Staatskunst und Kriegshandwerk. Band 3 Die Tragödie der Staatskunst: Bethmann Hollweg als Kriegskanzler (1914–1917) [Reprint 2019 ed.] 9783110655261, 9783486576276

"Estimationstheorie I und II" behandelt die Grundlagen und Lösungskonzepte zur optimalen Verarbeitung gestörte

153 61 45MB

German Pages 707 [708] Year 1964

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INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
I.TEIL: EPOCHE DES NATIONALEN „BURGFRIEDENS" UND DER GROSSEN SIEGESZUVERSICHT 1914/15
1. Kapitel. DER KANZLER UND DIE MACHTTRÄUME DEUTSCHER PATRIOTEN 1914
2. Kapite l. POLITIK UND KRIEGFÜHRUNG IM ERSTEN KRIEGSJAHR BETHMANN HOLLWEG UND FALKENHAYN BIS ZUM ENDE DES POLENFELDZUGS
II. TEIL: EPOCHE DER ENTTÄUSCHUNGEN UND DES ZERFALLS DER NATIONALEN EINHEITSFRONT 1915/16
3. Kapitel. BALKANKRIEG UND BALKANPOLITIK IM SPÄTJAHR 1915
4. Kapitel. MITTELEUROPAPLÄNE UND DIE POLENFRAGE IM WINTER 1915/16
5. Kapitel. AMERIKA UND DIE ERSTEN BEIDEN U-BOOT-KRISEN 1915/16
6. Kapitel. SCHEITERN DER VERDUN-OFFENSIVE UND ZERBRÖCKELN DER ÖSTERREICHISCH-UNGARISCHEN ABWEHRFRONT STURZ FALKENHAYNS
III. TEIL: AUFSTIEG DER OBERSTEN HEERESLEITUNG ZUR POLITISCHEN HEGEMONIE 1916/17
7. Kapitel. DAS POLENMANIFEST UND SEIN MISSERFOLG
8. Kapitel. DAS FRIEDENSANGEBOT DER MITTELMÄCHTE UND DER BRUCH MIT AMERIKA
9. Kapitel. MILITARISIERUNG DER WIRTSCHAFT
10. Kapitel. ERLAHMEN DES KAMPFWILLENS IN ÖSTERREICH DIE PRINZ-SIXTUS-AFFÄRE
11. Kapitel. DIE RUSSISCHE MÄRZREVOLUTION UND DAS PROGRAMM EINES ANNEXIONSLOSEN FRIEDENS
12. Kapitel. INNERPOLITISCHE WIRREN, FRIEDENSRESOLUTION DES REICHSTAGS STURZ BETHMANN HOLLWEGS, TRIUMPH DER OHL
ANMERKUNGEN (Quellennachweise und Ergänzungen)
ALPHABETISCHES VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN UND DER ABGEKÜRZT ZITIERTEN SCHRIFTEN
PERSONENVERZEICHNIS
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Staatskunst und Kriegshandwerk. Band 3 Die Tragödie der Staatskunst: Bethmann Hollweg als Kriegskanzler (1914–1917) [Reprint 2019 ed.]
 9783110655261, 9783486576276

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RITTER I STAATSKUNST U N D KRIEGSHANDWERK BAND III

STAATSKUNST UND KRIEGSHANDWERK Das Problem des »Militarismus« in Deutschland Dritter Band: Die Tragödie der Staatskunst Bethmann Hollweg als Kriegskanzler (1914-1917) von GERHARD RITTER

VERLAG

R.

OLDENBOURG

MÜNCHEN

1964

© 1964 R- Oldenbourg Verlag, München Gesamtherstellung: R. Oldenbourg, Graphische Betriebe GmbH, München Schrift: Linotype Garamond

INHALTSVERZEICHNIS VORWORT I.TEIL:

7 Epoche des nationalen „Burgfriedens" und der großen Siegeszuversicht 1914/15

1.KAPITEL: Der Kanzler und die Maditträume deutscher Patrioten 1914 . 2.

KAPITEL:

II. TEIL:

.

.

15

Politik und Kriegführung im ersten Kriegsjahr. Bethmann Hollweg und Falkenhayn bis zum Ende des Polenfeldzugs Erster Abschnitt: Nach der Marneschlacht. Ost- oder Westfront? . . . Zweiter Absdinitt: Österreich und der Abfall Italiens Dritter Abschnitt: Militärischer Sieg und politischer Mißerfolg in Rußland

55 55 72 84

Epoche der Enttäuschungen und des Zerfalls der Nationalen Einheitsfront 1915/16

95

3. K A P I T E L : Balkankrieg und Balkanpolitik im Spätjahr 1915 4. KAPITEL:

13

Mitteleuropapläne und die Polenfrage im Winter

97 1915/16

.

.

.

.

113

5. K A P I T E L : Amerika und die ersten beiden U-Boot-Krisen 1915/16 Erster Abschnitt: Ursprung und Beginn des Handelskrieges mit Tauchbooten (Frühjahr 1915) Zweiter Abschnitt: Das Problem der Neutralität Amerikas und der U-Boot-Krieg im Sommer und Herbst 1915 Dritter Abschnitt: Amerikas Heraustreten aus der Isolation und die zweite U-Boot-Krise im Winter 1915/16

183

6. K A P I T E L : Scheitern der Verdun-Offensive und Zerbröckeln der österreichischungarischen Abwehrfront. Sturz Falkenhayns

216

III. TEIL:

Aufstieg der Obersten Heeresleitung zur politischen Hegemonie 1916/17

7. K A P I T E L : Das Polenmanifest und sein Mißerfolg 8. K A P I T E L :

145 163

251 253

Das Friedensangebot der Mittelmächte und der Brudi mit Amerika . . Erster Abschnitt: Das Verhältnis Deutschlands zu Amerika im Sommer 1916. Belgische Friedensfühler Zweiter Abschnitt: Das Friedensproblem und die alliierten Regierungen Dritter Abschnitt: Hinausschieben des U-Boot-Krieges und Vorbereitung eines Friedensangebotes (August bis Dezember 1916) . . . . Vierter Abschnitt: Scheitern der Friedensaktion. Sieg der Heeres- und Marineleitung in der U-Boot-Frage (12. Dezember 1916 bis 9. Januar 1917) Fünfter Abschnitt: Der Bruch mit Amerika

9. K A P I T E L : Militarisierung der Wirtschaft Erster Abschnitt: Das Hilfsdienstgesetz vom Dezember 1916 . Zweiter Abschnitt: Die belgischen Arbeiterdeportationen

145

.

.

285

285 299 319 349 385 417 417 433

6

Inhaltsverzeichnis

10. KAPITEL: Erlahmen des Kampfwillens in Österreich. Die Prinz-Sixtus-Affäre . Erster Absdmitt: Kaiser Karl und die Bourbonen-Prinzen . . . . Zweiter Abschnitt: Czernin und die bourbonische Friedensaktion . . 11. KAPITEL: Die russische Märzrevolution und das Programm eines annexionslosen Friedens Erster Abschnitt: Deutschlands Hoffnung auf das revolutionäre Chaos in Rußland i Zweiter Abschnitt: Czernin, Bethmann Hollweg und die sowjetische Friedensformel Dritter Abschnitt: Bethmanns Friedenspolitik im Kreuzfeuer zwischen Kreuznach und Wien Vierter Abschnitt: Czernin und das Balkanprogramm der OHL (Mai bis Juni)

451 451 464 482 482 492 503 527

12. KAPITEL: Innerpolitische Wirren, Friedensresolution des Reichstags, Sturz Bethmann Hollwegs, Triumph der OHL Erster Abschnitt: Die Osterbotschaft des Kaisers und ihre Folgen . . Zweiter Abschnitt: Die Julikrise

536 536 551

ANMERKUNGEN (Quellennachweise und Ergänzungen)

589

ALPHABETISCHES VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN UND DER ABGEKÜRZT ZITIERTEN SCHRIFTEN

689

PERSONENVERZEICHNIS

693

VORWORT Eine Darstellung des Verhältnisses von Politik und Kriegführung während des Ersten Weltkriegs, die wissenschaftlichen Wert haben soll, ist heute nur noch möglich auf Grund einer weit ausgedehnten Forschung in den Originaldokumenten, auch den ungedruckten, also in den Archiven. Das führt zur Aufhellung zahlloser Einzelzusammenhänge, die man kennen muß, um den Gang der politischen Ereignisse zu verstehen und sowohl die Entschließungen wie die Unterlassungen, die Erfolge wie die Mißerfolge führender Politiker und Soldaten gerecht zu würdigen. Der Krieg, besonders der moderne Volkskrieg, bedeutet eine ungeheure Intensivierung des politischen Lebens. Und seine Zusammenhänge dehnten sidi bald über den ganzen Erdball aus. Die Folge davon ist, daß unsere Darstellung unvermeidlich stark in die Breite wuchs, also die in den beiden ersten Bänden dieses Werkes innegehaltene Raumbegrenzung sprengte. Mein ursprünglicher Plan, die Gesamtdarstellung mit diesem dritten Band bis 1945 durchzuführen und abzuschließen, erwies sich bald als undurchführbar. Ich muß den Abschluß einem vierten Band vorbehalten, für den meine Sammelarbeit schon weitgehend geleistet ist. Er soll die folgenden Hauptthemen behandeln: 1. das Problem des Verständigungsfriedens im Herbst 1917 (päpstliche Friedensaktion) und die OHL, 2. Ludendorffs Eroberungspolitik und der Diktatfrieden von Brest-Litowsk, 3. die Uberspannung des Siegeswillens seit der Märzoffensive 1918, 4. Zusammenbruch des Kaiserreichs, Ende des altpreußischen Militärsystems, 5. die Reichswehr und die Weimarer Republik, 6. die Wehrmacht im Hitlerreich und im Zweiten Weltkrieg. Die beiden letzten Kapitel können (bei dem heutigen Stand der Quellenforschung) nur einen mehr essayistischen Charakter tragen, sollen aber doch das Gesamtbild abrunden. Es mag verwunderlich erscheinen, daß ich im vorliegenden Band die Darstellung nicht wenigstens bis zum Kriegsende durchgeführt habe. Es sind aber nicht ausschließlich äußere Gründe, die mich dazu veranlaßten. Das Jahr 1917 bedeutet nicht nur universalgesdiichtlich eine große Epochenwende (wie ich im 11.Kapitel näher dargelegt habe), sondern auch für „dasProblem desMili-

8

Vorwort

tarismus in Deutschland" einen tief einschneidenden Abschnitt der Entwicklung. Der Sturz Bethmann Hollwegs im Juli 1917 hat das politische Ubergewicht der Militärs, die ihn herbeiführten, nicht nur vor aller Welt sichtbar gemacht, sondern fast zur Allmacht gesteigert. So rückte die Gestalt dieses ersten Kriegskanzlers ganz von selbst in den Mittelpunkt des Buches. Die Politik Bethmanns in ihrem Verhältnis zur Kriegführung wird hier zum ersten Mal allseitig aus den Originaldokumenten beleuchtet - bis in alle Einzelheiten hinein; denn nur so, nur bei genauer Kenntnis der sich vor ihm auftürmenden Probleme, Widerstände und Schicksalsverflechtungen ist es möglich, seinem Handeln als Staatsmann und seinen Kämpfen mit den Militärs wirklich gerecht zu werden und endlich über die billigen Schlagworte hinauszukommen, mit denen er herkömmlich in der deutschen Kriegshistorie abgefertigt wird. Die Grundkonzeption des so entstandenen Buches, in jahrelangen Quellenstudien erarbeitet, lag bereits fest, als 1961 das bekannte Buch des Hamburger Historikers Fritz Fischer über die deutsche Kriegszielpolitik 1 9 1 4 - 1 8 unter dem Titel „Griff nach der Weltmacht" erschien. Da es ein ungeheuer ausgedehntes Quellenmaterial aus deutschen Archiven verarbeitet, habe ich mich natürlich damit auseinandersetzen müssen. Es hat mir eine ganze Menge neuer Einzelinformationen vermittelt, insbesondere aus dem Potsdamer Zentralarchiv der DDR, das mir persönlich nicht zugänglich war. Seine Grundauffassung, d. h. sein Versuch, den früher immer als lahmen Kompromißund Verzichtpolitiker geschilderten Bethmann Hollweg zu einem Machtpolitiker mit hochgesteckten Eroberungszielen (und darum als eine Art von Vorläufer Adolf Hitlers) zu schildern, hat mich so wenig überzeugt wie die weitaus meisten Fachhistoriker innerhalb und außerhalb Deutschlands. Diese Fehldeutung wird sich vielleicht in der Publizistik, aber sicher nicht in der Fachliteratur lange behaupten. Schon deshalb schien es mir nicht lohnend, die Darstellung meines Buches mit polemischen Auseinandersetzungen zu belasten — zumal ja Fischer nur einen Teilaspekt der deutschen Kriegspolitik behandelt und nicht unser Thema: das Verhältnis von Staats- und Heerführung. Unvermeidlich, ja dringend notwendig war es dagegen, die zahlreichen Fehldeutungen und Umdeutungen der Quellen, auf denen seine Darstellung beruht, im Anmerkungsteil aus den Originaldokumenten nachzuweisen; denn nur so ließ sich der Gefahr entgegenwirken, daß ein unrichtiges Geschichtsbild sich festsetzt. Im Textteil meines Buches habe ich mich also darauf beschränkt, meine

Vorwort

9

eigene Auffassung darzubieten und sachlich zu begründen. Ohne jede apologetische Tendenz, aber auch ohne billige Hyperkritik des Nachlebenden, unabhängig sowohl vom Herkommen der meist national-liberal gefärbten Historie meiner Vorgänger wie vom radikalen Umschlag dieser Grundtendenz seit 1945 (wie er bei Fischer sichtbar wird) habe ich mich bemüht, in sorgsamer Analyse des Quellenbefundes und besinnlicher Einfühlung in die jeweilige Situation der geschichtlichen Wirklichkeit so nahe als möglich zu kommen. Nichts ist heikler als das Geschäft des Historikers der jüngsten Vergangenheit. Die Massenhaftigkeit der Quellen droht ihn zu erdrücken. Wählt er aus, so erliegt er leicht der Gefahr, bloß Beweisstüdte für eine vorgefaßte These zu sammeln; strebt er nach Vollständigkeit und Allseitigkeit, so droht sein Werk zu einer bloßen Excerptensammlung zu werden, statt ein plastisches, klares Geschichtsbild mit gerechter Verteilung von Licht und Schatten zu schaffen. Die Schwierigkeit der Aufgabe historischer Gestaltung ist mir selten so fühlbar geworden wie bei der mühsamen Arbeit an diesem Band. Freilich war sie auch im höchsten Maße spannend, ja aufregend. Die Tragödie, die ich zu schildern hatte, beschränkt sich ja nicht auf Deutschland. In allen am Krieg beteiligten Nationen beobachtet man ein ähnliches Schauspiel: das mehr oder weniger hilflose Verstricktsein der Staatsmänner in die Zwangsläufigkeiten der Kriegserfordernisse und den unwiderstehlichen Druck entfesselter Leidenschaften in der sogenannten offentlichen Meinung. Ich habe besonderen Wert darauf gelegt, die Kriegspolitik Deutschlands nicht isoliert, sondern im Rahmen der Universalgeschichte darzustellen - soweit das heute schon möglich ist. Denn nur für die Außenpolitik der Vereinigten Staaten liegt heute schon der größte Teil des Quellenmaterials in amtlichen und privaten Publikationen vor, während die großen Archive in Paris und London noch immer der Forschung verschlossen sind. Sollte sich das ändern, nachdem am 1. August 1964 schon ein volles halbes Jahrhundert seit dem Kriegsausbruch verflossen sein wird, so wird an dem von mir gezeichneten Bild manches Einzelne zu berichtigen oder zu ergänzen sein. Große Überraschungen erwarte ich indessen nicht. Für die Geschichte der Kriegspolitik Deutschlands und Österreich-Ungarns stehen j a nun die amtlichen Dokumente unbegrenzt zur Verfügung. Sie in irgendeinem Sinn „erschöpfend" auszuwerten, war nie meine Absicht, wohl aber: soviel davon mir anzueignen, daß ein klares und zuverlässiges Bild dieser Politik und der mit ihnen beschäftigten politischen und militärischen

10

Vorwort

Führerpersönlichkeiten gezeichnet werden konnte. Meine Archivstudien habe ich gleich nach meiner Emeritierung 1956 begonnen, teils durdi Auswertung von Filmstreifen, die ich von den National Archives in Washington bezog (vor allem von der wichtigen deutschen Aktenserie „Weltkrieg 15 geheim"), teils durch Einsichtnahme in die Originaldokumente der Wiener Archive, wo man mir mit größter Liberalität und Hilfsbereitschaft entgegenkam. Spätere Archivreisen führten mich (nach Rückkehr der deutschen Dokumente aus England) nach Bonn und nach Koblenz. Weiteres Material bezog ich in Fotokopien des Record Office aus London. Bei diesen Bemühungen standen mir getreue und sehr geschickte Helfer aus der letzten Generation meiner Doktoranden zur Seite. Wolfgang Steglich war in meinem Auftrag und mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1956 mehrere Monate in Wien tätig, wo er zugleich Quellenmaterial für seine eigenen Arbeiten sammelte. Hans Günther Zmarzlik benutzte seine Sammeltätigkeit im Potsdamer Zentralarchiv, die der Vorbereitung seines Buches über Bethmann Hollweg als Reichskanzler 1909-14 diente, gleichzeitig zur Beschaffung recht umfangreicher (und z. T. sehr wichtiger) Quellenmaterialien für meine Arbeit. Dieses Material wird für den 4. Band noch wichtiger werden als für den vorliegenden. Karl Heinz Janssen stellte mir das gesamte Dokumentenmaterial zur Verfügung, das er in den Archiven von München, Stuttgart und Karlsruhe sowie im Nachlaß des Ministerpräsidenten von Weizsäcker für sein Buch über die Kriegszielpolitik der deutschen Bundesstaaten, aber auch für mich gesammelt hatte. Dabei hat er zahlreiche Stücke beigebracht, die für mich besonderen Wert besitzen. Klaus Schwabe, dessen große Dissertation über die politische Haltung der deutschen Professoren im Weltkrieg eine wichtige Ergänzung meines Buches bietet und hoffentlich bald zum Druck kommen wird, konnte mir einzelne wichtige Stücke aus dem Nachlaß Hans Delbrücks zur Verfügung stellen. Außer den im Koblenzer Bundesarchiv durchgesehenen Nachlässen militärischer und politischer Persönlichkeiten stand mir auch (durch Vermittlung des Göttinger Max-Planck-Instituts für Geschichte) eine große Niederschrift aus dem Nachlaß des Staatssekretärs von Roedern zur Verfügung. Weitere Quellenbefunde, Hinweise und Auskünfte, die mir zuteil wurden, sind im Anmerkungsteil genannt. Ein großer Teil der von mir im politischen Archiv des Auswärtigen Amts gesammelten Materialien erschien (für mich überraschend) während der Niederschrift meines Buches gedruckt in der Pariser Publikation „L'Allemagne

Vorwort

11

et les problèmes de la paix. T . I . 1 9 1 4 - 1 7 " , das mir P. Renouvin sofort zugehen ließ. Dank freundlicher Vermittlung seines Mitherausgebers M. Baumont erhielt ich die Korrekturbogen des II. Bandes durch den Bearbeiter, Herrn J . Grunewald, zur Benutzung für die Fertigstellung meiner letzten Kapitel sofort aus der Druckpresse übersandt. Für die Bearbeitung der Probleme amerikanischer Politik war mir überaus wertvoll die ungewöhnlich großzügige Unterstützung durch den Wilson-Biographen Arthur S.Link: er übersandte mir nicht nur (in Xerox-Kopien) alle für midi wichtigen Kapitel aus dem Manuskript des 4. Bandes seiner großen Wilson-Biographie, sondern stellte mir bereitwillig Fotokopien jedes gewünschten Briefes aus dem Nachlaß Wilsons und Houses zur Verfügung. Auch für belgische Unterstützung durch freundliche Auskünfte bzw. Beratung habe ich zu danken (General van Overstraeten, Prof. Willequet, Prof. Ganshof). Weiterhin habe ich den Vorständen der von mir benutzten Archive und Bibliotheken (nicht zuletzt unserer zu jedem Entgegenkommen bereiten Freiburger Universitätsbibliothek) meinen Dank abzustatten, dazu der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Freiburger Wissenschaftlichen Gesellschaft für vielseitige fianzielle Unterstützung, sowohl bei Archivreisen und der Beschaffung von Fotokopien wie bei der Besoldung von Hilfskräften. Nicht zuletzt gedenke ich dankbar der unermüdlichen Hilfe meiner Amanuensen (K. Schwabe und G.Lauruschkat), ohne die ich eine so mühsame Arbeit nicht hätte durchführen können. Freiburg

i. Br., im Mai 1964 Gerhard

Ritter

I.TEIL EPOCHE DES NATIONALEN „BURGFRIEDENS" UND DER GROSSEN SIEGESZUVERSICHT 1914/15

1. Kapitel DER KANZLER UND DIE MACHTTRÄUME D E U T S C H E R P A T R I O T E N 1914

Der große Krieg von 1914 ist nicht, wie das deutsche Volk damals glaubte, durch einen „Überfall" seiner Gegner auf die friedliche Mitte Europas entstanden. Er ist aber auch nicht als deutsche Offensive oder als deutscher „Hegemonialkrieg" in dem Sinne zu verstehen, daß unsere Nation, überschäumend von Kraftbewußtsein und politischem Ehrgeiz, ihre Nachbarn zum Zweikampf herausgefordert hätte, um sich mit Waffengewalt den schon lange ersehnten Aufstieg zur „Weltmacht" zu erkämpfen. An Ehrgeiz und Kraftbewußtsein hat es ihr im Zeitalter des Imperialismus gewiß nicht gefehlt — so wenig wie anderen großen Nationen; auch nicht an Machtträumen und kriegerischen Stimmungen extremer Chauvinisten und „Militaristen", wie unsere Darstellung schon früher gezeigt hat 1 ). Aber es wäre verfehlt zu behaupten, die öffentliche Meinung auch nur des bürgerlichen Deutschland (von der sozialdemokratischen Arbeiterschaft ganz zu schweigen) sei von solchen extremen Strömungen schon vor 1914 beherrscht gewesen, so daß die Entwicklung nationalistischer Leidenschaften und Eroberungsgelüste, wie sie der Krieg dann rasch hervorbrachte (bei uns ebenso wie bei allen kämpfenden Nationen), einfach als „kontinuierliche" und „konsequente" Fortsetzung des deutschen Vorkriegsimperialismus gedeutet werden dürfte. Nichts ist schwieriger, als exakt zu bestimmen, was sich der Durchschnitt deutscher Patrioten, die vor 1914 so viel von der Notwendigkeit eines deutschen „Aufstiegs zur Weltmacht" redeten, dabei gedacht hat. Aber soviel läßt sich doch mit ausreichender Sicherheit sagen, daß die Idee einer deutschen „Hegemonie" - sei es auf dem europäischen Kontinent, sei es auf den Weltmeeren oder in Übersee - in der Publizistik der Vorkriegszeit eine ganz unbedeutende Rolle gespielt hat im Vergleich mit dem sehr lebhaft und sehr häufig geäußerten Verlangen nach „Gleichberechtigung" unter den Weltmächten. Der stärkste Ausdruck dieses Verlangens war bekanntlich die Flottenpolitik der Ära Tirpitz, deren politische Gefährlichkeit und militärische Aus-

16

Erstes Kapitel

sichtslosigkeit wir früher ausführlich und schonungslos klargelegt haben. Sie als „kalten K r i e g " zu bezeichnen, der im „heißen" nur seine „natürliche Fortsetzung" gefunden habe 2 ), ist trotzdem ungerecht und irreführend; denn es erweckt die Vorstellung von einer bewußt „militaristischen" Politik der deutschen Reichsregierung, die unter allen Umständen die britische Seeherrschaft zu zerstören trachtete und dafür selbst das aussichtslose Abenteuer eines großen Flottenkampfes zu wagen bereit war. So blind ist man aber in Berlin nun doch nicht gewesen, hat vielmehr den Krieg mit England bis zuletzt bis aufs äußerste gescheut; man hat die Schlachtflotte überhaupt nicht als K a m p f mittel für eine militärische Offensive gebaut, sondern als Defensivflotte — freilich in der Erwartung, sie dank ihrer Stärke auch als Druckmittel beim diplomatischen K a m p f u m die „Gleichberechtigung" verwenden zu können. D a s hat sich bald als verfehlt erwiesen, weil die Briten unsere Schlachtflotte gar nicht so zu fürchten brauchten, wie wir glaubten. Aber Rüstungen großen, selbst größten Stils zu unternehmen, nicht um damit Krieg zu machen, sondern u m ein politisches „Gleichgewicht" und politische Bewegungsfreiheit zu erzielen, ist in aller Politik der Brauch (heute noch mehr als je zuvor). Deutschland im Zeitalter des Imperialismus wollte „Gleichberechtigung" unter den Weltmächten, es wollte selbst „Weltmacht" werden. D a s war kein klar durchdachtes Ziel, sondern einfach Ausdruck seines Selbstgefühls, des natürlichen Geltungsdrangs einer N a t i o n von höchst gesteigerter Vitalität. Die kaiserliche Regierung gab dem Druck dieses Geltungsdranges nach, indem sie außenpolitisch, vor allem unter Bülow, eine oft sprunghafte, unruhige, aktive Kolonialpolitik und bis 1912 eine ganz einseitige Aufrüstung zur See betrieb. Aber sie stieß dabei auf rasch wachsende Schwierigkeiten, in denen die natürlichen Grenzen der Machtentwicklung eines so zentral gelegenen Kontinentalstaates spürbar wurden. Außenpolitisch geriet sie in eine ganze Kette gefährlicher „ K r i s e n " und in eine immer bedrohlicher werdende Isolierung hinein: in jene „Einkreisung" durch Ententen und Militärbündnisse, die jeder politisch Denkende seit spätestens 1911 als schwere Bedrückung empfand. N u r eine Regierung von Abenteurern hätte in solcher Lage daran denken können, einen Krieg zu provozieren, um „nach der Weltmacht zu greifen", um Hegemonie zu erringen. D a s Abenteuer wäre um so größer gewesen, als gerade in diesen Jahren die Unzulänglichkeit der deutschen Landrüstung für einen Zweifrontenkrieg und die Aussichtslosigkeit einer „Entscheidungsschlacht" unserer Panzerflotte gegen England den obersten Militärstellen klar bewußt wurde (s. Band I I , K a p . 8, I, bes. S. 197, und K a p . 9, III). Auch nach

Der Kanzler und die Machtträume deutscher Patrioten 1914

17

der großen deutschen Rüstungsvorlage der letzten Vorkriegsjahre hat sich bis 1914 daran nichts Wesentliches geändert. Im Gegenteil: nichts bedrückte den Generalstabschef Moltke (wie wir gesehen haben) im Sommer 1914 mehr als die Gewißheit, daß in wenigen Jahren die Durchführung der großen russischen Heeresverstärkungen Suchomlinows und der französischen Heeresgesetze von 1913 alle strategischen Pläne des deutschen Generalstabes über den H a u f e n werfen und ein erfolgreiches Durchkämpfen des Zweifrontenkrieges überhaupt unmöglich machen würde. H a t er darum, in verzweifeltem Entschluß, den Präventivkrieg gewollt, und ist ihm der Reichskanzler Bethmann Hollweg darin gefolgt? Wir haben die wenigen Quellenzeugnisse, die für Präventivkriegsideen des deutschen Generalstabschefs zu sprechen scheinen, im zweiten Band dieses Werkes eingehend geprüft und keinen eindeutigen Beweis dafür gefunden, daß Moltkes Handeln in den entscheidenden Tagen Ende Juli durch andere Motive als durch rein militärtechnische Erwägungen bestimmt wurde. Für Bethmann Hollweg, der alles andere als eine Abenteurernatur gewesen ist 2 a ), liegen bis heute überhaupt keine Zeugnisse vor, die uns in seine letzten Gedanken während der Julikrise eindringen ließen. D a ß auch er schwer bedrückt war durch die Aussicht auf die beständig anschwellende Macht Rußlands bei fortdauernd sich steigernder Feindschaft zwischen diesem Nachbarn und dem österreichisch-ungarischen Bundesgenossen, mit der Aussicht auf immer gefährlicher werdende Balkankonflikte, ist indessen aus dem Kreis seiner nächsten Mitarbeiter eindeutig bezeugt. Ohne einen gewissen Fatalismus, der den kriegerischen Zusammenstoß mit Rußland über kurz oder lang nun einmal für unvermeidlich hielt, wäre seine bedingungslose Zusage deutscher Waffenhilfe an die Österreicher für den Konfliktfall wohl kaum zu erklären. U n d wir haben nicht gezögert, diesen Fatalismus und die damit verbundene „Blindheit" für den wahren Charakter und die engbegrenzten Möglichkeiten der Wiener Politik für schuldhaft vor dem Urteil der Geschichte zu erklären 8 ). Aber das alles ändert doch nichts daran, daß die Politik der deutschen Regierung im Juli 1914 grundsätzlich defensiver, nicht aggressiver N a t u r gewesen ist — trotz ihres wiederholten Drängens auf rasches, kriegerisches Vorgehen der Österreicher gegen Serbien; denn auch diesen serbischen Krieg verstand sie als reine Abwehr, als Verteidigung gegen lebenbedrohende Gefahren, nicht als Offensivhandlung zur Eroberung slawischen Landes. Man kann natürlich hinterher fragen, ob die Erhaltung der Donaumonarchie

18

Erstes Kapitel

als Großmacht noch den Einsatz eines so ungeheuren Risikos lohnte, ja ob sie überhaupt auf die Dauer möglich war und ob uns unser Bundesgenosse im Grunde nicht mehr Gefahren auf den Hals zog, als er uns nützte. Aber der Historiker, der so fragt, wird sich dabei bewußt sein, daß er damit aus dem historischen Verständnis jener Epoche vollständig herausfällt, d. h. daß ein deutscher Staatsmann von 1914 so gar nicht fragen konnte: schon deshalb nicht, weil er sich damit sowohl in den Augen der Deutschen wie des deutschösterreichischen Volkes einfach unmöglich gemacht hätte. Er wäre nicht nur als vertragsbrüchig, als feiger Schwächling, sondern geradezu als Verräter an der deutschen Sache schlechthin erschienen. So tief hatte der Bruch von 1866 die deutsche Nation doch noch nicht gespalten, daß man in Reidisdeutschland den Zerfall des „Bruderreiches" (dessen Erhaltung ja auch Bismarck immer für eine europäische Notwendigkeit erklärt hatte) gleichmütig hätte mit ansehen können; ganz abgesehen von der Tatsache, daß man (damals noch!) einen von Rußland beherrschten Balkan (wohl gar einschließlich Ungarns) für eine unerträgliche Bedrohung Mitteleuropas hielt. Hinter dem nationalpolitischen Anliegen und hinter der Furcht, mit Österreich-Ungarn den letzten zuverlässigen Bundesgenossen in Europa zu verlieren, steckte freilich noch ein tiefer liegendes Motiv: ganz einfach der natürliche Geltungsdrang der Großmacht, auch wohl „Prestigebedürfnis" genannt. Österreich-Ungarn sollte nicht durch passive Hinnahme des fortgesetzten, jetzt eben zum Mord des Thronfolgers gesteigerten Aktivismus der serbischen Nationalisten sein Prestige als Großmacht verlieren. Und Deutschland nicht das seinige durch Versagen seiner Waffenhilfe aus Furcht vor Rußland. Dieser Macht- und Geltungsdrang war damals in ganz Europa so selbstverständlich, daß er kaum noch diskutiert zu werden brauchte. N u r um seines Prestiges willen, ohne erkennbare Lebensnotwendigkeit, hat sich Rußland der Balkanslawen als Beschützer angenommen und sich darüber in einen Kampf auf Leben und Tod gestürzt, der es rasch ins Verderben führte. Nur um ihr Prestige als Kontinentalmacht zu steigern, hat sich die Französische Republik mit dem Zarentum auf Gedeih und Verderb verbunden und so den Balkankrieg zu einem europäischen Großbrand erweitert. Die Italiener trieb nur der Ehrgeiz zur Teilnahme am Krieg; sie wollten ihre „historische Stunde" nicht versäumen und zu einer wirklichen Großmacht aufsteigen, mit Hilfe gewaltiger Annexionen fremden Landes, die sie sich vertraglich zusichern ließen - weit über die Grenzen italienischen Volkstums hinaus. Und schließlich haben auch die Briten nicht bloß (und nicht einmal in

Der Kanzler und die Maditträume deutscher Patrioten 1914

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erster Linie) die Sicherheit ihrer Insel gegen Deutschland verteidigt, sondern ihr moralisch-politisches Prestige, ihre Weltmachtstellung und ihre Seehegemonie. Deutschlands Entschluß, den Machtbesitz des Zweibundes ungeschmälert zu erhalten, lag genau auf derselben Linie. Nur daß bloße Waffengewalt freilich kein ausreichendes und geeignetes Mittel war, die Nationalitätenprobleme des Donaustaates zu lösen. Im übrigen unterschied sich die Politik Deutschlands nur dadurch von der seiner Rivalen, daß sie so weitgehend von rein militärtechnischen Erwägungen bestimmt wurde - zwar ähnlich wie die russische, aber doch noch weitergehend und noch einseitiger. Wir haben das schon bis ins einzelne verfolgt und gesehen, daß letztlich nur die Angst der Militärs, mit ihren einmal festgelegten Offensivplänen zu spät zu kommen, das Bemühen der europäischen Diplomatie zum Scheitern brachte, auf dem Wege friedlichen Verhandeins und politischer Kompromisse die serbische Krise zu beschwören und einen Ausgleich zwischen Petersburg und Wien zu vermitteln. Die hilflose Abhängigkeit der deutschen politischen Führung von den Plänen der Militärs war der wesentliche Grund für ihr Versagen im entscheidenden Augenblick: am Abend des 30. Juli. Das war nicht einfach Schwäche, sondern Not: nur Deutschland hatte mit einem Zweifrontenkrieg zu rechnen, war also in jedem Fall darauf angewiesen, den Angriffsplänen seiner Gegner zuvorzukommen, wenn es siegen wollte. Und wie hätte Bethmann, der „Zivilist", im kaiserlichen Deutschland die Verantwortung für das Scheitern eines überaus heiklen Feldzugsplanes auf sich nehmen können, wenn die Militärs ihm erklärten, alles hinge von der blitzartig schnellen, überraschenden Durchführung ab? Aber hätte Bismarck sich einen Feldzugsplan, der ihm politisch so eng die Hände band und dessen Durchführung ohne Zweifel England gegen uns ins Feld rufen, also einen Dreifrontenkrieg bewirken mußte, überhaupt gefallen lassen? Es ist schwer vorzustellen. Der von uns schon früher betrachtete Strukturfehler des Bismarckreiches, die unzulängliche Sicherung des Ubergewichtes der politischen über die militärische Autorität (vgl. Band II, Kap. 7) hat sich in der Julikrise von 1914 zum ersten Male als schweres Verhängnis ausgewirkt. Wenn das aber schon im Frieden so war, wie hätte es im Krieg damit besser werden sollen? Der Weltkrieg von 1914 ist das erste Beispiel eines „totalen", d.h. mit dem Einsatz schlechthin aller verfügbaren Kräfte des Volkes geführten modernen Massenkrieges; er ging in der Mobilisierung aller Volkskräfte weit über alles hinaus, was man bis dahin erlebt hatte, und übertraf selbst die düstersten Prophezeiungen des alten Moltke (Band I, S. 273).

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Erstes Kapitel

Seine Durchführung war gar nicht möglich ohne ein geradezu ungeheuerliches Aufgebot von Kriegspropaganda zur Aufstachelung nationalistischer Leidenschaft, von Schmähung, Herabsetzung, ja Verleumdung des Gegners, von Predigt unbekümmerter Siegeszuversicht, aber auch von politischem Haß. Unsere frühere Betrachtung (Band II, K a p . 1 - 2 ) , hat schon gezeigt, daß und warum die parlamentarisch-demokratischen Regierungen der beiden Westmächte besser imstande waren als die Beamtenregierung des kaiserlichen Deutschland, die Massen im Sinn der Kriegspropaganda in Bewegung zu bringen und zu halten. Wir werden später zu erörtern haben, mit welchen Mitteln und in welchem Maße das geschah. Sicher ist, daß nüchterne Staatsvernunft, die auch mitten im K a m p f die Notwendigkeit einer neuen, gesunden, weil gerechten und darum dauerhaften Friedensordnung im Auge behält, dort im Strudel der Leidenschaften verlorenging. H a t t e sie in Deutschland bessere Aussichten, sich zu behaupten? Offenbar nur dann, wenn die kaiserlich deutsche bzw. königlich preußische Beamtenregierung so wie in den Tagen Bismarcks einen Staatsmann großen Formats an der Spitze hatte - so großen Formats, daß seine moralische politische Autorität alle Gegnerschaft und Eifersucht der Militärs überschattete, aber auch die im Kriege tief aufgewühlten Leidenschaften des nationalen Ehrgeizes und Machtwillens, den Imperialismus, Chauvinismus und Militarismus der publizistischen Wortführer und Parteivertreter im Zaum hielt, schließlich und nicht zuletzt das Vertrauen der breiten, in Feld und Heimat kämpfenden Masse auf seine Vernunft und politischen Fähigkeiten gewann und bewahrte. Alles das war aber nur möglich, wenn auch der Monarch, der den kämpfenden Staat repräsentierte, ihm treu blieb und durch seine eigene Popularität das Vertrauen der Nation auf die Kanzlerregierung stärkte. Beides gehörte unabdingbar zum System des Bismarckreiches. War es 1914 noch gegeben? Zunächst ist zu fragen: War dieser Kanzler, der sich während der Julikrise in seinen außenpolitischen Berechnungen so schwer getäuscht und den Militärtechnikern gegenüber zuletzt so hilflos gezeigt hatte, überhaupt imstande, eine eigene politische Linie zu finden, durchzuhalten und der militärischen Kriegsleitung gegenüber zu behaupten? Es ist längst üblich geworden, über seine Führereigenschaften sehr absprechend zu urteilen und die Fehlschläge seiner Politik in der Hauptsache aus Mängeln der Persönlichkeit abzuleiten. Uns scheint es ein Gebot der Gerechtigkeit, zunächst nach den Schwierigkeiten seiner Lage und nach den Grenzen seiner Macht zu fragen, ehe wir uns der Eigenart seiner Persönlichkeit zuwenden.

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Wie weit reichte - das ist die wichtigste Frage - seine politische Autorität im Kriege und auf was stützte sie sich? Letztlich auf nichts anderes als auf das Vertrauen seines kaiserlichen Herren. Es gab weder ein Kabinett von Reichsministern mit selbständiger Verantwortung noch eine Reichstagsmajorität, die ihn, wie in parlamentarisch regierten Staaten, als „ihren" Vertrauensmann ins Amt berufen hatte. Trotzdem brauchte er ständig eine Majorität im Reichstag f ü r die Bewilligung der Kriegskredite und den Erlaß von Kriegsgesetzen, war also weitgehend abhängig davon, daß eine Mehrheit von Volksvertretern ihm Vertrauen schenkte. Dieses Vertrauen sich zu erwerben und in der Aufregung eines ungeheuren, alle Volkskraft verzehrenden, aber im Grunde aussichtslosen Krieges sich zu erhalten, war eine äußerst schwierige Aufgabe - doppelt schwierig für einen hohen kaiserlichen Beamten, der als solcher kein Volksmann war und nicht sein sollte. Sie wurde fast unlösbar, wenn ein offener Zwiespalt eintrat zwischen den Sehnsüchten und patriotischen Wunschträumen des kämpfenden Volkes (oder doch der Publizisten und Politiker, die seine „öffentliche Meinung" machten) und der nüchternen Einsicht des Staatsmannes in die Unwahrscheinlichkeit, ja Aussichtslosigkeit eines vollen Sieges. In solcher Lage offen seine Zweifel bekennen, hieß politischen Selbstmord begehen; sie unterdrücken und sich zuversichtlich stellen, hieß das Volk täuschen, was eines Tages verhängnisvoll werden mußte, wenn der Sieg nun wirklich ausblieb; mit betonter Vorsicht reden, die eigenen Sorgen nur hie und da durchblicken lassen, hieß sich selbst ins Zwielicht setzen und erst recht das allgemeine Vertrauen erschüttern. Der Kanzler war als kaiserlicher Vertrauensmann nur scheinbar unabhängig vom Treiben der Parteien und der öffentlichen Meinung; in Wahrheit wurde er von ihnen ständig in Aufregung und Sorge gehalten und von einer Notlösung, einem Kompromiß zum andern gehetzt. Denn ein kämpfendes Volk, das bis in seine letzten Glieder am Krieg teil hat, läßt sich nun einmal nicht mehr autoritär regieren. Was aber bedeutete für ihn der öffentlichen Meinung gegenüber sein verfassungsmäßiger Rückhalt an der Autorität der Krone? Man muß zugeben, daß Wilhelm II. an Bethmann Hollweg bis Juli 1917 mit erstaunlicher Zähigkeit und Treue festgehalten hat. Er hat ihn gegen eine Kanzlerfronde gedeckt, die vom ersten Tage des Krieges an unablässig und auf vielen Wegen - wir werden sie noch kennenlernen - gegen Bethmann, den „Versager", ihr Kesseltreiben in Gang hielt und laufend Fäden zum H o f e und zu der engsten militärischen Umgebung des Monarchen spann. Er hat sich

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mehrfach geweigert, Deputationen der Rechtsparteien zu empfangen, die gegen Bethmann agitieren wollten, hat auch den Kronprinzen mehrmals energisch abgewiesen, wenn dieser als Mittelsmann der Kanzlerfronde tätig wurde 4 ), und hat den Kanzler erst dann fallen lassen, als ihn die Majorität des Reichstags preisgab und gleichzeitig Hindenburg und Ludendorff seine Entlassung in ultimativer Form, d. h. mit Einreichung ihres eigenen Abschiedsgesuches, forderten. E r muß also ein grundsätzlich sehr starkes Vertrauen zu seinem Berater gehabt haben, das dieser übrigens mit unerschütterlicher Kaisertreue und Bereitschaft, den Monarchen gegen alle öffentliche Kritik zu decken, beantwortete. Wahrscheinlich hat Wilhelm I I . gespürt, daß dieser ernste und gewissenhafte Mann an ethischer Qualität hoch über dem Höfling und Schmeichler Bülow stand, dem er seinen „Verrat" von 1908 nie vergessen hat - und daß er selbst nach Bethmanns Entlassung gänzlich den rücksichtslosen Willensmenschen vom Schlage der Tirpitz und Ludendorff ausgeliefert sein würde 5 ). Diese Aussicht aber mußte ihn um so mehr erschrecken, als er selbst alles andere war als ein Willensmensch und blinder Draufgänger. Schon im Frühjahr 1915 soll er (nach Tirpitz) gelegentlich in halber Verzweiflung geäußert haben: „Er hätte seinen Ratgebern nicht darein geredet; er hätte überhaupt nichts getan und sähe schon, schließlich müsse er allein die Zeche bezahlen." Ein bloßer Stimmungsausdruck - gewiß; aber er läßt doch tief in seine Seele hineinblicken. Welches moralisch-politische Gewicht hatte aber das Vertrauen dieses „Obersten Kriegsherrn" zu seinem Kanzler der Nation gegenüber, zumal seine Autorität selbst nicht mehr unerschüttert war? Wilhelm I I . hat die schwere Vertrauenskrise, in die er 1908 durch die Daily-Telegraph-Affäre geraten war, niemals wieder überwinden können. Dies um so weniger, als er der großen Aufgabe seines kaiserlichen Amtes tatsächlich nicht gewachsen war. Gewiß, er hat im einzelnen nicht selten gesündere Ansichten geäußert (und auch wohl Entscheidungen getroffen) als viele seiner militärischen Ratgeber, vor allem deshalb, weil er nicht primitiv genug war, um deren naiven, oft blinden Glauben an die Überlegenheit der deutschen Waffen ernstlich zu teilen. Aber seine Intelligenz vermochte den Mangel eines wirklich souveränen Willens und eines festen, an Selbstzucht gewöhnten Charakters nicht zu ersetzen. I m Grunde stand er ziemlich hilflos der großen, durch niemanden sonst zu lösenden Aufgabe gegenüber, ein gesundes Gleichgewicht zwischen militärischen und politischen Instanzen zu erhalten und damit einen stetigen Kurs deutscher Kriegspolitik zu ermöglichen. Seine immer wieder erstaun-

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liehen, oft grotesken Rodomontaden verbargen nur eine letzte, tiefe Ängstlichkeit und Unsicherheit. Keinen Augenblick ist er in irgend einem Sinn „Führer" seines Volkes in dessen schwerster Notzeit gewesen. Zur sachverständigen Beurteilung und obersten Leitung der militärischen Operationen war er schon deshalb nicht imstande, weil es ihm dazu an der nötigen Arbeitsamkeit fehlte. Man sieht aus den verschiedensten Berichten von Augenzeugen mit Erschrecken, mit welchen Nichtigkeiten er im großen Hauptquartier seinen Tag hinbrachte, und hört von immer wieder vergeblichen Bemühungen des Kanzlers, ihn zu nützlicher Tätigkeit in Berlin oder Potsdam festzuhalten. Er war aber auch seelisch der schweren Verantwortung als „Oberster Kriegsherr" nicht gewachsen, sondern schwankte beständig im haltlosen Auf und Ab von Stimmungen. Zur Illustration dafür nur wenige Beispiele: Am 21. August 1914 treffen böse Nachrichten vom Einbruch der Russen in Ostpreußen im Koblenzer Hauptquartier ein. Der Kaiser, in sehr trüber Stimmung, wie Admiral von Müller berichtet, geht stundenlang mit den Chefs des Marine-und Militärkabinetts im Schloßgarten auf und ab. „Schließlich setzte er sich auf eine Bank und sagte: ,Setzt Euch auch!' Die Bank w a r sehr kurz. Wir holten uns also eine andere Bank herbei. D a sagte der Kaiser: ,Verachtet Ihr mich schon so, daß sich niemand mehr neben mich setzen will?' Das war nicht nur eine Redensart. Er sah sich schon gemieden, weil seine Politik dahin geführt hatte, daß große Teile seines Landes vom Feinde überschwemmt wurden." 6 ) Am nächsten Tage bringen ihn Siegesmeldungen aus Lothringen in Jubelstimmung, und seine Umgebung ist in solchen Fällen stets in Sorge, welche knabenhaften Renommagen er vor Tischgästen äußern wird: von bergehohen Leichenhaufen an der Front u.dgl. Nach einer Frontfahrt während der Märzoffensive 1918 erklärt er bei einem Glase Sekt: „Wenn jetzt ein englischer Parlamentär komme, um den Frieden zu erbitten, so müsse er erst vor der Kaiserstandarte knien, denn es handle sich um den Sieg der Monarchie über die Demokratie." Dem Vertrauensmann Wilsons, Oberst House, der ihn im Winter 1915/16 mit dem Angebot einer amerikanischen Friedensvermittlung aufsuchte, hat er erklärt: „Ich und meine Vettern Georg und Nikolaus werden Frieden schließen, wenn die Zeit dafür gekommen ist." 7 ) Im September 1915, berichtet Graf Rödern, damals Staatssekretär des Elsaß, kommt er von einer Truppenbesichtigung aus den Vogesen, bei der ihm die Generäle Gaede und von Falkenhausen die Ohren vollgeklagt haben über die nationale Unzuverlässigkeit der Elsässer, an den Straßburger Bahn-

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hof. Dort überfällt er den ihn empfangenden Staatssekretär sogleich mit lauter, allen Umstehenden deutlich vernehmbarer Drohrede: „Er habe schöne Dinge von den Elsässern gehört, alle Notabein müßten heraus, hier hülfe nur totschießen; die Elsässer mit ihren unangenehmen, verkniffenen Gesichtern seien viel schlimmer als die Lothringer." Und dann weiter bei der Mahlzeit im Hofzug zu Graf Rödern und dem Staathalter von Dallwitz: man solle den Generalvikar des Metzer Bischofs am Domturm aufhängen lassen; und zum Abschied: „Also immer feste aufhängen und totschießen und keine Rücksicht auf Geistliche und Landtagsabgeordnete nehmen!" Natürlich nahm weder er selbst noch seine Umgebung solche Rodomontaden ernst; als Rödern sich besorgt bei dem Kabinettschef von Valentini erkundigte, ob etwa Seine Majestät mit der Verwaltung des Elsaß unzufrieden sei, war die Antwort: „Ach Unsinn, der Kaiser hat vor seinen Generälen wieder einmal eine Komödie aufführen wollen 8 )." Das war es: wer ihn kannte, nahm ihn zuletzt nicht mehr ganz ernst. Diese merkwürdige Persönlichkeit war niemals zu voller Männlichkeit ausgereift — trotz unzweifelhaft starker, sehr vielseitiger und beweglicher Intelligenz. Er besaß nur die Attitüde, nicht die seelische Kraft und echte Würde des Herrschers, und so ist es kein Wunder, daß er, anders als sein geistig so viel bescheidener wirkender Großvater Wilhelm I., im Krieg rasch und völlig hinter seinen Beratern im Schatten verschwand. Weder seine Kanzler noch seine Heerführer konnten an ihm einen wirklichen Halt finden. Deshalb beschränkten sie ihre Vorträge bei ihm auf das Allernotwendigste - was er selbst sehr bitter empfand 9 ) - und waren niemals sicher, ob er eine mühsam ihm abgerungene Entscheidung auch wirklich durchhalten würde. Der Nation gegenüber hatte nach alledem die Autorität des Kanzlers am Vertrauen des Monarchen keine wirkliche Stütze. Noch weniger an dem der Bundesfürsten; denn wenigstens ein Teil von diesen schwamm (wie sich noch zeigen wird) einfach mit im Strom der aufgeregten öffentlichen Meinung, proklamierte selber alldeutsche Kriegsziele (in Denkschriften, gelegentlich auch in Reden) und war so eifrig darauf bedacht, für seine jeweilige Hausmacht einen möglichst stattlichen Anteil an der großen, allgemein erwarteten Siegesbeute zu gewinnen, daß daraus fast vom ersten Tage des Krieges an dem Kanzler schwere Verlegenheiten erwuchsen10). Wir werden noch sehen, wie ernste Gefahr ihm gerade von hier aus drohte und welche Mühe besonders der bayerische Ministerpräsident Graf Hertling hatte, den „schlappen Kanzler" vor dem Übelwollen des bayerischen Königs zu decken. Anders

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stand es freilich mit der hohen Ministerialbürokratie der Bundesländer, mit der Bethmann nun schon so viele Jahre im Bundesrat zusammenarbeitete. Hier besaß er fortdauernd großes Vertrauen. Weil er wußte, daß er immer auf die warme Zustimmung dieses Gremiums rechnen konnte, hat er im Kriege nicht weniger als fünfzehnmal den von Bismarck geschaffenen, aber unter ihm völlig bedeutungslosen „Bundesratsausschuß f ü r auswärtige Angelegenheiten" zusammentreten lassen, um sich so einen gewissen Rückhalt bei den Bundesregierungen zu sichern 11 ). Aber praktisch gewann er damit sehr wenig. Denn der Bundesrat war zwar verfassungsrechtlich der eigentliche Träger der Souveränität des Bundesstaates, praktisch aber nur eine Körperschaft diplomatischer, von ihren Regierungen abhängiger Beamter ohne eigentliches politisches Schwergewicht, fast mehr eine Verwaltungs- als eine politische Behörde. Unterstützung fand Bethmann im allgemeinen auch bei seinen preußischen Ministerkollegen, deren Conseil er auch mehrfach zur Beratung wichtiger politischer Fragen der Reichspolitik zusammenberief. Aber der f ü r das Bismarckreich charakteristische Dualismus zwischen dem Reich und Preußen, dem mächtigsten der Bundesstaaten, hat nicht nur die Behandlung des polnischen Problems (und der sog. Ostfragen überhaupt) erheblich kompliziert, sondern vor allem innerpolitisch sich während des Krieges geradezu verhängnisvoll ausgewirkt. Wie schon Caprivi an diesem Dualismus, dem unversöhnlichen Gegensatz zwischen liberaler Reichspolitik und hochkonservativer H a l tung des preußischen Junkerparlaments und Ministeriums, gescheitert war, so hat auch Bethmann Hollweg viel N o t damit gehabt. Sobald er anfing, u m der Erhaltung einer einheitlichen nationalen Front willen an das preußische Dreiklassenwahlrecht zu rühren, rief er eine erbitterte Gegnerschaft altpreußischen Elements auf den Plan, die seinen Sturz mitbewirkt hat. Das wichtigste und schwierigste Problem war für den Reichskanzler im Kriege natürlich sein Verhältnis zur Obersten Heeresleitung. Siegreiche Feldherren werden immer und überall rasch von der Volksgunst umjubelt, weil sie handfeste Erfolge aufweisen können; f ü r den Staatsmann sind solche Lorbeeren, so lange der Krieg noch andauert, kaum zu gewinnen. Das M a ß seiner öffentlichen Autorität wird also immer nur begrenzt sein, und er wird es deshalb immer schwer haben, sich gegen den Willen militärischer Volkshelden politisch durchzusetzen. Das war in England und Frankreich nicht anders, wie wir schon früher gesehen haben (Band II, K a p . 1-2). Bethmann Hollweg ist denn schließlich auch über die Feindschaft der Obersten Heeres-

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leitung zu Fall gekommen. Aber zunächst drohte ihm von daher noch keine Gefahr. Der schnelle Vormarsdi der Deutschen durch Belgien nach Nordfrankreich seit Mitte August weckte zwar stürmische Begeisterung in der Heimat und hochfliegende Hoffnungen bei den Politikern, geriet aber zu bald ins Stocken, um der Obersten Heeresleitung besondere Popularität zu verschaffen. Der plötzliche Rücktritt Moltkes von der Leitung der Operationen nach dem Scheitern der Marne-Offensive wurde zwar nach außen durch Scheinmaßnahmen zunächst verhüllt, blieb aber doch nicht lange verborgen und schwächte das Zutrauen der öffentlichen Meinung zur obersten militärischen Führung; dies um so mehr, als auch der Nachfolger, General von Falkenhayn, vorläufig nicht mehr tun konnte, als mit Geschick und Energie den Rückzug unserer rechten Flügelarmee so rechtzeitig zum Halten zu bringen, daß eine Uberflügelung durch den Gegner vermieden wurde. So kamen zunächst weder die erste noch die zweite „ObersteHeeresleitung" als politische Rivalen des Kanzlers in der öffentlichen Meinung ernsthaft in Betracht. Man sollte meinen, das hätte erst recht von Tirpitz gelten müssen. Mit wieviel A u f w a n d von Propaganda hatte er die große Schlachtflotte, die Lieblingsschöpfung des Wilhelminischen Reiches, aufgebaut und als sicherstes Mittel gerühmt, um die Engländer vom Krieg abzuschrecken! N u n war nicht nur dieses Mittel fehlgeschlagen, sondern der ganze Aufbau der Flotte erwies sich als Fehlkonstruktion: die Stunde der großen Bewährung in der Seeschlacht blieb aus, die Truppentransporte der Briten nach Frankreich und die Fernblockade der Nordsee vollzogen sich praktisch ungestört. Welche furchtbare Enttäuschung! Aber das im Frieden erworbene Ansehen des Staatssekretärs als „starker Mann" war in den „nationalen" Kreisen nicht so leicht zu erschüttern. Natürlidi war er auch nicht um Argumente verlegen, die seine Flottenpolitik trotz allem rechtfertigen sollten: sie allein habe bewirkt, daß Englands Haltung gegenüber Deutschland seit 1912 friedlicher wurde. N u r zwei Jahre noch weiteren Friedens, bis zur vollen Auswirkung des „Flottengesetzes", und die Briten hätten keinen Krieg mehr gewagt 113 )! Aber die völlige Unfähigkeit der deutschen Diplomatie, die Julikrise zu meistern und der verhängnisvolle Einfall in das neutrale Belgien hätten es fertig gebracht, das schon halb zum Ausgleich gestimmte England in den Krieg hineinzuzerren nun müßte er mit unzureichenden maritimen Streitkräften durchgefochten werden. Schon am 2. August hat Tirpitz (gemeinsam mit Moltke) seinen Feldzug gegen die totale „Deroute" des Auswärtigen Amtes - indirekt gegen

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den Kanzler — beim Kaiser begonnen (s. Band II, S. 339), den er seitdem mit allen Mitteln weiter betrieb, vor allem durch Beeinflussung der öffentlichen Meinung - freilich in sehr vorsichtiger Form, ohne sich persönlich bloßzustellen, vorzugsweise durch Mittelsmänner zu den Rechtsparteien und zum Kronprinzen 12 ); erst nach seiner Dienstentlassung im März 1916 ist er offen als Oppositionsführer hervorgetreten. Was ihm zu Hilfe kam, war zunächst das alte Mißtrauen der extremen Nationalisten vom Flottenverein gegen den „anglophilen" Kanzler, aber auch die Kritik an der Diplomatie des Juli 1914, die sich besonders in Offizierskreisen und unter manchen Vertretern der Berliner Intelligenz verbreitet zu haben scheint, seit mit dem Eintritt Englands in den Krieg der furchtbare Ernst unserer Lage ganz deutlich wurde 13 ). Uber die „Unfähigkeit" des Auswärtigen Amtes zu lästern, war ja schon lange Mode unter den höheren Militärs. Bethmanns offene Erklärung am 4. August, unser Einmarsch in Belgien sei ein Rechtsbruch gewesen, erschien den Nationalisten und Tirpitz als ein klarer Beweis seiner Schwäche. Vor allem aber gingen von diesem Kreise Gerüchte aus, die enttäuschende Passivität unserer Flotte sei in Wahrheit Schuld des Kanzlers, der aus anglophilen und liberalen Vorurteilen England zu schonen wünsche und von seiner alten Illusion nicht loskomme, das Inselvolk lasse sich versöhnen und zum Frieden gewinnen. Das war nun offenbar bösartige Verleumdung. Vergeblich hat Tirpitz schon während des Krieges und erst recht nachher die Schuld für das Ausbleiben der so oft vorausgesagten großen Seeschlacht auf andere abzuschieben gesucht. Wir sehen heute ganz deutlich 14 ), daß er selbst niemals, vor allem nicht in den entscheidenden ersten Kriegswochen, gewagt hat, dem Kaiser oder der Flottenleitung das Risiko einer großen, entscheidenden Seeschlacht in der N ä h e der englischen Küsten (und anders war sie nun einmal nicht zu haben!) zuzumuten. Er drängte zwar beständig beim Admiralsstabschef auf „größere Aktivität", schlug aber in concreto nichts Kühneres vor als eine Seeschlacht bei Helgoland, falls die Engländer dorthin kämen (was sie natürlich nicht taten). Oder „Aufklärung im weiteren Maße, eventuell mit der ganzen Flotte", in der Hoffnung, dabei nur auf kleinere Teile der britischen Flotte zu stoßen, oder schließlich einen so kurzen Vorstoß der Hochseeflotte gegen den Kanaleingang bzw. die Themsemündung, daß die Flotte „spätestens mittags" wieder den Rückmarsch in die deutsche Bucht antreten könnte, ehe die englische Nordflotte herankäme - und auch das erst zu einem Zeitpunkt, wenn das IV. und V. Geschwader (Reservegeschwader) fertiggestellt wäre,

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also nicht gleich im August. Sowohl der Admiralsstabschef wie der Chef der Hochseeflotte und der Chef des Marinekabinetts hielten das alles f ü r ebenso zwecklos wie gefährlich und technisch undurchführbar. Die Aufzeichnungen des Staatssekretärs zeigen denn auch deutlich, daß er keineswegs in Gewißheit des militärischen Erfolgs, sondern nur um des „Prestiges" willen die Flotte zum Großkampf einsetzen wollte: Sie dürfe unter keinen Umständen jetzt passiv bleiben, weil sonst nach dem Krieg kein Geld mehr f ü r Flottenbauten bewilligt würde (an Pohl, 16. 9.1964). Das führte zu sehr unerquicklichen, immer gereizter werdenden Debatten zwischen ihm, der nur als Berater im Großen Hauptquartier anwesend war, und den eigentlich Verantwortlichen der Flottenleitung. Bald war es so weit, daß er den Admirälen als ewiger Nörgler und unpraktischer Doktrinär erschien. Da aber auch Moltke und der Kriegsminister Falkenhayn sich über die Passivität der Marine ärgerten (zumal sie außerstande war, auch nur im geringsten die britischen Truppentransporte im Kanal zu stören) und ihrem Ärger gelegentlich drastischen Ausdruck gaben (Falkenhayn meinte einmal, wenn die Flotte nicht schlagen könne, wäre es doch besser, ihre Besatzungen an Land zu verwenden!) 15 ), sah sich Tirpitz auch noch genötigt, die Passivität seines Kriegsinstrumentes den Soldaten gegenüber zu verteidigen - eine für ihn höchst peinliche Situation. Das Ganze war ein Streit der Militärs untereinander, in den sich Bethmann Hollweg um so weniger einzumischen brauchte, als er (nach seinem eigenen Zeugnis) von einem förmlichen Antrag beim Kaiser, die große Seeschlacht zu wagen, nie etwas gehört hat 16 ). Er hat allerdings in den ersten Augusttagen und dann wieder nach dem unglücklichen Seegefecht bei Helgoland (28. August) den Admiralstabschef von Pohl gesagt: wir brauchten unbedingt beim Friedensschluß eine große F l o t t e - w a s von Tirpitz sofort als Opposition gegen jeden aktiven Flotteneinsatz und als anglophile Verständigungsbereitschaft ausgelegt wurde, obwohl Bethmann ebenso wie Pohl vor allem daran dachte, daß nach einer (praktisch nutzlosen) Zerstörung der Flotte unsere Küsten ohne Schutz, wir also England wehrlos preisgegeben sein würden 1 7 ). Außerdem hat es der Kanzler am 8. August dem Admiralsstabschef, wie dieser berichtet, als „dringend erwünscht" bezeichnet, daß wir im Seekrieg gegen England vorläufig möglichst zurückhielten, da ihm unser Botschafter Lichnowsky auf Grund von letzten Gesprächen in London versichert habe, England wünsche sich möglichst bald aus dem Kriege herauszuziehen - eine Neigung, die nicht durch blutige Ereignisse gehemmt werden sollte. Als ihm Pohl ein Abstoppen des Seekrieges als unmöglich bezeichnete, ließ er seinen

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Wunsch - anscheinend mit einiger Erregung — fallen. Das ist bemerkenswert als Zeichen militärpolitischer Unsicherheit des Kanzlers, die uns noch mehr beschäftigen wird, blieb aber f ü r den Gang der Ereignisse völlig belanglos. Es hat audi nicht etwa zur Entfremdung zwischen Pohl und Bethmann geführt. Vielmehr sieht man bis Februar 1915 beide Männer und den Chef des Marinekabinetts von Müller in voller Harmonie zusammenarbeiten. Nach alledem hat ein eigentlicher Kampf um militärische oder politische Fragen zwischen dem Kanzler und der Marineleitung zu Kriegsanfang gar nicht stattgefunden. Den sollte erst der Streit um den U-Boot-Krieg seit 1915 bringen. Tirpitz bot ein Vorspiel dazu in seinem bekannten Interview mit dem amerikanischen Journalisten von Wiegand (22. November 1914, veröffentlicht 22. Dezember), in dem er — indirekt, aber ohne jede amtliche Ermächtigung - eine deutsche Unterseebootsblockade rings um England ankündigte: angeblich zur Erkundung der amerikanischen Stimmung, in Wahrheit natürlich, um die deutsche Politik auf dieses Kriegsmittel festzulegen. Es war ein politisch geradezu raffiniertes Mittel 18 ), um in der öffentlichen Meinung der Nation neue, bald ins Phantastische sich steigernde Hoffnungen auf die kriegsentscheidende Tätigkeit der Marine zu wecken und so die schwere Enttäuschung über die Schlachtflotte vergessen zu lassen - in einem Zeitpunkt, in dem noch längst keine ernsthaft leistungsfähige U-Boot-Flotte existierte! Er selbst tauchte so aus halber Vergessenheit wieder als große Figur auf der politischen Bühne auf, und am Schluß des Interviews wurde denn auch bemerkt, Tirpitz gelte allgemein als der Nachfolger Bethmanns auf dem Kanzlerposten. Das sah nach einer Kampfansage aus. Aber wenn es eine war, so schlug sie fehl: der Mißerfolg seiner Schlachtflotte und der böse Ausgang des Seegefechts bei Helgoland hatten den Kaiser so tief verstimmt, daß er von Tirpitz jetzt nicht mehr viel wissen wollte, ihm vorwarf, die falschen Schiffstypen gebaut zu haben und mit dem Marinekabinettschef schon über seine spätere Entlassung sprach 19 ). Einstweilen bedeutete also Tirpitz noch keine unmittelbare Gefahr für den Kanzler, wenn er auch fleißig daran arbeitete, dessen moralisch-politische Autorität zu unterwühlen. Noch weniger hatte Bethmann zunächst von den beiden Generälen zu befürchten, die allein das Glück hatten, durch einen großen kriegerischen Triumph zu Volkshelden zu werden: Hindenburg und Ludendorff. Der rasch ins Legendarische wachsende R u h m dieser beiden Männer ist allein auf dem Hintergrund der Enttäuschungen an der Westfront und zur

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See verständlich. In ihrer tiefen Beunruhigung klammerte sich die Nation gleichsam an ihr vermeintliches Genie, das nach dem gewaltigen Erfolg von Tannenberg und der nachfolgenden raschen Säuberung Ostpreußens vom Feinde als unbezweifelbar galt. Hier im Osten wenigstens schien sich die Aussicht zu eröffnen, den unerträglichen Druck der feindlichen Einkreisung zu sprengen. Hätten die beiden Volkshelden von Anfang an in enger Verbindung mit dem Alldeutschen, den innerpolitischen Gegnern Bethmann Hollwegs, und mit Tirpitz gestanden, so hätten sie deren Opposition schon in den ersten Kriegsjahren entscheidend verstärkt und die politische Autorität des Kanzlers vollständig verdunkelt. Zum Glück für ihn waren sie aber von Hause aus unpolitische Nur-Soldaten, und Ludendorff (vielleicht in Erinnerung an die großen Verdienste Bethmanns um die Durchsetzung der großen Wehrvorlage von 1912/13?) offenbar zunächst noch frei von Mißtrauen gegen dessen politische Haltung. Dies um so mehr, als der Kanzler sich seinerseits um ein gutes Verhältnis zum Hauptquartier Oberost eifrig bemühte und, wie noch zu erörtern sein wird, zum militärischen Talent der Sieger von Tannenberg großes Zutrauen hatte. Entscheidend für die Haltung Ludendorffs wird gewesen sein, daß er in Bethmann einen Verbündeten in seinem Kampf gegen Falkenhayn und für die Verstärkung der Ostfront sah und nur mit Hilfe des Kanzlers hoffen durfte, eines Tages selbst an die Spitze der Armee zu gelangen. Jedenfalls äußerte er sich über diesen um so günstiger, je tiefer er mit Falkenhayn zerfallen war. Nicht ohne Überraschung (im Gedanken an die späteren Konflikte) liest man die Worte, mit denen er (in Briefen an den Königsberger Journalisten Wyneken) den Kanzler im Dezember 1915 gegen die „nationale" Opposition verteidigte: „Natürlich ist es für einen Mann, der nicht die volle Verantwortung hat" (wie Ludendorff selbst), „leicht zu sprechen und zu fordern, aber ebenso muß verlangt werden, daß man sich in die Situation des verantwortlichen Leiters hineindenkt, von dem jetzt schon bindende Entschlüsse" (für den Frieden mit Annexionen) „zu verlangen m. E. verfrüht wäre. Mag auch der Reichskanzler sich schwer entschließen, so wird er es doch schon tun, und ich denke nach der starken Seite... Ich weiß, wie sehr der Herr Reichskanzler auf den Feldmarschall hört. Ich bin deshalb vollständig beruhigt nach dieser Richtung hin. Leider wird an vielen Stellen gegen den Herrn Reichskanzler maßlos agitiert. Es gibt zuviel unsachlichen Ehrgeiz bei uns. Neue Männer wären wohl kaum besser, nach vielen Richtungen hin wohl schlechter. Jeder Wechsel wird nach außen hin eine Einbuße an Macht bedeuten, sogenannte ,energische' Männer machen es

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auch nicht. Hier macht es vornehmlich der Waffenerfolg" (21. 12. 1915). Selbst zu Beginn des Streites um den U-Boot-Krieg von 1916 hielt der General noch an Bethmann fest, erklärte ihn bei Beratungen der „nationalen" Oppositionsführer für „vorzüglich" und kritisierte lebhaft die Intrigen der Konservativen gegen ihn 20 ). Er selbst, schrieb er damals an Wyneken, sei „weiß Gott nicht einverstanden mit allem, was der Reichskanzler tut" und wünsche ihm „mehr impulsive Stärke", aber er sei doch nicht für alles verantwortlich. Das ewige Gerede von Friedenszielen sei innenpolitisch vielleicht geboten, nach außen aber schädlich. Schließlich könne nur „der Erfolg dem Schritt recht oder unrecht geben. Das aber können wir noch nicht beurteilen. Kritik ist leichter als Selbsthandeln, das habe ich so oft erlebt." Es fehle an jedem Ersatz für Bethmann. Falkenhayn lehne er entschieden ab. „Wir sind nicht erbaut über unsere Politik vor dem Kriege, auch jetzt könnte sie teilweise besser sein, aber schließlich hat sie doch jetzt das meiste erreicht. Ich möchte die Gegenfrage stellen: wird das Auswärtige Amt mit der Kriegführung zufrieden sein? Moltke sagte wohl mal, die Politik setzt erst ein, wenn der Waffenerfolg gesichert und der Feind geschlagen ist. H a t denn die Kriegführung der Politik die Bahn freigemacht? Man muß sich auch dies klar machen, um die Schwierigkeiten des Reichskanzlers klarzumachen 21 ." So sprach Ludendorff, solange er noch nicht selbst die militärische Kriegsleitung in Händen hielt. Er sah damals noch, wie eng begrenzt die Möglichkeiten auswärtiger Politik im totalen Volkskrieg sind, solange die Stürme des Kampfes noch rasen und er Enderfolg ungewiß bleibt; später hat er es nicht mehr gesehen. Bethmann Hollweg ist von seinen Gegnern immer wieder vorgeworfen worden, er „lasse die Zügel schleifen"; er versäume es, seinerseits der Kriegführung die großen Ziele zu setzen, die das Volk begeistern und zu äußerster Anstrengung antreiben würden. Er selbst hat im April 1915 zu einem Artikel des Grafen Reventlow, der solche Vorwürfe erhob, am Rande bemerkt: theoretisch sei die Forderung ganz richtig, daß der Staatsmann dem Soldaten die Aufgabe stellt. Aber seit dem Scheitern der großen Offensiven in West und Ost bliebe uns zwangsläufig nichts weiter übrig als die Defensive, und es sei nur noch eine rein technische Frage, wie diese am besten durchgeführt werden könnte 22 ). In der Tat: was war die konkrete Aufgabe der politischen Reichsleitung in einem solchen Kriege? Konnte ihre „Führung" in etwas anderem bestehen als etwa darin, daß sie die Kriegsstimmung des Volkes anfachte, ohne sie doch zur Raserei werden zu lassen, vielmehr sich bemühte, Explosionen blinder Leidenschaft und kriegerischer

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Gewalttätigkeiten, die einen künftigen Friedensschluß gefährden mußten, nach Möglichkeit zu unterdrücken, die innere Einigkeit des Volkes und den „Burgfrieden" der Parteien im Interesse der „nationalen Front" so lange als möglich zu bewahren, das kämpfende Heer durch kriegsmäßige Organisation der Wirtschaft und Beschaffung finanzieller und materieller Kriegsmittel zu unterstützen, schließlich aber unser Kriegsbündnis durch Anwerbung neuer Bundesgenossen nach Möglichkeit zu verstärken und alles zu tun, um den Eintritt neuer Feindstaaten in die Reihe unserer Gegner zu verhindern? Genau dies war die Linie der Bethmannschen Kriegspolitik. Die Frage ist nur, ob er in der Lage und der rechte Mann dazu war, sie durchzuhalten. Wer heute seine Kriegsreden im Reichstag liest, wird deutlich spüren, wie er trotz aller (oft übertreibenden) Anklagen gegen die Politik unserer Gegner und aller polemischen Auseinandersetzung mit feindlichen Ministerreden es bewußt vermeidet, in fanatische Haßpredigt zu verfallen und auf die Ebene politischer Boxkämpfe abzusinken. Diese Kriegsreden sind gleichwohl von starkem, oft mitreißendem patriotischem Schwung beseelt und haben ihre Aufgabe, in der Nation immer von neuem Mut und Hoffnung zu wecken, ohne Zweifel erfüllt. Der männlich feste, klare und doch lebhaft bewegte Vortrag hat ihre Wirkung offenbar noch besonders verstärkt 23 ). Aber hetzerisch wirken sie nie, sondern immer gemäßigt in ihrer Kampfesweise. Was ihnen ihre besondere Wärme gibt, ist das leidenschaftliche Bemühen, die in den ersten Kriegswochen entstandene politische Volksgemeinschaft über alle Partei- und Klassengegensätze hinweg so lange als möglich festzuhalten und zu sichern - ein Bestreben, das den Kanzler bekanntlich Ende 1914 zum Verbot öffentlicher Kriegszieldiskussionen und später zum Versuch einer Wahlrechtsreform in Preußen geführt hat. Ohne Zweifel war ihm das mehr als ein bloß taktisches Hilfsmittel, um die Linksparteien zu fortlaufender Bewilligung der Kriegskredite zu bewegen: es war ihm ein echtes Herzensanliegen. Das kaiserliche Wort vom 4. August: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche" - zweifellos der weitaus wirksamste Ausspruch, den Wilhelm II. je getan hat —, entsprach ganz genau seinem Empfinden und war von ihm so formuliert. Es war ihm deshalb ein tiefer Schreck, als er die Konservativen am 4. August 1914 „eiskalt da sitzen" und sich von der Idee der neuen Volksgemeinschaft ausschließen sah 24 ). Dem demokratischen Abgeordneten Haussmann, der ihm sorgenvoll entgegenhielt, aus diesem Krieg werde er nicht wie Bismarck 1870 ein großes Reich heimbringen (4. Oktober 1914), erwiderte er mit Lebhaftigkeit: „Aber die Einigkeit und damit eine

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Nation. Das sind wir in diesem Krieg geworden. Es müssen die Schranken fallen. Es fängt nach dem Krieg eine neue Zeit an. Die Standesunterschiede sind so stark zurückgetreten wie noch nie 25 )." Nun: schon dadurch, daß die Sozialdemokraten mit weit strengerer Konsequenz als alle anderen Parteien an dem Prinzip des reinen Verteidigungskrieges festhielten, war eine Erhaltung der nationalen Einheitsfront nur möglich, wenn die Regierung sich von chauvinistischen Kriegszielen frei hielt, zum mindesten nicht öffentlich darauf festlegen ließ. An diesem Punkt aber begannen die Schwierigkeiten, deren Bethmann Hollweg nicht mehr ganz Herr geworden ist. Sie kündigten sich schon in der ersten Kriegssitzung des Reichstages an, in der die Sozialdemokraten, um keine Gegenrede der Konservativen zu provozieren, in ihrer Erklärung einen Passus fortlassen mußten, der sich ausdrücklich gegen den Eroberungskrieg wandte. Das Kaiserwort in der Thronrede: „Uns treibt nicht Eroberungslust", stieß also sogleich auf Widerstand der Rechten26). In denselben Tagen gab es auch schon die ersten Differenzen des Kanzlers mit den Militärs. Schon in der Nacht vom 30. zum 31. Juli, also ehe auch nur die russische Gesamtmobilmachung feststand, ließ Moltke durch den Major von Haeften einen kaiserlichen „Aufruf an Mein Volk" ausarbeiten und bereits am Vormittag des 31., also lange vor der Kriegserklärung an Rußland, von Wilhelm II. unterzeichnen - zur Empörung des Kanzlers, der überhaupt nicht gefragt war, die Proklamation zuerst anhielt und für überflüssig erklärte, schließlich aber doch in umgearbeiteter Form (am 15. 8.) hinausgehen ließ27). Am nächsten Tag folgte der Entwurf eines Aufrufs an die Polen, ebenfalls durch von Haeften verfaßt, der in Millionen Exemplaren durch ein Luftschiff über den Städten Russisch-Polens abgeworfen werden sollte und der den Polen die nationale Selbständigkeit zusicherte. Moltke war sehr empört, als Bethmann Hollweg das Versprechen nationaler Selbständigkeit herausstrich und die Entscheidung hinauszögerte: „Dieser Kanzler weiß heute noch nicht, ob wir Krieg oder Frieden haben." Haeften erreichte denn auch im Auswärtigen Amt, daß man dort seinem Entwurf zustimmte (Unterstaatsekretär Zimmermann meinte, bei siegreichem Ausgang des Krieges müßte Polen auf alle Fälle Pufferstaat werden!). Der Reichskanzler dagegen teilte die schweren innenpolitischen Bedenken des preußischen Innenministers von Loebell und des Staatssekretärs Delbrück gegen die Errichtung eines selbständigen Polen und ließ sich auch durch Haeftens Hinweis darauf nicht beirren, daß der Aufruf ja nicht bindend sei, da ein „Oberkommando

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der verbündeten Heere", das ihn unterzeichnen sollte, nur fingiert sei. Schließlich gab er aber dann doch nach, als ihn der Generalstabsoffizier auf Bismarck hinwies, der ja 1866 nicht gezögert habe, einen Aufstand der Ungarn und Tschechen zu entfesseln mit Versprechungen, die er gar nicht zu halten gedacht hätte 28 ). Der Vorgang ist bezeichnend für Bethmanns politische Haltung: er ärgert sich über die Übergriffe des Militärs in seine Sphäre, zögert die Entscheidung hinaus, zieht Berater herbei, erwägt lange hin und her und findet schließlich ein Kompromiß. Gewissenhaft und vorsichtig, aber langsam von Entschluß und ohne ganz sicheren politischen Instinkt - so ist er auch dem ungeheuren Ansturm von Wünschen nach deutscher Machterweiterung begegnet, der gleich nach den ersten Siegen deutscher über französische Truppen und vollends nach dem Triumph von Tannenberg sich in der öffentlichen Meinung Deutschlands erhob und die Reichsleitung mit sich fortzureißen suchte. Nicht ohne Erschrecken blickt der Deutsche von heute, nach dem Erlebnis von zwei Kriegskatastrophen innerhalb eines Menschenalters, auf den jähen Umschlag von der Idee des Verteidigungskrieges zu der des Eroberungskrieges zurück, der sich damals bei uns vollzog - nicht im ganzen Volk natürlich, aber doch in weitesten Kreisen des Bürgertums, vor allem in der Intelligenzschicht. Es wirkt so, als hätte die Deutschen plötzlich ein Siegestaumel ergriffen, der sie blind machte für den furchtbaren Ernst ihrer Lage, und die Frage wird uns noch viel beschäftigen, ob und in welchem Maße etwa dieser jähe Ausbruch überschwenglicher Siegeshoffnungen und teilweise abenteuerlicher, ja manchmal ins Absurde und Brutale gesteigerten Machtträume unsere Lage noch verschlimmert hat, da er die bösesten Anklagen antideutscher Propaganda des Auslands gegen den brutalen „Militarismus" des deutschen Volkes zu bestätigen schien, also Wasser auf ihre Mühlen lieferte, vor allem: einen Verständigungsfrieden vollends unmöglich zu machen drohte. Ohne Zweifel: alles, was ein einseitig kämpferischer, also an „militaristischer" Gesinnung, verwurzelt in preußisch-deutschen Traditionen, in unserer Nation lebte, hat das Erlebnis des großen Krieges, die Not des nationalen Existenzkampfes und die Leidenschaft des Siegenwollens um jeden Preis, aufs äußerste gesteigert und in helles Licht gerückt 29 ). Das „Problem des deutschen Militarismus", von dem dieses Werk handelt, gelangt damit auf seinen Höhepunkt. Es genügt aber zu seiner Lösung ganz und gar nicht, daß man immer wieder auf die „militaristische" Tradition Altpreußens verweist oder dem deutschen Volk als ganzem eine besondere gewalttätige, „imperialistische"

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N a t u r zuschreibt. Wer als Historiker über die billigen Schlagworte der Publizisten nicht hinausgelangt, hat seinen Beruf verfehlt. Gerade der unerschütterliche Glaube, mit dem das deutsche Volk 1914 ins Feld rückte, es sei Opfer eines böswilligen Uberfalls, einer systematischen „Einkreisung" durch seine Neider und Rivalen, vor allem Englands, geworden - gerade dieser Glaube an den reinen Defensivcharakter des uns „aufgezwungenen" Krieges bildete die psychologische Voraussetzung für die sogenannte Kriegszielbewegung. Gewiß: jener Glaube war naiv, von stark vereinfachenden, ja legendären Geschichtsvorstellungen getragen - ein Mythos, wenn man so will, wie er alle populären Bewegungen zu beseelen pflegt - , aber doch nicht publizistische Mache, sondern die natürliche Folge der ständig zunehmenden Isolierung und Gefährdung Deutschlands in der Welt seit der Jahrhundertwende. War es nicht - so fragte man sich - die Unversöhnlichkeit Frankreichs, des alten „Erbfeindes", die es in das Militärbündnis mit Rußland hineingetrieben hatte, und war sie nicht zuletzt daran schuld, daß wir den Krieg mit verkehrter Front und als Zweifrontenkrieg schlagen mußten? U n d lastete nicht die seit 1909 so rasch anwachsende Macht des russischen Riesenreiches eben dank dieses Bündnisses als ständige Bedrohung auf Mitteleuropa? Es war ganz natürlich, ja unvermeidlich, daß das Vordringen der deutschen Heere tief in Feindesland in Deutschland die Hoffnung und den Wunsch weckte, nun, da es einmal zur blutigen Auseinandersetzung gekommen war, ein für allemal dem dumpfen Druck ein Ende zu machen, der unsere Politik so lange schon darniederhielt, den Ring unserer Gegner zu sprengen und Deutschlands Grenzen besser als bisher zu sichern. Wie das Inselreich England „besiegt" werden könnte, davon hatte zunächst niemand eine rechte Vorstellung, seit es klar wurde, daß mit der Tirpitzschen Schlachtflotte nichts Entscheidendes auszurichten, das U-Boot aber noch nicht als Offensivwaffe großen Stils entwickelt war. U m so dringender wurde gefordert, die Erfolge des Landkrieges auszunutzen: zur Schaffung eines Sicherheitsgürtels an unseren Grenzen, wenn möglich aber auch dazu, eine bessere Ausgangsbasis an der flandrischen und nordfranzösischen Küste für den Seekampf mit England zu gewinnen. Die Tatsache, daß Grenzverschiebungen im Zeitalter der Massenkriege, der modernen Transportmittel und der Flugzeuge nur noch begrenzte militärische Bedeutung haben, war nicht einmal den Fachmilitärs geläufig; wie hätten sie den Politikern und Publizisten vor Augen stehen sollen? Und die Erwägung, daß die große Nationalitätsbewegung des 19. Jahrhunderts alle auf dem Kontinent siedelnden Nationen

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höchst empfindlich gemacht hatte gegen Gebietsverluste und Grenzverschiebungen, vollends gegen Einschränkung oder Verlust ihrer Souveränität, daß also solche Verschiebungen durch ihre politische Wirkung einen künftigen Dauerfrieden mehr bedrohen als militärisch sichern würden, kam in der Aufregung des Krieges den Deutschen ebensowenig zum Bewußtsein wie den Franzosen, Italienern und Russen. Es war eine staatsmännische Erwägung; aber sie war 1914/18 auch bei Staatsmännern nur selten zu finden. Denn im Kriege erweist sich die Leidenschaft gemeinhin als stärker denn die Staatsvernunft 30 ). Eben deshalb ging auch der Gedanke der „Sicherungen" so leicht in den der Machtausbreitung über. Man kann das besonders deutlich an einer Denkschrift studieren, die der Abgeordnete Matthias Erzberger, der spätere U r heber der Friedensresolution von 1917 und Unterhändler des Waffenstillstands von 1918, am 2. September 1914 an alle möglichen Reichsstellen, auch an den Kanzler, versandte. Erzberger war der betriebsamste aller Politiker, eindeutig nur in seinen katholisch-klerikalen Grundüberzeugungen, im übrigen reiner Opportunist, der immer und überall dabei sein muß und sich selbst allzu wichtig nimmt. Sein Hauptanliegen, die Sicherung deutscher Zukunft gegen künftige Kriegsgefahren, verbindet er ohne weiteres mit dem Ziel, „daß Deutschlands militärische Oberhoheit auf dem Kontinent für alle Zeiten gesichert ist". Darum soll Belgien, „das mit so viel Blut erworbene Land" (!) unter militärische (staatsrechtlich noch zu klärende) Befehlsgewalt Deutschlands kommen, ebenso der französische „Küstengürtel von Dünkirchen über Calais bis Boulogne" und die normannischen Kanalinseln vor Cherbourg, um uns freien Zutritt zum Ozean zu verschaffen. Wünschenswert ist weiterhin die Abtretung von Beifort (neu begründet durch den französischen Einfall ins Oberelsaß) und des gesamten Lothringer Erzbeckens bei Longwy-Briey an Deutschland. Erzberger nennt sie eine „berechtigte Forderung der deutschen Industrie" und verbindet so höchst massive materielle Interessen mit der patriotisch-politischen Forderung. Er selbst gehörte zu den Vorstandsmitgliedern der Hamborner Grubenwerke des Thyssen-Konzerns und veranlaßte diese Ende September zu einer Reihe von Eingaben, in denen der Gewinn des lothringischen Minettebeckens einerseits mit Ansprüchen des Konzerns auf Entschädigung für Kapitalverluste in Frankreich begründet, andererseits als vaterländisches Bedürfnis gerechtfertigt wird: Deutschland, arm an Minette-Erzen, könnte sich so aus seiner Abhängigkeit von schwedischen Erzlieferungen befreien. Seine Eisenindustrie könnte dann die von

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England vollends überflügeln und selbst die amerikanische schlagen, also eine wirtschaftliche Welthegemonie, nicht nur eine kontinentale, begründen; außerdem würde die Germanisierung Lothringens dadurch wesentlich erleichtert 31 ). Erzberger möchte aber die militärische Oberherrschaft und wirtschaftliche Angliederung auch auf Ostmitteleuropa erstrecken. Rußland soll durch einen Gürtel von Pufferstaaten sowohl von Deutschland wie von der Ostsee und dem Schwarzen Meer abgeschnitten werden. Dieser soll dadurch geschaffen werden, daß man die nicht-russischen Völkerschaften Russisch-Polens, Litauens und der Ostseeprovinzen „vom Joch des Moskowitertums befreit" und in halb selbständigen Staatswesen unter deutscher Militärhoheit organisiert, die womöglich in Zollunion mit uns treten; ähnlich soll Österreich-Ungarn in der Ukraine und Rumänien in Bessarabien verfahren; das Ganze wird in der Form eines von Deutschland geführten Staatenbundes zusammengefaßt, um Annexionen zu vermeiden, die uns nur innere Schwierigkeiten schaffen würden. Die politische Phantasie des Abgeordneten wird am lebhaftesten in der Ausmalung großer Kolonialpläne in Afrika: dort soll ein großes zentralafrikanisches Kolonialreich durch Deutschland geschaffen werden, unter Einschluß von Belgisch- und Französisch-Kongo, Nigeria, Dahome und der französischen Westküste. Italien soll (wenn es uns beisteht) Tunis, Österreich und Ägypten erhalten, um so den Gegensatz zwischen diesen beiden Mächten und Frankreich-England zu verewigen. Schließlich müssen gewaltige Kriegskostenentschädigungen gezahlt werden, nicht nur um unsere Kriegsschäden zu decken, sondern um eine dauernde Gesundung der Reichsfinanzen, große technische und soziale Verbesserungen zu ermöglichen, die mit Eifer ausgemalt werden. Sieht man von phantastischen Einzelheiten (wie der Verfügung über Ägypten und Tunis) ab, so wird man wohl sagen müssen, daß wenigstens die allgemeinen Grundzüge dieses Planes dem entsprachen, was viele deutsche Durchschnittspatrioten sich auf dem Höhepunkt deutscher Waffenerfolge in Frankreich als Siegespreis ausmalten. Die Alldeutschen, unter Führung des höchst aktiven Rechtsanwaltes Claß und die von ihm mobilisierten Wirtschaftsführer und Intellektuellen gingen in ihren Forderungen noch sehr viel weiter. Claß wollte Belgien und den ganzen Nordosten Frankreichs, von Beifort über Toul bis zur Mündung der Somme, annektieren, als „diktatorisch" verwaltete Reichsprovinz ohne Reichsbürgerrechte der Einwohner, Toulon zum deutschen Kriegshafen machen, fast den ganzen Kontinent als einheitliches Wirtschaftsgebiet deutscher Führung unterstellen, Rußland an seiner

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West- und Nordwestgrenze bis auf die Grenzen des 17. Jahrhunderts zurückwerfen und vor allem: die zu erobernden Gebiete sowohl Frankreichs wie Rußlands von ihren „fremdstämmigen" Bewohnern evakuieren, um sie durch deutsche Siedler zu ersetzen. In dieser Richtung ging noch weiter eine Denkschrift des Herzogs Johann Albrecht von Mecklenburg, Präsident der Deutschen Kolonialgesellschaft, der auch die Wallonen aus Belgien herauswerfen und „ihren englischen und französischen Freunden" überlassen, außerdem ganz Afrika außer Kapland und den ehemaligen Burenstaaten zwischen Deutschland, der Türkei und Spanien aufteilen wollte. Bethmann Hollweg hat die Claßsche Denkschrift polizeilich beschlagnahmen lassen und ihre Verbreitung mit allen Mitteln zu hindern gesucht, den Herzog von Mecklenburg aber dringend ersucht, seine (schon gedruckte) Ausarbeitung nicht in die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, weil sie sowohl bei der deutschen Arbeiterschaft wie im Ausland als „Meinungsäußerung eines deutschen Fürsten" verheerend wirken würde 32 ). Wie aber dachte er selbst über die „Kriegsziele"? D a ß der Krieg nicht einfach aus einem „Überfall" unserer Gegner entstanden war, sondern aus einem Konflikt von Macht- und Prestigebedürfnissen aller großen europäischen Mächte, stand ihm natürlich klar vor Augen. Man spürt etwas von der Last der Mitverantwortung, die ihn deshalb bedrückte, aus einem seiner letzten vertraulichen Briefe an Valentini (3.12. 1917). Der Konflikt mit Ludendorff, schrieb er da, der zu seinem Sturz geführt hatte, sei schließlich nur ein „ganz flüchtiger Ärger". „Was an der Seele nagt, bleibt, daß man diese Weltkatastrophe nicht abzuwehren verstand. Aber darüber können nicht Menschen, sondern nur Gott urteilen" 33 ). Wenn er es so empfand, mußte er dringender noch als alle anderen nach einem „positiven" Kriegsziel Ausschau halten, das ihm dazu helfen konnte, aus den Grübeleien über die „Katastrophe" herauszukommen und mit einiger Hoffnung in die Zukunft zu blicken. Die ganze deutsche Bildungswelt hat damals dasselbe seelische Bedürfnis empfunden und sich bemüht, dem scheinbar Sinnlosen einen tieferen Sinn zu geben. Man idealisierte den Machtkonflikt, indem man von einer geistigen Mission des Deutschtums sprach, das jetzt berufen sei, seine eigenen höheren Lebensideale gegen die des „Westens" zum Siege zu führen: Idealismus gegen Materialismus, wahre sittliche Volksgemeinschaft gegen bloßes Kollektiv, die Freiheit als selbstverantwortliches Handeln im Dienst für die Gemeinschaft gegen den als Freiheit getarnten Egoismus der Einzelnen, männliche Tapferkeit und todesbereite Vaterlandsliebe gegen feigen Pazifismus oder auch (wie es Werner

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Sombart recht abstoßend formulierte) Heldentum gegen Händlertum — und nicht zuletzt: wahre abendländische Kultur gegen die moskowitische Barbarei 34 ). Alle dieseDeutungsversuche, so fragwürdig sie unsheute im einzelnen erscheinen, waren als Ganzes doch politisch ungefährlich: ohne das Bemühen um geistige Selbstverteidigung und Selbstrechtfertigung erträgt ein modernes Kulturvolk das Schicksal des Krieges nicht mehr, wie auch das Beispiel unserer Gegner zeigt, die ihren Krieg ja auch nur deshalb ertrugen, weil er von ihnen als eine Art Kreuzzug für Demokratie und Freiheit gegen Gewaltherrschaft gedeutet wurde. Für einen praktischen Politiker freilich wie Bethmann Hollweg konnte das alles nur sehr wenig bedeuten. Der verantwortliche Staatsmann konnte sich für sein Handeln nur dann entlastet fühlen, wenn der Enderfolg für ihn sprach, also nur dann, wenn am Ende des großen Ringens wenigstens eines erreicht war: eine bessere Gesamtsituation Deutschlands, d. h. seine Sicherung vor einer Wiederkehr jener schrecklichen Zwangslage, wie sie Bethmann soeben in der Juli-Krise durchlebt hatte. Er mußte vor allem darauf sehen, daß ein Ende gemacht wurde mit dem Doppeldruck von West und Ost, mit der ewigen Bedrohung durch die unversöhnliche Feindschaft Frankreichs in jedem europäischen Konfliktsfall. Mit Erwägungen dieser Art, die man fast in jeder Äußerung deutscher Politiker in den ersten Kriegsmonaten über Kriegsziele wiederfindet, wurde natürlich auch der Kanzler im Koblenzer und Luxemburger Hauptquartier von vielen Seiten bestürmt. Nicht so freilich, als ob seine amtlichen Mitarbeiter allesamt von Annexionsplänen erfüllt gewesen wären! Am 28. August, also auf dem Höhepunkt deutscher Waffenerfolge, schrieb der Staatssekretär des Kolonialamtes Solf dem Auswärtigen Amt, er sei entsetzt, zu sehen, wie der Annexionshunger auch bei sonst gemäßigten Leuten plötzlich erwache. Man glaube mit einem Mal, wir hätten den Krieg verloren, wenn wir nicht Häfen an der flandrischen Küste bekämen. Schwerlich würde aber der Krieg Deutschland zum arbiter mundi machen. Er, Solf, könne überhaupt nicht glauben, daß Landerwerb in Europa uns nützen würde; sicher sei nur, daß dadurch Englands Einverständnis mit dem Erwerb neuer Kolonien (von Frankreich und Belgien) wesentlich erschwert würde. Und was sollten wir mit Belgien und Teilen Frankreichs anfangen? Elsaß-Lothringens Einverleibung habe doch Mühe genug gemacht, und die Erfahrung mit Dänen und Polen im Reichsverband könne nur abschrecken35). Noch dringlicher warnte zwei Monate später der preußische Innenminister

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von Loebell vor dem Umlauf übertriebener Siegeshoffnungen im Volke und vor jenen „blumenreichen Phantasmagorien" über ein künftiges größeres Deutschland, die jetzt von „unpolitischen Phantasten und Feuilletonisten" gepredigt würden. Es sei Pflicht der Regierung, durch rechtzeitige Aufklärung dafür zu sorgen, daß die Nation sich nicht „in falsche Hoffnungen und Vorstellungen verirre", die später bitter enttäuscht werden müßten. Aus ihm sprach der hochkonservative Preuße, der nichts mehr fürchtete als den Zuwachs noch weiterer slawischer Bevölkerung an den preußischen Ostgrenzen, der aber auch den Bruch mit Rußland für eine höchst unerwünschte Episode hielt und alles vermieden sehen wollte, was später die Herstellung friedlicher, j a freundschaftlicher Beziehungen zu unserem östlichen Nachbarn möglich machen würde. Denn er hielt es für ausgeschlossen, den englischen Gegner jetzt mit Waffengewalt niederzuwerfen; auch der Krieg würde uns die Last der weltpolitischen Rivalität mit den Briten nicht abnehmen. Wir brauchten also in Zukunft dringend ein gutes Verhältnis zu Rußland und sollten uns nicht von den Österreichern (etwa durch Wegnahme Polens) in eine Dauerfeindschaft gegen das Zarenreich hineinziehen lassen. Dieses sei doch nicht dauernd niederzuhalten, auch wenn es jetzt besiegt würde, und müsse einmal „unsere stärkste K a r t e " im diplomatischen Spiel gegen England werden. Im Osten wollte er also von keinem Landerwerb wissen, außer von einer gewissen Verbesserung der Grenzen Ostpreußens durch Vorschieben zum Njemen und Narew, das er einmal als „notwendig", ein andermal nur als „wünschenswert" bezeichnete. Unter allen Umständen sollten wir uns hüten vor gewalttätigen Konstruktionen, die sich über die Geschichte hinwegsetzen. Wir sind nicht zu Neuerbauern Europas berufen, sondern haben ganz einfach nach unseren Lebensnotwendigkeiten zu fragen, auf das bloß Wünschenswerte (wie Erz- und Kohlendistrikte nahe unserer jetzigen Grenze) unter Umständen zu verzichten. Notwendig sei die Ausschaltung der ewigen Gefahr von Frankreich her durch strategische Verbesserung unserer Westgrenze, wie etwa den Gewinn von Beifort, Offenhalten des Einfallstores durch Belgien und eine Kriegsentschädigung, „die möglichst Frankreich auf lange Zeit hinaus wirtschaftlich bindet und unfähig hält, sich in der anderen Welt zu unserem mittelbaren Schaden finanziell zu engagieren". Mit Franzosenhaß habe das nichts zu tun: Frankreich sei vielmehr derjenige unserer Gegner, „der aus den relativ edelsten Motiven zu den Waffen gegriffen hat - eine Tatsache nicht ohne weltgeschichtliche Tragik". Aber „moralische Fragen stehen ja in diesem Krieg nicht zur Entscheidung", sondern die harten Interessenkonflikte.

