutscher Adel II, S. 249 u. 252. Zur argumentativen Ausprägung der Vorzüge im katholischen Adel: Reif : Adelserneuerung, S. 210; ders.: Westfälischer Adel, S. 452. Gleich alle Ebenen forderten Graf Reigersberg, Graf Eberhard zu Erbach-Erbach und Graf Karl v. u. zu Giech in Bayern. Vgl. Drechsel: Entwürfe, S. 51 u. 57. Ersteres fordert Schäffle: Adelsbegriff, S. 389f.; letzteres Fischer: Teutscher Adel II, S. 317. Kondylis: Konservativismus, S. 410. Friedeburg: Modell England. Kondylis: Konservativismus, S. 406. Ebd., S. 409.
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Sinne, wenn er die Behauptung aufstellte, dass der Adel sich „in der Mehrheit . . . überall als ein Freund gemäßigten Fortschreitens . . . gezeigt hat.“66 In Wilhelm Heinrich Riehls „Naturgeschichte des deutschen Volkes“ wurde dieses adlige Verhalten dann zu seinem eigentlichen Charakteristikum. Nach ihm sind „die Aristokratie und die Bauern . . . auf den ständisch-conservativen Accord gestimmt, die Stadtbürger auf den constitutionellen, die Proletarier auf den social-democratischen.“67 Die beiden ersten Gruppen wurden mit Beharrung, die beiden letzten mit Bewegung identifiziert, wobei auch Riehl noch darauf beharrte, der Adel müsse den „Mikrokosmus“ der Gesellschaft darstellen, indem er das „Princip der gesellschaftlichen Gliederung in der Politik zu vertreten“ habe.68 Ähnlich hat Lorenz vom Stein Adel zugunsten von Gegensatzbegriffen ersetzt: „Besonderheit“ und „Gleichheit“, „Erhaltung“ und „Bewegung“. Er hat nach Werner Conze versucht, „die beiden von ihm als ,feindlich‘ begriffenen Prinzipien aus wissenschaftlichem Bedürfnis und entschiedenem politischem Willen zu entideologisieren. Er stellte dar, daß sie als reine Prinzipien die Tendenz zur Ausschließlichkeit und damit zur Zerstörung in sich trügen, daß aber die Versöhnung beider angestrebt werden müsse.“69
Daher komme dem Staat die Rolle der Vermittlung zwischen beiden, parlamentarisch vertretenen, Prinzipien zu. Im Rahmen der Reinterpretation von ,konservativ‘ im Sinne von Bewahrung war diese Deutung anschlussfähiger und in den etablierten, nicht ständisch organisierten, parlamentarischen Interessenvertretungen auch umsetzbar. So wurde gefordert, dass sich der Adel im Rahmen der gesellschaftlichen Etablierung von Meinungen hervortun müsse – die Rolle des Vermittlers wurde fallen gelassen: „Hat der Adel sich selbst und seine bürgerlich gesellige Stellung im Volke richtig begriffen, verfolgt er consequent den doppelten Weg geistiger Auszeichnung und materieller Begründung, so wird er aus sich selbst heraus als eine bedeutende Potenz im Volke sich entwickeln; der gesunde Sinn des Volkes . . . wird ihm freiwillig die Geltung einräumen, die ihm als Stand im Staate gebührt; . . . Hat sich der Adel auf diese Weise in sich selbst consolidirt und regenerirt, so werden die Regierungen ihrerseits ihm mit so größerer Bereitwilligkeit seine naturgemäße politische Bedeutung einräumen, als die Nothwendigkeit einer kräftigen Vertretung des conservativen Princips sich immer dringender herausstellen wird.“70
Von hier aus war dann die Forderung naheliegend, der Adel müsse zum Anführer der ländlichen, das heißt konservativen, Bevölkerung werden.71 Dabei 66 67 68 69 70 71
R.: Ueber Adelsvereine. Ein Wort zur Verständigung und Berichtigung irriger Ansichten über den projectirten Adelsverein, in: ZfddA 2/1841, S. 150. Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft, S. 125. Ebd., S. 129 u. 133, Zitat S. 133. Hervorhebung im Original. Conze/Meier: Adel, S. 42. NN: Was ist uns geblieben?, in: ZfddA 1/1840, S. 302. Conze/Meier: Adel, S. 59. Über mangelnde politische Folgsamkeit der Landbevölkerung gegenüber dem Adel klagt NN: Ein Wort für den Deutschen Adel Preußen, in: ZfddA 4/1843, S. 2; Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft, S. 130.
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konnte der Vorranganspruch des Adligen vor dem Bauern als Vertreter des beharrenden Prinzips mit dem Verweis auf den größeren Gesichtskreis und die bessere Bildung begründet werden.72 Auch konnte gefordert werden, dass zu begründende adlige Korporationen als Vertretung des „konservativen Prinzips“ auftreten müssten, was, konsequent fortgedacht, die Etablierung einer adligen Partei bedeutete.73 Von der Rolle des Mittlers, auf deren Grundlage man sich als Gruppe herausheben wollte, wurde man so zum bedeutenden Vertreter des bewahrenden Elements, das allein aufgrund seiner Seinseigenschaft, gegen das Bewegliche, eine parlamentarische Repräsentation verdient hatte. Hierin wurde die Trennung von Staat und Gesellschaft reflektiert, die keine sozialen Gruppen außerhalb der Gesellschaft mehr imaginieren konnte. Aber auch in diesem System waren neue Differenzkriterien für den Adel formulierbar. Aus dem Dreischritt Volk – Adel – Monarch war ein binäres System geworden, in dem unterschiedliche Gruppierungen der Gesellschaft, vorerst die des Liberalismus und der Bewegung einerseits, die des Konservatismus und der Beharrung andererseits, um die Aufmerksamkeit der Regierung konkurrierten.74 Dabei hatte der Adel aufgrund seiner Verbindungen zur Monarchie gegenüber dem liberalen Bürgertum deutliche Startvorteile, die noch durch die starke Präsenz des Adels in der Staatsverwaltung, vor allem in ihren Spitzen, flankiert wurden. Aus dieser programmatischen Umwertung der politischen Aufgabe, die durch den gesellschaftlichen Wandel und seine Wahrnehmung bedingt wurde, konnten in der Folge zwei neue Konzepte hervorgehen, die in den Reformschriften deutlicher werden. Dadurch, dass der Dreiklang Volk – Adel – Monarchie aufgelöst wurde, konnte der Adel, statt Vermittler sein zu müssen, Partei werden – und dies in zwei Richtungen.75 Im ersten Fall konnte der Adel seine Rolle als Beschützer der Monarchie stärker oder bis zur Ausschließlichkeit betonen. Dies war keine grundsätzlich neue Idee, sondern schon in der Rolle des Vermittlers war die Beschützung des Monarchen angelegt.76 Mit der Aufgabe der Mittlerfunktion konnte die Verteidigungsfunktion aber eine neue Einseitigkeit erlangen.77 Die politische Aufgabe als Bollwerk vor dem Thron hatte zudem den Vorteil, dass sie sozial auch für Adlige jenseits des 72 73 74 75 76
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NN: Der Adel als Repräsentant des provinziellen Lebens, in: ZfddA 2/1841, S. 161. Anfrage des Grafen Reigersberg zur Gründung einer Adelskorporation. Vgl. Drechsel: Entwürfe, S. 45. Dabei hatte die Verwaltung schon seit dem späten 18. Jahrhundert sich selbst als Mittlerstand zwischen den Interessen verstanden. Vgl. Berdahl: Politics, 229f. In Abwandlung der Interpretation bei Reif : Adelserneuerung, S. 207. W. R.: Ernste Mahnung an den deutschen Adel, in: ZfddA 3/1842, S. 242 u. 246; NN: Was ist uns geblieben? In: Ebd., 1/1840, S. 295; NN: Ueber den Adel in der Preußischen Monarchie, in: Ebd., 2/1841, S. 278. Außerdem diese Mischung von Argumenten auch noch bei der Errichtung des Herrenhauses in Preußen. Vgl. Bernhard Löffler: Die ersten Kammern und der Adel in den deutschen konstitutionellen Monarchien. Aspekte eines verfassungs- und sozialgeschichtlichen Problems, in: HZ 265/1997, S. 29–76, S. 44–47. Friedrich de La Motte Fouqué: Erwiderung an den Verfasser des Aufsatzes: An den deut-
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Grundbesitzes offen war.78 Je stärker man allerdings die Funktion des Adels als Bollwerk vor dem Thron betonte, desto größer war die Gefahr, in dieser ,Defensivallianz‘ die kritische Distanz gegenüber der Regierung zu verlieren und in eine Schicksalsgemeinschaft zu geraten.79 Im zweiten Fall konnte der Adel sich auf die Betonung spezifischer, von der Krone unter Umständen unabhängiger ,konservativer‘ Interessen berufen. Dabei konnte es sich einerseits um adelsspezifische und durchaus materielle Vorteile handeln.80 Andererseits konnte der Adel sich als Vertreter der Provinz gerieren.81 Auch hier waren standesspezifische Differenzkriterien angelegt. Heinrich von Treitschke betonte 1859, „daß es entweder einen politischen oder gar keinen Adel gibt“.82 Er sollte nicht Recht behalten. Weder wurde der Adel, wie häufig gefordert, als politischer Stand neu etabliert, noch verschwand er. Die Adelsreformdiskussionen deuten allerdings an, dass eine unabhängige politische Definition des Adels, wie sie im Vermittlerprinzip angelegt war, nur eine, in Anbetracht der Trennung von Staat und Gesellschaft, wenig zukunftsfähige Option für die politische Betätigung darstellte. Hinzu kam, dass dort, wo der Adel besonders ausgeprägt staatlich funktionalisiert worden war, eine staatskritische Haltung zumeist von vornherein fehlte und die Vermittlerrolle keine fähigen Träger vorfand.83 Daneben wurden Konzepte entworfen, die den Adel als Teil der beharrenden gesellschaftlichen Kräfte verstanden. Damit schrieb sich der Adel zukunftsfähige Aufgaben in der Politik und damit auch eine gesellschaftliche Funktion zu, wobei ein Spannungsfeld der Handlungsoptionen entstand. An dessen einem Ende befand sich die Aufgabe, als Beschützer des Monarchen aufzutreten, am anderen Ende stand die Verteidigung der eigenen materiellen Interessen und politischen Privilegien. Für die Ausübung dieser Tätigkeit hatte der Adel zwei deutliche Vorteile, da erstens mit der Konkurrenz der anderen ,beharrenden‘ Gesellschaftsgruppe, den Bauern, einstweilen nur bedingt zu rechnen war,
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schen Adel, über die Zeitung für den deutschen Adel, in: ZfddA 1/1840, S. 262; Drechsel: Entwürfe, S. 63 u. 80. Reif : Adelserneuerung, S. 220 u. 227. Diese Schicksalsgemeinschaft wurde schon dadurch betont, dass man eine Monarchie ohne Adel für unausführbar hielt. Vgl. NN: Ueber Erbadel, in: ZfddA 1/1840, S. 106. Drechsel: Entwürfe, S. 64. Georg Funke: Der Adel als Repräsentant des provinziellen Lebens, in: ZfddA 2/1841, S. 153. W. R.: Ernste Mahnung an den deutschen Adel, in: Ebd., 3/1842, S. 252. Heinrich v. Treitschke: Die Gesellschaftswissenschaft. o.O. 1859, S. 21. Zitat nach Conze/ Meier: Adel, S. 46. Noch 1866 forderte der Historiker Hermann Baumgarten eine solche Stellung des Adels. Vgl. Brandt: Adel, S. 69. So lehnt Friedrich Julius Stahl einen politischen Adel 1858 ab. Vgl. Kondylis: Konservativismus, S. 406. Zum Problem der Funktionalisierung und der Unabhängigkeit des Adels: Ewald Frie: Preußische Identitäten im Wandel, in: HZ 272/2001, S. 353–375, hier S. 363– 365. Für Bismarck: Christopher Clark: Iron Kingdom. The rise and downfall of Prussia, 1600–1947, London 2006, S. 520. Für die Probleme, die sich daraus für die Adelsreform Friedrich Wilhelms IV. ergaben, vgl. Reif : Friedrich Wilhelm IV.
1. Gesellschaftsentwürfe und Adelsreformprogramme
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und zweitens der Adel durch die Vertretungen seiner großgrundbesitzenden Teile in den parlamentarischen Systemen der deutschen Länder einen deutlichen Startvorteil besaß. 1.2.2 Der sittliche Beruf des Adels und die ,adligen‘ Tugenden Als eine weitere Grundlage, auf die sich der Adel gründe, wurde in den Reformprogrammen immer wieder seine Sitte beziehungsweise Sittlichkeit angeführt. Sie berechtige den Adel zu seiner besonderen Stellung in der Gesellschaft. Diese Sitte konnte durch besondere Tugenden expliziert werden, musste es aber nicht. Ewald Frie hat vermutet, dass die Betonung gemeinschaftlicher Tugenden im 19. Jahrhundert die Funktion erfüllte, vor dem Hintergrund schwindender Definierbarkeit dem Adel eine gemeinschaftliche Identität zuzuschreiben.84 Insofern konnten ,adlige‘ Tugenden als Differenzkriterien geeignet sein. In den Reformprogrammen der Jahrhundertmitte zeichnen sich aber zwei idealtypische Modelle der adligen Tugend ab, zwischen denen sich die Autoren einordneten und die in unterschiedlichem Maße geeignet waren, den existierenden Adel zu erhalten. Auf der einen Seite stand das Bild des allgemeinen menschlichen Tugendadels. Auf der anderen Seite stand die Beharrung auf standesspezifische, für Bürgerliche nicht oder kaum erwerbbare, adlige Tugenden. Reinformen sind freilich schwierig auszumachen. Vor allem bei der Beharrung auf spezifisch adlige Tugenden zeigt sich immer wieder die Vermischung. Fragt man zuerst danach, wie Adel als Stand in jenen Programmen konstituiert wurde, die Tugendadelskonzepte favorisierten, so ist es wenig überraschend, dass adliger Vorrang nur über höhere Ausprägung und Erfüllung allgemeiner Tugenden erfolgen konnte. Tugenden wurden zu Gemeintugenden erklärt, die der Adel jedoch in höherer Vollendung repräsentiere oder zu repräsentieren habe. Er sei der „Musterstand in Tugend und Einfachheit“: „Da unser Stand in der Linie beiden anderen Erbständen in den teutschen Bundesstaaten voran steht, so muß er nothwendig in jener Kraft da stehen, daß er in dem Urwesen des Adels – d.i. in Tugend, Rechtschaffenheit, Reinsittlichkeit und Einfachheit sein hohes Ehrgefühl das hierin nur besteht – bewährend, voranleuchtet. Die Pflicht dieses Voranleuchtens ist also dem Alt- oder Adelsstande durch seine Stellung auferlegt, wovon er nie entbunden werden kann.
Der Adelsstand habe die Aufgabe, der „gesunkenen Moralität“ entgegenzuwirken und zusammen mit der Kirche „auf das wahre Wohl aller Volksclassen und somit des Staates selbst gemeinschaftlich hinzuwirken.“ „Damit nun aber der ganz richtige Begriff dieses Wortes Adel nicht verkannt werden möge, so müssen wir künftig unsern Erbstand nach seinem wahren Ursprunge nur als Altstand 84
Frie: Adel um 1800, Abs. 21.
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I. Adel und gesellschaftliche Ordnungsmodelle
bezeichnen, indem der Verdienst-, Geistes-, Seelen- und Sittlichkeits-Adel ein Gemeingut aller drei Erbstände, ja der ganzen Menschheit auf Erden ist und bleibt, indem zu dessen Erwerbe die Religion den dauerhaftesten Grund legt“ 85
Auch wenn der Autor einen Adels- oder in seinem Sinne „Altstands“-Verein forderte, nüchtern betrachtet konnten dem Adel aus diesen Tugenden kaum noch neue Differenzkriterien gegenüber anderen Gesellschaftsgruppen erwachsen. Ähnlich sah es bei den Programmen aus, die die (Wieder-)Erlangung höherer Bildung als Auszeichnung verlangten.86 Der Adel sollte in diesen Fällen noch gesellschaftlichen Vorrang aufgrund höherer Sittlichkeit und Tugend haben, sie konnten sogar zu seinem Beruf erklärt werden, aber die genannten Kriterien waren für alle Mitglieder der gebildeten Stände erreichbar, auch wenn Adlige an ihre Vererbbarkeit glaubten.87 Standesunspezifische Tugenden bargen somit die Möglichkeit einer Elitensynthese.88 Eine klare Abgrenzung des Adels erschien daher nur noch möglich, wenn man auf andere Bereiche – Recht, Politik, Vererbung und Korporationen/ Vereine – zurückgriff.89 In Richtung des zweiten Idealtyps bewegten sich die Programme, die einen Kern spezifisch adliger Tugenden ausmachten. Ein Vorschlag zur Gründung eines Adelsvereins in der „Zeitung für den Deutschen Adel“ hob für diesen als ersten Zweck hervor: „Belebung, Beförderung und Erhaltung ritterlichen Sinnes“.90 Der Artikel hob damit ein in verschiedenen Diktionen immer wieder vertretenes Modell adliger Tugend hervor91 , das in seiner Unspezifik allerdings prompt kritisiert wurde. In einer Replik hieß es, „dieser erste Artikel kann die Wurzel alles Uebels oder die Quelle von unendlich viel Gutem und 85 86 87 88
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NN: Sammtverein des teutschen Adels, zum Artikel: „An den Adel teutscher Nation“, in: ZfddA 1/1840, S. 338 u. 343. Hervorhebungen im Original. Georg Funke: Der Adel als Repräsentant des provinziellen Lebens, in: Ebd., 2/1841, S. 161f. Dazu auch Reif : Adelserneuerung, S. 209; ders.: Westfälischer Adel, S. 451f. Hier zeichnet sich das Bild eines Tugendadels ab, der in seiner Reinform von bürgerlichen Vertretern seit den 1780er Jahren als Möglichkeit einer Elitensynthese propagiert worden war. Vgl. Langewiesche: Adelskritik; Manuel Frey: „Offene Gesellschaft“ und „gemeinsame Klasse“. Adel und Adelskritik im bürgerlichen Trivialroman zwischen 1780 und 1815, in: ZfG 44/1996, S. 502–525. Besonders deutlich wird dies in den Grundzügen des Programms der Deutschen Adelsgenossenschaft, wie sie sich bei Drechsel: Entwürfe, S. 86, finden. Außerdem: NN: Wie kann und muß der Adel fortbestehen?, in: ZfddA 2/1841, 246–247; Stefan Brakensiek: Adlige und bürgerliche Amtsträger in Staat und Gesellschaft. Das Beispiel Hessen-Kassel 1750–1866, in: Klaus Tenfelde/Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.): Wege zur Geschichte des Bürgertums, Göttingen 1994, S. 15–35, hier S. 27. NN: An den Adel deutscher Nation, in: ZfddA 1/1840, S. 10. Der Entwurf des Statuts, aus dem dieser Passus entnommen wurde, stammt von Frhr. v. Schele-Schelenburg. Vgl. Frhr. v. Schele-Schelenburg: An den Adel deutscher Nation. Einige Betrachtungen über den Aufsatz unter diesem Titel in Nr. 3 dieser Zeitung, in: Ebd., 1/1840, S. 67. Vgl. z. B. Programm der Adelsreunion, in: Ebd., 1/1840, S. 194; NN: Wonach sollen wir streben?, in: Ebd., 2/1841, S. 33; Fischer: Teutsche Adel I, S. XIII.
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Heilsamen werden“, um dann aber zu fragen: „Was ist unter ritterlichem Sinn zu verstehen?“ Der Verein könne sich nicht „mit Turnieren, Ringelrennen, Pferderennen, Parforcejagden und manchen einst glänzenden Aeußerungen einer vergangenen Zeit“ schmücken. Eine „alte Ordnung der Dinge“ sei „für unserer Zeit nicht recht passen[d]“ – „von der Zukunft [dürfte] jeder Versuch einer Wiederherstellung der Vergangenheit alles Ernstes zurückgewiesen werden“92 . So wollte der Autor des ursprünglichen Entwurfs auch nicht verstanden werden.93 Er lehnte ebenso eine Rückkehr ins Mittelalter ab. „Unter ritterlichem Sinn“, so führte er aus, „dürfte hier vorzüglich zu verstehen sein: Gefühl für Standesgenossenschaft und daher Bewahrung alles dessen, was der Begriff von Adelsstand und Genossenschaft mit sich bringt.“94 Freilich, dies war eine kaum präzisere Bestimmung, und damit war der Redakteur Fouqué nicht einverstanden. Er äußerte erstaunt: „Wahrlich, wir hätten geglaubt, der Begriff [des ritterlichen Sinnes] sei für jeden Edelmann so klar, so bestimmt, daß es keiner besonderen Definition bedürfe“. Nun wollte er aber selber zur Klärung beitragen und führte „Ehrgefühl in der strengsten Bedeutung des Wortes“, „Muth und Standhaftigkeit in der Gefahr“, Kampf für das allgemeine Wohl und das Vaterland, „Ehrfurcht vor dem Andenken der Vorfahren“, „Bewahrung des Wortes“, „Anhänglichkeit an Wahrheit und Recht“, „Religiösität und Sittlichkeit“ an. Allerdings musste er schließlich zugeben: „weit entfernt sei von uns die Behauptung, ja, nur die Andeutung, als sei derselbe [der ritterliche Sinn] ein ausschließliches Eigenthum des Adels; nein, er kann jedem Stande eigen sein, er sollte es sogar, aber dem Adel liegt es vorzugsweise ob, ihn unter sich zu erhalten, zu beleben, ihn zur Basis seines ganzen Seins zu machen.“95
Damit wurde ein zentrales Problem deutlich. Versuchte man adlige Tugenden inhaltlich auszufüllen, so kam man am Ende bei Allgemeintugenden aus, die als Differenzkriterien kaum brauchbar waren, wenn sie nicht zusätzlich abgesichert wurden.96 Oder man behauptete, dass die beschriebenen Tugenden von niemand anderem als Adligen richtig erfasst werden könnten.97 Dennoch kam man damit im Zirkelschluss wiederum bei Allgemeintugenden aus, die der Adel in höherer Vollendung vertreten sollte. Auch darüber, wo denn dieser ritterliche Sinn herkäme und generiert würde, fanden sich verschiedene Positionen. Während einige den Kriegsdienst 92
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NN: An den Adel deutscher Nation. Einige Betrachtungen über den Aufsatz unter diesem Titel in Nr. 3 dieser Zeitung, in: ZfddA 1/1840, S. 62. Kritik an der Mittelaltersehnsucht auch bei Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft, S. 174. Zum Frhr. v. Schele-Schelenburg und seinem Adelsverständnis vgl. auch die Anmerkungen bei Fehrenbach: Rehberg, S. 156–157. Frhr. v. Schele-Schelenburg: An den Adel deutscher Nation. Einige Betrachtungen über den Aufsatz unter diesem Titel in Nr. 3 dieser Zeitung, in: ZfddA 1/1840, S. 67. Redaktion [Frhr. Friedrich de la Motte Fouqué]: Nachschrift der Redaction, in: Ebd., S. 67. Dies lässt sich beobachten beim Plan der schlesischen Adelsreunion. Vgl. Programm der Adelsreunion, in: Ebd., S. 193f. u. 197f. NN: Ein Wort für den Deutschen Adel in Preußen, in: Ebd., 4/1843, S. 2f., 7f. u. 11f.
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und die hierfür nötigen, unter Umständen noch dem Mittelalter zu entlehnenden, Tugenden für konstitutiv hielten98 , betonten andere, dass der „ritterlich ständische Sinn . . . nur aus der Festigkeit [d. h. dem dauerhaften Besitzstand] und Selbständigkeit des Grundbesitzes hervorgehen kann“.99 Der „ritterliche Sinn“ müsse „ererbt, oder durch Erfassung der Idee erworben, angeeignet, mit dem ganzen Wesen des Individuums innig verschmolzen sein“100 . Andere sahen in der „standesgemäßen . . . Erziehung“ 101 eine entscheidende Grundlage „ritterlichen Sinnes“. Auch in der Vergangenheit konnte er beheimatet und damit für Neuaufsteiger unerreichbar sein.102 Die Frage der wirtschaftlichen Voraussetzungen, ob Vermögen und damit Unabhängigkeit notwendig sei, blieb offen. Reformmodelle, die den Grundbesitz betonten, waren exklusiver, solche, die ihn ablehnten, konnten auch den grundbesitzlosen Adligen noch einschließen.103 Einigkeit war hingegen schon eher zu erreichen, wenn es darum ging, Gefahrenquellen für den „ritterlichen Sinn“ auszumachen. Hierzu gehörte mangelnde Selbstlosigkeit, die in Berufen abseits der traditionellen Felder Kirche, Militär, Bürokratie und Grundbesitz beheimatet zu sein schien, während das Gelehrtentum noch akzeptiert wurde.104 Dienst am Staat und Monarchen konnte dem Erwerbsleben in Handel und Gewerbe entgegengestellt werden, wobei sich Letzterer durch die persönliche Genussbefriedigung und Ersterer durch höhere Bestimmung auszeichneten.105 Das „geläuterte geistige Ritterthum wird mild und versöhnend dem groben Materialismus der industriellen Zeit, die nur individuellen Vortheil und augenblicklichen Genuß erstrebt, ein edleres Gegengewicht darbieten.“106 Verlust des großzügigen Grundbesitzes, der nicht durch Fideikommissstatute gesichert war, konnten andere als Gefahr ansehen.107 Insgesamt wurden Berufswahlmög98
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NN: Andeutungen zu den Vorschlägen für die Erhaltung des Adels als Corporationsstand und zur Hebung des Nationalwohlstands im Allgemeinen, in: Ebd., 1/1840, S. 125. Redaktion [Frhr. Friedrich de la Motte Fouqué]: Fußnote zu Frhr. v. Schele-Schelenburg: An den Adel deutscher Nation. Einige Betrachtungen über den Aufsatz unter diesem Titel in Nr. 3 dieser Zeitung, in: Ebd., 1/1840, S. 67; NN: Der Adel, wie er fortbestehen soll, in: Ebd., 2/1841, S. 173; Fischer: Teutsche Adel II, S. 282–288. NN: Was ist uns geblieben?, in: ZfddA 1/1840, S. 294. NN: Wonach sollen wir streben?, in: Ebd., 2/1841, S. 33f. Drechsel: Entwürfe, S. 33. NN: Ein Wort für den Deutschen Adel in Preußen, in: ZfddA 4/1843, S. 7. Zustimmend äußerte sich Carl Graf v. Hülsen: Einige Bemerkungen über den Aufsatz: „Ein Wort für den deutschen Adel in Preußen.“, in: Ebd., S. 42. Vgl. zu dieser Legitimationsstrategie auch Marburg/Matzerath: Stand. Die Auseinandersetzung darum wird besonders deutlich in den Adelsreformbemühungen Friedrich Wilhelms IV. in Preußen. Vgl. Reif : Friedrich Wilhelm IV.; ders.: Adelspolitik, S. 212–224. NN: Wonach sollen wir streben?, in: ZfddA 2/1841, S. 21 u. 29. Fischer: Teutsche Adel II, S. 284. NN: Was ist uns geblieben?, in: ZfddA 1/1840, S. 300. NN: Kurze Beleuchtung der Frage: Ob die Aufhebung der in Teutschland bestehenden
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lichkeiten im Hinblick auf die Definition „ritterlichen Sinnes“ eingeengt – damit wohl auch kompatibel gemacht mit dem Großteil des existierenden Adels. Gleichzeitig wurde der Erwerbswelt eine Absage erteilt. Die Auseinandersetzungen um spezifisch adlige Tugenden verdeutlichen eine Feststellung Karl-Siegbert Rehbergs, der davon ausgeht, dass Leitideen oft gerade dann am brauchbarsten sind, „wenn sie unbestimmt und auslegungsfähig bleiben.“ Versuche eindeutiger Kodifizierung drohen hingegen immer, die verbreitete Anerkennung einer Ordnung zu sprengen.108 Standesspezifische Werte dem Mittelalter zu entnehmen, war kaum zukunftsfähig. In der Gegenwart war es praktisch unmöglich, Tugenden zu definieren, die nicht durch andere Gruppen erlangt werden konnten. Dies bedeutet nicht, dass die Zeitgenossen nicht tatsächlich daran glauben konnten, dass dem Adel spezifische Kräfte inhärent wären109 – nur die Ausführung, worum es sich dabei handelte, war schwierig. Daher konnte die Offenheit des Begriffs „ritterlicher Sinn“ die Besonderheit adliger Tugenden betonen, ohne sie inhaltlich erklären zu müssen. Als Differenzkriterium war der „ritterliche Sinn“ auch deshalb brauchbar, weil er die gleichzeitige Orientierung an und vorbildliche Betätigung von anderen Allgemeintugenden erlaubte.110 Es ging mit dem „ritterlichen Sinn“ nicht um das Angebot einer Elitensynthese an das Bürgertum in Form eines Tugendadels, sondern es ging um eine Neubestimmung des alten Adels aus der Tugend heraus. Das Verständnis des „ritterlichen Sinnes“ als einer im Adel beheimateten Idee hatte auch den Vorteil, dass es den Gehalt des Adels vom Träger löste. Solange die Träger den wahren Gehalt erkannten und nach ihm handelten, war damit Adel existent. Es müssten, so Graf Carl von Hülsen, nicht alle vollkommen sein, aber sie müssten danach streben, es zu werden.111 Andererseits: Wenn Adlige gegen den „ritterlichen Sinn“ verstießen, fiel dies auf das Individuum zurück, das die Idee des Standes nicht erfasst oder missachtet hatte. Von der Konzeption her fiel es aber nicht auf den Stand und seine Idee selber zurück. Nur so konnte Laurenz Hannibal Fischer betonen, sein Buch „handelt im Wesentlichen nicht von den Adelichen, denn von diesen ließen sich allerdings gar manche pikante Thorheiten erzählen . . . ; es beschäftigt sich mit dem Adelsstand, mit dessen Eigenschaft einer sittlichen Institution . . . Die Hauptstärke meiner Schrift setze ich
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Familien-Fideicommisse nothwendig und rathsam sei? o.O. o.J. [1848], S. 19; Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft, S. 164; Georg Funke: Der Adel als Repräsentant des provinziellen Lebens, in: ZfddA 2/1841, S. 154. Rehberg: Institutionen als symbolische Ordnungen, S. 68. NN: Wonach sollen wir streben?, in: ZfddA 2/1841, S. 33; Drechsel: Entwürfe, S. 41. NN: Was ist uns geblieben?, in: ZfddA 1/1840, S. 301; Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft, S. 189f.; Reif : Adelserneuerung, S. 220. Carl Graf v. Hülsen: Einige Bemerkungen über den Aufsatz: „An den Adel deutscher Nation“ – von einem Bürgerlichen, in: ZfddA 3/1842, S. 219.
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in die von mir versuchte richtige Begriffsbestimmung: was denn der Adel wirklich ist, sein soll und sein kann.“112
Damit war aber die Idee des Adels als rechtlich definiertem Geburtsstand schon weitgehend ausgehöhlt, seine Verlagerung in den Bereich der sittlichen Idee weit vorangeschritten. Selbst bei jenen Autoren, die spezifisch adlige Tugenden betonten, war Adel weitgehend zum Tugendideal geworden, freilich mit dem einen Unterschied, dass der Erwerb der Tugenden doch weitgehend geburtsständisch eingeengt wurde. Letztere wiesen damit einerseits die im Tugendadelsbegriff angelegte Elitensynthese zurück, andererseits definierten sie den Adel als Stand dennoch über Tugenden. Eine solche Entwicklung ist wohl nur vor dem Hintergrund der zergehenden frühneuzeitlichen Ständegesellschaft vorstellbar. Mit dem Aufgehen des Adels in verschiedene Berufsstände konnte das Einigende und Charakteristische in der Idee gesehen werden. Diese neue Definition erlaubte es, die Entstehung funktional differenzierter Führungspositionen in der Gesellschaft, die verschiedene Eliten erforderte, weitgehend zu ignorieren beziehungsweise genauer: sie mit Tugenden zu transzendieren.113 Dies war ein Ausweg, der sich aus dem Dilemma der NichtBestimmung eines praktischen adligen Berufs in der Moderne für den Stand ergeben konnte. Denn ob nun betont wurde, dass der Adel allgemeine Tugenden vorbildlich vertrete oder dass er über spezifisch adlige Tugenden verfüge – grundsätzlich war eine mögliche Abgrenzung gegenüber Nicht-Adligen vorhanden. Diese war allerdings bei der Betonung von Allgemeintugenden schwächer. Zugleich konnte aber argumentiert werden, dass besondere oder spezifische Tugendhaftigkeit für das Bestehen der Gesellschaft unabdingbar sei – die Gesellschaft somit auf den Adel nicht verzichten könne, auch wenn sich seine Mitglieder in verschiedenen Berufsfeldern wiederfanden. 1.2.3 Adlige Aufgaben in der Gesellschaft Sucht man in der Reformliteratur nach weiteren Aufgaben, die sich der Adel als Standeskriterien zuschreiben wollte oder die ihm zugeschrieben wurden, so stößt man auf ein disparates Feld von Vorschlägen. Laurenz Hannibal Fischer fasst die adlige Aufgabe für die Gesellschaft darin auf: Der Adel sei eine „anerkannte Standesinstitution, welche die Schutzpflicht für den Staat im weitesten Sinne, für einen diesem Stand angeborenen erblichen Standesberuf anerkennt . . . Von der allen Ständen und Staatsbürgern gleichmäßig obliegenden Schutz- und Wehrpflicht unterscheidet sich diese adeliche Schutzpflicht darin, daß . . . [sie als] eine angeborene Berufspflicht erscheint.“
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Fischer: Teutsche Adel I, S. XIIf. Ähnlich: NN [Kein Preuße]: Des Deutschen Adels Verdienste und Beruf. Frankfurt a.M. 1848, S. 37. Dies bestätigt die These von Frie: Adel um 1800, Abs. 21.
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Im Einzelnen falle darunter der Schutz des „Staatsoberhaupts“, der „Obrigkeiten“ allgemein und schließlich der militärische Schutz gegen äußere Bedrohungen.114 Faktisch handelte es sich daher am Ende auch nicht um einen konkreten Beruf, den Adlige ausüben sollten, sondern sie konnten nach Fischers Ansicht im Militär, in der Staatsverwaltung und im Grundbesitz ihrer Standesaufgabe nachkommen.115 Als solche war sie mit dem politischen Konzept des Bollwerks vor dem Thron kompatibel, stieß sich aber in der Schrift selber daran, dass Fischer den Adel als Mittler zwischen Volk und Monarch angesehen wissen wollte.116 Auch im preußischen Adel wurden Modelle vertreten, die den Adel vor allem in seiner militärischen Funktion, wenn auch bei gleichzeitigem Grundbesitz, begründet sahen.117 Ein rückblickend inadäquates Modell lieferte Wilhelm Heinrich Riehl, der im Adel den Vertreter des Prinzips der ständischen Gliederung der Gesellschaft sah.118 Was vor dem Hintergrund seines ständischen Gesamtentwurfs noch halbwegs glaubhaft schien, war in einer sich anders entwickelnden Gesellschaft ebenso wenig umzusetzen wie Albert Schäffles Vorstellung, der Adlige habe aufgrund seiner „Universalität“ überall am „Fortschritt der geistig-sittlichen Entwicklung des Gemeinlebens“ mitzuwirken und darauf zu achten, dass das „Gemeinleben“ sich in allen Bereichen gleichmäßig fortentwickle.119 Stärker auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten war eine Reihe von Projekten bezogen, die vom Adel verlangten, dass er sich zum Vertreter des Allgemeinwohls machen müsse. Emil von Kosten war der Ansicht: „Aber wohl kann sich der Adel eine allgemeine Achtung des deutschen Volkes erwerben, wenn er sich vereinigt an die Spitze großartiger Unternehmungen stellt, die für Deutschland von den wichtigsten Folgen sein werden.“120
Freilich wurde Allgemeinwohl auch in diesen Fällen zumeist spezifisch adlig-konservativ verstanden und sollte adlige Vorrangansprüche sichern.121 Zu guter Letzt gab es noch Programme, die stärker auf den grundbesitzenden Adel schauten und von ihm ein patriarchalisches Selbstverständnis gegenüber der Landbevölkerung forderten.122 Dabei konnte es auch um den Erhalt oder 114 115 116 117 118 119 120
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Fischer: Teutsche Adel II, S. 212. Ebd., S. 220–249. Ebd., I, S. XIV. Reif : Adelserneuerung, S. 222. Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft, S. 131. Schäffle: Adelsbegriff, S. 352. Emil v. Kosten: Eine Forderung der Zeit an den deutschen Adel, in: ZfddA 5/1844, S. 415. Ähnliche Gedanken bei NN: An den Adel deutscher Nation, in: Ebd., 2/1841, S. 61; NN: Über den Adel in der preußischen Monarchie, in: Ebd., 2/1841, S. 274; Drechsel: Entwürfe, S. 55. Solche Überlegungen finden sich auch schon beim Frhr. vom Stein. Vgl. ebd., S. 14; Wienfort: Der Adel in der Moderne, S. 152. Auch in den Johanniter- und Malteserorden fanden solche Überlegungen ihre Umsetzung. Vgl. ebd., S. 148f. Drechsel: Entwürfe, S. 55f. Beispielsweise im rheinischen Adel: Drechsel: Entwürfe, S. 24.
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die Wiederbefestigung einer rechtlichen Überordnung gehen, wie es noch die schlesische Adels-Réunion Ende der 1830er Jahre forderte – in ihrem Programm mischten sich formal-rechtliche und informelle Momente der Herrschaftskontinuierung auf dem Land.123 Nach 1848 war eine solche rechtliche Fixierung der Verbindung zwischen Adel und Landbevölkerung für den Freiherrn Albert Karl von Reitzenstein in Bayern jedoch nicht mehr denkbar. Er forderte stattdessen, dass man die Landbevölkerung für sich gewinnen, ihr als Anführer zur Verfügung stehen und sie eventuell durch Kredite unterstützen müsste.124 Auch sollte der Adel durch seine Rolle als vorbildlicher Landwirt Innovationen bei den Bauern den Weg bahnen.125 In Westfalen fanden diese Forderungen an den Adel in erweiterter Form in der Gründung des „Vereins katholischer Edelleute“ in Münster ihren Ausdruck. Verteidigung der Kirche, Anhänglichkeit gegenüber dem Landesherrn und Barmherzigkeit gegenüber in Not Geratenen wurden im Verein als adlige Aufgaben statuiert.126 Auch aus dem östlich der Elbe gelegenen Preußen sind Versuche einer solchen, an patriarchalischen Idealen orientierten Etablierung des grundbesitzenden Adels bekannt. Ein frühes Beispiel ist Friedrich August Ludwig von der Marwitz, der als Vorbild im Adel seit den 1850er Jahren stärker rezipiert wurde.127 Freilich war das Modell des Patriarchen sozial auf einen kleineren Teil des Adels – nämlich den großgrundbesitzenden – beschränkt. Adel konnte hier aufgrund von Wohlstand versuchen, gesellschaftliche Vorrangstellungen einzunehmen. Doch diese Positionen waren formal nicht abgesichert, sondern basierten auf der Anerkennung durch die (Land-)Bevölkerung. Andere Formen der Allgemeinwohlvertretung waren auch für Adlige ohne Grundbesitz vorstellbar und mit der Rolle des Gutsbesitzers als Patriarchen kombinierbar, jedoch ebenso auf Anerkennung angewiesen.
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NN: Die Adelsreunion, in: ZfddA 1/1840, S. 193f. u. 197f. Drechsel: Entwürfe, S. 59. Als Projekt, das noch politische Revisionen forderte, aber keine rechtlichen Abhängigkeitsverhältnisse mehr schaffen wollte, das des Frhr. Hermann v. u. zu Guttenberg ebd., S. 64. Einzelne Adlige scheinen auch in Bayern nach diesem Modell gelebt zu haben. Vgl. dazu Marita Krauss: Das Ende der Privilegien? Adel und Herrschaft in Bayern im 19. Jahrhundert, in: Walter Demel/Ferdinand Kramer (Hrsg.): Adel und Adelskultur in Bayern, München 2008, S. 377–393. Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft, 164 u. 185; Drechsel: Entwürfe, S. 65. Vgl. für Bayern Krauss: Ende. Angaben zu den Statuten und Gründungszwecken Drechsel: Entwürfe, S. 79f. u. 83. Die „Genossenschaft katholischer Edelleute in Bayern“ setzte sich 1876 ganz ähnliche Ziele. Gleiches galt für den rheinischen Adel. Ebd., S. 24. Reif : Adelserneuerung, S. 220.
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1.2.4 Wirtschaftliche Grundlage(n) – aber welche? „Die Vernünftigen des Adelsstandes wissen, daß Besitz und Bildung jederzeit Vorzüge gewähren, ja daß diese ohne gesetzlichen Zwang, sogar auf die Nachkommen übergehen, so lange diese nicht ausarten.“128 Graf Rudolf von Stillfried-Alcántara (1843)
Die Frage nach den wirtschaftlichen Grundlagen des Adels ist jene, in der sich alle Aspekte der Adelsreformdiskussion kreuzten. Ausgehend von der Wahrnehmung einer schlechten ökonomischen Stellung von Teilen des alten Adels wurden verschiedene Reformkonzepte entworfen, die über Wirtschaft sprachen, aber gleichzeitig Politik, Tugenden und die Einwirkungsmöglichkeiten des Adels auf die Bevölkerung mit verhandelten.129 Weitgehender Konsens bestand darin, dass der Großgrundbesitz eine dem adligen Wesen besonders entsprechende Wirtschaftsform sei. Eine starke Stellung im Grundbesitz sollte die Grundlage der politischen Aufgabe des Adels bilden. Ebenso sollte die ökonomische Absicherung die Teilnahme an Bildung und damit die Vertretung von Tugenden ermöglichen.130 Schließlich sollte das Leben auf dem Land den Einfluss auf die ländliche Bevölkerung sichern und wo möglich erhöhen. Von dort aus entwickelten sich allerdings die Meinungen in zwei Richtungen. Einmal ging es darum, ob Großgrundbesitzer die einzigen Adligen der Zukunft sein sollten, wobei sich einerseits die Frage ergab, was man mit dem Rest des Adels tun sollte, andererseits aber musste geklärt werden, was mit den bürgerlichen Großgrundbesitzern geschehen sollte. Zweitens konnte Grundbesitz als eine von mehreren Möglichkeiten adligen Lebensunterhalts gedacht werden. Die Diskussion konnte sich dann darauf konzentrieren, wie der Adel seine ökonomische Stellung insgesamt und jene in der Großlandwirtschaft im Speziellen wieder stärken beziehungsweise erhalten könnte und ob auch die nicht großgrundbesitzenden Teile des Adels weiterhin in der Lage wären oder erhalten werden könnten, die an den Adel gestellten sittlichen und politischen Erwartungen zu erfüllen. Damit behandelten beide Perspektiven im Kern auch die Frage, wie sich Adel in der neuen Gesellschaft positionieren könnte: als politisch privilegierte Klasse von Großgrundbesitzern oder als Stand mit spezifischen gesellschaftlichen Funktionen, die vom konkreten Brotberuf unabhängig waren. 128
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Stillfried-Alcántara: Vorschläge, S. IV. Ähnlich argumentierte auch der Fürst von Waldburg-Zeil-Wurzach in den 1830er Jahren. Vgl. Andreas Dornheim: Adel in der bürgerlich-industrialisierten Gesellschaft. Eine sozialwissenschaftlich-historische Fallstudie über die Familie Waldburg-Zeil, Frankfurt a.M./u. a. 1993, S. 153f. Graf Reigersberg ging in Bayern davon aus, dass eine Regeneration des Adels nur bei richtiger Nutzung der zur Verfügung stehenden materiellen und sittlichen Mittel erfolgen könne. Freiherr Hans v. u. zu Aufseß hielt Bildung und Vermögen für die Sicherungsmittel einer hervorragenden Stellung des Adels. Drechsel: Entwürfe, S. 41 u. 53. Georg Funke: Der Adel als Repräsentant des provinziellen Lebens, in: ZfddA 2/1841, S. 161.
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I. Adel und gesellschaftliche Ordnungsmodelle
Die (Rück-)Verwandlung des Adels in eine Klasse von Großgrundbesitzern hat in der Forschung verhältnismäßig viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Karl Freiherr vom Stein vertrat sie in einer Reihe von Denkschriften, in Bayern wurde sie unter der Leitung des Grafen Montgelas zwischen 1808 und 1818 zeitweise und teilweise versucht.131 Aufgrund der Präferenzen, die Friedrich Wilhelm IV. für solche Pläne besonders in den 1840er Jahren hegte, scheinen zu dieser Zeit die Chancen für eine Umsetzung einer solch einschneidenden Reform vergleichsweise günstig gewesen zu sein.132 Fundierung des Adels auf Grundbesitz sowie dessen Vererbung und die des Adelstitels an nur einen Sohn sollten es ermöglichen, eine Gruppe reicher, unabhängiger Adliger zu schaffen. Das fand allerdings nur vereinzelt Zustimmung.133 Um den historischen Adel nicht sogleich ins Bürgertum abzudrängen, andererseits aber Aufstiegskanäle aus dem Bürgertum in den Adel zu bilden, konnten zwischen diesem Adel und dem Bürgertum verschiedene Gruppen von Adelsfähigen, Verdienstadligen oder ein „Passiv-Adel“134 positioniert werden. Diese Gruppen sollten sich vorrangig dem Staatsdienst widmen. Dadurch sollten fließende Übergänge zwischen Gesellschaftsgruppen geschaffen und eine Annäherung der Stände erreicht werden.135 Zum Aufstieg in den ,richtigen‘ Adel sollten dann Verdienst und der Erwerb von Grundbesitz oder die königliche Dotation Voraussetzung sein.136 Insgesamt war der Umgang mit denjenigen, die nicht den neuen Adelskriterien entsprachen, aber eines der ungelösten und komplizierten Probleme der Adelsreform.137 Was die Rezeption der bürgerlichen Großgrundbesitzer anbelangte, so war deren Aufnahme in den neuen Grundbesitzeradel zumeist nicht sofort geplant, sondern sie mussten sich erst durch längere Besitzzeit beweisen. Dann, so nahm ein Autor an, würde aber die Identität von „Besitz“ und „Beruf “ zu einer Assimilation der bürgerlichen und adligen Großgrundbesitzer führen und daraus ein neuer 131
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Reif : Adelserneuerung, S. 215–220; Walter Demel: Adelsstruktur und Adelspolitik in der ersten Phase des Königreichs Bayern, in: Weis: Reformen, S. 213–228; Drechsel: Entwürfe, S. 6–20. Neben Fürst Hermann v. Pückler-Muskau (ebd., S. 36f.) wurde auch in Hessen-Kassel über solche Projekte diskutiert (Brakensiek: Amtsträger, S. 26f.). Orientierung bot hier, wenn auch immer in beschränkter Sichtweise, das Beispiel des englischen Adels. Reif: Friedrich Wilhelm IV.; ders.: Adelspolitik, S. 213–215; Berdahl: Politics, S. 225f.; Friedeburg: Modell England. Ein Autor äußerte sich sehr lobend über den Plan, wenn er auch anerkannte, dass der Adel in Deutschland mental auf solch einschneidenden Reformen noch nicht vorbereitet sei. Dies werde aber die Zeit bringen. Vgl. NN: Wonach sollen wir streben?, in: ZfddA 2/1841, S. 21. NN: Der Adel, wie er fortbestehen soll, in: Ebd., S. 165f., 169–170 u. 173f. Stillfried-Alcántara: Vorschläge. NN: Über die Grundlagen der Stände mit besonderer Rücksicht auf den Adel, in: ZfddA 3/1842, S. 131. Besonders prominent war dieser Gedanke beim Frhr. vom Stein und dem Grafen Montgelas. Vgl. Drechsel: Entwürfe, S. 6–20. Auch in einer Reformschrift für Sachsen gab es solche Vorschläge. Vgl. ebd.: S. 36. Fr. L. B. Medem: Über die Grundlagen der Stände mit besonderer Rücksicht auf den Adel, in: ZfddA 3/1842, S. 142, verzichtet ganz auf die Thematisierung des Problems.
1. Gesellschaftsentwürfe und Adelsreformprogramme
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Adel entstehen.138 Gegen diese weitreichenden Adelsreformpläne wurden verschiedene Argumente vorgebracht. So wurde historisch argumentiert, dass der Adel niemals auf dem Besitz, sondern immer auf dem Geschlecht gehaftet habe – Adel sei ein Geblütsrecht und die Reform daher unsinnig. Zudem wurde betont, dass es sich um die Übernahme fremder, englischer Sitten handle, die in Deutschland nicht verwurzelt seien. Auf die Gegenwart bezogen konnte angemerkt werden, dass diese Regelungen Spaltung und Disharmonie in die Familien hineintrüge und eine Nobilitierung durch den König weniger wünschenswert erscheinen könne.139 Lehnte man eine grundsätzliche Reform des Adels, orientiert am Kriterium Grundbesitz, ab, so stellte sich immer noch die Frage, wie man seine ökonomische Lage verbessern könne. Mehrere Komplexe zeichnen sich ab, die dabei hilfreich sein sollten. Einmal wurde immer wieder gefordert, dass der verbliebene Grundbesitz des Adels besser gesichert werden müsse. In den adligen Grundbesitzern sah man einen erheblichen Teil seiner wirtschaftlichen Macht und seines politischen Einflusses.140 Die Sicherung seiner Stellung wurde daher vor allem in der Stiftung von Fideikommissen gesehen, bei denen in der Regel auch das Erstgeburtsrecht gefordert wurde.141 Dabei konnte die Gründung von Fideikommissen durchaus zur Überlebensfrage des Adels stilisiert werden.142 Um jedoch möglichst vielen Adligen die Stiftung zu ermöglichen, sollte der notwendige Reinertrag niedrig sein und auch die Gebühren kein Hindernis darstellen.143 So konnte zwar nicht der gesamte Adel eine durch Ökonomie abgesicherte führende Stellung im Staat einnehmen, aber immerhin einem Teil sollte dies möglich sein, während 138 139
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Ebd., S. 115–117, 121–123, 125–127, 131f., 135–137, 141f. NN: Sammtverein des teutschen Adels, zum Artikel: „An den Adel teutscher Nation“, in: ZfddA 1/1840, S. 350; NN: Wie kann und muß der Adel fortbestehen?, in: Ebd., 2/1841, S. 244; Reif: Friedrich Wilhelm IV, S. 1108–1111; ders.: Adelspolitik, S. 216–222. Ausführlich analysiert die Auseinandersetzung Heinickel: Adelsidentität. Georg Funke: Der Adel als Repräsentant des provinziellen Lebens, in: ZfddA 2/1841, S. 153. NN: Die Adelsreunion, in: Ebd., 1/1840, S. 197; NN: Was ist uns geblieben, in: Ebd., S. 294; Fischer: Teutsche Adel II, S. 262–269. Drechsel: Entwürfe, S. 23. Berdahl, Politics, S. 224f. Auch im Adel in Hannover waren Debatten über eine erbrechtliche Absicherung des Grundbesitzes seit den 1840er Jahren virulent. Ulrike Hindersmann: Der ritterschaftliche Adel im Königreich Hannover 1814–1866, Hannover 2001, S. 404, hat geschrieben: „Angesichts der . . . nicht ungünstigen ökonomischen Situation der hannoverschen Rittergüter . . . wie auch des Fehlens einer bürgerlichen oder ,ausländischen‘ Konkurrenz des gutsbesitzenden Adels erscheinen diese vielfältigen Bemühungen um den Erhalt der Güter eher als Ausdruck übertriebener denn gerechtfertigter Sorgen.“ Vor dem Hintergrund der allgemeinen Adelsreformdebatten und der Partizipation des hannoverschen Adels an den Diskussionen erscheinen die Bemühungen hingegen konsequent. Es ging um die Absicherung der adligen Stellung durch langfristige ökonomische Sicherung. Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft, S. 189. NN: Erbfolge des Adels. Erbfolge im Grundbesitz, in: ZfddA 2/1841, S. 58.
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I. Adel und gesellschaftliche Ordnungsmodelle
ein anderer Teil auf Gleichbehandlung beim Erbe verzichtete und sich einen Lebensunterhalt abseits der Landwirtschaft suchte. Der dortige Berufekanon blieb allerdings konventionell. Staatsverwaltung, Militär und Hof wurden als angemessen erachtet144 , bürgerliche Berufe hingegen abgelehnt. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass sie als Gefährdung der adligen Sitte angesehen wurden. Wo das Ergreifen bürgerlicher Berufe akzeptiert wurde, ging damit in der Regel beim Grundbesitzeradel der Übergang in eine andere Adelsgruppe einher, bei beruflich offeneren Adelsmodellen wurde die zumindest temporäre Niederlegung des Adelstitels gefordert.145 Dass der Adel auch ohne Großgrundbesitz seine Tugenden wahren könne, solange er die richtigen Berufe ergriff, war damit akzeptiert. Für diese Option hatten vor allem der preußische Kronprinz Wilhelm und seine Anhängerschaft in der Staatsverwaltung plädiert, die damit die Reformpläne Friedrich Wilhelms IV. zurückwiesen.146 Aber auch andere Adlige sahen Großgrundbesitz als weniger entscheidend an. Baron Uso von Künßburg Thurnau betonte die kriegerische Seite des Adels, die auch von Verarmten noch voll erfüllt werden könne, wenn er schrieb: „Was aber den armen Adel betrifft, so muß ich erwähnen, daß er nie ein Schade für Deutschland war, und immer noch bildet er einen Kern im Heere.“147 Die Problemstellung verschob sich damit hin zu Konzepten, wie wieder eine höhere Versorgung des Adels mit Grundbesitz sichergestellt werden könne. Dazu wurden verschiedene Varianten ins Auge gefasst. Ein anonymer Autor schlug vor, dass Domänen in Preußen in Zukunft vorrangig an Adlige verpachtet werden sollten. Dies würde einerseits zur Hebung des adligen Wohlstandes führen, den sie im Lande selbst wiederum investieren würden. Andererseits hätten sie größeres Verständnis gegenüber den Bauern als die derzeitigen Pächter – die „opulenten Bürgerlichen“148 –, die ihr Geld, ihrer Bestimmung gemäß, in industriellen Unternehmungen anlegen sollten. Freiherr Albert Karl von Reitzenstein schlug die Sammlung des Adels in einer Korporation vor. Aus den Mitgliedsbeiträgen sollte dann unter anderem alle drei Jahre ein Gut gekauft und unter den Mitgliedern verlost werden.149 Wiederum andere forderten „einen gemeinschaftlichen Güterbesitz – der in jedem Bundesstaate eine Land-Adels-Ganerbschaft bildet.“150 Dane144
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Uso Frhr. v. Künßburg Thurnau: An den Adel deutscher Nation, in: ZfddA 1/1840, S. 239; D.O.: Ein kurzer Zusatz zu dem Aufsatze: „Ein Wort für den deutschen Adel in Preußen.“, in: Ebd., 4/1843, S. 87. NN: Wonach sollen wir streben?, in: Ebd., 2/1841, S. 29. Reif : Friedrich Wilhelm IV., S. 1107. Uso Frhr. v. Künßburg Thurnau: Zu den Andeutungen und Vorschlägen für die Erhaltung des Adels als Corporationsstand und zur Hebung des National-Wohlstandes im Allgemeinen, in: ZfddA 1/1840, S. 305. NN: Ein Wort für den Deutschen Adel in Preußen, in: Ebd., 2/1841, S. 4. Zustimmend äußerte sich dazu Carl Graf v. Hülsen: Einige Bemerkungen über den Aufsatz: „Ein Wort für den deutschen Adel in Preußen.“, in: Ebd., 4/1843, S. 42. Drechsel: Entwürfe, S. 60. NN: Wie kann und muß der Adel fortbestehen?, in: ZfddA 2/1841, S. 247f. Ähnlich:
1. Gesellschaftsentwürfe und Adelsreformprogramme
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ben zeichnete sich schon früh eine weitere, vom Grundbesitz unabhängige Variante ab, wie der Adel den Wohlstand seiner Mitglieder heben beziehungsweise in Notlagen helfen wollte. Bei der althessischen Ritterschaft, die 1835 konstituiert wurde, konnte an die aus der Frühen Neuzeit vorhandenen Stifte angeschlossen werden und ein Unterstützungsfonds gegründet werden151 , der rheinische Adel wurde bei Erhalt seiner Privilegien durch Friedrich Wilhelm III. zur Einrichtung von Kompensationsanstalten für die nicht erbenden Töchter und nachgeborenen Söhne verpflichtet.152 In den Programmen zur Gründung einer adligen Korporation oder eines Vereins wurden immer wieder auch Unterstützungsfonds gefordert, die jene unterstützen sollten, die vom Erbe des Grundbesitzes ausgeschlossen waren oder auch allgemein in Not Geratenen helfen sollten und wenig Vermögende bei der ,standesgemäßen‘ Ausbildung ihrer Kinder unterstützen sollten.153 Es ist bezeichnend, dass trotz der Angewiesenheit zahlreicher Adelsgruppen auf den Staatsdienst kaum jemand versuchte, den Adel als Krieger- oder Verwaltungselite neu zu definieren. Dafür dürfte vor allem maßgebend gewesen sein, was Georg Funke befürchtete. „In den Beamten-Stand übergehend, wird er [der Adel] dann abhängig, statt dessen er früher unabhängig war, und frei seine Verhältnisse beherrschte.“154 Dies bedeutete nicht, dass man den Staatsdienst generell ablehnte. „So wie es erbliche und Wahl-Könige giebt, so giebt es erbliche und gewählte Aristokraten; für diese Art der Aristokratie hat die Sprache den besonderen Namen der Büreaukratie erfunden. Gegen sie ist die erbliche Aristokratie das Gegengewicht.“155
Damit war gesagt, dass die Bürokratie nicht das einzige Standbein des Adels sein sollte, sondern in den Großgrundbesitzern sollte dem Adel ein ökonomisch potenter Teil erhalten bleiben. Zugleich wird hierin eine Mischung aus staatlicher Funktionalisierung, auf welche der Adel ökonomisch angewiesen blieb, und antiabsolutistischer Vorbehalte deutlich, die ein Aufgehen in einer Staatsfunktion verhinderten. Mit der Ablehnung einer Adelsreform im großen Stil, die auf einer einheitlich wirtschaftlichen Grundlage aufbaute und von dort aus die Rolle des
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NN: An den Adel deutscher Nation, in: Ebd., 1/1840, S. 5f. Carl Graf v. Hülsen: Einiges über den deutschen Adel, in: Ebd., S. 406; Uso Frhr. v. Künßburg-Thurnau: An den Adel deutscher Nation, in: Ebd., 1/1840, S. 239. Drechsel: Entwürfe, S. 22. Ebd., S. 25. Schon bei der „Kette“ findet sich dieser Gedanke. Vgl. Conrad: Kette, S. 7. Außerdem u. a. bei N.S.F.: Ein Vermächtniß an den Adel deutscher Nation, in: ZfddA 1/1840, S. 142. Drechsel: Entwürfe, S. 29, 52, 60 u. 65. Georg Funke: Der Adel als Repräsentant des provinziellen Lebens, in: ZfddA 2/1841, S. 158. Friedrich Frhr. de la Motte Fouqué: Betrachtungen über die Gegenwart und Zukunft des Adels und des gesellschaftlichen Zustandes überhaupt. Vorschläge zur Gestaltung der Zukunft, in: Ebd., 1/1840, S. 86. NN: Ueber den Adel in der Preußischen Monarchie, in: Ebd., 2/1841, S. 277.
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I. Adel und gesellschaftliche Ordnungsmodelle
Adels in der Gesellschaft definierte, war gleichzeitig die Ablehnung der Festschreibung des Adels auf eine neue berufsständische Tätigkeit unumgänglich. Es konnten keine beruflichen Differenzkriterien für die zukünftige Gesellschaft gefunden werden. In Grundbesitz, Verwaltung und Militär verfügte der Adel zwar noch über eine ansehnliche Präsenz, aber er musste hier mit dem Bürgertum konkurrieren. Was stattdessen bei den wirtschaftlichen Reformen befürwortet wurde, war eine Politik der kleinen Schritte, die in erster Linie auf eine Sicherung der ökonomischen Stellung des Adels hinauslief. Diese sollte neben der Sicherung des Grundbesitzes die Sorge für nicht erbende Kinder und in Not geratene Adlige durch Stiftungen einschließen. Bei Berufen wurde auf solche gesetzt, die die Erhaltung der adligen ,Sitte‘ zu gewährleisten schienen. Vorteil dieser Adelsreform war, dass sie keinen großen, staatlich geleiteten, Neuentwurf des Adels erforderte, sondern durch die Adligen selbst umgesetzt werden konnte, entweder auf Ebene der Familien, indem Fideikommisse und Familienstiftungen gegründet wurden, oder in Vereinen, die interessierte Adlige zusammenführten. 1.2.5 Gemeinschaft bewahren „Während in allen Staaten, ja beinahe in jedem einzelnen Zweig der Gesellschaft der einzelnen Staaten Associationen sich bilden, durch Associationen die früher unglaublichsten Dinge zu Stande gebracht werden, ist nicht abzusehen, warum nicht auch der Adel dem modernen Leben und der modernen Schnellkraft sich anschließen, durch eine Association die Fortdauer seines Daseins und Heils zu begründen suchen sollte.“156 Unbekannter Autor (1840)
Der Verein wurde im Adel als Signum der neuen Zeit angesehen, er erschien als eine ihrer wesentlichen Organisationsformen. Während die bisherigen Teile sich mit Möglichkeiten der Redefinition des Adels beschäftigt haben, soll hier ein zweiter Problemkomplex behandelt werden: Die Frage der gesellschaftlichen Abschließung des Adels gegenüber anderen Gruppen. Mit der Zusammenfassung der Standesgenossen war die Hoffnung verbunden, Homogenität herzustellen, die gesellschaftliche Stellung des Adels zu stabilisieren und die effektive Vertretung von Adelsinteressen zu ermöglichen.157 Grundsätzlich sind zwei idealtypische Konzepte vorstellbar, zwischen denen Vermittlungsstufen möglich waren. Es handelt sich um gesellschaftliche Organisationsmuster, die einerseits noch als Restbestände aus der Frühen Neuzeit in die Mitte des 19. Jahrhunderts hineinragten, andererseits in der Frühen Neuzeit entstanden und für die gegenwärtige Gesellschaft als prä156 157
NN: An den Adel deutscher Nation. Einige Bemerkungen über den Aufsatz unter diesem Titel in Nr. 3 dieser Zeitung, in: Ebd., 1/1840, S. 62. So in Bayern Graf Reigersberg, vgl. Drechsel: Entwürfe, S. 42f.; Reif : Adelserneuerung, S. 225.
1. Gesellschaftsentwürfe und Adelsreformprogramme
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gend angesehen wurden. Im ersten Fall handelte es sich um Korporationen. Im Verständnis der Zeitgenossen war dies ein staatlich genehmigter Zusammenschluss von Menschen, in dem die Mitgliedschaft weitgehend der Freiwilligkeit entzogen war, der Eintritt erfolgte in der Regel durch die Geburt. Korporationen konnten über eine eigene Nahrung und eigenes Recht sowie politische Privilegien verfügen – durch sie wurden „alle Lebensbereiche integriert“, sie bildeten einen „umfassende[n] ,Lebensverband‘“. Dem gegenüber standen „Assoziationen“ oder Vereine als „Vereinigungen, die sich auf partikulare Zwecke konzentrierten, individuellen Interessen dienten und in die man autonom eintreten bzw. wieder austreten konnte.“158 Zu ständisch-korporativen Abschließungen des Adels gegenüber anderen Gesellschaftsgruppen war es in der Zeit bis 1840 nur noch in wenigen Regionen gekommen.159 Wenn man berufsständische Definitionskriterien für den Adel vermied, so bot sich auch nicht der Ausweg einer berufsständischen Korporationsbildung. Es ist daher für den Grad der Auflösung der frühneuzeitlich-ständischen Gesellschaft und die Herausbildung einer neu organisierten Gesellschaft nach 1840 kennzeichnend, dass korporative Modelle für die Autoren der Adelsreformprogramme, die keine Neuadelsbildung favorisierten, kaum noch vorstellbar waren. Die weit überwiegende Mehrheit der Adelsreformentwürfe, die sich mit einer Zusammenfassung des Adels beschäftigte, schlägt Vereins- oder Ordensmodelle vor, wobei unter Orden ein Verein mit umfassenderem Anspruch auf die Orientierung der Lebensgestaltung verstanden wurde, so dass die Unterscheidung vom Verein abgeleitet blieb.160 Die Diskussion über Vereinsprojekte thematisierte drei Komplexe. Es ging einmal um die Beitrittskriterien. Kaum jemand setzte voraus, dass alle Adligen automatisch dem Verein angehören würden161 – unbeschadet der Tatsache, dass wohl die meisten Autoren hofften, dass alle Adligen eintreten würden.162 In den Verein wurde man also nicht hineingeboren, sondern es handelte sich entweder um einen Akt freiwilliger Mitgliedschaftserwerbung163 oder um
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Wolfgang Hardtwig: Korporation und Sozietät, in: Stephan Wendehorst/Sigrid Westphal (Hrsg.): Lesebuch Altes Reich, München 2006, S. 154–160, hier S. 154; Thomas Nipperdey: Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Ders.: Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur deutschen Geschichte, Göttingen 1976, S. 174–205, hier S. 174. Drechsel: Entwürfe, S. 20–22; Christof Dipper: Der rheinische Adel zwischen Revolution und Restauration, in: Helmuth Feigl (Hrsg.): Adel im Wandel, Wien 1991, S. 91–116; Reif: Adelspolitik, S. 205–207. Zu diesen Begriffsmischungen vgl. Friedrich Frhr. de la Motte Fouqué: Anmerkungen zum Aufsatz „Zu den Angelegenheiten des Adels-Vereins“, in: ZfddA 2/1841, S. 170. Einer der wenigen Vorschläge, der dies voraussetzte: NN: An den Adel deutscher Nation, in: Ebd., 1/1840, S. 5. Es deutet sich noch an beim Grafen Reigersberg. Vgl. Drechsel: Entwürfe, S. 41. NN: Wie kann und muß der Adel fortbestehen?, in: ZfddA 2/1841, S. 247. NN: An den Adel deutscher Nation, in: Ebd., 1/1840, S. 10.
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I. Adel und gesellschaftliche Ordnungsmodelle
Kooptation, die sittliche Musterhaftigkeit sicherstellen sollte.164 Damit war klar, dass die Gruppe der adlig Geborenen und jene der Mitglieder des Vereins wahrscheinlich nicht deckungsgleich sein würden.165 In einer ganzen Reihe von Projekten wurde noch ein stiftsmäßiger Ahnennachweis gefordert. Jene, die ihn nicht erbringen konnten, sollten höhere Eintrittsgebühren zahlen.166 Unumstritten war die Ahnenprobe jedoch nicht mehr. Ein Autor forderte, dass „entweder sieben Geschlechtsfolgen im Adelstand vom Vater, oder 16 Ahnen in fünf Geschlechtsfolgen in gleiche[m] Werth“ stehen müssten.167 Weitere Fragen betrafen die Höhe der Eintrittsgelder und die Voraussetzung von Grundbesitz für die Mitgliedschaft168 , welche beide sozial selektiv wirken konnten.169 Zu der Frage nach der Beitrittsfähigkeit gehörte auch jene des Austritts. So wurde einerseits gefordert, dass Austritte unmöglich sein sollten und nur bei unehrenhaften Handlungen ein Ausschluss erfolgen könne.170 Andererseits konnte freiwilliger Austritt aber auch erlaubt sein.171 Daneben waren in einer Vielzahl der Entwürfe Maßnahmen vorgesehen, unehrenhafte Adlige aus den Vereinen auszuschließen.172 Indem aber die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft in fast allen Entwürfen anerkannt wurde, rückten sie, auch wenn sie die Terminologie beibehielten, von eigentlichen Korporationsmodellen ab und näherten sich Vereinsmodellen an. Daran änderte auch nichts, dass in einem zweiten Diskussionsstrang die Frage gestellt wurde, inwiefern sich der Verein durch besonderes Recht auszeichnen sollte. So konnte gefordert werden, dass privatrechtliche Streitigkeiten der Mitglieder
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NN: Die Adelsreunion, in: Ebd. , S. 198. NN: Sammtverein des teutschen Adels, zum Artikel: „An den Adel teutscher Nation“, in: Ebd., S. 353. Verschiedene Mitgliedschaftskonzepte auch in der Zusammenstellung von Drechsel: Entwürfe, S. 44, 47 u. 49. Uso Frhr. v. Künßburg Thurnau: An den Adel deutscher Nation, in: ZfddA 1/1840, S. 239. NN: Bemerkungen zu dem Vorschlage über die Stiftung eines adlichen Vereins, in: Ebd., S. 266, fand acht Ahnen angemessen. Auch der Umgang mit Nobilitierten musste dabei geklärt werden. Vgl. ebd.; Drechsel: Entwürfe, S. 48. NN: Herstellung des Teutschen Ordens unter zeitgemäßer Veränderung, in: ZfddA 1/1840, S. 277. Hervorhebung im Original. Dies zeigt, dass die Umstellung vom Stifts- auf den Uradel nicht so schnell erfolgt, wie es bei William D. Godsey: Vom Stiftsadel zum Uradel. Die Legitimationskrise des Adels und die Entstehung eines neuen Adelsbegriffs im Übergang zur Moderne, in: Anja V. Hartmann/Malgorzata Morawiec/ Peter Voss (Hrsg.): Eliten um 1800. Erfahrungshorizonte, Verhaltensweisen, Handlungsmöglichkeiten, Mainz 2000, S. 371–391, suggeriert wird. Drechsel: Entwürfe, S. 44, 47, 54, 62f. u. 71f. 1000 Taler bei Uso Frhr. v. Künßburg Thurnau: An den Adel deutscher Nation, in: ZfddA 1/1840, S. 239. 300 Taler bei: Carl Graf v. Hülsen: Einiges über den deutschen Adel, in: Ebd., S. 406; Drechsel: Entwürfe, S. 50. Uso Frhr. v. Künßburg Thurnau: An den Adel deutscher Nation, in: ZfddA 1/1840, S. 239. NN: Ein Vermächtniß an den Adel deutscher Nation, in: Ebd., S. 137; Drechsel: Entwürfe, S. 60. Uso Frhr. v. Künßburg Thurnau: An den Adel deutscher Nation, in: ZfddA 1/1840, S. 239; Drechsel: Entwürfe, S. 61.
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nur vereinsintern zu klären wären.173 Einigkeit war hier aber schwieriger zur erzielen.174 Schließlich machten sich die Autoren drittens noch Gedanken darüber, wie Adlige äußerlich kenntlich gemacht werden könnten. Mit dem Wegfall von Kleiderordnungen konnten jetzt für die Vereinsmitglieder spezifische Uniformen oder Ordensabzeichen vorgeschlagen werden.175 Dabei wurde aber Kenntlichmachung Adliger nicht nur im positiven Sinne verstanden, sondern sie sollte Adlige auch disziplinieren: „Die Absicht bei dem Vorschlage . . . [sei], durch eine äußere, in die Augen fallende, Auszeichnung die Ritter kenntlich zu machen und durch einen gewissen Zwang dieselben zu vermögen, nur ihrem Stande gemäß sich öffentlich zu zeigen.“176 Welche Bedeutung hatte nun diese Auseinandersetzung um eine Vereinsgründung? Zwei Ebenen können unterschieden werden. Einmal die Frage nach der Bedeutung der Anerkennung des Vereinsmodells durch den Adel für dessen Verhältnis zur Gesellschaft, dann aber die Frage nach den Möglichkeiten der Konstitution des Adels als Gesellschaftsgruppe allgemein. Zur ersten Ebene: „Der Verein“, so Thomas Nipperdey in seinem klassischen Aufsatz aus dem Jahr 1972, „ist das entscheidende Medium zur Formung der bürgerlichen Gesellschaft.“177 In der Adelsforschung ist in den letzten Jahren mehrfach betont worden, dass die Ursprünge des Vereinswesens nicht so bürgerlich dominiert gewesen seien, wie es Nipperdey noch vermutet hatte.178 Der Adel sei in Vereinen stark vertreten gewesen, habe sogar spezifisch adlige Vereine gegründet und damit eine Mischung mit dem Bürgertum unterlaufen. Während der Befund eindeutig ist, sind die Folgen, die daraus gezogen wurden, jedoch überzogen. „Der Befund“, so Silke Marburg, „ermuntert in seiner Eindeutigkeit zunächst dazu, das gängige Signum des ,Bürgerlichen‘ für diese Gesellschaftsform zu streichen.“179 Freilich beruht diese Radikalität auf 173 174 175
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Uso Frhr. v. Künßburg Thurnau: An den Adel deutscher Nation, in: ZfddA 1/1840, S. 239. NN: Bemerkungen zu dem Vorschlage über die Stiftung eines adlichen Vereins, in: Ebd., S. 267. Uso Frhr. v. Künßburg Thurnau: An den Adel deutscher Nation, in: Ebd., S. 239; Carl Graf v. Hülsen: Einiges über den deutschen Adel, in: Ebd., S. 406; Drechsel: Entwürfe, passim. Klagen über den Verlust von Distinktionskriterien zitiert auch Berdahl: Politics, S. 222. Außerdem: Silke Marburg: . . . sub estos signis militamus. Adlige Selbstsymbolisierung in der Genossenschaft des Johanniterordens im Königreich Sachsen, in: Dies./Matzerath: Der Schritt in die Moderne, S. 17–44, hier S. 26f.; Gudrun Gersmann: Adel, in: Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 1, Stuttgart 2005, Sp. 39–54, hier Sp. 45. NN: Bemerkungen zu dem Vorschlage über die Stiftung eines adlichen Vereins, in: ZfddA 1/1840, S. 267. Nipperdey: Verein, S. 204. Ebenso betont die Bürgertumsforschung, dass die Vereine ursprünglich nicht so bildungsbürgerlich gewesen seien, wie Nipperdey noch vermutete. Vgl. Ralf Roth: Verein und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jh. und beginnenden 20. Jh. Thomas Nipperdeys Thesen zur Vereinsbewegung, in: Jörg Lesczenski/Werner Plumpe (Hrsg.): Bürgertum und Bürgerlichkeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Mainz 2009, S. 121– 138, hier S. 126. Silke Marburg: Adel und Verein in Dresden, in: Dies./Matzerath: Der Schritt in die
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I. Adel und gesellschaftliche Ordnungsmodelle
der einseitigen Wahrnehmung des Diktums Nipperdeys zum Verein. Denn auch wenn er den Anteil des Bürgertums überschätzt hat, so ist damit sein wohl gewichtigeres Argument nicht widerlegt – nämlich, dass der Verein Teil der Durchsetzung einer neuen, nachständischen – in den Worten Nipperdeys eben der ,bürgerlichen‘ Gesellschaft –, war.180 Über den Begriff kann man streiten – Nipperdey selbst erkennt an, dass auch nicht-bürgerliche Gruppen Vereine bildeten. Im Sinne einer Organisationsform der ,nach-ständischen‘ Gesellschaft, die spezifische Organisationsstrukturen mit sich brachte, ist der Befund aber auch auf den Adel anwendbar.181 Die Aufgabe der Forderung korporativer Zusammenschlüsse des Adels in einem Teil der Reformprogramme und die Gründung von Vereinen zeugen davon, dass der Adel begann, sich in den neuen gesellschaftlichen Bedingungen einer nicht mehr frühneuzeitlich-geburtsständisch organisierten Gesellschaft einzurichten, in ihnen seine Stellung zu stabilisieren.182 Natürlich waren die Adelsvereine, wie viele Bürgervereine, sozial exklusiv, der Zutritt hier sogar von der Geburt abhängig. Aber um adlig zu sein, war eine Mitgliedschaft nicht notwendig, und auch wenn der Verein, im Anschluss an Korporationen, versuchen konnte, alle Lebensbereiche seiner Mitglieder zu reglementieren, so mussten sich die Mitglieder nicht davon abhängig machen.183 Der Austritt stand ihnen frei, ohne dass sie dadurch ihren Adelstitel verloren hätten. In der Annahme des Vereinsmodells erkannte der Adel die sich verändernde gesellschaftliche Ordnung an und suchte eine Möglichkeit, sich jenseits von Berufsständen zu konstituieren. Zur zweiten Ebene: Vier Gründe hat Nipperdey ausgemacht, die zum Erfolg des Vergesellschaftungsmodells ,Verein‘ führten. Man kann diese jeweils an die veränderte Gesellschaft der Mitte des 19. Jahrhunderts anpassen und erkennt dann die Attraktivität des Vereinsmodells für den Adel. Erstens hätten Vereine „jenseits der Beschränkungen von Haus, Stand, Beruf und traditionellem Zeremoniell“ die Möglichkeit zu „freier Geselligkeit“ geboten. Um 1850 bedeutete dies für den Adel, dass der Verein es zuließ, sich jenseits der Berufsstände der Adligen zu vergesellschaften – Vereine konnten die Teilgruppen in
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Moderne, S. 45–61, hier S. 61. Ebenfalls Kritik übt Gabriele C. Clemens: Sanctus amor patriae. Eine vergleichende Studie zu deutschen und italienischen Geschichtsvereinen im 19. Jahrhundert, Tübingen 2004, S. 394. Nipperdey: Verein, S. 204f. Zur Bedeutung des Vereins als Teil der Formierung einer neuen Gesellschaft auch Hettling/Hoffmann: Wertehimmel, S. 348f.; Klaus Tenfelde: Die Entfaltung des Vereinswesens während der industriellen Revolution in Deutschland (1850–1873), in: Otto Dann (Hrsg.): Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, München 1984, S. 55–114, hier S. 110. Wienfort: Der Adel in der Moderne, S. 142, sprach mit Blick auf das adlige Vereinsengagement sogar davon, dass der Adel in dieser Beziehung „eigentlich als erste Gruppe in der ,bürgerlichen Gesellschaft‘ ankam“. Ähnlich Nipperdey: Verein, S. 185. Zum Verein allgemein ebd., S. 181. Auf den Verein als „Instrument sozialer Kontrolle“ allgemein weist Tenfelde: Entfaltung, S. 114, hin.
1. Gesellschaftsentwürfe und Adelsreformprogramme
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Militär, Landwirtschaft, Verwaltung und am Hof transzendieren und institutionalisierte Vergemeinschaftungsräume schaffen. Zweitens wollten die Vereine die Heranbildung eines neuen aufgeklärten Menschen fördern. Die adligen Vereine konnten sich ebenso um die Bildung des adligen Menschen kümmern – also sittliche Ziele verfolgen. Sorge für Zwecke über die Mitglieder hinaus, möglicherweise auch das gesellschaftliche Gesamtwohl, bildet die dritte Wurzel des Vereinswesens. Die Adelsvereine wollten für karitative und gesellschaftliche Zielsetzungen ebenso wirken, wie zur Ausbreitung des Gedankens der Fideikommisse und eine Stärkung der ,beharrenden‘ Kräfte in Staat und Gesellschaft – eine Verschiebung zwischen den Zielen war stets möglich.184 Der vierte Punkt Nipperdeys thematisiert schließlich den Dienst an einer Idee und ihre Manifestierung und Repräsentation – in seinem Fall der Kunst oder der Wissenschaft. Dass solche Vereinigungen aber auch zur Manifestierung von Adel und Adeligkeit Gelegenheit boten, erscheint evident.185 Im Medium des Vereins konnte der Adel sich somit weiterhin als distinkter Stand zu konstituieren suchen. Als eine der wichtigen Wirkungen des Vereinswesens hat Nipperdey mit Blick auf das Bürgertum festgehalten, dass der „Verein . . . im Prozeß der Spezialisierung der modernen Kultur und Gesellschaft eine wichtige Rolle gespielt, zugleich aber den entgegengesetzten Prozeß der Entpartikularisierung begünstigt [hat], so daß durch die Vereine bei aller Spezialisierung doch die Einheit der bürgerlichen Lebenswelt noch aufrecht erhalten worden ist.“186
Die Bürgertumsforschung der letzten Jahrzehnte hat diese Annahme bestätigt. Gemeinsame kulturelle Leitbilder und Geselligkeit bildeten die Ebenen, die dem Bürgertum eine Transzendierung der sozialen und beruflichen Heterogenität erlaubten und eine Vereinzelung der Individuen verhinderten.187 Hierin bestand auch die Chance, die der Verein dem Adel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bot. Er erlaubte die „Wahrung ständischer Exklusivität“188 . Dies bedeutet nicht, dass andere Räume adliger „Binnenkommunikation“, wie der Hof, urbane und ländliche Geselligkeit und Landtag, die Josef Matzerath ausführlich dargestellt hat, bedeutungslos wurden.189 In Preußen wurde mit dem Herrenhaus ein solches nationales Kommunikationsforum in den 1850er Jahren erst geschaffen. Aber die Partizipationsmöglichkeiten hingen vom Vermögen, dem Beruf oder auch der Wahl ab. Es waren keine Mechanismen der Vollintegration des Adelsstandes. Eine solche schien der Verein mit seinen 184
185 186 187 188 189
Was bei der Verfolgung des zweiten und dritten Zwecks im Einzelnen angestrebt wurde, verdeutlichen die zahllosen Vereinsentwürfe und Statute in Drechsel: Entwürfe. Außerdem Friedrich Frhr. de la Motte Fouqué: Anmerkungen zum Aufsatz „Zu den Angelegenheiten des Adels-Vereins“, in: ZfddA 2/1841, S. 170. NN: Die Adelsreunion, in: Ebd., 1/1840, S. 194 u. 197f. Nipperdey: Verein, S. 177f. Ebd., S. 204f. Kocka: Lange 19. Jahrhundert, S. 113–119. Tenfelde: Entfaltung, S. 73. Matzerath: Adelsprobe an der Moderne, S. 109–249.
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I. Adel und gesellschaftliche Ordnungsmodelle
selbstgesetzten Zugangskriterien eher zu gewährleisten. Die Präferenz für Vereinsbildungen dürfte schließlich auch damit zusammengehangen haben, dass die Hoffnung auf Unterstützung der Adelsreformpläne durch die Monarchen abnahm, der Verein aber eine Möglichkeit der Adelsreform durch den Adel selbst darstellte. Adlig war man im 19. Jahrhundert in der Regel qua Geburt. Im Leben trat man aber in einen Berufsstand ein.190 Die Verknüpfung zwischen Adel und spezifischen Berufen war spätestens seit den Reformen der napoleonischen Zeit aufgehoben. Standesgrenzen waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts undeutlich geworden. Adel verlor an Distinktion und Zusammenhalt. Darauf reagierten die Adelsreformdebatten. Neben den großen Konzepten hatten die Debatten der Jahrhundertmitte viele kleine Ansätze zu einer standesinternen Reform zutage gefördert. Die Jahre zwischen etwa 1840 und 1860 lassen sich hierbei als Einheit beschreiben, in der adlige und bürgerliche Reformer auf der Suche nach Wegen waren, die den Adel in der Moderne erhielten. Die Revolution 1848 stellt weniger eine Zäsur dar, als dass sie zumindest manche Reformer zu mehr Realismus und Ankerkenntnis der Gegenwart brachte. Der Horizont des Möglichen hatte sich nach der Abschaffung des Adels in der Verfassung der Frankfurter Paulskirche für einen wachsenden Teil der Diskutanten verkleinert. Mit dem endgültigen Scheitern der großen Entwürfe, das zusammenfiel mit dem Untergang der societas civilis als gesellschaftlicher Ordnungsvision, konnten die kleinen Entwürfe an Bedeutung gewinnen, was vom großen Teil des Adels begrüßt worden sein dürfte. Nun spielten die vielen kleinen Ansätze zu einer Standesreform und Neudefinition von Adel, die die Adelsreformdebatte ans Licht befördert hatte, die zentrale Rolle bei der Positionierung in der nun berufsständisch imaginierten Gesellschaft.191 Die adlige Funktion in der berufsständischen Gesellschaft sollte in diesen Modellen quer zu den beruflichen Funktionen der Individuen liegen. Sittlich konnte der Adel sich als herausragender Vertreter allgemeiner Tugenden wie auch als Inhaber spezifisch adliger Tugenden beschreiben und damit den Adel als geistig-sittliche Idee etablieren, die vom Individuum gelebt werden musste. Er wurde damit von einer konkreten beruflichen Funktion losgelöst und in den Bereich der gesellschaftsnotwendigen Idee verlagert. Der Erhalt dieser Tugenden wurde aber auch an spezifische Berufsfelder gebunden, so dass dem Adel neben dem Grundbesitz, der erbrechtlich abgesichert werden sollte, nur einige staatsnahe Berufe blieben. Politisch waren Leitideen praktikabel, die dem Adel auch nach der Trennung von Staat und Gesellschaft noch eine besondere Rolle als Bollwerk vor dem Thron oder als Vertreter spezifischer Interessen des ,beharrenden‘ Teils der Gesellschaft zuschrieben. Mit Für190 191
Darauf, dass dieser Berufsstand auch im Adel seine Inhaber und deren Heiratskreise prägte, verweist Brakensiek: Amtsträger, S. 26 u. 30. Insofern ist Friedeburg: Modell England, S. 30, zu widersprechen.
1. Gesellschaftsentwürfe und Adelsreformprogramme
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sorge gegenüber der (ländlichen) Bevölkerung und seiner Vorreiterrolle in nationalen Unternehmungen konnte der Adel seinen Dienst für das Allgemeinwohl nachweisen. Damit war am Ende der 1850er Jahre eine Reihe von Leitideen als standesspezifische Eignungen vorstellbar. Freilich waren nur wenige absolute Differenzkriterien vorhanden – die Grenzen zwischen Adel und restlicher Gesellschaft waren bei solchen Beschreibungen fließend. Eine eindeutige, rechtlich fixierte Abgrenzung gegenüber Bürgerlichen, die sich am selben Definitionskanon orientierten, war schwer möglich. Der Verein erschien daher als probates Mittel, um den Adel als Stand, dessen Mitglieder in verschiedenen Berufsständen beheimatet waren, zusammenzuschließen. Mit diesen beiden Elementen – Verein und gemeinsamer politisch-sittlichsozialer Werteorientierung – konnte sich der Adel als Gesellschaftsgruppe erstens abschließen, zweitens zusammenschließen, und drittens konnten die Leitideen Adel als Institution konstituieren. Schließlich waren dies alles Elemente, deren Umsetzung und Implementierung ohne neue staatliche Gesetzgebung erfolgen konnte, wenn auch mit wohlwollender staatlicher Förderung zu rechnen war. In diesem Konzept lag die Chance für den Adel, als Stand in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts weiterhin zu bestehen. Adel war damit als Stand im 19. Jahrhundert weiterhin denkbar und hatte in der gesellschaftlichen Ordnung konservativer Provenienz einen Platz und eine Funktion – er stand aus seiner Sicht im Einklang mit dem Wandel der gesellschaftlichen Ordnung, solange diese in konservativen Bahnen verlief, nicht im fundamentalen Widerspruch, wie es der an der Klassentheorie geschulte Blick des Historikers vermeint.
2. Adelskonzepte und Gesellschaftsentwürfe von den 1860er bis in die 1930er Jahre
Die Adelsforschung hat sich in den letzten Jahren mit der Frage abgemüht, wie der Adel im 19. Jahrhundert beschrieben werden kann und wie er in die normative Annahme der gesellschaftlichen Entwicklung von der Stände- zur Klassengesellschaft einzuordnen sei. Beschreibungen einer Verwandlung hin zur regionalen Elite oder der Existenz eines ständischen Überhängsels in einer anderen Zeit finden sich. Die Kapitel zur Adelsreformdiskussion haben gezeigt, dass Adel weiterhin in gesellschaftlichen Ordnungsentwürfen Konservativer einen Platz hatte und wie sich der Adel als Stand in einer nun berufsständisch imaginierten gesellschaftlichen Ordnung neu zu definieren suchte. Entgegen kam ihm dabei, dass es auch im Bildungsbürgertum keine kompromisslose Kritik am Adel gab, sondern für einen reformierten Adel eine Zukunft gesehen wurde – freilich nachdem ihm seine politischen Vorrechte genommen worden waren.1 Hier deutet sich insofern ähnliches an, wie es für die Neuadelsdebatten nach 1900 beschrieben worden ist.2 Es gab in der Gesellschaft auch über den Adel hinaus ein Bedürfnis nach einem ,Adel‘. Dieses Kapitel hat in einem weiten zeitlichen Bogen drei Aufgaben. Zunächst soll nach den Bedingungen der Fortexistenz des Adels in der industrialisierten Gesellschaft gefragt werden. Gab es weiterhin Gesellschaftsentwürfe, in denen der Adel einen Ort hatte? Wie war zeitgleich die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Entwicklung durch den Adel? Daran schließt die Frage an, wie der Adel sich selbst in der industrialisierten Gesellschaft verortete und inwiefern dies an die Adelsreformdebatten der Jahrhundertmitte anschloss. Schließlich wird es um das Verhältnis von konservativen Tugendideen und adligen Adaptionen im Untersuchungszeitraum gehen. Dahinter verbirgt sich nicht zuletzt die Frage nach einem spezifisch adligen Wertehimmel.
1 2
Langewiesche: Bürgerliche Adelskritik, S. 12. Eckart Conze: Totgesagte leben länger. Adel in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, in: Hengerer/Kuhn: Adel im Wandel 1, S. 107–122, hier S. 116f.
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I. Adel und gesellschaftliche Ordnungsmodelle
2.1 Der Adel, die konservative Berufsständegesellschaft und ihre Transformationen in der völkischen und radikalnationalistischen Bewegung Für die Gegenwarts- und Gesellschaftswahrnehmung des Adels zwischen den 1860er Jahren und dem Nationalsozialismus sind zwei Stränge wichtig, die seine Zeitdiagnosen und seine Sicht auf die gesellschaftliche Ordnung prägten – zwischen den Untersuchungsgruppen dieser Arbeit ist hierbei kein Unterschied festzustellen. Auf der einen Seite ist eine tiefe Sorge über den jeweils gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft zu verspüren, auf der anderen Seite zeigen sich aber auch immer wieder Hoffnungsschimmer. Auf der Seite der negativen Wahrnehmung und der Feindbilder trat neben dem Liberalismus seit den 1870er Jahren der Sozialismus ins Bewusstsein. Seit der Jahrhundertwende scheint er als primäre Gefahr angesehen worden zu sein. Doch prinzipiell standen beide Ideologien aus konservativer Sicht für Nivellierung, der Liberalismus für ständisch-rechtliche, der Sozialismus für soziale Nivellierung. Zudem standen beide für Materialismus und Entchristlichung der Gesellschaft.3 Die positive Seite der Gegenwartsdiagnosen war hingegen geprägt durch die Wahrnehmung ständischer Strukturen in der Gesellschaft oder Versuchen zu ihrer Wiederbelebung. Mit den Trägerschichten ständischer Gesellschaftsordnungsvisionen außerhalb des Adels ergaben sich daraus Allianzen, auch wenn diese nicht immer auf einer exakten Wahrnehmung der jeweiligen Modelle beruhten. Aus Sicht des Adels dürften weniger die exakten ständischen Gesellschaftsordnungen entscheidend gewesen sein, als dass das fortgesetzte Denken der gesellschaftlichen Ordnung in ständischen Kategorien durch konservative, später völkische und nationalistische Gruppen es erlaubte, auch für den Adel als Stand noch einen Ort in der Gesellschaft zu benennen. Blickt man auf konkrete Phasen des adlig-konservativen Denkens über die gesellschaftliche Ordnung, so rief die Revolution 1848 solche Verunsicherung hervor. Einerseits folgte aus den ländlichen Protesten, die in Süddeutschland nicht nur die Territorien der Standesherren, sondern auch jene der Ritterschaft betrafen4 , dass die dem Adel noch verbliebenen nutzbaren Rechte 3
4
Sabine Wehking: Zum politischen und sozialen Selbstverständnis preußischer Junker 1871–1914, in: BlldtLG 121/1985, S. 395–448. Zum Materialismus vgl. auch Hermann Braun: Materialismus – Idealismus, in: Brunner/Conze/Koselleck: Geschichtliche Grundbegriffe 3, Stuttgart 1982, S. 977–1020. Für Franken: Drechsel: Entwürfe, S. 39f.; FG-Stauffenberg 1972, S. 317f. Baden: FG-Adelsheim 1888, S. 70 u. 72; FG-Rüdt v. Collenberg 1986, S. 18; impressionistisch, an der Person des Freiherrn Roderich v. Stotzingen und seinen hinterlassenen Akten orientiert, Julius Dorneich: Erinnerungen des Freiherrn Roderich von Stotzingen in Steißlingen an die badischen Aufstände 1848/49, nebst Briefen aus der Zeit, in: Hegau 31/1974, S. 121–167
2. Adelskonzepte und Gesellschaftsentwürfe: 1860er bis 1930er Jahre
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weitgehend abgelöst oder für ablösbar erklärt wurden. Andererseits hatte die Paulskirchenverfassung gezeigt, dass jetzt auch die letzten Privilegien bis hin zur Existenz des Adelsstandes an sich zur Disposition standen. „Die Bureaukratie“, stellten die Freiherren Konrad von Gemmingen und Carl von Varnbüler in einer Denkschrift aus dem Jahre 1852 fest, „erkennt von ihrem Standpunkte aus ebensowenig eine Ständegliederung überhaupt an, als das in einer ... constitutionellen Kammer dominierende Bürgerthum einen anderen Stand neben sich zu dulden vermag. Findet nun ein solcher Stand [d.i. der Adelsstand] keinen, oder keinen angemessenen Platz, in den ihn zunächst umgebenden Kreisen, sie Folge einer Gliederung der politischen und socialen Elemente im Staate, oder existiert eine solche Gliederung überhaupt nicht, so werden die von den Vertretern der Regierung sowohl, als von denen des Volkes angefeindeten Mitglieder und Vertreter des begüterten Adels durch die Fortwährende Verfolgung von beiden Seiten zu einer steten Vertheidigung ihres Standes und der demselben verliehenen exceptionellen Rechte gezwungen und hiedurch auf einen egoistischen, mit einem wohlthätigen Einwirken auf den gesammten StaatsOrganismus unvereinbaren Standpunkt mit NaturNothwendigkeit getrieben.“5
Östlich der Elbe äußerte die Familie von Wartensleben 1853 in einem Einladungsschreiben zum Familientreffen, dass die „sogenannten Fortschrittsmänner ... alle alten Bande ... lockern [wollten], welche die Menschen an den festen christlichen Glauben, an Kirche und Staat, Familie und Vaterland fesseln“6 . Doch schon am Ende des Jahrzehnts war wieder verhaltener Optimismus sichtbar, wenn Freiherr Karl Heinrich Roth von Schreckenstein 1859 schrieb: „Das deutsche Volk ist weder für Despotismus noch für Anarchie geschaffen, dieses lehrt seine Geschichte auf jedem Blatte. Wir irren wohl nicht, wenn wir diesen Vorzug mit dem noch immer nicht erstorbenen Bewußtsein der Nothwendigkeit einer Gliederung nach Ständen in Verbindung bringen. ... Es sind vorübergehende, nicht im Wesen unserer Nation begründete Verblendungen gewesen, wenn ein Stand Alles in Allem sein wollte.“7
5
6
7
u. 34/1977, S. 69–141. Für den Freiherrn von Stotzingen zeichnet sich auch die Ambivalenz der Revolutionserlebnisse zwischen Faszination und Abscheu in den hinterlassenen Schriftstücken ab. Außerdem, wenn auch mit überholten Interpretationen, die Berichte bei Friedrich Lautenschlager: Die Agrarunruhen in den badischen Standes- und Grundherrschaften im Jahre 1848, Heidelberg 1915, S. 41–74. Württemberg: Meinrad Frhr. v. Ow-Wachendorf : Hans Otto Reichsfreiherr von Ow-Wachendorf (1843–1921). Skizzen aus einem Leben zwischen zwei Revolutionen, in: Franz Quarthal/Gerhard Faix (Hrsg.): Adel am oberen Neckar. Beiträge zum 900jährigen Jubiläum der Familie von Ow, Tübingen 1995, S. 481–511, hier S. 488f.; FG-Stetten 1998, S. 584; FG-Woellwarth 2001, S. 30– 32. Die ältere Literatur zusammenfassend und eine Auflistung von etwa 50 Unruhen gegen standesherrliche und ritterschaftliche Herrschaften bietend: Nikolaus Back: Dorf und Revolution. Die Ereignisse von 1848/49 im ländlichen Württemberg, Ostfildern 2010, S. 37– 68 u. 341–346. Referat der Freiherren Konrad v. Gemmingen und Carl v. Varnbüler über die Stellung des Adels in Württemberg, Stuttgart 5.3.1852, in: GLAK – 69 Göler v. Ravensburg, A68, unpag., S. 4f. Einladungsschreiben der Familie von Wartensleben zu einem Familientag, Caro 31.8.1853, in: LHASA-WR – Rep. H Carow 883, S. 1f. Ähnlich die Diagnose in der Rede Joseph Nepomucenus v.d. Marwitz, Pelplin 13.4.1864, in: FG-Marwitz 1929, S. 230. Karl Heinrich Frhr. Roth v. Schreckenstein: Geschichte der ehemaligen freien Reichs-
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I. Adel und gesellschaftliche Ordnungsmodelle
Aus preußischer Sicht dürfte am Ende der 1850er Jahre die Renaissance des Ständischen, gekennzeichnet durch die Einführung des Herrenhauses und die Rückkehr der Provinziallandtage, für Optimismus gesorgt haben.8 Und auch im katholischen Adel Westfalens sah man in den 1860er Jahren in solchen Institutionen die Chance der Überwindung des Parlamentarismus durch korporative Gliederung.9 Und so hielt man sich auch in den folgenden Jahrzehnten daran, das zu verteidigen, was man als überkommene ständische Strukturen ansah. Damit versuchte man, den ständischen Charakter der Gesellschaft zu wahren und sah gleichzeitig einen Platz für den Adel in der modernen Gesellschaft. Drei Zeitschnitte sollen diese exemplarisch verdeutlichen. In einem Aufruf der DAG hieß es 1880: „,Mit vereinten Kräften!‘ dieser Schlachtruf unserer auf die soziale Neugestaltung einer halbzertrümmerten Welt gerichteten Zeit, kann allein auch die Formel sein, durch welche die Reorganisation desjenigen Standes zu finden ist, der selbst nach dem Urtheil bedeutender liberaler Politiker und Staatsrechtslehrer für eine normale Entwicklung des Staats- und Gesellschaftslebens unentbehrlich ist.“10
In diese Richtung versuchte der Adel zu wirken, als es an die preußische Kreisreform ging. Hier verteidigte er die überkommene Ordnung nicht nur im Rekurs auf eigene Rechte, sondern auch im Hinblick auf die gesellschaftliche Ordnung. „Man sah mit der Kreisordnung das Ende jeder ständischen Gliederung gekommen und damit auch den drohenden Untergang der auf ihr beruhenden Monarchie.“ Die Kreuzzeitung, die eine ganze Artikelserie unter dem Titel „Ständische Gliederung und Kreisordnung“ publizierte, warnte vor einem „falsch-constitutionellen Urbreiprinzip“, das sich gegen das Standesprinzip mit der Kreisreform durchsetzen würde. Mit ihr gehe, neben der Monarchie, die letzte erbliche Obrigkeit verloren, deren Aufgabe die „Aufopferung“ sei.11 Die Deutsch-Konservative Partei, Unterstützerin Bismarcks, betonte in ihrem Gründungsprogramm 1876 die Bedeutung der Religion, vor allem in der konfessionellen Volksschule, die das wichtigste Bollwerk „gegen die zunehmende Verwilderung der Massen und fortschreitende Auflösung aller gesellschaftlichen Bande“ sei.12 Die ständische Welt war also bis in die 1880er Jahre aus Sicht des Adels nicht verschwunden – auch wenn sie fundamental bedroht war. ritterschaft in Schwaben, Franken und am Rheinstrome. Bd. 1, Tübingen 1859, S. 12. Hervorhebung im Original. 8 Reif: Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 46. 9 Ders.: Der katholische Adel Westfalens und die Spaltung des Adelskonsveratismus in Preußen während des 19. Jahrhunderts, in: Karl Teppe/Michael Epkenhans (Hrsg.): Westfalen und Preußen. Integration und Regionalismus, Paderborn 1991, S. 107–124, hier S. 123; ders.: Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 111. 10 Eine deutsche Adelsgenossenschaft, gedruckter Aufruf ohne Verfasser, Berlin März 1880, in: APS – Archiwum rodu Dewitz-Krebs, Nr. 26, unpag. 11 Wehking: Zum politischen und sozialen Selbstverständnis, S. 407. 12 Zitat nach Schildt: Konservatismus, S. 103.
2. Adelskonzepte und Gesellschaftsentwürfe: 1860er bis 1930er Jahre
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Die Hochindustrialisierung und der Eintritt der Massen in die Politik könnten als Zeitalter der endgültigen Auflösung ständischer Strukturen angesehen werden. Das in den Quellen ausgedrückte Maß an Besorgnis scheint im Adel seit den 1890er Jahren noch einmal rasant zugenommen zu haben.13 Aber Hoffnung bestand weiterhin. So wünschte sich der süddeutsche Otto von Aufseß auch in Zukunft, unter „wohlwollenden Herrschern [zu] leben, denen es hoffentlich gelingen wird, noch recht lange die zerstörenden Bestrebungen unserer Zeit mit starker Hand zu unterdrücken und große politische und soziale Stürme, wie sie unser Geschlecht in früheren Zeit mehrmals durchzumachen hatte, für immer von den Heimstätten desselben fernzuhalten.“14 Vor dem Hintergrund des Auslaufens der Sozialistengesetze sprach Freiherr Ernst August Göler von Ravensburg mit Blick auf Baden davon: „Die Frage, ob es den Sozialdemokraten gelingen werde, ihren Geist auf das Land zu übertragen, berührt . . . nicht nur einen einzelnen Stand, den Bauernstand, sondern unser gesamtes Volk; ihre Entscheidung entscheidet gleichzeitig über Sieg oder Niederlage der geschichtlich gewordenen Gesellschaft“15 . Michael Seelig ist anhand der Jahrgänge um 1900 des Deutschen Adelsblatts (DAB), in dem der preußische Kleinadel den Ton angab, zu dem Ergebnis gekommen: „In der Zeit um die Jahrhundertwende gehörte es zu den adeligen Allgemeinplätzen [im DAB], dass Materialismus und Unglaube die moderne Welt beherrschten und die gottgewollte Ordnung zerstörten; nur der Adel könne jetzt noch der Menschheit aus ihrer Misere helfen.“16 Liberalismus, Kapitalismus und Revolution und die mit ihnen assoziierten Prinzipien seien dem Konservatismus und der Ordnung gegenübergestellt worden. „Um 1900 war die Gegenwartsdiagnose des Adels durch und durch negativ, aber keinesfalls pessimistisch.“17 Der „Ausgang des Vorgangs erscheint noch offen“18 , im Zentrum der Zielvision stand dabei nicht nur im DAB eine ständische Ge13
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Protokoll der Generalversammlung des St. Georgenvereins, o.O. 18.4.1882, in: AStG – Bü. 138, unpag. Eines der eher selteneren Bsp. aus den 1870er Jahren: Unbekanntes Familienmitglied an Franz v. Lepel, Swinemünde 4.2.1875, in: LAG – Rep. 38d v. Lepel, Nr. 39, S. 422f. Hermann v. Dassel: Vorwort, in: FZ-Dassel 1/1890, S. 6. C. v. Trebra an Franz v. Trebra, Polenz bei Brandis 21.6.1894, in: LHASA-WR – Rep. H Braunsroda, Nr. 275, S. 13. Memoire Max v. Stojentins, o.O. o.D. [um 1900], in: LAG – Rep. 38d ZitzewitzMuttrin, Nr. 92, S. 44. Bericht des Rentamts Sulzfeld an Frhr. Felix Göler v. Ravensburg, Sulzfeld 9.5.1903, in: GLAK – 69 Göler v. Ravensburg, A367, unpag., S. 4f. Constantin v. Zepelin: Vom Charakter und der geistigen Begabung in der Familie (entstanden zwischen 1909 und 1913), in: FZ-Zepelin 2/1936, S. 3. Rede des Grafen Albert von UxkullGyllenband auf dem Georgentag 1917, abgedruckt im Protokoll des Georgentages 1917, Stuttgart 23.4.1917, in: AStG – Bü. 373, unpag., S. 4. FG-Aufseß 1888, S. V. Ernst August Frhr. v. Göler: Der Bauernstand und die soziale Frage. Stuttgart 1891, S. 5. Seelig: Der Kampf gegen die Moderne, S. 452. Ebd., S. 468. Ebd., S. 459. Die Hoffnung, dass die Krisen der Gegenwart überwunden werden könnten, war in der staatstragenden Elite des Kaiserreichs insgesamt weiter verbreitet. Vgl. Möller: Aufbruch ins 20. Jahrhundert; Nolte: 1900, S. 286.
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I. Adel und gesellschaftliche Ordnungsmodelle
sellschaftsordnung.19 Bernhard Löffler hat die Position des Fürsten Karl von Löwenstein-Wertheim-Rosenberg um die Jahrhundertwende dahingehend zusammengefasst: „Der revolutionäre Zeitgeist zerstöre die natürliche Ordnung der Bevölkerung nach Berufskreisen, die im Mittelalter so fruchtbar gewirkt habe, und hinterlasse eine desorientierte Gesellschaft gleich ,einem Sandhaufen ohne innere Organisierung‘. Demgegenüber komme es aber mehr und mehr zu einem begrüßenswerten Aufblühen verschiedener Berufsstände und Interessengruppen, was nicht zuletzt die Möglichkeit biete, soziale Reformen auf christlich-genossenschaftlicher Basis durchzuführen.“20
Die ständische Ordnung wurde somit zwar eher zu einem Projekt, das in der Zukunft umgesetzt werden musste. In der Gegenwart schien aus Sicht des Adels um 1900 die ständische Gliederung der Gesellschaft weitgehend abhandengekommen zu sein. Die Chancen für die zukünftige Realisierung einer solchen ständischen Ordnung schienen aber nicht schlecht zu stehen, und der Adel hatte hierbei eine Aufgabe zu erfüllen. An Projekte und Ideen genossenschaftlicher und ständischer Organisation abseits des Adels konnte der katholische ebenso wie der protestantische Adel seine Hoffnungen binden, und diese Projekte reichten aus der Wahrnehmung der Konservativen bis hinein in die Arbeiterschaft.21 So beschloss der zentrale Gewerkschaftskongress 1892, „die branchenbezogene Berufszugehörigkeit . . . [seiner] Mitgliederschaft“ zum „zentralen Strukturprinzip“ zu erheben. „Dieses berufsbezogene Organisationskriterium sollte für den konservativen Korporativismus im weiteren von Bedeutung sein, da nunmehr auch der proletarische Klassengegner über eine klar branchenorientierte Vertretungsform verfügen konnte.“22 Daneben florierten in katholischen Kreisen seit den späten 1880er Jahren die Ständeideen.23 Zeitgleich machte sich der Jurist Otto von Gierke an die Popularisierung eines Genossenschaftsrechts, das in seiner genauen Definition unscharf, wohl aber gerade deshalb so suggestiv war. Auf seinen Kern zurückgeführt, ging es um einen „dem vereinzelten 19
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Seelig: Der Kampf gegen die Moderne, S. 472f. Allerdings sieht Seelig in der Benutzung des Begriffs ,ständisch‘ einen Bezug auf die Gesellschaftsordnung von 1789. Die genannten Zitate deuten aber darauf hin, dass mit der Begriffsnutzung auf eine berufsständische Gesellschaftsordnung abgezielt wurde. Löffler: Die Ersten Kammern, S. 50. Vgl. zu korporatistischen Entwürfen im Kaiserreich insgesamt Thomas Meyer: Stand und Klasse. Kontinuitätsgeschichte korporativer Staatskonzeptionen im deutschen Konservativismus, Opladen 1997, S. 145–186. Für parlamentarische Umsetzungsvarianten und Diskussionen Manfred Noe: Berufsständische Elemente in den deutschen Staatsverfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt 2000, S. 52–109. Meyer: Stand und Klasse, S. 149. Noe: Berufsständische Elemente, S. 71–85; Gerhard Besier: „Berufsständische Ordnung“ und autoritäre Diktaturen. Zur politischen Umsetzung einer „klassenfreien“ katholischen Gesellschaftsordnung in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, in: Ders./ Hermann Lübbe (Hrsg.): Politische Religion und Religionspolitik. Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit, Göttingen 2005, S. 79–110, hier S. 80f.
2. Adelskonzepte und Gesellschaftsentwürfe: 1860er bis 1930er Jahre
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Individuum entgegenstehende[n] ,gesellschaftlichen Körper‘“24 . Gierke bemühte sich, den Genossenschaftsgedanken als „verschüttet gegangenen“ Teil des „germanischen Staatsdenkens“ zu präsentieren, der in der Gegenwart zur Verwirklichung dränge.25 Im Rahmen der Verteidigung der Fideikommisse brachte er vor: „Je mehr überhaupt die Einsicht durchdringt, daß nicht von fortschreitender Nivellierung und Atomisierung, sondern von neuer Gliederung und Bindung der Gesellschaft das Heil unserer Zukunft abhängt, desto weniger wird man leichten Herzens eine Einrichtung [d.i. das Fideikommiss] austilgen, die es hervorragenden Familien ermöglicht, sich in einem der Herrschaft des Einzelwillens entzogenen Besitztum die vermögensrechtliche Basis eines dauernden Bestandes zu sichern.“26
„Insbesondere der ,Beruf ‘“, so Paul Nolte zusammenfassend, „erlebte um die Jahrhundertwende einen beachtlichen Aufschwung als Kategorie der sozialen Klassifizierung.“27 Obwohl Kritiker die Grenzen der Berufskategorisierung für Modelle gesellschaftlicher Ordnung betonten, fanden sie als Ordnungsschema, zusammen mit dem Ständebegriff, in immer breiteren Kreisen der Bevölkerung Anklang. Da eine Gliederung nach Berufen nicht zuletzt eine immer stärkere Differenzierung der Gesellschaft statt ihrer Polarisierung nahe legte, ließ sich dieses Ordnungsmodell auch gegen die Klassengesellschaft wenden. Während der Klassenbegriff in der Diskussion schon seit der Jahrhundertmitte eine zunehmend negative Bewertung erfuhr und der mit ihm in Verbindung gebrachte gesellschaftliche Antagonismus Besorgnis erregte, wurde der Standesbegriff positiv konnotiert, da er Differenzierung und soziale Befriedung in einer anders geordneten Gesellschaft zu versprechen schien.28 Nicht zuletzt in der völkischen und radikalnationalistischen Bewegung träumte man von dieser Harmonisierung der Gesellschaft in der berufsständisch gegliederten Volksgemeinschaft. Die in diesen Bewegungen suggerierte Egalisierung war allerdings nur mit Bezug auf die höhere Entität der Nation gedacht. Die Volksgemeinschaft sollte sich in ihrem Innern nicht durch Gleichheit, sondern Verschiedenheit der einzelnen Elemente des Volkskörpers auszeichnen. Jeder Berufsstand sollte in der Volksgemeinschaft seine Pflichten haben und in ein hierarchisches Gesamtsystem eingeordnet werden. „Die existierenden sozialen Unterschiede sollten nicht eingeebnet, sondern dialektisch in der Synthese eines nationalen Gesamtwillens aufgehoben werden.“29 Ständische Gliederungen der Gesellschaft waren also um 1900 nicht überholt, sie schienen die Zukunft zu sein – und auch wenn die Stellung 24 25 26 27 28 29
Meyer: Stand und Klasse, S. 155. Ebd., S. 154. Otto Giercke: Die Zukunft der Fideikommisse, in: Johannes Conrad/Ludwig Elster (Hrsg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 3. Jena 1909, S. 421. Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S. 44. Ebd., S. 38–45. Peter Walkenhorst: Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914, Göttingen 2007, S. 81–101, Zitat S. 94.
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des Adels in den unterschiedlichen Projekten verschieden war, der alte möglicherweise durch einen neuen Adel ersetzt werden sollte30 , so schien in vielen dieser Ständegesellschaften ein Platz für eine erbliche Elite vorhanden zu sein. Daraus ergaben sich für den Adel Allianzen zu anderen Trägergruppen ständischer Gesellschaftsvisionen. Nicht nur die Ständegesellschaft, auch der Adelsstand hatte also einen Zukunft. Freilich schien das Jahr 1918 für alle diese Zukunftsvisionen einer ständisch gegliederten Gesellschaft das jähe Ende zu bedeuten.31 Im Mai 1918 sah sich der pommersche Adlige Kurt von Dewitz noch „inmitten eines Weltkrieges, der in wildem Wirbel nicht nur die Gestalt der Staaten . . . , sondern auch ihr politisches und wirtschaftliches Leben wie die Schichtung ihrer Stände in ganz neue Formen zu zwingen droht“32 . Woran er noch nicht geglaubt haben mag, nämlich dass dies auch auf Deutschland zutreffen könnte, war ein halbes Jahr später Realität. Die gesellschaftliche Ordnung, so wie der Adel sie sich wünschte, war mit der Revolution endgültig aus den Fugen geraten. Man war jetzt mit einer (wahrgenommenen) Gesellschaftsordnung konfrontiert, die man nie gewollt hatte – einer „wirtschaftlichen und sozialen Umwälzung“33 , die auf eine Klassenherrschaft hinauszulaufen schien. In Württemberg stellte Friedrich Freiherr von Gaisberg-Schöckingen fest, dass „jetzt . . . alles gegen einander hetzt, anstatt daß das deutsche Volk wie ein Mann zusammensteht“ 34 . Die Prinzen von Hessen-Kassel „viewed [die Weimarer Republik] as threatening their families and the cause of wider problems (economic dislocation and social unrest)“35 . In den adligen Bewertungen lassen sich nach 1918 Differenzen ausmachen, die jedoch weniger mit der Region als mit Religion zu tun hatten. Der Protestant Hans-Hugo von Schuckmann kam in der Familiengeschichte aus dem Jahr 1932 zu dem Ergebnis: „Der ersteren [älteren Generation] Lebensarbeit lag in einer stolzeren Zeit. Sie kannten Deutschland hoch in Ehren, waren einem Staat mit Herz und Hirn verbunden . . . Die erste Armee der Welt sicherte Frieden und Wohlfahrt. Ein unvergleichliches Beamtentum diente in Unparteilichkeit dem Volke, Staatsautorität und Recht stand unerschütterlich, jeder Staatsbürger leistete Arbeit, die ihres Lohnes wert war. Waren auch wirtschaftliche Gegen-
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Am ausführlichsten Gerstner: Neuer Adel. Zur Wahrnehmung des gesellschaftlichen Zustands nach 1918 vgl. Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S. 61–107. FG-Dewitz 1918, S. V. Vorschlag zur Wiederaufnahme des althergebrachten und von Kaiser Franz II. 1793 zum Orden erhobenen schwäbischen Ritterkreuz, Allmendingen 24.12.1919, in: AStG – Bü. 137, unpag., S. 2. Ritterhptm. Friedrich Frhr. v. Gaisberg-Schöckingen an die württembergische Regierung und Landesversammlung, Plochingen 24.3.1919, in: AStG – Bü. 373, unpag., S. 2. Der Familienvorstand der v. Dewitz sprach gar vom „entarteten deutschen Volk“. Vgl. Mitteilungen des Familienvorstandes, Cölplin/Meesow/Naumburg September 1919, in: APS – Archiwum rodu Dewitz-Wussow, Nr. 80, unpag, S. 1. Jonathan Petropoulos: Royals and the Reich. The Princes von Hessen in Nazi Germany, Oxford 2009, S. 6.
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sätze vorhanden und politische Kämpfe, so ging doch der Staat, sich weiterentwickelnd, den organischen Gesetzen nach, durch die er geworden war. Der kategorische Imperativ der Pflicht fand unter den Hohenzollern seine praktische Nutzanwendung für den Staat darin, daß jeder seine ,verfluchte Pflicht und Schuldigkeit‘ zu tun habe.“36
Organische Entwicklung und Pflicht, damit spielte Schuckmann auf gesellschaftliche Entwicklungsideale und das konservative Menschenbild an, wie es schon zur Mitte des 19. Jahrhunderts bestanden hatte. Mit dem Jahr 1918 war ein Bruch in diese Entwicklung gekommen. Der Staat und seine Diener waren aus der Sicht von Schuckmanns seitdem parteiisch geworden. Dem steht die Analyse des Westfalen und Katholiken Engelbert Freiherrn von KerckerinckBorg entgegen, der im Dezember 1918 auf der außerordentlichen Generalversammlung des Vereins katholischer Edelleute bemerkte: „Der große Zusammenbruch . . . hat sich lange Zeit vorbereitet. Er geht auf Verhältnisse zurück, die bereits vor dem Kriege bestanden und die auch ohne Krieg zu einer Entladung geführt hätten . . . Autorität und Freiheit sind Träger jeder staatlichen Ordnung. Autokratische und freiheitliche Kräfte trugen auch bei uns das politische wie das wirtschaftliche Gebäude. Das autokratische Prinzip war verkörpert im Militarismus und Beamtentum, zwei Erscheinungen, die in ihrer derzeitigen Form von Preußen ausgingen . . . Das freiheitliche Prinzip entfaltete sich vornehmlich im Gefolge der zunehmenden Industrialisierung; die Masse der Arbeiter, durch eine straffe Standesorganisation zusammengehalten und einheitlich geleitet, rüttelte von Jahr zu Jahr stärker an ihren Ketten. Die Sozialdemokratie verstand es, diese Bewegung mit politischen Machtgelüsten zu erfüllen. Damit wurde sie aus dem Geleise einer gesunden Demokratie herausgehoben und in Richtung einseitiger Klassenherrschaft eingestellt. . . . Der demokratische Gedanke war damit entartet . . . Aber auch an dem autokratischen System waren Entartungserscheinungen schon damals nachweisbar. . . . So standen sich also im alten Deutschland zwei Richtungen gegenüber, deren jede ihr Prinzip einseitig auf die Spitze trieb.“37
Aus seiner Sicht war also die sinnvolle gesellschaftlich-politische Entwicklung in Deutschland schon lange vor dem Ersten Weltkrieg abgebrochen. Einig war man sich konfessions- und regionsübergreifend hingegen in der Ablehnung der „Klassenherrschaft“ der Republik und der Sozialdemokratie.38 Eine Öffnung gegenüber der republikanischen Staats- und Gesellschaftsordnung war für beide hier untersuchten Adelsgruppen nicht vorstellbar.39 Maßgeblich blieben ständestaatliche Ordnungsmodelle und ein konservatives Menschenbild, nicht nur im Adel, sondern weit darüber hinaus.40 Die zuweilen beobachtbare Verabsolutierung des Vorrangs der Gemeinschaft vor dem 36 37 38
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FG-Schuckmann1932, S. 60f. Engelbert Frhr. v. Kerckerinck-Borg: Über die gegenwärtige Lage, Münster 11.12.1918, in: GLAK – 69 Oberndorff, A109, unpag., S. 1. Rundschreiben des Ritterhptm. Friedrich Frhr. v. Gaisberg-Schöckingen an die Mitglieder des St. Georgenvereins, Plochingen 30.12.1918, in: AStG – Bü. 373, unpag; Thomas Schnabel: Adel und Nationalsozialismus im deutschen Südwesten. Ein Vorwort, in: Haus der Geschichte: Adel und Nationalsozialismus, S. 7–16, hier S. 9–13. Dies bestätigt die Ergebnisse von Malinowski: Vom König zum Führer, S. 358–367. Für den Adel vgl. Flemming: Führersammlung, S. 127f. u. 137f. Allgemein vgl. insbesondere Nolte: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft, S. 159–183. Zu den Problemen, die
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Individuum war dabei gegenüber dem Konservatismus des 19. Jahrhunderts durchaus eine Fortentwicklung, die die Annäherung an Gesellschaftsmodelle der völkischen und radikalnationalistischen Bewegung im protestantischen Adel verdeutlicht. Ständestaatliche Modelle waren aber auch in der katholischen Soziallehre, zumal seit der Enzyklika „Quadragesimo Anno“ 1931, und im Verein katholischer Edelleute nach 1918 weiterhin populär und wirkten so auch in Südwestdeutschland.41 Doktor Heinrich Getzeny führte unter dem Titel „Die Mitarbeit des Adels im katholischen Vereinswesen“ aus: „Zunächst müssen wir uns darüber klar sein, welches die soziologischen Voraussetzungen für die Führerstellung des Adels im Volksleben überhaupt sind. Wo wird eine Adelsschicht als Führerschicht für selbstverständlich genommen? Das ist einzig und allein im organischen Volkstum, in einer organisch gewachsenen Lebens- und Volksgemeinschaft der Fall. . . . Ueberall wo die Gemeinschaft vom Blute her, vom organischen Zusammenleben her bestimmt ist, da ist auch die Herrschaft des adeligen Blutes mitgegeben, da ist der Angehörige der vornehmen Familie der anerkannte Führer. Diese organische Bluts- und Lebensgemeinschaft, dieses organische Volkstum bestimmte das soziale Leben des deutschen Volkes das ganze Mittelalter herauf bis in die Neuzeit herein. Daher war auch die Stellung des Adels diese ganzen Jahrhunderte herauf fast unbestritten. . . . Dieses organische Volkstum ist nun im Laufe der letzten Jahrhunderte von drei Seiten her zerstört worden: politisch vom absolutistischen Staate, sozial vom Kapitalismus, geistig vom Rationalismus.“42
Die Restitution einer ständisch-organischen Ordnung musste daher aus Sicht des katholischen Adels und des Rechtskatholizismus das Ziel sein.43 Diese Ständegedanken des protestantischen und katholischen Adels führten nach 1918 entweder in Allianzen mit Völkischen und radikalen Nationalisten, die vor dem Ersten Weltkrieg von einigen Adligen ausprobiert worden waren, oder die Ständeideen verhinderten zumindest den Widerstand gegen solche Allianzen. Denn die in völkischen und radikalnationalistischen Bewegungen schon vor 1918 kursierenden Ständegedanken entstammten zu einem guten Teil konservativen Gedankenhaushalten und standen der adligen Ideenwelt somit nicht allzu fern.44 Die Forderungen waren gegenüber
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den ständestaatlichen Entwürfen in der Praxis inhärent waren vgl. Kondylis: Konservativismus, S. 494–500. Malinowski: Vom König zum Führer, S. 361 u. 383. Benedikt Pahl: Adalbert Graf Neipperg (1890–1948) und der katholische Adel in Württemberg, in: Conze/Lorenz: Die Herausforderung der Moderne, S. 71–82; Besier: Berufsständische Ordnung. Heinrich Getzeny: Die Mitarbeit des Adels im katholischen Vereinswesen. Vortrag auf der 5. außerordentlichen Mitgliederversammlung des Vereins kath. Edelleute Südwestdeutschlands, Baden-Baden 5./6.4.1927, in: GLAK – 69 Oberndorff, A109, unpag., S. 1f. Außerdem der Vortrag von Pater Gundlach: Die ständische Idee nach der Enzyklika „Quadragesimo anno“, in: Mitteilungen 24/1932, Nr. 4, S. 4–8. Gabriele Clemens: Martin Spahn und der Rechtskatholizismus in der Weimarer Republik, Mainz 1983, S. 133–144. Für Überschneidungen und Neuorientierungen des radikalen Nationalismus vgl. Walkenhorst: Nation – Volk – Rasse. Zu den ambivalenten Verbindungslinien der Ständekonzeptionen u. a. die Hinweise bei Kondylis: Konservativismus, S. 494–495. Für andere
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dem Konservatismus der Jahrhundertwende lediglich biologisiert und radikalisiert worden.45 Der Unterschied zwischen den Untersuchungsgruppen war vor allem ein zeitlich-konfessioneller. Während im katholischen Adel die kirchliche Ständelehre zunächst noch eine gewisse Distanz zur völkischen Bewegung und dem Nationalsozialismus ermöglichte, sah der protestantische Adel vornehmlich östlich der Elbe in den ständestaatlichen Visionen der Rechten und Völkischen schon früher einen Partner im Kampf gegen die ,Klassenherrschaft‘ der Weimarer Republik.46 Doch auch im katholischen Adel wurden die Ständevisionen des Nationalsozialismus, spätestens seit der Machtübernahme 1933, als, wenn auch nicht perfekte, so doch gangbare Variante auf dem Weg zur ständischen Organisation der Gesellschaft angesehen.47 Im nationalsozialistischen Staat konnte sich der Adel daher vor dem Hintergrund des Strebens nach ständischer Gliederung der Gesellschaft gut aufgehoben fühlen. Rudolf von Hoff wies auf der Tagung der Familienverbände in Berlin 1935 darauf hin, „daß es kaum jemals eine Zeit gegeben hat, die dem Adel und den vom ihm gepflegten Werten so verständnislos gegenüber gestanden hätte wie das demokratische Jahrhundert, dem die nationalsozialistische Erhebung in unserem Vaterlande ein Ende bereitet hat. Die durch die französische Revolution begründete Lehre von der Gleichheit aller Menschen war das gerade Gegenteil adelstümlicher Bewertung . . . Den marxistischen Irrlehren, die zuletzt in den Bolschewismus auszuarten drohten, trat der Nationalsozialismus mit Erfolg entgegen. . . . Er setzt an die Stelle einer von Hetzrednern aufgepeitschten Masse den sinnvoll gegliederten Aufbau eines artgerechten Volkskörpers, den er durch wohlüberlegte rassische Erbauslese von Stufe zu Stufe emporzuheben trachtet.“48
Der Adel konnte in der Volksgemeinschaft des Nationalsozialismus nicht nur in vielfacher Weise profitieren, was seine Zustimmung ebenso wie die anderer Profiteure des Systems generiert haben dürfte.49 Adlige stiegen wieder in Führungspositionen auf, die Heeresvergrößerung sorgte für berufliche Perspektiven, und die Außenpolitik schien eine Rückgewinnung der nationalen
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konservative Werte und ihre Radikalisierung vgl. die ausführliche Darstellung im Kapitel I.2.3. Dies im Gegensatz zu den von Malinowski: Vom König zum Führer, beschriebenen „Brücken“ zwischen Konservatismus, völkischer Bewegung und radikalem Nationalismus. Flemming: Führersammlung, S. 141. Bezeichnend dafür die Ausführungen von Joseph Graf v. Degenfeld-Schonburg: Landwirtschaft und berufsständische Ordnung, in: Mitteilungen 25/1933, Nr. 3, S. 3–5. Außerdem Malinowski: Vom König zum Führer, S. 559f.; Pahl: Adalbert Graf Neipperg; Besier: Berufsständische Ordnung, S. 104f. FZ-Hake 16/1936, S. 146. Ian Kershaw: „Volksgemeinschaft“. Potenzial und Grenzen eines neuen Forschungskonzepts Volksgemeinschaft, in: VfZ 59/2001, S. 1–18; Frank Bajohr/Michael Wildt (Hrsg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt 2009.
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I. Adel und gesellschaftliche Ordnungsmodelle
Ehre zu gewährleisten. Sondern in der Volksgemeinschaft sah man auch die erstrebten ständischen Gliederungsmomente und bemühte sich innerhalb des Standes um die Umsetzung ständischer Ordnungspolitik.50 Deutlich wird die ungebrochene Tradition berufsständischen Denkens zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Nationalsozialismus. Auch wenn die ständische Ordnung zunächst etwas Existentes und Verteidigenswertes, um 1900 hingegen eher ein zukünftiges Projekt war, so erschien einem Teil der Bevölkerung innerhalb und außerhalb des Adels eine ständische Ordnung doch wünschenswert. Innerhalb dieser Ordnung, die sich durch Ungleichartigkeit der Menschen und ihrer Funktionen, durch die Orientierung an den Bedürfnissen einer höheren Einheit, der Nation oder der Volksgemeinschaft, auszeichnen sollte, und die durch das Zurücktreten des Individuums hinter die Bedürfnisse der Gemeinschaft gekennzeichnet sein sollte, war in konservativen und völkischen Entwürfen auch immer wieder für den alten Adel oder einen ,neuen‘ Adel Platz. Dies bedeutet, dass der Adel nicht zum unzeitgemäßen Überbleibsel innerhalb einer Klassengesellschaft geworden war, sondern dass es zeitgenössische, in breiteren Kreisen akzeptierte, gesellschaftliche Ordnungsmodelle gab, in denen der Adelsstand einen Platz hatte oder zukünftig haben sollte. Diese Ordnungsmodelle waren freilich im Gegensatz zur frühneuzeitlichen Stellung des Adels oder zu jener in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts völlig unterschiedlich. Nicht mehr Geburts- sondern Berufsstände wurden als gesellschaftliches Ordnungsprinzip erachtet oder antizipiert. Jeder Stand hatte sich durch eine spezifische Funktion für die Gesellschaft auszuzeichnen. Insofern gilt es im Folgenden nach dem Beruf zu fragen, den sich Adlige zuschrieben.
2.2 Adlige Selbstverortungen Wie definierte sich der Adel also innerhalb der berufsständisch imaginierten Gesellschaft? Welche Leitidee formulierte er für sich, und wie schuf er damit Abgrenzungen zu anderen Ständen?51 Zunächst einmal wollte er sich nicht über Privilegien definieren. Adel habe, so kann man in den Quellen im-
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Frank Bajohr: Dynamik und Disparität. Die nationalsozialistische Rüstungsmobilisierung und die "Volksgemeinschaft", in: Ders./Wildt: Volksgemeinschaft, S. 78–93, zeigt, dass soziale Gleichheit eben kein Ziel innerhalb der ethnisch homogenen Volksgemeinschaft war. Vielmehr wurde Leistung als zentrales Kriterium der Ungleichheit propagiert. Hierin konnte der Adel durchaus Chancen für sich sehen. Dies steht somit im Gegensatz zur Wertung bei Malinowski: Vom König zum Führer, S. 322 u. 531–552. Zu anderen als der hier vorgeschlagenen Definition des Adels bzw. zu Definitionsproblemen vgl. Funck/Malinowski: Geschichte von Oben; Matzerath: Adelsprobe an der Moderne, S. 460; Wienfort: Der Adel in der Moderne, S. 9; Frie: Adel um 1800.
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mer wieder lesen, „wenig oder gar keine Vorrechte“52 . „Pflichten . . . scheinen [stattdessen] höher zu stehen als die Rechte und Privilegien.“53 Besonders nach 1918 wurde betont, dass es dem Adel nicht um die Erlangung neuer Vorrechte gehe, sondern darum, das Bewusstsein für Pflichten in seinen Standesmitgliedern zu wecken.54 Dies schließt an das konservative Menschenbild an. Über Recht wollte der Adel nicht definiert werden, da ihm Vorrechte nur den Neid oder Hass anderer Stände einzubringen drohten. Aber wozu genau sollte Adel verpflichtet sein? Eine Annäherung an die im Adel vorherrschende Selbstdefinition bietet eine Aussage des Paters Sebastian von Oer aus dem Jahr 1922. Er verkündete auf einem Treffen des Vereins katholischer Edelleute Südwestdeutschlands: „Der Adel der Geburt hat nur dann und nur dadurch einen Wert und Wahrheit, wenn er durch das Gesetz der Vererbung und Standeserziehung zugleich Adel der Seele ist. In diesem besteht die Bedeutung, ja die Notwendigkeit des Adels auch für unsere Zeit. – Der Vergleich mag sonderbar klingen, aber ich meine, der Adel soll in der bürgerlichen Gesellschaft sein, was der Ordensstand der hl. Kirche ist. Man nennt den Ordensstand den Stand der Vollkommenheit. Nicht als ob seine Mitglieder vollkommen wären. Durchaus nicht. Aber weil ihr Stand sie in besonderer Weise verpflichtet, nach der Vollkommenheit zu streben und weil er ihnen die Mittel an die Hand gibt, sie zu erreichen. Ähnlich soll der Adel zu dem Streben verpflichten, in der Welt durch wahre Vornehmheit, d.i. vornehme Tugenden ein Beispiel zu geben und seine Mitglieder dazu erziehen, daß sie Vorbilder seien für das private und Familienleben, Führer im öffentlichen Leben und Schützer von Freiheit und Recht, Religion und Sitte.“55
Der Adel wurde hier also als Stand über den Ständen beschrieben. Von Oers Aussage schließt damit an die Stränge der Adelsreformdebatte an, die den Adel in den Bereich der sittlichen Ideen verlagerten. Da er in der berufsständischen Gesellschaft kein spezifisches Arbeitsfeld hatte, sollte er die Berufsstände transzendieren. Darin allein ging die Definition allerdings nicht auf, sondern im 52
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Aus der südwestdeutschen Perspektive wurde vor allem die Revolution 1848 als Einschnitt wahrgenommen: FG-Aufseß 1888, S. V; FG-Crailsheim 1905, S. 74; FG-Rochow 1861, S. IV. Dies bedeutet natürlich nicht, dass der Adel bereit war, seine verbliebenen Vorrechte kampflos preiszugeben. Bedeutsam ist jedoch, dass sie als notwendig für die hier ausführlicher zu beschreibende Aufgabe des Standes angesehen wurden. In einem Aufruf zum Beitritt zur DAG hieß es 1880: „Die besondere Aufgabe des Adels ist nicht in die Geltendmachung exclusiver Rechte und Interessen, sondern in die Hingabe für das gemeine Wohl und in die Wahrung der überkommenen Treue für Thron und Vaterland zu setzen.“ Programm der DAG 1880, in: APS – Archiwum rodu Dewitz-Krebs, Nr. 26, unpag., S. 2. Monique de St. Martin: Die Konstruktion der adligen Identität, in: Berliner Journal für Soziologie 1/1991, S. 527–539, hier S. 534. Otto Hintze: Die Hohenzollern und der Adel, in: HZ 112/1914, S. 494–524, hier S. 523, schrieb 1914: „Seine Privilegien sind gefallen und sein traditionelles Ansehen kann auch der alte Adel sich auf die Dauer nur durch persönliche Tüchtigkeit erhalten.“ Flemming: Führersammlung, S. 131. Sebastian v. Oer: Vortrag bei der 1. Versammlung des Landesvereins kath. Edelleute Südwestdeutschlands, Beuron 25.3.1922, in: GLAK – 69 Oberndorff, A109, unpag., S. 1. Hervorhebung im Original.
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Kern sind bei von Oer vier Bestandteile enthalten, die die Funktion ausmachten, die sich der Adel in der ständischen Gesellschaft der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in beiden Untersuchungsregionen zuschrieb. Sie greifen in unterschiedlicher Weise Gedanken zu wirtschaftlichen Grundlagen und politischen und gesellschaftlichen Aufgaben des Adels auf, die in der Reformdebatte formuliert worden waren. Im Einzelnen setzte sich die Leitidee ,Adel‘ aus vier aufeinander aufbauenden Komplexen zusammen: Aus seinen (1.) sittlichen Ideen ergab sich (2.) die Rolle des Adels als Vorbild in der Gesellschaft. Diese Vorbildfunktion begründete aus Sicht des Adels (3.) seinen gesellschaftlichen Führungsanspruch, so dass der Adelsstand (4.) im Kern ein dem Allgemeinwohl verpflichteter Stand sei. Dieser Entwurf der gesellschaftlichen Funktion des Adels blieb bis zum Ende des Kaiserreichs trotz der sich radikalisierenden Gesellschaftsentwürfe stabil. Erst der Abgang der Monarchen 1918 und dann die Rezeption des Konzepts des Rassenadels sorgten für einen partiellen Wandel. Charakteristisch ist bei dieser Adelsdefinition, dass sie als Leitidee bei genauerer Betrachtung voller Leitdifferenzen steckt.56 Das heißt: Während man sich über die vier Teile der Definition der adligen Funktion einig war, zeigen sich innerhalb der einzelnen Schritte regelmäßig Widersprüche oder sogar Konflikte über die konkrete Ausgestaltung in der Praxis. Eine Synthetisierung dieser Widersprüche ist oftmals nicht möglich, aber auch nicht erforderlich. Leitdifferenzen sind so lange nicht problematisch, wie sie nicht die Geltung der generellen Leitidee in Frage stellen. Sie zeigen entweder unterschiedliche Ausformungen des Adelsideals in spezifischen Adelsgruppen an. Oder die Konflikte sind als Kennzeichen von Wandel zu deuten, das heißt der (versuchten) Anpassung der Adelsdefinition an neue gesellschaftliche Gegebenheiten, wobei die Beharrung auf einem Deutungsmonopol zu Spannungen führen kann. (1.) Adel basiert auf Tugenden: Deutlich wird die Definition des Adels durch sittliche Qualitäten, in den Vereinsgründungen. Über den für Württemberg geplanten Adelsverein und die seit einigen Jahren, zunächst östlich der Elbe, reetablierten Johanniterritter hieß es Ende der 1850er Jahre: „beide Genossenschaften streben ja darin nach einem Ziele, daß sie den ritterlichen Sinn pflegen und fördern und das Band enger knüpfen um den Adel“, damit „eine große conservative Kraft teutscher Nation erhalten“ bleibe.57 Auch die DAG positionierte sich in einem Aufruf 1880 gegen jene Merkmale, die als Zeichen des liberalen Kapitalismus und seines Gesellschaftsentwurfs gewer-
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Vgl. dazu Karl-Siegbert Rehberg: Institutionen als symbolische Ordnungen. Anonyme Denkschrift bzgl. der Gründung einer Adelsgenossenschaft in Württemberg, o.O. o.J. [späte 1850er], in: AStG – Bü. 133, unpag., S. 3f. Zum Gelübde des Johanniterordens: Christoph Freiherr von Imhoff : Der Johanniterorden im 19. und 20. Jahrhundert, in: Adam Wienand/u. a. (Hrsg.): Der Johanniter-Orden, der Malteser-Orden, der ritterliche Orden des hl. Johannes vom Spital zu Jerusalem. Seine Geschichte, seine Aufgaben, Köln 1988, S. 519–553, hier S. 508f. Vgl. außerdem Marburg: sub estos.
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tet wurden. Man stelle sich „gegen unhaltbare und mit Recht zum Angriff reizende ,dekorative Verflachung‘.“ Es wurde gefordert, „inmitten der so allgemein gewordenen Vergnügungswuth und Verschwendung“ müsse der Adel „für individuelle Regeneration durch Zucht und Disziplin im Brauche des adligen Hauses, durch Einfachheit und ernste Richtung des Lebens“ sorgen. „Durch Stählung der Charaktereigenschaften und Bildung des Geistes und Herzens, und durch die Richtung auf das noblesse oblige“ müsse sich der Adel auszeichnen. Dann könne ihm auch nicht der „Vorwurfe eines Strebens nach inhaltsloser kastenartiger Absonderung des Standes“ gemacht werden.58 Ähnliche Argumente lassen sich auch in den folgenden Jahrzehnten bei beiden Untersuchungsgruppen immer wieder finden. Adel, so die ständig wiederholte Deutung, definiert sich über den „inneren Wert“59 . Frei nach dem Motto der von Bülowschen Familiengeschichte von 1911: „Der ist nicht flugs ein Edelmann, / Der geboren ist aus großem Stamm, / Oder der Geld und Reichtum hat / Und tut doch keine redliche Tat. – / Die Tugend und die Höflichkeit / Adelt den Menschen alle Zeit.“60 „Einigkeit, Gottesfurcht, Bethätigung edler Gesinnung und Sparsamkeit“ gehörten zu den Tugenden, die aus adliger Sicht ein Geschlecht in „Ehren“ hielten.61 Der Katalog wurde erweitert um Treue gegen Gott, den König und die Familie.62 „Wahrheits- und Gerechtigkeitsliebe“ müssten gepflegt werden, auch wenn es der eigenen Karriere schade.63 Durchgängig bis in die Weimarer Republik ist die Beharrung auf Religion als Grundlage aller Tugenden – hierbei machen Protestanten und
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Eine deutsche Adelsgenossenschaft (gedruckter Aufruf ohne Verfasser), Berlin März 1880, in: APS – Archiwum rodu Dewitz-Krebs, Nr. 26, unpag., S. 1. Hervorhebung im Original. Trotz veränderter Diktion lässt sich auch nach dem Ersten Weltkrieg die Beharrung auf Tugenden als Grundlage des Adels in der DAG beobachten. Vgl. Walter von Hueck: Organisation des deutschen Adels seit der Reichsgründung und das Deutsche Adelsarchiv, in: Kurt Adamy/Kristina Hübener (Hrsg.): Adel und Staatsverwaltung in Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1996, S. 19–37, hier S. 25. Drechsel: Entwürfe, S. 3. Mitglieder der Familie von Schönberg sprachen 1909 davon: „Die Stellung des Edelmanns wird durch seine persönliche Tüchtigkeit als Mensch bedingt, die Stellung der Familie aber sehr durch äussere Faktoren, Vermögen, Rang, Titel u.s.w.“. Zitat nach Josef Matzerath: „dem gantzen Geschlechte zum besten“. Die Familienverträge des sächsischen Adels vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, in: Katrin Keller (Hrsg.): Geschichte des sächsischen Adels, Köln/u. a. 1997, S. 291–319, hier S. 291; FG-Schilling 1905, S. 303. FG-Bülow 1911, S. VI; v. Hofer: Adel. Gedicht auf dem St. Georgentag, Stuttgart 18.4.1893, in: AStG – Bü. 293, unpag., S. 1f.; Statutenentwurf des Familienverbands der v. Bodman, München Aug. 1896, in: GBAB – A1777, unpag., S. 10. FG-Aufseß 1888, S. 5; FG-Crailsheim 1889, S. 1 u. 40; Hans-Edgar v. Alvensleben an Joachim v. Alvensleben, Berlin 24.7.1930, in: LHASA-WR – Rep. H Sülldorf, Nr. 425, S. 174. Eine Auflistung von Tugenden, die die sächsische Familie von Schönberg in der Jahrhundertmitte für wichtig hielt bei Matzerath: Adelsprobe an der Moderne, S. 430. FG-Bonin 1864, S. XIf.; FG-Lettow 1882, S. 18; FG-Brandenstein 1895, S. 4; FZ-Graevenitz 1/1893, S. 11; Conze: Helden und Verräter, S. 372. FZ-Bülow 11/1932, Sp. 2.
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Katholiken keinen Unterschied. „Wesen“ und „Pflichten“ müssten im „Geiste des Christentums“ begriffen werden.64 Erst mit dem Nationalsozialismus tritt im Protestantismus die Religion ganz offensichtlich zurück, während sie zumindest in Teilen des katholischen Adels weiterhin von Bedeutung blieb. „Der [katholische] christliche Adel behält Daseinsberechtigung, insolange er, seiner Berufung bewußt, seine Pflicht erfüllt. Seine Geschichte und sein geistiges Erbgut weisen ihm die Pflicht: Schirmer und Förderer des Christentums zu sein.“65 „Diese ritterlichen Tugenden zu hegen u. zu pflegen, sie zu einem selbstverständlichen Gemeingut unserer Standesgenossen zu machen u. über ihre Befolgung zu wachen, ist wohl die vornehmste Aufgabe unseres Standes gerade in der jetzigen Zeit!“66 Nur als solch tugendhafter Stand könne, so zumindest vor 1918 die Vorstellung, der Adel dem „Staate nützen“67 . Nach 1918 richtet sich das adlige Selbstverständnis dann gegen den als illegitim wahrgenommenen Staat. „Auf diesen [Tugend-]Grundlagen allein kann in besserer Zukunft einmal der Wiederaufbau unseres unglücklichen Landes und die Genesung des entarteten deutschen Volkes erwartet werden.“68 Die zahlreichen Begriffe machen deutlich, dass es sich um einen relativ offenen, mit vielen Bedeutungen beladbaren Tugendbegriff handelte. Dahinter konnte sich über die Jahrzehnte ein Austausch von Tugenden verbergen, wie er zum Beispiel durch den Verlust der Monarchie nach 1918 nötig wurde.69 Im Tugendadel sollten, wie es Heinz Reif für den „katholischen Edelmann“ geschrieben hat, „Geburts- und Tugendadel auf neue, zeitgemäße Weise zur Deckung gebracht werden.“70 Hinter dieser Feststellung verbarg sich allerdings die Frage, inwiefern Tugenden tatsächlich vererbt würden. Einige Adlige gingen noch grundsätzlich von einer Vererbung aus – mit der aufkommenden Vererbungsbiologie am Ende des 19. Jahrhunderts mag sie sogar wieder plausibler erschienen sein.71 Einigkeit war hierüber jedoch nicht zu erreichen.72 64
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Bischof Wilhelm Emanuel von Ketteler in den 1860er Jahren. Zitiert nach Drechsel: Entwürfe, S. 115; Bericht über den Familientag der v. Bose, Frankleben, 8./9.6.1923, in: LHASA-WR – Rep. H Frankleben, Nr. 1278, S. 13. Alois Fürst zu Löwenstein: Apostelpflichten der christlichen Adelsfamilie, in: Mitteilungen 31/1939, Nr. 2, S. 5. Antrag Max Frhr. v. Woellwarth an den St. Georgentag, Essingen 18.3.1922, in: AStG – Bü. 139, unpag., S. 1. FG-Crailsheim 1905, S. XLIX. Mitteilung des Familienvorstandes von Dewitz, Cölplin, Meesow, Naumburg Sep. 1919, in: APS – Archiwum rodu Dewitz-Krebs, Nr. 80, unpag. In der Familiengeschichte hieß es: „Denn der Mensch, der zur schwankenden Zeit auch schwankend gesinnt ist, der vermehrt das Übel und breitet es weiter und weiter; aber wer fest auf dem Sinne beharrt, der bildet die Welt sich.“ FG-Dewitz 1918, S. VI. Die Auseinandersetzungen, die zwischen regionalen Adelsgruppen über die Relevanz verschiedener Tugenden geführt wurden, zeigen sich im Projekt der Adelsschule Ellena in den 1920er Jahren. Vgl. Malinowski: Vom König zum Führer, S. 98–413. Reif : Der katholische Adel Westfalens, S. 116. Zitat nach Jandausch: Ein Name, Schild und Geburt, S. 112. Vgl. Aufruf zum Zusammenschluss der jüngeren Mitglieder deutscher Adelsfamilien in
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Diese adlige Tugendhaftigkeit sollte, da war man sich im Osten und Südwesten einig, „fern [sein] von lächerlichem Junkerstolz“. Inhaltloser Adelsstolz, der sich nur auf die Leistungen der Vorfahren berief, wurde kritisiert.73 „Denn wenn irgend wer in der menschlichen Gesellschaft reif sein soll für eine unaufhaltsam nahende Zeit, die jeder Menschenwürde gerecht werden will, so ist es der Adel, der beweist, daß er ,die gute alte Zeit‘ verstanden und gründlich mit ihr gebrochen hat. Keine Gesinnung würdigt den Edelmann mehr herab als die überlebt-feudale.“74 Dies bedeutete allerdings nicht, dass Geschichte und Vorfahren für die auf Tugenden basierende Adelsdefinition irrelevant gewesen wären. „Denn Stolz auf eine adlige Herkunft, steht dem Abkömlinge von einem edlen Geschlechte nur so lange wohl an, als er sich den Verpflichtungen bewußt ist, die eine lange Reihe edler Väter dem Träger ihres Namens auferlegt.“75 Diesen Ahnen solle sich der Adlige wert erweisen.76 Ihr Handeln solle zwar zum Nacheifern anspornen77 und Adlige hätten sich grundsätzlich an der Tradition zu orientieren.78 „Allein ihre Verdienste sind nicht die unsrigen. Nicht dadurch können wir ihrer werth sein, daß wir unsrer Zeit mit den Mitteln zu dienen versuchen, welche sie in der ihrigen groß machten, sondern dadurch, daß wir Sorge tragen, zu den Edelsten und Besten der Gegenwart gezählt zu werden, wie sie zu den Edelsten und Besten ihrer Zeitalter gehörten.“79
Man war sich einig, „daß wirklich edle Gesinnung, Tugend und Tapferkeit dem Adel der Seele den verliehenen Standesadel beigesellte.“80 Diese Definition schloss in beiden Untersuchungsregionen an jene Stränge der Adelsreform an, die keine spezifisch adligen Tugenden mehr als Basis des „ritterlichen Sinns“ ausgemacht hatten. Das Differenzkriterium bildete daher die Vorbildlichkeit. (2.) Adel soll Tugendvorbild sein: Mit den Worten: „Führen sei Vorleben“ wurde Hans-Hugo von Schuckmann im Bericht zum Familientag 1934 zi-
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Württemberg, Stuttgart 6.5.1921, in: AStG – Bü. 293, unpag. Für eine frühere Phase der Auseinandersetzung: Godsey: Vom Stiftsadel zum Uradel, S. 372. FG-Gemmingen 1895, S. IX; FG-Eickstedt 1887, S. 476; FG-Alvensleben 1892, S. III. Zum Negativbild des Junkers: Heinz Reif : Die Junker, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 1, München 2001, S. 520–536. FG-Schilling 1905, S. IV. Claus Schenk Graf v. Stauffenberg. Zitat nach Dowe, Vom Hofadel zum Geistesadel, S. 27; Notizzettel Otto v. Dewitz-Wussows, o.O. 1863, in: APS – Archiwum rodu Dewitz-Wussow, Nr. 56, unpag.; FZ-Graevenitz 1/1893, S. 15; FG-Eickstedt 1887, S. 476. FG-Crailsheim 1905, S. XLVII; Dewitz, Kurt v.: Anlage B zum Protokoll des 47. Familientags, Berlin 9.11.1910, in: APS – Archiwum rodu Dewitz-Krebs, Nr. 80, unpag., S. 2; FG-Eickstedt 1887, S. III u. 476. FG-Eickstedt 1860, S. III. FG-Kageneck 1870, S. 4. Protokoll des Familientages der v. Seckendorff, Nürnberg 26.7.1887, in: STALB – PL20/ VI, Bü. 216, unpag., S. 3. FG-Crailsheim 1905, S. XLVII.
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tiert.81 Damit wurde eine Einsicht proklamiert, die in verschiedenster Weise seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von ehemaligen Reichsrittern und preußischen Kleinadligen vertreten worden war.82 So hatte die Familiengeschichte der Freiherren von Crailsheim 1905 davon gesprochen, der Adel müsse sich bestreben, „in Wissen, edler Gesinnung und sonstigen Vorzügen anderen Ständen durch sein Beispiel voranzuleuchten.“83 Daher waren tüchtige Adlige auch nicht nur Abbilder tüchtiger ,Adliger‘, sondern konnten zum „Vorbild und Urbild einer rührigen selbstlosen treuen deutschen Mutter“ oder eines deutschen Vaters erklärt werden.84 Männer erhielten besonders im Krieg die Chance, diese Vorbildrolle zu leben. In den Berichten über die Gefallenen des Ersten Weltkrieges wird immer wieder das die Soldaten mitreißende Bild des wagemutigen Adligen betont. Adlige erscheinen hier als unerschrockene Führer, tatkräftig im Gefecht und von den Untergebenen „geliebt“, „verehrt“ und im Todesfall „tief betrauert“85 . Adlige Frauen hatten durch ihren Dienst in Lazaretten Anteil an der Kriegsleistung des Adels,86 die mit der quantitativen Erhebung des adligen Blutzolls noch zusätzlich unterstrichen wurde.87 In der Gesamtschau auf den Krieg ergab sich daraus das Ergebnis: „Daß sie [die Adligen] auch heute Führer und Vorkämpfer unseres Volkes sind, das bedarf angesichts ihres unverhältnismäßig großen Anteils an den Opfern und den Leistungen des Krieges wahrlich keines besonderen Nachweises mehr.“88 Aber nach der Niederlage 1918 ergab sich daraus auch ein neuer Handlungsauftrag: Denn das Volk könne „zu seiner Wiederge-
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FZ-Schuckmann 1/1934, S. 8. Seelig: Der Kampf gegen die Moderne, S. 472; Gersmann: Adel, Sp. 39. FG-Crailsheim 1905, S. XLVIII; Zu Ziffer 2 des Familienrats Protokolls der Frhrn. v. Woellwarth vom 14. April 1923 – Beilage zum Vertrag über Aussetzung von Wittümern Ziffer 4, o.O. o.D, in: STALB – PL9/3, Bü. 1429, unpag., S. 1; FG-Berlichingen 1861, S. VIIVIII. FG-Schilling 1905, S. 342; FZ-Bülow 6/1929, Sp. 1. Gleiches über Bodo v. Bülow, ebd. Familiennachrichten der v. Dewitz, o.O. 1914/15, in: APS – Archiwum rodu DewitzKrebs, Nr. 80, unpag., S. 4f. u. 9. Vgl. auch die zahlreichen Nachrufe in: FZ-Graevenitz 6/1921; BLHAP – Rep. 37 Friedersdorf, Nr. 259, S. 107–120. Ähnliches findet sich auch nach dem Ersten Weltkrieg. Vgl. z. B. FZ-Bülow 2/1927, Sp. 1. Außerdem Marcus Funck: The Meaning of Dying. East Elbian Noble Families as „Warrior-Tribes“ in the Nineteenth and Twentieth Centuries, in: Matthew P. Berg/Greg Eghigian (Hrsg.): Sacrifice and National Belonging in Twentieth-Century Germany, Arlington 2002, S. 26–63. Mit anderer interpretatorischer Gewichtung: Wencke Meteling: Der deutsche Zusammenbruch 1918 in den Selbstzeugnissen adeliger preußischer Offiziere, in: Conze/Wienfort: Adel und Moderne, S. 289–321, hier S. 293. Wienfort: Gesellschaftsdamen, S. 190. Petropoulos: Royals and the Reich, S. 6. Dazu auch Meteling: Der Zusammenbruch 1918, S. 315–319. Etwa 5000 Adlige sollen im Ersten Weltkrieg gefallen sein. Vgl. Hueck: Organisation des deutschen Adels, S. 23. FG-Dewitz 1918, S. VI. Zum Opferkult und seiner Instrumentalisierung in der Weimarer Republik vgl. Funck: Meaning of Dying.
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nesung die sittlichen und Führereigenschaften eines gesunden Adels nicht entbehren“89 . War schon bei den eigenen Tugenden die Bedeutung des christlichen Glaubens hervorgehoben worden, so wurde diese auch bei der Vorbildlichkeit betont: „Auch unsere Aufgabe kann in nichts anderem bestehen, als darin, der Welt den Weg zu zeigen zurück zu Gott, den Weg, von dem sie im Handeln und Wandeln so weit abgewichen ist.“90 Die Ziele des Vereins katholischer Edelleute Südwestdeutschlands seien „wesentlich ideale; . . . Der katholische Adel soll katholisches Leben pflegen um seiner selbst willen, er soll aber insbesondere auch vorbildlich wirken: vorbildlich in echter Frömmigkeit, vorbildlich in der Teilnahme am kirchlichen Leben, vorbildlich in christlicher Erziehung der heranwachsenden Jugend, vorbildlich in charitativem Wirken.“91
Voraussetzung für die Vorbildfunktion war aber, dass sie nicht auf das Innenleben beschränkt blieb. Daher sollte sich die Tugendhaftigkeit im Idealfall mit der Tatkraft verbinden beziehungsweise in ihr ausdrücken.92 Zuweilen wurde sie auch zur Pflicht erklärt: Wir „wollen nicht vergessen“, verkündete die Familienzeitung der von Brauchitsch, „daß wir Träger eines uralten Namens Pflichten haben, nicht nur gegen unsere Familie, gegen unser Geschlecht, sondern auch gegen unser Vaterland. . . . Der Kampf gegen die Masse ist nichts anderes, als der Kampf mit dem Tier. Aber wir müssen diesen Kampf aufnehmen und durchkämpfen und dürfen nicht untertauchen in der Masse. Denn das gerade erstreben und ersehnen ja ,die Retter des Kapitols.‘“93
Die Tugenden, die den Adel auszeichneten, wurden unter anderem in der Literatur popularisiert – zum Beispiel durch Theodor Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ und durch zahlreiche andere Autoren im Anschluss an ihn.94 Insofern wurden aber nicht nur die Tugenden popularisiert, sondern auch die vorbildliche Tugendhaftigkeit Adliger, von deren Existenz die untersuchten Adelsgruppen unabhängig von Region und Konfession überzeugt waren. (3.) Vorbildlichkeit begründet den Führungsanspruch und sorgt für dessen 89 90
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Aufruf zur Gründung einer Adelsmatrikel, Berlin Nov. 1919, in: LHASA-WR – Rep. H Langenapel, Nr. 1207, S. 18. Ansprache des Paters Adalbert Graf Neipperg auf der 2. ordentlichen Mitgliederversammlung des Vereins kath. Edelleute Südwestdeutschlands, Beuron 15.5.1923, in: GLAK – 69 Oberndorff, A109, unpag., S. 2. Hugo Frhr. v. Linden auf der 2. ordentlichen Mitgliederversammlung des Vereins kath. Edelleute Südwestdeutschlands, Beuron 15.5.1923, in: Ebd., unpag., S. 2; Friedrich Frhr. v. Gaisberg-Schöckingen an die Mitglieder des St. Georgenvereins, Schöckingen 30.4.1922, in: AStG – Bü. 373, unpag., S. 4. FG-Eickstedt 1887, S. 476. Vgl. dazu auch den Nachruf auf August v. Dassel, in: FZ-Dassel 3/1892, S. 23–36; Karl Heinrich von Neubronner an Konrad Graf v. Degenfeld-Schonburg, Lichtenegg, 22.11.1935, in: AStG – Bü. 370, unpag., S. 3. FZ-Brauchitsch 21/1927, S. 1. Vgl. dazu Reif: Junker, S. 532f.
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Anerkennung: 1857 wurde der Zweck des Johanniterordens auf die Formel gebracht: „Wie in früherer Zeit der Adel dem Volk voranzog mit dem Schwert, so soll er ihm jetzt voranziehen mit der Gesinnung“95 . „Selbstsucht“, so die drei Jahrzehnte später vom Württemberger Freiherrn Hans Otto von Ow geäußerte Erkenntnis, gefährde den Adel, weil er damit die öffentliche Anerkennung verliere.96 Auch die Familiengeschichte der badischen Freiherren von Gemmingen ging davon aus, dass aus der Tugendhaftigkeit und Vorbildlichkeit des Adels die natürliche Anerkennung durch das Volk folge.97 Inwiefern jedoch die Anerkennung der Vorbildlichkeit durch die Öffentlichkeit notwendig war, darüber war man sich offensichtlich im Kaiserreich nicht einig. Denn während sie im Südwesten vorausgesetzt wurde, erscheint es östlich der Elbe, wie eine Rede Kurt von Dewitz‘ zeigt, als reiche die Anerkennung durch die staatliche Obrigkeit. Er sagte: „Es ist ja grundfalsch, wenn heute Viele . . . meinen, der Adel habe sich überlebt, . . . . Die Notwendigkeit der Aristokratie und ihres Einflusses auf das Volksganze zu verstehen, davon ist leider die Mehrheit unserer Zeitgenossen weiter entfernt als je! Aristokratie heißt Herrschaft der Besten. Wehe dem Volke, in welchem nicht die Besten, sondern die Massen herrschen! Wehe freilich auch dem Adel, der nicht mehr zu den Besten des Volkes gehört! Noch ist dies aber, Gott sei Dank, der Fall. Kein Verständiger wird glauben, daß die zur Führerschaft berechtigenden Eigenschaften an den adligen Namen gebunden seien; aber kein Einsichtiger wird auch leugnen, daß diese Eigenschaften im Adel immer noch am meisten vertreten sind. Und diese Eigenschaften hängen nicht von materiellen Gütern ab. . . . Der Wert des Lebens ruht im Idealen. Es gibt ideale Güter, und sie, nicht das äußere Glück, geben das wahre Glücksgefühl und die Sicherheit aufrechter Haltung in allen Schicksalslagen, sie allein befähigen auch zur Führerschaft im Volksleben.“98
Zum Glauben an die eigene Vorherbestimmtheit als Anführer gehörte auch die beschränkte Bereitschaft zur Öffnung gegenüber neuen Berufsfeldern. Um 1900 war Helmut von Raven noch der Ansicht, dass, „wenn der Adel das Heft in der Hand behalten will, er sich auch den Berufszweigen widmen [muss] . . . , die zu den leitenden im Staate gehören. Nur dadurch erhält er sich seinen Einfluß in demselben.“99 Der Glaube an die eigenen Führerqualitäten war im Adel vor 1918 somit insgesamt tief verwurzelt.100 Die Niederlage 1918 und die ,Revolution‘ wurden dann immer wieder nicht als Zeichen für das Scheitern eines politischen Systems und der von 95 96
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Zitat nach Imhof : Der Johanniterorden, S. 511. Tagebuchnotiz des Frhr. Hans Otto v. Ow, 1888, in: Ow-Wachendorf : Hans Otto Reichsfreiherr von Ow-Wachendorf, S. 483–484. Anerkennung durch das Volk wurde auch in Bayern als wichtige Grundlage angesehen. Vgl. Löffler: Die Ersten Kammern, S. 50f. FG-Gemmingen 1895, S. IX. Rede Kurt v. Dewitz auf dem Familientag, Berlin 5./6.11.1912, in: APS – Archiwum rodu Dewitz-Krebs, Nr. 80, unpag, S. 10; Familiennachrichten der von Dewitz, o.O. 1906, in: APS – Archiwum rodu Dewitz-Krebs, Nr. 80, unpag., S. 2. Helmut v. Raven: Statistische Betrachtungen über die Berufswahl, in: FZ-Raven 8/1898, S. 2. Seelig: Der Kampf gegen die Moderne, S. 472.