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In diesem Geist wird auch die belgische Frage erörtert. Wir „brauchen eine Grenze, die uns möglichst die Schlüssel nach Frankreich in die Hand gibt". Dazu rechnet von Loebell die Besitznahme des Landes rechts der Maas. Und zwar durch Preußen, nicht in der unglücklichen Form eines neuen „Reichslandes". Eine „offene oder versteckte" Annexion ganz Belgiens kommt nur dann in Frage, wenn die Briten hartnäckig den Friedensschluß verweigern sollten; bis dahin sollte man die Besetzung als Druckmittel gegen England benutzen und „unsere kühnsten belgischen Hoffnungen" unter Umständen gegen einen angemessenen Frieden einhandeln 36 ). Vielleicht ließe sich aber auch der von Deutschland nicht annektierte Teil von Belgien den Holländern übergeben, die ja vor 1870 schon dort Herren waren, wenn sie dafür versprechen, sich eng an Deutschland anzuschließen. Die belgische Küste und den schönen Hafen Antwerpen deutsch zu machen und dadurch freien Ausgang zum Weltmeer zu gewinnen, sieht zwar verlockend aus, würde uns aber zur vollen Annexion des ganzen Landes und zum Kampf mit England bis aufs Messer zwingen. Dieses Kriegsziel gilt offenbar Loebell nicht als Lebensnotwendigkeit. „Was wir brauchen" (nicht bloß brauchen können), „ist bedingungslose Freiheit der Meere" und ein geschlossener, nicht mehr zersplitterter Kolonialbesitz, der wirtschaftlich wirklich ertragreich ist, vielleicht von der eigenen wirtschaftlichen Stärke leben kann, verteidigungsfähige Häfen und dem englischen Kolonialreich gegenüber Bewegungsfreiheit besitzt. Dazu soll uns die Abtretung der großen Kolonien Belgiens und Frankreichs in Zentralafrika (nicht Nordafrika!) dienen. Ähnlich wie Solf denkt also auch von Loebell an großen Gebietserwerb nur in Übersee, nicht auf dem europäischen Kontinent 37 ). Die Forderungen der beiden Minister sind vor allem deshalb interessant, weil sie wohl ziemlich genau das Minimum dessen darstellen, was ein patriotischer deutscher Politiker zu Kriegsanfang vom künftigen Frieden erhoffte 38 ). Wie hat sich nun Bethmann Hollweg selbst damals das Ergebnis des Krieges gedacht? Darüber hat er sich schon gleich nach Kriegsausbruch Gedanken gemacht und sie mit seinem wichtigsten Mitarbeiter, dem Staatssekretär Delbrück vom Reichsamt des Innern, noch vor der Abreise ins Koblenzer Hauptquartier besprochen. Von dort aus entwickelte er ihm dann in einer Weisung vom 9. September einen kühnen Plan, die im Kampf mit England verloren gehenden Weltmärkte durch Schaffung eines großen gemeinsamen Marktes der Kontinentalstaaten zu ersetzen - ein Gedanke, der vermuten läßt, er habe

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sich auf einen langdauernden, zunächst mit Waffengewalt gar nicht zu entscheidenden Kampf mit der Inselmacht gefaßt gemacht. Wahrscheinlich hat ihn die Kriegserklärung Englands ins Bewußtsein gerufen, wie unsicher die „Weltstellung" unserer so tief in den Welthandel verflochtenen und doch so leicht zu blockierenden Wirtschaft dank unserer militär-geographischen Lage war. Dem sollte abgeholfen werden durch Schaff ung eines „mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen, unter Einschluß von Frankreich, Belgien und Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn, Polen und eventuell Italien, Schweden und Norwegen", und zwar unter deutscher Führung bei nur „äußerlicher" Gleichberechtigung seiner Mitglieder und „wohl" ohne konstitutionelle Spitze 39 ). Dieser Plan ist das eigentlich Originelle und Uberraschende an dem Kriegszielprogramm Bethmanns. Es zeigt, wie sehr ihn die Sorge bedrängt haben muß, durch den Konflikt mit England Deutschlands Weltstellung völlig zu zerstören 40 ). Unklar ist, ob er mehr an einen freiwilligen Zusammenschluß der europäischen Nationalwirtschaften oder mehr an einen Zwangsverband gedacht hat. Für das erstere spricht, daß immerfort von „Handelsverträgen", auch mit dem besiegten Frankreich, die Rede ist, von einer engeren „Zollunion" mit Österreich-Ungarn und von freiwilligem Anschluß Hollands gesprochen wird — was selbstverständlich auch für Italien und die skandinavischen Staaten gelten mußte. Auf der andern Seite wird aber sehr stark der wirtschaftliche Führungsanspruch betont und ausdrücklich erklärt, daß Frankreich durch den mit ihm abzuschließenden Handelsvertrag in wirtschaftliche Abhängigkeit von uns geraten soll; vollends Belgien soll „wirtschaftlich zu einer deutschen Provinz werden". In einem Antwortschreiben auf große Bedenken Delbrücks (16. September) sagt Bethmann sogar: „Ein solcher Zusammenschluß wird sich nicht auf der Basis einer Verständigung gemeinsamer Interessen, sondern nur bei einem eventuell von uns zu diktierenden Frieden unter dem Druck politischer Überlegenheit erreichen lassen. Dieser Gesichtspunkt wird auch für die österreichische Seite des Problems" (Schaffung einer engeren deutsch-österreichischen Zollunion innerhalb des Gesamtbundes) „ins Gewicht fallen." Das sieht wieder mehr nach Zwangsverband aus, soll aber doch wohl nur besagen, daß ein siegreiches Deutschland ganz von selbst zum Mittelpunkt einer neuen europäischen Wirtschaftsordnung werden müßte 41 ). Wie dem auch sei: jedenfalls war sich Bethmann bewußt, daß der Obergang vom nationalen zum europäischen Marktsystem eine radikale Wendung

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bedeutete, die sowohl in den (am Gewohnten hängenden) großen Wirtschaftsverbänden wie bei den Wirtschaftsexperten der höheren Reichsbeamtenschaft auf zähen Widerstand stoßen würde. Die Vorbereitung sollte deshalb in aller Stille im Reichsamt des Innern erfolgen; dabei sollten die Interessengruppen „so wenig und so spät als möglich" herangezogen werden, aber auch weitere Reichsressorts (außer dem Auswärtigen Amt) möglichst lange ausgeschaltet bleiben - eine Anordnung, die Delbrück mit Eifer befolgte. Er selbst stand dem Plan des Kanzlers offenbar mit einiger Sorge gegenüber: sein Gelingen werde ganz vom Erfolg unserer Waffen und dem Ausgang des Wirtschaftskrieges mit England abhängen; auch werde man auf starke innere Widerstände stoßen. Aber er war doch stark davon imponiert: nur ein zollgeeintes Europa, schrieb er, werde in Zukunft imstande sein, „den übermächtigen Produktionsmöglichkeiten der transatlantischen Welt mit dem nötigen Nachdruck gegenüberzutreten; wir sollen Gott danken, daß der Krieg uns den Anlaß und die Möglichkeit gibt, ein wirtschaftliches System zu verlassen, das den Höhepunkt seiner Erfolge zu überschreiten im Begriff steht". Das neue System würde aber niemals mit den Rechtsparteien, sondern nur mit einer liberalen Mehrheit unter Einschluß der Sozialdemokraten durchzubringen sein. Doch sei ein betont liberaler Kurs der Regierungspolitik (mit Abänderung des preußischen Dreiklassenwahlrechts) ohnedies notwendig: „Wir würden es vor dem deutschen Vaterlande nicht verantworten können, wenn wir nicht den Versuch machten, als Preis des Krieges eine Reform der Sozialdemokratie nach der nationalen und monarchischen Seite anzubahnen 4 2 )." Man sieht: sowohl der Reichskanzler wie sein Staatssekretär haben das Mitteleuropaprojekt zunächst sehr wichtig genommen und große Hoffnungen damit verknüpft. Aber seine Durchberatung in den zuständigen Reichs- und preußischen Ämtern ergab bald eine solche Fülle von Meinungsdifferenzen, sachlichen Schwierigkeiten, wirtschaftspolitischen und staatsrechtlichen Problemen, daß Delbrück Anfang Oktober auf einer Reise ins Hauptquartier den Kanzler überredete, die Erledigung des ganzen Fragenkomplexes aufzuschieben. Er ist erst im Winter 1915/16 wieder in Fluß gekommen (wie sich noch zeigen wird). In einer neuen Weisung, die Bethmann am 22. Oktober zur Fortsetzung der Friedensvorbereitungen nach Berlin sandte, ist nicht mehr die Rede vom großen Wirtschaftsbund. Hier wird nur noch der Wunsch laut, „uns in dem französischen und russischen Markt Ersatz für die Verluste . . . auf dem W e l t m a r k t . . . zu schaffen". Das soll dadurch geschehen,

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daß die französische Wirtschaft in Abhängigkeit von uns gebracht wird, vor allem durch Abtretung des Erzbeckens von Longwy-Briey an Deutschland mit der Folge, daß Frankreich und Belgien künftig ihre Erze von uns beziehen müssen und so ihre Konkurrenzfähigkeit gemindert wird; eine Wirkung, die durch Bindung der französischen Eisenzölle vielleicht sich noch steigern würde. Mit Rußland soll ein langfristiger, für uns besonders günstiger Handelsvertrag geschlossen werden, unter Herabsetzung der russischen Industriezölle. Schließlich müßte man versuchen, „im Fall(!) eines Sieges über England" auch dort gewisse wirtschaftliche Vorteile zu erreichen, etwa auf dem Gebiet des Patentrechtes, der kolonialen Zollpolitik und der wirtschaftlichen Konzessionen für große Unternehmungen im Orient. Auch sollte man den Übergang Englands zum Schutzzollsystem verhindern und damit finanziell die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht erschweren, die nach einem verlorenen Krieg vielleicht zu befürchten sei. Das alles klingt sehr viel bescheidener als die weit ausschauenden Pläne von Anfang September. Zäher hat Bethmann an einzelnen Punkten des militärisch-politischen Programms vom 9. September festgehalten, von dem das Projekt des Mitteleuropabundes nur ein Teil war. Seine ausführliche Betrachtung ist vor allem darum wichtig, weil wir es hier mit einer ganz intimen, vor der Öffentlichkeit verborgenen Meinungsäußerung des Kanzlers in einer dienstlichen Weisung (zur Vorbereitung von Friedensverhandlungen) zu tun haben. Ihr defensiver Charakter wird schon im ersten Satz ausgesprochen 43 ). Das allgemeine Ziel des Krieges soll sein:„ Sicherung des deutschen Reichs nach West und Ost auf erdenkliche Zeit. Zu diesem Zweck muß Frankreich so geschwächt werden, daß es als Großmacht nicht neu erstehen kann, Rußland von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgetrennt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden." Die zweite dieser Forderungen wird hier noch nicht näher ausgeführt; die erste, die Schwächung Frankreichs, soll hauptsächlich durch eine hohe, „in Raten zahlbare" Kriegsentschädigung erfüllt werden, die den besiegten Gegner verhindert, „in den nächsten 15 bis 20 Jahren 4 3 *) erhebliche Mittel für Rüstungen aufzuwenden". Von Rüstungsverbot oder -begrenzung (wie sie dann in Versailles Deutschland gegenüber durchgesetzt wurden) ist indessen keine Rede. Gleichzeitig wird ein „Handelsvertrag" gefordert, „der Frankreich in wirtschaftliche Abhängigkeit von Deutschland bringt, es zu unserem Exportland macht und uns ermöglicht, den englischen Handel in Frankreich auszuschalten". Er soll uns auch „finanzielle und industrielle Bewegungsfreiheit schaffen, so daß deutsche

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Unternehmungen nicht mehr anders als französische behandelt werden können". Das ist die Vorstufe (wie wir schon wissen) zu dem großen Gesamtziel des europäischen Wirtschaftsbundes (gemeinsamen Marktes); es schließt aber im Grunde (wie schon Delbrück bemerkte), eine sehr weitgehende Schwächung und finanzielle Belastung der französischen Wirtschaft aus. Die territorialen Forderungen bleiben begrenzt; das Erzbecken von Briey, wird erklärt, sei „in jedem Fall abzutreten, weil für die Erzgewinnung unserer Industrie nötig" (wie es die rheinische Schwerindustrie dem Kanzler vorgestellt hatte). An dieser Annexionsforderung hat Bethmann fast bis zu seinem Sturz festgehalten. Er hielt sie für keine schwere Zumutung, da Frankreich in der Normandie genügende Erzlager besitze und die Gruben von Briey schon vor dem Krieg großenteils in deutscher Hand waren 44 ). Die militärischen Stellen, heißt es weiter, sollten beurteilen, „ob die Abtretung von Beifort, des Westabhangs der Vogesen 45 ), und die Abtretung des Küstenstrichs von Dünkirchen bis Boulogne zu fordern ist". Dieser Küstenstrich, nämlich französisch Flandern mit Dünkirchen, Calais und Boulogne, die großenteils flämische Bevölkerung besitzen, könnte zu Belgien geschlagen werden, falls dieses unter deutsche Oberhoheit kommt. Bethmann will von einer Annexion Belgiens nichts wissen, aber auch nichts von Wiederherstellung des status quo ante bellum. Er will nur (wie damals alle Welt, auch der grundsätzlich anti-annektionistische Minister von Loebell) die Pforte nach Frankreich durch Belgien offenhalten. Zu diesem Zweck soll die Sperrfestung Lüttich nebst Verviers an Preußen (also zur Provinz Rheinland) kommen, ein Grenzstrich der Provinz Luxemburg an das Großherzogtum Luxemburg, das deutsdier Bundesstaat wird, eventuell noch vermehrt um „die Ecke von Longwy". Ob auch Antwerpen (mit Verbindungsstreifen nach Lüttich) annektiert werden soll, bleibt offen, von einer Annektion der flandrischen Küste ist nicht die Rede. Wohl aber von einem deutschen Besatzungsrecht in „militärisch wichtigen Hafenplätzen", und vor allem von einer Unterstellung ganz Belgiens unter deutsche Oberhoheit. Es soll „als Staat äußerlich bestehen bleiben, aber zu einem Vasallenstaat herabsinken", „seine Küste militärisch zur Verfügung stellen, wirtschaftlich zu einer deutschen Provinz werden." So hofft der Kanzler, die „Vorteile der Annexion, nicht aber ihre innenpolitisch nicht zu beseitigenden Nachteile" für Deutschland heimzubringen; „den militärisdien Wert dieser Position England gegenüber werden die zuständigen Stellen zu beurteilen haben". Natürlich wird Belgien in den (schon von uns besprochenen) „mitteleuropäischen Wirtschaftsverband" aufgenom-

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men, den aber Bethmann auch auf Holland ausdehnen möchte - jedoch ohne militärischen Zwang und ohne Veränderung des Lebens und der militärischen Pflichten der Holländer. Ihm schwebt ein Schutz- und Trutzbündnis vor, das die Niederlande „äußerlich unabhängig läßt, innerlich aber in Abhängigkeit von uns bringt" und auch ihre Kolonien mit umfaßt. Unter Umständen könnte man ihnen Antwerpen gegen das Zugeständnis eines deutschen Besatzungsrechtes in der befestigten Stadt und an der Scheidemündung überlassen. Schließlich ist auch kurz von kolonialen Erwerbungen Deutschlands die Rede, und zwar (wie in allen damaligen Denkschriften) im Anschluß an die Bestrebungen der letzten Vorkriegsjahre in der Form eines zusammenhängenden mittelafrikanischen Kolonialreiches. Der Inhalt dieses Kriegszielprogramms, das weitere Forderungen zum „Abdrängen Rußlands von der deutschen Grenze" schon ankündigt, beweist eindeutig, daß auch Bethmann Hollweg auf dem Höhepunkt deutscher Waffenerfolge den Gedanken der reinen Abwehr aufgegeben und nach „Sicherungen" für die Zukunft gestrebt hat, und dies nicht nur in der Form gewisser lokaler „Grenzverbesserungen", sondern durch gründliche Umgestaltung der Machtverhältnisse in Mittel- und Westeuropa. Wie weit er dabei seinen eigenen Intentionen folgte, wie weit dem Druck äußerer Einflüsse, läßt sich nicht eindeutig beantworten. Sicherlich wäre es unzulässig, auf Grund seiner späteren Haltung zu den Kriegszielfragen zu behaupten, seine Weisung an Delbrück habe seiner innersten Uberzeugung nicht entsprochen; dafür fehlt jeder Beweis, und die allgemeine Lage hat sich ja gleich nach dem 9. September grundlegend gewandelt. Anderseits: konnte er als leitender Politiker auf dem Höhepunkt deutscher Siege überhaupt ein Kriegszielprogramm entwickeln, das nicht die geringste Aussicht hatte, gegen den Willen der Nation, d. h. des Kaisers, der militärischen Befehlsstellen und der überwältigenden Mehrheit der Reichstagsparteien durchgesetzt zu werden? Ist es z.B. nicht mit Händen zu greifen, daß er auf den Erwerb von Longwy und Briey sdion deshalb großen Wert legen mußte, weil er den politischen Anhang der Schwerindustrie, d.h. vor allem die Nationalliberalen, im Reichstag gar nicht entbehren konnte, auch nicht zur Durchführung seiner innerpolitischen Reformpläne, insbesondere bei der Revision des preußischen Wahlrechts? Aus seinem Briefwechsel mit dem Staatssekretär Clemens Delbrück geht hervor, daß er mit mancherlei absurden Forderungen des Kaisers zu kämpfen hatte, der „immer von neuem auf den Gedanken zurückkam, daß die eventuell von Belgien und Frankreich zu annektierenden Gebietsteile evakuiert und wie Militärkolonien in der

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Form von Landzuwendungen an verdiente Unteroffiziere und Mannschaften besiedelt werden müßten" 4 6 . Solche massiv militaristischen Gedankengänge konnte er abzuwehren hoffen. Aber dem aufgeregten Macht- und Eroberungswillen der Nation mit dem Programm einer einfachen Wiederherstellung des status quo entgegenzutreten, wäre doch damals völlig undenkbar gewesen. Man wird nach alledem vermuten dürfen, daß Bethmann Hollweg sein Programm vom 9. September selbst als ein Höchstmaß dessen empfunden hat, was sich an Mäßigung erreichen ließ, falls wir Frankreich rasch und völlig niederwarfen und sofort die Friedensverhandlungen begannen, daß er aber auch an seine Durchführbarkeit glaubte und es ernsthaft durchzusetzen wünschte. Jedenfalls hat er seinen Plan monatelang von den Reichsbehörden nach allen Seiten hin bearbeiten lassen, unter Heranziehung verschiedener Finanz- und Wirtschaftsexperten. Welche Erwägungen ihn dabei bestimmten, läßt sich nur vermuten. Daß er das besiegte Frankreich dauernd niederhalten und Rußland nach Osten abdrängen wollte, begreift sich aus dem schon früher von uns erörterten Grunde: es sollte ein Ende gemacht werden mit dem unerträglichen Druck der kontinentalen „Einkreisung". Widersprach aber nicht das Schicksal, das er Belgien zudachte, seiner eigenen feierlichen Erklärung noch am 4. August im Reichstag, wir würden das Unrecht, das wir Belgien durch unseren Einmarsch angetan hätten, wieder gutzumachen suchen, sobald unser militärisches Ziel erreicht sei47)? Bereits am 2. Dezember 1914 hat er in einer neuen (rhetorisch besonders glänzenden) Reichstagsrede jenes Schuldbekenntnis zurückgenommen unter Berufung auf die neuerdings in Brüssel gefundenen und sogleich publizierten belgischen Dokumente, aus denen hervorzugehen schien, daß Belgien seine Neutralitätspflichten schon seit 1906 zugunsten der Entente verletzt habe 48 ). Diese Aktenpublikation war ein publizistisch sehr wirksames Mittel, um die veränderte Haltung der deutschen Regierung vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen - mehr sicherlich nicht. Den wahren Grund dafür wird man doch wohl auf dem Gebiet militärischer Erwägungen suchen müssen. Bethmann hat das schon Ende August in einem Gespräch mit Tirpitz erkennen lassen, als dieser ihm reichlich phantastische Pläne eines Angriffes auf England mit Hilfe der in Flandern neu aufgestellten „Marine-Division" entwickelte. Er erklärte (falls Tirpitz' Bericht darüber zutrifft) seine Absicht, von Belgien „einen Streifen nördlich Antwerpen" sowie Lüttich und N a m u r zu annektieren; nur das südliche Belgien solle als „Pufferstaat" bestehen bleiben 49 ). Irgendwie sollte die belgische Kanalküste für die Verbesserung

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unserer Seestellung gegenüber England nutzbar gemacht werden. Wie, darüber sollte sich Tirpitz äußern, den der Kanzler am 8. Januar 1915 fragte, welche Ziele in Belgien „einerseits vom Standpunkt der Marine, anderseits von dem ganz allgemeinen der zukünftigen deutschen Weltmachtstellung ins Auge zu fassen wären" 5 0 . Wie zu erwarten, forderte der Großadmiral Annexion der Küste und der belgischen Festungen als Mindestziel, besser noch des ganzen Landes; andernfalls wäre der Krieg als verloren zu betrachten. Nach ihrer „nautischen Figuration" entspräche die Küste zwar nicht allen militärischen Anforderungen; „vorläufig" sei jedoch nidits Besseres zu haben (da früher geäußerte Hoffnungen Tirpitz' auf Eroberung großer französischer H ä f e n an der Kanalküste sich nicht erfüllt hatten). Bethmann erhielt also statt einer sachlich militärischen Auskunft einen politischen Wunschzettel auf seine Anfrage 5 1 ), die übrigens als solche geeignet war, den Anspruch des Admiráis auf politisches Mitspracherecht zu verstärken. Tatsächlich war die belgische Küste mit ihren (außer Antwerpen) unbedeutenden H ä f e n als Basis für einen Großangriff auf England (auch f ü r U-BootAktionen großen Stils) völlig unzureichend 52 ). Einleuchtender waren die Argumente der Militärs, die für die Sicherheit der deutschen Westgrenze fürchteten. In einer vertraulichen Unterredung mit den Führern der bürgerlichen Reichstagsfraktionen hat sich Bethmann darüber ziemlich deutlich ausgesprochen (13. Mai 1915). Die Lage in Belgien, sagte er, habe sich seit dem August 1914 völlig verändert. Der deutsche Durchmarsch habe eine Erbitterung wie nie in der Weltgeschichte geschaffen. „Wir müssen - vorausgesetzt, daß die militärische Lage es gestattet - Belgien unschädlich machen, verhindern, daß es militärisch, wirtschaftlich, politisch zu einer Dependance Englands und Frankreichs wird, in welcher Weise, ist die zweite Frage. Also nicht Vasallenstaat von England, sondern von uns 53 ." In der Tat: der Durchmarsch durch Belgien war nun einmal geschehen und hatte Ströme von Blut gekostet, auch durch mancherlei übereilte und brutale „Vergeltungsmaßnahmen" der deutschen Truppen schwere Erbitterung geschaffen 54 ). War nicht ernstlich zu befürchten, daß die Belgier, um sich nicht ein zweites Mal so ungeheuren Gefahren auszusetzen, ihre Neutralität aufgeben und für immer ins Lager der Westmächte übergehen würden - was dann praktisch bedeutet hätte, daß in einem neuen Konfliktsfall der Vormarsch „feindlicher Heere" unmittelbar an unserer Grenze bei Aachen einsetzte und das niederrheinische Industriegebiet, die Hauptquelle unserer wirtschaftlichen Kraft, aufs schwerste bedrohte? N i m m t man hinzu, daß damals von vielen, vielleicht den meisten Deutschen

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der erst 1830 gegründete belgische Staat (mitsamt seiner Neutralität) als ein ziemlich künstliches Gebilde ohne große geschichtliche Würde empfunden wurde 55 ), so erscheint das Bemühen Bethmann Hollwegs nicht unverständlich, in irgendeiner Form „Belgien unschädlich zu machen". Fast die gesamte deutsche Intelligenz, darunter so ausgesprochene Liberale wie Max Weber und Friedrich Meinecke, hat zunächst dieser Haltung zugestimmt. Dennoch war es ein Unglück, daß er sich von vornherein darauf festlegte, weil so der Charakter des Krieges als reiner Verteidigungskampf, den schon der Einfall in Belgien so fragwürdig hatte erscheinen lassen, nun vollends verfälscht wurde - nicht nur in den Augen des Auslands, sondern auch breiter Volksmassen in Deutschland. Wichtiger noch: es war vom ersten Tage an klar, daß wir niemals England zum Frieden würden bringen können, so lange wir Belgien in der H a n d behielten - einerlei ob als „Vasallenstaat" oder als deutsches „Reichsland". Da wir aber gar nicht hoffen konnten (und bis zum Beginn des unbeschränkten U-Boot-Krieges 1917 auch gar nicht ernstlich hofften), das Inselreich mit Waffengewalt zu einem Diktatfrieden zu zwingen, war das belgische Kriegsziel nicht viel mehr als eine Utopie - es sei denn, wir wären bereit und in der Lage gewesen, den Krieg gegen England unbegrenzt fortzusetzen. So ist die ungelöste „belgische Frage" (letztlich ein böses Erbe des unglücklichen „Schlieffenplanes") zum Fluch der ganzen deutschen Kriegspolitik geworden. Bethmann Hollweg selber war auch gar nicht wohl dabei. „Belgien ist ein schauderhaftes Problem", schrieb er am 10. November an den politisch sehr einsichtigen und ihm nahe stehenden württembergischen Ministerpräsidenten Freiherrn von Weizsäcker. „Man kann unter allen Lösungen nur noch die suchen, die nodi am wenigsten schlecht ist 56 ." In seiner Unsicherheit hat er immer neue Ratgeber und Experten befragt 5 7 ). Die große Denkschrift, die ihm das Reichsamt des Innern und das Auswärtige Amt als Ergebnis gemeinsamer Vorberatungen am Jahresende überreichten, k a m zu dem Schluß, eine ernsthafte „Garantie" belgischen Wohlverhaltens wäre nicht anders zu erreichen als durch eine harte militärische und wirtschaftliche Knebelung, die sehr bald zu Verschwörungen und Aufständen führen müßte. Demgegenüber sei es klüger und sogar humaner, Belgien sofort den Verlust seiner Unabhängigkeit anzukündigen, und das Land „mehr oder weniger diktatorisch" zu regieren mit der Aussicht, bei Wohlverhalten eines Tages Reichsland zu werden. So gute Englandkenner wie der Hamburger Wirtschaftsführer Ballin und Max Warburg wiesen demgegenüber mit großem Ernst darauf hin, daß

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Belgiens Lage durch unseren Neutralitätsbruch verschuldet sei, seineAnnexion uns der ganzen Welt verhaßt und den Frieden mit England unmöglich machen würde; sie rieten zur Wiederherstellung der früheren Monarchie mit der Bedingung einer engen Wirtschaftsgemeinschaft mit dem Reich, am besten (meinte Warburg) durch Handelsverträge, nicht durch Zollunion. Schließlich suchte Legationsrat Riezler, der vertraute Berater Bethmanns, ein Kompromiß zwischen Annexion und Freiheit, zwischen Zwang und „Verständigung", das die Schwierigkeit des Problems eher noch deutlicher machte als sie zu lösen versprach. Bethmann selbst hat eine Annexion von Anfang an als „schweren Fehler" abgelehnt (und sich darin auch nicht durch die große Denkschrift der beiden Reichsämter beirren lassen). Das hat er dem bayerischen Ministerpräsidenten Grafen Hertling sehr klar gemacht, der mit ihm über wilde Annexionspläne seines Königs und des Großherzogs von Oldenburg zu verhandeln hatte: Belgien würde nur eine Belastung, nicht ein Gewinn für Deutschland sein 58 ). Am 6. Dezember war er bei Hindenburg im „Hauptquartier Oberost" zu Gast. General Max Hoffmann, Chef der Operationsabteilung, sicherlich der klügste Kopf des dortigen Generalstabes, will auf die Frage des Kanzlers, wie er sich den Frieden denke, geantwortet haben: zuallererst müsse dieser öffentlich erklären, auf jeden Fußbreit belgischen Bodens zu verzichten; denn England könne sich ein deutsches Belgien ja gar nicht gefallen lassen. Darauf Bethmann ganz verblüfft: „Sie sind der erste Soldat, von dem ich diese Ansicht höre. Ich bin durchaus Ihrer Meinung. Wenn ich das aber in Berlin im Reichstag aussprechen wollte, würde mich der Sturm der öffentlichen Meinung von meinem Platz hinwegfegen 59 )." Zwei Tage später verhandelte er in Berlin mit den Wortführern der deutschen Industrie („Kriegsausschuß"), dem alldeutsch gesinnten Abgeordneten Stresemann und dem früheren Kruppdirektor Roetger, um deren Kriegspropaganda möglichst zu dämpfen und ihnen seine eigene Politik möglichst plausibel zu machen 60 ). D a drückte er sich über die Zukunft Belgiens mit höchster Vorsicht aus, in ganz unverbindlichen und unbestimmten Wendungen, und sprach um so nachdrücklicher von Frankreich. Er habe den dringenden Wunsch, diesen Gegner „nach Möglichkeit zu schonen", und „halte die Frage der Abtretung der nördlichen Küste für sehr strittig. Am liebsten möchte er überhaupt keinen Quadratmeter fremdsprachigen Gebietes haben, und wenn unser Generalstab in den Vogesen aus militärischen Gründen Abtretung verlange, so sei er bereit, um dies weniger verletzend für Frankreich zu machen, die Form eines Tausches gegen das südliche Belgien

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anzubieten." „Frankreich tue ihm geradezu leid. Es sei unser anständigster, unser ritterlichster Gegner. Seine Schuld sei viel geringer als die unserer anderen Gegner, und Frankreich werde die ganze Zeche bezahlen müssen", da wir weder von Rußland noch von England Kriegsentschädigungen zu erwarten hätten. Also möglichst keine, jedenfalls keine größere Annexion französischen Gebietes! „Die Wunde von 1870" (der Verlust von Elsaß-Lothringen) „sei wohl verwunden, wenn aber jetzt eine neue Verstümmelung einträte, so hieße das nichts Anderes, als die unnatürliche Coalition, der wir uns jetzt gegenüber befänden, zu verewigen, und er betrachte es als seine Aufgabe, gerade eine solche Coalition für die Zukunft unmöglich zu machen." Das sind Äußerungen von höchstem Interesse. Sie klingen ganz anders als das Kriegszielprogramm vom 9. September — natürlich, da das Scheitern der Marne-Schlacht mit allen seinen bösen Folgen dazwischen lag und der Generalstabschef Falkenhayn dem Kanzler - (wie wir noch hören werden) - am 19. November rund heraus erklärt hatte, zu einem Totalsieg an allen Fronten sei das deutsche Heer jetzt nicht mehr imstande. Aber auffallend ist doch, daß jetzt erst bei Bethmann der Gedanke auftaucht, den man vom Staatsmann im Gegensatz zum Soldaten von vornherein erwarten sollte: der Gedanke daran, daß eine dauerhafte Friedensordnung mit bloßer Gewalt nicht aufrecht zu erhalten sein würde, daß sie vielmehr von den europäischen Nationen als tragbar, womöglich als „gerecht" empfunden werden müßte also eben das, was die „Friedensmacher" von 1919 in Versailles verfehlt haben 61 ). War aber das Herabdrücken Frankreichs zu einer deutschen Wirtschaftsprovinz und einer Macht zweiten Ranges, war vollends die Umwandlung Belgiens zu einem deutschen „Vasallenstaat" und schließlich ein mit Waffengewalt erzwungener, durch ein „Friedensdiktat" geschaffener, von Deutschland beherrschter kontinentaler „Wirtschaftsbund" ein Kriegsziel, das Dauer versprach und allen als tragbar erscheinen konnte? Man wird doch kaum anders urteilen können, als daß Bethmann Hollweg, unter dem Druck militär-politischer Sorgen und wirtschaftlicher Wünsche stehend, zu wenig vom sicheren politischen Instinkt und der souveränen Willenskraft des großen Staatsmanns besaß, um über alle an ihn herandrängenden Wünsche, Befürchtungen und Hoffnungen hinweg ein klar erkanntes, von der Staatsvernunft gesetztes und also auch erreichbares Fernziel anzusteuern. Freilich: wer das ausspricht, muß sogleich hinzufügen, daß schon ein ungewöhnliches Maß politischer Selbstsicherheit dazu gehörte, um in einer so tief aufgewühlten, von Leidenschaften, Sorgen und Wünschen umgetriebenen

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Umwelt, wie sie der moderne Volkskrieg darstellt - in unserem Jahrhundert noch unvergleichlich mehr als im vorigen! - nach großen Kriegserfolgen sogleich das rechte M a ß zu finden. Wir sind gewohnt, Bismarcks Staatskunst wegen der Mäßigung zu bewundern, mit der er den deutschen Bürgerkrieg von 1866 durch einen versöhnlichen Frieden mit Österreich-Ungarn und seinen süddeutschen Gegnern abschloß und sich damit begnügte, durch umfangreiche Annexionen und die Absetzung mehrerer Dynastien in Nord- und Mitteldeutschland das Übergewicht Preußens bis zum Main eindeutig zu befestigen. Im Kampfe gegen Frankreich 1870/71 hat er aber nicht dieselbe Weisheit gezeigt, sondern (wie wir heute wissen) sogar öffentliche Kundgebungen für einen Annexionsfrieden künstlich zustande gebracht, die ursprünglich nur von wenigen extremen Nationalisten wie Treitschke unterstützt wurden 62 ).Bekanntlich hat diese Annektionsabsicht den Krieg nach Sedan noch um volle 5 Monate verlängert und die nationalen Leidenschaften in Frankreich zur Siedehitze ansteigen lassen. Dabei war Bismarck auch noch innerlich unsicher, ob er den besiegten Gegner durch Schonung versöhnen oder durch Wegnahme von zwei längst französierten Provinzen demütigen, dafür aber Deutschlands militärische Grenze wesentlich verbessern sollte. Maßgebend für seine Entscheidung waren schließlich, wie unsere frühere Darstellung gezeigt hat (Band I, 325 ff), rein militärtechnische Erwägungen, - also Motive ähnlicher Art, wie sie auch in Bethmanns belgisch-französischen Plänen die Hauptrolle spielen. D a ß diese Entscheidung, die im wesentlichen schon gleich zu Kriegsanfang getroffen und in öffentlichen Kundgebungen festgelegt wurde, einen echten Dauerfrieden zwischen Frankreich und Deutschland verhindert hat und damit wahrhaft verhängnisvoll geworden ist, weiß heute jedermann. Es wird gut sein, sich an das alles zu erinnern, wenn man Bethmann Hollwegs September-Denkschrift verurteilt, die doch niemals mehr bedeutet hat als einen ersten, streng geheimen, durchaus provisorischen Entwurf — mehr „Erwägung" als „Entschluß". Daß sie die Grundlage für Bethmanns ganze Kriegszielpolitik bis zu seinem Sturz gebildet habe und in allen wesentlichen Punkten zähe festgehalten sei, ist einfach unrichtig, wie unsere weitere Darstellung noch zeigen wird. Es war schon viel, daß der Kanzler so bald nadi dem Scheitern der großen Frankreich-Offensive sich von Illusionen befreit hat - allerdings ohne sogleich alle Hoffnung fahren zu lassen. Nachträglich ist es leicht zu sagen, daß Deutschland froh sein, ja es als großen Erfolg buchen mußte, wenn es ihm gelang, in seinem Krieg gegen die halbe Welt den status quo ante bellum fest-

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zuhalten und durchzusetzen. In einem vertraulichen Schreiben an das Auswärtige Amt hat Bethmann Hollweg diese Einsicht auch schon am 24. N o vember 1914 ziemlich deutlich erkennen lassen (wir werden davon noch hören). Gegen den Vorwurf, er hätte die Pflicht gehabt, auch das deutsche Volk sogleich über seine ernste Lage aufzuklären, hat er sich 1919 geradezu mit Erbitterung gewehrt. M a n habe ihn in der deutschen Öffentlichkeit während des Krieges, sagte er vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuß, immer als Pessimisten angegriffen, weil er in vertraulichen Gesprächen mit Parteiführern und Politikern aller Parteien niemals ein Hehl gemacht hätte aus seiner ernsten Auffassung unserer Lage. Wenn er im Reichstag ebenso gesprochen hätte, fügte er sehr erregt hinzu, „dann wären wir sofort zusammengebrochen. D a habe ich den Mut aufrechterhalten, und das war meine Pflicht gegen Volk und Armee. Ich habe dabei, obwohl ich selbstbewußte und zuversichtliche Worte gesprochen habe - goldene Berge habe ich niemals aufgerichtet 6 3 )." Man könnte dem hinzufügen, daß ein öffentlich erklärter Verzicht auf den „Endsieg" auch außenpolitisch unabsehbare Folgen hätte haben müssen, vor allem bei denjenigen Neutralen, die (wie Rumänien und Italien) nur der Respekt vor den deutschen Waffenerfolgen von dem Übertritt in die Reihen unserer Feinde zurückhielt oder die, wie Türken und Bulgaren, nur durch eben denselben Respekt an unsere Seite geführt worden sind. Aber auch der innere Zusammenhalt des Vielvölkerstaates an der Donau, unseres Bundesgenossen, wäre durch jede offizielle Andeutung, daß eine siegreiche Beendigung des Krieges nicht mehr zu erwarten sei, schwer bedroht worden. Demgegenüber erscheint es nicht einmal so wichtig, daß selbstverständlich jedes Eingeständnis dieser Art zu einem so frühen Zeitpunkt des Krieges für einen deutschen Staatsmann politischen Selbstmord bedeutet hätte. Die Nation hätte es einfach nicht ertragen. U n d ihre Weigerung, nach so schweren Blutopfern, aber auch großen militärischen Leistungen und Teilerfolgen sogleich zu resignieren, läßt sich nicht einfach als imperialistische Verblendung abtun. D a s Streben nach dem „totalen Sieg" (und damit nach „Weltmacht") und das unnachgiebige Festhalten am Ziel der militärischen Vernichtung des Gegners war in allen Völkern gleich lebendig, die 1914 miteinander das große Ringen begannen. Die hoffnungslose Verstrickung in tödliche Feindschaften, die dadurch entstand, das Opfer von Millionen und Abermillionen um höchst fragwürdiger Kriegsziele willen kann uns Nachlebenden nur als schauerliche Tragödie erscheinen. In Deutschland ist das Tragische und letztlich Hoffnungs-

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lose dieses Geschehens sowohl von dem leitenden Staatsmann wie von dem Chef der Obersten Heeresleitung General Falkenhayn, dem Nachfolger Moltkes seit Mitte September, schon früh erkannt und immer sehr schwer empfunden worden.

2. K a p i t e l

POLITIK U N D K R I E G F Ü H R U N G IM ERSTEN KRIEGSJAHR BETHMANN HOLLWEG U N D FALKENHAYN BIS ZUM E N D E DES P O L E N F E L D Z U G S

Erster

Abschnitt

Nach der Marneschlacht: Ost- oder Westfront? Es scheint, daß sich zwischen Falkenhayn und Bethmann Hollweg niemals ein Verhältnis gegenseitigen Vertrauens herausgebildet hat. An dem heftigen Streit um die formelle Kriegserklärung, der die Militärs in den ersten Augusttagen 1914 mit dem Kanzler entzweite, hatte sich jener als Kriegsminister in besonders „brüsker" Form beteiligt (Band II, S. 337). Das mag um so verletzender gewirkt haben, als er sich gerade in jenen aufgeregten Tagen im ganzen nüchtern-besonnener gezeigt hat als der nervenkranke Moltke. Er war (nach der Schilderung seines Biographen1)) seiner äußeren Erscheinung und Haltung nach eine Art von Idealtyp des preußischen Offiziers und Edelmanns: eine hochgewachsene Gestalt von männlicher Schönheit und federnder Elastizität, geistig ebenso frisch wie körperlich, eine geborene „Herrennatur", intelligent und beweglich, aber immer selbstbeherrscht und selbstsicher, zuweilen bis zu abweisender Würde, menschlich oft unbehaglich durch seine Kühle und Neigung zu sarkastischer Kritik. Seine militärischen Denkschriften und Korrespondenzen heben sich durdi ihre knappe Bestimmtheit, ihre klare und nüchterne Gedankenführung wohltuend ab von der Weitschweifigkeit der unzähligen Denkschriften seines österreichischen Kollegen Conrad von Hötzendorf, für den mehr die strudelnde Fülle der Einfälle (oft auch die Hitze des politischen Ressentiments) charakteristisch ist als die ruhig-zielsichere Erwägung des Fachmanns. Als Kriegsminister war Falkenhayn zum ersten Mal aus Anlaß der Zabern-Affäre im Reichstag hervorgetreten, hatte die Armee mit betontem Schneid verteidigt und sich dadurch ebenso viel Antipathie in der öffentlichen Meinung wie Beifall und Sympathie beim Kaiser

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erworben. Sein Ehrgeiz stand wahrscheinlich hinter dem Ludendorffs kaum zurück; er hat es ihm in gewissen kritischen Augenblicken (Ypern Herbst 1914, Verdun 1916) verhängnisvoll erschwert, eine fehlgeschlagene Aktion rechtzeitig abzubrechen. Aber im Unterschied zu Ludendorff blieb er immer nüchtern in der Beurteilung unserer Siegesaussichten und war im Grunde auch frei von Selbstüberschätzung. Mit vorbildlich vornehmer Haltung hat er 1916 seine Abberufung vom höchsten Posten der Armee hingenommen und seinen Soldatendienst als Armeeführer (nicht etwa Kommandeur einer Heeresgruppe!) weiter getan, mit glänzendem Erfolg, ohne sich (wie später sein Nachfolger) als verkannte „Feldherrn"größe aufzuspielen. Unter seinen Berufsgenossen hat er sich aber wenig Freunde gewonnen. Im Generalstab galt er als eine Art von Außenseiter, da er die Schule Schlieffens nicht mit durchgemacht hatte, sondern 1896 bis 1903 in China auf verschiedenen Außenposten tätig gewesen war. Das hatte ihm einen erweiterten politischen Horizont und eine weltmännische Haltung verschafft, wie sie im deutschen Offizierkorps nicht alltäglich war, hatte ihm aber auch eine gewisse Unbefangenheit gegenüber den strategischen Rezepten der Schlieffen-Schule bewahrt. Sein nächster und vertrautester Mitarbeiter, General Wild von Hohenborn, selbst ein Mann der Schlieffen-Schule, schwankte stark in seinem Urteil über die militärischen Fähigkeiten des Generalstabchefs. Einerseits bewunderte er dessen „souveräne Ruhe und Sicherheit des Auftretens" in kritischen Lagen („ein Mordskerl ist er doch!"), fand auch viel Schwung in seinen militärischen und politischen Ideen, hatte aber anderseits den Eindruck, „daß, sobald die eigentliche Generalstabstätigkeit anfängt, Falkenhayn bald an der Grenze seines Könnens ist" 2 ). Den älteren Generälen galt er mit seinen 53 Jahren als „zu jung" für seinen hohen Posten, zumal er anfangs die Leitung des Kriegsministeriums und des Generalstabs in seiner Person vereinigte; und er hatte nicht das Glück, durch einen großen militärischen Anfangserfolg seine Autorität zu befestigen. Das größte Verhängnis für seinen Nachruhm war aber, daß er sehr bald in einen schweren Konflikt mit Ludendorff und dessen Stab geriet, der nun die gehässigsten Urteile sowohl über seine militärischen Fähigkeiten wie über seinen Charakter verbreitete. Nichts anderes, hieß es jetzt, habe ihn verhindert, der Ostfront die nötigen Verstärkungen zuzuführen, als seine persönliche Eifersucht, die dem Dioskurenpaar Hindenburg-Ludendorff ihren Erfolg und Ruhm nicht gönnte. Das hat bis heute in der Militärliteratur über den Weltkrieg nachgewirkt und sein Charakterbild verdunkelt. Es war aber zweifellos ungerecht. Nicht die Eifersucht des Rivalen und die

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persönliche Verstimmung über einen sehr eigenwilligen und selbstbewußten Unterführer haben die strategischen Entschlüsse Falkenhayns 1914/15 bestimmt (obwohl sie natürlich nicht fehlten, und die menschliche Atmosphäre zwischen den Hauptquartieren noch mehr vergifteten), sondern rein sachlichmilitärische Erwägungen, die er in seinen Memoiren selbst mit vollendeter Präzision sehr eindrucksvoll dargelegt hat 3 ). Auch wer seine Argumente nicht alle durchschlagend findet, wird doch ihre Ernsthaftigkeit und die redliche Bemühung des Generalstabschefs um sachgerechte Entscheidungen nicht bezweifeln dürfen. Im Vergleich mit dem schwerblütigen, an seiner Verantwortung schwer tragenden Kanzler Bethmann Hollweg erschien Falkenhayn dem General Wild von Hohenborn geradezu als „vielgewandter, rücksichtsloser G a l o p i n " ein Urteil, das jedenfalls die völlige Gegensätzlichkeit beider Naturen kennzeichnet. Der Generalstabschef ist dem Kanzler offenbar von A n f a n g an mit einer gewissen Überheblichkeit begegnet 4 ). Bethmann seinerseits war immer bemüht, sich in seinem Urteil nicht durch persönliche Verärgerung bestimmen zu lassen. Wahrscheinlich hatte er ganz recht, wenn er meinte: „Ein großer Mann ist er nicht. Ein tüchtiger wohl zweifellos", und wenn er es beklagte, daß er „keine großen Mitarbeiter habe" — was sich in erster Linie auf den (von Moltke übernommenen) Chef der Operationsabteilung, Generalmajor T a p p e n , bezog 5 ). Der Mut und die Energie, mit der Falkenhayn im gefährlichsten Moment der Marne-Schlacht dem Generalstabschef Moltke die schlaff gewordenen Zügel aus der H a n d nahm und verhinderte, daß sich die Krisis zur Katastrophe auswuchs, hat der Kanzler immer anerkannt. Er wurde auch anfangs, wie es scheint, v o m Generalstab korrekt und ohne jede Beschönigung über die militärische L a g e informiert 6 ), vermißte aber (nach einer späteren Aufzeichnung 7 )) schon seit Oktober eine klare Auskunft darüber, wie der Krieg nach dem Scheitern der großen Westoffensive weitergehen sollte. I m Osten w a r trotz des großen Schlachtensieges von Tannenberg und der nachfolgenden Säuberung Ostpreußens vom Feinde die L a g e infolge des totalen Zusammenbruchs der österreichischen Offensive in Galizien und des Vormarsches starker russischer Verbände durch Polen gegen Oberschlesien sehr bedrohlich geworden, bot aber einer überlegenen deutschen Strategie noch die Chance bedeutender Erfolge im Bewegungskrieg; beides ließ die Zuführung großer Verstärkungen aus dem Westen als dringlich erscheinen. In dieselbe Richtung wies bald darauf das politisch-militärische Bedürfnis, das klägliche Scheitern der zweiten österreichischen Offensive in Serbien durch das Ein-

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Zweites Kapitel I

greifen deutscher Truppen wieder gut zu machen und zumindest die Nordwestecke dieses Landes in Besitz zu nehmen, um dadurch freie Verbindung nach Bulgarien und der verbündeten Türkei zu bekommen, die von Rumänien für Kriegstransporte fast gänzlich gesperrt war. Auf die Dauer war nur so Bulgarien als Bundesgenosse zu gewinnen und eine wirksame Unterstützung der Türkei möglich. Bethmann Hollweg war keineswegs gewillt, die Entscheidung so wichtiger militär-politischer Fragen einfach den Militärs zu überlassen - gerade nach den Erfahrungen, die er während der Juli-Krise mit ihnen gemacht hatte. Er bestand darauf, daß ohne seine Zustimmung kein Schritt von grundsätzlicher Bedeutung getan werden dürfte 8 ). Falkenhayn wurde indessen bald sehr „reserviert" mit seinen Auskünften - sicherlich deshalb, weil er selbst noch mit dem Entschluß zu ringen hatte, endgültig die Angriffsoperationen im Westen abzubrechen und dort alle Hoffnung auf eine Oberflügelung des Gegners zu begraben 9 ). Am 8. November erwog er, unter dem Eindruck des bedrohlichen Vormarsdies der Russen in Polen, ihnen durch einen überraschenden Gegenstoß von Norden (Thorn) her, notfalls unter zeitweiliger Preisgabe Ostpreußens, Posens und Schlesiens, in die rechte Flanke zu fallen, und zwar mit einer sehr starken Heeresgruppe, von 12 Armeekorps, für die er etwa die Hälfte aus der Westfront herausziehen zu können hoffte. Hätte er diesen Plan (für dessen Leitung er sich selbst nach dem Osten begeben wollte) überraschend durchführen können, so hätte er vielleicht zu einer so vernichtenden Niederlage der russischen Hauptmacht geführt, daß die Zentralmächte von Osten her für absehbare Zeit keine ernste Gefahr mehr zu befürchten hatten. Aber unglücklicherweise hielt er zäh daran fest ¡vorher müßten die Operationen im Westen durch Wegnahme des feindlichen Frontbogens bei Ypern mit einem weithin sichtbaren Waffenerfolg abgeschlossen sein, und er glaubte dieses Nahziel in spätestens zwei Wochen erreichen zu können. Als nun am folgenden Tag Ludendorff dringend um Verstärkungen bat, um eine schon vorher vom Stab Hindenburgs entworfene Offensivaktion, die fast genau in die gleiche Richtung wie sein eigener Plan zielte, mit gutem Erfolg durchführen zu können, stellte er ihm die Entsendung von vier aktiven Korps aus der Westfront in 14 Tagen in Aussicht, erhob aber keinen Widerspruch dagegen, daß die im Posener Hauptquartier beschlossene Aktion schon jetzt anlief, ohne das Eintreffen der Verstärkungen aus dem Westen abzuwarten. Sie führte - dank der Überraschung des Gegners — zu sehr schönen Anfangserfolgen, während Falkenhayn die bittere Enttäuschung erlebte, daß die mit

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großen blutigen Opfern durchgeführte Offensive gegen Ypern hoffnungslos im flandrischen Schlamm stecken blieb. Am 18. November war an ihrem Scheitern kein Zweifel mehr. Den Generalstabschef scheint dieser Mißerfolg, der im Großen Hauptquartier allgemein als katastrophal empfunden wurde, seelisch tief erschüttert und in seiner soldatischen Zuversicht ernstlich wankend gemacht zu haben 10 ). Denn er wurde nicht nur unsicher, ob er angesichts einer so unerwartet starken Widerstandskraft der westlichen Gegner die Abgabe größerer Truppenteile aus der Westfront verantworten könne (dies um so mehr, als unsere Artillerie am 14. November nur noch für vier Tage Munition hatte!), sondern auch skeptisch gegenüber der Möglichkeit, durch Einsatz neuer Verbände im Osten während der schlimmsten Schlammperiode des Jahres wirklich entscheidende Erfolge zu erreichen. Da inzwischen auch die Offensive des Ostheeres, mit unzureichenden Kräften begonnen, bei Lodz von weit überlegenen russischen Heeresmassen aufgehalten und schließlich erstickt wurde und die Hilferufe von dort immer dringender klangen, ließ er vom 18. November an die Angriffe bei Ypern einstellen und die Abtransporte nach Osten vorbereiten. Er war sich aber klar darüber, daß sie nur noch Lücken füllen und keine große Entscheidung mehr herbeiführen konnten. Diese Erkenntnis hat er am gleichen Tage in einem Schreiben an Hindenburg auch unmißverständlich - und zur schweren Enttäuschung des Posener Hauptquartiers - ausgesprochen. Gleichzeitig suchte er Bethmann Hollweg (der bei dieser Wendung der Dinge als Dränger mitgewirkt hatte 11 )) zu einer politischen Besprechung auf, in der seine militärische Resignation ganz deutlich wurde. Er eröffnete dem Kanzler kurz und bündig, daß an einen deutschen Sieg, der uns zu einem „anständigen Frieden" verhelfen könnte, nicht mehr zu denken sei, falls es nicht gelänge, entweder Frankreich oder Rußland aus dem Ring unserer Feinde herauszusprengen. Er selbst sei zu sehr billigen Friedensbedingungen sowohl im Westen wie im Osten bereit und verlange „vom militärischen Standpunkt" keinerlei Landerwerb, sondern nur Kriegsentschädigungen. Ob unsere Ostgrenze durch kleine Grenzberichtigungen verbessert werden müßte, bedürfe erst noch der Ermittlung; im Westen genüge die Schleifung Beiforts als Festung; weder auf den Westabhang der Vogesen noch auf das Vorland von Metz (Bassin de Briey) legte er jetzt noch (wie in früheren Aussprachen) Wert. Mit Frankreich müßten wir ja auf alle Fälle, spätestens nach dem Krieg, Verständigung suchen.

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Das war die weitestgehende Beschränkung der Kriegsziele, die dem Reichskanzler jemals von militärischer Seite (soviel wir wissen) entgegengebracht worden ist. Er wird sie nicht ohne Verwunderung aufgenommen haben und stellte sie in seinem Bericht an das Auswärtige Amt (Unterstaatssekretär Zimmermann) mit einem Anflug von bitterer Ironie den ausschweifenden Annexionsforderungen gegenüber, mit denen er gerade jetzt von den Vertretern der deutschen Schwerindustrie (Stinnes, Kirdorf!, Thyssen, Hugenberg), dem ihnen verbündeten Nationalökonomen Professor Schumacher und den Rechtsparteien bedrängt wurde 12 ). Noch erstaunlicher war aber, daß ihm der General vorschlug, er möge auf diplomatischem Wege versuchen, mit Rußland einen Sonderfrieden auszuhandeln - obwohl doch bekannt war, daß die Mächte der Triple-Entente sich am 4. September in feierlicher Form gegenseitig verpflichtet hatten, keinen Sonderfrieden zu schließen. „Der psychologische Moment zur Fühlungnahme mit Rußland werde gekommen sein, wenn es dem General Hindenburg gelingen sollte, die Russen in den jetzt im Gang befindlichen Kämpfen so zu schlagen, daß sie in diesem Winter nichts mehr gegen uns unternehmen könnten. Er sei damit einverstanden, daß dann selbst eine gewisse Invite von unserer Seite stattfände, natürlich in vollem Einverständnis mit Wien, da sonst die dringende Gefahr bestehe, daß ÖsterreichUngarn abspringe 13 )." Dieser höchst auffallende Schritt hatte für Falkenhayn grundsätzliche Bedeutung: er hat an seiner Forderung seitdem gegen alle Einwände von politischer und militärischer Seite zähe festgehalten und den Krieg mit Rußland überhaupt nur noch mit dem Ziel fortgeführt, nicht den Gegner zu „vernichten" (denn das hielt er für unmöglich angesichts der dauernd angespannten Lage im Westen), sondern ihn durch möglichst starke Schläge reif für den Sonderfrieden zu machen. „Alle Siege im Osten", schrieb er am 26. November an Oberost, „die nur auf Kosten unserer Stellung im Westen errungen werden können, sind wertlos" 14 ). Das war keine Bereitschaft zur „Kapitulation" (denn der Krieg sollte ja dann, als Einfrontenkrieg fortgesetzt, doch noch zum Siege führen) und darf auch nicht (wie es vielfach geschieht) als bewußte „Schonung" des russischen Gegners mißverstanden werden; aber es bedeutete doch den bewußten Verzicht auf einen Totalsieg, wenigstens auf einer der Fronten, und stand damit im Gegensatz zu den im Generalstab traditionellen Vorstellungen vom Ziele jedes wahren Krieges. Es hat denn auch dazu geführt, daß der schroffe Gegensatz zwischen Falkenhayn und dem Stab Hindenburgs vollends unversöhnlich wurde.

Nadi der Marneschlacht: Ost- oder Westfront?

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Wie nahm Bethmann Hollweg die Vorstellungen Falkenhayns auf? Er war so mißtrauisch, daß er zunächst dahinter einen Versuch des Generals witterte, die Verantwortung für einen enttäuschenden Kriegsausgang auf die Diplomatie abzuschieben. Trotzdem stimmte er seiner Beurteilung der Gesamtlage zu, d.h. auch er bezweifelte, „daß eine militärische Niederwerfung unserer Gegner noch möglich ist, so lange die Triple-Entente zusammenhält". Aber man spürt seinem Bericht an das Auswärtige Amt deutlidi die Unsicherheit darüber an, was nun zu tun wäre. In längeren, umständlichen Erwägungen aller voraussehbaren Möglichkeiten, Gefahren und Hoffnungen sträubt er sich gegen lähmenden Pessimismus im Blick auf die Zukunft. Dieses Sträuben ist für den Staatsmann Bethmann Hollweg mit seinem starken Verantwortungsbewußtsein ebenso charakteristisch wie seine vielen Bedenklichkeiten und Sorgen 15 ). Er kommt zu dem Schluß, daß ein langes Fortsetzen des Krieges bis zu allgemeiner Erschöpfung und sein Ausgang als parti remis das wahrscheinlichste sei, ist aber „geneigt, selbst einen solchen Abschluß als Erfolg für Deutschland zu betrachten - insofern nämlich, als dann vor aller Welt demonstriert wäre, daß selbst die größte feindliche Koalition uns nicht niederzwingen kann, eine Tatsache, die nicht ohne friedenwirkende und entwicklungsfördernde Folgen bleiben würde". Aber freilich würde sie „zunächst dem Volke als durchaus ungenügender Lohn für so ungeheure Opfer erscheinen". Bethmann fand also die Lage „ernst", wenn auch nicht verzweifelt, und glaubte deshalb dem „fortgesetzten Drängen" des Generalstabschefs auf Sonderfrieden mit Rußland sich „nicht entziehen zu können"; aber er bezweifelte die Verständigungsbereitschaft des Zaren, auch nach einem neuen Siege Hindenburgs, der ja in diesem Augenblick, während des Vormarsches großer russischer Heeresmassen gegen Schlesien und der schweren Kämpfe um Lodz, noch höchst zweifelhaft war. Zum mindesten müsse vorher der größte Teil Polens „als Faustpfand" in unserer Hand sein. Sorge machten ihm auch die zu erwartenden Kriegszielforderungen unserer Verbündeten und die Gefahr, daß eine gescheiterte deutsche Friedensinitiative in Rußland von der gesamten Triple-Entente als Zeichen der Schwäche verstanden werden würde - mit der Folge, daß dann in Frankreich jede Friedensneigung schwände. Er war also grundsätzlich bereit zu einer „Fühlungnahme mit Rußland", aber voll Bedenken, unsicher über die Modalitäten und erbat den Rat seiner diplomatischen Mitarbeiter. Als nun in den nächsten Tagen über den Hamburger Reeder Ballin und dessen dänischen Freund, Staatsrat (und

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Reeder) Andersen ein Angebot des Königs von Dänemark an den Kaiser gelangte, Friedensfühler nach London und Petersburg auszustrecken, griff er sofort zu. Nur richtete er es sorgfältig so ein, daß jeder Anschein einer deutschen Initiative vermieden und vorher in aller Form die Zustimmung des Wiener Hofes eingeholt wurde 16 ). Was er nicht wissen konnte, war die Tatsache, daß gerade in jenen Tagen der Zar Nikolaus dem französischen Botschafter Paleologue einen Plan für die künftige Zerstückelung Deutschlands, Österreich-Ungarns und der Türkei entwickelte, der wie selbstverständlich die absolute Vernichtung der militärischen Macht beider Mittelmächte und ihres türkischen Verbündeten voraussetzte und nicht die geringste Friedensneigung erkennen ließ 17 ). Wir werden davon noch hören. Bethmann Holl weg war ja auch skeptisch; Unterstaatssekretär Zimmermann aber mehr als das: er lehnte den Gedanken eines Sonderfriedens mit Rußland rundweg ab. Man dürfe an Frieden mit dem Zarenreich so lange gar nicht denken, als nicht die Gefahr des panslawistischen Expansionsgelüstes durch einen wirklichen Sieg abgewendet, d. h. die Russen aus Polen und Galizien vertrieben und „gänzlich niedergezwungen" wären. Wir sollten uns deshalb in Frankreich, dessen zähen Kampfeswillen Zimmermann weit unterschätzte, damit begnügen, die jetzt erreichte Frontlinie zu behaupten und alle militärische Kraft gegen Osten werfen. Sollte sie jetzt nicht zur Befreiung Polens und Galiziens ausreichen, so müßte wenigstens Serbien vollständig niedergeworfen, das Prestige des Zaren als Protektor der Balkanslawen also schwer „kompromittiert" werden. Sollte sich die Zarenregierung dann zu einem Sonderfrieden bereit zeigen, so sollten wir ihr das „durch billige Friedensbedingungen, also etwa territorialen status quo gegen uns, ÖsterreichUngarn und die Türkei sowie mäßige Kriegsentschädigung in Gestalt einer Anleihe", erleichtern. Aber jetzt schon, vor einer klaren militärischen Entscheidung, sich mit den Russen auf Friedensverhandlungen einzulassen, um dann gegen Frankreich und England den eigentlichen Stoß zu führen — das erschien Zimmermann nicht nur als Verrat an den Bundesgenossen, sondern zugleich am Sinn dieses Krieges, der ja doch begonnen sei, um die Gefahr aus dem Osten für alle Zukunft zu beschwören18). So trat der politischen Ansicht Falkenhayns, der England und Frankreich für unsere eigentlichen und gefährlichsten Gegner hielt, die genau umgekehrte gegenüber - ein Zwiespalt, der letztlich aus der paradoxen Natur dieses mit verkehrter Front begonnenen Krieges entsprang. Aber zum politischen Gegen-

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satz gesellte sich sogleich der militärische, als der Reichskanzler Anfang Dezember ins Hauptquartier Hindenburgs reiste, um sich dort informieren und beraten zu lassen. Er stieß dort auf ein hohes Maß von Erbitterung über den Chef des Generalstabs, die sich schon im November in einem sehr gereizten Briefwechsel entladen und zu vergeblichen Ausgleichsversuchen des Kaisers geführt hatte. Man war empört darüber, daß Falkenhayn zunächst eine gewaltige Verstärkung für den Stoß auf Lodz zugesagt, sie aber dann wochenlang verzögert und schließlich viel zu spät und verzettelt abgesandt hatte. Man hielt die letzten Angriffe in Flandern für völlig verfehlt und urteilte über die Fähigkeiten des Generalstabschefs so schonungslos und mit so viel Überheblichkeit, wie es der eigenwilligen Natur Ludendorffs und dem hohen Selbstbewußtsein seines immer sarkastischen Operationschefs Hoffmann entsprach. Die allgemeine Empörung steigerte sich noch, als man durch Bethmann von Falkenhayns Friedenswünschen erfuhr. Für einen Ludendorff, der noch im ungebrochenen Glauben an den Vernichtungssieg als Ziel des wahren Krieges aufgezogen und fest überzeugt war, ihn über die Russen erringen zu können, wenn man ihm nur genügend Truppen zur Verfügung stellte, waren solche Friedensforderungen mehr als Ketzereien: sie galten ihm als „Verbrechen". Über die Einzelheiten seiner Aussprache mit Bethmann ist nichts bekannt, wohl aber das Ergebnis: daß Bethmann einen starken Eindruck gewann von der „militärischen Qualität und Organisationskraft der östlichen Heeresleitung" 19 ) und umgekehrt: daß Ludendorff (ebenso wie Hoffmann) imponiert war von der politischen Klugheit des Kanzlers und diesen von jetzt ab als Bundesgenossen gegen Falkenhayn betrachtete20). In der Tat war Bethmann nun vollends an diesem irre gemacht. Eine Aussprache mit ihm in Berlin scheint erst recht zur Verstimmung geführt zu haben. Falkenhayn erklärte die großen Siegeshoffnungen Hindenburg- Ludendorffs, von denen ihm Bethmann berichtete, für Illusionen; die Armee sei nur noch ein „zertrümmertes Werkzeug", mit dem sich entscheidende Operationen nicht mehr führen ließen; man könne froh sein, wenn es gelänge, sich an allen Fronten zu behaupten 21 ). Damit verdarb er sich vollends das Vertrauen des Kanzlers. Dieser ging nun offensiv vor (wahrscheinlich auf Hindenburgs Rat) und verhandelte mit Lyncker, dem Chef des Militärkabinetts, und dem Generaladjutanten v. Plessen, um Falkenhayns Ablösung aus dem Posten des Generalstabschefs und seine Beschränkung auf das Amt des Kriegsministers zu erreichen. Er stieß aber auf entschiedenen Widerspruch; denn die beiden Hof-

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generäle kannten die Vorliebe Wilhelms II. für seinen jetzigen Generalstabschef, sein Widerstreben gegen Ludendorff und teilten die lebhafte Zustimmung des Kaisers zu den Friedensplänen Falkenhayns 22 ). Lyncker bewirkte sogar am 9. Dezember dessen endgültige Ernennung zum Chef des Generalstabs, den er bisher (formell) nur vertreten hatte. Aber damit bewirkte er nur, daß man im Hauptquartier Oberost den Kampf nun erst recht aufnahm. Als Mittelsmann entsandte Ludendorff den Major von Haeften, Leiter der Kriegsnachrichtenstelle in Posen, Ende Dezember ins Große Hauptquartier nach Charleville. Dort sollte er zunächst den Versuch machen, Falkenhayn selbst im Sinne seiner Auftraggeber umzustimmen, d. h. für eine große Winteroffensive an der Ostfront zu gewinnen. Zu diesem Zweck übergab er einen Bericht über die Operationen des Ostheeres, in dem Ludendorffs Wirken sehr gerühmt wurde - ein Lob, das der Generalstabschef sofort herausstrich. Er nahm überhaupt die ganze Mission höchst ungnädig auf und kanzelte den Boten Ludendorffs entsprechend ab. Immerhin hielt er jetzt eine tags zuvor verfaßte Weisung an Hindenburg zurück, in der er einen vom General Conrad ihm vorgetragenen Plan als völlig aussichtslos abgewiesen hatte, die Russen durch eine weit umfassende deutsch-österreichische Doppeloffensive (die Deutschen vom Narew, die Österreicher vom Sam her) zu „vernichten". Falkenhayn traute (sicher mit Recht) den Österreichern keine wirkliche Offensivkraft mehr zu und hielt den ganzen Plan für phantastisch, weil er bestenfalls dazu führen würde, daß die Russen sich der geplanten, viel zu weiten Umklammerung durch Rückzug in das Innere ihres weiten Reiches entzögen 23 ). Ihm schien es viel dringlicher, Ostund Westpreußen (in das die Russen inzwischen wieder eingebrochen waren) endlich vom Feinde zu säubern und so (ohne eine gewagte, während des Winters doch aussichtslose Großoffensive) die militärische Grundlage zu schaffen f ü r Verhandlungen über einen Sonderfrieden. Wie dringlich diese dem Generalstabschef erschienen, zeigt die Tatsache, daß er seit Anfang Dezember „beinahe täglich" beim Auswärtigen Amt nach dem Stand der Mission Andersen in Petersburg und London nachfragen ließ 24 )! Nach seiner Abweisung durch den Generalstabschef wandte sich von Haeften mehrmals (28. 12 bis 1.1.) an den Reichskanzler und stellte ihm vor, daß auch die Generäle Groener und Wild von Hohenborn, Falkenhayns nächste und bedeutendste Mitarbeiter, dafür stimmten, jetzt den Schwerpunkt nach Osten zu verlegen. Dabei ging es in der Hauptsache um die Verwendung einer eben neu aufgestellten Heeresreserve von 4 V2 vorzüglich ausgebildeten

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und ausgestatteten Armeekorps, mit deren Hilfe Falkenhayn die Westoffensive neu beleben wollte. Der Widerspruch Wilds, des Generalquartiermeisters, gegen diesen Einsatz stützte sich im wesentlichen auf militärische Erwägungen: weit größere Erfolgschancen, meinte er, böte im Augenblick die Ostfront; aber auch das Durchhalten des schwer bedrängten östereichischen Bundesgenossen, die Stützung der Türkei, die Haltung Bulgariens und Rumäniens hingen von unserer gesteigerten Aktivität im Osten ab. Diese politischen Argumente waren auch die Bethmanns, der schon seit zwei Monaten immer wieder, aber vergeblich, einen deutschen Vorstoß in Serbien gefordert hatte - zuletzt noch am 1 7 . 1 2 . auf einer Berliner Besprechung mit Falkenhayn und Ludendorff, auf der eine solche Offensive wenigstens für später beschlossen wurde; aber dann war dieser Plan am hartnäckigen Widerstreben Conrad von Hötzendorffs gescheitert, wovon noch zu reden sein wird 25 ). Haeflen empfahl die Ablösung Falkenhayns durch Ludendorff, was der Kanzler am 1. Januar Plessen erneut vorschlug. Auch dieser stimmte jetzt für einen Wechsel, wünschte aber Moltke zurückzuholen, da Ludendorff dem Kaiser unsympatisch sei. Am 3. wagte Bethmann einen Vorstoß bei Wilhelm I I . selbst, ging aber, um den Anschein einer „Einmischung in militärische Fragen" zu vermeiden (immer ein „Tabu" unter diesem Kaiser!), von konstitutionellen Bedenken aus: die Vereinigung der beiden Ämter des Kriegsministers und Generalstabschefs in einer Hand könne im Reichstag Schwierigkeiten bereiten; dies um so mehr, als Falkenhayn „in der öffentlichen Meinung, in den nachdenklichen politischen Kreisen und, wie ich bestimmt weiß, in einem großen Teil der Armee, kein übergroßes Vertrauen besitzt". Das allgemeine Augenmerk richte sich auf Ludendorff, der so glänzende Proben seines Könnens abgelegt habe. Der Kaiser war sofort mit der Ämtertrennung (die ihm auch der Kronprinz und dessen Generalstabschef schon empfohlen hatten) einverstanden, betonte aber sein persönliches Vertrauen zu Falkenhayn und erklärte: „Ludendorff würde er niemals zum Chef nehmen, der sei ein zweifelhafter, von persönlichem Ehrgeiz zerfressener Charakter. Was habe er auch Großes geleistet? Er habe ihm, dem Kaiser, gewisse strategische Operationen vorgeschlagen, die dann von S . M . genehmigt und empfohlen wurden (Sic!!!) 2 6 )." Nach Rücksprache mit Lyncker und Plessen war dann der Kaiser bereit, Falkenhayn als Kriegsminister durch seinen Generalquartiermeister Wild von Hohenborn zu ersetzen, der aber im Hauptquartier bleiben sollte. Er galt (nicht ganz mit Recht, wie seine Opposition gegen die Westoffensive und sein Nachlaß zeigt) als bloßes Werkzeug Falkenhayns.

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Bethmann war davon nicht befriedigt, wollte aber (in einer für ihn charakteristischen Haltung) „die Sache einstweilen ajournieren" und es den Soldaten überlassen, ihrerseits „das Mißtrauen der Armee" an das kaiserliche Ohr zu bringen. Ludendorff, meinte er in einem Schreiben an Wahnschaffe, habe jetzt keine ernsthaften Chancen, andere Vorschläge (Beseler, Gallwitz,Below, Knobeisdorff) stießen auch auf Bedenken verschiedener Art. Er selbst fühle sich nicht berufen, Falkenhayn schlechthin zu verdammen. Seine bisherigen Leistungen ließen sich „nur fachmännisch und auf Grund genauester Kenntnis der Einzelvorgänge kritisieren", und nachträgliche Kritik sei immer leicht. Anscheinend habe er dem Gegner zu oft die Initiative überlassen und vor allem „den Moment nicht rechtzeitig erfaßt, wo die Entscheidung vom Westen auf den Osten überging", wozu sein persönlicher Ehrgeiz und „infolgedessen mangelnder sachlicher Ernst" wohl beigetragen haben möchten. Die Mißstimmung in der Armee sei wohl besonders durch Ypern („an dem übrigens die Armeeoberkommandos Mitschuld haben sollen") und durch die „langdauernde Inaktivität" der Westfront hervorgerufen — letzteres „meo voto unberechtigt", weil jetzt alles darauf ankäme, durch reine Defensive mit möglichst geringen Verlusten das „belgisch-französische Faustpfand zu halten" und alle Kräfte nach dem Osten zu werfen. „Im Osten scheint mir aber denn doch Ludendorff sdhe Intrige mit im Spiel zu sein. Persönlich machte mir der Mann keinen ganz pupillarischen Eindruck. Auch sein telephonisches Drängen, von dem Sie (Unterstaatssekretär WahnschafTe in Berlin) mir neulich berichteten, gefällt mir nicht. Die unmittelbare Absetzung von Falkenhayn kann ich nicht erzwingen. So überzeugt von seiner Unzulänglichkeit bin ich nicht. Audi könnte ich die Verantwortung nur übernehmen, wenn mir begründete militärische Urteile zur Seite stünden. Und die fehlen mir." Dies letztere ließ er Hindenburg brieflich wissen. Man sieht: in volle Abhängigkeit von Ludendorff war Bethmann Hollweg keineswegs geraten. Seine Äußerungen sind für unser Gesamtthema vor allem deshalb interessant, weil sie die außerordentlichen Schwierigkeiten deutlich werden lassen, die sich, angesichts der technischen Komplikationen der modernen Kriegführung (vollends im Mehrfrontenkrieg!), vor einem Staatsmann aufhäufen, der den ernsthaften Willen hat, die oberste Leitung auch der kriegerischen Operationen nicht einfach den Militärs zu überlassen. Wie zutreffend und nüchtern beurteilt dieser Kanzler die Gesamtlage und seine militärischen Gegenspieler! Und doch: wie unsicher bleibt er zuletzt in seinem Urteil 27 )! Wie immer in solchen Fällen, suchte er Rat bei Experten. Was er

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von den Korpsführern gehört haben mag, bei denen sich Plessen für ihn erkundigen wollte, wird ihm schwerlich weitergeholfen haben. Generaloberst von Moltke, an den er selbst schrieb (5. Januar), sandte am 8. eine sehr enttäuschende Antwort. Er zeigte sich höchst mangelhaft orientiert über die militärischen Ereignisse seit seinem Abgang, völlig frontfern, ja beinahe abenteuerlich in seinen Vorschlägen für eine neue Belebung der Westfront und voll bitterer, aber nicht offen ausgesprochener Kritik an seinem Nachfolger. Ludendorff fand er zwar „zu jung" zum Chef des Generalstabs, nannte ihn ehrgeizig und „eine eigenwillige Persönlichkeit, die mit dem Kopf durch die Wand will", aber sehr befähigt, und empfahl ihn als Oberquartiermeister oder Operationschef etwa unter Generaloberst von Bülow, dessen Fähigkeiten Moltke von jeher überschätzt hat 28 ). Bethmann Hollweg konnte daraus nichts Neues erfahren und hat sich bald darauf gegen Moltkes Rückberufung erklärt. Um so tätiger wurden nun Hindenburg und Ludendorff selbst. Einen Augenblick schien es damals, als wollten sie den militärischen Oberbefehl Falkenhayns über ihre eigene Kommandostelle, also über die Ostfront, einfach ignorieren. Ohne ihn auch nur zu befragen, stellten sie General Conrad am 6. Januar deutsche Divisionen für eine Winteroffensive in den Karpathen zur Verfügung, die Falkenhayn für sehr wenig aussichtsreich hielt (und die dann auch trotz großer Opfer sehr bald stecken geblieben ist). Obwohl das im offenen Widerspruch stand zu mündlichen Abreden, die wenige Tage zuvor zwischen den beiden Generalstabschefs im Beisein Ludendorffs getroffen waren, fügte sich Falkenhayn der vollendeten Tatsache, benützte sie aber zu einem Schritt, der offensichtlich dazu bestimmt war, ihm seinen gefährlichsten Rivalen und Gegner vom Halse zu schaffen. Es wurde eine aus deutschen und österreichischen Truppen gemischte „Südarmee" unter General von Linsingen gebildet und Ludendorff, mit Worten ehrender Anerkennung für seine bisherigen Leistungen, zu dessen Generalstabschef ernannt (8. Januar) 29 ). Das führte aber nun sofort zu einer Immediateingabe Hindenburgs, der den Kaiser geradezu beschwor, ihm seinen Generalquartiermeister zu belassen - mit gutem Grund: denn wie man heute weiß, war er ohne diesen Berater militärisch so gut wie hilflos, und Oberstleutnant Hoffmann, der Ludendorff zunächst ersetzen mußte, war heimlich der schärfste Kritiker, ja Verächter des Feldmarschalls, den er in den Briefen an seine Frau erbarmungslos als militärischen Ignoranten und bloßes Götzenbild der ahnungslosen Menge verspottete 30 ). Eine Aussprache Falkenhayns mit Ludendorff am

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11. Januar machte den Bruch erst recht unheilbar, und schon am nächsten Tage setzte Hindenburg (auf Betreiben Haeftens) ein neues Immediatgesuch auf, in dem er ganz unverblümt Falkenhayns Entlassung forderte, und zwar — ein novum in der preußischen Militärgeschichte! - in der Form eines Ultimatums, d. h. unter Drohung mit seinem Abschiedsgesuch31). Es war das erste Glied in einer ganzen Kette von Ultimaten, die später noch folgen sollten, und zeigt, wie sicher er sich schon damals im Glanz seines legendarischen Ruhmes fühlte. Der Inhalt dieses Schreibens wurde durch Major von Haeften auch sofort dem Reichskanzler brieflich übermittelt. Ehe indessen das Immediatschreiben abging, fragte der Feldmarschall noch einmal Hoffmann und Ludendorff um ihre Meinung. Sie fanden das Ultimatum nun doch zu bedenklich und erreichten, daß es durch eine kategorische Erklärung ersetzt wurde: er lehne jede Zusammenarbeit mit Falkenhayn als unmöglich ab. Der Feldmarschall schlug dem Kaiser und dem Kanzler die Rückberufung Moltkes in sein früheres Amt vor. Er ließ aber Bethmann durch Haeften schreiben, keinesfalls dürfe das Große Hauptquartier nach Osten verlegt werden, um dort die Operationen zu leiten; das würde „eine ernste Gefahr für den erfolgreichen Ausgang" bedeuten, die unter allen Umständen vermieden werden müsse. Ludendorff ließ hinzufügen, er trage seinerseits keine Bedenken gegen Moltkes Ernennung, da ja im Westen (auf den er seine Tätigkeit offenbar beschränken sollte) zunächst keine Entscheidung gesucht würde. Doch müßte er neben Wild als Generalquartiermeister den tüchtigen Oberst Groener als Chef der Operationsabteilung erhalten. Das klang nicht gerade nach großem Zutrauen zu Moltkes Fähigkeiten; aber Hindenburg ließ versichern, Moltke sei die einzige Persönlichkeit, von der man mit Sicherheit ein gutes „Zusammenarbeiten" mit dem Oberkommando Ost erwarten dürfe. Er wollte also im Grunde schon jetzt die „Oberste Heersleitung" an sich reißen und ließ denn auch gleich hinzufügen: „Sind die Operationen im Osten beendet, so besteht die Möglichkeit der Berufung des Generalleutnants Ludendorff als Generalquartiermeister, falls (!) dann noch neue Operationen im Westen erforderlich sein sollten." Daß Rußland sogleich endgültig „besiegt" würde, wenn man nur „Oberost" die neuen Armeekorps zuwiese, erschien im Posener Hauptquartier also bereits als Gewißheit 32 ). An demselben Tage, an dem Hindenburg sein zweites Immediatgesuch (mit Abschiedsdrohung) aufsetzte und dem Kanzler mitteilen ließ, erschien Falkenhayn selbst in Posen, um sich von den Führern einiger an der Ostfront stehender Armeen über die dortige Lage berichten zu lassen und mit dem

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Oberkommando die Frage des Einsatzes der neu aufgestellten Armeekorps zu erörtern. Eine sachliche Besprechung darüber mit Hindenburg erwies sich aber als unmöglich, weil dieser ihm sogleich unter vier Augen „als ältester General der Armee" erklärte, die Armee habe kein Vertrauen zu ihm und ihn aufforderte, um seine Amtsenthebung zu bitten. Als Falkenhayn das ebenso ablehnte wie die Mißtrauenserklärung als solche (ebenfalls ein Novum preußisch-deutscher Heeresgeschichte!), war die Antwort: dann werde er, der Feldmarschall, den Kaiser um Falkenhayns Entlassung bitten. Dem Generalstabschef blieb also nur übrig, über die Zukunftsaufgaben des Ostheeres mit Oberstleutnant Hoffmann allein zu verhandeln (der übrigens als „die Seele des Hauptquartiers Oberost" galt). Ihm wurde von diesem ausführlich der Plan einer Winteroffensive aus Ostpreußen entwickelt; Falkenhayn nahm das sehr reserviert auf, ohne sich über seine eigenen Absichten bereits deutlich zu äußern 33 ). Die strittige Frage nach dem Einsatz der neuen Armeekorps blieb noch offen. Das hinderte Ludendorff nicht, nunmehr zu erklären: Wenn Falkenhayn bleibt, ist der Krieg verloren! Sein und Hindenburgs Verhalten sah einer Revolte schon recht ähnlich. In ihrem Auftrag hatte Major von Haeflen schon vorher eine Reihe von höheren Stabsquartieren der Westfront bereist, ihnen die Lage im Osten in Ludendorffs Sinn (also mit den in Posen erwarteten großen Erfolgschancen) geschildert und die sehr erwünschte Erklärung einzelner höherer Führer mit heimgebracht, der Westen könne recht wohl weitere Truppen nach Osten abgeben. Außerdem hatte er ausführlidi mit dem Oberst Frh. von Marschall, Abteilungschef im Militärkabinett, verhandelt, den Bethmann für die stärkste Stütze Falkenhayns hielt. Jetzt wurde auch die hochkonservative Fronde in Bewegung gebracht. Der bekannte Abgeordnete von Oldenburg-Januschau hetzte den Kronprinzen gegen Falkenhayn auf; dieser wurde im Sinne Ludendorffs bei seinem Vater vorstellig, erntete aber nur dessen lebhaften Unmut. Audi Hindenburgs Schreiben wurde vom Kaiser sehr ungnädig aufgenommen. Bethmann Hollweg, der davon erfuhr und noch glauben mußte, der Marschall habe mit seiner Abschiedsforderung gedroht, also dessen Entlassung befürchtete, wandte sich sofort an Valentini mit der Erklärung, die Verabschiedung Hindenburgs würde politisch untragbar sein; er seinerseits würde sie nicht verantworten können (14. Januar). Anderseits lehnte er es (am 12.) dem Feldmarschall gegenüber ab, an Falkenhayn beim Kaiser selbst Kritik zu üben, da er sich ein eigenes Urteil über militärische Operationen nicht anmaßen könne. Er hat denn

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auch dem Monarchen keinen weiteren Vortrag in dieser Angelegenheit gehalten, ihm offenbar auch nicht mitgeteilt, daß Hindenburg sich auf Rüdsfrage nach einigem Zögern bereit erklärt hatte, selbst den Posten Falkenhayns - aber nur mit Ludendorff als Chef! — zu übernehmen. Es erging dann (am 15.) eine sehr gnädige Kabinettsordre an den Feldmarschall, die ihn bat, auf seinem Posten zu verharren, auch wenn Falkenhayn Generalstabschef bliebe. Das hatte die gewünschte Wirkung: der alte General, tief gerührt über die kaiserliche Gnade, gab den Gedanken an Abschiednehmen auf. Aber das Kesseltreiben gegen Falkenhayn ging unvermindert weiter. Zunächst veranlaßte man den Generaloberst von Moltke, sich mit einer Kritik seines Nachfolgers direkt an den Kaiser zu wenden. Das geschah denn auch; aber Moltkes Immediatsdireiben (17. 1.) fiel sehr wenig glücklich aus: statt einer sachlich überzeugenden Kritik brachte er nur Anschuldigungen recht allgemeiner Art ohne nähere Begründung vor und betonte die Notwendigkeit, jetzt im Osten die große Entscheidung zu suchen34). Der Kaiser war darüber so empört, daß er, wie es scheint, den General sofort mit gänzlicher Entlassung bedrohte - ein Donnerkeil, den Plessen nur mit größter Mühe im letzten Augenblick anhalten konnte. Noch unglücklicher verlief ein Versuch, die Kaiserin ins Spiel zu bringen. Wiederum wurde dafür von Haeften als Mittelsmann benutzt und nach Berlin entsandt. Schon auf der Reise dorthin bemühte er sich im Zuge, gemeinsam mit Oldenburg-Januschau, den Oberst von Marschall für eine Berufung Ludendorffs als Generalstabschef zu gewinnen, was dieser aber sehr erregt abschlug 35 ). Die Kaiserin empfing ihn am späten Abend des 18. Januar. Er schilderte ihr Falkenhayn als ehrgeizigen Intriganten, der dem Feldmarschall seine großen Erfolge nicht gönne, und berichtete ihr, was ihm Hindenburg beim Abschied gesagt hatte: „Sagen Sie Ihrer Majestät, daß ich an dem Konflikt noch zugrunde gehe." Der Marschall sei in der Tat so tief davon erschüttert, daß er die Operationen nicht mehr mit der genügenden Spannkraft leiten könne. Etwa in diesem Sinne setzte Augusta Viktoria sogleich ein Schreiben an ihren Gemahl auf, das der Hausminister von Eulenburg noch etwas umarbeitete. Mit bemerkenswertem Mut übernahm es der Major trotz Warnung Moltkes dieses Schreiben dem Kaiser selbst zu überbringen und zu erläutern. Als er ins Große Hauptquartier kam, erfuhr er, daß die umstrittenen vier neuen Armeekorps inzwischen für den Osten bereitgestellt wären, LudendorfF seinem Feldmarschall zurückgegeben, Falkenhayn zwar Generalstabschef ge-

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blieben, aber als Kringsminister durch Wild von Hohenborn abgelöst sei. Der Kaiser durfte also glauben, alles getan zu haben, was sich tun ließ, um die Aufregung in Posen zu beschwichtigen, und den Offizieren des Großen Hauptquartiers war durch General Wild jede abfällige Kritik am Generalstabschef streng verboten worden. Haeften jedoch, überzeugt davon, daß man im Hauptquartier Oberost immer noch sehr unzufrieden sein würde, beschloß, seine Mission trotz alledem durchzuführen und Wilhelm II. die Bitte vorzutragen, er möge Hindenburg außer den vier neuen Armeekorps auch noch einige Divisionen aus der Westfront für seine Winteroffensive zur Verfügung stellen. Der Erfolg war, wie zu erwarten: der Kaiser, aufs äußerste empört über soviel Insubordination, donnerte mit der Faust auf den Tisch, verbat sich in sehr massiver Weise das Hineinziehen von Frauenzimmern in militärische Dinge und erklärte, Hindenburg gehöre wegen seiner Machenschaften vor ein Kriegsgericht! Dem Oberst von Marschall (den der Kaiser soeben nach Posen entsandt hatte) habe er den Eindruck eines geistig ganz verbrauchten Greises gemacht. Er habe zwar auf Falkenhayns angeblich verfehlte Operation an der Aisne geschimpft, aber auf Rückfrage gar nicht zu sagen gewußt, was denn daran verfehlt gewesen sei; auch einen geeigneten Nachfolger habe er nicht nennen können. Falkenhayn sei ein ganz ausgezeichneter Offizier. Weder auf seine Entlassung noch auf die Entsendung noch weiterer Truppen für die Winteroffensive aus Ostpreußen wollte der Kaiser sich einlassen, glaubte auch keineswegs an die von Ludendorff erwarteten großen Erfolge. Als Haeften schließlich die Bitte wagte, seine Majestät möge doch Falkenhayn anweisen, Hindenburg künftig nicht mehr zu verärgern, gab es einen neuen Zornesausbruch. Er wurde kurzerhand hinausgewiesen und eine kriegsgerichtliche Untersuchung gegen ihn angeordnet. Da wiederum Plessen hilfreich eingriff, blieb es bei einer strafweisen Versetzung an das stellvertretende Generalkommando in Köln; aber nach Posen durfte er nicht mehr zurück, seinem Auftraggeber also nicht einmal selbst berichten. So hochdramatisch endete dieser Konflikt der obersten militärischen Autoritäten. Sieger blieb im wesentlichen Falkenhayn; denn der Einsatz der vier neuen Armeekorps im Osten ist nicht (oder jedenfalls nicht allein) als Nachgeben gegenüber den Forderungen Ludendorffs zu verstehen. Es scheint vielmehr, daß der Große Generalstab selbst schließlich unsicher geworden war: es gab keinen Punkt an der Westfront, der im Augenblick für eine Offensive größere Erfolgsaussichten bot, und die immer mehr ins Wanken geratene Front des österreichischen Bundesgenossen bedurfte immer wieder der Ent-

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lastung durch irgendeine Offensive, die sich gegen Rußland (nodi nicht gegen Serbien richtete. D a ß sie zu einer wirklichen „Kriegsentscheidung" führen werde, wie man im Hauptquartier Oberost mit großer Zuversicht hoffte 36 ), hat Falkenhayn keinen Augenblick geglaubt und nachträglich Zweifel gehegt, ob es überhaupt richtig war, unsere letzten großen Heeresreserven von vier neuen Armeekorps (er hat sie später „mit die besten" genannt, die „Deutschland im Kriege besessen h a t " ) für eine Offensive von schließlich doch nur lokaler Bedeutung herzugeben. Es gelang zwar, in der sogenannten M a surenschlacht Ostpreußen zunächst völlig vom Feind zu befreien und sehr viele russische Gefangene zu machen; aber in den grausamen Winterstrapazen des Februar 1915 wurde die Offensivkraft der Truppe restlos verbraucht, der Angriff gegen den Willen der Obersten Heeresleitung viel zu lange fortgesetzt; die große Heeresreserve aber fand (wie Falkenhayn bitter bemerkte) „in den Wäldern von Augustow zum größeren Teil den Untergang" 3 7 ). In der großen Sommeroffensive von 1915 hätte sie mehr, vielleicht Entscheidendes leisten können. Immerhin: Falkenhayn behauptete sich in seinem Amt; aber auch Ludendorff blieb als Ratgeber Hindenburgs der entscheidende Mann im Oberkommando der Ostfront. Der Gegensatz zwischen beiden Generälen hatte sich zu erbitterter Feindschaft gesteigert, und für den Chef der Obersten Heeresleitung war es eine böse Erfahrung, daß der Reichskanzler im wesentlichen auf Seiten seiner Gegner stand. Die Frage war: würde ein fruchtbares Zusammenwirken von Staats- und Heeresleitung unter solchen Umständen überhaupt noch möglich sein?

Zweiter

Abschnitt

Österreich und der Abfall

Italiens

Es wäre unmöglich gewesen, hätte der Gegensatz tiefere Gründe gehabt als gegenseitiges Mißtrauen der leitenden Persönlichkeiten, Zweifel auf beiden Seiten an der Fähigkeit des andern. Von einem prinzipiellen Konflikt zwischen Staats- und Heerführung, zwischen politischem und „militaristischem" Denken kann man indessen in den Auseinandersetzungen zwischen Bethmann Hollweg und Falkenhayn im ersten Kriegsjahr durchaus nichts entdecken.

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Weder hat der Kanzler daran gedacht (und konnte er daran denken), dem Kampfeseifer des Soldaten aus politischen Gründen in den Arm zu fallen, noch hat der Generalstabschef irgendwelche Neigung gezeigt, in einseitiger Überschätzung der militärischen Leistung und Erfolgschancen des deutschen Heeres übertriebene Kriegsziele als „militärisch notwendig" zu fordern oder eigensinnig auf totaler „Vernichtung" unserer Gegner zu bestehen. Im Gegenteil: gerade er hat als erster, und immer wieder, die Diplomatie zu dem Versuch gedrängt, durch Friedensschluß wenigstens mit einem unserer Gegner unsere Lage zu erleichtern: in erster Linie durch Verständigung mit Rußland, auf Grund sehr gemäßigter Bedingungen, aber doch auch mit Frankreich, wenn dieses sich eines Tages dazu bereitfinden sollte. Und einen „Totalsieg" hat er selbst an der Ostfront für unerreichbar gehalten. Was ihn fürBethmann Hollweg schwer erträglich machte, war sein oft hochmütig wirkendes soldatisches Selbstbewußtsein, von dem wir später noch Genaueres hören werden; ein „Militarist" im Sinn des sturen, politisch blinden Kämpfertums ist er aber nicht gewesen. Im Grunde standen beide, Kanzler und Generalstabschef, in gemeinsamer Front gegen den wild aufgeregten Nationalismus, „Militarismus" und Annexionismus der öffentlichen Meinung - nur daß diese Gemeinsamkeit durch ihr gegenseitiges Mißtrauen verdeckt wurde und der Generalstabschef seine Skepsis gegenüber allen Siegesplänen und großen Erwartungen der Publizisten und Parteipolitiker viel leichter verbergen konnte als der Staatsmann: ihn schützte die Maske des kühl reservierten Fachmilitärs vor unbequemen Fragern und Drängern. Sie schützte ihn so gut, daß er sogar mehrfach in den Plänen der Kanzlerfronde, aber auch bei ehrgeizigen jüngeren Offizieren des Generalstabs, wie Oberst von Seeckt, als der „starke Mann" auftauchen konnte, der eines Tages Bethmann Hollweg die schlaff hängenden Zügel aus der Hand nehmen sollte 38 ). Darüber hat es viel Gerede gegeben, das auch den Kanzler sehr mißtrauisch stimmte, und selbst General Wild traute ihm Anfang 1916 den Ehrgeiz zu, wenigstens später einmal „politischer und militärischer Generalissimus" zu werden. Mehr als Vermutung war das aber nicht. Tatsächlich hat sich Falkenhayn von der politischen Tirpitz-Kampagne gegen Bethmann immer ferngehalten und alle alldeutschen Eingaben und Beschwerden unbeantwortet zu den Akten gelegt 39 ). Man muß das alles vor Augen haben, um zu verstehen, daß trotz der schweren Irrungen des Winters von 1914/15 die Zusammenarbeit von Bethmann Hollweg und Falkenhayn nicht nur weiterging, sondern sich zeitweise sogar ziemlich eng gestaltete.