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ihm vertretenen Gesellschaftskonzepte verstanden, sondern als Folge mangelnder Sittlichkeit des Volkes interpretiert. „Der Aufgabe, unserm Volke auch im Unglück treu zu sein und an seiner sittlichen Wiederaufrichtung im Rahmen unserer Kräfte mitzuarbeiten, werden wir . . . uns nicht entziehen dürfen.“101 Bestimmte Werte wie „Moral“, „Gottesglaube“, „Treue“ und „Ehre“ schienen verlorengegangen zu sein.102 „Nur eine allgemeine Disziplin kann uns retten.“103 „Helfen wir jeder an seiner Statt, die uns überkommenen strengen Auffassungen der Ehre, Treue & Pflicht der unfertigen Gegenwart einzuimpfen, damit die künftige deutsche Schicksalsstunde zu einer Siegesstunde des Guten über das Böse werde.“104 Der „Kampf gegen das Zeitübel der immer mehr um sich greifenden Verflachung der Sitten“105 wurde zur Aufgabe des Adels erklärt. ,Wilde‘ Tänze, ,unschickliche‘ weibliche Bekleidung, ,unsittliche‘ Literatur und das Kino mussten aus dieser Perspektive bekämpft werden. Aus alledem ergab sich für den Adel die Aufgabe, jetzt erst recht seiner Führungsrolle im sittlichen Bereich gerecht zu werden. „Die Hauptfrage bleibt immer: Wie erlangt der Adel seine historische Stellung als Führer des Volkes wieder? Die soziale, die wissenschaftliche, die caritative Arbeit sind alles Wege, die dazu führen.“106 Es kam allerdings nach 1918 zu keiner Diskussion über eine mögliche Mitverantwortung des Adels an der Entsittlichung des Volkes – zum Beispiel durch mangelnde Vorbildlichkeit. Stattdessen wurden alle Berufsfelder jetzt für adlige Führungsansprüche als geeignet proklamiert107 , wobei die schlichte Notwendigkeit damit ideologisch überhöht wurde. Spätestens nach der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten schien die Zeit „nicht fern . . . , da das deutsche Volk der ,Barmaten‘ überdrüssig, nach adeligen Männern und Frauen schauen wird. – Möchten
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Frhr. v. Kerckering zur Borg: Über die gegenwärtige Lage. Vortrag in der außerordentlichen Generalversammlung des Vereins kath. Edelleute, Münster 11.12.1918, in: GLAK – 69 Oberndorff, A109, unpag., S. 11; Friedrich Frhr. v. Gaisberg-Schöckingen an die Mitglieder des St. Georgenvereins, Schöckingen 30.4.1922, in: AStG – Bü. 373, unpag., S. 4; FZ-Seckendorff 1/1921, S. 1. Tischrede des Ritterhauptmanns des St. Georgenvereins, Stuttgart 23.4.1921, in: AStG – Bü. 139, unpag., S. 1. Friedrich Frhr. v. Gaisberg-Schöckingen an die Mitglieder des St. Georgenvereins, Schöckingen 25.4.1924, in: AStG – Bü. 373, unpag., S. 2. Rede Dietrich v. Boses auf dem Familientag, Merseburg 8.10.1927, in: LHASA-WR – Rep. H Frankleben, Nr. 1279, S. 3. Resolution auf der 3. außerordentlichen Mitgliederversammlung des Vereins kath. Edelleute Südwestdeutschlands, Ulm 14./15.10.1925, in: GLAK – 69 Oberndorff, A109, unpag., S. 10; Tischrede des Ritterhauptmanns des St. Georgenvereins, Stuttgart 23.4.1921, in: AStG – Bü. 139, unpag., S. 1. Graf Neipperg auf der 3. außerordentlichen Mitgliederversammlung des Vereins kath. Edelleute Südwestdeutschlands, Ulm 14./15.10.1925, in: GLAK – 69 Oberndorff, A109, unpag., S. 7; Flemming: Führersammlung, S. 129f. FZ-Hake 8/1932, S. 91.
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dann auch wir als der alten Tradition [der sittlichen Vorbildlichkeit] treu geblieben befunden werden.“108 In seiner Unspezifik und seinem assoziativen Charakter war der Führungsanspruch aber auch anschlussfähig an die vielfältigen Führerdiskussionen, die im Adel bereits vor dem Ersten Weltkrieg, verschärft aber nach 1918 geführt wurden.109 Der Führungsanspruch beruhte jedoch oftmals auf Behauptungen, deren empirische Relevanz unhinterfragt blieb. Max Freiherr von Woellwarth ging davon aus: „Gelingt es uns, sie [die Tugenden] uns zu erhalten u. immer mehr zu vertiefen, so werden wir dadurch die Achtung u. das Vertrauen weiter Kreise auch in anderen Ständen wieder gewinnen u. damit zum sittlichen Wiederaufbau unseres Vaterlandes wesentlich beitragen, gleichzeitig aber diejenige führende Stellung im Staate wieder erlangen, die uns nach unserer Geschichte u. Tradition zukommt.“110
Aus dem Tugendvorbild würde also der natürliche Führer des Volkes gleichsam von selbst entstehen beziehungsweise er würde es wieder werden.111 Daher solle man sich vor allem in Vereinen und Parteien engagieren.112 Ein weiterer Beweis dieser Behauptung wurde regelmäßig nicht unternommen. Streit gab es jedoch darum, wie die aktive Führerrolle zu verstehen sei. So stritten sich brandenburgische Großgrundbesitzer darüber, ob eine Verpflichtung zur aktiven Partizipation in den nationalen Kampfverbänden in der Weimarer Republik bestehe, ob der Einzelne also an der ganz alltäglichen Verbandsarbeit partizipieren müsse, um die Führungsstellung des Adels zu sichern, oder ob eine finanziell fördernde Mitgliedschaft in den Verbänden und Strippen ziehen im Hintergrund ausreichten, um dem Adel seine Führerstellung zu sichern.113 Dahinter verbarg sich das Problem, ob der Adel Führer „über den Massen“ (Deutscher Herrenklub) oder Führer „in den Massen“ (DAG) sein sollte.114 Das schloss an die Frage an, wie die erstrebte Volks108 109 110
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FZ-Raven 35/1925, S. 1. Malinowski: Vom König zum Führer, S. 299–397. Antrag Max Frhr. v. Woellwarth an den St. Georgentag, Essingen 18.3.1922, in: AStG – Bü. 139, unpag., S. 1; Hugo Frhr. v. Linden auf der 2. ordentlichen Mitgliederversammlung des Vereins kath. Edelleute Südwestdeutschlands, Beuron 15.5.1923, in: GLAK – 69 Oberndorff, A109, unpag., S. 2; Friedrich Frhr. v. Gaisberg-Schöckingen an die Mitglieder des St. Georgenvereins, Schöckingen 30.4.1922, in: AStG – Bü. 373, unpag., S. 4. Albrecht Frhr. v. Stotzingen auf der 2. ordentlichen Mitgliederversammlung des Vereins kath. Edelleute Südwestdeutschlands, Beuron 15.5.1923, in: GLAK – 69 Oberndorff, A109, unpag., S. 6; Tischrede des Ritterhauptmanns des St. Georgenvereins, Stuttgart 23.4.1921, in: AStG – Bü. 139, unpag., S. 2. Petropoulos: Royals and the Reich, S. 15; Flemming: Führersammlung, S. 124f. u. 131f.; Malinowski: Vom König zum Führer, S. 104– 117 u. 209. Friedrich Frhr. v. Gaisberg-Schöckingen an die Mitglieder des St. Georgenvereins, Schöckingen 24.4.1920, in: AStG – Bü. 373, unpag., S. 3. Vgl. Rainer Pomp: Brandenburgischer Landadel und die Weimarer Republik. Konflikte um Oppositionsstrategien und Elitenkonzepte, in: Adamy/Hübener: Adel und Staatsverwaltung, S. 185–218, hier S. 199–204. Malinowski: Vom König zum Führer, S. 423.
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gemeinschaft ausgestaltet sein sollte. Ein Modell, in dem Hierarchien nicht eingeebnet wurden, sondern innerhalb der Volksgemeinschaft fortbestanden, ließ sich mit alten patriarchalischen Traditionen des Adels verbinden. Der Patriarchalismus überdeckt die Hierarchien und sollte sie dadurch erträglich machen.115 Diese Form der Volksgemeinschaft erlaubt weiterhin Herrenattitüden, war aber im Kern eine Stilisierung der Verbindung zwischen Adel und Volk. Das zweite Modell ging tatsächlich von weitgehender Gleichheit aus und ließ nur noch durch Leistung begründete funktionale Unterschiede zu. An dieses Modell schloss die NS-Bewegung in der Praxis an. Doch nur auf den ersten Blick scheint sie mit dem Adelsverständnis inkompatibel.116 Denn in der Vorstellung vom Tugendadel und der Tugendvorbildlichkeit war Leistung als Kriterium zentral verankert. Und es sollte sich zeigen, dass auch in der SA Adlige kaum einfache SA-Männer waren, sondern fast immer Vorgesetzte. Gleiches hatte schon für die Zeit vor 1914 gegolten – auch hier musste der Adel in seinen Berufsfeldern letztlich Leistung bringen. Was sich im zweiten Modell änderte, war die betonte Kameradenbindung, die die patriarchalischen Attitüden verdrängte. Im Kern hatte dies aber dasselbe zur Folge – die Verbindung zwischen Adel und Volk zu symbolisieren, wobei der Adel doch wieder oftmals in der Führungsposition war.117 Der Streit über die beiden Konzepte im Adel118 ist Teil der Auseinandersetzung um die Inhalte der Leitidee Adel. Diese Festlegungen führten zu Schwierigkeiten, weil in der konkreten Umsetzung der Volksgemeinschaft in Kampfbünden und dem NS-Staat die Unterschiede zwischen den Positionen deutlich wurden und das patriarchalische erste Modell nicht mehr weiter toleriert wurde – es also zur ideologischen Verhärtung dieses Teils der Adelsdefinition kam. Dass Vorbildlichkeit aber prinzipiell die Grundlage des adligen Führungsanspruches sei, davon war der Adel östlich der Elbe und in Südwestdeutschland überzeugt. (4.) Das Ziel der Allgemeinwohlorientierung: Mit ihr griff man Überlegungen der Adelsreformdiskussion auf. „Dem eigentlichen Berufe des Adels“, so ein Berliner Aufruf zur Gründung eines Adelsvereins 1880, entspreche es, „über die privaten Erwerbszwecke der übrigen Stände hinaus ganz vorzugsweise und als eine Ehrenpflicht seine Kräfte in den Dienst des Vaterlandes und der Gesammtheit zu stellen und so . . . einen Stand direkt für das öffentliche Wohl zu bilden.“119 Im selben Zeitraum wurden auf einer Tagung des St. Ge-
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Beispiele hierfür bei Conze: Von deutschem Adel, S. 369–372. Diese Inkompatibilität wird von Malinowski: Vom König zum Führer, S. 531–552, betont. „Die Realität des Adels und die Idee der Volksgemeinschaft blieben letztlich unvereinbar.“ Ebd., S. 543. In entgegengesetzter Lesart zu ebd., S. 550. Ebd., S. 551f. Eine deutsche Adelsgenossenschaft (gedruckter Aufruf ohne Verfasser), Berlin März 1880, in: APS – Archiwum rodu Dewitz-Krebs, Nr. 26, unpag., S. 1f.; Seelig: Der Kampf gegen die Moderne, S. 472; Hansjoachim Henning: „Noblesse oblige?“ Fragen zum eh-
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orgenvereins der württembergischen Ritterschaft „Toaste auf die Einigkeit im Wirken für alles Gute und Edle im Staat, Gemeinde und Familie nach dem Satze: ,Adel verpflichtet‘“ ausgebracht.120 Freilich war in der Öffentlichkeit nicht unumstritten, ob der Adel dieser Allgemeinwohlorientierung gerecht werde. Insofern freute sich der St. Georgenverein über einen Zeitungsartikel aus dem Jahr 1886 in dem es hieß: „Die Ritterschaft habe in Württemberg glücklicherweise eine Stellung, welche es ihr ermögliche, mit Erfolg in die öffentlichen Angelegenheiten einzugreifen. An der Stelle, wo ihre Vertreter sich befinden, seien sie in den Stand gesetzt, alles Edle unterstützend, den Ausschreitungen jeder Art, der Demagogie und Sozialdemokratie entgegenzutreten, und bereits habe sich eine Stimme vernehmen lassen, welche sie nicht um ihrer selbst willen, sondern um des allgemeinen Besten privilegiert erkläre.“121
Zwischen den Untersuchungsgruppen bestanden jedoch Differenzen bei der Frage, was genau gemeint war, wenn vom Allgemeinwohl gesprochen wurde. In Nordostdeutschland finden sich die stereotypen Forderungen: „für König und Vaterland“ einzustehen122 , „Gut und Blut im Dienste des Vaterlandes für Thron und Altar“ einzusetzen123 und ein „Schild“ für Thron und Altar zu sein.124 Monarch, Kirche und das abstrakte, vor allem mit dem Monarchen verbundene ,Vaterland‘ standen hier bis 1918 im Vordergrund. Freilich wurde die Treue gegenüber diesen Entitäten nicht als Einbahnstraße verstanden, sondern so, wie man sich an Staat und Monarchie gebunden fühlte, hoffte man, die Monarchie an sich selbst zu binden.125 Demgegenüber findet sich in Südwestdeutschland zwar auch die Betonung, dass man „Krone und Vaterland“ dienen müsse126 und das konservative Element im Staatsleben darstelle127 , daneben findet sich vor 1918 aber stärker als östlich der Elbe die Gesellschaft als Referenzkategorie – und zwar nicht nur in der Begriffswendung des ,allgemeinen Wohls‘, die von sozialen Belangen abstrahierte und worin die Frage der staatlichen Ordnung mitschwang.128 Man wollte stattdessen auch „den
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renamtlichen Engagement des deutschen Adels 1870–1914, in: VSWG 79/1992, S. 305– 340, hier S. 306. Bericht über den St. Georgentag im Staatsanzeiger für Württemberg, 19.4.1883, in: AStG – Bü. 138, unpag. Bericht über den St. Georgentag im Staatsanzeiger für Württemberg, 21.4.1886, in: Ebd. Prolog und Dichtung anlässlich der Familienfeier der v. Bonin, Berlin 28.11.1901, in: PLAG – Rep. 38d Bahrenbusch, Nr. 71, S. 41. Protokoll des Familientags der v. Dewitz, Berlin 5./6.11.1912, in: APS – Archiwum rodu Dewitz-Krebs, Nr. 80, unpag., S. 1; FG-Eickstedt 1887, S. 439 u. 476. Rede Kurt v. Dewitz auf dem Familientag, Berlin 5./6.11.1912, in: Ebd., unpag., S. 9. Conze: Helden und Verräter, S. 371f. Gebhard Graf Leutrum v. Ertingen: „Sein oder Nichtsein, das ist jetzt die Frage.“ Noch ein Wort an die Ritterschaft in der Stunde der Entscheidung. Stuttgart 1905, S. 4, 6 u. 8; FG-Massenbach 1891, S. VI. Antrag des Frhr. v. Gültlingen an den St. Georgentag, o.O. 25.4.1901, in: AStG – Bü. 139, unpag., S. 3. Vgl. Programm der DAG 1880, in: APS – Archiwum rodu Dewitz-Krebs, Nr. 26, unpag.
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Mitmenschen und dem Staat“ dienen, verkündete die Einleitung der Familiengeschichte der von Crailsheim 1905.129 Die notwendige Fühlung zum Volk, besonders auf dem Land, zu halten und ihr Vertreter zu sein, wird in den gesichteten Quellen in Südwestdeutschland wesentlich stärker betont.130 Darin kommt die Verbitterung über die Mediatisierungserfahrung zum Ausdruck, die sich aus der Erfahrung der Monarchen und ,ihrer‘ Reformbürokratien zu Jahrhundertbeginn speiste. Sie hatte zur Folge, dass ehemalige Reichsritter in der Unabhängigkeit vom Hof die eigentliche Stellung des Adligen sahen.131 Für Nordostdeutschland lassen sich vor 1918 nur wenige Beispiele finden, in denen das ,Volk‘ schon dem ,Monarchen‘ vorgezogen wurde.132 Im Kern handelt es sich bei den unterschiedlichen Bezugspunkten in Nordost- und Südwestdeutschland um die zwei Varianten des Adelskonservatismus, die Heinz Reif herausgearbeitet hat133 und die ihren Ursprung in der Reformdiskussion zur politischen Positionierung des Adels hatten – die Frage nämlich, ob er zum Vertreter des Volkes oder zum Beschützer des Throns werden sollte. Beide Modelle speisten sich jedoch aus demselben prinzipiellen Adelsideal. Mit der Abdankung der Monarchen 1918 trat auch in Nordostdeutschland die Orientierung auf die Gesellschaft – oder präziser: das ,Volk‘ – ein. ,Volk‘ und ,Vaterland‘ verdrängte immer mehr die Kombination von ,König‘ und ,Vaterland‘. Die Verschiebung deutete sich noch während des Ersten Weltkrieges in der Familiengeschichte der von Dewitz an. Sie sprach davon, man habe sich durch den Kriegseinsatz so vieler Vettern „um . . . Herrscher, . . . Volk und . . . Geschlecht . . . hohe Verdienste“ erworben.134 Nach 1918 wurde der Monarch weiter verdrängt: „Möge jedes Bose-Herz schlagen in begeisterter Hingabe an Volk und Vaterland“, forderte Dietrich von Bose 1927.135 In ei129 130
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FG-Crailsheim 1905, S. XLVIII; FG-Ow 1910, S. 499; FG-Aufseß 1888, S. 5. Tagebuchnotiz des Frhr. Hans Otto v. Ow, 1888, in: Ow-Wachendorf : Hans Otto Reichsfreiherr von Ow-Wachendorf, S. 485; Hans Frhr. v. Ow-Wachendorf : Die Familienfideikommisse in Württemberg 1913, Stuttgart 1913, S. 5; FG-Gemmingen 1925/26, S. 55; Albrecht Frhr. v. Stotzingen: Rückblick auf bisherige Entwicklung der Verhältnisse der Badischen Grundherren und Zweckmäßigkeit der Gründung eines Grundherrenvereins, Heidelberg 1903, S. 11. Herdt: Der württembergische Hof, S. 352f. Vgl. den Aufruf des Vereins zur Errichtung von adeligen Damenheimen, Berlin Apr. 1895, in: STALB – B139dI, Bü. 699, unpag., S. 2. Hinweise zu diesem Unterschied finden sich auch bei Henning: Noblesse oblige, S. 336; Seelig: Der Kampf gegen die Moderne, S. 473. Reif: Der katholische Adel Westfalens. Ähnlich: Andreas Dornheim: Oberschwaben als Adelslandschaft, in: Hans-Georg Wehling (Hrsg.): Oberschwaben, Stuttgart 1995, S. 123–150, hier S. 130–132. FG-Dewitz 1918, S. 568. Rede Dietrich v. Boses auf dem Familientag, Merseburg 8.10.1927, in: LHASA-WR – Rep. H Frankleben, Nr. 1279, S. 3. Auch in Süddeutschland ging diese Orientierung selbstverständlich 1918 nicht verloren. Vgl. Frhr. v. Gagern auf der 2. ordentlichen Mitgliederversammlung des Vereins kath. Edelleute Südwestdeutschlands, Beuron 15.5.1923, in: GLAK – 69 Oberndorff, A109, unpag., S. 8; Hugo Frhr. v. Linden auf
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nem Nachruf auf Friedrich von Ditfurth wurde lobend hervorgehoben: „Auch nach Beendigung des Weltkrieges widmete sich der leider zu früh Verstorbene mit größter Hingabe der nationalen Betätigung und war unter Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit bemüht, am Wiederaufstieg des deutschen Volkes mitzuarbeiten.“136 An diesem Wiederaufstieg mitzuarbeiten, bedeutete, gegen die Republik zu arbeiten. Oder, wie es in der Familie von Hake verkündet wurde: Man befinde sich in einer „allgemeinen schweren Lage des Vaterlandes, die eine Zusammenfassung aller nationalen Kräfte erfordere. Er [der Familienverbandsvorsitzende] ermahnte . . . die jüngeren Vettern, sich den vaterländischen Verbänden anzuschließen und sich ihrer Pflicht als Edelleute dem Vaterlande gegenüber bewußt zu sein. Adel verpflichtet, und gerade in heutiger Zeit sei es Aufgabe des Adels, sich seiner Führerrolle bewußt zu sein und darnach zu handeln.“137
Damit sprach er auch ein konkretes Feld des Engagements für das ,Gemeinwohl‘ an – die Politik. Es ist einfach, das Reden von der Allgemeinwohlorientierung in der Politik als Chimäre für Interessenpolitik zu entlarven – aus dem Selbstverständnis der hier untersuchten Adelsgruppen dürften sich aber spezifische Interessenpolitik, wie zum Beispiel der Schutz der heimischen Agrarwirtschaft, und Gemeinwohlorientierung nicht gegenseitig ausgeschlossen haben. Ging es dabei doch um den Erhalt eines kräftigen Bauern- und Adelsstandes für den Staat. Auch konnten Adlige grundsätzlich in verschiedenen Parteien aktiv sein, wenn sie von der Allgemeinwohlorientierung der Partei überzeugt waren, wenn auch in der Praxis der konservative Wertehimmel den Spielraum einschränkte. Die Ansicht des Adels östlich der Elbe, das allgemeine Interesse zu verfolgen, konnte sich freilich auch gegen die Regierung und, im Zusammenhang mit dem Anspruch Wilhelms II., nach eigenem Regiment zu regieren, auch gegen den Monarchen richten.138 Sabine Wehking hat von der tiefen Überzeugung des Adels gesprochen, eine „Funktion als staatstragende Schicht“ zu besitzen. Diese habe den Egoismus der verfolgten Politik für die Individuen verdeckt. In der Verteidigung
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der 2. außerordentlichen Mitgliederversammlung des Vereins kath. Edelleute Südwestdeutschlands, Freiburg 21./22.10.1924, in: Ebd., unpag., S. 2; Friedrich Frhr. v. GaisbergSchöckingen: Zur Aufhebung und Aufteilung der Fideikommisse, o.O. o.D. [1921], in: AStG – Bü. 167, unpag., S. 1. Es entsprach einer gewissen Verkennung der Veränderungen seit 1918, dass Wilhelm II. 1931 in der Antwort auf eine Huldigungsadresse der Familie von Alvensleben aus dem Doorner Exil weiterhin erwartete, dass alle Mitglieder bereit seien, „Gut und Blut für König und Vaterland“ einzusetzen. Vgl. Abschrift eines Telegramms Wilhelms II, Haus Doorn 13.3.1931, in: LHASA-WR – Rep. H Erxleben II, Nr. 82, S. 110. Nachruf auf Friedrich v. Ditfurth, in: FZ-Ditfurth 3/1938, S. 43; FZ-Bülow 6/1929, Sp. 1f. FZ-Hake 9/1932, S. 96. Im DAB wurde um 1900 zwischen einem falschen gouvernementalistischen Konservatismus und einem wahren unabhängigen Konservatismus unterschieden. Vgl. Seelig: Der Kampf gegen die Moderne, S. 473f. Außerdem: James N. Retallack: The German Right 1860–1920. Political limits of the authoritarian imagination, Toronto 2006, S. 370– 405.
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der Interessen Preußens und seines Königs habe der Adel seine Hauptaufgabe gesehen.139 Auch das betont ,unpolitische‘ Agieren der katholischen Adelsverbände ebenso wie das der DAG, in beiden Fällen freilich de facto hochpolitisch, lässt sich hier verorten.140 Die weitgehende Selbstbeschränkung des Adels auf die Berufsfelder Grundbesitz, Staatsverwaltung, Militär und Kirche ist von Heinz Reif als „Strategie der Sichtbarkeit“ bezeichnet worden. Wo das quantitative Potenzial des Adels zu gering war, um überall Führungspositionen zu besetzen, habe er sich auf bestimmte Felder beschränkt, um als gesellschaftliche Elite sichtbar zu sein.141 Grundsätzlich ist diese Einschätzung einleuchtend und aus einer funktionalen Perspektive verständlich. Die Adelsdefinition legt jedoch einen anderen Akzent nahe. Denn die genannten Berufe wurden als besonders tauglich für den Dienst am Allgemeinwohl angesehen. Die sächsische Familie von Schönberg stellte schon Mitte des 19. Jahrhunderts fest: „Wenn es ferner die Berufsgeschäfte und sonstige Lebensverhältnisse sind, welche den entscheidenden Einfluß auf die Denk- und Handlungsweise des Menschen ausüben, wenn insonderheit adelige Eigenschaften nur in einer dem adeligen Stande entsprechenden Stellung gedeihen, in einem dem Edelmanne nicht geziemenden Wirkungskreise dagegen verkümmern und untergehen werden, so haben die Vereinsmitglieder darauf zu sehen, daß sich die Jugend für einen standesgemäßen Beruf heranbilde und davon abgehalten werde, sich einen gemeinen, erniedrigenden Erwerb zu erwählen, wozu sie sich durch die immer mehr überhand nehmende Verarmung des Adels, durch die geringen Aussichten auf Erlangung einer standesgemäßen, einträglichen Anstellung im Staatsdienste, sowie durch den zunehmenden Aufschwung bürgerlicher Gewerbe und Geschäfte und die mit letzterem verbundenen pecuniären Vortheile in der Folge wohl veranlaßt finden könnte.“142
Hier wurden Beruf und Berufung dem schnöden Erwerb und damit der Dienst am Allgemeinwohl der Arbeit für den persönlichen Vorteil gegenübergestellt. Während bei Staats-, Militär- und Kirchendienst der Bezug zum Allgemeinwohl evident erschien143 , könnte man beim Grundbesitz zweifeln. Doch auch hier fanden sich im Adel Erklärungen. Das Fideikommiss sicherte den Wald und dient damit dem Allgemeinwohl, denn die Allgemeinheit war
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Wehking: Zum politischen und sozialen Selbstverständnis, S. 395. Malinowski: Vom König zum Führer, S. 321–394. Reif: Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 25f. Familienordnung der sächsischen v. Schönberg Mitte des 19. Jahrhunderts. Zitat nach Matzerath: Adelsprobe an der Moderne, S. 431. Außerdem: Conze: Von deutschem Adel, S. 305f. Zur Verknüpfung dieser Berufsfelder mit dem Dienst am Allgemeinwohl vgl. auch Frie: Identitäten.
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auf die Existenz von Wald angewiesen.144 Der Reichsforstwirtschaftsrat von der Wense verteidigte die Fideikommisse mit dem Argument: „Auf nur 500 der ca. 1300 gebundenen Güter Preußens waren 167 Kunstsammlungen, 154 Bibliotheken, 42 Kleinkinder- und Krüppelschulen, 2 Waisenhäuser, 84 Armen- und Altersheime, 46 Hospitäler, 66 Schwesternstationen, 8 Warenhäuser für Angestellte und Arbeiter und 79 Stiftungen für Kirchen- und Schulzwecke vorhanden. ,Es wäre interessant festzustellen, . . . wie viele solcher . . . Einrichtungen sich wohl auf 500 nicht fideikommissarisch gebundenen Gütern finden möchten. Mutmaßlich nicht eine einzige!‘“145
Eigentum sei Verpflichtung und nicht zum Genuß des Inhabers bestimmt.146 Auch der Gutsbesitzer wirkte also am Allgemeinwohl mit. Spezifische, mit dem Dienst für das Allgemeinwohl identifizierte Berufe, blieben somit aus adliger Sicht Grundbestandteil adliger Lebensführung.147 Die Heeresreduzierung nach 1918 und die republikanischen Verfassungen mit ihren Forderungen an die Berufsbeamten stellten den Adel vor die Frage, in welchen Berufen er dem Allgemeinwohl noch dienen könne und welche Berufe (kapitalistische) Handlungsweisen erforderten, die dem geforderten Tugendkatalog widersprachen. Eine ausführliche Diskussion im Verein katholischer Edelleute Südwestdeutschlands spiegelt die Bemühungen um Anpassung an Gegebenheiten und Beharren auf Althergebrachtem. „Jeder Beruf “, so Albrecht Freiherr von Stotzingen, „kann in idealer, echt adeliger Gesinnung ausgeübt [,] geadelt werden, jeder Beruf kann, nur zum reinen Gelderwerb in niedriger Gesinnung ausgeübt, den Träger verächtlich, des Adels unwürdig machen.“148 „Für die Berufswahl“, so der Freiherr von Gagern, müsse „entscheidend [sein] . . . : wie kann ich unserem Volke und Vaterland am besten dienen? wie kann ich den Beruf des Adels, Führer zu 144
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Monika Wienfort: Gerichtsherrschaft, Fideikommiss und Verein, in: Jörn Leonhard/ Christian Wieland (Hrsg.): What makes the nobility noble? Comparative Perspectives from the sixteenth to the twentieth century, Göttingen 2011, S. 90–113, hier S. 102. Dies.: Wirtschaftsschule, Waldbesitz, Wohltätigkeit. Neue Handlungsspielräume des deutschen Adels um 1900, in: Demel/Kramer: Adel und Adelskultur in Bayern, S. 395– 418, hier S. 415. Zitat nach Malinowski: Vom König zum Führer, S. 417. Auch der fürstlich Waldburgsche Archivar Mack argumentierte mit den Leistungen der Fideikommisse für die Landbevölkerung. Vgl. Eugen Mack: Einig und ungeteilt. Sechzehn Aufsätze zur Wahrung fideikommissarisch gebundenen Besitzes, Wolfegg 1920. Ilona Buchsteiner: Die Familie von Oertzen im 19. Jahrhundert, in: Mecklenburgische Jbb. 118/2003, S. 237–254, hier S. 246. Dies im Gegensatz zu Matzerath: Adelsprobe an der Moderne, S. 21. Dass die Ministerien v.a. die Nobilitierung von Beamten und Offizieren befürworteten und sich gegen die Nobilitierung von Wirtschaftsbürgern wandten, wie es Dieter Hertz-Eichenrode: Wilhelminischer Neuadel? Zur Praxis der Adelsverleihung in Preußen vor 1914, in: HZ 282/2006, S. 645–679, hier S. 676, gezeigt hat, kann auch im Zusammenhang mit diesem Tugendadelsideal gelesen werden. Albrecht Frhr. v. Stotzingen auf der 2. ordentlichen Mitgliederversammlung des Vereins kath. Edelleute Südwestdeutschlands, Beuron 15.5.1923, in: GLAK – 69 Oberndorff, A109, unpag., S. 6.
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sein, erfüllen?“149 Dies galt auch für Nordostdeutschland.150 Die Schwierigkeiten der beruflichen Neuorientierung denen sich der Adel in der Weimarer Republik gegenüber sah, müssen auch vor diesem Hintergrund gesehen werden. Viele Berufe gefährdeten aus adliger Sicht ganz einfach den eigenen Tugendadel!151 Fraglich war unter katholischen Adligen in Südwestdeutschland zudem, ob man in einem Staat, den man als unrechtmäßig entstanden ansah und dessen Beseitigung man wünschte, in den Staatsdienst treten dürfe – auch wenn hier viele Positionen als ,Führer‘ vorhanden wären. Freiherr von Gagern äußerte: „Die Verpflichtung, dem heutigen Staat zu dienen, beruhe nicht auf seiner Rechtmäßigkeit, sondern auf seinem Bestehen. Der nur bürgerliche Eid des Staatsbeamten verbiete blos die Mitwirkung an einem gewaltsamen Umsturz und eine solche sei dem Katholiken ohnedies im Gewissen verboten.“152 Adalbert Graf Neipperg war der Ansicht, „dass der Treueid ,in letzter Linie dem Staatsoberhaupt, dem Monarchen zum Zwecke des Gemeinwohls geleistet‘ worden sei.“ Er unterschied im Folgenden jedoch Amt und Person. Wenn nämlich „der betreffende Monarch nicht mehr als ,Vertreter des Staatswohles in Betracht komme‘, so falle auch die Bindung und der Eid weg“, weshalb der Adel daher in der Weimarer Republik mitarbeiten durfte.153 Überwunden wurde die Spannung durch eine Trennung: „Wir dienen in der Republik nicht der Regierung, der Staatsform, sondern nur dem Staat, dem Vaterland. Von einem besonderen Treueverhältnis zu Personen oder Einrichtungen ist nicht die Rede. . . . Das Treueverhältnis zu unserem Fürsten wird durch den Dienst unter der republikanischen Staatsform in keiner Weise angetastet.“154 Die schließlich im Protokoll festgehaltene Feststellung, man müsse sich dem Staat einstweilen unterwerfen, um dem Allgemeinwohl dienen zu können155 , 149
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Frhr. v. Gagern auf der 2. ordentlichen Mitgliederversammlung des Vereins kath. Edelleute Südwestdeutschlands, Beuron 15.5.1923, in: Ebd., unpag., S. 8; Ferdinand Graf v. Degenfeld-Schonburg auf der 3. ordentlichen Mitgliederversammlung des Vereins kath. Edelleute Südwestdeutschlands, Beuron 30./31.5.1924, in: Ebd., A109, unpag., S. 4. Stephan Malinowski: „Wer schenkt uns wieder Kartoffeln?“ Deutscher Adel nach 1918 – eine Elite? , in: Denzel/Schulz: Deutscher Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 503–537. Der Wandel der Berufskarrieren und die hohe Bedeutung der Rückkehr in die Adelsberufe nach 1933 zeigen sich auch bei den Grafen Bernstorff. Vgl. Conze: Von deutschem Adel, S. 311–317. Frhr. v. Gagern auf der 3. ordentlichen Mitgliederversammlung des Vereins kath. Edelleute Südwestdeutschlands, Beuron 30./31.5.1924, in: GLAK – 69 Oberndorff, A109, unpag., S. 4. Pahl: Adalbert Graf Neipperg, S. 72. Frhr. v. Gagern: Berufswahl und Berufsausbildung, in: GLAK – 69 Oberndorff, A109, unpag., S. 2. 2. außerordentliche Mitgliederversammlung des Vereins kath. Edelleute Südwestdeutschlands, Freiburg 21./22.10.1924, in: GLAK – 69 Oberndorff, A109, unpag., S. 4f. Meteling: Der deutsche Zusammenbruch 1918, S. 289, hat dieses Problem auf die Formel gebracht: „Die bisherige Kongruenz von Königstreue und Staatstreue war in der Weimarer Republik aufgehoben.“
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hatte insofern einen interessanten Kniff. Denn grundsätzlich wurde die Staatsform abgelehnt und der Staat als unrechtmäßig angesehen. Ein Wirken für das Allgemeinwohl musste also auf eine Veränderung der Staatsform hinwirken. Da der gläubige Katholik eine solche Veränderung der Staatsform aber nicht gewaltsam herbeiführen dürfe, lief die Aufforderung, in den Staatsdienst einzutreten, darauf hinaus, eine Veränderung der Ordnung aus den Instanzen heraus zu bewirken. Der protestantische Adel in Nordostdeutschland machte sich hingegen weniger Sorgen, aktiv gegen die Weimarer Republik vorzugehen. Abseits der Frage, ob Gemeinwohlorientierung durch Staatsdienst oder andere Tätigkeiten praktiziert werden könnte, bot der Bereich der Wohlfahrt und des sozialen Engagements ein breites Betätigungsfeld für das Allgemeinwohl. Schon vor zwei Jahrzehnten hat Hansjoachim Henning die Frage gestellt, ob der Adel „sich im sozialen Engagement neue Formen seiner Verfestigung in einer sich wandelnden Gesellschaft suchen“156 und ob die adlige Gesellschaftsgruppe „ihre herrschende Stellung – wenn sie denn eine war – mit ihrem Einsatz für öffentliche Belange begründen und erhalten resp. festigen konnte“157 . Das Fazit der Historiker ist häufig negativ ausgefallen. Im landsässigen Adel sei das Engagement auf den Nahbereich der Güter beschränkt geblieben, „für die Gesamtgesellschaft bewirkten sie . . . nichts.“158 Zunächst einmal geht es natürlich auch hier um Stilisierungen. Sodann war der Bezug auf den (ländlichen) Nahbereich aus der Perspektive des konservativen Gesellschaftsentwurfs verständlich. Im Nahbereich hatte die Sorge für eine geordnete Gesellschaft anzusetzen – überschaubare Verhältnisse wurden gegenüber anonymen bevorzugt. Gegen die neue Landgemeindeordnung ging der Adel östlich der Elbe unter anderem mit dem Argument vor, dass niemand die Bedürfnisse der Armen besser kenne und sich fürsorglicher darum kümmere, als der Gutsherr.159 Die Erzählungen der Memoiren über Krankenbesuche bei Bauern und Landarbeitern sind Legion.160 Hier wurde zunächst die patriarchalische Gutsgemeinschaft, dann die Volksgemeinschaft stilisiert. Doch auch die Fürsorge auf größerer Ebene wurde nicht vernachlässigt. Monika Wienfort hat für die Zeit seit 1900 einen neuen Typus der karitativen Tätigkeit ausgemacht. Diese sei den „eigenen Normen und Werten weitgehend entgegen[gekommen]“ und habe mit „gesellschaftspolitische[m] Engagement in engem Zusammenhang“ gestanden.161 156 157 158
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Henning: Noblesse oblige, S. 307. Ebd., S. 306. Ebd., S. 322. Kritisch, was das tatsächliche Ausmaß anbelangt, ist auch Stephan Malinowski: Wie zivil war der deutsche Adel? Anmerkungen zum Verhältnis von Adel und Zivilgesellschaft zwischen 1871 und 1933, in: Jessen/Klein/Reichardt: Zivilgesellschaft als Geschichte, S. 239–260, hier S. 245–247. Wehking: Zum politischen und sozialen Selbstverständnis, S. 426. Malinowski: Vom König zum Führer, S. 111–115. Wienfort: Wirtschaftsschulen, Waldbesitz, Wohltätigkeit, S. 416f.
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„Die Tätigkeiten der Frauen bestanden nicht mehr vorrangig im persönlichen Geldspenden, sondern darin, unter Ausnutzung adeligen Renommees die Öffentlichkeit zu mobilisieren. Eigene private Spenden bedeuteten in diesem Zusammenhang nicht mehr in erster Linie direkte Hilfe, sondern sollten Vorbildfunktion in der Öffentlichkeit übernehmen. Private Wohltätigkeit ging damit in öffentliche Unterstützung für soziale, fürsorgerische oder hygienische Reformen über.“162
Karitative Tätigkeiten blieben ein Ausweis von Gemeinwohlorientierung, egal ob sie auf die Mikro- oder Makrogesellschaft bezogen waren. Dass man durch eine solche Sorge für das Allgemeinwohl durchaus auch in der breiteren Bevölkerung Anerkennung erlangen konnte, zeigte schon eine bayerische Regierungsumfrage von 1854. Diese förderte zutage, dass das vorbildhafte Wirken Adliger im engeren Umkreis ihrer Besitzungen, sei es agrarwissenschaftlich und -technisch, sei es fürsorglich, für Anerkennung in der Landbevölkerung sorge.163 Wenn auch mit inhaltlichen Verschiebungen und Widersprüchen behaftet – für die Zeit zwischen dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich eine in ihren Grundelementen stabile Leitidee von Adel feststellen. Verschiebungen und Auseinandersetzungen um konkrete Ausformulierungen waren vorzüglich den veränderten Zeitbedingungen und den damit einhergehenden Anpassungsnotwendigkeiten geschuldet – besonders der Untergang der Monarchie bildete hier eine Zäsur. Daneben sind zuweilen Konfessions- und Regionsunterschiede festzustellen. All dies stellte aber die prinzipielle Definition nicht in Frage, deren Fundament die Tugendhaftigkeit Adliger bilden sollte. Diese sollte sodann vorbildlich gelebt werden. Vorbildlichkeit habe die Anerkennung der Führereigenschaft des Adels zur Folge – eines Adels, der seine Hauptaufgabe in der Sorge für das Allgemeinwohl erblickte. Dieses Adelsverständnis wurde, beginnend vor dem Ersten Weltkrieg und dann in erstaunlicher Rasanz nach 1918, durch rassische Theoreme ergänzt. Dieser Prozess lässt sich vor allem östlich der Elbe feststellen.164 Es wurde nur ergänzt, weil Vorbildlichkeit in Werten und Tugenden weiterhin als Standeskriterium präsent blieben, Adel weiterhin ,verpflichtend‘ sein sollte. Das konnte sich zunächst im Unverständnis gegenüber den ,rassischen‘ Selbstrei-
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Wienfort: Gesellschaftsdamen, S. 183. Zu karitativem Engagement adliger Frauen auch Gisela Hengstenberg: Frömmigkeit, Pflicht, Ereignis. Aspekte der Wohltätigkeit von Adel und Bürgertum im Königreich Württemberg, in: Otto Borst (Hrsg.): Frauen bei Hof, Tübingen 1998, S. 72–87. Allerdings überzeugt ihre starke Betonung der bürgerlichen Ursprünge karitativer Tätigkeiten adliger Frauen nicht. Er wird auch nicht näher nachgewiesen. Krauss: Ende, S. 387–392. Außerdem für Westfalen Reif: Der katholische Adel Westfalens; ders.: Westfälischer Adel. Im Gegensatz zur Position Malinowski: Vom König zum Führer, bes. S. 321–358, der von einer Aushöhlung ausgeht.
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nigungsmaßnahmen der DAG zeigen, wenn sich Heinrich von der Marwitz 1933 beklagte: „Sie [die DAG] verlangt nur arische Abstammung, lässt aber andere Eigenschaften – Tüchtigkeit und Würdigkeit, die in erster Linie für die sooft betonte Auslese als Adel massgebend sein müssten, ausser Betracht. Hiervon abweichend wird dieser Grundsatz . . . , dass ein reinblütiger Adliger, mag er noch so geringe Verdienste aufzuweisen haben, ohne weiters Mitglied der DAG werden kann, während ein nach den Begriffen adliger Gesinnung vielleicht weit höher zu wertender Adliger ausgeschlossen bleibt“165
Doch der hier aufscheinende Widerspruch war nur ein begrenzter. Denn ,Rasse‘ bildete zwar ein wichtiges Fundament des neuen Adelsverständnisses. Damit waren aber Tugend- und Leistungsforderungen, die aus dem alten Adelsverständnis stammten, nicht obsolet geworden. Vielmehr blieb Tugendvorbildlichkeit ein inhärenter Bestandteil des Rassenadels, wie Vertreter dieses Konzeptes deutlich machten. Wilhelm von Bülow wies darauf hin: „Wir dürfen mit Stolz auf viele tüchtige Männer blicken, die unser Geschlecht hervorgebracht hat, nicht, um uns ihrer zu rühmen, sondern als Ansporn, ihnen nachzueifern. Adel und Erbe verpflichtet. Zum Erbe . . . gehören nicht nur Vermögen und Grundbesitz, sondern vor allem auch die biologische Erbmasse, die jeder verpflichtet ist, vermehrt durch eigne Leistungen, seinen Nachfahren ungeschmälert zu erhalten.“166
Der Fürst von Bentheim-Tecklenburg, Vorsitzender der DAG, schrieb 1933, es ginge „darum der Regierung eine rassische & ethische Elite von Volksgenossen adligen Stammes mit einem unerhörten großen Erbgut & uralter Tradition zum Neubau von Volk & Reich zur Verfügung zu halten.“167 ,Rasse‘ und ,Ethik‘, ,Erbgut‘ und ,Tradition‘ – die Kombination ergab aus der Selbstsicht die Bedeutung des Adels im nationalsozialistischen Staat. Selbstverständlich handelt es sich bei der hier präsentierten Adelsdefinition um eine Stilisierung. Nicht jeder Adlige entsprach in seinem empirischen Verhalten dieser Leitidee – Adel war eben im Anschluss an die Adelsreformdebatte zur Idee geworden. Außerdem handelt es sich bei der Leitidee natürlich auch um eine Ideologie168 , die dem Adel Herrschaft(spositionen) sichern sollte. Diese Ideologie prägte jedoch zutiefst das Selbstverständnis des Adels und das Verständnis, das er von seinem Handeln hatte. Die Frage, ob der Adel aus „gesamtgesellschaftliche[r] Pflicht oder aus Gruppeninteresse“ handelte169 , geht daher am Kern des Problems vorbei. Aus Sicht des Historikers 165
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Heinrich v.d. Marwitz an den Familienvorstand, Potsdam 7.5.1933, in: BLHAP – Rep. 37 Friedersdorf, Nr. 259, S. 177. Auch andere Adlige hielten an Verdienst und Gesinnung als Grundlage des Adels fest. Vgl. Malinowski: Vom König zum Führer, S. 350–352. Wilhelm v. Bülow: Der Familienforschung tieferer Sinn, in: FZ-Bülow 14/1935, Sp. 6. Hervorhebung im Original. Außerdem: FG-Schuckmann 1932, S. 10. Abschrift eines Briefes von Fürst Bentheim-Tecklenburg an Fürst Löwenstein, Schloß Rheda 12.10.1933, in: GLAK – 69 Oberndorff, A110, unpag., S. 1. Das Ideologische stark betont bei Malinowski: Wie zivil war der deutsche Adel, S. 250– 252. Henning: Noblesse oblige, S. 328.
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kann der Adel mit dieser Frage entlarvt werden – er neigte dazu, spezifische Klasseninteressen hinter Parolen zu verbergen. Eine solche Argumentation gelingt jedoch nur um den Preis, dass man adliges Selbstverständnis und die daraus resultierenden Antriebskräfte ignoriert. Die adlige Perspektive ernst zu nehmen, verändert nichts am Ergebnis, gibt aber den Blick auf das Handlungsfeld ,gesellschaftliche Ordnung‘ frei, an dem sich adliges Handeln orientierte. Aber welche Konsequenzen hatten das Tugendadelsideal und seine rassische Erweiterung? Zunächst war der Tugendadel im Kern keine neue Idee. Tugendadelskonzepte gab es schon lange vor den 1850er Jahren. Seit dem 18. Jahrhundert ist der Tugendadel vor allem von bürgerlicher Seite als Angebot zu einer Elitensynthese an den alten Adel herangetragen worden.170 Diese Konzepte waren aber im Adel offensichtlich noch nicht weitergehend anschlussfähig. Neu war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, dass der Tugendadel innerhalb der adlig-konservativen Reformdiskussion zum zentralen Charakteristikum der Leitidee ,Adel‘ erhoben wurde und das Recht an Bedeutung verlor. Ebenfalls neu war, dass der Tugendadel nicht als Konzept einer Elitensynthese propagiert wurde, sondern als Leitidee, die den alten Adel als Stand innerhalb einer gesellschaftlichen Ordnung neu verorten und durch Differenzkriterien abgrenzen sollte. Damit schloss der Adel in beiden Untersuchungsregionen an konservative Bemühungen um die Ausformulierung einer neuen, nicht mehr frühneuzeitlich-ständischen, gesellschaftlichen Ordnung an. Hätte ein Tugendadel als Elitensynthese den Weg in eine bürgerliche oder Klassengesellschaft ebnen können, so entschied sich der Adel gegen eine solche Allianz und orientierte sich stattdessen an Visionen einer konservativen Berufsständegesellschaft. Für diese Gesellschaft musste der Adel, wenn er als Stand erhalten bleiben wollte, jedoch eine konkrete adlige Aufgabe formulieren. Dies geschah mit der Leitidee ,Adel‘. Doch die Leitidee war nicht nur auf einer abstrakteren Ordnungsebene mit dem Konservatismus verbunden, sondern auch das konservative Menschenbild spiegelte sich in der Leitidee ,Adel‘ wider. Denn Kernbestandteil des konservativen Menschenbildes war die Vorstellung, dass es Pflicht des Individuums sei, gegenüber der Gesellschaft seine Funktion auszuüben und die eigenen Interessen dahinter zurückzustellen. Dies kam in der Leitidee im Diktum „Adel verpflichtet“ zum Ausdruck.171 Es kann geradezu als Essenz der adligen Leitidee verstanden werden. Jedoch zeichnet sich das Diktum „Adel verpflichtet“ durch seine entscheidende syntaktische Leerstelle aus. Offen bleibt stets das Objekt der Verpflichtung – das ,Wozu‘. Der Analyse öffnen sich das adlige Selbstverständnis und seine Anpassungen zwischen der Mitte des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts daher nur, wenn man 170
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Langewiesche: Bürgerliche Adelskritik. Zu Vorläufern des Tugendadels im Mittelalter und der Frühen Neuzeit vgl. Oexle: Aspekte der Geschichte des Adels, S. 52f.; Horst Möller: Aufklärung und Adel, in: Fehrenbach: Adel und Bürgertum, S. 1–9. FG-Kageneck 1870, S. 4; Leutrum v. Ertingen: Sein oder Nichtsein, S. 3.
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nach den Bezugspunkten des Diktums fragt.172 Die genauere Analyse zeigt, dass sich dahinter vier Bedeutungsfelder verbargen, die die Adelsdefinition ausmachten. Die besondere Fähigkeit, Prädisponiertheit und Verpflichtung, das sittlich Notwendige und Gute zu erkennen, vorbildlich danach zu handeln und den Rest der Gesellschaft dadurch mitzuziehen, begründete die gesellschaftliche Aufgabe und den Führungsanspruch des Adels – es war aus seiner Selbstsicht sein standesdifferenzielles Kriterium. Blickt man sodann auf die Differenzkriterien dieser Leitidee von Adel gegenüber anderen Ständen, so fallen Vor- und Nachteile auf: Die Verschiebung von einer rechtlichen zu einer kulturellen Adelsdefinition seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zeitigte langfristige Vorteile. Sie erlaubte nach 1918 ganz basal eine Fortexistenz des Adels trotz seiner rechtlichen Abschaffung. Er konnte auch in einer entadelten Gesellschaft eine Funktion für sich sehen. Das Adelsideal war darüber hinaus, wie die zahlreichen Leitdifferenzen anzeigen, in der praktischen Ausgestaltung sehr flexibel, so dass es stets verschiedene politische Positionen und monarchische, konfessionelle und regionale Loyalitäten integrieren konnte und zeitspezifisch mit verschiedenen Tugenden angereichert werden konnte. Zwar führte dies zu Konflikten innerhalb des Adels, und es fehlte nicht an lautstarken Betonungen der Alleingültigkeit der eigenen Interpretation173 – der Rahmen der Adelsdefinition wurde aber innerhalb des Adels von keiner größeren Fraktion grundsätzlich in Frage gestellt. Das Diktum „Adel verpflichtet“ war sodann das entscheidende verbleibende Differenzkriterium der Leitidee gegenüber anderen Ständen, nachdem der Adel sich nicht mehr durch Eigentümlichkeiten des Rechts oder der Werte hervorhob oder hervorheben wollte. Die Verpflichtung zu einem tugendhaften Verhalten war dem Adel als Standesaufgabe in der ständischen Gesellschaft aufgegeben – die adlige Standesaufgabe lag insofern quer zu den übrigen Berufsständen. Daraus ergaben sich die weiteren Verpflichtungen, als Führer all jener aufzutreten, die durch ihre Geburt eben nicht zu solchen Leistungen verpflichtet waren. Und schließlich, so die Leitidee, sei der Adlige verpflichtet, für das Allgemeinwohl einzutreten. Da der Adel damit jedoch in den Bereich der Idee und Sitte verlagert war, war es Aufgabe des adligen Individuums, dieser Verpflichtung gerecht zu werden – ein „wahrer“ Adliger zu sein, bei dem sich Adel der Gesinnung und Adel der Geburt vereinten. 172
173
Deshalb sollte in der Forschung auch nicht allein das Satzfragment rezipiert bzw. nur Einzelbestandteile untersucht werden. Dieses Problem kann schön bei Reinhold Brunner: Die Stellung des ostelbischen Adels zu Kultur, Wissenschaft und Kunst am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Adamy/Hübener: Adel und Staatsverwaltung, S. 167–183, hier S. 168, beobachtet werden. Außerdem: Eckart Conze: Noblesse oblige, in: Ders. (Hrsg.): Kleines Lexikon des Adels. Titel, Throne, Traditionen, München 2005; Henning: Noblesse oblige. Beispiele bei Malinowski: Vom König zum Führer, S. 551. ,Treue‘ und ,Überparteilichkeit‘ sind ebenfalls Begriffe, mit denen Konflikte unterbunden und abweichende Meinungen unterdrückt werden konnten. Vgl. Conze: Helden und Verräter, S. 372.
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Das war nicht viel Differenz zum Rest der Bevölkerung, zumal anerkannt wurde, dass auch Nicht-Adlige die Tugendhaftigkeit des Adels leben konnten, während sich Geburtsadlige unadlig verhalten konnten. Die Abgrenzung nach außen wurde somit prekär, im Inneren wurde sie aber gestärkt. Denn die Existenz ,wahrer‘ Adliger setzt die zeitgleiche Existenz ,falscher‘ Adliger – eben solcher, die das „Adel verpflichtet“ nicht inkorporiert hatten – voraus.174 Klagen über mangelndes Standesbewusstsein sind nur vor einem solchen Hintergrund verständlich.175 Diese Binnengrenze zwischen ,wahrem‘ und ,falschem‘ konnte sich aber nicht nur gegen abtrünnige Uradlige richten, sondern auch gegen Neunobilitierte. Der Adel gewann insofern, in einem ideellen Sinn, die Kontrolle über die Zugehörigkeit zum „wahren“ Adel und hebelte damit das Nobilitierungsrecht des Monarchen aus.176 Zwar war die Verknüpfung von Allgemeinwohlorientierung und spezifischen staatsnahen und staatstragenden Berufen im Prinzip der Höhepunkt der staatlichen Funktionalisierung des Adels. Der Adel wurde dadurch in seinem Selbstverständnis an den Dienst für den Staat geknüpft. Freilich sollte sich nach 1918 auch zeigen, dass damit zugleich das Ende der Funktionalisierung erreicht war. Nicht nur, weil der Adel über das Konstrukt des ,wahren‘ Adligen die Selbstkontrolle über die Zugehörigkeitskriterien zurückgewonnen hatte und sie nach 1918 faktisch selbstständig fortsetzte, sondern auch, weil sich die Funktionalisierung nach 1918 gegen den Staat richtete. Der ,Rassenadel‘ führte neben der Unterteilung in ,wahre‘ und ,falsche‘ Adlige nur noch eine neue Differenzlinie in den Adel ein. Er war keine solch fundamentale Abweichung von der Tradition.177 Hier wurde nur eine weite174
175 176
177
In der Auseinandersetzung über den Kurs des Adels in den 1920er und 30er Jahren war der „wahre“ Adel auch ein Kampfbegriff, um die eigene Position zu legitimieren. Monique de Saint Martin: Adlige Identität, S. 532, hat, allerdings ohne spezifisch auf eine Definition des Adels über Tugenden einzugehen, davon gesprochen, dass „die Anerkennung der Adelsqualität [des Individuums] durch die anderen Adligen . . . zweifellos fundamental für das Überleben jedes Mitglieds der Kategorie“ notwendig sei. Seelig: Der Kampf gegen die Moderne; Herdt: Der württembergische Hof, S. 351. Zu Ausmaß und Bedeutung der Nobilitierung: Hertz-Eichenrode, Wilhelminischer Neuadel. Aus volkstumspolitischen Erwägungen wurden im polnischen Teilungsgebiet im Kaiserreich offenbar auch durchaus zwielichtige Charaktere nobilitiert. Vgl. ebd., S. 673–676. Zur adligen Kritik an Nobilitierungen vgl. Malinowski: Vom König zum Führer, S. 124–127; Wienfort: Der Adel in der Moderne, S. 139–142; Reif: Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 65–67. Nobilitierungen von Industriellen wurden von der Kreuzzeitung nicht wahrgenommen. Hertz-Eichenrode: Wilhelminischer Neuadel, S. 663. Nicht im Widerspruch hierzu steht die Tatsache, dass der Adel die Kontrolle der Adelsführung durch das staatlich organisierte preußische Heroldsamt begrüßte (vgl. Harald v. Kalm: Das preußische Heroldsamt (1855–1920). Adelsbehörde und Adelsrecht in der preußischen Verfassungsentwicklung, Berlin 1994, S. 249–252), denn dieses ermöglichte es zwar, gegen Adelsanmaßungen vorzugehen, aber es fehlte im Kaiserreich eine gesetzliche Grundlage der Adelsaberkennung, sodass das Heroldsamt nicht gegen solche Personen vorgehen konnte, die dem Adelsideal widersprachen. Im Gegensatz zu Malinowski: Vom König zum Führer.
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re ,falsch‘ veranlagte Gruppe ausgeschieden – nun allerdings biologisch, nicht moralisch determiniert.178 Zudem erlaubte es die Rassendefinition dem Adel, sich geschickt neue ,Elitekriterien‘ anzueignen, die nach 1933 von Vorteil waren. Dass in der rassischen Volksgemeinschaft scheinbar kein Platz mehr für einen Vorranganspruch des Adels gewesen sei, weil viele ihre Blutsreinheit nachweisen konnten179 , trifft nur auf den ersten Blick zu. Denn auch im Konzept des Tugendadels waren die Differenzkriterien zum Rest der Bevölkerung vor allem ein Geltungsanspruch. Problematisch am Rassenadel war vielmehr, dass sich die Vorbildlichkeit der Rassenreinheit ebenso wie die ,Verjudung‘ des Adels anhand von Ahnentafeln konkret messen ließ. Mit der Berufsstände transzendierenden Leitidee griff der Adel schließlich auch auf eine Selbstbeschreibungsweise zurück, die ihm nach Aussage der Forschung seit der Wende zum 19. Jahrhundert verloren gegangen war. Josef Matzerath hat geschrieben, dass in der Frühen Neuzeit der „Konnex zwischen einer gesellschaftlichen Gruppe und der von ihr . . . dominierten gesellschaftlichen Aufgabe hochgradig deckungsgleich“ gewesen sei. Adel sei der universale Herrschaftsstand der Frühen Neuzeit gewesen. Dies habe sich im 19. Jahrhundert verändert. Das „Auseinandertreten von Sozialformation und gesellschaftlichem Aufgabenfeld“ sei als „das entscheidende Movens der Epochentransformation“ anzusehen.180 Ein „Universalherrschaftsanspruch“181 , so Ewald Frie, sei im Zuge der Ausdifferenzierung von Berufen und der Funktionalisierung der Gesellschaft nicht länger möglich gewesen. Mit dem Tugendadel lag jedoch ein neues Modell vor, das einen „Universalführungsanspruch“ begründen sollte. Dem Obenbleiben des Adels im 19. Jahrhundert lag insofern ein Konzept zugrunde, das ,ein‘ Oben jenseits aller funktionalen, beruflichen oder kulturellen Differenzierung der Gesellschaft im moralischen Vorrang suchte.182 Die Verlagerung des Adels in den Bereich des Ideellen lässt sich abschließend auch mit der Feststellung Georg Simmels, Adel werde nicht an seinem Durchschnitt gemessen, sondern an seinen Spitzenvertretern, kombinieren.183 Die Verlagerung des Adels in den Raum der Ideale und Stilisierungen führte dazu, dass der Adel am sittlichen Gehalt der Idee gemessen werden 178 179 180
181 182 183
Flemming: Führersammlung, S. 125. Stephan Malinowski: Vom blauen zum reinen Blut. Antisemitische Adelskritik und adliger Antisemitismus 1871–1944, in: Jb. für Antisemitismusforschung 12/2003, 147–168. Matzerath: Adelsprobe an der Moderne, S. 19f. Ähnlich Jörn Leonhard/Christian Wieland: Noble Identities from the Sixteenth to the Twentieth Century: European Aristocratic Cultures in Law, Politics, and Aesthetics, in: Dies.: What makes the nobility noble, S. 7–34, hier S. 7. Der Begriff bei Frie: Adel und Hof, S. 78. Dies in Reaktion auf die Frage bei Frie: Adel um 1800, Abs. 17, wo denn das Oben sei, nach dem der Adel gestrebt hätte. Georg Simmel: Exkurs über den Adel, in: Ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Bd. 11 der Gesamtausgabe, hrsg. v. Otthein Rammstedt, Frankfurt 1992, S. 816–831.
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sollte, nicht an seinem sozio-ökonomischen Durchschnitt oder der Befolgung der Ideale durch die Individuen. Und jede Leitidee, besonders solche, die sich nicht außerhalb von Menschen materialisieren, besitzt Exponenten, die sie vorbildlich verkörpern. Erschien die Gesellschaft dieses sittlichen Gehalts, dieser Ideale weiterhin zu bedürfen, so schien sie auch eines Adels zu bedürfen. Welche Ideale dies konkret sein konnten, wie Adel und (konservative) gesellschaftliche Kreise hier in Interaktion traten, zeigen die Leitideen, die im Folgenden analysiert werden. Sie zeigen auch, wie angesichts des schwachen Differenzkriteriums des Adels, das hauptsächlich auf der Behauptung höherer Ausprägung von Tugenden und Rassereinheit basierte, dennoch adlige Vorrangansprüche formuliert werden konnten.
2.3 Konservative Leitideen und adlige Adaptionen Definierte der Adel sich also als verpflichteter Vorbildstand, so ist im nächsten Schritt zu klären, welche Werte er vorbildlich vertreten wollte und wie Vorbildlichkeit möglich war. Die Ergebnisse zum Adelsideal legen es nahe, der Dynamik hinter starren Begriffen nachzugehen und dabei nach den Verbindungen zwischen Adel und anderen Teilen der Gesellschaft auf der Ebene der Ideologien zu suchen. Die Suche nach Verbindungen hat zur Folge, dass hier von den in der Forschung genutzten Gegenüberstellungen von adligem und bürgerlichem Wertehimmel abgesehen wird.184 Stattdessen scheint die Begrifflichkeit von liberal und konservativ weiterzuführen, da diese sich auf die gesellschaftliche Ordnung und nicht auf eine Sozialgruppe beziehen. Wer sich zu welcher Ordnung bekannte, wird dann zur Entscheidung des Individuums und ist nicht durch seine Geburt vorherbestimmt. Diese begriffliche Veränderung liegt auch deshalb nahe, weil die Grundannahme bestimmter 184
Die folgenden Ausführungen stehen somit im Gegensatz zu den Grundannahmen bei Funck/Malinowski: Geschichte von Oben; dies.: Charakter ist alles; Malinowski: Vom König zum Führer; Conze: Deutscher Adel im 20. Jahrhundert, S. 27. Ein früher impressionistischer Versuch zur Bestimmung eines adligen Wertehimmels bei Reinhold Brunner: Die Stellung des ostelbischen Adels zu Kultur, Wissenschaft und Kunst am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Adamy/Hübener: Adel und Staatsverwaltung, S. 167–183; ders.: Landadliger Alltag und primäre Sozialisation in Ostelbien am Ende des 19. Jahrhunderts, in: ZfG 39/1991, S. 995–1011. Die bisherige Kritik an diesen Konzepten findet sich bei Tacke: Kurzschluss; dies.: Die „Nobilitierung“ von Rehbock und Fasan. Jagd, „Adel“ und „Adligkeit“ in Italien und Deutschland um 1900, in: Karsten Holste/Dietlind Hüchtker/Michael G. Müller (Hrsg.): Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Akteure – Arenen – Aushandlungsprozesse, Berlin 2009, S. 223–248; Wienfort: Der Adel in der Moderne, S. 154; dies.: Wirtschaftsschulen, Waldbesitz, Wohltätigkeit, S. 398; Frie: Adel und bürgerliche Werte; Matzerath: Adelsprobe an der Moderne, S. 109–253.
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Werte als adligem Exklusivum fraglich scheint. Gesellschaftliche Ordnungen, wie sie die konservativen oder liberalen Entwürfe darstellten, mussten stets auf die gesamte Gesellschaft bezogen sein. Dies legt die erarbeitete Adelsdefinition nahe. Denn der Adel wollte Tugendvorbild sein. Ein Vorbild mit auf sich allein bezogenen Werten wäre aber kein Vorbild gewesen. Konservative Werte waren daher genauso wie liberale Werte auf Allgemeingültigkeit und allgemeine Verbreitung angelegt – Adlige wollten nur Exponenten dieser Werte sein. Als Beispiele dienen im Folgenden die Begriffe Familie, Grundbesitz und Ehre, die für ein konservatives Gesellschaftsverständnis zentral waren. Es wird hierzu jeweils von unterschiedlichen Wissenschaften, der Volkskunde für den Familienbegriff, der Staatswissenschaft für den Grundbesitz und der Soziologie für die Ehre, ausgegangen, um zu zeigen, wie sich mit der konservativen Ausformulierung dieser Leitideen inhärente Vorstellungen einer ständischen Welt verbanden. Sodann wird die Redefinition und Radikalisierung der Leitideen durch die völkische und radikale Rechte vom Ende des Kaiserreichs bis in den Nationalsozialismus hinein betrachtet werden. Diese radikalisierten Begriffe bilden eine wichtige Grundlage für das Verständnis adliger Radikalisierung nach 1900 und die Bereitschaft des Adels zur Kooperation mit und zum Anschluss an den Nationalsozialismus. Schließlich soll gezeigt werden, wie sich die adligen Leitideen innerhalb dieser konservativen und völkischen Begriffe verorten lassen und wie der Adel noch einen Vorrang, das heißt vorbildliche Tugendhaftigkeit, für sich reklamieren konnte. Thomas Rohkrämer hat zu Recht darauf hingewiesen, dass nicht alle zivilisations- und kulturkritischen Bewegungen der Jahrhundertwende pauschal der Vorgeschichte des Nationalsozialismus zugeschlagen werden dürfen. Sie waren in ihren Zielen höchst heterogen. Was sie verband, war ein Unbehagen an der Moderne und die Suche nach „einer anderen Moderne“ – nicht ein bedingungsloses Zurück in die Vergangenheit. Hinter dem identischen Begriff, zum Beispiel von Familie und Heimat konnten sich unterschiedliche Bedeutungen verbergen.185 Auch Stefan Breuer hat sich in seinen Arbeiten um eine Differenzierung und Systematisierung der verschiedenen Strömungen bemüht.186 Sämtliche dieser Differenzierungen im Folgenden nachzuvollziehen, kann hier nicht das Ziel sein. Zudem ist es fraglich, ob sich die Zeitgenossen der unterschiedlichen Standpunkte der Theoretiker jeweils bewusst waren beziehungsweise kohärente Gedankengebäude von den Theoretikern übernahmen. In der Praxis scheinen eher ein eklektischer Rückgriff und die Simplifizierung von Schlagwörtern stattgefun-
185 186
Rohkrämer: Eine andere Moderne? Stefan Breuer: Die radikale Rechte in Deutschland 1871–1945. Eine politische Ideengeschichte, Stuttgart 2010; ders.: Ordnungen der Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945, Darmstadt 2001.
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den zu haben.187 Diese Schlagwörter wurden in der Praxis des Adels meist eher assoziativ und weniger nach systematischen Gesichtspunkten eingesetzt. 2.3.1 Familie und Familienverständnis Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte in Familientheorie und -ideologie ein intensiver Diskurs über das Wesen der Familie ein.188 In ihm, so Dieter Schwab, „beginnt die Familie die Qualität eines handelnden Subjekts anzunehmen, den Charakter eines lebendigen Wesens, am deutlichsten dort, wo sich der Organismusgedanke ihrer annimmt. . . . Dieses Wesen kann handeln, nicht allein in seinem individuellen, sondern auch in seinem phänomenologischen Sein. . . . Vor allem wird von der Familie ausgesagt, daß mit ihr etwas geschieht (oder nicht geschehen darf), . . . ihr wächst das Element der Entwicklung zu . . . “189
Der meistgelesene Familientheoretiker dieser Umbruchphase war der Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl. Vor dem Hintergrund der Revolution von 1848 diagnostizierte Riehl in seinem 1855 erstmals erschienenen Buch „Die Familie“ den Bedeutungswandel beziehungsweise -verlust der Familie. Vor allem die Orientierung auf die Kleinfamilie im Bürgertum und die Familienlosigkeit der Arbeiter hätten zur Destabilisierung der Staaten im Deutschen Bund geführt und seien eine Ursache der Revolution von 1848. Zugleich entwarf er das Bild einer Idealfamilie, wie sie in einer konservativ-ständischen Gesellschaft aussehen sollte. Diese bestehe aus dem patriarchalischen ,ganzen Haus‘, das voller Harmonie und Sitte die negativen Kräfte der Moderne bändigen und als Fundament des Staates dienen sollte. „Es liegt in dem Wesen der Familie, daß sie das Beharrende, Feste sey, welches Geschlechter, Stämme, Nationen zusammenhält.“190 Dabei changiert Riehls Begriff des Hauses zwischen den Polen des „ganzen Hauses“ als einer Wirtschafts-, Konsum- und Wohngemeinschaft und einer verwandtschaftlichen Großfamilie. Beides, so 187
188
189 190
Vgl. zu solchen Prozessen selektiver, an Schlagwörtern orientierter, Rezeption konservativer, nationalistischer und radikalnationalistischer Schriftsteller u. a. Klaus Bergmann: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim 1970, S. 191–209. Vgl. zur Geschichte der Familie im 19. Jahrhundert allgemein Andreas Gestrich: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999; Gunilla Budde: Blütezeit des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Darmstadt 2009, S. 25– 42; Christa Berg: Familie, Kindheit, Jugend, in: Dies. (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. IV, 1870–1918. Von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg, München 1991, S. 91–146; Dieter Schwab: Familie, in: Brunner/Conze/Koselleck: Geschichtliche Grundbegriffe 2, Stuttgart 1975, S. 253–301; Ulrich Herrmann: Familie, Kindheit, Jugend, in: Ders./Notker Hammerstein (Hrsg.): Handbuch der Bildungsgeschichte. Bd. II: 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800, München 2005, S. 69–96. Schwab: Familie, S. 288f. Wilhelm H. Riehl: Die Familie. Stuttgart 1861, S. 273.
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Riehl, sei noch am ehesten im Bauernstand vorhanden, wo die Verwandten selbst in entferntesten Graden noch geachtet und im Namensvetter ein potenzieller Verwandter gesehen werde, hier gebe es noch ein „naive[s] Fortleben in der überlieferten Familiensitte“. Ähnlich verhalte es sich beim Adel, der auf seinen Hausgesetzen beruhe, die aber seit 50 Jahren missachtet würden.191 „Werden sie nicht befestigt und neu geordnet, dann ist der ganze Stand der Adelsaristokratie ein Schattengebilde der Doctrin. Hier erhält also der Staatsmann bereits die positive Aufgabe auf dem Wege der Gesetzgebung dem in dem Wesen seines Familienthums erst eigenartig werdenden Stande unter die Arme zu greifen.“192
Wo also im Bauernstand die naive Familiensitte als Grundlage noch lebendig war, waren im Adel die Hausgesetze als Grundlage des Familienlebens zwar noch vorhanden, wurden aber missachtet und bedurften der Wiederbelebung. Vor allem das Bürgertum müsse aber dringend zum „ganzen Haus“ zurückkehren und die Beziehungen der weiteren Verwandtschaft durch Familienverbände und die Familiengeschichte durch Hauschroniken intensiver pflegen. Hier waren alle Grundlagen einer Familiensitte verloren gegangen, und eine neue musste geschaffen werden.193 Denn „die französische Fassung socialer Freiheit unterscheidet sich von der deutschen wesentlich dadurch, daß sie das Individuum als solches selbständig und fessellos machen will, während es deutsch ist, in der Macht und Unabhängigkeit der Gesellschaftsgruppe und der Familie, welcher der Einzelne angehört, seine persönliche Unabhängigkeit mit eingeschlossen zu finden.“194
Durch die Geburt in eine Familie erhalte man seinen Stand und damit seinen Platz in der Welt. Der Individualismus habe hinter die Eingebundenheit in einen Gesellschaftsorganismus zurückzutreten. „Das ,Haus‘, hier nicht bloß gedacht als die gegenwärtige Generation, sondern als die große historische Kette unserer Familie in Vergangenheit und Zukunft ist es, vor deren Glanz und Macht das Interesse des Einzelnen verschwinden muss.“195 Ihr müsse sich der Einzelne opfern. Riehls „ganzes Haus“ basierte auf einem konservativ-organischen Gesellschaftsmodell, in dem das Gewachsene der Vergangenheit mit der Gegenwart und der Verantwortung für die Zukunft verknüpft wurde. Damit wurde ein vertikales Familienverständnis als Bewusstseinsgrundlage aller Gesellschaftsmitglieder propagiert. Daneben bezweckte Riehls Betonung der im Stand und in der Familie begründeten Freiheit und der Aufruf zu mehr Verwandtschaftssinn das horizontale Familienverständnis. Den Verzicht auf individuelle Verwirklichung und das Zurücktreten hinter die Erfordernisse des Standes forderte Riehl ebenfalls von allen Ständen. Der Unterschied der 191 192 193 194 195
Ebd., S. 177f.,. 290 u. 349. Ebd., S. 350. Vgl. ebd., S. 348f. Ebd., S. 258. Hervorhebungen im Original. Ebd.
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Stände lag für Riehl in den unterschiedlichen Grundlagen, die das Familienverständnis befestigten, nicht im Familienverständnis selbst: „Das Bürgerthum hat die naive Bauernsitte und den Cultus des Hauses abgestreift, es hat auch sein Familienleben nicht durch Hausgesetze gefestet. Darum muß es aber entschiedener noch als die beiden vorhergehenden Stände aus politischem Bewußtseyn zur strengen Zucht des Hauses zurückkehren.“196
Dass Riehl und andere Konservative ein solch einheitliches Familienmodell proklamierten, hing mit dem Versuch zusammen, einerseits die ständische Ordnung in Deutschland argumentativ zu begründen und andererseits konservative Grundlagen der nationalen Besonderheit der Deutschen zu benennen, die sich von denen der Liberalen unterschieden. Dadurch banden die Konservativen den Nationalismus in ein konservatives Weltbild ein. Die Familie lieferte alles dies: Lebensweise und kulturelle Eigenart der ,deutschen‘ Familie unterschieden sie von allen anderen. Riehl war in seiner Beschreibung der Familie permanent um Abgrenzung, vor allem gegenüber Frankreich und den USA, bemüht. Der Antiindividualismus des konservativen Familienbildes richtete sich gegen den Liberalismus. Und: Die hierarchische Struktur der Familie, die gestufte Unterschiede inkorporierte und die vom (Haus-)Vater und nicht den Gesamtmitgliedern beherrscht wurde, fand ihr Ebenbild im Staat, der ebenfalls von sozialer Ungleichheit geprägt und vom Monarchen, nicht aber durch eine Volksrepräsentation, beherrscht werden sollte.197 Seit den 1890er Jahren wurde dieses konservative Familienverständnis in der völkischen Bewegung und der radikalen Rechten aufgegriffen und rassisch-biologisch umgedeutet. Das ,Blut‘ wurde zu einem zentralen Element in der Argumentationskette. An der Familie wurde jetzt stärker der biologische als der sittlich-erzieherische Teil der Reproduktion betont.198 Dies veränderte die Rolle der Frau und Mutter. Hatte diese bisher durch die Erziehung der Kinder und Jugendlichen für die Gesellschaft gesorgt, richtete sich nun das Augenmerk auch auf ihr biologisches ,Kapital‘. Dadurch war nicht mehr nur ihr eigentümliches Wirken, sondern auch das Wirken des ,Blutes‘ ihrer Vorfahren bedeutsam. Verantwortlich dafür war die Rezeption verschiedener ideologischer und wissenschaftlicher Strömungen in den Kreisen der rechten Bewegungen. Dazu gehörte unter anderem eine neue Genealogie, die sich zwischen Geschichts- und Naturwissenschaft ansiedelte und schnell Anschluss an eugenische und rassenhygienische Diskurse fand. Die Stammbäume und die aufgrund der gleichmäßigen Berücksichtigung männlicher und weiblicher Aszendenz bald wichtigeren Ahnentafeln, die 196 197 198
Ebd., S. 350. Vgl. dazu ausführlich Avraham: In der Krise der Moderne, S. 263–293; Greiffenhagen: Das Dilemma des Konservatismus, S. 157–159. Martin Zwilling: Mutterstämme – Die Biologisierung des genealogischen Denkens und die Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft von 1900 bis zur NS-Zeit, in: TAJB 36/2008, S. 29–47, hier S. 46.
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diese neue Genealogie lieferte, stellten für diese Diskurse die Materialbasis für Forschungen zur Vererbungslehre dar, die seit der Wiederentdeckung der Mendelschen Gesetze an Popularität und ,Plausibilität‘ gewannen und mit Darwins Lehre der Evolution der Arten kombiniert werden konnten.199 Damit einher ging der Aufstieg des Begriffs der „Rasse“, die eine unhintergehbare Grundlage des Volkes bilden sollte.200 Die Genealogie sollte mit ihren Methoden genau bestimmen, wer zum Volk gehöre und wer nicht. Zur Biologisierung trat also der Ethnonationalismus. Das Volk könne als erweiterte Familie begriffen werden, das auf der biologischen Ahnengemeinschaft und weniger auf kulturellen Faktoren beruhe, so Theoretiker der Neuen Rechten. Der in der Betonung von „Rasse“ und „Blut“ grundsätzlich angelegten Tendenz zur Demokratisierung wurde teilweise ein Riegel vorgeschoben, indem die gemeinschaftliche Abstammung zwar ein nationales Bewusstsein begründen, aber soziale Unterschiede keineswegs abschaffen sollte. Stattdessen sollten gesellschaftliche Konflikte in der „Volksgemeinschaft“ als einer höheren Idee still gestellt werden.201 Ähnlich wie im konservativen Denken bediente man sich der Metapher des „Volkskörpers“, die Ungleichheit im Rahmen des Ganzen bildlich umschreiben sollte.202 Die Biologisierung der Familie lässt sich in weiteren Begriffswandlungen beobachten. Hatte Riehl noch von der Familie als dem „Urgrund aller organischen Gebilde in der Volkspersönlichkeit“203 gesprochen, so wurden diese im Konservatismus beheimateten Schlagwörter nun biologisiert und in „Urzelle“204 oder „Keimzelle“205 transformiert. Zudem gewann die Familie eine neue zeitliche Dimension. Nach Hans Freyer, Vertreter der konservativen Revolution, repräsentierte die Familie „das gegenwärtige Dasein des ewigen, lebendigen Blutstroms eines Volkes.“206 Der Alldeutsche Ernst Hasse hatte die Zeitdimension bereits 1897 auf das gesamte Volk ausgedehnt: „das ,Volk‘, das als die imaginäre ,Gemeinschaft der Lebenden, der Toten und der noch Ungeborenen‘ über die Grenzen des individuellen Lebens hinaus reichte“207 . In einer anti-individualistischen und anti-liberalen sowie anti-sozialistischen Wendung fand die Familie gegenüber dem Individuum beziehungsweise der Klasse in den Gesellschaftsentwürfen der rechten Bewegungen stärkere Be199
200 201 202 203 204 205 206 207
Ebd.; Hans W. Schmuhl: Familiengeheimnisse. Genealogie, Rassenforschung und Politik in Deutschland, 1890–1939, in: Olaf Hartung/Katja Köhr (Hrsg.): Geschichte und Geschichtsvermittlung. Fschr. für Karl Heinrich Pohl, Bielefeld 2008, S. 71–84. Vgl. Breuer: Ordnungen der Ungleichheit, S. 47–76; Walkenhorst: Nation – Volk – Rasse, S. 86 u. 101. Der Konservatismus hatte sich Mitte des 19. Jahrhunderts noch der Gleichheit aller Menschen vor Gott bedient. Vgl. Avraham: In der Krise der Moderne, S. 75–91. Vgl. Walkenhorst: Nation – Volk – Rasse, S. 93f.; Gerstner: Neuer Adel, S. 112–116. Riehl: Familie, S. IV. FZ-Brauchitsch 24/1927, S. 1. FZ-Hoff 1/1922, S. 1. Zitat nach Breuer: Ordnungen der Ungleichheit, S. 249. Walkenhorst: Nation – Volk – Rasse, S. 90.
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tonung. Sie beziehungsweise die weiter gefasste Sippe bilde die Grundlage des Volkes.208 Dabei wurde gefordert, dass der Einzelne hinter die Gemeinschaft, also im Sinne der Radikalnationalisten hinter das Volk, zurücktreten müsse.209 Damit waren alle drei Ebenen des Riehlschen konservativen Familienverständnisses – Horizontalität, Vertikalität und Verzichtsdenken – in den Konzepten der neuen Rechten aufgesogen worden. Ergänzt wurde dieses neurechte Familienverständnis durch einen radikalen Ethnonationalismus und die veränderte weibliche Rollenzuschreibung, wurde doch jetzt den biologischen gegenüber den erzieherischen Fähigkeiten der Frauen gesteigerte Aufmerksamkeit zuteil. Wie verhielt es sich mit dem adligen Familienverständnis? In der Zeit nach 1800 hatten verschiedene Tendenzen zur Lockerung und Auflösung adlig-agnatischer Familienverbände beigetragen. Erstens hatte der liberale Eigentumsbegriff auf die Vorstellung von Erbrecht und Dispositionsfreiheit des Erblassers eingewirkt – eine langfristige Entwicklung, die vor allem bäuerliches und adliges Lehens- beziehungsweise Fideikommissrecht betraf. Teilweise als Folge, teilweise als Gegenmaßnahme führte dies zu einer Intensivierung der kleinfamilialen Beziehungen.210 Daneben wirkten auch allgemeine Entwicklungen der Zeit um 1800 auf die Übernahme kleinfamilialer Strukturen im deutschen Adel hin. Einerseits, weil das neue bürgerliche Familienbild auch auf den Adel seine Attraktion hatte211 , andererseits, weil sich die Bindekräfte der Großfamilie offenbar schon in den Jahren vor 1800 gelockert hatten.212 Die Bedeutung der Kernfamilie nahm zu, jene des weiteren Geschlechts nahm eher ab. Auch das Wissen Adliger über ihre Fa-
208 209 210 211
212
Vgl. Gerstner: Neuer Adel, S. 142–143. Walkenhorst: Nation – Volk – Rasse, S. 94 u. 129. Schwab: Familie, S. 288. Reif: Westfälischer Adel, S. 313–315. Zeitweilig z. B. Friedrich August Ludwig von der Marwitz, der allerdings, da seit den 1850er Jahren ein Aneignungsprozess durch die Konservativen stattfand, auch schon auf Entwicklungen der Zeit nach 1850 hinweist. Vgl. dazu Frie: Friedrich August Ludwig von der Marwitz, S. 43–72. Iris Carstensen: Friedrich Reichsgraf zu Rantzau auf Breitenburg (1729–1806). Zur Selbstthematisierung eines holsteinischen Adligen in seinen Tagebüchern, Münster/u. a. 2006, S. 208–221 u. 325–335, zeigt das voluntaristische Interesse an der Großfamilie. Matzerath: dem gantzen Geschlechte, S. 296–299; Claus Fackler: Stiftsadel und geistliche Territorien 1670–1803. Untersuchungen zur Amtstätigkeit und Entwicklung des Stiftsadels, besonders in den Territorien Salzburg, Bamberg und Ellwangen, St. Ottilien 2006, S. 125f.; Friederike v. Gadow: „daß kein Vetter seine Söhne nicht anders als Heinrich, Günther und Rudolph taufen lasse“. Persistenz und Wandel auf dem Weg in die Moderne. Geschlechtstage der Familie v. Bünau im 19. Jahrhundert, in: Marburg/Matzerath: Der Schritt in die Moderne, S. 169–197, hier S. 175f. u. 179; Heide W. Whelan: Adapting to Modernity. Family, Caste and Capitalism among the Baltic German Nobility, Köln/u. a. 1999, S. 105; Frie: Adel und bürgerliche Werte, S. 411f.; FG-Maltzan 1926, S. 318.
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miliengeschichte scheint bei den meisten, abgesehen von einigen Anekdoten, spätestens in der Generation ihrer Großeltern aufgehört zu haben.213 Um 1850 lässt sich das konservative Familienideal, wie es bei Riehl zu finden war, auch im Adel feststellen.214 Und eben als solches erschien das Familienverständnis im Adel – nicht als sein Spezifikum, sondern als Ideal für alle Stände. Dies zeigt sich in einer Definition, die in der Geschichte der Familie von Rochow 1861 präsentiert wurde: „Jeder von uns betrachte sich als das Glied einer Kette, welches bestimmt ist, eine ehrenvolle Vergangenheit an hoffnungsvolle Zukunft zu knüpfen, und dadurch den guten Klang eines Namens, wie er ihm aus dunkler Vorzeit überkommen ist, auf fernere Zeiten zu übertragen. Der einzelne Mensch, wie hoch er auch steht, wie begabt er auch sein mag, wie sehr er von äußeren Umständen begünstigt sein möge, bedeutet an sich selbst sehr wenig. Er erhält seine Bedeutung nur durch die Aufgabe, welche ihm von Gott für die Zeit seines Erdenlebens gestellt ist, und durch den Zusammenhang, in dem er sich mit Vorfahren, Zeitgenossen und Nachkommen befindet.“215
Dass es sich hier nicht um eine Definition eines Adelsfamilienideals handelt, wird in der Forderung deutlich, dass das Individuum hinter dem Stand zurückstehen müsse und sich an seinen Stand zu halten habe. Diese Aussage musste im Rahmen einer organischen Ständeordnung zwangsläufig auch auf die anderen Stände zutreffen. Die Familiengeschichte forderte also zur Anerkennung eines konservativen Familienideals auf. Die Kette und der „Zusammenhang“ bildeten die anderen beiden Ebenen des Riehlschen Familienkonzepts, so dass alle Elemente der Riehlschen Definition – Horizontalität, Vertikalität und Verzichtsdenken – präsent waren. Das adlige Familienideal war daher ein konservatives Ideal, das in allen Ständen befolgt werden sollte. Dieses konservative Familienverständnis scheint sich jedoch zunächst vorzugsweise im Adel ausgebreitet zu haben und lässt sich in beiden hier untersuchten Gruppen feststellen.216 Zwar pflegten auch Teile des Bürgertums weitere Verwandtschaftsverhältnisse und die Familienerinnerung. 213 214 215 216
Mit Blick auf die Gesamtfamilie beschreibt dies z. B. ebd. Für einzelne Beispiele Frie: Adelsgeschichte des 19. Jahrhunderts? S. 408f. Leo Amadeus Graf Henckel Donnersmarck: Reform des Adels, überhaupt des Erbganges im ländlichen Grundbesitz, Berlin 1868, S. 6. FG-Rochow 1861, S. IIIf. Stellungnahme des Grafen Carl Adelmann v. Adelmannsfelden, Rottenburg 17.2.1878, in: STALB – PL13, Bü. 850, unpag., S. 1f.; FG-Aufseß 1888, S. V; An die Ritterschaft Schwabens, o.O. Georgi 1867, in: STALB – B139a, Bü. 753, unpag., S. 2. Außerdem: FG-Reichlin 1881, S. IV; FG-Schilling 1905, S. III u. 262; FG-Stetten 1998, S. I. Frhr. Leopold v. Bodman an Frhr. Franz v. Bodman, Freiburg 10.3.1890, in: GBAB – A1777, unpag., S. 4; Anmerkungen der v. Woellwarth, Hofer v. Lobenstein u. v. Ow zum Entwurf eines Adelsgesetzes in Württemberg, o.O. 6.10.1857, in: STALB – PL20/VI, Bü. 356, unpag., S. 3; Abschrift des Testaments Konrad Frhr. Thumb v. Neuburgs, Unterbohingen 10.6.1909, in: AStG – Bü. 369, unpag., S. 3; Fideikommissstatut der Schilling v. Canstatt, Hohenwettersbach 24.2.1818, in: FG-Schilling 1905, S. 235; Äußerung über den vorläufigen Entwurf eines Gesetzes betreffend die Aufhebung der Fideikommisse, Stuttgart 9.12.1919, in: STALB – PL20/IV, Bü. 19, unpag., S. 5. Ähnliche Hinwendungen zum Ge-
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Es kam aber zu keiner solchen Organisierung wie im Adel, und es entstanden auch keine Familiengeschichten, wie sie vom Adel aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so zahlreich überliefert sind. Das Bürgertum selbst hielt in der Wahrnehmung des Adels an seinem Kleinfamilienideal fest, und die Arbeiterschaft orientierte sich eher an bürgerlich-liberalen als an adligkonservativen Standards.217 Die Biologisierung des konservativen Familienverständnisses, die in der völkischen Bewegung und der radikalen Rechten seit der Jahrhundertwende erfolgte, wurde spätestens seit den 1920er Jahren im Adel nachvollzogen, wobei sich besonders die DAG als treibende Kraft etablierte. Deren Positionen und Aktionen wurden allerdings auch im südwestdeutschen Adel verfolgt und zum Teil nachvollzogen.218 Anpassung und Betonung des adligen Vorrangs fanden auf fünf Ebenen statt. (1.) Das adlige Geschichtsverständnis musste an das gewandelte, neurechte Familienverständnis angepasst werden. Vorreiter war hier der Adel östlich der Elbe und die von ihm dominierte DAG. Letztere bemühte sich seit den 1920er Jahren, eine sich an rassischen Kriterien orientierende Adelsmatrikel aufzubauen. Hierzu sollten die adligen Interessenten die fünf Generationen zurückreichende 32er-Ahnenreihe einreichen. Nach 1933 wurde dies für die Mitglieder der DAG zur Pflicht. Wenn die Leitung der DAG aber feststellte, dass etwa 50 % der Adligen dazu gar nicht in der Lage waren, sie nicht über das nötige Wissen verfügten219 , so zeigt sich darin die Verschiebung im adligen Geschichtsverständnis. Für etwa ein Jahrhundert hatte die weibliche Linie im Geschichtsverständnis des Adels praktisch keine Rolle gespielt. Dementsprechend hatte sich auch niemand um deren Erforschung bemüht. Stattdessen hatte man sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts auf die weitest mögliche Erforschung der männlichen Stammlinie konzentriert.220 Dass Werner von Alvensleben 1931 den Vorwurf „jüdischen Blutes“ damit konterte, er könne seine Vorfahren mit kurzer Unterbrechung bis ins Jahr 800 zurückverfolgen, spiegelt das Aufeinanderprallen der unterschiedlichen Konzeptionen. Denn natürlich konnte er nicht bis ins Jahr 800 zurück beweisen, von „jüdischem Blut“ im Sinne einer arischen Ahnentafel frei zu sein, vielmehr wollte er auf eine sehr alte Stammreihe verweisen, deren Bedeutung lange dominant gewe-
217
218 219 220
schlecht in den 1860er Jahren lassen sich auch im deutsch-baltischen Adel beobachten. Vgl. Whelan: Adapting to Modernity, S. 109. Kuhn, Riehl; Claudia Hiepel: Die katholische Arbeiterfamilie im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914/18. Programm, Praxis und Prägung, in: Andreas Holzem/Ines Weber (Hrsg.): Ehe – Familie – Verwandtschaft. Vergesellschaftung in Religion und sozialer Lebenswelt, Paderborn 2008, S. 401–420; Wolfgang Kaschuba: Lebenswelt und Kultur der unterbürgerlichen Schichten im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990, S. 26–28. Vgl. die verschiedenen Zusammenfassungen aus dem Jahr 1936 in: AStG – Bü. 370, unpag. Malinowski: Vom König zum Führer, S. 56 u. 336–356. Godsey: Vom Stiftsadel zum Uradel, S. 371–391.
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sen war.221 Die Verschiebung der Anforderungen an Frauen von sittlichen zu biologischen Kriterien erhöhte nun aber auch die Bedeutung der weiblichen Vorfahren. Daher versuchte man, der mangelnden Kenntnis der weiblichen Linie abzuhelfen. Seit den 1920er Jahren lassen sich in adligen Familiengeschichten verstärkt Ahnentafeln nachweisen. Etwas, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Ausnahme dargestellt hatte, wurde jetzt eher zur Regel. Daneben engagierte man als Autoren auch gezielt Anhänger der neuen ,Lehren‘. Die Familie von Helldorff ließ ihre Familiengeschichte von Ernst Devrient, Thüringer Archivar und Anhänger der neuen Genealogie, schreiben. Die Familie von Zepelin beauftragte den NS-Sippenforscher Erich Wasmansdorff mit der Aktualisierung ihrer Familiengeschichte222 und wurde im Deutschen Adelsblatt dafür gelobt. Es handele sich „in der Tat nach Form und Inhalt [um] eine Sippengeschichte neuen Stils“, die unter „Anwendung der Grundsätze moderner Sippenforschung und wissenschaftlicher Darstellungsweise“223 entstanden sei. Andererseits konnten die Wandlungen des adligen Geschichtsverständnisses während des 19. Jahrhunderts dadurch verdeckt werden, dass man die frühneuzeitlichen Ahnentafeln wieder aus den Archiven hervorholte. Diese wurden von einem Relikt vergangener Zeiten zu einer wichtigen Argumentationsstütze. Vorschub wurde dieser Reinterpretation der Ahnentafeln auch von Seiten der neurechten Theoretiker geleistet. So schlug der Völkische Friedrich Lange 1904 ihre Popularisierung vor, weil durch Ahnentafeln und Geschlechtsverzeichnisse „der Namensadel und die städtischen Patriziergeschlechter ihre Angehörigen zur Aufmerksamkeit und zur Ehrfurcht vor dem Werte des guten Blutes erzogen“ hätten – durch Ahnentafeln sei „jede eheliche Vermischung mit nichtarischem Blute durch öffentliche Bekanntmachung geächtet“ worden.224 Hier wurde das Geschichtsverständnis den neuen Bedürfnissen angepasst, wobei dieser Anpassungsprozess durch den Rückgriff auf die Zeit vor 1800 gleich wieder kaschiert wurde. (2.) Der Adel musste sich als Bewahrer der Familie darstellen. Den auch in den Reihen des Adels beklagten Tendenzen der Auflösung der Familie, die durch die wirtschaftliche Entwicklung und wachsende Mobilität225 in den „ei-
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Vgl. Malinowski: Vom König zum Führer, S. 49; FZ-Brauchitsch 28/1930, S. 2. Vgl. FG-Helldorff 1931; FG-Zepelin 1938. Zu Devrient und Wasmansdorff vgl. Zwilling: Mutterstämme, S. 35 u. 44. Zur neuen Bedeutung der Ahnentafeln vgl. außerdem FGMarwitz 1929; Der 28. von Alvenslebensche Familientag 1928, Magdeburg 12.3.1928, in: LHASA-WR – Rep. H Erxleben II, Nr. 80, S. 9. Zitat nach NN: Familiengeschichte – ihre Ergänzung und Fortsetzung, in: FZ-Zepelin 4/1939, S. 12. Zitat nach Breuer: Ordnungen der Ungleichheit, S. 65. Vgl. Constantin v. Zepelin: Die Bedeutung der Pflege des geschichtlichen Sinnes und der Tradition der Familie für unser deutsches Volk, in: FZ-Zepelin 1/1931, S. 1.
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gensüchtigen Zeiten“226 vor dem Ersten Weltkrieg verursacht worden seien, musste entgegengewirkt werden – da waren sich die Adligen beider Untersuchungsgruppen einig. Daher sei es gut, so die pommersche Familie von Dewitz 1909, sich „der hohen sittlichen Vorzüge und großen materiellen Vorteile, welche die Zugehörigkeit zu einer treu zueinander stehenden Geschlechtsgemeinschaft so herzerwärmend zu bieten vermag, im verwandtschaftlichen Festverkehr [des Familientages] recht voll bewußt zu werden“.227 Die Familiengeschichte der badischen Schilling von Canstatt bezeichnete „Familiensinn als das Grundgefühl aller Gefühle für das Vaterland“.228 Und die hannoverschen von Dassel betonten schließlich: „Jede derartige, auf Jahrhunderte lange Verwandtschaft gestützte Verbindung trägt das Ihrige dazu bei, einen Damm zu bilden, gegenüber den jetzt so sehr hervortretenden anarchistischen Bestrebungen, welche auf Umsturz der heiligsten Güter der herrschenden Gesellschaftsordnung, auf Beseitigung der Religion, der Familie und des Eigenthums gerichtet sind.“229
Die adligen Familienverbände konnten als Ausdruck des im Adel herrschenden vorbildlichen Familiensinns präsentiert werden. Die entstehenden bürgerlichen Familienverbände konnten als Rezeption des adligen Modells gewertet werden. Der Adel als Liberalismuskritiker des 19. Jahrhunderts dürfte in der Liberalismuskritik und dem Antiindividualismus, die in der Betonung der Sippe durch die rechten Bewegungen zum Ausdruck kamen, eine Bestätigung seiner Position gefunden haben. War die Lage der Familie vor 1914 in der adligen Wahrnehmung schon kritisch gewesen, so spiegelte sich der allgemeine ,Niedergang‘ nach 1918 aus seiner Sicht auch im Zustand der deutschen Familie. Adolf von Brauchitsch meinte 1927 zu beobachten: „Noch fast schlimmer als im vergangenen Jahre bekämpfen sich die Parteien, statt, daß die Volksgenossen sich zusammenschließen gegen die Umwelt von Feinden, leben sie sich immer weiter auseinander und nicht unbeachtliche Kräfte sind am Werke, die Urzelle des Staates, die Familie langsam aber sicher zu zerstören.“230 226
227 228 229 230
Protokoll des 46. Familientages der Familie von Dewitz, Stettin 20.10.1909, S. 10, in: APS – Archiwum rodu Dewitz-Wussow, Nr. 80, unpag.; Umlaufschreiben des Seniors der Frhrn. Roeder v. Diersburg, Freiburg 25.4.1903, in: GLAK – 69 Roeder v. Diersburg, Karton 42, Fasz. I, Nr. 10, unpag., S. 2. Gesellschaftliche Differenzierung, so die Wahrnehmung um 1900, führe zu familiärer Desintegration. Vgl. dazu Paul B. Hill/ Johannes Kopp: Familiensoziologie. Grundlagen und theoretische Perspektiven, Wiesbaden 2004, S. 79. Protokoll des 46. Familientages der Familie von Dewitz, Stettin 20.10.1909, S. 10, in: APS – Archiwum rodu Dewitz-Wussow, Nr. 80, unpag. FG-Schilling 1905, S. III. Hervorhebung im Original. Hermann v. Dassel: Mittheilungen an die Mitglieder der Familie von Dassel, in: FZDassel 1–2/1890, S. 6. FZ-Brauchitsch 24/1927, S. 1; Hildegardis Wulff : Fragen und Probleme der Frauenbildung und Frauenberufstätigkeit. Vortrag auf der 5. außerordentlichen Mitgliederversammlung des Vereins kath. Edelleute Südwestdeutschlands, Baden-Baden 5./6.4.1927,
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Folglich ermahnte er seine eigene Familie zu festem Zusammenhalt. Ebenso konnte dann freilich einige Jahre später die sich in breiteren Bevölkerungskreisen bemerkbar machende Erforschung der Familiengeschichte als Hoffnungsschimmer gewertet werden, der direkt in Relation zum Ganzen gesetzt wurde: „Wo Kräfte aller Art die Familie zu zerstören versuchen, da bedeutet die Beschäftigung mit der Familiengeschichte wohl ein Sichbesinnen auf die moralische Notwendigkeit der Familie und ihre Bedeutung als Keimzelle des Staates für das Leben unseres Vaterlandes. Und so kann man wohl auch in der Arbeit der Familienforscher ein erfreuliches Zeichen dafür sehen, daß nicht kleine Teile unseres Volkes, vielleicht manche allerdings noch unbewußt, mitarbeiten am Wiederaufbau unseres Vaterlandes.“231
(3.) Die konsequente Anwendung des biologisierten Familien- und Geschichtsverständnisses konnte als Argument für einen adligen Führungsanspruch genutzt werden. Schon 1908 hatte Georg Schmidt, Genealoge und Autor zahlreicher durch Adelsgeschlechter in Auftrag gegebener Familiengeschichten, geschrieben: „Eine Reihe von Ahnentafeln“ sei der Geschichte des Geschlechts von Bismarck beigegeben. „Denn ganz abgesehn davon, daß man in neuester Zeit wegen der Theorie der Vererbung auch auf die Kenntnis der mütterlichen Vorfahren Wert legt“, könne es interessant sein, „mit Hülfe der Ahnentafeln [...] zu ergründen, welche verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen ihm und dem Manne obwalten, welcher für alle Zeiten den Namen Bismarck unsterblich gemacht hat.“232 Die gehobene Bedeutung der weiblichen Abstammungslinie bot aber noch ganz andere Möglichkeiten. So tauchen in den Familienzeitungen der 1920er immer wieder Abstammungslinien von Karl dem Großen auf. Gegen Gebühren war die DAG bei der Anfertigung solcher Abstammungslinien auch behilflich.233 Was auf den ersten Blick als Skurrilität erscheint, dürfte hohe Symbolkraft besessen haben: Dadurch, dass die weibliche Linie aufgewertet wurde, ließen sich (vermeintlich) mannigfache Blutsverbindungen auch des niederen Adels mit Karl dem Großen nachweisen, der in so manchem Adligen im Verständnis der 1920er Jahre ,fortlebte‘, so wie man mit Bismarck das Ahnenerbe ,teilte‘ – gab es einen
231
232 233
in: GLAK – 69 Oberndorff, A109, unpag., S. 8; Vorschlag zur Wiederaufnahme des althergebrachten und von Kaiser Franz II. 1793 zum Orden erhobenen schwäbischen Ritterkreuzes durch die Frhrn. von Freyberg-Eisenberg, Allmendingen 24.12.1919, in: AStG – Bü. 137, unpag., S. 2; Protokoll des Familientags der Göler v. Ravensburg, Sulzfeld 12.6.1930, in: GLAK – 69 Göler v. Ravensburg, A50.1, unpag., S. 2f. FZ-Brauchitsch 28/1930, S. 1; Aufruf an den Deutschen Adel von Frhr. Friedrich v. Gaisberg-Schöckingen, Dez. 1909, in: STALB – PL20/VI, Bü. 358, unpag., S. 2; Peter Frhr. v. Mentzingen: Von der ehemals reichsunmittelbaren Ritterschaft und Anderem. Heidelberg 1931, S. 5. FG-Bismarck 1908, S. VI. Diese Reihe war allerdings von einem weitgehend bürgerlichen Herausgeberkreis initiiert worden. Wienfort: Der Adel in der Moderne, S. 121. Auch Gustav Wasa und Widukind konnten zu den Zielpersonen der Vorzeit gehören.
2. Adelskonzepte und Gesellschaftsentwürfe: 1860er bis 1930er Jahre
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besseren Beweis für den eigenen Führungsanspruch als die Blutgemeinschaft mit dem mittelalterlichen oder dem neuzeitlichen ,Reichsgründer‘?234 (4.) Die Biologisierung der Familie konnte als gesamtgesellschaftliche Rezeption adliger Verhaltensweisen interpretiert werden. So stellte das Vorwort der Familiengeschichte der schwäbischen von Ow schon vor dem ersten Weltkrieg fest: „Unsere Zeit steht trotz der Ueberspannung der Begriffe von ,Zuchtwahl‘ und ,Entwicklung‘ den adeligen Standesbegriffen und der aristokratischen Sorge für Rassenreinheit und Veredelung apatisch wenn nicht feindlich gegenüber; und doch sollte man erwarten, daß gerade modernste Kreise adeliges Standesbewußtsein zu würdigen wüßten.“235
Dies hatte sich bis 1937 geändert, als der sächsische Adlige Dietrich von Bose in seiner Rede während des Essens auf dem Familientag „nach altem Brauch . . . die Pflichten des Adels ins Gedächtnis zurück . . . [rief]“ und dazu unter anderem die „Pflege des Stammes und Reinerhaltung unseres Ahnenerbes“ zählte.236 Freilich war die Traditionalität, die er beanspruchte, vor allem ein Anspruch. Um jedoch beim biologischen Familienverständnis vorbildlich sein zu können, musste die „Reinerhaltung“ traditionalisiert werden und tief in der Geschichte verankert werden. Ein anderer Vorrang war nicht möglich. Dass sich breitere Bevölkerungskreise jetzt ebenfalls darum bemühten, konnte durch die historische Verankerung dann aber als Übernahme adliger Werte gewertet werden.237 Daneben konnte der Begriff der Ebenbürtigkeit von Heiratspartnern von einem ursprünglich soziologischen Konzept in ein biologisch-rassisches Konzept umgedeutet werden, was eine Ebenbürtigkeit der Bauerntochter mit dem Adligen bedeuten konnte.238 So argumentierte Rudolf v. Hoff, dass der „Gedanke der Auslese sich, vermutlich schon in vorgeschichtlichen Zeiten, in der Ebenburt ausgeprägt [hat], der die Geschichte unserer Stände beherrscht hat. Diese Forderung hat es mit sich gebracht, daß einst nicht nur der Adel, sondern auch der Bürger und nicht zum wenigsten der Bauer seine Ehegattin aus dem eigenen Kreise wählte. Das führte zu einer scharfumgrenzten Rasse, die allen Gefahren der Zersetzung zähen Widerstand leistete.“239
Ebenbürtigkeit wurde so vom Mechanismus sozialer Abschließung zum Grundbaustein der Rassenerhaltung in der Frühzeit umdefiniert. Ähnlich verfuhr der Mediävist Otto von Dungern, der sogar glaubte, mittels der 234 235 236
237 238 239
Solche Abstammungslinien z. B. FZ-Ditfurth 1/1925, S. 11–13. FG-Ow 1910, S. III. Rede Dietrich v. Boses anlässlich des Familienessens, o.O. o.D. (Unterfrankleben 9.10.1937), in: LHASA-WR – Rep. H Frankleben, Nr. 1288, S. 13. Die Aussage eines Dr. Gütt auf einer Tagung der DAG 1936 bezeugte ebenfalls, dass sich die Gewichte verschoben hatten. Er sagte: „Es gibt keine Familienpflege, ohne auf den Adel einzugehen.“ Sitzung der DAG, Berlin 16.–17.10.1936, in: AStG – Bü. 370, unpag., S. 1. Vgl. Malinowski: Vom blauen zum reinen Blut. Vgl. Zwilling: Mutterstämme, S. 33. Richard v. Hoff : Niedergang und Aufstieg in Volk und Familie, in: FZ-Hoff 1/1930, S. 134.
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Vererbungslehre einen naturwissenschaftlichen Gehalt des Adels bestimmen zu können. Rechtliche und soziale Vorrechte seien nur Ausdruck dieser biologischen Verschiedenheit gewesen.240 Allerdings bestand das Problem dieser Argumentationslinie auch in den Augen ihrer Vertreter darin, dass ein guter Teil des Adels in der Gegenwart nicht mehr als biologische ,Auslese‘ gelten konnte, da er sich mit anderen Ständen ,vermischt‘ hatte und sich die Rassen der Frühzeit damit aufgelöst hatten. Als Zukunftsvision stand daher ein germanischer Rassenadel vor Augen, der zumindest Teile des alten Adels inkorporieren konnte und damit an die Entwürfe der rechten Bewegungen anschloss. Dieser Rassenadel war nicht länger an den Ständen orientiert, sondern an den rassisch wertvollen Teilen des Volkes. Dies hatte auch den Vorteil, dass jetzt adlige Heiraten mit Bürgern oder Bauern als ebenbürtig im neuen, rassischen, Sinne gelten konnten. Horst von der Chevallerie stellte 1933 in der Familienzeitung die Ahnentafel seines Sohnes vor, die adlige und bürgerliche Vorfahren, Edelmänner und „Schneidermeister“ enthielt. „Wege zur Volksgemeinschaft“, meinte er, „könnten auch aus solcher Erkenntnis gefunden werden. Denn gäbe es eine natürlichere Gemeinschaft, als die des Blutes?“241 Indem die verschiedenen adligen, bürgerlichen und bäuerlichen Vorfahren seines Sohnes dargestellt wurden, schob von der Chevallerie statt des Standes die „Volksgemeinschaft“ in den Vordergrund, und der Adel wurde in diese fest integriert. Allerdings drohte dabei der Unterschied zum Rest der Bevölkerung zu verschwimmen, drohte Adel sich vollständig aufzulösen. Um dem entgegenzuwirken und den Adel nicht aus der „Volksgemeinschaft“ herauszulösen, bot sich daher an, die ,Reinrassigkeit‘ im höchst möglichen Grade zu beweisen. 242 (5.) Der Adel musste dazu jeden Verdacht der biologischen Degeneration abschütteln, und zwar in einer Weise, die seinen Vorrang manifestierte. Bereits mit dem 1912–1914 veröffentlichten antisemitischen, die jüdische ,Rassenvermischung‘ des Adels angeblich bekannt machenden Semi-Gotha war Unruhe in den Adel gekommen. Die Adelsmatrikel „Eisernes Buch deutschen Adels deutscher Art“ (EDDA), die in den 1920er Jahren entstand, bemühte sich, diese Vorwürfe zu widerlegen. Eine erneute Verschärfung der Anschuldigungen gegen den Adel erfolgte dann seit 1933. Die DAG sah sich in diesem Zusammenhang nicht nur dazu bemüßigt, die „Reinrassigkeit“ des Adels im Rahmen der bestehenden Gesetze als Voraussetzung der Mitgliedschaft zu fordern. Walter von Bogen, Hauptgeschäftsführer der DAG, bemerkte: „Wenn von dem Beamten 4 arische Grosseltern verlangt werden, wenn das Erbhofgesetz arische Ahnen bis 1800 verlangt, so kann und muss der Adel wesentlich
240 241 242
Zu v. Dungern vgl. Zwilling: Mutterstämme, S. 33–35 u. 44. Horst v.d. Chevallerie: Ahnenforschung, in: FZ-Chevallerie 3/1933, S. 23. Hervorhebung im Original. Vgl. ebd.
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höhere Anforderungen stellen.“243 Dazu gehöre auch, dass man die Anforderungen der SA und SS übertreffen müsse.244 Horst von der Chevallerie hatte bereits 1933 428 Ahnen seines Sohnes ermittelt, nahezu geschlossen behauptete er, sie bis in die siebte Generation zurückführen zu können, in ihren Spitzen sogar bis in die sechzehnte.245 Eine Ausnahme von der rassischen Verformung des Familienverständnisses scheint auf den ersten Blick der katholische Teil des ehemals reichsritterlichen Adels in Südwestdeutschland zu bilden. Pater Adalbert (Graf) Neipperg sprach 1923 auf einer Tagung des „Vereins katholischer Edelleute Südwestdeutschlands“ davon: um die Probleme der Gegenwart zu lösen, „müssen wir in der kleinen Welt unserer nächsten Umgebung anfangen, in der Familie und von da aus den Kreis immer weiter ziehen, je nach unserer Aufgabe und Lebensstellung. Hier hat die Edelfrau ihre ebenbürtige Aufgabe neben dem Edelmanne und gerade die Familie ist ja ihr besonderer Wirkungskreis. Hier soll sie als wahre Priesterin das Feuer katholischen Lebens und Geistes hüten und nähren, vor allem in den Herzen ihrer Kinder. Und der Mann trägt das Feuer vom heimischen Herd in die Welt, hinaus ins Leben, er steht als Katholik auf seinem Posten und trägt katholisches, übernatürliches Leben in die Oeffentlichkeit.“246
Eine Stabilisierung der Gesellschaft sollte also vor allem durch die christliche Refundierung der Kleinfamilie gelingen, in der alle Tugenden vermittelt werden sollten. Von dort aus sollte die patriarchalische Adelsfamilie auf die dörfliche Bevölkerung als Vorbild wirken.247 Neben der Kleinfamilie wurde hier auch das ,ganze Haus‘, das die Bediensteten einschloss, stärker betont als die adlige Großfamilie. Insgesamt, so scheint es auf den ersten Blick, blieb das Familienmodell des katholischen Adels stärker von der Religion durchdrungen.248 Dies ist allerdings nur die eine Seite. Denn bei genauem Hinsehen zeigt sich, dass zwar die christlichen Werte betont und in den Vordergrund geschoben wurden, dass dieses christliche Familienverständnis aber ebenfalls durch rassisch-biologische Theoreme unterhöhlt worden war. So sprach Pater Sebastian von Oer davon: Die Gesellschaft „in Christo zu erneuern“, sei nur über die Familie möglich. „Sie ist ja die Keimzelle und das Heiligtum der Menschheit.“249 Doktor Otto Schürmann, der auf der Versammlung südwest243 244 245 246
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Zitat nach Malinowski: Vom König zum Führer, S. 350. Vgl. ebd., S. 350–354 u. 530. Vgl. Horst v.d. Chevallerie: Ahnenforschung, in: FZ-Chevallerie 3/1933, S. 23. Ansprache auf der 2. ordentliche Mitgliederversammlung des Vereins kath. Edelleute Südwestdeutschlands, Beuron 15.5.1923, in: GLAK – 69 Oberndorff, A109, unpag., S. 2. Vgl. dazu auch Pahl: Adalbert Graf Neipperg, S. 78. Pater Sebastian von Oer sprach davon: das „adelige Haus“ solle zu einem Vorbild werden für „die christliche Familie“. Bericht über die 2. ordentliche Mitgliederversammlung des Vereins kath. Edelleute Südwestdeutschlands, Beuron 15.5.1923, in: GLAK – 69 Oberndorff, A109, unpag., S. 4. Ebd., S. 5f. Malinowski: Vom König zum Führer, S. 326. Bericht über die 2. ordentliche Mitgliederversammlung des Vereins kath. Edelleute Südwestdeutschlands, Beuron 15.5.1923, in: GLAK – 69 Oberndorff, A109, unpag., S. 7.
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deutscher Edelleute einen Vortrag über „Das christliche Arbeitsethos“ hielt, kritisierte den Individualismus, denn durch ihn werde der Mensch „herausgerissen aus der Tradition der Geschichte, aus dem autoritativen Gefüge von Staat und Kirche und aus den von Gott zugelassenen organischen Abhängigkeiten von Rasse, Volk, Familie und Stand“250 . Ein Jahr später sprach Peter Freiherr von Mentzingen von der Familie als „Urzelle“ des Staates.251 Hier waren also die biologisierten Begrifflichkeiten der Familie das Fundament der christlichen Familienauffassung geworden. Der Adel in Nordostdeutschland und Südwestdeutschland vertrat somit das konservative Familienverständnis, dass seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, besonders durch Wilhelm Heinrich Riehl, popularisiert worden war, und rezipierte seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts völkische und radikalnationalistische Strömungen, die das Familienverständnis rassisch-biologisch reinterpretiert hatten. Diese Interpretationen der Leitidee ,Familie‘ waren stets Bestandteil eines konservativ-ständischen Gesellschaftsentwurfs. Blickt man auf die Entwicklungen in den Untersuchungsgruppen nach 1900, so erscheint die Rezeption der rassisch-biologischen Veränderungen in Nordostdeutschland, besonders gefördert durch die DAG, stärker ausgeprägt gewesen zu sein als in Südwestdeutschland. Doch grundsätzlich waren die Theoreme auch in Südwestdeutschland angekommen und ins Vokabular aufgenommen worden, wie der katholische ehemals reichsritterschaftliche Adel zeigt. Zudem musste sich auch der Adel Südwestdeutschlands nach 1933, als sich die DAG zur offiziellen Vertretung des Gesamtadels im nationalsozialistischen Staat aufschwang, deren Forderungen anpassen. Bemühungen, adligen Vorrang zu betonen, waren vorhanden. Aber es waren unsichere Mittel zur Statusbewahrung, da nicht alle Adligen den Vorrangansprüchen genügten und der Vorranganspruch anhand der Ahnentafel objektiv messbar geworden war. 2.3.2 Grundbesitz, Landbindung und Agrarromantik Als einer der Begründer der wissenschaftlichen Landwirtschaft hat sich Johann Albrecht Thaer zu Beginn des 19. Jahrhunderts in seinem Werk „Grundsätze der rationellen Landwirthschaft“ (1809–1812) auch mit der Berufswahl des Landwirts und dessen Verhältnis zum Grundbesitz beschäftigt. Was die Berufswahl anbelangte, ging er davon aus, dass das schlichte Ererben noch keine hinreichende Motivation für die zweckmäßige Bewirtschaftung eines Gutes bilde. Vielmehr solle jener, der keine Berufung zur 250
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Otto Schürmann: Das christliche Arbeitsethos. Vortrag auf der 2. ordentliche Mitgliederversammlung des Vereins kath. Edelleute Südwestdeutschlands, Beuron 15.5.1923, in: GLAK – 69 Oberndorff, A109, unpag., S. 5. Bericht über die 2. außerordentliche Mitgliederversammlung des Vereins kath. Edelleute Südwestdeutschlands, Freiburg 21./22.10.1924, in: Ebd., unpag., S. 4.
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Landwirtschaft fühle, lieber auf andere Weise oder durch Renten sein Leben finanzieren. Damit würde er nicht nur sich selbst, sondern auch dem Allgemeinwohl dienen. Der Beruf war somit etwas, was bewusst gewählt werden sollte – er glich einer Berufung. Wenn jemand hingegen beides, ererbtes Gut und Neigung zur Landwirtschaft, besitze, so sei dies eine gute, wenn auch aus streng rationalen Gründen noch immer nicht hinreichende Bedingung. Was aber das Verhältnis zum Grundbesitz anbelangte, legte Thaer für die rationale Landwirtschaft strenge Kriterien an: „Wer ein Landgut sucht, muß, um es auf das vortheilhafteste zu erhalten, weit umherschauen, und sich nicht auf einen Distrikt, Provinz oder Staat beschränken, weil er um desto besser wählen kann, je mannigfaltiger die Gegenstände seiner Wahl sich ihm darstellen. Wer Vaterlandsliebe besitzt, die sich auf Anerkennung wahrer Vorzüge der Verfassung gründet, wird hierin mit Recht eine Bestimmung finden, sich für ein Landgut in diesem Staate eher zu entscheiden. Aber eine bloße Vorliebe des Mutterlandes kann nicht in Betracht kommen, wenn von der Aufgabe die Rede ist, die der Landwirth als solche zu lösen hat. . . . Dasjenige Landguth wird immer zu wählen seyn, welches, nach gehöriger Erwägung aller Umstände, den möglich höchsten reinen Ertrag verspricht, versteht sich nach Verhältniß der Kräfte des Besitznehmers.“252
Thaer legte also Wert darauf, dass sich der Landwirt an rationalen wirtschaftlichen, ja kapitalistischen Kriterien bei der Wahl seines Gutes orientierte. Nebenabsichten könnten zwar auch einbezogen werden, lägen aber außerhalb der von ihm beabsichtigten Darstellung einer rationellen Landwirtschaft. Gegen eine solche kapitalistische Sicht auf den Grundbesitz, die Berufswahl und das Verhältnis zum ererbten Land wandte sich einer der frühen Konservativen und gab damit den Grundtenor des konservativen Verhältnisses zum Grundbesitz vor.253 In seinem kurzen Text zur „Taxation des Grundeigentums“ von 1812 schrieb Adam Müller:254 252 253
254
Johann Albrecht Thaer: Grundsätze der rationellen Landwirthschaft. Bd. 1, Berlin 1809, S. 20. Es gab bereits vor 1800 agrarromantische Strömungen in Deutschland. Diese richteten sich aber in ihrer Mehrzahl nicht gegen Kapitalismus und Städte, sondern besonders gegen das höfische Leben und seine Rezeption französischer höfischer Verhaltensweisen. Thorsten Sadowsky: Agrarromantik und Großstadtkritik im Zeitalter der Aufklärung, in: Anne Conrad (Hrsg.): Das Volk im Visier der Aufklärung. Studien zur Popularisierung der Aufklärung im späten 18. Jahrhundert, Hamburg 1998, S. 103–120; Carstensen: Friedrich Reichsgraf zu Rantzau, S. 13 u. 139. Außerdem die Schilderung in den Erinnerungen von Joseph v. Eichendorff : Erlebtes. Der Adel und die Revolution, in: Ders.: Tagebücher, Autobiographische Dichtungen, historische und politische Schriften. Hrsg. v. Hartwig Schultz, Frankfurt 1993, S. 391–416. Zur frühen Stadtkritik in internationaler Perspektive vgl. Bergmann: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, S. 1–6; Wolfgang Sofsky: Schreckbild Stadt. Stationen der modernen Stadtkritik, in: Die alte Stadt 13/1986, S. 1–21. Explizite Kritik an Thaer übt er in Adam Müller: Agronomische Briefe (1812), in: Ders.: Ausgewählte Abhandlungen. Hrsg. v. Jakob Baxa, Jena 1931, S. 147–150. Zur Haltung Müllers vgl. auch: Bernhard Bayer: Sukzession und Freiheit. Historische Voraussetzungen der rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Auseinandersetzungen um das Institut der Familienfideikommisse im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 1999, S. 244. Für
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I. Adel und gesellschaftliche Ordnungsmodelle
„Das Grundeigentum hat den höchsten Wert für den, der mit seiner Persönlichkeit in die Lokalität des bestimmten Grundstückes gleichsam verwächst, der am längsten darauf verharrt; ein solcher Eigentümer spürt unter dem Wechsel der Jahreszeiten, der politischen und Handelskonjunkturen, die den momentanen Preis empfindlich verändern, den höchsten, realen und bleibenden Wert des Grundstückes heraus . . . Nicht mehr und nicht weniger gehört zu der wahren Taxation eines Grundstückes, als die hundertjährige Geschichte desselben und des Staates, mit dessen Schicksalen es auf Leben und Tod verflochten ist; ferner eine so vorurteilsfreie Würdigung des Augenblickes und seiner Aspekten für die Zukunft, als sie wenigen Menschen gegeben ist. Was ist das Grundstück wert? heißt: was ist das momentane Äquivalent für eine ewige Valuta?255
Verschiedene Momente fasste Müller hier zusammen, die er in anderen Zusammenhängen noch ausführlicher beschrieb. Einmal wurde die organologische sakrale Verwachsenheit mit dem Grundbesitz dem kapitalistischen Umhertreiben gegenübergestellt.256 Müller warnte vor dem „Nomadencharakter“ der bürgerlichen Geschäfte, der ohne feste agrarische Grundlage dazu führe, dass „der Staat selbst . . . einen Nomadencharakter annehmen würde.“257 Sodann wurde eine Kette von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft als Grundbestandteil des Wertes eines Besitzes beschrieben – es sei schlimm, dass der „Grund und Boden, mit allen tausendjährigen darin ruhenden Spuren . . . unserer Ahnherrn . . . stückweise unbedingt den gegenwärtigen Einzelnen [gehöre], und . . . ihren Dispositionen, augenblicklichen Einfällen, kaufmännischen Spekulationen und der verkümmerten Rationalität ihrer Tagesphilosophie unbedingt preisgegeben“ ist.258 Der Grundbesitz sollte also der Verfügungsgewalt des Einzelnen entzogen seien. Und schließlich wurde von Müller statt dem Augenblicklichen das Dauerhafte positiv konnotiert. Den Grundbesitz hielt er „für den letzten Grund der Dauerhaftigkeit unserer Staaten“259 . Die Dauer gibt das „Sein“ gegenüber dem „Haben“ und nur ersteres garantiere den Bestand des Staatswesens. Das Bewusstsein für das „Sein“ schaffe die „Persönlichkeit“, den „Charakter“. Ohne Dauerhaftigkeit werde „das menschliche Geschlecht in dem Chaos seiner eigenen Werke und Götzen untergehen“260 . Bodengebundheit, Entzug des Besitzes aus der Verfügungsgewalt des Einzelnen und Dauer waren jene Elemente, die Müller am Grundbesitz schätzte beziehungsweise von Besitzern erwartete. An diese Argumentation konnte in den folgenden etwa 130 Jahren eine Agrarromantik anschließen, die die Grundgedanken Müllers
255 256 257 258 259 260
die Entwicklung der konservativen Ideologie zu Besitz und Kapitalismus in der Jahrhundertmitte vgl. Avraham: In der Krise der Moderne, S. 132–198. Außerdem auch: Greiffenhagen: Das Dilemma des Konservatismus, S. 148–152 u. 154–157. Adam Müller: Taxation des Grundeigentums (1812), in: Ders.: Ausgewählte Abhandlungen, S. 96f. Ders.: Agronomische Briefe, S. 136 u. 140. Ebd., S. 147, ähnlich S. 186. Ebd., S. 183. Ebd., S. 134, ähnlich S. 138. Ebd., S. 172, die vorherigen Ausführungen S. 154–172.
2. Adelskonzepte und Gesellschaftsentwürfe: 1860er bis 1930er Jahre
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aufnahm, sie mit (1.) den eigenen wahrgenommenen Problemen verband, (2.) mit anderen Ideologien in Verbindung brachte und so schließlich (3.) radikalisierte.261 (1.) Problemhorizonte: Seit den 1840er Jahren gehörte zu den wahrgenommenen Problemen die zunehmende Verstädterung. Zuerst in Paris und London beobachtet, trat sie seit 1890 auch in Deutschland deutlich ins Bewusstsein Konservativer. Mit der Urbanisierung gingen zunächst rasch wachsende Armuts- und Elendsquartiere in den Städten einher sowie die zunehmende Unübersichtlichkeit des städtischen Raums überhaupt. Das Pendant war die Landflucht, die, durch die schlechten Lebensbedingungen ländlicher Unterschichten gefördert, stetig zunahm. Aus beidem ergab sich zusammen mit der Industrialisierung eine prozentuale Abnahme der Beschäftigten in der Landwirtschaft und eine Zunahme der Beschäftigten in der Industrie. Die Abnahme der Beschäftigtenzahlen in der Landwirtschaft spiegelte die gesamtgesellschaftliche Bedeutungsabnahme des platten Landes. Die Bedeutungsabnahme fand zugleich politisch im Stimmengewinn der Sozialdemokratie bei Wahlen ihren Ausdruck. All diese Entwicklungen beunruhigten Konservative zutiefst. Bevölkerungsstatistisch sahen sie die Stadt als Verbraucher des ländlichen Menschen-,Materials‘, die sich nur durch die Geburtenüberschüsse des platten Landes erhalten könne. Die Verstädterung führe zu einer ,Aussaugung‘ des Landes. Dies berühre auch die Wehrkraft des Staates, liefere das Land doch die brauchbarsten Rekruten. ,Erhaltung des Bauernstandes‘ wurde zum populären Schlagwort. Neben Wehrfragen sahen Konservative aber auch allgemeine ,Tugenden‘ durch die Abnahme der ländlichen Bevölkerung gefährdet. Vaterlandsliebe, Heimatverbundenheit und Familiensinn seien in erster Linie auf dem Land und besonders bei den Bauern anzutreffen.262 Die Stadt, ihre Bewohner und ihre Wirtschaft galten als moralisch verdorben. Im städtischen Asphalt könne der Mensch nicht wurzeln – „Instinktunsicherheit“ und „Desorientierung“, Gegenbegriffe zum Charakter, seien die Folgen. Die „Nervosität [wurde] als Krankheit der Zeit diagnostiziert“, von der vor allem solche Menschen befallen würden, deren Eltern noch ,natürlich‘ auf dem Land gelebt hatten.263 Mietshäuser 261
262 263
Vgl. zum Folgenden besonders die umfangreiche Bearbeitung des Komplexes bei Bergmann: Agrarromantik und Großstadtkritik. Außerdem auch den knapperen Überblick bei Sarah Jost: Unter Volksgenossen. Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, in: Falk Blask/Thomas Friedrich (Hrsg.): Menschenbild und Volksgesicht. Münster/u. a. 2005, S. 105–120. International vergleichend: James Joll: Die Großstadt – Symbol des Fortschritts oder der Dekadenz?, in: Peter Alter (Hrsg.): Im Banne der Metropolen. Berlin und London in den zwanziger Jahren, Göttingen 1993, S. 23–39. Diese Perspektive fand auch in der Heimatliteratur und Heimatkunstbewegung ihren Ausdruck. Vgl. Berghahn: Das Kaiserreich 1871–1914, S. 209 u. 211. Hermann Glaser: Fin de Siècle – Modernität und Nervosität, in: Willi Jasper/Joachim H. Knoll (Hrsg.): Preußens Himmel breitet seine Sterne . . . Bd. 2, Hildesheim/u. a. 2002, S. 681–696, hier S. 685.
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I. Adel und gesellschaftliche Ordnungsmodelle
seien Ausdruck monotoner Einheitlichkeit statt natürlich Gewachsenem. Familienbindungen würden durch die Stadt zerstört. Der konservative erhaltende Bauer, immun sowohl gegen eine rein kapitalistische als auch eine sozialistische Gesinnung, wurde dem sozialistischen umstürzlerischen Arbeiter gegenübergestellt. Das organisch gegliederte, über Vergangenheit und Zukunft verfügende Volk auf dem Land wurde mit der städtischen, geschichts- und formlosen ,Masse‘ kontrastiert. Die Bedrohung, die von der Stadt ausging, war somit aus konservativer Sicht sittlich, revolutionär, militärisch, wirtschaftlich und national, seit den 1890er Jahren auch biologisch begründet. Für konservative Theoretiker war daher die Stadt in vielfältiger Weise das genaue Gegenstückt zur gewünschten Gesellschaftsordnung. Im StadtLand-Gegensatz wurden Bilder einer wünschenswerten gesellschaftlichen Ordnung transportiert. Die Stadt war unübersichtlich, anonym, und soziale Unterschiede waren leicht zu verwischen – sie wirkte sozial nivellierend. Das Land zeichnete sich hingegen durch Übersichtlichkeit und Strukturiertheit aus. Die neue Großstadtkritik konnte mit der Kapitalismuskritik Müllers in Verbindung gebracht werden, da der Kapitalismus die Industrialisierung vorantreibe, damit das Wachstum der Städte befördere und die geordnete rurale Welt zerstöre. Die Bauernwirtschaft auf eigener Scholle konnte den kapitalistischen Aktiengesellschaften als ehrenwerte, durch Arbeitskraft Gewinn erzeugende Form der Wirtschaft gegenübergestellt werden.264 Der Kampf gegen Landflucht und Großstadtdominanz war somit Teil der Auseinandersetzung um die zukünftige gesellschaftliche Ordnung. In dieser Auseinandersetzung standen aus Sicht der Konservativen die Varianten einer liberal-kapitalistischen Gesellschaft des Wettkampfes, einer sozialistischen Gesellschaft der Nivellierung und einer geordneten konservativen Gesellschaft zur Wahl. Konservative Agrarromantiker hegten den „Wunsch, so viel als irgend möglich von der untergehenden Agrargesellschaft zu bewahren und vermeintliche oder wirkliche Elemente der Stabilität der neuen Zeit als Korrektive entgegenzusetzen: so den konservativen Bauern dem revolutionären Proletarier, das Bauerntum dem Großstädtertum, das Volkstum der Urbanität.“265 (2.) Verbindung mit anderen Ideologien: Grundsätzlich gab es eine Vielzahl ideologischer Bewegungen, die an diese aus Gegenwartsanalysen und -ängsten gewonnene Agrarromantik und Großstadtkritik anschließen konnten. Chronologisch lässt sich die Entwicklung von einer ursprünglich 264
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Gustavo Corni/Horst Gies: Brot, Butter, Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997, S. 20. Dirk Schubert: Großstadtfeindschaft und Stadtplanung. Neue Anmerkungen zu einer alten Diskussion, in: Die alte Stadt 13/1989, S. 22–41, hier S. 23, nennt zahlreiche Dichotomien, welche die agrarromantische Wahrnehmung prägten. Bergmann: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, S. 363.
2. Adelskonzepte und Gesellschaftsentwürfe: 1860er bis 1930er Jahre
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politischen Kritik im Gegensatz Bauer-Arbeiter beziehungsweise Land-Stadt, wie sie zum Beispiel bei Wilhelm Heinrich Riehl um die Jahrhundertmitte schon geäußert wurde, hin zu einer biologistischen Kritik ab den 1890er Jahren beobachten. Neben politischer Stabilität sollte das Land zunehmend auch generative Stabilität, oder besser noch Bevölkerungswachstum, garantieren. Die verschiedenen Spielformen der Kritik und die Übergänge lassen sich in den vielfältigen Erneuerungs- und Reformbewegungen um 1900 beobachten.266 So versuchte beispielsweise die Heimatbewegung gegen die international identisch gedachte Großstadt die Besonderheiten der Heimat zu bewahren. Die Großstadt wurde zum Ausdruck eines „trostlose[n] internationale[n] Alleweltsschema[s]“. Dieses sei „an Öde gewissen kalten, nüchternen Abstraktionen eines Gleichheits-Zukunftsstaates“ vergleichbar.267 „Die Natur symbolisierte die Nation oder eine Region, sie stand für ein gemeinsames Gut, das die gesamte Bevölkerung verbinden sollte. Die Betonung dieser Gemeinsamkeiten stellte sich damit auch gegen die Realität von unversöhnlichen politischen Gegensätzen, bitteren religiösen Konflikten und gegensätzlichen sozialen Interessenlagen in der tief gespaltenen deutschen Gesellschaft, indem sie vermeintlich universale Werte der gesamten Nation über Zeiten und Regionen, Klassen und Milieus hinweg hervorhob.“268
Die Gartenstadtbewegung suchte den Weg zurück zum Land in einer Auflockerung der Besiedlung. Zahlreiche dieser ursprünglich aus konservativem Geist geborenen Bewegungen des Bildungs- und Kleinbürgertums sowie Teilen des Adels konnten nach der Jahrhundertwende Anschluss an völkisches Gedankengut und die völkische Bewegung finden.269 Die konservative Metapher des Volkskörpers konnte mit dem Zustand der Landwirtschaft und der Landflucht in Verbindung gebracht werden. Waren nämlich an einem Teil des Volkskörpers Erkrankungserscheinungen sichtbar, so war der gesamte Volkskörper krank.270 Im Zuge der Rassenlehre setzte schließlich eine Biologisierung der Großstadt und ihrer Bewohner ein. Städte wurden zu Orten physischer und psychischer ,Entartung‘ und ,Degeneration‘ erklärt.271 Von dieser Biologisierung war es nach 1900 nur noch ein letzter Schritt zum Anschluss an Rassenlehren und schließlich den Antisemitismus. Die Großstadt sei ein Ort starker ,Rassenmischung‘ – ,Reinrassigkeit‘ habe sich 266 267
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Vgl. Ebd., S. 85–163. So Paul Schultze-Naumburg, Ideologe des Heimatbewegung 1905. Zitat nach Werner Hartung: Konservative Zivilisationskritik und regionale Identität am Beispiel der niedersächsischen Heimatbewegung 1895 bis 1919, Hannover 1991, S. VI. Thomas Rohkrämer: Bewahrung, Neugestaltung, Restauration? Konservative Raum- und Heimatvorstellungen in Deutschland 1900–1933, in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.): Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933, München 2007, S. 49–68, hier S. 57. Ausführlich dargelegt am Beispiel der Heimatschutzbewegung bei Hartung: Konservative Zivilisationskritik. Corni/Gies: Brot, Butter, Kanonen, S. 32. Für die Verknüpfung von Großstadtkritik und Stadtplanung vgl. Schubert: Großstadtfeindschaft.
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I. Adel und gesellschaftliche Ordnungsmodelle
hauptsächlich auf dem Land gehalten. Der jüdische Bevölkerungsanteil sei in den Städten besonders hoch. Die ,Wurzellosigkeit‘ des ,Asphaltmenschen‘ der Großstadt, sein gegenüber dem sesshaften Bauern nomadischer Lebensstil, konnte mit den Juden als ,nomadischem‘ Volk identifiziert werden. Dem germanischen Landbewohner sei die Stadt nicht zuträglich. Die Arbeiterschaft stellte nach Richard Walther Darré ein „Chaos rassenmäßiger Zufälligkeiten“ dar.272 Der nordische/germanische Bauer hingegen bearbeite sein Land nicht aufgrund rein wirtschaftlicher Kalkulation, sondern verspüre durch sein Blut eine tiefere Bindung an das Land, das bereits seinen Ahnen gehört habe und in dem er verwurzelt sei. Suchte man nach rassischen Reinen, waren sie also in erster Linie auf dem Land zu finden – von hier musste eine neue ,Hochzüchtung‘ erfolgen. Die Bindung an das Land wurde somit von der Frage der persönlichen oder politischen Präferenz zur Frage des Blutes und der Rasse.273 War bei Adam Müller noch der persönliche Bezug zum Boden die Grundlage von Dauerhaftigkeit, so wurde dieses Verhältnis seit der Jahrhundertwende anthropologisiert. Ähnlich wie in der Familienideologie das Blut der Familie und der Rasse, wurden in der Agrarromantik ,Boden‘ und ,Raum‘ an sich zu Garanten von Überzeitlichkeit und Unwandelbarkeit erklärt. „Der mythische ,Bauer‘ war dazu das anthropologische Korrelat. In ihm verband sich die im ,Boden‘ verräumlichte Vorstellung von Kontinuität mit dem menschlichen Leben.“274 Der Verlust der Landbindung des deutschen Volkes wurde als entscheidender Schritt auf dem Weg zu seinem Untergang angesehen. (3.) Radikalisierung: Bei Adam Müller kann man beobachten, dass er zwar ein bestimmtes Verhältnis des Menschen zum Land lobt und kein zu starkes Anwachsen der Industrie wünscht, dass eine prinzipielle Stadtfeindschaft aber nicht vorhanden ist. Auch in der Jahrhundertmitte können Theoretiker der Stadt noch positive Seiten für Sitte und Kultur abgewinnen. Dies änderte sich jedoch durch eine schrittweise Radikalisierung der Großstadtfeindschaft seit den 1890er Jahren. Der ,Moloch‘ Großstadt wurde immer mehr zum Kristallisationspunkt allen Übels der Moderne und ihrer ,Entartungserscheinungen‘ erklärt. Diese Übel wurden von radikalen Agrarromantikern immer weniger als korrigierbar angesehen. Dort wo man noch an einen Wandel glaubte, wurde ein ganzes Bündel von Maßnahmen immer wieder diskutiert. So erschien die Bekämpfung der Landflucht nur möglich, wenn Grundbesitzlosen Land zur agrarischen Nutzung zur Verfügung gestellt werden konnte. Wollte man
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Zitat nach Corni/Gies: Brot, Butter, Kanonen, S. 26. Jürgen Knauss: Zwischen Agrarromantik und Erzeugungsschlacht. Zur Landwirtschaft unterm Hakenkreuz, in: Ders. (Hrsg.): Beiträge zur Agrargeschichte Mitteldeutschlands, Crimmitschau 2007, S. 47–57. Mathias Eidenbenz: „Blut und Boden“. Zu Funktion und Genese der Metaphern des Agrarismus und Biologismus in der nationalsozialistischen Bauernpropaganda R. W. Darrés, Bern/u. a. 1993, S. 196.
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jedoch nicht zur systematischen Zerschlagung des Großgrundbesitzes übergehen, um im Rahmen der deutschen Grenzen Neusiedlerland zu schaffen, so stellte sich nur die Option des Kolonienerwerbs oder zentraleuropäischer Annexionen. Die im Ersten Weltkrieg grassierende Kriegszieldebatte bot agrarromantischen Schriftstellern Raum, über Territoriengewinne im Osten nachzudenken. Statt diese Debatten zu beenden, verschärfte die Verkleinerung des Deutschen Reiches durch den Versailler Vertrag die Diskussionen weiter. Auf dem verbliebenen Territorium erschien es immer schwieriger, eine nachhaltige Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung, die sich eben auch in einer ,gesunden‘ Verteilung zwischen Stadt- und Landbewohnern ausdrücken sollte, zu garantieren. Das Schlagwort vom ,Volk ohne Raum‘ brachte den Komplex auf eine griffige Formel und schuf eine Verbindung zwischen Imperialismus und Agrarromantik. Die weiterhin feststellbare Landflucht in der Weimarer Republik schuf jedoch noch ein anderes Schreckgespenst. Denn war eine erneute Ansiedlung Deutscher, besonders in den derzeitigen Ostgebieten des Reiches, nicht möglich, drohte ein ,Raum ohne Volk‘, in den die slawischen ,Rassenangehörigen‘ von Osten her nachdrängen würden. Zudem schien die Revolution 1918 Agrarromantikern endgültig die Herrschaft der Stadt über das Land, der ,Minderwertigen‘ über die ,Höherwertigen‘, der entwurzelten ,Asphaltmenschen‘ über die verwurzelten Landmenschen, der ,Entarteten‘ über ,artgerecht‘ Lebende zu verkünden. „Was die Großstadtfeinde des Wilhelminischen Deutschland noch als potentielle Gefahr wie ein Menetekel an die Wand gemalt hatten, war zur Wirklichkeit geworden, die erbittert und an allen Fronten bekämpft wurde.“275 Korrekturen waren jetzt dringender nötig als je zuvor. „Großstadtfeindschaft“ schlug bis zum Ende der 1920er Jahre endgültig in radikalen und einseitigen „Großstadthaß“ um.276 An solche Vorstellungen konnte der Nationalsozialismus anschließen, ohne dass er inhaltlich der Agrarromantik neue Komponenten oder Argumente hinzufügte. Verschiedenste Spielarten der Agrarromantik passten sich in ihn ein und konnten im heterogenen ideologischen Programm des Nationalsozialismus Lösungsangebote erkennen.277 Die folgenschwere Bedeutung der Machtübernahme 1933 lag darin, dass Agrarromantik und Großstadtfeindschaft nun in ihren radikalisierten Varianten praktisch relevant wurden. Richard Walther Darré, agrarischer Chefideologe der NSDAP und Diplomlandwirt, trat für eine konsequente Umsetzung von Rassenideologie und Züchtungsgedanken ein. Die Landbevölkerung sollte den Kern der ,Aufnordung‘ des deutschen Volkes bilden. Die Landwirtschaft sollte in antikapitalistischer, und dies hieß in erster Linie ,antijüdischer‘, Weise umgestaltet und der Zwischenhandel möglichst ausgeschaltet werden. Die Aufwertung des Landes in der „Blut- und Boden“ Rhetorik und das Schlagwort vom 275 276 277
Bergmann: Agrarromantik und Großstadtkritik, S. 203. Ebd., S. 281. Rohkrämer: Bewahrung, Neugestaltung, Restauration.
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I. Adel und gesellschaftliche Ordnungsmodelle
„Neuadel aus Blut und Boden“ sollten das Prestige des ländlichen Lebens und Arbeitens steigern. Die mit Agrarromantik und Großstadtfeindschaft verbundenen rassischen Prämissen, der Glaube an die Landbevölkerung als ,Jungbrunnen des Volkes‘ und das Bedürfnis nach einer, der städtischen Bevölkerung als Gegengewicht angemessenen, Landbevölkerung und des dafür notwendigen Lebensraums bildeten schließlich einen Teil des ideologischen Fundaments des Zweiten Weltkrieges.278 Die Schattierungen der Agrarromantik und deren Weiterentwicklung spiegeln sich im Adel wider.279 Noch in der Reformdebatte der 1840er Jahre lässt sich, mit Blick auf das 18. Jahrhundert, über den Verlust der Landbindung des Adels und seine Orientierung am höfischen Leben klagen. Ohne Grundbesitz habe Adel keine Grundlage für seine Gesinnung. Ohne Bindung an das Land, sei „an die Stelle patriarchalischer Sittenreinheit . . . die bodenlose Frivolität des [18.] Jahrhunderts [getreten]. Durch ihren zerstörenden Einfluß wurde das alte Erbe . . . dem Enkel gleichgültig. Der ererbte Grundbesitz erschien ihm nicht mehr als ein heiliges Vermächtniß, durch welches er, mit dem Boden des Vaterlandes innig verwachsen, sich als einen organischen Bestandtheil desselben betrachtet.“280
Spekulation, Verpfändung und Verkauf von Gütern seien die Folge gewesen. Explizit wurde auf Adam Müller zurückgegriffen. Dieser habe, so Wilhelm von Schütz, „die beiden Hauptmomente, worauf es ankam, mit Entschiedenheit in das Auge“ gefaßt und ausgesprochen – nämlich die Bindung des Adels an Grundbesitz einerseits, die Auffassung der Landwirtschaft als „Amt“ statt als „Gewerbe“ andererseits.281 Neuerdings lasse sich in Teilen des Adels die Abkehr vom Hof und die Rückkehr zum einfachen und sittlichen Landleben feststellen.282 Insofern bestand Hoffnung. Maßnahmen wie die Verknüpfung des Wahlrechts zur Präsentation zum Herrenhaus in Preußen mit einer 100jährigen Angesessenheit auf einem Gut wird man als Privilegierung eines agrarromantisch-konservativen Besitzgedankens ansehen können.283 Auch 278
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Zum Verhältnis von Nationalsozialismus, Agrarromantik und Großstadtfeindschaft speziell: Corni/Gies: Brot, Butter, Kanonen, S. 18–36; Eidenbenz: „Blut und Boden“; Knauss: Zwischen Agrarromantik und Erzeugungsschlacht. Auf die Verbindung des Adels zur Agrarromantik weist, wenn auch in wenig systematischer Weise, Brunner: Die Stellung des ostelbischen Adels, S. 178–179, hin. NN: Was ist uns geblieben?, in: ZfddA 1/1840, S. 294. Vgl. Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft, S. 163f.; Georg Funke: Der Adel als Repräsentant des provinziellen Lebens. In. ZfddA 2/1841, S. 150 u. 153f. Wilhelm v. Schütz: Ueber die mannigfachen Einwirkungsweisen des Grundadels auf das geistige Wohl der Gesellschaft, in: ZfddA 2/1841, S. 74. Fischer: Der Teutsche Adel I, S. 211f. Zur Agrarromantik als Hofkritik vgl. auch Klaus Peter: Adel und Revolution als Thema der Romantik, in: Peter U. Hohendahl/ Paul M. Lützeler (Hrsg.): Legitimationskrisen des deutschen Adels 1200–1900. Stuttgart 1979, S. 197–217, hier S. 197–201. Zur Entstehung dieser Regelung und dem Beharren Friedrich Wilhelms IV. auf 100jähriger Ansässigkeit: Hartwin Spenkuch: „Pairs und Impairs“. Von der Ersten Kammer zum
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im Zuge der Verteidigung der Fideikommisse 1848 wurden agrarromantische Bilder immer wieder bemüht.284 Nach dieser Diskussionsphase über die Bedeutung des Grundbesitzes in den Adelsreformprogrammen, die auf agrarromantische Bilder der Zeit seit 1800 zurückgriff, trat jedoch nach Ausweis der ausgewerteten Quellen weitgehende Stille ein. Agrarromantische Bilder lassen sich in den folgenden Jahrzehnten nur vereinzelt nachweisen. So sprach etwa Freiherr Wilhelm von Woellwarth-Lauterburg aus Württemberg, bei dem sich eine Riehllektüre nachweisen lässt,285 1868 davon: „Wir glauben, daß wir gerade noch festere Wurzeln im Land haben, als die beweglichen Elemente, die leichter ihr Glück jenseits des Oceans suchen, wenn es ihnen in der deutschen Heimath nicht mehr behaglich ist, während für uns der Boden, den wir noch besitzen, auf dem unsere Väter gelebt und gewirkt haben, ein theures Vermächtnis bleibt, das uns an die heimatliche, die deutsche Erde, fesselt.“286 Auch in der Familie von der Schulenburg tauchten agrarromantische Bilder 1878 einmal kurz auf, als bezüglich der Aufhebung der Lehen in Preußen vom Grafen Schulenburg-Emden geäußert wurde: „die Bestrebungen der neueren Zeit zielen . . . darauf hin, den Grundbesitz zur käuflichen Waare zu machen und dadurch den Einfluß des Adels zu mindern, denn nur der ansässige Adel kann sich Kraft und Frische, sowie Macht und Einfluß waren.“287 Auch hier wurden die agrarromantischen Argumente, die seit Jahrhundertbeginn existierten, nicht weiter angereichert, sondern lediglich mit dem anstehenden Problem der Lehensaufhebung in Verbindung gebracht. Negative Bilder der Stadt fehlten sowohl beim Freiherrn von Woellwarth als auch beim Grafen von der Schulenburg. Ähnlich wie in der allgemeinen Bewegung, erlebte auch im Adel erst seit 1890 die Agrarromantik einen deutlichen Aufschwung.288 Bogislav von Bonin beklagte 1901 die Grundbesitzverluste der Familie, die zusammen mit den Tätigkeiten in Staatsdienst und Militär dazu geführt hätten, dass die Familie über ganz Deutschland verteilt lebe. „Ganze Linien und Zweige der Familie sind gegenwärtig ohne Grundbesitz, andere sind von der heimischen Scholle losgelöst und haben in fremdem Boden Wurzel geschlagen. Der sehr naheliegenden Gefahr, daß dadurch das Bewußtsein der
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Herrenhaus (1849–1872). Argumente, Positionen, Entscheidungen, in: Reif : Adel und Bürgertum in Deutschland 1, S. 173–206. Jörn Eckert: Der Kampf um die Familienfideikommisse in Deutschland. Studien zum Absterben eines Rechtsinstituts, Frankfurt a.M./u. a. 1992. Briefentwurf Frhr. Georg v. Woellwarths an unbekannt, Baden-Baden 4.9.1862, in: STALB – PL9/3, Bü. 1621, S. 1. Wilhelm Frhr. v. Woellwarth-Lauterburg: Offene Erklärung an die Mitglieder der hohen Ständeversammlung, als Rechtsverwahrung gegen den denselben vorgelegten neuesten Verfassungsgesetz-Entwurf, Essingen 25.1.1868, in: STALB – PL9/3, Bü. 1618, unpag., S. 2. Graf v.d. Schulenburg-Emden an seine Vettern, Emden 23.2.1878, in: LHASA-WR – Rep. H Beetzendorf IA, II Nr. 24b, S. 50. Bergmann: Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, S. 50.
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I. Adel und gesellschaftliche Ordnungsmodelle
Zusammengehörigkeit, der Familiensinn, das Pommersche Heimathsgefühl verloren gehen könnten“ wirke der Familienverband entgegen.289 Mit Blick auf die Vergangenheit wurde die Loslösung von Scholle und Heimat als große Tragik dargestellt.290 Von den auf dem Lande aufgewachsenen Adelskindern versprach man sich östlich der Elbe auch für die fernere Zukunft den vollen Einsatz für das Vaterland.291 Das Gegenstück, die Ablehnung der Stadt, war ebenso präsent. Der Grundbesitz, so Helmut von Raven 1898, „begünstigt das frühe Begründen von Familien, deren Glieder aufwachsen, fern von Luxus und Verwöhnung in einfacher gesunder Weise, wobei Körper und Geist gestählt werden zur Selbstbeschränkung, zur Ertragung von Beschwerden im freien Umgang mit der Natur.“292 „Was haben die Söhne unseres Adels in den Prunkgemächern der Börsenkreise, was gar in den Spielsälen und bei den Ausschweifungen der großstädtischen Lebenswelt zu suchen?“ fragte Kurt von Dewitz wohl eher rhetorisch, um zu antworten: „Der Wert des Lebens ruht im Idealen. Es gibt ideale Güter, und sie, nicht das äußere Glück, geben das wahre Glücksgefühl und die Sicherheit aufrechter Haltung in allen Schicksalslagen, sie allein befähigen auch zur Führerschaft im Volksleben.“293 Hier waren die antikapitalistische Kritik einerseits, das Gefühl der ideellen und emotionalen Bindung an das Land andererseits vorhanden. Die rassischbiologische Schärfe, die seit 1900 in die Agrarromantik Eingang fand und nach dem Ersten Weltkrieg prominent wurde, fehlte aber noch weitgehend. Ähnliches lässt sich in Südwestdeutschland beobachten. Das volle Repertoire agrarromantischer Bilder kann man für Südwestdeutschland in den Schriften des protestantischen Freiherrn Ernst August Göler von Ravensburg finden. 1889 und 1891 warnte er vor den einreißenden sozialen Missständen, die aus der Stadt auf das flache Land kämen und die die alte, agrarromantisch umschriebene Sittlichkeit des Bauern und seinen christlichen Glauben untergrüben. Deutschland sei ein „ackerbautreibendes Land“, im Bauernstand müsse man „die breite Grundlage erkennen, auf welcher das gesamte 289
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Bogislav v. Bonin: Rückblick auf die Jahre 1301–1901, Berlin 28.11.1901, in: PLAG – Rep. 38d Bahrenbusch, Nr. 71, S. 164. Ähnlich äußerte man sich auch in der Familie v. Dewitz. Vgl. Rede Kurt v. Dewitz‘ auf dem Familientag, Berlin 5./6.11.1912, in: APS – Archiwum rodu Dewitz-Wussow, Nr. 80, unpag., S. 2. Mangelnder Grundbesitz wurde auch als Ursache für fehlenden Familienzusammenhalt betrachtet. Vgl. Hermann v. Lepel an Franz v. Lepel, Metz 8.3.1896, in: PLAG – Rep. 38d v. Lepel, Nr. 39, S. 46. Klassische Bilder der Agrarromantik aus adliger Perspektive finden sich auch bei Wienfort: Gesellschaftsdamen, S. 200f. Klara Frfr. v. Biedermann: Friedrich August von Graevenitz. Mein Großvater. Ein Lebensbild aus dem vorigen Jahrhundert, in: FZ-Graevenitz 1/1893, S. 80. Helmut v. Raven: Statistische Betrachtungen über die Berufswahl, in: FZ-Raven 8/1898, S. 2. Ebd., S. 1. Rede Kurt v. Dewitz‘ auf dem Familientag, Berlin 5./6.11.1912, in: APS – Archiwum rodu Dewitz-Wussow, Nr. 80, unpag., S. 2; Max v. Lepel an Franz v. Lepel, Gettenbach 23.5.1896, in: PLAG – Rep. 38d v. Lepel, Nr. 39, S. 111.
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Volksleben ruhe, und aus welcher die übrigen Stände sich immer wieder ergänzen.“294 Solange es der Sozialdemokratie nicht gelänge, den Bauern für ihre Lehren zu gewinnen, „solange die staatserhaltenden Elemente sich bei uns auf die kernige Kraft unseres Bauernstandes stützen können“295 , sei die organisch gegliederte Gesellschaft sicher. Der Bauer sei jedoch nur so lange das Bollwerk gegen Kapitalismus und Sozialismus, wie er nicht zum Proletarier herabsinke. Ein Niedergang des Bauernstandes habe historisch immer zum Untergang von Staatswesen geführt. Gespickt mit antisemitischen Einwürfen, forderte er, dass sich die innere Mission stärker um die Menschen auf dem Land kümmern und für diese ein spezifisches Programm ausarbeiten müsse. Zudem müsse die Ertragslage der Landwirtschaft verbessert werden. Nur durch den Erhalt der Sittlichkeit auf dem Land könne die bestehende Ordnung gesichert werden. Ein wichtiger Unterschied zur allgemeinen Agrarromantik, die vor allem vom Blick auf die preußischen Zustände geprägt war, lässt sich in seinen Schriften beobachten. Denn er sieht mangelnde Sittlichkeit mit all ihren negativen Folgen nicht nur in der Stadt um sich greifen, sondern auch in den ländlichen Regionen Badens, weniger östlich der Elbe. Zwar handelt es sich beim Sittenniedergang um Importe aus der Stadt, aber das Land erschien ihm nicht mehr als grundsätzliches Idyll. Aber nicht nur in diesem Einzelfall lässt sich das Eindringen der Agrarromantik in den adligen Wahrnehmungshaushalt feststellen, auch in der Breite sind immer wieder Bilder aus dem agrarromantischen Arsenal in Südwestdeutschland auffindbar. So bildete das Familiengut für Freiherrn Karl von Roeder einen „durch Familien-Tradition geweihte[n] Boden“296 . Anderen war er gar „heilig“297 . In beiden Fällen wurden Begrifflichkeiten aus der Theologie auf Grund und Boden appliziert. Organologisch-naturalistisch argumentierte hingegen Freiherr Leopold von Bodman kurz nach der Jahrhundertwende: „Der Verlust seines angestammten Grundbesitzes“, schrieb er in seiner Familiengeschichte, „wird für ein altadliges Geschlecht stets verhängnisvoll. Es ist, wie wenn es aus dem Boden, den die Ahnen seit Jahrhunderten bewirtschafteten, seine eigene Lebenskraft geschöpft hätte. Losgerissen von der Scholle, kränkelt es und geht zu Grunde, wie ein Baum, der in ihm nicht zusagendem Boden verpflanzt wird.“298 Einigkeit bestand darin, dass der Bauernstand den „Kern unseres Volkes“ ausmache und der Adel in steter Fühlung mit dem Landvolk bleiben müsse.299 Auch die Ablehnung der Großstadt, besonders 294 295 296 297 298 299
Ernst August Frhr. v. Göler: Die sittlichen und sozialen Zustände auf dem Lande und die Innere Mission, Heilbronn 1889, S. 4f. Ders.: Der Bauernstand und die soziale Frage, Stuttgart 1891, S. 5. Frhr. Karl v. Roeder an den Senior, Frankfurt 5.1.1903, in: GLAK – 69 Roeder v. Diersburg, Karton 42, Fasz. I, Nr. 10, unpag., S. 1. FG-Stetten 1998, S. 328. Leopold Frhr. v. Bodman: Zur Geschichte der Familie Bodman im 19. und 20. Jahrhundert, o.O. o.D. [um 1905], in: GBAB – A2942, S. 61. Leutrum v. Ertingen: Sein oder Nichtsein, S. 4; Leopold Frhr. v. Bodman: Zur Geschich-
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Berlins, war präsent. Freiherr Hans Otto von Ow, der seinen Sohn 1903 in Berlin besuchte, beschrieb die Stadt in seinem Tagebuch als Ort, der „Paris an Liederlichkeit überflügelt hat und in der die Verführerinnen bei jedem Schritt und Tritt uns begegnen.“300 Der Umbruch im gesellschaftlichen Ordnungssystem 1918 wurde auch in den agrarromantischen Äußerungen zum Umbruch. Die neue Realität wurde im Schema des Stadt-Land-Gegensatzes interpretiert. Der Ritterhauptmann des württembergischen St. Georgenvereins, Friedrich Freiherr von GaisbergSchöckingen, trug auf dem St. Georgentag vor: „Seit urgermanischen Zeiten war der alleinige Rechtsträger der Grundbesitzer. . . . Die Seßhaftigkeit war die Grundlage des Staates. . . . Wie hat sich das doch alles jetzt ins Gegenteil verkehrt! Die nicht seßhafte Bevölkerung der Städte verwässert durch den Fremdenzuwachs, hat die Macht an sich gerissen. Die Grundbesitzer, auch die der Städte, sind in die Minderheit gedrängt.“301 Woher Hilfe und Rettung zu erwarten waren, war eindeutig: „Die grundlegende Idee“, schrieb Peter Freiherr von Mentzingen in einer Rezension, „hat zu allen Zeiten ihre Geltung gehabt, . . . nämlich die, man kann sagen, weltgeschichtliche Tatsache, daß die Rettung der Gesellschaft, die Wiederherstellung der idealen Werte im Leben nach dem Umsturz vom Volke und insbesondere vom Bauernstand ausgeht.“302 Eine an agrarromantischen Prinzipien orientierte Weltsicht und Handlungsweise war also Voraussetzung für den Wiederaufstieg eines Staates, wie ihn sich Adlige wünschten. Dass diese Orientierung und die in der allgemeinen Agrarromantik feststellbare Radikalisierung auch den Adel ergriffen, lässt sich vielfältig zeigen. Zunächst östlich der Elbe: In der Antwort auf eine Huldigungsadresse des von Alvenslebenschen Familientags sprach Wilhelm II. 1926 aus dem Doorner Exil die Hoffnung aus, dass „es den Alvensleben in diesen schweren Zeiten gelingen [möge], ihre alten Sitze zu erhalten als Pflanzstätten des Geistes, auf den Ich, mein Haus und das Vaterland stets bauen konnten.“303 Dass diese Pflanzstätte inzwischen durchaus biologisch und nicht nur ideell verstanden wurde, lässt sich an anderer Stelle festmachen. Der Landbesitz, so Kurt von Dewitz, „gibt dem Geschlecht seinen Halt, in der ererbten Scholle ruhen die Wurzeln seiner Kraft, aus der Arbeit auf der Heimaterde schöpft es seine bodenständige Gesundheit, seine verjüngende Energie,
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te der Familie Bodman im 19. und 20. Jahrhundert, o.O. o.D. [um 1905], in: GBAB – A2942, S. 61f. Der Tagbucheintrag abgedruckt in Ow-Wachendorf : Hans Otto Reichsfreiherr von OwWachendorf, S. 498. Rede des Ritterhauptmanns Friedrich Frhr. v. Gaisberg-Schöckingen auf dem St. Georgentag, Stuttgart 24.4.1923, in: AStG – Bü. 373, unpag., S. 2. Peter Frhr. v. Mentzingen: Rezension zu: Gertrud v. Stotzingen: Die Schatten der Kathedrale, in: Mitteilungen 29/1937, Nr. 4, S. 4. Telegramm Wilhelms. II., Haus Doorn 13.2.1926, in: LHASA-WR – Rep. H Erxleben II, Nr. 66, S. 34.