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Dazu mag beigetragen haben, daß im Hauptquartier Oberost nach dem nur halben Erfolg der Winterschlacht in Masuren doch eine starke Ernüchterung eintrat. Jedenfalls hatte der Kanzler am 4. März 1915 bei einem Besuch im Hauptquartier diesen Eindruck. Hindenburg, berichtete er Valentini 40 ), habe sich recht ernst geäußert: mehr als Teilerfolge gegen die Russen wären unmöglich geworden, an eine große Entscheidung sei nicht mehr zu denken. Nach einem anderen Bericht hätte er sogar geraten, jetzt Frieden zu machen41); auf jeden Fall hatte er gemeinsam mit dem Kanzler über die verrückte Kriegszielpropaganda „der Alldeutschen und Konsorten" gewettert, über Falkenhayn dagegen kein böses Wort mehr verloren. Wie weit Bethmann selbst damals von ausschweifenden Kriegszielhoffnungen entfernt war, zeigt sein Stoßseufzer gegenüber Valentini: die deutsche Siegesgewißheit sei nachgerade zur Vermessenheit geworden, „die Psyche unseres Volkes ist während der letzten 25 Jahre so durch Renommisterei vergiftet, daß sie wahrscheinlich zaghaft würde, wenn man ihr die Großsprecherei verböte. Nur eine richtige Redaktion der Tagesberichte der Obersten Heeresleitung könnte helfen." Der Kanzler benutzte diese ernüchterte Grundstimmung des Hauptquartiers Oberost, um Ludendorff zu einem pessimistischen Gutachten über die Lage an der Ostfront für Feldmarschall Conrad zu veranlassen. Es sollte den Österreichern klarmachen helfen, daß sie allen Grund hätten, durch Landabtretungen an Italien sich dessen fortdauernde Neutralität zu erkaufen, weil Italiens Kriegseintritt zu einer militärischen Katastrophe führen könnte. Auch Falkenhayn ist Anfang Februar von Bethmann gebeten worden, in demselben Sinn auf Conrad einzuwirken, hatte das aber schon lange vorher von sich aus getan, auf die ersten Gerüchte von der italienischen Gefahr hin, und hat seine Mahnungen dann konsequent fortgesetzt, mit Zähigkeit und in politisch geschickter Form. So ergab sich hier einmal eine unmittelbare Zusammenarbeit politischer und militärischer Führung - ohne freilich das persönliche Verhältnis der beiden Männer zu bessern42). Zu pessimistischen Betrachtungen gab die Lage der Mittelmächte am Ende des ersten Kriegswinters wahrlich Anlaß genug, und nur wer die furchtbare Schwere der Sorgenlast ganz ermißt, die damals auf den Leitern der Politik und Heerführung Deutschlands lag, vermag ihre seelische und politischmilitärische Leistung in diesen Monaten gerecht zu würdigen. Die große deutsche Heeresreserve, auf deren Einsatz man so viele Hoffnungen gesetzt hatte, war in der grausamen Winterschlacht von Masuren

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verbraucht. Daß die im Februar und März einsetzenden heftigen Angriffe der Franzosen und Engländer trotz gewaltiger zahlenmäßiger Überlegenheit (in der Champagne nach Falkenhayn 4 3 ) mindestens 6 : 1 , bei Lille 1 6 : 1 ) nicht durchdrangen, war für die Oberste Heeresleitung geradezu eine Überraschung: es zeigte, daß die Verteidigung im Zeitalter des Maschinengewehrs und des modernen Grabenkrieges weit stärker war, als man sich früher hatte vorstellen können. Um so schwerer war die Enttäuschung über das Versagen der österreichisch-ungarischen Armee, die nach erfolglosen Offensivstößen nur mit äußerster Mühe die Karpatenkämme gegen den Ansturm der Russen festhielt, bedenkliche Zersetzungserscheinungen, besonders bei den tschechischen Truppen, zeigte und immer weitergehender Stützung durch Einschieben deutscher Truppenteile bedurfte. Seit den Angriffen der Engländer und Franzosen auf der Halbinsel Gallipoli (Ende Februar) geriet der ganze Balkan in Unruhe; insbesondere Rumäniens Haltung wurde immer unsicherer, und da man von italienisch-rumänischen Abmachungen über gegenseitige Hilfeleistung wußte, wirkten die Nachrichten vom drohenden Übertritt Italiens ins feindliche Lager in höchstem Maße alarmierend. Gleichzeitig wurden die Hilferufe aus Konstantinopel immer dringender, wo man an fast völligem Munitionsmangel litt; denn der Nachschub aus Deutschland konnte nicht geliefert werden, da infolge der wiederholten Niederlage der Österreicher in Serbien der Donauweg immer noch blockiert war. Das hat zu vielen Auseinandersetzungen geführt zwischen Bethmann Hollweg, der auf schleuniges Eingreifen in Serbien drängte, und Falkenhayn, der sich dazu außerstande erklärte, obwohl er den Notstand durchaus anerkannte 44 ). J e düsterer sich aber die militärischen Aussichten gestalteten, um so mehr nahmen die politischen Reibungen zwischen den Bundesgenossen zu. Ihr gegenseitiges Verhältnis war schon nach den ersten Kriegswochen recht unerfreulich geworden. Es rächte sich, daß der zwischen Moltke und Conrad vor 1914 verabredete Kriegsplan (s. Bd. II, 303 ff.) im Grunde auf einer Fiktion aufbaute: als wäre die deutsche Heeresleitung überhaupt imstande, das Erscheinen großer deutscher Heeresmassen an der Ostfront schon nach wenigen Wochen fest zuzusagen. Conrad hatte seine große galizische Anfangsoffensive (die an sich wohl schon die Kräfte seiner Armee überforderte) darauf aufgebaut, daß die Deutschen sehr bald durch einen machtvollen Vorstoß von Norden her (bis nach Siedlec) seine Lage erleichtern würden. Als dieser Vorstoß nun ausblieb (was er angesichts der Lage in Ostpreußen gar nicht anders erwarten konnte und auch schon vor Beginn seiner eigenen

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Operationen erfuhr), und als sein eigenes Angriffsunternehmen mit einer furchtbaren Katastrophe endete (und zwar schon längst vor Ablauf der sechs Wochen Frist, die ihm Moltke in Aussicht gestellte hatte), schob er in leidenschaftlicher Enttäuschung und Eifersucht die ganze Schuld auf die „Treulosigkeit" und „Selbstsucht" des deutschen Bundesgenossen. Seine Korrespondenz schlug von der anfänglich überschwenglichen Versicherung „inniger Freude" am Zusammenstehen zu gehässigem Mißtrauen und erbitterter Anklage um. Die Tatsache, daß seine eigenen Truppen, durch die Niederlage moralisch schwer erschüttert, überhaupt nur noch da die Front zu halten imstande waren, wo sie durch deutsche Hilfskräfte gestützt wurden, deren Führer natürlich ein Mitspracherecht in taktischen Fragen beanspruchten, kränkte sein Selbstbewußtsein und führte zu ständig neuen Reibungen; von dankbarer Anerkennung der deutschen Hilfe war keine Rede. Als ihn Falkenhayn im Dezember zu einer gemeinsamen Unternehmung gegen Serbien (zum Freimadien des Donauweges) auffordern ließ, schlug er das ab und erklärte seinem Flügeladjutanten, er würde sich hüten, durch Wegnahme österreichischer Divisionen von der russischen Front den Deutschen dort das Übergewicht zu verschaffen; sollten sie doch ihre eigenen Divisionen nach Serbien schicken! Dem Verbindungsoffizier zum deutschen Hauptquartier, Graf Stürgkh, gegenüber nannte er die deutschen Bundesgenossen „heimliche Feinde", Kaiser Wilhelm einen „Komödianten"; Falkenhayn und demReichskanzler traute er heimlichen Verrat an Österreich zu 45 ). Natürlich blieb das alles nicht ohne politische Folgen. Graf Berchtold setzte schon am 8. September Himmel und Hölle in Bewegung, um die Beschwerden Österreichs über die deutsche Heeresleitung bei Wilhelm II. und seinem Kanzler recht nachdrücklich anzubringen, ja, er gab Weisung, dem deutschen Auswärtigen Amt auf mehreren Wegen, wenn auch in etwas verhüllter Form, mit dem Abfall Österreichs durch Sonderfrieden zu drohen. Warum hat Deutschland, hieß es jetzt im Teschener Hauptquartier, nicht Ostpreußen einfach bis zur Weichsel geräumt, um Österreich beistehen zu können? Wohl deshalb, meint Conrad, weil Wilhelm II. seine Romintener Jagdgründe wichtiger waren als der Bundesgenosse? Graf Tisza klagte die deutsche Regierung an, daß sie zuerst durch ihre ermutigenden Zusagen an Wien den Ausbruch dieses unglückseligen Krieges und dann durch den Einbruch in das neutrale Belgien „die englische Kriegserklärung und die dadurch hervorgerufene Neutralität Italiens und Rumäniens" ausschließlich selbst verschuldet habe.

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Danach läßt sich leicht ausmalen, mit welchem Ingrimm General Conrad es aufgenommen hat, als der deutsche Generalstabschef ihn aufforderte, die Wiener Politik zu Konzessionen an Italien zu drängen. Seine erste Reaktion war: Deutschland solle doch lieber durch Abtretung des Elsaß an Frankreich den Feindbund zu sprengen suchen (7. Januar 1915) — ein Vorschlag, den die Deutschen auch im Außenministerium gelegentlich zu hören bekamen 46 ). Der Gedanke, den Italienern, den verhaßten und verachteten „Erbfeinden" der Habsburger, gegen die er schon so oft vergebens den Präventivkrieg gepredigt hatte (vgl. Bd. II, 285 ff.), jetzt freiwillig österreichischen Boden anzubieten, um sie vom offenen Verrat an ihren Bundesgenossen abzuhalten, erschien Conrad geradezu ungeheuerlich. Außerdem war er überzeugt (und nicht ohne Grund), man würde dadurch nur ihre Begehrlichkeit zu noch höheren Forderungen anreizen. Conrads Einfluß auf die Politik des Hauses am Wiener Ballplatz darf nicht überschätzt werden. Die massenhaften, wortreichen Denkschriften, mit denen er das Außenministerium fortgesetzt überflutete, wurden dort offenbar nicht allzu wichtig genommen. Vor allem sieht man beim Studium der Korrespondenzen deutlich, wie seine militärische, aber auch seine moralische Autorität während des Krieges fortdauernd sank: es gab keine glänzenden Waffentaten, die sie hätten festigen können; vielmehr hatte er immer größere Mühe, sich der Kritik der Politiker angesichts immer neuer schwerer Mißerfolge, ja Niederlagen der Armee zu erwehren und die ungenügende Rüstung der Vorkriegszeit d a f ü r verantwortlich zu machen 47 ). So entwickelte sich in Österreich-Ungarn das Verhältnis von Staats- und Heeresleitung umgekehrt wie in Deutschland. Hier begann sie mit einer korrekten - ja allzu korrekten - gegenseitigen Respektierung der Ressortgrenzen, um später zur politischen Allmacht der Militärs zu führen. In Österreich-Ungarn schien sich zunächst überhaupt niemand um Ressortfragen zu kümmern: Graf Berchtold griff (auf dem Weg über die Militärkanzlei des Kaisers) unmittelbar in die Befehlsgewalt des Armeeoberkommandos ein 48 ), und Conrad redete hemmungslos in rein politische Fragen hinein, auch in solche, die nicht (wie etwa die Verhandlungen mit den Balkanstaaten) ein spezifisch militärisches Interesse berührten 4 9 ). Aber um dieselbe Zeit, als in Deutschland Hindenburg und Ludendorff in die oberste Heeresleitung berufen wurden und durch den legendarischen Glanz ihres Namens die Autorität des Reichskanzlers vollends verdunkelten, war der Stern Conrads so gut wie völlig erloschen. Aber um dieselbe Zeit, als in Deutschland Hindenburg und Ludendorff in

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die oberste Heeresleitung berufen wurden und durch den legendarischen Glanz ihres Namens die Autorität des Reichskanzlers vollends verdunkelten, war der Stern Conrads so gut wie völlig erloschen. In der italienischen Frage gab es aber keinen Gegensatz zwischen dem Generalstabschef und dem Ministerium des Äußern. Am Ballhausplatz herrschte eine sehr wenig zuversichtliche Stimmung, die sich beinahe zur Panik steigerte, als auch die zweite Offensive in Serbien scheiterte, ja fast zur Katastrophe führte, und dann wieder, als die Bukowina vor dem Angriff kleiner russischer Abteilungen rasch geräumt wurde 50 ). Schon im November zeigte sich Berchtold geneigt, auf ein Vermittlungsangebot der Amerikaner einzugehen, das damals der Oberst House dem österreichischen Botschafter Dumba machte51). Im Dezember wurde (doch wohl im Auftrag des Ministers) ein sehr gemäßigtes Friedensprogramm ausgearbeitet, das - wenigstens im Fall eines „Minimalfriedens" — sogar Serbien gegenüber nur sehr beschränkte Forderungen stellte und Rußland gegenüber bereit war, notfalls auf die längst unbequemen Nebenländer Ostgalizien (Ruthenien) und die Bukowina zu verziditen und ihm den freien Seeweg ins Mittelmeer zu gönnen52). Eine Denkschrift, die der Sektionschef Graf Forgach am 10. Januar vorlegte, ging noch darüber hinaus. Sie erklärte die militärische Lage für so hoffnungslos verfahren und die von einem Eingreifen Rumäniens und Italiens drohende Gefahr für so groß, daß alles versucht werden müßte, um rasch zu einem Frieden, selbst unter Opfern, zu kommen. Forgach hoffte - solange Przemysl noch nicht gefallen wäre - mit einem Status quo ante bellum, notfalls unter Opferung der Bukowina, auszukommen, hielt es aber auch schon für unvermeidlich, das Trentino preiszugeben, um dadurch Italien als Friedensvermittler zu gewinnen. Die Deutschen würden freilich einem Verzichtfrieden (auf der Basis des Status quo) heftig widerstreben, da im Volk (allerdings nicht „bei der recht besorgten Regierung") noch große Siegeshoffnungen lebten. Aber das sei zuletzt doch alles nur Illusion. Vor allem: „Der unglückliche Ausgang ist sowohl politisch wie militärisch nur Deutschlands Schuld." Die deutsche Politik hat in Österreich verhindert, rechtzeitig mit Bulgarien und der Türkei statt mit Rumänien zu gehen, Deutschland hat die österreichische Heerführung gezwungen, „gegen ihre bessere Überzeugung" ihre Hauptmacht gegen Rußland statt gegen Serbien zu werfen, hat sie dann viel zu spät unterstützt, sich „nach Westen verrannt", dort gegen Frankreich „völlig versagt" und eigentlich nur die belgischen Festungen zusammengeschossen - aber mit Hilfe österreichischer Mörser! - , hat durch den Einfall in Belgien England in den

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Krieg und dadurch auch Italien zum Abfall vom Dreibund gebracht - kurzum, das ganze Unglück verschuldet. Es muß also jetzt zufrieden sein „mit einem glimpflichen Frieden und unbesiegt den Krieg je früher, je besser zu beenden" —andernfalls würde es zu einer unabsehbaren Katastrophe kommen. Nur um Italien als Friedensvermittler zu gewinnen, wollte also dieser österreichische Diplomat das Trentino opfern, nicht um seine Neutralität zu erkaufen und dann den Krieg weiterzuführen. Aber diese schwächliche Haltung des Ministeriums wurde dem Grafen Berchtold politisch zum Verhängnis. Der damals mächtigste und willensstärkste der österreichisch-ungarischen Staatsmänner, Graf Tisza, erwirkte seine Entlassung (am 10. Januar). Sein Nachfolger, der Ungar Baron Burian, Tiszas Vertrauensmann, wollte von einem Angebot territorialer Abtretungen überhaupt nichts wissen. Alle deutschen Unterhändler, die ihn zu Konzessionen zu bringen suchten, klagten über seinen Starrsinn, der sich in etwas doktrinärer Form äußerte. Und so entspann sich denn durch Monate hindurch ein zähes Ringen zwischen den Bundesgenossen. Auf deutscher Seite waren auch die süddeutschen Regierungen auf das lebhafteste, ja geradezu leidenschaftlich daran interessiert. In Bayern, das doch traditionell österreichische Sympathien pflegte, war der Ministerpräsident Graf Hertling schon seit den Mißerfolgen des Septembers geradezu erbittert über die „schlampete Kavalierswirtschaft" der österreichischen Heeresverwaltung und nun ebenso wie sein württembergischer Kollege, Freiherr von Weizsäcker, entrüstet über die hartnäckige Weigerung des Bundesgenossen, Italien das Trentino abzutreten. Eine von Berlin veranlaßte Mission des früheren Statthalters von Elsaß-Lothringen, Fürst Wedel, nach Wien, der Kaiser Franz Joseph vergeblich zum Nachgeben zu bereden versuchte, wurde von Bayern aus (durch Mitsendung des Grafen Podewils) wärmstens unterstützt. Freiherr von Weizsäcker, von Anfang an sehr nüchtern, ja pessimistisch in seinem Urteil über Deutschlands Siegesaussichten, plante zeitweise sogar, eine gemeinsame Vorstellung aller deutschen Bundesfürsten bei Franz Joseph in Gang zu bringen und drängte fortdauernd in Berlin, die Reichsregierung müsse in Wien schärfsten Druck ausüben, auch Konzessionen an Rumänien fordern, um wenigstens dieses Land aus dem Krieg herauszuhalten 53 ). Ein solches Drängen war überflüssig; denn der Reichskanzler war von der Größe der Gefahr, die den Mittelmächten durch einen Kriegseintritt Italiens drohte, sogar noch stärker überzeugt, als es der Wirklichkeit entsprach: er hielt sie für schlechthin tödlich. Nur so erklärt sich die erstaunliche Tatsache,

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daß er für den Fall, daß die Wiener Politik auf keine andere Weise zur Preisgabe desTrentino zu bringen wäre, sogar eine Abtretung preußischen Gebietes an den Bundesgenossen als Kompensation ins Auge faßte — ja mehr als das: im preußischen Staatsministerium als Eventualbeschluß durchsetzte. In dessen Sitzung vom 17. Februar forderte er die Ermächtigung, Wilhelm II. für den äußersten Fall das Angebot einer „Grenzberichtigung" in den oberschlesischen Kreisen Leobschütz oder Pleß an Kaiser Franz Joseph vorzuschlagen: also einen Teil verzieht auf die stolzeste Eroberung Friedrichs des Großen! Darüber ist zunächst noch kein Beschluß gefaßt worden, und ein bereits vorbereitetes Handschreiben Wilhelms II. an Franz Joseph wurde am 20. noch einmal „zu den Akten gelegt". Aber gleich darauf schlug Erzberger, der in Rom (bei Papst Benedikt X V . und bald auch als Gehilfe Bülows, des Sonderbotschafters beim Quirinal) eifrig für die Erhaltung des Friedens tätig war, dem Kanzler vor, er solle in Wien das polnische Kohlengebiet von Sosnowice (östlich der oberschlesischen Grenze) als Kompensation für das Trentino anbieten. Darauf ging dieser ein und setzte in einer neuen Sitzung des Staatsministeriums am 27. Februar durch, daß er ermächtigt wurde, zunächst dieses Angebot zu machen, für den Fall aber, daß er damit nichts erreichte, eine Gebietsabtretung in Schlesien vorzuschlagen — allerdings nur dann, wenn die Oberste Heeresleitung den Eintritt Italiens in den Krieg für schlechthin unerträglich erklärte und die schlesische Gebietsabtretung für den äußersten Notfall „auch ihrerseits empfehle", d.h. wenn sie die politische Verantwortung mit auf sich zu nehmen bereit war. Tatsächlich ist das geschehen, und Wilhelm II. hat das ihm vorgelegte Handschreiben sogar unterzeichnet (am 6. März). Es brauchte aber nicht abgesandt zu werden, weil das Angebot von Sosnovice sich als ausreichend erwies: das Wiener Ministerium gab fast in demselben Augenblick, als Kaiser Wilhelm „in gedrückter Stimmung" seine Unterschrift leistete, endlich nach und erklärte sich zur Preisgabe des Trentino bereit. Dieser (erst neuerlich ans Licht gebrachte, bis dahin tief geheim gehaltene) 533 ) Vorgang ist in mehr als einer Hinsicht überraschend: er zeigt eine erstaunliche Zähigkeit und Energie des Kanzlers in Verfolgung seiner Politik und eine unerwartet große Macht seines persönlichen Einflusses auf die Minister (einschließlich des Kriegsministers, der zunächst am heftigsten widerstrebte), aber auch auf den Kaiser. Er zeigt zugleich, wie eng damals seine Zusammenarbeit mit Falkenhayn gewesen ist — freilich auch, wie nahe die Sorge beider Männer an Verzweiflung grenzte. Denn es wäre schon eine

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Art von Verzweiflungsakt gewesen, wenn man im Wege reiner Kabinettsbeschlüsse, über die Köpfe der Oberschlesier hinweg und ohne vorherige Befragung des Parlaments, mit den Österreichern ein solches Abkommen geschlossen hätte. So war es selbstverständlich, daß Ludendorff, zugleich im Namen Hindenburgs, mit aller Schärfe beim Auswärtigen Amt (Zimmermann) protestierte, als Gerüchte von diesen Absichten Anfang März zu ihm drangen; er wollte sie aber nicht ernst nehmen. Das deutsche Angebot hat sicherlich den Entschluß der österreichischen Regierung zum Nachgeben erleichtert. Entscheidend dafür waren aber doch nicht der Druck Berlins und die Verlockung von dort her, sondern (wie die entscheidende Sitzung des Ministerrats vom 8. März deutlich zeigt) die Furcht vor den militärischen Gefahren, die ihr Falkenhayn immer wieder sehr eindringlich vorgestellt hatte 54 ) und die auch Conrad seiner Regierung Anfang April mit den schwärzesten Farben ausmalte: „Ein Eingreifen Italiens in den K r i e g . . . macht unsere und wohl auch Deutschlands militärische Lage gänzlich unhaltbar. Aber auch in politischer Hinsicht würde dieser Fall zweifellos die Zertrümmerung der Monarchie bedeuten."(!) Gleichwohl: Conrad glaubte auch jetzt nicht an einen praktischen Erfolg der Konzessionen und riet Burian deshalb, auf alle Fälle sofort Frieden mit Rußland zu suchen: ihm könne man den „unbestrittenen, alleinigen Besitz der Dardanellen und des Bosporus" zugestehen, den ihm die Westmächte sicherlich nicht gern überlassen würden. Ganz anders, „wenn es mit den Zentralmächten oder wenigstens mit einer derselben"(!) Frieden schlösse. Dann könne es „teils vom Schwarzen Meer aus, teils im Wege eines Durchmarsches durch Rumänien und Bulgarien auf den Bosporus mit Konstantinopel und auf die Dardanellen losgehen". Österreich müßte wohl „Ostgalizien bis zum San und Dnjestr" abzutreten bereit sein, wofür ihm Rußland freie Hand gegen Serbien und Montenegro gewähren könnte. Deutschland, dessen Ostgrenze unverändert bleiben würde, sollte loyalerweise „zunächst" um sein Einvernehmen gefragt werden; aber der Generalstabschef ließ deutlich genug durchblicken, daß ihm auch ein Sonderfrieden mit Rußland erwünscht und denkbar schiene55). Diese Art von Amateurdiplomatie, die mit rasch hingeworfenen und wenig durchdachten Einfällen arbeitet, ist für den Politiker Conrad von Hötzendorf charakteristisch. Aber auch Burians Haltung macht nicht den Eindruck überlegener staatsmännischer Weisheit, sondern eher der Ratlosigkeit, wenn er am 20. April den deutschen Kanzler fragte, ob nicht durch raschen Friedensschluß mit England (unter Freigabe Belgiens) deutsche Truppen für

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die Front gegen Italien freigemacht werden könnten. Bethmann mußte ihn darauf hinweisen, daß es wohl kaum einen ungünstigeren Augenblick zu Friedenserbietungen an England geben konnte als eben diesen, in dem Italien mit dem Abfall ins Lager der Entente drohte 56 ). Man weiß, daß Österreichs schließlich erreichte Bereitschaft, das Trentino zu opfern, bereits zu spät kam. Die Verhandlung Sonninos mit der Hofburg war schon Mitte März nicht mehr als bewußte Heuchelei, und das deutsche Angebot an die Österreicher ist von Grey (der sogar von dem schlesischen Plan Kunde hatte, mehr als das H a u s am Ballplatz!) dazu benutzt worden, um das Widerstreben der russischen Politik gegen die ungeheuerlichen Annexionswünsche Italiens an der Adria zu überwinden! Die Frage, ob ein früheres und weitergehendes Entgegenkommen Österreichs zu einem besseren Erfolg geführt hätte, brauchen wir hier nicht zu erörtern. Es genügt festzustellen, daß für den tumultuarischen Durchbruch des italienischen Nationalismus durch alle Bedenken der liberalen „Neutralisten" und alle pazifistischen Stimmungen der Sozialisten, der die Regierung und Kammer zur Kriegserklärung zwang, letztlich nicht ein Mehr oder Minder von Erwerbsaussichten den Ausschlag gab, sondern ganz einfach der Ehrgeiz, in der Stunde der großen Entscheidungen nicht beiseite zu stehen, sondern mitzutun im Wettkampf der „Großen Mächte". Weiter: daß ein so ungeheuerliches Annexionsprogramm, wie es die Westmächte den Italienern in dem geheimen Pakt von London vom 26. April als Siegespreis in Aussicht stellten, von den Mittelmächten niemals auch nur annähernd geboten werden konnte. Danach sollten ganz Südtirol bis zur Brennergrenze, Triest, Görz, Gradisca, ganz Istrien und die istrischen Inseln, Dalmatien bis Cap Planca und die meisten dalmatinischen Inseln, der H a f e n Valona und die Insel Sasseno und ein Teil der albanischen Küste italienisch werden, d . h . (nach Rechnung der Alliierten) 200000 deutschsprechende Tiroler und über 3 / 4 Millionen Südslawen; weiterhin wurden geboten die Inseln des Dodekanes, ein gehöriger Anteil an der geplanten Aufteilung der asiatischen Türkei und eine Erweiterung seines afrikanischen Kolonialbesitzes, falls die Westmächte den ihrigen auf Kosten Deutschlands erweitern sollten 57 ). Die außenpolitische Lage der Mittelmächte war also noch viel hoffnungsloser, als ihre Staatsmänner damals ahnten. In denselben Tagen, als Conrad vorschlug, die Russen durch das Angebot freier Verfügung über die Meerengen zu einem Sonderfrieden zu verlocken, einigten sich gerade die Westmächte mit der Diplomatie des Zarenreiches über ein Zukunftsprogramm, das

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Rußland die volle Herrschaft an den Meerengen verhieß: den Erwerb Konstantinopels, beider Ufer der Meerengen bis zur Linie Enos-Midia auf europäischem zum Sakariafluß auf asiatischer Seite, das Recht zu Befestigungsanlagen, dazu die Inseln des Marmarameers und die den Südausgang der Dardanellen beherrschenden Inseln Imbros und Tenedos. Weitere Vereinbarungen über eine sehr weitgehende Aufteilung der asiatischen Türkei schlössen sich an 58 ). Weit entfernt davon, mit Gedanken eines Sonderfriedens zu spielen, fühlte sich die Regierung des Zaren gerade umgekehrt durch die Unsicherheit ihrer inneren Lage und die Mißerfolge ihrer Heere gedrängt, sich immer erneut der aktiven Unterstützung ihrer westlichen Verbündeten und glänzender Zukunftsperspektiven zu versichern, um dadurch den Kriegseifer der Duma-Parteien wachzuhalten. Schon am 7. August 1914 hatte der Außenminister Sasonow den Abschluß jenes Abkommens angeregt, das am 5. Septtember in London zustande kam und die drei Ententemächte verpflichtete, keinen Sonderfrieden zu schließen. Bereits am 14. September, also kurz nach Tannenberg und der Befreiung Ostpreußens, hatte er den Botschaftern Englands und Frankreichs Kriegsziele vorgetragen, die u.a. den Unterlauf des Njemen und Ostgalizien Rußland überweisen, das östliche Posen, Südschlesien und Westgalizien mit Russisch-Polen vereinigen wollten, ElsaßLothringen und evtl. Teile Rheinpreußens und der Pfalz mit Frankreich, gewisse Grenzgebiete mit Belgien, Schleswig-Holstein mit Dänemark; Hannover sollte wieder selbständiges Königreich, die Donaumonarchie in drei Teile zerschlagen werden; Bosnien, Herzegowina, Dalmatien und Nord-Albanien sollten an Serbien kommen, die deutschen Kolonien unter die Siegermächte aufgeteilt werden. Das war im wesentlichen dasselbe Programm, das Zar Nikolaus persönlich am 21. November dem französischen Botschafter Paleologue auseinandersetzte (wir hörten schon davon). N u r hatte der Zar noch hinzugefügt, daß die Hohenzollern die Kaiserwürde verlieren müßten, und den Gewinn Ostpreußens (wenigstens teilweise) gefordert. Ein förmlicher Staatsvertrag war aus diesen Gesprächen nicht erwachsen; aber trotzdem wogen diese unendlich viel schwerer als alle Kriegszielprogramme deutscher Publizisten und Volksredner. Das große Programm Sasonows hatte am 20. September die volle Zustimmung des französischen Kabinetts gefunden, und was der russische Botschafter aus London meldete, ließ deutlich erkennen, daß man dort nur in Einzelheiten (vor allem in der Frage des linken Rheinufers) anderer Meinung war. In der Hauptsache gab es in der Kriegszielfrage keine Meinungsverschiedenheiten zwischen den Ententemächten. Der preußische

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Militarismus, der angeblich die Freiheit Europas bedrohte, sollte vernichtet, „Deutschlands Macht und seine Prätentionen niedergeworfen werden" — vorher durfte es um keinen Preis Frieden geben. Gerade in London hat man das immer wieder amerikanischen Unterhändlern gesagt, die einen Frieden der Verständigung vermitteln wollten. W o h l niemals in der Geschichte hat sich die Macht des grob vereinfachenden Schlagwortes (des politischen Mythos, wenn man so will) unheimlicher offenbart als im Ersten Weltkrieg. Was bedeuteten schon angesichts eines so geschlossenen Blödes der Feindschaft und des Vernichtungswillens die mühsamen Tastversuche, die Deutschland seit Herbst 1914 auf allen möglichen Schleichwegen unternahm, um herauszufinden, ob sich nicht vielleicht doch irgendein Spalt entdecken ließe, um Zwietracht zwischen unseren Gegnern zu säen und einer neutralen Macht Vermittlungsvorschläge zu ermöglichen? Was man in Petersburg und London unternahm (durch den dänischen Reeder Andersen, die H o f d a m e Wassiltschikowa, den Bankier Mankiewitz, die hessischen Verwandten der Zarin und andere Mittelspersonen), blieb ebenso vergeblich wie die beinahe abenteuerlichen, durch unsere Gesandtschaft in Bern betriebenen Versuche, mit H i l f e käuflicher Agenten und Zeitungsleute mit den Oppositionsgruppen der französischen K a m m e r in Fühlung zu kommen 5 9 ). Nicht einmal der Versuch, Rumäniens weitere Neutralität durch Landabtretungen zu sichern (wozu die deutsche Diplomatie in Wien und Budapest zunächst drängte), hatte Aussicht auf Erfolg: die Rumänen hatten sich längst durch einen Geheimvertrag mit R u ß l a n d gedeckt, der ihnen Gewinne zusagte, wie sie kein österreichischungarischer Diplomat bieten konnte 6 0 ). Alles in allem: es gab für die Mittelmächte im Frühjahr 1915 keine W a h l : sie mußten erneut das Waffenglück versuchen und mußten große Erfolge davontragen, wenn sie die von allen Seiten drohende Gefahr beschwören wollten. D a aber die Hauptgefahr im Osten drohte, mußte hier auch die Hauptmacht des deutschen Heeres eingesetzt werden.

Dritter

Militärischer

Abschnitt

Sieg und politischer

Mißerfolg

in

Rußland

Falkenhayn hat sich nur sehr ungern zum Frontwechsel entschlossen. Nach wie vor war er überzeugt davon, die letzte Entscheidung müsse an der West-

Militärischer Sieg u n d politischer Mißerfolg in R u ß l a n d

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front fallen, und sie zu versuchen, drängte die Zeit; denn über kurz oder lang w a r das Auftreten einer neuen großen englischen Armee (der sog. Kitchener-Armee) mit wesentlich verstärkter Ausrüstung und Munition zu erwarten. Sie würde das Ubergewicht unserer Gegner an der Westfront erdrückend machen. Eine neue Heeresreserve von 14 Divisionen war durch U m gliederung des Heeres (Herausziehen je eines Regiments Infanterie aus den bestehenden Divisionen) geschaffen worden; mit ihrer Hilfe hoffte man eine größere Angriffsoperation durchführen zu können. Dafür, daß sie nun doch im Osten angesetzt wurde, gab zuletzt einfach die Notlage des Frühjahrs 1915 den Ausschlag. Es war aber Falkenhayns ganz persönliches Verdienst, daß er sich weder durch Conrads Wünsche nach Verstärkung der unsicher gewordenen österreichischen Front in den Karpathen und der Bukowina in seinen strategischen Entscheidungen beirren ließ, noch durch dessen Verlangen, nach dem Kriegsantritt Italiens nun endlich diesen verhaßten Gegner anzufallen und zu „züchtigen", noch durch den alten, von Conrad aufgewärmten, abenteuerlichen Plan einer Doppelumfassung der Russen von Ostpreußen und Ostgalizien her. Vielmehr hielt er eisern daran fest, alle verfügbaren Kräfte zu der entscheidenden Operation zusammenzuhalten: zu dem großen Frontdurchbruch bei Tarnow-Gorlice, der, technisch glänzend vorbereitet und durchgeführt (nicht zuletzt dank der Leistung des Obersten Seeckt als Generalstabschef Mackensens), zu einem gewaltigen Erfolg führte: zur vollständigen Zertrümmerung der russischen Front und dem Zurückdrängen des Gegners an die Rokitno-Sümpfe in einer ganzen Kette einander ergänzender Vorstöße und Umfassungsoperationen. Wer (wie der Verfasser) als Soldat diesen großen Eroberungszug mitgemacht, den Fall Warschaus und die E r oberung des östlichen Polens und Litauens miterlebt hat, erinnert sich heute noch deutlich des enormen seelischen Aufschwungs, den das alles hervorbrachte; des befreiten Aufatmens nach dem trostlosen Gemetzel der Grabenkämpfe, des Aufstrahlens neuer Siegeshoffnungen nach soviel Enttäuschung und Sorge. Es war, alles in allem, der einzige ganz große Waffenerfolg, der den Deutschen in diesem Kriege noch beschert worden ist. Was Falkenhayn erstrebt hatte, war nach wenigen Monaten voll, ja noch über Erwarten gelungen: das Zurückdrängen des Gegners soweit östlich und eine so starke Schwächung seiner Heere, daß es keine unmittelbare Gefahr des Einbruchs in deutsches oder österreichisch-ungarisches Gebiet mehr gab; die Beschwörung der Gefahr von Rumänien her, das sich nicht mehr zu rühren wagte; dazu die Säuberung ganz Polens, Litauens und Galiziens vom Feinde und die Errich-

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tung einer in ziemlich gerader Richtung verlaufenden, also stark verkürzten Grabenfront vom rigaischen Meeresbusen bis nach Czernowitz. Erst nachträglich ist dieser erstaunliche Erfolg in der Kriegsgeschichtschreibung verdunkelt worden durch den bekannten Streit um die Frage: ob es nicht möglich gewesen wäre, einen noch viel größeren, ja „kriegsentscheidenden" Erfolg zu erzielen, nämlich Rußland militärisch „auf die Knie zu zwingen", seine K a m p f k r a f t nicht nur zu lähmen, sondern zu „vernichten" - dann nämlich, wenn Falkenhayn den seit Anfang Juli auf die Nordflanke des russischen Heeres gerichteten Stoß nicht über Narew und Bug hätte führen lassen, sondern vom Njemen her über Kowno und Wilna, wie es Ludendorff sich wünschte. Seine Ablehnung eines so weit ausgreifenden Umfassungsversuches soll verschuldet haben, daß der ganze Feldzug doch nur ein „halber E r f o l g " blieb - so meinen seine Kritiker 6 1 ). Sie schließen sich damit der Partei Ludendorffs an, der sich auch diesmal wieder tief erbittert darüber zeigte, daß man seinen kühnen Plänen nicht folgte, und dies der Obersten Heeresleitung durch seinen Feldmarschall in einem Schriftwechsel von geradezu ungebärdiger Schärfe zum Ausbruch bringen ließ - was Falkenhayn nicht minder schroff beantwortete 6 2 ). Die rein militärtechnische Seite dieses Streites (der seiner Natur nach wohl nie ganz eindeutig zu entscheiden ist) kann uns hier nicht beschäftigen. Wichtig ist aber festzustellen, daß Falkenhayn auch diesmal nicht aus persönlicher Ranküne sich den Wünschen Ludendorffs versagte, sondern aus sehr ernst zu nehmenden sachlichen Erwägungen 6 3 ), vor allem aus der Verantwortung des Obersten Führers beider Fronten: schon für die allernächste Zeit war mit Sicherheit der Losbruch schwerer Angriffe im Westen zu erwarten, der die Rückführung größerer Reserven vom Osten dringlich machte, also die zur Verfügung stehende Zeit ebenso eng begrenzte wie die Zahl der Truppen, die nicht viel mehr als die Hälfte der russischen ausmachte. Es gehörte schon ein gehöriges Maß von Nervenkraft dazu, die Ostoffensive überhaupt unbeirrt durchzuführen trotz eines französischen Großangriffs im Juli, trotz einer zahlenmäßigen Unterlegenheit unserer Westfront um 600 Bataillone, trotz des Kriegseintritts der Italiener, denen die Österreicher nur eine ganz schwache Abwehrfront entgegenstellen konnten, und trotz der zunehmenden N o t l a g e der Türkei. Wenn Falkenhayn in dieser Lage das Endziel des Feldzugs bewußt begrenzte und nicht alles auf eine Karte setzen wollte, so darf man das keinesfalls „militärischen Nihilismus" 6 4 ), kann es aber sehr wohl nüdhterne Besonnenheit nennen. Richtig ist sicherlich, daß er Ludendorffs Ehrgeiz und sanguinischem Tatendrang miß-

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traute. Aber er hatte guten Grund dazu, nicht nur nach den Erfahrungen des letzten Winters mit seiner gescheiterten großen Planung, sondern auch nach den selbstherrlich durchgeführten, kräfteverzettelnden Operationen in Litauen und Kurland während des Sommers, in denen sich der General ein eigenes „Königreich" (d. h. einen eigenen Machtbereich) zu gründen suchte65). Das war ein politisch sehr folgenreiches Unternehmen, wie sich noch zeigen wird, strategisch nur eine Nebenaktion, als solche zeitweise sogar störend. Falkenhayn mißtraute aber offenbar auch Ludendorffs militärischer „Lagebeurteilung", d. h. der Nüchternheit seines Urteils über die Möglichkeiten feindlicher Gegenwirkung gegen einen Umfassungsversuch. U n d wahrscheinlich hatte er auch damit recht. Denn mehr als einmal (vor allem im Winter 1914/15 und im Frühjahr und Sommer 1918) läßt sich beobachten, wie bei Ludendorff der unbändige Wille, das Unmögliche möglich zu machen, ihm das Urteil trübt und Wunschträume an die Stelle der Wirklichkeit setzt 66 ). Man kann die unvermerkte Übersteigerung der Unerschrockenheit zur Blindheit krampfhaften Siegeswillens wohl eine typische Gefahr des höheren soldatischen Führertums nennen; Falkenhayn ist ihr ein Jahr später — in anderer Form - auch seinerseits nicht ganz entgangen. Bethmann Hollweg hat den neuen Streit zwischen Oberost und dem Generalstabschef mit großer Besorgnis verfolgt. Er stand mit Hindenburg das ganze Jahr über in freundschaftlichem Briefwechsel 67 ), fand es aber doch verfehlt, daß Oberost seine Differenzen mit Falkenhayn sogleich in die Öffentlichkeit trug, und bedauerte das viele Gerede über dessen „Neid", der Hindenburg angeblich große Erfolge nicht gönne. Beide Seiten, fand er, hätten den Fehler zu großer Schroffheit gemacht. „Falkenhayns Verdienste", schrieb er, „werden zwar mehr und mehr anerkannt, Vertrauen aber genießt er nirgends, Ypern wird er nie mehr los". Er selbst versuchte — vergeblich — auf die öffentliche Meinung beruhigend einzuwirken 68 ). Politisch herrschte zwischen ihm und Falkenhayn nach wie vor gutes Einvernehmen. Das allgemeine Ansehen des Generalstabschefs war während des glücklich verlaufenden Feldzugs dauernd im Steigen; aber Falkenhayn selbst ließ sich dadurch so wenig zur Uberschätzung seiner militärischen Erfolge verleiten, daß er vielmehr von Anfang an darauf drängte, sie f ü r eine Friedensoffensive in Petersburg auszunützen: schon am 3. Juni, gleich nach dem Fall von Przemysl, schlug er vor, dem Zaren einen Waffenstillstand anzubieten unter Hinweis auf seine militärisch schwer bedrohte Lage und unter Angebot eines Adriahafens für Serbien. So wenig lag ihm an einem militärischen Tri-

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umph über Rußland, so einseitig suchte er noch immer die eigentliche Entscheidung im Westen! Natürlich mußte ihm Bethmann Hollweg die Illusion ausreden, als ob ein Sonderfrieden so leicht zu haben sei, und konnte sich dabei auf neueste, recht ungünstige, von Staatsrat Andersen übermittelte Nachrichten vom Zarenhof stützen. Der Kanzler war sich klar darüber, daß wahrscheinlich ein Sonderfrieden überhaupt nicht, ein allgemeiner Frieden aber „bestenfalls nur auf Grund des status quo" zu haben sein würde. „Ob dieser Weg etwa eingeschlagen werden muß, unterliegt ausschließlich militärischer Beurteilung." Das war keine direkte Ablehnung des „Status quo" als Kriegsergebnis 69 ), enthielt aber doch einen Hinweis darauf, daß seine Annahme in ganz Deutschland als militärische Kapitulation empfunden werden m ü ß t e untragbar f ü r den Politiker ebenso wie für den General. Die Fühlungnahme in Petersburg wurde aber fortgesetzt. Bethmann gab die Hoffnung, bei weiteren Fortschritten der Offensive (für die er sogar einen eigenen Vorschlag machte) könnte man in Petersburg doch noch zur Besinnung kommen, nicht auf, obwohl er sich klar darüber war, daß die Angebote der Entente (von denen er offenbar wußte) von Deutschland nicht zu überbieten waren, „selbst bei völliger Preisgabe unserer beiden Bundesgenossen". Tatsächlich hat er dem Zaren im Lauf des Sommers durch allerhand Mittelsmänner mehrfach klar machen lassen, daß wir zu sehr mäßigen Friedensbedingungen bereit wären. Nach russischen Quellen hat er im Juli sogar ein russisch-deutsches Condominium in den Dardanellen und deren Entfestigung sowie eine Milliardenanleihe f ü r den Wiederaufbau anbieten lassen 70 ). Sicher ist, daß er sich ebenso wenig wie Falkenhayn durch die Hochflut annexionistischer Forderungen davontragen ließ, die gerade im Sommer 1915 — angesichts der gewaltigen Waffenerfolge unseres Heeres - Deutschland überschwemmte und in immer neuen Eingaben und Vorstellungen aller möglichen Intellektuellen, Politiker und „vaterländischer Verbände" ihren Ausdruck fand. Am 16. Juni, als etwas günstigere Nachrichten vom Zarenhof kamen 7 1 ), ließ Bethmann den Generalstabschef ausdrücklich vor allzu siegesgewissen Äußerungen „höchster deutscher Stellen" warnen, die in Petersburg nur abschreckend wirkten, und teilte als russische Nachricht mit, daß man dort um so mehr zum Frieden geneigt sein würde, je weniger man befürchten müsse, durch unbegrenzte Okkupation russischen Landes „zum Verzweiflungskampf getrieben zu werden". Zwei Tage vorher hatte er Falkenhayn in einem längeren Schreiben dargetan, daß und warum er keinesfalls einer Annexion der russischen Ostseeprovinzen als Kriegsziel zustimmen könne, und

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dringend gebeten, solchen Wünschen „in militärischen Kreisen" entgegenzutreten - eine Bitte, die Falkenhayn gegenüber sicherlich überflüssig war, dagegen höchst nötig gegenüber Ludendorff 7 2 ). Bethmann Hollweg erklärte einen Erwerb der baltischen Länder sowohl militärisch (wegen ihrer exponierten Lage) wie politisch für höchst unerwünscht. Es sei eine Illusion, zu glauben, es handle sich um Provinzen von deutschem Charakter; die weit überwiegend lettische Bevölkerung stelle ein sehr wenig erwünschtes Element von revolutionärem Charakter dar; wir brauchten weder baltische Ostseehäfen noch große Landwirtschaftsgebiete. Vor allem aber dürften wir uns nicht dadurch mit Rußland dauernd überwerfen, daß wir ihm seinem „einzigen eisfreien Zugang zum Meere" wegnähmen; das müßte notwendig zu einem neuen Konflikt führen und „alle Bemühungen, nach erfolgtem Friedensschluß Rußland von unseren Gegnern zu trennen, illusorisch machen". Schon Bismarck habe deshalb die Frage der Ostseeprovinzen „losgelöst von nationalen Sentimentalitäten als ein noli me tangere behandelt" 7 3 ). Nationale Erwerbswünsche sollten also keinesfalls einem Friedensschluß mit Rußland im Wege stehen. Das galt auch von der polnischen Frage. Hier hatte Hindenburg schon im Dezember 1914 die Annexion eines „Grenzstreifens" gefordert 74 ), der Ostpreußen vor neuen russischen Einfällen schützen und die stark befestigte Narew-Linie in deutsche H a n d bringen sollte — ein Verlangen, das nach den Erfahrungen des Spätjahres 1914 in der ganzen deutschen Bildungswelt als selbstverständlich galt und auch in sonst annexionsfeindlichen Denkschriften (z. B. v. Loebells) wiederkehrt. Die Frage wurde aktuell, als nun tatsächlich ganz Polen in deutsche H a n d fiel und Falkenhayn anfragte, wie sich der Reichskanzler die Zukunft des Landes denke. Die Antwort vom 4. August war: f ü r den Fall eines Sonderfriedens sollte Polen russisch bleiben bis auf „die f ü r uns notwendigen strategischen Grenzkorrekturen" — über deren Umfang nichts gesagt wurde 75 ). Sicherlich würde Rußland in diesem Fall den Polen eine weitgehende Autonomie gewähren. „Sollte der Krieg in anderer Weise, aber doch bei großer Ohnmacht Rußlands enden" (eine merkwürdig vorsichtige Ausdrucksweise!), so würde entweder ein autonomes Königreich Polen entstehen, „durch Bündnis oder Militärkonvention mit uns oder Österreich-Ungarn eng verbunden, oder der größere Teil von Kongreß-Polen wird mit Galizien zu einem unter österreichischer Herrschaft stehenden Staatsgebilde vereinigt". Im letzteren Fall müßten die deutschen Grenzberichtigungen (zur Sicherung Deutschlands) „vielleicht etwas weiter zu fassen sein", sollten aber keinesfalls auf eine vierte

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Teilung Polens hinauslaufen. Das war Bethmann Hollwegs erstes PolenProgramm, von dem niemand behaupten kann, es habe nach „Diktaturfrieden" geschmeckt76), - dies um so weniger, als der Kanzler gleichzeitig betonte, nach wie vor müßten wir den Weg zu einem Verständigungsfrieden mit Rußland offen halten, trotz flammend kriegerischer Erklärungen in der Duma, die den Generalstabschef inzwischen jede Hoffnung auf Frieden hatten aufgeben lassen. Es bleibe immer noch möglich, daß man in Petersburg zu besserer Einsicht komme, wenn nur erst jede Hoffnung auf den Fall Konstantinopels (durch den Dardanellenangriff der Westmächte) geschwunden, Bulgarien auf unsere Seite gezogen und der bevorstehende Großangriff beider Westmächte in Frankreich gescheitert wäre. Unter allen Umständen müßte die Militärverwaltung vermeiden, die Polen zu unseren Feinden zu machen. Der Kanzler klammerte sich also noch länger als der Generalstabschef an der Hoffnung auf einen russischen Verständigungsfrieden fest, suchte Ende Juni über Schweden nochmals auf die Russen einzuwirken (mit einem Hinweis auf den drohenden Abfall der Polen) und unterschied sich damit wesentlich von der Politik des österreichischen Bundesgenossen77). In Wien und Budapest hatte man zunächst entschieden auf rasdien Friedensschluß gedrängt und sich zu billigen Bedingungen bereit erklärt; der Berliner Botschafter Prinz Hohenlohe gab Mitte Juli einen ganz entsetzten Bericht über die wilde Springflut annexionistischer Forderungen, die der glückliche Verlauf des Polenfeldzuges in Deutschland emporschäumen ließ. Jetzt, nach dem Fall von Warschau, schien ihn plötzlich selbst die Eroberungslust gepackt zu haben: er bedrängte den Kanzler, doch Verständigung mit England zu suchen (wie, das ließ er offen) und die „geradezu phantastischen" Waffenerfolge im Osten als „höchst wahrscheinlich letzte Gelegenheit" zu benutzen, um Rußlands Einfluß in Europa zu brechen und seiner Einmischung in die Balkanhändel ein für allemal ein Ende zu machen: durch Loslösung der Ostseeprovinzen, Polens (das natürlich an Österreich anzuschließen wäre) und eines Grenzstreifens der Ukraine, der vereinigt mit Ostgalizien und Bukowina ein neues österreichisches Kronland bilden und starke Anziehungskraft auf die russischen Ukrainer ausüben würde. Er versprach seinem Minister, alles zu tun, um einen für Österreich ungünstigen Sonderfrieden mit Rußland zu verhindern, der immerhin als die Folge schwacher Nerven Bethmanns (eines Mannes ohne Entschluß- und Tatkraft) vielleicht in Berlin Zustimmung finden könnte 7 8 ). Hohenlohes Befürchtung war grundlos: alle Bemühungen in Petersburg

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scheiterten zuletzt. Die russische Diplomatie empfand zwar die deutschen Angebote als sehr vorteilhaft, der Zar selbst war im Grunde kriegsmüde, furchtsam und wünschte die vom dänischen König angeknüpfte Verbindung nicht ganz abzubrechen. Er fühlte sich aber durch den Septembervertrag an seine westlichen Alliierten fest gebunden und ließ sich von seiner militärischen Umgebung vorreden, der Rückzug seiner Armee aus Polen, Litauen und Kurland sei zuletzt gar nicht entscheidend: sie gehörten ja nicht zum eigentlichen Rußland, und je tiefer der Gegner nach Osten vorstieße, um so übler würde seine Lage. Man kann also sagen, daß die (für das Zarentum schließlich so verhängnisvolle) Fortsetzung des Krieges (dessen Leitung Nikolaus I I . bald darauf selbst übernahm) zu einem wesentlichen Teil das Werk russischer Militaristen gewesen ist. Aber doch auch der patriotischen Leidenschaft und der Anglophilie des liberalen Bürgertums, das in der Duma laut seine Stimme erhob, die Mängel des zaristischen Systems anklagte und den Monarchen damit einschüchterte. Den letzten Ausschlag gab wohl die Besorgnis der russischen Diplomaten, durch Abfall von den westlichen Verbündeten f ü r alle Zukunft deren Feindschaft auf sich zu ziehen und damit von Deutschland außenpolitisch abhängig zu werden 79 ). Jedenfalls wurde am 11. August im Ministerrat unter Vorsitz des Zaren der Beschluß gefaßt (und sogleich veröffentlicht), vor errungenem Sieg auf kein noch so günstig scheinendes Friedensangebot der Gegner auch nur zu antworten. Damit war alles entschieden. Der große Rußlandfeldzug hatte militärisch zwar keinen „Endsieg", aber eine große Entlastung f ü r die Mittelmächte gebracht. Politisch waren alle darauf gesetzten Hoffnungen zerronnen. Waren sie jemals mehr gewesen als das Sichanklammern eines Mannes, der in Gefahr des Ertrinkens gerät, an ein Stück Treibholz? Man kann heute nicht ohne eine Anwandlung von Grausen auf den ungeheuerlichen Widerspruch zurückblicken, der sich im Sommer 1915 auftat zwischen den schweren Sorgen des verantwortlichen Staatsmannes und des leitenden Soldaten um Deutschlands Zukunft und der Hochflut von Siegeserwartungen und Siegesforderungen, die damals unsere Nation immer hemmungsloser überschwemmte. Gerade in jenen Junitagen, in denen Bethmann Hollweg den Generalstabschef vor Annexionsplänen im Baltikum warnte (vermutlich ohne zu ahnen, wie sehr er damit den strategischen Ansichten Falkenhayns über Ludendorffs Eroberungspläne zu H i l f e kam) - gerade damals trat in Berlin ein von den Alldeutschen inszenierter, von Berliner Universitätsprofessoren geleiteter Kongreß extremer Annexionisten zusammen,

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der wohl den absoluten Höhepunkt dieser Bewegung bezeichnet. Man bereitete dort eine Eingabe an den Kanzler vor, die es dann auf 1347 Unterschriften, darunter 352 Professoren, z.T. mit hochberühmten Namen, brachte und sich gleichwertig neben eine ähnliche, etwas frühere, gemeinsame Eingabe der großen Wirtschaftsverbände stellte. Beide haben, rasch im Ausland bekannt geworden, den bösen Ruf des „deutschen Militarismus" aufs äußerste gesteigert, nicht zuletzt dank ihrer Forderung, die Bevölkerung der zu annektierenden Gebietsteile teils zu enteignen, teils in Massen zu vertreiben. In welche Lage geriet aber der leitende Staatsmann durch diese Bewegung! Den Empfang einer Deputation, die ihm das Machwerk der „Intellektuellen" überreichen wollte, hat er abgelehnt. Aber als sich dann unter geistiger Führung des Historikers H a n s Delbrück eine Gegenbewegung zusammenfand, die ihm mit sehr gemäßigten Friedensresolutionen zu Hilfe kommen wollte, hat er jede amtliche Unterstützung dieser Gruppe, ja auch nur eine Aussprache unter vier Augen mit Delbrück vermieden - immer in Sorge, dadurch seine schwer bedrohte Stellung noch mehr zu erschüttern. War doch dieser Historiker, der als einziger namhafter Publizist des bürgerlichen Lagers den Mut fand, dem neudeutschen „Napoleonismus" offen zu widerstehen, dadurch in „nationalen Kreisen" so schwer in Verruf gekommen, daß der deutsche Kronprinz seinem Vater schrieb, er sollte doch diesen „vaterlandslosen Kerl" schleunigst „von der Universität entfernen lassen" 80 )! Es blieb Bethmann nichts übrig (so meinte er jedenfalls), als in seinen Reichstagsreden strahlende Siegeszuversicht an den Tag zu legen und von seinen eigenen Kriegszielen nur mit sorgfältig überlegten, absichtlich dunklen und vielsagenden Wendungen zu sprechen. Am allerwenigsten durfte er etwas von seinen Bemühungen, mit Rußland einen billigen Sonderfrieden zustande zu bringen, in die Öffentlichkeit dringen lassen 81 ). Schon Ende März hatte ihm Graf Hertling aus München geschrieben, Gerüchte darüber weckten allgemeine Empörung; er hatte ihm deshalb die Einberufung des sog. diplomatischen Bundesratsausschusses vorgeschlagen, um die Bundesregierungen über die Kriegsziele der Reichsregierung zu unterrichten. Dahinter steckte die Absicht des Königs von Bayern (der selber König von Belgien zu werden wünschte und in einer öffentlichen Rede von wittelsbachischen Ansprüchen auf die Rheinmündung sprach), an der Spitze und im N a m e n der deutschen Fürsten beim Kaiser vorstellig zu werden, daß es „so nicht weitergehen könne", d.h. er diesen unfähigen und schwachen Kanzler entlassen müsse. Zu diesem Plan hatte ihn der Großherzog von Oldenburg aufgestachelt,

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der ganz im alldeutschen Fahrwasser schwamm. Hertling hatte diese Absicht nur dadurch einstweilen abbiegen können, daß er versprach, seinerseits energisch beim Reichskanzler vorstellig zu werden. Das geschah denn auch, aber in sehr gemäßigter Form, und Bethmann gab vor dem Bundesratsausschuß am 7. April die (uns schon bekannte) 82 ) Erklärung ab, wir müßten uns vor Belgiens künftiger Feindschaft durch „Garantien" zu decken suchen, sollten auch versuchen^), Kriegsentschädigungen und gewisse Verbesserungen unserer „strategischen Grenzen in West und Ost" zu erreichen, sowie ein deutsches „Kolonialreich" in Afrika im Fall eines deutschen Sieges. Er tat das aber nur in sehr unbestimmten Ausdrücken und betonte erneut, daß dieser Krieg reiner Verteidigungskrieg sei und nicht um irgendwelcher Eroberungsziele willen geführt würde. Graf Hertling gab sich damit zufrieden; er führte den Kampf wider einen „faulen Frieden" ohnedies nur mit halbem Herzen und stand unter dem Einfluß seines Berliner Bundesratsgesandten und Freundes, Graf Lerchenfeld, der schon längst die Hoffnung auf einen „Siegfrieden" begraben hatte und die rückhaltlose Freigabe Belgiens für unvermeidlich hielt. Mitte Juni hat Hertling sogar beim Auswärtigen Amt und beim Kanzler sich lebhaft für ein Friedensangebot an den Zaren (über den König von Dänemark) eingesetzt, und zwar zu Bedingungen, die für Rußland äußerst günstig waren 83 ). So wurde der Kanzler von den süddeutschen Regierungen (da auch Freiherr von Weizsäcker ganz auf seiner Seite stand) gegen seine Feinde gestützt. Aber an der schweren Bedrohung, unter der er dauernd lebte, änderte das wenig. Schon im Frühjahr 1915 drohte der mühsam bewahrte „Burgfrieden" der Parteien auseinanderzubrechen, da die Rechte auf eindeutige Erklärungen zugunsten eines Eroberungs- und Annexionsfriedens, die Linke ebenso auf eine öffentliche Verzichterklärung drängte. N u r mit dem Aufgebot höchster taktischer Kunst konnte Bethmann Hollweg erreichen, daß die Sozialdemokraten ihren Friedenswünschen im Reichstag am 10. März wenigstens keinen allzu deutlichen Ausdruck gaben - aber nicht, daß sich unter ihnen bereits ein gewisses Mißtrauen gegen seine letzten Absichten regte, das dann auch bei der Abstimmung über die Kriegskredite durch Fernbleiben einer Gruppe von 30 Abgeordneten des linken Flügels zum Ausdruck kam 8 4 ). Noch schwieriger war es, mit der Opposition der Rechtsparteien fertig zu werden — um so schwieriger, als zu den bisherigen Streitfragen auch noch die des H a n delskrieges mit U-Booten, der Ende Februar eröffnet worden war, hinzutrat. Seit der Versenkung des großen englischen Passagierdampfers „Lusitania"

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(7. Mai) durch ein deutsches U-Boot brach jener diplomatische Dauerkonflikt mit Amerika aus, der in seinem letzten Stadium die Vereinigten Staaten in den Krieg geführt hat. Schon in seiner ersten Phase rief er einen Sturm der Entrüstung über den Kanzler wach, weil dieser es ablehnte, sogleich „mit gepanzerter Faust" dreinzufahren 8 5 ). Unter diesen Umständen kann man nur das Geschick bewundern, mit dem er in seinen Reichtagsreden vom 28. Mai und 19. August es verstanden hat, durch patriotische Töne, die allgemeine Begeisterung weckten, seine nationalistischen Gegner vorübergehend matt zu setzen (am Abend des 20. August brachte man ihm sogar eine Straßenovation!), ohne doch öffentlich über die „Kriegsziele" ein Wort mehr zu sagen als das nun schon mehrfach gebrauchte von den „realen Garantien und Sicherheiten" für Deutschlands Zukunft. Auch über das Schicksal Polens hat er am 19. August kein Wort mehr gesagt, als was er nach dem Scheitern seiner Friedensversuche sagen konnte und sagen mußte, wenn er nicht unsere „Befreierrolle" völlig ungenutzt lassen wollte: d a ß er es ablehne, die „gleißnerisdien Versprechungen" der russischen Regierung nachzuahmen, aber hoffe, daß die Besetzung des „vom russischen Joch befreiten Landes" dazu helfen werde, die alten Gegensätze zwischen Deutschen und Polen zu überwinden und das Land „einer glücklichen Zukunft engegenzuführen, in der es die Eigenart seines nationalen Lebens pflegen und entwickeln kann" 8 6 ). Damit ging das erste Kriegsjahr zu Ende. Politische und militärische Reichsleitung waren sich darüber einig, d a ß es keine Entscheidung gebracht hatte, daß aber die Siegeschancen bedenklich stark zusammengeschmolzen waren. Auch an die Möglichkeit, „reale Garantien und Sicherheiten" in Belgien zu gewinnen, hat Falkenhayn im Frühjahr 1915 nicht mehr ernstlich geglaubt 87 ). I n der Öffentlichkeit durfte indessen von solchen Gedanken kein Wort verlauten.

II. T E I L E P O C H E DER ENTTÄUSCHUNGEN UND DES ZERFALLS DER NATIONALEN E I N H E I T S F R O N T 1915/16

3. K a p i t e l

B A L K A N K R I E G U N D B A L K A N P O L I T I K IM SPÄTJAHR 1915

Sehr bald nach dem Abschluß des großen Polenfeldzugs, am 22. September, setzten die von Falkenhayn längst erwarteten Großangriffe der Franzosen und Engländer ein: im Artois und in der Champagne. Sie wären schon früher losgebrochen, wenn sich nicht die Aufstellung der neuen „Kitchener-Armee" in England und ihre waffentechnische Ausrüstung in einem unerwartet langsamen Tempo vollzogen hätte. Immerhin waren die feindlichen Truppen an der Westfront schon im Sommer den Deutschen zahlenmäßig stark überlegen: sie verfügten über rund 150 gegen 100 deutsche Divisionen und konnten sehr starke Heeresreserven einsetzen: nach deutscher Berechnung vom 24. August nicht weniger als 37 französische und mindestens 14 britische Divisionen 1 ). So gab es während der Herbstschlacht Momente höchster Gefahr und Spannung. Die daran beteiligten Heerführer klagten, daß die Oberste Heeresleitung ihre Warnungen zu lange überhört und die verfügbaren Heeresreserven zu spät in den Kampf geworfen habe, so daß es unnötig große Blutopfer gekostet hätte, den Durchbruch zu verhindern. General Wild sprach umgekehrt von Versäumnissen der Frontgeneräle und hatte einige Mühe, den schwer besorgten Reichskanzler zu beruhigen, dessen Mißtrauen gegen Falkenhayns Fähigkeiten neue Nahrung erhielt 2 ). Falkenhayns nächste Mitarbeiter fanden jedoch, daß er sich niemals großartiger als Soldat bewährt habe als in diesem kritischen Augenblick: durch seine unerschütterliche Ruhe, rasche Auffassungsgabe und Tatkraft habe er das drohende Chaos souverän gemeistert, auch keine persönliche Gefahr gescheut, um sich an Ort und Stelle von der Lage an den bedrohten Stellen zu überzeugen. Politisch wichtiger war, daß er sich durch die Erschütterung der Westfront und die erdrückende zahlenmäßige Überlegenheit des Gegners in seiner strategischen Gesamtkonzeption nicht beirren ließ. Hatte man ihm bisher immer einseitige Bevorzugung der Westfront vorgeworfen, so hielt er diesmal eisern daran fest, zunächst die Ostfront haltbar zu machen: jetzt endlich konnte und mußte die immer wieder aufgeschobene große Aktion zur Bereinigung der Balkan-

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Probleme, die Niederwerfung Serbiens und Öffnung des Donauweges nach Bulgarien und der Türkei hin durchgeführt werden. An kaum einem anderen Punkt des Kriegsverlaufs ist so deutlich geworden wie an diesem, daß politisches und militärisches Handeln im Kriege zuletzt eine Einheit bilden, die sich zwar theoretisch, nicht aber praktisch in sauber abgrenzbaren Zuständigkeiten auflösen läßt. Bethmann Hollweg als leitender Staatsmann hatte schon im Winter 1914/15, wie wir gesehen haben, mehrfach darauf gedrängt, durch einen Vorstoß wenigstens die Nordostecke Serbiens, den sogenannten Negotiner Kreis, in die H a n d der Mittelmächte zu bringen, um eine freie Verbindung nach Südosten zu gewinnen, der Türkei zu Hilfe zu kommen, die böse Scharte der wiederholten Niederlagen österreichischer Heere in Serbien auszuwetzen und damit auch Rumänien vom Kriegseintritt abzuschrecken, zugleich unsere diplomatischen Bemühungen um ein Kriegsbündnis in Sofia und um Erhaltung der griechischen Neutralität in Athen zu unterstützen. Dabei hatte zeitweise auch der Gedanke mitgespielt, die Niederwerfung Serbiens und seine völlige Ausschaltung aus der großen Politik könnte in Rußland die Neigung zum Sonderfrieden fördern. Mit ihrem Drängen waren Kanzler und Auswärtiges Amt beim Generalstabschef keineswegs auf grundsätzlichen Widerstand gestoßen; er hatte dem Staatssekretär von Jagow ausdrücklich erklärt (am 16. März), es sei eine Legende, zu glauben, daß ihm der gute Wille zum Vorgehen gegen Serbien fehle. Es mangele einfach an der militärischen Kraft. Zunächst schien es völlig aussichtslos, General Conrad f ü r eine Mitwirkung zu gewinnen; dieser war viel zu schwer besorgt um seine wankende Karpatenfront, als daß er sich bereit gefunden hätte, von dorther Truppen freizugeben. Jedes Studium der technischen Möglichkeiten eines Serbenfeldzuges zeigte aber auch, daß in diesem weglosen und dünn besiedelten Hochgebirgsland mit kleinen Truppenvorstößen gegen die sehr tüchtige und starke serbische Armee (vollends im Winter) nichts auszurichten war. Also bedurfte es der Mitwirkung Bulgariens, um die Serben von zwei Fronten her „in die Zange" nehmen zu können. N u r vorübergehend (als Stambul durch das Dardanellenunternehmen der Entente in höchste Gefahr zu geraten schien) hat Falkenhayn sich nachgiebiger gezeigt gegen den Wunsch des Auswärtigen Amtes, auch ohne bulgarische Hilfe loszuschlagen. Seinerseits drängte er die Diplomatie, mit gesteigerter Energie in Sofia um ein Kriegsbündnis zu werben und in Bukarest die Freigabe der Munitionsdurchfuhr durchzusetzen. Er hat sich an diesen Verhandlungen auch selbständig mit H i l f e der Militärattaches beteiligt und dem

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Auswärtigen Amt militärische Gutachten und Lagebeurteilungen zur Verwendung an fremden H ö f e n zur Verfügung gestellt. So hatte sich seit Frühsommer 1915 ein verwickeltes Spiel diplomatischer und militärischer Bemühungen entwickelt, um trotz der schweren Bedrängnis der Türken, trotz Italiens Kriegseintritt und des immer intensiveren Werbens der Entente um Griechenland und Bulgarien die Stellung der Mittelmächte auf dem Balkan zu behaupten und womöglich zu verstärken. Wir brauchen die Einzelheiten dieses Spieles hier nicht zu verfolgen 3 ). Entscheidend war zuletzt doch der Erfolg der Waffen: nicht diplomatische Vorstellungen, sondern die eindrucksvollen deutschen Siege in Polen und Österreichs erfolgreiche Abwehr der Italiener am Isonzo sicherten Rumäniens Verharren in der Neutralität und wirkten den Werbungen der Entente in Sofia und Athen entgegen. Indessen gab es erhebliche Meinungsdifferenzen zwischen politischer und militärischer Reichsleitung über die Ausnützung der Siege an der Russenfront. Bethmann Hollweg, immerfort von Sorge erfüllt über das Schicksal der Türkei und die politisch-wirtschaftlichen Folgen ihres möglichen Zusammenbruchs, drängte schon nach den ersten Durchbruchserfolgen Ende Mai und dann wieder Anfang Juli bei der Heeresleitung, nunmehr schleunigst den Angriff auf Serbien durchzuführen. Falkenhayn aber beharrte auf dem strategischen Grundsatz, keinesfalls durch Zersplitterung der Kräfte den durchschlagenden Erfolg der Hauptaktion zu gefährden. Er vertraute darauf, daß Rußlands Niederlage sich auf die Balkanstaaten auswirken würde, und meinte, der schwierige Serbenfeldzug könne vielleicht entbehrlich werden, wenn es gelänge, statt dessen die Rumänen zur Freigabe der Munitionszufuhr nach dem Südosten zu zwingen: entweder durch militärische Demonstrationen oder durch wirtschaftliche Sperrmaßnahmen. Dem widersetzte sich das Auswärtige Amt, das nach seiner Kenntnis der Verhältnisse in Rumänien von beiden Maßnahmen sehr ungünstige politische Wirkungen erwartete. Statt dessen verfiel Jagow auf ein Auskunftsmittel, das fast an die Kabinettspolitik des 18. Jahrhunderts erinnert, dem aber auch Falkenhayn grundsätzlich zustimmte: man wollte versuchen, den serbischen Gegner, den man militärisch so schwer fassen konnte, durch ein verlockendes Friedensangebot aus der feindlichen Koalition herauszusprengen. Das Königreich Serbien sollte erhalten bleiben, nur den Negotiner Kreis an Österreich-Ungarn und gewisse umstrittene Gebietsteile an Bulgarien abtreten, aber dafür den Besitz von Montenegro und Nordalbanien eintauschen. Es gelang denn auch, die durch ihre früheren Niederlagen in Serbien deprimierten Österreicher

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zunächst für diesen Plan zu gewinnen; General Conrad hoffte, dadurch die Armee freizubekommen zu seinem heißersehnten Rachekrieg gegen Italien. Ein griechischer Mittelsmann wurde zur Fühlungnahme benutzt; aber die Serben waren für keine Verhandlungen dieser Art zu haben - natürlich nicht; denn wenn irgendeinem unserer Gegner, so war ihnen dieser Krieg ein Volkskrieg und Existenzkampf - kein Krieg der Kabinette. Dieselbe Erfahrung sollten die Mittelmächte nach und nach an allen Fronten machen 4 ). Gleichwohl werden wir den Gedanken eines Verständigungsfriedens mit Serbien schon im September wieder auftauchen sehen. Alles in allem ergibt sidi so das Bild einer zwar nicht reibungslosen, aber doch engen und systematischen Zusammenarbeit militärischer und politischer Instanzen auch in der Balkanpolitik. Schon Ende Juli, längst ehe der russische Feldzug zu Ende gekommen war, reiften ihre politischen Früchte: Bulgarien gab seine Zurückhaltung auf und meldete sich zu Bündnisverhandlungen im Hauptquartier an. Sie begannen am 3. August und führten am 6. September zu einem Bündnisvertrag und einer von Falkenhayn entworfenen Militärkonvention, zu der sich Bulgarien aber erst entschloß, nachdem ihm große Teile serbischen Gebietes als Siegesbeute versprochen waren (nicht nur solche, die es im zweiten Balkankrieg verloren hatte) und nachdem inzwischen, dank der erstaunlichen militärischen Leistung der Türken, das Dardanellenunternehmen der Westmächte praktisch gescheitert war. Auch die Neutralität Rumäniens und Griechenlands gelang es unserer Diplomatie zu sichern, so d a ß nun endlich der so lange geplante Feldzug gegen Serbien beginnen konnte. Seinen glücklichen Verlauf und die bedeutende militärische Leistung der daran beteiligten deutschen und bulgarischen Truppen und ihrer Führer haben wir hier ebensowenig zu verfolgen wie die unendlichen Reibungen, die sich dabei mit der österreichischen Heeresleitung ergaben: vor allem mit der Eifersucht Conrads, der den Oberbefehl für sein Land forderte, obwohl er infolge eines verfehlten und gescheiterten Angriffunternehmens in Wolhynien nur 2V 2 statt der zugesicherten 6 Divisionen zur Verfügung stellen konnte und so die Deutschen fast zur Verdoppelung ihres Kontingents auf 11 Divisionen zwang. Zuletzt hat er sich, unter Bruch aller Abmachungen und ohne Ankündigung, aus dem Kampfverband losgelöst, um billigen Siegestrophäen in Montenegro nachzujagen. An der Öffnung des Donauwegs nach Südosten zeigte er sehr wenig Interesse, um so mehr am Vordringen an der Adria, wo er seine Erzfeinde, die Italiener, nach Kräften schädigen wollte. Nichts war überhaupt schwieriger, als die gegensätzlichen Interessen der am Balkan be-

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teiligten Mächte zu einem gemeinsamen Unternehmen zusammenzufügen, und so macht es die Eigentümlichkeit dieses Balkanfeldzuges aus, daß politische und militärische Entscheidungen völlig untrennbar ineinander flössen. Jede Begünstigung bulgarischer Sonderinteressen (etwa hinsichtlich der Angriffsrichtung und Zielsetzung) drohte das mit Mühe neutral gehaltene Griechenland der Entente in die Arme zu treiben, jedes Eingehen auf griechische oder türkische Wünsche die Bulgaren zu verstimmen. Darüber ist es im Oktober zu einem heftigen Zusammenstoß zwischen Falkenhayn und Bethmann Hollweg gekommen, der die grundsätzliche Auffassung des Generalstabschefs von seiner staatsrechtlichen Stellung blitzartig beleuchtet. Das Auswärtige Amt hatte unmittelbar vor Beginn des Feldzuges erneut versucht, die Serben, die sich ja nun von zwei Seiten her schwer bedroht sahen, zu einem Sonderfrieden zu bringen, diesmal durch Vermittlung König Konstantins von Griechenland. Dessen Regierung war seit dem zweiten Balkankrieg mit der serbischen durch eine Defensivallianz verbunden und stand unter stärkstem Druck der Entente, die nicht nur das Land auszuhungern drohte, sondern unter rücksichtslosem Bruch der Neutralität seit Anfang Oktober immer größere Truppenmassen in Saloniki landete. Der entschieden deutschfreundliche König hatte es also sehr schwer, weiter an der Neutralität seines Landes festzuhalten, und die deutsche Politik wollte ihm seine Haltung dadurch erleichtern, daß man ihn zu einem Freundschaftsdienst gegenüber Serbien (als Vermittler) ermutigte. Im Zusammenhang mit diesen Bemühungen fragte Bethmann Hollweg Anfang Oktober Falkenhayn mündlich, ob militärische Bedenken dagegen bestünden, daß Serbien vertraulich der R a t erteilt würde, seine Truppen nach Nordalbanien zurückzuziehen und von dort aus Friedensverhandlungen zu beginnen. Der General sprach sich entschieden dagegen aus, erfuhr aber erst nachträglich, daß die deutsche Diplomatie inzwischen schon Schritte in Athen unternommen hatte, die auf eine Friedensvermittlung hinausliefen. Die Folge war ein empörter Protest in einem Schreiben an den Kanzler vom 11. Oktober: „Eure Excellenz werden wissen, daß ich mich niemals in Dinge mische, die nicht meines Amtes sind. Hier aber handelt es sich um eine Angelegenheit, deren Folgen unsere Kriegführung in unheilvoller Weise beeinflussen können, unter allen Umständen aber tief berühren. Sie gegen den Rat des Chefs des Generalstabes des Feldheeres entscheiden und ohne sein Wissen in die Wege leiten, heißt die militärischen und damit im Kriege die höchsten Interessen des Vaterlandes in Gefahr bringen. Es ist daher meine Pflicht, gegen ein derartiges Vorgehen

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strengste Verwahrung einzulegen. E . E. darf ich zugleich bitten, mich sehr gefällig darüber unterrichten zu wollen, auf welche Weise der Wiederholung eines solchen Vorkommnisses unbedingt vorgebeugt werden kann." Schroffer konnten Protest, Rüge und Forderung kaum noch formuliert werden. U n d so lautete die Antwort (die in einem eigenhändigen Entwurf Bethmanns vorliegt) ebenfalls recht schroff: jener Schritt in Athen habe gute politische Gründe gehabt; er sei schon längst vor der Unterredung mit Falkenhayn geschehen, und zwar so (was der General ja gar nicht wissen könne), „daß von unheilvollen Folgen für unsere Kriegführung gar keine Rede sein kann. Der Schritt charakterisiert sich als eine rein politische Angelegenheit, die in den Kreis meiner Verantwortung fällt." Die Verwahrung dagegen sei also überflüssig. „ A u f den Schluß E . E. gefl. Schreibens einzugehen, glaube ich danach keine Veranlassung zu haben." In einer (anscheinend nicht erhaltenen) Replik vom selben T a g muß Falkenhayn auf die Gefahr hingewiesen haben, daß der eben mühsam gewonnene bulgarische Bundesgenosse das Vorgehen der deutschen Diplomatie als Verrat an seiner Sache empfinden und uns dadurch entfremdet würde. Der Kanzler wies das umgehend ab. Es klang nicht sehr überzeugend, wenn er (in einem gleich wieder gestrichenen Passus seines Antwortentwurfs) behauptete, die mit dem Generalstabschef mündlich erörterte Frage und sein diplomatisches Vorgehen in Athen hätten nichts miteinander zu tun. U m so schroffer verbat er sich die Kritik des Militärs: „Ich bin außerstande, E. E. eine Kritik hierüber zuzugestehen oder die Führung der auswärtigen Politik im einzelnen von E. E . Zustimmung abhängig zu machen. D a s Bestreben, in allen den Existenzkampf Deutschlands berührenden Fragen mit E. E. eine dauernde Verbindung und Meinungsübereinstimmung aufrecht zu erhalten, ist in allen bisherigen Phasen des Krieges von meiner Seite so entschieden betätigt worden, daß es mir widerstrebt, durch eine Auseinandersetzung über die beiderseitigen Zuständigkeiten die Gefahr von Gegensätzen heraufzubeschwören, die dem gemeinsam angestrebten Ziel nur schädlich sein können." Er sclilug statt weiterer gereizter Korrespondenz mündliche Erörterung vor. D a z u scheint es aber nicht gekommen zu sein. Jedenfalls schickte Falkenhayn am 17. Oktober eine geharnischte Erwiderung: „Nach meiner Ansicht ist es nicht nur das Recht, sondern die höchste Pflicht des Chefs des Generalstabes des Feldheeres, sich jeder Maßnahme, also auch jeder politischen Maßnahme, die unsere militärische Lage nach seiner Uberzeugung ungünstig zu beeinflussen geeignet ist, mit allen Mitteln zu widersetzen . . . Die Erfüllung

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dieser Pflicht ist dem Chef des Generalstabes des Feldheeres nur möglich, wenn er durch die politische Leitung dauernd über alle Maßnahmen unterrichtet wird, die irgendwie die militärische Lage berühren können. Ergeben sich hieraus unüberbrückbare Gegensätze, so bleibt, da die politische Leitung, so lange der Kriegszweck nicht erreicht ist, durchaus keinen Vorrang vor der militärischen hat, die Entscheidung seiner Majestät anzurufen." Sollte Bethmann Hollweg nicht zustimmen, so werde er (aus rein sachlichen, nicht persönlichen Gründen) schleunigst „eine volle Klärung der Frage" herbeiführen. Damit war die heikle Frage des Vorranges der politischen Leitung vor der militärischen während des Krieges angeschnitten, die schon zwischen Bismarck und dem älteren Moltke strittig gewesen war und damals schwere Konflikte ausgelöst hatte (vgl. Bd. I, Kap. 8, III). Aber Bethmann Hollweg vermied es, daraus jetzt einen Zankapfel zu machen und erklärte in seiner abschließenden Antwort (vom 18. Oktober) versöhnlich: gewiß hätten beide, Kanzler wie Generalstabschef, prinzipiell das Recht, sich solchen Maßnahmen der anderen Seite zu widersetzen, die ihnen Bedenken erweckten - jedoch nicht ohne vorangehende Besprechung. Hätte Falkenhayn seine Bedenken mündlich vorgetragen, so hätte er sie leicht entkräften können; sein Protest sei aber eine bloße Behauptung und als solche ein Eingriff in fremde Befugnisse gewesen 5 ). Eine Verpflichtung seinerseits zu fortlaufender politischer Information des Generalstabschefs ließ er einfach unerörtert. Sachlich hätte er sie wohl kaum bestreiten können, nachdem nun einmal die politischen und militärischen Fragen in diesem Balkankrieg so eng miteinander verquickt waren. So wird man das Aufbegehren Falkenhayns trotz der Schärfe des Tons nicht als grundsätzliche Emanzipation des Soldaten von der politischen Führung oder als politischen Machtanspruch etwa im Sinne Ludendorffs deuten dürfen, sondern nur als energische Behauptung seiner Mitverantwortung. Daß es überhaupt zu dieser Auseinandersetzung kam und daß sie mit so viel Schroffheit durchgeführt wurde, zeigt aber deutlich, wie gespannt das gegenseitige Verhältnis der beiden Männer trotz aller Zusammenarbeit blieb. Praktisch hat dieser Zusammenstoß zur Folge gehabt, daß Bethmann Hollweg der politischen Besorgnis Falkenhayns gerecht zu werden versuchte. Am selben Tage, an dem er diesem seine zweite Antwort schrieb, forderte er Jagow auf, sich um eine Aussöhnung zwischen Bulgarien und Griechenland zu bemühen. Das war nur möglich, wenn die bulgarische Regierung sich bereit fand, auf gewisse im zweiten Balkankrieg an die Griechen verlorenen Gebiete (vor allem Kawalla) zu verzichten. Darüber ist längere Zeit mit den

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deutschen diplomatischen Vertretern in Sofia und Athen hin und her verhandelt worden, und in diesen Verhandlungen erwies sich der deutsche Militärattache in Bulgarien, Oberstleutnant von Massow, als weit optimistischer als der Gesandte Michahelles; auch der Militärattache in Athen, von Falkenhausen, sandte dem Generalstabschef günstige Meldungen, so daß dieser dem Auswärtigen Amt sogar vorschlug, er wolle eine militärische Abmachung zwischen den beiden Balkanstaaten zu vermitteln versuchen. Indessen erwies sich bald, daß die Gebietsansprüche der Bulgaren mit dem raschen Fortschreiten ihrer militärischen Offensive in Serbien ein für Griechenland unerträgliches M a ß annahmen, so daß die deutsche Diplomatie immer zurückhaltender wurde. Falkenhayn allerdings, unter dem Einfluß bulgarischer Militärs und der Berichte Massows, vor allem stets in Sorge, den wertvollen bulgarischen Bundesgenossen von der Seite zu verlieren, war entschieden geneigt, dessen Wünschen weiter entgegenzukommen als das Auswärtige Amt. Er vermied es aber sorgfältig, in dieser Frage etwa diktatorisch aufzutreten (wie es LudendorfF getan haben würde), ließ sich vom Vertreter des Auswärtigen Amtes, Gesandten Treutier, sogar rein militärische Gegenargumente gefallen (denen General Wild zustimmte), räumte ein, daß Massow im Grunde „ein Phantast" sei, und gab dessen Bemühungen nicht nach, die Politik des Gesandten Michahelles zu durchkreuzen und sich selbst womöglich an dessen Stelle zu drängen. Er blieb, mit einem Wort, bei aller Meinungsdifferenz loyal 6 ). Aus der bulgarisch-griechischen Versöhnung ist nichts geworden, und die Bemühungen Bethmanns um einen Verständigungsfrieden mit Serbien stießen auch auf zähen Widerstand des österreichischen Bundesgenossen. Je weiter die verbündeten Truppen in Serbien eindrangen, um so mehr entschwand die frühere Bereitschaft der Wiener Politik zu einem gemäßigten Friedensschluß. Ende September sprach Graf Tisza noch von einem milden Frieden, Ende Oktober bereits von Aufteilung Serbiens 7 ). Baron Burian erklärte zu Beginn des Feldzuges, keinesfalls wolle Österreich-Ungarn das serbische Königreich annektieren; vielleicht ließe es sich mit Montenegro vereinigen. Ende Oktober wollte er die serbische Dynastie abgesetzt und das Land unter König Nikita von Montenegro gestellt sehen, zunächst aber bedingungslose Kapitulation ohne alle Zusagen für die Zukunft fordern. Zehn Tage später wollte er dazu nicht mehr die Hand bieten, sondern Serbien ebenso wie Montenegro getrennt bestehen lassen, aber beide stark verkleinert und von der Adria abgeschnitten. Hinter diesen Plänen verbarg sich natürlich viel

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Unsicherheit in der Bestimmung der Kriegsziele, über die sich Österreich und Ungarn noch immer ebenso wenig einig waren wie bei der Kriegserklärung im Juli 1914. Vergebens wiesen Jagow und Bethmann darauf hin, wie dringend die Mittelmächte wünschen müßten, mit dem Balkankrieg rasch zu Ende zu kommen. Die Forderung bedingungsloser Kapitulation würde die Serben zu einem Verzweiflungskampf treiben. „Friede mit Serbien dagegen würde England und Frankreich den moralischen Grund für ihre Aktion (in Saloniki) nehmen"; er würde auch „großen moralischen Eindruck auf alle Gegner machen", die dann sehen würden, daß die Mittelmächte grundsätzlich nach Frieden strebten und sehr wohl imstande wären, die feindliche Allianz durch Separatfriedenssdilüsse aufzubrechen. Das könnte weitreichende Folgen haben. Ein Starker brauche sich nicht vor dem „Anschein der Schwäche" zu fürchten. Warum sollte man Serbien nicht durch Überlassung Nordalbaniens und Montenegros einen Zugang zur Adria gönnen, und warum sollte man (wie Buriän wünschte) den verfehlten Versuch eines selbständigen Albanien wiederholen? Mehrfach unterstrich Jagow das Faktum, daß deutsche Truppen das Hauptverdienst an diesem Feldzug hätten, Deutschland aber nicht deshalb zu Felde gezogen sei, um General Potioreks Niederlagen in Serbien zu rächen, sondern um eine vernünftige Ordnung auf dem Balkan zu schaffen. Auch Falkenhayn drängte vergeblich auf sofortige Festlegung der Friedensbedingungen, um rascher zu Ende zu kommen. Tisza wünschte vorläufig überhaupt keinen Friedensschluß mehr mit Serbien, und Burian, dessen Eigensinn und doktrinäre Starrheit die deutsche Diplomatie immer wieder zur Verzweiflung brachte8), war weder zur Aufgabe seiner albanischen Pläne noch zu einer eindeutigen Festlegung der Friedensbedingungen für Serbien zu bewegen. Schließlich wurde die ganze Erörterung überflüssig, weil Serbien trotz seiner totalen Niederlage nicht kapitulierte, sondern der Rest der serbischen Armee (immerhin noch 140000 Mann) nach Montenegro und Albanien übertrat und von dort, ohne daß die Österreicher es hindern konnten, nach Korfu, später nach Saloniki, überführt wurde. Mitte Januar 1916 stand die deutsche Politik vor der Tatsache, daß der Ministerrat der Doppelmonarchie die völlige Aufteilung Serbiens zwischen Österreich-Ungarn und Bulgarien, also sein Verschwinden von der Landkarte, zum Kriegsziel erklärt hatte - nur gegen die Stimme Tiszas, der keine Annexionen größeren serbischen Gebietes in das Donaureich haben wollte. Wir mußten das zunächst hinnehmen, um nicht die Streitfragen zwischen uns und dem Bundesgenossen noch zu vermehren, von denen die nach der Zukunft Polens die schwierigste

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und dringlichste war. Für später, schrieb J a g o w an Falkenhayn, behielten wir uns das Mitspracherecht über Serbiens Schicksal vor 9 ). Große Sorgen machte man sich in Berlin auch um die Behandlung, die der Bundesgenosse Montenegro zuteil werden ließ, gegen das er allein Krieg geführt hatte und das nun Mitte Januar nicht nur um Waffenstillstand, sondern auch um Frieden bat. Bethmann Hollweg sah dies Ereignis ganz und gar im Licht seiner Gesamtpolitik. Es w a r der erste Fall, daß einer der Gegner sich aus der großen Kriegsallianz loslöste, und seine Behandlung mußte daher zum Probefall werden f ü r die allgemeine Friedenspolitik der Mittelmächte. Wurde das kleine L a n d geschont, f ü r etwa von ihm geforderte Abtretungen wie den Berg Lovcen über der Bucht von Cattaro (dessen strategische Bedeutung im österreichischen Generalstab zu einer Art von Mythos geworden war) an anderer Stelle entschädigt und womöglich zum Freunde gewonnen, so würde das, meinte Bethmann, überall starken Eindruck machen und in den Ententeländern als „ K ö d e r " für alle Friedensneigungen wirken, besonders in dem von England so tief enttäuschten Rußland. Praktisch wären ja doch alle Konzessionen an diesen kleinen Gegner für eine Großmacht wie ÖsterreichUngarn kein wirkliches Opfer. Würde es dagegen „stranguliert", so würde das nicht nur der feindlichen, sondern auch der alldeutschen Propaganda mächtigen Auftrieb geben. Jene würde angesichts der Vernichtung Serbiens und der Erdrosselung Montenegros darauf hinweisen, wohin ein Frieden mit den Mittelmächten führte, und die Alldeutschen würden durch das Beispiel Österreichs zu einer Opposition gegen jeden Verständigungsversuch, d. h. aber gegen Bethmann Hollweg selbst angefeuert 1 0 ). Der Kanzler hat das dem österreichischen Botschafter mit höchstem Ernst vorgestellt und sich auch durch keinen Hinweis auf die unversöhnbare Feindseligkeit Montenegros irre machen lassen - Einwände, die um so weniger überzeugen konnten, als j a Baron Burian selbst kurz vorher König N i k i t a zum Herrscher des vereinigten Serbien und Montenegro hatte erheben wollen! Aber auf den Minister machte er mit allen diesen Vorstellungen keinen Eindruck, und ein förmliches Mitspracherecht stand der Berliner Politik hier nicht zu. Burian wollte Montenegro, wie J a g o w sich ausdrückte, so verstümmeln, „daß nur ein unfruchtbarer Steinhaufen, nicht lebensfähig", davon übrig bliebe. J a g o w fürchtete die schlimmsten Folgen. Aber auch hier entzog sich der besiegte Gegner dem Griff des Würgers. König N i k i t a floh aus dem L a n d und hinterließ keinen Bevollmächtigten, der hätte Frieden schließen können - eine Nachricht, die Bethmann Hollweg mit Entsetzen aufnahm;

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denn er fand es unglaublich, daß die österreichische Diplomatie es nicht verstanden habe, einem besiegten und friedensbereiten Gegner goldene Brücken zu bauen 11 ). Wir haben es also in beiden Fällen, in Serbien wie in Montenegro, nur mit einem geplanten, nicht mit einem vollzogenen Gewaltfrieden zu tun. Aber auch diese Planungen sind historisch wichtig genug. Sie zeigen, daß es eine Bereitschaft, militärische Siege rücksichtslos zur Machterweiterung ausnützen, ohne viel nach der „Meinung der Welt" und der Verlängerung des Krieges zu fragen, nicht nur im preußisch-deutschen Lager gegeben hat, sondern erst recht in Österreich - nur mit dem Unterschied, daß man hier nicht auf eigenen, sondern in der Hauptsache auf fremden Waffenleistungen aufbaute. Viel wirksamer als jede Bereitschaft zu friedlicher Verständigung, meinte Buriân, „wird die Wirkung des gänzlichen Verschwindens eines der Kriegführenden vom Kampffeld sein 12 )". Das war ganz militaristisch gedacht. In der Tat stand Buriân unter dem politischen Druck des Generalstabschefs Conrad von Hötzendorf, der ihn seit November fortlaufend mit politischen Denkschriften, aber auch mit mündlichen Rückfragen bestürmte, die er durch endlose „mémoires" vorzubereiten pflegte. Für diesen Soldaten gab es nur eine, und zwar eine sehr einfache Lösung des Balkanproblems: Annexion ganz Serbiens und Montenegros, soweit als möglich auch Albaniens. Alles andere, versicherte er, sei eine Halbheit, die sich bald rächen werde. Wiederherstellung auch nur eines stark verkleinerten Serbiens würde so viel bedeuten wie Verlust der Großmachtstellung Österreichs und damit Verlust des Krieges. Die südslawische Frage müsse durch Vereinigung aller Serben, Kroaten und Slawen in der Donaumonarchie gelöst werden. Solche Gedanken trug er schon zu einem Zeitpunkt vor, als das österreichische Korps zwar bis Kragujevac vorgedrungen, ihm die Einkreisung der serbischen Hauptarmee aber mißlungen war und der glückliche Ausgang des Feldzuges von der Leistung deutscher und bulgarischer Truppen abhing. Für ihn war es schon am 5. November selbstverständlich, daß am Ende die Besetzung Serbiens Österreich allein zufallen und die deutsche Politik verhindert werden müßte, sich in die Wiener Balkanpolitik einzumischen 13 ). Denn Deutschland, meinte er bald darauf, sei dann bereit, Österreichs Interessen für andere zu opfern. Am 26. November, nach der Niederwerfung Serbiens, verlangte er dringend sofortige Entscheidung, welches Kriegsziel die Monarchie in Serbien, Montenegro und Albanien verfolge. Er dachte an eine Aufteilung Albaniens zwischen Griechenland (das durch Süd-Albanien für seine Neutralität belohnt

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und zugleich mit Italien verfeindet werden sollte), Bulgarien (ohne dessen Hilfe die Österreicher zur Eroberung des Landes gar nicht imstande waren) und Österreich-Ungarn; er legte auch gleich eine Karte mit der neuen Grenzziehung bei, eine weitere für die Verstümmelung Montenegros, falls dessen einfache Annexion nicht erreichbar sein sollte; doch wünschte er dann wenigstens „Eingliederung" des Landes in die Donaumonarchie als Vasallenstaat. Zwei Tage später verlangte er sofortiges Auslöschen Serbiens und der serbischen Dynastie und versprach sich einen besonders starken Eindruck (einen Effekt des Schreckens!) von einem solchen Fait accompli auf Griechenland und Rumänien. Nachdem die Eroberung ganz Serbiens vollendet war, trat er sehr selbstbewußt „im Namen von Armee und Flotte" auf, die nicht zum zweiten Male durch die (schon so oft bewiesene) Halbheit der österreichischen Diplomatie in eine katastrophale Kriegslage gebracht werden wollten (18. Dezember). Ungeduldig warf er der politischen Leitung vor, sie hätte keine klaren Kriegsziele und forderte unmittelbaren Kontakt („innigsten Zusammenhang") zwischen Heerführung und Diplomatie, ohne den weder Krieg geführt noch die militärische Okkupationsverwaltung des eroberten Gebietes durchgeführt werden könne, weder in Serbien noch in Polen. Die Armee müsse wissen, für welche Ziele sie kämpfen solle. Burians Antwort bemühte sich, den eifrigen Annexionisten davon zu überzeugen, daß auch die Regierung „einen möglichst großen Zuwachs an Macht und Sicherheit" als ihr Kriegsziel betrachte, aber mitten im Kriege außerstande sei, sich öffentlich auf Eroberungen festzulegen, die sie beim allgemeinen Friedensschluß doch u. U. nicht behaupten könnte. Das gelte sowohl für die polnische Frage (in der Deutschlands Haltung noch nicht endgültig geklärt sei) wie für die südslawische. Immerhin glaube er nichts versäumt zu haben in der politischen Orientierung des Oberkommandos und sei auch seinerseits der Meinung, daß jetzt „das Nest der serbisch-russischen Agitation ausgehoben und für immer unschädlich gemacht werden" müßte. „Es steht fest, daß Serbien und Montenegro unter unsere militärische und politische Botmäßigkeit gelangen müssen"; nur über die Modalitäten ließe sich jetzt noch keine definitive Entscheidung treffen, und Albanien wünsche er als Ganzes, aber „unter unserem effektiven Protektorat" zu erhalten. Tatsächlich hat Burian damals geplant, Österreichs politischen Einfluß bis an die Straße von Otranto auszudehnen und damit Italien von der ganzen adriatischen Ostküste zu vertreiben. Er wollte das Protektorat dadurch „effektiv" machen, daß er das gesamte Küstengebiet Montenegros und den Sandschak von Novibazar

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annektierte und dadurch eine doppelte direkte Verbindung mit Albanien in die Hand bekam - ein Plan, der natürlich voraussetzte, daß der Vormarsch österreichischer Truppen bis tief in den Süden weitergeführt werden konnte und der dem Generalstabschef erst Ende Januar eröffnet, dem deutschen Bundesgenossen ganz verschwiegen wurde) 14 ). Buriän legte seine Korrespondenz mit dem Generalstabschef auch dem ungarischen Ministerpräsidenten Graf Tisza vor, was diesen zu einer sehr ausführlichen Denkschrift veranlaßte. Sie enthielt einen leidenschaftlichen Protest gegen die Annexion Serbiens: das würde die Bevölkerungsverhältnisse der Doppelmonarchie in unerträglicher Weise verschieben (d. h. die eindeutige Herrschaft der Ungarn in ihrer Reichshälfte und ihr gutes Verhältnis zur kroatischen Bevölkerung bedrohen), damit „die ganze Struktur der Monarchie ihrer stärksten Säulen" (seit dem Ausgleich von 1867) „berauben" und somit „ihre innere Zerrüttung anbahnen". Tiszas Protest richtete sich aber auch gegen die gefährliche Illusion, als wäre Österreich-Ungarn in der Lage, „nach Gutdünken Kriegsziele anzustreben." Die Erfolge seiner Armee wären bisher rein defensiv gewesen, und mehr als ein Verständigungsfriede, d. h. ein Friede der Kompromisse und nicht des Diktats, würden niemals zu erreichen sein. Die Monarchie sei „territorial saturiert"; große Annexionen würden nur zu einer gefährlichen Verstärkung zentrifugaler Kräfte führen, außerdem praktisch undurchführbar sein, ein unbedingtes Hindernis des Friedens bilden und den Beschlüssen der Ministerkonferenz vom 19. Juli 1914 widersprechen. Tiszas eigenes Friedensprogramm war dann freilich auch wieder so gestaltet, daß es nur im "Wege des „Diktatfriedens" erreichbar schien: Abtretung der großen, Bulgarien für sein Kriegsbündnis zugesagten Ostteile Serbiens, Zuweisung aller Gebiete, die von albanischer Bevölkerung bewohnt waren, an Albanien, Abschneidung Montenegros von der Adriaküste, Annexion der Nordostecke Serbiens an Ungarn - so blieben nur „ein oder zwei arme, ganz auf die Monarchie angewiesene Stäätchen zurück, die ohne das Wohlwollen der Wiener Politik nicht lebensfähig wären; durch handelspolitische Begünstigungen, die man jederzeit zurückziehen könnte, sowie „durch politische und militärische Vereinbarungen könnten sie in dauernde Abhängigkeit von der Monarchie gebracht werden" 15 ). Uber dieses Programm ist dann auf Tiszas Verlangen am 7. Januar in einer Sitzung des „Gemeinsamen Ministerrates" der Doppelmonarchie verhandelt worden. Auch Generaloberst Conrad nahm daran teil, nicht ohne vorher eine neue, wieder sehr ausführliche Denkschrift allen Beteiligten zuzustellen1*5).