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seine aufrechte Mannhaftigkeit und unerschütterliche Vaterlandstreue.“304 „Religion, Tradition und Landluft sind . . . die drei wichtigsten Faktoren zum Gedeihen einer Familie.“ Dabei sei in den landsässigen Familien auf eine ausreichende Kinderschar zu achten, um den ,arischen‘ Volksstamm zu sichern. Für die anderen Familienmitglieder sei das Schicksal allerdings hart. „Wieviele . . . leben noch tatsächlich auf dem Lande. Und diese Zahl wird ständig abnehmen. Ein großer Teil aller Nachgeborenen werden in die Stadt ziehen müssen, um im erbittertsten Lebenskampf ihren Platz an der Sonne zu behaupten“ – also nicht in der Nivellierung der Großstadt unterzugehen.305 Selbstdarstellungen der landwirtschaftlichen Tätigkeiten betonen hingegen die Verbundenheit mit der ländlichen Bevölkerung, die auch in Festen und Ehrungen langjähriger verdienter Landarbeiter zum Ausdruck kam. Hier erschien eine heile Volksgemeinschaft auf dem Lande, die der Zerrissenheit in der Stadt gegenübergestellt wurde.306 Die patriarchalische Verbundenheit konnte ebenso wie die dahinter stehende Volksgemeinschaft auch als rassisch motiviert dargestellt werden, wenn Hans-Hugo von Schuckmann schreibt: Adel und Bauern seien „historisch miteinander geworden, rassisch zueinander eingestellt, wirtschaftlich aufeinander angewiesen. Sie gehören zusammen wie mit ihrem Boden. Eine Schicksalsgemeinschaft tiefsten Sinnes und unendlicher Bedeutung.“307 Die Spekulation mit Gütern, auch durch Standesgenossen, wurde zutiefst verachtet und gerügt. „Deutsche Erde ist keine Handelsware, wer sie als solche betrachtet und behandelt, begeht eine Todsünde an Volk und Familie.“308 Der Erhalt und Erwerb von Grundbesitz wurde aus dieser Perspektive gefordert, ihr Fehlen mit Untergangsszenarien verbunden. Für die Familienzeitung der von Bismarck stand fest, dass „auf die Dauer . . . der deutsche Adel ohne deutschen Grundbesitz undenkbar [ist].“309 Selbst vor dem Vorschlag, die Vettern 304 305 306
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FG-Dewitz 1918, S. VI; FG-Schuckmann 1932, S. 60. Valentin v. Bismarck: Familientradition, in: FZ-Bismarck 4/1929, S. 2; FG-Schuckmann 1932, S. 62. Jahresbericht der Familie v. Dewitz, o.O. o.D. [1920], in: APS – Archiwum rodu Dewitz-Wussow, Nr. 80, unpag., S. 13f. Vgl. auch die Darstellung von Erntefesten bei Conze: Von deutschem Adel, S. 369–372, und die alternative Leseweise bei Tacke: Kurzschluss, S. 108. Jens Wietschorke: Defensiver Paternalismus. Ostelbischer Landadel im Dialog mit der „Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost“ (1918–1922), in: HA 14/2006, S. 232– 267, verweist auf die gemeinschaftsstiftende Funktion, die dem Paternalismus durch den Adel östlich der Elbe zugesprochen wurde, ohne allerdings systematische Verbindungen zur Volksgemeinschaftsideologie herzustellen. Freilich handelte es sich beim Paternalismus nicht um ein genuin adliges Verhalten, wie Tacke: Kurzschluss, S. 108, betont. Vor 1900 wird man hingegen eher von einer patriarchalischen Gutsgemeinschaft ausgehen müssen. Außerdem zur Betonung der Verbundenheit mit der Landbevölkerung: FGDewitz 1918, S. 516–530; Rede Wilhelm Graf v. Zitzewitz‘ auf dem Familientag, o.O. 15.8.1923, in: PLAG – Rep. 38d Zitzewitz-Muttrin, Nr. 108, S. 1. FG-Schuckmann 1932, S. 44. Der Grundbesitz der Raven in Mecklenburg, in: FZ-Raven 44/1934, S. 5. FZ-Bismarck 21/1938, S. 3; Victor v. Heimburg: Offener Brief an den Leser, in: FZ-Heim-
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möchten sich eine bäuerliche Existenz begründen, schreckte man nicht zurück – auch wenn dies von einigen als gefährlich angesehen wurde, da es zur Proletarisierung führe.310 Aber solche Aufrufe sind eben nur verständlich vor dem Hintergrundszenario, dass für den Fall des ausbleibenden Kontakts mit der Erde gezeichnet wurde: „Angesichts dieses tragischen Endes unserer Verbundenheit mit der Heimaterde drängt sich uns geradezu die Pflicht auf zu prüfen, welche Ursache diese Katastrophe gehabt haben kann; denn es handelt sich tatsächlich um eine Katastrophe für unsere Familie. . . . Wird unser alter uckermärkischer Stammsitz nicht der Familie erhalten, . . . und gelingt es unseren Vettern nicht, wieder ein Stück Heimatboden in einer Form zu erwerben, die dauernden Besitz verspricht, so geht auch unsere uralte Familie unweigerlich unter wie tausende andere vor ihr, nachdem sie den Grund und Boden unter ihren Füßen verloren hatten.“311
Der Verlust des Grundbesitzes ließ insofern das Aussterben der Familien nur noch zu einer Frage der Zeit werden. Die freiwillige Aufgabe von Grundbesitz glich einem Suizid. Dass diese Darstellung auch ihre Schwierigkeiten aufwarf für Familien, die schon länger über keinen Besitz mehr verfügten, aber dennoch weiter existierten, ist einleuchtend. Doch auch hier konnte nach 1918 der argumentative Anschluss an die Diskussion über Heimatverlust und Untergang vollzogen werden. Die Familie von Chevallerie, die schon früh ihren gesamten Grundbesitz verloren hatte, sah nämlich auch ohne Grundbesitz ihre Heimat in der Weimarer Republik verloren. Denn für sie war nach dem Verlust des Grundbesitzes „die Armee . . . allein Heimat geworden, bis die Revolution von 1918 auch hier einen Einschnitt machte“312 – sie diese Ersatzheimat verloren. Auch in Südwestdeutschland lässt sich eine, wenn auch begrenztere Radikalisierung des agrarromantischen Denkens Adliger feststellen. Interessanterweise scheint nach Ausweis der gesichteten Quellen diese Radikalisierung im katholischen Adel tiefer gegangen zu sein als im protestantischen, wie folgende Belege zunächst für protestantische ehemalige Reichsritter zeigen: So sei es „von jeher . . . das natürliche Bestreben des Adels [gewesen], ein Heim zu haben, er war stolz darauf, auf eigener Scholle zu sitzen, mitten im Volke zu leben und dem Vaterlande zu dienen.“ Anklänge an die patriarchalische Dorfgemeinschaft mit Übergängen zur Volksgemeinschaft lassen sich hier finden.313
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burg 1/1941, S. 5. Mitteilung des Familienvorstands der v. Dewitz, Naumburg Sep. 1919, in: APS – Archiwum rodu Dewitz-Wussow, Nr. 80, unpag., S. 1. Protokoll des Familientags der v.d. Knesebeck, Berlin 10.12.1919, in: LHASA-WR – Rep. H Langenapel, Nr. 1207, S. 46; FZ-Sei(y)dlitz 8/1936, S. 83; Jobst Heinrich v. Bülow: Unsere Familie im 3. Reich. Eine Meinungsäußerung, in: FZ-Bülow 15/1936, Sp. 19f. Der Grundbesitz der Raven in Mecklenburg, in: FZ-Raven 44/1934, S. 4; FZ-Hoff 1/1922, S. 5; FZ-Bülow 1/1926, Sp. 9f. Horst v.d. Chevallerie: Ahnenforschung, in: FZ-Chevallerie 3/1933, S. 24. Bericht der Jubiläumsfeier, Hohenstadt 31.8.1907, in: STALB – PL13, Bü. 854, unpag.; FG-Gemmingen 1925/26, S. 55. Tagebuchnotiz des Frhr. Hans-Otto v. Ow, o.D, in: OwWachendorf : Hans Otto Reichsfreiherr von Ow-Wachendorf, S. 486; Leopold Frhr. v.
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Dass der aufgestellte Satz: „Der Grund zur Errichtung gebundenen Besitzes im grauen Altertum ruhte im Wunsche, die Seßhaftigkeit zu stärken, die ganz besonders da nötig wurde, wo das Nomadentum kulturzerstörend wirkte“, auch für die Gegenwart Relevanz besaß, wurde zwar nicht direkt gesagt, dürfte aber in dieser Hinsicht verstanden worden sein. Wer diese Bindung an den Grundbesitz zerstöre, der die „Wurzel“ des Adels bilde, wurde zwei Seiten später ausgeführt. Es war der ,Jude‘, also der ,Nomade‘, in seiner Rolle als ,Güterschacherer‘.314 In der Rückkehr zur Eigenbewirtschaftung der Güter sah Friedrich Freiherr von Gaisberg-Schöckingen „am ehesten“ die Möglichkeit, „dem Volke wieder nahe [zu kommen] und den künstlich gegen uns erzeugten Haß [zu] zerstören.“ „Nur auf einem gesunden Bauernstande beruht die Hoffnung auf bessere Zeiten, dabei muß der grundbesitzende Adel führend vorangehen.“315 Der Erhalt der Schlösser habe Priorität, so Otto Freiherr von Woellwarth, da sonst die Wohnmöglichkeiten auf dem eigenen Land und damit die Bindung an den Grundbesitz verloren gingen.316 Und die Rede seines Vetters Max Freiherr von Woellwarth war gespickt mit Alarmismus: „Wir laufen Gefahr, dem heimischen Boden zu entfremden, wenn keiner von uns mehr auf den alten Wohnsitzen leben kann, wir laufen Gefahr, Interessen u. Denkungsart der ländlichen Bevölkerung nicht mehr zu verstehen, je weniger Berührung wir mit ihr haben u. damit unser geschichtliches Fundament zu verlieren!“317 Maßnahmen zur Rücksiedlung von Stadtbewohnern aufs Land wurden begrüßt, solange der Adelsbesitz darunter nicht zu sehr leide.318 Aber „Treue und Liebe zu unserer Heimatgemeinde“, verbunden mit „unwandelbarer Liebe und Treue zu unserer geliebten Heimatscholle“, sah Karl Freiherr von Gemmingen auch bei Wohnorten abseits der Heimatgemeinde gegeben.319 Insgesamt fehlt hier somit die rassisch-biologische Transformation, während Antisemitismus feststellbar ist. Im katholischen Adel hatte die rassisch redefinierte Agrarromantik deut-
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Bodman: Zur Geschichte der Familie Bodman im 19. und 20. Jahrhundert, in: GBAB – A2942, S. 61f.; Göler: Die sittlichen und sozialen Notstände, S. 3. Friedrich Frhr. v. Gaisberg-Schöckingen: Zur Aufhebung der Fideikommisse, o.J. [um 1921], in: AStG – Bü. 167, unpag., S. 1f. Hervorhebung im Original. Schreiben an die Mitglieder des St. Georgenvereins, Schöckingen 25.4.1924, in: AStG – Bü. 373, unpag., S. 2 u. 4. Familienratssitzung der Frhr. v. Woellwarth, Essingen 27.9.1925, in: STALB – PL9/3, Bü. 1430, unpag., S. 2. Max Frhr. v. Woellwarth: Gedanken über Verwaltung u. Betrieb unseres Familien Besitzes, Essingen Jan. 1929, in: Ebd., unpag., S. 1. Kerckerinck zu Borg, Frhr. v.: Über die gegenwärtige Lage, Münster 1918, in: GLAK – 69 Oberndorff, A109, unpag., S. 6; Gaisberg-Schöckingen, Friedrich Frhr. v.: Zur Aufhebung der Fideikommisse, o.J. [um 1921], in: AStG – Bü. 167, unpag., S. 2; S.J. Pater Gundlach: Die ständische Idee nach der Enzyklika „Quadragesimo anno“, in: Mitteilungen 24/1932, #4, S. 5–7. Rede Karl Frhr. v. Gemmingens anlässlich der Glockeneinweihung in der Babstadter Kirche 1925, in: FG-Gemmingen 1925/26, S. 55.
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licher Wurzeln geschlagen, wie eine Aufforderung im Protokoll des „Vereins katholischer Edelleute Südwestdeutschlands“ aus dem Jahr 1923 zeigt. Hier wurde die berufliche Rückkehr der Adelssöhne auf das eigene, zur Not auch auf gepachtetes, Land gefordert. Denn „der Landadel ist der Jungbrunnen, der Urboden des Standes.“320 Caspar von La Rosée schrieb: „Wie der wirtschaftlich gefestigte Bauernstand der nicht auszuschöpfende Born der Volkskraft ist, so soll der gesicherte Grundbesitz des Landadels der Nährboden für das aus dem Adel hervorgehende Volksführertum sein.“321 „Enge Verbundenheit mit der heimatlichen Scholle und dadurch mit dem Geschick des Vaterlands schafft wohl die beste Vorbedingung für adlige Art und adliges Wirken im Dienst der Volksgemeinschaft“, stellte Freiherr von Gagern ein Jahr später fest.322 Und für das „Gedeihen der Landwirtschaft“, schrieb Franz Joseph Graf von Degenfeld-Schonburg im Mai 1933, „ist ein ausreichender Lebensraum . . . wichtig.“323 Der mystische Charakter der Landbindung wurde betont324 , und der Hass gegen die Großstadt, das Gegenstück zum Lob auf das ländliche Leben, war präsent. Alfred Graf von Oberndorff stellte 1931 in einem Vortrag fest: „Während Industrie und Handel in Unterstützung der Bolschewisten wetteifern, bläht sich in den abgelebten, gänzlich moralinfreien Intellektuellenzirkeln der Großstädte . . . der ekelhafte Salonbolschewismus, dessen Stoßtrupp . . . in der Moskauer Loslösung von Glauben und Sitte das Ideal wahrer geistiger Freiheit erblickt.“325 Diese immer noch, im Vergleich zum Adel östlich der Elbe, begrenzte Radikalisierung wird man darauf zurückführen können, dass neben diesen, der zeitgenössischen Ideologie entstammenden Bildern, zuweilen dem Adel auch noch die aus der Bibel und katholischen Theologie stammende Wertschätzung der Landwirtschaft ans Herz gelegt wurde.326 Daraus entstand eine Mischung aus katholischer Religiosität und Agrarromantik. So begann ein Bericht über eine Jungadelstagung auf Schloss Zeil damit, dass Fürst Erich von Waldburg-Zeil eingeladen hatte „im Bewußtsein, daß der katholische Jungadel nur dann aufrecht im 320 321 322 323 324 325
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Bericht über die zweite ordentliche Mitgliederversammlung des Vereins kath. Edelleute Südwestdeutschlands, Beuron 15.5.1923, in: GLAK – 69 Oberndorff, A109, unpag., S. 7. Kasper Graf La Rosée: Adel und Besitz, in: Mitteilungen 22/1930, Nr. 1, S. 11. Frhr. v. Gagern: Berufswahl und Berufsausbildung, Beuron 1924, in: GLAK – 69 Oberndorff, A109, unpag., S. 1. Franz Joseph Graf v. Degenfeld-Schonburg: Landwirtschaft und berufsständische Ordnung, in: Mitteilungen 25/1933, Nr. 3, S. 4. Vgl. die Buchbesprechung in: Mitteilungen 29/1937, Nr. 2, S. 4. Alfred Graf v. Oberndorff : Der Bolschewismus, in: Mitteilungen 23/1931, Nr. 3, S. 8. Auch Johannes Frhr. v. Bodman sprach vom „zersetzenden Geiste der übervölkerten Großstadt“. Vgl. Johannes Freiherr v. u. zu Bodman: Die badischen Stammgüter. Ihre volkswirtschaftliche Bedeutung unter besonderer Berücksichtigung des Aufhebungsgesetzes vom 18. Juli 1923, Leipzig 1927, S. 115. Otto Schürmann: Das christliche Arbeitsethos. Vortrag gehalten auf der dritten ordentlichen Mitgliederversammlung des Vereins kath. Edelleute Südwestdeutschlands, Beuron 30./31.5.1924, in: GLAK – 69 Oberndorff, A109, S. 3.
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Geisteskampf der Gegenwart stehen kann, wenn er aus dem ewigkeitstiefen Brunnen katholischen Lebens sich die Kraft zum Kampfe holt“. Auf der Tagung selbst nannte Abt Adalbert Graf Neipperg unter den „natürliche[n] Kräfte[n]“ des Adels „Tradition, Familiensinn, Schollenverbundenheit, Familienleben“, die „dem Adel in hohem Maße zu eigen“ seien.327 Damit zeigt sich, ähnlich wie beim Familienverständnis, dass im katholischen Adel noch partiell abweichende Konnotationen, die aus der Religion bezogen wurden, Platz fanden. Im Adel Südwestdeutschlands insgesamt war die Radikalisierung agrarromantischer Leitbilder nicht so weit fortgeschritten wie östlich der Elbe. Wo jedoch die Radikalisierung im agrarromantischen Denken bis auf ihre Spitze getrieben worden war, konnte im Nationalsozialismus die Rettung gesehen werden. Der Thüringer Richard von Hoff betonte in einer Rede auf der Tagung der Familienverbände 1935: „Er [der Nationalsozialismus] pflegt die Werte des Blutes und der Familie, der völkischen Gemeinschaft und der Bodenverbundenheit mit allen Kräften und weist auf die Bedeutung der Rasse. . . hin. . . . Eine so entschiedene und grundsätzliche Betonung adelstümlicher Wertungen hat es im Grunde seit der Hochblüte des deutschen Mittelalters nicht wieder gegeben. . . . Aus der Verbundenheit von Blut und Boden, Volkstum und Heimat, erwachsen Kräfte, die durch nichts in der Welt zu ersetzen sind.“328
Freilich hob er aus seiner Perspektive, die die Bedeutung des Adels für gesellschaftliche Leitbilder betonen wollte, dessen Rolle über Gebühr hervor. Die Agrarromantik war weder urwüchsig aus der Adelsgeschichte des Mittelalters hervorgegangen, noch war sie ein Produkt des Adels allein. Sie war eine unterschiedliche soziale Gruppen integrierende Ideologie.329 Es zeigt sich, dass der Adel seit den Jahrzehnten um 1800 nur an der konservativen Agrarromantik partizipierte. Adlige und konservative Agrarromantik entwickelten und radikalisierten sich parallel. Die Idealisierung des Landlebens und der Landbindung und die Beanspruchung der adligen Vorreiterrolle durch von Hoff darf daher nicht als Beweis einer ursprünglich adligen Agrarromantik verstanden werden. Ebenso wenig bildet die in Autobiographien des Adels präsente Landbindung ein Spezifikum. Betonung der Vorreiterrolle und besonderen Landbindung müssen vielmehr als Forderung einer Führungsrolle für den Adel verstanden werden, indem sich der Adel als natürlicher 327 328
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Sigmund Frhr. v. Gemmingen: Die Zeiler Jungadelstagung 9. bis 12. August 1930, in: Mitteilungen 22/1930, Nr. 5, S. 5f. Die Rede findet sich abgedruckt in: FZ-Hake 16/1936, S. 147. Ähnlich: Rede des Familienführers der v. Bülow, Brunshaupten 8.6.1935, in: FZ-Bülow 15/1936, Sp. 7; Jobst Heinrich v. Bülow: Unsere Familie im 3. Reich. Eine Meinungsäußerung, in: Ebd., Sp. 17. Darauf verweist Shelley Baranowski: The Sanctity of Rural Life. Nobility, Protestantism, and Nazism in Weimar Prussia, New York/Oxford 1995. Zur Verbindung zwischen adliger Agrarromantik und bürgerlicher Stadtkritik, allerdings ohne systematische Perspektive auf chronologische Wandlungen vgl. Wietschorke: Defensiver Paternalismus, S. 241–245.
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vorbildlicher Vertreter der Agrarromantik darstellte. Der langfristige Besitz einzelner Rittergüter in Adelsfamilien stellte einen ,Beweis‘ für diese Vorreiterrolle dar. Der Kampf um Vorbildlichkeit wird aber auch an der Jagd deutlich. Sie war zunächst Ausdruck einer überständisch betriebenen Ernte. Erst mit der rassischen Infiltrierung der konservativen Agrarromantik um 1900 erhielt die jetzt ,waidgerecht‘ zu betreibende Jagd ihren neuen Stellenwert.330 Teilnahmeanforderung wurde mit der Neubewertung der Jagd seit der Wende zum 20. Jahrhundert das richtige Verhalten, nicht der Stand – und hier beanspruchten Adlige, wie allgemein in der Agrarromantik, Vorreiter zu sein und damit Repräsentanten einer gesamtgesellschaftlichen Ordnung. Andererseits wurde die Gesellschaft durch die gemeinsame Jagd nicht nivelliert, sondern die stratifizierte ,Volksgemeinschaft‘ wurde durch ihre richtige Betätigung bestätigt. Die Betonung adliger Landbindung war insofern Teil des Programms, adlige Vorbildlichkeit in der Vertretung konservativer Werte zu beweisen. 2.3.3 Ehre, Ansehen und Reputation Der Markt und die ökonomischen Vorgänge auf ihm kannten . . . kein ,Ansehen der Person‘: ,sachliche‘ Interessen beherrschen ihn. Er weiß nichts von ,Ehre‘. Die ständische Ordnung bedeutet gerade umgekehrt: Gliederung nach ,Ehre‘ und ständischer Lebensführung und ist als solche in der Wurzel bedroht, wenn der bloße ökonomische Erwerb und die bloße, nackte, ihren außerständischen Ursprung noch an der Stirn tragende, rein ökonomische Macht als solche jedem, der sie gewonnen hat, gleich oder – da bei sonst gleicher ständischer Ehre doch überall der Besitz noch ein wenn auch uneingestandenes Superadditum darstellt – sogar dem Erfolg noch höhere ,Ehre‘ verleihen könnte, wie sie die ständischen Interessen kraft ihrer Lebensführung für sich prätendieren. Die Interessenten jeder ständischen Gliederung reagieren daher mit spezifischer Schärfe gerade gegen die Prätensionen des reinen ökonomischen Erwerbs als solchen und meist dann um so schärfer, je bedrohter sie sich fühlen.331 Max Weber (1921)
Nimmt man dieses Zitat Max Webers als Ausgangspunkt, so wurde der Begriff der Ehre an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als ein Schlüssel zum Verständnis des Wandels der gesellschaftlichen Ordnung angesehen. Denn „die ,Klassen‘ [haben] in der ,Wirtschaftsordnung‘, die ,Stände‘ in der ,sozialen Ordnung‘, also in der Sphäre der Verteilung der ,Ehre‘, ihre eigentliche Heimat und von hier aus [beeinflussen sie] einander gegenseitig und die Rechtsordnung und [werden] wiederum durch sie beeinflußt“332 . Die ständische Gesellschaft ist die Welt des ,Seins‘, die Klassengesellschaft die Welt des ,Habens‘. Freilich handelt es sich bei der Gegenüberstellung der beiden 330 331 332
Tacke: Die „Nobilitierung“ von Rehbock und Fasan. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 5 1972, S. 538. Ebd., S. 539. Vgl. allgemein zur Definition von Ständen und Klassen bei Weber ebd., S. 531–540.
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Ordnungen und ihrer Verbindung mit dem Begriff der Ehre um Idealtypen. In Zeiten von vergleichsweise stabilem „Gütererwerb und Güterverteilung“ wird die ständische Gliederung bevorzugt, „während technisch-ökonomische Erschütterungen und Umwälzungen sie bedroht und die ,Klassenlage‘ in den Vordergrund schiebt.“333 Der Gegensatz von ständischer Gesellschaft und Klassengesellschaft, die Existenz spezifischer sozialer Ehre im ersteren Fall und der Unzweckmäßigkeit von Ehrvorstellungen in letzterem Fall, macht die ,Ehre‘ aus zeitgenössischer Sicht zu einer Sonde, mit der das Ausmaß des Ständischen in der Gesellschaft und die Beharrung auf einer spezifisch ständischen gesellschaftlichen Ordnungsbehauptung gemessen werden kann.334 Aus zeitgenössischer Sicht endete das Erklärungspotenzial der Ehre aber nicht an diesem Punkt, sondern ging noch weiter. Georg Simmel behandelte sie in seinen „Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“ im Kapitel über „Die Selbsterhaltung der sozialen Gruppe“. Er schreibt: „Untersucht man . . . die Vorschriften der Ehre auf ihre Inhalte hin, so zeigen sie sich durchgehends als Mittel für die Erhaltung eines sozialen Kreises in seinem Zusammenhalt, seinem Ansehen, der Regelmäßigkeit und Fördersamkeit seiner Lebensprozesse. . . . Die Handlungen und Unterlassungen aber, die die Ehre erfordert, offenbaren sich als Zweckmäßigkeiten der Sondergruppierung, die zwischen dem großen Kreis [d.i. die Gesellschaft] und dem Individuum stehen. Jede Ehre [ist] ursprünglich Standesehre, d. h. eine zweckmäßige Lebensform kleinerer Kreise, welche in einem größeren befaßt sind, und durch die Forderung an ihre Mitglieder, die ihr Ehrbegriff deckt, ihre innere Kohäsion, ihren einheitlichen Charakter und ihren Abschluß gegen die anderen Kreise eben desselben größeren Verbandes wahren.“335
Eine allgemeine Menschenehre, so Simmel weiter, „ist ein abstrakter, durch die Vermischung der Standesgrenzen ermöglichter Begriff “336 , denn man könne keine Handlung nennen, die jede Ehre angreife. „So sind denn jene spezifischen Ehrbegriffe geschlossener Kreise die wesentlichen“337 , wobei das Individuum an mehreren Kreisen und ihren je eigenen Ehren teilhaben könne, sie auch in nur einzelnen Kreisen verlieren könne. Inwiefern dieser letzte Punkt in der zeitgenössischen Praxis tatsächlich funktionierte oder ob Simmel hier über eine ständisch strukturierte Gesellschaft hinaus eine funktional differenzierte Gesellschaft in der Entstehung sah, muss offen bleiben. Die von ihm genannten Beispiele sind nicht eindeutig. Festzuhalten ist aber, dass sich die Ehre aus Sicht der Zeitgenossen auch als Sonde eignete, um der 333 334
335 336 337
Ebd. Freilich können Webers Annahmen aus heutiger Sicht kritisiert werden. Vgl. dazu Martin Dinges: Die Ehre als Thema der Stadtgeschichte. Eine Semantik im Übergang vom Ancien Régime zur Moderne, in: ZHF 16/1989, S. 409–440, passim. Hier wird sie aber nicht als theoretisches Fundament betrachtet, sondern als zeitgenössischer und damit von den Erfahrungen der eigenen Gegenwart nicht unabhängiger Konzeptualisierungsversuch, der manches über die Wahrnehmung der Zeit um 1900 aussagt. Simmel: Soziologie, S. 600. Ebd. Ebd.
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Abgrenzung und Annäherung gesellschaftlicher Gruppen nachzugehen.338 Nicht umsonst hat die These von der Feudalisierung des Bürgertums in der Soziologie des beginnenden 20. Jahrhunderts ihre Wurzeln339 , bedeutete die Grundannahme vom Bedeutungsverlust der Ehre im Zuge der Durchsetzung der Klassengesellschaft doch, dass eigentlich eine fundamentale Transformation gesellschaftlicher Machtverhältnisse hätte erfolgen sollen.340 Ehre stellt insofern, ähnlich wie Familie und Grundbesitz, einen Schlüsselbegriff dar, anhand dessen die Auseinandersetzung um den Charakter der Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erforscht und die Positionierung des Adels ermittelt werden kann. Dies gilt insbesondere, wenn man den Wandel des Ehrverständnisses in den Blick nimmt und nicht von einem statischen Ehrbegriff ausgeht.341 Grundsätzlich war Ehre für die Gesellschaft der Frühen Neuzeit ein zentraler Begriff, der zwei Funktionen erfüllte. Er erlaubte einerseits gesellschaftliche Differenzierung und damit die Einordnung in soziale Statuskategorien, das heißt Stände, andererseits diente der Ehrbegriff der Integration der Mitglieder der jeweiligen Stände. Ehre stellte keinen absoluten, unveränderlichen Gegenstand dar, sondern sie war stets Produkt von Aushandlungen innerhalb und zwischen Gruppen. Nicht zuletzt haben die Staaten seit der Frühen Neuzeit versucht, Ehrvorstellungen zu normieren, zu kontrollieren und damit durch den Monarchen gewährbar zu machen.342 Hinter diesem Grundbestand des Begriffes verbargen sich aber eine Reihe von Entwicklungen, die teils schon im Mittelalter einsetzten, teils Produkte der Frühen Neuzeit oder des 19. Jahrhunderts waren und fünf Bedeutungskreise schufen, die für die Zeit zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Nationalsozialismus relevant blieben. 338
339 340
341
342
Anschließend an Simmel formulierten Ludgera Vogt/Arnold Zingerle: Zur Aktualität des Themas Ehre, in: Dies.: Ehre. Archaische Momente in der Moderne, Frankfurt 1994, S. 7–34, hier S. 23: „Die spezifische Leistung der Ehre ist die Internalisierung der Gruppennormen.“ Spenkuch: Herrenhaus, S. 452; Torp: Max Weber, S. 74–79. Dagmar Burkhart: Eine Geschichte der Ehre, Darmstadt 2006, S. 16, versteht Simmel und Weber in dieser Form ebenso wie Ute Frevert: Ehre – männlich/weiblich. Zu einem Identitätsbegriff des 19. Jahrhunderts, in: TAJB 21/1992, S. 21–68, hier S. 22. Hingegen erkennt Winfried Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord. Eine Geschichte der Ehre, Stuttgart 2010, S. 168f., die Probleme, die sich aus der Zuordnung zu Stände- und Klassengesellschaft bei Weber ergeben, ohne allerdings eine überzeugende Erklärung zu bieten. Diese These prononciert bei Ute Frevert: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991; Ludgera Vogt/Arnold Zingerle (Hrsg.): Ehre. Archaische Momente in der Moderne, Frankfurt 1994; dies.: Zur Aktualität des Themas Ehre, in: ebd., S. 7–34, hier S. 9f. u. 14–18. Kritik an dieser Sicht auf Ehre äußert Martin Dinges: Die Ehre als Thema der historischen Anthropologie. Bemerkungen zur Wissenschaftsgeschichte und zur Konzeptualisierung, in: Klaus Schreiner/Gerd Schwerhoff (Hrsg.): Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln/Wien 1995, S. 29–62, hier S. 39. Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, S. 103–106.
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Diese waren: (1.) Der Gegensatz von innerer und äußerer Ehre, (2.) der Übergang von geburtsständischen Ehren zur allgemeinen menschlichen Ehre, (3.) Ehre und Individualität, (4.) die nationale Ehre und (5.) die männliche und weibliche Geschlechtsehre. (1.) Innere und äußere Ehre:343 Ehre zeichnete sich durch eine, wie es Winfried Speitkamp genannt hat, „charakteristische Doppelstruktur“ aus, „die Selbstbild und Außensicht in Deckung zur bringen suchte.“344 Während die äußere Seite der Ehre das Streben nach Anerkennung in den Vordergrund schob und damit den Bemühungen der frühneuzeitlichen Staaten entgegenkam, Ehre durch sich selbst zuteilbar zu, setzte eine zeitgleiche Gegenbewegung auf die erneute Betonung der inneren Ehre. Diese sollte vom Urteil der Mitmenschen unabhängig sein, also gerade nicht auf Anerkennung abzielen, sondern den Menschen zu tugendhaftem Handeln anleiten, über welches er vor sich selbst Rechenschaft ablegen musste. Die konsequente Verinnerlichung der Ehre löste den Ehrbegriff insofern von einer ständischen Bezugsgruppe ab und machte die Ehrenhaftigkeit von der Selbstbeurteilung abhängig. Ehrenhaftigkeit wurde zum Charakteristikum des tugendhaften Menschen und richtete sich gegen jedweden auf Privilegierung und Geburt basierenden ständischen Ehrbegriff. Eine konsequente Verinnerlichung der Ehre erfolgte jedoch nicht, sondern neben der inneren Ehre bestand die äußere Ehre, also das Ansehen eines Menschen in der Gesellschaft, als zentrale Kategorie des Miteinanders fort. Beide existierten im 19. Jahrhundert in spannungsvollem Nebeneinander, eine Entkopplung gelang nicht. Weder brachte innere Ehre zwangsläufig äußere Ehre, noch umgekehrt. Gleiches galt für den Gegenbegriff der Unehre. Wie und ob innere und äußere Ehre miteinander im Wechselverhältnis standen, darüber reflektierten die Zeitgenossen des 18. und 19. Jahrhunderts. (2.) Geburtsständische Ehren, allgemeine Menschenehre und berufsständische Ehren:345 Im Zuge der Aufklärung und der politischen Reformen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert war ein Ziel der Politik die Durchsetzung einer allgemeinen Untertanen- oder Staatsbürgergesellschaft unter Anerkennung einer allgemeinen Menschenwürde. Sie sollte ihren Ausdruck in einer rechtlichen Vereinheitlichung und der Aufhebung von Standesprivilegien finden. Aus Sicht konservativer Gesellschaftstheoretiker waren jedoch die standesspezifischen Ehren und Ehrbegriffe Ausdruck der organisch gewachsenen Gesellschaft und der von Gott gewollten Ungleichheit der Menschen und als solche erhaltenswert. Noch nach 1848 bemühten sich Konservative, 343
344 345
Vgl. im Folgenden: Ebd., S. 107–127; Burkhart: Eine Geschichte der Ehre, S. 12f. u. 75–84; Friedrich Zunkel: Ehre, Reputation, in: Brunner/Conze/Koselleck: Geschichtliche Grundbegriffe 2, Stuttgart 1975, S. 1–64, hier S. 23–28. Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, S. 112. Burkhart: Eine Geschichte der Ehre, S. 89–100; Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, S. 112–127 u. 164–166, 178f., 212f.; Zunkel: Ehre, S. 28–40 u. 44.
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ständische Ehrbegriffe wieder in Gesetzen zu verankern. Vor allem in Preußen dauerte es daher legislatorisch bis zum Erlass der Verfassung 1850, bis die Rechtsgleichheit ohne Standesunterschiede und ein allgemeiner Begriff staatsbürgerlicher Ehre gegenüber ständischen Ehren durchgesetzt wurden. Erst jetzt „war der rechtlich fixierte ständische Ehrbegriff zu einem rein sozialen geworden“346 , die „rechtlich-sozialen in nur soziale Stände“ transformiert worden.347 In den sozialen Ständen sollte aber aus konservativer Sicht der Ehrbegriff weiterhin seinen gesellschaftsstrukturierenden Charakter behalten. Die allgemeine Menschenehre führte somit auch nicht zu einer gesellschaftliche Nivellierung, sondern sie bildete im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen allen Menschen gemeinsamen Basisbestand, auf den verschiedene, teils wieder hierarchisch unterlegte Ehrsysteme aufbauten, die Mitglieder in die Gruppen integrierten und die Gruppe nach außen abgrenzten. Diese Differenzierungen konnten weiterhin entlang geburtsständischer Parameter gedacht werden, immer häufiger wurden die Ehrbegriffe aber seit der Mitte des 19. Jahrhunderts berufsständisch definiert – wurde die Ehre des Kaufmanns, des Offiziers, des Bauern durch unterschiedliche Verhaltensweisen definiert. Dieser berufsständische Ehrbegriff, der sich in konservativen Kreisen großer Beliebtheit erfreute, wandte sich gegen bürgerlich-liberale Vorstellungen. In letzterem Entwurf sollte nämlich neben öffentlichem Ansehen und Leistung auch Vermögen eine zentrale Rolle spielen. Aus Konservativer Sicht sollte sich die Berufsehre des Individuums aber gerade nicht nach der Ertragsfähigkeit eines Berufes oder dem investierten Geld richten, sondern nach Talentiertheit und Engagement des Arbeitenden. Insofern sollten hier alle Berufe Ansehen genießen. Die Zurückweisung des Vermögens als stratifizierendem Indikator der Ehre erweist sich auch als deutlich antikapitalistische Spitze der Konservativen. Denn Vermögensakkumulation konnte mit dem Begriff des Prestigestrebens, das heißt eines Erwerbs ohne Verfolgung eines ethischen Anspruchs, negativ konnotiert werden. Neben einer anerkannten allgemeinen Ehre aller Menschen stand somit am Ende des Jahrhunderts aus konservativer Sicht ein sozial differenzierender Ehrbegriff, häufig des Berufsständischen, während geburtsständische Ehrvorstellungen an Bedeutung verloren hatten. Der Zerfall ständischer Strukturen und überkommener Bindungen, dies wurde nach dem Ersten Weltkrieg noch viel radikaler formuliert, zerstöre jedoch die Ehre insgesamt. (3.) Ehre und Individualität:348 Da eine Entkopplung von innerer und äußerer Ehre im 19. Jahrhundert nicht erfolgte, vielmehr das Ansehen des In346 347 348
Burkhart: Eine Geschichte der Ehre, S. 91. Zunkel: Ehre, S. 34. Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, S. 129–142; Zunkel: Ehre, S. 40–44; Burkhart: Eine Geschichte der Ehre, S. 100–106. Inzwischen klassisch, wenn auch in der modernisierungtheoretischen Grundannahme überholt: Frevert: Ehrenmänner. Vgl. dazu die Kritik bei Dinges: Die Ehre als Thema der historischen Anthropologie, S. 39.
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dividuums von der Anerkennung seiner Ehrenhaftigkeit in der Öffentlichkeit abhängig blieb, blieb auch die Notwendigkeit der Verteidigung der in Zweifel gezogenen Ehre erhalten. „Die Ehre galt dabei quasi als letzter dem Staat und dem Recht entzogener Raum der individuellen Verantwortung, der freien Lebensgestaltung nach den Normen und Sitten des Standes und der Gesellschaft.“349 Neben gerichtlichen Ehrenwahrungen war vor allem das Duell im 19. Jahrhundert jenes Mittel, mit dem der Ehrenmann seine angegriffene Ehre verteidigte. „Hier war der Mann noch ein Mann – und kein Staat und kein Gesetz sollte ihm da hereinreden. In seiner Unbedingtheit und Konsequenz, aber auch demonstrativen Unvernunft entsprach es dem Bedürfnis nach Freiräumen, nach Herausforderungen, nach Gelegenheiten für Mut und Bewährung, die in der kapitalistischen, materialistischen Gesellschaft, in der nur die ökonomische Ratio zählte, und im Rechtsstaat, der bloß nach formalen Regeln vorging, verloren zu gehen schienen.“350
Das Duell war eine „Kritik an Zivilisation, Rationalismus und Materialismus. Es bot Spielräume der individuellen Bewährung. Und es bot Möglichkeiten der legitimen Gewaltausübung.“351 Die Eigenständige Wahrung der Ehre, die Verteidigung der Individualität führte dazu, dass „Ehre als Chiffre für die ,ganze‘ Person“ stand.352 Als solches erfreute sich das Duell reger Beliebtheit. Es bestätigte Sitten, die einem ständischen Gesellschaftsverständnis entsprangen. Der Kult um die Ehre sorgte dafür, dass sie praktisch in aller Kommunikation unterschwellig präsent war und gesellschaftliche Zwänge schuf, denen sich zu entziehen schwer fiel, die aber andererseits die gesellschaftliche Ordnung permanent bestätigten. (4.) Nationale Ehre:353 Sie spaltete sich in zwei Komplexe. Auf der einen Seite stand die nationale Identifizierung des Individuums. Wenn jeder Mensch gleiche Staatsbürgerrechte besaß und der Staat seine Menschenwürde achtete, so war diese Ehre auf den Staat beziehungsweise die Nation bezogen. Verrat an der Nation war daher eine entehrende Tat. Solche Verräter konnten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als ,Reichsfeinde‘ diffamiert und damit außerhalb der Gemeinschaft gestellt werden. Mit dem Aufkommen völkischrassischer Ideologeme um 1900 und der rassischen Redefinition der Nation und des Volkes wurden dann ,fremdrassige‘ aus der Nation ausgeschlossen. Sie hatten an der nationalen Ehre keinen Anteil mehr, waren ,Volksverräter‘.
349 350 351 352 353
Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, S. 144. Ebd., S. 130. Ebd., S. 141, ähnlich S. 152. Klaus Schreiner/Gerd Schwerhoff : Verletzte Ehre. Überlegungen zu einem Forschungskonzept, in: Dies.: Verletzte Ehre, S. 1–28, hier S. 24. Zum Folgenden Christian Koller: Die Ehre der Nation: Überlegungen zu einem Kernelement der politischen Kultur im 19. Jahrhundert, in: Saeculum 54/2003, S. 87–122; Burkhart: Eine Geschichte der Ehre, S. 106–112; Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, S. 122–127, 156–160, 173–178 u. 187–213; Zunkel: Ehre, S. 52–63.
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Der Verkehr mit ihnen konnte als ,Rassenschande‘354 gebrandmarkt werden – die entehrend wirkte, weil Ehre jetzt nicht mehr im Bereich der Ratio, sondern im Blut verortet wurde. Auf der anderen Seite stand der Komplex aus Anerkennung der Nation und des Volkes in der Welt. Seit der Jahrhundertmitte wurde dieser Begriff der nationalen Ehre in engere Verbindung mit nationaler Macht als Voraussetzung des Ansehens im Ausland gebracht. Diese Ehre wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu jenem Maß, an dem sich Außenpolitik grundsätzlich zu orientieren hatte – Kompromisse wurden damit aus Sicht der Öffentlichkeit diskreditiert, wenn sie nicht die nationale Ehre zu wahren verstanden. Militärische Siege steigerten die nationale Ehre, während Niederlagen als Schande und Unehre angesehen wurden. Unterwerfung unter eine fremde Macht stellte in diesem Sinne die höchste Form nationaler Schmach dar. Der Friede von Versailles war aus dieser Perspektive eine tiefe Demütigung der nationalen Ehre. Schließlich wurde in der Weimarer Republik individuelle Ehre immer stärker als Korrelat der nationalen Ehre verstanden, nationale Schande als individuelle Schande. „Ehre . . . wurde jetzt zum Ausdruck der abstrakten Gemeinschaft, des Vorrangs des Kollektivs“355 . Dies war ein Punkt, an dem zunächst Völkische und Radikalnationalisten mit ihrer Vision der Volksgemeinschaft ansetzten und an den später die nationalsozialistische Propaganda anschloss. In Verbindung mit der völkisch-rassischen Redefinition von Ehre konnte diese jetzt vollständig entindividualisiert und auf die Gemeinschaft bezogen werden, so dass Walter Buch 1939 schreiben konnte: „Das Bewußtsein eines jeden, nach den Artgesetzen und für die Art seines Volkes zu leben, muß die innere Ehre ausmachen.“ „In dem Bewußtsein der Gemeinschaft, daß der einzelne artgemäß lebt“, sah er hingegen die äußere Ehre.356 Der Einzelne wurde nach seiner Nützlichkeit und seinem Einsatz für die Gemeinschaft bemessen – als ehrbar angesehen. Ehrenzeichen verlieh der Nationalsozialismus daher auch konsequenterweise für Leistungen, die für die Gemeinschaft erbracht wurden.357 (5.) Männliche und weibliche Geschlechtsehre:358 Diese beiden Ehren waren im 19. Jahrhundert in den meisten Bereichen grundverschieden, und auch ihre Verteidigung folgte den Prinzipien der Geschlechterdifferenz. Während es beim Duell schon im Kern um Fragen der Männlichkeit ging, die in Mut und Tapferkeit ausgedrückt wurden, konnten Frauen zwar beleidigt werden, die Verteidigung ihrer Ehre oblag aber wiederum einem männlichen 354
355 356 357 358
Zum Umgang mit der Rassenschande in der Praxis vgl. Alexandra Przyrembel: „Rassenschande“. Sexualität, „Rasse“ und das „Jüdische“ vor NS-Gerichten in den Jahren 1935– 1945, in: HA 12/2004, S. 338–354. Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, S. 176. Zitat nach Burkhart: Eine Geschichte der Ehre, S. 112. Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, S. 193f. Frevert: Ehre – männlich/weiblich; Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, S. 142f., 150f.; Dinges: Die Ehre als Thema der historischen Anthropologie, S. 47f. u. 58.
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Familienangehörigen. Die Verletzung der Familienehre wurde als eine der schwersten Beleidigungen wahrgenommen, die möglich waren. Zentrale Anforderung an die Frau zur Wahrung der Geschlechts- und Familienehre war die Keuschheit vor der Ehe und die Treue nach Eheschluss. Ehebruch zog für die Frau, unabhängig davon, wer die Initiative ergriffen hatte, den Ehrverlust nach sich. Der Ehebruch des Mannes war hingegen tolerabel. Während er durch den Ehebruch seiner Frau Geringschätzung erfuhr, kam der Ehefrau im Falle des Ehebruchs durch ihren Mann Mitgefühl zu. Hinter diesem asymmetrischen Verhältnis stand der Geschlechterkodex, der Frauen in ihrer Funktion als Mütter und Gattinnen wertschätzte, während die männlichen Geschlechtscharaktere auf das Wirken außerhalb von Haus und Familie abzielten. Die Vorstellung, dass man es Männern wie Frauen ermöglichen müsse, gemäß ihrem Geschlechtscharakter zu leben, wurde sowohl von Konservativen als auch von Liberalen vertreten. Diese Vorstellung von der weiblichen Ehre galt über soziale Gruppen hinweg und war im Gegensatz zu männlichen Ehrvorstellungen nicht an den Beruf oder Stand gebunden. In der Öffentlichkeit partizipierte die Frau hingegen an der Ehre ihres Mannes. Die spezifische Ehre des männlichen Geschlechts lag nicht in der vorehelichen und ehelichen Treue begründet, sondern der Mann musste, unabhängig vom sozialen Stand, „stark, mutig und tapfer sein, um als solcher [als Mann] geehrt werden zu können.“359 Geschlechtlicher Ehrverlust trat beim Mann vorzugsweise dann ein, wenn er sich nicht mutig und tapfer erwies. Daneben bestand aber seine berufliche Ehre fort. Allerdings konnte er, im Gegensatz zur Frau, seine Ehre auch stets durch den Beweis von Mut im Duell wiederherstellen. Was die Verteidigung der nationalen Ehre anbelangte, so wurde zwar von beiden Geschlechtern im Zweifelsfall die Selbstaufgabe erwartet, den Frauen kam dabei de facto aber nur eine unterstützende Funktion zu.360 Das adlige Ehrverständnis beruhte in der Frühen Neuzeit auf zwei Fundamenten: Erstens auf dem Wissen über eine spezifische adlige Standesehre und zweitens auf der Vorstellung von der Vererbbarkeit von Tugend und Ehre. Bereits im 17. Jahrhundert wurde jedoch der zweite Pfeiler brüchig. Denn, so Martin Wrede und Horst Carl: „In dem Maße nun, in dem Adel sich im 17. Jahrhundert mehr über pedigree als über valor definierte – über die Vererbbarkeit von Tugend und Ehre, öffnete er eine Flanke für Adelskritik als Ahnenkritik. Denn wenn Ehre und Tugend sich im Geblüt perpetuieren konnten, mußte dies für Schande und Sünde wohl ebenso gelten. . . . Wenn aber Tugend und Ehre, Schande und Sünde sich nicht in Geblüt oder Geschlecht feststellen, geschweige denn perpetuieren ließen, war dem Adel eine entscheidende legitimatorische Grundlage entzogen.“361
Dies war spätestens mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts der Fall. Der Glaube 359 360 361
Frevert: Ehre – männlich/weiblich, S. 62. Koller: Die Ehre der Nation, S. 120f. Wrede/Carl: Einleitung, S. 2.
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an die Vererbbarkeit von Tugend und Schande löste sich auf. Zudem wurden die frühneuzeitlich-ständischen Ehrbegriffe ausgehöhlt und verloren nach und nach ihre rechtliche Grundlage. Betrachtet man daher den Umgang des Adels mit Ehre, so lässt sich sein Ehrbegriff den soeben vorgestellten fünf Bedeutungskreisen zuordnen. Eine spezifisch adlige Ehrdefinition, die eigene Bestandteile enthalten würde, lässt sich nicht ermitteln, lediglich ergänzende Bedeutungsnuancen lassen sich ausmachen. Zwischen den Untersuchungsgruppen gibt es dabei keine wesentlichen Unterschiede. (1.) Innere und äußere Ehre: Mitte der 1860er Jahre schrieb Freiherr Wilhelm von Woellwarth an Großherzog Friedrich I. von Baden in einem Brief, in dem es um Streitigkeiten am badischen Hof ging: Er könne sich zu seinen Familienmitgliedern nur beglückwünschen, die „jenen Adel der Gesinnung bewahren, welcher dem ihrer Geburt allein Werth zu geben vermag, und keinen Augenblick zögerten, so wenig sie auch mit Glücksgütern gesegnet sind, eine Stellung aufzugeben, die sie zu erhalten mit ihrer und ihres Namens Ehre nicht mehr für vereinbar hielten.“ Er müsse schließlich „meiner Ahnen, deren Namen unter den edlen Geschlechtern Deutschlands neben jenen seiner Fürsten seit Jahrhunderten nur eine ehrenvolle Stelle einnahmen, gedenken, daß die Ehre ihr höchstes veräußerliches Gut bleiben solle, und um dieses von allen Glücksgütern allein antastbar erhaltene Erbtheil unserer Väter rein zu bewahren, würde ich mit meinem Bruder als Vertreter der Ehre unseres Namens vor der Welt, das gnädig Anbieten E.K.H. meiner Mutter und Schwester eine Gnadenpension verleihen zu wollen unter den obwaltenden Verhältnißen stets abzulehnen gezwungen gewesen seyn. E.K.H. werden in dieser Handlungsweise nur jene Gesinnung erkennen, welche jedem Mann von Ehre angeboren seyn muß, und die am allerwenigsten dem deutschen Edelmann, er sei arm oder reich, fehlen dürfen.“362
In seinen Ausführungen erscheint die Verknüpfung von innerer und äußerer Ehre. Während die innere Ehre die Grundlage des Verhaltens liefert, geht es um die Verteidigung der äußeren Ehre. Die Ehre ist dabei vom Vermögen unabhängig. Lieber lebt man ehrenhaft in ,Armut‘, als wohlhabend in Schande.363 Diese Verknüpfung von innerer Ehre, die äußere Ehre bedingt, lässt sich auch östlich der Elbe finden. Am präsentesten ist sie im Zitatklassiker Friedrich August Ludwig von Marwitz‘, der das Verhalten seines Vorfahren Johann Friedrich Adolph charakterisierte. Dieser hatte es im Siebenjährigen Krieg abgelehnt, das sächsische Schloss Hubertusburg zu zerstören, war daraufhin von Friedrich II. nicht mehr befördert worden und hatte schließlich den Dienst quittiert. Über ihn schrieb Ludwig von der Marwitz: „wählte Ungnade, wo 362
363
Entwurf eines Schreibens von Frhr. Wilhelm v. Woellwarth an Großherzog Friedrich I. von Baden, Mannheim o.D. [ca. 1865], in: STALB – PL9/3, Bü. 1618, unpag. Eine ähnliche Verknüpfung desselben Autors: Entwurf eines Fideikommissstatuts durch Frhr. Wilhelm v. Woellwarth, Hohenroden/Mannheim Dez. 1858, in: STALB – E388, Bü. 776, unpag., Art. XIX. Wohlstand wird ebenfalls nicht als Voraussetzung von Ehre begriffen von: Friedrich v. Sydow: Ueber die Verarmung adeliger Familien, in: ZfddA 4/1843, S. 339.
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Gehorsam nicht Ehre brachte.“ Auch hier wird in einem Halbsatz der Zusammenhang von innerer Ehre als Vorbedingung der äußeren Ehre betont. Lieber wird Ungnade gewählt, als gegen die durch das Gewissen, das heißt die innere Ehre, vorgegebenen Maximen zu verstoßen. In der Folgezeit hat der Halbsatz, aus dem Kontext des Ereignisses und der Entstehung dieser Deutung herausgelöst, in die autobiographische Literatur als Selbstbeschreibungsmodus adligen Ehrverhaltens Eingang gefunden.364 Ihm folgend ist die innere Ehre Voraussetzung der äußeren und damit der innere Adel Voraussetzung des äußeren Adels. „Rang und Würde, Ruhm und Ehre, sind nur Schatten diesem Mann, Jugend fühle, Jugend höre, dass nur Tugend adeln kann“365 , schrieb Freiherr Johann Ludwig Friedrich von Liebenstein seinem Sohn um 1800 ins Stammbuch. Die Verknüpfung von innerer und äußerer Ehre scheint somit dem allgemeinen Verständnis zu entsprechen. Ein bedingt adliges Spezifikum des Ehrbegriffes bildet die historische Dimension, auf die im Schreiben von Woellwarths rekurriert wurde.366 Diese Ehrenhaftigkeit der Vorfahren dürfe aber, so Jacob Friedrich Joachim von Bülow, nur ein Ansporn sein, tugendhaft zu leben. Andernfalls handle es sich um eingebildete Ehre.367 Die Grundlage der inneren Ehre bildete im Kaiserreich ein festes Fundament christlich-monarchischer Erziehung und ein gesunder Familiensinn.368 Treue, Redlichkeit, Aufrichtigkeit, Hilfsbereitschaft, gute Ökonomie, Bescheidenheit, Höflichkeit und Freiheit von Standesdünkel listete eine Familiengeschichte auf.369 Freilich alles keine Tugenden, die dazu geeignet waren, den Adel vom Rest der Bevölkerung abzuheben. Wer zu diesen Tugenden erzogen war, konnte ein ehrenwertes Leben führen, jedoch mussten sie nicht in Heldentaten jedes Einzelnen münden. Herausragen täten aus der Familiengeschichte, so Hans-Hugo von Schuckmann 1932, nur wenige. Aber alle anderen hätten mit Fleiß ein ehrenwertes Leben geführt und der Familie keine Schande gebracht.370 Es ging also grundsätzlich eher um die Vermeidung unehrenhaften Verhaltens, als dass von jedem Höchstleistungen erwartet wurden – nicht ein bipolares Schema von Ehre und Schande bestimmte das adlige Ehrverständnis, sondern Ehre – Unauffälligkeit – Schande 364 365 366 367 368
369 370
Vgl. zur Entstehung und Einordnung Frie: Identitäten. Zur Bedeutung in der autobiographischen Literatur Malinowski: Vom König zum Führer, S. 224. Das Zitat aus den Lebensbeschreibungen der Familie in: STALB – PL18, Bü. 20, S. 18. Allerdings lässt sich hier auch an die spezifische Ehre eines Handelshauses, die sich über Generationen vererben lässt, denken. Vgl. zu diesen Ehrkonzepten Zunkel: Ehre, S. 49. FG-Bülow 1780, S. 1. FG-Bonin 1864, S. XI-XII; FG-Bülow 1911, S. VII. Entwurf eines Fideikommissstatuts durch Frhr. Wilhelm v. Woellwarth, Hohenroden/Mannheim Dez. 1858, in: STALB – E388, Bü. 776, unpag., Art. XIX. Mangelnder Familiensinn konnte hingegen als „ehr- und pflichtwidrig“ bezeichnet werden. Vgl. Antwortschreiben Frhr. Siegmund Göler v. Ravensburgs, Karlsruhe 17.2.1902, in: GLAK – 69 Göler v. Ravensburg, A362, unpag. FG-Bülow 1911, S. III-VI. FG-Schuckmann 1932, S. 60.
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bildeten eine Skala. Das negative Ende unehrenhaften Verhaltens lässt sich ebenfalls begrifflich fassen.371 Georg von Veltheim wurde in einem Beschluss des Senioren-Ausschusses der Familie charakterisiert als ein Mensch, der „Über seine Verhältnisse“ lebe. Sein „undurchsichtige[s] Verhalten . . . in geschäftlichen Dingen überhaupt“ wurde beklagt, sein „unberechtigte[s] Tragen der Offiziersuniform und des eisernen Kreuzes 1. Klasse“ gerügt. Er stehe im Verdacht strafbarer Handlungen und habe versucht, „auf Grund der äusserlichen Zugehörigkeit zu einem der ältesten Geschlechter Deutschlands Geldbeträge von dritter Seite zu erhalten, deren Deckung . . . mindestens zweifelhaft“ sei.372 Darüber hinaus werden häufig Spielschulden als Ausweis mangelnder Charakterfestigkeit oder „minderwertige[r] Neigungen“373 angeführt. Die Klagen von Vätern, die ihre Söhne aus Spielschulden retten mussten, um die Ehre des Sohnes und der Familie zu wahren, begegnen in den Quellen immer wieder – zuweilen aber auch das Ende der Bereitschaft zu Bezahlung von Spielschulden.374 Nicht überraschend ist es daher, dass sich Forderungen finden, man soll gegen das Glücksspiel wirken, „damit Ehre, Ansehen und Besitz des Geschlechts nicht leide[n].“375 Am Ende zeigt sich aber, dass es bei der Sorge um die innere Ehre nur um eine abgeleitete Funktion geht. Denn zentrales Ziel war die Bewahrung der „Ehre des Namens“, des „Rufs der Familie“, der über Generationen akkumulierten „Familienehre“ oder des „Ansehens des Adels“376 . Die Existenz dieses Ansehens konnte begrifflich als Folge innerer Ehre definiert werden, aber der tatsächliche Zusammenhang wurde immer nur postuliert, nie bewiesen. Dies verweist auf die bereits oben angeführte unauflösliche, spannungsreiche Verknüpfung innerer und äußerer Ehre. Es ging somit bei innerer und äußerer Ehre in den Erklärungen am Ende immer um die äußere als eine Folge der inneren.377 Aber wirkliche Sorgen machte man sich um die äußere Ehre, denn sie war die allein öffentlich sichtbare Form der Ehre. Daher auch die Forde371 372 373 374 375 376
377
Ein ganzer Katalog wurde in der Familie von Alvensleben aufgestellt. Vgl. dazu unten Kapitel III.3.1. Beschluss des Senioren-Ausschusses der v. Veltheimschen Familie, Schönfliess 21.8.1928, in: LHASA-WR – Rep. H Ostrau II, Nr. 670, S. 2. FG-Stetten 1998, S. 208. FG-Stauffenberg 1972, S. 319. FG-Dewitz 1918, S. 509. Graf Ludwig v. Pückler-Limpurg an Graf Carl v. Pückler, Burgfarnbach 24.10.1888, in: BLHAP – Rep. 37 Branitz, Nr. 682, unpag.; Protokoll des Familientags der v. Pückler, Falkenberg 18.7.1887, in: Ebd., Nr. 684, S. 17f.; FG-Bülow 1911, S. VII; FG-Bonin 1864, S. XI. Vom Fideikommisserbe konnte man in den Familien von Tessin und Varnbüler ausgeschlossen werden, wenn man sich entehrender Handlungen schuldig gemacht hatte. Die Feststellung konnte aber begreiflicherweise auch hier nur von außen erfolgen. Entwurf des Fideikommissstatuts durch Frhr. Axel v. Varnbüler, Berlin 18.7.1901, in: HSTAST – P10, Bü. 193, S. 13; Familienstatut der Frhr. v. Tessin, o.O. 23.12.1856, in: STALB – E318, Bü. 134, unpag., S. 37.
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rung, sich des „Namens der Familie wert zu erweisen“378 oder, mit den Worten Graf Hermann von Wartenslebens: „In unsrer Zeit, von Feinden rings umgeben, hat der Adel und der Offiziersstand nur dann eine berechtigte Zukunft, wenn grobe Verstöße der Standesgenossen nicht leicht genommen, sondern ernst gerügt und gesühnt werden.“379 Wobei der Akt der Sühne entweder in der Öffentlichkeit vollzogen werden konnte oder aber durch ein zurückgezogenes Leben gesühnt werden konnte. In beiden Fällen bleibt aber auch hier die Öffentlichkeit die Institution, an der man sich zu orientieren hatte. Gesteigert wurde die Ehre einer Familie hingegen nicht nur durch besondere Einzelleistungen, sondern auch durch die Benennung von Festungen, Regimentern oder Kriegsschiffen mit dem Familiennamen, was die besondere Wertschätzung einer Familie durch Monarchen und Regierungen sinnfällig zum Ausdruck brachte.380 Insofern waren innere und äußere Ehre im Diskurs des Adels präsent. Unehrenhaftes öffentliches Verhalten wurde mit mangelnder innerer Ehre erklärt. Dem Stand war aber, trotz aller Beteuerungen381 , die persönliche Ehre seiner Mitglieder weniger wichtig als die äußere Ehre. Und auch nur auf diese hatte man ja tatsächlich Einfluss. Die innere Ehre verschloss sich gegenüber dem Zugriff von außen. (2.) Geburtsständische Ehren, allgemeine Menschenehre und berufsständische Ehren: Schon mit der um 1840 erfolgenden Rückschau auf das Mittelalter deutet sich an, dass Ehre eine starke berufsständische Konnotation erhalten würde. In der Verbindung des Adligen mit dem Ritter des Mittelalters und dem Offizier der Neuzeit wurde die adlige Ehre mit dem Berufsstand des Offiziers verknüpft.382 Die Zunahme bürgerlicher Offiziere löste die Verbindung von Adels- und Offiziersehre langsam auf. Es ist offensichtlich, dass dann auch Adlige in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschiedene Begriffe von Ehre mit verschiedenen Berufsständen und nicht mehr mit Geburtsständen assoziierten. Besonders ausführlich sind die Ausführungen von Freiherr Alfred von Eberstein. Er begann 1894 eine Aufzählung von Ehren mit der Feststellung: „Die Ehre ist etwas Allgemeines, es giebt eine allgemeine Men-
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So bzw. in ähnlicher Diktion: FZ-Raven 40/1930, S. 1. Rede Graf Hermann v. Wartenslebens auf dem Familientag, o.O. 14.10.1898, in: LHASAWR – Rep. H Karow, Nr. 884, S. 16. In der Adelsreformdebatte hatte man solche Ehrlose noch ausstoßen wollen. Vgl. z. B.: NN: Was ist uns geblieben? In: ZfddA 1/1840, S. 301. Beispielhaft FZ-Bismarck 23/1939, S. 2. Als herbe Enttäuschung, aber auch als nachvollziehbare Tatsache, wurde es in der Familie von Bonin angesehen, dass sie bei der Vergabe von Adelsnamen an Regimenter übergangen worden war. Vgl. Protokoll des Familientags der v. Bonin, Berlin 18.3.1889, in: PLAG – Rep. 38d Bahrenbusch, Nr. 71, S. 103. Alfred Frhr. v. Eberstein: Über die Ehre und falsche Ehrbegriffe. Leipzig 1892, S. 1. NN: Betrachtungen über die Gegenwart und Zukunft des Adels und des gesellschaftlichen Zustandes überhaupt. Vorschläge zur Gestaltung der Zukunft, in: ZfddA 1/1840, S. 86. Außerdem die Anmerkungen bei Zunkel: Ehre, S. 37f.
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schenehre; diese bleibt das Fundament auf dem sich jede Ehre aufbaut.“383 Er fuhr fort: „Jeder Mensch soll Ehre haben, Ehre als Unterthan eines Staates, Ehre als Mitglied eines Standes, er soll Standesehre haben, damit dem Stande selbst seine Ehre gewahrt werde. Denn der Stand gilt als Einheit, als Person, und seine Anforderungen in Bezug auf die Ehrenhaftigkeit der Mitglieder müssen sich in dem Maße steigern, als sich das persönliche Moment bei ihm steigert, je mehr er sich fühlt und weiß als besonderer Stand.“384
Damit verknüpfte er den Begriff der Ehre mit einer Ständegesellschaft, wie sie ihm wünschenswert erschien – und dies war offensichtlich eine berufsständische Gesellschaft konservativer Provenienz. Daher solle sich „die allgemeine Menschenehre . . . in allen Berufszweigen zu einer Standesehre ausgestalten. Kein Stand ist berechtigt, für sich eine Standesehre in Anspruch zu nehmen, ohne dem andern Stande auch die Berechtigung zu einer Standesehre zuzuerkennen.“385 Die Aufzählung der Stände verdeutlicht, dass er nicht mehr von einer frühneuzeitlich ständischen Ordnung sprach. Zwar gebe es noch den Bauernstand, der Bürgerstand sei sich seines Ehrbegriffs aber unsicher geworden, und der Adel partizipiere entweder an der Ehre des Bauern, bei Großgrundbesitzern, oder der des Offiziers, bei Militärs. Nach einer ausführlichen Beschreibung der Offiziersehre folgte dann die Aufzählung anderer berufsständischer Ehren. Da die Bauern schon genannt worden waren, schienen noch nennenswert: die Amtsehre der Beamten, die Kaufmannsehre, die Handwerkerehre und die Arbeiterehre, später folgten unter anderem noch Ärzte, Anwälte und Pastoren. Berufsstände hätten sich nicht an individueller Gewinnmaximierung zu orientieren, sondern ehrenwert sei es, wenn alle Menschen ihr Auskommen hätten – keiner auf Kosten des Anderen. Hier scheint das Bild einer frühneuzeitlichen Ständegesellschaft auf, die Eigennutz einzuhegen versuchte.386 Eine Gesellschaftsvorstellung, die auch im Konservatismus des 19. Jahrhunderts zentral blieb und später Eingang in den Nationalsozialismus fand. Der Materialismus der Gegenwart, so von Eberstein, untergrabe eine ständische Ordnung. Einfachheit und Sparsamkeit, die in Relation zu den Einnahmen zu stehen hätten, seien wünschenswert. Das Offizierskorps beweise, dass hohes Ansehen in der Gesellschaft nicht von materiellen Gütern, sondern von der Gesinnung und Tüchtigkeit abhänge. Aufgabe der Gesetzgebung müsse es daher sein, einer berufsständischen 383 384 385 386
Eberstein: Über die Ehre, S. 2. Hervorhebung im Original. Ebd., S. 2f. Hervorhebungen im Original. Ebd., S. 12. Hervorhebung im Original. FG-Schilling 1925, S. 216. Dazu auch Burkhart: Eine Geschichte der Ehre, S. 93f. Vgl. zur Verbindung von Ehrstreitigkeiten, Eigennutz und Allgemeinwohlorientierung: Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, S. 102f. Die von den Nationalsozialisten propagierte Formel: ,Gemeinnutz geht vor Eigennutz‘, weist in die gleiche Richtung. Ebd., S. 192. Außerdem Winfried Schulze: Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft der frühen Neuzeit, in: HZ 243/1986, S. 591–626.
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Gesellschaft zum Durchbruch zu verhelfen, in der jeder Berufsstand seine eigene Ehre habe.387 Für eine spezifische Adelsehre war kein Raum mehr. (3.) Ehre und Individualität: Ehre hatte für das adlige Individuum eine große Bedeutung, die durch die Erfahrungen des 19. Jahrhunderts noch weiter gesteigert werden konnte. „Die Ehre meines Namens“, erschien es Freiherr Wilhelm von Woellwarth 1866, „ist das einzige was mir in der bewegten Zeit der Vergangenheit und Gegenwart nicht abgelöst werden kann. Sie ist ein Kleinod das ich von niemandem anfassen lassen würde.“388 Dieser hohe Stellenwert, der der Ehre hier beigemessen wurde, als jenes Eigentum des Individuums, das durch keine gesetzliche Maßregel aberkannt werden konnte, steigerte die Bereitschaft zur Verteidigung. Die daraus resultierende Duellneigung in Adel und Bürgertum im 19. Jahrhundert, die verschiedentlich beschrieben worden ist, hat in dieser Verabsolutierung der Ehre ihren Ursprung. Zudem konnten zahlreiche Rechte per Gesetz aufgehoben oder aberkannt werden – aber die Ehre war für das Gesetz nicht greifbar. Sie erschien auch nicht durch Ehrengerichte wiederherstellbar.389 Sie beruhte auf der Anerkennung durch Andere, und diese ließ sich nicht gesetzlich oder justiziell dekretieren. Jedoch war das Duell ein ambivalentes Instrument, da es von seinem Charakter her unchristlich war und rechtsstaatliche Prinzipien ignorierte – zwei Prinzipien, deren Aufrechterhaltung sich der Adel verschrieben hatte. Allerdings war das Duell auch Ausweis der Bereitschaft, die eigene Ehre, das heißt die angezweifelte Tugendhaftigkeit, mit dem Äußersten, dem Leben, zu verteidigen. Insofern konnte es als ein hervorragender Ausweis des Adelsverständnisses gewertet werden. Dies dürfte auch der Grund gewesen sein, weshalb sich die inneradlige Duellkritik nicht durchsetzen konnte.390 Diese „Ehre bezieht sich auf den sittlichen, nicht auf den intellektuellen Menschen.“391 Insofern war Ehrenhaftigkeit Ausdruck einer selbstbestimmtem Persönlichkeit. Sie wurde damit zum Gegenbegriff zur formalen Bildung. Denn diese (allein) schuf aus Sicht adliger Autobiographen keinen Charaktermenschen.392 Die Verknüpfung von Ehre und Charakter ging aber in ihrer 387 388 389 390
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Eberstein: Über die Ehre. Diese Gedanken zählt Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, S. 166, zu den Charakteristika der Ehrdiskussion um 1900. Entwurf eines Schreibens Frhr. Wilhelm v. Woellwarths an den preußischen Gesandten in Frankfurt, Mannheim 15.5.1866, in: STALB – PL9/3, Bü. 16, unpag. Die mangelnde Akzeptanz der Ehrengerichte bei Frevert: Ehrenmänner, passim. Außerdem Eberstein: Über die Ehre, S. 8f. Harald v. Kalm: Adel und Duell im Wilhelminismus, in: Archiv für Kulturgeschichte 76/1994, S. 389–414. Hingegen hat Wienfort: Wirtschaftsschulen, Waldbesitz, Wohltätigkeit, S. 406, die Duellkritik als erweiterten „Handlungsspielraum“ des Adels begriffen, ohne sie in Prinzipien adliger Werthorizonte einzubetten. Eberstein: Über die Ehre, S. 2. Zur Gegenüberstellung von Charakter und Bildung: Funck/Malinowski: Charakter ist alles; Malinowski: Vom König zum Führer, S. 73–89. Hier werden die Akzente jedoch anders gesetzt. Die Abwendung von Bildung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts betont auch Brunner: Die Stellung des ostelbischen Adels. Hinter dieser Wertung verbirgt
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Bedeutung weit über den Gegensatz adliger Charakter- und bürgerlicher Bildungsmenschen hinaus, eigentlich nicht einmal vollständig darin auf. Denn wohl nie war der formale Bildungsstand im Adel so hoch wie am Anfang des 20. Jahrhunderts.393 Der Charakter bildete vor allem einen Begriff, der sich gegen die Masse richtete. Der Charaktermensch war der ,ganze‘ Mensch, ein selbstbestimmtes Wesen, das seinen Ort in der Gesellschaft kannte. Der charakterlose Mensch trieb hingegen mit der Masse, war für allerlei Sinnlichkeiten empfänglich und gab sich der Genusssucht hin. Die Masse war aber das Ungeordnete – also das Gegenteil einer ständisch strukturierten Gesellschaft. Es wundert daher kaum, dass mangelnde Ehrenhaftigkeit des Individuums mit den Entwicklungen von Kapitalismus und Liberalismus, von Börsenspekulation und Gewinnstreben assoziiert werden konnte. Sie erschienen als unanständige Formen des Erwerbs, die auf der Bereicherung an fremdem Eigentum basierten. Ehre, die ja allen Menschen grundsätzlich und je nach Beruf noch einmal spezifisch zukommen sollte, und Charakter waren hingegen Zeichen für Ordnung, Einpassung in gesellschaftliche Strukturen und ein sittliches Leben, das allen Menschen Entfaltungsraum ließ.394 (4.) Nationale Ehre:395 Dass sich der Adel schon zur Jahrhundertmitte mit der Ehre der Nation und ihrer Monarchie identifizierte, überrascht kaum. In Südwestdeutschland war Freiin Gabriele von Stotzingen 1848 erschrocken über den Mangel an Ehrgefühl, der nach dem revolutionären Zug Heckers und Struves durch Baden im April 1848 zu einer solch beschämenden Lage in „unserem elenden Ländchen“ geführt hätte. „Diese Schmach und Treulosigkeit zeigt wieder deutlich, daß die Ehre nichts Konventionelles, willkürlich Erfundenes ist, sondern genau der Stufe der Moralität entspricht, auf der der Mensch steht.“ Sie rügte das Verhalten der badischen Offiziere, die sich ebenso wie die Regierung „kopflos“ verhalten hätten. Sie sei „sehr bekümmert, nicht allein um den Ausgang der Verwirrung in Deutschland, sondern auch um den Ruin in unserem Ländchen.“396 Diese Sorge um die nationale Ehre bildete auch in der Folgezeit eine Grundkonstante, allerdings gab es Modifikationen.
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sich aber auch eine Veränderung des Bildungsbegriffs im 19. Jahrhundert. Denn Bildung umfasst im Verständnis des frühen 19. Jahrhunderts noch Charakter und Gesinnung. Vgl. Elisabeth Fehrenbach: Adel und Bürgertum in deutschen Vormärz, in: HZ 258/1994, S. 1–28, hier S. 11. Tacke: Kurzschluss, S. 96f. Warnung vor der Genusssucht u. a. in einem Testamentsauszug Friedrich August Ludwig v.d. Marwitz‘, abgedruckt in: FZ-Zepelin 2/1936, S. 1. Der Gegensatz von Charaktermenschen und genusssüchtigen Menschen auch bei Eberstein: Über die Ehre, S. 5– 8 u. 19f. Zum Begriff der Masse vgl. Reinhart Koselleck: Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: Ders./Brunner/Conze: Geschichtliche Grundbegriffe 7, Stuttgart 1992, S. 141– 431, hier S. 415–417. Vgl. hierzu auch die Anmerkungen bei Conze: Helden und Verräter, S. 373–375. Freiin Gabriele v. Stotzingen an Frhr. Roderich v. Stotzingen, o.O. 23.5.1848, in: Dorneich: Erinnerungen, S. 112.
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1913 wurde in der Familie von Bonin erwartet, dass jedes Familienmitglied einstehe „für die Ehre der Familie und unseres Namens, für die Größe und den Ruhm unseres geliebten Vaterlandes, für Kaiser und Reich.“397 Hier waren kurz vor dem Ersten Weltkrieg noch einmal die Institutionen, die für nationale Ehre im Kaiserreich maßgebend waren, aufgeführt – Vaterland, Kaiser und Reich. Nach 1918 sollte sich eine kleine, aber wesentliche Verschiebung ergeben. Die Erwartung, die sich aus individueller Ehren- und Charakterfestigkeit und dem Bezug von Ehre auf die Nation nach dem ersten Weltkrieg ergab, zeigt eine Feststellung Hans-Hugo von Schuckmanns von 1932: „Der deutsche Adel in seiner Gesamtheit hat für Volk und Staat so überragendes geleistet, mit denkwürdigen Ereignissen der deutschen Geschichte verknüpfen sich soviele seiner Namen, daß auch heute im Volke vom Träger eines adligen Namens ehrenfeste Anschauungen und besondere Leistungen erwartet werden. Diese Erwartungen gilt es zu entsprechen. Das Ansehen des Adels wird immer vom Einsatz der Mehrheit seiner Zugehörigen abhängen – Mehrheit nicht im Sinne einer zahlenmäßigen Masse, sondern der einer Summe von Einzelpersönlichkeiten.“398
Neben der Gegenüberstellung von Charakter und Masse zeigt sich hier der Wechsel des Fixpunktes der Allgemeinwohlorientierung, der bei der Adelsdefinition für die Zeit nach 1918 bereits attestiert wurde, und der verstärkte Bezug des Handelns auf das Volk, dem Vorrang vor dem Monarchen eingeräumt wurde.399 Dass dieser Einsatz für Volk und Staat in aller Regel in einem konservativen, anti-demokratischen und anti-parlamentarischen Sinne ausgelegt wurde, ist von Stephan Malinowski gezeigt worden.400 Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten und die Außenpolitik bis zum Kriegsbeginn konnten so im Adel als Teil des Rückgewinns nationaler Ehre verstanden werden.401 Leistungen für die Ehre der Nation, sei es im monarchischen, sei es im völkischen Sinne, war man vor wie nach 1918 bemüht, in die (Familien-)Öffentlichkeit zu bringen und damit die eigene Vorbildlichkeit zu unterstreichen.402 Nach außen belastete den Adel die Sorge, dass seine Leistungen nicht adäquat wahrgenommen würden und damit seine nationale Zuverlässigkeit in Frage 397
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400 401 402
Protokoll des Familientags der v. Bonin, Berlin 20.2.1913, in: PLAG – Rep. 38d Bahrenbusch, Nr. 71, S. 198; FG-Bülow 1911, S. IV. Auf die Offiziersehre bezogen, die für die dort dienenden Adligen maßgeblich war: Eberstein: Über die Ehre, S. 5f. FG-Schuckmann 1932, S. 61. Ähnlich FZ-Sei(y)dlitz 14/1939, S. 172. Zur Abkehr vor allem des jüngeren Adels vom Monarchen vgl. Malinowski: Vom König zum Führer, S. 247–258; Martin Kohlrausch: Die Flucht des Kaiser – Doppeltes Scheitern adlig-bürgerlicher Monarchiekonzepte, in: Reif : Adel und Bürgertum in Deutschland 2, S. 65–101. Malinowski: Vom König zum Führer, S. 247–258. FZ-Ditfurth 3/1938, S. 1. Zur Heldengedenkmappe des Adels vgl. Malinowski: Vom König zum Führer, S. 197f. u. 200. Außerdem von den Familien z. B. FG-Kirchbach 1925; FG-Kalckstein 1904; FG-Dewitz 1933; Einladung zum Familientag der v.d. Schulenburg, Probstey Salzwedel 8.1.1873, in: LHASA-WR – Rep. H Beetzendorf I AII, Nr. 24a, S. 118.
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gestellt werden könnte. Dies konnte entweder durch die breitere Öffentlichkeit geschehen oder aber durch die Staatsführung.403 Daraus resultierten die Heldenlisten der Gefallenen des Adels insgesamt und der einzelnen Familien im Besonderen. Diese waren keine reinen Erinnerungsmedien, sondern sie waren Symbole für die Opferbereitschaft des Adels. Daher wurde in der Familie von Alvensleben 1919 ein Antrag gestellt, „dafür Sorge zu tragen, dass den Behauptungen, aus unseren Familien seien nicht so zahlreiche Verluste zu beklagen, wie angegeben werden, öffentlich entgegengetreten werde.“404 Familienintern stand hinter den Opferlisten auch der Versuch, die jüngere Generation zu gleichen Leistungen anzutreiben. Sie sollten, wie ihre Vorfahren, bereit sein, an Kämpfen um die nationale Ehre teilzunehmen und ihr Leben für den jeweiligen Loyalitätspol – Monarch oder Volk – zu riskieren.405 Dieser Sorge um die Ehre der Nation stand der Kampf gegen und die Distanzierung von Vaterlandsverrätern gegenüber.406 So sah sich der Familienverband von der Marwitz gezwungen, eine distanzierende Klarstellung im Deutschen Adelsblatt zu veröffentlichen, nachdem Friedrich von der Marwitz, in Paris lebend und persischer Staatsangehöriger, mehrfach in „pazifistischen und französischen Zeitschriften Aufsätze landesverräterischen Inhalts herausgegeben“ hatte. Aufgrund seiner Staatsangehörigkeit waren Bemühungen bei der deutschen Botschaft in Paris gescheitert, ihm auf andere Weise beizukommen.407 Noch ganz andere Töne schlug Hans Heinrich von Seidlitz 1935 an. Tiefe Betrübnis brachte er ob „der Verurteilung von Trägerinnen bester Adelsnamen wegen Landesverrat“ hervor. Zwei Frauen waren zum Tode, eine zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden. Die „Strenge [der Urteile], die wir bei allem Mitempfinden für die tiefgetroffenen Namensangehörigen der Verbrecherinnen [haben]“, könne man nur begrüßen. Es könne kein Verständnis für ihr Verhalten geben. Es komme nur „mannhaftes Bekennen der Schuld, Übernahme gerechter Sühne für jeden, der noch einen Funken von Ehre im Leibe hat, in Frage.“ „Eiterbeulen müssen aufgestochen und ausgebrannt werden.“ Gerade an Träger verdienter Namen müsse man höhere Ansprüche stellen können, der Adel müsse sich seiner Vorbildrolle 403
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Bei Letzterer konnte es z. B. hilfreich sein, um das Familienpräsentationsrecht für das Herrenhaus zu erlangen, möglichst lange Listen der Kriegsteilnehmer für die Monarchie einzureichen. Vgl. Wilhelm v. Zitzewitz an Kptlt. v. Zitzewitz, Zezenow 6.1.1902, in: PLAG – Rep. 38d Zitzewitz-Muttrin, Nr. 191, S. 371. Protokoll des Familientags der v. Alvensleben, Magdeburg 12.2.1919, in: LHASA-WR – Rep. H Neugattersleben, Nr. 240, S. 376. FZ-Sei(y)dlitz 3/1934, S. 4; Zum Gedächtnis der im Weltkriege 1914/18 gefallenen Vettern v.d. Marwitz, o.O. o.D. [1922], in: BLHAP – Rep. 37 Friedersdorf, Nr. 259, S. 105– 120; FG-Bonin 1903, S. 24f.; FZ-Rekowski 2/1934, S. 1f. Zum ausgrenzenden Verhalten der Mehrheit des Adels gegenüber solchen Standesmitgliedern, die vom konservativen, sich radikalisierenden Mainstream des Adels abwichen vgl. Malinowski: Vom König zum Führer, S. 460–475. Protokoll des Familienrats v.d. Marwitz, Berlin 18.3.1928, in: BLHAP – Rep. 37 Friedersdorf, Nr. 259, S. 155f.
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bewusst sein, weshalb die härtesten Strafen gerechtfertigt wären.408 Hier erfolgte im Hinblick auf Ehre und Nation eine Radikalisierung in Sprache und Handlungsforderung, die für eine Missachtung zwar noch Sühne forderte, für Vergebung aber keinen Raum ließ. Mitgefühl war nur für Familienangehörige möglich, deren äußere Ehre durch die Verwandtschaft gelitten hatte. Der Kampf gegen Landesverräter und die bei solchem Verhalten drohende Gefahr der Entehrung des Familiennamens ließ schließlich nur noch ein Mittel zur Sicherung der Ehre der betroffenen Namensangehörigen zu. Der Adel hatte sich allgemeine Begriffe nationaler Ehre und ihre Radikalisierung zu Eigen gemacht. Toleranz gegenüber Abweichungen war nicht mehr vorgesehen. Schließlich partizipierte der Adel auch an der rassischen Redefinition nationaler Ehre. Dass es „uns im Blute“ liegt409 , die Ehre hochzuhalten, betonte Friedrich Freiherr von Gaisberg-Schöckingen 1924 gegenüber seinen Standesgenossen im St. Georgenverein. Auch die Ausgrenzung ,fremden‘ Blutes aus der Nation fand in Südwest- und Nordostdeutschland Anklang und in der Einforderung von Ahnennachweisen für die Mitgliedschaft in der DAG ihren Ausdruck.410 In Teilen des Adels ging der Glaube an die ,Rassenschande‘ bis hin zum ,paranoiden‘ Antisemitismus, der schon den geschlechtlichen Kontakt mit ,Juden‘ für entehrend hielt.411 Was also die Ehre der Nation anbetraf, so nahm der Adel hier keine wirkliche Sonderstellung ein. Zwar betonte er im 19. Jahrhundert stärker den Staat und seine Ordnung – sein Nationsbild war damit von dem Liberaler unterschieden durch einen deutlich konservativen Zug. Aber er war bemüht, seine Leistungen für die nationale Ehre sichtbar zu manifestieren. Zugleich lässt sich mit dem Ende der Monarchie 1918 auch die Anpassung der Vorstellung von nationaler Ehre an Varianten der radikalen Rechten und damit eine Aushöhlung konservativ-monarchischer Nationsvorstellungen feststellen. (5.) Männliche und weibliche Geschlechtsehre: Bei der Geschlechtsehre scheint auf den ersten Blick eine eindeutige Sonderstellung adliger Männer vorhanden zu sein. Zumindest im Kaiserreich gab es, folgt man Marcus Funck, noch einen spezifisch aristokratisch-militärischen Männlichkeitsentwurf.412 Die Spezifik wird aber schwammig, wenn man hinter zentrale Begrifflichkeiten der männlichen Ehre blickt. Denn diese Geschlechtsehre 408 409 410
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Hans Heinrich v. Seidlitz: Erhaltung des Adels, in: FZ-Sei(y)dlitz 5/1935, S. 1. Rundschreiben des Ritterhptms. Friedrich Frhr. v. Gaisberg-Schöckingen, Schöckingen 25.4.1924, in: AStG – Bü. 373, unpag., S. 4. Dabei kam es allerdings zu Streitigkeiten, wenn die Beschaffung der Ahnennachweise nicht möglich war. Vgl. Schreiben v. Bogens an v. Lucks, Berlin 14.2.1936, in: AStG – Bü. 370, unpag. Dies fand auch in den Mitgliedschaftsregeln der DAG in den 1930er Jahren seine Umsetzung. Vgl. dazu Malinowski: Vom König zum Führer, 482–488. Marcus Funck: Vom Höfling zum soldatischen Mann. Varianten und Umwandlungen adeliger Männlichkeit zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, in: Conze/Wienfort: Adel und Moderne, S. 205–235.
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fand ihren Ausdruck im Begriff der ,Ritterlichkeit‘. Die begrifflich suggerierte Anschlussfähigkeit von adligen Glanzzeiten des Mittelalters an den Adel des Kaiserreichs führt allerdings in zweierlei Weise in die Irre. Einmal, weil ,ritterliches‘ Verhalten im Kaiserreich kein Attribut allein adliger Männer war, sondern auch im Bürgertum verbreitet war. Jemandem die ,Ritterlichkeit‘ abzusprechen, war eine schwere Ehrverletzung, die nicht nur Adlige als solche empfinden sollten, sondern auch Bürgerliche, wie die Duellratgeberliteratur betonte.413 ,Ritterlichkeit‘ war somit Attribut einer männlichen Geschlechtsehre der höheren Stände, nicht ein Spezifikum des Adels. Zweitens wird dieser Befund erhärtet, wenn man auf die Begriffe blickt, die Zeitgenossen hinter dem eher abstrakten Attribut der ,Ritterlichkeit‘ sahen. So betonte die Familiengeschichte der von Bülows 1911, dass „Tapferkeit“ und „Heldenmut“ zu den Tugenden des männlichen Adligen zählten. Aber auch diese Begriffe unterschieden sich nicht von dem, was für Vorstellungen über die Geschlechtsehre im Bürgertum festgestellt worden ist.414 Der männliche Geschlechtscharakter rekurrierte insofern sowohl im Adel als auch im Bürgertum in besonderer Weise auf militärische Tugenden. Seit der Jahrhundertwende war dieser galant ,ritterliche‘ Geschlechtsentwurf zunehmend dem Vorwurf der Homosexualität ausgesetzt. Die Kritik kam aus altpreußischen, neu-rechten und sozialdemokratischen Kreisen und hatte die Verdrängung des aristokratischen durch einen militärischen Männlichkeitskult zur Folge, der ebenfalls über den Adel hinausreichte. Das auf Zucht, Härte und Kargheit gegründete militärische Männlichkeitsideal wurde vor allem von jenen Teilen des Adels gelebt, die sich nicht zur finanziellen Spitze rechnen konnten, und wandte sich damit gegen wahrgenommene höfische ,Entartungen‘.415 Dieser neue auf Härte und Tapferkeit abzielende Männlichkeitskult erlebte seit 1914 seine Feuerprobe. Doch wohl nirgendwo wurde die männliche Geschlechtsehre auf eine härtere Probe gestellt, als im Ersten Weltkrieg. Statt individuellen Wagemuts zählten hier die Massenheere, heroische Taten 413 414
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Frevert: Ehre – männlich/weiblich, S. 31. Zur Rezeption des Begriffs der Ritterlichkeit auch Zunkel: Ehre, S. 37f. Frevert: Ehre – männlich/weiblich, S. 60–65. In negativer Weise diese Geschlechtscharaktere auch in dem Brief Freiin Gabriele v. Stotzingens an Frhr. Roderich v. Stotzingen, o.O. 23.5.1848, in: Dorneich: Erinnerungen, S. 112. Inwiefern es sich bei diesen Werten um ehemalige adlige männliche Geschlechtscharaktere handelt, wie es Burkhart: Eine Geschichte der Ehre, S. 92f., nahelegt, wäre noch näher zu untersuchen. Marcus Funck: Bereit zum Krieg? Entwurf und Praxis militärischer Männlichkeit im preußisch-deutschen Offizierskorps vor dem Ersten Weltkrieg, in: Karen Hagemann/ Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.): Heimat-Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt/New York 2002, S. 69–90. Ob allerdings der vom selben Autor betonte Unterschied im Männlichkeitsbild zwischen Gutserben und Nachgeborenen tatsächlich relevant war, erscheint ebenso fraglich wie seine Beharrung darauf, dass das kriegerische Männlichkeitsideal vor 1914 adlig-exklusiv gewesen sei. Vgl. dazu Marcus Funck: Vom Höfling zum soldatischen Mann.
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gingen im Massensterben unter. Die Erwartung, als wagemutiger Krieger aus einem ehrenvoll gewonnen Krieg zurückkehren zu können, wurde in den Schützengräben zur Illusion und mit der Niederlage zur Unmöglichkeit. Interessant sind daher die von den Familienverbänden schon bald eingeforderten Kriegserlebnisberichte. Was hier an individuellem Wagemut und persönlicher (Führer-)Leistung porträtiert wurde, stand in weitgehendem Gegensatz zur Realität des Krieges. Der Tod Adliger wurde hier häufig in aller Gelassenheit und Ruhe hingenommen. Ausdrücke von Schmerz und Verzweiflung hatten nur bedingt Raum. Die adligen Krieger bestätigten den männlichen Geschlechtscharakter.416 Doch auch hier folgten die adligen Berichte einem weit verbreiteten Bedürfnis, das sich auch in literarischen Genres in der Weimarer Republik Bahn brach und das darauf abzielte, „wagemutige Kriegerhelden“ und ehrenhafte Kämpfer zu zeigen. „Die Diskrepanz zwischen nachträglicher Überhöhung einerseits und nüchterner Bestandsaufnahme andererseits wurde letztlich nicht aufgelöst – ein unerfüllter Traum heroischer Männlichkeit belastete die Republik“417 – im Adel ebenso wie in anderen Teilen der Bevölkerung. Betrachtet man die Geschlechtsehre der Frau, so lassen sich die Befunde Ute Freverts, die auf einem gemischt adlig-bürgerlichen Sample basieren, ebenfalls bestätigen.418 Frauen konnten zwar die Ehre einer Geschlechtsgenossin verletzten – der Austrag der Ehrstreitigkeit blieb aber den Männern überlassen.419 Ebenso zählte der makellose Ruf der prospektiven Ehefrau für Freiherr Benjamin von Tessin als Voraussetzung, dass ein männliches Familienmitglied in den Besitz des Majoratsstammgutes gelangen könne beziehungsweise in ihm verbleiben dürfe. Die Ehre des Mannes wurde also durch den Ruf seiner Frau auch im Adel beeinflusst.420 Die Erbfolge in Fideikommissen und damit die Erhaltung des Mannesstamms waren auf die sexuelle Treue der Ehefrau angewiesen, und etwaige Vorwürfe einer illegitimen Abstammung setzten den Inhaber eines Fideikommisses unter Rechtfertigungsdruck.421 ,Keuschheit‘ blieb für die Ehre der Frau oberstes 416
417 418 419 420
421
Als Fortsetzungsserie in FZ-Bülow; Zum Gedächtnis der im Weltkriege 1914/18 gefallenen Vettern v.d. Marwitz, o.O. o.D. [1922], in: BLHAP – Rep. 37 Friedersdorf, Nr. 259, S. 105–120. Beide Zitate aus Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, S. 185. Frevert: Ehre – männlich/weiblich. So im Falle der Duellforderung Ernst Frhr. v. Weidenbachs gegen Franz Frhr. v. Gültlingen 1927. Siehe dazu den Schriftverkehr in: AStG – Bü. 145. Familienstatut der Frhr. v. Tessin, o.O. 23.12.1856, in: STALB – E318, Bü. 134, unpag., S. 37. Ebenso im Entwurf des Fideikommissstatuts durch Frhr. Axel v. Varnbüler, Berlin 18.7.1901, in: HSTAST – P10, Bü. 193, S. 13. So wurde Hans-Hasso v. Veltheim von seinem Halbbruder Georg v. Veltheim vorgeworfen, nicht Sohn seines Vaters zu sein. Georg v. Veltheim verfolgte damit den Zweck, sich selbst in den Besitz des Fideikommisses Ostrau zu bringen. Vgl. Hans-Hasso v. Veltheim an den Vorstand des Familienverbands, Ostrau 6.5.1932, in: LHASA-WR – Rep. H Ostrau II, Nr. 671, S. 23.
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I. Adel und gesellschaftliche Ordnungsmodelle
Gebot.422 Die Suche nach adligen Besonderheiten in der Geschlechtsehre kommt also ebenfalls zu einem ernüchternden Befund. Martin Dinges hat davon gesprochen, dass „Ehre . . . zu sehr als Sonderbewußtsein einer fixierbaren Population gedacht und damit tendenziell statisch [wird]. Eine implizite Annahme dabei ist auch häufig die innere Konsistenz dieses Gruppencodes.“423 Dies gilt es auch für den Adel zu betonen. Der oben aufgestellte Katalog zeigt die Wandelbarkeit des adlig-konservativen Ehrbegriffs. Was als ehrenhafte Verhaltensweise zu verstehen war, unterlag jeweils zeitgenössischen Ausprägungen und konnte je nach Situation und politischem System unterschiedlich ausfallen424 – wobei der adlig-konservative Wertehimmel die Varianz beschränkte. Im Gegensatz zu den genauer definierbaren Handlungserwartungen, die die Leitideen ,Familie‘ und ,Grundbesitz‘ vorgaben, ist die Leitidee ,Ehre‘ somit zwar ebenso dem Zeitwandel unterlegen, sie konnte aber zugleich noch stärker umkämpft sein, wenn es darum ging festzulegen, welches Verhalten als ehrbar galt. Fragt man nach Spezifika des adligen Ehrverständnisses, so fallen zwei Elemente in den Blick, die in beiden Untersuchungsgruppen präsent waren. Erstens ist dies die Tiefendimension der Ehre. Auch wenn man nicht an die Vererbung von Ehre glaubte, partizipierten die Nachkommen doch an der akkumulierten Ehre ihrer Vorfahren, vermittelt über den in die Geschichtsbücher eingeschriebenen Familiennamen. Diese Ehre zu bewahren, wurde zur Handlungsaufforderung. Zweitens, und dies verband sich mit dem historischen Bewusstsein, konnte der Adel seine Sonderstellung in besonderer Ausprägung des Ehrgefühls und seiner Vorbildlichkeit in der Betätigung und Verteidigung suchen. Die Behauptung, dass „die Ausgestaltung des Ehrbegriffs in einem Volke . . . auf den sittlichen Standpunkt einen richtigen Schluß ziehen“425 lässt, katapultierte den Adel, gemeinsam mit dem Offizierskorps, in eine Vorreiterrolle in der Gesellschaft.426 Die Suche nach Adeligkeit, die sich in spezifisch adligen Leitideen ausdrückt, hat für die drei Begriffe Familie, Grundbesitz und Ehre ein ernüchterndes Resultat zutage gefördert. Adlige Spezifika lassen sich innerhalb der Begriffe und der Begriffswandlungen nicht oder kaum ausmachen. 422 423 424
425
426
Eberstein: Über die Ehre, S. 2. Dinges: Die Ehre als Thema der Stadtgeschichte, S. 435. Vgl. als allgemeines Beispiel die Wertschätzung gegenüber Denunzianten im System des nationalsozialistischen Staates. Dieser privilegierte Denunziation faktisch, obwohl er in der Rhetorik gegen Denunziationen Stellung bezog. Dazu Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, S. 207–211. Eberstein: Über die Ehre, S. 12. Hervorhebung im Original. Ähnlich: Freiin Gabriele v. Stotzingens an Frhr. Roderich v. Stotzingen, o.O. 23.5.1848, in: Dorneich: Erinnerungen, S. 112. Solche Behauptungen allgemein auch genannt bei: Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, S. 129–172. Eberstein: Über die Ehre, S. 5, schrieb: „Die wahre Inkarnation der Ehre eines Edelmann ist die militärische Ehre und vor allem die Offiziersehre. Die Soldatenehre verlangt Treue und Tapferkeit, die Ehre des Führers steigert beides, fordert ritterliches Wesen und persönliche Hingabe für den Kriegsherrn.“
2. Adelskonzepte und Gesellschaftsentwürfe: 1860er bis 1930er Jahre
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Die von Adligen vertretenen Definitionen stellen vielmehr zunächst konservative, später völkische und radikalnationalistische Positionen dar, nicht spezifisch adlige. Besonderheiten fallen nur dort auf, wo der Adel auf seine Geschichte zurückgreifen konnte, um die vorbildliche Befolgung der Ideale zu untermauern. Dies schließt an die Leitidee von Adel an, wie sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verbreitet wurde. Adel wurde zum Vorbildstand, der allgemeine konservative Tugenden und Werte in besonderer Weise verfolgte. Dies zeigt sich bei Familien-, Grundbesitz- und Ehrbegriff, wo Adlige bei allgemein gleicher Begriffsdefinition stets die besondere Befolgung der Werte durch den Adelsstand betonten. In der (stilisierten) besonderen Befolgung konservativer Leitideen liegt das Differenzkriterium, das der Adel zwischen sich und dem Rest der Bevölkerung aufbaute. Es war seine Standes-,Pflicht‘, sowohl in Südwest- als auch in Nordostdeutschland, die Werte in besonderer, vorbildlicher Weise zu vertreten. Diese seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entstehende Selbstbeschreibung und die mit ihr verbundenen Tugenden ließen freilich die Grenzen zum Rest der Bevölkerung fließend werden.427 Dies war aber durchaus gewollt. Denn eine konservative, ständische Gesellschaft konnte nur existieren, wenn sich die Bevölkerung insgesamt an konservativen Leitideen von Familie, Ehre, Grundbesitz und anderen mehr orientierte. Insofern waren konservative und damit auch adlige Leitideen auf Inklusion angelegt, weil sie möglichst große Teile der Bevölkerung zur Befolgung animieren wollten. Wären die Leitideen nur auf den Adel zugeschnitten gewesen, hätten sie keine gesellschaftliche Relevanz gehabt und nicht zur Stabilisierung einer konservativ-ständischen Gesellschaft beitragen können. Der Konservatismus verbreitete sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dann in bürgerlichen Kreisen, die sich durch den Aufstieg unterbürgerlicher Schichten bedroht fühlten und die liberale Gedankenwelt nicht mehr für ausreichend hielten. Damit breiteten sich auch die konservativen Leitideen aus.428 Die adlig-konservative Gesellschaftsvision konnte so eine breitere Anhängerschaft gewinnen. Zeitgleich wurden die Leitideen allerdings in der neuen Rechten und der völkischen Bewegung, in der der Adel zwar eine überproportionale, aber keine überragende Rolle spielte, rassisch verformt und radikalisiert. Freilich blieb die völkische Bewegung in Deutschland bis 1914 politisch schwach. Ihr Gedankengut verbreitete sich nur langsam. Erst nach der Niederlage 1918 begannen die Ideen ihren Siegeszug. Nicht nur aufgrund der Erfahrung der Niederlage 1918 lag daher die Radikalisierung des Adels nahe. Wollte er weiterhin Tugendvorbild einer ständisch gedachten Gesellschaft sein, so musste er Vorreiter jener Bewegungen werden, die den adligen Positionen nahestehendes ständisches Gedankengut vertraten. Dies waren im 427 428
Dies geschah somit nicht erst, wie Tacke: Kurzschluss, S. 121, annimmt, um die Jahrhundertwende. Schildt: Konservatives Menschenbild, S. 221f. Damit im Gegensatz zu Malinowski: Vom König zum Führer, S. 595.
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I. Adel und gesellschaftliche Ordnungsmodelle
protestantischen Bereich die völkische Bewegung und der radikale Nationalismus. Es handelte sich also nicht um eine „unfreiwillige Annäherung an den Mittelstand“429 , sondern die Annäherung war schon im Konservatismus des 19. Jahrhunderts angelegt und Teil der Durchsetzung ständischer Gesellschaftsvisionen, die dem Adel weiterhin seine gesellschaftliche Führungsrolle erhalten sollten. Dass die autobiographische Produktion des Adels nach 1918 einen solchen Schub erfuhr, überrascht daher auch nicht weiter. Es ging dabei nicht um die „Formulierung eines ,adligen Projekts‘“430 , sondern der Adel bot sich als Repräsentant und Anführer einer anderen, der Republik entgegengesetzten Ordnung an.431 Mit dem vorhandenen kulturellen Kapital war es für den Adel möglich, sich auch innerhalb der rassisch-biologisch veränderten konservativen Begriffe weiterhin als Vorreiter zu stilisieren. Es ist verschiedentlich auf die Notwendigkeit der Kontextualisierung von Leitideen als Kennzeichen von Adeligkeit hingewiesen worden.432 Adeligkeit entstehe, wenn Adlige bestimmte Leitideen als maßgeblich für den Adel betonen. Dass diese Leitideen bei genauer Analyse nicht spezifisch adlige, sondern konservative Leitideen darstellen, widerspricht dem jedoch nicht. Der Nachweis des Ursprungs adliger Leitideen aus einem konservativen Ideenhaushalt und die Veränderung adlig-konservativer Leitideen in Verbindung mit dem Wandel von konservativen zu völkischen und neu-rechten Leitideen betont in erster Linie die Eingebundenheit des Adels in die Gesamtgesellschaft und die Veränderung der Leitideen zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert. Adel als Stand definierte sich durch die gesteigerte Befolgung der Leitidee. In zweiter Linie waren die konservativen Leitideen aber auch für die Konstituierung des Adels von besonderer Relevanz. Denn dadurch, dass sich der Adel selbst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem über konservative Leitideen und deren Befolgung definieren wollte, bildeten diese Leitideen auch ein Fundament zur Bestimmung des Adels. Nicht von ungefähr konnte immer wieder über ,wahre‘ und ,falsche‘ Mitglieder des Adels geklagt werden. Eine Unterscheidung, die aus juristischer Perspektive völlig unverständlich bliebe. Doch die Betonung der Leitideen als Charakteristikum des Adels ließ eine Binnendifferenzierung innerhalb des Geburtsadels zwischen ,wahrem‘ Adel, der die konservativen Leitideen befolgte, und ,falschem‘ Adel, der sie nicht befolgte, 429 430 431
432
Ebd., S. 421. Funck/Malinowski: Geschichte von Oben, S. 241. Eher in diese Richtung geht die Feststellung, dass sich der Adel in Autobiographien vielfach als Kämpfer gegen den Parlamentarismus dargestellt hätte. Vgl. dies.: Masters of Memory, S. 94. Eckart Conze: Grundlagen und Ausdrucksformen adeliger Lebensführung. Einführende Überlegungen, in: Ders./Alexander Jendorff /Heide Wunder (Hrsg.): Adel in Hessen. Herrschaft, Selbstverständnis und Lebensführung vom 15. bis ins 20. Jahrhundert, Marburg 2010, S. 375–380, hier S. 375; J. Trygve Has-Ellison: Fin-de-siècle Artistic Modernism and the Nobility: The Case of Nicholas Count Seebach, in: GSR 31/2008, S. 22– 42, hier S. 27.
2. Adelskonzepte und Gesellschaftsentwürfe: 1860er bis 1930er Jahre
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zu.433 Diese Wertung konnte sowohl von Adligen434 als auch von Nicht-Adligen435 ausgehen. „Wie viele Familien und Familienangehörige gibt es noch heutzutage“, schrieb Freiherr Siegmund von Crailsheim 1905, „die trotz der Zeiten Drang und Stürme nicht zur richtigen Erkenntnis und Würdigung ihrer ihnen vom Geschicke seit Jahrhunderten auferlegten Bestimmung gekommen sind und dadurch nicht nur sich und ihrem Namen, sondern dem Adelsstand im allgemeinen Schande und Schaden bereiten, und die Auffassung zu rechtfertigen scheinen, der Adel sei ein entbehrlicher Stand im Staate.“436
Denn der ,wahre‘ Adel trug zur Stabilisierung einer konservativ-ständischen Gesellschaft bei, der ,falsche‘ Adel leistete einer liberalen oder sozialistischen Klassengesellschaft Vorschub. Zum adlig-konservativen Wertehorizont konnte man sich ebenso wie zum bürgerlich-liberalen Wertehimmel, unter Bezug auf seine einzelnen Leitideen, zustimmend oder ablehnend verhalten.437 Dieser Abschnitt hatte drei Erkenntnisinteressen: Zunächst ging es um die Frage der gesellschaftlichen Ordnungsvision im Adel und anderen Gesellschaftsgruppen, die eine Fortexistenz des Adelsstandes erlaubte. Sodann ging es um die Stellung des Adels innerhalb dieser Gesellschaft. Schließlich ging es um die Frage nach der Struktur des 19. Jahrhunderts. Betrachtet man die Gesellschaftsvision, so ist die Kontinuität ständischer Beschreibungsmuster im deutschen Konservatismus, der völkischen Bewegung und dem radikalen Nationalismus offensichtlich. Nach dem Auslaufen geburtsständischer Modelle in den 1850er Jahren waren dies stets berufsständische Ordnungen. Diese konnten in der jeweiligen Gegenwart vorhanden sein oder für die Zukunft erwartet werden. Innerhalb dieser berufsständischen Ordnungen zeichnete sich jeder Stand durch eine spezifische Funktion aus, und in vielen dieser Entwürfe war auch für den Adel als Stand oder einen ,neuen‘ Adel eine gesellschaftliche Funktion vorgesehen. Der Adelsstand wurde insofern nicht zum Überrest in einer Klassengesellschaft, sondern bis weit in den Nationalsozialismus hinein konnte er sich innerhalb ständischer Bezugsrahmen verorten und eine Funktion für sich sehen. Der Adelsstand existierte fort, weil es ausreichend Menschen gab, die Gesellschaft ständisch dachten und in dieser ständischen Gesellschaft nicht auf einen Adel verzichten wollten. Nichtständische gesellschaftliche Ordnungsvisionen erlangten keine ausreichende Geltung, um ständische Gesellschaftsmodelle, den gesellschaftliche Ort und
433 434
435 436 437
Diese binnenadlige Trennlinie betont am Beispiel der Jagd Tacke: Kurzschluss, S. 116– 117. Zur Unterscheidung zwischen wahrem und falschem Adel in der literarischen Auseinandersetzung im Deutschen Adelsblatt vgl. Seelig: Der Kampf gegen die Moderne, S. 467f. u. 470f. Tacke: Kurzschluss, S. 113. FG-Crailsheim 1905, S. XLVIII. Dies als Kritik an den Ausführungen bei Tacke: Kurzschluss, S. 94.
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I. Adel und gesellschaftliche Ordnungsmodelle
damit den Glauben an die Existenz und Notwendigkeit eines Adelsstandes aufzulösen. Der deutsche Adel machte sich vornehmlich in den 1840er und 1850er Jahren auf die Suche nach einer zeitgemäßen Funktion und Stellung seines Standes in den jeweiligen ständischen Gesellschaftsmodellen. Adelsreformen konnten in der Mitte des 19. Jahrhunderts, dies war den Diskutanten bewusst, keine auf den Adel allein bezogenen Maßnahmen sein. Vielmehr standen als Bezugsgröße mehr oder weniger explizit die Wahrnehmungen vom Zustand und der Organisation der gesamten Gesellschaft im Hintergrund. Die Reformdiskussion zeitigte für die zweite Jahrhunderthälfte zwei Folgen. Zunächst wurde deutlich, dass der ,alte‘ Adel in seiner personellen Zusammensetzung nur fortexistieren konnte, wenn er sich nicht auf einen Berufsstand konzentrierte, sondern eine die Berufsstände transzendierende Definition fand. Da Adlige dadurch aber verschiedenen Berufsständen angehörten, wurde der Adel, und dies war die zweite Folge, von einer sozial beschreibbaren Realität zur Idee, denn nur diese konnte die unterschiedlichen Berufsstände Adliger transzendieren und gleichzeitig behaupten, der Adel erfülle eine wichtige Funktion im Gesellschaftskörper. Die seit den 1860er Jahren verbreitete Adelsdefinition baute auf einem Vierschritt auf, der sich in beiden Untersuchungsgruppen nachweisen lässt. Der Adel müsse besonders tugendhaft sein und darin als Vorbild wirken. Dies würde ihm automatisch die Anerkennung als Anführer einbringen. Als solcher Anführer sei er besonders dem Allgemeinwohl verpflichtet. In der Verpflichtung zu solchem Handeln, die kein anderer Stand hatte, lag die Funktion des Adels für die Gesellschaft. In der inhaltlichen Ausgestaltung dieser Leitidee von Adel war viel Flexibilität eingebaut, und es konnte vielfach an Einzelgedanken der Reformdiskussion angeschlossen werden. Die Differenzkriterien zwischen Adel und dem Rest der Gesellschaft waren damit freilich dünn. Schaut man jedoch auf spezifische Tugenden, die dem konservativen, nicht einem speziell adligen, Wertehorizont entstammten, so lässt sich in allen Fällen beobachten, wie der Adel versuchte, seine höhere Ausprägung der Tugendbefolgung zu belegen. In seiner Geschichte fand er vielfältige Elemente, die zeitgemäß umgedeutet, seine Vorbildlichkeit bestätigen sollten. Dies zog sich bis in die rassische Ergänzung der Adelsdefinition hinein. Die rassische Ergänzung stellte insofern auch keine fundamentale Abweichung oder Aushöhlung des Adelsideals dar. Denn Vorbildlichkeit und Tugenden blieben weiterhin Bestandteile der Adelsdefinition. Stattdessen schuf die rassische Ergänzung aber neue Grenzlinien innerhalb des Adels. Diese Grenzlinien ergänzten jene, die schon beim Tugendadel in den Begrifflichkeiten vom ,wahren‘ und ,falschen‘ Adel präsent waren. Von ,adligen‘ Sonderwerten zu sprechen, geht daher nicht nur an der Empirie vorbei, sondern die Durchsetzung einer ständischen Gesellschaftsordnung setzte voraus, dass konservative Werte über den Adel hinaus verbreitet waren. Der Kern des Jahrhunderts lässt sich aus Perspektive der Gesellschafts-
2. Adelskonzepte und Gesellschaftsentwürfe: 1860er bis 1930er Jahre
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entwürfe als Zeit der Auseinandersetzung zwischen geburtsständischen und berufsständischen Konzepten verstehen. Zeitgleich existierte eine intensive Debatte darüber, wie der Adel reformiert werden könne, um seine Funktion in den gesellschaftlichen Vorstellungen erfüllen zu können. Seit den 1860er Jahren setzten sich dann einerseits berufsständische Modelle durch. Andererseits setzt sich aus dem Pool der möglichen Adelsdefinition, die in den Reformplänen diskutiert worden waren, eine Leitidee durch, die in ihrer Grundstruktur bis in den Nationalsozialismus hinein vergleichsweise stabil blieb, in ihrem semantischen Gehalt jedoch jeweils aktualisiert wurde.
II. Zwischen den Gesellschaftskonzepten I – Familiäre Organisationsstrategien bis 1918
Die Adelsreformdiskussion hatte vor allem Vereine als Organisationsform des Adels diskutiert. Und tatsächlich entstand zwischen den 1850er und 1870er Jahren eine Reihe von zumeist regionalen Vereinen.1 Man könnte insofern versucht sein, die Umsetzung des organisatorischen Teils der Adelsreformdiskussion auf ihrer Ebene zu untersuchen. Allerdings läuft man dann Gefahr, die Vielschichtigkeit der Adelsreformen aus dem Blick zu verlieren. Denn sie waren in einem Teil auf die Gründung von regionalen oder nationalen Verbänden ausgerichtet. Die Übersetzung der politischen, sittlichen, sozialen und wirtschaftlichen Reformgedanken in Alltagshandeln musste aber auf der Ebene der einzelnen Familien beziehungsweise individuell erfolgen – es waren Reformen im Kleinen. Ebenso hatten die großen Verbände nur sehr begrenzten Einfluss auf das Individuum und dessen Umsetzung der in den Adelsreformdiskussionen und -verbänden proklamierten Ideen. Und schließlich stellten sich die Vereine schon in ihren Statuten unterschiedliche Aufgaben, waren auf unterschiedliche Regionen und religiöse Gruppen begrenzt und zeichneten sich durch unterschiedliche soziale Exklusivität aus.2 Der alleinige Blick auf die Adelsvereine schränkt somit die Perspektive auf die kleinteilige Praxis im Adel ein. Stattdessen sollen im Folgenden die adligen Familien im Zentrum stehen. Diese vergleichsweise konkrete Ebene der Familie erlaubt die Betrachtung der Entwicklung des Adels von unten.3 In der Familie trafen die unterschiedlichen sozialen Lebenslagen und die daraus resultierenden spezifischen Interessen am unvermitteltsten aufeinander. Unter anderem in der Familie mussten daher die Fäden der Adelsreform aufgegriffen und in den folgenden Jahrzehnten in einer sich rapide verändernden sozialen Umwelt weiterentwickelt werden. Auch sie bildeten im Anschluss an die Reformdiskussionen Organisationsformen aus oder fort. Es hat im 19. Jahrhundert verschiedene Strategien adliger Familien gegeben4 , von denen hier solche betrachtet werden, die eine organisatorische Grundstruktur erzeugten und häufig anzutreffen sind. Dies waren östlich der Elbe die seit den 1850er Jahren entstehenden Familienverbände, in Südwestdeutschland die Familienstammgüter. Dieses Kapitel wird sich mit der Entstehung, Verbreitung, Funktion und Fortentwicklung der Organisationsmuster der beiden Adelsgruppen beschäftigen. Wie konstituierte sich die Familie? Was sollte den Zusammenhalt unter den Familienmitgliedern erzeugen? Handelte es sich bei den Organisationsmustern um Beharrungsstrategien, mit denen man Veränderungen 1 2 3 4
Zum Überblick: Reif : Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 33; Wienfort: Der Adel in der Moderne, S. 142–150. Eine Sammlung der Statuten bei Drechsel: Entwürfe, S. 74–95. Die Notwendigkeit dieser Perspektive betont Malinowski: Ihr liebster Feind, S. 218. Drei unterschiedliche Beispiele im sächsischen Adel, allerdings mit Blick auf das 18. und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts bei Matzerath: Adelsprobe an der Moderne, S. 22– 454. Jetzt auch Jandausch: Ein Name, Schild und Geburt, die allerdings keine wesentlich über die Betrachtung der Strategien hinausgehenden Erkenntnisziele hat.
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II. Zwischen den Gesellschaftskonzepten I – Familiäre Organisationsstrategien
widerstehen wollte, oder lässt sich eher von einer Anpassung an Bedürfnisse der Gegenwart sprechen? Die Fragen der Praxis und Funktionalität der Organisationsmuster werden dann in den nächsten beiden Abschnitten behandelt.
1. Die Reform muss bei der Familie ansetzen – Familienverbände und Adelsreformdiskussionen östlich der Elbe Der Wert einer Erforschung des Adels von der Familie und nicht dem regionalen oder nationalen Verbandswesen aus wird für Nordostdeutschland durch einen Zahlenvergleich bestätigt. Blickt man auf die Zahl der adligen Familienverbände, die bis 1900 gegründet wurden, so liegt diese über 200 – eine Zahl der tatsächlichen Mitglieder zu errechnen, ist nicht möglich. Zeitgleich hatte die DAG als größter Adelsverband mit einem besonderen Schwerpunkt in Nordostdeutschland etwa 1000 Mitglieder. Die Familienverbände scheinen insofern östlich der Elbe von wesentlich größerer Bedeutung gewesen zu sein als ein überfamiliärer Adelsverein. Hierdurch ist auch der folgende Auszug aus einem Aufruf der DAG von 1880 verständlich, in dem es hieß: „Angeknüpft wird zunächst an die bereits so erstarkte und segensreich gewordene Wiedererweckung der Geschlechtsverbände. Neben diesen und in mannigfacher Wechselwirkung und Verbindung mit ihnen sind Landschaftsverbände zu errichten, um erstens den Geschlechtern Anschluß zu bieten, welchen die geringe Zahl ihrer Glieder die Gründung selbständiger Verbände nicht gestattet, dann aber auch, um eine Organisation herzustellen, welche durch ihre leitende Spitze die soziale Bedeutung der Einzelverbände erst nach allen Richtungen hin zu rechter Geltung zu bringen im Stande ist.“1
Die Familienverbände waren jedoch in den meisten Fällen bis 1918 an dieser Kooperation wenig interessiert.2 In der Forschung ist verschiedentlich auf die Familienverbände hingewiesen und ihnen eine stabilisierende, zumeist nicht näher erörterte, Bedeutung für den Adel seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugeschrieben worden.3 Tiefer gehend und einige substantielle Thesen formulierend, hat sich Monika Wienfort in einem Aufsatzteil den Familienverbänden zugewandt.4 Die ausführlichste Betrachtung haben sie durch Kathleen Jandausch erfahren, die am Beispiel der Familien von Bülow und Schwerin unter anderem deren Familienverbände untersucht hat.5 Die in der Forschungsliteratur bislang auffindbaren Ergebnisse und Aussagen werden daher hier an ei1 2 3
4 5
Eine deutsche Adelsgenossenschaft (gedruckter Aufruf ohne Verfasser), Berlin März 1880, in: APS – Archiwum rodu Dewitz-Krebs, Nr. 26, unpag. Vgl. dazu ausführlich unten Kapitel IV.2.3. Z. B. Reif : Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 48; Frie: Adel um 1800, Abs. 16 u. 21; Whelan: Adapting to Modernity, S. 239–242; Malinowski: Vom König zum Führer, passim; Funck/Malinowski: Charakter ist alles. Wienfort: Gerichtsherrschaft, Fideikommiss und Verein. Jandausch: Ein Name, Schild und Geburt.
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II. Zwischen den Gesellschaftskonzepten I – Familiäre Organisationsstrategien
nem breiten empirischen Material überprüft und in die wesentlich größere Untersuchungsgruppe eingearbeitet. Im Folgenden wird zuerst nach der Entstehungszeit und regionalen Verteilung der Familienverbände gefragt. Daran schließt sich die Untersuchung der Gründungsmotive und -ziele an. Damit soll geklärt werden, inwiefern die Familienverbände eine Fortführung der Adelsreformdebatten der Jahrhundertmitte darstellten. Es folgen Abschnitte, die der Beschreibung der inneren Organisation der Familienverbände und dem Vergleich der Familienverbände mit frühneuzeitlichen Familieneinigungen gewidmet sind.
1.1 Entstehungszeiten und Entstehungsräume der Familienverbände Die Entstehungszeiträume der Familienverbände zeigen, dass es sich um eine langsame Etablierung eines Organisationsmusters und nicht um eine plötzliche Ausbreitung handelte.6 Nur ein kleiner Teil der Verbände entstand bis 1870.7 Dann stieg die Anzahl der Gründungen kontinuierlich und stark an, bevor sie im Weltkriegsjahrzehnt wiederum zurückging. Der Erste Weltkrieg war für den Rückgang der Gründungen verantwortlich, denn 27 Verbände wurden zwischen 1911 und 1913 beziehungsweise im Jahr 1919 gegründet, vier weitere 1914, also vermutlich noch vor Kriegsausbruch, und nur ein einziger Familienverband wurde während des Krieges gegründet. Nach Kriegsende stieg die Zahl der Gründungen wieder an, bevor sie in den 1930er Jahren erneut zurückging. Es ist unwahrscheinlich, dass dieser Rückgang auf den politischen Systemwechsel zurückzuführen ist. Gerade die Nationalsozialisten förderten ein Familienverständnis, das über die Kleinfamilie hinausging und die ,Sippe‘ umfasste.8 Vielmehr dürfte der Rückgang als Zeichen des Erreichens eines Sättigungsgrades zu werten sein. Die Familien, die Verbände gründen wollten, hatten es bis zu diesem Zeitpunkt in den meisten Fällen getan. Die Verteilung der Ursprungsregionen der Geschlechter mit Familienverbänden spiegelt die in der Forschung bereits kursorisch bemerkte Tatsache, 6
7
8
Bisherige Andeutungen zu den Entstehungszeiträumen bei Reif : Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 48; Brunner: Landadliger Alltag, S. 1003; Jandausch: Ein Name, Schild und Geburt, S. 128. Dabei dürfte die Anzahl vor 1860 noch ein wenig zu hoch liegen, da die von den Familienverbänden angegebenen Gründungsjahre nicht immer die tatsächlichen Gründungsjahre waren. Adelheid Gräfin zu Castell Rüdenhausen: Familie und Kindheit, in: Dieter Langewiesche/ Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 5, 1918– 1945. Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur. München 1989, S. 71f.
1. Die Reform muss bei der Familie ansetzen
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Abbildung 1: Entstehungszeiträume der Familienverbände in Deutschland. Die Daten dieser und der folgenden Grafik wurden zusammengestellt aus: Walter v. Hueck: Adelslexikon. 16 Bde., Limburg 1972–2005.
Abbildung 2: Ursprungsregionen der Familien mit Geschlechtsverbänden. Die Summe der Familien ist niedriger als in der vorigen Grafik. Dies hängt damit zusammen, dass die regionale Zuordnung nobilitierter Familien in der Regel schwierig ist. Grundsätzlich sollte man den regionalen Ursprung einer Familie aufgrund der steigenden Mobilität des 19. Jahrhunderts auch nicht überbetonen.
dass die Vereinsgründungen hauptsächlich in östlich der Elbe beheimateten Familien erfolgten. Daneben erreichte aber auch Nordwestdeutschland noch eine vergleichsweise hohe Anzahl. In Südwestdeutschland war die Zahl gering, und die Familienverbände entstanden relativ spät – sieben von zehn erst nach 1900.
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II. Zwischen den Gesellschaftskonzepten I – Familiäre Organisationsstrategien
1.2 Wege in den Familienverband – Gründungsanlässe und Gründungszwecke Zwischen 1855 und 1914 kam es zur Gründung von über 300 Familienverbänden, hauptsächlich in östlich der Elbe beheimateten Adelsfamilien. Diese erstaunliche Konjunktur geht auf zwei Ursachenkomplexe zurück, die im Folgenden betrachtet werden sollen. An erster Stelle steht der grundierende Diskurs über den Zustand von Familie als adlig-konservativer Leitidee, der eine notwendige Bedingung für die Zusammenschlüsse darstellte, aber nicht immer hinreichend war. An zweiter Stelle stehen konkrete Anstöße, die dazu führten, dass Verbände gegründet wurden. Die Trennung hilft einmal zu klären, warum es überhaupt in den 1850er Jahren zu Verbandsgründungen kam, dann kann sie aber auch die Motive aufzeigen, die dazu führten, dass einzelne Familien zu bestimmten Zeitpunkten Verbände gründeten und die Zahl der Verbandsgründungen insgesamt erst am Jahrhundertende so stark anstieg. Daran schließt sich die Frage nach den Zwecken an, die die Familien mit der Gründung der Geschlechtsverbände verfolgten. Woher die Idee der Familienverbände kommt, ist nicht letztgültig zu klären. In den Adelsreformdiskussionen findet sich im Programm der schlesischen Adels-Réunion Ende der 1830er Jahre die Anmerkung, um „eine allmähliche Gewöhnung der öffentlichen Meinung an das bestimmte Hervortreten des Adels an die Spitze der Nation“ zu erreichen, sollten unter anderem „Adels- und Geschlechtstage“ abgehalten werden, „wo sich der Adel des Landes an historisch- oder local bedeutungsreichen Puncten festartig versammelt und berathet.“9 Die Réunion scheiterte allerdings. In den Adelsreformprogrammen wird Familie zumeist auch nur als (bürgerliche) Kleinfamilie verstanden, Vereinskonzepte sollten den gesamten Adel und nicht einzelne Familien umfassen.10 Neben den Vereinsforderungen der Adelsreformdiskussionen war jedoch der seit den 1850er Jahren einsetzende Diskurs über die konservative Familie und die Auflösung familiärer Bindungen für die Gründung von Familienverbänden wichtig. Johannes Nepomucenus von der Marwitz sprach bei einer Familienversammlung 1864 über „jene ungünstigen Zeitverhältnisse . . . , welche ihre zerstörende Kraft auf die Untergrabung und Beiseiteschaffung Alles dessen gerichtet zu haben scheinen, was seither als fester Halt und als ehrwürdige Sitte sich in Kirche, Staat und Familie festgesetzt hatte, was Alles nunmehr in dem Strudel einer heftigen bewegten Zeitströmung unrettbar zu Grunde zu gehen droht, wenn nicht ein wirksames Gegengewicht ausgeübt werden wird.“
Gegen die „Isoliertheit“ des „Einzelnen“ sollte die Familie einen Schutz bieten.
9 10
NN: Die Adelsreunion, in: ZfddA 1/1840, S. 197f. Vgl. oben Kapitel I.1.2.
1. Die Reform muss bei der Familie ansetzen
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„Noth thut, durch engere Gliederung des Familienlebens, durch engeren Zusammenhalt der einflußreicheren und mächtigeren Geschlechter und durch deren willigere und intensivere Unterstützung der wahrhaft conservativen Elemente eine nachteilige Überstürzung des im raschen Fluß befindlichen Lebens zu verhüten . . . einen Hort und Schutz des Staats zu bilden.“11
Durch diesen konservativen ,apokalyptischen‘ Familiendiskurs wurde der auf familienübergreifende Vereine abzielenden allgemeinen Adelsreformdebatte in Preußen eine veränderte Stoßrichtung gegeben, die sich in Wilhelm Heinrich Riehls Buch „Die bürgerliche Gesellschaft“ abgezeichnet hatte, wenn er schrieb: „das Auszeichnende des wirklichen Aristokraten . . . liegt in dem historischen Bewußtseyn seiner Familie. Die Familie ist bei der Aristokratie eine so entscheidende Macht wie bei keinem anderen Stande. Alle Reform der Aristokratie wird daher vorzugsweise in der Familie beginnen.“12
Diese Andeutung, dass die Adelsreform innerhalb der Familien ihre Grundlage finden müsste, wurde von Riehl in seinem folgenden Buch „Die Familie“ (1855) weiter ausgearbeitet. Hier betonte er die hohe Bedeutung der agnatischen Großfamilie für die gesellschaftliche Stabilität überhaupt und sah diese vor allem im Bauerntum noch als gegeben an. Hingegen müsste der Adel seine Familienverträge wieder in Ordnung bringen, um so der Großfamilie wieder die notwendige Bedeutung zu verschaffen. Hier erschien dann auch die Forderung, jedoch im Hinblick auf das Bürgertum, dass zur Wiederbelebung der Großfamilie „regelmäßige Familienzusammenkünfte“ abgehalten werden müssten.13 Riehl hatte damit zwei Aspekte in die Diskussion eingebracht, nämlich erstens, dass die Reform des Adels auf der Familienebene ansetzen müsste und zweitens, dass Familien, die nicht über positives Recht zusammengehalten würden, was in seinem Programm das Bürgertum meinte, aber auch auf große Teile des östlich der Elbe lebenden preußischen Adels übertragbar war, sich zu Familientreffen zur Pflege des Familiensinns und der Familiengeschichte zusammenfinden sollten. Für die Rezeption dieser Vorschläge Riehls im Adel der östlichen Provinzen Preußens gibt es damit zwar noch keine eindeutigen Beweise. Wahrscheinlich ist dieser Konnex aber, da Riehl in den 1850er Jahren hier durch konservative Meinungsmacher intensiv wahrgenommen wurde und Bemühungen zur 11
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Rede Johannes Nepomucenus v. der Marwitz, Pelplin 13.6.1864, in: FG-Marwitz 1929, S. 230. Vom Grundgedanken gleich: Notizzettel Otto v. Dewitz, vermutlich als Eröffnungsrede zum ersten Familientag 1863, in: APS – Archiwum rodu Dewitz Wussow, Nr. 56, unpag. Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft, S. 178f. Ähnlich argumentiert ein Schreiben Udo v. Tresckows an verschiedene Adelsfamilien, Altenburg 1.10.1877, in: LHASA-WR – Rep. H Beetzendorf I, AII Nr. 24a, S. 142. Ziel sei es, dass „aus dem Schooße der Familie sich das ganze [d.i. der Adelsstand] aufbaut und dadurch um so leichter die höheren Ziele erreicht werden.“ Riehl: Die Familie, S. 348.
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II. Zwischen den Gesellschaftskonzepten I – Familiäre Organisationsstrategien
Popularisierung seiner Gedanken feststellbar sind. So verarbeitete Leopold von Gerlach Riehl in verschiedenen Artikeln in der Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung 185214 , also noch vor Erscheinen des Buches „Die Familie“. Sein Bruder Ludwig von Gerlach schrieb an Adolph von Thadden: „Ich rate Dir, ,Die bürgerliche Gesellschaft von Riehl. . . . ‘ Dir anzuschaffen, eine treffliche, sehr lesbare Lektüre, voll tiefer lebendiger Gedanken über die die Zeit bewegenden Fragen und sehr geeignet für jeden, der rechts der Oder überhaupt noch liest.“15 Deutlich zeichnet sich hier die grundsätzliche Offenheit gegenüber den gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen des bayerischen Professors Riehl ab. Dies wird andererseits dadurch noch deutlicher, dass Riehls Texte auch in konkrete politische Konzepte Eingang fanden. So verarbeitete Otto von Manteuffel als preußischer Ministerpräsident seine RiehlLektüre in Form von Gedanken und unbelegten direkten Zitaten im „Votum des Minister-Präsidenten über die Neubildung eines Herrenhauses und die Umgestaltung des Verfassungswerkes überhaupt“ vom 8. September 1853.16 Allerdings deutet die nur langsam zunehmende Anzahl der Familienverbände in den 1860er und 70er Jahren darauf hin, dass der konservative Familiendiskurs allein nicht die Verbandsgründung anzutreiben vermochte. Zu einer kurzfristigen und starken Ausbreitung kam es nicht. Neben der Fortexistenz informeller Familienorganisationen dürften dafür auch eine Reihe äußerer Ereignisse verantwortlich gewesen sein – so die Festigung der Stellung des preußischen Adels durch die Heeresvergrößerungen der 1860er Jahre, der Reputationsgewinn durch die Siege in den Reichseinigungskriegen und die gute landwirtschaftliche Konjunktur. Erst zum Jahrhundertende scheinen der rassische Familiendiskurs und die zunehmend unsicherer scheinende Lage des Adels zur Intensivierung der Verbandsgründungen beigetragen zu haben. Es gilt daher konkrete Anlässe zur Gründung von Familienvereinen auszumachen, die Punkte markieren, an denen der Diskurs in Handlungen umschlug, und warum dies geschah.
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Avraham: In der Krise der Moderne, S. 111. Ludwig v. Gerlach an Adolph v. Thadden, Alexisbad 1.8.1852, in: Hellmut Diwald (Hrsg.): Von der Revolution zum Norddeutschen Bund. Politik und Ideengut der preußischen Hochkonservativen 1848–1866. Aus dem Nachlaß von Ernst Ludwig von Gerlach. Zweiter Teil: Briefe, Denkschriften, Aufzeichnungen, Göttingen 1970, S. 805. Vgl. dazu die Hinweise bei Günther Grünthal: Parlamentarismus in Preußen 1848/49– 1857/58. Preußischer Konstitutionalismus, Parlament und Regierung in der Reaktionsära, Düsseldorf 1982, S. 283–285.
1. Die Reform muss bei der Familie ansetzen
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Die ersten Gründungen erfolgten in der Mitte der 1850er Jahre.17 Von weitreichender Bedeutung für die Entstehung von Familienverbänden war neben Riehl, und möglicherweise Erinnerungen an frühneuzeitliche Familieneinigungen18 , besonders die Einführung des Präsentationsrechts zum Herrenhaus für adlige Familien, die über ausgedehnten Grundbesitz verfügten. Diese durften eines ihrer Mitglieder als Kandidaten für das Herrenhaus wählen, dem König stand dann die Ernennung zu. Obwohl die Anzahl dieser Präsentationsrechte gering war, bis 1861 waren elf Familien damit ausgezeichnet worden19 , nahmen die Familienverbandsgründungen von hier ihren Ausgang.20 Da die grundbesitzenden Familienmitglieder zur Wahl des zu präsentierenden Kandidaten ein Wahlstatut ausarbeiten, dieses bestätigen lassen und dann zur Wahl zusammentreten mussten, war einerseits die Erfassung der Grundbesitzer nötig, andererseits die Abhaltung einer Wahlversammlung. In der Familie von Arnim zeigt sich diese Verknüpfung von Wahlversammlung und Familienverbandsetablierung in einem Schreiben, das der Familienvorstand an die Vettern versandte, und in dem er mitteilte: „In der Wahlversammlung der Mitglieder unserer Familie am 28ten October 1856 wurde der Vorschlag gemacht, in derselben durch Zeichnung von freiwilligen Beiträgen ein Grundkapital zu bilden, auf dem mögliche Institutionen für die Familie weiter ausgebaut, und durch die zu erwartende Mitwirkung der künftigen Familienglieder in’s Leben gerufen und gefördert werden könnte.“21
Die Familien von Borcke, von Wedell, von Kleist, von der Schulenburg und von der Osten schlugen denselben Weg der Gründung familiärer Organisa-
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Einige impressionistische Andeutungen zu den Gründungszusammenhängen von Familienverbänden bei Wienfort: Gerichtsherrschaft, Fideikommiss und Verein, S. 104f. In den Familien von der Schulenburg und von Wartensleben gab es bereits Anfang der 1850er Jahre Versuche, den Zusammenhalt der Großfamilie zu reaktivieren. Die Versammlungen scheinen jedoch informell geblieben zu sein. Vgl. FG-Schulenburg 1908, S. 105–107. Einladungsschreiben der Familie von Wartensleben, Karow 31.8.1853, in: LHASA-WR – Rep. H Karow, Nr. 883, S. 1. In der Familie von Wartensleben wurde 1857 ein weiterer Familientag geplant, über dessen Abhaltung nichts bekannt ist. Ein Familienverband entstand hier erst 1871. Vgl. die Akten in: Ebd., Nr. 883, S. 6 u. Nr. 884, S. 1. Nach Spenkuch: Herrenhaus, S. 174. Aufgrund der zeitlichen Differenz zwischen dem Erscheinen des Gesetzes über die Zusammensetzung des Herrenhauses 1854 und Riehls „Die Familie“ 1855 kann Friedrich Wilhelm IV. Riehls Familienverbände nicht als Vorbild gehabt haben. Dennoch wurde die Bedeutung des Königs für die Entstehung der Familienverbände rückblickend vom Adel betont. Vgl. FG-Maltzahn 1926, S. 318. Familienvorstand des Geschlechts von Arnim an die Vettern, Berlin 1.5.1858, in: BLHAP – Rep. 37 Bärwalde-Wiepersdorf, Nr. 2051.
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II. Zwischen den Gesellschaftskonzepten I – Familiäre Organisationsstrategien
tionen im Anschluss an das Herrenhauspräsentationsrecht ein.22 Die Familie von der Osten hielt in der Einleitung zur Stiftungsurkunde 1856 fest: „Das Präsentationsrecht für das Herrenhaus wird das Bestreben des Geschlechts, den noch immer erheblichen Grundbesitz zu erhalten und zu vermehren, stärken, den Familiengeist beleben und an jedes Mitglied des Geschlechts die Mahnung richten, nach Kräften wirksam zu sein für das Gemeinwohl des Geschlechts.“23
Mit Blick auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war das tatsächlich Neue im Zusammenhang mit den durch die Herrenhausgründung angestoßenen Familienverbänden die Formalisierung des Familienzusammenschlusses, der in Organisationen seinen Ausdruck fand.24 Sodann war der prinzipielle Anspruch der Verbände, alle Vettern zu vereinigen und damit über informelle Kontaktzirkel hinauszugehen, ebenso neu, wie die Statuierung des Kontakts durch regelmäßige, statt ereignisbedingte Familientage. So entstanden bis 1859 in sieben von elf mit dem Präsentationsrecht ausgestatteten Familien Verbände. Daneben entstanden weitere in solchen Geschlechtern, die sich Hoffnung auf die Erlangung des Präsentationsrechts machten.25 Die Familie von Winterfeld, die meinte, Chancen auf ein Präsentationsrecht zu haben, brachte in einem Schreiben an den Prinzregenten Wilhelm die erwartete Wirkung der Begnadigung zum Ausdruck. Sie bestätigt darin zugleich die Bedeutung des Herrenhauses für die Entstehung der ersten Familienverbände. Sie schrieb:
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Urkunde, betreffend die Familienstiftung des Rittergutsbesitzers Otto Theodor v. Borcke, Soldin 6.7.1868, in: LAG – Rep. 38d v. Borcke, Nr. 100, S. 14; „Statut des Geschlechts von Kleist über die Ausübung des Präsentationsrechts zum Herrenhaus“, §5–6. Abgedruckt in FG-Kleist 1862, S. 712–715; Pro Memoria zur Gründung einer Familienstiftung, Probstey Salzwedel Januar 1856, in: LHASA-WR – Rep. H Beetzendorf II, AI Nr. 28, S. 13. Graf Schulenburg-Emden an die Vettern, Emden 23.2.1878, in: Ebd., I AII 24b, S. 50; Auf die Verbindung verweist der Brief des Innenministers Graf Westphalen an Friedrich Wilhelm IV., Berlin 3.4.1856, in: GSTAPK – I. HA Rep. 89, Nr. 283, S. 10–12. Unklar ist der Zeitpunkt der Gründung des Verbandes der Familie v. Königsmarck, die ebenfalls mit dem Präsentationsrecht beliehen wurde. Die Familie v. Bredow gründete den Verband 1860, ohne dass die Zusammenhänge klar sind. In der Familie v.d. Groeben war nur ein Teil damit ausgestattet, so dass es hier erst 1895 zur Gründung eines Familienverbandes kam. Vgl. dazu Protokoll der Familie v. Schwerin, Anklam 23.11.1855, in: GSTAPK – I. HA Rep. 89, Nr. 282, S. 147. In der Familie von Schwerin konnte diese Wahlversammlung und Verbandsgründung zwar an Vorläufer anschließen. Neu war jedoch die Ausdehnung des ursprünglich auf einem gemeinschaftlichen Familienbesitz basierenden Zusammenschlusses eines Teils der Familie auf alle Familienmitglieder. Vgl. FG-Schwerin 1913, S. 7–25. Zitat nach FG-Osten 1960, S. 170. Zu Familienkonferenzen und -organisation des Adels im späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit gibt es bislang nur vereinzelte Hinweise. Vgl. dazu Kapitel II.1.4. Vgl. den behördlichen Schriftverkehr über die Familie v. Prittwitz in: GSTAPK – I. HA Rep. 89, Nr. 284, S. 39 u. 68–70. Der behördliche Schriftverkehr sowie ein Antrag der Familie von Puttkamer in: Ebd., Nr. 283, S. 124–183 u. 162f.; Nr. 294, S. 157.
1. Die Reform muss bei der Familie ansetzen
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„als Motiv unserer Bitte [glauben wir] noch hervorheben zu müssen, daß die huldvolle Gewährung der nachgesuchten Gnade ein Band werden soll, welches alle Glieder der jetzt weit verstreuten Familie nach dem Vorbilde unserer Ahnen um so enger vereine in gemeinsamer Hingebung zum Dienst für Thron und Vaterland.“26
Dass die von Winterfelds nach der Ablehnung des Gesuchs erst 1882 einen Familienverband gründeten, bestätigt noch einmal, dass in dieser frühen Phase der Anreiz staatlicher Privilegierung in einigen Familien höher zu veranschlagen ist als der Familiendiskurs. Auch in den folgenden Jahrzehnten lassen sich von Seiten des Staates Anstöße zur Gründung von Geschlechtsverbänden nachweisen. Eine dieser Initiativen ging von der endgültigen Allodifizierung der Lehen aus. In den 1860er und 70er Jahren erschienen, zeitlich versetzt für die verschiedenen preußischen Provinzen östlich der Elbe, Lehensallodifikationsgesetze. Diese sahen zwei Möglichkeiten vor: Entweder konnten die Lehen in Familienfideikommisse überführt werden, an denen alle lehensberechtigten Agnaten erbberechtigt sein mussten. Oder die Lehen konnten gegen eine in den Provinzen unterschiedlich hohe Gebühr allodifiziert, das heißt in die freie Verfügungsmacht des seinerzeitigen Besitzers überführt werden. Die Allodifikationsgebühr sollte dann zur Gründung einer Stiftung zum Besten der ehemals Lehensberechtigten genutzt werden. Die Gebühren wurden so lange bei Gericht hinterlegt, bis ein Familienschluss über deren Verwendung stattgefunden hatte.27 Dieser Familienschluss und die sich eventuell anschließende Notwendigkeit, die Stiftung zu verwalten, haben in einer Reihe von Familien zur Gründung von Familienverbänden geführt.28 Andere Familien wählten den Weg, Fideikommisse zu gründen.29 Da mit der Gründung von Fideikommissen, von eng umgrenzten Fällen abgesehen, Veränderungen am Grundbesitz nur mit Zustimmung der erbberechtigten Agnaten möglich waren, dieser Kreis aber auf alle lehensfähigen Familienmitglieder festgeschrieben worden war30 , kam es zum Teil auch hier zur Einführung 26 27 28
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Familie v. Winterfeld an den Prinzregenten Wilhelm, Berlin 8.5.1859, in: Ebd., Nr. 284, S. 100a–b. Zu den einzelnen Gesetzen vgl. die Angaben im Kapitel III.2.1. So z. B. bei den Familien v. Platen (FG-Platen 1989, S. 744.) und v. Eickstedt (LAG – Rep. 38d Tantow, Nr. 21). In der Familie v. Zitzewitz, die schon zahlreiche Stiftungen aus dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert besaß, führte die Lehensallodifizierung zur Revision der Statuten der bisherigen Stiftungen und zur Einrichtung regelmäßiger Familientage. Vgl. Circular mit Beilagen des Familienvorstehers Wilhelm Theophil v. Zitzewitz, Bornzin 23.11.1873, in: LAG – Rep. 38d Zitzewitz-Muttrin, Nr. 137, S. 1–9. Bei den meisten Familien scheinen Lehenskonferenzen jedoch, wenn überhaupt, nur sporadisch stattgefunden zu haben. Einen besonderen Fall stellen die von Johann Heinrich v. Helldorff abstammenden Familienmitglieder dar, die zur Ordnung und Aufrechterhaltung der Lehen schon seit 1865 regelmäßige Familientage abhielten. Ihre Lehen wurden, soweit ersichtlich, später sämtlich in Fideikommisse überführt. Vgl. den Vertrag und das Familienstatut, Naumburg 2.5.1865, in: LHASA-WR – Rep. H St. Ulrich, Nr. 412. Der Unterschied zwischen Familienmitglied und lehensberechtigtem Mitglied war
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II. Zwischen den Gesellschaftskonzepten I – Familiäre Organisationsstrategien
regelmäßig abzuhaltender Konferenzen, wenn es noch keine Verbände gab.31 Die Lehensallodifizierung konnte somit, ähnlich wie das Präsentationsrecht für das Herrenhaus, Organisationsnotwendigkeiten auslösen, die dann von den Familien umgesetzt werden konnten, es aber nicht zwangsläufig mussten.32 So ist auch nicht mehr nachzuvollziehen, in wie vielen Familien der Allodifizierungsprozess zur Gründung eines Familienverbandes führte. Schließlich lässt sich noch eine letzte, kleine Gruppe von Vereinsgründungen feststellen, die mittelbar durch den Monarchen angestoßen wurde. Ende der 1880er Jahren erhielt eine Reihe Regimenter der preußischen Armee aufgrund königlichen Befehls die Namen adliger Familien beigelegt. Die Familie von der Marwitz, die 1864 schon einmal versucht hatte, einen Familienverband zu gründen, schritt im Zusammenhang mit der Namensverleihung 1889 ebenso zur Gründung33 wie die Familie von der Goltz.34 Für die Zeit bis 1918 lassen sich dann keine staatlichen Initiativen mehr ausmachen, die sich auf die Gründung von Familienverbänden ausgewirkt hätten. Erst der Wegfall des den Adel erhaltenden und protegierenden Staates 1918 lässt noch einmal schlaglichtartig den Blick auf Gründungsmotive zu, die auf äußeren Einfluss zurückzuführen sind. Die Familie von Kessel berief sich darauf, dass früher der Offiziersdienst die Familie „fest zusammen gefaßt, in gegenseitige persönliche Berührung gebracht und auf gleicher sozialer Höhe gehalten“ hätte.35 Mit der Verkleinerung des Heeres war dieses Bindeglied weggefallen. An seine Stelle sollte nun der Familienverband treten. In der Familie von Veltheim, die schon seit den 1880er Jahren regelmäßige Konferenzen abgehalten hatte, um die Bewirtschaftung der Familienfideikommisse zu überwachen, entstand mit der drohenden Aufhebung der Grundbesitzbindung nach 1918 das verschärfte Bedürfnis, „in den Umwälzungen der Gegenwart das gemeinsame Band, das alle Mitglieder der Familie umschließt, enger und fester zu knüpfen, das Geschlecht vor Zerfall und seine Mitglieder vor kulturellem und materiellem Niedergang zu bewahren.“36 Die Ausführung dieser Motive sah die Familie in
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durchaus von Bedeutung. In der Familie v. Helldorff gab es einen Familien- und einen Geschlechtstag – einerseits zwischen den lehnsfähigen Agnaten und andererseits zwischen allen v. Helldorffs. Vgl. Verhandlungsprotokoll der Familie von Helldorff, Halle 21.10.1879, in: Ebd. – Rep. H Gleina, C Nr. 34, S. 1. Verhandlungsprotokoll der Familie v. Veltheim, Eckernkrug 21.7.1881, in: Ebd. – Rep. H Ostrau, Nr. 225, S. 4–36. Keinen Verband gründete die Familie v. Bismarck. Vgl. Valentin v. Bismarck: Die Entstehung des v. Bismarck’schen Familienverbandes, in: FZ-Bismarck 21/1938, S. 3. Bei der Familie v. Trebra lag offenbar noch 17 Jahre nach dem Allodifizierungsgesetz das Geld beim Amtsgericht. Vgl. Entwurf des Statuts des v. Trebra’schen Familienverbandes, o.O. o.D. [um 1894], in: LHASA-WR – Rep. H Braunsroda, Nr. 275, S. 3. Schriftverkehr und Protokoll in: BLHAP – Rep. 37 Friedersdorf, Nr. 252, S. 13f. u. 39. Zum Gründungsversuch 1864: Ebd. u. FG-Marwitz 1929, S. 230–232. FG-Goltz 1960, S. 38. Hans v. Kessel: Zum Geleit!, in: FZ-Kessel 1/1927, S. 1. Familien-Statut der v. Veltheim, o.O. 15.8.1922, in: LHASA-WR – Rep. H Ostrau, II
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der Gründung eines Familienvereins am besten gewährleistet. Insofern trugen die politischen Zwänge, unter die die Weimarer Republik im Falle der Heeresverkleinerung durch den Versailler Vertrag geraten war, und das eigene politische Handeln in Form von Fideikommissaufhebungsgesetzen ein letztes Mal als staatliche, wenn wohl auch unbeabsichtigte, Maßnahmen zur Ausbreitung der Familienverbände bei. Diese staatlichen Maßnahmen können nicht außer Acht bleiben, von alleiniger Bedeutung waren sie aber nicht. Dies zeigen zwei Verbandsgründungen, die bereits 1858 erfolgten und bei denen kein direkter Zusammenhang mit der Gründung des Herrenhauses zu ermitteln ist.37 Sie dürften auf die Vorbildwirkung der bestehenden Verbände zurückgehen – ein Moment, das in den folgenden Jahrzehnten und besonders nach 1890 neben dem Familiendiskurs eine entscheidende Rolle gespielt zu haben scheint.38 Diese Nachahmung verband sich dann zum Teil mit familiären Ereignissen, die den Anlass boten, auf das aus anderen Familien bekannte Organisationsmuster zurückzugreifen. Vorrangig waren dies Ereignisse, welche die Familie in ihrer Gesamtheit betrafen. So ging in der Familie von Alvensleben der Familienverband aus einer Tagung hervor, die anlässlich eines öffentlichen Erbstreits einberufen worden war.39 Die Familie von Lepel führte in den 1870er Jahren die Goldhochzeit des Seniors zusammen.40 Zu solchen Ereignissen konnte hinzutreten, dass informelle Kontakte der Familienangehörigen nicht mehr so gut funktionierten wie in früheren Zeiten. Denn durch Versetzungen der im Staatsdienst befindlichen Familienangehörigen über die wachsende preußische Monarchie beziehungsweise das Deutsche Reich und durch Auswanderung kam es zu einer immer größeren Ausbreitung der Familien.41 Man begegnet hier somit einem diffusen Feld von Gründungsmotiven, die mit dem Familiendiskurs,
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Nr. 667, S. 255. Aus demselben Grund könnte auch der Familienverband der Grafen v. Bernstorff 1923 gegründet worden sein. Vgl. zur Auflösung des Fideikommisses Gartow der Grafen v. Bernstorff Eckart Conze: Adeliges Familienbewußtsein und Grundbesitz. Die Auflösung des Gräflich Bernstorffschen Fideikommisses Gartow nach 1919, in: GG 25/1999, S. 455–479. Es handelt sich um die Familien v. Reibnitz und v. Sei(y)dlitz. Zu Letzterer vgl. die Anmerkungen in FZ-Sei(y)dlitz 14/1939, S. 181. Ausdrücklich rekurriert auf die Vorbildwirkungen anderer Familien: Promemoria zu den Monumenta Bülowiana, Schwerin Januar 1867, in: LHASA-WR – Rep. E v. Bülow, Nr. 19, S. 7. Valentin v. Bismarck: Die Entstehung des v. Bismarck’schen Familienverbandes, in: FZ-Bismarck 21/1938, S. 4. Brief Franz v. Trebras an die Vettern, Stettin Juni 1894, in: LHASA-WR – Rep. H Braunsroda, Nr. 275, S. 1. Einladungsschreiben zur Familienversammlung von Udo Wilhelm v. Alvensleben an die Gevettern, Demker 1.2.1860, in: LHASA-WR – Rep. H Erxleben II, Nr. 70, S. 7. Protokoll 1, Wieck 19.10.1876, in: LAG – Rep. 38d v. Lepel, Nr. 48, S. 1. FG-Dewitz 1918, S. 500. Rede Johannes Nepomucenus v. der Marwitz, Pelplin 13.6.1864, in: FG-Marwitz 1929, S. 230. Freilich ist es im Einzelfall schwierig festzustellen, ob es sich tatsächlich um neue Ausbreitungserfahrungen oder veränderte Wahrnehmungen handelte.
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der Vorbildwirkung anderer Familien sowie der Wahrnehmung der gesellschaftlichen Stellung des Adels insgesamt in Verbindung traten. Es fällt daher abschließend schwer, die Auswirkung von familialem Engagement und staatlichen Anreizen pauschal zu beurteilen. Kein Verband konnte ohne das Interesse eines Teils der Vetternschaft gegründet werden, und zahlreiche Gründungsinitiativen scheiterten schon im Ansatz.42 Daher wird man in der frühen Phase dem Regierungshandeln einen Einfluss auf die Gründung von Familienverbänden nicht absprechen können. Vor allem die durch Allodifikationsgebühren ins Leben getretenen Familienstiftungen boten Anreize zur Verbandsgründung. Es wurde damit zur langsamen Verbreitung des Konzepts an sich beigetragen. Ab 1890 gewann mit dem verschärften Familiendiskurs und dem erreichten Verbreitungsgrad sowie der als prekärer wahrgenommenen Stellung des Adels in der Gesellschaft dann das familiale Engagement eindeutig die Oberhand. Dass schließlich die Weimarer Republik befördernd wirkte, dürfte den Intentionen der regierenden Politiker widersprochen haben. Dessen ungeachtet wird man die Entstehung der Familienverbände seit den 1850er Jahren grundsätzlich als Abwandlung und Anpassung der Vereinspläne der Adelsreformdiskussion an Verhältnisse östlich der Elbe betrachten können. In der Adaption der Entwürfe für adlige Verbände an eine familienorientierte Sammlungspolitik beschritt vor allem der östlich der Elbe lebende Adel eine Strategie, die sich in den anderen Regionen des Deutschen Bundes beziehungsweise des Kaiserreichs nur wesentlich abgeschwächter beobachten lässt. Inwiefern hieraus Vorteile entsprangen, wird zu untersuchen sein. Der Familiendiskurs, der in der Reformdebatte weniger präsent war, für die Gründung der Familienverbände aber dennoch wichtig war, spiegelt eher die konservative Gesellschaftsvision wider, die der Adelsreformdebatte zugrunde lag. Die Gründungszwecke der Familienverbände verdeutlichen, dass die Gedanken der Adelsreform östlich der Elbe zunächst auf der Ebene der Familie umgesetzt wurden. Es lassen sich sechs Ziele ausmachen, die einerseits in den Familienstatuten verankert, andererseits auch in Reden und Briefen umschrieben wurden und inhaltlich in der Adelsreformdebatte beziehungsweise dem sie grundierenden konservativen Wertehimmel schon auffindbar sind. Sie bleiben bis 1939 weitgehend stabil und sind mit einer Ausnahme in den meisten Fällen vorhanden.43 An erster Stelle stand das Bemühen um Herstellung und Erhalt des Familienzusammenhalts. Die Familie von Bonin
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So bei der Familie v. Bülow 1859 (D.J.v. Bülow: Der „v. Bülow’sche Familienverband“ seit seinem Bestehen, in: FZ-Bülow 7/1929, S. 17), v. Platen 1861 (FG-Platen 1989, S. 744), v.d. Marwitz 1864 (FG-Marwitz 1929, S. 229–233); v. Bismarck 1885 (Valentin v. Bismarck: Die Entstehung des v. Bismarck’schen Familienverbandes, in: FZ-Bismarck 21/1938, S. 3f.) und v. Trebra 1894 (Schriftwechsel in: LHASA-WR – Rep. H Braunsroda, Nr. 275). Vgl. auch die Hinweise bei Jandausch: Ein Name, Schild und Geburt, S. 29–133;. Wienfort: Gerichtsherrschaft, Fideikommiss und Verein, S. 106–108.
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vereinigte sich 1865 „in dem Wunsche, das historische Familien-Bewußtsein . . . zu stärken und rege zu erhalten, so wie zur Förderung des Gemeinsinnes und des inneren Zusammenhanges unter den Familien-Gliedern“44 . Nicht selten bestand dabei das Problem, dass sich die Familienmitglieder erst einmal kennenlernen mussten und die jeweils aufwachsende Generation in Kontakt mit dem Rest der Familie gebracht werden musste. Otto von Dassel klagte 1893 anlässlich der Verschiebung des dritten Familientages auf unbestimmte Zeit: „die verschiedenen Linien unseres Geschlechts haben sich kaum kennen gelernt, zu den verwandtschaftlichen Beziehungen hat sich erst lose das Band persönlicher Freundschaft und Bekanntschaft geknüpft.“45 Dabei waren es vor allem die Familientage, so die von der Schulenburg, die zum „persönlichen Bekanntwerden der Familienangehörigen untereinander die gewünschte Gelegenheit bieten“ sollten.46 Zweiter Gründungszweck war die materielle und immaterielle Unterstützung der Familienglieder, „im Hinblick auf die Verarmung und Degeneration die in so mancher Familie, und leider auch in der unsrigen“, so die von Lepel 1875, „Platz zu greifen beginnt.“47 Ausdruck dieser Bemühungen waren die in den meisten Familien gegründeten Stiftungen, aber auch die gegenseitige Unterstützung durch Bildung familiärer Netzwerke.48 Neben diesen beiden Zielen stand ein diffuseres drittes Feld ideeller Ziele. Dazu sollte bei der Familie von Treskow, wie bei vielen anderen Familien auch, gehören, „über die Ehre der Familie zu wachen“49 und, so die von der Marwitz, „das von den Vorfahren überkommene Gefühl für Ehre und Pflicht . . . unter seinen Mitgliedern rege zu erhalten“50 . Daneben war die Pflege christlicher, vaterländischer und monarchischer Gesinnung ebenso ein Ziel51 wie die Erhaltung und Weitergabe „ritterlicher Gesinnung“52 . Diese drei Gründungsmotive liefen in der diffuseren, in den bisher beschriebenen Beweggründen aber nicht voll aufgehenden „Beratung und Beschlußfassung über gemein44 45 46 47 48
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Statut des Familien-Verbandes des Hinterpommerschen Geschlechtes v. Bonin, o.O. 17.3.1865, in: LAG – Rep. 38d Bahrenbusch, Nr. 71, S. 23. Hervorhebung im Original. Dassel, Otto v.: Vertagung des dritten Familientages, in: Bericht über die Familie von Dassel, Einbeck 1893, S. 74. FG-Schulenburg 1908, S. 107. Unsignierter Brief [Bruno v. Lepel] an Franz v. Lepel, Swinemünde, 4.2.1875, in: LAG – Rep. 38d v. Lepel, Nr. 39, S. 423. Schuckmann, Hermann Frhr. v.: Zweck des Verbandes, 21.2.1910. Abgedruckt in: FGSchuckmann 1932, S. 479. Außerdem: Jandausch: Ein Name, Schild und Geburt, S. 166 u. 174. Statutenentwurf für die Genossenschaft der Familie v. Treskow von Franz v. Treskow, Berlin 27.2.1893, in: BLHAP – Rep. 37 Friedrichsfelde, Nr. 112, unpag. Satzung des Familien-Verbandes der v.d. Marwitz, o.O. o.J. [nach 1900], in: BLHAP – Rep. 37 Friedersdorf, Nr. 259, S. 1. Z. B. Familienvertrag des Geschlechts derer v. Witzleben, o.O. 1874, in: FG-Witzleben 1880, S. 2f. Statut für den am 14. October 1871 zusammengetretenen Gräflich Wartenslebenschen Familien Verein, o.O. 14.10.1871, in: LHASA-WR – Rep. H Karow, Nr. 884, S. 1.