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Nach wie vor hielt er alle Protektoratsideen f ü r „halbe Lösungen", für ebenso nutzlos wie gefährlich, die Einwände Tiszas für bloßen Partikularismus des Ungarn, wollte auch von der Erhaltung eines verstümmelten Montenegro nichts mehr hören: König Nikita, falls er um Frieden bitten sollte, dürfe nicht „begnadigt" werden, sondern müsse sich „auf Gnade und Ungnade" ergeben; anderseits war ihm klar, daß Österreichs militärische Kraft zur Unterwerfung Albaniens nicht mehr ausreichte, und hielt darum an seinem Teilungsplan fest, um wenigstens Nordalbanien fest in österreichische H a n d zu bringen — mit bulgarischer (womöglich griechischer) H i l f e ! Er gab zu, daß weit gesteckte Kriegsziele später vielleicht reduziert werden müßten, sah aber nicht ein, warum sie nicht jetzt schon formuliert werden könnten. Italien müsse unbedingt vom Ostufer der Adria verdrängt werden, Russisch-Polen müsse unbedingt als K r o n l a n d an Österreich fallen, möglichst ungeteilt. Gegen etwaige Erwerbspläne Deutschlands und dessen Einmischung in die Balkanpolitik werde er „mit allen Mitteln ankämpfen". Sehr naiv versicherte er Tisza, nach seinen Nachrichten erwarte er keinen hartnäckigen Widerstand der Ententeregierungen gegen eine Annexion Serbiens: man würde dort schließlich erleichtert sein, das serbische Sorgenkind los zu werden. Mit seinen Vorschlägen setzte er sich aber im Ministerrat nur teilweise durch. M a n beschloß, mit Montenegro und Albanien nach Burians Vorschlägen zu verfahren. Serbien (dessen Restbestand nach den schon festgelegten Abtretungen an Bulgarien, Albanien und Ungarn nur noch 1 1 [ 2 Millionen Einwohner umfassen würde, ein Drittel aller Serben, von denen zwei Drittel in der Monarchie leben würden!) sollte ganz annektiert werden (gegen Tiszas Widerspruch). Aber dieser Beschluß sollte geheim bleiben und nur vorläufig gelten, da ein Friede mit Rußland nicht daran scheitern dürfe. D a s offizielle Conclusum wurde ziemlich nichtssagend formuliert. Conrad ließ sich dadurch nicht von weiterer Opposition abhalten. Als König N i k i t a sein L a n d verließ, drängte er erneut darauf, die Staaten Serbien und Montenegro sofort, endgültig und durch offene Proklamation zu liquidieren. „Die Entente will den Krieg wegen ihrer Balkanschützlinge gewiß nicht um einen T a g länger führen", schrieb er Burian — im Gegenteil: nur entschlossenes Handeln und Zeigen von unbedingter Siegeszuversicht könne hier imponieren. U m der Form willen könne j a in Montenegro ein Plebiszit für den Anschluß an die Doppelmonarchie veranstaltet werden - was Burian als „ K o m ö d i e " bezeichnete. Für die Errichtung eines albanischen Protektorates zu kämpfen, weigerte sich Conrad geradezu: er könne es nicht verantworten,

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starke Truppenverbände in ein Land zu schicken, aus dem sie später wieder herausgehen sollten. Buriäns Antwort kennzeichnet die Eigenart der österreichischen Verhältnisse: er dachte nicht daran, die Entscheidung des uralten Kaisers Franz Josef anzurufen, sondern verlegte sich aufs Bitten: natürlich habe er kein eigenes militärisches Urteil und keinen Einfluß auf die Entschließung des Armee-Oberkommandos, werde es aber doch „mit besonderer Befriedigung begrüßen", wenn in Albanien militärische Fortschritte erzielt werden könnten und dadurch die Erreichung der Fernziele der Regierung erleichtert würde. Auch suchte er nun dem Generalstabschef die besonderen Vorteile eines Protektorates über ganz Albanien einleuchtend zu machen. Aber er erreichte damit nichts weiter, als daß dieser wieder einmal sein altes, bitteres Klagelied anstimmte über die verfehlte Balkanpolitik Österreichs seit 1908 — um mit dem nicht minder bitteren Geständnis zu schließen, d a ß „leider das k. und k. Heer und die k. und k. Flotte ganz außerstande sei", die von Burian gewünschte Besetzung Albaniens bis Valona durchzuführen. Im Laufe des Februar sind die Österreicher dann doch in Albanien bis zur Linie Durazzo-Elbasan vorgedrungen in der vergeblichen Hoffnung, die dorthin übergetretenen Reste des serbischen Heeres noch abzufangen. Aber dieses Vordringen führte bald zu bitteren Streitigkeiten mit den bulgarischen Bundesgenossen, die sich auch einen stattlichen Anteil an westserbischem und albanischem Gebiet sichern wollten: zu einem Zusammenstoß mit bulgarischen Kräften bei Elbasan und einer bulgarischen Kabinettskrise. N u r dem Eingreifen Falkenhayns war es zu verdanken, daß die so entstandene Bündniskrise Ende März durch eine Vermittlungsaktion beschworen wurde: durch einen Vertrag, der die Besatzungszonen der Streitenden gegeneinander abgrenzte. Je länger, je mehr zeigte es sich, daß Deutschland durch seinen Balkankrieg in ein Wespennest einander befehdender Begehrlichkeiten seiner Bundesgenossen hineingegriffen hatte und nachgerade in Gefahr geriet, seine so kostbaren Streitkräfte f ü r fremde Interessen zu verbrauchen. Bis in den März hinein hat Falkenhayn noch an dem Plan festgehalten, gemeinsam mit ihnen - und womöglich auch mit Hilfe oder doch im Einverständnis mit der Regierung König Konstantins - einen Großangriff gegen Saloniki durchzuführen, um die dort immer massenhafter konzentrierten englisch-französischen Streitkräfte zu vertreiben und damit womöglich Griechenland als neuen Bundesgenossen zu gewinnen. Aber die technischen Schwierigkeiten, vor allem des Nachschubs durch das wege- und bahnlose serbische Hochland erwiesen sich als unüberwindlich oder machten doch das Unternehmen äußerst zeit-

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D r i t t e s Kapitel

raubend, wie Seeckt, der ausgezeichnete Generalstabschef der deutschen Angriffsarmee, schon Mitte Januar darlegte. Schließlich hat sich Falkenhayn darauf besonnen, daß Deutschlands Schicksal zuletzt nicht am Balkan, sondern in Frankreich entschieden werden würde. Er zog deshalb alle irgend verfügbaren Streitkräfte dorthin zusammen, um mit einer letzten verzweifelten Kraftanstrengung die Erstarrung der Westfront zu durchbrechen, ehe Englands neue große Angriffsarmee zum Sturm antreten konnte. Der Kampf um Verdun wurde vorbereitet, der Balkan aber den Balkanvölkern selbst und Österreich überlassen, in der Erwägung, daß schließlich die große Armee der Westmächte in Saloniki ihre Stoßkraft im Westen verminderte, daß Gallipoli inzwischen geräumt, die Hauptgefahr für die Türkei also beseitigt war und daß eine Eroberung Salonikis nur neue, unendliche Streitigkeiten zwischen Österreichern, Bulgaren und Griechen zur Folge haben würde. Ein Vorstoß der Saloniki-Armee gegen Bulgarien würde dank der Gebirgsnatur des Landes im wesentlichen von den Bulgaren selbst abgewehrt werden können, die durch diesen beständigen Druck (wie Falkenhayn später schrieb) von selbst am Bündnis mit Deutschland festgehalten würden 17 ). Das waren politisch ebenso wie militärisch richtige Überlegungen.

4. K a p i t e l

MITTELEUROPAPLÄNE UND DIE POLENFRAGE IM W I N T E R 1915/16

So erfreulich es für die Mittelmächte war, daß nun endlich die schon im Juli 1914 geplante Niederwerfung der Serben gelungen und damit der Unruheherd am Balkan, an dem sich der Weltkrieg entzündet hatte, bis auf weiteres erstickt war - die Düsterkeit der allgemeinen Lage hatte sich dadurch nicht wesentlich aufgehellt. Vor allem blieb das gewaltige Übergewicht der feindlichen Kräfte im Westen und die beklemmende Aussicht, daß es sich im Lauf des kommenden Sommers noch mächtig verstärken würde. Bethmann Hollweg war schon längst skeptisch geworden gegenüber dem politischen Nutzen unserer militärischen Erfolge, wie Karl Helfferich, der Anfang 1915 zum Reichsschatzsekretär berufen war, berichtet. Seit April 1915 hatte er mit diesem immer wieder die Notwendigkeit erörtert, jede Friedensmöglichkeit wahrzunehmen, und zwar auf der Grundlage des Status quo ante bellum, wenn nicht mehr zu erreichen war 1 ). Ende Oktober meldete Graf Lerchenfeld nach München, im Auswärtigen Amt werde erwogen, gleidi nach dem Ende des serbischen Feldzuges die Gegner offen zu Friedensverhandlungen einzuladen. Das könne zwar als Schwächezeichen gedeutet werden, sei aber angesichts unserer so weit ins Feindesland vorgeschobenen Stellungen für uns ohne Gefahr und böte selbst im Fall der Ablehnung den Vorteil, daß unser Volk dann um so geschlossener hinter seiner Regierung stünde, deren Friedensbereitschaft dann offen erwiesen wäre; gleichzeitig würden in den uns feindlichen Ländern etwa vorhandene Friedensströmungen dadurch noch verstärkt. Auf Annexionen allerdings müßten wir verzichten, insbesondere Belgien würden wir nicht behalten können: immerhin ließen sich dort wohl gewisse militärische Sicherheiten und eine „volle Entschädigung" erreichen; auch könnten wir hoffen, die Rückgabe unserer Kolonien sowie die Abtretung „der französischen und englischen Kongogebiete" durchzusetzen. Militärisch sei kaum mehr zu erreichen als ein Festhalten unserer Stellungen, niemals ein Vordringen auf Paris oder Calais;

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Viertes K a p i t e l

im Osten wäre allenfalls noch Riga zu erobern möglich. Auch General Falkenhayn sei jetzt mit der Preisgabe Belgiens einverstanden. D a s war in die Form einer „rein persönlichen Ansicht" des Gesandten Grafen Wedel gekleidet (der als Sprecher des Auswärtigen Amtes fungierte), vrmutlich nur als vertraulicher „Fühler" bei den Bundesregierungen gedacht und wurde, auf Hertlings erschreckte Reaktion hin, sogleich als bloß akademische Erörterung halb dementiert 2 ). Aber es ist offensichtlich, daß Bethmann Hollweg in diesen Herbstwochen ernsthaft den Gedanken erwogen hat, ob es nicht an der Zeit wäre, nach siegreichem Abschluß des serbischen Feldzugs und erfolgreicher Abwehr der Gegner im Westen mit einem Friedensangebot hervorzutreten 3 ). Nach einer Niederschrift des Kriegsministers Wild von Hohenborn v o m 10. November hat er ihn im Preußischen Staatsministerium wenigstens „gestreift" (und Wilds energischen Einspruch dagegen erweckt) und Besorgnisse darüber geäußert, daß ihm die Führer der Sozialdemokratie von beginnender Kriegsmüdigkeit des Volkes berichtet hätten 4 ). Ende November sprach er auch mit Falkenhayn über Friedensmöglichkeiten, und zwar so, daß dieser die Bereitschaft zu einem offenen Friedensangebot an die Gegner heraushörte. In einem besorgten Schreiben, das der General am nächsten T a g übersandte, wies er den Gedanken zurück, daß Deutschland überhaupt die Wahl habe, Frieden anzubieten oder so lange zu kämpfen, bis der feindliche Kriegswillen gebrochen sei. „Es handelt sich nicht mehr um einen Krieg, wie wir ihn früher kannten, sondern der Krieg ist für alle Beteiligten mittlerweile zum K a m p f um das Dasein im eigentlichen Sinne geworden"; er muß also durchgehalten werden „bis zum guten oder zum bitteren Ende, ob wir nun wollen oder nicht". Wer in einem solchen Ringen mit Friedensangeboten hervortritt, ehe er ganz sichere Anzeichen d a f ü r hat, daß einer der Gegner nachzugeben bereit ist, zeigt verderbliche Schwäche, auch wenn er seine Vorschläge noch so vorsichtig faßt; denn er schwächt den Willen zum Durchhalten in Volk und Heer und stärkt ihn beim Feinde - was „ein namenloses Unglück" und durch keine innerpolitische Rücksicht zu rechtfertigen wäre. Bethmann erklärte das für ein Mißverständnis: er habe nicht mehr sagen wollen, als daß wir „Friedensneigungen, die sich bei unseren Feinden zeigen, unterstützen", aber nicht „absichtlich im Keime ersticken sollten" (nämlich durch hohe Annexionsforderungen) 5 ). Man sieht aber, wie verzweifelt eng der Weg der „Diagonale" war, den er zwischen dem fortdauernden Annexionismus des Bürgertums und der Friedenssehnsucht der sozialistischen Massen zu gehen hatte. Anfang Dezember

Mitteleuropapläne und Polenfrage Winter 1915/16

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stand eine Reichstagssitzung zur Bewilligung neuer Kriegskredite bevor. Die sozialdemokratische Parteiführung, erschreckt durch die allgemeine Unzufriedenheit der Massen mit der Ernährungslage, aber auch durch die zunehmende Aktivität der radikalsten, pazifistisch gestimmten Linken ihrer Gefolgschaft (es gab in Berlin bereits kleinere Straßenkundgebungen gegen den Krieg!), war entschlossen, diesmal durch eine Interpellation im Reichstag sich offen gegen jede Form von Eroberungskrieg zu erklären und den Kanzler dadurch zu einer ähnlichen Erklärung zu zwingen; sie erhoffte sich davon eine günstige Wirkung auf das Ausland. Liest man den Bericht Scheidemanns über die lange vertrauliche Aussprache, die er am 4. Dezember mit Bethmann über diese Frage führte 6 ), so gewinnt man den Eindruck, daß der Kanzler mit dem Inhalt der sozialdemokratischen Erklärung gern einverstanden war, aber große Sorge vor der Opposition der bürgerlichen „Kriegszielmehrheit" hatte und deshalb nach möglichst unverfänglichen Formeln suchte, über die er sich mit den Sozialisten einig werden konnte. Auf der anderen Seite drängten ihn die bürgerlichen Parteiführer stürmisch, durch den Ausdruck „felsenfester" Siegeszuversicht und durch entschiedene Vertretung deutscher „Lebensansprüche" den verhängnisvollen Eindruck beginnender „Schwäche" zu übertönen - den die sozialdemokratische Interpellation im Ausland erwecken könnte, und zugleich die Stimmung im Volk zu heben 7 ). Welche Lage f ü r einen Staatsmann, der alles daran setzte, die bereits langsam zerbröckelnde nationale Front noch weiter zusammenzuhalten und mit sich fortzureißen! Sie wurde nicht erleichtert durch die scharfe Opposition des Kriegsministers und des Generalstabchefs gegen jede Kundgebung deutscher Friedensbereitschaft, wenn doch beide nicht mehr als ganz vage Auskünfte geben konnten über die letztlich entscheidende Frage: wie lange noch Mannschafts-, Rohstoff und Ernährungsreserven ausreichen würden zum „Durchhalten" in einem Krieg, den Falkenhayn eben erst wieder als „Erschöpfungskrieg" ohne Gewißheit des militärischen Erfolgs bezeichnet hatte 8 ). Unter diesen Umständen wäre es geradezu ein Wunder gewesen, wenn die Reichstagssitzung vom 9. Dezember ohne Mißklang als „nationale Kundgebung" in bisherigem Stil verlaufen wäre — trotz der erstaunlichen, auch diesmal wieder bewährten Kunst des Reichskanzlers, durch ebenso vielsagende wie letztlich unverbindliche Erklärungen die politischen Gegensätze mehr zu verhüllen als zu überbrücken. Sein Grundton unerschütterlicher Zuversicht begeisterte die Nationalisten (sogar seine Kritiker im kaiserlichen H a u p t quartier 9 )) und die Erklärung, man würde den Krieg „nicht einen Tag un-

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nötig verlängern", um neue Faustpfänder zu erobern, verhinderte wenigstens eine Verstimmung der Linken. Ein offener und förmlicher Verzicht auf Annexionen wurde aber doch vermieden, ein deutsches Friedensangebot ausdrücklich als verfrüht abgelehnt, und der Sprecher der bürgerlichen Mehrheitsparteien (der Zentrumsführer Dr. Spahn) tat alles, um den Sozialdemokraten die Wirkung ihrer Interpellation vollends zu verderben und ihnen eine Politik gemäßigt-nationaler Haltung noch mehr zu erschweren. Der Druck des Annexionismus auf die Reichspolitik war also im Spätjahr 1915 unvermindert stark. Aber die Siegeshoffnungen der N a t i o n wendeten sich jetzt, nach dem Erlebnis des gemeinsam mit den Bundesgenossen erfochtenen Sieges auf dem Balkan, wenigstens teilweise in eine andere Richtung, die der Regierung weniger gefährlich erscheinen mochte: auf das Ziel eines „Vereinigten Mitteleuropa". Strömungen, die dahin drängten, hatte es schon immer gegeben. G a n z war der „großdeutsche Gedanke" auch nach 1866 niemals ausgestorben - am wenigsten unter den Deutschösterreichern, die in ihrer bedrängten Lage gegenüber dem Slawentum vielfach mit Sehnsucht nach Reichsdeutschland hinüberblickten. Die Kameradschaft des Krieges hatte auch auf reichsdeutscher Seite von A n f a n g an viele Sympathien f ü r das österreichische „Brudervolk" erweckt - trotz der vielen und schweren Enttäuschungen, die das „Schulter an Schulter"-Kämpfen mit dem national so bunt zusammengesetzten, unzulänglich bewaffneten und durchgebildeten, vielfach rasch brüchig gewordene Heer der Donaumonarchie mit sich brachte. Rasch blühte auf beiden Seiten eine politische Literatur auf, die nach dauernder und engerer Vereinigung der beiden Kaiserreiche rief, in Österreich vor allem von den Sudetendeutschen, aber auch von den Wiener Historikern unter Führung Heinrich Friedjungs und von deutschgesinnten Sozialdemokraten wie K a r l Renner gepflegt, in Deutschland durch eine „waffenbrüderliche Vereinigung", mancherlei Wirtschaftsverbände und bedeutende Universitätslehrer, z. T. österreichischer Herkunft, gefördert 1 0 ). Dabei schweiften die Hoffnungen häufig über die Grenzen der beiden Reiche hinaus, etwa im Sinn der uns schon bekannten Hoffnung Bethmanns im September 1914, den Verlust der Weltmärkte für Deutschland durch Schaffung eines Wirtschaftsbundes auszugleichen, der so ziemlich den ganzen Kontinent umfassen sollte. Solche Hoffnungen erhielten neuen Schwung durch die Öffnung des Donauweges nach Bulgarien und der Türkei: schien es doch jetzt, als rückten die vagen Zukunftsträume reichsdeutscher Publizisten vor 1914 auf eine große Handelsstraße B e r l i n - B a g d a d der Wirklichkeit ein

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Stück näher. Die kühnen, von Deutschland eifrig geförderten Unternehmungen der Türkei zur Erschütterung der englischen Weltmachtstellung im Vorderen Orient (auf die auch Bethmann Hollweg in seiner ersten Reichstagsrede am 9. Dezember hinwies) beflügelten solche Phantasien erst vollends. Den Höhepunkt dieser Bewegung bezeichnete das bekannte MitteleuropaBuch Friedrich Naumanns, das im Herbst 1915 gerade zum rechten Zeitpunkt erschien, um rasch zur meist gelesenen deutschen Kriegsschrift überhaupt zu werden 11 ). Was ihr ein so gewaltiges Echo verschaffte, war nicht nur der — allen Schriften des großen Publizisten eigene — literarische Glanz und die Fülle darin gebotener lebendiger Anschauung vom inneren Leben des Vielvölkerstaates an der Donau, gesammelt in eifrigen literarischen Studien und auf vielen Reisen. Es war vor allem der leuchtende Idealismus dieses Propheten deutscher Zukunft, der den deutschen Nationalismus jetzt ebenso durch Aufweisen neuer Bahnen zu veredeln hoffte, wie er vor dem Kriege versucht hatte, die alten, verhärteten Gegensätze zwischen der nationalistischen Rechten und der sozialistischen Linken zu überwinden in einer neuen nationalsozialen Bewegung. Mit feuriger Rhetorik, aber getragen von der Überzeugung eines echten Liberalen, suchte er seine Landsleute zu überreden, daß es jetzt an der Zeit sei zur Bildung einer großen mitteleuropäischen Völkergemeinschaft, außer den Deutschen auch die West- und Südslawen, Ungarn und womöglich Rumänen umfassend. Eine ganze Reihe von Kleinvölkern sollte sich um den Kern eines eng und dauerhaft gestalteten Bündnisses der Deutschen und Österreicher zusammenschließen, aber nicht zu einem Imperium des herrschenden Staatsvolkes, sondern zu einem etwas nebelhaft bleibenden „Oberbau" mit gemeinsamen Institutionen rein föderativer Art; denn nur als Staaten- und Völkergemeinschaft mit gemeinsamen Institutionen werde Mitteleuropa in der Zukunft dem Druck der großen Weltreiche in West und Ost gewachsen bleiben. Die Zeit der Kleinstaaterei sei in der Epoche des „modernen Großbetriebes" in Politik und Wirtschaft nun einmal vorüber. Der Nachweis, wie große wirtschaftliche Vorteile die Schaffung eines gemeinsamen „mitteleuropäischen Lebensraumes" bieten würde, machte einen Großteil des Buches aus. Sollte diese Gemeinschaft aber echt und dauerhaft bleiben, so würde sie ein völliges Umdenken aller Beteiligten erfordern: heraus aus der Enge eines trotzigen, überheblichen und seine Lage verkennenden Nationalismus zu liberalem Verständnis auch fremder Wesensart und fremder Interessen, zu gegenseitiger Hilfsbereitschaft und wachsender Sympathie statt gegenseitigem Mißtrauen. N u r so könnte aus der N o t des Krieges eine

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schönere, freiere und reifere Zukunft Europas und Deutschlands hervorgehen. Es ist kein Zweifel, daß gerade diese ethische Wendung, dieser Appell an die großen Gemeinsamkeiten abendländischer Kulturtraditionen mitten im Toben der nationalistischen Leidenschaften des Krieges, das Buch f ü r unzählige Deutsche (darunter auch für den Verfasser) besonders anziehend gemacht hat. Endlich, so schien es, eine Stimme der ruhigen Vernunft und des guten Willens, die uns Deutschen ein „positives" Kriegsziel zeigte: nicht bloße Verteidigung des heimischen Bodens, aber auch nicht Vergewaltigung fremder Volkstümer, sondern eine schöne, verlockende Aufgabe der Neugestaltung deutscher und europäischer Zukunft, die uns große Aufgaben stellte, dafür aber auch bessere Sicherung verhieß, als sie der gerade vom Balkan her ständig gefährdete Zweibund Bismarcks hatte bieten können; und nicht zuletzt: nachträgliches Ausheilen des schmerzlichen Schnittes, den Bismarcks „kleindeutsche" Reichsgründung dem deutschen Leben zugefügt hatte, als er die alte habsburgische Kaisermacht vom deutschen Nationalstaat ausschloß. Wenn das alles gelang: hatten dann nicht auch die furchtbaren, blutigen O p f e r dieses Krieges einen tieferen Sinn gewonnen? Wer das alles miterlebt hat, der empfindet es heute im Rückblick als tiefe Tragik, daß die Mitteleuropa-Bewegung Naumannschen Stils von Anfang an nicht mehr gewesen ist als eine schöne Illusion. Wie es in Wirklichkeit um die „Frontkameradschaft" zwischen den Armeen der beiden Kaiserreiche bestellt war, haben wir schon gesehen; von den Mitlebenden haben es nur die Mitglieder der höchsten Stäbe genau gewußt. Entscheidend ist: für die nichtdeutschen Nationalitäten des Donauraumes k a m der Gedanke einer föderativen, alle Sonderinteressen überwölbenden Gemeinschaft „Mitteleuropas" bereits viel zu spät — wenn er dort überhaupt jemals Aussicht auf Beifall hatte. D a s Anwachsen nationalistischer Strömungen, der innere Zerfall des Habsburgerreiches war schon viel zu weit fortgeschritten, als daß er durch bloße Gegenpropaganda noch hätte aufgehalten werden können. Auch die intensivste Agitation eines N a u m a n n und seiner Anhänger in Österreich und in Ungarn konnte nichts daran ändern, daß er mit seinen Plänen (abgesehen von wenigen Einzelgängern) bei Polen, Tschechen, Ungarn, Bulgaren und vollends Südslawen nur Mißtrauen weckte: überall war man geneigt, dahinter nichts weiter als getarnte Herrschaftsgelüste der Deutschen zu wittern, und die tschechische Emigration, literarisch durch Publizisten wie M a s a r y k und Seton-Watson geführt, tat alles, um N a u m a n n als Imperialisten und das Schlagwort „Mitteleuropa" als neueste Form des deutschen Weltmachtstrebens

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in Verruf zu bringen. Gegen die Pläne eines mitteleuropäischen Wirtschaftsbundes wurden im März und Juli 1916 die bekannten Pariser Wirtschaftskonferenzen von Vertretern der alliierten Regierungen einberufen, die sich auf immer weitere Verschärfung der Blockade und Fortsetzung des Wirtschaftskrieges auch nach Friedensschluß einigten. In Deutschland aber fehlte es, wie zu erwarten, auch nicht an Stimmen radikaler Nationalisten, die Naumanns Idee f ü r eine Verfälschung und Gefährdung der „deutschen Sendung" erklärten. U n d schließlich zeigte sich bei der fortgesetzten und eifrigen Diskussion der Nationalökonomen und Wirtschaftsführer über eine deutschösterreichische Zollannäherung und Wirtschaftsvereinigung, daß einer solchen Zielsetzung unabsehbare praktische Schwierigkeiten und Gegensätze der Wirtschaftsinteressen im Wege standen - Probleme, in deren Beratung die Mitteleuropa-Idee immer mehr zerredet wurde und zerflatterte. Eine ähnliche Erfahrung hatte ja nun auch schon Bethmann Hollweg mit seinem Auftrag an Delbrück gemacht, das Problem einer deutsch-österreichischen und mitteleuropäischen Zollunion in den zuständigen Reichsämtern beraten zu lassen (vgl. oben S. 43). Es ist aber sehr bemerkenswert - und zeigt doch wohl den starken Einfluß der öffentlichen Meinung auf seine Regierung daß er sich durch diese Schwierigkeiten nicht endgültig abschrecken ließ, sondern im Herbst 1915 von neuem darauf zurückkam und sogar Verhandlungen darüber mit der Wiener Regierung begann. Den ersten Anstoß dazu scheint kein anderer als der Generalstabschef Falkenhayn gegeben zu haben: in einer Aussprache mit dem Kanzler am 28. August, deren Inhalt er gleich schriftlich wiederholte. Angesichts der Gefahr eines lang dauernden Erschöpfungskrieges regte er an, ein „langfristiges Schutz- und Trutzbündnis" zwischen dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei abzuschließen, das sich aber auch „wirtschaftliche und kulturelle Ziele" stecken müßte und vielleicht eines Tages durch Anschluß Schwedens, der Schweiz, unter Umständen auch Griechenlands, erweitert werden könnte. Er versprach sich davon eine abschrekkende Wirkung auf England, das dann die H o f f n u n g aufgeben müßte, uns und unsere Bundesgenossen zu erschöpfen; auch die Lösung der schwierigen Frage nach der Zukunft Polens sollte dadurch erleichtert werden. Eine Einmischung in die politische Sphäre, versicherte Falkenhayn, liege ihm fern; aber er nahm seine Pläne doch wichtig genug, um sogleich die Zustimmung des Kaisers dafür einzuholen 12 ). Was ihm letztlich als politische Konzeption vorschwebte, war nicht leicht zu ergründen: Bethmann Hollweg, der sich

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große Mühe gab, sich über eine so wichtige Frage mit dem Generalstabschef zu verständigen, klagte über immer wieder ausweichende und widerspruchsvolle Antworten, sobald er auf Konkretisierung der Vorschläge drängte. Der erste Einwand des Kanzlers war, daß die bestehenden Kriegsbündnisse mit Österreich-Ungarn und der Türkei (das mit Bulgarien wurde eben unterzeichnet) bereits alles an Zusammenfassung der politisch-militärischen und wirtschaftlichen Kräfte böten, was für den Augenblick überhaupt erreichbar wäre. Dieses Bündnis durch Zutritt der von Falkenhayn genannten Neutralen zu erweitern, bestände weder eine praktische Aussicht, noch würde es (abgesehen von Schweden) für uns von Vorteil sein. Aber auch über ein Zukunftsprogramm langfristiger Bündnisverträge äußerte sich der Kanzler (am 5. September) mit einer so tiefen Skepsis, wie man sie nach dem uns bekannten „Septemberprogramm" von 1914 nicht erwarten sollte: bisher hätten uns solche Verträge entweder nur schwere Enttäuschungen gebracht (wie im Fall Italien und Rumänien) oder weit mehr Belastung als Nutzen. Man sieht: die Siegeshoffnung der ersten Kriegswochen war längst geschwunden und hatte einer schweren Ernüchterung Platz gemacht. Der Zweibund mit Österreich-Ungarn wurde zwar nicht ausdrücklich als „Belastung" genannt, war aber doch wohl gemeint, wenn Bethmann an den „cauchemar des coalitions" Bismarcks erinnerte. Falkenhayns Replik, ihm käme es gar nicht auf langfristige Dauerverträge an, sondern nur auf den politischen Eindruck einer großen mitteleuropäischen Staatenvereinigung als „Kriegsmittel", war sicher nicht mehr als eine Verlegenheitsausflucht, da er gegen die staatsmännischen Bedenken des Kanzlers eigentlich nichts vorzubringen wußte. Im Auswärtigen Amt fragte man sich verwundert, welcher politische Berater den General nur auf diese Ideen gebracht habe 13 ).Als ihren Kern ermittelte Bethmann Hollweg schließlich (nach mehreren ergebnislosen Unterredungen) am 15. Oktober einen sehr weitschauenden Zukunftsplan. „Die politische N o t zwingt uns auch für die Zukunft mit Österreich-Ungarn zusammen." Rußland haben wir für immer von unserer Seite verloren und werden England nur dann von einem zweiten Krieg abschrecken können, wenn „dieses sich einem mitteleuropäischen Block gegenübersieht". Dessen Kern müssen die beiden Zentralmächte bilden. „Anzugliedern sind ihnen, wenn möglich, die skandinavischen Reiche, Holland und die Schweiz, die Türkei, Bulgarien und eventuell noch andere Balkanstaaten." Unsere Verbindung mit Österreich-Ungarn muß unlöslich sein, weil ein siegreich aus dem Krieg herausgegangenes, womöglich noch durch Anglie-

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derung Polens gestärktes Donaureich uns in künftigen Kriegen keine H i l f e leisten, ja vielleicht die Waffen gegen uns kehren wird. Es soll also aus beiden Mittlemächten ein „Staatenbund" gebildet werden, in dem Deutschland als Präsidialmacht die Führung hat, Österreich-Ungarn seine Souveränität teilweise aufgeben muß. D a es das nicht freiwillig tun wird, muß es spätestens beim Friedensschluß dazu gezwungen werden. Analogien f ü r einen solchenStaatenbund findet Falkenhayn sowohl im alten wie im gegenwärtigen deutschen Reich und in den Vereinigten Staaten Nordamerikas. Nach einer Aufzeichnung Wilds dachte er an ein Verhältnis der Donaumonarchie zum Reich ähnlich dem Bayerns zu Preußen. Der Kaiser sollte Präsident des Staatenbundes sein mit einer Art von Senat, wohl aus Vertretern der Einzelstaaten an seiner Seite 1 4 ). „ N u r wenn wir Österreich-Ungarn in dieser Weise beherrschen, kann eine Militärkonvention von Bedeutung sein" — zwischen gleichberechtigten Staaten wäre sie wertlos, ja gefährlich; denn wir selbst können von der österreichisch-ungarischen Armee (die Falkenhayn einen „ K a d a v e r " nennt) nichts lernen, wohl aber die Österreicher sehr viel von uns - falls sie überhaupt dazu bereit sind, was bei ihrer Schlamperei nur dann wahrscheinlich ist, wenn wir die Inspektion ausüben und „aufgefundene Mängel zwangsweise abstellen" können. Andernfalls verderben sie nur unsere Armee; oder sie gewinnen wirklich ein schlagfertiges Heer und werden uns u. U. im nächsten Krieg gefährlich. Keinesfalls wollen wir uns an sie binden, wenn wir sie nicht beherrschen können. Welch ein seltsamer Gedankengang! Falkenhayn ist überzeugt, wie d a mals wohl die meisten Generalstabsoffiziere, daß dieser Krieg (an dessen „siegreichen" Ausgang er schon nicht mehr glaubt) nur das Vorspiel zu weiteren darstellen wird. Für diese müssen wir uns eine möglichst günstige Ausgangsposition schaffen: durch einen großen kontinental-europäischen Staatenbund, der uns besser als der Zweibund von 1914 eine breite Ernährungsbasis sichert, aber auch eine klare politische Führerstellung. Erst wenn dieses beides durch politische und wirtschaftliche Verträge gesichert ist, kann von militärischen Abmachungen die Rede sein. Wie aber soll das geschehen? Die Aussprachen mit Bethmann Hollweg Mitte Oktober fanden in der gereizten Atmosphäre statt, die wir aus dem Briefwechsel über Bulgarien-Griechenland schon kennen (Kapitel 3). Aber auch in der Fortsetzung der Korrespondenz über das Mitteleuropa-Thema (am 30. Oktober, am 4. und 7. November) änderte der Generalstabschef nur seine Tonart, nicht seine Haltung. E s wurde vielmehr immer deutlicher: er betrachtete es als Sache der politischen

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Leitung, zunächst den großen Staatenbund zu errichten; erst wenn der geschaffen wäre, könnten die Militärs zum Zuge kommen, dann aber mit einem sehr radikalen P r o g r a m m : Oberbefehl des deutschen Kaisers über beide Heere, Unterstellung der österreichisch-ungarischen Armee unter die deutsche Heeresleitung, auch in den großen Übungen der Friedenszeit, gleichmäßige Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht, gleichmäßige Munitionsausrüstung, Übernahme der deutschen Ausbildungsvorschriften, gemeinsamer Generalstab unter preußischer Führung f ü r die Kriegsvorbereitung, wechselseitige Kommandierung von Offizieren zu gewissen Lehranstalten - also Verpreußung der Armee des Bundesgenossen. D a s war eine totale Umkehrung der Mitteleuropa-Idee ins Militante, um nicht zu sagen „Militaristische". Es entsprach auch ziemlich genau den Ideen Ludendorffs, der eben damals (in einem Brief an den Historiker Delbrück) ein „starkes Mitteleuropa" von Skandinavien bis zur Türkei notwendig erklärte und eine „eiserne H a n d , um Österreich militärisch und wirtschaftlich hochzubringen" 1 5 ). N u r daß er Ludendorffs Annexionspläne, besonders im Osten, nicht teilte. Vielmehr sträubte er sich, dem Kanzler überhaupt bestimmte Angaben darüber zu machen, was etwa in Belgien oder als „strategische Grenzverbesserung" rings um Ostpreußen herum „militärisch notwend i g " sei. E r fürchtete, das könne zu einer „vierten Teilung Polens" führen, wirklich „notwendig" sei nicht allzuviel. Vor allem wären solche Erörterungen jetzt mitten im Kriege ja doch verfrüht. „Der Reichskanzler", erklärte er Wild ärgerlich, „soll mich mit solchem Q u a r k in Frieden lassen." M a n begreift, daß er nach den bösen Erfahrungen, die er von A n f a n g an und immer wieder mit der Armee des Bundesgenossen gemacht hatte, auf diese mit einer Mischung von Erbitterung und hochmütiger Verachtung herabblickte. Aber wie hat Falkenhayn auch nur einen Augenblick meinen können, auf einer solchen moralischen Grundlage ließe sich ein machtvoller „Staatenb u n d " aufbauen? H a t er im Ernst geglaubt, die Österreicher würden sich am Ende eines gemeinsam durchgefochtenen Krieges zur militärischen Unterordnung unter Deutschland bereden oder auch dazu zwingen lassen - und ein auf Unterordnung und Z w a n g beruhendes Bündnis würde irgendwelche Anziehungskraft auf neutrale Staaten ausüben können? Es scheint, daß er seinen großen Plan politisch überhaupt nicht ernsthaft durchdacht, sondern einfach aus einer Mischung von Wunschtraum und Ressentiment hingeworfen hat die Frage nach dem Wie hochmütig den „Politikern" überlassend. So jedenfalls beurteilte sein nächster Mitarbeiter, General Wild von Hohenborn, die

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Sache: Falkenhayns Pläne hätten immer „Schmiß", meinte er, aber es fehle an der sauberen, konkreten Durchführung 1 6 ). Es wirft aber ein bedenkliches Licht auf den politischen Dilettantismus, der in Generalstabskreisen herrschte, wenn man in einem Privatbrief, den Oberst von Seeckt damals einem Freunde schrieb, die „Mitteleuropapläne" Falkenhayns in stark übersteigerter Form wiederholt, aber zugleich zu einem Angriff auf den Reichskanzler verwendet sieht. Dieser sei zu schwerblütig, zu pessimistisch, ohne Glauben an sich selbst und das Reich; er sei kein „moderner Bismarck", wie man ihn jetzt für die Gründung eines deutschen Herrschaftsgebietes „vom Atlantischen Ozean bis Persien" brauchen würde. D a f ü r sei allein ein Führer berufen „mit kühlem Kopf und innerem Feuer, ein Mann von Glauben an sich und sein Volk und Schwert; kann es heute ein anderer als ein Soldat sein? Für mich gibt es nur einen, der Führer zu sein oder ein gleiches Programm vorzuführen imstande wäre, das ist Falkenhayn 1 7 )." Aber der so laut als „Führer" und starker Mann Gepriesene (der den jüngeren Kameraden kurz zuvor in einem langen Gespräch für seine politischen Ideen begeistert hatte) w a r seiner Sache doch nicht so sicher, wie es zunächst schien. Dem Kanzler gegenüber stellte er sich anfangs taub, als dieser ihm das Utopische seiner Vorschläge vorhielt. Später gab er zu, daß sie wohl aussichtslos wären, bezweifelte aber, ob dann eine engere und dauerhafte Verbindung mit Österreich-Ungarn überhaupt einen Zweck hätte. Wenn wir Österreich militärisch und territorial stärkten, würde es in kurzer Zeit zu einem „Kampf um die Hegemonie" mit ihm kommen. Er hielt also eigensinnig fest an seiner Ablehnung jeder Verhandlung über Militärkonventionen. Damit brachte er die Politik Bethmann Hollwegs in erhebliche Verlegenheit. Denn dieser hatte sich inzwischen weit tiefer in Mitteleuropapläne eingelassen, als man nach seiner ablehnenden Haltung vom 5. September hätte erwarten sollen. Der Grund dafür war, daß sich die Mitteleuropafrage inzwischen mit der Frage nach der Zukunft Polens aufs engste vermischt hatte. Diese heikelste aller Ostfragen war eben jetzt in ein Stadium gelangt, in dem ihre Lösung kaum noch hinauszuschieben war: unser ganzes Verhältnis zu dem Bundesgenossen wurde davon überschattet. Anderseits waren neuerdings Stimmen aus Wien nach Berlin gedrungen, die eine glückliche Lösung im größeren Rahmen eines Mitteleuropabundes verhießen. Ehe wir uns ihnen zuwenden, ist aber an dieser Stelle ein kurzer Rückblick auf die Entwicklung der polnischen Frage seit Kriegsbeginn unentbehrlich.

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Schon im August 1914, als noch kaum die ersten Truppenbewegungen begonnen hatten, ereiferte sich die Wiener Diplomatie über die Gefahr, deutsche militärische Stellen könnten ihr selbst mit Proklamationen an die Bevölkerung Polens zuvorkommen 1 8 ). Graf Buriän, damals „Minister a latere", vertrat schon in einer Besprechung am 12. August die Ansicht, „daß wir im Fall eines Sieges über Rußland das Königreich Polen wiederherstellen und es der Monarchie in irgendeiner Weise angliedern sollten". Am selben Tage erklärte es Graf Berchtold in einem langen Erlaß an den Berliner Botschafter (zur Weitergabe an die deutsche Regierung) für untragbar, daß Deutschland, wie er „von beachtenswerter deutscher Seite" erfahren habe, die Errichtung je eines polnischen und eines ukrainischen Pufferstaates beabsichtige. Ein neues selbständiges Polen würde unfehlbar Galizien an sich ziehen, und ÖsterreichUngarn könne das viel schwerer verhindern als etwa Preußen den Abfall seiner Provinz Posen. Für die Donaumonarchie gäbe es nur eine praktikable Lösung: Angliederung Polens an Galizien in geeigneter staatsrechtlicher Form. U m die Stellung der Deutschen in der cisleithanischen Reichshälfte nicht zu sehr zu schwächen, müsse das so vergrößerte Galizien aus dem österreichischen Reichsrat ausscheiden; dadurch würde das deutsche Element in Österreich ebenso das Ubergewicht erhalten wie das magyarische in Ungarn. Für Deutschland aber würde der Vorteil entstehen, daß die österreichische Regierung ein Ubergreifen polnischer Irredenta auf Posen würde abbremsen können, während ein selbständiges Polen daran nicht zu hindern wäre. Ein solcher Staat würde vielmehr zum Sammelpunkt französischer und russischer Intrigen gegen die Mittelmächte werden; die galizischen Polen dagegen wären aus Furcht vor Rußland immer staatstreu gewesen und sogar Anhänger des deutsch-österreichischen Bündnisses, trotz der preußischen Polenpolitik. Utopische Pläne für die Schaffung einer neuen ruthenisch-ukrainischen Provinz Österreichs, gruppiert um Lemberg, und der Entwurf einer Proklamation an die Polen, zu verkünden beim Einzug in Warschau, waren gleich beigefügt; sogar schon ein Organisator des neuen polnisdi-galizischen Reichslandes wurde benannt (Bobrzynski). Man liest das alles nicht ohne Erstaunen. Es zeigt, daß unser Bundesgenosse seine große galizische Offensive nicht nur mit sehr kühnen Erwartungen, sondern sogleich mit sehr handfesten Eroberungsplänen begonnen h a t - dazu freilich gedrängt durch die große politische Unruhe seiner galizischen Untertanen 1 9 ). Was der österreichische Außenminister damals in Berlin vortragen ließ, ist seitdem wenig verändert das Ziel der Wiener Regie-

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rung in Polen geblieben. Der Staatssekretär von Jagow war unvorsichtig genug, dem Botschafter Szögyeny in allgemeinen Wendungen sein Einverständnis mit den österreichischen Ideen auszudrücken, wenn er auch vor Überstürzung warnte (15. August). Schon am nächsten Tage quittierte das Graf Berchtold „mit wärmstem Dank", um es sofort auszunützen: man müsse unverzüglich mit der Organisation der Verwaltung in (dem noch längst nicht eroberten!) Polen beginnen, um dort das Aufkommen einer radikal-sozialistischen Unabhängigkeitsbewegung zu verhindern (gemeint war natürlich die Legionsbildung Pilsudskis). General von Colard werde sich deshalb in Begleitung des früheren galizischen Statthalters Bobrzynski sogleich nach Krakau und von da in das russisch-polnische Kielce begeben; die deutsche Regierung werde gebeten, diesen Herren auch sofort die Verwaltungsorganisation in den von deutschen Truppen zu besetzenden Teilen Polens zu überlassen^'). Sie würden Warschau nach seiner Eroberung zur Verwaltungszentrale machen. „Selbstverständlich könnte dem General Colard, so lange deutsche Truppen im Lande sind, auch ein deutscher Offizier f ü r den Verkehr mit letzteren zugeteilt werden." Das hieß: von vornherein die H a n d auf ein von den Deutschen erst noch zu eroberndes Gebiet legen und wie selbstverständlich ein österreichisches Monopol beanspruchen. Szögyeny wurde beauftragt, die deutsche Zustimmung zu erwirken. Es war selbstverständlich, daß man ihm erwiderte: die deutsche Regierung wünsche gegebenenfalls, schon aus militärischen Gründen, einen eigenen Gouverneur und deutsche Beamte in Warschau einzusetzen; übrigens sei es dringlicher, die Russen erst einmal zu schlagen. Aber sofort kam neue Weisung aus Wien: diese Absicht sei sehr zu bedauern. Der russische Zar habe soeben öffentlich die volle Unabhängigkeit des Königreichs Polen und dessen Vereinigung mit Galizien und den preußisch-polnischen Distrikten versprochen (was in dieser Form keineswegs zutraf) 2 0 ), und so bestehe größte Gefahr, daß russophile Stimmungen in Polen aufkämen. Deshalb müßten „die einflußreichen konservativen Kreise in Polen ehebaldigst Zusicherungen über die Zukunft des Landes erhalten". Diese Kreise stünden, wie man in Wien höre, „einer Angliederung Polens an Österreich-Ungarn derzeit sehr sympathisch gegenüber. Dagegen perhorresziert man allseits eine dauernde deutsche Besetzung und fürchtet eine solche viel mehr als eine Wiederkehr der russischen Herrschaft." Also müßten „die besseren Elemente in Polen" sobald als möglich „auch deutscherseits die Zusicherung erhalten, daß die deutsche Okkupation keine dauernde sein werde" und Polen nach dem Krieg eine „nationale unab-

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hängige Verwaltung unter Angliederung an die Donaumonarchie zu erhalten habe". Darüber sollten die deutschen Truppenkommandeure und Beamten vertraulich orientiert und angewiesen werden, auch die „einflußreichen polnischen Kreise" entsprechend aufzuklären. A m besten würde dann auch gleich ein österreichischer Gouverneur mit Truppenkontingent in das (von den Deutschen zu erobernde) Warschau entsandt 2 1 ). Man sollte glauben, daß auf diese ziemlich naive Zumutung eine entschieden abweisende Antwort aus Berlin erfolgt wäre. D a s Auswärtige Amt lehnte es denn auch in einer förmlichen N o t e ab, die Verwaltung der von deutschen Truppen besetzten Gebiete an österreichische Beamte übergehen zu lassen, so lange dort deutsches Frontgebiet sei, und erreichte damit, daß fortab nur noch von geteilter Verwaltung der verschiedenen Besatzungszonen die Rede war. Als aber der (inzwischen neu ernannte) Botschafter Prinz Hohenlohe dem Unterstaatssekretär Zimmermann vorhielt, die Polen würden sich schwerlich durch die Aussicht, später preußisch zu werden, „zu begeistertem K a m p f gegen Rußland entflammen lassen", widersprach dieser ihm nicht, sondern erklärte sich bereit, dafür einzutreten, daß der polnischen Bevölkerung zugesichert würde, die Besitznahme ihres Landes durch deutsche Truppen sei nur als provisorische Maßregel zu betrachten (23. August). Man sieht: an Eroberung Polens f ü r Deutschland hat damals in der Berliner Regierung kein Mensch gedacht. Eine Zusage, es Österreich zu überlassen, wurde freilich vermieden. Inzwischen hatte aber in Wien G r a f Tisza dafür gesorgt, daß in den schäumenden Wein des G r a f e n Berchtold ein Schuß Wasser gegossen wurde. Auf einer Besprechung mit ihm und dem Grafen Stürgkh am 19. August erklärte er: keinesfalls dürfe durch den Erwerb Polens das System des österreichischungarischen Dualismus und die Parität der beiden Staaten gefährdet werden. Ein solcher Zuwachs würde in jedem Fall die Struktur der Monarchie in nodi gar nicht abzusehendem U m f a n g verändern. Er warne also dringend davor, den Polen jetzt schon irgendwelche Zusagen zu machen, und Ungarn müsse es sich vorbehalten, f ü r einen so starken Zuwachs durch die Angliederung Bosniens, der Herzogowina und eventuell Dalmatiens entschädigt zu werden 22 ). Ein absolutes Veto der Ungarn bedeutete das jedoch nicht, und da man mittlerweile in K r a k a u und Lemberg polnische Nationalkomitees aufgestellt hatte, die eine polnische Legion für den K a m p f gegen Rußland organisieren sollten, beschloß der gemeinsame Ministerrat am 20. Augus auf Vorschlag Bobrzynskis, es sollte nun doch „ehestens" eine Kundgebung an die Polen

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erlassen werden, kurz vor oder nach dem Einzug in Warschau. U n d zwar sollten die Deutschen erklären, daß sie an keine Annexion polnischen Landes dächten, sondern nur als „Befreier" kämen, die Österreicher aber den Polen f ü r den Fall des Sieges ihre Angliederung an die Donaumonarchie in Aussicht stellen. N u r setzte Tisza durch, daß nicht der Kaiser dieses Versprechen proklamieren sollte, sondern (um es weniger verbindlich zu machen) der österreichisch-ungarische Armeeoberkommandant „durch ein nach Warschau zu entsendendes Kavallerie-Detachement". In Berlin wurde man aber nun doch hellhörig und fing an, sich zu widersetzen. Das Auswärtige Amt ließ mitteilen, jene erste Zustimmung Jagows zur „austro-polnischen Lösung" sei nur provisorischer N a t u r gewesen, die endgültige Entscheidung müsse erst noch reichlich überlegt werden. Man behielt sich auch (was Jagow von Anfang an getan hatte) die Wahrung der (sehr bedeutenden) wirtschaftlichen Interessen Deutschlands am polnischen Markt vor und ließ Interesse für die Industrie und die Kohlengruben Polens durchblicken. Zimmermann erklärte es überdies für fraglich, ob die Polen sich durch die Aussicht, Österreicher zu werden 23 ), so sehr begeistern lassen würden, wie man in Wien glaube. Vorläufig würden vage, zu nichts verpflichtende Versprechungen an Polen genügen. Ehe Rußland geschlagen wäre (eben jetzt tobte noch die Schlacht bei Tannenberg!), sollte man sich nicht schriftlich festlegen (28. August). Die deutsche Politik entschied sich also für dilatorische Behandlung des Polenproblems und ließ sich auch durch Vorstellungen der Österreicher, sie brauchten an der linken Flanke ihrer galizischen Offensivschlacht eine „ko-operierende polnische Bevölkerung", nicht beirren. Zugleich wurde angedeutet, daß die öffentliche Meinung Deutschlands eines Tages recht wohl auch deutsche Erwerbungen in Polen fordern könne, was man in Wien nicht ohne Empfindlichkeit aufnahm. D a die dort zunächst erhoffte und von Galizien aus geschürte Volkserhebung in Russisch-Polen ausblieb und die große Schlacht in Galizien bald eine sehr ungünstige Wendung nahm, blieb der österreichischen Politik nichts übrig als sich zu fügen; auch Hohenlohe f a n d es besser, erst einmal abzuwarten, ob die Österreicher oder die Deutschen über Rußland siegen würden. Immerhin glaubte man in Wien eines erreicht zu haben: die Abwendung einer (von Österreich befürchteten deutschen Proklamation eines unabhängigen Polen als selbständiger „Pufferstaat" zwischen Deutschland und Rußland 2 4 ). Für uns ist dieser ganze Schriftwechsel vor allem deshalb von Interesse,

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weil er deutlich zeigt, wie das Polenproblem vom ersten Tag des Krieges an einen gefährlichen Keil in das Verhältnis zwischen den beiden Bundesgenossen getrieben hat. Hier stießen ihre Machtinteressen ganz unzweideutig aufeinander. Das blieb (trotz mancher Zwischenfälle 25 )) so lange ohne große praktische Bedeutung, als Polen noch nicht erobert war. Es wurde aber ein sehr ernstes Problem daraus in dem Moment, als die große Sommeroffensive 1915 gegen Warschau vordrang. Beide Generalstäbe, der österreichische ebenso wie der deutsche, drängten jetzt auf Klärung der Zukunftspläne für Polen, um sich danach bei der Besatzung des Landes richten zu können 26 ). Bethmann Hollwegs Antwort vom 4. August kennen wir schon 27 ). Er war damals noch unschlüssig, welche der möglichen Lösungen des polnischen Problems „am wenigsten ungünstig" für uns sein würde, jedoch überzeugt, daß es „eine günstige und g e f a h r l o s e . . . für uns überhaupt nicht gibt". Sollte Rußland zum Sonderfrieden bereit sein, so könnte es Polen (bis auf gewisse Grenzkorrektionen) zurückerhalten. Wenn nicht, so müsse ein autonomes Polen geschaffen werden, entweder in Anlehnung an uns oder an Österreich. Beides bereite Schwierigkeiten und nötige zu Teilungsmaßnahmen, die doch nicht auf eine „vierte Teilung Polens" hinauslaufen dürften. Diese Äußerung zeigt die ganze Verlegenheit der deutschen Politik in der Polenfrage. D a ß man sie „dilatorisch" behandelte, so lange die Hoffnung auf einen russischen Sonderfrieden noch nicht ganz erloschen war, ist selbstverständlich und leuchtete auch Falkenhayn ein 28 ). Aber auch nach dem Scheitern dieser Hoffnung, nach dem 11. August, blieb jede der denkbaren Lösungen problematisch. Spätere Kritik hat immer wieder gefragt, warum man das heillose polnische Problem überhaupt angerührt und nicht einfach alles beim alten belassen habe. D a ß dies als „das geringste Übel" gelten konnte, hat schon Jagow in seiner grundlegenden Denkschrift vom 2. September 1915 anerkannt 2 9 ). Er selbst stellte dem die Sorge entgegen, das „Riesenreich Rußland mit seinem ungezählten Menschenmaterial, seiner Möglichkeit zu wirtschaftlicher Erstarkung und seiner expansiven Tendenz" laste wie ein Alp auf dem westlichen Europa und müßte unbedingt weiter nach Osten zurückgedrängt werden. Denn mit der altherkömmlichen, auf dynastischen Beziehungen beruhenden preußisch-russischen Freundschaft würde es nach dem Kriege ein f ü r allemal aus sein. Der polnische Keil zwischen Ostpreußen und Schlesien würde f ü r uns lebensgefährlich, sobald erst einmal die russische Aufrüstung in großem Stil (von jeher der Alptraum des Generalstabs!) durch-

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geführt wäre. Alles deute außerdem darauf hin, daß die Autokratie des Zaren wohl bald in einer Revolution enden würde. Diese aber würde nicht umhin können, die jetzt schon versprochene Autonomie der Polen zu verwirklichen, und ein uns feindliches, von R u ß l a n d aufgebautes Polen müsse zum Z e n t r u m antideutscher und antiösterreichischer Irredenta werden. D a s waren immerhin sehr ernst zu nehmende Erwägungen 3 0 ). D a wir R u ß lands Großmachtstellung niemals wirklich „vernichten" konnten, auf seine künftige Freundschaft aber nicht mehr zu zählen wagten 3 1 ) (wie denn alle deutsche Kriegspolitik damals mit dauernder Bedrohung unserer Mittellage rechnete), lag der Gedanke nahe, durch Errichtung eines polnischen „Pufferstaates" die russische G e f a h r wenigstens zu mildern, zugleich aber die militärisch exponierte Lage der preußischen Ostprovinzen irgendwie zu verbessern, die schon in den Aufmarschplänen des älteren Moltke eine so große Rolle gespielt und die Verteidigung unserer O s t f r o n t von jeher so ungeheuer erschwert hatte. Mit illusionären Hoffnungen, durch eine „Befreiertat" in Polen vor der Welt den ungünstigen Eindruck unseres Einfalls in Belgien verwischen zu können (Hoffnungen, die m a n Bethmann Hollweg bei seinen Gegnern vorwarf 3 2 )), hat die Argumentation des Staatssekretärs gar nichts zu t u n ; er hat sie vielmehr ausdrücklich als töricht abgelehnt. Zu den politischen Erwägungen traten bald auch militärische. Im Generalstab hatte man schon unter Moltke und Waldersee f ü r den Fall des Zweifrontenkrieges den Gedanken einer Insurrektion der polnischen N a t i o n gegen Rußland, ja die Errichtung eines selbständigen polnischen Königreichs in Personalunion mit der preußischen Krone, sehr ernsthaft erwogen, und selbst Bismarck hatte sich dem Gedanken nicht verschlossen, im Kriegsfall Polen in der einen oder anderen Form wiederherzustellen 33 ). Das militärische Polenmanifest des August 1914 (siehe oben, K a p . 1) war offenbar ein Nachklang dieser Traditionen. Auch Falkenhayn hatte zunächst d a r a n festgehalten und eben jetzt den Wunsch geäußert, man möge auf eine „offene Parteinahme der M a j o r i t ä t der polnischen Bevölkerung f ü r uns" hinwirken (nämlich durch Anschluß Polens an den von ihm geplanten Mitteleuropabund), denn eine größere Zahl polnischer Rekruten, den Winter über tüchtig gedrillt, könnte im F r ü h j a h r 1916 eine den Russen gleichwertige Verstärkung unserer W e h r macht bilden 34 ). Wir werden später sehen, daß dieses militärische Argument im nächsten J a h r von Ludendorff sehr energisch wieder aufgegriffen worden ist und den Erlaß einer „Proklamation" an die Polen hat beschleunigen helfen. Bethmann

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Hollweg lehnte es im September 1915 noch als völlig illusionär ab 35 ). Aber sehr stark wirkte auf seine Entschlüsse das Drängen des Bundesgenossen, der am liebsten jetzt, gleich nach der Besetzung Warschaus, seine im Sommer 1914 geäußerten Wünsche verwirklicht gesehen hätte. Um das zu erreichen, reiste Baron Burian eigens nach Berlin und trug sie Bethmann Hollweg am 13. August noch einmal ausführlich vor - wobei er sich freilich (um noch mehr fordern zu können) so stellte, als betrachte er die Übernahme Polens durch Österreich als eine schwere, aber nun einmal durch die Ereignisse unvermeidlich gewordene Last. Schon vorher hatte er den sofortigen Erlaß einer Proklamation an die Polen gefordert, die aber der Kanzler nur in ganz unverbindlicher Form zugestand. Es blieb auch dabei, daß in Warschau eine deutsche, keine österreichische Verwaltung eingerichtet wurde; aber die Österreicher erreichten doch eine für sich recht vorteilhafte Teilung der Gesamtverwaltung Polens und ließen sich in Warschau sowohl diplomatisch wie militärisch sehr wirksam vertreten 36 ). Zur Hauptsache, der Frage nach der Zukunft Polens, hat sich Bethmann nach seiner eigenen Aufzeichnung nur kühl zurückhaltend geäußert und die verschiedensten Bedenken gegen eine „austro-polnische" Lösung vorgebracht: der Eintritt Polens in den österreichischen Reichsrat werde die Deutschösterreicher „zur Ohnmacht verdammen", was für Deutschland ganz untragbar sei; Deutschland könne unmöglich seine starken wirtschaftlichen Interessen in dem von ihm eroberten Polen preisgeben; wir würden keine Überwanderung von Polen undOstjuden nach Deutschland vertragen können; das Gouvernement Suwalki würde (wie es Ludendorff gefordert hatte) von Polen abzutrennen sein, ebenso müßte eine Reihe strategischer Grenzberichtigungen gefordert werden, wahrscheinlich auch das Eigentum an Krön- und Dotationsgütern im Polnischen, um dort Polen aus dem an uns fallenden Grenzstreifen ansiedeln zu können 37 ). Aber der Darlegung Buriäns, daß eine länger dauernde, mit betontem Wohlwollen geführte Verwaltung Polens unmöglich mit einfacher Rückgabe an Rußland enden könne, wußte er offenbar nichts entgegenzusetzen38), blieb auch dabei, sowohl ein selbständiges Königreich wie dessen Angliederung an Deutschland abzulehnen - was Burian ohne weiteres als Zustimmung zur Angliederung Polens an Österreich auslegte. Dabei drängte er wiederholt darauf, Deutschland möge doch Litauen und Kurland westlich einer von Riga nach Süden laufenden Linie an sich nehmen, sich also hier für die ihm entgehende polnische Beute schadlos halten - ein Vorschlag, den die Wiener Diplomatie ähnlich schon 1914 gemacht hatte. Bethmanns Antwort ist sehr bemerkenswert: er hielt,

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wie in seinem uns schon bekannten Schreiben an Falkenhayn vom 14. Juni (siehe oben, S. 89), daran fest, wir dürften „Rußlands Stellung in der Ostsee nicht bis zu unerträglicher Beklommenheit einschnüren, dies wäre die Saat künftiger Kriege; Riga scheine ihm ein zweifelhafter Gewinn". Wenn er zugab, daß Deutschland auf gewisse Erwerbungen auch in Kurland und Litauen nicht werde verzichten können, um seine Grenze militärisch zu verbessern, so war das nichts Neues, sondern nur eine genauere Lokalisierung der gewünschten Grenzkorrektur. Wie weit sie reichen müßte, wollte er von den Militärs erfahren, erklärte aber bald darauf (am 11. September), sie sollte auf das strategisch unbedingt notwendige Maß beschränkt werden. Denn „jeder nennenswerte Zuwachs an polnischer und jüdischer Bevölkerung bedeutet für uns einen nationalen Schaden"; ihn durch Aussiedlung polnischer Elemente zu vermindern, würde ja nur „in bescheidenen Grenzen" möglich sein39). (Er dachte also nicht an Aussiedlung der ganzen Bevölkerung, sondern nur an beschränkte Maßnahmen des Umsiedeins, die Platz schaffen sollten für deutsche, aus Rußland verjagte Bauern.) Um die Verhandlung fortzusetzen, bat er Burián um eine schriftliche Darlegung, wie man sich in Wien die Eingliederung Polens in den Staatsverband der Donaumonarchie dächte, und beauftragte offenbar Jagow mit der (von uns schon erwähnten) Denkschrift über die Polenfrage (vom 2. September). Diese fiel nicht in allen Teilen im Sinn des Kanzlers aus, da sie in ihrem Schlußabschnitt die Gründung eines autonomen baltischen Herzogtums unter einem deutschen Prinzen empfahl, was damals unmöglich der Meinung Bethmann Hollwegs entsprochen haben kann 40 ). Sicherlich stimmte er aber den Argumenten zu, die Jagow gegen ein an Deutschland angelehntes Polen vorbrachte: es würde eine kaum zu unterdrückende Irredenta entfalten, besonders an der Weichsel, vor allem aber die preußischen Ostprovinzen durch massenhaft eindringende polnische und jüdische Elemente unterwandern; die Österreicher könnten das leichter als wir verhindern, wenn man das vorher im Vertrag mit ihnen festlegte. Das entscheidende Hindernis war damit freilich nur angedeutet, nicht ausgesprochen: eine Anlehnung Polens an Deutschland konnte nur dann von Dauer sein, wenn es gelang, deutschen bzw. preußischen und polnischen Nationalismus miteinander zu versöhnen. Das aber war nach dem verbitterten Nationalitätenkampf der letzten Jahrzehnte, der fortdauernd antipolnischen Haltung des preußischne Staatsministeriums und seiner Verwaltungsorgane und angesichts der geographischen Grenzlage beider Volkstümer ganz unwahrscheinlich.

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Da nun weder ein ganz selbständiges Polen im deutschen Interesse lag, noch eine „vierte polnische Teilung" als möglich und wünschenswert erschien, war auch Bethmann Hollweg der Meinung, die austro-polnische Lösung sei schließlich noch „am wenigsten ungünstig" für uns, falls sie mit allen Vorbehalten deutscher Interessen erfolgte. Vielleicht teilte er auch Jagows Meinung, daß es auf die Dauer wohl kaum möglich sein würde, den Österreichern „diesen Siegespreis vorzuenthalten". Aber es war ihm sehr wenig wohl dabei — und eben dies war nun der Grund, warum er am 11. September plötzlich doch auf Falkenhayns Mitteleuropapläne einging, die er wenige Tage zuvor von sich gewiesen hatte. Sie sollten (allerdings in stark veränderter Form) das heikle Polenproblem leichter lösbar machen. Offenbar war ein österreichisches Polen überhaupt nur dann für Deutschland erträglich, wenn das Bündnis beider mitteleuropäischer Mächte für alle Zukunft gesichert war. Andernfalls bedeutete die vollständige „Umklammerung" der deutschen Ostgrenze durch österreichisch-polnisches Gebiet für uns unter Umständen eine ernste militärische Gefahr; wirtschaftlich schnitt sie uns von unserem ganzen Osthandel ab. Mitten in solchen Erwägungen erreichte aber nun den Kanzler eine große, etwa 100 Druckseiten starke „Denkschrift" aus Deutsch-Österreich, die der Wiener bekannte Historiker und Publizist Heinrich Friedjung zusammen mit einigen Gesinnungsgenossen verf a ß t und an führende politische Persönlichkeiten versandt hatte. Sie hat Bethmann so starken Eindruck gemacht, daß er sie auch dem Kaiser vorlegen ließ und den Verfasser später zu einer Aussprache empfing 41 ). Weshalb hat er sie so wichtig genommen, obwohl der Kreis Friedjungs, lauter sehr angesehene Wiener Professoren und Schriftsteller, politisch so gut wie ohne Einfluß war und der Mitteleuropagedanke, den sie vertraten, von beiden Ministerpräsidenten der Doppelmonarchie, den Grafen Stürgkh und Tisza, in eifersüchtiger Wahrung ihrer politischen Selbständigkeit entschieden abgelehnt wurde? Offenbar war es vor allem der Hinweis der Denkschrift auf die Möglichkeit, diesen Moment, in dem die Wiener Politik so deutlich ihre polnischen Annexionswünsche erkennen ließ, zu benützen, um den Habsburger Staat fester an Deutschland zu binden: durch eine Militärkonvention zur Verbesserung des österreichischen Heerwesens und durch eine schrittweise, nicht schlagartige Annäherung der beiden Zollsysteme. Die Tatsache, daß Friedjung eine sehr weitgehende Verschmelzung des deutschen und österreichischen Heerwesens nach dem Kriege empfahl — aber natürlich im Wege des Vertrags, nämlich eines Schutz- und Trutzvertrags mit gegenseitiger Ge-

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bietsgarantie, nicht durch Zwang, wie es sich Falkenhayn vorstellte —, wird dem Kanzler hochwillkommen gewesen sein. Konnte er sich doch darauf berufen, wenn er demnächst mit Burian über die Zukunft Polens weiter zu verhandeln hatte. Übrigens hielten auch Jagow und vor allem der Wiener Botschafter Tschirschky (letzterer offenbar in Fühlung mit der Gruppe Friedjungs) den Moment für günstig, um die Polenfrage zu einer dauerhaften Verfestigung des Bündnisses mit dem Donaustaat zu benützen 42 ). In der Erwartung, bei der Forderung eines Militärbündnisses auch von Falkenhayn unterstützt zu werden, schickte Bethmann Hollweg diesem am 11. September die Polendenkschrift des Auswärtigen Amts vom 2. September zu, verwies auf Friedjungs Memorandum und bat ihn um Vorschläge, wie sich „unsere speziell wegen Polen aufzustellenden militärischen Forderungen (eines Grenzstreifens) zweckmäßig mit der allgemein straffer zu gestaltenden militärischen Verbindung mit Österreich-Ungarn kombinieren" ließen. Es muß ihn aufs stärkste überrascht haben, daß er mit diesem Wunsch beim Generalstabschef auf die (uns schon bekannte) hartnäckige Opposition stieß und daß dieser von militärischen Abmachungen erst dann etwas wissen wollte, wenn zuvor eine politische und wirtschaftliche Vereinigung Mitteleuropas geschaffen wäre - obwohl der Kanzler ihm ausführlich auseinandersetzte, welche rein sachlichen Schwierigkeiten einer deutsch-österreichischen Zollunion im Wege stünden 43 ). Besseres Verständnis fand Bethmann beim Kriegsminister Wild von Hohenborn. Dieser hielt auch seinerseits die Angliederung Polens an Österreich für die „nach Lage der Dinge wenigst ungünstige Lösung" und trat für die von Bethmann gewünschte Militärkonvention ein. Er forderte aber (ganz im Sinn von Oberost) sehr umfangreiche Annexionen zur Erweiterung der deutschen Ostgrenze (Kowno, Grodno, Ostrolenko, Plozk, Warthelinie), dazu „als Kompensation für den österreichischen Gebietszuwachs und aus annexionistischen Motiven Kurland und Litauen" 4 4 ) — also wesentlich mehr, als dem Kanzler lieb war. Dieser hatte also keinen leichten Stand, als es galt, die Verhandlungen mit Burian über die Polenfrage wieder aufzunehmen, zumal Falkenhayn ihm erklärte, er seinerseits befürchte von der Überlassung ganz Kongreß-Polens an Österreich eine starke „Machtverschiebung", die er nur ungern hinnehmen wollte 45 ). In Österreich gab es aber gleichfalls große, ja noch größere Schwierigkeiten, als der gemeinsame Ministerrat beider Reichshälften am 6. Oktober zusammentrat, um sich darüber klar zu werden, wie gegebenenfalls das befreite

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Polen in die Monarchie enigegliedert werden könnte 48 ). Die Debatte ergab sehr bald, daß diese Aufgabe unlösbar war, ohne das Übergewicht der Deutschen in der österreichischen Reidishälfte praktisch zu vernichten, ja den ganzen, mit inneren Spannungen ohnedies überlasteten Bau der Doppelmonarchie auseinanderzusprengen. Eine polnische Bevölkerung von 18 oder gar 20 Millionen (einschließlich Westgaliziens) ließ sich nicht im Status einer bloßen Außen- oder Nebenprovinz regieren, wie etwa die Kroaten in einem Vasallenstaat Ungarns. Sie würden mit Sicherheit vollen, gleichberechtigten Anteil am Wiener Zentralparlament und der Zentralregierung fordern und durchsetzen. Darüber halfen auch alle verfassungstechnischen Künsteleien nicht hinweg, die Graf Stürgkh auf Burians Wunsch in einem Memorandum entwickelt hatte. Buriän empfand selbst, daß die Vorschläge Stürgkhs dem deutschen Reichskanzler als illusorisch erscheinen würden, und forderte gewisse Abänderungen »ad usum Delphini«, also bloß zum Vorweisen in Berlin, ohne den Charakter des Endgültigen. (Über die besonders heikle Wehrfrage sollte lieber gar nichts gesagt werden.) Mit seinem Optimismus, irgendwie würden sich schließlich schon Formen der Eingliederung finden lassen, die sowohl die Deutsch-Österreicher wie die Polen zufriedenstellen könnten, blieb er völlig isoliert. Graf Stürgkh selbst äußerte größte Besorgnisse und berichtete, d a ß sie in Deutsch-Österreich immer stärker würden. Minister Koerber f a n d den Dualismus in jedem Fall gefährdet. Graf Tisza wollte von bindenden Zusagen an die Polen gar nichts hören, vollends nichts von Trialismus, und meldete sehr große ungarische „Kompensationsforderungen "an. Der Kriegsminister Krobatin lehnte die Angliederung Polens rundweg ab und erklärte die ganze Debatte für zwecklos, da Polen gar nicht zu haben sein würde. So mußte Buriän schließlich ohne klare Instruktion und Unterstützung durch den Ministerrat in die Verhandlung mit den Deutschen gehen. Die entscheidende Aussprache mit dem Reichskanzler fand am 10. und 11. November in Berlin statt. Das sehr ausführliche österreichische Protokoll 47 ) zeigt, daß die Gegensätze beider Staatsmänner im Grunde nicht zu überbrücken waren. Bethmann warb mit Wärme für ein engeres, vertieftes und für lange Zeit festgelegtes Bündnis der beiden Mittelmächte, mit einheitlicher, gleichmäßiger Organisierung der beiderseitigen Heeresmacht und gegenseitiger Vorzugszollbehandlung, mit dem Ziel fortgesetzter Herabminderung der Zollschranken. Burian erklärte zwar, dem Gedanken eines vertieften Bündnisses grundsätzlich zuzustimmen, vermied aber jede positive Festlegung, besonders auf militärischem Gebiet: hier müsse „volle Selbstän-

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digkeit der Entschlüsse und Einrichtungen" Österreichs erhalten bleiben und Rücksicht auf seine Finanzschwäche genommen werden. Auch in der Frage des Zollbündnisses äußerte er viele Bedenken und wollte zunächst die bevorstehende Erneuerung des österreichisch-ungarischen Ausgleiches abwarten. Ihm kam es offenbar vor allem darauf an, vom Kanzler die Zusage eines Verzichts auf weitgestedkte deutsche Kriegsziele im Westen und die Überlassung Russisch-Polens zu erreichen. Er f a n d (natürlich ohne es seinem Gesprächspartner zu sagen), daß Bethmann in Belgien ganz chimärische Pläne, eine wahre „Quadratur des Zirkels" verfolge, und erklärte sein entschiedenes „Befremden", als dieser ihm eröffnete, die öffentliche Meinung Deutschlands würde es nicht ertragen, daß wir nach soviel Blutopfern ohne jeden nennenswerten Territorialgewinn aus dem Kriege herausgehen sollten, während Österreich ganz Polen einheimse, nicht ohne „unliebsame Nebenwirkungen für Deutschland". Wie schon im August, suchte er den deutschen Appetit auf die Ostseeländer abzulenken - abermals ohne Erfolg 48 ). Mit einer gewissen Empfindlichkeit nahm er die Kritik des Kanzlers an der Denkschrift Stürgkhs (über die Eingliederung Polens in Österreich) und seine Sorge vor einem gewaltigen Ubergewicht der Slawen in der Donaumonarchie auf, erklärte diese f ü r völlig unbegründet und behauptete sogar (offensichtlich wider besseres Wissen), „die Deutsch-Österreicher hegten diesbezüglich keine Besorgnisse". Mit anderen Worten: die Aussprache führte - trotz formeller Versicherung gleichen Wollens - über die des 13. August keinen Schritt hinaus 49 ). N u r daß dem österreichischen Minister eine schriftliche Fixierung des deutschen Bündnisplans in Aussicht gestellt wurde, die bereits zwei Tage später nach Wien abging. Sie stellt das eindeutigste Zeugnis „mitteleuropäischen" Bündniswillens dar, das in den amtlichen Dokumenten der Kriegszeit überhaupt zu finden ist. Der Zweibund von 1879 sollte zu einem Dauerbündnis auf dreißig Jahre mit gegenseitiger Garantie des Besitzstandes erweitert werden, also nicht bloß ein Defensivbündnis gegen Rußland bleiben. Dazu sollten „langfristige Verträge politisch-wirtschaftlicher und militärischer N a t u r " geschlossen werden. Das klang sehr zukunftsfreudig. Aber wer das Dokument genauer studiert, spürt bald heraus, daß es mehr mit Vorsicht als mit Zuversicht formuliert worden ist. Das heikle Problem der militärischen Abmachungen wird gewissermaßen ausgeklammert: es soll „der Besprechung der beiderseitigen Armee-Instanzen vorbehalten" bleiben, und wir wissen schon, daß der deutsche Generalstabschef zu keiner solchen Verhandlung zu bewegen war. So beschränkte sich das konkrete Verhandlungsprogramm auf Vorschläge für ein Zollbündnis, betonte

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aber auch da die Sdiwierigkeit, ein System von deutsch-österreichischen Präferenz-Zöllen mit den bestehenden europäischen Handelsverträgen beider Länder zu vereinigen, soweit diese die Meistbegünstigungsklausel enthalten; d.h. Deutschland w a r nicht bereit, seiner Wirtschaft um des (immerhin beschränkten) österreichisch-ungarischen Marktes willen den Zugang zu anderen Märkten zu erschweren. Es hatte überhaupt nur dann Interesse an einem Wirtschaftsabkommen, wenn dieses den Handelsverkehr mit dem Donaustaat erleichterte durch Herabsetzung der österreichischen Zölle. Darin, heißt es ausdrücklich, „müßte die Kompensation für unseren etwaigen Verzicht auf Russisch-Polen mit in erster Linie gefunden werden." D a s ist die einzige Stelle, an der von der Zukunft Polens in dem Schriftstück überhaupt die Rede ist. U m so nachdrücklicher wird dargelegt, daß Deutschland das Bündnis nur dann abschließen kann, wenn die Gefahr einer „fortschreitenden Slawisierung Österreichs verhindert und dem germanischen Element die ihm im Interesse Österreichs als germanischer Ostmark zukommende führende Stellung wieder zugewiesen wird." Eine sehr wohl begründete Forderung! Denn welches Interesse hätte das Reich daran haben sollen, sich noch länger und noch enger als bisher an das Schicksal der Donaumonarchie zu binden, wenn diese durch Zutritt Polens sich zu einem wesentlich nicht-deutschen, wesentlich slawisch-magyarischen Staatswesen entwikkelte 5 0 )? Aber es w a r von vornherein klar, daß man in Wien sich auf solche Verpflichtungen nicht einlassen konnte. Die habsburgische Dynastie und ihre übernationale Bürokratie hätte jeden Versuch, ihren Staat bewußt als „germanische O s t m a r k " zu organisieren, mit einem Aufruhr ihrer slawischen Bevölkerung, schließlich mit dem Zerfall der Monarchie bezahlen müssen. Die Zeit der erklärten Vorherrschaft des deutschen Elements war auch ohne den Zutritt Polens vorbei und konnte auch durch das Kriegsbündnis mit Deutschland nicht wiederhergestellt werden. Die österreichische Wirtschaft aber, noch viel zu schwach und rückständig, um der freien Konkurrenz der deutschen Industrie gewachsen zu sein, ohnedies durch starke Interessengegensätze zwischen beiden Reichshälften gespalten, glaubte auf Schutzzölle gegenüber Deutschland noch längst nicht verzichten zu können, so daß auch das „Zollbündnis" von vornherein keine ernsthafte Aussicht auf Verwirklichung hatte. Der weitere Verlauf der Verhandlungen, den wir hier im einzelnen nicht zu verfolgen brauchen, hat das rasch bestätigt. In vertraulichen Sitzungen des Bundesrats, in denen der Kanzler seinen Mitteleuropaplan ausführlich entwickelte, äußerte er sich zwar recht zuversichtlich über die Aussichten sei-

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nes Projektes 51 ). Aber aus der offiziellen Antwort der österreichischen Regierung, die am 24. November auf das deutsche Programm vom 13. einging, war nicht viel mehr zu entnehmen als die grundsätzliche Bereitschaft, in Verhandlungen der Wirtschaftsexperten über ein Zollbündnis einzutreten - aber auch dies nicht ohne Anmeldung von mancherlei Vorbehalten; auch müsse erst ein „prinzipielles Einvernehmen" beider Reichshälften hergestellt sein. Wirtschaftliche „Kompensationen" für den deutschen Verzicht auf RussischPolen wurden ausdrücklich abgelehnt; alle Kriegsgewinne müßten „nach einem billigen Verteilungsschlüssel" zwischen den Verbündeten aufgeteilt werden. Den Schluß bildete eine ebenso ausführliche wie gereizte Abweisung der deutschen Bemühungen, der Monarchie ihren angeblichen Charakter als „germanische Ostmark" zu sichern: sie wurden f ü r überflüssig erklärt 52 ). Praktisch kamen auch die Verhandlungen über Zolltarife noch lange nicht zustande. Zunächst sollten die österreichische und die ungarische Regierung über die Erneuerung ihres „Ausgleichs" beraten — eine Verhandlung, die Januar 1916 begann und sich bis Ende Februar 1917 hinzog; darin war viel mehr von Erhöhung als von Ermäßigung der Zollsätze gegen deutsche Waren die Rede, da beide Regierungen die Überlegenheit der deutschen Industrie fürchteten. Erst Ende April 1916 setzte endlich das deutsche Auswärtige A m t den Beginn von wenigstens provisorischen Beratungen deutscher und österreichischer Ministerialreferenten durch; aber sie verliefen mehr oder weniger im Sande; über die Erörterung von Detailfragen kam man nicht hinaus 53 ). Schon ehe diese Verhandlungen begannen, war aber der Mitteleuropagedanke schon auf der politischen Ebene erstickt. Wir kennen das hemmungslose Drängen der österreichischen Heeresleitung und Burians auf große Annexionen in Serbien, Montenegro und Albanien nach dem erfolgreichen Ende des serbischen Feldzuges, d.h. seit der Jahreswende 1915/16. Wenn der Krieg siegreich ausging und die Wiener Politik diese Eroberungspläne (denen Berlin nicht wirksam in den Weg treten konnte) verwirklichte, gleichzeitig aber Russisch-Polen mit Galizien vereinigte: was wurde dann vollends aus unserem Bundesgenossen? Was war dann von den vielen Versicherungen Burians, des Ungarn, zu halten, die politische Rolle des deutschen Elements in der Habsburger Monarchie sei in keiner Weise bedroht, besondere Maßnahmen zu ihrer Sicherung wären überflüssig? U n d würde die deutsche öffentliche Meinung es ertragen, daß der Krieg mit einer so ungeheuren und so ungerecht einseitigen Ausdehnung des österreichischungarischen Staatsgebietes ausgehen sollte?

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Es war natürlich, daß solche Gedanken zuerst bei den Soldaten auftauchten. Ludendorff hatte schon im Oktober (in einem Brief an Zimmermann) gefordert, Polen nicht an Österreich fallen zu lassen, sondern „als mehr oder weniger selbständiges Staatsgebilde unter deutscher Oberhoheit" zu organisieren54). In seinem schon früher zitierten Brief an Hans Delbrück wünschte er ein „Teilen und Herrschen, daher Zartum Polen ohne Suwalki ein autonomer Staat, die anderen Teile, und zwar möglichst viele, an Preußen. Hier gewinnen wir Zuchtstätten für Menschen, die für weitere Kämpfe nach Osten nötig sind. Diese werden kommen, unausbleiblich55)". Oberst Seeckt, dessen Neigung zu politischen Phantasien wir schon kennen, erblickte das Heil in einer schlichten Annexion wenigstens des größten Teiles von Polen. Es sollte wie bei der zweiten bzw. dritten Teilung Polens 1793/95 eine preußische Provinz „Südpreußen" daraus gemacht werden; diese könne „eine gewisse provinzielle Selbständigkeit und Selbstverwaltung" genießen, müsse aber gleichwohl fest mit dem preußischen Staatsgedanken erfüllt werden. In österreichischer Hand würde etwas derartiges nie gelingen, „also Polen nie ein zuverlässiger Damm gegen Rußland" werden, wie die Erfahrungen mit Galizien zeigten56). Von solchen annexionistisdien Ideen findet sich bei Falkenhayn nichts; aber seine Erfahrungen im serbischen Feldzug und danach ließen sein Vertrauen auf die Zuverlässigkeit des österreichischen Bundesgenossen auf den Nullpunkt sinken, und so meldete er am 23. Januar dem Kanzler, er sei nunmehr zur Überzeugung gelangt, daß die Überlassung Polens an ÖsterreichUngarn „vom militärischen Standpunkt" ein zu großes Wagnis wäre. Auch eine Militärkonvention könne die darin liegende Gefahr nicht beseitigen. Er halte jetzt „die Angliederung Polens an das deutsche Reich, aber ohne Eintritt in den Reichsverband", für die relativ beste der möglichen Lösungen des Problems 57 ). Damit stieß er im Auswärtigen Amt auf volles Verständnis. Ein vertrauliches Schreiben Jagows an den Botschafter Tschirschky vom 16. Februar 58 ) setzte genau die oben von uns erörterten Bedenken gegen die austro-polnische Lösung auseinander und erklärte, die „Gründung eines polnischen Staates unter festem Anschluß an Deutschland" würde schließlich doch die erträglichste Lösung sein - trotz aller damit verbundenen Gefahren und Schwierigkeiten; die polnische und polnisch-jüdische Bevölkerung dürfte aber nicht das deutsche Staatsbürgerrecht (und damit das Recht zur Einwanderung) erhalten.