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same Familienangelegenheiten“53 zusammen. Dazu gehörte für die Familie von Bismarck 1904 auch die „Wahrnehmung gemeinschaftlicher FamilienInteressen und Rechte“54 . Hinzu trat schließlich fünftens noch bei der weit überwiegenden Mehrzahl der Familienverbände die Be- oder Erarbeitung der Familiengeschichte, der Erhalt von Familiendenkmälern, die Sammlung von Familienurkunden und die Pflege der Tradition.55 An diese Zwecke, die die Geschlechtsverbände verfolgen sollten, schloss sich in einigen wenigen Familien noch ein zusätzlicher Zweck an. Es handelte sich dabei um Einflussnahme der Familie auf den Grundbesitz, was als Bemühung um Erhaltung desselben bezeichnet wurde. Relativ unspezifisch blieb die Familie von Puttkamer, die 1864 „als wesentliches äußeres Förderungsmittel“ für die ideellen Verbandsziele „die Vermehrung und Befestigung des Ansehens und Grundbesitzes der Familie“56 erachtete. Zentral war die gemeinschaftliche Sorge um den Grundbesitz beim Verband der von Johann Heinrich von Helldorff abstammenden Agnaten. Diese statuierten 1865 als zentrale Aufgabe ihres Familienverbandes: „Durch den unter heutigem Dato abgeschlossenen Vertrag . . . sind die in Bezug auf die Lehngüter und Lehnstämme der Familie begründeten Verhältnisse von Neuem geordnet und festgestellt worden. Die Contrahenten dieses Vertrages haben in der Absicht, dadurch die Erhaltung des Familiensinnes zu fördern und zur Erleichterung der durch die gemeinsamen und gegenseitigen Interessen bedingten Rechtsgeschäfte, die Einrichtung eines Geschlechtstages, und die Wahl von Geschlechts-Vorstehern beschlossen.“57
Es ist erstaunlich, dass dieser zentrale Punkt in der Auseinandersetzung der Adelsreformdebatten – die Sicherung des Grundbesitzes – unter den Zielen der Familienverbände so schwach vertreten war. Der Grundbesitz und seine Erhaltung blieb in den allermeisten Familien die Domäne der Kleinfamilie. Dies entsprach jedoch der Besitzstruktur. Denn über Allodialgüter verfügte der einzelne Besitzer – die Agnaten hatten nur dort Mitspracherechte, wo der Lehenverband noch bestand, und dies wurde mit der Allodifizierung immer seltener. Daneben lassen sich aber auch in den Gründungszwecken zentrale Elemente der Adelsreformdiskussion wiederfinden: Die Förderung des Zusammenhalts des Adels, hier auf der Ebene der Familie, die Bewahrung und Förderung spezifischer sittlicher Eigenschaften und Orientierungen und die sich in den Vereinsplänen der Reformdebatten abzeichnende Umstellung auf 53 54 55
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Statuten des Familienverbandes v. Graevenitz, o.O. 1906, in: FZ-Graevenitz 4/1906, S. 4. Satzung des von Bismarck’schen Geschlechts, o.O. 5.3.1904, in: LAG – Rep. 38d Karlsburg, Nr. 1062, S. 2. Satzung des eingetragenen Vereins „Familie v. Dewitz“, Stettin 20.10.1909. Als Anlage zum Protokoll des 46. Familientages, Stettin 20.10.1909, in: APS – Archiwum rodu Dewitz-Wussow, Nr. 80, unpag; Statut für die Genossenschaft der Familie v. Puttkamer, Stolp 18.10.1864, in: PLAG – Rep. 38d Bahrenbusch, Nr. 70, S. 62. Ebd. Familienstatut der von Johann Friedrich v. Helldorff abstammenden Agnaten, Naumburg 2.5.1865, in: LHASA-WR – Rep. H St. Ulrich, Nr. 412, S. 77.
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ein Tugend- anstelle eines Berufsprinzips zur Charakterisierung des Adels. Die Vertretung des Familieninteresses wird man als adaptierte Variante der Vertretung von Gesamtadelsinteressen interpretieren können – tatsächlich in die Politik eingreifen wollten die Familienverbände aber nicht.58 Lediglich die Familiengeschichte hatte in den Adelsreformdebatten keine so prominente Rolle gespielt, wie es sich nach Ausweis der Gründungszwecke für die Familienverbände abzeichnet.
1.3 Familientage, Familienstiftungen und Familiengeschichten Die Familienverbände bildeten drei Instrumente aus, die helfen sollten, ihre Gründungszwecke zu realisieren. Diese waren erstens die Familientage, die die Familienmitglieder zusammenbringen sollten, zweitens die Gründung von Familienstiftungen oder Unterstützungskassen und drittens die Unterstützung der Erforschung und Abfassung der Familiengeschichte. Die Familien setzten bei den jeweiligen Instrumenten an unterschiedlichen Stellen Schwerpunkte, so dass hier nur ein allgemeiner Überblick geboten werden kann, der verdeutlichen soll, wie die Familien trotz jeweiliger Besonderheiten die allgemein beobachtbaren Organisationsziele verfolgten und damit zur Stabilisierung des konservativen Gesellschaftsverständnisses innerhalb des Adels und der Gesellschaft im Ganzen beitragen wollten. Die Probleme, die sich aus der Verfolgung konservativ-adliger Leitideen und den konkreten familiären und individuellen Realitäten ergaben, sollen hingegen im nächsten Abschnitt betrachtet werden. Der Aufgabe, den Familienzusammenhalt zu begründen und aufrecht zu erhalten, dienten in erster Linie die Familientage.59 Diese wurden in Friedenszeiten in den meisten Familien jährlich oder alle zwei Jahre abgehalten. Die Familien entwickelten über die Jahre eigene Gestaltungsformen der Treffen, wobei sie meist relativ schlicht begannen und die Veranstaltungen dann immer elaborierter wurden. Die Familientage bestanden mindestens aus einer geschäftlichen Sitzung der Verbandsmitglieder und einem gemeinsamen Essen. Hinzu kamen unter Umständen erweiterte Geselligkeiten in Form von Bierabenden am Tag vor der Mitgliederversammlung, Besichtigungstouren 58
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Ausdrücklich lehnt dies die Familie v. Bülow ab, da ihre Mitglieder über mehrere Staaten verteilt lebten. Verhandlungsprotokoll, Berlin 3.2.1867, in: LHASA-WR – Rep. E v. Bülow, Nr. 19, S. 2. Im Folgenden ins Detail zu gehen oder Einzelnachweise anzuführen, würde den Rahmen sprengen. Grundsätzlich sei auf die Familientagsprotokolle verwiesen, die sich in den Beständen der Familienverbände in den Archiven finden. Vgl. außerdem für die Familien von Schwerin und von Bülow Jandausch: Ein Name, Schild und Geburt, S. 92–198.
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in den Tagungsorten oder in deren Umgebung, Bälle nach dem Abendessen und weitere gemeinschaftliche Vergnügungen. Sitzungs- und Abendessensäle konnten mit Bildern, Familiengegenständen und Wappen geschmückt werden, Militärkapellen für Hintergrund- und Tanzmusik sorgen, Reden wurden gehalten, Gedichte vorgetragen, Toasts ausgebracht. Familienverbandsjubiläen konnten ebenso wie die Jubiläen der ersten urkundlichen Erwähnung der Familie oder die runde Jährung des Erwerbs eines Besitzes zu erheblich höherem Festaufwand führen. Die Ausgestaltung hing im Einzelnen auch mit der Größe der Familie beziehungsweise mit der Anzahl der Teilnehmer zusammen. Die Ausdehnung der Familientage auf mehrere Tage bot sich zumeist an, wenn Angehörige aus größerer Entfernung anreisen mussten, da sie ohnehin am Tagungsort übernachten mussten. Während vor allem die Feierlichkeiten im Umfeld der Sitzungen der Familienverbandsmitglieder dazu gedacht waren, Verbindung unter den Familienmitgliedern herzustellen, die ideellen Ziele der Familienverbände zu befördern und in vielfältiger Art und Weise zu informellen Kontakten und Hilfen führen konnten, dienten die förmlichen Sitzungen dazu, die Stiftungen zu verwalten, über Unterstützungen zu entscheiden und über Familienangelegenheiten und -interessen zu beraten. So waren die Familientage bemüht, die Familienmitglieder, die sich mit dem Wachstum Preußens und der deutschen Nationalstaatsgründung über immer größere Gebiete verteilten, zu möglichst festlich ausgestalteten Ereignissen zusammenzuführen. Trug somit der gesellschaftliche Wandel einerseits zu immer größeren Entfernungen zwischen den Wohnorten der Familienmitglieder bei, so ermöglichte er doch andererseits erst die regelmäßige Teilnahme an Familientagen. Denn indem die sich entwickelnde Industriegesellschaft mit der Eisenbahn neue Verkehrsmöglichkeiten zur Verfügung stellte, wurde die Anreise zu den Familientagen für weiter entfernt wohnende Verwandte überhaupt erst praktikabel. Vor allem in den 1920er und 30er Jahren wurde dann die durch Autos und Busse gesteigerte Mobilität auch für Erkundungstouren ins Umland der Tagungsorte genutzt.60 Die Geschlechter waren bemüht, ihre Familientage und erst Recht die Jubiläumsfeiern zu besonderen Tagen auszugestalten – Familienfeste zu zelebrieren. Familientagsberichte betonen Harmonie und Ausgelassenheit. Abstimmungsergebnisse, die innerfamiliäre Differenzen offenlegen würden, werden in den gedruckten und an die Mitglieder versandten Familientagsberichten hingegen häufig nicht genannt.
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Auf die Nutzung der modernen Mobilitätsmöglichkeiten im Hochadel verweist Silke Marburg: Europäischer Hochadel. König Johann von Sachsen (1801–1873) und die Binnenkommunikation einer Sozialformation, Berlin 2008, S. 231. Dass solche Mobilität eines der Hindernisse regelmäßiger Familientreffen in der Frühen Neuzeit war, bemerkt Friederike v. Gadow: Haus und Geschlecht bei den Bünaus. Soziale Strategie einer sächsischen Niederadelsfamilie im 18. Jahrhundert, in: Schattkowsky: Die Familie von Bünau, S. 215–245, hier S. 222.
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Wenn es auch kaum möglich ist, die tatsächliche Wirkung der Veranstaltung auf den Einzelnen zu ermessen, so wird man den Familientagen – auch wenn es immer wieder Streit gab – eine vergemeinschaftende Wirkung kaum absprechen können. Diese war jedoch nach Geschlecht differenziert. Während die Männer an den eigentlichen Verhandlungen teilnahmen, in denen es um die Aushandlung der Familieninteressen und die Verteilung von Geldern aus dem Familienvermögen ging61 , waren Frauen bis 1918 in der Regel zu diesen Sitzungen nicht zugelassen. Im Laufe der Jahre wurden sie aber ebenso wie minderjährige Kinder zu den geselligen Teilen der Familientage hinzugezogen. Jedoch konnte sich die Wirkung immer nur bei jenen entfalten, die tatsächlich teilnahmen. Der Kreis dieser Personen war enger gezogen als jener der potenziellen Teilnehmer. Denn auch wenn die Familien immer wieder die Frugalität ihrer Veranstaltungen betonten62 und mitunter um die Organisation ,günstiger‘ Verpflegung bemüht waren, war nicht jedes Familienmitglied in der Lage, die Kosten für Anreise, Unterkunft und das Familienessen aufzubringen. Gedruckte Familientagsprotokolle und -berichte versuchten daher in vielen Fällen, die nicht anwesenden Familienverbandsmitglieder über die Ereignisse und Beratungen zu informieren und so die Wirkung der Familientage auch an Abwesende zu vermitteln. Daneben konnten Abwesende aber auch durch das zweite Instrument der Familienverbände an der Organisation teilhaben. Denn ein Teil der Familie erlebte den gesteigerten Zusammenhalt in erster Linie in Form von finanziellen Unterstützungen aus der Familienstiftungen.63 Das Interesse der Familienmitglieder aneinander, die Sorge für einander und für gemeinsame Interessen, die nach außen gezeigte Harmonie, all dies macht die Familientage nicht nur zu einem wichtigen Instrument zur Erreichung der Verbandsziele, sondern es band sie ein in den Diskurs über ein adlig-konservatives Gesellschaftsmodell und die Stellung der Familie in diesem Modell. Familientage waren Verkörperungen der Leitidee der konservativen Familie, und sie waren nicht nur familiäre Ereignisse, sondern dadurch, dass sich häufiger Artikel über Familientage in der konservativen Presse fanden,
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Gadow: daß kein Vetter seine Söhne, S. 185, hat für die Familie v. Bünau diese Verhandlungen als die „wichtigsten“ auf den Geschlechtstagen bezeichnet. Wienfort: Gerichtsherrschaft, Fideikommiss und Verein, S. 105. Hingegen ist z. B. für die Familie v. Dewitz eher zunehmende Opulenz der Familientage attestiert worden. Vgl. FGDewitz 1990, S. 172. Mitunter konnte auch Familienmitgliedern die aktive Teilnahme am Familienverband oder Familientag vorenthalten werden, wenn sie Gelder aus den Familienstiftungen erhielten.
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waren sie auch Teil der öffentlichen Manifestation der Anhänglichkeit an einen Gesellschaftsentwurf.64 Die Familienstiftungen konnten in einigen Familien an ältere Vorläufer, zum Teil noch aus der Frühen Neuzeit anschließen.65 In den meisten Fällen waren sie aber Neuschöpfungen, die zusammen mit den Familienverbänden ins Leben traten.66 Zum Stiftungszweck hat Thomas Adam festgestellt: „Stiften bezeichnet eine soziale, ethische und ökonomisch-juristische Aktivität eines Einzelnen oder einer Gruppe von Individuen, die immer auf die Umsetzung spezifischer Ideen und Visionen darüber, wie die Gesellschaft zu Lebzeiten des Stifters/Stifterkollektivs und über dessen/deren Tod hinaus gestaltet werden soll, abzielt.“67 Die Familienstiftungen waren insofern Teil der Auseinandersetzung um die Gestaltung der gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaft. Durch sie erhielten die Adelsfamilien die Möglichkeit, in ihrem Umfeld strukturbildend zu wirken. Die Vielfalt der Zwecke, die man mit den Familienstiftungen unterstützen wollte, spiegelt sich unter anderem in der Diversifizierung der Stiftungslandschaft in einzelnen Familien wider.68 Während eine Reihe Familien alle Zwecke aus einer einzigen Familienstiftung förderte, wurden in anderen Familien spezielle Familienstiftungen für einzelne Zwecke eingerichtet. Ohnehin orientierten sich die Stiftungen an den jeweiligen Bedürfnissen der Familien. So konnten entweder allgemeine Stiftungen gegründet werden, die Familienmitgliedern beiderlei Geschlechts zugutekamen, oder es konnten zunächst Stiftungen nur für unverheiratete Töchter oder nur für Söhne in der Berufsvorbereitung geschaffen werden. Die Motive, die im Einzelnen zu diesen Schwerpunktsetzungen führten, sind jedoch häufig aufgrund des vorhandenen Aktenmaterials nicht mehr nachzuvollziehen.69 Die Unterstützungen konnten auf eigenen Antrag oder Fürsprache beantragt, einmalig 64
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Eine systematische Auswertung der Presse konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht erfolgen. Aber in den Archiven finden sich immer wieder Zeitungsausschnitte zu Familientagen. Einer dieser Artikel wird auch erschlossen über Wienfort: Gerichtsherrschaft, Fideikommiss und Verein, S. 107. Gadow: Haus. In der Familie v. Zitzewitz: Stiftungen der Familie v. Zitzewitz, Bornzin 23.11.1873, in: PLAG – Rep. 38d Zitzewitz-Muttrin, Nr. 137, S. 23–27. Die Vielfalt der Familienstiftungen vor den Familienverbänden ausführlich dargestellt bei Jandausch: Ein Name, Schild und Geburt, S. 121–128. Auch an dieser Stelle sei, aufgrund der Vielzahl an möglichen Einzelbelegen, auf die Protokolle der Familienverbände und die Stiftungsstatute in den Archiven verwiesen. Thomas Adam: Stipendienstiftungen und der Zugang zu höherer Bildung in Deutschland 1800–1960, Stuttgart 2008, S. 169. Vgl. hierzu vor allem die Stiftungsstatute, die Korrespondenz im Rahmen der Gewährung von Stiftungsgeldern und die Familientagsprotokolle in den Archiven. Beispiele dafür auch bei Jandausch: Ein Name, Schild und Geburt, S. 133–138; Gadow: daß kein Vetter seine Söhne, S. 186–195. Eine explizite Abwägung findet sich im Promemoria zur Gründung einer Familienstiftung der Familie v.d. Schulenburg, Probstey Salzwedel Januar 1856, in: LHASA-WR – Rep. H Beetzendorf II, AI Nr. 28, S. 13–19. Außerdem das Verhandlungsprotokoll des
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oder fortlaufend gewährt, möglicherweise an einen Mittelsmann oder eine Mittelsfrau übergeben und als Geschenke oder Darlehen deklariert werden. Was unterstützt wurde, war in der jeweiligen Stiftungssatzung festgelegt und reichte vom Lebensunterhalt und der Bezahlung der Ausbildungskosten bis hin zur Anschaffung von Sachgegenständen und der Begleichung von Arzt- und Kurrechnungen. Die Summen, die der Einzelne erhielt, variierten erheblich.70 Monika Wienforts Aussage, dass Frauen grundsätzlich weniger erhielten als Männer, trifft zwar im Großen und Ganzen zu71 , allerdings wurde von Männern erwartet, dass sie sich einen Broterwerb suchten, von dem sie leben konnten, solange sie gesundheitlich dazu in der Lage waren. Bei unverheirateten Töchtern ging man in einer ganzen Reihe Familien hingegen von einer lebenslänglichen Unterstützungsbedürftigkeit aus, so dass langfristig möglicherweise die Frauen besser abschnitten.72 In dieser Prioritätensetzung spiegeln sich nicht zuletzt adlige Vorstellungen über die Rolle von Männern und Frauen in der Gesellschaft. Grundlage aller Entscheidungsfindung war jedoch die Beschaffung von Informationen über die zu Unterstützenden und die Vorträge auf den Familientagen oder in den Familienratssitzungen. Die gewünschten Informationen erhielt man, wenn nicht direkte Kontrolle möglich war, mitunter von Bekannten, Verwandten, der Polizeiverwaltung oder anderen Behörden, die um Auskunft gebeten wurden. Manche Familien verlangten auch die Einreichung von Dokumenten, zum Beispiel der Steuerveranlagung. Zudem waren die Verbände um eine Kooperation mit anderen Unterstützungskassen, wie jenen der DAG, der Offiziers- und Beamtenwitwenkassen oder auch der königlichen Unterstützungsfonds bemüht, um die eigenen Ressourcen zu schonen. Ihr Kapital erhielten die Stiftungen aus unterschiedlichen Quellen: Regelmäßige Beiträge der Familienmitglieder, die nach Beruf und Besitz gestaffelt werden konnten, stellten eine Möglichkeit der Akkumulierung dar. Daneben konnten Einkaufsgelder für Teilhabe gefordert werden. Die Allodifikation der Lehen brachte einer Reihe von Familien Abfindungsgelder, die in den Stiftungen angelegt wurden. Schließlich stellten Schenkungen und die jährlichen Zinserträge weitere Wachstumsgaranten der Familienstiftungen dar.73 Angelegt wurde das Vermögen der Stiftungen in aller Regel in landschaftlichen Pfandbriefen, preußischen Staats- oder Reichsanleihen. Diese sanken zwar al-
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Familientages derer v.d. Schulenburg, Berlin 3.3.1856, in: Ebd., S. 27, mit den Abstimmungsergebnissen über die Form der zu errichtenden Familienstiftung. Zur Praxis der Vergabe in den Familien v. Schwerin und v. Bülow vgl. Jandausch: Ein Name, Schild und Geburt, S. 28f., 157–174 u. 181–192. Außerdem die Aufstellungen der gewährten Unterstützungen ebd., S. 359–363. Wienfort: Gesellschaftsdamen, Gutsfrauen, Rebellinnen, S. 195. Vgl. für die Grafen v. Bernstorff Conze: Von deutschem Adel, S. 356. Beispielhaft die Finanzierungsmodelle der Familienstiftungen der v. Schwerin und v. Bülow bei Jandausch: Ein Name, Schild und Geburt, S. 144–157.
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lesamt in der Verzinsung seit den 1890er Jahren von über 4 % auf 3 % ab,74 sie boten aber im Gegensatz zur Investition der Stiftungsgelder in Grundbesitz extrem hohe Sicherheit gegen Ausfälle und waren einfach zu verwalten, da nur die jährliche Einlösung der Zinscoupons erforderlich war. In einigen Familien konnte das Stiftungsvermögen aber auch an Grundbesitzer der Familie als Darlehen vergeben werden. Verausgabt wurde aus den Stiftungen in aller Regel nicht das gesamte Kapital, sondern nur die jährlichen Zinserträge oder ein Teil derselben, während der Rest zum Kapital geschlagen wurde. Das Ende der Beitragszahlung und der Rückbehaltung eines Zinsanteils und die volle Auszahlung der Zinsen waren häufig an das Erreichen einer bestimmten Summe gebunden. Diese Zielmarken wurden in vielen Familien immer wieder nach oben verschoben75 , wobei man dies in zwei Richtungen interpretieren kann: Einerseits als Zeichen des Optimismus bezüglich der Erreichbarkeit der höheren Zielmarke, andererseits als Zeichen des Pessimismus, weil man davon ausging, in Zukunft solch eine große Stiftung zu benötigen. Schließlich kann man aber auch Prestigedenken hinter diesen Erhöhungen vermuten, indem sich die Bedeutung einer Familie nicht nur an ihrem Grundbesitz, sondern auch an ihrer Familienstiftung messen ließ. Die Kapitalakkumulationsstrategien sorgten, ebenso wie fortwährende Beiträge, für ein kontinuierliches Wachstum vieler Stiftungen im Kaiserreich. Die Summen waren jedoch je nach Familie höchst unterschiedlich und reichten von einigen tausend bis zu mehreren hunderttausend Mark.76 Neben der Größe und dem Reichtum der Familie war für die 1914 erreichte Höhe auch der Zeitpunkt, an dem die Stiftung gegründet wurde, von Bedeutung. Angaben zu einzelnen Familien enthält die Tabelle über die „Vermögensentwicklung adliger Familienstiftungen 1877–1914“ im Anhang. Die verausgabten Summen waren je nach Leistungsfähigkeit der Stiftungen höchst unterschiedlich. Zuweilen musste erst eine Reihe von Jahren gesammelt werden, bis der stiftungsmäßige Mindestbestand erreicht war – Ausgaben waren so lange nicht oder nur in Ausnahmefällen möglich. Die anfänglich ausgezahlten Unterstützungen waren daher auch in vielen Familien ,gering‘. So konnte die Familie von Raven seit 1917 jährlich 250
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Zu den Hintergründen der Zinsentwicklung vgl. Heinrich Stuebel: Staat und Banken im preußischen Anleihewesen von 1871–1913, Berlin 1935. Die daraus folgende Problematik bei Graf Wilhelm v. Zitzewitz. Vgl. dazu die Briefentwurfsbücher in: PLAG – Rep. 38d Zitzewitz-Muttrin, Nr. 115 u. 191, passim. Um ein extremes Beispiel zu nennen: So stritt man in der Familie v. Platen 1911, wie viel Geld angespart werden und wie viel verteilt werden sollte. Die Berechnungen für das Stiftungsvermögen in hundert Jahren bewegten sich zwischen 1,315 und 2,514 Mio. Mk. Man einigte sich schließlich auf den Mittelweg, der versprach, bis 2011 1,914 Mio. Mk. Stiftungsvermögen zu besitzen. Vgl. FG-Platen 1989, S. 775. Für weitere Vergleichswerte Wienfort: Gerichtsherrschaft, Fideikommiss und Verein, S. 106.
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Mark verteilen77 , die Familie von Bülow kam 1884 auf 1000 Mark verteilte Stiftungsgelder78 , die Familie von der Schulenburg begann 1874 mit der Auszahlung aus der Töchterstiftung in Höhe von 1200 Mark jährlich.79 Die Summen steigerten sich aber im Laufe der Jahre zu ganz erheblichen Gesamt- beziehungsweise Jahresbeträgen. Die Familie von Schwerin kam in einer Aufstellung aus dem Jahr 1913 zu dem Ergebnis, dass seit 1872 insgesamt 191 292,10 Mark aus der Familienstiftung ausgezahlt worden waren80 , in der Familie von Sei(y)dlitz waren es zwischen 1867 und 1893 24 128 Mark.81 Die im Baltikum angesessenen von Stackelberg zahlten 1868 aus einer Kollekte 25 Rubel und begannen dann mit der Ansammlung einer Familienstiftung. Aus dieser, andere Stiftungen nicht einbezogen, konnte die Familie zwischen 1875 und 1887 jährlich 100 bis 200 Rubel auszahlen. In den Folgejahren stiegen die Auszahlungen, lagen 1900 erstmalig über 1000 Rubel und 1912 erstmalig über 2000 Rubel. In den ersten 40 Jahren der Existenz der Stiftung hatte man 14 480 Rubel ausgezahlt, in den folgenden 10 Jahren 18 520.82 Die Familie von Zitzewitz konnte aus einer Vielzahl verschiedener Stiftungen erhebliche Beträge auszahlen. Allein aus zwei Senioraten, die allerdings dem beziehungsweise den zwei Ältesten zukamen, stammten 1896 12 177,06 Mark,83 die Lehensstiftung der Familie erbrachte 1919 jährlich 10 000 Mark Einnahmen.84 Die gesamte DAG konnte hingegen im Jahr 1906 nur 53 500 Mark verteilen.85 Die Familienstiftungen dienten also in erster Linie dem Ziel der Familienverbände, materielle Unterstützung zu gewähren. Daneben sollten aber auch ihre Wirkung auf das Ansehen der Familie und die Verfolgung ideeller Ziele nicht übersehen werden. Letztere Ziele konnte man dadurch erreichen, dass an die Vergabe von Stiftungsgeldern auch explizite oder implizite Verhaltenserwartungen geknüpft wurden. Im Falle ihrer Nichterfüllung konnten die Stiftungsgelder auch wieder entzogen werden. Das Ansehen der Familie wurde dadurch gewahrt oder befördert, dass die Gelder dabei halfen, Söhne in standesgemäße Laufbahnen, vor allem als Offiziere, zu bringen und darin zu erhalten, indem zum Beispiel Spielschulden bezahlt wurden. Armut und Not weiblicher (aber auch männlicher) Familienmitglieder konnten gelindert und 77 78 79 80 81 82 83 84 85
FZ-Raven 26/1916, S. 1. FZ-Bülow 7/1929, Sp. 21. Protokoll des Familientags der v.d. Schulenburg, Berlin 10.3.1874, in: LHASA-WR – Rep. H Beetzendorf I, AII Nr. 24, S. 129. FG-Schwerin 1913, S. 39. FZ-Sei(y)dlitz 14/1939, S. 182. FG-Stackelberg 1914, S. XXXIIIf. Graf Wilhelm v. Zitzewitz an das kgl. Erbschaftssteueramt Stettin, Zezenow 1.8.1896, in: PLAG – Rep. 38d Zitzewitz-Muttrin, Nr. 39, S. 49f. Graf Wilhelm v. Zitzewitz an Wedig v. Zitzewitz, o.O. [Zezenow] 14.12.1919, in: Ebd., Nr. 192, S. 586f. Hueck: Organisation des deutschen Adels, S. 22.
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damit aus der Öffentlichkeit gehalten werden. Wenn es zu schlimm wurde, konnte Familienmitgliedern auch die Passage nach Amerika bezahlt werden, um sie so aus der Öffentlichkeit zu bekommen. Die Restaurierung und Erhaltung von Familienmonument und Grabmälern konnte mit Geldern der Stiftungen befördert werden und dadurch die materielle Einschreibung der Familie in den Raum vor dem Verfall bewahrt werden.86 Die Familienstiftungen waren somit nicht nur Ausdruck des Willens, Familienmitglieder in Notlagen zu unterstützen, sondern mit ihnen konnte die rechte Gesinnung Verwandter prämiert beziehungsweise eingefordert werden. Zudem konnte die Ausbildung in Berufen, die der Adelsdefinition entsprachen, mit den Geldern gefördert werden. Familienstiftungen wirkten insofern strukturbildend im Sinne einer adlig-konservativen Gesellschaftsvision. Zudem waren sie in vielfältiger Weise Ausdruck und Bestätigung der Relevanz des adlig-konservativen Familienverständnisses. Sie zeichneten sich aus durch den Verzicht der Gründergeneration, das Denken und Vorsorgen für künftige Generationen und die Fürsorge über die Kleinfamilie hinaus. Auch die Ehre, besonders ihre äußere Seite – das Ansehen in der Gesellschaft –, ließ sich mit der Familienstiftung sinnvoll befördern, boten die Stiftungen doch vielfältige Möglichkeiten, das Ansehen der Familie zu bewahren oder zu steigern. Die Zahlen zum Stiftungsvermögen und der Entwicklung der Auszahlungen verdeutlichen, dass die Ansammlung, wenn keine Schenkungen oder andere außergewöhnlichen Zuflüsse erfolgten, ein langfristiges Unternehmen war, dessen großer Profit erst späteren Generationen zugutekommen würde. Aber sie verdeutlichen auch, dass solche Familien, denen die Ansammlung eines großen Vermögens gelungen war, davon jedes Jahr in einem erheblichen Maße profitierten. Die Sorge für Familiengeschichte und Familientradition fand in den Verbänden ihre Zuspitzung in der Ausarbeitung einer gedruckten Familiengeschichte.87 Dabei konnten die Familienverbände die Ausarbeitung nicht selber in die Hand nehmen, aber sie konnten sie in vielfältiger Weise fördern oder ermöglichen. Einmal, indem man Familienmitglieder finanziell unterstützte, die sich um die Abfassung einer Geschichte bemühten. Hierfür stellten die Familienverbände zum Teil sehr beträchtliche Summen zur Verfügung. Die Gelder konnten für die Bezahlung der Kosten für Abschriften, Reisen und Ähnliches genutzt werden. Sie konnten aber auch als Entlohnung 86 87
Beispielhaft Wienfort: Gerichtsherrschaft, Fideikommiss und Verein, S. 107. Die Familie v. Dewitz bemühte sich z. B. um den Erhalt der Burg Daber. FG-Dewitz 1918, S. 504. Vgl. dazu die vielfältigen Berichte der Familientagsprotokolle über die Bearbeitung der Familiengeschichte. Außerdem Jandausch: Ein Name, Schild und Geburt, S. 210–214. Zur Familiengeschichtsforschung vor der Entstehung der Familienverbände vgl. ebd., S. 200–206. Ähnliche Ergebnisse für den deutsch-baltischen Adel bei Whelan: Adapting to Modernity, S. 109, für Sachsen bei Mandy Scheffler: Adel und Medienöffentlichkeit. Die Publikationstätigkeit des sächsischen Adels 1763–1910, in: Marburg/Matzerath: Der Schritt in die Moderne, S. 243–258, hier S. 256.
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an einen Familienhistoriographen gezahlt werden. Andere Familien beschäftigten Honorarautoren, bei denen es sich häufig um Lehrer, Genealogen oder Archivare handelte. Sodann konnten auf den Familientagen Kontakte unter den Verwandten hergestellt und der Zugang zu den Familienarchiven erleichtert werden. Und schließlich waren die finanzielle Förderung des Drucks und die reichhaltige bildliche Ausstattung der Familiengeschichte Elemente, bei denen der Familienverband fördernd eingreifen konnte. Solche prachtvoll ausgestatteten Familiengeschichten konnten dann bei Jubiläen auch an den Monarchen als Geschenk überreicht werden. Eine ,gediegene‘ Familiengeschichte war insofern, wenn sie einen entsprechenden Verbreitungsgrad über die Familie hinaus erreichte, auch geeignet, das Ansehen der Familie zu steigern. Für das Ansehen war jedoch nicht nur die Ausstattung entscheidend, sondern auch der Inhalt, der die Bedeutung und Verdienste der Familie entsprechend hervorheben musste. Diese Bedeutung der Familie hervorzuheben, musste allerdings – dem Anspruch der Autoren nach – in der Regel mit den Prinzipien strikter Wissenschaftlichkeit einhergehen.88 Die Mythen, die die Familiengeschichtsschreibung der Frühen Neuzeit geprägt hatten, wurden als unwissenschaftlich abgetan oder zumindest in den Bereich der interessanten, aber nicht belegbaren, Sagen verbannt. Die adligen Familiengeschichtsautoren der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erkannten damit den Anspruch der etablierten Geschichtswissenschaft und ihres Methodenarsenals an und waren unter Berufung auf die eigene Nutzung dieser Methoden darauf bedacht, ihrer Geschichtsschreibung zusätzliche Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Dass viele Familien zunächst Urkundenbände herausgaben oder einen umfangreichen Urkundenteil in der Familiengeschichte abdruckten, verweist neben Einleitungen und Vorworten auf dieses Bemühen, eine nach wissenschaftlichen Standards belegte Familiengeschichte zu veröffentlichen. Problematisch waren dabei allerdings zwei Dinge, die sich in den Familiengeschichten nachverfolgen lassen. Erstens änderte sich mit dem Anschluss der Genealogie an die Rassenkunde die wissenschaftliche Perspektive, wie oben beim Wandel des Familienverständnisses gezeigt wurde. War im 19. Jahrhundert die Einbindung in die nationale Geschichte über den Mannesstamm vorrangig, wurde nach 1900 auch die weibliche Vorfahrenschaft wichtiger. Es verschoben sich damit nicht nur die Standards dessen, was als wissenschaftlich angesehen wurde, sondern auch, was zum Ansehen der Familie beitrug.89 Zweitens konnte die Wissenschaftlichkeit auch mit dem Anspruch kollidieren, das Ansehen der Familie zu betonen. Vor allem in solchen Fällen, 88
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Zum Folgenden geben die Einleitungen und Vorworte der Familiengeschichten am besten Auskunft. Vgl. auch Jandausch: Ein Name, Schild und Geburt, S. 208–210. Dieser Zug zur Verwissenschaftlichung im Adel ist auch an anderen Stellen beobachtbar. Vgl. dazu Fehrenbach: Geschichtsinteressen des Adels, S. 653. Vgl. oben Kapitel I.2.3.1.
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wo ein Honorarautor die Familiengeschichte schrieb, war man um Einflussnahme und Kontrolle der Texte bemüht – dafür, dass man zahlte, wollte man auch die Geschichte im eigenen Sinn geschrieben wissen.90 Neben der Ausarbeitung von Familiengeschichten sind aber auch die vielen kleinen Gelegenheiten zu berücksichtigen, an denen die Pflege der Familiengeschichte möglich war: in Festvorträgen, kurzen Mitteilungen über Urkundenfunde in den Familienverbandssitzungen oder Ähnlichem. Der Familientag bildete insofern auch ein Forum, um Wissen über die Familiengeschichte zu verbreiten. Die Familiengeschichte kann also im Rahmen der Familienverbände in zweierlei Zusammenhängen gesehen werden. Einerseits war sie ein Medium, mit dem das Ansehen der Familie unterstrichen, gesteigert und die vergangenen Heldentaten in Erinnerung gerufen werden konnten. Andererseits war sie eine Vergegenständlichung des konservativadligen Familienverständnisses in seiner vertikalen Ausprägung. Sie enthielt das ,historische‘ Wissen über eine Familie, situierte diese agrarromantisch in einer Ursprungs- und/oder Heimatregion und verankerte sie in der Geschichte des ,Vaterlandes‘. Damit führten die Familiengeschichten Überlegungen fort, die schon in der Adelsreformdiskussion propagiert worden waren. Auch hier hatte die Beschäftigung mit der Geschichte als Legitimationsressource des Adels eine, wenn auch im Vergleich zu anderen Zielen geringere, Rolle gespielt. Familiengeschichte, Familienstiftung und Familientag, die drei Instrumente der Familienverbände zur Verfolgung ihrer Gründungszwecke waren zutiefst in den konservativ-adligen Leitideen von Familie und Ehre verwurzelt. Die Instrumente korrespondierten vielfältig mit den Zielsetzungen der Leitideen und waren zu ihrer Förderung und Verbreitung geeignet. Einzig die Landbindung blieb, wie schon bei den Gründungszwecken der überwiegenden Mehrzahl der Familienverbände gesehen, im Instrumentarium der Familienverbände auf den ersten Blick unberücksichtigt. Sie konnte allerdings durch die Wahl der Tagungsorte, durch die Finanzierung von Grundbesitzschulden mit Geldern der Familienstiftung und durch die Betonung des Besitzes in den Familiengeschichten bedient werden. Auch wenn die Familienverbände als Vereinszusammenschluss auf Ebene der Familie in der Adelsreformdebatte nicht angedacht waren, so spiegeln sich in ihnen und ihren Instrumentarien dennoch die Gedanken der Adelsreformdebatte. Sie griffen insofern die Reformdebatte und die zugrundeliegenden adligkonservativen Werte auf und versuchten, sie in die Praxis zu überführen. 90
Sehr gut nachvollziehbar ist dieser Prozess der Abfassung der Familiengeschichte bei den v.d. Schulenburg. Vgl. LHASA-WR – Rep. H Beetzendorf I, AII Nr. 25a. Für ein Beispiel von Geschichtsinterpretation, die von der allgemeinen Geschichtsauffassung abweicht: Ewald Frie: 1806 – Das Unglück des Adels in Preußen, in: Wrede/Carl: Zwischen Schande und Ehre, S. 335–350. Außerdem die Frisierung der Familiengeschichte der v. Bülow bei Jandausch: Ein Name, Schild und Geburt, S. 214.
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Man kann sie daher als progressive Anpassungen an die veränderten Zeitverhältnisse und nicht als bloßes Festhalten an Althergebrachtem verstehen. Von einer Beharrungsstrategie lässt sich nur im Hinblick darauf sprechen, dass sie die Position des Adels und das richtige Verhalten Adliger innerhalb der (ständischen) Gesellschaft auch für die Zukunft sichern helfen sollten.
1.4 Was unterschied Familienverbände von frühneuzeitlichen Vorläufern familiärer Organisation? Sowohl die Gründungsjahre als auch die -motive verweisen darauf, dass die Familienverbände eine Neuentwicklung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts darstellen. Nun sind Familienzusammenschlüsse im Adel aber keine grundsätzlich neue Sache, sondern seit dem Mittelalter bekannt.91 Insofern muss ein Blick auf die frühneuzeitliche Familienorganisation des Adels östlich der Elbe geworfen werden, um beurteilen zu können, was an den Familienverbänden tatsächlich neu war und inwiefern es Kontinuitäten und Brüche zwischen den Organisationsmustern der Frühen Neuzeit und den Familienverbänden gab. Der Forschungsstand zur familiären Organisation des Adels östlich der Elbe ist jedoch wesentlich schlechter als jener zum Stiftsadel westlich der Elbe. Während dort eine strenge familiäre Organisation zum Statuserhalt und -gewinn in den Kirchen nötig war, waren die Adelsgruppen östlich der Elbe, die vielfach seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts staatlichen Funktionalisierungsprozessen unterworfen worden waren, mit anderen Problemen konfrontiert. Bekannt ist, dass zum Ende des Mittelalters immer mehr Familien Belehenungen zur gesamten Hand von den Landesherren erlangten. Hierbei wurden sämtliche Agnaten der Familie, zuweilen aber auch nur eines Familienzweiges, als Erbberechtigte auf Lehen eingetragen, um deren Heimfall im Zuge des Aussterbens eines Teils der Familie zu verhindern. Zudem sollte Gesamthandsbelehenung sicherstellen, dass bestimmter Grundbesitz Geschlechts- und nicht Individualeigentum war.92 Im Dresdner Lehenhof lassen sich für die Zeit zwischen 1487 und 1738 insgesamt 109 solcher Belehenungen nachweisen. Auch der brandenburgische und pommersche Adel griff auf solche Mittel zurück.93 Umstritten ist jedoch, ob es sich dabei um 91
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Z. B. zur Familie v. Bünau am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Frühen Neuzeit: Martina Schattkowsky: Die Familie von Bünau. Adelsherrschaften in Sachsen und Böhmen. Einführung, in: Dies.: Die Familie von Bünau, S. 13–30, hier S. 22–24. Was natürlich den Individualbesitz von Gütern nicht ausschloss. Matzerath: Geschlechte, S. 293; Jandausch: Ein Name, Schild und Geburt, S. 45–86; Dirk H. Müller: Adlige Eigentumsrecht und Landesverfassung. Die Auseinandersetzung um
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eine Defensivstrategie in Krisenzeiten handelte oder ob Adel und Landesherr im gemeinsamen Interesse eine gesicherte Vererbung ermöglichen wollten.94 Die Gesamthandsbelehenungen erzeugten so oder so einen „Geschlechtsverband als Besitzergemeinschaft“.95 Einige Familien gingen darüber noch hinaus, indem sie in Geschlechtsordnungen nicht nur Verfahrensregeln für die Eigentümergemeinschaft, sondern auch soziale Normen festlegten. Diese konnten sich unter anderem auf die Berufs- und Ehepartnerwahl erstrecken. Die weite Verbreitung der Gesamthandsbelehenungen deutet darauf hin, dass es sich um ein grundsätzlich effektives Mittel der Grundbesitzsicherung der Adelsfamilien gehandelt haben muss.96 Entscheidend für diese Familienzusammenschlüsse war im Vergleich zu den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehenden Familienverbänden erstens, dass man in sie hineingeboren wurde und durch rechtmäßige Geburt Besitzansprüche erwarb – der Eintritt unterlag also nicht der freien Entscheidung.97 Zweitens wurde durch die Belehenung der Zusammenschluss über den gemeinschaftlichen Besitz definiert – er war das Medium, das die Familie zusammenführte und zusammenhalten sollte. Im 19. Jahrhundert sollte hingegen, zumindest in der Rhetorik, die Abstammung – und somit ein kulturelles Phänomen – das zentrale Verbindungselement sein.98 Diese Verschiebung lässt sich in der Familie von der Schulenburg beobachten, in der Graf Werner gebeten worden war, als Senior dem neu zu gründenden Familienverband vorzustehen. Grundsätzlich sei er hierzu bereit. Er erklärte aber gleichzeitig, dass er sich im Rahmen dieser Tätigkeit nicht um den Grundbesitz der Familie kümmern werde, da es in den verschiedenen Zweigen unterschiedliche Bestimmungen gebe. Und, so die Familiengeschichte: „Diese Einschränkung bezeichnet treffend den Punkt, an welchem jeder Versuch, ein Geschlechtsseniorat in Anlehnung an das frühere wieder aufleben zu lassen, scheitern mußte, nämlich dem Lehensverband. Denn dieses einstige Palladium des Geschlechts hatte im Laufe der beiden letzten Jahrhunderte Umgestaltungen erfahren, die in ihren Rückwirkungen
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die eigentumsrechtlichen Privilegien des Adels im 18. und 19. Jahrhundert am Beispiel Brandenburgs und Pommerns, Berlin 2011; Frank Göse: Rittergut – Garnison – Residenz. Studien zur Sozialstruktur und politischen Wirksamkeit des brandenburgischen Adels 1648–1763, Berlin 2005, S. 182–184, schätzt die Bedeutung als hoch ein, da sich auch hierdurch der massive Protest des Adels gegen die Lehnsallodifikation durch Friedrich Wilhelm I. erklären lasse. Matzerath: Geschlechte, S. 294; Joachim Schneider: Die Bünaus in der wettinischen Adelslandschaft des Spätmittelalters. Gesamtbelehnungen und Wappenführung als Elemente sozialer Strategien zwischen Kernfamilie und Gesamtgeschlecht, in: Schattkowsky: Die Familie von Bünau, S. 188. Ebd., S. 171, ähnlich S. 189. Gadow: Haus, S. 230–235. Bei der Familie v. Bünau musste der Einzelne zwar der Geschlechtsordnung förmlich durch Unterschrift und Siegelung beitreten, der Beitritt war allerdings Pflicht und entsprach insofern nur der formellen Anerkennung der Familienordnung. Vgl. ebd., S. 220. Ebd., S. 219.
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den bis dahin durch gemeinsame Lehensverpflichtungen und Interessen bedingten Zusammenschluß der einzelnen Zweige untereinander schwer erschüttert, zum Teil auch ganz gelöst hatte.“99
Worin hatten diese Veränderungen bestanden? Im 18. Jahrhundert scheinen die Gesamtbelehenung und die Geschlechtsordnungen nicht nur in der Familie von der Schulenburg an verbindender Kraft verloren zu haben. In Brandenburg wurde mit der Lehensallodifikation durch Friedrich Wilhelm I. ein Proteststurm des Adels ausgelöst, da Letzterer unter anderem fürchtete, dass dies zur Auflösung der jeweiligen Geschlechtsverbände und zum Einflussverlust auf eigensinnige Verwandte führen werde. Der Adel erreichte schließlich, dass die Güter innerhalb der Familien nach Lehensrecht weiter vererbt werden konnten. In einer Reihe von Familien, so den von Arnim und von der Schulenburg, sollten auch Familienverträge der Lockerung der Familienbande entgegenwirken, zumindest bei Letzterer war diesen Bemühungen aber offenbar kein Erfolg beschieden.100 Insgesamt scheint sich die Bedeutung der Gesamtfamilie langsam verloren zu haben – zu regelmäßigen Familienversammlungen kam es, nach gegenwärtigem Wissensstand, in keiner Familie. Man wird dies aber wohl nicht allein auf die Allodifikationsgesetze schieben können, denn auch im sächsischen Adel ging die Anzahl der Revisionen und Erneuerungen von Geschlechtsordnungen zwischen 1648 und 1830 merklich zurück.101 In der sächsischen Familie von Bünau fanden im gesamten 18. Jahrhundert sechs Geschlechtstage mit einem Abstand zwischen sechs und neunzehn Jahren statt. Vom letzten Geschlechtstag 1773 dauerte es bis 1838, bis die Familie wieder zusammenberufen wurde. Trotz mehrerer Versuche, periodische Versammlungen abzuhalten, scheiterten diese im 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Familie von
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FG-Schulenburg 1899, S. 105–106. Vgl. für eine ausführliche Darstellung der Gesamthandsbelehenung und der Allodifikation in der Familie v.d. Schulenburg ebd., S. 53–68. Außerdem für Brandenburg allgemein Göse: Rittergut, S. 181–207; ders.: Das Verhältnis Friedrich Wilhelms I. zum Adel, in: Friedrich Beck/Julius H. Schoeps (Hrsg.): Der Soldatenkönig. Friedrich Wilhelm I. in seiner Zeit, Potsdam 2003, S. 99–138, hier S. 101–108; Dirk H. Müller: Die Umwandlung der märkischen Rittergüter in lehnsrechtlich verfasstes Familieneigentum unter Friedrich Wilhelm I, in: JbGMOD 46/2000, S. 171–203; ders.: Adliges Eigentumsrecht, S. 23–44. In einigen Familien scheinen zu diesem Zeitpunkt Gesamthandsbesitzungen in verschiedenen Linien bestanden zu haben, sodass die Gesamthand nicht mehr tatsächlich den Zusammenhalt des Gesamtgeschlechts, sondern nur noch einzelner Linien sichert. Auch wussten einige Familien schon zu diesem Zeitpunkt nicht mehr über den Verbleib aller ihrer zugehörigen Glieder Bescheid. Vgl. dazu ders.: Umwandlung, S. 181f. Vgl. Matzerath: Geschlechte, S. 296–299. Freilich wäre es aussagekräftiger gewesen, die Geschlechtsverträge nach konjunkturellen Gesichtspunkten zu sortieren und nicht, wie Matzerath es tut, nach politischen.
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Bünau ebenso wie bei den von Flemming und von Zitzewitz.102 Die Geschlechtsordnung der Bünaus verlor an Verbindlichkeit, Sanktionierungen ihrer Missachtung waren kaum noch möglich. Die Interessen des Hauses wurden gegenüber dem Geschlecht handlungsleitend.103 Insgesamt lässt sich im Adel in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie beim Familienverständnis ausgeführt, die Abnahme großfamilialer Bindungen feststellen. Die Familiengeschichte der von Brandenstein, die 1600 ihre Geschlechtsordnung erneuert hatten, kam 1895 zu dem Ergebnis: „Wann vor Stiftung des derzeitigen Familien-Verbandes der letzte Geschlechtstag abgehalten worden ist, läßt sich . . . nicht mit voller Bestimmtheit angeben. Sicher ist jedenfalls, daß von dem Vermögen, welches die Familie als Ganzes doch im Laufe der Jahre nach der Geschlechts-Ordnung gesammelt haben mußte, auf die jetzige Generation nichts gekommen ist, ja, daß bisher keine Spur von dem Verbleib etwaigen der Familie gehörenden Vermögens zu finden war!“104
Somit trennte den Großteil der Familienverbände der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von ihren Vorläufern der Frühen Neuzeit einerseits die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft, andererseits aber das Motiv des Zusammenschlusses – nur vereinzelt, bei den untersuchten Familien galt dies für die von Helldorff und von Veltheim, möglicherweise auch die von Bodenhausen, war der Grundbesitz für den Familienverband noch konstitutiv. Zentral für die Familienverbände war die kulturelle Vorstellung einer gemeinschaftlichen Abstammung, die jetzt das eigentliche Bindemittel innerhalb der Familie bilden sollte. Dennoch lässt sich beobachten, dass einige Familienverbände durchaus auf das Erbe der frühneuzeitlichen Geschlechtsvereinigungen zurückgreifen konnten. Nicht alle Familien hatten, wie die von Brandenstein, einen Totalverlust zu beklagen. In einigen Familien beruhte die große ökonomische Potenz der Familienstiftungen, wie weiter oben ausgeführt, auf den Geldern frühneuzeitlicher Stiftungen. In den meisten Familien aber bedeutete die Gründung des Familienverbandes einen Neuanfang der Familieneinigung auf der Grundlage eines Vereins mit freiwilliger Mitgliedschaft. Dies hatte nicht zuletzt zur Folge, dass der Familienverband zwar wie die alten Geschlechtsverbände als ,die‘ Familie auftreten konnte, es faktisch aber nicht war.
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Gadow: Haus, S. 228. Erst ab 1882 wurden regelmäßig alle fünf Jahre Konferenzen in der Familie v. Bünau abgehalten. Vgl. Gadow: Vetter, S. 175f. Ebd. FG-Brandenstein 1895, S. 8.
2. Den Glanz der Familie in verändertem Umfeld erhalten – Fideikommisse und Stammgüter in Südwestdeutschland Während die adligen Familien vornehmlich östlich der Elbe mit den Familienverbänden neue organisatorische Strukturen schufen, lässt sich für die ehemaligen Reichsritter Südwestdeutschlands die Fortsetzung frühneuzeitlicher Strategien und ihre Adaption feststellen. Den Ausgangspunkt bildete der familiäre Grundbesitz, der vom Ende des Alten Reiches bis in die Weimarer Zeit hinein im Zentrum strategischer Überlegungen des Statuserhalts und des familiären Zusammenhalts in Südwestdeutschland stand. Die Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung berichtet im Zusammenhang mit einem Familientag der Freiherren Roeder von Diersburg über diese Form familiärer Organisation 1903: „Wenn auch im Hinblick auf die Besitzverhältnisse des dortigen [badischen] Adels die Bildung ,besonderer Familienvereine‘ entbehrlich erscheint, so ist dennoch der hohe Wert derartiger Tage zur Belebung des Familiensinnes in Süd und Nord ganz derselbe. Da der Besitz des badischen grundherrlichen Adels sich – dem früheren Lehenscharakter entspringend – meist auf den ganzen Mannesstamm vererbt (Kondominat), so macht das hierdurch um alle Glieder geschlossene Band gemeinsamer Interessen die Bildung von ,Familienvereinen‘ entbehrlich. Auch tritt hier das Kondominat an die Stelle des ,Familienvereinsvermögen‘. . . . Kondominate, zumal in Verbindung mit einem Majorat, dürften daher in hohem Maße zur Erhaltung der sozialen Bedeutung unseres Adels beitragen. Zersplittert sich hierdurch auch oft der Anteil des einzelnen auf eine nur unbedeutende ,Gutseinnahme‘, so wird andererseits durch diese Einnahme in vielen Fällen ermöglicht, die den ,adeligen‘ Namen tragenden Kinder zu erziehen und sie in einen Lebensberuf einzuführen.“1
Der gemeinschaftliche Grundbesitz konstituierte hier also den Zusammenhalt der Familie und die Erträge hielten das Interesse am Besitz wach. Mit der Nennung von Majoraten und Kondominaten griff der Zeitungsartikel allerdings auch eine Differenzierung auf, die für die Veränderung des familiären Organisationsmusters in Südwestdeutschland im 19. Jahrhundert wichtig werden sollte – denn der Trend ging weg vom Kondominat und hin zum Majorat, ohne dass der Prozess bis 1918 abgeschlossen gewesen wäre. Familiäre Organisationsmuster waren somit dem Wandel unterworfen. Doch aus Sicht des südwestdeutschen Adels trugen auch die Majorate zum Zusammenhalt der Familie bei. „Die Idee“, schrieb Freiherr Leopold von Bodman,
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Zum Familientag der Freiherren Roeder v. Diersburg, in: Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung, 7.7.1903, Abendausgabe, S. 1. Hervorhebungen im Original.
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„welche den Majoraten zugrunde liegt, der Familie einen dauernden, festen Mittelpunkt zu geben, an dem sich alle Glieder anlehnen, wo sie Halt und Sicherheit finden können, ist durchaus eine gute. Nicht als Fremde kommen sie in das Haus der Ahnen, sondern in ein Heim, auf das auch sie Anrechte haben.“2
Auch wenn Freiherr Leopold von Bodman die Verbindung zwischen Majorat und weiterer Familie hier in eine agrarromantische Begrifflichkeit einkleidet, so muss die Bindekraft des Grundbesitzes für die weitere Familie auch bei den Gütern mit Individualsukzession in Südwestdeutschland betont werden. Denn unabhängig vom persönlichen Interesse an der Familie und ihrer Platzierungsstrategien waren die Agnaten der Adelsfamilie über den gemeinschaftlichen Grundbesitz und die Anwartschaftsrechte miteinander verbunden. Die Bindungskraft des Grundbesitzes für die Familie war sowohl bei Kondominaten als auch bei Majoraten zunächst einmal eine der Rechte gegeneinander. Die Rechtsform legte fest, dass die Verfügungsmacht des Einzelnen über den Besitz beschränkt war und er für alle grundlegenden Entscheidungen den Konsens der Agnaten benötigte. Das Interesse am familiären Grundbesitz basierte damit im Kern auf individuellen Vermögensrechten. Nicht der Grundbesitz an sich band die Gesamtfamilie aneinander, sondern er schuf aufgrund seiner Rechtsform einen Zusammenhang innerhalb der Gesamtfamilie. Daraus folgte nicht zwangsläufig eine gemeinschaftliche Handlungsorientierung, dennoch wirkte der Besitz verbindend.3 Um Funktion und Wandel dieser familiären Organisationsmuster – Kondominat und Majorat – in den Blick zu bekommen, muss der Bogen von der Schlussphase des Alten Reiches bis ans Ende des Kaiserreichs gespannt werden. Vier Entwicklungen werden dabei in den Blick genommen: an erster Stelle die gesetzlichen Rahmenbedingungen und ihre Veränderung, die den südwestdeutschen Adel auf bestimmte Strategien verwies, sodann die verschiedenen möglichen Erscheinungsformen der am Grundbesitz orientierten Statussicherungsstrategie und drittens die quantitative Entwicklung der Erscheinungsformen. Abgeschlossen wird dieser Teil durch die Betrachtung von Extremfällen und ihrer Wahrnehmung. Es wird auch hier die Frage zu beachten sein, inwiefern der südwestdeutsche Adel an die Reformdiskussion anschloss und ob es sich um eine Beharrungsstrategie oder eine progressive Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen handelte. 2
3
Leopold Frhr v. Bodman: Zur Geschichte der Familie Bodman im 19. und 20. Jahrhundert, in: GBAB – A2942, S. 54. Außerdem Ow-Wachendorf : Hans Otto Reichsfreiherr von OwWachendorf, S. 485. Im Gegensatz dazu waren die meisten Fideikommissstiftungen mit Individualsukzession östlich der Elbe wohl nur für einen sehr kleinen Teil der Gesamtfamilie bestimmt. Daher konnten sie nur eine Bindekraft für die einzelne Kleinfamilie, nicht aber für die Gesamtfamilie entwickeln. Vgl. Wienfort: Wirtschaftsschulen, Waldbesitz, Wohltätigkeit, S. 413. Auf diesen Unterschied bei der Stiftung weist auch FG-Eickstedt 1887, S. 413, hin. Vgl. zum geringeren Interesse, solche Fideikommisse für die Gesamtfamilie zu gründen, auch unten Kapitel III.2.1.
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2.1 Rechtliche Grundlagen des Statuserhalts Die Existenz der Reichsritterschaft vor 1806 beruhte auf der Existenz ihres immediaten, nur dem Kaiser unterstellten Grundbesitz. Die Ritterkreise am Rhein, in Schwaben und Franken waren im 16. Jahrhundert in jenen Gebieten des Reiches entstanden, in denen sich entweder keine starke Territorialgewalt hatte ausbilden können oder verschiedene größere Territorialherren in Konkurrenz zueinander standen und sich bei der Durchsetzung von Herrschaftsansprüchen über die adligen Rittergutsbesitzer gegenseitig blockierten. In diesen Regionen konnten die Kleinstterritorien der Reichsritter ihre Unabhängigkeit bis zum Ende des Alten Reiches bewahren. Bei der Reichsritterschaft handelte es sich insofern um „ein dauerhaftes Bündnis adliger Gutsbesitzer, die niemandem als dem Reichsoberhaupt huldigten“4 . Der Erhalt der in den einzelnen Ritterkantonen, den Unterorganisationen der Ritterkreise, eingeschriebenen Güter im Besitz der Reichsritterschaft stellte daher eines der zentralen Probleme des Standes dar. Denn der Grundbesitz trug die Steuerlast, die in Form von Charitativsubsidien an den Kaiser gereicht, die Existenz der Reichsritterschaft aufgrund der Protektion des Reichsoberhaupts gegenüber den auf Expansion dringenden Territorialherren garantierte.5 Daraus könnte geschlossen werden, dass eine Orientierung der ehemaligen Reichsritter am Grundbesitz schon aufgrund der historischen Erfahrung des Standes nahe lag. Dies dürfte aber nur zum Teil zutreffen. Denn die Existenz der Reichsritterschaft als politischem Stand im Reichsgefüge war zwar von der Existenz der immatrikulierten Güter abhängig, aber der individuelle Status als Reichsritter setzte nicht den Besitz eines immatrikulierten Gutes voraus. Vielmehr war es möglich, der Reichsritterschaft als ,Personalist’ anzugehören, wozu man nicht über immediaten Grundbesitz verfügen musste. Davon profitierten nicht nur solche Reichsritter, die ihren Besitz verkauften und als ,Personalisten’ weiterhin ihren Status behielten, sondern die Kantone konnten auch durch die Aufnahme politisch einflussreicher Persönlichkeiten dafür sorgen, dass diese im besonderen Maße für das Schicksal der Reichsritterschaft interessiert wurden. Zwar wurden seit 1750 für die Gruppe der ,Personalisten’ gegenüber den ,Realisten’ geringere Rechte innerhalb der Korporation festgelegt, die formelle Durchsetzung blieb aber uneinheitlich. Während also die Existenz des Standes vom Grundbesitz abhängig war, basierte der Rechtsstatus des einzelnen Reichsritters nicht auf der Verfügung über Grundbesitz.6 Die Orientierung adliger Statussicherungsstrategien am 4 5
6
Walther: Treue und Globalisierung, S. 858. Zum allgemeinen Überblick über Entstehung, Ausgestaltung und Entwicklung der Reichsritterschaft und ihrer Kantone vgl. Volker Press: Reichsritterschaft, in: Meinrad Schaab/Hansmartin Schwarzmaier (Hrsg.): Handbuch der baden-württembergischen Geschichte. 2. Bd., Die Territorien im Alten Reich, Stuttgart 1995, S. 771–813. Vgl. Thomas Schulz: Der Kanton Kocher der Schwäbischen Reichsritterschaft 1542–1805.
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Grundbesitz im 19. Jahrhundert darf daher nicht einfach aus der Geschichte der Reichsritterschaft hergeleitet werden. Vielmehr basierte die frühneuzeitliche Orientierung am Großgrundbesitz und die Bemühungen um seinen Erhalt wohl neben der Rechtsstellung der Reichsritterschaft vor allem auf der Erfahrung, dass Grundbesitz Familien sozial stabilisierte und der Verlust des Grundbesitzes häufig den Abstieg von Adelsfamilien nach sich zog.7 Neben der Reichsritterschaft als Organisation bildete die Groß-, wenn auch möglicherweise nicht die Gesamtfamilie, einen Referenzpunkt für Reichsritter im Alten Reich. Sylvia Schraut hat an den von Schönborn gezeigt, wie eine ursprünglich wenig bedeutsame reichsritterliche Familie durch strikte Familiendisziplin und -strategie zahlreiche Bischofswürden und den Aufstieg in den Reichsfürstenstand im 17. und 18. Jahrhundert erlangte.8 Auch Heinz Reif hat in seiner klassischen Studie zum katholischen Adel in Westfalen, der zwar nicht immediat, in seiner Orientierung auf die Reichskirche aber Teilen der Reichsritterschaft ähnlich war, gezeigt, wie entscheidend der Zusammenhalt und das Funktionieren der Familie für eine erfolgreiche Selbstbehauptung einzelner Geschlechter waren.9 Inwiefern diese Befunde auf die gesamte Reichsritterschaft ausgeweitet werden können, ist jedoch aus zwei Gründen unklar. Erstens müsste noch näher untersucht werden, inwiefern Familienstrategie und -disziplin auch für die protestantischen Familien der Reichsritterschaft relevant und förderlich waren. Zweitens wäre zu klären, ob Familien wie die Schönborns nicht gerade Ausnahmen bildeten und nur deshalb einen solch beachtenswerten sozialen Aufstieg erreichten.10 Diesen Problemen kann hier jedoch aufgrund der Forschungslage nicht weiter nachgegangen werden. Die Bedeutung des Grundbesitzes und der gegenseitigen Ansprüche als Bindemittel der Familie kam dann in den Umbrüchen um 1800 zum Ausdruck. Einige Familien hatten ihren Besitz im Elsass verloren und waren jetzt
Entstehung, Geschichte, Verfassung und Mitgliederstruktur eines korporativen Adelsverbandes im System des Alten Reiches, Esslingen 1986, S. 54f. u. 248–253; Stetten: Die Rechtsstellung der unmittelbaren freien Reichsritterschaft, S. 81–88; Dieter Hellstern: Der Ritterkanton Neckar-Schwarzwald 1560–1805. Untersuchungen über die Korporationsverfassung, die Funktionen des Ritterkantons und die Mitgliedsfamilien, Tübingen 1971, S. 193–197. Godsey: Nobles and Nation, S. 8, geht davon aus, dass es neben 350 grundbesitzenden Familien etwa 150 Familien gab, die keinen Grundbesitz hatten. 7 So z. B. ausgedrückt im Fideikommissstatut des Frhr. Joseph Wilhelm Heinrich v. Stotzingen, Konstanz 2.5.1793, in: GLAK – 234 Nr. 12761, unpag., S. 3. 8 Sylvia Schraut: Das Haus Schönborn – Eine Familienbiographie. Katholischer Reichsadel 1640–1840, Paderborn 2005. 9 Reif : Westfälischer Adel. 10 Johannes Süßmann: Wie wurde man ein Schönborn? Versuch über die Sozialisation in einer Stiftsadelsfamilie des Barockzeitalters, in: Jb. für historische Bildungsforschung 11/2005, S. 99–138; Duhamelle: Der verliebte Domherr, hat betont, dass Konflikte stets innerhalb dieser Familienorientierung ausgetragen wurden.
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ganz auf denjenigen rechts des Rheins angewiesen.11 Andere fürchteten Verluste auch rechts des Rheins. So trafen sich die Mitglieder der Familie von Gemmingen 1807, um sich über die Familienlehen einen Überblick zu verschaffen und über Lehensangelegenheiten zu beraten. Sie vereinbarten: „[D]a es besonders bey der Frhl. von Gemmingenschen Famillie als practisch wichtig erscheine, die durch die Familienrecesse [über den Grundbesitz], so wohl eingeleitete Familienverbindung bestens zu handhaben, so wolle man sich dahin vereinigen, . . . daß jährlich ein zweimaliger Zusammentritt . . . zur Besprechung ihres gemeinschaftlichen Interesses . . . statt finden solle.“12
Ähnlich hatte man in der Familie von Helmstatt schon 1788/89 und dann noch einmal 1799 Anläufe zum engeren Zusammenschluss der Familie und zur Neuordnung der innerfamiliären Beziehungen im Hinblick auf die Besitzvererbung im Falle des Aussterbens einzelner Linien unternommen. Die von Stauffenberg beschäftigten ebensolche Pläne 1807.13 Keine dieser Initiativen für regelmäßige Familienkonsultationen war jedoch längerfristig erfolgreich. Die Gründe bleiben bei den von Gemmingen und von Stauffenberg unklar. Die Familie von Helmstatt war so sehr zusammengeschmolzen, dass ihr Aussterben nicht unwahrscheinlich schien. Größere Konferenzen entfielen daher aufgrund der geringen Zahl an Familienmitgliedern. Auch die kriegerischen Zeitumstände mögen mindestens zum Teil dafür verantwortlich gewesen sein, dass engere Familienzusammenschlüsse ausblieben. In den folgenden Jahren drohte jedoch neues Ungemach für den Grundbesitzerhalt. 1808 waren in Württemberg im Anschluss an die Mediatisierung der Reichsritterschaft 1806 und entgegen der Bestimmungen des Rheinbundes alle Fideikommisse und Stammgüter der ehemaligen Reichsritterschaft aufgehoben worden. Die Familien versuchten in den Folgejahren bis zum Wiederaufleben der alten Fideikommisse, die Güter durch Übergabe unter Lebenden und Abfindung der aus dem Besitz ausscheidenden Familienmitglieder in der Familie zu halten.14 Im Gegensatz zu Württemberg hatte Baden mit dem Zivilgesetzbuch 1810 die Fortexistenz der Fideikommisse 11
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FG-Boecklin 1999, S. 7; FG-Gayling 1988, S. 286–293; FG-Roeder 2007, S. 13; FGSchauenburg 2007, S. 25 u. 28; FG-Sturmfeder 1956, S. X; Aus der Familiengeschichte, zusammengestellt von Bleikard Graf v. Helmstatt, o.O. o.D. [1920er], in: GLAK – 69 Helmstatt, A2073, S. 4f. Vgl. auch das Tagebuch des Frhr. Philipp Jakob Reinhard v. Berstett mit seinen Bemühungen um Entschädigung für die elsässischen Reichsritter. In: GLAK – 69 Holzing-Berstett, A177. Konferenzprotokoll, Behrensteinsfeldt 13.11.1807, in: GLAK – 69 Gemmingen-Treschklingen, A783, S. 2f. Helmstatt, Bleikard Frhr. v.: Chronik II, in: GLAK – 69 Helmstatt A2073, S. 66f. Friedrich Schenk Frhr. v. Stauffenberg: Ideen zur Herstellung eines dem Wohl des gesamten Geschlechts der Herrn Reichsgrafen, und Freyherrn v. Staufenberg entsprechenden FamilienVereins, Augsburg 21.5.1807, in: STASIG – Dep. 38 Schenck v. Stauffenberg T4, Nr. 436, unpag. Vgl. zu den Bemühungen in den Familien z. B. Findbuch des GBAB, S. XV; FG-Enzberg 1909, S. 36; FG-Ow 1910, S. 491. Zur Aufhebung der Fideikommisse in Württemberg
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abgesichert. Hier war also der tatsächliche Handlungsbedarf geringer.15 Die Situation war somit komplex und wurde dadurch noch komplizierter, dass einige Familien in beiden Staaten angesessen waren. Für den hier im Zentrum stehenden Problemkomplex ist wichtig, dass die strategische Bedeutung des Grundbesitzes für den Statuserhalt dann durch die Adelsgesetzgebung in Baden und Württemberg in der Ära des Deutschen Bundes wieder aufgewertet wurde. Zwar blieb der Artikel 14 der Bundesakte, der die Rechte der ehemaligen Reichsstände und Reichsangehörigen und damit des mediatisierten Adels festlegte, undeutlich in Bezug auf die Bindung der gewährten Rechte an den Grundbesitz, soweit sie diesen nicht ohnehin direkt betrafen.16 Aber die Adelsgesetze in Baden und Württemberg ließen keinen Zweifel daran, dass ein Personalistenwesen, wie es die Ritterkantone gekannt hatten, keinen Bestand mehr haben würde. Während Württemberg es 1821 immerhin noch für notwendig hielt, im § 1 des Adelsstatuts festzuhalten: „Die Eigenschaft eines Mitglieds der Ritterschaft und der Genuß der damit verbundenen Vorrechte gründen sich auf den Besitz eines adelichen Ritterguts und den erblichen Adelsstand des Besitzers. Beide Erfordernisse sind unzertrennlich“17 , erachtete man in Baden eine solche Festlegung offensichtlich als überflüssig. Stattdessen operierte das Gesetz schon in der Präambel und dann durchgängig mit dem auf Grundbesitz als Qualifikationsmerkmal abhebenden Begriff des „Grundherren“, ohne ihn noch näher zu erläutern.18 Ohnehin bestand der Großteil der zugestandenen Rechte in solchen, die mit dem Grundbesitz in direkter Verbindung standen oder, wie die Vorzüge bei der Landstandschaft, mit ihm in Verbindung gebracht wurden. Aber auch der privilegierte Gerichtsstand wurde nur den grundbesitzenden Familien zuerkannt. Auch wenn die Rechtsstellung des Adels bis 1918 weiteren Veränderungen unterworfen war, änderte sich an diesem Nexus von Grundbesitz und Privilegierung der Grundherren in Baden und der Ritterschaft in Württemberg nichts mehr. Der Erhalt des Besitzes in der Familie wurde damit zum zentralen Kriterium der Partizipation an den dem ehemaligen Reichsadel zugestandenen Rechten.
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1808 aus Sicht der ehemaligen Reichsstände u. a. Grillmeyer: Habsburgs Diener, S. 361f.; Dornheim: Adel in der bürgerlich-industrialisierten Gesellschaft, S. 129. Eckert: Der Kampf um die Familienfideikommisse, S. 329–340 u. 363–365. Für die Modalitäten der Auflösung und Kritik daran Johann Peter v. Hornthal: Vom deutschen Stammgut, Göttingen 1818, S. 57f. Deutsche Bundes-Akte vom 8. Juni 1815, in: Ernst R. Huber (Hrsg.): Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit. Bd. 1: Deutsches Verfassungsrecht im Zeitalter des Konstitutionalismus (1806–1918), Tübingen 1949, S. 26f. Königliche Verordnung der staatsrechtlichen Verhältnisse des vormals reichsunmittelbaren Adels, in: Königlich-Württembergisches Staats- und Regierungsblatt (1821), S. 879– 898. Gesetz betreffend die staatsrechtlichen Verhältnisse des ehemaligen unmittelbaren Reichsadels, in: Großherzoglich-Badisches Staats- und Regierungs-Blatt (1824), S. 71– 77.
2. Den Glanz der Familie in verändertem Umfeld erhalten
207
Ohne Besitz war eine Partizipation nicht länger möglich.19 Dies legte Strategien adliger Statussicherung nahe, die am Grundbesitz orientiert waren und auf eine in die Frühe Neuzeit zurückreichende Tradition blicken konnten.
2.2 Erscheinungsformen Es ist in der Forschung weitgehend üblich, dass die Bezeichnung eines Besitzes als Fideikommiss automatisch die beschränkte Vererbung auf nur einen Sohn impliziert.20 Aus der Perspektive Nordostdeutschlands und des 19. Jahrhunderts ist dies wenig überraschend, da hier die meisten Fideikommisse diesem Vererbungsverfahren folgten. Aus der Perspektive Südwestdeutschlands ist diese Feststellung aber weder für die Frühe Neuzeit noch für das 19. Jahrhundert zutreffend. Vielmehr versperrt sie den Blick auf die vielfältigen Erscheinungsformen des Fideikommisses. Daher soll dieses Kapitel einerseits der begrifflichen Differenzierung, andererseits der Vorstellung der verschiedenen Entwicklungs- und Erscheinungsformen dienen. Das nächste Kapitel wird dann eine quantitative Erhebung über die Bedeutung der jeweiligen Erscheinungsformen vornehmen. Zunächst gilt es, begrifflich zu differenzieren. Es lässt sich bei den in Südwestdeutschland vorherrschenden Formen der Besitzbeschränkung zwischen zwei Typen unterscheiden – dem Stammgut und dem Fideikommiss. Das Stammgut baut auf einer deutsch-rechtlichen Tradition auf. Aufgrund staatsrechtlicher Autonomie oder Herkommen und Gewohnheitsrecht waren bei ihm die Frauen von der Erbfolge ausgeschlossen und der Eigentümer in der Verfügung über den Besitz beschränkt. Die Erbfolge war nicht festgelegt, weshalb in der Frühen Neuzeit häufig die Erbengemeinschaft anzutreffen war. Formaljuristisch trat der Erbe in die Rechte seines unmittelbaren Vorgängers ein. Das Fideikommiss entstammt hingegen einer römisch-rechtlichen Konstruktion. Zentraler Unterschied ist neben dem Ursprung, dass es auf einem Rechtsgeschäft beruht – also einen Vertrag oder eine testamentarische Verfügung unter den Besitzbeteiligten voraussetzt – und der Erbe berufen wird aufgrund der Willensäußerung des Stifters und nicht als Rechtsnachfolger seines Vorgängers. Die Wirkung eines Fideikommisses liegt wie beim Stammgut in einer Beschränkung der Vererbung und der Verfügbarkeit über den Besitz mit dem Ziel des dauerhaften Besitzerhalts. Die Individualsukzession ist zwar eine häufige, aber nicht zwingend mit dem Rechtsinstitut verbundene 19
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Zu dieser Verknüpfung von politischen Privilegien und Gutsbesitz als Ergebnis der Mediatisierung, des Rheinbundes und des Wiener Kongresses auch Dipper: Reichsritterschaft, S. 64–67. Insofern ist die Behauptung Wienforts, ein Fideikommiss habe stets auf der Einzelerbfolge basiert, zu korrigieren. Vgl. Wienfort: Der Adel in der Moderne, S. 70.
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II. Zwischen den Gesellschaftskonzepten I – Familiäre Organisationsstrategien
Vererbungsform.21 Auch wenn sich die Rezeption des Fideikommissrechts in der Reichsritterschaft schon im 17. Jahrhundert feststellen lässt, blieb doch auch das alte Stammgutsrecht bestehen oder wurde um 1700 wieder in Erinnerung gebracht.22 Häufig scheint das Fideikommiss im 18. Jahrhundert ein Rechtsinstrument gewesen zu sein, um alte Traditionen neu zu fundieren.23 Kompliziert wird die Unterscheidung der beiden Rechtsinstitute jedoch dadurch, dass das badische Landrecht im 19. Jahrhundert den hier mit dem Begriff Fideikommiss beschriebenen Sachverhalt als Stammgut bezeichnete.24 Daher wird die Arbeit im Folgenden, um Verwirrung zu vermeiden, nicht prinzipiell zwischen den Begriffen ,Stammgut‘ und ,Fideikommiss‘ unterscheiden, da beide Besitzsicherungskonzepte in der Praxis auf das gleiche Ziel hinausliefen: Beschränkung der Vererbung und der Verfügungsrechte des Einzelnen über den Grundbesitz. Über den genauen Rechtscharakter eines Gutes waren sich schon die Zeitgenossen nicht immer gewiss.25 21
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Ausführlich: Georg Frommhold: Zur Lehre vom Stammgut, Familienfideikommiß und Familien-Vorkaufsrecht, in: Fschr. für Otto Gierke. Zum siebzigsten Geburtstag dargebracht von Schülern, Freunden und Verehrern, Weimar 1911, S. 59–88. Außerdem die Differenzierungen bei: Johannes Freiherr v. u. zu Bodman: Die badischen Stammgüter. Ihre volkswirtschaftliche Bedeutung unter besonderer Berücksichtigung des Aufhebungsgesetzes vom 18. Juli 1923, Leipzig 1927, S. 4; Julius Dorner: Das badische Ausführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Karlsruhe 1902, S. 319; Rolf Nöthiger: Familienfideikommisse, Stammgüter und standesherrliche Hausgüter und ihre Auflösung, Augsburg 1932; Leopold Pfaff /Franz Hofmann: Zur Geschichte der Fideicommisse, Wien 1884, S. 4f.; Ludwig Zimmerle: Das Deutsche Stammgutssystem nach seinem Ursprunge und seinem Verlaufe, Tübingen 1857; Gollwitzer: Die Standesherren, S. 259f. Vgl. dazu die Vereinbarung der Kantone Neckar-Schwarzwald und Ortenau im Jahr 1701, in: Johann Christian Lünig: Corpus Juris Feudalis Germanici, Frankfurt 1727, S. 1229f. Außerdem zu den Vorläufern der Fideikommisse z. B. FG-Stauffenberg 1972, 369f.; FG-Thumb 1885, S. 124 u. 149f.; FG-Venningen 1997, S. 364–389; Horst-Dieter Frhr. v. Enzberg: Das Enzbergische Hausgesetz von 1782 und seine Nachwirkungen bis ins 20. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte der Fideikommisse, in: Geschichtsverein Landkreis Tuttlingen (Hrsg.): 600 Jahre Haus Enzberg im Raum Mühlheim/Tuttlingen 1409–2009, Ostfildern 2009, S. 161–178, hier S. 164. Für die Kantone Neckar-Schwarzwald und Kocher hat Gert Kollmer die Gründung von Fideikommissen in der Frühen Neuzeit erfasst. Vgl. Gert Kollmer: Die schwäbische Reichsritterschaft zwischen Westfälischem Frieden und Reichsdeputationshauptschluß. Untersuchung zur wirtschaftlichen und sozialen Lage der Reichsritterschaft in den Ritterkantonen Neckar-Schwarzwald und Kocher, Stuttgart 1979, S. 394–396. Von 75 Fideikommissgründungen fielen 62 in das 18. Jahrhundert. Volker Press: Die Ritterschaft am Neckar und Schwarzwald, in: Ders.: Adel im alten Reich. Gesammelte Vorträge und Aufsätze, hrsg. v. Franz Brendle, Tübingen 1998, S. 233–264, hier S. 253. Landrecht für das Großherzogthum Baden mit den beiden Einführungs-Edikten, Mannheim 1865, S. 101–103. Ausführlicher zu den Verwirrungen der Begriffe Dorner: Das Badische Ausführungsgesetz, S. 319; Bodman: Die badischen Stammgüter, S. 7; Theodor Pfeiffle: Das Recht der Familienfideikommisse des Adels in Württemberg, Diss. jur., Tübingen 1922. Deutlich wird diese Begriffsverwirrung auch bei Hornthal: Vom deutschen Stammgut, S. 1, der eigentlich die Kriterien eines Fideikommisses aufgreift.