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Mit den Österreichern sollte darüber noch nicht gesprochen werden. Doch spürte Burian die Veränderung der deutschen Haltung sehr bald 5 9 ) und stellte, seinerseits von General Conrad gedrängt 60 ), dem Reichskanzler Ende Februar in einem langen „Privatschreiben" vor, die Polenfrage müsse nun schleunigst geklärt werden 61 ). Als Druckmittel verwendete er dabei den Hinweis auf die zunehmende politische Aktivität der polnischen Bevölkerung; auf die Dauer sei es den Verwaltungsorganen der beiden Besatzungszonen nicht möglich, die ihnen vorgeschriebene strenge Neutralität in der Frage nach der Zukunft Polens zu bewahren — ein Hinweis, der in Berlin um so stärkeren Eindruck gemacht haben wird, als dort längst die Klagen des deutschen Generalgouverneurs, General von Beseler, sich häuften über agitatorische Bemühungen österreichischer Publizisten und Militärorgane zugunsten der austro-polnischen Lösung 62 ). Bethmann Hollweg war eben damals tief in eine politische Krise aus Anlaß des U-Boot-Krieges verwickelt und abgeneigt, mitten im Toben der Schlacht von Verdun die rein „akademische" Verhandlung über Polen wieder aufzunehmen. Er schob ihren Beginn bis April hinaus, hatte aber ebenso wie Jagow bereits Ende Februar die „austro-polnische Lösung" aufgegeben 63 ) - für ihn eine unvermeidliche Konsequenz aus dem Scheitern seines Mitteleuropa-Plans. Erst nach seiner großen Reichstagsrede vom 5. April erklärte er sich zu einer neuen Aussprache mit Burian bereit, die dann am 14. und 15. April zustande kam und zu recht harten Auseinandersetzungen führte; in ihnen ist die Mitteleuropa-Idee endgültig begraben worden 64 ). Denn es zeigte sich bald, daß der Interessengegensatz der beiden Bündnispartner in der Polenfrage schlechthin unüberbrückbar war, so daß man ohne Vereinbarung auseinanderging. Bethmann Hollweg hatte natürlich ganz recht mit seiner Sorge, der habsburgische Vielvölkerstaat werde nicht imstande sein, einen so großen Zuwachs an slawischer Bevölkerung wirklich zu „verdauen". Aber wie seine Ausführungen deutlich zeigten, bedrückte ihn mindestens ebenso sehr die Sorge vor der öffentlichen Meinung in Deutschland, die einen Erwerb ganz RussischPolens durch den Bundesgenossen ohne größeren deutschen Landgewinn einfach nicht ertragen würde. Das würde mindestens zu einer Verstärkung deutscher Annexionsforderungen an anderen Stellen führen, besonders in Belgien und im Baltikum — beides für Bethmann höchst unerwünscht. Anderseits war ihm klar, daß die Österreicher sich nicht so leicht bereit finden würden, auf die Angliederung Polens ganz zu verzichten. So hatte er (charakteristisch für sein politisches Denken) schon vor der Aussprache mit Burian ein Kompromiß

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erwogen und Falkenhayn zur Begutachtung vorgelegt: Aufteilung Polens zwischen beiden Bundesgenossen, etwa entsprechend den jetzigen Okkupationsgrenzen. Aus dem uns zufallenden größeren Teil könnte ein „Großherzogtum Warschau" gebildet werden, außerhalb des Reichsverbandes stehend, aber doch politisch, militärisch und wirtschaftlich eng an Deutschland angeschlossen. D a s würde uns die große Annexion polnischen Landes ersparen, die General Beseler für den Fall als unentbehrlich bezeichnet hatte, daß Polen österreichisch würde: alles Land westlich bzw. nördlich einer Linie von der Warthe über Modlin (in der Nähe Warschaus) bis zum Njemen mit etwa 3 Millionen Polen und Ostjuden, deren Eingliederung in Preußen der K a n z ler unerträglich fand: „eine gesunde Polenpolitik würde uns damit unmöglich werden!" Natürlich spürte er selbst, daß dieses Teilpolen ein sehr unglückliches Gebilde sein würde, schon deshalb, weil die in dem neuen Großherzogtum wohnenden Polen sofort nach Vereinigung mit ihren Volksgenossen im österreichischen Gebietsteil und Galizien streben würden. Den ganzen Vorgang würden sie als „vierte polnische Teilung" empfinden, die ja doch Bethmann immer hatte vermeiden wollen. Wenn er nun als Aushilfe erwog, die Grenzen des neuen Großherzogtums „möglichst nach Süden" vorzurücken, so war damit nichts gebessert. Auch sein Vorschlag, Erzherzog Karl Stephan zum Großherzog zu berufen, um dem Ehrgeiz des Wiener Hofes entgegenzukommen, war ein schwaches Kompromiß; Bethmann selbst war überzeugt, jede Dynastie würde schon in der zweiten Generation national-polnisch werden. Falkenhayn bemerkte sofort, die Grenzverschiebung nach Süden würde sehr schwer durchzusetzen sein und praktisch wenig nützen. Im übrigen erklärte er sich mit dem vorgeschlagenen Teilungsplan als vorläufiger Lösung einverstanden, ebenso wie der Kaiser, machte aber dazu gewisse Verbesserungsvorschläge, die erst recht unpraktikabel waren. (Annäherung der Grundgesetze in beiden Teilreichen, vielleicht auch ein gemeinsamer „Bundesrat".) Die Hoffnung auf polnischen Mannschaftsersatz hatte er inzwischen begraben 6 5 ). Man sieht: mehr als eine provisorische Notlösung für den Fall, daß die Österreicher hartnäckig blieben, war der ganze Teilungsplan nicht, und das endgültige Ziel konnte immer nur die Errichtung eines ganz Russisch-Polen umfassenden „Großherzogtums Warschau" sein. Man beschloß deshalb, in der Verhandlung mit Burian von dem Teilungsplan nicht zu sprechen, sondern ganz „Kongreß-Polen" zu fordern in der Erwartung, die Gegenseite würde sich vielleicht doch mit dem Südteil Polens zufrieden geben und damit

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das Odium der „vierten Teilung" auf die eigenen Schultern nehmen 66 ). Aber konnte es einen stärkeren Beweis für die innere Zerrüttung des Bündnisverhältnisses geben als diese wahrhaft hinterhältige Taktik? Und hatte Burian nicht recht, wenn er in der Verhandlung aufs stärkste betonte, die Errichtung eines an Deutschland angelehnten neuen polnischen Königreiches sei für die Habsburger Monarchie unerträglich: sie würde Galizien „zu einer ingouvernabeln Provinz Österreichs" machen und über kurz oder lang zu deren Verlust führen? Niemals, sagte er, würden es die Polen der Wiener Politik verzeihen, „sie der verhaßten Prussifizierung ausgeliefert zu haben". Sie würden alles aufbieten, um mit Unterstützung Rußlands ihre in Österreich und Preußen lebenden Volksgenossen mit sich zu vereinigen. Bethmann Hollweg selbst gab zu - mit einer erstaunlichen und für ihn charakteristischen Offenheit —, daß er als Minister Österreichs ebenso denken würde; nur müsse für ihn das reichsdeutsche Interesse allein maßgebend sein. Aber sein Gesprächspartner ließ auch dieses Interesse nicht gelten, sondern erklärte, die sogenannte Autonomie des neuen „Pufferstaates" sei bloße Fiktion; PreußenDeutschland würde einfach gezwungen sein, „die polnische Bevölkerung manu militari niederzuhalten. Ein solcher Staat mit einer unzufriedenen und unruhigen Bevölkerung hätte kaum die Eignung, als militärisches Bollwerk gegen Rußland zu dienen. Der Pufferstaat würde gewiß den Keim zu neuen Komplikationen und zukünftigen Kriegen enthalten." In der T a t : wenn die preußische Germanisierungspolitik Posens und Westpreußens unverändert fortgesetzt werden sollte, wie der Kanzler ausdrücklich erklärte, war nicht zu sehen, wie der neue „Pufferstaat" Polen etwas anderes werden konnte als ein gewaltsam festgehaltenes Vorfeld deutscher Macht. Mit anderen Worten: zu einer Politik der wirklichen „Befreiung Polens" waren beide Mittelmächte außerstande: Deutschland nicht, weil es fürchten mußte, dadurch den so tief in seine Ostgebiete vorspringenden Keil fremden Volkstums noch gefährlicher zu machen, Österreich nicht, weil ein Zuwachs von 12 bis 14 Millionen Polen den Vielvölkerstaat vollends auseinander zu sprengen drohte und ein autonomes Polen über kurz oder lang zum Abfall Galiziens führen mußte. Dieselbe Gefahr drohte aber beiden Bundesgenossen, wenn Rußland seinerseits nach dem Kriege die Befreiung durchführte. Dann würde das neu erstandene Königreich erst recht der Zankapfel zwischen den ehemaligen Teilungsmächten werden, genau wie im 18. Jahrhundert, nur mit unvergleichlich schlimmeren Folgen im Zeitalter des modernen Nationalismus. Es gab also keine befriedigende Lösung der polnischen Frage. Man

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Viertes Kapitel

könnte das eine späte Nemesis der Geschichte nennen - aber der Gang des Krieges, nicht der Wille der Mittelmächte oder Rußlands hat ja zuletzt über das Schicksal Polens entschieden. N u r daß seit dem April 1916 die Diskussion darüber zwischen Wien und Berlin kein Ende mehr nahm und die Gegensätze zwischen den Verbündeten fortdauernd vertiefte. Den Bemühungen der österreichischen Politik, das Verlangen der Deutschen nach greifbaren Kriegsgewinnen nach Norden, in die baltischen Länder abzudrängen, hat Bethmann Hollweg auch diesmal widerstanden. Aber es fällt auf, daß es jetzt weniger entschieden und mit anderer Begründung als früher geschah. Von dem natürlichen Bedürfnis Rußlands nach dem Besitz eines freien Hafens an der baltischen Küste wurde nicht mehr gesprochen, sondern nur davon, daß in den an Naturschätzen armen Ostseeländern kein ausreichender Ersatz für Polen zu finden sei und daß Rußland sie sehr viel weniger leicht hergeben werde als dieses. Man wird das kaum anders erklären können als so, daß der Kanzler hier dem Druck der öffentlichen Meinung und der militärischen Stellen erlegen ist. Das Oberkommando Ost, d. h. Ludendorff, hatte inzwischen eine sehr intensiv durchgeführte Landesverwaltung in dem von seinen Truppen eroberten Kurland aufgebaut und alles auf eine künftige Germanisierung angelegt; seine Bestrebungen wurden, nicht ohne lebhafte Mitwirkung seines Pressebüros, von der deutschen Publizistik kräftig unterstützt: es gab im Winter 1915/16 kaum noch Gebildete und politisch Interessierte im deutschen Bürgertum, die nicht für die „Befreiung" des „alten Ordenslandes" und seiner deutschen Bewohner schwärmten oder doch einen verstärkten Grenzschutz Ostpreußens forderten 67 ). Wir hörten schon, daß auch Jagow von dieser Propaganda welle erfaßt worden war (oben S. 131) und daß auch der Kriegsminister Wild von Hohenborn für die Annexion Kurlands (neben der Litauens) eintrat (oben S. 133). Wenn es schon äußerst schwierig war, dem Drängen des Annexionismus nach Westen zu widerstehen, so mochte es vollends unmöglich erscheinen, den Drang nach Osten völlig und dauernd abzudämmen. Bethmann Hollweg hat sich offenbar bemüht, ihn wenigstens zu begrenzen. Am 20. Januar schrieb er an Hindenburg, für das Gebiet östlich der Memellinie (also für den Hauptteil Litauens östlich von Kowno und Grodno, den Njemenfestungen) müsse mit der Rückgabe an Rußland gerechnet werden. Er wünschte deshalb keine antirussische, nationalistische Propaganda unter den Litauern (und erst recht nicht unter den Weiß-Ruthenen), sondern wolle nur die unmittelbar an Ostpreußen grenzenden litauischen Bezirke annektieren, also die Gebiete an der sogenannten

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N a r e w - und Njemen-Linie, die ihm immer wieder von den Militärs als unentbehrlich zur Grenzverbesserung bezeichnet wurden. Ihre Bevölkerung ließe sich um so leichter mit der ostpreußischen amalgieren, je weniger sie zu nationalem Selbstbewußtsein erweckt wäre. Für das übrige Litauen wünschte er sich eine großpolnische Bewegung, wollte es also eher mit Polen als mit Deutschland verbunden wissen 88 ). Erst in der Aussprache mit Buriän am 14. April sieht man ihn eine klare Wendung auch zu baltischen Eroberungsplänen vollziehen. Er erklärte dem Minister, Deutschland wolle „lediglich 60000 qkm (Suwalki 12000, Kurland 20000, Gouvernement Kowno 20000, Grodno und Wilna 69 ) ca. 8000) mit 2 bis 3 Millionen Einwohnern dem Reich einverleiben", nicht etwa alle von ihm besetzten Gebiete - aber immerhin einen „Grenzstreifen" von beträchtlicher Breite. Damit präzisierte er genauer, was in der Reichstagsrede vom 5. April nur vage angedeutet war: „den Status quo ante kennt nach so ungeheuren Geschehnissen die Geschichte n i c h t . . . " . Nach dem Prinzip der Nationalität verfahrend 7 0 ), könne Deutschland nicht „freiwillig die von ihm und seinen Bundesgenossen befreiten Völker zwischen der baltischen See und den wolhynischen Sümpfen wieder dem Regiment des reaktionären Rußland ausliefern, mögen sie Polen, Litauer, Balten oder Letten sein . . . Rußland darf nicht zum zweiten Male seine Heere an der ungeschützten Grenze Ost- und Westpreußens aufmarschieren lassen, nicht noch einmal mit französischem Gelde das Weichselland als Einfallstor in das ungeschützte Deutschland einrichten." Mit dieser Rede hatte Bethmann Hollweg einen gefährlichen Schritt vollzogen: einen Schritt heraus aus seiner bisherigen Zurückhaltung in Annexionsfragen hinüber in die Richtung der allmächtigen Zeitströmung. Offensichtlich hielt er sich alle konkreten Möglichkeiten offen: über Umfang und Art der geplanten Sicherung unserer Ostgrenze, ob durch Annexion oder durch Errichtung von Zwischenstaaten, wurde der Öffentlichkeit nichts gesagt. Ähnlich wie schon am 9. Dezember war sogar von einer grundsätzlichen Bereitschaft die Rede, sich mit den feindlichen Staatsmännern „an einen Tisch zu setzen" und „Möglichkeiten des Friedens zu prüfen", wenn sie nur auf ihr offen erklärtes Kriegsziel der „endgültigen und vollständigen Zerstörung der Macht Preußens" verzichten wollten. Sinn und Ziel des Krieges sei für uns „nicht die Vernichtung fremder Nationen", sondern eine Sicherung Deutschlands gegen neue Anfälle der Zukunft. „Anders als 1870, wo Reichslande und Kaisertum jedem Deutschen als selbstverständlicher Siegespreis vor-

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Viertes Kapitel

schwebten, hatten wir (bei Kriegsausbruch) nur das eine Ziel, uns zu wehren, uns zu behaupten." „Für Deutschland, nicht f ü r ein fremdes Stück Land bluten und sterben Deutschlands Söhne." So hielt er grundsätzlich am Defensivcharakter des Krieges fest. Aber gleichzeitig wurde die Wiederherstellung des Status quo ante nun doch - zum ersten Male - ganz eindeutig abgelehnt, und nicht nur für den Osten. Von einer Annexion Belgiens war zwar keine Rede, aber von einem tiefen Eingriff in die Struktur des belgischen Staatswesens: der flämische Volksstamm dürfe nicht wieder „der Verwelschung preisgegeben", sondern müsse in seiner völkischen Eigenart geschützt und entwickelt werden, als Grundlage einer freundnachbarlichen Verbindung beider Länder und als Teil der schon so oft geforderten „Sicherheiten und Garantien". So war das Ganze auf einen Ton gestimmt, der mehr nach kriegerischer Entschlossenheit als nach Friedensbereitschaft klang - mit der Wirkung, daß die Rechte zwar lebhaft Beifall klatschte, aber die gemäßigte Linke unsicher wurde über die politische Linie des Kanzlers. H a t t e er wirklich den Kurs gewechselt, oder gab er nur dem Druck der öffentlichen Meinung nach, ohne innerlich an den Sieg zu glauben, der es ermöglichen würde, unsere Grenzen weiter hinauszuschieben? Tatsächlich hat er keinen Augenblick daran gedacht, etwa sich bietende Möglichkeiten eines allgemeinen Verständigungsfriedens oder eines Sonderfriedens mit Rußland durch Annexionsforderungen zerstören zu lassen, wie sich schon im Sommer 1916 zeigen sollte 71 ). Aber das blieb natürlich der Öffentlichkeit verborgen. Verständlich ist seine Haltung nur im Zusammenhang der schweren politischen Krise, die er eben damals wegen der U-Boot-Frage durchzustehen hatte.

5. K a p i t e l

AMERIKA U N D DIE ERSTEN B E I D E N U-BOOT-KRISEN 1915/16

Erster

Abschnitt

Ursprung und Beginn des Handelskrieges mit Tauchbooten (Frühjahr 1915) An keinem anderen Punkt der deutschen Kriegführung sind die Gegensätze zwischen Staatskunst und Kriegshandwerk, zwischen politischem und militärtechnisdiem Denken so handgreiflich, so hart und so verhängnisvoll aufeinandergestoßen wie in dem Streit um den Handelskrieg mit Tauchbooten. Dieser Streit bietet ein geradezu klassisches Beispiel für das Grundthema unseres Buches: für das Problem des „Militarismus" in Deutschland. Es ist kaum zuviel gesagt, daß der schließliche Triumph der Militärs über alle Einwände der politischen Reichsleitung gegen den unbeschränkten Tauchbootkrieg das Schicksal Deutschlands entscheidend und endgültig zum Verderben gewendet hat. Bethmanns zäher und entschlossener Kampf gegen diese Wendung in den beiden ersten U-Boot-Krisen von 1915 und 1916 ist in der dritten, im Januar 1917, schließlich gescheitert. Im Ringen um die Macht und um die Gunst der öffentlichen Meinung erwiesen sich fortan die Militärs dauernd als die stärkeren — und das, obwohl der Fehlschlag der Hoffnungen, den sie auf die Tauchboote gesetzt hatten, schon nach wenigen Monaten offenbar wurde. Damit ist schon das zweite Phänomen angerührt, das den U-Boot-Streit historisch so denkwürdig macht: deutlicher als irgendein anderes Geschehnis der Kriegsjahre hat er offenbart, welche unwiderstehliche Macht die öffentliche Meinung, mit allen ihren Vorurteilen, Leidenschaften und Legenden, sogar im Bereich der rein militärischen Entscheidungen im modernen Volkskrieg auszuüben vermag. Der unbeschränkte Handelskrieg mit Tauchbooten ist schon sehr früh zu einem populären Mythos geworden: zum Mythos eines angeblich unfehlbaren Siegesmittels, einer „Wunderwaffe", deren rechtzeitiger und kräftiger Einsatz nur durch die Unentschlossenheit, schwäch-

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Fünftes Kapitel I

liehe „Humanitätsduselei", vielleicht gar Anglophilie des ewig „versagenden" Kanzlers verhindert wurde. Viel stärker noch als der gewaltige Lärm um die Kriegsziele und den Annexionsfrieden hat dieser Mythos den „Burgfrieden" von 1914 zerstört, die politische Gemeinschaft der kämpfenden Nation zerrissen und Mißtrauen gegen die Führung verbreitet. Das Merkwürdigste: seit er einmal in die Welt gesetzt w a r und seine politische Wirkung tat, hat er offensichtlich auch auf die Militärs zurückgewirkt: zuerst die nüchterne technische Einsicht des Admiralstabs vernebelt und fast das ganze Offizierkorps der Marine in seinen Bann gezogen, später, seit Anfang 1916, auch den sonst so kühlen Wirklichkeitssinn des Generalstabschefs Falkenhayn verblendet. Nachträglich kann man sich gar nicht genug darüber wundern, daß technisch geschulte Marineoffiziere jemals ein so waghalsiges, ja abenteuerliches Unternehmen wie den Handelskrieg mit Tauchbooten f ü r ein sicheres Siegesrezept im Kampf mit der Weltmacht England halten, zum mindesten aber seine Chance so hoch einschätzen konnten, daß sie den Krieg mit Amerika dafür riskieren zu sollen meinten. Tatsächlich stieß der erste, vom Führer der U-Boot-Flotte, Korvettenkapitän Bauer, am 8. Oktober 1914 eingereichte Antrag, die Errichtung eines großen englischen Minenfeldes zum Absperren des Ärmelkanals durch einen unbeschränkten Handelskrieg mit Tauchbooten zu beantworten, zunächst bei der Flottenleitung und erst recht beim Admiralstab auf ernste Bedenken: man bezweifelte die Möglichkeit eines durchgreifenden Erfolges, scheute aber auch den groben Völkerrechtsbruch. Aber diese Bedenken schwanden merkwürdig schnell dahin und verwandelten sich schon nach wenigen Wochen in Siegeszuversicht trotz der geradezu lächerlich geringen Zahl von Tauchbooten, die f ü r den Kampf in englischen Küstengewässern geeignet und verfügbar waren 1 ). Wir besaßen damals nicht mehr als 21 U-Boote, von denen 12 ältere, mit Petroleum (statt mit Dieselöl) getrieben, für Fernfahrten nicht in Betracht kamen; von den danach verbleibenden 9 konnten nach der Berechnung Bauers immer nur ein Drittel, also ganze drei, gleichzeitig an der Front tätig sein. Die anderen befanden sich auf dem An- oder Abmarsch — oder in Reparatur. Ende Dezember legte Bauer einen Plan zur Blockade Englands vor, der nur vier Blockadestationen vorsah: je eine an der Ostküste, im östlichen Teil des Ärmelkanals, im Bristolkanal und in der Irischen See; jede sollte dauernd mit einem Tauchboot besetzt sein, jedoch mit längeren Unterbrechungen bei ungünstigem Wetter. Damit also sollte England nadi Ansicht des AdmiralstabschefsPohl zwar nicht ausgehungert, aber „zum

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Frieden geneigt gemacht" werden, und zwar in ganz kurzer Zeit 2 )! Allerdings hatte der Admiralstab zunächst, in merkwürdiger Unkenntnis der realen Möglichkeiten, auf die Besetzung von sieben statt vier Blockadestellen gerechnet und gemeint, daß von 20 U-Booten immer die Hälfte an der Front tätig sein könnte. Aber sogar die Planung Bauers erwies sich bald als viel zu optimistisch. Der für Englands Wirtschaft allein entscheidende Teil der Zufuhren lief natürlich über die Häfen der West-, nicht der Ostküste. Um aber dorthin zu gelangen, konnten die deutschen Tauchboote schon seit April 1915 nicht mehr durch den Ärmelkanal geschickt werden, weil dieser für sie durch Minenfelder, Netze, U-Boot-Fallen und Uberwachungsfahrzeuge so gut wie undurchdringlich geworden war. Sie mußten also um Schottland und die Orkney-Inseln herum in die Irische See fahren, was ihren Anmarschweg auf mehr als das Doppelte, nämlich auf 1400 Seemeilen ( = rd. 2600 km) verlängerte. Bei der geringen Fahrgeschwindigkeit der Boote (höchstens 30 st/km über Wasser, 17 unter Wasser!) und ihrer beschränkten Fahrtdauer bedeutete das selbst bei günstigem, nebel- und sturmfreiem Wetter eine so lange Fahrzeit, daß für den Aufenthalt am Kampfplatz nur wenige Tage übrig blieben3). Der westliche Eingang des Kanals mit seinen Häfen war praktisch unerreichbar geworden, und alle Versuche, Truppentransporte nach Frankreich zu versenken, scheiterten (nach bescheidenen Anfangserfolgen) ebenso wie die Störung der großen Kohlentransporte nach dem Festland, obwohl an der flandrischen Kanalküste eine besondere Flottille von Kleinbooten (die sogen. „Kanalflöhe") stationiert wurde. Vor allem bedeutete die verlängerte Fahrzeit, daß nunmehr bloß noch der fünfte Teil der verfügbaren Boote jeweils an der Kampffront tätig sein konnte, vier Fünftel dagegen sich unterwegs oder in Reparatur befanden, die sich infolge der starken Abnützung des Materials oft monatelang hinzog. An diesen Verhältnissen hat sich auch im Verlauf der ersten zwei Kriegsjahre nichts Entscheidendes geändert. Im Oktober 1915 waren infolge starker Kampfverluste (bis September schon 12 Boote!) und der Aufstellung neuer Flotillen im Mittelmeer und der Ostsee nur noch 8 große U-Boote gegen England verfügbar. Ihre Zahl stieg bis Februar 1916 auf 12, bis April auf 174). N u n hatte der Admiralstab selbst im Januar 1915 wenigstens 6—7 Boote zur Blockade der englischen Westküste für notwendig erklärt; im März 1916 stellte sich heraus, daß nur jeweils 2—3 Boote gleichzeitig auf dieser Frontlinie eingesetzt werden konnten 5 ). Da die Länge der englischen Westküste 600 sm, die Gesamtlänge der Küste 1700 sm betrug und allein im

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Firth of Förth an einem einzigen Septembertag 1914 etwa 100 ein- und auslaufende Dampfer beobachtet wurden 6 ), an der Westküste natürlich ein sehr viel stärkerer Strom, war an eine wirkliche Absperrung der Insel überhaupt nicht zu denken, ja nicht einmal an eine wirksame Blockade einzelner Hauptverkehrspunkte. Die Marine hat das natürlich gewußt. Aber sie rechnete mit der Schockwirkung jäher Versenkungen auf die neutrale Schiffahrt und setzte dem Kanzler auseinander, ein ernsthafter Einspruch der Neutralen sei schon deshalb nicht zu befürchten, weil deren Schiffe sich nach den ersten warnungslosen Versenkungen ganz von der englischen Küste fernhalten würden 7 ). Das war eine ebensolche Fehlspekulation wie etwa die Hoffnung, durcii gelegentliche Bombenabwürfe unserer Zeppeline auf London (die nur Empörung weckten, der feindlichen Propaganda sehr wirksamen Zündstoff lieferten und große deutsche Verluste kosteten, ohne militärisch zu nützen), ließen sich in England Friedensstimmungen erzeugen — oder auch wie der Irrglaube, der im Zweiten Weltkrieg eine so große Rolle auf beiden Seiten gespielt hat: der Terror des brutalen Luftbombardements auf die friedliche Zivilbevölkerung könnte politische Umwälzungen bewirken. Die warnungslose Versenkung von Handels- und Passagierdampfern durch die Torpedos der U-Boot-Waffe stellt sich so als das erste Symptom der Entartung des modernen Kriegs zum Totalkrieg dar, in dem der Einsatz von Terrorwaffen zur Zerstörung des Wirtschaftslebens und zur Zermürbung der Kampfmoral der gesamten Bevölkerung eine ständig wachsende Rolle spielt. Die Anwendung solcher Mittel ist immer ein Zeichen dafür, daß die Kraft zur direkten Vernichtung der feindlichen Streitkräfte nicht hinreicht. Die deutsche Kriegsmarine griff zum Handelskrieg durch U-Boote, weil ihre Panzerschiffe nur zum Schutz der deutschen Küste und Freihalten der Ostsee, nicht zur Zerstörung der englischen Seemacht imstande waren. Aber schon vorher hatten die Engländer begonnen, die Absperrung Deutschlands vom Welthandel durchzuführen, weil ihre Heere außerstande waren, eine Entscheidung im Landkrieg herbeizuführen. Da dies unter Verletzung des Völkerrechts, d. h. der (von ihnen nicht ratifizierten) Londoner Seerechtsdeklaration von 1909 geschah und im Lauf der Zeit, aller Proteste der Neutralen ungeachtet, zu einer völligen Waren- und Hungerblockade ausgebaut wurde, mit Überwachung des gesamten nach Deutschland gehenden Schiffsverkehrs, auch des über neutrale Häfen laufenden, ließ sich der deutsche Handelskrieg recht wohl als „Vergeltungsmaßnahme" juristisch rechtfertigen 8 ). Wenn England kurzerhand die ganze Nordsee blockierte und zum

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Kriegsgebiet erklärte, so war das genau so eine reine Gewalttat wie die Erklärung der englischen Küstengewässer zur „Kriegszone" durch Deutschland 9 ). Aber keine juristische Begründung änderte etwas daran, daß die Methode dieses Handelskrieges in der ganzen Welt als unmenschlich, ja entsetzlich empfunden wurde und die Deutschen in den Ruf eines wahrhaft barbarischen „Militarismus" brachte — auch bei wohlwollenden Neutralen, Skandinaviern und Holländern, die zuerst gar nicht glauben wollten, daß wir ernsthaft solche Gewalttaten planten 10 ). Die Antwort der Deutschen: die planmäßige Aushungerung unseres Volks durch die totale Blockade sei erst recht unmenschlich, blieb gewiß nicht ohne Eindruck, und an (praktisch wirkungslosen) Protesten gegen diese Blockade hat es ja auch von Anfang an nicht gefehlt, zumal sie den Seehandel der Neutralen nicht nur beschränkte, sondern mehr und mehr lästigen, ja demütigenden Kontrollmaßnahmen der Engländer unterwarf 11 ). Aber als durchschlagend wurde das deutsche Argument schon deshalb nicht empfunden, weil trotz aller englischen Kontrollen der deutsche Import an Lebensmitteln aus den neutralen Ländern des Kontinents (besonders aus Holland und Skandinavien) niemals ganz aufhörte, ja bis 1916 in einzelnen Sparten (wie Fleisch, Butter, Käse, Salzheringe, Eier) gegenüber den letzten Friedensjahren erheblich stieg, teilweise auf ein Mehrfaches, und zwar zu Ungunsten Englands, dessen Importe von eben dort stark zurückgingen. Erst Ende 1916 versiegten diese Bezugsquellen mehr und mehr 12 ). Noch weniger Eindruck machte das zweite Argument: wir müßten den fortlaufenden Strom von Munitions- und Waffenlieferungen von Amerika nach England unterbinden, um die überaus blutigen Schlachten in Frankreich bestehen zu können. Denn abgesehen davon, daß diese Lieferungen wenigstens anfangs (infolge des Fehlens einer großen amerikanischen Kriegsindustrie) nur beschränkten Umfang hatten 13 ), war allgemein bekannt, daß die militärisch wichtigsten Transporte, die von Truppen und Waffen nach Frankreich, infolge ihrer guten Sicherung auch für die U-Boote so gut wie unangreifbar waren. Grundsätzlich unbestreitbar war das dritte Argument: daß die herkömmlichen Regeln des Blockade- und Seebeuterechtes (Anhalten der Handelsschiffe, Durchsuchung, Beschlagnahmung von Bannware als „Prise", gegebenenfalls Abführung der Schiffe in einen Hafen, nur im Notfall Versenkung, aber nur nach Übernahme der Schiffsbesatzung auf das Kriegsfahrzeug) aus einer Zeit stammten, in der man nur größere, schwer bewaffnete Kreuzer als Waffe im Handelskrieg kannte, während sie von den kleinen und leicht verwundbaren

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Tauchbooten nur mit größter Gefahr, in vielen Fällen gar nicht befolgt werden konnten 14 ). Aber auch das galt nicht unbedingt. Die Praxis zeigte vielmehr, daß sich auch mit Tauchbooten ein recht wirksamer Handelskrieg nach den Regeln des sogen. Kreuzerkrieges führen ließ — allerdings nur so, daß die Schiffe alle versenkt wurden, meist ohne vorherige Durchsuchung, aber erst nach Anhalten (durch Zuruf und Warnschüsse mit Bordkanonen) und nach dem Einsteigen der Schiffsbesatzung in die Rettungsboote (was sie freilich nur bei stiller See und leidlich klarer Sicht vor dem Tode bewahren konnte). Trotz aller ständig wiederholten Versicherungen des Admiralstabs und des Flottenkommandos, der U-Boot-Krieg ließe sich nur in der Form der hemmungslosen Versenkung durch Torpedoschüsse durchführen, haben die U-Boot-Kommandanten diese Methode sehr viel seltener angewandt als die des „Kreuzerkriegs nach Prisenordnung", und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sie durchschnittlich nicht mehr als 6—7, höchstens 10 Torpedos mitführen konnten, deren Treffsicherheit beim Zielen durch das Seerohr äußerst gering war, zumal bei bewegter See (durchschnittlich 58°/o Fehlschüsse!)15), und weil das Boot in getauchtem Zustand oft viel zu langsam fuhr, um an sein Ziel rechtzeitig heranzukommen. Ende 1916 wurden in der Form des „Kreuzerkrieges" nicht weniger als 400000 t monatlich versenkt, und der Admiralstab hoffte damals nicht mehr, als diese Tonnenziffer durch Freigabe der unbeschränkten Kriegsform um etwa die Hälfte, also auf 600 000 t zu steigern16). Nur um dieser Steigerung willen (die allerdings nachher für einige Monate erheblich übertroffen wurde) hat man 1917 den Krieg mit Amerika heraufbeschworen. Nur auf dem Hintergrund dieser nüchternen, rein militärtechnischen Tatsachen läßt sich ein klares und zutreffendes Bild zeichnen von dem Konflikt zwischen Reichs- und Marineleitung über den U-Boot-Krieg. In der Öffentlichkeit blieben sie, vor allem die geringe Zahl der angreifenden Tauchboote, als militärisches Geheimnis streng verborgen, so daß sich dort phantastische Vorstellungen verbreiten konnten. Aber auch der Kanzler und das Auswärtige Amt wurden nur sehr mangelhaft orientiert. Als Bethmann Hollweg im Febraur 1916 vom Admiralstab genaue Zahlenangaben über die Zahl der großen U-Boote verlangte, die unmittelbar gegen England sogleich und später zur Verfügung stünden, verweigerte dieser die Auskunft mit der Begründung: er allein trage die Verantwortung für die technische Zulänglichkeit des neuen Kriegsmittels und für dessen „vollen Erfolg gegen England". Es bedurfte erst einer längeren, hartnäckig geführten Korrespondenz,

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um ihn zu genauerer Mitteilung an den Kanzler persönlich zu bringen, die diesen sehr erschreckte, obwohl sie immer noch stark optimistisch gefärbt war 17 ). Im Bundesrat wurden damals von einem Vertreter des Reichsmarineamtes Erklärungen abgegeben, die offensichtlich dazu bestimmt waren, übertriebene Hoffnungen bei den Bundesregierungen zu wecken: Ohne nähere Aufgliederung war von 203 „frontbereiten, im Bau und der Erprobung befindlichen großen und kleinen U-Booten" die Rede, „davon frontbereit 54". Erst auf Verlangen des Kanzlers wurde hinzugefügt, daß von den 54 „großen und kleineren" Booten ein Teil im Schulbetrieb verwendet wurde; daß jeweils nur 2-3 vor der Westküste von England standen, blieb sorgfältig verhüllt 18 ). Auch den Reichstagsabgeordneten (und vollends der Presse) gegenüber gab es für die Marine viele Möglichkeiten, durch Addieren der Zahlen für eben erst bestellte, im Bau, der Erprobung oder in Reparatur befindliche, zur Ausbildung der Mannschaft benötigte, für die verschiedenen Meere bestimmte, als Hilfswaffe der Panzerflotte zurückgehaltene, als Torpedoträger oder als Minenleger gebaute, große, kleine und kleinste Boote Verwirrung zu stiften und übertriebene Hoffnungen zu nähren. Niemand erfuhr, daß der Bau eines großen U-Bootes zwei Jahre dauerte, seine Erprobung nochmals ein Vierteljahr 19 ). Auch für die politisch Verantwortlichen war es also nicht einfach, ein klares Bild von den (1914 noch ganz unerprobten) Möglichkeiten des Tauchbootkrieges gegen Handelsschiffe zu gewinnen, und dabei Wunschtraum von Wirklichkeit genau zu unterscheiden. Einen ersten Sturm allgemeiner Begeisterung für die „Wunderwaffe" brachten die überraschendsten Erfolge der U-Boote 9 und 21 gegen vier alte, schlecht gehütete englische Kreuzer im September 1914. Sie blieben aber isoliert und weckten so in der Marine den Wunsch nach weiteren und größeren Erfolgen im Kampf gegen Handelsschiffe. Schon im Oktober gingen einzelne U-Boot-Kommandanten dazu über, ohne höheren Auftrag Handelsschiffe zu versenken, da sie keine feindlichen Kriegsschiffe auftreiben konnten; sie hielten sich noch an die Form des sogen. Kreuzerkrieges. Anfang November hatte Admiral Pohl alle Bedenken überwunden und drängte auf die Eröffnung des unbeschränkten Handelskrieges, der in Form einer Warnung an die Neutralen angekündigt werden sollte. Völkerrechtliche Handhabe und wohl auch äußeren Anstoß gab ihm die Erklärung der ganzen Nordsee zum Kriegsgebiet durch die Engländer; dahinter steckte aber auch der Tatendurst und militärische Ehrgeiz dieses Offiziers, dem Tirpitz fortdauernd die Inaktivität der großen Schlacht-

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flotte zum Vorwurf machte. Schließlich goß dann noch das (schon im 1. Kapitel erörterte) Wiegand-Interview des Großadmirals v. Tirpitz ö l ins Feuer, das Ende Dezember veröffentlicht wurde. Von da an war der U-Boot-Krieg nicht mehr ein militärisches Problem, über das die Fachleute zu befinden hatten, sondern eine politische Frage allererster Ordnung, in die alle Welt hineinredete. Rasch entstand eine „U-Boot-Bewegung", die noch weit über die Kreise der Annexionisten hinausreichte und noch stärkere Leidenschaften entfesselte. Dabei fehlten auch die patriotischen Professoren nicht, die sogleich den Kanzler und die Flottenleitung mit Denkschriften über die Aushungerung Englands bestürmten — darunter die berühmtesten Namen der Berliner Universität 20 ). Bethmanns erste Reaktion auf die Forderung des Admiralstabs (Ende November) war Besorgnis vor „allgemeiner Entrüstung der Neutralen", was sowohl unsere wirtschaftliche wie unsere militärische Lage nur noch verschlimmern würde, so lange wir den Sieg auf dem Kontinent nicht eindeutig in Händen hielten. Das wurde in einer offiziellen Antwort des Auswärtigen Amtes vom 27. Dezember näher ausgeführt, die sichtlich bemüht war, den Eindruck zu vermeiden, als spielten „Rücksichten gegen England" oder völkerrechtliche Bedenken für die Entschließungen des Kanzlers irgendeine Rolle 21 ). Zwar wurde vorsichtig bemerkt, „das Torpedieren neutraler Schiffe sei mit den allgemeinen Regeln des Völkerrechts nicht ganz in Einklang zu bringen", aber am Schluß eifrig versichert, nicht rechtliche Bedenken, sondern nur „Erwägungen militärpolitischer Opportunität" wären entscheidend für die Haltung der Regierung. Der U-Boot-Krieg wurde deshalb auch nicht grundsätzlich abgelehnt; er sollte nur so lange vertagt werden, bis die Kriegslage auf dem Festland günstiger, die Einmischung Neutraler, wie Italiens oder Rumäniens, in den Krieg also unwahrscheinlich geworden wäre. Man sieht, der Kanzler war ähnlich wie im Juli 1914 in Gefahr, sich von dem Drängen der Militärs, auf deren technischen Sachverstand er viel zu gläubig vertraute, gleichsam überrumpeln, aber auch durch die öffentliche Meiung von seinem eigenen Weg abdrängen zu lassen. Den Januar über widerstand er noch den immer dringender werdenden Forderungen Pohls, aber in einer Unterredung am 1. Februar in der Reichskanzlei, an der auch Unterstaatssekretär Zimmermann, Staatssekretär Delbrück und General Falkenhayn teilnahmen, ließ er sich schließlich umstimmen. Vom Gang dieser schicksalhaften Unterredung ist nur wenig überliefert. Sicher erkennbar ist aber, daß Bethmann Hollweg eben damals unter einem ungewöhnlich

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starken Druck der öffentlichen Meinung stand. Vom Hauptquartier nach Berlin heimgekehrt, f a n d er nicht nur die ganze politische Welt, darunter viele Reichstagsabgeordnete, von einem stürmischen Enthusiasmus für die Wunderwaffe erfüllt, sondern hörte auch von bösartigen Gerüchten, daß er, der Kanzler, aus anglophilen Vorurteilen heraus eine tatkräftige Aktion zu verhindern suche und also der Verderber Deutschlands sei. Entscheidend f ü r seine Entschlüsse war jedoch nicht eigentlich der Schock dieses Erlebnisses, sondern (wie er in seinen Memoiren selbst gesteht) der starke Eindruck von der unbedingten Zuversicht der Marine. Stand er nun wirklich (so wird er sich gefragt haben) als Mann der ewigen Zweifel und Bedenken einer großen Erfolgschance im Wege? Admiral von Pohl scheint ihn vor allem überredet zu haben, die Gefahr eines Eintritts der Neutralen in den Krieg sei gar nicht so groß wie er glaube. Wenn man ihnen vorher klarmachte, daß ihre H a n delsschiffe in den Küstengewässern Englands Gefahr liefen, jählings versenkt zu werden, so würden sie sich abschrecken lassen — spätestens nach dem Verlust der ersten Schiffe. Hätten sie sich doch auch durch die englische Erklärung der Nordsee zum Kriegsgebiet einschüchtern lassen, obwohl diese doch nur auf dem Papier stünde. Nach den (in Wirklichkeit höchst fragwürdigen) Auslandsnachrichten des Admiralstabs warte man in den skandinavischen Ländern geradezu mit Ungeduld auf den U-Boot-Krieg. Der Seehandel der Neutralen mit England würde also aufhören und damit die Insel praktisch blockiert sein. Wenn man nur jetzt gleich, vor dem Hereinkommen der argentinischen Weizenernte nach England, losschlüge, wären dessen Getreidevorräte in sechs Wochen zu Ende. Also kein weiteres Zuwarten! Auf Bethmanns Einwand, eine Flotte von etwa 20 Booten würde doch sicher nicht ausreichen, erwiderte Pohl mit höchstem Schneid: die Marine habe technisch alles wohl vorbereitet und sei des Erfolges sicher. Daß diese Behauptung nicht mehr war als leichtfertige Aufschneiderei, hat der Kanzler wohl nicht f ü r möglich gehalten, jedenfalls nicht durchschaut, zumal ihm der Admiral nicht verriet, daß er selbst nicht genau wußte, wie wenige Boote in Wahrheit jeweils an der Front stehen würden. Ohne klare Vorstellungen von den praktischen Problemen des Handelskrieges, versäumte Bethmann auch zu fragen und festzulegen, was denn nun geschehen sollte, wenn die neutralen Handelsschiffe doch nach England führen, was dann, wenn englische Schiffe unter neutraler Flagge führen oder neutrale Schiffsbesatzungen mit neutralen Gütern auf englischen Fahrzeugen, wie sich echter und falscher Flaggengebrauch unterscheiden ließe und dgl. mehr. Seine Sorge um die

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Ernährung der belgischen Bevölkerung, für die Amerika durch Importe von Lebensmitteln sorgte, scheint Pohl zu allgemeiner Befriedigung durch den Hinweis beschwichtigt zu haben, f ü r die Amerikaner bleibe der Seeweg um Schottland herum durch die Nordsee frei 22 ). Audi Falkenhayn ließ sich damit beruhigen, zumal ihm Pohl kühn genug versicherte, die U-Boote würden die militärischen Transporte der Gegner durch den Kanal schwer beeinträchtigen. Nicht sogleich, aber am nächsten Morgen erklärte nun Bethmann Hollweg sein Einverständnis mit einer Proklamation, deren Wortlaut zwischen Admiralstab und Auswärtigem Amt vereinbart wurde. Sie erklärte die Gewässer rings um Großbritannien und Irland einschließlich des gesamten englischen Kanals zum Kriegsgebiet, kündigte die Versenkung aller dort nach dem 18. Februar angetroffenen feindlichen Kauffahrteischiffe an, ohne Garantie für das Leben der Besatzungen und Passagiere, und warnte die neutrale Schiffahrt vor den auch ihr (infolge von Verwechslungen und auch Zufälligkeiten) dort drohenden Gefahren. Eine (von Geheimrat Kriege stammende) Denkschrift des Auswärtigen Amts, die gleichzeitig publiziert wurde, suchte die ganze Aktion als Vergeltungsmaßnahme völkerrechtlich zu rechtfertigen. Keiner der Verantwortlichen hat damals geahnt, wie folgenreich — und letztlich unheilvoll — sich dieser Schritt erweisen würde. Aber daß er überstürzt war, hat man im Kreise der hohen Marineoffiziere sehr wohl gewußt. Der Marinekabinettschef von Müller, im allgemeinen treuer Verbündeter des Reichskanzlers, fand dessen plötzlichen Umfall in der U-Boot-Frage, von dem er erst nachträglich erfuhr, „einen traurigen Beweis für seine Unzulänglichkeit" 23 ) und war empört über den Ehrgeiz Pohls, der es so eilig gehabt hatte. Letzteres sicher mit Recht; denn als Admiralstabschef zum 1. Februar abgelöst und zum Flottenchef ernannt, hatte sich Pohl durchaus noch den Ruhm sichern wollen, den U-Boot-Krieg durchgesetzt zu haben. Eben deshalb hatte er auch seinen Nachfolger Admiral Bachmann vor eine vollendete Tatsache gestellt, obwohl dieser keineswegs damit einverstanden war, sondern es bedenklich fand, mit einer so geringen Zahl von Booten und ohne ausgebaute Stützpunkte in Flandern oder anderswo eine große Blokkade eröffnen zu wollen. Als stärkster Kritiker spielte sich Tirpitz auf, Pohls Rivale und Gegner, der sich bei der entscheidenden Beratung übergangen fühlte. Schon von Anfang an hatte er in dienstlichen und vertraulichen Schreiben Zweifel geäußert, ob die Zahl der Boote und der Stand der Vorbereitungen ausreichen würde, um jetzt schon loszuschlagen. Das hatte ihn aber

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nicht gehindert, in der Öffentlichkeit mit allen Mitteln das Feuer zu schüren und dem Kanzler am 27. Januar mit genau denselben Argumenten seine Sorge vor den Neutralen auszureden, die Pohl ein paar Tage später vorgebracht hat 24 ). Audi hat er mit keinem Wort opponiert, als er (als einziger Zeuge) miterlebte, wie Pohl den Kaiser am 4. Februar mit der von Bethmann gebilligten Proklamation auf einer Bootsfahrt im Hafen von Wilhelmshaven förmlich überfiel und ihm seine Unterschrift ohne ernsthafte Beratung entriß. Seine nachträgliche Kritik diente ihm als Alibi, hinderte ihn aber nicht daran, gemeinsam mit Bachmann die Durchführung des einmal beschlossenen Handelskriegs in schärfster Form zu fordern und sich gegen jede Milderung leidenschaftlich zur Wehr zu setzen. Bald gab es ernsten Anlaß, die Richtigkeit des Entschlusses vom 1. Februar noch einmal zu überprüfen. Zunächst mußte Admiral Pohl als Flottenchef feststellen (und seinem Nachfolger Bachmann melden!), daß bei weitem nicht so viele Tauchboote zur Verfügung standen, als er selbst in seiner Weisung als Admiralstabschef am 2. Februar vorausgesetzt hatte. Der von ihm geplante große Schlag zur Eröffnung der Aktion, der die Neutralen einschüchtern sollte, war also gar nicht ausführbar. Gleich darauf, noch ehe der neue Handelskrieg begonnen hatte, hagelte es in Berlin Proteste der Neutralen von allen Seiten, auch aus Skandinavien, am schärfsten aber aus Washington. Die Note, die der amerikanische Botschafter gerade am 12. Februar übergab, war in der Form höflich, aber sehr entschieden, ja fast einem Ultimatum ähnlich: sie kündigte an, daß die amerikanische Regierung die deutsche für jeden Verlust amerikanischen Eigentums und Lebens „streng verantwortlich" machen würde. Das alles sah keineswegs so aus, als ob sich die Neutralen vom Handel mit England würden abschrecken lassen. Statt dessen kündigte sich der Bruch mit Amerika an — eine Gefahr, die in den bisherigen Beratungen noch keine große Rolle gespielt hatte, da man auf Wilsons Friedfertigkeit vertraute. Nicht minder groß war in diesem Augenblick, in dem so heiß um die Neutralität Italiens gerungen wurde, die Gefahr eines Seekonfliktes mit dieser Macht. Welche Verlegenheit für Bethmann Hollweg! Die großartige Proklamation der Seesperre um England ließ sich nicht mehr zurückziehen, ohne jedes Ansehen der deutschen Regierung im Ausland und vollends ihre Autorität im Innern zu verspielen. So versuchte es der Kanzler mit einem Kompromiß: im Auswärtigen Amt wurde eine Antwort entworfen, die versprach, Schiffe unter neutraler Flagge, „soweit sie als solche erkennbar sind und

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nicht etwa Konterbande führen, nicht weiter zu belästigen". Darüber hinaus übernahm die deutsche Regierung eine „Gewähr" dafür, daß Handelsschiffe unter amerikanischer Flagge „vorläufig" überhaupt nicht angegriffen würden — allerdings in der bestimmten Erwartung, daß der Mißbrauch dieser Flagge durch englische Schiffe eingestellt würde. Das war offenbar eine Halbheit. Es gab praktisch keine „Gewähr" dafür, daß die amerikanische Flagge immer sicher durch das Seerohr erkannt wurde, noch weniger eine Sicherheit, daß der Flaggenmißbrauch wirklich aufhörte und nicht künftig alle Schiffe in der Nähe der englischen Küste die amerikanische Flagge hißten, wenn auch die Vorstellungen, die der Admiralstab davon hegte, sich bald als übertrieben erwiesen haben. Nun wurden in den ersten Kriegsjahren die weitaus meisten Warentransporte der Amerikaner auf britischen Schiffen durchgeführt, da die amerikanische Handelsflotte noch wenig entwickelt war; aber die Drohnote Wilsons sprach ja auch nicht nur von Schiffen, sondern von Eigentum und Leben amerikanischer Staatsbürger, und eben aus den Verlusten an Menschenleben haben sich bald darauf die schwersten Konflikte entwickelt. Man sieht: es war äußerst schwierig, sich aus dem Abenteuer wieder herauszuwinden, auf das man sich unter irrigen Voraussetzungen einmal eingelassen hatte. Vor allem: die Admiräle wollten das gar nicht. Sie hatten damit gerechnet, ja sich gewünscht 25 ), daß gleich zu Anfang auch einzelne neutrale Schiffe ohne Warnung versenkt würden und erwarteten sich davon eine heilsame Schockwirkung. Sie wollten also das Abenteuer nicht aufgeben, sondern versteiften sich darauf, es konsequent durchzuführen — trotz aller geheimen (uns bekannten) Zweifel an der Zulänglichkeit des verfügbaren Kriegsmittels. Anderseits war im Großen Hauptquartier jedermann klar, daß ein Bruch mit Amerika und Italien in diesem Augenblick, in dem wir den großen Ostfeldzug vorbereiteten, unabsehbare Auswirkungen haben würde, auch auf die Haltung der Balkanstaaten und der Türkei. Falkenhayn empfand diese Gefahr besonders stark und wollte jedes Risiko eines Bruchs mit Amerika vermieden sehen. Dem Kaiser vollends war das Kriegführen mit Handelsschiffen und nun gar das Ertränken von Zivilpersonen ein Greuel: er fand das unritterlich und unverträglich mit altpreußischen Vorstellungen von militärischer Ehre und schalt heftig auf Pohl, der ihn mit der Proklamation vom 4. Februar überrumpelt habe. D a auch der Chef des Marinekabinetts die Illusionen Pohls nicht teilte, hatte Bethmann im Kampf mit den Aktivisten der Marine einen festen Stand. Auf Falkenhayns Vorschlag wurden Bach-

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mann und Tirpitz zu einer telegraphisdien Meldung an den Kaiser (damals in Lotzen) aufgefordert, „in welchem Maß sie die Gewähr dafür übernähmen, daß innerhalb 6 Wochen nach Beginn des neuen Handelskrieges England zum Einlenken gezwungen sein wird" (wie es Pohl immer behauptet hatte). Die Antwort, ein Produkt höchster Verschlagenheit, erklärte: beide „wären überzeugt", daß England nach 6 Wochen einlenken würde, „wenn es gelänge, von Anfang an alle für diese Kriegführung irgend verfügbaren Machtmittel energisch einzusetzen". Welche „Machtmittel" gemeint waren, (ob auch die Großkampfschiffe?) blieb ebenso offen wie die Bedeutung des „Einlenkens", das Tirpitz nachträglich als Rückkehr zu den Grundsätzen der Londoner Seerechtsdeklarationen gedeutet hat. Auf den Kaiser hat das einen „reichlich verklausulierten" Eindruck gemacht. Immerhin erreichten die Admiräle eine (im Ton etwas verschärfte) Neufassung der Antwort an Wilson (vom 16. Februar), in der nicht mehr die Rede war von einer „Gewähr" der deutschen Regierung für die Sicherheit amerikanischer Schiffe. Es wurde nur versichert (was schon in der Denkschrift des Auswärtigen Amtes vom 4. Februar geschehen war), die U-BootKommandanten wären angewiesen, „Gewalttätigkeiten gegen amerikanische Handelsschiffe zu unterlassen, so weit sie als solche erkennbar sind". Am Schluß war wenigstens angedeutet, daß wir gern auf den neuartigen Handelskrieg verzichten würden, falls England sich bereitfinden sollte, der Londoner Seerechtsdeklaration entsprechend „die legitime Zufuhr von Lebensmitteln und Rohstoffen nach Deutschland zu ermöglichen" 26 ). Daran war nun freilich nicht zu denken. „Es fällt uns nicht ein", hat Premierminister Asquith am 1. März 1915 im Unterhaus erklärt, „unsere Anstrengungen" (zur Behauptung der Seeherrschaft) „in einem Netzwerk juristischer Spitzfindigkeiten erwürgen zu lassen 27 )." Die englische Regierung lehnte auch einen Vermittlungsvorschlag ohne weiteres ab, den die amerikanische am 20. Februar gleichzeitig in London und Berlin überreichen ließ. Danach sollten die Deutschen auf die neue Form des Handelskrieges und auf offensiven Minenkrieg verzichten, die Briten dafür die Einfuhr von Lebensmitteln nach Deutschland (unter Kontrolle der Verteilung durch amerikanische Agenturen) zulassen. Im Berliner Auswärtigen Amt wurde dieser Vorschlag mit großer Erleichterung aufgenommen. Tirpitz dagegen und sein getreuer Gefolgsmann Bachmann sahen in seiner Annahme durch Deutschland (echt militaristisch) ein „Schwächezeichen" und sträubten sich. Sie verlangten, daß wir für den Verzicht auf den Minen- und unbeschränkten

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U-Boot-Krieg völlig unannehmbare Gegenforderungen stellen sollten (u. a. Freigabe der internierten deutschen Handelsschiffe zum Lebensmitteltransport unter neutraler Flagge). Darüber gab es eine erregte Auseinandersetzung zwischen ihnen und der politischen Reichsleitung unter Vorsitz des Kaisers, in der Tirpitz (nach dem Zeugnis Müllers) überaus taktlos und „großschnäuzig" auftrat. Die Sitzung ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil hier Wilhelm II. zum ersten Male, wohl unter dem Eindruck der heftigen Opposition des Großadmirals, sich unsicher zeigte. Der Kanzler müsse sich damit abfinden, meinte er, daß nun einmal die ganze Nation den U-BootKrieg dringend verlange. Schließlich entschied er dann doch, von Admiral von Müller im Sinn des Kanzlers beraten, für dessen Antrag. Die amerikanische Note wurde zustimmend beantwortet, allerdings außer der Freigabe von Lebensmitteln auch die von Futtermitteln und industriellen Rohstoffen gefordert 28 ). Praktisch war die ganze Aufregung umsonst, da England sich seine Seeherrschaft nicht so leicht aus der Hand winden ließ und ablehnte. Inzwischen war über vielem Hin und Her der Beratungen der Termin des 18. Februar abgelaufen, ohne daß die feierlich angekündigte Aktion begonnen hatte. Erst am 20. konnte der Admiralstab den Angriffsbefehl erteilen — aber zunächst beschränkt auf die Nordsee und den englischen Kanal, wo man ziemlich sicher zu sein glaubte, auf keine amerikanischen und italienischen Schiffe zu stoßen, und unter Ausscheidung einer Sicherheitszone für den Seetransport von den skandinavischen Ländern nach England, in der Schiffe mit neutraler Flagge unter keinen Umständen angegriffen werden durften. Zwei Tage später wurden auch die westlichen Küstengewässer zum Angriff freigegeben, aber den U-Boot-Kommandanten „größte Vorsidht" gegenüber amerikanischen und italienischen Dampfern eingeschärft. Um die amerikanischen Passagierdampfer, die hier verkehrten, sicher zu erkennen, wurden den U-Boot-Führern Abbildungen und Fahrzeiten mitgeteilt, überdies erfahrene Offiziere des Norddeutschen Lloyd und der Hapag den U-Booten als Begleiter zugeteilt. Man sieht: der Kanzler hatte seine Politik im wesentlichen gegen die Marineleitung durchgesetzt. Wahrscheinlich glaubte (oder hoffte) er, das große Abenteuer sei nun einigermaßen ungefährlich geworden. Daß dies ein schwerer Irrtum war, sollte sich bald zeigen. Aber auch die Hoffnung der Admiräle auf einen großen, eindrucksvollen, aller Welt imponierenden Anfangserfolg zerrann sogleich. Wie nicht anders zu erwarten, blieben die

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Versenkungsziffern der paar um England kreuzenden U-Boote sehr bescheiden. Im Monat März wurden von über 5000 Handelsschiffen, die in englischen H ä f e n ein- und ausliefen, nur 21 versenkt. Die Reedereien neutraler Länder, die zuerst vorsichtig abgewartet hatten, gaben ihre Zurückhaltung wieder auf, und ihre Mannschaft tat gegen erhöhten Lohn sogleich wieder Dienst. Die U-Boot-Gefahr schien nicht allzu groß, zumal (aus den schon erörterten Gründen) warnungslose Versenkung praktisch eher Ausnahme als Regel war und die Möglichkeit, den Tauchbooten zu entrinnen oder sie zu vernichten, sich als groß erwies. Militärisch und wirtschaftlich wurde also fast nichts erreicht. Um so bedeutender, aber in durchaus negativem Sinn, war der politische Effekt der Marine-Aktion. Der englischen Regierung gab sie sogleich Anstoß und Vorwand zu einem bösen Vergeltungsschlag: Anfang März wurde eine Verschärfung der Seeblockade gegen Deutschland angekündigt, nach der die deutsche Einfuhr, aber auch Ausfuhr über See nunmehr restlos abgedrosselt werden sollte. Die Neutralen aber gerieten in höchste Aufregung, als gleich in der ersten Kriegswoche auch neutrale Schiffe warnungslos versenkt wurden. Es waren nicht eben viele (je ein norwegisches, ein holländisches, ein griechisches und ein schwedisches); aber die Wirkung war nicht Abschreckung, sondern empörter Protest, der nur mit Mühe und nur durch erhebliche Geldentschädigungen beschwichtigt werden konnte. Es gab im Auswärtigen Amt immer neue A u f regungen, und der Reichskanzler fand die so entstehende, ununterbrochene Verschärfung der europäischen Spannungen, während gerade mit Anstrengung darum gerungen wurde, Italien und Rumänien neutral zu erhalten, so unerträglich, daß er am 6. Mai sehr energisch den Admiralstab aufforderte, „den getroffenen Vereinbarungen gemäß weitere Angriffe unserer U-Boote auf neutrale Schiffe unter allen Umständen zu verhindern". Bachmann gab darauf eine sehr patzige Antwort: er wisse nichts von solchen Vereinbarungen, und „eine weitere Beschränkung der U-Boot-Angriffe würde der Einstellung des U-Boot-Krieges gleichkommen". Als diese Antwort einlief, war gerade die größte und politisch verhängnisvollste Schiffskatastrophe des ganzen Krieges eingetreten: ein deutsches U Boot hatte am 7. Mai südlich von Irland den riesigen englischen Passagierdampfer „Lusitania", den Stolz der Cunard-Linie, mit 702 Besatzungsmitgliedern und 1257 Passagieren (darunter 440 Frauen und 129 Kinder) warnungslos versenkt. Er war in zwanzig Minuten untergegangen und hatte 1198 Menschen, darunter 120 amerikanische Staatsbürger, mit in die Tiefe

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gerissen. Daß dieses entsetzliche Ereignis gleich den Anfang unseres U-BootKrieges überschattete, war unzweifelhaft ein Unglücksfall, dessen Folgen trotz jahrelanger Bemühungen unserer Diplomatie nicht mehr gutzumachen waren. Heute erscheint es uns schwer begreiflich, daß man das in der deutschen Öffentlichkeit gar nicht sah, sondern den Vorfall als großen „Erfolg" unserer Tauchboote feierte, bis weit in die Zeitungen der Linken hinein 29 ). Aber die Welle der U-Boot-Begeisterung und des Englandhasses war noch immer im Steigen, und die Phantasie- und Gedankenlosigkeit moderner Massenmedien blickt ja immer nur auf den allernächsten Tageserfolg 30 ). Überdies wirkte sich die Katastrophe diplomatisch erst nach und nach in voller Schärfe aus. Die erste, sofort veröffentlichte „Lusitania-Note" Präsident Wilsons (vom 15. Mai) brachte zwar einen grundsätzlichen Protest gegen das warnungslose Versenken von friedlichen Handelsfahrzeugen überhaupt und forderte energisch das Recht amerikanischer Staatsbürger auf freies Reisen in aller Welt, vermied aber doch eindeutig drohende Wendungen. Allerdings konnte der Kaiser die Mißbilligung der Tat des U-Boot-Kommandanten, die sie forderte, unmöglich aussprechen, da dieser ja mit dem Versenken eines feindlichen, nicht neutralen Schiffes nicht gegen seine Instruktion gehandelt hatte. Das Versenken von Passagierdampfern war ihm ja auch nicht verboten worden — im Gegenteil: eine Dienstanweisung Bachmanns hatte dazu noch besonders aufgefordert, weil es „den allergrößten Eindruck machen würde" 3 1 ). Die Marineleitung wünschte also die Schockwirkung, statt sie zu fürchten — obwohl das Versenken von Passagierschiffen militärisch sinnlos war, sofern es sich nicht um Truppentransporte handelte oder um eine Beiladung von Munition, wie sie im Fall der Lusitania nachträglich festgestellt wurde 32 ). Dieser Sachverhalt machte eine Verständigung über den Lusitania-Fall von vornherein fast hoffnungslos, vollends dann, wenn noch weitere Passagierdampfer während der Verhandlungen versenkt wurden. Bethmann Hollweg war sich klar darüber, daß er dies unbedingt verhindern müßte. Aber wie sollte er es erreichen, wenn es ihm noch nicht einmal gelang, das Versenken neutraler Frachtschiffe abzustoppen, das den ganzen Mai über fortdauerte und sogar amerikanische Schiffe traf! Ende des Monats entschloß er sich, Falkenhayn zu Hilfe zu rufen. Er ließ ihm durch den Vertreter des Auswärtigen Amts im Hauptquartier in Pleß, den Gesandten von Treutier, vorstellen, die Vereinigten Staaten stünden dicht vor dem Abbruch der Beziehungen. Sollte Amerika zu unseren Feinden übertreten, so kämen auch die europäischen Neutralen in Bewegung, und vielleicht würde

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sich Holland einem Durchmarsch unserer Gegner mit dem Ziel, unsere Westfront von rückwärts aufzurollen, nicht widersetzen, sondern anschließen. Diese klug ausgedachte (die Gefahr zweifellos übertreibende) Warnung verfehlte ihre Wirkung nicht. Doch verlangte Falkenhayn, daß Tirpitz und Bachmann Gelegenheit haben müßten, auch ihre Auffassung dem Kaiser vorzutragen, veranlaßte also ihre telegraphische Beorderung nach Pleß. Gleich am nächsten Tag (31. Mai) fand Vortrag vor dem Kaiser statt, in dem Falkenhayn sich dem Standpunkt des Kanzlers anschloß und verlangte, der U-Boot-Krieg müsse so geführt werden, daß politische Konflikte nicht entstünden. Als die Admiräle erklärten, dann bleibe nichts übrig als die Campagne überhaupt aufzugeben (wohl wissend, daß dies der Öffentlichkeit gegenüber unmöglich war!), wurde der Kaiser wieder schwankend und erklärte, das sei richtig, und für eine solche Preisgabe müsse der Reichskanzler die Verantwortung übernehmen. Offensichtlich wirkte es sich ungünstig aus, daß dieser nicht zugegen war. Aber wiederum, wie am 28. Februar bei Beratung des amerikanischen Vermittlungsvorschlags, rettete der Kabinettschef von Müller die Situation. Er schlug vor und erreichte, daß Bachmann beauftragt wurde, eine neue Weisung an die U-Boote gemeinsam mit dem Kanzler auszuarbeiten. Das geschah gleich am nächsten Tag in Berlin, mit dem Erfolg, daß an die U-Boot-Kommandanten zunächst ein Befehl erging: sie dürften nur dann angreifen, wenn sie ganz sicher wären, ein feindliches Schiff vor sich zu haben. „In zweifelhaften Fällen sei lieber ein feindliches Handelsschiff durchzulassen, als ein neutrales zu versenken." Nach Ansicht Treutiers und von Müllers war aber nun die (unklar gefaßte) kaiserliche Entscheidung so zu verstehen, daß Angriffe auf große Passagierdampfer, einerlei ob feindliche oder neutrale, in Z u k u n f t überhaupt zu unterbleiben hätten. Das suchte denn auch der Kanzler in einer Aussprache, die er darüber mit Bachmann am 2. Juni in Berlin hatte, zu erreichen, stieß aber auf entschiedenen Widerspruch sowohl des Admiralstabs- wie des Hochseeflotten-Chefs. Statt sich darüber mit den Admirälen in weitere Auseinandersetzungen einzulassen, wandte er sich jetzt durch Treutier direkt an den Kaiser, der denn auch begriff, daß zum mindesten während der diplomatischen Auseinandersetzungen über den Lusitania-Fall weitere Versenkungen großer Passagierdampfer unerträglich waren und (durch einen von Müller redigierten Befehl) am 6. Juni im Sinn Bethmanns über den Kopf der Flottenleitung hinweg entschied 33 ). Tirpitz und sein Gefolgsmann versuchten durch eine Immediateingabe diese Entscheidung rückgängig zu ma-

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dien, und zwar durch die (für ihre militärische Denkweise höchst charakteristische) Behauptung, dieser Befehl würde nicht nur praktisch völligen Verzicht auf den U-Boot-Krieg bedeuten, sondern er würde, „da sein Geheimbleiben ausgeschlossen sei, als eine Entschuldigung für die Versenkung der ,Lusitania' aufgefaßt werden. Er kann bei unseren Gegnern, bei den Neutralen, im eigenen Volke und der eigenen Marine nur als gefährliches Zeichen der Schwäche ausgelegt werden". Damit war ganz deutlich die Frage des militärischen Prestiges über alle politischen Erwägungen gestellt, mochten diese noch so zwingend sein. Zugleich war versteckt mit einem Bekanntwerden des Befehls in der Öffentlichkeit gedroht, (für das ja Tirpitz tausend Möglichkeiten besaß) und im letzten Satz mit der Abschiedsforderung beider Admiräle: sie wären nicht in der Lage, die Verantwortung für den kaiserlichen Befehl zu übernehmen. Ein besseres Mittel, die allgemeine Aufregung über die U-Boot-Frage und gegen die politische Reichsleitung (zuletzt auch gegen den Kaiser selbst) zur Siedehitze zu treiben, als eine Verabschiedung des allgemein bewunderten Großadmirals gab es nicht. Ein für die Entwicklungsgeschichte des deutschen Militarismus im Krieg höchst bedeutsamer Vorgang! Diesen hohen Marineoffizieren ist ihr militärisches Unternehmen zum Selbstzweck und zu einer reinen Prestigefrage geworden; die Politik hat sich damit abzufinden, statt ihrerseits zu bestimmen, was sie braucht 34 ). Sie beanspruchen für sich eine eigene politische Verantwortung und wagen es, dem Monarchen ultimativ mit der Abschiedsforderung nach Art eines Ministers zu drohen. Das war in der Geschichte des preußisch-deutschen Offizierskorps das erste Mal — aber Wilhelm II. sollte es in diesem Kriege noch oft erleben. Diesmal reagierte er darauf mit Empörung. In einer betont scharf gehaltenen Antwort verfügte er: „Es bleibt bei meinem Befehl, für dessen militärische Ausführung und Geheimhaltung mir der Chef des Admiralstabs der Marine und die militärischen Vorgesetzten verantwortlich sind; für etwaige politische Folgen trägt der Reichskanzler die Verantwortung" — eine sachlich völlig zutreffende Feststellung, die aber doch wohl durchspüren läßt, daß Wilhelm I I . sich selbst von dieser Verantwortung zu distanzieren wünschte. Als Tirpitz und Bachmann daraufhin ihren Abschied forderten, wurde das in schroffer Form abgelehnt. Randbemerkungen auf beiden Abschiedsgesuchen zeigten, wie tief der Kaiser das Unerhörte des Vorgangs empfand: „Nein! In solchem Moment, das ist Felonie . . . Die Herren haben zu gehorchen und zu bleiben. Regelrechte Militärverschwörung! Durch Tirpitz veranlaßt!" Aber nach außen hin wurde

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von deutscher Bereitschaft zur D ä m p f u n g des U-Boot-Krieges nichts sichtbar. Unsere Antwortnote an Amerika vom 28. Mai, in vollem Einverständnis von politischer und Marine-Leitung entworfen, enthielt kein Wort davon, versuchte vielmehr die Versenkung des großen Passagierdampfers damit zu rechtfertigen, daß er als Hilfskreuzer bewaffnet gewesen sei und kanadische Truppen transportiert habe (was sich später als Irrtum herausstellte), ferner sei er mit Munition beladen gewesen und habe, wie alle englischen Schiffe, Anweisung gehabt, U-Boote zu rammen. Das forderte die Gegenseite zu einer Widerlegung heraus, und so ging der Notenwechsel den ganzen Sommer fort, und zwar immer öffentlich. Es war im Grunde mehr ein Propagandagefecht, auf politische Wirkung in breitester Öffentlichkeit berechnet, als ein echter Meinungsaustausch. U m zu erkennen, was an wirklichen politischen Kräften und Absichten dahintersteckte, müssen wir zunächst einen Blick auf die Lage Amerikas, die Haltung Wilsons und seiner politischen Berater werfen.

Zweiter

Abschnitt

Das Problem der Neutralität Amerikas und der U-Boot-Krieg im Sommer und Herbst 1915 Es war ein festes Requisit der deutschen Propaganda f ü r den U-BootKrieg, amerikanischen Protesten mit dem Vorwurf moralischer Heuchelei, unneutralen Verhaltens, d. h. einseitiger Begünstigung unserer Feinde aufgrund massiver Wirtschaftsinteressen und eines doktrinären Pazifismus zu begegnen. In erster Linie richteten sich diese Vorwürfe gegen den Präsidenten Wilson, der vielen Deutschen auch heute noch als Heuchler und weltfremder Doktrinär, ja wohl gar als Betrüger gilt und mehr oder weniger verhaßt ist, zumal er die überschwenglichen Hoffnungen, die man angesichts der nahenden Katastrophe 1918 auf seine Vermittlung setzte, in Versailles so schwer enttäuscht hat. Jede Kriegspropaganda arbeitet mit Klischeebildern. Aber auch in Amerika wurde sein Andenken durch die Kritik amerikanischer Revisionisten an seinen gescheiterten Illusionen und seiner unechten Neutralität verdunkelt 1 ). Erst in den letzten Jahrzehnten hat eine ungeheuer ausgedehnte Publikations- und Forschungstätigkeit amerikani-

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scher Historiker es möglich gemacht, zwischen wahren und falschen bzw. übertriebenen Anklagen, zwischen Leistung und Versagen genauer zu unterscheiden, vor allem in die geschichtlichen Hintergründe und Motive der amerikanischen Politik unter Wilson tiefer einzudringen. Dabei ist vor allem deutlich geworden, daß auch hier, wie in aller großen Politik, das Handeln des verantwortlichen Staatsmannes viel stärker von den realen Interessen seines Staates, der sog. Staatsräson, bestimmt wird als von seinen persönlichen Neigungen, am stärksten aber vom Zwang der Umstände, denen er sich immer nur begrenzt entziehen kann. Der amerikanische Präsident war (und ist) in außenpolitischen Fragen selbstherrlicher — vor allem in Krisenzeiten — als die meisten Regierungshäupter Europas; aber seine Macht ruht ganz und gar auf der Gunst der öffentlichen Meinung des Landes und den Erfolgen seiner Partei. Er ist also in besonders hohem Maße Repräsentant der öffentlichen Meinung (u. U. auch ihrer Vorurteile) und muß alles vermeiden, was ihn dieser entfremdet und seiner Partei schadet 2 ). Woodrow Wilson war ein sehr eigensinniger und persönlich empfindlicher, in puritanischen Grundsätzen aufgewachsener Mann mit autokratischen Neigungen, der seine Entschlüsse schon deshalb einsam zu fassen pflegte (oft tagelang in seinem Studierzimmer von aller Welt abgeschlossen und seine Kundgebungen persönlich auf der Schreibmaschine konzipierend), weil er ebenso gewissenhaft wie langsam in seinen Überlegungen und Entscheidungen war. Trotzdem war seine Politik keineswegs selbstherrlich, sondern immer von den Stimmungen und Interessen seines Landes bestimmt. Auch seine pazifistische Ideologie, so doktrinär, so „unrealistisch" sie auch den meisten Europäern erschien, war echt amerikanisch — letztlich ein Produkt der jahrhundertelangen Sonderstellung des amerikanischen Kontinents außerhalb der europäischen Machthändel. N u r daß er, seit einmal der Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg entschieden war, früher als die meisten seiner Landsleute begriff, daß nun die Epoche des Isolationismus f ü r immer zu Ende war und eine amerikanische Mission zur Sicherung des ewigen Friedens proklamierte, die Amerikas neue Rolle als führende Weltmacht ideologisch untermauern sollte — ein Vorstoß ins Unbekannte und Ungewohnte, bei dem die öffentliche Meinung des Landes ihn zuletzt im Stich gelassen hat. Wenn die Deutschen ihm von Anfang an vorwarfen, seine Politik sei nicht wirklich neutral und wenn sie mit höchster Erbitterung von den Waffenund Munitionslieferungen sprachen, die aus den Vereinigten Staaten fortlaufend nach England und Frankreich gingen (dem amerikanischen Botschaf-

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ter Gerard wurden sie bei jeder Begegnung mit deutschen Gesprächspartnern vorgehalten!), so war das begreiflich. Die Tatsache, daß solche Lieferungen durch keine völkerrechtliche Bestimmung verboten waren (und daß deutsche Rüstungsfirmen in früheren Kriegsfällen an ganz ähnlichen Exporten viel Geld verdient hatten), verminderte nicht die Gefährlichkeit dieses Handels für uns; auch war die vom amerikanischen State Department gelieferte juristische Konstruktion, es wäre unneutral, wenn Amerika den Engländern, die noch nicht genügend W a f f e n hätten im Gegensatz zu den hochgerüsteten Deutschen, ihre Lieferung verweigern wollte, für uns alles andere als überzeugend. Trotzdem ist heute erwiesen, daß Wilson sich ernsthaft bemüht hat, die Neutralität seines Landes ohne formale Verletzung des Völkerrechts zu wahren, nicht ohne viele innere Skrupel und K ä m p f e mit seinen Beratern und Gehilfen. Vor allem: daß er ehrlich bestrebt war, ja mit verbissener Zähigkeit darum gekämpft hat (sogar noch im Februar und März 1917 nach der Erklärung des völlig unbeschränkten U-Boot-Krieges durch die Deutschen!) sein Land aus dem Krieg herauszuhalten, getreu dessen isolationistischen Traditionen. Er ist keineswegs mit fliegenden Fahnen, sondern mit schweren Bedenken und nach langen inneren Kämpfen aus dieser herkömmlichen Politik zu der „neuen Diplomatie" einer kämpfenden Weltmacht übergegangen, durch mancherlei Motive bestimmt — entscheidend zuletzt doch durch den U-Boot-Krieg. Innerlich, seiner politischen Gesinnung nach, war er natürlich niemals neutral, sondern stand mit ganzem Herzen auf seiten der Feinde Deutschlands. Nicht nur, weil er, wie die große Mehrzahl seiner Landsleute, ganz und gar aus englischen Kulturtraditionen lebte, sondern weil er seit dem deutschen Überfall auf Belgien fest überzeugt war, daß die Entente f ü r das Recht gegen das Unrecht, für das gute Prinzip gegen das böse kämpfe. Das böse Prinzip schlechthin war f ü r ihn — wie für alle Amerikaner englischer Abstammung — der deutsche „Militarismus" und die kaiserliche „Autokratie", von der man in den westlichen Demokratien (nicht ohne Mitschuld kaiserlicher Rodomontaden) die übertriebensten Vorstellungen hatte. Wirklich neutral gesinnt war in Wilsons Umgebung nur der radikale Pazifist Staatssekretär Bryan, bis Anfang Juni 1915 Leiter des State Department. Alle anderen: der juristische Berater Lansing, der bald Nachfolger Bryans wurde, der amerikanische Botschafter in London Walter Page, vor allem Wilsons vertrautester Berater Oberst House standen so eindeutig auf Englands Seite, daß der Präsident ihnen gegenüber noch als gemäßigt und als

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echter Neutraler erscheint. Die Fülle der intimen und amtlichen Zeugnisse, die das beweisen, ist geradezu erdrückend. M a n muß diese Zeugnisse kennen, um die praktische politische Bedeutung der ersten Versuche zur Friedensvermittlung abschätzen zu können, die Wilson seit August 1914 ins Werk gesetzt hat. Er besaß den Ehrgeiz, als neutraler Vermittler in E u r o p a Frieden zu stiften und dadurch das politische Ansehen seines Landes zu erhöhen, hatte aber zunächst weder von den Kriegszielen der Entente noch von denen Deutschlands eine konkrete Vorstellung und nur ganz vage eigene Ideen v o m künftigen Weltfrieden. Wenn er sofort nach Kriegsausbruch beiden Seiten seine guten Dienste als Vermittler anbot, so w a r das kaum mehr als eine höfliche Geste, die auch House nicht ernst nahm. Aber diese Angebote wurden auf Drängen Bryans und anderer Mittelsmänner schon im September wiederholt, zunächst durch den Berliner Botschafter Gerard, und zwar in recht dilettantischer Form 3 ) Es war selbstverständlich, daß die Alliierten sich nicht in ihr Kriegsunternehmen hineinreden lassen wollten, ehe die Waffen entschieden hatten, und vorher jede amerikanische Vermittlung ablehnten. Ebenso selbstverständlich aber, daß man auch in Berlin sehr vorsichtig zurückhielt und sich von einem so ausgesprochen pro-englischen Vermittler nichts Gutes erwartete — so lange dort noch nicht jede H o f f n u n g auf einen günstigen oder doch leidlichen Kriegsausgang erloschen war 4 ). In der T a t hat Wilson schon damals nichts mehr gefürchtet als einen deutschen Sieg, der nach seiner Meinung den Lauf der Kulturentwicklung Amerikas verändern, jede Verbesserung der internationalen Moral verhindern und die Vereinigten Staaten zwingen würde, sich in einen Militärstaat zu verwandeln 5 ). Sein Berater House warnte ihn vor der angeblichen Absicht des Kaisers, die deutsche Hegemonie auch über Südamerika auszudehnen und hielt es f ü r die einzig richtige Haltung, unbeirrt durch deutsche militärische Erfolge „absolutes Zutrauen auf Deutschlands schließliche N i e derlage zu setzen" 6 ). Allerdings fürchtete er auch einen Totalsieg Rußlands im Interesse des Gleichgewichts. Aber wenn die Regierung Bethmanns vor einem allgemeinen Friedenskongreß zurückscheute, der von diesem Vermittler zustande gebracht würde und lieber ihre H o f f n u n g auf eine Sprengung der Entente durch Sonderfriedensverhandlungen setzte, so war das nicht unbegründet 7 ). Einen ersten größeren Versuch zur Friedensvermittlung unternahm H o u s e auf einer Reise nach Europa, die er Ende Januar 1915 im Auftrag Wilsons antrat — ermutigt durch Versicherungen des deutschen Botschafters, Graf

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Bernstorff, die deutsche Regierung würde sein Erbieten günstig aufnehmen, während die Äußerungen Greys aus London reserviert klangen. Bernstorff, ein Diplomat betont „westlicher" Prägung, hat nach Ausweis seiner Memoiren sowohl die unbedingte Friedfertigkeit dieses Unterhändlers und politischen Beraters überschätzt wie seine Bereitschaft, gegen englische Übergriffe anzukämpfen und sein Verständnis f ü r Deutschlands Notlage. Obwohl House den Abscheu Wilsons gegen den Krieg ebenso teilte wie dessen Ehrgeiz, als peace-maker zu wirken, war er von Anfang an in Zweifel, ob es auch zu verantworten wäre, einen Frieden zustande zu bringen, ehe Deutschland völlig geschlagen und bereit wäre, seinen Militarismus aufzugeben 8 ). Er war auch äußerst besorgt, daß seine Friedensmission von den EntenteRegierungen als „ein feindlicher Akt" aufgenommen werden könnte und suchte den russischen und französischen Gesandten darüber zu beruhigen: er wolle nur herausbringen und der Welt zeigen, wie „unzuverlässig und verräterisch die Deutschen mit ihren falschen Friedensvorspiegelungen wären". Aber auch Grey hatte die größten Befürchtungen vor dieser Reise. Sie wurde von den Verbündeten Englands als ein von den Deutschen angestiftetes Manöver zur Aufspaltung der Entente betrachtet. Ging Grey auf Unterhandlungen ein, so konnte er gar nicht wagen, dem Amerikaner den ganzen Umfang der Eroberungsziele darzulegen, auf die sich die Alliierten inzwischen bereits vertraglich festgelegt hatten, ohne die englisch-amerikanische Freundschaft zu gefährden. Gab er irgend etwas von diesen Zielen preis, so erschütterte er den Zusammenhalt der Entente. Er versicherte also die alliierten Regierungen, England denke nicht daran, sich durch das von Bernstorff angestiftete Friedensmanöver in seiner Entschlossenheit zur Fortführung des Krieges beirren und zu Abmachungen verleiten zu lassen, die nicht alle Verbündeten zufriedenstellten. Damit erreichte er ihre Zustimmung zu dem Vorschlag: sollten die Mittelmächte durch einen „bevollmächtigten Unterhändler" ihre Friedensbereitschaft mitteilen, so wolle man das anhören und einander darüber konsultieren, welche Friedensbedingungen ihnen „auferlegt" (imposed) werden sollten, und zwar in direkter Verhandlung mit dem Gegner. Man war also freundlichst bereit, eine Kapitulation Deutschlands und seiner Verbündeten, wenn House sie überbrachte, entgegenzunehmen. Von Verständigungsbereitschaft war keine Rede. Zur größten Überraschung Greys zeigte sich aber nun rasch, daß seine Besorgnisse völlig unbegründet waren. Weder ließ sich der amerikanische Unterhändler dadurch von seiner Reise abschrecken, daß ihm der englische

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Botschafter Spring-Rice die Eroberungswünsche der Franzosen und Russen vorher wenigstens andeutete, noch machte er nach seinem Eintreffen in London irgendwelche Opposition dagegen, auch nicht gegen die weitgehenden Wünsche der britischen Dominions nach Erwerb deutscher Kolonien. O f f e n sichtlich kam es ihm viel mehr darauf an, das Vertrauen und die Freundschaft der Engländer zu gewinnen und zu festigen, als einen Krieg zu beenden, den auch er für einen Kreuzzug der Demokratie gegen den Militarismus hielt. Auf eine Erörterung konkreter Kriegsziele und Grenzverschiebungen ließ er sich nur ungern und nur zu rein privater Meinungsäußerung ein. Denn sein Auftraggeber Wilson wünschte zwar Frieden zu stiften, wollte aber keinesfalls in die nationalen Interessenkämpfe und Begehrlichkeiten der europäischen Mächte verstrickt werden, auch keine Mitverantwortung oder gar Bürgschaft für die Friedensregelung übernehmen. So bewegten sich die Unterhaltungen Houses mit Grey über das Friedensproblem überwiegend in weiten Zukunftsperspektiven. Der englische Minister sprach von einer Weltorganisation zur Sicherung eines dauernden Friedens, die nach dem Krieg geschaffen werden müsse, damit sich nicht so unglückliche Vorgänge wie die überstürzten Kriegserklärungen des Juli 1914 wiederholen könnten ohne vorgängige Vermittlungsversuche auf einer europäischen Konferenz. D a s w a r die erste Anregung zur Schaffung des späteren Völkerbunds. Der Vorschlag wurde von House zunächst ausweichend und zögernd beantwortet 9 ), sollte aber bald darauf von Wilson mit Enthusiasmus aufgenommen und zu einem Hauptziel seiner Politik gemacht werden. House seinerseits entwickelte Pläne einer allgemeinen Abrüstung und Verstaatlichung der Rüstungsindustrie, der man in Amerika böse Kriegshetzerei zutraute. Außerdem drängte er auf internationale Abmachungen, welche die „Freiheit der See", d. h. die Unantastbarkeit alles Seehandels auch während des Krieges und Abschaffung alles Kaperrechtes auf hoher See bewirken sollten. Er stellte sich vor, daß England dann, befreit von aller Sorge um seine Zufuhren (da die große Zahl und Lage seiner H ä f e n deren totale Sperrung unmöglich mache) auf seine „Seeherrschaft" verzichten, seine Flotte also auf bloße Küstenabwehr beschränken, Deutschland aber den U-BootKrieg aufgeben könnte, wenn es seinerseits in seinem Seehandel unbehindert bliebe. Amerika seinerseits war jeder Sorge um das Gedeihen seines rasch wachsenden Uberseehandels im Kriege enthoben. Dieser große Plan wurde schließlich Houses Hauptanliegen. Dabei blieb immer unklar, wann und wie die „Freiheit der Meere" Zustandekommen sollte; House dachte an einen

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Kongreß aller Mächte, auch der neutralen, unter Vorsitz Wilsons, unabhängig von der Friedenskonferenz 10 ). Man sieht: dieser Amerikaner brachte viel guten Willen zur Befriedung der Welt nach Europa mit, aber sehr wenig Verständnis f ü r die Tiefe und Unversöhnlichkeit der dort herrschenden Gegensätze. Grey war sehr klug in seinen Verhandlungen und erweckte den Eindruck, persönlich mit den meisten Vorschlägen Houses zu sympathisieren, verpflichtete sich aber auf nichts. Noch weniger als er waren seine Ministerkollegen bereit, während des Krieges das Prinzip der englischen Seeherrschaft zugunsten unsicherer Verträge preiszugeben und die W a f f e der Hungerblockade gegen Deutschland aus der H a n d zu legen. Die deutsche Regierung hat ihrerseits (wie wir gesehen haben) schon am 16. und 28. Februar erklärt, sie würde auf den U-Boot-Krieg verzichten, wenn England die Einfuhr von Lebensmitteln und Rohstoffen zur See preisgäbe; aber wir kennen das Widerstreben der deutschen Admiralität (und der hinter ihr stehenden Öffentlichkeit) gegen diese Bereitschaft; denn ihr galt die U-Boot-Waffe als einziges Mittel zur Niederkämpfung Englands überhaupt. Im übrigen sah man in Berlin dem Erscheinen Houses mit ähnlicher Besorgnis entgegen wie in London: man fürchtete einerseits, es mit den Amerikanern zu verderben, andererseits, sich von ihnen auf eine Beschränkung der Kriegsziele festlegen zu lassen, die in der Nation nur Stürme der Entrüstung hervorrufen würde. Zimmermann hatte es deshalb f ü r richtig gehalten, House (ähnlich wie Grey) im voraus zu warnen, indem er ihm am 3. Februar nach London schrieb: eine Entschädigungszahlung an Belgien (wie dieser sie als Forderung der Entente angemeldet hatte) würde die deutsche Regierung wohl kaum gegen die öffentliche Meinung ihres Landes durchsetzen können 11 ). Wenn der Amerikaner daraufhin seine Reise nach Berlin hinausschob, entgegen den dringenden Wünschen des Berliner Botschafters Gerard 12 ), so geschah es wesentlich aus einem anderen Grund: er folgte den Wünschen Greys und der alliierten Regierungen, die ihm vorstellten, erst müsse die militärische Lage Deutschlands weit schlechter geworden sein, ehe man anfangen könnte, mit ihm zu verhandeln. Als er schließlich Mitte März doch noch aufbrach, war er sich klar darüber (und ließ es sich unterwegs in Paris in einer Unterredung mit Delcasse noch bestätigen), daß es überhaupt kein Anerbieten der Entente-Regierungen zur Verständigung gab, das er den Deutschen hätte vorweisen können, und daß auch die Herausgabe und Entschädigung Belgiens noch nicht zum Frieden führen konnte. Ebenso wenig

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die Wiederherstellung des status quo, gegen die der russische und französische Botschafter schon vor seiner Abreise aus Amerika protestiert hatten. House hat deshalb auch in den Unterredungen, die er mit Zimmermann, J a g o w und Bethmann führte, gar nicht erst von Belgien gesprochen, sondern sich damit begnügt, ihnen seinen großen Plan zur Begründung der „Freiheit der Meere" vorzulegen, w o f ü r er natürlich deren (zunächst rein akademische) Zustimmung f a n d 1 3 ) . Übrigens war er scharfsichtig genug, um ebenso die grundsätzliche Mäßigung und Friedensbereitschaft des Kanzlers und seiner politischen Gehilfen wie den tiefen Zwiespalt zwischen ihnen und den Militärs zu erkennen. Vor allem machte ihm die Gefahr tiefen Eindruck, die sie von Seiten der öffentlichen Meinung mit ihren maßlosen Kriegszielforderungen ständig bedrohte. Als Gesamtergebnis seiner Mission nahm er den Eindruck mit: daß es sehr gefährlich sei, den Ehrgeiz der Völker im Kriege wachzurufen und ihnen übertriebene Hoffnungen auf Erfolg zu machen; denn keine Regierung könne dann mehr frei handeln. Als das Haupthindernis jeder Verständigung sah er jetzt nicht Deutschland, sondern Frankreich an 1 4 ). Inzwischen waren auch die letzten Illusionen über die Möglichkeit, England und Deutschland auf eine gemeinsame Formel über die „Freiheit der Meere" zu einigen, durch den U-Boot-Krieg zerstört worden. D i e Versenkung der „Lusitania" führte jählings die Gefahr eines offenen Bruches zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten herauf. Sie brachte die amerikanische Öffentlichkeit in einen unbeschreiblichen Aufruhr. D i e moralische Empörung war so grenzenlos und allgemein, daß niemand mehr wagen konnte, öffentlich für die Sache der Deutschen einzutreten, und der frühere deutsche Staatssekretär Dernburg, der bisher mit viel E r f o l g und Geschick die deutsche Pressepropaganda gelenkt hatte, schleunigst das Land verlassen mußte; auch die Deutschamerikaner waren jetzt wie auf den Mund geschlagen. Wilson selbst wurde als Schwächling öffentlich angegriffen, als er durch eine unbedachte oratorische Wendung (Amerika sei „too proud to fight") den Verdacht erweckte, er sei als radikaler Pazifist imstande, das nationale Interesse im Stich zu lassen. Es blieb ihm gar nichts übrig, als dem allgemeinen Zorn durch einen sehr energischen Protest an die deutsche Regierung Luft zu verschaffen. Er hat sich aber die Form dieses Protestes sehr gründlich überlegt, lange daran mit seinen Beratern gearbeitet und eine direkte Drohung am Schluß vermieden. Nicht nur sein pazifistischer Außenminister Bryan, sondern

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alle seine Berater waren sich darüber klar, daß einstweilen ein diplomatischer Bruch mit Deutschland oder gar ein Kriegseintritt undurchführbar w a r ; denn trotz aller moralischen Aufregung war die überwältigende Mehrheit der Amerikaner noch lange nicht bereit, ihre traditionelle Isolation von den Welthändeln aufzugeben und sich in den europäischen Krieg einzumischen. Auch den Engländern gegenüber war die Haltung der öffentlichen Meinung nicht einheitlich. Nicht nur bei den Amerikanern deutscher und irischer Abstammung gab es viel Kritik an den Methoden englischer Seekriegführung, vorab an der Aushungerungsblockade und der Bewaffnung von Handelsschiffen. Je weiter nach Westen, um so mehr flaute die Erregung über den Lusitania-Zwischenfall ab. Es gab sogar sehr viele Stimmen (und sie haben sich später auch zu einem Vorstoß im Parlament gesammelt), die das Reisen amerikanischer Staatsbürger auf britischen Schiffen ins Kriegsgebiet — trotz deutscher Warnung! — und vollends auf einem mit Munition beladenen Fahrzeug unverantwortlich fanden, weil es Amerika in höchst unerwünschte militärische Konflikte hineinziehen konnte. Auch Bryan wollte solche Reisen gesetzlich verbieten oder doch vor ihnen warnen lassen. Damit drang er bei Wilson nicht durch, der das als schwächliche Nachgiebigkeit empfand und immer sehr eifrig darauf bedacht war, das äußere Machtprestige seines Landes (er zog d a f ü r den moralischen Ausdruck „Ehre" vor) zu wahren. Denn in ihm war nationaler Ehrgeiz und moralisch begründeter Pazifismus auf eine schwer durchdringliche, aber echt amerikanische Weise miteinander vermischt. Man wird kaum anders urteilen können (und nicht wenige amerikanische Autoren urteilen heute auch so) 15 ), daß der Anspruch unbeschränkter Reisefreiheit während des Krieges auch im Seekriegsgebiet, den er in seiner N o t e f ü r seine Landsleute beanspruchte, eine völkerrechtlich nicht zu begründende Ausweitung der Rechtsansprüche der Neutralen darstellte. Aber f ü r juristische Fragen hat sich der Präsident niemals sonderlich interessiert — um so mehr für moralisch-politische. Den Handelskrieg mit U-Booten in der Form warnungsloser Versenkung unter Opferung des Lebens Unbeteiligter hielt er f ü r schlechthin unmenschlich und darum verdammenswert. Er wollte ihn einfach nicht gelten lassen und lehnte auch jede Rücksicht auf die technischen Schwierigkeiten des Tauchbootes, einen Handelskrieg nach den herkömmlichen Regeln zu führen, rundweg ab. Seine Noten nach Berlin forderten völlige Preisgabe der neuen Kriegsform — freilich nicht nur aus moralischen, sondern gleichzeitig aus politischen Motiven. Er t r a t so hartnäckig und entschieden nicht etwa deshalb auf, weil er einen

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bewaffneten Konflikt nicht scheute, sondern umgekehrt: weil er fürchtete, die Fortsetzung der neuen Kriegsmethode könnte, ja würde ihn eines Tages zwingen, um der „Ehre", aber auch der Handelsinteressen Amerikas willen doch noch zu den Waffen zu greifen. Das wird am deutlichsten aus der Tatsache, daß er bereits wenige Tage nach der Versenkung der „Lusitania", ermutigt durch Mitteilungen Houses aus London, den früher schon gescheiterten Versuch wiederholte, ein Abkommen zustande zu bringen, nach dem die Deutschen den U-Boot-Krieg aufgeben sollten, wenn die Engländer den Import von Lebensmitteln nach neutralen europäischen Häfen ungehindert ließen. Obwohl es einen Augenblick so schien, als wäre die britische Regierung unter dem Druck der Schiffsversenkungen und der ersten deutschen Gasangriffe in Flandern eher als im Februar zu einer solchen Abmachung zu bewegen (so entnahm es jedenfalls House den vorsichtigen Äußerungen Greys), blieb der Versuch doch wiederum vergeblich: den Briten erschien die Gefahr des U-Boot-Kriegs für ihre Importe noch nicht so groß, daß sie deshalb bereit gewesen wären, ihr System der Abschnürung Deutschlands vom Welthandel aufzugeben, und die deutsche Regierung zeigte sich nicht sogleich bereit, allein um der Lebensmittelzufuhr willen ihre einzige Waffe gegen England aus der Hand zu legen; jedenfalls forderte sie (wie schon im Februar) auch die Freigabe von Rohstoffen für ihre Industrie und die Versicherung, daß der Gegner auf die Bewaffnung seiner Handelsschiffe verzichte; dafür war sie bereit, auch den Gaskrieg (eine erschreckende Neuerung des Frühjahrs 1915) wieder aufzugeben 16 ). Diese Antwort hat Grey die Ablehnung des amerikanischen Vorschlags sehr erleichtert. Danach blieb Wilson nur der Versuch übrig, durch energische Proteste (die doch nicht die Form des Ultimatums annehmen durften) die deutsche Regierung zur Preisgabe des U-Boot-Krieges zu bewegen. Das erklärt die merkwürdige Form der zweiten Lusitania-Note vom 10. Juni, die der Präsident eigenhändig auf seiner Schreibmaschine entworfen hat — eines der am meisten charakteristischen Zeugnisse seiner politischen Mentalität und seiner rhetorisch-propagandistischen Begabung. Sie verkündet mit hohem Pathos (das in Amerika sicher tiefen Eindruck machte) die „erhabenen und heiligen Rechte der Menschlichkeit", denen gegenüber die Frage der Bewaffnung der Lusitania und ihrer Munitionsbeförderung (die übrigens bestritten wird) als Bagatelle erscheint; aber sie begnügt sich mit einem moralischen Appell an die deutsche Regierung ohne eigentlich drohende Wendungen. Sie behauptet sehr bestimmt das Recht amerikanischer Staatsbürger, auch auf Han-

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delsschiffen kriegführender Staaten ungefährdet durch die Kriegszone zu reisen, bietet aber gleichzeitig ihre guten Dienste an „bei dem Versuch, mit der Regierung von Großbritannien zu einer Verständigung über eine Änderung des Charakters und der Bedingungen des Seekriegs zu gelangen". Kein Wunder, daß hiernach in Berlin ein großes Rätselraten begann, was man von Amerika zu erwarten habe. Graf Bernstorff, innerlich ein unbedingter Gegner des U-Boot-Kriegs (was er Oberst House gegenüber auch durchblicken ließ), meldete auf Grund einer Unterredung mit dem Präsidenten am 2. Juni, dieser werde „am Abbruch der Beziehungen nicht vorbeikommen", wenn es uns nicht gelänge, durch eine entgegenkommende Antwort die aufgeregte öffentliche Meinung Amerikas zu beruhigen. Diese Meldung, die Bernstorff durch einen nach Deutschland entsandten Experten (Meyer-Gerhard) noch unterstützen ließ, benutzten Bethmann Hollweg und Jagow natürlich in ihrem Kampf mit der Admiralität um eine wirksame Einschränkung des U-Boot-Krieges mit Eifer. Aber ihre Wirkung wurde durch bald folgende weitere Meldungen des Botschafters abgeschwächt, die von einem rasdien Abflauen der Erregung in Amerika zu berichten wußten 17 ), und noch mehr durch den Staatssekretär Bryan, der in seinem Eifer, kriegerische Spannungen zu verhindern, dem österreichischen Botschafter Dumba anvertraute, die scharfen Noten des Präsidenten wären gar nicht so bös gemeint und vor allem dazu bestimmt, auf die amerikanische Öffentlichkeit zu wirken. Eine Mitteilung, die rasch über Wien nach Berlin gelangte und dort starken Eindruck machte. Aber Bryan nahm Anfang Juli seinen Abschied, weil er seine Politik der unbedingten Friedfertigkeit nicht durchsetzen konnte 18 ). Sein Nachfolger Lansing betrieb das Gegenteil dieser Politik: er war fest entschlossen, auf die Seite der Alliierten zu treten, sobald die amerikanische Volksstimmung dafür reif wäre und der Krieg eine für die Ententemächte bedenkliche Wendung nähme. Er hielt das kaiserliche Deutschland für den geschworenen Feind aller demokratischen Freiheit in der Welt und für einen sehr gefährlichen Gegner, dessen Sieg unter keinen Umständen zugelassen werden dürfe, aber wahrscheinlich nur durch aktives Eingreifen Amerikas verhindert werden könnte. Uberall in der Welt sah er deutsche Agenten tätig, um durch Intrigen und Komplotte Uneinigkeit zwischen den Demokratien zu säen und so die deutsche Weltherrschaft vorzubereiten. Sollten die Alliierten geschlagen werden, so würde Amerika das nächste Opfer sein, und schon jetzt meinte er Bemühungen aller Art zu einer Festsetzung deutscher Macht

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u n d deutschen Einflusses in den Staaten Mittelamerikas am Werk zu sehen, gegen die man sich rüsten müsse, z. B. durch Ankauf Dänisch-Westindiens. I n solchen Befürchtungen konnte er sich zu recht grotesken Zukunftsphantasien versteigen: wie das kaiserliche Deutschland sich nach dem Krieg mit den Monarchien Rußland und Japan zur Aufteilung der Welt verbinden würde, bei der Deutschland der europäische Westen, Afrika, vielleicht beide Amerikas zufallen würden, den Russen Skandinavien, West- und Südasien, Japan, der Ferne Osten, der Pazifik und vielleicht die Westküste Nordamerikas 1 9 ). Aber trotz solcher abenteuerlicher Einfälle war er unter allen Beratern Wilsons der kühlste, vor moralischen Erwägungen und pazifistischen Anwandlungen am wenigsten gehemmte Machtpolitiker: f ü r den Augenblick genötigt, sich mit starken Worten und einschüchternden Gesten zu begnügen, aber unbeirrbar in seiner Gegnerschaft gegen alle Kompromisse und seiner Feindschaft gegen Deutschland, den großen Feind der freien Welt. Ruhiger und sachkundiger in seinem Urteil über die deutsche Politik war Oberst House, der ihre innere Zwiespältigkeit von seinem Besuch Berlins her kannte und weder den Reichskanzler noch das Auswärtige Amt für kriegerisch gestimmt hielt. Aber auch er war kein unbedingter Neutralist. Die amerikanische Regierung, meinte er, dürfe keine Schwäche zeigen, müsse die Möglichkeit eines Kriegsausbruchs fest ins Auge fassen und sich rechtzeitig dafür rüsten. Eine sehr entschiedene Sprache ihrer Diplomatie würde die deutsche Friedenspartei eher stärken; sollten die deutschen Militärs sich dagegen durchsetzen und es zum Bruch treiben, so könnte Amerikas Eintritt den Krieg recht wohl abkürzen, also von Nutzen sein. Unerträglich sei nur ein deutscher Sieg. Man sieht: obwohl im Sommer 1915 noch keine unmittelbare Kriegsgefahr bestand, hatte die deutsche Diplomatie allen Anlaß, auf D ä m p f u n g der Spannungen hinzuwirken. Graf Bernstorff hat sich von einer Preisgabe des U-Boot-Krieges auch einen positiven Gewinn versprochen: einen Sieg der amerikanischen Gruppen, die ein Verbot der Waffenausfuhr forderten und ein „Eingreifen Wilsons im Sinn des Friedens", d. h. amerikanischen Druck auf England, um die Aushungerungsblockade zu beseitigen und die „Freiheit der Meere" zu erzwingen sowie, davon ausgehend, eine große Aktion aller Neutralen zur Friedensvermittlung — also zum Verständigungsfrieden 20 ). Dies aber war, wie sich deutlich erkennen läßt, reine Illusion. Die Munitions- und Waffenausfuhr w a r ein integraler, an Bedeutung ständig zunehmender Teil der ungeheuren Exportsteigerung, die der Krieg den Arne-

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rikanem bescherte und die ihr Nationaleinkommen — nach einer argen Geschäftsflaute vor dem Krieg — jählings auf ein Mehrfaches brachte 21 ). Ein Versuch, sie zu verbieten, wäre schon am Widerstand mächtiger Interessentengruppen, aber auch wohl der anglophilen Mehrheit des Volkes gescheitert. Die Handelsbeschränkungen, welche die englischen Blockademaßnahmen den amerikanischen Exporteuren auferlegten, waren lästig, wurden immer lästiger, teilweise (wie die sogen, „schwarzen Listen" solcher Firmen, die des Handels mit Deutschland verdächtig waren, oder die Kontrolle amerikanischer Geschäftsbücher auf amerikanischem Boden) als demütigend und verletzend für das nationale Selbstgefühl empfunden und führten deshalb zu immer schärferen Protesten. Aber sie bedeuteten wirtschaftlich so gut wie nichts gegenüber dem ungeheuren Gewinn, den die Lieferanten aus ihren Kriegsgeschäften mit Frankreich und England zogen. Dagegen wurde die Gefahr warnungsloser Versenkung durch deutsche Tauchboote um so mehr als unerträglich empfunden, als die grundsätzliche Schonung der neutralen Schiffahrt den Amerikanern praktisch wenig nützte; denn ihre Reisen und Transporte vollzogen sich weit überwiegend auf englischen und französischen Schiffen. Vor allem: da England niemals daran dachte, freiwillig auf seine Seeblockade gegen Deutschland zu verzichten und die deutschfeindliche Allianz vorläufig fest entschlossen war, vor der eindeutigen militärischen Niederlage Deutschlands sich auf kein Friedensgespräch einzulassen, hätte Amerika, um den Hoffnungen und Erwartungen Bernstorffs zu entsprechen, Gewalt gegen seine englischen Freunde anwenden müssen. Dazu aber besaß es weder den Willen, noch, wie jedermann wußte, die militärische Macht; auch der Druck eines Waffenembargos (das aber praktisch nicht in Frage kam) hätte dazu nicht ausgereicht. Das alles ist der Berliner Politik erst nach und nach, vollständig wohl niemals klar geworden. Klar war im Sommer 1915 nur, daß der U-BootKrieg, statt England in seinen Zufuhren ernsthaft zu bedrohen, uns selbst in Gefahr einer wachsenden Verfeindung mit Amerika brachte und daß diese, auch ohne jetzt schon zum Kriege zu führen, unseren moralisch-politischen Kredit auf dem Kontinent, besonders auf dem Balkan, gefährlich zu erschüttern drohte. Also bestand Bethmann Hollweg darauf, daß unter allen Umständen in der Antwort auf Wilsons zweite Lusitania-Note deutliche Konzessionen gemacht werden mußten — wenn schon die völlige Einstellung des U-Boot-Krieges gegen die Flottenleitung und die öffentliche Meinung nicht durchzusetzen war. Das Ringen um diese Konzessionen war ein im

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höchsten Grade qualvoller Prozeß; denn mehr als eine Halbheit konnte (wie Bernstorff richtig sah) dabei nicht herauskommen. Wilson verlangte unbedingt den Schutz amerikanischer Menschenleben, sowohl auf neutralen Schiffen wie auf solchen unserer Feinde. Aber die U-Boote waren außerstande, jedes Handelsschiff erst auf amerikanische Passagiere oder Mannschaften zu durchsuchen, ehe sie es versenkten. Außerdem bot das Aussteigen der Passagiere in kleine Rettungsboote auf hoher See durchaus keine Sicherheit des Lebens. Diese Konzession war also praktisch undurchführbar, wie die Marineleitung durch das Gutachten sachkundiger U-Boot-Offiziere darlegen ließ. Auch die Schonung aller Passagierdampfer schlechthin (auch der kleineren) weckte Bedenken; denn sie konnten zu Munitions-, Waffen- und Truppentransporten verwendet werden, und viele Frachter nahmen auch Passagiere auf. Tatsächlich war allerdings die Gefahr f ü r amerikanische Reisende nicht ganz so groß, wie man in Amerika glaubte, weil ja den U-Boot-Kommandanten durch kaiserlichen Befehl vom 6. Juni das Versenken von großen Passagierdampfern überhaupt verboten war (s. S. 161). Aber dieser Befehl wurde, nicht zuletzt mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung in Deutschland, so streng geheimgehalten, daß selbst der Botschafter Graf Bernstorff bis Ende August nichts davon erfuhr. N u n bildete sich im Lauf des Sommers (wie schon früher erörtert) die Praxis der U-BootKommandanten heraus, daß sie, wenn irgend möglich, auf den Gebrauch der Torpedos (und damit auf den warnungslosen Angriff) verzichteten und statt dessen „nach Prisenordnung" verfuhren (freilich in stark abgekürztem Verfahren). Aber die Marineleitung, immer besorgt um die Sicherheit ihrer Boote und um die Ausnützung aller technischen Möglichkeiten, bestand hartnäckig darauf, daß ohne warnungslose Versenkung der U-Boot-Krieg praktisch nutzlos wäre und übertrieb noch die Gefahren, die den Tauchbooten durch Flaggenmißbrauch, U-Boot-Fallen und durch bewaffnete Handelsschiffe drohten 22 ). So scheiterten zunächst alle Bemühungen des Kanzlers, sich mit dem Admiralstabschef Bachmann und seinem Meister Tirpitz über eine irgendwie entgegenkommende Antwortnote an Wilson zu einigen. Schließlich f a n d man (mit Unterstützung des amerikanischen Botschafters Gerard 2 3 )) den Ausweg, den Amerikanern die unbehinderte Passage einer gewissen Gruppe besonders gekennzeichneter, vorher angesagter Passagierdampfer zwischen Amerika und England anzubieten mit der „zuversichtlichen H o f f nung" (nicht etwa: Bedingung!), daß sie keine Konterbande an Bord führen würden. Außerdem wurde zugesagt, daß „amerikanische Schiffe in der Aus-

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übung der legitimen Schiffahrt (also ohne Konterbande) nicht gehindert und das Leben amerikanischer Bürger auf neutralen (also nicht auf englischen) Schiffen nicht gefährdet werden solle" (Note vom 8. Juli). Nach Ansicht Gerards war damit ein praktisches Kompromiß gefunden, das recht wohl geeignet war, die politische Spannung zunächst zu überwinden und die Sicherheit amerikanischer Reisender ohne Preisgabe des U-BootKrieges einigermaßen zu garantieren. Innenpolitisch war die deutsche Note f ü r Bethmann insofern ein Erfolg, als sie auch seinen nationalistischen Gegnern ebenso klug wie fest erschien; denn sie vermied nicht nur jede Verurteilung der Lusitania-Katastrophe, wie sie Wilson gefordert hatte, sondern machte sogar mit starkem rhetorischen Pathos die englische Kriegführung dafür verantwortlich. Diese habe ja ihre Handelsschiffe angewiesen, gegen die U-Boote angriffsweise vorzugehen. H ä t t e also der deutsche U-BootFührer den Passagierdampfer gewarnt, so wäre sein U-Boot mit Sicherheit gerammt worden. Aber was der deutschen Öffentlichkeit gefiel, war f ü r Amerika die unglücklichste aller Antworten und machte die Wirkung des Kompromiß Vorschlages völlig zunichte. Denn Wilson mußte daraus entnehmen, daß die Deutschen offenbar fortfahren wollten, große Passagierdampfer britischer Staatsangehörigkeit, die nicht durch besondere Abreden geschützt wären, warnungslos zu versenken und vermutete, daß sie ihn selbst durch das vorgeschlagene Abkommen dazu bewegen wollten, indirekt eine so unmenschliche Art von Kriegführung als legitim anzuerkennen. N a türlich lehnte er das entrüstet ab (Note vom 21. Juli), so daß nun auch Gerards Kompromiß entfiel. Immerhin vermied er es auch jetzt, eine eindeutige Drohung auszusprechen, ja er lud die deutsche Regierung geradezu mit warmen Worten ein, mit ihm gemeinsam für die „Freiheit der Meere" zu kämpfen und erbot sich, als „gemeinsamer Freund" zwischen der britischen u n d der deutschen Regierung Abmachungen darüber zu vermitteln. Offensichtlich war er entschlossen, der deutschen „Friedenspartei" (wie Gerard und House das nannten) zu Hilfe zu kommen, zeigte sich aber auch beeindruckt davon, daß tatsächlich die warnungslosen Versenkungen in den zwei letzten Monaten so gut wie aufgehört hatten; so erklärte er sich ausdrücklich bereit, die jetzt von den U-Booten geübte, neue, vereinfachte Form des „Kreuzerkrieges", unter Rücksicht auf die technischen Probleme der neuen W a f f e , als legitim anzuerkennen. Es schien also, als suchte er Verständigung und wollte den Streit um die „Lusitania" (auch um die Entschädigungsfrage) zunächst nicht weiter verfolgen.