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Wie betont, gab es weder beim Stammgut noch beim Fideikommiss eine Vorfestlegung der Vererbungsart, insbesondere eine Festlegung auf die Individualsukzession. Zwar verfügten die Vorbilder, mit denen das Fideikommissrecht nach Deutschland importiert wurde, wohl regelmäßig über individualsukzessorische Regeln, es spricht aber für die Adaption des Instituts, dass sich die Individualsukzession nicht konsequent durchsetzte. Man kann daher die Vererbungsformen, die in der Reichsritterschaft üblich waren, in drei große Gruppen teilen, die jedoch mitunter auch vermischt auftraten – (1.) das Kondominat, (2.) die Teilung und (3.) die Individualsukzession. (1.) Das Kondominat:26 Beim Kondominat erbten alle in gleichem Grade Erbberechtigten in der Regel zu gleichen Anteilen vom Fideikommissvermögen des Erblassers. Aus diesem Vererbungsvorgang gingen drei Problemkomplexe hervor. Zunächst bedeutete die gleichmäßige Teilung unter alle männlichen Erben, dass der Anteil der Mitbesitzer, der Kondomini, mit jedem Vererbungsfall anstieg und es zur Besitzzersplitterung kommen konnte. Die Klagen und imaginierten Folgen waren lautstark. „Es ist nicht schwer zu beweisen“, so Leo Amadeus Graf Henckel Donnersmarck, „dass bei einer grösseren Ausdehnung und Anwachsung der Familie Jeder Etwas hat, aber Keiner genug“. „Indem die Bedeutung der Familie zu ihrem Grundbesitz und der Grundbesitz zu seiner Familie wesentlich auf den Standpunkt einer Unterstützung herabgedrückt wird[,] muss die politische Bedeutung gefährdet sein.“27 Otto Trüdinger stellte fest: Vielfach betrüge der individuelle Teil der Einnahmen weniger „als das Einkommen eines Industriearbeiters“28 . Die Grafen Adelmann von Adelmannsfelden sahen in einer weiteren Teilung ihres Besitzes gar „eine Gefährdung der Familie.“29 Das Lob der Kreuzzeitung aus dem Jahr 1903, dass bei Kondominaten jeder Teilhaber zumindest eine
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Über Beispiele aus dem reichsständischen Adel in der Frühen Neuzeit informieren Robert Meier: Souverän und doch geteilt: Kondominate. Eine Annäherung an eine typische Sonderform des Alten Reichs am Beispiel der Grafschaft Wertheim, in: ZNR 24/2002, S. 253–272; Alexander Jendorff : Gemeinsam herrschen. Das alteuropäische Kondominat und das Herrschaftsverständnis der Moderne, in: ZHF 34/2007, S. 215–242; Johann Jacob Moser: Familien-Staats-Recht derer Teutschen Reichsstände. Erster Theil, Frankfurt 1775, S. 583–654. Auch in Hessen (Gregory W. Pedlow: The Survival of the Hessian Nobility 1770–1870, Princeton 1988, S. 57–64.) und im Kanton Rhön-Werra (Hans Körner: Der Kanton Rhön und Werra der Fränkischen Reichsritterschaft, in: Josef-Hans Sauer (Hrsg.): Land der offenen Fernen. Die Rhön im Wandel der Zeiten, Fulda 1976, S. 53– 113, hier S. 92) waren Kondominate weiter verbreitet. Leo Amadeus Graf Henckel Donnersmarck: Reform des Adels, überhaupt des Erbganges im ländlichen Grundbesitz. Berlin 1868, S. 78. Otto Trüdinger: Die Fideikommisse, insbesondere in Württemberg, in: Württembergische Jbb. für Statistik und Landeskunde (1919/1920), S. 30–80, hier S. 47. Vgl. den Entwurf eines Fideikommissstatus, o.O. Sep. 1858, in: STALB – PL13, Bü. 850, unpag., S. 1. Graf Heinrich Adelmann v. Adelmannsfelden an die Gutsteilhaber, Hohenstadt 3.2.1890, in: Ebd., Bü. 854, unpag., S. 1.
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II. Zwischen den Gesellschaftskonzepten I – Familiäre Organisationsstrategien
Unterstützung aus dem Besitz erhalten würde, wurde insofern in Teilen des Adels eher als Bedrohung denn als Vorteil wahrgenommen.30 Diese Aussagen trafen zwar nicht immer und nicht in allen Familien zu. So erhielt Freiherr Felix Göler von Ravensburg in den 1890er Jahren etwa 8200 Mark jährlich aus seinem Grundbesitzanteil. Die Familie von Woellwarth verteilte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg an die sechs Teilhaber zwischen 25 000 und 30 000 Mark.31 Hier kamen also sehr substantielle Einkommen aus dem landwirtschaftlichen Besitz. Die Aussagen über die Geringfügigkeit der Erträge sind aber insofern korrekt, als bei einer ganze Reihe von Personen der Grundbesitz nicht für eine ,standesgemäße‘ Lebensführung ausreichte. So teilten sich die sechs Grafen Adelmann von Adelmannsfelden zwischen 1866 und 1885 in Erträge zwischen 8 400 und 18 857 Mark, was individuellen Anteilen zwischen 1400 und 3142 Mark entsprach.32 In einer Linie der Göler von Ravensburg, in der Verkäufe und Umverteilungen des Besitzes stattgefunden hatten, kam 1914 Freiherr Emil auf 63, Freiherr Karl auf 354 und Freiherr Norbert auf 384 Mark.33 Die elf Teilhaber des Stammgutes der Roeder von Diersburg teilten sich in den Jahren vor 1914 einen Ertrag von etwa 15 000 Mark.34 Einen etwas anderen Zugriff bietet das Jahrbuch der Millionäre in Württemberg und Hohenzollern aus dem Jahr 1913. Wenn es auch nur jene verzeichnete, die in Württemberg ihre Steuern zahlten, und daher unvollständig ist, so bietet es doch einen weiteren Anhalt. Unter den Vermögensmillionären aus reichsritterlichen Familien fanden sich zwölf Inhaber eines nach Individualsukzession vererbten Gutes und 14 Teilhaber von Kondominaten. Dies bedeutet, dass ein Drittel der ersten Gruppe, aber nur etwa ein Zwölftel der letzteren Gruppe zu den Vermögensmillionären gehörte.35 Drei dieser Kondominatsteilhaber hatten ihr Vermögen über die bürgerlichen Vorfahren ihrer Mütter erhalten. Nimmt man diese aus der Statistik, waren die Vermögen der Kondominatsteilhaber zumeist kleiner als jene der Inhaber von Gütern mit Individualsukzession. Im Durchschnitt betrugen sie etwa 1,2 zu 2,3 Mio. Mark. Lediglich ein nachgeborenes, grundbesitzloses männliches Mitglied der ehemaligen Reichsritterschaft gehörte zu den Millionären – auch bei ihm stammt das Vermögen vermutlich aus der Familie 30 31 32 33
34 35
Zum Familientag der Freiherren Roeder v. Diersburg, in: Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung, 7.7.1903, Abendausgabe, S. 1. Die Angaben nach den verschiedenen Abrechnungen in: STALB – PL9/3, Bü. 1430. Ertragsauflistung, o.O. o.D, in: STALB – PL13, Bü. 850, unpag. Fragebogen des Justizministeriums wegen der Aufnahme einer Hypothek durch Vetter Clemens, o.O. o.D. [1920er Jahre], in: GLAK – 69 Göler v. Ravensburg, A389, unpag., S. 2. Umlaufschreiben des Frhr. Egenolf Roeder v. Diersburg, Karlsruhe 1.2.1913, in: GLAK – 69 Roeder v. Diersburg, Karton 41, Fasz. II, Nr. 4, unpag. Diese Zahlen, nach Abzug der 120 Teilhaber des Fideikommisses Balzheim (zu ihm vgl. Kapitel II.2.4), errechnet nach den Zahlen bei Trüdinger: Die Fideikommisse, S. 61.
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seiner Mutter. Außerdem kamen noch fünf Frauen hinzu, die allesamt ihr Vermögen den bürgerlichen Vorfahren ihrer Mütter verdankten – so auch das reichste Mitglied der ehemaligen Reichsritterschaft, Freiin Irma Adelmann von Adelmannsfelden. Ihre Mutter entstammte den Industriellenfamilien Cockerill und Haniel und hatte 66 Mio. Mark hinterlassen.36 Kondominatsteilhaber gehörten somit relativ gesehen seltener zur Vermögensspitze des ehemaligen reichsritterlichen Adels, und ihre Vermögen waren öfter bürgerlicher Herkunft. Die aus dem Grundbesitz stammenden Einnahmen können insofern zum Teil als geringfügig, öfter mindestens als nicht ausreichend für eine standesgemäße Existenz angesehen werden. Viele Kondomini blieben auf einen Beruf neben dem Grundbesitz angewiesen, nur wenige gehörten zur gesellschaftlichen Vermögensspitze. Neben der Kritik an der geringen finanziellen Bedeutung des Grundbesitzes für die Teilhaber stellte die fortschreitende Teilung aber auch die politische Bevorzugung der Ritterschaft in Frage. Konnte doch bei starker Teilung nicht mit dem Vermögenswert als Grundlage der Privilegierung argumentiert werden. Dies wurde in Württemberg 1868 im Rahmen einer geplanten Verfassungsrevision deutlich. Die Regierung wollte von der Bevorzugung der Ritterschaft zur Privilegierung von Großgrundbesitzern übergehen. Dieser Schritt drohte aber eine Reihe von Fideikommissteilhabern ihr privilegiertes Wahlrecht zu kosten.37 Die Reform scheiterte allerdings, und Kondominatsteilhaber behielten in Württemberg bis 1918 ihr privilegiertes Wahlrecht. In Baden hingegen, wo Großgrundbesitzer zur persönlichen Teilnahme an den Kreisversammlungen berechtigt waren, konnten nicht alle Kondominatsteilhaber Anspruch auf dieses Recht erheben. Denn der zu versteuernde Grundbesitz musste mindestens 70 000 Mark umfassen. In der Familie Göler von Ravensburg hatte dies aufgrund des unterschiedlichen personellen Wachstums der einzelnen Zweige zur Folge, dass einzelne Familienmitglieder persönlich an den Kreisversammlungen teilnehmen durften, andere nicht.38 Schließlich musste aber der gemeinschaftliche Besitz auch verwaltet werden. Graf Clemens Adelmann von Adelmannsfelden klagte 1880 über die seiner Ansicht nach zu niedrigen Erträge aus dem Gemeinschaftsbesitz. Über die Verwaltung des eigenen Besitzes äußerte er: „Der † Baron Holz, Obersthofm[eister] der Königin, der ein alter Freund von mir war, äußerte sich über seine Gutsverwaltung befragt: ,mein Bruder August verwaltet die Sache u 36
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Rudolf Martin: Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in Württemberg mit Hohenzollern, Berlin 1914. Zur Vermögensspitze der 563 Millionäre in Württemberg und Hohenzollern gehörten somit lediglich 32 Mitglieder der ehemaligen Reichsritterschaft, was etwa 5,7 % entsprach. Zeppelin-Aschhausen, Friedrich Graf: Bericht des Ausschußes des Georgen-Vereins, über den Entwurf eines Verfassungs-Gesetzes, betreffend den Landtag, o.O. o.D. [1868], in: STALB – B139a, Bü. 753, unpag., S. 1f. Vgl. dazu den Briefwechsel und die Aufstellungen in: GLAK – 69 Göler v. Ravensburg, A77.
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wird es wie eine Aktivgesellschaft betrachtet; es bilden somit die Theilhaber den Verwaltungsrath; alljährlich, nach Rechnungsabschluß legt mein Bruder Aug unter Vorlage der einschlägigen Bücher einen Rechnungsabschluß vor unter mündlicher Erläuterung desselben‘. Dieß ist auch die richtige Art der Behandlung, denn sonst kann Heinrich [der das Gut verwaltende Vetter] thun, was er will, u. bei allen Unternehmungen sind die Ansichten der Gleichberechtigten zu hören u. nach allgem Besprechung Beschluß zu faßen.“39
Eine Reihe von Familien führte daher Geschäftsordnungen ein, die eine sinnvolle Verwaltung nach festen Regeln sichern sollte.40 Mit der Geschäftsführung konnte einer der Teilhaber beauftragt werden.41 Die praktische Verwaltung wurde hingegen häufig einem Rentbeamten vor Ort überlassen. Bei grundsätzlichen Entscheidungen blieb es jedoch dabei, dass alle Teilhaber zustimmen mussten.42 Solche Entscheidungen konnten entweder auf gemeinschaftlichen Sitzungen oder per Rundschreiben getroffen werden, wobei ersteres Verfahren bei weit entfernten Wohnorten unpraktisch war, letzteres war häufig schwerfällig.43 Nicht zuletzt konnten unterschiedliche Ansichten über die Bewirtschaftung, zum Beispiel Rücklagenbildung für Investitionen versus höhere Gewinnausschüttung, Meinungsverschiedenheiten unter den Teilhabern verursachen, die bis hin zu größeren Streitigkeiten gehen konnten.44 Um all diesen Problemen des Kondominats zu entgehen, bot sich die Individualsukzession an. Noch im 17. Jahrhundert war sie abgelehnt worden, weil sie das „Dominat“ eines Einzelnen über seine gleichrangigen Brüder und Vettern bringe, das Kondominat hingegen die Gleichheit unter den Vettern und Brüdern erhalte. Seit dem 19. Jahrhundert wurde hingegen zunehmend betont, dass zwar „das Princip der Untheilbarkeit in dem Begriffe eines Stamm- und Geschlechtsfideicommisses absolut nicht enthalten und als eine
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Graf Clemens Adelmann v. Adelmannsfelden an Graf Karl Adelmann v. Adelmannsfelden, Augsburg 15.3.1880, in: STALB – PL13, Bü. 850, unpag. Z. B. Vertrag der Frhrn. v. Woellwarth, Essingen 8.4.1901, in: STALB – PL9/3, Bü. 1429, unpag; Verwaltungsvertrag, o.O. 1911, in: Ebd., Bü. 1430, unpag.; Familienstatut der Grafen Adelmann v. Adelmannsfelden, Ellwangen/u. a. März-Mai 1891, in: STLAB – PL13, Bü. 854, unpag., S. 5–7. Statutenentwurf der Frhrn. Göler v. Ravensburg, o.O. o.D. [um 1910], in: GLAK – 69 Göler v. Ravensburg, A48, unpag., S. 5–9. Zur Darlegung der Rechte vgl. Peter Frhr. v. u. zu Mentzingen: Das badische Stammgut, Heidelberg 1905, S. 30f. Für die Praxis der Verwaltungsratssitzungen vgl. die Protokolle der Frhrn. v. Woellwarth in: STALB – PL9/3, Bü. 1430. Briefliche Abstimmungen finden sich z. B. bei den Frhrn. Göler v. Ravensburg in: GLAK – 69 Göler v. Ravensburg, A50.1 u. A120. Graf Heinrich Adelmann v. Adelmannsfelden an die Gutsteilhaber, Hohenstadt 3.2.1890, in: STALB – PL13, Bü. 854, unpag., S. 1; Frhr. Karl Göler v. Ravensburg in einem Pro Memoria zum Franz v. Göler’schen Stammgut, Schatthausen 20.2.1868, in: GLAK – 69 Göler v. Ravensburg, A332, unpag., S. 1. Für die Frühe Neuzeit bei den Grafen von LöwensteinWertheim vgl. Meier: Souverän und doch geteilt. Außerdem mit der Perspektive auf staatliche Herrschaft Jendorff : Gemeinsam herrschen.
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wesentliche Eigenschaft desselben keineswegs zu betrachten“ sei45 , ein in viele Anteile zersplittertes Fideikommiss aber auch dem Zweck des Erhalts einer Familie kaum nachkommen könne. Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Kondominat in den Augen der Kritiker endgültig zur unzweckmäßigen Abnormität verkommen. Freiherr Peter von und zu Mentzingen äußerte 1905: „Die Simultansuccession muß als Familienverfassung angesehen werden, welche am Wenigsten dem Zwecke des Stammgutes entspricht. Die Individualsuccession dagegen erfüllt jene Anforderungen, welche im Wesen des Stammguts liegen.“46 (2.) Teilung:47 Einen Ausweg aus den Streitigkeiten unter Teilhabern bot die Aufteilung des Besitzes. Hier gab es drei praktizierte Formen: Die Genussteilung, die Realteilung und die Temporalteilung. Bei der Genussteilung wurden dem Einzelnen bestimmte Stücke des Kondominats zur eigenen Verwaltung übertragen, während der Gesamtbesitz erhalten blieb. Bei der Realteilung oder auch Eigentumsteilung wurde der Besitz in mehrere Güter aufgeteilt, die jeweils einer Person oder einer Linie der Familie gehörten. Die Erbschaftsrechte der Agnaten im Fall des Aussterbens einer Linie wurden hiervon nicht berührt.48 In Baden war eine Realteilung jedoch nur zulässig, wenn jeder Teil die vorgeschriebene Mindestgröße für Stammgüter der Grundherren von 7 000 Mark erreichte.49 In Württemberg gab es keine Beschränkungen hinsichtlich des Mindesteinkommens, das ein ritterschaftliches Gut bieten musste. Hier waren Teilungen also tatsächlich bis hin zu Kleinstbesitzen möglich. Mitunter wurde der Wald nicht geteilt, da bei ihm eine bessere Bewirtschaftung und höhere Erträge möglich schienen, wenn er geschlossen bewirtschaftet wurde.50 Die Temporalteilung war eine kaum praktizierte Form. Bei ihr wurde nicht der Besitz geteilt, sondern die Besitzer wechselten sich in der Inhaberschaft des Besitzes jeweils nach einer Reihe von Jahren ab. Der Bezug der Einnahmen stand allerdings weiterhin beiden Teilen zu.51 (3.) Individualsukzession: Prinzipiell kann man eine ganze Reihe von For45 46
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Pfaff /Hofmann: Zur Geschichte der Fideicommisse, S. 4. Mentzingen: Das badische Stammgut, S. 30. Ähnlich: v. Engelberg: Die Badischen Fideikommisse, o.O. o.J. [nach 1923], S. 1; Pfeiffle: Das Recht der Familienfideikommisse, S. 19; Bodman: Die badischen Stammgüter, S. 12. Mit Blick aus dem 18. Jahrhundert und zahlreichen Beispielen aus dem Hochadel Moser: Familien-Staats-Recht, S. 511–583. Vgl. dazu die Auseinandersetzung in Frhr. Albrecht Göler v. Ravensburg an Frhr. Felix Göler v. Ravensburg, Sulzfeld 27.10.1902, in: GLAK – 69 Göler v. Ravensburg, A363.2, unpag. S. 2f. Dorner: Das badische Ausführungsgesetz, S. 351 u. 395–397. Z. B. FG-Adelsheim 1995, S. 215. Dies galt in der Frühen Neuzeit auch noch für Bergrechte. Vgl. Moser: Familien-Staats-Recht, S. 647. FG-Enzberg 2009, S. 164; Die Genußtheilung des Freiherrl. Benjamin v. Göler’schen Fideicommisses betr., Sulzfeld 10.2.1851, in: GLAK – 69 Göler v. Ravensburg, A321, unpag., S. 6.
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men der Individualsukzession unterscheiden: die Primogenitur, bei der stets der Erstgeborene erbte, das Majorat, bei dem die Gradesnähe zum letzten Besitzer den Ausschlag gab, und das Seniorat, bei dem stets der Älteste der Familie erbte, das Minorat, bei dem der jüngste Sohn erbte, die Sekundogenitur, bei der zunächst der Zweitgeborene erbte, wobei dann häufig unter seiner Nachkommenschaft wiederum die Primogeniturerbfolge galt.52 Schließlich gab es noch die Möglichkeit, dass jeweils dem Vater die Befugnis zustand, unter seinen Söhnen den besten Erben für den Grundbesitz auszuwählen. Freilich war ein solches Wahlrecht mit manchen Schwierigkeiten versehen und drohte zu innerfamiliären Konflikten zu führen.53 Was die Primogenitur und das Majorat anbelangt, so wird in den Quellen deutlich, dass in der Praxis nicht säuberlich nach Majorat oder Primogenitur unterschieden wurde, sondern die Begriffe durcheinander liefen. Um den, häufig schwierigen, exakten Nachweis im Einzelfall zu vermeiden, wird daher im Folgenden für beide Fälle der Begriff Individualsukzession gewählt. Das Seniorat bleibt außen vor, da es ohnehin nur einen einzigen Fall gab.54 Alle diese Erbformen beruhten darauf, dass der Hauptteil der Vettern zurückstand und nur ein einzelner den Familiengrundbesitz erbte. Die Individualsukzession schien somit die zentralen Probleme der Kondominate zu umgehen. Die Verwaltung der Bewirtschaftung unterstand weitgehend dem Inhaber. Im Vergleich zu Kondomini konnten die Inhaber von Gütern mit Individualsukzession oftmals deutlich höhere Einnahmen verbuchen, auch wenn in Baden rechtliche Grenzen gesetzt wurden. Für neu gegründete Stammgüter galt hier eine untere Einkommensgrenze von 7000 und eine Obergrenze von 14 000 Mark.55 Vor allem an der niedrigen Obergrenze wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von adliger Seite Kritik geäußert, da 52
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Ausführlich: Dorner: Das badische Ausführungsgesetz, S. 397–400. Für praktische Beispiele der Auswirkung vgl. auch Albert Frhr. v. Bodman: Überblick über die Stammgutsfrage mit besonderer Berücksichtigung der Stammgutsverhältnisse der Gräfl. und Freiherrl. Familie von Bodman, Freiburg 1919, S. 20–22. In Baden waren nur die ersten drei Formen zulässig. Vgl. Mentzingen: Das badische Stammgut, S. 37. Eine Kritik bei Carl v. Salza und Lichtenau: Die Lehre von Familien-, Stamm- und Geschlechts-Fideicommissen nach den Grundsätzen des gemeinen deutschen Privatrechts und mit Rücksicht auf die Abweichungen der einzelnen Particularrechte, Leipzig 1838, S. 115. Eine solche Präferenzvererbung stand dem Stammherrn der Frhrn. v. Bodman zu. Vgl. Bodman: Ueberblick über die Stammgutsfrage, S. 24. Die Kritik auch in Bemerkungen zu den Vorschlägen über die Revision des Statuts v. J. 1832 von den Frhrn. Hermann u. Heinrich v. Bodman, Baden-Baden/Konstanz Aug. 1900, in: GBAB – A1788, unpag. Die Vorteile einer solchen Regelung, weil der Vater somit bessere Kontrolle über seine Kinder behalte, betont das Statut der Frhrn. Schilling v. Canstatt, Hohenwettersbach 24.2.1818, in: FG-Schilling 1905, S. 234. Eine Hälfte des Ritterguts Balzheim war ein Seniorat der Freiherren von Palm. Vgl. Dornheim: Adel in der bürgerlich-industrialisierten Gesellschaft, S. 634. Ausführlicher zum Seniorat als Vererbungsform auch die Ausführungen bei Salza und Lichtenau: Die Lehre von Familien-, Stamm- und Geschlechts-Fideicommissen, S. 147–149. Dorner: Das badische Ausführungsgesetz, S. 351.
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sie einerseits noch auf dem Wert vom Beginn des 19. Jahrhunderts beruhte und dem Geldwert nicht mehr entspräche, andererseits die Tüchtigkeit des Stammherrn in der Verbesserung der Ertragsfähigkeit des Gutes hemme.56 Die Fixierung einer Obergrenze, so der Kommentar zum Ausführungsgesetz des BGB bezüglich der Stammgüter, wirke aber zugleich der Latifundienbildung entgegen und sei daher wünschenswert.57 Stammgüter jedoch, die schon vor 1806 bestanden hatten, blieben unangetastet, so dass auch erheblich höhere Einkommen erzielt wurden. In Württemberg gab es ohnehin keine Festlegungen. Die Spitzenverdiener dieser Gruppe bezogen aus ihrem landwirtschaftlichen, zum Teil aber auch anderen Vermögenswerten und Gehältern recht erhebliche Summen. Für Württemberg verzeichnet das „Jahrbuch der Millionäre“ 1913 für den Freiherrn von Sturmfeder 480 000 Mark, für die Freiherren Wilhelm und Karl von St. André jeweils 130 000 Mark, für die Freiherren von Stauffenberg, Ow58 und Weiler sowie den Grafen von Berlichingen zwischen 70 000 und 100 000 Mark. Der Freiherr von Tessin kam schon 1840–1851 auf durchschnittlich 10 869 Gulden im Jahr, was ungefähr 18 700 Mark entsprach.59 Zur Vermögensspitze Württembergs gehörten sie im engeren Sinne allerdings nicht. Der reichste Inhaber eines Gutes mit Individualsukzession fand sich in der Vermögensstatistik auf Platz 38, der zweite auf Platz 57.60 Blickt man nach Baden, so kam der Stammherr des größten ehemals reichsritterschaftlichen Besitzes, Graf Othmar von Bodman, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg auf durchschnittlich etwa 48 000 Mark Reinertrag aus seinem Grundbesitz61 – gleichzeitig betrugen seine im Reinertrag nicht enthaltenen Leistungen an die Agnaten 1906 14 700 Mark.62 Doch kamen nicht alle Fideikommissherren auf solche Erträge. Bei den Grafen von Helmstatt erbrachte das Majorat Neckarbischofsheim 1865 etwa 26 700 Mark, das 56 57 58
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Bodman: Die badischen Stammgüter, S. 21; Mentzingen: Das badische Stammgut, S. 16. Dorner, Das badische Ausführungsgesetz, S. 351–354. Sein Einkommen von 74 445 Mk. setzte sich zusammen aus: 9450 Mk. für seine Arbeit in der Zentralstelle für Landwirtschaft, einer Regierungsbehörde, etwa 370 Mk. aus Gewerbebetrieben, knapp 28 000 Mk. Erträgen aus Grundeigentum und ca. 37 000 Mk. aus Kapitalerträgen. Bei letzteren kann vermutet werden, dass es sich um Staatspapiere handelte, die mit Ablösungsgeldern in den 1850er Jahren gekauft worden waren. Die Zahlen nach Manfred Rasch: Adelige als Unternehmer zwischen Industrialisierung und Ende des Kaiserreichs. Beispiele aus Württemberg und Baden, in: Conze/Lorenz: Die Herausforderung der Moderne, S. 83–110, hier S. 104. Ertragsberechnung des Gutes Hochdorf, o.O. o.D. [um 1853], in: STALB – B139dI, Bü 189, unpag. Martin: Jahrbuch des Vermögens. Ähnliche Ergebnisse, was das Verhältnis von industriellem zu agrarischem Vermögen anbelangt, finden sich jedoch auch in Preußen. Vgl. dazu Rita Aldenhoff-Hübinger: Adel, Agrargeschichte, Agrarpolitik. Neuere Literatur zum 19. und 20. Jahrhundert, in: NPL 52/2007, S. 233–243, hier S. 233. Vgl. Erwiderung des Grafen Bodman an die Vettern, Bodman 20.12.1925, in: GBAB – A1785, unpag., S. 3. Vertragsentwurf, o.O. o.D. [um 1906], in: Ebd. – A1789, unpag., S. 3.
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II. Zwischen den Gesellschaftskonzepten I – Familiäre Organisationsstrategien
Majorat Hochhausen 16 800 Mark.63 Dennoch konnten solche Einkommen, im Gegensatz zu manchen der Kondomini, als solide Grundlage für den Anspruch politischer Privilegierung gelten. Die Betrachtung zeigt, hinter dem Etikett des Fideikommisses konnten sich in Südwestdeutschland sehr unterschiedliche Realitäten verbergen. Vererbungs- und Bewirtschaftungsformen unterschieden sich und boten je spezifische Vorteile. Beim Kondominat hatten alle männlichen Familienmitglieder Anteil am Grundbesitz, wenn auch verbunden mit den Gefahren des Streits und der geringen Bedeutung der finanziellen Erträge. Teilungen konnten ein Mittel gegen Streitigkeiten sein, aber hier waren der Praktikabilität Grenzen gesetzt, und rechtlich waren sie in Baden beschränkt. Die Individualsukzession bot hingegen ein Mittel gegen die Zersplitterung der Anteile, forderte aber von vielen, auf ihre finanziellen Rechte zu verzichten. Klare Argumente wurden am Ende des 19. Jahrhunderts gegen die Kondominate in Stellung gebracht. Doch auch wenn es diese unterschiedlichen Formen der Vererbung der Stammgüter gab, blieb doch im Kern ein Faktum bestehen. Der rechtliche Status des Grundbesitzes band alle männlichen Familienangehörigen an den Grundbesitz, solange sie nicht auf diese Rechte, in der Regel gegen Entschädigung, verzichtet hatten. Er schuf ein gemeinsames Interesse der Familienangehörigen, sei es in Form von regelmäßigen Geldzahlungen aus den Erträgen oder in Form einer Anwartschaft auf das Erbe des Fideikommisses. Insofern band der rechtliche Status des Besitzes die Großfamilien in Südwestdeutschland aneinander.64 Inwiefern dabei die einzelnen Vererbungsformen bevorzugt wurden und welche Verschiebungen zwischen den Erbfolgeformen es im 19. Jahrhundert gab, wird das nächste Kapitel untersuchen. Hier wird sich auch zeigen, inwiefern im Zusammenhang mit der Adelsreformdebatte Verschiebungen eintraten – weg von Kondominaten, hin zur vielfach geforderten Individualsukzession, die den politischen und wirtschaftlichen Einfluss sichern sollte.
2.3 Quantitative Bedeutung der Vererbungsformen im 19. Jahrhundert Um einen ersten Eindruck davon zu gewinnen, welche Bedeutung Fideikommisse in Baden und Württemberg überhaupt besaßen, kann auf Statistiken zurückgegriffen werden, die zum Ende des 19. und zu Beginn des 63 64
Ertragsberechnung von den Gräflich von Helmstättschen liegenschaftlichen Besitzungen, Neckarbischofsheim Okt. 1865, in: GLAK – 69 v. Helmstatt, A1735, unpag. Für Regelungen in Fideikommissstatuten, mit denen den Agnaten die geregelte Wahrung ihrer Interessen gesichert wurde, vgl. Pfeiffle: Das Recht der Familienfideikommisse, S. 128.
2. Den Glanz der Familie in verändertem Umfeld erhalten
217
20. Jahrhunderts erhoben wurden.65 Demnach gab es in Baden 75 (Württemberg: 125) Stammgüter des nicht-standesherrlichen Adels, von denen 48 weniger als 300 Hektar (65 weniger als 500 Hektar) Grundfläche hatten, 15 (23) sogar weniger als 100 Hektar. Lediglich drei (acht) Stammgüter hatten über 1000 Hektar Grundfläche. Die ritterschaftlichen beziehungsweise grundherrlichen Stammgüter verfügten insgesamt über etwa 4,6 % (6,56 %) der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Die 73 (125) Stammgüter, die dann 1919 noch existierten, gehörten nur 45 (72) Familien. Wobei in Baden die weit verzweigten von Gemmingen 11 besaßen, die Göler von Ravensburg 5, die von Hornstein 4, 8 Familien besaßen zwei oder drei Stammgüter, 34 lediglich eines. Die Fläche der einzelnen ehemals reichsritterlichen Stammgüter reichte vom Besitz der Grafen und Freiherren von Bodman mit 3031 Hektar bis zum gemeinschaftlichen Stammgut der Freiherren von GemmingenHornberg und Gemmingen-Guttenberg-Gemmingen mit 2,3 Hektar.66 Festzuhalten bleibt somit sowohl für Württemberg als auch für Baden, dass der Fideikommissbesitz in seiner Größe und Verteilung auf die Familien extrem variierte. Was die Vererbung der Stammgüter in Baden und Württemberg insgesamt anbelangt, so zeigt sich auch hier bis zum Ende der Monarchie kein einheitliches Bild. In Baden waren 1919 von insgesamt 73 Stammgütern des nichtstandesherrlichen Adels 37 Kondominate und 36 Majorate. Erstere verfügten über etwa 9900 Hektar, letztere über 15 300, so dass die Majorate im Durchschnitt größer waren als die Kondominate.67 In Württemberg stellte sich das Verhältnis 1913 nicht wesentlich anders dar. Neben einem Seniorat gab es 44 Majorate und 36 Kondominate. Die Kondominate hatten auch hier mit 13 605 Hektar etwa ein Drittel weniger Nutzfläche als die Güter mit Individualsukzession, die auf 20 232 Hektar kamen.68 Die Arbeit konzentriert sich im Folgenden jedoch auf die Fideikommisse des ehemals reichsritterschaftlichen Adels, die noch 1918 im Besitz der Familien waren.69 Dazu wurden Daten über die Vererbungsregelungen und die
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Vgl. im Folgenden für Baden: Bodman: Die badischen Stammgüter, S. 27–34. Für Württemberg: Ow-Wachendorf : Die Familienfideikommisse in Württemberg 1913; Trüdinger: Die Fideikommisse. Dieses extrem kleine beziehungsweise für Baden große Stammgut konnte jeweils nur existieren, weil es vor 1806 bereits bestanden hatte. Dorner: Das badische Ausführungsgesetz, S. 351. In Württemberg gab es keine solchen Begrenzungen. Vgl. Trüdinger: Die Fideikommisse, S. 38. Bodman: Die badischen Stammgüter, S. 32f. Ow-Wachendorf : Die Familienfideikommisse in Württemberg 1913, S. 3. Daneben hat es einerseits eine geringe Anzahl an Allodialgütern im ritterschaftlichen Adel gegeben, die aber aufgrund ihrer schlechten Erfassbarkeit hier nicht berücksichtigt werden. Eine Auflistung dieser Güter für Württemberg bei Trüdinger: Die Fideikommisse, S. 57. Außerdem gab es in Baden noch ehemalige Lehengüter, deren Zahl ebenfalls gering und deren Erfassung im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich war.
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II. Zwischen den Gesellschaftskonzepten I – Familiäre Organisationsstrategien
Abänderungen dieser Regeln gesammelt.70 Unsicherheiten bleiben, da nicht zu jedem Gut ein Statut ausgewertet werden konnte und auch diese zuweilen, wie im Fall der Freiherren von Freyberg-Eisenberg, in die Irre führten. Bei ihnen stellte sich nämlich nach dem Tod des Majoratsherrn Hans Freiherr von Freyberg-Eisenberg in den 1930er Jahren heraus, dass das Gut nie formalrechtlich zum Majorat erklärt worden war. Seine Witwe und seine Kinder mussten sich daher mit den Brüdern des Verstorbenen in das Erbe teilen.71 In weiteren Familien war die Möglichkeit der Einführung der Individualsukzession zumindest in den Stammgutsstatuten erlaubt, wenngleich es bis 1918 nicht zur Umsetzung dieser Regelung kam.72 Schließlich gab es noch solche Geschlechter, bei denen kein Kondominat bestand, weil lediglich ein Erbe vorhanden gewesen war. Dennoch gewinnt man einen relativ gesicherten Überblick über die Bedeutung der Kondominate und Majorate am Ende des Kaiserreichs und über die Entstehungszeitpunkte der Individualsukzessionsordnungen. Auf Teilungen kann hier nicht eingegangen werden, da diese, wie ein Blick in die Familiengeschichten zeigt, so häufig waren, zudem für Genussteilungen keine öffentliche Genehmigung erforderlich war, dass sie sich nicht im Detail nachvollziehen lassen. Zunächst das Zahlenverhältnis der Vererbungsformen zueinander: 1918 waren 58 Güter ehemals reichsritterschaftlicher Familien Kondominate, an denen alle Söhne der Besitzer erbberechtigt waren. Einige Familien hatten mehrere Kondominate, die jeweils einzelnen Zweigen gehörten – in der Familie von Stetten waren dies zum Beispiel drei Linien, bei den Göler von Ravensburg fünf und bei den von Gemmingen zehn. Daneben bestanden in einigen Familien Mischungen aus Kondominaten und Individualsukzession. Hier hatten sich mehrere Teilhaber zu einem Zeitpunkt entschlossen, für ihre jeweiligen Nachkommen die Individualsukzession einzuführen. So war das Stammgut der Grafen Adelmann von Adelmannsfelden zwar 1918 ein Kondominat der noch bestehenden drei Linien der Familie. Für jede dieser 70
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Einen ersten Zugriff boten hier die mit Vererbungsangaben versehenen, aber nicht immer korrekten Aufstellungen bei Bodman: Die badischen Stammgüter, S. 28–32; Dornheim: Adel in der bürgerlich-industrialisierten Gesellschaft, Anhang Nr. 4; Friedrich Frhr. v. Gaisberg-Schöckingen: Die Ritterschaft im Königreich Württemberg, Bamberg 1905, S. 9– 13; Wolf Bila-Hainrode: Zusammenstellung des adeligen Grundbesitzes im Königreich Württemberg und im Fürstentum Hohenzollern, in: DAB 31/1913, S. 525–530. Für die Vorgänge im Königreich Württemberg erwies sich außerdem das Regierungsblatt als ergiebig, da alle durch die Regierung genehmigten Neugründungen und Veränderungen der Vererbungsverhältnisse hier bekannt gegeben wurden. Diese Angaben wurden ergänzt durch Informationen aus Familiengeschichten, Regestenverzeichnissen und archivalischen Überlieferungen. Vgl. Bericht des St. Georgenvereins zum Rittertag, o.O. 1934, in: AStG – Bü. 370, unpag., S. 3. Vgl. dazu die ausführliche Diskussion über die neuen Statuten bei den Grafen u. Frhrn. Rüdt v. Collenberg in den 1820er Jahren, in: GLAK – 69 Rüdt v. Collenberg, A3495. Erbvergleich der Frhrn. v. Hornstein, 14.5.1838, in: FG-Hornstein 1911, S. 682.
2. Den Glanz der Familie in verändertem Umfeld erhalten
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drei Linien war jedoch die Individualsukzession 1892 eingeführt worden. Solche Vererbungsverhältnisse waren dazu gedacht, einem weiteren Zersplittern des Grundbesitzes vorzubeugen, ohne bestehende Besitzverhältnisse zu tiefgreifend ändern zu müssen. Diese Vererbungsform traf auf sechs Güter zu. Insgesamt bestanden somit 1918 64 Kondominate, mindestens für einen Teil der Familie, über die 37 der 74 Familien des ehemaligen reichsritterschaftlichen Adels in Baden und Württemberg verfügten. Die Individualsukzession war für 61 Güter festgelegt. Mindestens fünf dieser Güter waren faktische Neugründungen, das heißt, sie waren nicht aus umgewandelten Kondominaten, sondern im 19. Jahrhundert aus neu erworbenem Grundbesitz hervorgegangen. 34 Familien verfügten nur über Güter mit Individualsukzession, 12 Familien hatten neben dem Kondominat auch mindestens ein Gut mit Individualsukzession. Für drei Familien bleibt die Vererbungsweise unklar. Im Vergleich zu den Zahlen für den ritterschaftlichen Adel in Württemberg und den grundherrlichen Adel in Baden insgesamt, beides staatsrechtlich festgelegte Gruppen, zu denen neben den ehemaligen Reichsrittern auch noch andere Familien gehörten, überwogen also im ehemaligen reichsritterschaftlichen Adel auch 1918 noch leicht die Kondominate. Für einen leicht größeren Anteil der Familien überwogen somit die Vorteile eines gemeinschaftlichen Besitzes auch bei daraus resultierenden geringeren Erträgen der Teilhaber. Die Gruppe der Familien, die in der Beschränkung der Vererbung des Besitzes auf ein Familienmitglied und der ideell-rechtlichen Bindung der restlichen Familienmitglieder an diesen Besitz größere Vorteile sah, war jedoch im 19. Jahrhundert kontinuierlich gewachsen. Dies verdeutlichen die Zeitpunkte des Übergangs zur Individualsukzession. Die Einführung der Individualsukzession begann in der Frühen Neuzeit, hatte aber offensichtlich hier noch nicht ihren Höhepunkt. Auch überstanden einzelne Individualsukzessionsordnungen die Veränderungen um 1800 nicht.73 Schließlich gab es inoffizielle Mechanismen des Erbverzichts nachgeborener Söhne vor allem in der Frühen Neuzeit. Diese wirkten sich immer dann aus, wenn sie geistliche Stellungen eingenommen hatten. Aber auch im 19. Jahrhundert kamen diese Regelungen noch vor. Wann waren also für die 1918 noch bestehenden Stammgüter der ehemaligen Reichsritterschaft in Baden und Württemberg die Individualsukzessionsordnungen verbindlich eingeführt worden? Die Grafik verdeutlicht, dass in der Frühen Neuzeit nur jedes zehnte
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Beispiel für solche Ordnungen, die im 18. Jahrhundert beschlossen wurden, sich für das 19. Jahrhundert aber zunächst nicht nachweisen lassen, finden sich bei Wilfried Danner: Die Reichsritterschaft in Ritterkantonsbezirk Hegau in der zweiten Hälfte des 17. und im 18. Jahrhundert. Sozialgeschichtliche Untersuchungen über die Reichsritterschaft im Hegau auf Grund von Familienakten der Freiherrn von Bodman, der Freiherrn von Hornstein und der Freiherrn von Reischach, in: Hegau 15–16/1970–71, S. 1–104, hier S. 61.
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II. Zwischen den Gesellschaftskonzepten I – Familiäre Organisationsstrategien
Abbildung 3: Zeitpunkt der Einführung von Individualsukzessionsordnungen im südwestdeutschen Adel.
Gut, das noch 1918 im Besitz des ehemals reichsritterschaftlichen Adels war, schon der Individualsukzession unterworfen war. Diese Zahl stieg in den zwei Jahrzehnten nach 1800 kaum, wofür rechtliche Unsicherheiten beziehungsweise die faktische Unmöglichkeit in Württemberg verantwortlich gewesen sein dürften. In den folgenden Jahrzehnten steigt dann die Zahl rasant an, was vermutlich zunächst auf Nachholeffekte (1821–1840), sodann aber auch auf die Adelsreformdebatte zurückgeführt werden kann (1841– 1860). Bis 1860 waren weitere 21 % der Güter des ehemaligen reichsritterlichen Adels in Kondominate umgewandelt worden. Ein erneutes Ansteigen der Umwandlungen zeigt sich dann in den Jahren ab 1880, also der Zeit der aufkommenden Agrarromantik. Neben diesen ideologischen Hintergrundströmungen erleichterten allerdings auch familiäre Verhältnisse, wie das Absterben einzelner Familienzweige, zu bestimmten Zeitpunkten die Einführung der Individualsukzession. Denn in solchen Fällen waren weniger Agnaten vorhanden, die Zustimmungsrechte wahrnehmen konnten. Die Auswertung verdeutlicht somit, dass es im 19. Jahrhundert eine Tendenz zum Übergang zur Individualsukzession gab, zum Teil auch in ihrer eingeschränkten Form der Linienindividualsukzession bei Kondominaten. Die ehemaligen Reichsritter Südwestdeutschlands bewahrten sich somit bei gleicher äußerer rechtlicher Konstruktion eine gewisse Pluralität der familiären Organisationsformen im Inneren. Die Organisationsform konnte dadurch flexibel auf die Bedürfnisse und Vorstellungen der Familien abgestimmt werden, wobei der Grundcharakter der Bindung der familiären Organisation an den Grundbesitz erhalten blieb. Familiärer Zusammenhalt bestand in erster Linie in den gemeinsamen Ansprüchen auf und Rechten an einen Grundbesitz, die durch die Geburt erworben wurden.
2. Den Glanz der Familie in verändertem Umfeld erhalten
221
Abschließend kann noch die Frage nach dem Zusammenhang von Konfession und Individualsukzession im Jahr 1918 geklärt werden. Es zeigt sich, dass katholische Familien eine höhere Neigung hatten, die Individualsukzession für ihre Güter einzuführen. Die Tradition der Versorgung nachgeborener Söhne in den Reichsstiften vor 1803 dürfte hier von Bedeutung sein. So bestanden in 30 rein katholischen Familien für 18 Familien Majorate und für 12 Kondominate. Im Vergleich dazu waren die evangelischen Familien, die in der Frühen Neuzeit ihre Kinder nicht in den Domstiften oder Abteien versorgen konnten, offenbar weniger geneigt, die Individualsukzession einzuführen. Hier mag der Ertrag der Familiengüter eine benötigte oder begehrte Ergänzung der Gehälter gewesen sein. Bei 33 rein evangelischen Familien wurden in nur 12 Familien die Güter nach dem Prinzip der Individualsukzession vererbt, 21 Familien hingegen waren und blieben bei der Vererbung nach Kondominatsrecht. Das Verhältnis war also im Vergleich zu den katholischen Familien nahezu umgekehrt. Dennoch kann man weder für die eine noch für die andere Konfession eine Ausschließlichkeit eines Prinzips feststellen. Wichtig blieb daher in den Familien die Organisation des Grundbesitzes nach je spezifischen Erwägungen.
2.4 Extreme Kondominate Die Kondominate stellten gegenüber den Fideikommissen mit Individualsukzession eine Form der Besitzsicherung dar, die die Veräußerung und übermäßige Verschuldung des Besitzes ausschließen sollte, ohne den Großteil der Nachkommen vom Grundbesitzerbe ihrer Väter auszuschließen. Ein Ausschluss war in aller Regel nur für Töchter vorgesehen. Das System der Kondominate tendierte allerdings zur Aufteilung des Besitzes unter immer mehr Teilhaber und eine zunehmende Besitzzersplitterung. Dies wurde von vielen Familien als Gefahr angesehen. Wahrnehmbar war diese Gefahr anhand einiger Beispiele in Südwestdeutschland, in denen sich die Teilhaberschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts extrem vergrößert hatte. Freilich war die Wahrnehmung verzerrt, denn bei diesen Gütern handelte es sich um Besitz, der sowohl in der männlichen als auch in der weiblichen Linie vererbt wurde, ansonsten aber den üblichen Geboten des Fideikommissrechts unterlag. Diese Fideikommisse waren von solchen Adligen gestiftet worden, deren Familie mit ihnen im Mannesstamm ausstarb und die der Nachkommenschaft ihrer Töchter den Grundbesitz erhalten wollten. Soweit ersichtlich stammen sie alle noch aus der Zeit vor 1800.74 So hatte das halbe 74
Solche Fälle hatte es in der Frühen Neuzeit auch unter Reichsständen gegeben. Moser: Familien-Staats-Recht, S. 650, nennt hier die Herrschaften Sponheim und die limburgische Allodialerbschaft.
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II. Zwischen den Gesellschaftskonzepten I – Familiäre Organisationsstrategien
Rittergut Balzheim der Nachkommenschaft der Familie von Ehinger 1905 bereits 120 Teilhaber bei einer Größe von etwa 1000 Hektar. Diese entstammten teilweise dem württembergischen Adel, teilweise bayerischen und holsteinischen Adelsfamilien. Daneben waren aber auch bürgerliche Familien an dem Gut beteiligt.75 Freiherr Friedrich von Gaisberg-Schöckingen sprach 1907 von „scheusslichen Verhältnisse[n]“. Mit den Anteilen an Balzheim werde Handel getrieben, weil viele Teilhaber an ihrem Anteil wenig interessiert seien, lebten sie doch in anderen Teilen Deutschlands, Europas und sogar in Amerika. Damit steige die Gefahr, dass sich „ehrgeizige Menschen, die möglichst billig in die Ritterschaft hineinkommen möchten“, durch den Kauf von Anteilen diesen Weg eröffnen würden.76 Das Kondominat Balzheim schien also die Homogenität der Ritterschaft zu gefährden, wenn ausländische Adlige oder frisch Nobilitierte durch den Erwerb eines Anteils Mitglieder der württembergischen Ritterschaft würden und damit auch an den politischen Privilegien des ritterschaftlichen Adels partizipieren würden. In einer Aufstellung der Mitgliedsfamilien der württembergischen Ritterschaft 1919 wurden daher solche Familien, die nur aufgrund ihres Anteils am Kondominat Balzheim Mitglieder waren, besonders hervorgehoben und damit gewissermaßen als nur begrenzt zugehörig stigmatisiert.77 Ebenfalls unter eine Anzahl verschiedener Familien verteilt waren das Gut Ihingerhof, an dem fünf Familien beteiligt waren,78 und das Gut Unterdeufstetten mit 16 Teilhabern. Der kleinste ideelle Anteil der vorhandenen Teilhaber an Unterdeufstetten betrug 1/36 der Gutseinnahmen. Diese entstammten 1923 etwa 217 Hektar Grundbesitz und 63 600 Mark Fideikommisskapitalien.79 Sie dürften also nicht übermäßig hoch gewesen sein. Man kann aus adliger Perspektive argumentieren, dass diese Fideikommisse ihren Zweck, den Erhalt einer Familie in ansehnlicher wirtschaftlicher Lage zu sichern, verfehlten. Denn es war eine Vielzahl von Familien und zum Teil auch bürgerliche an ihnen beteiligt, und die Einnahmen reichten nicht für einen aufwendigeren, ,standesgemäßen‘ Lebensstil. Zudem eröffneten sie einfachere Wege in die Ritterschaft, was aus adliger Sicht deren Homogenität gefährdete. Man kann aus wissenschaftlicher Perspektive diese Fideikommisse aber auch als Hinweis dafür sehen, dass Vererbungspraktiken und die 75
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Gaisberg-Schöckingen: Die Ritterschaft im Königreich Württemberg, S. 13. Zum Vererbungsweg eines Anteils des Ritterguts in die Familie v. Stetten vgl. FG-Stetten 1998, S. 313f. Frhr. Friedrich v. Gaisberg-Schöckingen an unbekannt, Schöckingen 7.11.1907, in: STALB – PL20/VI, Bü. 358, unpag. Vgl. die Aufstellung: Die württembergische Ritterschaft zu Beginn des Jahres 1919, in: Ebd., Bü. 356, unpag., S. 1. Es handelt sich um die Herren v. Vischer-Ihingen, Grafen Adelmann v. Adelmannsfelden, und die freiherrlichen Familien v. Starkloff, v. Süßkind und v. Tessin. Vgl. GaisbergSchöckingen: Die Ritterschaft im Königreich Württemberg, S. 9. Vgl. zum Rittergut Unterdeufstetten die Akten in: STALB – PL20/IV, Bü. 13–14, 18 u. 119.
2. Den Glanz der Familie in verändertem Umfeld erhalten
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Grundlagen der Fideikommissstatute durchaus variabel waren. Auch wenn diese extremen Fideikommisse nicht typisch waren, so waren sie doch, häufig untergründig, Bezugspunkte der Reflexion über den ,eigentlichen‘ Zweck der Fideikommisse. Auch als solche Bezugspunkte verdienen sie daher Beachtung. Die familiäre Organisation in Südwestdeutschland, die sich am Grundbesitz orientierte, lässt sich also nur bedingt mit der Adelsreformdiskussion und dem agrarromantischen Diskurs in Verbindung bringen. Fideikommisse waren keine Neuerfindung des 19. Jahrhunderts, sondern schon vorher vorhanden. Der Übergang von Kondominaten, bei denen potenziell alle Söhne erbten, hin zu Majoraten, bei denen nur ein Sohn erbte, war ein Vorgang, der den Adelsreformdiskussionen entsprach. Und tatsächlich lässt sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine gewisse Beschleunigung im Übergang von Kondominaten zur Individualsukzession feststellen. Der Prozess setzt sich dann aber bis zum Ende des Kaiserreichs fort. Der Zusammenhalt der Familien wurde durch die spezifische Rechtsform des Grundbesitzes erzeugt. Diese schuf Erbschaftsrechte und Einflussmöglichkeiten beim Verkauf des Besitzes, die durch die Geburt erworben wurden. Kulturelle Definitionen von Familie waren hingegen für den Zusammenhalt sekundär. Vergleicht man die Organisationsformen der adligen Familien in Nordostdeutschland und Südwestdeutschland, so fällt zunächst eine Reihe von Unterschieden auf. Während die Kontinuität der Schaffung des familiären Zusammenhalts über den Grundbesitz in Südwestdeutschland dafür sorgte, dass sich die Familie in einem rechtlich definierten Zusammenhang befand, konstituierte sich der Zusammenhalt der Familien in Nordostdeutschland vor allem über einen kulturellen Familienbegriff. Dieser betonte die gemeinsame Abstammung, während gemeinsame Rechte, mit Ausnahme des für die Entstehung der Familienverbände freilich wichtigen Präsentationsrechts zum Herrenhaus, das einige Familien besaßen, keine dauerhafte Rolle spielten. Aus dem Unterschied zwischen rechtlich und kulturell begründetem Familienzusammenhang folgte sodann die Form der Integration. Während diese in den Familienverbänden auf dem freiwilligen Beitritt basierte, erfolgte der Eintritt in die Rechte in Südwestdeutschland mit der Geburt. Die Fideikommisse bildeten in Südwestdeutschland eine Kontinuität, stammten sie doch vielfach aus der Frühen Neuzeit. Die Familienverbände waren hingegen eine neue Organisationsform auf Basis des Vereinswesens, die erst in der Mitte des 19. Jahrhundert entstand. Beiden Strategien gemeinsam war, dass sie eine längerfristige Etablierungsphase durchliefen. Zwar lassen sich Einflüsse und Adaptionen der Adelsreformdebatte und des sie grundierenden konservativen Diskurses bei den Organisationsformen feststellen – und beides zeitigte kurzfristige Folgen, wie die Übergänge zur Individualsukzession und die ersten Familienverbandsgründungen in der Jahrhundertmitte zeigen. Langfristig wirkte aber der konservative Diskurs
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II. Zwischen den Gesellschaftskonzepten I – Familiäre Organisationsstrategien
über Familie und Grundbesitz fort, so dass zum Jahrhundertende die Zahl der Verbandsgründungen einen Höhepunkt erreichte und die Zahl der Übergänge von Kondominaten zur Individualsukzession noch einmal anstieg. Die Verknüpfung beider Organisationsmodelle, die auf den Bedürfnissen und zeitgenössischen Zuständen in den Adelsregionen aufbauten, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert entwickelt hatten, mit der Adelsreformdebatte und dem adlig-konservativen Wertehimmel, legt indessen nahe, nicht von Beharrungsstrategien zu sprechen. Stattdessen zeigt sich in beiden Fällen, dass die Strategien aus den zeitgenössischen gesellschaftlichen Ordnungsentwürfen hervorgingen beziehungsweise in ihnen verankert waren. Es handelte sich insofern eher um progressive Anpassungen an Veränderungen als um eine blockierende Beharrung. Lediglich aufgrund der Tatsache, dass der Adel mittels der Strategien als Führungsschicht abgesichert werden sollte, kann man von einer Beharrungsstrategie sprechen. Abschließend hat aber sowohl die innere Ausgestaltung der Familienverbände in der Praxis als auch die Betrachtung der zeitlich versetzten Übergänge zur Individualsukzession gezeigt, dass beide Modelle flexibel waren und innerfamiliäre Interessen bei je konkreten Ausgestaltungen eine Rolle spielen konnten. Die Bedeutung innerfamiliärer und individueller Interessen zeigt sich noch verstärkt, wenn im Folgenden auf die Praxis familiärer Organisationen geblickt wird.
III. Zwischen den Gesellschaftskonzepten II – Familiäre Praxis bis 1918
Der Abschnitt I. hat sich mit Leitideen von Adel, Familie, Grundbesitz und Ehre beschäftigt. An dieser Stelle zu verharren, hieße allerdings, die Autokonstruktion des Adels als Wirklichkeit zu nehmen. Stattdessen soll in diesem Kapitel die Interaktion von Leitidee und familiärer Praxis untersucht werden, wie sie in den familiären Organisationen Nordost- und Südwestdeutschlands sichtbar wird.1 Die Familienorganisationen bilden insofern den Rahmen, innerhalb dessen die Transformation adlig-konservativer Leitideen in die Praxis beobachtet werden kann. Innerhalb dieses Rahmens hatten aber auch die Individuen Raum, eigene Interessen zu artikulieren, die von den Leitideen abwichen.2 Damit zeigt sich innerhalb familiärer Organisationen das spezifische Ausmaß der „Verinnerlichung“ adlig-konservativer Leitideen.3 Daran anschließend wird jeweils zu untersuchen sein, wie Abweichungen einzelner Familienmitglieder von den Leitideen wahrgenommen und interpretiert wurden. Schließlich gerät dadurch in den Blick, welche Folgen das Handeln für die Leitideen hatte – ob also die (abweichende) Praxis Einfluss auf die Ausgestaltung der Leitidee nahm. Insofern rücken in diesem Kapitel zuvorderst die Akteure in den Blick. Sodann eröffnet sich das Feld der Geltungskonkurrenz zwischen adlig-konservativen und liberalen Entwürfen der Gesellschaft in der Praxis der Handelnden. Schließlich stellt sich auch die Frage, ob die familiären Strategien funktional waren. Die Arbeit beansprucht hierbei nicht, alle Handlungsebenen der Familienorganisationen abzudecken, vielmehr geht es um einzelne Fallbeispiele, die sich jeweils auf eine Region konzentrieren, aber auch Blicke in die Vergleichsregion erlauben. Strukturiert wird dieses Kapitel durch die drei ausführlich betrachteten Tugenden des adlig-konservativen Wertehimmels: Familie, Grundbesitz und Ehre.
1 2
3
Hettling/Hoffmann: Zur Historisierung bürgerlicher Werte, S. 11. In eine ähnliche Richtung gehen die jüngst von Alexander Jendorff vorgestellten Überlegungen. Was bei ihm jedoch kaum beachtet wird, ist die Auseinandersetzung um den Erhalt bzw. die Existenz einer gesellschaftlichen Ordnung, die aus Sicht der Akteure durch Handeln bestätigt oder negiert wurde. Vgl. Jendorff : Eigenmacht und Eigensinn. Hettling/Hoffmann: Zur Historisierung bürgerlicher Werte, S. 11. Besonders stark haben diese „Verinnerlichung“ Funck/Malinowski: Geschichte von oben; dies.: Charakter ist alles, gemacht.
1. Familienverständnis und familiäre Orientierung Zeichnete sich das konservative Familienverständnis durch die drei Ebenen horizontale und vertikale Ausdehnung sowie Verzichtsdenken aus, so sollen im Folgenden diese Ebenen auch für die Praxis in den Familien und ihren Organisationen untersucht werden. Im Fall der horizontalen Ausdehnung werden die Familienverbände betrachtet und die Frage gestellt, inwiefern sie ihr Ziel erreichten, möglichst große Teile der Familie zu integrieren, und welche Motive dieser Integration zugrunde lagen. Das Verzichtsdenken wird anhand der Übergänge von Kondominaten zur Individualsukzession und den daraus resultierenden Folgeproblemen und Sicherungsmaßnahmen in Südwestdeutschland untersucht. Schließlich wird die praktische Umsetzung des vertikalen Familienverständnisses am Beispiel von Familiengeschichten in Nordostdeutschland und anhand der Kritik aus Südwestdeutschland untersucht. Die Auswahl der Beispiele beruht nicht darauf, dass in der anderen Region diese Mechanismen nicht zu beobachten gewesen wären. Vielmehr erfolgt sie, weil durch die Betrachtung zugleich inhärente Strukturen der familiären Organisationsformen in Nordost- und Südwestdeutschland deutlich werden.
1.1 Die ganze große Familie und ihr Interesse am Familienverband Blickt man in die Literatur, so scheinen die vereinzelten Angaben den großen Erfolg der Familienverbände zu belegen. So versandte die Familie von Bülow ihr Nachrichtenblatt in den 1930er Jahren an über 600 Empfänger, und auf dem Familientag der im Baltikum angesessenen von Stackelberg erschienen 1914 über 400 Familienmitglieder.1 Die im vorhergehenden Kapitel vorgestellten Zahlen der Familienverbandsgründungen scheinen ebenfalls für den großen Erfolg dieser Organisationsform zu sprechen. Aber solche Zahlen beweisen so viel, wie sie verdecken. Denn der Empfängerkreis einer Familienzeitung oder der Besucherkreis eines Familientages musste nicht mit der ,Familie‘ im Sinne einer Nachnamensgemeinschaft identisch sein. In beiden Fällen konnten auch ausgeheiratete Frauen und deren Familien, Bekannte und Assoziierte in den Zahlen inbegriffen sein.2 Auch belegt der Empfängerkreis 1 2
Malinowski: Vom König zum Führer, S. 53. Vgl. zu den Familienzeitschriften, ihren Motiven und Empfängerkreisen unten Kapitel IV.2.2. FG-Stackelberg 1914, S. XXXII.
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III. Zwischen den Gesellschaftskonzepten II – Familiäre Praxis
einer Familienzeitschrift noch nicht das Interesse der Empfänger an der Familie. Und schließlich sagt die Gründung eines Familienverbandes noch nichts über dessen Dauerhaftigkeit und Vitalität aus. Will man die Relevanz des horizontalen Familienverständnisses genauer ermessen, so muss man abseits einiger Zahlen die Betätigung in der Praxis untersuchen. Zwei Fragen scheinen dabei von Bedeutung. Erstens: Wie sah die Beteiligung an Familientagen in der Breite der Familien aus? Es genügt nicht, sich einige wenige große Familien anzusehen und den Rest der Familien zu ignorieren. Zweitens: Inwiefern entsprach das Interesse an der Familie tatsächlich dem propagierten Familienverständnis? War es das Interesse an der Familie an sich, an den ,lieben Vettern und Cousinen‘, das zur Teilnahme anregte, oder lassen sich noch andere Motive feststellen? Diesen Fragen folgend, lassen sich zunächst eine ganze Reihe von Familien ausmachen, in denen die Gründung eines Verbandes (zunächst) scheiterte oder es zu einer längeren Unterbrechung kam. In der Familie von Bismarck hatten Pläne zur Gründung eines Verbandes 1885 keinen Erfolg, offenbar weil ihn Fürst Otto von Bismarck ablehnte und man ohne ihn nicht zur Gründung schreiten wollte. Erst 1904 wurde der Familienverband gegründet.3 In der Familie von Bülow versandeten erste Initiativen aus dem Jahr 1859, und erst 1867 kam es zur Gründung.4 In den Familien von Eickstedt und von der Marwitz war der Abstand zwischen erster Initiative und Verbandsgründung mit 27 beziehungsweise 25 Jahren noch größer.5 Es ist schwierig zu sagen, aus welchen Gründen die Verbandsgründungen scheiterten. Die Quellen sind zumeist unergiebig. Man wird aber wohl von mangelndem Interesse in der Breite und/ oder Spitze der Familie ausgehen können. Ähnliches zeigte sich auch bei Familien, die bereits einen Verband gegründet hatten. Der Familienverband von Dassel, 1890 gegründet, vertagte sich bereits 1892 auf unbestimmte Zeit.6 In der Familie von Sei(y)dlitz fand zwischen 1867 und 1891 kein Familientag statt, obwohl die Stiftungsbeiträge weiter bezahlt wurden.7 Drastische Töne zum Scheitern des Familienverbandes wählte Graf Hermann von Wartensleben in seinem Schreiben an die Vettern 1889: „Mit dem Hinscheiden der fünf Aeltesten . . . ist unsere Zahl gelichtet, und überhaupt die Theilnahme an den Familientagen im Abnehmen. Der mit den Familientagen verbunde3 4 5
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Valentin v. Bismarck: Die Entstehung des v. Bismarck’schen Familienverbandes, in: FZBismarck 21/1938, S. 5. , J.v. Bülow: Der „v. Bülow’sche Familienverband“ seit seinem Bestehen, in: FZ-Bülow 7/1929, Sp. 17. FG-Eickstedt 1887, S. 431f.; FG-Marwitz 1929, S. 229–232. Vgl. zum Desinteresse einiger Familienmitglieder an einem zu gründenden Verband in der Familie von Eickstedt auch die Briefe von Fritz u. Albert v. Eickstedt an Frhr. Vivigenz v. Eickstedt, Silberkopf/ Schmiedeberg 26.11. u. 1.12.1883, in: PLAG – Rep. 38d Tantow, Nr. 21, S. 13 u. 17. FZ-Dassel 4/1892, S. 72–75; FZ-Graevenitz 4/1906, S. 2. FZ-Sei(y)dlitz 14/1939, S. 182; Curt v. Lepel u. a. an die Vettern, o.O. o.D. [1896], in: PLAG – Rep. 38d v. Lepel, Nr. 48, S. 127; FG-Lepel 2008, S. 39.
1. Familienverständnis und familiäre Orientierung
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ne Zweck eines persönlichen Wiedersehens der Vettern erscheint somit im Ganzen verfehlt, ein Fortbestehen des Familienvereins aber aus Gründen der Pietät und wegen des allmälig anwachsenden Familienfonds unbedingt geboten. Bei dieser Sachlage gedenke ich einen Familien Tag erst wiederanzuberaumen wenn ein besonderer Fall oder der ausdrückliche Wunsch der Vettern, namentlich der entfernt wohnenden, mich dazu veranlaßt“.8
Zwar beließ die Familie von Wartensleben es schließlich 1891 nicht dabei, aber die neue Regelung war unverbindlich. Familientage sollten in Zukunft alljährlich am 14. Oktober stattfinden, ein Tagungslokal wurde festgelegt, besondere Einladungen sollten in Zukunft jedoch nicht mehr ergehen.9 Diese Familien sind extreme Beispiele. Gründe für das Ausfallen einzelner Familientage, was immer wieder vorkam, lassen sich oft nicht mehr rekonstruieren. Udo von Bonin sprach rückblickend davon: Das Ausfallen sei in den 1870er Jahren darauf zurückzuführen gewesen, dass „die Teilnahme an der Familienvereinigung an einzelnen Stellen nachließe; die Ursache dieser Erscheinung mag . . . darin zu suchen sein, daß Beratungsgegenstände von allgemeinem Interesse selten vorlagen.“10 Familienverbände waren also keine Selbstläufer, weder in ihrer Entstehung, noch in ihrer Erhaltung. Sie erforderten ständige Nachweise des Interesses an der Familie, ansonsten engte sich die horizontale Ausdehnung auf jene Familienmitglieder ein, mit denen man sich gut verstand, nah verwandt oder erbrechtlich verbunden war und die man ohnehin mehr oder weniger häufig traf. Neben dem Scheitern ganzer Verbände lassen sich auch Beobachtungen zur Teilnahme an funktionierenden Familienverbänden machen. Individuelle Motive für das Desinteresse geraten so in den Blick. Die Nicht-Teilnahme an Familienverbänden kann auf verschiedene Ursachen zurückgeführt werden. Einerseits gab es Familienmitglieder, die aus prinzipiellen Erwägungen nicht teilnahmen. So schmerzte es die Familie von Bismarck besonders, dass weder Fürst Otto von Bismarck in den 1880er Jahren noch sein Sohn Herbert 1904 dem Verband beitreten wollten.11 Ferdinand von Lepel gab an, er habe dem Verband längst beitreten wollen, habe aber immer vergessen, die Beiträge einzusenden.12 Die drei Brüder Hans, Curd und Ewald von Trebra lehnten die Verbandsgründung ab, obwohl sie sich selber als adelsstolz und auf das Ansehen der Familie bedacht bezeichneten. Ihnen schien es 1894 „in die jetzige . . . Zeit mit ihren Strömungen nicht mehr hinein[zu]passen, wenn sich exclusivo adelige Verbände zusammen schließen.“13 Innerfamiliäre Streitigkeiten 8 9 10 11 12 13
Graf Hermann v. Wartensleben an die Vettern, Carow 12.12.1889, in: LHASA-WR – Rep. H Karow, Nr. 884, S. 9. Hervorhebung im Original. Graf Hermann v. Wartensleben an die Vettern, Carow 12.8.1891, in: Ebd., S. 11. FG-Bonin 1903, S. 25. Hans v. Bismarck an Wilhelm v. Bismarck, Altenburg 17.4.1904, in: PLAG – Rep. 38d Karlsburg, Nr. 1060, S. 18f. Außerdem FZ-Bismarck 21/1938, S. 4. Ferdinand v. Lepel an Franz v. Lepel, Berlin 14.5.1896, in: PLAG – Rep. 38d v. Lepel, Nr. 39, S. 135. Curt v. Trebra an Franz v. Trebra, Polenz 21.6.1894, in: LHASA-WR – Rep. H Braunsro-
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III. Zwischen den Gesellschaftskonzepten II – Familiäre Praxis
spielten auch immer wieder eine Rolle, wenn Mitglieder nicht ein- oder aus dem Verband austraten.14 Zuweilen wurden von den Verbänden auch ganze Zweige der Familie ausgeschlossen.15 Andererseits gab es auch praktisches Unvermögen, an Familientagen und -verbänden teilzunehmen oder sie zu gründen, selbst wenn individuelles Interesse vorhanden war. In der Familie von Raumer wurde die Gründung eines Familienverbandes als „Extravaganz“ bezeichnet, die man sich nicht leisten könne.16 Immer wieder werden die Kosten als Grund genannt, warum Familienmitglieder nicht am Familienverband oder an Familientagen teilnahmen.17 In der Familie von Schwerin sorgte schon das Eintrittsgeld von 600 Mark dafür, dass der Kreis der teilnehmenden Familienmitglieder am Verband eng gezogen war. Nicht einmal die Option der Ratenzahlung erlaubte es allen Familienmitgliedern beizutreten. Vor allem Linien ohne Grundbesitz waren daher schwächer repräsentiert.18 Die Rhetorik, die sich die Familie von Bülow auferlegte, nämlich die Betonung der Sparsamkeit und der Geringschätzung von Luxus auf Familientagen, ist in ihrer Relation zu den Mitteln der Familienmitglieder im Einzelfall kaum zu ermitteln.19 Eine Auflistung des von Bülowschen Familientags aus dem Jahr 1890 macht aber deutlich, dass die Kosten eben nicht unerheblich waren. Die Übernachtung kostete im Einzelzimmer 3 Mark pro Nacht, im Doppelzimmer 4 Mark. Die Kosten des Abendessens setzten sich zusammen aus: „Das Couvert . . . mit Einschluß des Madeira zur Suppe, des Kaffees und Kaffeelikörs, sowie des Trinkgeldes für die Aufwartung bei Tisch pro Person sechs Mark. Auf den Tisch gesetzt wird ein leichter 1880er Rotwein zu 4 Mark; zum Fisch Rheinwein zu 4 Mark, von dem nach Belieben nachgeschenkt wird; zum Braten und später leichter deutscher Sekt . . . zu 7 Mark.“20 Hinzu kamen noch die Reisekosten nach Heiligendamm. Alles in allem also doch eher
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da, Nr. 275, S. 12. Die Briefe seiner Brüder Hans u. Ewald v. Trebra an Franz v. Trebra, Meistudel-Schneeburg/Dresden 25.6.1894 u. 28.6.1894, in: Ebd., S. 10 u. 15. Protokoll des Familientags der v. Alvensleben, Berlin 12.3.1887, in: LHASA-WR – Rep. H Erxleben II, Nr. 67, S. 117. Außerdem die ausführlichen Streitigkeiten in: Ebd., Nr. 56. Jandausch: Ein Name, Schild und Geburt, S. 226–248. FG-Raumer 1975, S. 2. Gebhard v. Alvensleben an Werneralvo v. Alvensleben, Potsdam 30.1.1913, in: LHASAWR – Rep. H Erxleben II, Nr. 74, S. 35; Promemoria Carl v. Bülows, Berlin 1.2.1867, in: LHASA-WR – Rep. E v. Bülow, Nr. 19, S. 5. Verschiedene Briefe auch in: PLAG – Rep. 38d v. Lepel, Nr. 10. Vgl. außerdem Zirkular der Familie von Bonin, Berlin/Wulfflatzke 28.1.1868, in: PLAG – Rep. 38d Bahrenbusch, Nr. 71, S. 28. Hans v. Eickstedt an Frhr. Vivigenz v. Eickstedt, Bomst 23.11.1884, in: PLAG – Rep. 38d Tantow, Nr. 21, S. 257. Jandausch: Ein Name, Schild und Geburt, S. 145f. Für das Jahr 1870: J.v. Bülow: Der „v. Bülow’sche Familienverband“ seit seinem Bestehen, in: FZ-Bülow 7/1929, Sp. 17. Ebd., 8/1930, Sp. 19. Victor v. Lepel bezeichnete 1909 4 Mk. für das Essen als „teuer genug“. Victor v. Lepel an Curt v. Lepel, Kassel 23.10.1909, in: PLAG – Rep. 38d v. Lepel, Nr. 10, S. 194.
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eine stattliche Rechnung als äußerste Sparsamkeit.21 So hinderten selbst tatsächlich nachweisbare Bemühungen um ,Sparsamkeit‘ noch so manches Familienmitglied daran, das horizontale Familienverständnis auf dem Familientag in der Praxis zu erleben und die Verwandten kennenzulernen. Waldemar von Lepel, der aus Geldmangel nicht am Familientag teilnehmen konnte, schrieb 1902: „Hoffentlich ist es mir in späteren Jahren endlich mal vergönnt, meine verehrten Herrn Vettern mal kennen lernen zu können.“22 Dabei dürften die Familien auch immer wieder vor dem Zwiespalt gestanden haben, dass zu schlichte Familientage das Interesse an den Ereignissen nicht steigerten und in ihrer Wirkung für das Ansehen der Familie in weiteren Kreisen eher schädlich waren. Konnte sich doch so der Verdacht einstellen, dass die Familie weitgehend verarmt war und sich keine repräsentativen Familientage mehr leisten könnte. Andererseits hinderten teure Familientage aber mehr Mitglieder an der Teilnahme. Die Familie von Bonin versuchte dem 1912 entgegenzuwirken, indem sie für jüngere Vettern und Basen und ältere Vettern, die speziell darum nachsuchten, die Kosten des Familienessens aus dem Familienfonds übernahm.23 Legt man die regelmäßige Beitragszahlung als einen Maßstab des Interesses an der Großfamilie an, so scheint die Bilanz ohnehin nicht besonders gut.24 Die Familientagsprotokolle sind voll von Klagen über säumige Zahler. Die vorgesehenen Mechanismen jedoch, die einen Ausschluss bei ausbleibender Beitragszahlung erlaubten, waren wohl kontraproduktiv. Denn statt die Familie zusammenzufassen, wurden Mitglieder dadurch ausgestoßen. Gleiches gilt für die Einsendung von Angaben zu Familienereignissen (Geburten, Beförderungen, Hochzeiten etc.), die von vielen Familienverbänden verlangt wurde.25 Auch hier wurde die Praxis der Forderung nicht immer gerecht. Klagen über das Ausbleiben von Nachrichten finden sich immer wieder in den Familientagsprotokollen und wurden mit mangelndem Interesse am Famili-
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Die Kolportierung der Sparsamkeit in der Forschung ist daher äußerst problematisch, wenn nicht die Wirklichkeit überprüft wird. Wienfort: Gerichtsherrschaft, Fideikommiss und Verein, S. 105. Als Einzelnachweis: Der Jubiläumsfamilientag der von Bonin kostete 1901 1500 Mk. Vgl. Protokoll des Familientags der v. Bonin, Berlin 28.11.1901, in: PLAG – Rep. 38d Bahrenbusch, Nr. 71, S. 147. Frhr. Waldemar v. Lepel an Franz v. Lepel, Wiesbaden 21.11.1902, in: PLAG – Rep. 38d v. Lepel, Nr. 64e, S. 20. Protokoll des Familientags der v. Bonin, Berlin 17.2.1912, in: PLAG – Rep. 38d Bahrenbusch, Nr. 71, S. 192. Die Familienzeitung der v. Zepelin 3/1937, S. 7, klagte: „Es wäre im Interesse des Zusammenhalts der Familie, insbesondere aber im Interesse der Erfüllung des § 2 der Satzungen unseres Verbandes niedergelegten Aufgaben und Pflichten wünschenswert, und muß auch erreicht werden, daß jedes Mitglied seiner Zahlungspflicht pünktlich und auch ohne besondere Aufforderung von selbst nachkommt.“ Damit wurden Zahlungsmoral und Familiensinn eindeutig miteinander in Beziehung gesetzt. Malinowski: Vom König zum Führer, S. 53f.
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III. Zwischen den Gesellschaftskonzepten II – Familiäre Praxis
enverband assoziiert.26 Freilich gingen die Beitragszahlung und die Mitteilung von Familienereignissen schon einen Schritt über das bloße Interesse an der Gesamtfamilie hinaus, sie gehörten in den Bereich des aktiven (finanziellen) Engagements und des Erinnerns an Zahltermine und Mitteilungsverpflichtungen. Daher sollte man die Bedeutung nicht zu hoch veranschlagen – als völlig irrelevant kann man sie aber nicht abtun. Auch werden die vielen regelmäßigen Zahler und Melder hinter den Klagen natürlich nicht sichtbar, beide Indizien verweisen aber darauf, dass die Bedeutung der Großfamilie in der Praxis eben nicht alles andere überlagerte, sondern dass es Gruppierungen innerhalb der Familien gab, deren Interesse und Verpflichtungsgefühl gegenüber der Großfamilie stärker ausgeprägt war, und solche, deren Interesse und Verpflichtungsgefühl in der Praxis schwächer ausgeprägt war. Auf gleiches deuten die Schwierigkeiten mancher Familien bei der Verbandsgründung hin. Betrachtet man statistische Auswertungen der Anwesenheit auf Familientagen, so ergibt sich ein differenziertes Bild, das zuweilen den Eindruck mangelnden Interesses bestätigt, zuweilen widerlegt. Einfache Antworten gibt es hier nicht. Eine erste Annäherung bieten die absoluten Zahlen der Anwesenheit. Sie verdeutlichen, dass Familientage mit mehreren hundert Teilnehmern eher die Ausnahme waren. Das Sample, das sowohl größere als auch kleinere Adelsfamilien enthält, zeigt vielmehr, dass die meisten Familientage von nicht mehr als 20 männlichen Personen besucht wurden. Ausreißer nach oben, wie in diesem Fall der Familientag der von Bonin, waren in der Regel Jubiliäumsfamilientage, die zu den Jubiläen des Verbandes, des Erwerbs eines Grundbesitzes oder der ersten urkundlichen Nennung der Familie abgehalten wurden. Diese Grafik zur absoluten Anwesenheit ist jedoch trügerisch, da die Zahlen nichts über die prozentuale Anwesenheit der Familienmitglieder aussagen. Solche Erhebungen waren für die vorhergehenden Familien nicht möglich, da die Personenangaben in den Protokollen entweder nicht ausreichend waren, um Personen in Familiengeschichten zu identifizieren, oder aber, weil keine oder keine ausreichend nutzbaren Familiengeschichten existierten. Für eine Reihe anderer Familien kann man jedoch auch solche Erhebungen erstellen. Die Grafik verdeutlicht, dass die absolute Teilnahme in den einzelnen Familien stark variieren konnte. Familientage, an denen mehr als 50 % der berechtigten männlichen Familienmitglieder teilnahmen, waren eher die Ausnahme. Vielmehr scheint die Teilnahme häufig zwischen 10 und 30 % gelegen zu haben.27 Kontinuierliche Entwicklungen im Sinne einer Zu- oder Abnahme der prozentualen Teilnahme lassen sich für die untersuchten Familien, mit 26 27
Protokoll des Familienrats der v.d. Marwitz, Berlin 18.3.1928, in: BLHAP – Rep. 37 Friedersdorf, Nr. 259, S. 156. Ergänzend die Angaben bei Gadow: Haus, S. 222; dies.: daß kein Vetter seine Söhne, S. 179.
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Abbildung 4: Anwesenheit bei Familientagen in absoluten Zahlen in einzelnen Familienverbänden vor 1918 Zusammengestellt aus einer Datenbank, in die Angaben über die Anwesenheit aus Familientagsprotokollen, die in den Familienarchiven überliefert waren, eingeflossen sind.
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III. Zwischen den Gesellschaftskonzepten II – Familiäre Praxis
Abbildung 5: Prozentuale Teilnahme der Gesamtfamilie am Familientag (1863–1914) Für die Familie v. Stackelberg beziehen sich die prozentualen Angaben nur auf die Mitgliederzahl des Familienverbandes, nicht auf das Gesamtgeschlecht. Zugrunde gelegt wurden bei der Auswertung die Angaben der Familiengeschichte über den jeweiligen Familienbestand.
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Abbildung 6: Individuelle prozentuale Teilnahmehäufigkeit an Familientagen (1863–1939)
Ausnahme der von Dewitz, die jedoch mit sehr hohen Werten begannen, nicht ermitteln. Ein weiterer Faktor, der bei der prozentualen Teilnahme jedoch zu beachten ist, ist die individuelle Teilnahme. Denn grundsätzlich wäre es vorstellbar, dass alle Familienmitglieder auf den Familientagen ab und zu erschienen und damit an der praktischen Umsetzung der Leitidee Familie in ihrer horizontalen Ausprägung partizipierten. Hierzu muss ermittelt werden, an wie vielen Familientagen die einzelnen Personen teilnahmen und wie viele Familientage sie nicht besuchten. Die Grafik zeigt, dass es einen harten Kern der Familienverbandsinteressierten gab, der zwischen 81 und 100 % der möglichen Familientage besuchte. An diese Gruppe schloss sich ein Kreis von regelmäßigen Besuchern (41–80 %) an. Ein größerer Kreis hingegen besuchte Familientage nur gelegentlich (