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Bethmann H o l l weg konnte aufatmen und das unvermeidliche Wutgeheul der deutschen Presse über Wilsons dritte Lusitania-Note sehr gelassen aufnehmen. Aber der Stein des Anstoßes, die grundsätzliche Meinungsdifferenz über den Lusitania-Fall, war keineswegs aus der Welt geschafft, und jeder neue Zwischenfall mit Passagierdampfern konnte die Empörung und das Mißtrauen drüben neu aufflammen lassen. Auch die Opposition der Admiräle w a r noch keineswegs überwunden, obwohl sich der Kanzler mit einem Eifer u m Verständigung und Zusammenarbeit mit ihnen bemühte, den man heute nur mit Verwunderung zur Kenntnis nimmt: so, als hätte er es mit gleichberechtigten Ministerkollegen zu tun, um deren Zustimmung man werben, j a bitten und flehen muß 2 4 ). Aber ihm lag viel daran, im Ausland nicht den Eindruck entstehen zu lassen, als ob die politische Reichsleitung, mit der Marine ständig uneins, in Fragen der Seekriegführung ohne Einfluß wäre 2 5 ). Vor allem: hinter diesen Militärs stand die geschlossene Front der U-BootEnthusiasten von rechts bis links, zur Opposition geformt von den Alldeutschen und den Rechtsparteien. Unter Führung der Abgeordneten Graf Westarp, Frh. v. Zedlitz, Bassermann und Spahn bestürmten sie den Kanzler mit Vorstellungen, gestützt auf Informationen, die man sich im Reichsmarineamt geholt hatte 2 6 ). Sie beherrschten in weitem U m f a n g die deutsche Presse und organisierten nationale Kundgebungen gegen jede Einschränkung des U-Boot-Krieges, an denen sich außer der deutschen Intelligenz besonders eifrig die großen Wirtschaftsverbände beteiligten. Diese Opposition wirkte sich sehr spürbar aus, als darüber verhandelt wurde, ob man von den in der dritten Lusitania-Note enthaltenen positiven Vorschlägen und Anerbietungen Wilsons Gebrauch machen wollte oder nicht. Den Anstoß zur Erörterung dieser Frage gab eine kluge Denkschrift des Reichsschatzsekretärs Helfferich vom 5. August, die einerseits auf die bösen finanziellen und wirtschaftlichen Auswirkungen eines Bruches mit Amerika hinwies, anderseits auf die von Wilson angebotene Möglichkeit deutschamerikanischer Zusammenarbeit im K a m p f um die „Freiheit der Meere". Wir sollten, meinte Helfferich, wenigstens vorläufig auf warnungslose Versenkungen verzichten und uns so lange auf die Form des Angriffs nach „Prisenordnung", mit der sich Wilson einverstanden erklärt hatte, beschränken, bis unsere L a g e auf dem Kontinent sich militärisch gefestigt und sich zugleich gezeigt hätte, ob der Präsident ernstlich bereit und wirklich fähig wäre, eine Erleichterung der deutschen Zufuhren von England zu erzwingen 2 7 ). Natürlich war der Kanzler (ebenso wie Admiral von Müller) mit diesem Vorschlag

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einverstanden. Aber es scheint, daß er aus Furcht vor den öffentlichen Protesten der U-Boot-Chauvinisten, die sofort (wahrscheinlich gestützt auf geheime Informationen des Reichsmarineamtes) in der nationalistischen Presse Lärm schlugen, nicht gewagt hat, ihn sogleich beim Kaiser zu unterstützen. Statt dessen versuchte er zunächst Tirpitz dafür zu gewinnen, von dem er vielleicht gewußt hat, daß ihm inzwischen (ähnlich wie dem Flottenchef Pohl 28 )) zweifelhaft geworden war, ob die bescheidenen Erfolge der U-Boote im Kampf gegen England wirklich das Risiko eines Bruchs mit Amerika lohnten. Aber wie hätte Tirpitz seine eigene Popularität aufs Spiel setzen sollen? Er war längst, wie die ganze Marineleitung, zum Gefangenen des von ihm selbst geschaffenen Mythos geworden. Wenn schon das Risiko des Handelskrieges an der englischen Westküste als zu groß erschiene, meinte er, sollte man unauffällig die U-Boot-Flotte in das Mittelmeer verlegen; auf keinen Fall wollte er an das Tabu der warnungslosen Versenkung gerührt wissen. Ehe eine Entscheidung darüber getroffen war, trat bereits ein neuer, höchst gefährlicher Zwischenfall ein: am 19. August wurde an der Südküste Irlands ein großer britischer Frachtdampfer mit Passagiereinrichtungen, die „Arabic", ohne Warnung durch Torpedoschuß versenkt, weil der U-BootKapitän den Charakter des Fahrzeuges als Passagierdampfer nicht erkannt und geglaubt hatte, es wolle sein Boot rammen. Dabei kamen 44 Menschen, darunter 2 Amerikaner, ums Leben 29 ). Der Vorfall zeigte handgreiflich, wie unsicher in Wahrheit alle nach dem Untergang der „Lusitania" getroffenen Maßnahmen zur Sicherung der Passagierdampfer und amerikanischen Menschenleben noch immer waren. O f f e n b a r gab es nur ein Mittel, so gefährlichen Zwischenfällen wirksam vorzubeugen: die von Helfferich geforderte Preisgabe von warnungslosen Versenkungen von Handelsschiffen überhaupt. Aber Näheres über den Vorgang der Versenkung erfuhr der Admiralstab erst nach der Rückkehr des U-Bootes in den Heimathafen, am 2. September. So lange wollte der Reichskanzler nicht warten. Er ließ dem Flottenkommando sofort das schon früher ergangene geheime Verbot zur warnungslosen Versenkung großer Passagierdampfer in Erinnerung bringen und versuchte in einer Besprechung, die unter Vorsitz des Kaisers am 26. August im Hauptquartier Pleß stattfand 3 0 ), eine Erweiterung dieses Befehles zu erreichen: kein Passagierdampfer, also auch kein kleiner, sollte mehr ohne Warnung und vorheriges Aussteigen der Passagiere und Mannschaften in Rettungsboote versenkt werden. Diesen Befehl wollte er der amerikanischen Regierung sofort mitteilen lassen, außerdem die Entscheidung des Lusitania-

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Falles durch ein Schiedsgericht anbieten und Wilson bitten, die von ihm angebotenen Schritte in London zur Milderung der Blockade zu unternehmen. Natürlich stieß er auf den erbitterten Widerspruch Tirpitz' und Bachmanns gegen ein solches „Schwächezeichen" und gegen jede Desavouierung der bisherigen deutschen Kampfmethoden, aber auch gegen ein Drängen auf Rückkehr der Briten zur Londoner Seerechtsdeklaration. Von ihr erwartete Bachmann keinen Vorteil für uns, wohl aber eine Schwächung unseres Rechtes zum U-Boot-Krieg. Der Kanzler wurde von Falkenhayn sehr entschieden unterstützt. Dieser erklärte, auf jeden Fall müsse der Bruch mit Amerika vermieden werden; eine Einschränkung oder gar Einstellung des U-BootKrieges müsse man um dieses Zweckes willen in Kauf nehmen; übrigens hätten die bisherigen 6 Monate U-Boot-Krieg England nicht so geschädigt, daß es zum Nachgeben bereit wäre, und dies sei auch nicht zu erhoffen. Trotz dieser entschiedenen Äußerung wurde zunächst eine Entscheidung nicht erreicht, da der Kaiser sich wieder unsicher zeigte und auch die Gefolgsleute Bethmanns (Gesandter von Treutier, Admiral von Müller) sich nur zögernd und vorsichtig äußerten. Der Kanzler war nachher sehr darüber erregt und erklärte, er könne nicht dauernd „auf einem Vulkan wandeln" wegen immer neuer U-Boot-Krisen. Man habe ihn in der Besprechung von allen Seiten „eingekreist", er werde aber nicht kapitulieren wie die eingekreisten Russen, und diese „Schlappe" nicht auf sich sitzen lassen. Die Marineopposition rühme sich bereits Amerikanern gegenüber, das Auswärtige Amt könne machen was es wolle, die Marine täte doch, was sie für richtig hielte. Er werde also Pleß nicht verlassen, ehe der Kaiser seinen Anträgen zugestimmt hätte. Allenfalls sei er bereit, den neuen Befehl in Washington nur „vertraulich" mitteilen zu lassen. Es handle sich hier überhaupt nicht um eine militärische, sondern um eine politische Frage, in die der Admiralstab nichts hineinzureden habe. Man sieht: es war einer der seltenen Momente, in denen der Machtwille — und mehr noch das Verantwortungsbewußtsein — des sonst so schwerfälligbedachtsamen Staatsmannes ihn zu offenem Zorn aufschäumen ließ. Ohne Beiziehung der Admiräle setzte er dann in einer Audienz unter vier Augen (mit nachfolgendem Depeschenwechsel von Berlin aus) beim Kaiser seinen Willen durch. A m 27. August erhielt der Botschafter Graf Bernstorff die telegraphische Weisung, der amerikanischen Regierung mitzuteilen, und zwar vertraulich, die U-Boot-Kommandanten hätten Befehl, Passagierdampfer (aller Größen)

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nur nach vorhergehender Warnung und Sicherung der Menschenleben zu versenken. Der entsprechende kaiserliche Befehl an die Flotte erging drei Tage später, doch hatte vorher schon der Admiralstab dem Hochseechef „empfohlen", vorläufig keine weiteren U-Boote einzusetzen, und am 31. stellte der Kaiser zur „Erwägung" der Flottenleitung, bis auf weiteres keine Boote mehr an Englands Westküste zu stationieren. Admiral Pohls Widerspruch wurde scharf zurückgewiesen, seine Abschiedsforderung wagte von Müller dem Monarchen nicht einmal vorzutragen. Ebenso erfolglos blieb die Opposition des Admiralstabschefs Bachmann. Ein langes Immediatschreiben, in dem er gegen Bethmanns Vorgehen protestierte, wurde damit beantwortet, daß er von seinem Posten abgelöst und durch Admiral von Holtzendorff ersetzt wurde, der Bethmanns Ansichten näher stand und als Gegner Tirpitz' galt. Dieser selbst forderte zum zweiten Mal seinen Abschied, erreichte damit aber nur, daß ihm sein bisheriger Auftrag, als regelmäßiger Berater der Krone in marinepolitischen Fragen mitzuwirken, entzogen und er (wenigstens zunächst) auf seine Verwaltungstätigkeit als Chef des Reichsmarineamtes beschränkt wurde. Der Sieg Bethmanns über die Admiräle war also vollständig. Freilich war mit Sicherheit vorauszusehen, daß Tirpitz nun noch leidenschaftlicher als bisher die Opposition gegen den Kanzler schüren würde 31 ). Immerhin: zunächst war der Weg frei für eine neue Flottenpolitik. Sehr bald nach der Abweisung Tirpitz' legte Bethmann dem Kaiser ein neues Memorandum Helfferichs mit einer von Bachmann stammenden Gegendenkschrift des Admiralstabes zur Entscheidung vor, und Wilhelm II. stimmte Helfferichs uns schon bekannten Vorschlägen in vollem Umfang zu. Der Admiralstab erhielt den Auftrag, zu melden, wieviele Handelsschiffe denn nun eigentlich seit dem 1. Juli ohne Warnung, wieviele nach Anhalten und Durchsuchen versenkt wären. Eine für die Marinebehörde (wir wissen es schon) recht heikle Frage! Sie konnte Überraschungen an den Tag bringen, scheint aber nicht weiter verfolgt zu sein 32 ) — vielleicht deshalb nicht, weil der neue Admiralstabschef Holtzendorff zunächst einen völligen Kurswechsel vornahm. Der U-Boot-Krieg, meinte er bei Antritt seines Amtes, habe seinen Zweck bisher völlig verfehlt. So bemühte er sich nicht nur um klarere und präzisere Weisungen an die U-Boot-Kommandanten, sondern erließ am 18. September auf eigene Verantwortung (ohne Kaiser und Kanzler davon in Kenntnis zu setzen) einen Geheimbefehl, „in den nächsten Wochen" (d. h. während der fortdauernden Krise um den

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Arabic-Fall) an der englischen Westküste und im Kanal „weder U-BootKrieg noch Handelskrieg mit U-Booten gemäß Prisenordnung zu führen. In der Nordsee dürfe (nur) Handelskrieg gemäß Prisenordnung geführt werden". Damit war die Gefahr eines neuen, unerwarteten Zwischenfalles mit amerikanischen Schiffen tatsächlich ausgeschlossen und Helfferichs Vorschlag praktisch durchgeführt. Die diplomatischen Verhandlungen konnten nun in Ruhe zu Ende gebracht werden. Graf Bernstorff gelang es denn auch im Laufe des September, die amerikanische Regierung und Öffentlichkeit zu beruhigen. Endgültig allerdings erst dann, als er Entschädigungen für den Verlust amerikanischer Menschenleben anbieten und eine förmliche Mißbilligung des Verhaltens des U-BootKommandanten, der die Arabic versenkt hatte, aussprechen durfte. Bis dahin ging es nicht ohne sehr massive amerikanische Drohungen ab. Der Botschafter hat sich davon stark beeindrucken lassen und mehrfach gemeldet, jeden Augenblick könnte der diplomatische Bruch eintreten, und ganz Amerika sei tief erbittert. In Wirklichkeit war sich aber Staatssekretär Lansing, wie er in seinen Memoiren selbst erzählt 33 ), klar darüber, daß der Arabic-Fall noch weniger als die Lusitania-Affäre geeignet war, einen Kriegsfall daraus zu machen, da er durchaus keine kriegerische Stimmung in Amerika weckte, und daß der Präsident ihn selbst, den Staatssekretär, wohl entlassen würde, wenn er etwa die Deutschen durch sein gewollt brutales Auftreten in den Konflikt hineintriebe. Aber er wußte auch genau, wie Graf Bernstorff selbst über den U-Boot-Krieg dachte, und erreichte ohne viel Mühe sein Ziel. Der Botschafter überschritt zweimal seine Instruktionen, um nur ja die Amerikaner zu beruhigen: er gab die kaiserliche Weisung an die U-Boot-Führer nicht „vertraulich" (wie es ihm um der deutschen Öffentlichkeit willen vorgeschrieben war), sondern sogleich öffentlich bekannt, und er redigierte die ihm zuletzt erteilte Instruktion vorsichtig so um, daß sie eine direkte, nicht bloß verhüllte Mißbilligung des Torpedoangriffs auf die Arabic enthielt. So haben beide, Lansing und Bernstorff, ihre formelle Ermächtigung überschritten, um möglichst rasch zu einem Ausgleich zu kommen. Der U-Boot-Krieg war damit, nach endlosen Bemühungen, in ein Stadium stark verminderter Gefährlichkeit gebracht. Der von Lansing erneut vorgebrachte Wunsch der Amerikaner, ihn ganz in den Stil des „Kreuzerkrieges" zu überführen, war allerdings nur vorläufig und nur für das Hauptgefah-

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rengebiet erfüllt, der Streit um die „Lusitania" nur vertagt, noch nicht bereinigt. Immerhin: der „Vulkan" hatte sich zunächst einmal geschlossen — auf wie lange, das mußte die nächste Zukunft zeigen.

Dritter

Abschnitt

Amerikas Heraustreten aus der Isolation und die zweite U-Boot-Krise Winter 1915/16 Die Herbst- und Wintermonate 1915/16 brachten, obwohl der U-BootKrieg zunächst völlig abgedrosselt war, kein Abflauen, sondern eine Verschärfung des Kriegswillens auf Seiten der Westmächte. Das Scheitern der großen Durchbruchsversuche im Artois und der Champagne (s. o. Kap. 3) hat die Engländer so wenig entmutigt, daß sie nun erst recht daran gingen, aufzurüsten. Im Januar 1916 wurde die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, zunächst für Unverheiratete, seit Mai für alle jungen Männer 1 ). Eine große englische Rüstungsindustrie wurde durch Lloyd George aufgebaut, die Blokkade gegen den Handel mit Deutschland immer weiter verschärft, ungeachtet aller amerikanischen Proteste und Vermittlungsversuche, im Februar 1916 ein eigenes Blockadeministerium geschaffen und durch den rücksichtslosen Aktivisten Lord Robert Cecil besetzt. Trotzdem hörten die Klagen der rechtsradikalen Chauvinisten niemals auf, die Regierung führe ihren Blokkadekrieg nicht schonungslos genug. Das liberale Kriegskabinett Asquith hatte schon im Mai 1915 einzelne Konservative aufnehmen müssen, um sich an der Macht zu behaupten, und der im Grunde gemäßigte Grey mußte sehr vorsichtig operieren, um sich nicht durch seine Verhandlungen mit House zu kompromittieren; denn auf die Amerikaner mit ihren ewigen Klagen über Verletzung der Neutralitätsrechte und ihre pazifistischen Moralpredigten blickten die britischen Chauvinisten mit kühler Verachtung herab. „Hinter dem Geklapper der Schreibmaschine des Präsidenten", hat Lloyd George später geschrieben, „verbarg sich kein tödliches Gewitter." Diese Neutralen, meinte er, wollen nicht mittun bei der Sicherung der Freiheit, aber gute Geschäfte machen 2 ). Präsident Wilson und sein Berater House empfanden mehr und mehr die Gefahr, durch ihre ständig wiederholten und immer vergeblichen Bemühungen, bald die englische Blockade, bald den deutschen U-Boot-Krieg

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abzustoppen, zuletzt allen moralischen Kredit zu verlieren. Am Ende des Krieges, gestand sich Wilson insgeheim, würde Amerika ohne Freund, vielleicht aber durch irgendeinen U-Boot-Konflikt wider Willen in den Krieg hineingerissen und dann gezwungen sein, ihn als bloßen „Rachekrieg" durchzuführen, statt in der Rolle des Schiedsrichters dem unglücklichen Europa zu einer gerechten und dauerhaften Friedensordnung, der Welt zu einer besseren Organisation des Mächtesystems zu verhelfen 3 ). Aus solchen Erwägungen entsprang im Herbst 1915 sein Entschluß, den Ratschlägen Houses folgend seine Politik der unbedingten Neutralität, wenn nötig, fahren zu lassen, sein Land aus der traditionellen Isolation herauszuführen und aktiv in das Kriegsgeschehen einzugreifen. Nicht so freilich, wie sich Lansing das dachte und wünschte: durch einfachen Ubertritt in das Lager der Kriegsgegner Deutschlands, um deren Sieg zu beschleunigen; wohl aber dadurch, daß er den Kämpfenden die Berufung eines Kongresses vorschlug, der einen „vernünftigen", d. h. gemäßigten Frieden aushandeln sollte mit der Ankündigung, daß Amerika derjenigen Seite, die sich dagegen sträuben und zur Wehr setzen würde, den Krieg erklären wolle. Welche Seite das sein würde, sollte durch Verhandlungen in Berlin, Paris und London geklärt werden. Das seltsam Inkonsequente dieses Plans aber war, daß House und Wilson keinen Augenblick daran dachten, sich gegebenenfalls auf die deutsche Seite gegen ihre englischen Freunde zu stellen, sondern von vornherein deren Partei zu nehmen entschlossen waren. Gewiß: sie wollten keinen Gewalt- und Eroberungsfrieden französischen oder russischen Stils durchführen helfen, sondern wünschten der relativ gemäßigten Politik Greys zu H i l f e zu kommen; das englische Kabinett, hofften sie, würde sich durch das Angebot amerikanischer Hilfeleistung verlocken lassen, nicht auf dem Durchkämpfen des Krieges bis zum bitteren Ende zu bestehen, sondern jetzt schon in Friedensverhandlungen auf der Basis englisch-amerikanischer Vorschläge einzuwilligen, und es würde imstande sein, auch seine Verbündeten zu einem solchen Schritt zu bringen. Die Deutschen aber sollten nicht durch Locken, sondern durch Drohen dahin gebracht werden, sich diesen Vorschlägen zu fügen. Das Ganze lief also praktisch auf eine Unterwerfung Deutschlands unter dem Willen seiner Gegner mit amerikanischer Hilfe hinaus — nur freilich in der Form eines Verhandlungs-, nicht eines Diktatfriedens und unter Preisgabe extremer Kriegsziele auf beiden Seiten. Das eigentliche — zunächst einzige — Kriegsziel Wilsons war, die Welt vor immer neuen Kriegen, d. h. vor neuen Anfällen des deutschen Militarismus (so verstand er es) zu sichern: vor allem

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durch Abrüstung und Völkerbund, den er jetzt als amerikanisches Programm von Grey übernahm und verkündete. Auf alle Fälle: es sollte versucht werden, den Krieg abzubrechen, ehe er zu Ende gekämpft war — die einzige Möglichkeit, glaubten Wilson und House, zu einem gemäßigten Friedensschluß zu kommen. Aber gab es solche Möglichkeiten? Den Diplomaten der Westmächte versicherte Oberst House, den Wilson im J a n u a r auf eine zweite Europareise schickte, selbstverständlich würde Deutschland ablehnen, sie könnten also mit Sicherheit auf Amerikas Kriegseintritt auf ihrer Seite rechnen. Als G r a f Bernstorff, eingeschüchtert durch neue drohende Schritte Lansings 4 ), dem Obersten vor dessen Abreise versicherte, er werde auch in Berlin willkommen sein, war das diesem eher beunruhigend als erfreulich: wenn die Deutschen sich entgegenkommend zeigten, meinte er, so könnte das die amerikanische Diplomatie ihren britischen Freunden gegenüber in Verlegenheit bringen. Es kam ihm also im Grunde nur auf die Haltung der Alliierten an. Immerhin hat er, zu seiner Orientierung, Ende Januar auch Berlin aufgesucht und dort mit Bethmann, J a g o w , Zimmermann und Solf lange U n terhaltungen geführt. Irgendeinen Vorschlag zu Friedensverhandlungen hat er dabei nicht vorgebracht, und aus England (wo er zunächst auf viel kühle Reserve gestoßen war) konnte er auch nichts als allgemeine Eindrücke berichten. Diese aber lauteten dahin, das britische Kabinett sei geteilter Meinung; gegenwärtig jedoch „erscheine der Entente ein Frieden unmöglich, weil die Deutschen aufgrund der bestehenden militärischen L a g e Forderungen stellen würden, die die Entente, da sie nicht besiegt sei, nicht erfüllen könne". D a s konnte ebensowohl als Abwehr deutscher Anerbietungen (als hoffnungslos) wie als Aufforderung zu einer Art von Kapitulation und Bitte um Frieden verstanden werden. Was sollte Bethmann demgegenüber anders tun als versichern, er habe von jeher ein gutes Verhältnis zu England und den Vereinigten Staaten gesucht, bedaure tief den Konflikt mit Belgien, dessen N e u tralität er keineswegs so leichten Herzens verletzt habe, wie man in London glaube, wünsche sehr die Wiederherstellung des Friedens, müsse es aber ablehnen, darum förmlich zu „bitten", da j a Deutschland nicht besiegt sei. Er ging noch einen Schritt weiter und sagte, für uns gehöre zu einem „dauerhaften Frieden" die Sicherheit, nicht wieder von Belgien und Polen aus bedroht zu werden. Nach Houses Bericht erklärte er sich aber bereit, Frankreich und Belgien zu räumen, wenn Frankreich Kriegsentschädigung zahle — was der Amerikaner sofort als unannehmbar abwies, obwohl er begriff,

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daß darin schon ein starkes Entgegenkommen seines Partners lag. In der T a t : dieser hätte unmöglich noch weiter gehen können, ohne sich in seiner politischen Stellung — mitten in einer neuen Krise wegen der U-BootFrage — schwer zu gefährden 5 ). Sieben Wochen später, als es ihm gelungen war, Tirpitz zu stürzen und die Erklärung des unbeschränkten U-BootKrieges nodi einmal abzuwenden, hat er die amerikanische Regierung durch ihren Berliner Botschafter geradezu bedrängt, ihre Friedensvermittlung endlich aufzunehmen unter Appell an ihre humanitäre Gesinnung und Hinweis auf das schreckliche Gemetzel von Verdun. Er bot sogar die Entsendung eines Spezialgesandten zu diesem Zweck nach Washington an (18. März). Als deutsche Forderung nannte er nur die Rückgabe aller Kolonien sowie die Zahlung einer Entschädigung f ü r die Räumung Nordfrankreichs. Uber Belgien drückte er sich unbestimmt aus, deutete aber doch an, daß er bereit wäre, „das Meiste d a v o n " aufzugeben, und nur f ü r einige Zeit Garnisonen zurücklassen wollte — Forderungen, die der Amerikaner (nach Bethmanns Darstellung) durchaus annehmbar fand. Vom Inhalt dieses vertraulichen Gesprächs gelangten sofort Nachrichten über Washington in die englische Presse und zwangen den Kanzler, ihre Wiedergabe in deutschen Blättern zu verhindern und ein Dementi vorzubereiten, um neuen Stürmen der Entrüstung in Deutschland vorzukommen 6 ). Houses Gesamteindruck war ähnlich wie im Vorjahr, daß der Zwiespalt zwischen Zivil und Militär die Entscheidungsfreiheit der deutschen Politik stark einenge, aber daß der Kanzler (den er als „wohlmeinend, aber mit beschränkten Fähigkeiten" beurteilte) sich wohl nicht mehr lange auf seinem Posten würde halten können, falls nicht Amerika etwas Wirksames gegen die englische Blockade unternähme. Er sah schon den unbeschränkten U-Boot-Krieg kommen und war darum doppelt eifrig bemüht, die Alliierten f ü r seinen Friedensplan zu gewinnen, ehe es zu spät wäre. Aber in Paris stieß er auch diesmal auf kühle Reserve: Briand und der Generalsekretär des Q u a i d'Orsay, Jules Cambon, nahmen das Angebot amerikanischer H i l f e für den Fall großer militärischer Mißerfolge mit Höflichkeit entgegen, dachten aber nicht daran, ihre militärischen und politischen Pläne davon bestimmen zu lassen, sondern zeigten denselben unentwegten Siegeswillen (very high spirits), den H o u s e schon erwartet hatte 7 ). O b diese Siegeszuversicht bei Briand ebenso echt war, wie bei dem Chauvinisten Poincaré, war den englischen Ministern, die über Frankreichs militärische Leistungen und Zukunftsaussichten sehr nüchtern urteilten, einigermaßen zweifelhaft 8 ). Aber in Paris

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war die Kriegsleidenschaft in der Kammer längst allmächtig geworden und ließ jedes Reden von Friedensschluß als verbrecherischen „Defaitismus" erscheinen. Infolgedessen wurde Houses Angebot amerikanischer Friedensvermittlung durch Cambon in Gegenwart Briands als undurchführbar glatt abgewiesen. Allerdings war der Oberst auch so eifrig bemüht, das Vertrauen der Franzosen f ü r sich und seinen Präsidenten zu gewinnen, daß seine Gesprächspartner am Schluß der Unterredungen den Eindruck hatten (und ihn an die französischen Auslandsvertreter weitergaben), es sei mit Sicherheit auf Amerikas Kriegseintritt an der Seite der Alliierten noch vor Ende des Jahres (wegen der U-Boot-Frage) zu rechnen. Immer wieder beteuerte House ihnen, der Präsident wünsche einen für sie günstigen Kriegsausgang und wolle ihnen dazu helfen, diplomatisch oder auch militärisch, sobald es ihnen nötig oder nützlich erschiene. Auch Elsaß-Lothringen sollten sie haben, doch solle Deutschland dafür in Kleinasien entschädigt werden; denn die Türkei müsse natürlich verschwinden. Was hätte die französischen Staatsmänner bei solchem Eifer ihres amerikanischen Freundes veranlassen sollen, sich auf einen Verständigungsfrieden einzulassen, der ihnen als voreilig, überflüssig und unerwünscht erschien? Je ungünstiger der Krieg für die Alliierten verliefe, beteuerte House, um so stärker würde die Freundschaft Amerikas sein. Nicht etwa enttäuscht über seinen Mißerfolg in Paris, sondern hochbeglückt darüber, so viel Vertrauen bei den französischen Machthabern gefunden zu haben, fuhr House nach London zurück, wo er sich wiederum in seltsame Illusionen verstrickte. Im Grunde nahm niemand dort seine Mission ganz ernst — am wenigsten der amerikanische Botschafter Page, der ihn gleich beim Empfang mit Vorwürfen über seine und des Präsidenten naive Illusionspolitik überschüttete und sich von allen seinen Gesprächen mit englischen Ministern streng fernhielt. Immerhin waren nicht alle Kabinettsmitglieder einem Verständigungsfrieden grundsätzlich abgeneigt. Grey hätte ehrlich gewünscht, der Massenschlächterei bald ein Ende zu machen, der Schatzkanzler McKenna, beraten von I. M. Keynes als Experten, fürchtete eine Katastrophe der britischen Finanzen bei langer Kriegsdauer, der Handelsminister Runciman empfand sehr schwer die U-Boot-Gefahr. Aber alle waren ebenso mißtrauisch gegen die Bereitschaft Wilsons, des Pazifisten, sich tatsächlich am Krieg zu beteiligen, wie besorgt über die Folgen eines Eingehens auf Friedensverhandlungen in diesem Augenblick, in dem Deutsch-

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land mit einer großen Offensive zu Land und zu Wasser drohte. Grey sagte, man würde ihm die Fenster einwerfen, wenn er sich darauf einließe, und noch mehr fürchtete er f ü r den Zusammenhalt der Kriegsallianz. Schwerlich hätte er sich zu Verhandlungen mit House überhaupt bereit gefunden, wenn er nicht gefürchtet hätte, durch völlige Ablehnung den Präsidenten tief zu verstimmen. Es ist während des Krieges wohl immer das größte Hindernis eines Verständigungsfriedens gewesen, daß alle kriegführenden Regierungen sich instinktiv bewußt waren: kam es erst einmal zu Verhandlungen am runden Tisch, so würde keine Macht der Welt mehr imstande sein, ihre Soldaten zum zweiten Mal in den Feuerhagel hineinzubringen und zu neuer, blutiger Offensive zu entflammen, bloß um irgendwelche Einzelgewinne, Grenzveränderungen u. dgl. zu erkämpfen. Vor der endgültigen Vernichtung des „deutschen Militarismus" aber, der nun einmal nach allgemeiner Überzeugung die Sicherheit der „freien Welt" bedrohte, wollten weder Engländer noch Franzosen ein Ende machen, nachdem schon so viel Blut geflossen war. In den öffentlichen Kundgebungen britischer Staatsmänner wurde das auch immer wieder eindeutig erklärt 9 ), und die Presse (auch die liberale) malte mit Vorliebe aus, wie die „Sicherung der freien Welt" praktisch erreicht werden sollte: durch Herabdrücken Deutschlands zu einer Macht zweiten Ranges und Zerstückelung Österreich-Ungarns und der Türkei. Houses allgemeine Zukunftsperspektiven wie Völkerbund, allgemeine Abrüstung und Freiheit der Meere verfingen also in London nicht mehr. Er mußte sich (vor allem auf Drängen Lloyd Georges) dazu herbeilassen, die amerikanische Politik nun doch in die territorialen Streitfragen der europäischen Mächte zu verstricken. Er hat also gemeinsam mit Grey eine A r t von Kriegszielprogramm aufgesetzt, das als Minimum der an die Mittelmächte zu stellenden Anforderungen gedacht war. Das geschah allerdings in einer sehr losen, zu nichts verpflichtenden Form. Schriftlich wurde von Grey nur festgestellt, daß House persönlich von der Friedenskonferenz „für die Alliierten nicht ungünstige" Friedensbedingungen erwarte. Als solche wurden aufgezählt: Wiederherstellung Belgiens, Rückgabe Elsaß-Lothringens an Frankreich gegen Entschädigung Deutschlands durch außereuropäische Besitzungen und ein „Zugang zum Meer" f ü r Rußland. In mündlichen Unterhaltungen eines engeren Kreises von Kabinettsmitgliedern (am 14. Februar) wurden noch weitere Bedingungen genannt und von House als „vernünftig" anerkannt:

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Wiederherstellung Serbiens, Unabhängigkeit Polens, Abtretung italienisch sprechender Gebiete Österreichs an Italien, Abschaffung des Wettrüstens, Garantie gegen eine neue „militärische Aggression". Die von Grey mit Assistenz Houses am 22. Februar angefertigte Niederschrift stellte weiter fest, nach Houses Angabe sei der Präsident bereit, zu einer Friedenskonferenz einzuladen, sobald England und Frankreich den Moment für gekommen hielten. Sollten sie diesen Vorschlag annehmen, Deutschland aber sich weigern, oder sollte es sich auf der Konferenz „unvernünftig" zeigen, so würden die Vereinigten Staaten „wahrscheinlich" in den Krieg gegen Deutschland eintreten. Wenn dagegen die Alliierten die Annahme dieses Angebotes hinauszögerten und der Krieg für sie so ungünstig verliefe, daß amerikanische Hilfe nutzlos würde, dann würden „wahrscheinlich" die Vereinigten Staaten sich an Europa desinteressieren 10 ). Dieses formlose „Memorandum" w a r alles andere als ein bindender Staatsvertrag, und die abschließende Drohung an die Alliierten kaum mehr als eine bloße Redensart. Grey hat es offensichtlich niemals ganz ernst genommen. Er (ebenso wie andere britische und französische Diplomaten) betrachtete House als einen etwas naiven amerikanischen Wahlmacher, der seinem Präsidenten für seine Wiederwahl bessere Chancen verschaffen wollte, indem er ihn als „peacemaker" erscheinen ließ. Jules Cambon hat über das „Memorandum" nur verächtlich gelacht. Lloyd George hat in seinen Memoiren behauptet, es habe sein politisches Gewicht erst dadurch verloren, daß Wilson ihm zwar sogleich zustimmte, aber ein weiteres „wahrscheinlich" (probably) einschob. Das findet in den Quellen keine Bestätigung: diese Veränderung hat in den Beratungen in London überhaupt keine Rolle gespielt. Man war dort keinen Augenblick bereit, sich auf eine von Wilson einberufene Friedenskonferenz einzulassen. Erst in der späteren Kriegsliteratur ist das „Grey-House-Memorandum" zum Rang einer ernsthaften Friedensmöglichkeit erhoben worden. Grey warf in seinen Memoiren den Deutschen vor, sie hätten damals eine günstige Friedenschance versäumt, zumal im Vergleich mit dem Diktatfrieden von Versailles 11 ). Aber er vergißt nicht nur, daß diese Chance der deutschen Regierung niemals zur Kenntnis gekommen ist, sondern daß sie praktisch überhaupt niemals bestanden hat. Denn vergeblich haben Wilson und House in den folgenden vier Monaten darauf gewartet, daß die englische und französische Regierung endlich den Zeitpunkt für geeignet erklären und eine amerikanische Intervention erbitten würden. Immer wieder haben sie vergebens darauf gedrängt,

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Wilson sogar mit H i l f e ermutigender öffentlicher Reden. Weder hat das englische Kabinett jenem „Memorandum" jemals formell zugestimmt, noch hat Grey auch nur daran gedacht, es den Franzosen und Russen zur Annahme zu empfehlen; er gab es nur nach Paris zur Kenntnis weiter. Er selbst erklärt, man habe den schwer kämpfenden Bundesgenossen die Initiative für Friedensgespräche ganz überlassen müssen. L l o y d George hat sich später schwer darüber geärgert, daß man sich die amerikanische Kriegshilfe nicht schon 1916 durch Annahme des Angebots sicherte und hat sowohl Grey darüber Vorwürfe gemacht wie Wilson (wegen seines „ p r o b a b l y " anstelle einer festen Zusage). Aber er selbst hat als führender Politiker nichts dazu getan, daß der von dem Präsidenten erwartete Schritt geschah — und warum nicht? Letztlich gibt es für die Haltung des britischen Kabinetts doch wohl nur eine Erklärung: man ließ die Dinge treiben, weil man wußte, die kontinentalen Alliierten wollten keinen Frieden der Verständigung, sie wollten überhaupt kein Friedensgespräch, solange ausschließlich Deutschland militärische Siege erfochten hatte und seine Heere so tief in Feindesland standen; man wollte zuerst Siege erfechten, und zwar aus eigener K r a f t . Von der amerikanischen Kriegshilfe war auf lange Sicht j a doch nichts zu erwarten (wie übrigens auch H o u s e mit Ingrimm anerkannte), und man hoffte schon vorher (wenn die „Kitchener-Armee" endlich auf französischem Boden stand, also das Ungewitter der Somme-Schlacht losdonnern konnte), mit den Deutschen fertig zu werden. Auf jeden Fall wollte man sich von Wilson nicht dreinreden lassen und fürchtete, dieser Pazifist und Versöhnungspolitiker würde den Alliierten nur ihre Siegesbeute schmälern. Wollten die Amerikaner mittun bei der Sicherung der freien Welt (wie man es als ihre moralische Pflicht betrachtete), warum dann erst Friedensangebote und Friedenskonferenzen? Bot ihnen nicht der seit März wieder verschärfte U-Boot-Krieg Anlaß genug loszuschlagen? D a s hat man der amerikanischen Regierung denn auch mehrfach nahegelegt, und ihre england-hörigen Diplomaten wie Page waren derselben Meinung 1 2 ). Rückblickend kann man das Scheitern dieser zweiten Mission Houses nur als tieftragisch empfinden. Es zeigt anschaulich, wie hoffnungslos jedes Bemühen ist, einen einmal losgebrochenen modernen Volkskrieg durch Mittel der Diplomatie wieder abzustoppen, ehe er sich völlig ausgerast hat. Wir wissen schon, daß die leitenden Staatsmänner Deutschlands, aber auch der Kaiser und sein Generalstabschef, weit entfernt von Siegesgewißheit trotz aller Schlachtenerfolge, nichts dringender ersehnten als einen baldigen Ver-

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ständigungsfrieden, wenn er nur zu eben erträglichen Bedingungen zu haben war. Aber selbst dann, wenn sie imstande gewesen wären, die deutschen Annexionisten und Chauvinisten im Zaum zu halten und einen „Verzichtfrieden", wie ihn House und Grey sich dachten, als Verhandlungsgrundlage gelten zu lassen: Elsaß-Lothringen hätten sie vor der totalen, offenkundigen Niederlage Deutschlands nicht herausgeben können. Auch Grey hat das gewußt 13 ); aber er wußte auch, daß Frankreich auf diesen Triumph niemals verzichten würde, ehe seine totale Niederlage besiegelt war. So gab es zuletzt doch nichts als Weiterkämpfen bis zum bitteren Ende — mit oder ohne Eingreifen der Amerikaner. Es mußten noch weitere Millionen von Menschenleben geopfert werden. Für Deutschland aber war, wie man sieht, das Risiko des U-Boot-Krieges seit dem Vorjahr sehr viel größer geworden. Jeder neue Zwischenfall konnte jetzt unmittelbar den Krieg mit Amerika auslösen. U m so aufregender war f ü r den Reichskanzler die Tatsache, daß er um die Jahreswende 1915/16 die bisherige Stütze durch den Generalstabschef im Kampf mit den Admirälen verlor. Falkenhayn war am Ende des siegreichen Balkanfeldzugs in sichtlicher Verlegenheit, was nun geschehen könnte, um den Krieg noch im Lauf des neuen Jahres zu einem leidlichen Ende zu bringen. Das Ergebnis langer Erwägungen und Beratungen 14 ) faßte er in den Weihnachtstagen in einer großen Denkschrift zusammen. Sie urteilt reichlich optimistisch über die inneren Zustände unserer kontinentalen Gegner: sowohl in Italien wie in Rußland erwartete Falkenhayn über kurz oder lang einen Zusammenbruch des Kriegswillens und der Widerstandsfähigkeit, glaubt aber auch, daß Frankreich „in seinen Leistungen bis nahe an die Grenze des Erträglichen gelangt ist". N u r in England sieht er den K a m p f willen ungebrochen, die menschlichen und materiellen Reserven noch kaum angebrochen. Hier also müßte nach seiner Meinung der Hauptstoß unserer Offensive angesetzt werden. Da sie aber gegen die flandrische Heeresfront der Briten keinen militärisch und politisch entscheidenden Erfolg verspricht, wie der Generalstabschef mit einleuchtenden Argumenten darlegt, bleibt nichts übrig als der unbeschränkte U-Boot-Krieg, von dem der Admiralstab „bestimmt zusagt", daß er England „innerhalb des Jahres 1916 zum Einlenken bringen m u ß " . Erfüllt sich diese Voraussage, so ist auch der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten nicht mehr allzu wichtig. Vielleicht läßt er sich auf diplomatischem Wege verhindern oder hinausschieben. In

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jedem Fall kann er militärisch erst spät wirksam werden. Von seiner Wirkung auf Italien, die Balkanstaaten, Holland und Dänemark, die Falkenhayn 1915 so sehr gefürchtet hatte, ist — nach siegreicher Beendigung des Serbenfeldzugs — keine Rede mehr. Im Rückblick von heute her erscheint uns die große Denkschrift Falkenhayns trotz ihres sehr zuversichtlichen Tones (der nun einmal zum Stil dienstlicher Denkschriften des Generalstabs gehörte) wie eine Art von militärischer Bankrotterklärung. Eine Wiederaufnahme der großen Offensive gegen Rußland hält ihr Verfasser deshalb für aussichtslos, weil sie keine greifbaren Ziele hätte: Petersburg zu nehmen, würde uns mit der Versorgung einer Millionenstadt belasten, ohne militärisch-politisch eine Entscheidung zu bringen, ein Vorgehen auf Moskau „ins Uferlose" führen; lohnend wäre allein die Eroberung von Odessa und der Ukraine; aber sie ist unausführbar, so lange Rumänien nicht mitmacht, dessen Anschluß gewaltsam zu erzwingen der Generalstab schon vorher aus mancherlei Gründen abgelehnt hatte. Auch eine Offensive nach Italien hinein, wie sie Conrad von Hötzendorf dringend empfahl (und schließlich, mit unheilvollen Folgen, allein mit k. u. k. Truppen durchgeführt hat), würde keine Kriegsentscheidung bringen, da Italien schließlich nur Nebenschauplatz ist und England wenig interessiert. Ebenso wenig sind entscheidende Erfolge von gewagten Unternehmungen der Türken gegen Ägypten über den Suezkanal oder gar nach dem Irak, Persien und Indien zu erwarten, noch weniger von Angriffen auf Saloniki. Nicht ausgesprochen wird in der Denkschrift, was ihr Verfasser bald darauf in verschiedenen Besprechungen mit der Flottenleitung bekannte: seine starken Zweifel an der Ausdauer und Widerstandskraft der Verbündeten, aber auch das Wanken seines Vertrauens zur Festigkeit der inneren deutschen Front; noch vor Eintritt des Winters 1916/17, hat er gemeint, müßte der Krieg zu Ende gebracht werden 15 ). Dies durch Fortsetzung der Angriffe an der Ostfront zu erreichen, war schon deshalb untunlich, weil der Generalstab der Westfront nicht wieder, wie im Sommer 1915, die Hauptmasse ihrer Reserven entziehen durfte. Denn schon jetzt, um die Jahreswende 1915/16, war dort die zahlenmäßige Überlegenheit unserer Gegner sehr beträchtlich, vor allem dank ihrer großen, uns fehlenden Heeresreserven 16 ). Wenn also im Osten und Süden keine Entscheidung gesucht werden konnte, welche Aussicht bot sich dafür im Westen? D a ß ein frontaler Durchbruch durch die feindlichen Linien aussichtslos war, hatten die vergeblichen Vorstöße der Franzosen und Engländer im letzten Herbst

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gelehrt und ergab sich bei uns von selbst aus dem Mangel an großen Heeresreserven. Was sich an solchen zusammenbringen ließ, reichte nur zu einem Angriff mit beschränktem Ziel und beschränktem Kräfteeinsatz aus. Falkenhayn wollte ihn gegen einen Punkt richten, den die Franzosen aus Prestigegründen unter keinen Umständen preisgeben könnten: gegen die Festung Verdun (bzw. gegen ihre Trümmer). An diesem Punkt, so hoffte er, würden sich die Heere Frankreichs „verbluten", ohne daß wir zu entsprechenden eigenen Opfern gezwungen wären — und das sollte angesichts der längst überspannten K r ä f t e dieses Gegners dahin führen, daß er rasch zusammenbräche, also „England sein bestes Schwert aus der H a n d geschlagen" würde. Vielleicht ließ sich auch erreichen (so hat er später argumentiert) daß die Engländer ihre Kitchener-Armee vorzeitig auf den französischen K a m p f p l a t z warfen und dort in bloß defensiven Aufgaben verbrauchten. Die Unsicherheit dieser Rechnung liegt so offen auf der H a n d , daß man den Verdun-Plan nur als ein letztes, halb verzweifeltes Wagnis zur Rettung aus einer hoffnungslosen Lage verstehen kann. Der Soldat will und kann nicht einfach abwarten, was die anderen tun werden. Er kann längst nicht mehr hoffen, sie in offener Feldschlacht zu besiegen; so begnügt er sich damit, ihnen an der empfindlichsten Stelle ihrer Front soviel Abbruch zu tun, wie nur immer möglich. Er kann sie nicht „besiegen", aber er will sie „ausbluten lassen". Am Gelingen oder Scheitern dieses Unternehmens hing nicht nur Falkenhayns persönliche Autorität als Stratege, sondern auch — soweit sich das damals übersehen ließ — das Schicksal des ganzen Krieges, also Deutschlands. D a r u m hat sich Falkenhayn in seine Durchführung schließlich über das vernünftige Maß hinaus verbissen. Aber so blind war er nicht, alle H o f f n u n g allein auf die Verdun-Offensive zu setzen 1 7 ). Gleichzeitig wollte er den unbeschränkten U-Boot-Krieg in G a n g setzen — sicher nicht leichten Herzens und ohne letzte innere Zuversicht. Seine Zweifel hat er sogar in seiner Denkschrift nicht verschwiegen; er sprach darin von einem „Schatten", der das von der Marine ausgemalte schöne Zukunftsbild trübe: „Voraussetzung ist, daß die Marine sich nicht irrt. Erfahrungen im ausreichenden Maße gibt es auf diesem Gebiete nicht. Diejenigen, die wir haben, sind nicht durchaus ermutigend." Aber er meinte, es sei in der schwer bedrohten Lage Deutschlands militärisch nicht zu verantworten, das Urteil der „allein zuständigen Sachkenner" einfach in den Wind zu schlagen und freiwillig, um unsicherer Zukunftsgefahren willen, auf den Gebrauch einer so wirksamen W a f f e zu verzichten. Nachdem er einmal den Entschluß zum

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Wagnis ihres Einsatzes gefunden hatte, reagierte er (vielleicht gerade wegen seiner letzten Unsicherheit) auf die politischen Bedenken des Kanzlers mit äußerster Schärfe. Als ihn dieser im Februar um eine förmliche Stellungnahme zur Frage des unbeschränkten U-Boot-Krieges ersuchte, erwiderte er: dieser sei „das einzige Kriegsmittel, durch dessen Anwendung England sicher und unmittelbar in seinen Lebensbedingungen" (also nicht bloß in seinen Festlandstruppen) „getroffen werden kann — die Wirksamkeit dieses Mittels halte ich nach der dienstlichen Erklärung des Chefs des Admiralstabs f ü r gegeben. Daraus ergibt sich", f u h r er fort, „daß die Kriegsleitung gar nicht das Recht hat, auf den U-Boot-Krieg zu verzichten. Ist das aber der Fall, so kann auch der politischen Leitung nicht das Recht zustehen, der Kriegsleitung die Anwendung des zum Sieg notwendigen Kriegsmittels unmöglich zu machen" 18 ). Diese schroffe Tonart hängt wohl damit zusammen, daß sich Falkenhayn in diesen Monaten nicht nur als Chef der „Obersten Heeresleitung", sondern „der Kriegsleitung" überhaupt betrachtete; denn er meinte damals seines beherrschenden Einflusses auf den Kaiser in allen militärischen Fragen absolut sicher zu sein. Dem Vertrauensmann und Kundschafter Tirpitz', dem uns wohlbekannten Kapitän Widenmann gegenüber (vgl. Bd. II 216 ff.), hat er sich darüber sehr eindeutig ausgesprochen, und es scheint ihm geschmeichelt zu haben, daß ihm der Großadmiral in einer Besprechung am 5. Januar mit einer wohlberechneten Wendung gesagt hatte, „als der von Sr. Majestät berufene Ratgeber f ü r die gesamte Kriegführung" trage er auch die Verantwortung f ü r den Einsatz der U-Boot-Flotte 19 ). Er ließ aber in jener Unterredung mit Widenmann auch durchblicken, daß er die ganze Frage f ü r eine rein militärische halte. Es sei ein grundsätzlicher Fehler, soll er gesagt haben, militärische Angelegenheiten, besonders Zahlenangaben, dem Reichskanzler überhaupt vorzulegen. Militärische Fragen „gehen die Diplomaten gar nichts an. Denen muß ein J a oder Nein seitens der militärischen Stellen genügen. Die Diplomaten legen alles zu ihren Gunsten aus und zweifeln. Das ist der große Unterschied zwischen einem Soldaten und einem Diplomaten. Der Soldat ist gewohnt zu handeln, der Diplomat kann nicht zur Tat schreiten, auch wenn er sich schon dazu entschlossen hat." Eine Bemerkung, die Widenmann sofort auf die „Ängstlichkeit und das Fehlen festen Willens" beim Reichskanzler bezog, ohne daß der Generalstabschef widersprach. Falls der Bericht zuverlässig ist, zeigt er, daß Falkenhayns Selbstbewußtsein durch die großen militärischen Erfolge des Vorjahres sich bis zur Selbstüberhebung ge-

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steigert und sein Ressort-Eigensinn sich noch verhärtet hatte. Dabei fällt auf, wie unselbständig und unkritisch (im Gegensatz zu seiner früheren Skepsis gegenüber der Marine) er seit den Besprechungen im Kriegsministerium, die er Anfang Januar mit Tirpitz und Holtzendorff abgehalten hatte, sich von den Zahlenangaben und Spekulationen der Marine über britische Schiffsverluste und Wirtschaftsnöte beeindrucken ließ. Ohne viel zu fragen — in strenger Respektierung der Ressortgrenzen — ließ er sich Zahlenangaben über die gegen England verfügbaren Tauchboote aufreden, die ans Unglaubliche grenzen 20 ) — zum mindesten nahm er sie ohne Widerspruch hin. Es war f ü r Bethmann Hollweg eine bittere Enttäuschung, daß er nun plötzlich in der U-Boot-Frage einer gemeinsamen Opposition von Heeresund Marineleitung gegenüberstand. Im ersten Augenblick fürchtete er, der Kaiser werde nun gar nicht anders können, als sich für die Militärs gegen seinen obersten politischen Berater entscheiden. Eine vertrauliche, nur f ü r seine nächsten Mitarbeiter bestimmte Aufzeichnung vom 10. Januar 1916 21 ) zeigt, in welche inneren N ö t e er dadurch geriet. Was Falkenhayn forderte, erschien ihm als bloßes „Würfelspiel, dessen Einsatz tatsächlich die Existenz Deutschlands ist". Natürlich widerstrebte er aufs heftigste einem solchen „unsicheren Spiel um Kopf und Kragen". Aber wie es in diesem Kriege nun einmal sein Schicksal war, so ging es ihm auch hier: die Politiker konnten dem Wagemut der Soldaten mit keiner Alternative entgegentreten, die ihrerseits größere Sicherheit des Erfolges bot. Ließ sich der Krieg auch ohne den rücksichtslosen U-Boot-Krieg bis zum Winter 1916/17 beenden? D a f ü r gab es keine Garantie, nur Hoffnungen, bestenfalls vage Vermutungen. Nicht einmal der Kriegseintritt Amerikas schien dem Kanzler „unter allen Umständen ausgemacht"; für sicher hielt er nur, daß ein diplomatischer Bruch eintreten und daß unsere Z u f u h r an Lebensmitteln und Rohstoffen über neutrale Länder vollends erdrosselt werden würde. Mußte man nicht (erwog er weiter), wenn der verschärfte U-Boot-Krieg nicht abzuwenden war, zum mindesten vorher versuchen, „England in ausgesprochener Weise über seine Bereitwilligkeit zu Friedensverhandlungen zu sondieren, wobei die bevorstehende Wiederaufnahme des U-Boot-Krieges angedeutet werden könnte?" Aber was könnte dabei selbst im besten Fall herauskommen als ein „magerer Friede, den die Marine dem Volk überdies durch die Behauptung verekeln würde, wir hätten England niederzwingen können und nur der Reichskanzler habe das verhindert?" Schlimmer noch: unsere „Invite" zu Friedensverhandlungen würde wahrscheinlich scheitern und von England nur zur

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Stimmungsmache gegen uns in der ganzen Welt ausgebeutet werden und die innere Stimmung bei uns noch verschlechtern. „ I s t diese Gefahr zu groß, und momentan halte ich sie für enorm, so wird der U-Boot-Krieg das Ende vom Liede sein — unter welchem Kanzler es auch sein möge." D a s klang tief resigniert, ja fast verzweifelt. Aber dem Generalstabschef gegenüber ließ er von Resignation nichts merken, sondern erklärte (am 8. Januar), den U-Boot-Krieg sähe er als ultima ratio an. „ E r stelle eine solche Herausforderung der Neutralen dar, daß er, wenn er mit einem Mißerfolg ende, finis Germaniae bedeute." Er möge also militärisch vorbereitet, dürfe aber „nicht vor Erfolg der diplomatischen Auseinandersetzung mit Amerika ausgesprochen werden" und könne keinesfalls vor dem 1. M ä r z beginnen 2 2 ). Er strebte also, wie immer vor kritischen Entscheidungen, Vertagung an und hat sich dann, wie wir noch sehen werden, in den nächsten Wochen doch noch zu entschiedenem Widerstand gegen die Militärs durchgerungen. D a s wurde ihm freilich sehr schwer gemacht. Die gemeinsame Front von Heeres- und Marineleitung war zwar nicht ganz so geschlossen, wie es zunächst schien (die Admiräle von Müller und Capelle neigten zur Vorsicht, auch Holtzendorff war seiner Sache keineswegs so sicher wie er sich gab, der Kriegsminister Wild in seinem Urteil schwankend 2 3 ), aber sie setzte ihm und dem Kaiser gewaltig mit mündlichen Vorstellungen und mit Denkschriften zu. Vor allem: sie war durch einen von T a g zu T a g angewachsenen Druck der öffentlichen Meinung gestützt in ihrem Bemühen, eine wesentliche Verschärfung des U-Boot-Krieges, möglichst bis zum Wegfall aller Beschränkungen auch gegenüber Passagierdampfern und Neutralen, durchzusetzen. Schon seit der dritten Lusitania-Note und dem Arabic-Fall drängten die parlamentarischen Führer der „nationalen Rechten", Graf Westarp, Bassermann und der Zentrumsführer Spahn immer von neuem bei J a g o w und Bethmann persönlich, bei Falkenhayn und Holtzendorff, aber auch in Zeitungsartikeln auf schroffe Abweisung amerikanischer Einsprüche gegenüber unserer U-Boot-Kriegführung und auf deren Verschärfung 2 4 ). Alle amerikanischen Vermittlungsvorschläge wurden für bloße „ F a l l e n " erklärt, alle deutschen Antworten als „schwächliche Nachgiebigkeit" mißbilligt. Uber das Auftreten Houses in Berlin, der angeblich ein „ U l t i m a t u m " in der Lusitania-Frage überbracht haben sollte, herrschte große Aufregung, vermehrt durch Gerüchtemacherei des ewig betriebsamen Abgeordneten Erzberger, der sich als Beauftragter des Auswärtigen Amtes für Propaganda im Ausland seinen Kollegen gegenüber gern als allwissend auf-

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spielte — allerdings dann rascher als sie begriff, daß die Erfolgsaussichten der U-Boote vorläufig sehr gering waren 25 ). Über den Landrat von Maitzahn, den politischen Berater des Kronprinzen, wirkte die konservative Opposition auch auf diesen ein; dabei spielten auch die Besorgnisse der preußischen Junker vor einer Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts, die Bethmann Hollweg angekündigt hatte, eine nicht unbedeutende Rolle. Anfang Februar erwogen die Konservativen, „die Kabinettsfrage zu stellen und zur äußersten Konsequenz zu treiben", was doch wohl heißen sollte: ein Mißtrauensvotum gegen den Kanzler im Reichstag einzubringen. Das unterblieb zwar schließlich doch, aber im preußischen Landtag, wo die Konservativen ihrer Mehrheit sicher waren, setzte ihr Führer von Heydebrand (am 9. Februar) einen Beschluß der verstärkten Haushaltskommission durch, der Landtagspräsident sollte Bethmann Hollweg in einer sehr eindringlich formulierten Erklärung, die auch sogleich in der Presse erschien, vor schwächlicher Nachgiebigkeit gegen Amerika warnen. Damit überschritt der preußische Landtag offensichtlich seine Kompetenzen. Bethmann Hollweg nutzte das sofort dazu aus, um dem Kaiser klar zu machen, daß diese preußischen Reaktionäre sich Eingriffe in seine kaiserliche Kommandogewalt und seine Diplomatie erlaubten und daß er, der Kanzler, ihn gegen solche Machtansprüche zu verteidigen habe. Eine entsprechende Regierungserklärung erschien am 12. Februar in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung. Dienstliche Rückfragen bei Holtzendorff und Tirpitz verwiesen diesen die Information von Abgeordneten über militärische Geheimnisse, außerdem wurden beide ersucht, der Presse und politischen Persönlichkeiten gegenüber Erörterungen über den verschärften U-Boot-Krieg „sorgfältig zu vermeiden". Die Führer der konservativen Landtagsfraktion ließ sich Bethmann zu einer Aussprache kommen, in der sie sich schließlich zum Rückzug genötigt sahen. Ende März hat er auch das Herrenhaus zum Verzicht auf einen politischen Vorstoß gebracht. Aber was mit Hilfe des Landtags nicht gelang, sollte der Reichstag vollbringen. Mit Eifer bemühten sich Heydebrand, Westarp, Bassermann und Spahn darum, eine gemeinsame Kundgebung aller bürgerlichen Reichstagsparteien zustande zu bringen, die den unbeschränkten U-Boot-Krieg für die einzig mögliche Lösung des Kriegsproblems erklärte und dringend darauf bestand. Sie wurde, schriftlich aufgesetzt, am 16. Februar durch eine Deputation von Parteiführern aller Fraktionen rechts von Freisinn dem Kanzler vorgetragen, und es entspann sich eine lange Debatte, in der die Zentrums-

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abgeordneten Spahn und Gröber sich durch besonders energisches Auftreten hervortaten. Es war der erste Versuch einer Reichstagsmehrheit (der „Kriegszielmehrheit" von 1914/15) direkten Einfluß auf die Kriegführung auszuüben, und Bethmann Hollweg scheint sich in der Unterredung im wesentlichen darauf beschränkt zu haben, ihn als Einmischung in Fragen des militärischen Oberkommandos abzuwehren, zumal er politische Hemmungen hatte, sich vor Nicht-Militärs ganz eindeutig über die wirkliche Schwäche unserer U-Boot-Waffe auszusprechen 26 ). Natürlich spürte er hinter der Opposition der Konservativen die Absicht, seine Machtstellung zu erschüttern, womöglich ihn zu stürzen. Von solchen Plänen wurde auch in Bundesratskreisen viel gesprochen, und es fehlte nicht an vertraulichen Anerbietungen einzelner Bundesregierungen, dem Kanzler durch eine Vertrauenskundgebung des Bundesrats zu Hilfe zu kommen 27 ). Das hat er zunächst hinausgeschoben, aber doch sehr energisch eingegriffen, als das Reichsmarineamt (Kapitän z. S. Löhlein) durch übertriebene Angaben über die Zahl der U-Boote im Bundesrat Stimmung für seine Kriegspolitik zu machen suchte 28 ). Auch der österreichische Botschafter Prinz H o henlohe war schwer besorgt, der Kanzler könne entweder den Scharfmachern nachgeben oder zu Gunsten Falkenhayns oder eines andern Generals gestürzt werden. Er erbat deshalb (mit Erfolg) von seinem Minister die Erlaubnis, im Namen der österreichischen Regierung Einspruch gegen einen unbeschränkten U-Boot-Krieg und gegen einen Bruch mit Amerika zu erheben. Anfang März wußte er zu berichten, Tirpitz rechne nicht mehr mit Falkenhayn, sondern mit dem bayrischen Grafen Hertling als Nachfolger Bethmanns, dessen Stellung dem Botschafter auf die Dauer als unhaltbar erschien 29 ). Das alles waren bloße Gerüchte ohne realen Hintergrund. Zwar haben die Führer der vier großen Reichstagsparteien Anfang März versucht, unter Umgehung des Kanzlers bei Wilhelm II. Audienz durch Vermittlung des Kriegsministers zu erlangen — sicherlich in der Absicht, ihn vor seinem Kanzler zu warnen. Aber General Wild lehnte das entrüstet ab und machte Bethmann Hollweg sofort Mitteilung 30 ). Dieser rechnete schon längst mit solchen Aktionen und hatte sich das hochmütige und abweisende Verhalten Falkenhayns ihm selbst gegenüber 31 ) immer so gedeutet, daß der General sich als seinen künftigen Nachfolger betrachte. Aber damit hatte er nun doch unrecht. Falkenhayn hat die konservative Fronde dadurch schwer enttäuscht, daß er sich weigerte, mit ihr Verbindung aufzunehmen und überhaupt

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„von außen" auf die Entschließungen des Generalstabs einwirken zu lassen 32 ). Er hielt sich also nach wie vor von politischen Intrigen fern. Schließlich blieb auch Ludendorff seiner bisherigen Haltung gegenüber Bethmann Hollweg treu: er schalt die Konservativen, daß sie ihn stürzen wollten. Er sei ein „vorzüglicher" Kanzler, Falkenhayn dagegen, den sie an seine Stelle setzen wollten, durchaus nicht vertrauenswürdig. Dessen Aussöhnung mit Tirpitz über die U-Boot-Frage war ihm ebenso ärgerlich wie beunruhigend; denn er fürchtete, der Großadmiral würde die Kanzlerkandidatur seines Rivalen betreiben 33 ). N u r aus solchen Besorgnissen erklärt sich Ludendorffs günstiges Urteil über Bethmann, der sonst in der Armee wohl ebenso allgemein als „schlapp" galt wie in der Marine 34 ). Immerhin: keiner der Generäle hätte damals beim Kaiser auf den Sturz seines ersten Beraters zu drängen gewagt. Trotzdem wirkte sich der fortgesetzte Druck chauvinistischer Vorstellungen und Eingaben (darunter auch wieder einer von Berliner Universitätsprofessoren) politisch höchst ungünstig aus: sie machten den einzig richtigen Entschluß, entweder auf den U-Boot-Krieg überhaupt oder doch auf die warnungslosen Versenkungen zu verzichten, unmöglich und trieben damit die deutsche Politik aufs neue in gefährliche Halbheiten hinein. Bethmann Hollweg hat Ende Februar eine große Denkschrift aufgesetzt — sicher eines der eindrucksvollsten Dokumente seiner Amtszeit — um in der unglückseligen U-Boot-Frage dem Kaiser eine klare Entscheidung zu ermöglichen, vor allem den unbeschränkten U-Boot-Krieg mit schlagenden Argumenten abzuwehren 35 ). Die schwankenden Spekulationen der Marine und ihrer Wirtschaftsexperten über mögliche Versenkungsziffern und britische Schiffsraumnöte wischte er mit einer souveränen Handbewegung vom Tisch: sie sind viel zu unsicher, um große politische Entschließungen darauf aufbauen zu können. Das Groteske der Vorstellung, mit einem Dutzend U-Boote England aushungern zu können, wird nur eben angedeutet: „Sei es mit, sei es ohne Convoi wird England eine gewisse Anzahl von Schiffen durch unsere weitmaschige U-Boot-Sperre und auch durch die Minensperren unter allen Umständen, eventuell über Frankreich durchbringen können. Selbst ohne Berücksichtigung vorhandener Getreidereserven genügen bei einer durchaus erträglichen Einschränkung des Verbrauchs 4 bis 5 Schiffe mittlerer Größe täglich, um die Versorgung Englands mit Brotgetreide zu sichern. Vor allem aber: ein Nachgeben der Briten" (trotz Amerikas Eintritt in den Krieg!) „kommt dem öffentlichen Eingeständnis gleich, daß die

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Seeherrschaft Albions durch Deutschlands Seemacht vernichtet worden ist. Ehe sich England zu einem solchen Eingeständnis entschließt, opfert es den letzten Mann und den letzten Groschen." Was war diesen lapidaren Feststellungen gegenüber von den Versicherungen der Admiräle zu halten, England werde „längstens ein halbes J a h r " oder gar nur „vier M o n a t e " noch durchhalten können 3 6 )? Ebenso klar legte der Kanzler die außenpolitischen Folgen eines Bruches mit Amerika dar, über die man sich im Lager der Militärs (neuerdings auch in der O H L ) so leicht hinwegtröstete. Seine Besorgnis galt nicht nur einer Verfeindung mit allen Neutralen und einer gewaltigen Verstärkung des feindlichen Kriegspotentials, sondern auch einer Erschütterung des Vertrauens unserer Bundesgenossen, ja breiter Massen des deutschen Volkes selbst in seine Führung. Jedes Wort dieser Voraussagen und Befürchtungen hat sich später als richtig erwiesen. Was sich jedoch nicht mit Sicherheit beantworten ließ, w a r die brennendste aller Fragen: wie der Krieg ohne die (praktisch unmögliche) Aushungerung Englands zu Ende gebracht werden könnte. Bethmann Hollweg erkannte an, daß es dafür keine Patentlösung gab, wollte aber doch die Möglichkeit offen lassen, daß der Gegner dank neuer militärischer Mißerfolge auf dem Festland und des Scheiterns auch seiner Aushungerungsblockade schließlich doch, vielleicht schon 1916, des Krieges überdrüssig würde. Es war das Ziel eines Verständigungsfriedens auf der Basis des »parti remis«, das hier in einem amtlichen Schriftstück zum ersten Mal erschien, oder doch angedeutet wurde 3 7 ). Wollte man nicht kapitulieren, so blieb im Grunde kein anderes übrig. Bethmann Hollweg hätte aber jede Aussicht verloren, sich mit seiner Denkschrift gegen die Militärs durchzusetzen, wenn er als ihre Konsequenz die völlige Preisgabe des U-Boot-Krieges gefordert hätte. Angesichts der leidenschaftlichen Erregung, der Wunschträume und Siegeshoffnungen, die ihm aus der öffentlichen Meinung, den Reichstagsparteien, aus Heer und Marine entgegenschlugen, sah er sich auch jetzt wieder auf den „ W e g der D i a g o n a l e " als einzigen Ausweg verwiesen. Der letzte Teil seiner großen Denkschrift legte dar, wie man den Bruch mit Amerika vermeiden könne, ohne deshalb auf den Gebrauch der „ W u n d e r w a f f e " völlig zu verzichten. Es blieb außer dem „Kreuzerkrieg" (nach Prisenordnung) und dem Minenkrieg auch die Möglichkeit der warnungslosen Versenkung bewaffneter feindlicher Schiffe in allen Meeren und unbewaffneter feindlicher Frachtschiffe im Seekriegsgebiet von Großbritannien und Irland. Wurde das

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durchgeführt, so eröffnete sich allerdings die Gefahr politischer Konflikte mit Amerika durch unglückliche Zufälle von neuem. Bethmann Hollweg verkannte das auch nicht und sprach es offen aus. Solche Konflikte konnten entstehen durch die Verwechslung von unbewaffneten Schiffen mit bewaffneten, von Passagierdampfern mit Frachtschiffen, neutralen Fahrzeugen mit feindlichen oder auch durch Versenkung amerikanischer Schiffsmannschaften, die für den Dienst auf feindlichen Frachtern angeheuert waren. Um Verwechslungen zu vermeiden, forderte der Kanzler genaue Weisungen an die U-Boot-Kommandanten; auch sollten „liners" (große Passagierdampfer auf regelmäßigen Kursen) bis auf weiteres auch dann geschont werden, wenn sie bewaffnet wären, um einen neuen „Lusitania-Fall" zu vermeiden 38 ). Daß solche Weisungen und Einschränkungen neue „Zwischenfälle" gänzlich verhindern würden, war nach den Erfahrungen des Vorjahres nicht anzunehmen und wurde schon kurz nach Anlaufen des neuen „verschärften" U-BootKrieges widerlegt. Bethmann Hollweg wird es selbst nicht recht geglaubt haben; er war auch unsicher, ob die Amerikaner warnungslose Versenkung bewaffneter Handelsschiffe hinnehmen würden, schloß aber seine Denkschrift mit der Versicherung: sollten die Amerikaner wegen der bewaffneten Handelsschiffe mit uns brechen, so wäre das „ein Schicksal, dem wir nicht entgehen können"; ein Nachgeben an diesem Punkte um einer Laune Wilsons willen „wäre nicht vereinbar mit unserer Würde und käme dem tatsächlichen Verzicht auf die U-Boot-Waffe gleich". Das klang nach gewaltsam übersteigertem Mut und entsprach im Grund nicht der Gesinnung des Kanzlers, wie sich bald darauf aus Anlaß der „Sussex-Krise" zeigen sollte. Es war nichts weiter als eine erzwungene Konzession an die Forderungen der Militärs, deren Drängen auf Verschärfung des U-Boot-Krieges ihn ungeheuer schwer bedrückt hat. Schon Anfang Januar hat er Admiral Müller gegenüber geäußert, er fühle sich (den Militärs gegenüber) wieder in einer ähnlich furchtbaren Situation wie im Juli 1914; wenn wir den unbeschränkten U-Boot-Krieg durchführten, so würden „sämtliche noch neutralen Völker vereint gegen uns, den tollen Hund unter den Völkern, aufstehen"; er dächte ernstlich daran, seinen Abschied zu nehmen 39 ). Man kann in dem Tagebuch Müllers deutlich verfolgen, wie der Kanzler mit wachsender Unruhe den Kaiser mehr und mehr dem vereinigten Druck des General- und Admiralstabes erliegen sah. An demselben Tag, an dem er seine große Denkschrift niederschrieb (29. Februar), war der U-Boot-Krieg auf kaiserlichen Befehl schon wieder angelaufen, und was er in seinem Me-

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morandum als politisch allenfalls tragbar bezeichnete, war der Sache nach nichts anderes, als was ein Flottenbefehl vom 11. Februar bereits angeordnet hatte. Eine Meldung der U-Boot-Flotille in Pola, die Bewaffnung feindlicher Transportschiffe im Mittelmeer nehme so zu, daß die Erfolge der U-Boote im Handelskrieg immer mehr zurückgingen, war von der Marineleitung dazu benutzt worden, um ohne vorherige Befragung des Reichskanzlers die Wiedereröffnung des U-Boot-Krieges an der englischen Westküste und einen ersten Schritt zu seiner Verschärfung beim Kaiser durchzusetzen: bewaffnete Handelsschiffe sollten, sobald sie als solche erkannt wären, ohne Warnung angegriffen und versenkt werden. Der Ende J a n u a r ernannte neue Chef der Hochseeflotte, Admiral Scheer, als besonders schneidiger Draufgänger bekannt, hatte diesem Befehl eine Form gegeben, nach der eine Schonung feindlicher Handelsschiffe nur noch in Ausnahmefällen, ihre Untersuchung überhaupt nicht mehr zulässig war. Der Kanzler und J a g o w hatten das nicht verhindern können und auf Einspruch verzichtet (abgesehen von ihrer Forderung nach Schonung der Passagierdampfer); sie hatten aber sogleich erleben müssen, daß sich die Flottenleitung mit dieser ersten „Verschärfung" des U-Boot-Krieges noch lange nicht zufrieden gab, sie als bloße Halbheit bezeichnete und nun erst recht auf Fallenlassen aller Beschränkungen drängte, und zwar in allernächster Zeit. Dies wenigstens zu verhindern, w a r Zweck und Absicht der Bethmannschen Denkschrift. N u n war die Bewaffnung von Handelsschiffen mit Kanonen (unter Beigabe ausgebildeter Bedienungsmannschaften) in der Tat eine Kriegsmaßnahme, die dem Handelskrieg ein verändertes Gesicht gab, vor allem dann, wenn die Schiffe ausdrücklich zum Angriff auf U-Boote ermächtigt oder aufgefordert wurden, wie es tatsächlich in einer Anweisung der britischen Admiralität geschehen war 4 0 ). Ein deutsches U - B o o t hatte sie auf einem bewaffneten Kauffahrteischiff erbeutet, und durch das Auswärtige A m t war sie in Fotokopie mit einer (den verschärften Handelskrieg ankündigenden) Denkschrift v o m 8. Februar an alle Neutralen versandt worden. Auch in den Vereinigten Staaten gab es zahlreiche Stimmen, die anerkannten, daß bew a f f n e t e Handelsschiffe, die aggressiv vorgingen, als Hilfskreuzer der Kriegsmarine zu gelten und zu behandeln wären, und deshalb die E n t w a f f nung britischer Frachter forderten, die in amerikanischen H ä f e n beladen würden. Auch die amerikanische Regierung stand, ähnlich wie die deutsche, unter dem Druck der öffentlichen Meinung — nur daß diese nicht einheitlich war, sondern wechselte. Im Dezember hatte Staatssekretär Lansing, unter

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dem Eindruck starker deutschfeindlicher und chauvinistischer Strömungen im Kongreß, die noch immer unerledigte Lusitania-Frage wieder aufgegriffen. In mühsamen Verhandlungen war es aber Graf Bernstorff Anfang Februar schließlich gelungen, mit Lansing die Formulierung einer deutschen Erklärung auszuhandeln, mit der sich dieser zufrieden geben wollte, obwohl sie die „Ungesetzlichkeit" der Lusitania-Versenkung nicht formell anerkannte 4 1 ). In eben diesem Augenblick kam die Ankündigung des verschärften U-Boot-Kriegs vom 8. Februar nach Washington. Sie erweckte dort die schwersten Besorgnisse; diese waren um so größer, als man drüben nichts davon erfuhr (auch Bernstorff nicht), daß die U-Boot-Flotte geheime Anweisungen hatte, größere Passagierdampfer unter allen Umständen, auch wenn sie bewaffnet waren, zu schonen. Die Aussicht auf endgültige Ausräumung des Streits um die Lusitania war damit natürlich zerstört. Aber nicht nur sie. Neben den chauvinistischen Stimmungen gab es in den Vereinigten Staaten auch pazifistische, neben der (durch englisch-französische Greuelpropaganda verstärkten) Germanophobie auch viel bittere Kritik, vor allem der Geschäftswelt, an der britischen Blockade der Mittelmächte. Senator Stone beschuldigte öffentlich den Präsidenten, in 20 Fällen die Neutralitätspflicht zuungunsten der Deutschen verletzt zu haben. Diesen Stimmungen nachgebend hatte Lansing schon im Oktober eine lange Note nach London gesandt, in der die gewaltsame Einschränkung und Behinderung des neutralen Seehandels als völkerrechtswidrig kritisiert wurde. Im Januar hatte, ebenfalls im Kongreß, und zwar in Wilsons eigener demokratischer Partei, eine starke Strömung eingesetzt, die darauf drängte, englische H a n delsschiffe zu entwaffnen und alle Reisen amerikanischer Staatsbürger auf kriegführenden Schiffen zu verbieten. Lansing und Wilson (der schon jetzt für seine Wiederwahl im Herbst 1916 besorgt sein mußte) waren beide davon stark beeindruckt. Beide erkannten an, daß man einem U-Boot-Führer unmöglich zumuten könne, nach Art des Kreuzerkrieges sich aufgetaucht einem Schiff zu nähern und es zu warnen, das jeden Augenblick sein Boot durch einen Kanonenschuß vernichten konnte. Lansing schickte, um diesem Bedenken entgegenzukommen, ein vertrauliches Schreiben an die Regierungen der Alliierten, das ihnen einen sog. modus vivendi, ein Abkommen mit den Deutschen vorschlug. Diese sollten auf warnungslose Versenkungen verzichten, wenn die Alliierten ihre Handelsschiffe desarmierten. Der Vorschlag wurde in Paris und London abgelehnt, weckte aber in Amerika, durch Indiskretion der Presse bekannt geworden, zunächst stürmische Zustimmung.

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Aber auch diese Chance einer Annäherung zwischen Deutschland und Amerika ging durch die Verschärfung des U-Boot-Krieges im Februar wieder verloren. Zwar wies der Vorschlag Lansings sachlich etwa in dieselbe Richtung wie der deutsche Protest gegen die aggressive Bewaffnung von Handelsschiffen. Aber politisch geriet er gerade darum in den Verdacht, nichts weiter als „deutsche Mache" zu sein und weckte dadurch Unwillen. Wilson griff jetzt ein, zwang seinen Staatssekretär zu einer Art von Widerruf jenes Angebotes und ließ ihn erklären: jeder warnungslose Angriff auf ein Schiff, das amerikanische Staatsbürger trug, werde als Bruch des Völkerrechts und der feierlich gegebenen Versprechungen Deutschlands betrachtet werden, ganz gleich ob das Schiff bewaffnet wäre oder nicht. Wilson selbst kämpfte mit stärkstem Einsatz seiner oratischen Kunst jene Opposition im Kongreß nieder, die das Reisen auf bewaffneten Schiffen und in der Seekriegszone verbieten wollte. Er erklärte ein solches Verbot f ü r unvereinbar mit der Würde und der Souveränität der Vereinigten Staaten. Praktisch wäre er auch außerstande gewesen, bewaffnete englische Schiffe festzuhalten, da nur mit ihrer Hilfe die großen amerikanischen Exporte durchführbar waren. Die Spannung mit Amerika war also wieder so groß geworden, daß Bethmann Hollweg allen Anlaß hatte, jede weitere Verschärfung des U-BootKrieges zu fürchten. Seine Lage war besonders dadurch erschwert, daß die fortgesetzten Vorstellungen beider Wehrmachtsteile den Kaiser sehr unsicher gemacht hatten. Unter dem starken Eindruck der Bethmannschen Denkschrift erklärte er sich am 3. März von diesem völlig überzeugt. Am nächsten Morgen stimmte ihn Falkenhayn in seinem Militärvortrag wieder um. So wurde der am Abend des 4. März vom Kaiser angeordnete „gemeinsame Vortrag" des Kanzlers, Falkenhayns und Holtzendorffs zu einer hochdramatischen Auseinandersetzung zwischen politischer und militärischer Autorität. Bethmann Hollweg bot alle Kunst der Überredung, das ganze Gewicht seiner Argumente und seiner Persönlichkeit auf, um den Kaiser umzustimmen, ließ auch deutlich erkennen, daß er seinen Abschied fordern müsse, wenn die Militärs sich durchsetzen sollten. Er sprach sehr temperamentvoll und war so klug, die pessimistischen Ausblicke Falkenhayns auf die Zukunft durch eine betont optimistische Haltung zu übertrumpfen. Er glaube nicht an die Unmöglichkeit für Deutschland, noch einen weiteren Winterfeldzug auszuhalten, wohl aber würde Amerikas Kriegseintritt den Krieg bis zu unserer völligen Erschöpfung verlängern. Es ginge den Gegnern um die Vernichtung zumindest der Großmachtstellung Deutschlands und der

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Dynastie. „ D a s sei f ü r ihn sonnenklar." Er glaube aber an Deutschlands K r a f t zum Durchhalten, auf die Länge auch an den Zerfall der feindlichen Koalition und somit an unseren endgültigen Sieg. Dabei erinnerte er an Friedrich den Großen und den Siebenjährigen Krieg, der aussichtslos schien, aber schließlich doch „einen Abschluß erreichte, der Preußens Großmachtstellung schuf". Er gab also zum erstenmal die — später so k r a m p f h a f t übersteigerte — Parole des „Durchhaltens" aus. Falkenhayn, der (nach Bethmanns Zeugnis) sich „ l o y a l " verhielt und mit kühler Sachlichkeit sprach, konnte ihm als stärkstes Gegenargument vorhalten, daß England niemals zur Verständigung bereit sein würde, ohne vorher besiegt zu sein — eine unzweifelhaft richtige Feststellung, aus der er den (für einen Militär selbstverständlichen) Schluß zog: also kämen wir keinesfalls um das Wagnis des unbeschränkten U-Boot-Krieges herum und hätten damit angesichts der Gesamtlage keine Zeit zu verlieren. Daß er die Aussichtslosigkeit des Wagnisses nicht zugeben wollte, ehe es offensichtlich gescheitert war, entsprach ebenso vollkommen der militärischen Denkweise wie die Haltung seines Gegenparts, der „zivilistischen": Bethmanns Weigerung, sich auf militärische Abenteuer einzulassen, so lange noch ein Funke von H o f f n u n g auf einen politischen Kompromißfrieden zu bestehen schien. Man kann die ganze Debatte also ein klassisches Beispiel f ü r den natürlichen Gegensatz von „Staatskunst und Kriegshandwerk" nennen; aber man kann den Bericht darüber nicht lesen, ohne die Tragik der Tatsache tief zu empfinden, daß beide Männer vergeblich darum rangen, sich aus einer hoffnungslosen Verstrickung herauszuwinden. Wäre Tirpitz (den man sehr bewußt ferngehalten hatte) dabei gewesen, so wäre der Kaiser vielleicht doch dem R a t der Militärs gefolgt, den unbeschränkten U-Boot-Krieg sofort zu beginnen. Holtzendorff besaß nicht dieselbe K r a f t der Suggestion wie der Großadmiral und scheint sich, nach der Zahl der verfügbaren U-Boote befragt, recht unsicher ausweichend geäußert zu haben. So erreichte der Kanzler zwar keine klare Entscheidung, aber wenigstens ein Hinausschieben des Termins der Kriegseröffnung und (so legte er es jedenfalls aus) des endgültigen Entschlusses bis A n f a n g April. Admiral von Müller, immer ein Meister des Kompromisses, hatte dem Kaiser Vertagung seiner letzten Entscheidung schon am Vorabend als rettenden Ausweg aus seiner inneren Unsicherheit empfohlen. Mittlerweile sollten auf Verlangen des Kaisers die neutralen Mächte durch eine diplomatische N o t e über Deutschlands Zwangslage in der U-Boot-Frage genauer informiert und

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so für ein besseres Verständnis unseres Vorgehens gewonnen werden — was dann auch durch ein Rundschreiben vom 8. März versucht wurde, obwohl es Bethmann im Grunde für zwecklos hielt 4 2 ). Die so gewonnene Frist hat der Kanzler, in enger Zusammenarbeit mit Admiral von Müller, klug und energisch dazu ausgenützt, um sich zunächst einmal seines Hauptgegners Tirpitz zu entledigen. Er benutzte dazu hetzerische Presseartikel des Grafen Reventlow, die Wilhelm II. als „Eingriff in seine Rechte als Oberster Kriegsherr" empörten, und die schon früher erwähnten übertreibenden Mitteilungen des Kapitäns Löhlein im Bundesrat, um den Kaiser über die Pressepolitik des Reichsmarineamtes aufzuklären. D a s Nachrichtenbüro der Marine (mit Presseaufsicht) wurde nun gänzlich dem Admiralstab übertragen — eine bewußte Kränkung für Tirpitz, der schon dadurch beleidigt war, daß man ihn zu den entscheidenden Beratungen der letzten Wochen im Hauptquartier nicht mehr zugezogen hatte. Er reichte am 12. M ä r z seinen Abschied ein und erhielt ihn ohne weiteres bewilligt. Bethmann Hollweg zitterten die H ä n d e vor Aufregung, als er am 5. M ä r z seinen Bericht an J a g o w über den K a m p f mit Falkenhayn niederschrieb. Begreiflich: diesmal war es um die Behauptung seiner Machtstellung als Leiter der Reichspolitik schlechthin gegangen, und er hatte zum erstenmal mit seinem Abschied drohen müssen, ohne doch eine klare und sofortige Entscheidung zu erreichen 43 ). Aber auch der Generalstabschef war tief erregt und niedergedrückt: seine Machtstellung als „Chef der Kriegsleitung", auf die er so fest vertraute, hatte zuletzt doch versagt, und gleich in den nächsten T a gen kamen tief enttäuschende Meldungen von der Front bei Verdun: der hoffnungsvoll begonnene Angriff w a r stecken geblieben und die „Entscheidungsschlacht" drohte zu einem so zähen, aussichtslosen Gemetzel zu werden, daß Falkenhayn schon jetzt zu überlegen begann, ob er die Offensive nicht abbrechen sollte 4 4 ). Unterdessen bemühte sich der Kanzler auf einer sehr eindrucksvollen Pressekonferenz (am 13. März), der Öffentlichkeit seine H a l t u n g verständlich zu machen und die verleumderischen Anschuldigungen seiner Gegner zu zerstreuen. Zwei Tage später f a n d er im diplomatischen Ausschuß des Bundesrates Unterstützung für seinen Plan eines beschränkten U-Boot-Krieges, ohne den Bruch mit Amerika zu riskieren. Man billigte dort seine Politik in vollem U m f a n g und sprach ihm das Vertrauen der Bundesregierungen aus 4 5 ). Überhaupt stand man, wie Graf Lerchenfeld nach München berichtete, „in Bundesratskreisen den Forderungen der Marine scharf ablehnend gegenüber".

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Es war aber klar, daß der Sturz des Großadmirals in der Öffentlichkeit größte Aufregung wecken und die Gegner des Kanzlers zu neuer Aktivität antreiben würde. In Berlin wurden sogar in öffentlichen Lokalen, wie Prinz Hohenlohe nach Wien berichtete, Unterschriften für Protesteingaben an den Kaiser gesammelt. Eine solche Eingabe mit 30 000 Unterschriften hat der alldeutsche Historiker Dietrich Schäfer überreicht 46 ). Konservative, Nationalliberale und Zentrum bereiteten eine förmliche Resolution des Reichstages zugunsten des unbeschränkten U-Boot-Krieges vor und veröffentlichten teilweise ihre Entwürfe in der Presse. Wäre eine solche Resolution angenommen worden, so hätte der Reichstag zum erstenmal direkt in die Kriegführung einzugreifen versucht. O b eine Mehrheit dafür zu gewinnen war, blieb bei der Haltung nicht nur der Linken, sondern auch eines Teils der Zentrumsabgeordneten (unter denen jetzt Erzberger mit Eifer im Sinn des Kanzlers aufklärend wirkte) und der nationalliberalen Fraktion unsicher. Aber schon die öffentliche Debatte des U-Boot-Problems im Plenum des Reichstags mußte unabsehbare politische Folgen im In- und Ausland haben — die tumultuarische Sitzung des 24. März, in der die Spaltung der Sozialdemokratie in zwei einander feindliche Flügel offen zutage trat und es beinahe zum H a n d gemenge kam 47 ), hat das deutlich gezeigt. Für Bethmann Hollweg entstand dadurch eine doppelt böse Lage, daß er nicht wagen konnte, sein wichtigstes Gegenargument, die lächerlich geringe Zahl der gegen England verfügbaren U-Boote, vor aller Welt bekannt zu geben, ohne das Odium des Landesverrates auf sich zu ziehen. Vergeblich hat er sich bemüht, dies in vertraulichen Besprechungen am 18. März den Parteiführern einleuchtend und ihnen zugleich deutlich zu machen, daß ein Krieg mit Amerika und der ganzen neutralen Welt unser Verderben wäre: „Man wird uns erschlagen wie einen tollen Hund 4 8 )!" Da sie hartnäckig blieben, bemühte er sich, durch offizielle Pressenotizen die Resolution als Eingriff in die Befugnisse des Oberkommandos und als Bedrohung des Burgfriedens zu diffamieren; vor allem aber suchte er zu erreichen, daß die Diskussion des U-Boot-Problems aus dem Reichstagsplenum in den Hauptausschuß verlegt würde. Das ist schließlich gelungen. Aber in der beschränkten Öffentlichkeit dieses Ausschusses mußte er sich nun doch entschließen, das Geheimnis der wahren U-Boot-Zahlen bekannt zu geben. Er selbst legte sehr eindrucksvoll die politischen Folgen eines durch uns selbst heraufbeschworenen Krieges mit Amerika und die Aussichtslosigkeit einer raschen Aushungerung Englands mit unzureichenden Mitteln dar, während Staatssekretär Capelle, der Nachfolger Tirpitz',

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ihn loyal unterstützte, indem er — unbeschönigt, wie es scheint — die tatsächliche Zahl verfügbarer U-Boote bekanntgab, die Unzulänglichkeit der Versenkungsziffern einräumte und auch den geringen militärischen Wert der deutschen Luftschiffbombardements deutlich machte. Es waren sehr lang dauernde Sitzungen voll höchster Spannung. Der Kanzler, bleich und gebeugt, ununterbrochen Zigaretten rauchend, wirkte nervös und erschöpft, nahe dem physischen Zusammenbruch. Aber er hielt durch und überzeugte die Mehrheit seiner Hörer davon, daß nichts als ein tiefes Verantwortungsbewußtsein ihn zu seiner Haltung bestimme. Die Sozialdemokraten Scheidemann und David erklärten nach seinen Ausführungen weitere Angriffe auf die Regierung f ü r „verantwortungslos", und der Abgeordnete Müller-Meiningen von der Fortschrittspartei nannte die Ankündigung des U-BootKrieges einen großen Bluff 4 9 ). Das Schlußergebnis war ein (wohl zuerst von Erzberger formuliertes) Kompromiß, auf das sich alle Parteien, einschließlich der Mehrheitsgruppe der Sozialdemokratie, vereinigen konnten. Die hiernach beschlossene Reichstagsresolution enthielt weiter nichts als eine Aufforderung an die Regierung, „bei Verhandlungen mit anderen Staaten (d. h. Amerika) die für die Seegeltung Deutschlands erforderliche Freiheit im Gebrauch der U-Boot-Waffe unter Beachtung der berechtigten Interessen der neutralen Staaten zu wahren". Also kaum mehr als eine Selbstverständlichkeit 50 ). Indessen: wenn der Kanzler geglaubt haben sollte, die Gefahr eines Konfliktes mit den Vereinigten Staaten sei nunmehr beschworen, so erwies sich das rasch als ein Irrtum. Schon während der Verhandlungen mit der Reichstagkommission kündigten sich neue Konflikte mit Amerika an. Der „verschärfte" U-Boot-Krieg, der Ende Februar begonnen hatte, erwies sich, wie vorauszusehen, als ein höchst unglückliches Kompromiß. Von den Einschränkungen, die ihn von einem völlig rücksichtslosen Handelskrieg unterscheiden sollten, erfuhr die Außenwelt nichts, und da die Weisungen Admiral Scheers an die U-Boot-Kommandanten diese Einschränkungen eher verhüllt als betont hatten, hagelte es sehr bald neue „Zwischenfälle": warnungslose Versenkungen unbewaffneter ebenso wie bewaffneter, neutraler ebenso wie feindlicher Handelsschiffe, aber auch Passagierdampfer. Darunter waren bis Anfang April bereits 4 Fälle, bei denen Amerikaner ums Leben kamen oder bedroht waren. Der schwerste dieser „Zwischenfälle" war die Torpedierung des französischen Dampfers „Sussex" am 24. März, von dessen 325 Passagieren nicht weniger als 80 getötet oder verletzt sein sollten.

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Alle Welt war empört und überzeugt, der unbeschränkte U-Boot-Krieg sei nun von den Deutschen ohne Ankündigung jählings eröffnet worden, trotz aller Versprechungen und Abmachungen des letzten Jahres. Die Folge war eine diesmal noch gesteigerte Kriegsgefahr mit Amerika. Staatssekretär Lansing meinte, daß nun der (von ihm längst ersehnte) Augenblick gekommen sei, um sein Land offen ins Lager der Alliierten hinüberzuführen. Er schlug dem Präsidenten sofortigen Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Deutschland vor. Auch House riet diesem dringend, diese neue „Herausforderung" der Deutschen anzunehmen, um nicht die Achtung der ganzen Welt und des eigenen Volkes und damit jeden Einfluß auf die künftige Gestaltung des Friedens zu verlieren 51 ). Wilson selbst zögerte noch. Für die Hartnäckigkeit seiner Neutralitätspolitik ist es bezeichnend, daß er am 6. April eine Art von Hilferuf an Grey telegraphieren ließ: ob es nicht besser sei, jetzt den mit House im Februar verabredeten Schritt zur Friedensvermittlung durchzuführen, statt mit Deutschland zu brechen und dadurch (eine den Briten sicherlich schwer begreifliche Vorstellung!) den Krieg unermeßlich zu verlängern. Natürlich war das erfolglos, und so wurde am 20. April der deutschen Regierung eine scharfe N o t e überreicht, zwar nicht in der Form eines befristeten Ultimatums (das hatte Wilson in langen Beratungen gerade noch verhindert), aber doch einer unzweideutigen Drohung mit dem Abbruch diplomatischer Beziehungen, falls die deutsche Regierung nicht „unverzüglich" eine „Preisgabe ihrer gegenwärtigen Methode des Unterseebootkrieges gegen Passagier- und Frachtschiffe erklären und bewirken sollte". Die Note bedeutete einen geschichtlichen Wendepunkt. Durch sie ist die amerikanische Politik ein für allemal darauf festgelegt worden, ihre Neutralität aufzugeben, sobald die Deutschen fortführen oder wieder anfingen, Handelsschiffe ohne Warnung zu versenken. Verhandlungen darüber waren jetzt zwecklos geworden. Der Eindruck in Berlin war tief deprimierend. Gab die Regierung auf eine so grobe Drohung nach, so waren neue innerpolitische Stürme vorauszusehen, die unter Umständen zum Sturz des Kanzlers und zur Rückberufung von Tirpitz führen konnten (der sogleich eine neue, beschwörende Denkschrift beim Kaiser anmeldete und — allerdings vergeblich — eine Audienz erbat). Bethmann Hollweg fand es zunächst unmöglich, vor Amerika einfach zurückzuweichen 52 ), stieß aber beim amerikanischen Botschafter Gerard auf eine so rücksichtslos feste Haltung, daß er jede H o f f n u n g auf ein Kompromiß fahren ließ. Zu seinem Glück f a n d er die Vertreter der

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Marine in den Besprechungen, die er in den Ostertagen (23.—24. April) in Berlin mit Holtzendorff und den Staatssekretären Capelle und Helfferich führte, weniger hartnäckig, als man erwarten konnte. Capelle, früher einer der engsten Mitarbeiter des Großadmirals, war so einsichtig, endlich die nüchterne Tatsache anzuerkennen, daß bisher schon der weitaus größte Teil der Versenkungen von aufgetauchten U-Booten durch Artilleriefeuer und nach vorhergehender Warnung ausgeführt war und daß sich dieser Erfolg durch verstärkte Bewaffnung der Boote noch vergrößern ließe. Der „verschärfte" U-Boot-Krieg hatte im März nur 60 000 t mehr Versenkungen gegenüber Februar erbracht - um eines solchen Erfolges willen lohne es in der Tat nicht, einen Krieg mit Amerika anzufangen. Auch Holtzendorff ließ sich (wie es scheint) überraschend schnell umstimmen: zwar hielt er daran fest, daß ohne hemmungslosen U-Boot-Krieg England nicht zu besiegen und ein Bruch mit Amerika rein militärisch nicht sehr zu fürchten sei, gab aber zu, daß unsere wirtschaftliche Lage dadurch noch wesentlich verschlimmert, der Krieg ins Unabsehbare verlängert, unser Risiko also zum „Va-banque-Spiel" gesteigert würde, was „einiger hunderttausend Tonnen feindlicher Handelstonnage wegen" nicht zu verantworten sei 53 ). So konnte es der Kanzler durchsetzen, daß schon am 24. April Weisung an die Flotte erging, bis auf weiteren Befehl dürfe nur noch nach „Prisenordnung" Handelskrieg geführt werden: eine Verfügung des Admiralstabs, die der Chef der Hochseeflotte Scheer trotzig damit beantwortete, daß er alle U-Boote vom Handelskrieg zurückrief, diesen also einfach einstellte. Noch stand Bethmann Hollweg die heikle Aufgabe bevor, auch den Kaiser für seine Politik des Nachgebens zu gewinnen und den leidenschaftlichen Widerspruch des Generalstabschefs zu überwinden, der schon am 10. März in einer (pathetisch gehaltenen) Immediateingabe erneut für Aufnehmen des unbeschränkten U-Boot-Krieges plädiert hatte. Das schien anfangs nicht allzu schwierig. Auf einer Konferenz mit Holtzendorff und Falkenhayn, die am 26. April in Charleville stattfand, setzte sich zwar der Generalstabschef erneut gegen die amerikanische Forderung zur Wehr, machte aber einen (praktisch aussichtslosen) Kompromißvorschlag 54 ). Und Wilhelm II. schien zunächst entschlossen, unter allen Umständen den Bruch mit Amerika zu vermeiden. Aber diese Haltung änderte sich schon in den nächsten Tagen, als Tirpitz' neue, große Denkschrift eintraf, Admiral Scheer die Fortsetzung des U-Boot-Krieges nach „Prisenordnung" für aussichtslos erklärte und verweigerte und vor allem Falkenhayn neue Vorstellungen er-

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hob: die Verdun-Offensive sei unter der Voraussetzung begonnen worden, daß der unbeschränkte U-Boot-Krieg England in absehbarer Zeit schachmatt setzen würde. Unterbliebe dieser nun, so würde die Fortsetzung der Offensive sinnlos und Deutschland auf die reine Defensive zurückgeworfen, in der es auf die Dauer unterliegen müsse. Es liegt kein Grund vor, daran zu zweifeln, daß dies seine ehrliche Uberzeugung war; aber offensichtlich war es auch ein Versuch, die Verantwortung für den Mißerfolg der großen, blutigen Verdun-Offensive (der im Grunde schon jetzt feststand), j a letzlich für den Mißerfolg des ganzen Krieges auf die Politik, d.h. auf den Kanzler abzuwälzen. U n d so war es für diesen eine böse Enttäuschung, daß der Kaiser sich ohne weiteres diese Argumentation zu eigen machte und ihm am Sonntag, den 30. April, in einer Morgenaudienz erklärte, die Fortsetzung diplomatischer Beziehungen zu Amerika bringe uns ja doch „nichts Positives" ein. „Sie haben also die Wahl zwischen Amerika und Verdun." Für die Menschlichkeit Bethmann Hollwegs war das zuviel der seelischen Belastung. D e m Kabinettschef Valentini hat er am nächsten Morgen verzweifelnd gesagt, angesichts der fortgesetzten Anfeindung durch die Militärs und den größten Teil des verhetzten Volkes halte er seine Lage f ü r unerträglich, j a unhaltbar: er müsse nun eben Falkenhayn den Platz räumen 5 5 ). Valentini hatte den Eindruck eines so völligen seelischen Zusammenbruchs, daß er selbst zweifelhaft wurde, ob er nicht dem Kaiser einen Kanzlerwechsel empfehlen müsse (Falkenhayn Kanzler, Hindenburg Generalstabschef), da Bethmann der schwierigen L a g e nicht mehr gewachsen sei. Offensichtlich hat er aber damit die politische Energie Bethmann H o l l wegs erheblich unterschätzt; denn statt zurückzuweichen, hatte dieser schon tags vorher Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um den Kaiser umzustimmen. Noch am Sonntag nachmittag hatte er telefonisch und telegraphisch J a g o w und Helfferich aus Berlin zu Hilfe gerufen, die auch sofort telegraphische Gutachten zu seiner Unterstützung sandten. Er selbst wies in einer Denkschrift mit Energie die Zumutung zurück, f ü r den Mißerfolg von Verdun irgendwelche Verantwortung zu übernehmen. Die Frage, wie der Bruch mit Amerika vermieden werden könnte, sei eine rein politische, ebenso wie die nach der Wirkung des U-Boot-Kriegs auf England. Ob der Abbruch der Offensive von Verdun aus lokalen militärischen Gründen notwendig sei, müsse der Generalstabschef selbst entscheiden; seine politische Begründung beruhe auf falschen Voraussetzungen und sei deshalb unzureichend. E r , der Kanzler, lehne jede Verantwortung ab für einen solchen E n t -

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Schluß, der für Deutschlands allgemeine Situation sehr nachteilig sein würde. Es ist zweifelhaft, ob diese Aufzeichnung dem Kaiser überhaupt vorgelegt worden ist; denn schon am Sonntag abend schaltete sich (offenbar ohne Wissen des Kanzlers) wieder einmal Admiral von Müller als Vermittler bei Wilhelm II. ein. Da er zugleich im Auftrag Capelles und Holtzendorffs sprach, die (nach seinem Bericht) über den neuerlichen Umfall des Kaisers geradezu „empört" waren, und da er sich auf eine ihm übergebene Aufzeichnung Holtzendorffs stützen konnte 56 ), vertrat er die volle Autorität der obersten Flottenleitung und hatte demgemäß raschen Erfolg. Sein Eindruck war, daß den Kaiser „zuletzt doch der Gedanke, Amerika auf den Hals zu bekommen, furchtbar sei". Bethmann Hollweg hat von dieser neuesten Wendung, wie seine Äußerungen gegenüber Valentini zeigen, offenbar erst am Nachmittag des 1. Mai erfahren, als er die (schon seit Tagen erbetene) Zustimmung des Kaisers zu einer neuen Audienz des amerikanischen Botschafters Gerard erhielt. Diesen hatte er ins Hauptquartier eingeladen, damit er den Monarchen mündlich über die Haltung seines Präsidenten aufklären sollte, über die auf dem normalen diplomatischen Weg im Augenblick nichts Genaues zu erfahren war. Das war ein ebenso ungewöhnlicher wie (bei der Natur Wilhelms II.) riskanter Schritt, der aber vollen Erfolg hatte. Der Empfang verlief in guter Atmosphäre, der Botschafter konnte dem Kaiser die amerikanische Sicht des U-Boot-Streites ausführlich entwickeln und dessen z. T. etwas primitive Vorwürfe widerlegen, ohne daß es zu einer Verstimmung kam 5 7 ). Gleich darauf entschloß sich Wilhelm II., dem Kanzler eine vom Auswärtigen Amt aufgesetzte Antwortnote an Amerika zu genehmigen, die den verschärften U-Boot-Krieg preisgab. Sie begann (im Interesse der propagandistischen Wirkung auf die Deutschen) mit gehäuften Anklagen gegen die englische Blockadepolitik und ihre Begünstigung durch Amerika, endete aber mit der Erklärung, künftig würden auch im Kriegsgebiet von England „Kauffahrteischiffe nicht ohne Warnung und Rettung der Menschenleben versenkt werden", falls sie nicht zu fliehen versuchten oder Widerstand leisteten. Allerdings war eine Klausel angehängt: die deutsche Regierung erwarte nun die Einlösung des amerikanischen Versprechens in der 3. Lusitanianote (vom 23. Juli 1915), für die „Freiheit der Meere" bei den Westmächten einzutreten, also eine Revision der englischen Blockadepolitik durchzusetzen. Sollte das nicht gelingen so behielten wir uns „volle Freiheit der Entschließung" vor 58 ). Das entsprach genau den Vorschlägen, die Helfferich schon im August

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1915 gemacht hatte und war auch auf dessen Verlangen eingefügt worden. Innenpolitisch wirkte es ausgezeichnet, da es unsere Antwortnote nicht als Kapitulation vor amerikanischen Drohungen, sondern eher als großmütige und zeitweilige Konzession erscheinen ließ 59 ). Außenpolitisch war es von vornherein aussichtslos, da die amerikanische Regierung weder gewillt noch in der Lage war, eine Preisgabe der britischen Blockadepolitik zu erzwingen. Es hatte also nur die Folge, daß sich Wilson in einer neuen N o t e vom 10. Mai gegen den neuen deutschen Vorbehalt verwahrte: die amerikanische Regierung könne ihren Anspruch auf Achtung neutraler Rechte und der Gesetze der Menschlichkeit in keiner Weise von dem Erfolg diplomatischer Verhandlungen mit irgendeiner anderen kriegführenden Macht abhängig machen. Das war f ü r die deutsche Politik eine neue Enttäuschung. Denn zweifellos hat bei ihrem Verzicht auf den verschärften U-Boot-Krieg die Erwartung (oder doch Hoffnung) eine erhebliche Rolle gespielt, den Präsidenten Wilson dadurch zu einem f ü r Deutschland günstigen Schritt in London zu bewegen: wenn nicht zur Revision der britischen Blockadepolitik, dann zur Herbeiführung eines Verständigungsfriedens. Schon am 11. April hatte Graf Bernstorff von einem vertraulichen Gespräch mit Oberst House berichtet, in dem dieser von Wilsons Absicht gesprochen habe, „in wenigen Monaten Frieden zu stiften 6 0 )". Das Auswärtige Amt war darauf sofort mit Eifer eingegangen. Der Reichskanzler hatte während der Ostertage in mehrfachen Aussprachen mit Gerard versucht, diesem klar zu machen, daß er nicht hoffen könne, die aufgeregte öffentliche Meinung in Deutschland f ü r eine friedliche Verständigung mit Amerika zu gewinnen, wenn dieses nichts täte, um gegen die englische Blockadepolitik vorzugehen. Dabei hatte er, ähnlich wie schon am 18. März 61 ), stark betont, daß seine Regierung jederzeit bereit sei, Frieden zu schließen, und zwar zu „liberalen Bedingungen" (die er im einzelnen nicht bekanntgeben könne, ehe irgend jemand zu Verhandlungen geneigt wäre). Uber dasselbe Thema hatte er dann inCharleville in zahlreichen Unterhaltungen mit Gerard weiter verhandelt, und dabei muß der Amerikaner in Aussicht gestellt haben (ähnlich wie zuvor House), Präsident Wilson werde „am Ende des Sommers" den Kriegführenden seine guten Dienste zur Herbeiführung des Friedens anbieten. Hinter solchen Versprechungen kann kaum etwas anderes gestanden haben als die Tatsache, daß Wilson und House noch immer nicht ihre (uns schon bekannte) H o f f nung begraben hatten, das „Grey-House-Memorandum" vom Februar könnte

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doch noch eines Tages zum Zuge kommen. Vom Inhalt dieses Memorandums und den darin enthaltenen Minimalbedingungen für den Frieden erfuhr Bethmann Hollweg indessen nichts. Hätte er die wahre Gesinnung unserer Gegner und des amerikanischen Vermittlers gekannt, so wäre er vielleicht nicht so weit gegangen, wie er es in Charleville dem amerikanischen Botschafter gegenüber tat: House zu neuen Verhandlungen nach Berlin einzuladen und die H o f f n u n g auf Wilsons Friedensvermittlung nochmals deutlich auszusprechen 62 ). Graf Bernstorff, der davon aus Gerards Bericht (auf dem Weg über House) erfuhr, war sogleich voller H o f f n u n g und riet, den U-BootKrieg nicht bloß einzuschränken, sondern vorläufig ganz einzustellen. Bethmann Hollweg war skeptischer: das deutsche Volk, meinte er, sei voller „Animosität" gegen Amerika und werde an dessen ehrliche Vermittlerrolle nicht glauben, so lange Wilson noch nichts getan hätte, um die britische Politik umzustimmen. Zuerst müsse er die Engländer dahin bringen, daß sie sich bereitwillig zeigten, „mit uns, wenn auch vielleicht zunächst inoffiziell, über Frieden zu sprechen", sonst entstünde ein „unhaltbarer Zustand". Aber H o u s e sei in Berlin jederzeit „sehr willkommen" (6. Mai) 6 3 ). Die Einladung blieb unbeantwortet, und die amerikanische N o t e vom 10. Mai, die der Kanzler unbeantwortet ließ, enttäuschte seine H o f f n u n g , a u f dem von ihm erstrebten Weg zur Verständigung mit England Amerikas H i l f e als Vermittler zu gewinnen. Dennoch hat er seine Versuche dazu bis zum Ende des Jahres nicht wieder aufgegeben. Sie wurden dadurch erleichtert, daß der U-Boot-Krieg in den britischen Gewässern f ü r viele Monate völlig zum Stillstand kam, und sie konnten mit dem Ehrgeiz Wilsons rechnen, gerade im J a h r seiner Wiederwahl als Friedensstifter aufzutreten. Wie verschwindend gering dennoch ihr Aussicht auf Erfolg war, ist uns nach dem Verlauf der Mission Houses im März 1916 bereits deutlich. Übrigens wurde der Abschluß der Sussex-Krise nicht ohne einen letzten schweren Konflikt im Hauptquartier von Charleville erreicht. Der Kaiser hatte am Abend des 1. Mai seine Entscheidung in einer Aussprache mit dem K a n z l e r allein getroffen, ohne Falkenhayn und die Admiräle nochmals heranzuziehen - mit der Begründung, er kenne ja schon ihre Ansichten, in Wahrheit aber wohl doch, um neuen quälenden Diskussionen auszuweichen. Am nächsten T a g bat der Generalstabschef um seine Verabschiedung — ein Schritt, den er noch kurz zuvor gegenüber Tirpitz als unsoldatisch mißbilligt hatte. Aber offenbar war auch er am Ende seiner Hoffnungen — der politischen ebenso wie der militärischen. Vom Kanzler fühlte er sich über-

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rumpelt und hintergangen, vom Kaiser, der ihm noch zwei Tage vorher zugestimmt hatte, zum zweiten Mal im Stich gelassen. Er bestand aber nicht auf seinem Willen, als ihn Kaiser Wilhelm II. bitten ließ zu bleiben, und zwar — wie er versichert - aus dem soldatischen Empfinden heraus, daß er einem bereits gegebenen kaiserlichen Befehl nicht öffentlich opponieren dürfe. Mit Bethmann gab es noch einen kurzen, gereizten Briefwechsel über die U-Boot-Frage, der jede Verständigung ausschloß. Die politische Zusammenarbeit der beiden Männer hatte damit ihr Ende gefunden. Keiner von beiden hat dem andern diesen Konflikt wieder vergessen.

6. Kapitel S C H E I T E R N DER V E R D U N - O F F E N S I V E U N D DER Ö S T E R R E I C H I S C H - U N G A R I S C H E N

ZERBRÖCKELN

ABWEHRFRONT

STURZ F A L K E N H A Y N S

Wie tief die gegenseitige Verstimmung zwischen Bethmann Hollweg und Falkenhayn ging, zeigte sich bald in einem charakteristischen Zusammenstoß über die Frage der Kriegszensur. Diese w a r der Gegenstand sehr a u f geregter Plenardebatten des Reichstags in den letzten Maitagen, in denen vor aller Welt deutlich wurde, daß die Periode des patriotischen „Burgfriedens" der Parteien zu Ende ging und die tiefen innen- und außenpolitischen Gegensätze zwischen rechts und links gewaltsam ans Licht drängten. Schon die große Reichstagsrede des Kanzlers vom 5. April, von der wir früher hörten (Ende von Kap. 4 1 )), hatte unter dem Druck dieser Spannungen gestanden und sich in ihren Formulierungen einer gewissen Zweideutigkeit bedienen müssen, um wenigstens den äußeren Anschein politischer Einmütigkeit des Reichstages zu erzielen. In den Verhandlungen der folgenden Wochen, in denen es Klagen und Beschwerden über N ö t e und M i ß stände der verschiedensten Art hagelte, waren alle Parteien einmütig nur darin, d a ß sie gegen die Pressezensur und die Verbote öffentlicher K u n d gebungen aufbegehrten: die Linke, weil sie offen f ü r baldigen Frieden, Völkerversöhnung und innerpolitische R e f o r m demonstrieren, die Rechte, weil sie die Propaganda f ü r Annexion und unbeschränkten U-Boot-Krieg und ihre Opposition gegen den „schlappen" Kanzler noch hemmungsloser betreiben wollte. Es w a r ein Stück der T a k t i k dieser Opposition, daß sie zwischen „militärischer" und „politischer" Zensur unterschied, jene loyal gelten lassen wollte, diese um so schärfer kritisierte. N u n gehörte es zum Erbe des altpreußischen „Militarismus", daß die Pressezensur (als M a ß nahme des sogen. „Belagerungszustandes") allein den stellvertretenden Generalkommandos, also reinen Militärbehörden zustand, auf die der Kanzler und das Auswärtige Amt nur durch allgemeine Weisungen an die Oberzensurstelle des stellvertretenden Generalstabs, also nur indirekt und nicht durch

Scheitern der V e r d u n - O f f e n s i v e . S t u r z F a l k e n h a y n s

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Befehle einwirken konnten; denn die Generäle waren (nach bismarckscher Tradition) dem Kaiser unmittelbar unterstellt. Daraus erwuchs beständig neuer Verdruß zwischen Zivil- und Militärbehörden. Natürlich waren die Generalkommandos und der Generalstab immer geneigt, mit Verboten und Zensurstrichen eher gegen die Links- als gegen die Rechtspresse einzuschreiten. Bethmann Hollweg aber kam es vor allem darauf an, die unglückselige Kriegsziel- und U-Boot-Debatte in der Presse so lange als möglich zu unterdrücken, um der Erhaltung des „Burgfriedens" willen, und so rief seine „politische" Zensur bei den Rechtsparteien ständig neue Erbitterung wach. Unter diesen Umständen mußte es ihm sehr unangenehm sein, als er gerade während der Zensurdebatten im Reichstag Ende M a i aus den Zeitungen erfuhr, daß der Generalstabschef Falkenhayn dem Reichsverband der deutschen Presse erklärt hatte, „er halte jede Beschränkung der Pressefreiheit f ü r schädlich, die nicht den Zwecken der Kriegführung dient". D a s war als Antwort auf eine an den Kanzler gerichtete Eingabe des Presseverbandes geschrieben worden, in der eine Lockerung der Pressezensur erbeten wurde und von der man Falkenhayn eine Abschrift hatte zugehen lassen. Natürlich war es unkorrekt, daß der Generalstabschef eine solche Antwort überhaupt erteilte, ohne sich vorher mit dem Kanzler zu verständigen, und es wurde sofort in der Presse als W a f f e im politischen K a m p f gegen diesen ausgenützt. O b aber der General sich der politischen Wirkung seines Schrittes bewußt gewesen ist, erscheint nach der Korrespondenz, die er mit Bethmann darüber führte, mindestens zweifelhaft. Ein sachlicher Gegensatz in der Zensurfrage scheint ihn von Bethmann gar nicht getrennt zu haben: er war ebenso wie der Kriegsminister Wild von Hohenborn der Meinung, die Kriegszieldebatte dürfte erst dann freigegeben werden, wenn die Regierung in der Lage wäre, mit positiven Erklärungen darin einzugreifen, d. h. wenn der Friede gesichert wäre. U m so bemerkenswerter ist die ungewöhnliche Schärfe, mit der sich der Kanzler den Ubergriff des Generals in seine Amtssphäre verbat. Er hat sogar eine Immediatbeschwerde darüber aufsetzen lassen und eigenhändig noch verschärft 2 ). Sicherlich erklärt sich seine Gereiztheit daraus, daß er eben damals von seinen Gegnern auf der Rechten in wahrhaft heimtückischer Weise verfolgt wurde. D a ihnen die Presse für ihre A n g r i f f e nur begrenzt offen stand, ergingen sie sich um so hemmungsloser in geheimen, z. T. anonymen Broschüren und Denkschriften, die als Privatdruck vervielfältigt an Tausende von Adressen versandt, vielfach auch in den Schützengräben verbreitet wurden;

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Sechstes Kapitel

keine noch so grobe Verleumdung und Verdächtigung wurde von diesen Pamphletisten gescheut. Bethmann Hollweg hat sich dagegen in einer höchst temperamentvollen Reichstagsrede am 5. Juni zur Wehr gesetzt, die man wohl als seine bedeutendste oratorische Leistung betrachten darf. Er stellte zwei besonders üble Produkte der Hetzliteratur an den Pranger 3 ), warb aber zugleich mit einer solchen Leidenschaft um die Gefolgschaft der Nation, wie man sie aus dem Munde eines hohen kaiserlichen Beamten wohl noch nie gehört hatte; niemals ist er dem Typus des demokratischen Volksredners so nahe gekommen wie in diesem Augenblick, in dem er die Nation beschwor, endlich das altererbte, vergiftende Mißtrauen gegen die „nationale Gesinnung" der demokratischen Linken aufzugeben, aber auch die von dorther kommenden revolutionären und klassenkämpferischen Schlagworte fallen zu lassen und sich zusammenzufinden zu einer geschlossenen, kämpfenden Volksgemeinschaft. Der Eindruck seines Auftretens war außerordentlich stark, und nicht nur bei den Linksparteien. Niemand wagte im Reichstag und in der Presse eine offene Verteidigung der Pamphletisten. Selbst General Falkenhayn empfand offenbar das Bedürfnis, recht sichtbar von ihnen abzurücken. Jedenfalls schickte er dem streitbaren Kanzler (trotz der eben laufenden Korrespondenz über die Pressezensur und zur höchsten Verwunderung des Kriegsministers Wild) ein Glückwunschtelegramm zur glücklichen Abwehr der »Annexionsphantasten und U-Boot-Utopisten« 4 ). Auch einem Teil der Konservativen wurde jetzt schwül: sie fürchteten, es durch weitere Angriffe auf den Kanzler f ü r immer mit dem Kaiser zu verderben, ließen diesem durch einen Sendboten (von Kessel) ihre Loyalität beteuern, suchten teilweise auch mit dem Kanzler und Valentini persönlich Fühlung und d ä m p f ten wenigstens vorübergehend den Ton ihrer Opposition 5 ). Dazu wird beigetragen haben, daß Wilhelm II. persönlich tief erbittert war über Andeutungen der Gerüchtemacher und Pamphletisten, er selber sei mit schuld an der Schwäche der Reichspolitik, wolle keine U-Boot- und Zeppelin-Angriffe auf London wegen seiner Verwandtschaft mit dem englischen Königshaus und um sein Vermögen von 500 Millionen in der Bank von England zu retten. Es liefen noch andere bösartige Gerüchte in der Marine um: in der Wilhelmstraße sei man unglücklich über die erfolgreiche Seeschlacht bei Skagerrak, weil sie schon angelaufene Verhandlungen mit England über einen schmachvollen Frieden störe. Als der Kaiser aus dem Munde des K r o n prinzen erfuhr, daß dieser so unsinnigen Reden Glauben schenkte, wurde er

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diesem gegenüber sehr grob und löste seinen politischen Berater, Landrat von Maitzahn, einen der radikalsten Alldeutschen und Gegner Bethmanns, von seinem Posten ab 6 ). Um dieselbe Zeit gelang es auch den Anhängern Bethmanns, endlich eine Gegenbewegung gegen die Annexionisten in Gang zu bringen: durch die Gründung eines „Nationalausschusses f ü r einen deutschen Frieden" unter Vorsitz des früheren Statthalters von Elsaß-Lothringen, Fürsten Wedel, und auf Anregung des Abgeordneten Erzberger, nicht ohne Unterstützung und Mitwirkung amtlicher Kreise 7 ). Das alles hinderte freilich nicht, daß die alldeutsche Hetze gegen die Politik der Reichsregierung den ganzen Sommer über fortging — heimlich und öffentlich. Alldeutsche Führer bemühten sich sogar, den bayrischen Partikularismus gegen den verhaßten Kanzler zu mobilisieren. Dabei kam ihnen die Unzufriedenheit der Bayern darüber zu Hilfe, daß seit der Errichtung des Kriegsernährungsamtes unter dem Ostpreußen von Batocki (Frühsommer 1916) auch die bayrische Landwirtschaft zu stärkeren Leistungen an die Gesamtheit genötigt wurde als vorher, worüber in den Münchner Bier- und Kaffeehäusern weidlich geschimpft wurde. Im Juli wurde auf Beschluß einer Münchner Sitzung des alldeutschen Verbands eine Eingabe an sämtliche Bundesfürsten versandt, in der diese aufgerufen wurden, gegen die Politik der Reichsregierung aktiv vorzugehen; sie verlängere den Krieg (durch Verweigerung des unbeschränkten U-Boot-Krieges) mit der Folge, daß durch die ungeheuren Zinslasten der Kriegsausgaben die Finanzen der Einzelstaaten ruiniert würden, da sie nur durch direkte Steuern aufgebracht werden könnten. Es fehlte nicht der Hinweis, daß nur große Kriegsentschädigungen und Annexionen von Landgebieten, Forsten, Bergwerken, Industrien, Eisenbahnen usw. die deutsche Finanzlast erleichtern könnten. Dazu kam eine (von bayrischen Stammtischpolitikern und Prominenten unterzeichnete, aber von Grafen Reventlow veranlaßte) Adresse an den König von Bayern, die ihn beschwor, den Ruhm des Hauses Wittelsbach durch tatkräftiges, „rettendes" Eingreifen in das Schicksal Deutschlands „mit neuem Glanz zu umgeben". Sie wurde Ludwig III. am 5. August durch eine Deputation rabiater Alldeutscher vorgelegt und von ihm recht ungeschickt beantwortet, indem er sich auf eine Diskussion einließ, die den Ministerpräsidenten, Grafen Hertling, in arge Verlegenheit brachte. Dieser selbst sah sich durch oppositionelle Stimmungen im Lande bedroht, rief (nicht ohne Erfolg) den Kardinalerzbischof Bettinger gegen die Hetzaktionen zu Hilfe und wehrte nur mit Mühe das Andrängen von Marineleuten ab, die ihn

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gegen Bethmanns Politik aufbringen wollten. Zuletzt benutzte er wieder das Hilfsmittel des diplomatischen Bundesratsausschusses, um scheinbar (nämlich der Opposition gegenüber) den Kanzler zur Rede zu stellen, in Wahrheit ihn zu unterstützen, wobei er, wie immer, die tatkräftige H i l f e Herrn von Weizsäckers f a n d . Man beschloß, die alldeutsche Eingabe unbeantwortet zu lassen (Sitzung v o m 8.—9. August 8 )), nachdem man erfahren hatte, daß die Zahl der großen U-Boote seit M ä r z nur um 7 gestiegen sei. Die Einheitsfront von 1914 war also unaufhaltsam am Zerbröckeln, alle Anstrengungen Bethmann Hollwegs, sie zu retten, zuletzt doch vergeblich. Es fällt aber auf, daß in den Kundgebungen, Eingaben und Denkschriften der Kanzlerfronde im Sommer 1916 die Forderung großer Annexionen weniger laut ertönte als die nach dem unbeschränkten U-Boot-Krieg; ganz deutlich spielte auch die Besorgnis preußischer Konservativer vor innenpolitischen Reformen mit hinein 9 ). In der T a t w a r die Kriegslage dieses Sommers wenig dazu angetan, die H o f f n u n g auf einen Siegfrieden und großen Landerwerb zu beleben und alldeutsche Proklamationen dieser Art populär zu machen. Im Gegenteil. Der Krieg war in ein Stadium eingetreten, das zum ersten Mal das Gespenst der Niederlage am — immerhin noch fernen — Horizont erscheinen ließ. U n d nichts anderes als die Furcht des Kanzlers vor einer katastrophalen Wendung des Kriegsglücks hat ihn in diesen Monaten bestimmt, planmäßig auf einen Wechsel der Obersten Heeresleitung hinzuarbeiten. Seine Zweifel an den militärischen Fähigkeiten des Generalstabschefs waren durch die ungeheuer verlustreiche Verdun-Offensive wesentlich verstärkt worden. Falkenhayn selbst hat freilich Ende August ihm gegenüber bestritten, daß dieses Unternehmen verfehlt gewesen sei. Er habe niemals geglaubt, Frankreich dadurch dem Frieden geneigt zu machen, „jedenfalls nicht mehr, als es jede positive Kriegshandlung t u t " . Sein ausgesprochener Sonderzweck sei vielmehr gewesen, „einerseits Frankreich, wenn sich sein Heer vor der Festung stellte, durch kräftiges Ausbluten und, wenn die Festung aufgegeben wurde, durch innere Erschütterungen für den weiteren Kriegsverlauf möglichst lahmzulegen, andererseits England zum vorzeitigen Einsatz seiner gesamten K r ä f t e zu reizen. Beides ist gelungen, nicht so wie es gehofft wurde — das geschieht im Kriege fast nie —, aber doch in erträglichem M a ß e " . Frankreich habe „eine starke Viertelmillion erprobter Soldaten vor Verdun mehr verloren als w i r " . Was wäre geschehen, wenn diese Armee an der Somme oder sonstwo eingegriffen hätte und wenn Eng-

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land seine Somme-Offensive nicht schon Ende Juni, sondern erst im August begonnen hätte, nachdem wir unsere Reserven im Westen so außerordentlich stark zugunsten der (durch Verschulden der Österreicher ins Wanken geratenen) Ostfront hätten schwächen müssen 1 0 )? Diese Selbstverteidigung war keine nachträgliche Konstruktion. Wir wissen schon aus der Weihnachtsdenkschrift Falkenhayns, daß er weder an einen Durchbruch bei Verdun noch unbedingt an die Eroberung der Festung geglaubt hat, sondern nur an eine starke militärische und moralische Schwächung des französischen Gegners. Dessen Widerstandskraft nennt er „unerwartet" stark, gibt also damit selber zu, daß er sie unterschätzt hat. Die Franzosen konnten sehr viel mehr Reserven in die Schlacht werfen, als er f ü r möglich gehalten hatte und hielten weit zäher durch. Ihre Verluste im Vergleich mit den deutschen scheint der General stark überschätzt zu haben, und sicher ist, daß die von deutscher Seite bei Verdun eingesetzten 47 Infanterie-Divisionen weit stärker verbraucht waren als die an K o p f z a h l doppelt so starke französische Infanterie, die in viel rascherem Wechsel an die Front kam 1 1 ). Nachträglich wird man nicht anders urteilen können, als daß die Verdun-Offensive von vornherein mit viel zu schwachen K r ä f ten (und eben darum nur auf dem Ostufer der Maas, also auf zu schmaler Front) angesetzt war, um einen wirklich großen E r f o l g zu erzielen. D a s geschah, wie es scheint, weil der Generalstabschef sie letztlich nur als Teilaktion plante, in der H o f f n u n g , dadurch einen Durchbruch an anderer Stelle zu ermöglichen, vor allem aber die Engländer zu verfrühtem Losschlagen zu zwingen und dann mit Einsatz aller Heeresreserven ihnen durch eine kräftige Gegenoffensive statt mit bloßer Abwehr zu begegnen 1 2 ). Man kann das angesichts der sehr geringen Zahl unserer Heeresreserven Vermessenheit nennen; Überschätzung der eigenen K r a f t und Unterschätzung der gegnerischen war es auf jeden Fall. Aber die große englische „Kitchener-Armee" war nun einmal seit langem schon der Alpdruck unserer Obersten Heeresleitung, und wie gefährlich ihre Offensive war, vor allem dank ihrer enormen artilleristischen Ausrüstung und ihrer noch völlig unerschöpften Menschenreserven, hat ja dann auch die große Schlacht an der Somme fürchterlich gezeigt. Daß Falkenhayn hier an der Westfront und insbesondere an der englischen die H a u p t g e f a h r f ü r Deutschland erblickte und nicht im Osten, kann man ihm unmöglich zum Vorwurf machen. E r hatte zweifellos recht damit, wenn er dem Kanzler Ende August vorhielt: „ob wir an der Düna oder an der Aa, an der Berezyna oder am Njemen, am Stochod oder an der

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Turija stehen, ist f ü r die Kriegsentscheidung gleichgültig, es sei denn, daß dadurch Rumäniens Eingreifen herbeigeführt würde, das aber nach meiner Überzeugung von ganz anderen Faktoren abhängig ist. Dagegen würde eine ähnliche Rückwärtsbewegung im Westen mit Sicherheit unsere gesamte Front ins Wanken bringen. In solchem Fall könnten uns auch glänzende Erfolge im Osten nicht mehr helfen 13 )." Falkenhayn konnte auch unmöglich voraussehen, daß die österreichische Armee an einer so gut gesicherten und so völlig ausreichend besetzten Frontstelle haltlos zusammenbrechen würde, wie es seit Anfang Juni an der wolhynischen Front geschah. Erst dadurch aber wurden alle seine Pläne für die Westfront über den Haufen geworfen. Nach alledem war die Verdun-Offensive keineswegs ein kopfloses Abenteuer, sondern Teilstück einer weitschauenden strategischen Planung, und die militärische Kritik richtet sich weniger gegen das Unternehmen als solches als gegen seine Durchführung: dagegen, daß Falkenhayn die Offensive viel zu lange fortführen ließ, obwohl ihm schon Ende März die ersten Zweifel aufstiegen, ob er sie nicht abbrechen müsse. Den Vorwurf, daß er sich in dieser Frage allzusehr von dem Kampfgeist und den technischen Bedenken des Generalstabschefs der Heeresgruppe Kronprinz (von Knobelsdorf) bestimmen ließ und so ein entsetzliches Blutvergießen ohne Ende herbeiführen half, hat er nicht von sich abschütteln können. Diesen Fehler einfach aus soldatischem Ehrgeiz erklären, der einen Mißerfolg nicht zugeben will (wie es seine Gegner taten), wäre sicher zu einfach. Eine Kampfhandlung, in die auf beiden Seiten so gewaltige K r ä f t e verstrickt waren wie bei Verdun, ließ sich nicht von heute auf morgen einfach abbrechen ohne das Risiko gefährlicher Rückschläge. Falkenhayn hätte das aber voraussehen müssen, und es scheint auf eine gewisse Unsicherheit seines militärischen Urteils hinzudeuten, daß er sich darüber täuschte und deshalb Warnungen, die ihm vor Beginn der Verdun-Offensive von militärischen Experten zugingen 14 ), in den Wind schlug. Übrigens hat er schon seit Anfang April mehrfach befohlen, die Großoffensive abzubrechen und sich mit kleineren Teilangriffen zu begnügen, soweit sie zur Verbesserung der Stellungen unvermeidlich wären. Er ist aber damit bis Ende August nicht recht durchgedrungen und hat sich offenbar zu lange von Knobelsdorfs Befürchtungen bestimmen lassen, französische Gegenangriffe könnten uns in die Ausgangsstellungen zurückwerfen, sobald unsere Aktivität nachließe. Anderseits ist einleuchtend, daß er nicht in der Lage war, aus dem Abschnitt vor Verdun größere Truppenmassen wegzunehmen, um sie an die Ostfront oder in die Sommeschlacht zu werfen,

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nachdem einmal die Franzosen eine so bedrohliche Angriffsarmee dort versammelt hatten. War am Ende der Gedanke überhaupt verfehlt, nach der so erfolgreichen Ost-Offensive von 1915 das Schwergewicht unserer K a m p f k r a f t wieder nach dem Westen zu verlegen? H ä t t e er im Frühjahr 1916 gegen Petersburg oder Moskau oder Kiew vorgehen sollen und Rumänien nötigenfalls gewaltsam mitreißen? Bei der längst geschwundenen Offensivkraft des österreichisch-ungarischen Bundesgenossen hätte das eine Konzentration deutscher Truppen im Osten erfordert, welche die Westfront nicht nur völlig von Reserven entblößte, sondern angesichts der gewaltig gesteigerten Stoßk r a f t englisch-französischer Angriffe in schwerste Gefahr brachte, durchbrochen zu werden. Die (gegen Falkenhayns Wirken sehr kritische) Militärhistorie des ehemaligen Reichsarchives kommt in ihrer abschließenden Betrachtung zu dem Schluß, er hätte schon seit dem Spätherbst 1914 in F r a n k reich eine weit zurückliegende Verteidigungslinie (Nieuport—Lille—Maubeuge—Metz—Straßburg—Oberrhein) mit Heranziehung ziviler Arbeitskräfte zu einer starken Defensivstellung ausbauen sollen, um so durch Frontverkürzung starke K r ä f t e zu Rußlands totaler Niederwerfung freizumachen 15 ). Für den politischen Historiker ist es keine Frage, daß eine solche Maßnahme (mag man über ihren militärischen Nutzen urteilen wie man will) politisch völlig untragbar gewesen wäre; sie kam, als letztes Rettungsmittel, erst für das J a h r 1918 in Betracht. Große, äußerlich eindrucksvolle „ S i e g e " hätten sich im Frühjahr 1916 wahrscheinlich in Italien erfechten lassen, wenn Falkenhayn den Wünschen Conrads entsprechend dessen Angriffsarmee an der Tiroler Front verstärkt oder die Isonzo-Front mit Hilfe deutscher K r ä f t e in Bewegung gebracht hätte. Aber seine (uns schon bekannte) Ablehnung entsprach nicht nur der militärischen Erwägung, daß wir unsere K r ä f t e nicht auf Nebenschauplätzen zersplittern durften, so lange wir keine absolute Rückenfreiheit im Westen und Osten hatten, sondern sicherlich auch seinem Mißtrauen gegen den Bundesgenossen: sowohl gegen die strategische Meisterschaft des Sanguinikers C o n r a d wie gegen die Leistungsfähigkeit seiner Truppen. Eine radikale Ausschaltung des von den Ententemächten völlig abhängigen Italien aus dem Krieg hielt er mit gutem Grunde f ü r aussichtslos, ein Vorschieben der Frontlinie von den Alpenhängen in die Po-Ebene militärisch nur für nachteilig 1 6 ). Der italienische Feldzug war also praktisch nichts weiter als eine (General Conrad und vielen Österreichern hochwillkommene) Gelegenheit,

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mit den verhaßten Nachbarn endlich einmal „abzurechnen" — ein Ziel, für das deutsches Blut zu vergießen, kein deutscher Generalstabschef verantworten konnte. Auffallend (und für das Verhältnis von Politik und Kriegführung in Deutschland bezeichnend) ist nur, daß Falkenhayn offenbar über die ganze Frage mit dem Reichskanzler kein Wort gewechselt hat, obwohl zu ihrer Entscheidung doch auch politische Erwägungen des Generalstabes wesentlich beitrugen. Jedenfalls wußte Bethmann Hollweg noch im August nichts davon, daß der Generalstabschef seinem österreichischen Kollegen schon im Dezember 1915 dringend von seinen Offensivplänen gegen Italien abgeraten hatte und daß der stark verspätete, rasch scheiternde Vorstoß aus Tirol, den Conrad trotzdem im Mai 1916 durchführte, gegen mehrfach wiederholte Warnungen erfolgt, ja daß der Beginn des Unternehmens dem deutschen Generalstab erst im letzten Augenblick mitgeteilt war 17 ). Es war sicherlich ein Unglück, daß dank der Uneinigkeit beider Generalstabschefs die militärische K r a f t der Mittelmächte im Frühjahr 1916 sich auf zwei Offensiven zersplitterte. Bei Verdun hätten zwar österreichische Divisionen das Mißgeschick auch nicht wenden können, und der Zahl nach war die russische Frontlinie nach dem Urteil deutscher wie österreichischer Heerführer trotz des Abzugs von sechs gegen Italien geführter Divisionen völlig ausreichend besetzt 18 ). Aber Conrad hatte gerade seine besten deutsch-österreichischen Truppen für sein Angriffsunternehmen aus der russischen Front herausgezogen, und so traf die große Offensive des russischen Generals Brussilow Anfang Juni auf eine kläglich versagende Abwehr. Vor allem bei der 4. österreichischen Armee in der Gegend von Rowno-Luck, wo die Russen eigentlich nur ein Ablenkungsmanöver geplant hatten, erzielten sie ganz unerwarteten Erfolg. Bis zum Mittag des zweiten Angriffstages hatten sie hier 40000 Gefangene gemacht, und die haltlos flüchtenden Reste der österreichischen Regimenter verloren sich mehr oder weniger in den Wäldern. Natürlich hing die Erschütterung der Kampfmoral im Heer des Bundesgenossen mit den nationalen Gegensätzen des Vielvölkerstaates zusammen: vor allem den böhmischen und ruthenischen Truppen wurde nachgesagt, daß sie in kritischen Augenblicken bataillonsweise zum Feind überliefen. Nach dem Bericht eines österreichischen Diplomaten aus dem Hauptquartier Teschen, von dem wir noch hören werden 19 ), war diesmal aber noch mehr die höhere Führung schuld: ein schon längst als unfähig erkannter Armeeführer (Erzherzog Franz Ferdinand), der mit seinem Offizierskorps schlechterdings alles versäumt hatte, was zur militärischen Schulung und Disziplinierung

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der Truppe gehörte, so daß der ruhige und gut ausgebaute Frontabschnitt bei Luck zu einem „ C a p u a in den wolhynischen S ü m p f e n " mit viel J a g d und Spiel statt militärischer Übung geworden war. Die panikartige Flucht der durchbrochenen Fronttruppen ging so schnell vor sich, daß zur Sammlung und Formierung wirksamer Gegenangriffe keine Zeit und Möglichkeiten blieb und die höhere Führung nichts weiter tun konnte als Löcher der Front mit eiligst herangeführten Reserven stopfen, so gut es gehen wollte. Bis Ende Juni waren 200 000 Mann verloren. Nach und nach dehnte sich der Rückzug auf die ganze österreichische Ostfront aus; am folgenreichsten wurde er bei der Südarmee, die im L a u f e des Sommers bis auf die Karpathenpässe zurückwich, die Bukowina den Russen preisgab und dadurch die R u mänen zum Eintritt in den Krieg ermutigte. Diese f ü r die Mittelmächte höchst unglücklichen Ereignisse sind für ihr gegenseitiges Verhältnis, für die Wendung des Kriegsglücks, aber auch für Falkenhayn persönlich und später auch f ü r Conrad von Hötzendorff verhängnisvoll geworden. N u r drei Wochen nach Beginn der Brussilow-Offensive brach an der Westfront ein so ungeheures Trommelfeuer der englischfranzösischen Artillerie los, wie es die Welt noch nie erlebt hatte. Wer (wie der Verfasser) als Frontoffizier das fürchterliche Ringen zu Tode erschöpfter Truppen auf den Trichterfeldern und Trümmerhaufen an der Somme miterlebt hat, kann heute nur mit größter Verwunderung lesen, daß Ludendorff noch am 29. Juni, also fünf Tage nach Beginn des französisch-englischen Trommelfeuers und mehr als drei Wochen nach dem Durchbruch der Russen bei Luck, sich mit Erbitterung beim Auswärtigen Amt darüber beschweren konnte, daß Falkenhayn ihm nicht im M a i sechs Divisionen zur Eroberung Rigas überlassen habe (ein Versäumnis, das der General ausschließlich aus persönlicher Eifersucht ableitete), und daß er diese sechs mühsam für den Osten freigemachten Divisionen als frei verfügbare Reserven betrachtete 20 ). Es beleuchtet die geradezu verzweifelte L a g e des deutschen Generalstabschefs im Juli 1916: von allen Seiten zugleich um Truppenhergabe bedrängt, kann er an strategische Entschließungen höherer Art überhaupt nicht mehr denken. Er ist gezwungen, von einer Nothilfe zur anderen greifend, sozusagen von der H a n d in den Mund zu leben. Es ist selbstverständlich, daß jetzt alle mit Kritik über ihn herfallen; denn keinem kann er, bei restloser Erschöpfung der Heeresreserven, das geben, was er so dringend braucht. Die Oberste Heeresleitung wird zu einem mühsamen und unerfreulichen Geschäft des Hin- und Herschiebens abgekämpfter Divisionen und Regimenter.

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Dies ist der Moment, in dem auch Bethmann Hollweg jeden Glauben an Falkenhayns Stern verliert. Man sieht es deutlich aus seinen vertraulichen Briefen an den Kabinettschef Valentini seit Mitte Juni. Sehr unvollkommen über die militärischen Zusammenhänge orientiert, hält er den Zusammenbruch an der wolhynischen Front f ü r eine Folge mangelnder Einheitlichkeit des Oberbefehls an der Ostfront 2 1 ). Aber im Rückblick auf die Tätigkeit Falkenhayns seit Herbst 1914 findet er jetzt, daß die „zweite O H L " so ziemlich alles falsch gemacht habe. D e m Kronprinzen Rupprecht von Bayern nimmt er die (bei den Heerführern der Westfront allgemein übliche) Kritik an den Mißerfolgen bzw. an den militärischen Krisen bei Ypern 1914, bei Arras und in der Champagne 1915 und vor Verdun ab: jedes Mal ist die O H L schuld gewesen, hat auf Warnungen der Armeeführer nicht gehört und deren Generalstabschefs zu Sündenböcken gemacht. Wir verlieren den Krieg, hatte Rupprecht geschrieben, wenn Falkenhayn bleibt. Bethmann selbst weiß von falschen (nämlich viel zu optimistischen) Schätzungen der russischen und französischen K a m p f k r a f t , die er im letzten J a h r mit angehört hat. E r erbittert sich gegen Falkenhayns (noch zu erörternden) Widerstand gegen die Schaffung eines einheitlichen Oberbefehls über die gesamte Ostfront unter Hindenburg. „Man stemmt sich dagegen bis zu dem Augenblick, wo es trotz des bereits in Strömen vergossenen Blutes vielleicht schon zu spät ist. Wo hört die Unfähigkeit auf und fängt das Verbrechen a n ? " Auch J a g o w sprach (später) von dem „Verbrechen von Verdun" 2 2 ). Diese Briefe wurden in einer Stimmung tiefer Mut- und Ratlosigkeit geschrieben. „Ich bin niedergeschlagen und verzweifelt", schloß das Schreiben vom 4. Juli. Valentini hatte ganz recht, wenn er den Kanzler dringend bat, die Flinte nicht vorschnell ins K o r n zu werfen und ihm riet, sich nicht zum Sprecher der ewig nörgelnden Generäle zu machen („Sind die Generäle unzufrieden, so mögen sie Manns genug sein, ihre Gründe selbst vorzutragen"), die Bedeutung eines einheitlichen Oberbefehls an der Ostfront nicht zu überschätzen, auch nicht die Kritik an Falkenhayn zu übertreiben („der augenblicklichen Krisis, die auf der endlich nach zwei Jahren hergestellten einheitlichen Offensive der Gegner beruht, könnte ein anderer auch kaum anders begegnen"), die militärische L a g e nicht allzu dunkel zu sehen und sich am wenigsten vor der Kritik der „öffentlichen Meinung" mit ihrer ewig nervösen Erregtheit gegen Falkenhayn aufbringen zu lassen. Aber auf den Kanzler wird das alles schwerlich überzeugend gewirkt haben. Denn natürlich war es kriegspolitisch doch äußerst wichtig, daß die Nation das Ver-

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trauen zur Obersten Heeresleitung nicht verlor. Uber kurz oder lang — so mußte er sich sagen — kam angesichts der sichtbar sich verschlechternden Kriegslage der Moment, an dem es nötig wurde, die Autorität (oder besser gesagt den Mythos) Hindenburgs zu diesem Zweck einzusetzen. Geschah das zunächst an der bedrohten Ostfront, so würde das einen späteren Wechsel der O H L stark erleichtern. J e früher es geschah, desto leichter hatte es später die Politik, sich gegen die Kritik der Öffentlichkeit an einem mageren Friedensschluß durch Hindenburg abzuschirmen. Diese Überlegung findet sich schon in einem vertraulichen Telegramm, das Bethmann Hollweg gegen Ende Juni an General Lyncker gerichtet hat in einer für den Immediatvortrag berechneten Form. „Der N a m e Hindenburg", hieß es da, „ist der Schrekken unserer Feinde, elektrisiert unser Heer und Volk, die grenzenloses Vertrauen zu ihm haben. Unsere Situation beurteile ich ernst. Unser Menschenmaterial ist nicht unerschöpflich, schwere Nahrungssorgen und die Länge des Krieges drücken die Stimmung des Volkes. Aber selbst wenn wir eine Schlacht verlören, was Gott verhüten wolle, unser Volk würde auch das hinnehmen, wenn Hindenburg geführt hat, und ebenso jeden Frieden, den sein N a m e deckt. Andererseits werden, wenn dies nicht geschieht, die Länge und die Wechselfälle des Krieges schließlich von der Volksstimme dem Kaiser angerechnet werden. Mit diesen Imponderabilien müssen wir rechnen 23 )." Gedankengänge dieser Art waren im Sommer 1916 unter den Politikern weit verbreitet. Der Abgeordnete Erzberger, der immer „das Ohr am Boden" hatte, suchte schon im Mai hochgestellte Persönlichkeiten im H a u p t quartier dafür zu gewinnen, daß Hindenburg an Falkenhayns Stelle gesetzt würde, um die (besonders in Sachsen, wie er sagte) stark gedrückte Volksstimmung wieder aufzurichten. „Mit Hindenburg könne sogar der Kaiser den Krieg verlieren, dann habe er eben alles getan was möglich. Ohne Hindenburg den Krieg verlieren bedeute Ruin für die Dynastie." Ähnlich äußerte sich um dieselbe Zeit der württembergische Minister Varnbüler, und auch der nüchtern-kluge Weizsäcker meinte im J u n i im Gespräch mit Bethmann, »daß militärische Rückschläge ohne volle Ausnützung des Faktors Hindenburg weder vom Kaiser noch vom Kanzler überstanden werden könnten 2 4 )«. Man sieht: das langsam wachsende Gefühl der Beunruhigung über den Kriegsausgang ließ sogleich den Ruf nach Hindenburg als Retter in der N o t laut werden und gefährdete die politische Stellung Falkenhayns. Indessen gab es für Bethmann Hollweg noch einen anderen, unmittelbar dringenden Anstoß, sich für eine Erweiterung der militärischen Kommando-

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gewalt Hindenburgs einzusetzen. Das war der erschütternde Eindruck der beginnenden inneren Auflösung des Habsburger Staates und der Unzulänglichkeit seiner militärischen Führung. Die Nachrichten aus Wien über die dortige Yolksstimmung lauteten immer schlechter. Mitte Juli wurde in Berlin eine Denkschrift des österreichischen Gesandten in Bukarest, des späteren Außenministers Grafen Czernin bekannt, die „mit mathematischer Gewißheit die völlige Niederlage der Zentralmächte und ihrer Verbündeten" prophezeite, wenn der Krieg noch lange fortgesetzt würde, „ihren Sieg f ü r eine Unmöglichkeit" erklärte und einen möglichst baldigen Friedensschluß „in einer für uns günstigen militärischen Phase" (die Czernin für später erhoffte) „mit bedeutenden O p f e r n " empfahl 25 ). Deutsche Befürchtungen, daß der Bundesgenosse einen Separatfrieden suchen könne, glaubte zwar unser Wiener Botschafter (trotz mancherlei privater Intrigen und anti-deutscher Stimmungen) zerstreuen zu können; aber wie lange die militärische K r a f t des Landes noch vorhalten würde, vermochte auch er nicht zu sagen 26 ). Das Versagen der österreichisch-ungarischen Front, besonders der Verlust der Bukowina, machte auf den bulgarischen Verbündeten, der Rumäniens Losschlagen fürchtete, den allerschlechtesten Eindruck. König Ferdinand und der Kronprinz Boris drängten schon seit Mitte Juni auf ein deutsches Oberkommando für die ganze Ostfront, am besten unter Hindenburg; das würde „die jetzt wankende Zuversicht mit einem Schlage wiederherstellen und zugleich die Kriegslust der Rumänen dämpfen". Der österreichische Oberkommandierende, Erzherzog Friedrich, solle zurücktreten 27 ). Wichtiger war, daß in ÖsterreichUngarn selbst solche Wünsche jetzt laut wurden. Eine Unterredung, die Bethmann Hollweg am 23. Juli mit dem ungarischen Oppositionsführer Grafen Andrassy hatte 28 ), zeigte ihm, daß dort das Vertrauen auf die Armeeführung völlig geschwunden war. Das österreichische Hauptquartier „genösse bei niemand mehr irgendwelchen Kredit". Es sei nur noch ein „Sumpf". Damit war zunächst die vielberedete „Weiberwirtschaft" von Teschen gemeint: die Tatsache, daß General Conrad, jung verheiratet mit einer Dame der Wiener Gesellschaft, die sich um seinetwillen von ihrem Gatten hatte scheiden lassen, seine Frau ins Hauptquartier mitgenommen hatte, wo sie einen Kreis von Offiziersdamen um sich versammelte, was Anlaß zu mancherlei Vergnügungen, zur Bildung weiterer Damensalons und zu unendlichen Klatschereien der österreichischen katholischen Adelsgesellschaft und des O f fizierkorps gab. Aber Andrassy warf Conrad auch vor (und das mit Recht), daß er die politische Leitung nicht nur ohne Information lasse, sondern di-

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rekt gegen sie intrigiere. Vor allem kritisierte er seine militärischen Mißerfolge in Italien und war entsetzt über die Katastrophe von Wolhynien. „In ganz Ungarn, im Volk und in der Armee, werde es als eine wahre Erlösung betrachtet werden, wenn Feldmarschall Hindenburg mit dem Oberkommando über die ganze Ostfront betraut würde." Audi Tisza sei dieser Meinung, ebenso wie Burian. Formale Bedenken und Etikettfragen dürften kein Hindernis bilden, wenn die Existenz der Monarchie auf dem Spiel stünde. Freilich glaubte Andrassy nicht mehr an den Sieg, hielt eine Katastrophe nicht für ausgeschlossen und deutete die Möglichkeit österreichischer Bemühungen um einen Separatfrieden mit England oder Italien an. Die ungünstigen Eindrücke dieser Unterhaltung wurden einige Wochen später auf einer Wiener Reise bestätigt, die Bethmann Hollweg auf Einladung des Kaisers Franz Josef und seiner Regierung zur Besprechung des Polenproblems unternahm 29 ). Er berichtete, die österreichische Bevölkerung sei „teils in stumpfer Verzweiflung an der eigenen Kraft bereit, auch den schlechtesten Frieden zu akzeptieren . . . teils schäume sie über vor Erbitterung über ihre Oberste Heeresleitung. Die Autorität des Armeeoberkommandos ist vollkommen untergraben, wie beim Kaiser, so bei der Feldarmee und beim Volke". Seine Gespräche mit Burian, Tisza, Stürgkh und dem Diplomaten Fürsten Montenuovo hätten daran keinen Zweifel gelassen. Ganz offen hätten diese Herren ihm erklärt, „die Ausdehnung des Befehlsbereichs des Feldmarschalls von Hindenburg" (die inzwischen auf einem großen Teil der Ostfront erfolgt w a r ) „hat in Volk und Armee wie eine Erlösung gewirkt". Es sei nur zu bedauern, daß man Conrads Widerstand auf deutscher Seite zu lange Beachtung geschenkt habe. Bethmanns Nachrichten stimmten völlig überein mit der mehr als bitteren Kritik, die Sektionsrat Ritter von Wiesner, der „Questenberg" des Wiener Außenministeriums im Teschener Hauptquartier, in seinen geheimen Berichten am Armee-Oberkommando und am Generalstabschef persönlich übte 30 ). Conrads italienischer Feldzug, hieß es da, sein Lieblingsplan, durchgeführt gegen die Wünsche des Kaisers und die Warnung Erzherzog Eugens, des Kommandanten der Südfront, sei von Anfang an verfehlt gewesen. Dem Generalstabschef mangle es an Ernst, Gründlichkeit und Verantwortungsgefühl in seinen Planungen, er bedürfe deshalb der militärischen Kontrolle und müsse politisch „geradezu unter Kuratel gestellt werden". „Von der Eitelkeit beseelt, und mit der Emfindlichkeit des Neurasthenikers belastet", sei er unfähig zur Selbstkritik und zur Zusammenarbeit mit anderen. Außer-

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dem werde er viel zu sehr von politischen Ressentiments und Wunschträumen beherrscht, was ihn oft zu ebenso genialen wie phantastischen Einfällen verleite. Dem deutschen Generalstab müsse deshalb „entscheidender Einfluß" eingeräumt werden auf die Ausarbeitung und Durchführung seiner operativen Entschlüsse. „Jeder selbständige Entschluß muß als prinzipiell ausgeschlossen gelten", alles muß im Einvernehmen beider Heeresleitungen beschlossen werden. Auch an dem katastrophalen Versagen der Ostfront war das A O K nach Wiesners Meinung nicht ohne Mitschuld. Es hätte den als unfähig bekannten Führer der IV. Armee längst aus seiner Stellung entfernen müssen. Es durfte auch die skandalösen Zustände in dieser Armee (von denen wir schon hörten) nicht dulden. Aber es „thront nun einmal in lichten H ö hen" und hat keinerlei Fühlung mit der Truppe — ein bloßes Operationsbüro, ein erneuerter „Hofkriegsrat" der alten Zeit. N u r im engsten Verband mit den deutschen Truppen, von deutschen Truppenoffizieren durchsetzt und von ihnen trainiert, leisten die österreichisch-ungarischen Regimenter etwas, wie das Beispiel der VII., II. und I. Armee gezeigt hat. Die Deutschen sind aber vollständig im Recht, wenn sie ihre bereitwillig zur Verfügung gestellten Reserven unter deutschem, nicht österreichischem Kommando fechten lassen wollen; ihnen selbstsüchtige Hintergedanken anzudichten, liegt gar kein Anlaß vor. Man muß die beiden Generalstäbe zu engster Zusammenarbeit zwingen, nicht bloß in der Form gelegentlicher Besprechungen wie bisher. Es gilt also „große militärpolitische Entschlüsse" zu fassen, was nur „unter Zuziehung der beiderseitigen Chefs der Regierungen möglich ist". Nach alledem begreift sich leicht, daß der deutsche Reichskanzler mit so großem Eifer darauf drängte, der Wiederkehr so unglücklicher Ereignisse wie der Katastrophe von Luck durch Schaffung eines einheitlichen Oberkommandos unter Hindenburg an der Ostfront vorzubeugen. Man versteht auch, daß er den Widerstand Conrads dagegen nicht allzu wichtig nahm und hinter den Bedenken Falkenhayns nur persönliche Eifersucht gegen Hindenburg witterte. Es ist aber doch sehr fraglich, ob er damit sachlich recht hatte. Mangelhafte Zusammenarbeit der Heeresleitungen ist die traditionelle Schwäche aller Koalitionskriege; sie ist die natürliche Folge der Tatsache, daß nun einmal die nationalen Interessen der Koalitionspartner sich nicht restlos zu decken pflegen. Darüber hinwegzukommen durch politischen Ausgleich, ist zunächst Sache der politischen, nicht der militärischen Instanzen. Die gefährliche Schwächung der Ostfront durch das verfehlte Unternehmen gegen Italien wäre auch durch ein Oberkommando Hindenburgs schwerlich

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zu verhindern gewesen, wenn doch die mehrfachen Warnungen der deutschen Obersten Heeresleitung bei Conrad erfolglos blieben. Hier hätte die deutsche Reichsregierung eingreifen müssen, die aber (wie wir hörten) von den Militärs gar nicht orientiert wurde und die Größe der militärischen Gefahr schon deshalb nicht übersehen konnte, weil sogar die deutschen Armeeführer an der Ostfront sie nicht rechtzeitig erkannten. Noch wenige Tage vor dem Durchbruch bei Luck hat sich der dort kommandierende deutsche Heeresgruppenführer, Generaloberst von Linsingen, recht zuversichtlich über seinen Frontabschnitt ausgesprochen. Heeresgruppenkommandos sind nun einmal — trotz gelegentlicher Frontreisen hoher Stabsoffiziere — vom Alltag des Schützengrabens viel zu weit entfernt, um die Güte und die Leistungsfähigkeit ihrer Fronttruppe mit irgendwelcher Sicherheit beurteilen zu können. Sie vermögen auch darauf kaum einzuwirken; das ist selbst den höheren Truppenkommandos n u r schwer und nur in längeren Zeiträumen möglich, da die Leistungsfähigkeit und H a l t u n g einer Truppe ja nicht allein von dem Mindestmaß an militärischem Training abhängt, das eine Fronttruppe durchführen kann. Und was hätten deutsche Generäle schon tun können, um die tief sitzenden Schäden des österreichisch-ungarischen Heerwesens abzustellen: die Unzulänglichkeit der Rüstung schon im Frieden, die Mängel der Ausbildung, des Ersatzwesens, des Nachschubs, die Schlappheit und Unordnung der Verwaltung, das Fehlen geeigneten Führer- und Ausbildungspersonals nach den furchtbaren Verlusten gleich der ersten Kriegsmonate, die moralische Nachwirkung so vieler Mißerfolge und Niederlagen, vor allem den Krebsschaden: die Vielsprachigkeit und die nationalen Gegensätzlichkeiten der Armee eines Vielvölkerstaates? Es war im Grund eine sehr primitive Vorstellung, der mythische N a m e Hindenburgs könne über alles das hinweghelfen, oder die (vermeintliche) Genialität seiner Strategie könne die Lage an der Ostfront entscheidend bessern. Denn was hieß schon höhere Strategie im System des damaligen Schützengrabenkriegs? Seit der Bewegungskrieg auch im Osten zu Ende war, beschränkte sich die strategische Aufgabe des Oberkommandos einer Heeresgruppe doch im wesentlichen — von Ausnahmefällen abgesehen — auf das Hin- und Herschieben von Heeresreserven an die Stelle, wo sie jeweils am meisten gebraucht wurden, allenfalls auf die Entscheidung, ob ein größeres Stück der Verteidigungslinie gehalten oder preisgegeben werden sollte. Alle eigentlichen Kampfentscheidungen, alles Taktische war Sache der Divisions-, allenfalls Korps- und Armeestäbe.

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Von dieser nüchternen Wirklichkeit her gesehen wird deutlich, daß der hitzige Streit, der im Kaiserlichen Hauptquartier seit Juni um den Oberbefehl Hindenburgs an der Ostfront entbrannte, zwar große politische, aber sehr geringe militärische Bedeutung hatte. Praktisch hätte ein solcher Oberbefehl, wenn ihm auch alle österreichischen Truppenteile an der russischen Front unterstanden, im wesentlichen nur den Vorteil geboten, daß die Entscheidung über den Einsatz von Reserven und die Bildung von Schwerpunkten der Verteidigung beschleunigt wurde, weil es dazu keiner Absprachen zwischen den beiden Obersten Heeresleitungen mehr bedurfte. Aber auch das war mit einiger Sicherheit nur dann zu erreichen, wenn sich entweder das österreichische A O K darein ergab, nur noch eine Art von Nebenrolle als Hilfsorgan der deutschen Heeresleitung zu spielen, oder aber Hindenburg dem A O K von Teschen unterstellt wurde, Conrad von Hötzendorff also zum obersten Befehlshaber über die deutsche Ostarmee aufstieg. Das eine war politisch ebenso schwer erträglich und militärisch bedenklich wie das andere. Wurde Hindenburg beiden Obersten Heeresleitungen zugleich unterstellt, so war der bestehende Zustand nicht gebessert, sondern noch kompliziert und verschlimmert. Hinzu kam die Tatsache, daß die an der Ostfront verfügbaren Heeresreserven schon längst nicht mehr dazu ausreichten, die fortwährend weiter aufreißenden Löcher zu stopfen. In welchem Umfang aber deutsche Divisionen an der heiß umkämpften Westfront freigemacht werden konnten, vermochte allein Falkenhayn zu entscheiden. Und dessen überaus schwierige Aufgabe wurde um so mehr erschwert, je größer die Machtfülle eines so eigenwilligen Untergebenen anwuchs, wie es Ludendorff war — ganz abgesehen von der Sorge, dessen (uns schon bekannte) Vorliebe für Eroberungen im Baltikum könnte der rechtzeitigen und ausreichenden Verschiebung deutscher Truppen nach Wolhynien und der Bukowina im Wege stehen31). Ludendorff war aber nicht nur eigenwillig, sondern von glühendem Haß gegen seinen Vorgesetzten und Rivalen Falkenhayn erfüllt, dessen Sturz er mit allen Mitteln betrieb. Mit dem Auswärtigen Amt (besonders Zimmermann) stand er in laufender Verbindung, brieflich und telefonisch, und es ist deutlich zu erkennen, daß er den Kanzler bei dessen vielfältigen Bemühungen, das Vertrauen des Kaisers in seinen Generalstabschef zu erschüttern und den Oberbefehl Hindenburgs als politisch dringlich hinzustellen, mitberaten hat 32 ). Es wurde also der Selbstlosigkeit Falkenhayns sehr viel zugemutet, wenn man ihn drängte, auch seinerseits beim Kaiser und den öster-

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reichern für die Erweiterung der Machtbefugnisse des Hauptquartiers Oberost sich einzusetzen. Er selbst hat schon am 12. Juli (und eine Woche später nochmals) versucht, bei Conrad zu erreichen, daß die ganze österreichische Front gegen Rußland (der j a sehr viele deutsche Truppen als „Korsettstangen" beigemischt waren) dem einheitlichen Oberkommando des deutschen Feldmarschalls von Mackensen und seines Stabschefs von Seeckt 33 ) unterstellt wurde natürlich im Rahmen des österreichischen A O K . Beide Offiziere hatten sich in den Feldzügen des Jahres 1915 (in Polen und Serbien) hohes Ansehen erworben und kannten die Verhältnisse in Wolhynien und Galizien genau. Militärisch war das eine klare und gute Lösung der Oberbefehlshaberfrage; Seeckt selbst hatte sie angeregt und geglaubt, so ließe sich vielleicht doch ein größerer Gegenangriff auf Rowno zustande bringen 34 ). Statt Mackensens hatte Falkenhayn auch den Prinzen Leopold von Bayern, ebenfalls mit Seeckt als Stabschef, in mündlicher Besprechung präsentiert 3 5 ). Beide Vorschläge scheiterten am Widerspruch Conrads, der eine zu starke Minderung seines eigenen Machtbereichs fürchtete, fanden aber auch nicht Bethmanns Beifall, der sogleich an General von Lyncker telegraphierte, daß „unser Volk es nicht verstehen würde, wenn Hindenburg wieder beiseite geschoben und an seiner Stelle ein Heerführer zweiten Ranges genommen w i r d " . Sein Gegenvorschlag, Hindenburg an Mackensens Stelle zu nennen, wurde v o m Kriegsminister unterstützt, jedoch mit Vorsicht, da dieser Falkenhayns Vertrauen und damit seine eigene Stellung im Hauptquartier - nicht verlieren wollte 3 6 ). Statt dessen übernahm es der Kabinettschef von Lyncker am 25. Juni, den Wunsch Bethmanns mit dem Generalstabschef ausführlich zu erörtern jedoch ohne den Kanzler als Anregenden zu erwähnen! Dabei war aber nur von einem Oberbefehl über die gesamte deutsche und ötserreichische Ostfront die Rede. Lynckers Hinweis darauf, daß jede andere Lösung der Oberkommandofrage als die Berufung Hindenburgs in Armee und Volk als Ausfluß des Neides gegen dessen R u h m betrachtet würde, machte auf Falkenhayn starken Eindruck, so daß er sich die Sache nochmals zu überlegen versprach; freilich äußerte er die Meinung, politische Stimmungen und Gefühle könnten militärische Bedenken nicht außer K r a f t setzen. Diese Bedenken setzte er ganz sachgemäß auseinander: er wies auf die Unmöglichkeit hin, den neuen Oberbefehlshaber gleichzeitig der deutschen und der österreichischen Obersten Heeresleitung zu unterstellen. Außerdem zweifelte er, ob Hindenburg und Ludendorff jetzt schon an der kurländischen Front entbehrt werden

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könnten 37 ). Am selben Tag trug er dem Kaiser vor, daß viele Stimmen sich f ü r ein Oberkommando Hindenburgs äußerten. Manches spräche dafür, besonders die Stimmung in der Heimat. Er entwickelte dann aber seine militärischen Gegengründe, denen der Kaiser sofort lebhaft zustimmte. Die an der Südostfront zu lösenden Aufgaben, meinte er, brauchten keinen so erstklassigen General wie Hindenburg. Die Österreicher sollten nur selber sehen, wie sie mit Unterstützung durch deutsche Truppen fertig würden. Das war natürlich nur ein Scheinargument. Seine wirkliche Meinung offenbart seine Äußerung zu General von Plessen: „Nun haben wir einen König im Westen (Falkenhayn) und einen im Osten (Hindenburg), und ich bin dann ganz ausgeschaltet." Seine Besorgnis vor Ludendorffs brutalem Machtwillen war also ungemindert. Die Gegengruppe im Hauptquartier organisierte zu seiner Umstimmung eine förmliche Verschwörung. Valentini und der Diplomat Baron Grünau verabreden mit Lyncker, dieser solle dem Kaiser (der immerhin unsicher geworden war) vorstellen, daß vielleicht bald die Bundesfürsten, z. B. der König von Bayern, ihn bedrängen würden mit der Forderung nach Hindenburgs Oberbefehl; er möge doch auch auf andere Stimmen seiner militärischen Umgebung hören, u. a. den Kriegsminister Wild unter vier Augen sprechen. Keinesfalls, w a r die Meinung, dürfe der Kanzler selbst in diese militärische Kommandosache hineinreden 38 ), das würde den Kaiser nur aufreizen. In diesem Sinn wurde im Hauptquartier systematisch weitergearbeitet. Der König von Bayern, auf dessen Eingreifen auch Bethmann Hollweg gewisse Hoffnungen setzte (vielleicht, meinte er, würde Ludwig III. sogar die Ersetzung Falkenhayns durch Hindenburg fordern 3 9 )) scheute bei seinem Besuch im Großen Hauptquartier Ende Juni dann doch, wie es scheint, vor einer solchen Einmischung zurück, vermochte jedenfalls den Kaiser nicht umzustimmen 40 ). Im Auftrage Bethmanns verhandelte der Gesandte von Treutier aufs neue mit Lyncker und Falkenhayn. Das war in den Tagen, als der Sturm an der Somme losbrach, und es scheint, daß man dem Generalstabschef vorhielt, angesichts dieser neuen Gefahren müsse er sich von der Verantwortlichkeit f ü r die Ostfront entlasten; er selbst aber fürchtete, eine Teilung der Gewalt würde Truppenverschiebungen von Ost nach West, falls sie notwendig werden sollten, nur erschweren. Schließlich gab er aber am 2. Juli doch nach, und zwar (nach einem mündlichen Bericht Lynckers) ausschließlich aus taktisch-politischen Erwägungen. Ein Schreiben Jagows an Treutier hatte berichtet, in Berlin herrsche allgemeine Erregung darüber,

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daß Falkenhayn aus persönlicher Eifersucht auf Hindenburg dessen Berufung ins Oberkommando zu verhindern versuche. Um diese Stimmen zum Schweigen zu bringen, setzte er selbst beim Kaiser gemeinsam mit Lyncker (der auch diesmal vorsichtig den Kanzler als Initiator zu nennen vermied!) den Beschluß durch, eine von ihm selbst aufgesetzte Anfrage an die österreichische oberste Heeresleitung zu richten, in der diese um Zustimmung zur Übertragung des Oberbefehls an der gesamten Ostfront auf Hindenburg ersucht wurde — allerdings in einer nicht allzu dringlichen Form 41 ). Wilhelm II. gab sehr widerwillig nach und war „aufs höchste erregt" über die Zumutung, „auf die Volksstimmung in Berlin Rücksicht zu nehmen. Das bedeute eine Abdankung f ü r ihn, und Hindenburg sei damit als Volkstribun an seine Stelle getreten 42 )". Seine Aufregung war so groß, daß er gleich darauf erklärte, er könne den Gesandten Treutier, den Vertreter des Auswärtigen Amts im Hauptquartier, obwohl er seine Verdienste und Fähigkeiten anerkannte, nicht mehr in seiner Umgebung ertragen, und ihn ablösen ließ. Er zeigte sich seiner ganzen Umgebung gegenüber tief verstimmt und bedrückt. Das sind sehr bedeutsame Tatsachen. Sie lassen erkennen, daß der Monarch viel deutlicher als sein Kanzler spürte, was eben jetzt vor sich ging: eine politische Wende ersten Ranges. Die Autorität der Krone, und damit die alte monarchistische Ordnung, war im Begriff, endgültig zu verblassen hinter dem Glanz des Volksmythos, der die beiden Generäle, die Helden von Tannenberg, umstrahlte. Die Entscheidungsfreiheit des Kaisers — im Grund auch die des Kanzlers — wurde eingeengt durch die Rücksichtnahme auf unkontrollierbare Volksstimmungen. Aber nicht nur das: zweifellos hat sich der Kaiser vor dem brutalen Willensmenschen Ludendorff als oberstem militärischem Berater gefürchtet. Als die Österreicher, wie zu erwarten, am 4. Juli durch den deutschen Verbindungsoffizier, General von Cramon, erklären ließen, sie würden die Ernennung Hindenburgs zum Oberbefehlshaber Ost als schwere Kränkung empfinden und deshalb ablehnten, war er offensichtlich erleichtert. Den Vorschlag Lynckers, er möge sich doch direkt an Kaiser Franz Josef wenden, da weder Erzherzog Friedrich noch Conrad die geringste Rücksichtnahme verdienten, wies er sofort zurück, und als der General dann riet, Hindenburg wenigstens alle deutschen Streitkräfte im Osten zu unterstellen, wurde er geradezu grob und erklärte, „er ließe sich nicht absetzen". Wie unheimlich ihm Ludendorff war, zeigt indirekt, aber ganz deutlich sein krampfhaftes Bemühen, sich immer wieder ihm gegen-

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über (in prahlerischen Worten) als absoluten Herren aufzuspielen. „Hindenburg mache ja nur", hat er am 22. Juli zu Valentini gesagt, „was Ludendorff ihm vorschlage, und Ludendorff mache das, was er, der Kaiser, ihm befehle 43 )." Im Gegensatz dazu war Bethmann Hollweg (wie wir aus seinen Briefen an Valentini schon gesehen haben) todunglücklich über die Ablehnung der „großen Sache" und ebenso über sein eigenes Unvermögen, unmittelbar darin einzugreifen. Wohl niemals hat er so schwer und tief wie damals das Mißliche seiner amtlichen Stellung empfunden, die ihm die letzte politische Verantwortung f ü r den Kriegsausgang auflud, ohne ihm doch einen direkten Einfluß auf den militärischen Befehlsbereich zu gestatten. Er f a n d das „eine wirklich unerträgliche Lage . . . Ich sehe, daß wir Gefahr laufen, dem Verderben zuzusteuern, meine Verantwortung als solche zwingt mich zum H a n deln, die weitesten Kreise — auch hohe Militärs — erwarten mein Eingreifen, und ich muß mir sagen, daß ich wahrscheinlich alles verderbe, wenn ich eingreife, muß die H ä n d e in den Schoß legen. Das ist ein verrotteter und auf die Dauer unhaltbarer Zustand 4 4 )". „Kann man noch ruhig weitermachen, wenn man sieht, wie das Land in den Abgrund stürzt, nicht aus sachlichen, sondern aus persönlichen Motiven!? Mache ich mich da nicht selber mitschuldig? Kann ich in meinem Amt überhaupt noch nützen, wenn ich zu solchen Dingen schweige?" Falkenhayns Nachgeben hatte also nichts genützt. Bethmann Hollweg glaubte nach wie vor an seinen Eigennutz und sprach von einer „furchtbaren Verantwortung", die er zu tragen habe. „Deutschland und die Weltgeschichte wird von ihm und dem Kaiser Rechenschaft fordern." Aus dem Hauptquartier Hindenburgs kamen immer neue Mahnungen, die „große Sache weiter zu betreiben". Die beiden Generäle ließen ihm durch Helfferich (der eben damals bei ihnen in Kowno weilte) telefonisch am 4. Juli sagen, „das Fehlen der Befehlseinheitlichkeit überschreite das Maß der Verantwortung, die in dieser gefährlichen Situation überhaupt noch zu tragen sei". Sie drohten also halbwegs mit ihrer Abschiedsforderung und fügten eine Kritik an Falkenhayns militärischer Leistung hinzu, deren Einzelheiten Helfferich durch das Telefon nicht weiterzugeben wagte. Schon am nächsten Tage sah sich Ludendorff veranlaßt, telefonisch der Reichskanzlei mitzuteilen, soeben habe er erfahren, daß sich die Lage inzwischen durch Truppensendungen an gewisse bedrohte Stellen gebessert habe. Es sei aber „bezeichnend für die fehlende Einheitlichkeit", daß er bis vor einer Stunde davon

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noch nichts gewußt habe 45 ). Am 5. Juli setzte General Hoffmann einen Bericht auf, den der Marschall an den Kaiser (oder seinen Generaladjutanten) wegen des Oberbefehls schicken sollte, der aber auf Abraten Bethmanns (zu dem man General Eisenhart-Rothe als Boten entsandt hatte) in dieser Form nicht abging 46 ). Der Kanzler war inzwischen zweifelhaft geworden, ob es ratsam sei, mitten in der Sommeschlacht den Generalstabschef zu wechseln und das Dioskurenpaar von Kowno gerade jetzt von der Ostfront weg nach Charleville zu berufen. Vielleicht würde es genügen „wenigstens zunächst Falkenhayn mit tüchtigen Männern zu umgeben 47 )"? Immerhin wurde der Versuch gemacht, das Vertrauen des Kaisers in die Tüchtigkeit seines Generalstabschefs durch kritische Äußerungen von Armeeführern der Westfront zu erschüttern. Aber sowohl Kronprinz Rupprecht von Bayern wie der General von Below (von der Somme-Front), auf die man dabei Hoffnungen setzte, versagten im entscheidenden Augenblick 48 ). Inzwischen wurde die Lage an der Ostfront, vor allem an ihrem Südflügel, immer kritischer, das österreichische Oberkommando immer dringlicher in seinen Hilferufen. Mitte Juli wandte sich sogar der Außenminister, Graf Burian, mehrmals an den Reichskanzler mit der Bitte, seinerseits die Verstärkung der Südarmee durch deutsche Truppen zu bewirken. Bethmann, der diese Hilfsgesuche an Falkenhayn weiterleitete, empfahl, ihre Erfüllung davon abhängig zu machen, daß die Österreicher sich endlich den deutschen Wünschen nach einheitlichem Oberbefehl zugänglicher zeigten. Dafür bot er diplomatische Hilfe an. Er sprach aber jetzt nicht mehr von einer Unterstellung der ganzen Ostfront unter Hindenburg, sondern nur noch davon, dessen Machtbereich nach Süden (über die Heeresgruppen Prinz Leopold und Linsingen) auszudehnen — ein Kompromiß, das Falkenhayn selbst dem Feldmarschall schon am 8. Juli vorgeschlagen hatte, um dessen Wünschen entgegenzukommen (und den Tatendrang Ludendorffs damit zu dämpfen). Hindenburg hatte zugestimmt, aber Conrad nicht 49 ). Es wurde also jetzt nach einem Kompromiß gesucht, und Bethmann Hollweg hoffte, darüber mit Falkenhayn zu einer Verständigung zu kommen, und dann mit ihm gemeinsam die Österreicher zum Einverständnis zu nötigen. Nun gab sich der Generalstabschef anfangs skeptisch und abweisend. D a wir beim besten Willen nicht in der Lage wären, Truppen zu einer Zurückeroberung der Bukowina zur Verfügung zu stellen, wie Burian das wünsche, würden ultimative Forderungen die Spannungen zwischen den beiden Hauptquartieren nur vertiefen. Verstärkungen an der österreichischen

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Front hätten überhaupt nur dann einen Zweck, wenn die Bundesgenossen endlich einmal anfangen wollten, ihre Front zu halten. Schon wären seit dem 10. Juni 12 deutsche Divisionen, also eine sehr starke Armee, in den von den Österreichern geöffneten „Löchern" verschwunden. Die Wiener Politik solle sich lieber bemühen, den Kampfgeist ihrer Völker zu heben, statt immer neue Hilferufe auszustoßen. Audi in einer Unterredung mit dem Kanzler in Berlin, zu der ihn dieser am 18. Juli einlud 50 ), trat er zunächst schroff abweisend auf: er habe nur wenige Minuten Zeit; die Lage an der Front sei „schlecht, kritisch, pflaumenweich" — diese vulgäre Redewendung schien ihm als Antwort auf eine Frage des Kanzlers zu genügen. Offenbar wollte er Bethmann Hollweg spüren lassen, daß er wußte, wen er vor sich hatte: einen Gegner, der mit allen Mitteln auf seinen Sturz hinarbeitete. Aber nach einem etwas erregten Wortwechsel ließ er sich dann doch auf eine nüchtern-sachliche Erörterung ein, auch über die Frage des Oberbefehls. Eben hatte er sich vergeblich bemüht, in mündlicher Unterredung General Conrad für das erwähnte Kompromiß zu gewinnen und suchte nun dem Kanzler die militärischen Bedenken klar zu machen, die der Österreicher vorgebracht hatte und denen er sich anschließen müsse. Eine Unterstellung der Heeresgruppe Linsingen unter Hindenburg würde zu einer Nahtstelle zwischen deutschem und österreichischem Befehlsbereich gerade an der am meisten gefährdeten Stelle führen; Oberost würde auch geneigt sein, einen etwaigen Rückzug mehr in nordwestlicher als südwestlicher Richtung (wie es die Österreicher wünschen müßten) auszuführen. Das österreichische Armeeoberkommando würde sich „depossediert" fühlen und gekränkt sein, ohne daß durch die bloße Änderung der Befehlsbereiche ein wirklich praktischer, nicht bloß theoretischer Vorteil erreicht würde. Hindenburgs Oberbefehl könne an dem Krebsschaden, der Verräterei ruthenischer und tschechischer Regimenter, auch nichts ändern — ebensowenig an dem Mangel an deutschen Heeresreserven. (Das einzige, was sich im Augenblick zur Stützung der wankenden Ostfront praktisch tun ließ, hatte er soeben in vollem Einvernehmen mit Conrad und Ludendorff verabredet: eine systematische Mischung der Verbände, indem österreichische Divisionen zur Front Hindenburgs, deutsche dafür nach Galizien verschoben wurden 51 ).) Über den Vorwurf, er lasse sich von persönlicher Gegnerschaft gegen Hindenburg oder Ludendorff bei seinen Entschlüssen leiten, fühle er sich hoch erhaben. Mit Conrads Zustimmung würde er der Errichtung eines einheitlichen Oberbefehls im Osten zustimmen, gegen seinen Widerspuch niemals.

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Es liegt kein Grund vor, an der Aufrichtigkeit dieser Argumentation zu zweifeln; auch General von Lyncker war davon überzeugt und weigerte sich, im Stile der Gegner Falkenhayns das Vertrauen des Kaisers auf seinen Generalstabschef zu erschüttern 52 ). Dieser selbst wird aber wohl gespürt haben, daß seine militärische Autorität ins Wanken geriet. U m einer Katastrophe an der Grenze Rumäniens vorzubeugen, sandte er nun doch den Österreichern Hilfe in die Karpathen, sogar eine Elitetruppe, das sog. Alpenkorps. Durch Cramon ließ er in Teschen weiter sondieren, ob sich nicht doch eine praktisch brauchbare Lösung des Oberkommando-Problems finden ließe 53 ). Nachgerade wurde die moralische Position der Österreicher durch das fortgesetzte Versagen ihrer Front so geschwächt, (bei Luzk und Brody erfolgte ein neuer Durchbruch, und schon mußten türkische Truppen für die galizische Front zu H i l f e gerufen werden!) 54 ), daß ihr Widerstand gegen einen deutschen Oberbefehl fühlbar nachließ. Cramons Meldungen darüber und ein scharf drängendes Telegramm des Kanzlers vom 21. Juli veranlaßten Falkenhayn zu einem neuen Kompromißvorschlag: Hindenburg sollte das Kommando über die gesamte österreichische Ostfront südlich des Pripjet einschließlich der Heeresgruppe Linsingen übernehmen und sein deutsches Truppenkommando abgeben, also unter die österreichisch-ungarische Heeresleitung treten — allerdings so, daß diese sich hinsichtlich aller Weisungen mit der deutschen O H L ins Einvernehmen zu setzen hätte. Beide Heeresleitungen würden dann den bewährten Rat Hindenburgs für die Operationen der gesamten Ostfront in Anspruch nehmen. Das war ein brillanter Einfall: formell eine Wiederaufnahme des früheren deutschen Vorschlags, die ganze österreichische Front unter ein deutsches Oberkommando zu stellen — nur daß jetzt Hindenburg, wie es Bethmann Hollweg gewünscht hatte, an die Stelle Mackensens gesetzt wurde 5 5 ). Für Falkenhayn bot das noch den besonderen Vorteil, ihn von der beständigen Konkurrenz eines deutschen „Oberbefehlshabers Ost" zu entlasten; auch wäre dann Hindenburg gezwungen gewesen, der Welt zu zeigen, was er, der berühmte Stratege, mit österreichischen Truppen dank seines Nimbus zu leisten vermochte und was nicht. Es liegt trotzdem kein Anlaß vor, das ganze Projekt aus Motiven persönlicher Eifersucht Falkenhayns zu erklären. Es ging vielmehr auf einen Vorschlag Groeners zurück und wurde auch von der politischen Abteilung des Generalstabs (Oberst von Bartenwerffer, später die rechte H a n d Ludendorffs) als zweckmäßig betrachtet, weil es Ludendorff an die Stelle bringen

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würde, wo seine rücksichtslose Energie am meisten Nutzen stiften konnte 5 6 ). Es würde dann auch leichter werden, bisher von „Oberost" zähe im N o r d e n festgehaltene Reserven für die galizische Front freizumachen. Vor allem schien es — nach der Mitteilung Cramons aus Teschen, mit dem Falkenhayn beständig telefonierte — die einzige Form deutschen Kommandos über die österreichische Front, mit der Conrad bereit war sich abzufinden, weil sie das Prestige des österreichischen A O K formell unberührt ließ. Sie wurde auch von Kaiser Franz Joseph ausdrücklich gebilligt. Ludendorff, mit dem Falkenhayn sein Projekt sofort telefonisch besprach, erhob zwar Einwände; doch erklärte sich Hindenburg bereit, einem kaiserlichen Befehl Folge zu leisten. Dagegen war die engere Gefolgschaft Bethmann Hollwegs entsetzt und davon überzeugt, daß die öffentliche Meinung Deutschlands die Unterstellung ihres Nationalhelden unter österreichisches Oberkommando mit Empörung aufnehmen würde. Die Entscheidung brachte schließlich der Entschluß Wilhelms II., sich persönlich in die Verhandlungen mit dem Bundesgenossen einzuschalten. Bethmann Hollweg hat ihn durch ein wahres Trommelfeuer von Telegrammen herbeigeführt, in denen er bald die von Rumänien drohende Gefahr unterstrich, bald die Kritik der Ungarn und Österreicher am Teschener H a u p t quartier, bald das dringende Verlangen der Bulgaren, aber auch führender österreichischer Politiker und Militärs, der süddeutschen H ö f e und der deutschen Öffentlichkeit nach dem Oberkommando Hindenburgs 5 7 ). Den stärksten Eindruck machte auf den Kaiser die (von Bethmann Hollweg am 22. weitergeleitete) Meldung des Botschafters Tschirschky über dessen Gespräch mit Andrassy: Wenn man in Österreich-Ungarn selbst so dringend nach Hindenburgs Oberbefehl verlangte, warum sollte er dann nicht gegen Conrad durchzusetzen sein? Wilhelm II. ließ sich daraufhin bereden, sogleich nach Pleß zu einer Verhandlung mit den Österreichern zu fahren, hatte aber unterwegs noch Schwankungen, denen J a g o w , Lyncker und Wild nach K r ä f t e n entgegenarbeiteten. Ohne seine vorherige Genehmigung riefen sie auch Bethmann Hollweg nach Pleß, der seinerseits dafür gesorgt hatte, daß auch H i n denburg und Ludendorff dorthin geladen wurden. Gleich nach der Ankunft des Hofzuges (am 25. J u l i abends) entwickelte sich eine Art Wettlauf zwischen Falkenhayn, der am nächsten Morgen ganz früh nach Teschen fahren wollte, um mit dem A O K eine Vorbesprechung zu halten (natürlich im Sinn seines eigenen Vorschlags) und seinen Gegnern, die den Kaiser dahin brachten zu befehlen, daß der Generalstabschef zunächst den Immediatvortrag

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des Kanzlers abzuwarten habe. Dieser traf spät am Abend (kurz vor 11 Uhr) ein und stellte dem Monarchen in einer sofort stattfindenden Audienz vor, Hindenburg müsse unbedingt Oberbefehlshaber der ganzen Ostfront werden. „Es handele sich dabei um die Dynastie der Hohenzollern. Mit Hindenburg könne er einen enttäuschenden Frieden machen, ohne ihn nicht." Damit war indirekt schon die künftige Ablösung Falkenhayns gefordert. Dieser erhielt jetzt den Auftrag, in Teschen im Sinn des Kanzlers vorzufühlen, was er, wie zu erwarten, mit negativem Ergebnis tat. Der Reichskanzler war, ebenso wie seine Vertrauensleute, sofort überzeugt, daß hier nur ein abgekartetes Spiel der beiden Generalstabschefs vorliege und verhandelte (nach Valentinis Aufzeichnung) „in höchstem Zorn lange und ernst mit dem Kaiser, dem nichts geschenkt wurde". Nach seinem eigenen Bericht hat er „mit einer Eindringlichkeit gesprochen, die nicht wohl zu überbieten war", natürlich gegen Falkenhayn! Erzherzog Friedrich und General Conrad wurden auf den nächsten Nachmittag nach Pless eingeladen. Der Kaiser, sehr aufgeregt, meinte ärgerlich, ihm werde jetzt die „Quadratur des Kreises" zugemutet. Der Kanzler seinerseits war nicht minder aufgeregt und setzte am nächsten Morgen (27. Juli) dem Admiral von Müller vertraulich auseinander, es wäre nun so weit gekommen, daß wir unter Umständen Wilson um Friedensvermittlung unter Preisgabe Belgiens bitten müßten. Unterdessen war „Oberost" eingetroffen, und es gab in einer Besprechung der Generäle vor dem Kaiser einen sehr scharfen Wortwechsel zwischen Falkenhayn und Ludendorff, in dem sich der Kaiser auf Seiten des letzteren stellte. Er soll den Generalstabschef aufgefordert haben, den Feldmarschall nicht immerfort zu unterbrechen und erklärte ihm zum Schluß: „Das sage ich Ihnen, ich gehe hier nicht fort, ohne die Sache in Ordnung gebracht zu haben. Das bin ich meinem Volke schuldig 58 )." Am Abend trafen die Österreicher zu Beratungen ein, die dadurch erleichtert wurden, daß gleichzeitig neue schwere Hiobsposten von der Front des Bundesgenossen gemeldet wurden. Erzherog Friedrich, ein ebenso unbedeutender wie liebenswürdiger Kavalier, hatte sich schon bei den Besprechungen in Teschen weniger hartnäckig gezeigt als sein Generalstabschef. Immerhin kam man auch jetzt über einen Kompromiß nicht hinaus: Hindenburg sollte die Gesamtfront von der Ostsee bis zur zweiten österreichischen Armee (Heeresgruppe Böhm-Ermolli, Gegen von Tarnopol) übernehmen. Er blieb der deutschen O H L unterstellt, die aber Weisungen für die Gruppen südlich des Pripjet mit dem österreichischen A O K zu vereinbaren hatte.

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Diese Vereinbarung entsprach sachlich ungefähr dem ersten Kompromißvorschlag Falkenhayns vom 8. Juli. Aber die Art, wie sie zustande kam, war f ü r den deutschen Generalstabschef eine bittere Enttäuschung. Durch die Ber u f u n g Hindenburgs und Ludendorffs zur Mitberatung einer Frage, die allein zur Kompetenz der O H L gehörte, und durch ihre anfängliche Besprechung mit dem Kaiser allein, zu der er erst nachträglich hinzugezogen wurde, fühlte er sich gleichsam in die Ecke gedrängt. Tief verstimmt erwog er, seinen Abschied zu fordern, blieb der Abendtafel mit den österreichischen Gästen fern, mußte es aber dann hinnehmen, d a ß die entscheidende Beratung ohne seine Mitwirkung stattfand. Es war der erste deutlich sichtbare Schritt zu seiner Entmachtung. Mehr als ein Schaustück zur Beruhigung der Menge war die neue Vereinbarung nicht, obwohl sie von allen Seiten, auch in den Ländern der Verbündeten, mit großen Hoffnungen begrüßt wurde 59 ). Eine wirkliche Einheit der Befehlsverhältnisse an der Ostfront war damit so wenig erreicht, daß gleich von Anfang an allerhand sehr knifflige Zusatzvereinbarungen getroffen werden mußten, um ein erträgliches Zusammenarbeiten der beiden Heeresleitungen miteinander und mit dem neuen Oberkommando überhaupt zu ermöglichen und jenen die Freiheit zum Einsatz ihrer spärlichen Reserven an den verschiedenen Fronten zu erhalten. Genau so wie es Falkenhayn vorausgesagt hatte, gab es sofort Zusammenstöße zwischen „Oberost" und „ O H L " , und zwar dadurch, daß es für den Generalstabschef ganz unmöglich war, sich mit einem so rücksichtslosen und selbstbewußten Untergebenen wie Ludendorff über die Verteilung der Heeresreserven und die Truppenverschiebungen zu einigen 60 ). Offensichtlich legte es dieser von Anfang an darauf an, Konflikte herbeizuführen und bis an den Kaiser selbst heranzutragen, in der selbstgewissen Erwartung, über kurz oder lang an Falkenhayns Stelle berufen zu werden, und immer der Unterstützung des Kanzlers gewiß. Wurden seine Wünsche abgelehnt, oder (nach seiner Meinung) verspätet erfüllt, so ließ er den Marschall (eine unerhörte Neuerung in der Armee!) sofort ein Immediatschreiben an den Kaiser richten, auch wohl Beschwerden an den Chef des Militärkabinetts über den Generalstabschef, „der meine eindringlichen Mahnungen nicht hat hören wollen und sich von halben Maßregeln nicht frei machen kann". Truppenabgaben, die ihm befohlen wurden, um damit eine dringende Gefahr an anderer Stelle abzuwehren, führte er einfach nicht aus oder ließ sie sich nur in dringenden Mahnschreiben abringen. Dabei ging es ihm zunächst um die Sicherheit der eigenen Frontabschnitte. Am

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9. August aber, als Nachrichten über einen ganz bald zu erwartenden Kriegseintritt Rumäniens eintrafen, ließ er Hindenburg ein Immediatschreiben unterzeichnen, das den Kaiser „beschwor", sofort 4—5 Divisionen von der Westfront nach dem Südosten, zu einem Vorstoß in die Bukowina zu sdiikken — als wenn das mitten im Toben der Sommeschlacht überhaupt möglicli gewesen wäre! Dabei weigerte er sich, zur Verstärkung der am Rande der Bukowina stehenden österreichischen Südarmee des Erzherzog-Thronfolgers Karl auch nur eine Division aus seinen eigenen Beständen frei zu machen, so daß sich Falkenhayn gezwungen sah, sogar eine Schwächung dieser Südarmee hinzunehmen, der General Conrad eine Division zur Abwehr eines besonders schweren italienischen Angriffs am Isonzo entnahm. Mit anderen Worten: Ludendorff und Hindenburg spielten sich schon jetzt als die unmittelbaren Berater des Kaisers, als die Inhaber der obersten Kommandostelle des Heeres auf, griffen mit ihren Ratschlägen und Forderungen weit über ihren Befehlsbereich hinaus und suchten den Einfluß des Generalstabschefs auf den Kaiser mit allen Mitteln zu umgehen oder zu lähmen. Mit dem Stabschef des Erzherzogs Karl, General von Seeckt, standen sie laufend in enger Verbindung und suchten dessen persönlichen Einfluß im Großen Hauptquartier gegen Falkenhayn zu mobilisieren. Wie sie denn überhaupt alles taten, ihre Kritik an Falkenhayn und dessen Operationschef Tappen überall recht laut zu äußern und damit erreichten, daß in dessen eigenem Stab sich bei den jungen Offizieren Zweifel und heimliche Opposition gegen den Chef regten 61 ). General Groener fand ihn Mitte August bei einem Besuch im Großen Hauptquartier seelisch und körperlich schwer mitgenommen von allen diesen Konflikten. Er hatte auch den Eindruck absoluter Ehrlichkeit, als ihm Falkenhayn versicherte: „Sie können mir glauben, ich brüte Tag und Nacht über der Karte, wo Truppen frei zu bekommen sind." Ludendorff hat später (in seinen Memoiren) selbst eingestanden, daß er vor seinem ersten Frontbesuch im Westen Herbst 1916 keine Vorstellung gehabt habe von der furchtbaren H ä r t e und Gefährlichkeit der dortigen Frontkämpfe. Er hat im August 1916 wohl wirklich noch nicht gewußt, daß er von der O H L das schlechthin Unmögliche forderte. Aber es kam ihm ja auch nicht bloß auf die Divisionen an, sondern auf den Sturz des verhaßten Rivalen. Dazu wurden, ebenso wie im Winter 1914/15, alle Mittel aufgeboten, auch politische Intrigen nicht gescheut. Selbst die Kaiserin wurde dabei wieder eingeschaltet 62 ) und Bethmann Hollweg in aller Form aufgefordert, im Sinne

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Ludendorffs beim Kaiser vorstellig zu werden: in der (rein militärischen) Frage nach dem Einsatz von Reserven 63 ). Tatsächlich hat sich dieser auch schon bald an der Aktion beteiligt. Am 15. August meldete ihm sein Agent, Baron Grünau, der Kaiser wünsche Rußland durch kräftiges militärisches Zupacken friedensgeneigt zu machen. Dem stünde aber entgegen, daß Falkenhayn sich offenbar nicht entschließen könne, seine verunglückte Verdun-Offensive endlich abzubrechen. Vielmehr habe er gestern erst einen neuen Angriff auf Fort Souville mit General Knobelsdorf vereinbart, „worüber der Kronprinz und Schulenburg außer sich sind". Damit würden also wieder 30 Divisionen gebunden sein, „und H e r r von Falkenhayn kann dann sagen, daß aus dem Westen nichts abgegeben werden k a n n " — was sich (fügte Grünau hinzu) nur entweder aus Böswilligkeit oder Halbheit der Entschlüsse erklären läßt. Dieser Bericht war entschieden tendenziös und verzerrte den wirklichen Sachverhalt — ein Spiegelbild der Gerüchte, wie sie unter Falkenhayns Gegnern im Hauptquartier damals umliefen 64 ). Bethmann Hollweg aber nahm ihn ernst und reagierte darauf mit einer längeren (uns schon teilweise bekannten) Denkschrift für den Kaiser, in der er in lebhaften Farben den inneren Verfall der Donaumonarchie, die allgemeine Mißachtung Conrads und des Teschener Hauptquartiers und die allgemeine Sehnsucht der Wiener und Budapester Politiker schilderte, recht bald Hindenburg zum Befehlshaber der ganzen Ostfront berufen zu sehen. Vor allem erklärte er es für dringend notwendig, schleunigst das Schwergewicht unserer militärischen Operationen auf die Ostfront zu verlegen, im Westen aber „jeden einzelnen Mann zu sparen, um ihn dort einsetzen zu können, wo jetzt die endgültige Entscheidung dieses Völkerringens bevorsteht 65 )". Das war ein Angriff auf Falkenhayn, dessen Strategie gleich zu Anfang (mit einer gewissen Vorsicht und mehr indirekt) als verfehlt kritisiert wurde. Er traf im Hauptquartier zusammen mit einem Immediatschreiben Hindenburg-Ludendorffs, die schriftlich gegen die ihnen erneut befohlene Abgabe einer Division protestierten, und zwar mit halb drohenden Wendungen. Falkenhayn setzte sich nun energisch zur Wehr. Er verlangte vom Kaiser, daß dieser sich weitere Immediatschreiben dieser Art von Hindenburg verbäte und ihn auf den Dienstweg über die O H L verwiese. Aber das wagte Wilhelm II. schon nicht mehr. Er wies den Protestschritt des Marschalls ab, aber in einem sehr freundlich gehaltenen Privatschreiben, in dem er nur betonte: „Die Verantwortung f ü r von der Obersten Heeresleitung angeordnete Maßnahmen ruht

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ausschließlich bei ihr." Aber schon das genügte, um Oberost erneut in Wallung zu bringen und nunmehr zu einem offenen Angriff auf Falkenhayn zu veranlassen, der dessen Sturz herbeizuführen bestimmt war. Zunächst erklärte der Feldmarschall in einem neuen Immediatschreiben vom 19. August, er sei an seiner Front nur ganz ungenügend unterstützt worden. Die Begründung der O H L , daß die Ersatztruppen viel dringender von der Armee des Erzherzogs Karl (also an der rumänischen Grenze) gebraucht würden, gegen die sich deutlich erkennbar jetzt das Schwergewicht des russischen Angriffs richte, bestritt er kurzerhand (und zweifellos zu U n recht). Gleichzeitig ging ein Telegramm an den Chef des Militärkabinetts ab, in dem er seine Verabschiedung forderte, falls der Kaiser ihm nicht sofort eine Audienz im Beisein allein Lynckers und Ludendorffs (also unter Ausschließung Falkenhayns) gewähren würde. Auch Ludendorff schickte ein Abschiedsgesuch, das aber erst nach der endgültigen Entscheidung H i n denburgs vorgebracht werden sollte. Über alles das wurde Baron Grünau telefonisch informiert, der es sofort telegraphisch an Bethmann Hollweg weitergab und diesen überhaupt fortgesetzt mit stark tendenziös gefärbten Berichten aus dem Hauptquartier (alle im Sinn von Oberost) bombardierte 66 ). Der Kanzler reagierte darauf sofort mit einem Telegramm an Lyncker: er höre, daß ein Rücktritt Hindenburgs drohe und müsse unbedingt dem Kaiser seine Auffassung über die politischen Folgen eines solchen Schrittes darlegen. Gleich darauf traf er denn auch in Pleß ein (am 21. August) in der ausgesprochenen Absicht, S. M. davon zu überzeugen, daß Falkenhayn nicht mehr das Vertrauen der Armee besitze. Aber diese Reise wurde f ü r ihn zu einer Enttäuschung. Wilhelm II. hatte inzwischen die von Hindenburg erbetene Audienz abgelehnt, in huldvoller, aber sehr entschiedener Form, die auch die Abschiedsdrohung einfach wegwischte: „Euer Excellenz haben nach wie vor mein Vertrauen . . . , aber wollen mir auch in der Zeit der schweren Spannung, die ich zu durchleben habe, Ihrerseits die vollste Mitwirkung in der Erleichterung der Führung des beispiellos schweren Krieges zuteil werden lassen. Ich sehe hierdurch Ihre Anfrage als erledigt an." Es war schon ein starkes Stück, daß Hindenburg darauf immer noch keine Ruhe gab, sondern mit einer langen Eingabe (vom 20. August) mit neuen Beschwerden über Falkenhayn antwortete und seine eigene Auffassung der Frontlage behauptete. Er tat das aber in einer so ungeschickten Form, auf kleinlichen Details der Truppenverschiebung ohne jeden höheren Gesichtspunkt herumreitend, daß er seinen Eindruck völlig verfehlte — auch auf Bethmann

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Hollweg, der darüber recht unglücklich war. Unmöglich kann dieser sich dem starken Eindruck der großen Denkschrift entzogen haben, mit der Falkenhayn am 21. August auf die Kritik des Kanzlers vom 16. antwortete, die ihm der Kaiser zu lesen gegeben hatte. Es war eine sehr geschickte Verteidigung seiner eigenen Strategie seit Beginn des Jahres, in fester, klarer, männlicher Sprache, zugleich aber eine erbitterte Anklage jener „Laienklasse (zu der auch viele Mitglieder in Feldgrau, und zwar bis in die höchsten Stellen gehören)", die da „glaubt, es genüge zu entscheiden, wo man schlagen wolle und dementsprechend den Uberschuß an K r ä f t e n dorthin zu verschieben". Diese Leute wollten einfach nicht sehen, wie bedrängt unsere Lage sei, wie eng gebunden die Führung durch die Erschöpfung der K r ä f t e an allen Fronten, und welches Unheil durch so verwirrende Schlagworte wie „Entscheidung im Osten" oder „Westen" angerichtet würde. Heute zweifelt wohl niemand mehr daran, daß Falkenhayn mit dieser Kritik an seinen Gegnern im Lager Hindenburgs recht hatte und daß er sich sogar ein Verdienst mit seiner unbeirrten Weigerung erworben hat, die schwer bedrohte Westfront zu gefährden, um Lücken an der Ostfront stopfen zu können; denn diese konnten niemals so gefährlich werden wie ein Zusammenbruch unserer Front an der Somme 67 ). Auch Wilhelm II. hat er damit überzeugt. Der Kanzler konnte in diesem Augenblick gar nicht wagen, die Absetzung des Generalstabschefs zu fordern. Er stieß damit auch bei Lyncker und dem Kriegsminister Wild (die doch beide f ü r Hindenburgs Oberbefehl an der Ostfront eingetreten waren) auf Widerstand. Beide bestritten entschieden, daß Falkenhayn das Vertrauen der Armee verloren hätte und von den wirklichen Sachkennern im Generalstab ungünstig beurteilt würde. Da sich nun der Kanzler unmöglich auf die Kritik jüngerer Offiziere der Operationsabteilung stützen konnte (von der ihm Oberst Bauer, einer der radikalsten Ludendorff-Anhänger berichtete) und unsicher war, ob er genügend Unterstützung beim Kronprinzen von Bayern und dem Herzog von Württemberg finden würde, mußte er am 24. August unverrichteter Dinge wieder abreisen 68 ). Hindenburgs neues Schreiben wurde mit einem freundlichen Privatschreiben Wilhelms II. abschlägig beschieden. Falkenhayn behauptete sich noch einmal in des Kaisers Gunst. Aber nicht mehr f ü r lange. Drei Tage später traf im Kaiserlichen H a u p t quartier die telefonische Mitteilung ein, daß Rumänien an Österreich-Ungarn den Krieg erklärt habe. Sie schlug dort, obwohl eigentlich nicht unerwartet, wie eine Bombe ein. Wilhelm II. verlor zunächst völlig den Kopf, gab den

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Krieg endgültig verloren und meinte, wir müßten nun um Frieden bitten. Er bedurfte vielen Zuredens seiner Umgebung, um ihn wieder aufzurichten. Natürlich geschah das nicht ohne neuen Hinweis auf Hindenburg als den einzig möglichen Retter aus der N o t . Valentini drängte in diesem Sinn auch auf Lyncker ein, der sich nunmehr von der Notwendigkeit eines Kommandowechsels überzeugen ließ und sie dem Kaiser zusammen mit dem Generaladjutanten Plessen vorstellte 69 ). Audi der Kriegsminister Wild, Falkenhayns ehemals getreuer, aber längst unsicher gewordener Bundesgenosse, äußerte sich dem Monarchen gegenüber mehr kritisch als lobend über die strategische Befähigung des Generalstabschefs, als ihn der Kaiser darüber befragte und er merkte, daß die Entscheidung gegen diesen innerlich schon gefallen war 70 ). Am Nachmittag des 28. war bereits alles entschieden, und als am nächsten Vormittag Bethmann Hollweg, Hindenburg und Ludendorff (herbeigerufen von Valentini und Lyncker) in Schloß Pleß eintrafen, brauchte die Ernennung der neuen Obersten Heeresleitung nur noch förmlich vollzogen zu werden. Der Wechsel ist dem Kaiser (nach Plessens und Lynckers Aufzeichnungen) nicht leichtgefallen, und er war auch mit rein militärischen Erwägungen nicht zu begründen. Für den Ubergang Rumäniens ins feindliche Lager trug Falkenhayn keinerlei Mitverantwortung. Wenn er ihn auch etwas später erwartet hat, so war ihm doch niemals zweifelhaft, daß die fortgesetzten Niederlagen und Rückzüge der Österreicher die Kriegslust der Rumänen fortgesetzt ansteigen ließen, denen unsere Gegner die unerhörtesten Annexionen als Kriegsgewinn anboten 71 ). Eben deshalb hat er auch, gegen die erbitterten Proteste Ludendorffs, den weitaus größeren Teil der verfügbaren deutschen Reserven der Karpathenfront des Erzherzogs Karl und nicht den Armeen des „Oberbefehlshabers Ost" zugeführt. Aber er war sich auch klar darüber (wie sein Schreiben an den Kanzler vom 21. August zeigt), daß die Entscheidung Rumäniens viel mehr von der allgemeinen Kriegslage als von der Schließung einzelner österreichischer Frontlücken abhing. N u r ein erfolgreicher Vorstoß zur Rückeroberung der Bukowina hätte in Bukarest tieferen Eindruck machen können. Dazu aber fehlten im entscheidenden Augenblick einfach die Kräfte, nachdem die Österreicher seit Anfang Juni allein an der Ostf r o n t mehr als eine halbe Million Soldaten verloren hatten, davon mehr als zwei Drittel Gefangene und „Vermißte". Falkenhayn hatte sich aber das Verdienst erworben, den Einsatz türkischer Divisionen in Galizien durch-

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zusetzen und Bulgarien vertraglich zum Eingreifen gegen Rumänien zu verpflichten, falls dieses in den Krieg eintrat, was sich bald als sehr nützlich erweisen sollte. Aber alles das konnte an seinem Schicksal nichts ändern. Der Kaiser — das w a r allein entscheidend — brauchte im Moment dieser (von ihm überschätzten) Katastrophe politisch einen Sündenbock. Als solcher wurde Falkenhayn geopfert. Man brauchte außerdem, für die Augen des Volkes, einen Retter. Als solcher wurde Hindenburg mit seinem Gehilfen (und Meister) Ludendorff berufen. Es war eine der folgenschwersten politisch-militärischen Entscheidungen, die Wilhelm II. je getroffen hat. Bethmann Hollweg hat sie ihm, wie wir gesehen haben, mit allen Mitteln aufgedrängt und hat dafür die historische Verantwortung an erster Stelle zu tragen. D a ß es eine verhängnisvolle Entscheidung war, hat wenigstens einer der Offiziere des Kaiserlichen Hauptquartiers klar gesehen: Oberst von Marschall, der bedeutendste Mitarbeiter Lynckers im Militärkabinett. Er gestand Groener am Abend des 28. August, „er befürchte, daß Ludendorff in seinem maßlosen Ehrgeiz und Stolz den Krieg bis zur völligen Erschöpfung des deutschen Volkes führen und dann die Monarchie den Schaden zu tragen haben werde. E r habe seine Auffassung in einer Denkschrift niedergelegt, da er die Verantwortung f ü r den Wechsel der Heeresleitung nicht tragen könne 7 2 )". Das w a r ein prophetisches Wort: Die Tatsache, daß Bethmann Hollweg, trotz mancher nagender Zweifel gegenüber der Person Ludendorffs, nicht so klar in die Zukunft gesehen und blindlings geglaubt hat, die massive, Vertrauen ausstrahlende Figur Hindenburgs würde sich als Schild zur Deckung eines Verzichtfriedens gebrauchen lassen, kann als stärkster Einwand gegen sein staatsmännisches Talent gelten. Sie ist ihm selbst zum Verderben geworden. Da weder Hindenburg noch die Nation einen „Verzichtfrieden" wollte, den doch der Kanzler ansteuerte, sondern das Gegenteil, geriet dessen Politik erneut in das Zwielicht der Unaufrichtigkeit und Halbheit. Freilich: er hat seine Illusion mit fast allen Politikern des damaligen Deutschland geteilt. Die Berufung der „dritten O H L " wurde von einem wahren Jubelsturm umbraust, Bethmann Hollweg mit Glückwünschen überschüttet 73 ). Will man gerecht urteilen, so wird man beachten müssen, daß er in seinen Entschließungen an diesem Punkte ebensowenig ganz frei war wie sonst im Krieg. Der Druck der öffentlichen Meinung war stärker als sein Wille und seine Einsicht. Politisch war der Gedanke, der Krieg dürfe nicht zu Ende gebracht werden, ohne es zuvor noch einmal mit dem Heros von Tan-

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nenberg, dem vermeintlichen Genie, zu versuchen, beinahe zwangsläufig gegeben — ebenso zwangsläufig wie später der verzweifelte Versuch mit dem unbeschränkten U-Boot-Krieg. Beide Male hat das Mittel, das Rettung bringen sollte, erst recht ins Verderben geführt. Aber das mit voller Sicherheit vorauszusehen war schwierig — die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, ganz unmöglich. Es gibt wenige geschichtliche Beispiele, die so deutlich wie der Sturz Falkenhayns erkennen lassen, daß es sich bei der Meisterung und Uberwindung des natürlichen Gegensatzes zwischen Staatskunst und Kriegshandwerk um eine unheimlich schwierige Aufgabe handelt. Wir haben das eifrige Bemühen Bethmann Hollwegs, die Zügel der Kriegführung nicht aus der H a n d zu verlieren, genau verfolgt. Mit Falkenhayn war es darüber zu manchen Konflikten gekommen; aber schließlich hatte sich der Politiker doch immer durchsetzen können. Von jetzt an riß ihm ein stärkerer Wille die Zügel aus der H a n d . Im ganzen unserer historischen Darstellung bedeutet der Sturz Falkenhayns und die Machtergreifung der „Dritten O H L " einen epochalen Abschnitt. Mit dem Aufstieg Ludendorffs, des rücksichtslosen Willensmenschen und Nur-Soldaten, an die Spitze der militärischen Hierarchie gewinnt das »Problem des Militarismus in Deutschland« ein neues Gesicht.

I I I . TEIL AUFSTIEG DER OBERSTEN HEERESLEITUNG ZUR P O L I T I S C H E N H E G E M O N I E 1916/17

7. K a p i t e l DAS P O L E N M A N I F E S T U N D S E I N MISSERFOLG

Wie Admiral von Müller notierte 1 ), schwamm Bethmann Hollweg a m Tag der Berufung der neuen Heeresleitung „in Seligkeit über die Persönlichkeit Hindenburgs". Der Monat September war aber noch nicht vorüber, als er bereits zu spüren bekam, d a ß der neue „Generalstabschef" n u r eine Fassadenfigur darstellte, die widerstandslos alles deckte, was L u d e n d o r f f , der w a h r e Chef der O H L , f ü r richtig hielt. Seine Unterschrift w a r k a u m mehr als bloße Form. Weiter: daß der Gegensatz zwischen politischer u n d militärischer Kriegsleitung durch den Wechsel der Personen nicht geringer, sondern viel größer geworden w a r als jemals unter Falkenhayn. D a s illustrierte bereits drastisch die A n t w o r t Hindenburgs auf eine Bitte des K a n z lers (vom 28. September), er möge den Wunsch führender Reichstagsmitglieder erfüllen und in der nächsten Sitzung des Hauptausschusses (Budgetkommission) des Reichstags durch einen geeigneten Generalstabsoffizier ein Bild der Kriegslage entwickeln lassen. Nicht genug damit, daß der Kaiser dieses Verlangen als „Eingriff des Parlaments in die K o m m a n d o g e w a l t " ablehnte, dem man prinzipiell widerstehen müsse, so fügte H i n d e n b u r g (gleich LudendorfF) noch hinzu: „Mir ist von weitesten Kreisen Vertrauen ausgesprochen worden, so daß ich erwarte, daß meine günstige Auffassung der Lage dem gleichen Vertrauen begegnet und die Zuversicht stärkt 2 )." Sehr bald wurde auch klar, daß die Autorität des Namens H i n d e n b u r g trotz aller Beifallsbezeugungen aus Österreich nicht hinreichte, um die i n neren Spannungen des Kriegsbündnisses zu überwinden. Falkenhayn hatte noch in den letzten Tagen seiner Amtstätigkeit versucht, über die N e u o r d nung der Befehlsverhältnisse an der O s t f r o n t (vom 27. Juli) hinaus eine vertragliche Führerstellung des deutschen Kaisers und seines Generalstabs über alle verbündeten Armeen zu erreichen: er sollte „in allen gemeinsamen Angelegenheiten der Kriegführung" die letzte Entscheidung haben, in der Regel nach vorhergehender Verständigung mit den verschiedenen Heeresleitungen. Der Wunsch nach einer solchen Regelung war von den Türken

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(Enver Pascha), Bulgaren (König Ferdinand), aber auch von österreichischen Offizieren „aus der Umgebung des A O K " geäußert worden; Falkenhayn scheint vor allem das Bedürfnis bestimmt zu haben, die Bulgaren noch fester als bisher an die deutsche Kriegsleitung zu binden (besonders im Fall eines rumänischen Feldzugs), den ewigen Streitereien mit General Conrad über die militärische Schwerpunktbildung ein Ende zu machen und vor allem die Wiederholung so verfehlter Sonderaktionen der Österreicher wie des Italienfeldzugs vom Mai 1916 zu verhindern. Erzherzog Friedrich wurde d a f ü r gewonnen, aber Conrad von Hötzendorff widerstrebte auf heftigste, ja er drohte mit seinem Abschied, da er einen deutschen Oberbefehl nicht nur praktisch undurchführbar fand, sondern völlig unverträglich mit der Großmachtstellung Österreich-Ungarns. Kaiser Franz Joseph zeigte sich weniger empfindlich und ließ einen Gegenvorschlag ausarbeiten, der auf eine Art Obersten Kriegsrat der verbündeten Mächte hinauslief. Die Verhandlungen waren beim Sturz Falkenhayns noch nicht abgeschlossen, aber die neue O H L zögerte keinen Augenblick, sie fortzusetzen. Sie erreichte auch rasch (am 6. September) eine vertragliche Einigung zwischen den vier Verbündeten, in der dem deutschen Kaiser der Form nach eine „Oberste Kriegsleitung" zugesprochen wurde. D a er aber vor jeder wichtigen Entscheidung die einzelnen Heeresleitungen hören mußte und sich mit ihnen grundsätzlich einigen sollte, überdies die „Oberleitung" auf ganz allgemeine strategische Planungen beschränkt blieb, hatte das Ganze mehr formale als praktische Bedeutung. Zu allem Uberfluß setzte Conrad für seinen eigenen Machtbereich noch eine geheime Zusatzklausel durch: bei allen Operationen und Verhandlungen sollte „der Schutz der Integrität Österreich-Ungarns" genau ebenso wichtig sein wie der Deutschlands, und falls das österreichische A O K den „Vorschlägen" (nicht etwa Weisungen!) der Obersten Kriegsleitung nicht zustimmen könne, sollten die beiden Monarchen miteinander konferieren. Die Anerkennung nationaler Sonderinteressen der Donaumonarchie innerhalb des Bündnisses war also sorgfältig konserviert 3 ). Dahinter stand — trotz aller Großtaten deutscher Waffenhilfe — ein unverändert starkes Mißtrauen der Österreicher vor der reichsdeutschen „Präpotenz". Im Teschener Hauptquartier traute man dem deutschen Bundesgenossen jede Preisgabe österreichischer Interessen beim Friedensschluß, ja schon im Kriege zu 4 ). Alles klagte über deutsche „Taktlosigkeit" und Anmaßung. Auf deutscher Seite war man zunehmend beunruhigt über den inneren Zerfall der Donaumonarchie und keineswegs sicher ihrer Bündnis-

D a s P o l e n m a n i f e s t u n d sein M i ß e r f o l g

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treue, falls die Lage einmal kritisch würde. Prinz Hohenlohe, der seinem Minister v o n solchen Stimmungen berichtete, hielt es für nötig, hinzuzufügen, einstweilen, mit 2 1 /ä Milliarden Kriegsschulden an das Reich und mitten im Krieg, bliebe nichts übrig, als an dem Bündnis so lange festzuhalten, bis „wir wieder einmal ganz auf eigenen Füßen stehen". Er hielt zwar ein „dauerndes enges Verhältnis zwischen Deutschland und der Monarchie" f ü r wünschenswert, aber durchaus nicht für die „allein seligmachende Politik" 5 ). Graf Burián, dem dieser Bericht zuging, suchte seinerseits aus dem deutschen Bündnis für den Habsburgerstaat soviel herauszuschlagen, wie sich nur immer gewinnen ließ. Schon seit Juli drängte er auf ein Abkommen, daß alle von den verbündeten Mächten auf irgendeinem Kriegsschauplatz gemachte „Kriegsbeute" nach einem für Österreich günstigen Schlüssel (gedacht war etwa an ein Drittel) aufgeteilt werden sollte ohne Rücksicht darauf, wer sie in Besitz gebracht hätte. Dasselbe sollte von den Kriegsentschädigungen gelten. Darüber ist sehr lange verhandelt worden. Die nachträgliche Aufteilung der „Kriegsbeute" erklärte das preußische Kriegsministerium für praktisch undurchführbar 6 ); aber Graf Burián bestand mit Zähigkeit darauf, wenigstens einen Schlüssel für die Verteilung der Kriegsentschädigung zwischen den beiden Mittelmächten schon jetzt festzulegen, offenbar aus Mißtrauen, Österreich könnte später zu kurz kommen. E r verband sie mit der Forderung eines „Solidaritätsabkommens", nach dem sich beide Mächte verpflichten sollten, die von ihnen besetzten Gebiete so lange nicht zu räumen, bis die Gegner die von ihnen okkupierten Territorien nicht zurückerstattet hätten. Das hätte die Deutschen verpflichtet, u. U . den Krieg ins Endlose fortzusetzen, um dem Bundesgenossen die von ihm verlorenen weiten Gebiete (Ostgalizien, Bukowina, G ö r z ) zurückzuerobern. Bethmann Hollweg hat das gegen immer erneutes, zuletzt beinahe drohendes Drängen Buriáns und seines Berliner Botschafters abgelehnt, wohl aber eine billige Aufteilung etwa zu erwartender Kriegsentschädigungen zugesagt, nach dem Maßstab der von jedem der Bundesgenossen geleisteten Aufwendungen und Hilfszahlungen an seine Verbündeten 7 ). Deutschland konnte eine solche Zusage unbedenklich geben: seine Kriegsleistungen waren unvergleichlich die größten, seine Subsidien für die Verbündeten enorm. Die ganze Debatte war vorläufig rein theoretisch, j a wirklichkeitsfremd — nur verständlich im Zusammenhang der eben damals laufenden Erörterungen über die Z u k u n f t Polens und der allgemeinen Kriegsziele der Verbündeten, von denen später noch zu reden sein wird (s. K a p . 8 III).

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Angesichts dieser inneren Spannungen des Bündnisses wirkt es überraschend, daß die neue O H L den Zeitpunkt f ü r geeignet hielt, nicht nur eine Militärkonvention mit Österreich-Ungarn abzuschließen (die Falkenhayn ein Jahr vorher energisch abgelehnt hatte, so lange wir den Bundesgenossen nicht in totale Abhängigkeit gebracht hätten), sondern darüber hinaus eine völlige politische Umgestaltung der Donaumonarchie in die Wege zu leiten. Sie übersandte dem Kanzler zu diesem Zweck den Bericht eines deutschen Verbindungsoffiziers bei der österreichischen 2. Armee über eine Unterhaltung mit dem dortigen Generalstabschef Bardolff, der ihm einen abenteuerlichen Plan entwickelt hatte. Conrad von Hötzendorff und Erzherzog Friedrich sollten aus ihren Ämtern „entfernt", der Thronfolger Erzherzog Karl zum obersten militärischen Befehlshaber ausgerufen werden. Er sollte dann „über den Kopf des alten Kaisers hinweg" das (angebliche) politische Testament des ermordeten Thronfolgers Franz Ferdinand durchführen, d. h. die Donaumonarchie in sechs, nach Nationen gruppierte Statthaltereien unter Oberaufsicht je eines Erzherzogs (der alle fünf Jahre zu wechseln hätte) aufteilen, und zwar mit einheitlicher deutscher Staats- und Kommandosprache unter Oberleitung durch einen „Reichskanzler". Daß Ludendorff diese Phantasterei ernst genug nahm, um sie mit einem von Hindenburg unterzeichneten Dienstschreiben an den Kanzler weiterzuleiten, ist erstaunlich. Er identifizierte sich nicht mit ihrem Inhalt, erklärte es aber f ü r unsere „unabweisbare Pflicht", dem Bundesgenossen zu einer „Gesundung seiner Verfassung" zu verhelfen. Beigefügt war ein (in den Akten nicht erhaltener, wohl ebenfalls von Bardolff stammender) Entwurf einer Militärkonvention, der offenbar sehr weit ging in der Anpassung des k. u. k. Militärwesens an das deutsche. Bethmann Hollweg blieb nichts übrig, als der O H L das Dilettantische und Utopische ihres Vorschlags in möglichst schonender Weise klar zu machen und sie auf unmittelbare Verhandlungen mit dem Teschener A O K über eine Militärkonvention (die er als solche willkommen hieß) zu verweisen. Er versäumte nicht, zu bemerken, daß Österreich-Ungarn einen deutschen Versuch, sich in seine inneren Verhältnisse einzumischen, als angemaßte „Vormundschaft" empfinden und ihn unter Umständen durch Abfall vom Kriegsbündnis, also durch einen Separatfrieden „auch unter erheblichen O p f e r n " beantworten könnte 8 ). Dem blinden Aktivisten Ludendorff wird das als „schwächliches Versagen" der deutschen Diplomatie erschienen sein. Wie primitiv seine (und Hindenburgs) Vorstellungen von der N a t u r des Bundesverhältnisses waren,

Das Polenmanifest u n d sein Mißerfolg

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zeigte sich einige Wochen später von neuem. Kaiser Franz Joseph hatte nach der (noch zu besprechenden) Proklamation eines künftigen Königreiches Polen, dem Galizien nicht angehören sollte, seinen galizischen Untertanen erweiterte Selbstverwaltung versprochen, um ihnen f ü r ihre Ausschließung von dem neuen Nationalstaat eine Art von Ersatz zu bieten und damit politischen Unruhen möglichst vorzubeugen. Ein Akt, der um so mehr notwendig war, als ja gerade von Galizien aus die polnische Nationalbewegung seit 1914 in Gang gebracht war. Im deutschen Hauptquartier empörte man sich nicht nur darüber, daß die deutsche Regierung nicht vorher über diesen Schritt verständigt war, sondern sah darin geradezu eine feindliche H a n d lung: einen Versuch, die deutsche Polenpolitik in Warschau zu übertrumpfen. Wilhelm II. nannte den Erlaß einen „Skandal", in einem aufgeregten Telegramm an den Kanzler (vom 6. November), das deutlich erkennen ließ, wie völlig er dem Einfluß seiner neuen Militärberater erlegen war, auch in politischen Fragen. Hindenburg, telegraphierte er, sei empört über diese Hinterlist Burians, dessen Ausscheiden „erzwungen werden müsse" durch Weigerung, mit ihm überhaupt noch zu verhandeln. Vergeblich suchte Bethmann Hollweg diesen Sturm zu beschwichtigen und begreiflich zu machen, daß solche Schritte in Wien nur tiefe Verstimmung wecken, ja als Beleidigung des greisen Kaisers empfunden werden mußten. Die O H L erwiderte in geradezu herausfordernd forschem Ton: die Aktion Österreichs zeige eine „Mißachtung unserer K r a f t und unseres Willens", die wir uns nicht gefallen lassen dürften. Die deutsche Diplomatie habe schon bisher zu viel taktische Rücksichtnahme gezeigt! „Das Nichteinmischen in die inneren Verhältnisse Österreich-Ungarns vor dem Krieg und während desselben hat unsere Kriegführung auf Schritt und Tritt erschwert. Scheuen wir auch weiterhin vor einem solchen Einmischen, da wo unsere Interessen unmittelbar in Frage kommen, zurück, so geben wir damit die H o f f n u n g auf eine Stärkung Österreich-Ungarns endgültig auf und es entsteht die Frage, warum wir uns überhaupt noch für Österreich schlagen!" Wie denkt sich der Kanzler überhaupt, hieß es weiter, das künftige Verhältnis zu Österreich-Ungarn? „Ich muß von militärischer Seite fordern, daß darüber vollständige Klarheit herrscht" (7. November). Das war eine Tonart, wie sie der Kanzler von Falkenhayn auch in Momenten höchster gegenseitiger Spannung nie zu hören bekommen hatte: er, der leitende Staatsmann, wurde aufgefordert, dem Soldaten über seine Politik wie in einem Verhör Rechenschaft zu leisten. Natürlich wies er diesen Uber-

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griff sofort zurück, höflich, aber bestimmt. Die Kritik der OHL sei sachlich unbegründet, »der darin ausgesprochene Vorwurf gegen die mir von S. M. anvertraute Führung der Politik, für die ich allein die Verantwortung trage, muß ich zurückweisen". „Versuche, die Souveränität der Donaumonarchie zu beschneiden", würden nicht nur nutzlos sein, sondern eine sehr gefährliche „Uberspannung des Bogens bedeuten": sie könnten die „durch den Krieg nicht zerstörten Beziehungen Österreich-Ungarns zu England und Frankreich noch verstärken und dem Bundesgenossen „in den Friedensverhandlungen möglicherweise eine uns überlegene Stellung zuweisen" — ein Satz, der dann im Hauptquartier neue Empörung weckte. Es war der erste offene Zusammenstoß zwischen Staatskunst und Kriegshandwerk in der Ära Ludendorff, der erste in einer langen Reihe weiterer. Er wurde durch Baron Grünaus Vermittlung einigermaßen beigelegt, und Hindenburg versicherte diesem treuherzig, er habe sich gewiß nicht in politische Fragen einmischen wollen; aber im Kriege wären diese von militärischen oft schwer zu unterscheiden 9 ). Tatsächlich fehlte der neuen OHL die Fähigkeit, aber auch der Wille zu solcher Unterscheidung. Wenige Tage später trug sie ihre Kritik an der Politik des Kanzlers bereits in die breite Öffentlichkeit, und zwar in einer Form, die auch in Kreisen der höheren Generalität Entsetzen erregte: als völlig ungehörig und traditionswidrig 10 ). Vor allem für die Diplomaten des Auswärtigen Amtes entstand durch die ständige Gefahr politischer Explosionen im Hauptquartier eine unerträgliche Lage, der sich der Staatssekretär von Jagow, Bethmanns treuester Gehilfe und kluger, nie versagender Berater, Ende November durch Rücktritt aus seinem Amt entzog — freilich nicht ohne kräftige Nachhilfe Ludendorffs, der mit seinem Nachfolger Zimmermann seit langem in freundschaftlichem Schriftverkehr stand 11 ). Bethmann Hollweg hat zweifellos gehofft, diese alten Beziehungen und die robustere, etwas burschikose Natur des neuen Staatssekretärs würden ihm den Verkehr mit Ludendorff und den Parlamentariern der Rechten erleichtern. Aber auch dieser neue Mann sah der Zusammenarbeit mit der OHL mit schweren Sorgen entgegen, zumal seit dem Abgang Treutiers kein Diplomat höheren Ranges und Ansehens mehr im Hauptquartier tätig war. Der Kaiser wollte dort keinen mehr sehen; das „mache ihn nervös", erklärte er, d. h. er zog es vor, sich dem Einfluß der Militärs ungestört hinzugeben, so lange nicht der Kanzler oder Zimmermann selbst einmal in Pleß auftauchten 12 ). Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, daß in großen, bedeu-

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tungsvollen Fragen so oft der militärische Einfluß über den zivilen, der rücksichtslose Willensmensch Ludendorff über den immer sorgenvollen Zauderer Bethmann Hollweg die Oberhand gewann. D a s war gleich in den ersten Wochen der Ära Ludendorff zu beobachten: bei der Entscheidung über das schon lange brennende Polenproblem. Wir hörten zuletzt (oben K a p . 4), daß die Verhandlungen über Polens Zukunft zwischen dem Kanzler und Burian im April 1916 zu keiner Einigung geführt hatten und ohne Ergebnis abgebrochen waren. An ihrer Fortsetzung war der deutschen Politik offensichtlich viel weniger gelegen als der österreichischen. Bethmann Hollweg hat lange (und immer wieder) davor zurückgescheut, sich in der heiklen Polenfrage durch eine Proklamation festzulegen, der so viele politische Bedenken entgegenstanden — die meisten bei seinen innenpolitischen Gegnern, den preußischen Konservativen, aber auch im preußischen Staatsministerium. Dazu kam, daß die deutsche Okkupationsverwaltung, unter der klugen und maßvollen Führung des Generalgouverneurs Beseler, allmählich bei der polnischen Bevölkerung, wenigstens in ihrer Oberschicht, ein gewisses Maß von Vertrauen gewann, während das katastrophale Versagen der österreichischen Heere an der Russenfront naturgemäß auch die moralisch-politische Autorität der Donaumonarchie erschütterte. Wir konnten also zuwarten, während die Österreicher drängten, weil ihnen der Boden mehr und mehr unter den Füßen schwand und die in Galizien einmal angefachte polnische Nationalbewegung immer ungeduldiger wurde. In Berlin hatte man aber auch deshalb immer wieder Bedenken, die Wiederherstellung eines polnischen Königreiches zu proklamieren, weil seit Juli immer erneut Nachrichten aus Stockholm (dem Ort deutsch-russischer Begegnungen) eintrafen, die erkennen ließen, daß die allgemeine Kriegsmüdigkeit im Zarenreich zunahm und die Möglichkeit eines Sonderfriedens mit ihm wenigstens näher rückte. Diese Möglichkeit sollte nicht verschüttet werden. Wir brauchen das H i n und Her der aus dieser Lage sich ergebenden Verhandlungen zwischen Wien, Berlin, Warschau und Lublin im Sommer 1916 hier nicht zu verfolgen 1 3 ). Burian beschwerte sich mehrfach über (angebliche oder wirkliche) pro-deutsdie Propaganda im deutschen Okkupationsgebiet, obwohl Bethmann Hollweg nur zögernd den Ratschlägen des Generalgouverneurs Beseler folgte, die Zügel des Regiments in Warschau vorsichtig zu Gunsten der polnischen Nationalbewegung zu lockern. Bis Ende Juli hielt die Wiener Politik starr an ihrer Forderung einer „austro-polnischen"

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Lösung fest und ließ sich darin auch nicht durch gewisse Gebietskonzessionen der deutschen Seite beirren. In größter Ausführlichkeit, ja Weitschweifigkeit wiederholte Burián immer wieder seine (uns schon bekannten) Argumente für die Annexion Polens in den Habsburgerstaat. Auch die von Berlin vorgeschlagene Kandidatur des (als polenfreundlich bekannten) Erzherzogs Karl Stephan für den Thron eines an Deutschland angelehnten Polen fand in Wien keinen Beifall; Kaiser Franz Joseph wollte davon schon gar nichts wissen. Indessen wurde man sich allmählich doch in den Reihen der österreichischen Diplomaten und hohen Militärs der Peinlichkeit einer Lage bewußt, in der die Wiener Politik ganz Polen für sich allein verlangte, von dem sie doch ohne neue, sehr weitgehende deutsche Hilfe nicht eine Quadratmeile in Händen behalten hätte. Sowohl der militärische wie der politische Vertreter Österreichs beim Generalgouverneur in Warschau (Oberst Paic und Baron Andrian) drängten jetzt stürmisch auf Conrad und Burián ein: nur durch Aufstellung einer großen polnischen Armee mit Hilfe nationalistischer Kräfte (auch der radikal-demokratischen unter Pilsudski) könnte der unwürdigen und gefährlichen Unterlegenheit der österreichisch-ungarischen Armee an der Ostfront abgeholfen werden. Nicht weniger als 3 0 0 0 0 0 bis 5 0 0 0 0 0 Mann glaubte Paic in einem freien Polen für die Mittelmächte mobilisieren zu können — dafür müsse Österreich auch das Opfer einer Preisgabe Kongreß-Polens an die Deutschen, ja unter Umständen sogar den Verlust Galiziens in Kauf nehmen: „Immer noch besser, Galizien verlieren als den Krieg" 1 4 )! Nun waren das ohne Zweifel phantastische Schätzungen, denen ein sehr nüchternes Urteil Beselers aus denselben Tagen gegenübersteht: die Aufstellung einer polnischen Armee würde in jedem Fall sehr viel Zeit und sehr viel Geld kosten — falls sie, fügte der Gesandte von Mutius skeptisch hinzu, überhaupt zustande käme trotz der heftigen Abneigung der ländlichen Bevölkerung gegen den Militärdienst; natürlich wäre sie erst möglich nach Errichtung eines autonomen polnischen Staates und nur durch die Initiative polnischer Nationalisten 15 ). Aber Conrad von Hötzendorff, „tief gebeugt" durch die militärische Katastrophe, ließ sich durch Oberst Paic für dessen Pläne gewinnen. Ohne deutsche Hilfe, schrieb er (am 12. Juli) an Burián, wäre Österreich ja doch verloren, und im Fall eines Sieges könnten die Deutschen ja doch alles durchsetzen. Ginge die Wiener Politik jetzt auf die deutschen Wünsche in Polen ein, so könnte sie dafür vielleicht Unterstützung für ihre Balkanziele gewinnen. Er selbst rechnete mit einer Viertelmillion

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polnischer Soldaten bis Sommer 1917, falls eine Einigung über Polen bis spätestens September zustande käme. Damit war das militärische Motiv, die H o f f n u n g auf polnische Rekruten (Sazonow sprach in der russischen Duma verächtlich von „Kanonenfutter") wieder in den Vordergrund gerückt, nachdem es längere Zeit aus der Diskussion verschwunden war 1 6 ). Im Frühjahr hatte auch Falkenhayn nicht mehr damit gerechnet; jetzt, nach den ungeheuren Menschenverlusten der Österreicher an der Ostfront, hielt er es für unvermeidlich, trotz aller politischen und militärischen Bedenken, wenigstens einen Versuch zur Erschließung der polnischen „Ersatzquelle" zu machen; am besten, meinte er, geschähe das durch „Errichtung deutscher Polen-Legionen aus ganz Polen unter Aufsaugung der jetzt bestehenden österreichischen Polen-Legion«; sollte das nicht möglich sein, durch Errichtung von Polen-Legionen aus dem deutschpolnischen Besatzungsgebiet allein. Er hat also nur an Freiwilligenwerbung, nicht an Zwangsrekrutierung gedacht und ist vielleicht dadurch mitbestimmt worden, daß sich erst kürzlich die polnische Legion der Österreicher, unter deutschen Frontkommando stehend, am Styr-Abschnitt recht gut bewährt hatte. Bethmann Hollweg, dem er seinen Vorschlag am 19. Juli zur Stellungnahme übersandte 17 ), hatte im Vorjahr die Aussichten polnischer Rekrutenwerbung mehr als skeptisch beurteilt, Zwangsaushebung durch die Besatzungsmacht als völkerrechtswidrig völlig abgelehnt. Jetzt, angesichts der militärischen Notlage, stimmte er Falkenhayns Vorschlag (Werbung ohne Zwang) ohne weiteres zu. Es war ihm sehr willkommen, daß die Militärs (Conrad ebenso wie Falkenhayn) nun daran gingen, den zähen Widerstand des Wiener Außenministeriums gegen die deutschen Polenpläne zu überwinden und Burians Idee einer „austro-polnischen Lösung" endgültig aus dem Wege zu räumen. Die fortgesetzten Hilferufe der Österreicher zur Stützung der Ostfront ließen sich auch als politisches Druckmittel verwenden. „Unsere Bundesgenossen müssen sich klar werden", schrieb Jagow am 17. Juli nach Wien, „daß es nicht angängig ist, in den Zeiten der N o t den starken Bruder um Hilfe anzugehen und sie anzunehmen, ihm dann aber nach Beseitigung der Gefahr als Dank die Taschen zu leeren 18 )." Es gab indessen auch ein außenpolitisches Motiv für die Beschleunigung der deutschen Proklamation: Mitte Juli erfuhr man aus russischen (allerdings schon veralteten) Pressemeldungen, daß eine Proklamation des Zaren nahe bevorstünde, welche, über die unverbindliche Versprechung des Großfürsten N i kolai von 1914 hinausgehend, die Errichtung eines autonomen polnischen

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Staatswesens ankündigen würde. Dem mußten die Mittelmächte zuvorkommen, wenn sie mit ihren Plänen überhaupt etwas erreichen wollten. Tatsächlich hatte Sazonow Anfang Juni den Erlaß einer solchen Kundgebung (auf die man auch von seiten der Westmächte drängte, nicht zuletzt aus Besorgnis vor einer polnisch-deutschen Armee) beim Zaren durchgesetzt. Aber das reaktionäre Kabinett Stürmer verhinderte diesen Akt nachträglich wieder oder schob ihn doch auf die lange Bank. Überdies wurde Sazonow am 20. Juli als Außenminister gestürzt und durch Stürmer ersetzt, der den Zaren umstimmte 19 ). Diese Wendung wurde indessen in Berlin und Wien nicht sogleich bekannt. So sah sich Buriän durch den Druck der Militärs genötigt, nach langem Zögern seinen Kurs zu ändern: Ende Juli stimmte er dem Plan eines polnischen „Pufferstaats" endlich zu 20 ). Es sollte ein „souveränes erbliches Königreich" bilden, aber nicht einseitig an Deutschland, sondern an beide Zentralmächte angelehnt werden, die beide (wie mit stärkstem Nachdruck betont wurde) eine „vollkommene Gleichstellung" in politischer, wirtschaftlicher und militärischer Beziehung genießen müßten. Das war von Deutschland her gesehen eine bloße Halbheit und stand in scharfem Gegensatz zu einer eben damals von Beseler entworfenen Denkschrift, die den deutschen Standpunkt in besonders eindrucksvoller Weise entwickelte. Sie forderte unbedingte Einheit der neuen Monarchie unter deutschem Protektorat, also Herausgabe des bisher von Österreich verwalteten Okkupationsgebietes. In der Tat mußte ein Kondominium der beiden Mittelmächte, wie es Burian vorschlug, zu einer Quelle unendlicher Reibungen und Eifersüchteleien werden und ihren Einfluß auf das neue Staatswesen erheblich schwächen. Beseler war in seinen Gedankengängen nicht so einseitig wie die meisten seiner Standesgenossen von rein militärischen Gesichtspunkten bestimmt. Für ihn war die polnische Frage vorwiegend ein politisches Problem. Eine Freiwilligenwerbung vor Errichtung des neuen polnischen Staatswesens hielt er für praktisch aussichtslos, die eilfertige und unvollkommene Organisation eines polnischen Heeres im Rücken der deutschen Fronttruppen sogar für gefährlich. Ernsthaften Nutzen könnte nur ein reguläres, aufgrund der allgemeinen Wehrpflicht aufzustellendes Heer stiften, das aber erst nach Verwirklichung des polnischen Staatswesens organisiert und schwerlich noch während des Krieges einsatzfähig werden könnte. N u r vorbereitende Schritte wären jetzt möglich. Damit hat er auf Falkenhayn starken Eindruck gemacht, der nun auch seinerseits erklärte, „die Organisation eines polnischen

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Heeres ist erst dann zulässig, wenn über die politische Z u k u n f t des Landes Klarheit geschaffen sein wird". Er drängte eben darum auf die Errichtung des „selbständigen Staates mit militärischem Anschluß an Deutschland", ohne deshalb auf sofortige Freiwilligenwerbung zu verzichten 21 ). Aber auch an diesem Standpunkt hielt er nicht fest, als Bethmann Hollwegs Versuch, in mündlicher Verhandlung mit Burian in Wien (11.—12. August) die österreichische Politik von ihrem lahmen Kompromiß Vorschlag abzubringen, gescheitert war. Der Kanzler erreichte nicht mehr als einige Konzessionen in der Frage der Annexion eines deutschen „Schutzstreifens" an der ostpreußischen Grenze und anderen Grenzfragen. Verabredet wurde, daß „ein selbständiges Königreich Polen mit erblicher Monarchie und konstitutioneller Verfassung" zwar alsbald proklamiert, aber erst nach dem Krieg verwirklicht werden sollte. Bis dahin sollte die bisherige O k k u p a tionsverwaltung, getrennt in zwei scharf geschiedene Bereiche, erhalten bleiben, aber auch später eine Art von Kondominium fortbestehen, insofern als dem neuen Polen eine eigene auswärtige Politik ausdrücklich untersagt wurde. Es sollte, zwar als „Verbündeter" beider Kaiserreiche gelten, aber gezwungen sein, ihnen etwaige Verträge mit anderen Staaten zur Genehmigung vorzulegen. Eine eigene polnische Armee sollte das Königreich zwar erhalten, aber „deren Errichtung sowie die gesamte Organisation der militärischen Verhältnisse" sollten durch eine gemischte militärische Kommission (aus deutschen und österreichisch-ungarischen Offizieren) vorbereitet werden. Uber die künftige Stellung dieser Armee wurde schriftlich weiter nichts festgelegt, als daß „Baron Burian dafür eintreten werde, daß die Aufsicht und oberste Führung der Armee einheitlich sei und Deutschland zufalle". Also nicht einmal die militärische Führerstellung Deutschlands war ganz eindeutig festgelegt, und über den von Deutschland geforderten wirtschaftlichen Anschluß Polens (Einbeziehung in das deutsche Zollgebiet) wurde keine Einigung erreicht 22 ). Beide Staaten garantierten sich gegenseitig, daß „kein Teil ihrer bisherigen polnischen Landesteile dem neuen polnischen Staate zufallen darf". Das war die unglücklichste aller Lösungen des Polenproblems, da sie Hoffnungen nur erweckte, um sie sogleich bitter zu enttäuschen, und nicht einmal die alte Streitfrage entschied, welchem von beiden Kaiserreichen nun das künftige Protektorat Polens zufallen sollte. Es scheint, daß diese Wiener Abmachungen dem General Falkenhayn die Polenproklamation, deren unmittelbarer militärischer Nutzen ja ohnedies sehr fraglich war, vollends

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verleidet haben 23 ). Nach seinen Memoiren hat er gleich danach Einspruch erhoben und Vertagung gefordert. Nach einem Telegramm Bethmann Hollwegs nach Wien waren seine Bedenken auch militärisch begründet: er fand die Lage — unmittelbar vor dem Losschlagen Rumäniens! — viel zu unsicher, um jetzt mit einer feierlichen Proklamation an die Polen hervorzutreten — ein Einwand, der nicht nur Bethmann einleuchtete, sondern auch Ludendorff und schließlich sogar dem hartnäckig drängenden Burian 24 ). Der Reichskanzler selbst war nur widerwillig nach Wien zu Verhandlungen gefahren, die er bei der ihm nur zu wohlbekannten N a t u r Buriäns im Grund f ü r aussichtslos hielt. Nachdem sich seine Befürchtungen bestätigt hatten und die Militärs nicht mehr drängten, wird sein Eifer f ü r die Aktion noch weiter erlahmt sein. Ein Polen, das auch nach der Proklamation noch unter geteilter Militärverwaltung stand und dem der wirtschaftliche Anschluß an Deutschland versagt blieb, bot f ü r Deutschland nur noch geringes Interesse. O f f e n sichtlich war der Kanzler geradezu erleichtert, als er am 15. August ein (wohl durch Falkenhayn veranlaßtes?) Telegramm Wilhelm II. erhielt, das ihm strenge Geheimhaltung der Wiener Abmachungen anbefahl, um etwa sich anbahnende Verhandlungen mit Rußland über einen Sonderfrieden nicht zu stören und gleichzeitig dringend wünschte, solche Verhandlungen auf jede nur denkbare Weise zu betreiben; Falkenhayn sei derselben Ansicht 25 ). Jedenfalls ging er sofort darauf ein und ließ durch das Auswärtige Amt in Wien vorschlagen, die geplante Aktion noch einmal hinauszuschieben. In einer Sitzung des preußischen Staatsministeriums vom 19. August ließ er deutlich erkennen, wie ungern er im Grunde an die Errichtung eines polnischen Pufferstaates heranging: „Die Aufrollung des polnischen Problems läge zwar nicht im deutschen Interesse, lasse sich aber unter den gegebenen Verhältnissen nicht vermeiden, und die jetzt ins Auge gefaßte Lösung" („Gründung eines autonomen Polens beim Schlüsse des Krieges" in enger politischer, militärischer und wirtschaftlicher Angliederung an Deutschland) „erscheine ihm immerhin als der beste Ausweg", d. h. „als die einzige Möglichkeit, eine einigermaßen zweckmäßige Lösung der polnischen Frage herbeizuführen." Reservierter konnte er sich kaum ausdrücken 26 ). Er deutete auch seine H o f f n u n g auf einen Sonderfrieden mit Rußland an: seit „dem Rücktritt Sazanows und der stärkeren Betonung reaktionärer K r ä f t e " sei es nicht ausgeschlossen, daß die russische Regierung zum Frieden neige; die aus Stockholm zusammenlaufenden Nachrichten besagten, daß Rußland den dritten Winterfeldzug nicht aushalten könne. Wie dringend ihm daran liegen mußte,

D a s P o l e n m a n i f e s t u n d sein M i ß e r f o l g

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solche Chancen nicht zu verderben, ging aus einer Redewendung hervor, die wie kaum eine zweite die ganze N o t seiner politischen Zwangslage enthüllt: „ E r sei nicht in der glücklichen Lage, zwischen dem Osten und Westen optieren zu können, er müsse die erste sich bietende Gelegenheit ergreifen, um die Entente zu sprengen 2 7 )." Bethmanns H o f f n u n g auf ein Erlahmen des russischen Kriegswillens war nicht unbegründet. Schon Anfang J u n i hatte man Bericht erhalten über mehrere Unterhaltungen, die der Industrielle Stinnes in Stockholm mit einem Vertrauensmann Stürmers über die Möglichkeit eines Sonderfriedens gepflogen hatte; aus ihm schien eine ernsthafte Geneigtheit des Ministers zum Friedensschluß hervorzugehen. Noch auffallender war die Tatsache, daß der liberale Vizepräsident der Duma, Protopopow, sich A n f a n g Juli in ähnlichen Unterhaltungen mit dem bekannten Bankier Fritz Warburg über Friedensmöglichkeiten ausgesprochen und dabei angedeutet hatte, daß Rußland den Krieg satt und keine Lust habe, für England noch weitere Opfer zu bringen; er hatte sogar Fühlung mit dem deutschen Gesandten von Lucius gesucht. Mitte August erhielt man weitere Nachrichten über die Kriegsmüdigkeit Stürmers und über seine angebliche Absicht, einen als anglophob bekannten Außenminister (Bodkin) zu berufen 2 8 ). D a s Auswärtige Amt hat denn auch nicht versäumt, die Brücke über freundlich gesinnte skandinavische D i p l o m a ten zu weiteren Fühlern in Petersburg zu benutzen, aber auch bezahlte Agenten zu Werbungs- und Erkundungszwecken eingesetzt. Daran, daß die Kriegsmüdigkeit in den breiten Massen des russischen Volkes nach den gewaltigen Menschenopfern der letzten Offensive (man berechnete sie auf etwa 1 Million!) rasch zunahm, konnte ebensowenig ein Zweifel bestehen wie an den wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes und an dem allmählichen Zerfall der militärischen Disziplin. Liest man die Berichte und Tagebuchnotizen des französischen und des britischen Botschafters aus dem Herbst 1916, so gewinnt man den Eindruck, daß die innenpolitische Katastrophe des M ä r z 1917 ihre Schatten sehr weit vorausgeworfen hat. In Berlin hat man davon gewußt, konnte aber die unmittelbare Wirkung der Ermüdungserscheinungen auf die hohe Politik nicht abschätzen und war darum sehr vorsichtig in ihrer Beurteilung 2 9 ). Auch diese Vorsicht war begründet. Die Vertreter der Allierten in Petersburg waren von stärkstem Mißtrauen erfüllt gegen die Politik Stürmers, den sie verachteten, ja haßten, sahen überall deutsche Umtriebe am Werk, wo sich in der höheren Gesellschaft Petersburgs irgendwelche Friedensneigungen zeigten und boten alles

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auf, um den schwachen und ängstlichen Zaren davor und auch vor seinen Ministern zu warnen. Die starke finanzielle und militärische Abhängigkeit des Zarenreiches von den Westmächten wurde kräftig ausgenutzt. Gleichzeitig aber war die hochkonservative Regierung Stürmers dauernd von der liberal-demokratischen Opposition der Duma bedroht, unter der sich vor allem der Führer der „Kadetten", Miljukow, als chauvinistischer H y p e r patriot und Anglophile hervortat. Die Tatsache, daß Protopopow in Stockholm mit deutschen Politikern gesprochen hatte, wurde bald in Petersburg bekannt und beschwor Stürme der Kritik über ihn herauf, ja ließ ihn bald — mit Hilfe legendarischer Übertreibungen in der Presse — als eine Art von Landesverräter erscheinen. So konnte die Regierung gar nicht wagen, sich aus der Gefolgschaft der Westmächte loszumachen, mochte sie noch so deutlich spüren, daß dieser Krieg die Autorität der Krone unterwühlte; sie hätte damit innenpolitisch ebenso wie außenpolitisch jeden Kredit verspielt. Zar Nikolaus aber besaß weder die Einsicht noch die K r a f t noch die Autorität in seinem Volk, um die Niederlage eingestehen und rechtzeitig Schluß machen zu können. Er blieb starr an seine Allierten gebunden. Immerhin: die Widerstandskraft Rußlands ging spürbar zu Ende, und in nachträglicher Betrachtung kann man fragen, ob die deutsche Politik nicht mit größerer Ruhe und Geduld hätte abwarten sollen, bis der Zersetzungsprozeß sich auch an der Front deutlich spürbar machte, statt zuerst den russischen Nationalismus durch die Proklamation eines an Deutschland angelehnten Polen noch einmal aufzureizen und dann durch die Eröffnung des unbeschränkten U-BootKriegs uns einen neuen, sehr gefährlichen Gegner auf den Hals zu ziehen. Wenn irgendein deutscher Staatsmann instinktiv zu einer so vorsichtig abwartenden Haltung neigte, dann war es sicherlich Bethmann Hollweg. Aber dazu, die bevorstehende innere Katastrophe des Zarenreiches mit Sicherheit vorauszusehen, diese Voraussicht in die Waagschale der Entscheidung zu werfen und seine Entschlüsse dadurch bestimmen zu lassen, dazu reichte sein politisches Sehvermögen ebensowenig aus wie das militärische des Generalstabs 30 ). Und zu seinem Unglück hatte er selbst einen Mann an die Spitze des Heeres gebracht, der die Ungeduld in Person darstellte: Ludendorff. Ludendorff nicht allein, aber er an erster Stelle hat den stockenden Gang der Polenaktion wieder in Gang gebracht und ihren Verlauf entscheidend bestimmt. Buriäns entsetzter Protest gegen die Verzögerung (am 18. August) weckte in Berlin nur ein mattes Echo und hat auf Bethmann Hollweg wohl kaum so stark gewirkt wie die Bedenken konservativer Politiker und Mini-

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ster gegen ein polnisches Königreich, die er in denselben Tagen zu hören bekam. Das Votum der neuen O H L dagegen hatte stärkeres Gewicht. Natürlich waren f ü r Ludendorff die Polen ausschließlich als Lieferanten von „Rekrutenmaterial" interessant. Seine Okkupationsverwaltung in K u r land und Litauen war ausgesprochen polenfeindlich gewesen, und die auf eine deutsch-polnische Annäherung abzielende Tätigkeit Beselers als Generalgouverneur genoß im Hauptquartier „Oberost" einen bösen Ruf als schlapp-humanitär. Immerhin war ihm klar, daß Polen ein „mehr oder weniger selbständiges Staatengebilde unter deutscher Oberhoheit" werden müsse, wenn man sein „Menschenmaterial" f ü r deutsche Kriegszwecke ausnützen wollte, was er schon im September 1915 f ü r wünschenswert, seit der „Schweinerei bei den Österreichern", dem Durchbruch Brussilows im Juni 1916, f ü r dringend notwendig erklärt hatte. Das hinderte ihn nicht, eine sehr starke Beschneidung der polnischen Staatsgrenzen zu fordern. Nach seiner Berufung in die O H L hat er sofort Verständigung mit Beseler gesucht und weiterhin mit diesem zunächst gemeinsam operiert 31 ). Es ist erstaunlich, wie rasch die O H L , kaum ins Amt berufen, ihre W ü n sche in der polnischen Frage gegen alle politischen Bedenken des Kaisers und des Kanzlers durchgesetzt hat. Schon am 12. September (als die H o f f n u n g e n auf einen russischen Sonderfrieden noch längst nicht erloschen waren) teilte Bethmann Hollweg dem Generalgouverneur mit, der Proklamation stünde nichts mehr im Wege. Merkwürdig ist auch, wie rasch die Illusion Ludendorffs, es ließen sich größere Mengen „soldatischen Menschenmaterials" aus dem besetzten Polen gewinnen, über die nüchterne Einsicht Beselers und seiner Mitarbeiter gesiegt hat. Schon vor seinem Amtsantritt, am 23. August, hatte er dem Kanzler erklärt, die Rekrutierung dürfe keinesfalls durch die Verschiebung der Proklamation (gegen die er keinen Einspruch erhob) verzögert werden. Baron Lerchenfeld erfuhr damals aus dem Auswärtigen Amt, Ludendorff wünsche Zwangsrekrutierung in den besetzten polnischen Gebieten — zum Entsetzen Beselers, dem dadurch alle seine Pläne zerstört würden 8 2 ). Wenn das richtig ist, so war vielleicht Beselers Besorgnis vor zu weitgehenden Forderungen des neuen „Oberkommandos der Ostfront" der Grund dafür, daß er in einem langen Gutachten vom 23. August sich dem Gedanken einer Freiwilligenwerbung plötzlich weniger abgeneigt zeigte als noch zu Anfang des Monats. Ohne seinen grundsätzlichen Standpunkt aufzugeben, sprach er jetzt von vorbereitenden Arbeiten f ü r die Bildung polnischer Verbände, die er zunächst auf drei Divisionen in Stärke von 30000

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Mann bezifferte. Offensichtlich suchte er die Unterstützung des Generalquartiermeisters bei seinen Bemühungen, die Proklamation eines polnischen Staatswesens durchzusetzen, und konnte es nur, wenn er ihnen statt Zwangsrekrutierung wenigstens die Werbung Freiwilliger nach der Art der von den Österreichern aufgestellten „polnischen Legion" in Aussicht stellte 33 ). Diese fragwürdige Chance hat dann Ludendorff offenbar mit rücksichtsloser Energie ergriffen, seit einer Aussprache, die er am 2. September in Pleß mit Beseler hatte. Es war dies der erste bedeutende Eingriff der neuen O H L in die Politik, durch unmittelbare Einwirkung auf den Kaiser. E r erweiterte sidi sofort dadurch, daß sie die neue, am 6. September vertraglich festgelegte „Oberleitung" über die verbündeten Heere zu benutzen suchte, um ohne Einschaltung politischer Instanzen die Österreicher ganz aus der Okkupationsverwaltung Russisch-Polens (Kongreß-Polens) zu verdrängen. General Conrad, der am 2. September anfragte, wie sich die deutsche O H L die Aufstellung eines polnischen Heeres dächte, schlug vor: entweder Zwangsrekrutierung nach dem Erscheinen einer Deklaration über die Z u k u n f t Polens oder Ausdehnung der Werbung von Freiwilligen für die polnische Legion auch auf das deutsche Okkupationsgebiet — was die Österreicher natürlich stark in die Vorhand gebracht hätte. Hindenburg antwortete am 11. September mit der Forderung, zunächst die Teilung der Okkupationsverwaltung zu beseitigen, d. h. das österreichische Gouvernement in Lublin im deutschen Generalgouvernement von Warschau aufgehen zu lassen; nur so würde es möglich sein, eine einheitlich polnische Nationalarmee zustande zu bringen. „Ob durch Werbung von Legionen" oder durch „Aushebungen", ließ er noch offen. Das widersprach nun zweifellos der in Wien zwischen Burian und Bethmann Hollweg getroffenen Abmachung und gehörte, wie Conrad mit Recht hervorhob, durchaus in die Zuständigkeit der Politiker. Aber während Conrad den ganzen Briefwechsel sofort an Burian weiterleitete, ließ die deutsche O H L das Auswärtige Amt einfach aus dem Spiel und beantwortete die politischen Einwände des Österreichers mit eigenen Gegenargumenten, teilweise in recht pathetischem Ton. Österreich solle getrost die „hohe Aufgabe der Wehrhaftmachung des polnischen Volkes Seiner Majestät dem deutschen Kaiser überlassen". Andernfalls werde die O H L es „vorziehen, daß jede Kundgebung unterbliebe", auch jede Beratung einer gemischten Militärkommission, und daß beide Okkupationsmächte „in der Aufbringung polnischer Truppen ihre eigenen Wege gingen" (30. September) 34 ).

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Es war selbstverständlich, daß Buriän das A O K in der Abweisung so unerwarteter Forderungen, die das Wiener Abkommen einfach über den H a u f e n warfen, energisch unterstützte. Da Conrad also festblieb, war Ludendorff nun doch gezwungen, den Reichskanzler um diplomatische Hilfe zu bitten. Die Tatsache, daß dieser sie gewährte, obgleich er sowohl die Kränkung des Bundesgenossen wie dessen Ablehnung voraussehen mußte, offenbart die ganze Schwäche seiner Stellung gegenüber der neuen O H L . Er machte den Österreichern gegenüber auch gar kein Hehl daraus, daß er nur im Auftrag der O H L handelte, die „in Anbetracht der militärischen Lage" bei den Wiener Abmachungen nicht verbleiben könne, sondern auf der Vereinigung beider Okkupationsgebiete bestehen müsse, um die Aufstellung der polnischen Armee zu beschleunigen. Natürlich lehnte das Burian entrüstet ab, obwohl Bethmann auch die Drohung der O H L mit gesondertem Vorgehen im deutschen Okkupationsgebiet wiederholte. Prinz Hohenlohe aber beschwerte sich beim Unterstaatssekretär Zimmermann in ungewöhnlich scharfer Form (am 18. Oktober) über so „absurde Forderungen". „Er habe das Gefühl", will er erklärt haben, „man sei in der Wilhelmstraße zuweilen nicht recht bei Tröste." Es könne doch unmöglich im deutschen Interesse liegen, „in Österreich-Ungarn ein übergroßes Quantum von Bitterkeit und Gereiztheit künstlich zu erzeugen", das, „wenn es auch jetzt hinuntergewürgt würde", sich doch bei den Friedensverhandlungen sehr übel auswirken würde. (Also eine leise Drohung mit Sonderfriedensverhandlungen!) Zimmermanns Antwort war außerordentlich aufschlußreich. Es handle sich um eine Forderung Ludendorffs, sagte er, über die Bethmann Hollweg „erst im letzten Augenblick unterrichtet worden wäre". Auf die Frage, warum sich der Kanzler solchen Zumutungen beuge, erwiderte Zimmermann achselzuckend, Hohenlohe „müsse den Kanzler doch kennen, dessen Haupteigenschaft niemals allzu große Energie gewesen sei und der jetzt, wo von allen Seiten gegen ihn losgestürmt werde, viel eher hinter der ehernen Figur Hindenburgs Schutz und Deckung suche, als daß er den Vorschlägen, die von dort kämen, schroff entgegentreten würde". Hohenlohe möge doch recht energisch beim Kanzler selbst vorstellig werden, „und ihn warnen, sich von den Militärbehörden vergewaltigen zu lassen", denn das sei jetzt die Gefahr, „seit Ludendorff das große Wort führe". „Er selbst habe die Einmischung dieses Generals schon einige Male sehr schroff zurückgewiesen 35 )." Das war also die Lage: der Leiter der deutschen Politik, parlamentarisch nur von der Linken gestützt 36 ), w a r der Obersten Heeresleitung gegenüber

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praktisch machtlos, weil er sie als Deckung gegen die wütenden Angriffe seiner nationalistischen Gegner brauchte — ein ganz unnatürlicher Zustand, der unmöglich lange dauern konnte. Ludendorff war aber nun entschlossen, aufs Ganze zu gehen. Wollten die Österreicher nicht aus Lublin weichen, so sollten sie doch den A u f b a u der polnischen Armee den Deutschen allein überlassen. An der „gemischten Militärkommission" sollten sie formell teilnehmen dürfen, ohne das Recht wirklicher Mitsprache. Er berief sich dafür auf die Wiener Abmachung, daß „Aufsicht und oberste Führung der polnischen Armee einheitlich sein und Deutschland zufallen sollte", aus der er ableitete, daß auch die Organisation nur Sache der deutschen O H L sein könne. Bethmann Hollweg, der den dualistischen Charakter des vereinbarten Protektorates im Ernst nicht bestreiten konnte, wurde dadurch in arge Verlegenheit gebracht. In einer recht gequälten Mitteilung nach Wien suchte er plausibel zu machen: nur aus Schonung für das Prestige der Österreicher, die Mitbegründer des polnischen Staats sein wollten, habe er auf schärfere protokollarische Formulierungen verzichtet; mündlich habe ihm aber Burian „wörtlich versichert, daß er bei der Regelung der militärischen Fragen in Polen lediglich als ,Kompaziszent' erscheinen wolle" — ein Ausdruck, dessen Ausdeutung als Verzicht auf tätige Mitwirkung Conrad natürlich bestritt. So k a m es auch in dieser Frage zu keiner Einigung 3 7 ). Unterdessen tat das österreichische A O K einen Schritt, der im deutschen Lager große Aufregung hervorrief: es wandelte die im österreichischen Besatzungsgebiet gebildete polnische Legion in zwei normale Divisionen um, nannte sie „Polnisches Hilfskorps", gab ihnen polnische Nationalf ahnen und bat Hindenburg, die Truppe zu ihrer Reorganisation aus der K a m p f f r o n t herauszulösen und ihr die Anwerbung von Freiwilligen auch im deutschen Okkupationsgebiet zu gestatten. Es ist sicher, daß Conrad damit einem N o t stand entsprach. Die Legion war längst ungebärdig geworden und hatte ihre Sonderstellung verlangt. Aber wenn die Österreicher sie nun als Stamm für eine künftige polnische Nationalarmee zu organisieren versuchten und ihren Schritt sofort in die Presse brachten, so erweckte das den Anschein, als ob sie dem Bundesgenossen in Polen den Rang ablaufen und dessen Bemühungen um eine polnische Freiwilligentruppe zuvorkommen, vielleicht gar sie sabotieren wollten. So jedenfalls wurde der Schritt von der deutschen O H L aufgefaßt 3 8 ), die sich nicht mit Protesten begnügte, sondern sogleich Vorbereitungen traf, um ohne weiteres Zaudern Rekrutenwerbungen im deutschen

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Besatzungsgebiet zu beginnen — notfalls schon vor der Proklamation eines neuen Polen. Dadurch, daß Beseler sich f ü r ein solches Abenteuer zur Verfügung stellte, entfernte er sich, wenn auch nicht ohne inneres Widerstreben, gänzlich von seinem ursprünglichen Polenprogramm. Ludendorffs stürmischer Wille trieb ihn immer hemmungsloser voran. Bethmann Hollweg dagegen konnte es nur willkommen sein, daß über allen diesen Gegensätzen die Proklamation an die Polen sich immer weiter hinausschob. Die Opposition der Rechtsparteien, besonders der Konservativen, gegen den neuen Polenkurs wurde jetzt schärfer. Es gelang zwar, sie durch eindrucksvolle Vorträge zu beschwichtigen, die General Beseler im Lauf des Oktober vor dem preußischen Staatsministerium, Fraktionsführern des Reichstags und Landtags und zuletzt auch noch vor Mitgliedern des preußischen Herrenhauses hielt. Aber weder wurde das Widerstreben der Konservativen gegen eine grundsätzlich polenfreundliche, also nicht mehr „hakatistische" Politik überwunden noch die allgemeine Besorgnis ganz ausgeräumt, das Polenmanifest könne einem Sonderfrieden mit Rußland im Wege stehen. Vor allem aber trafen gerade Anfang Oktober neue günstige Nachrichten aus Stockholm ein, die dem Auswärtigen Amt und dem Reichskanzler weiteres Abwarten dringend ratsam erscheinen ließen 39 ). Protopopow war zum Minister des Innern ernannt, der frühere Ministerpräsident Kokowzow, der Bethmann persönlich nahestand, und der als deutschfreundlich bekannte Exminister Giers wurden zum Zaren gerufen, erschienen also als Ministerkandidaten. Der schwedische Außenminister Wallenberg bot sich als Vermittler an, verhandelte tatsächlich mit dem russischen Gesandten Nekludow über mögliche Friedensbedingungen und warnte dringend vor einer Polenproklamation in diesem Augenblick: sie könnte einen Separatfrieden gefährden 4 0 ). Bethmann Hollweg erreichte daraufhin beim Kaiser einen neuen Aufschub (am 2. Oktober) und hielt es jetzt „für nahezu wahrscheinlich, daß Rußland vor Winteranfang in Besprechungen eintreten wird". Er stand jetzt auf dem Höhepunkt seiner Hoffnungen auf einen russischen Separatfrieden. Aber die O H L drängte unablässig weiter, zusammen mit Beseler und den Österreichern; vor allem wollte sie auf einer Konferenz beider Heeresleitungen und Außenminister erreichen, daß der Bundesgenosse schließlich doch auf seine Okkupationsverwaltung verzichtete, d. h. daß er Polen praktisch den Deutschen allein überließ. D a der Kanzler das negative Ergebnis einer solchen Konferenz mit Sicherheit voraussah, hatte er geringe Neigung dafür. Sie w a r um so geringer, als er fürchtete, daß Burian von neuem auf seine alte

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Forderung zurückkommen würde, Polen als „ F a u s t p f a n d " zu benützen, um damit die verlorenen Gebiete Ostgaliziens und der Bukowina für Österreich zurückzugewinnen. So versuchte er in einem Schreiben vom 10. Oktober, das alle seine Erwägungen ausführlich und offen darlegte, der O H L die große Verantwortung klarzumachen, die sie mit ihrem Drängen zur Eile auf sich nähme. Er verschwieg dabei weder die Unsicherheit seiner Friedenshoffnungen noch die Möglichkeit, daß die Russen sich unter Umständen in Sonderverhandlungen auch mit einem Verlust Polens und anderer Landesteile würden abfinden können 4 1 ). Aber er k a m doch zu dem Schluß: das Manifest würde in jedem Fall der russischen Kriegspartei gegen die Friedenspartei neuen Auftrieb geben. Die Verantwortung dafür, meinte er, ist vor allem deshalb „ungeheuer", weil „unsere öffentliche Meinung fest an Friedensaussichten glaubt". Sollten sie scheitern (wegen einer verfrühten Polenproklamation) so würde sich „die innere Stimmung in einer f ü r die Kriegführung verhängnisvollen Weise aufbäumen", und das wäre doppelt gefährlich angesichts der zunehmenden Kriegsuntüchtigkeit Österreich-Ungarns. Auch das Staatsministerium teile die von den Abgeordneten des Reichstags und Landtags anläßlich der Vorträge Beselers geäußerten „schweren Besorgnisse wegen Vereitelung russischer Friedensaussichten". Die Abgeordneten hätten sich nicht geneigt gezeigt, „die allmähliche, erst in Monaten wirksam werdende Aufstellung eines polnischen Heeres" als „äußersten militärischen Z w a n g " anzusehen, vor dem alle anderen Rücksichten zu schweigen hätten. (Im Staatsministerium hatte Beseler von 8 Monaten Ausbildungszeit gesprochen.) Alles in allem wären die Vorteile der Errichtung des polnischen Staates gewiß erheblich, aber „gegenüber einer etwa wirklich eintretenden Hinausschiebung des Friedens nicht zwingender N a t u r " . Das alles klang wie ein dringender Warnruf. Bethmann hat die Beunruhigung der Abgeordneten und Minister sogar noch übertrieben: sie war weder ganz so stark noch so einhellig, wie er sie schilderte. H a t er aber nun geglaubt, durch seine Vorstellungen einen Ludendorff dazu bewegen zu können, daß er den Polenplan aufgab oder einstweilen zurückstellte? O f f e n b a r nicht. Denn er versicherte zwar, die von der O H L vorgeschlagene Konferenz mit den Österreichern würde unvermeidlich den Erlaß des Manifestes und den sofortigen Beginn der Werbungen zur Folge haben, vermied es aber trotzdem, ihre Berufung zu verweigern, ja im Gegenteil: er erklärte sich „im Prinz i p " damit einverstanden und bat nur um nochmalige Erwägung und „Stellungnahme". Was wollte er also?

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Uns scheint dieses Dokument ungewöhnlich aufschlußreich für das Verhältnis von politischer und militärischer Leitung in der Ä r a Bethmann-Ludendorff. Der Politiker spürt instinktiv das Gefährliche der hemmungslosen Aktivität seines soldatischen Partners. Aber weder vermag er mit voller Sicherheit nachzuweisen, daß dessen Erwartung bloße Illusion ist (obwohl er weiß, daß man in „Fachkreisen" sehr verschieden denkt über die Aussichten polnischer Rekrutenwerbung) 4 2 ), noch verfügt er über politische Argumente, die unbedingt zwingend wären, weil er auf bloße Vermutungen über das Verhalten der Kriegsgegner angewiesen ist. So bleibt ihm nichts übrig, als Erwägungen sorgsam gegen Erwägungen zu stellen — und damit einem Willensmenschen von kalter, bedenkenloser Entschlossenheit gegenüber zu unterliegen; denn er besitzt nun einmal weder die innere Sicherheit noch genug äußere Autorität, um gegen ihn, den Volkshelden, den eigenen Willen im offenen Machtkampf durchzusetzen und es dabei, wie sein soldatischer Gegenpart, auf ein bloßes Wagnis ankommen zu lassen. Es ist dieselbe innere Unsicherheit, die sich, verhängnisvoller Weise, bald darauf in dem viel bedeutenderen Streit um den uneingeschränkten U-Boot-Krieg wiederholen wird. Daß Bethmann Hollweg die O H L auch nur zur ernsthaften Nachprüfung ihrer Entschlüsse veranlassen könnte, wird er selbst wohl kaum erwartet haben; so war sein Brief wohl mehr als eine Art von Gewissensentlastung denn als praktisches Programm gedacht 43 ). Ludendorffs Antwort wischte, wie zu erwarten, die politischen Bedenken des Kanzlers mit leichter H a n d hinweg. Er glaube nach „den ihm zugänglichen Nachrichten" weder an russische Friedensneigung noch an die Ehrlichkeit der schwedischen Vermittlungsbereitschaft. „ N u r die stärkste eigene Rüstung, aus der die Entente unseren Willen zum Siege klar erkennt, wird den Frieden bringen." „ D a z u gehört nicht in letzter Linie die volle Ausnutzung der polnischen Volkskraft. Diese darf nicht weiter hinausgeschoben werden." Die Rekruten Werbung würde aber „ein Schlag ins Wasser" bleiben, wenn nicht die beiden Gouvernements in eines verschmolzen würden. K a n n Österreich sich nicht dazu verstehen, „so müssen wir allein vorgehen und den Polen keinen Zweifel an der H a l t u n g Österreich-Ungarns lassen. Wir haben dann nicht in den Erlaß des Manifestes zu willigen, auch nicht wenn Baron Buriän darauf dringt 4 4 )". Was Ludendorff sich bei dieser drohenden Wendung gedacht hat, bleibt einigermaßen dunkel. Wollte er ohne Manifest im deutschen Okkupationsgebiet Rekruten werben, oder einfach ausheben? „In Polen müssen wir han-

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dein", schrieb er damals an Wyneken, „eine Patentlösung gibt es nicht. Alles ist Machtfrage, und wir brauchen Menschen 45 )." Jedenfalls bestand er auf der geforderten Konferenz mit Conrad und Burian, und so fand diese (unter Teilnahme Beselers) am 18. Oktober in Pleß statt 46 ). Ihr Verlauf war im Grunde schon vorbestimmt dadurch, daß die deutsche Seite in einer Vorbesprechung am 17. sich (entgegen Ludendorffs großen Worten) auf ein Kompromiß f ü r den Fall geeinigt hatte, daß Burian unnachgiebig bleiben sollte: statt der Verschmelzung beider Okkupationsverwaltungen sollte wenigstens die allmähliche Vereinheitlichung durchgef ü h r t werden und zwar, wie Beseler am 18. vorschlug, mit Hilfe einer nach Warschau zu entsendenden österreichischen Delegation. Politisch wichtiger als dieses Kompromiß (das dann schließlich auch durchdrang) war die Tatsache, daß der Erlaß der Proklamation nun endgültig beschlossen wurde, und zwar f ü r einen Zeitpunkt „sobald als möglich". Ihr sollten „baldigst" Rekrutenwerbungen in beiden Okkupationsgebieten folgen. Damit waren Bethmanns politische Bedenken (die übrigens Burian nicht teilte) einfach zu Boden gefallen. Aber er selbst war dafür mitverantwortlich; denn in der Vorbesprechung hatte er zwar diese Bedenken gleich anfangs wiederholt und betont, das Polenmanifest würde unter allen Umständen „retardierend" auf die Friedensmöglichkeiten wirken. Aber er hatte hinzugefügt, vor siegreicher Beendigung des rumänischen Feldzuges bestünde wohl keine ernsthafte Friedenschance mehr, so daß die Kundgebung im Augenblick allenfalls noch tragbar sei. Es scheint in der Tat, d a ß inzwischen seine H o f f n u n g auf einen russischen Sonderfrieden wieder stark abgeflaut war, daß er sich aber insgeheim vorbehielt, den „Pufferstaat" wieder aufzugeben, sobald sich neue Möglichkeiten zur Verhandlung mit Petersburg eröffnen sollten 47 ). Jedenfalls ließ er den Generälen zunächst ihren Willen. Uberhaupt verhielt er sich in den Verhandlungen erstaunlich reserviert, beinahe passiv. Entscheide man sich trotz der gewichtigen politischen Bedenken für die Polenkundgebung, ließ er in der Vorverhandlung vernehmen, so könnten dafür ausschließlich militärische Gründe angeführt werden. „Wenn diese es erfordern, müssen die politischen dagegen zurücktreten." Das klang wie eine Kapitulation des Politikers vor den Soldaten, war aber offenbar nur der Ausdruck kühler Reserve. H a t t e er das politische Interesse an dem Polenmanifest bereits ganz verloren? In der Hauptverhandlung ließ er die Generäle ohne viel Zutun f ü r ihre Sache (die Einheit der Okkupationsverwaltung) streiten, die ja im Grunde nicht seine Sache war. Merkwürdig ist, daß er sie über Rekrutierungen be-

Das Polenmanifest u n d sein Mißerfolg

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raten ließ, ohne ihre Illusionen ernstlich zu teilen. In der Vorbesprechung hatte er die Bemerkung fallen lassen, in Berlin würden die Aussichten der freiwilligen Werbung f ü r gering gehalten. Warum bestand er nicht darauf, daß dieser zentrale Punkt geklärt wurde, vor allem durch Beseler, aber auch durch dessen Mitarbeiter? Es liegt nahe, hinter dieser Passivität einen Hintergedanken zu vermuten. Mag doch dieser Ludendorff, könnte er sich gesagt haben, selbst einmal erproben, wie weit er mit seinem eigensinnigen Drängen kommt! Glückt (wider Erwarten) das Experiment, so ist es gut; glückt es nicht, so ist der Schaden nicht allzu groß, und vielleicht sind dann diese Generäle durch die Blamage ihres Mißerfolgs über die Grenzen ihrer Unfehlbarkeit belehrt! Ob er nun so reflektiert hat oder nicht: jedenfalls ließ er in der Konferenz alle Militärs ihre besondere Form von Überredungskünsten entwickeln, ohne gewissermaßen sich vom Fleck zu rühren: Hindenburg die Wärme des Appells an patriotische Gefühle und die väterliche Geste eines Mannes, der ja nur das allgemeine Beste will, ohne die Details zu beherrschen; Ludendorff den Schneid des selbstgewissen Soldaten, der keine anderen als militärische Rücksichten gelten läßt und den „endgültigen Sieg" im nächsten Frühjahr erwartet, wenn er nur seine polnischen Rekruten bekommt; Beseler seine militärisch-politischen Wunschträume: f ü r den Anfang 4—5 (nicht mehr bloß 3) Divisionen aus Freiwilligen, später die „Aushebung" einer ganzen Million! Der einzig nüchterne unter den Militärs schien diesmal (überraschenderweise!) General Conrad zu sein, der trocken meinte: „ohne polnischen Staat sei auch keine polnische Armee zu haben", und wenn man Soldaten wünsche, müsse man vorher einen König oder Regenten einsetzen, sowie eine polnische Regierung, die das neue Heer ins Leben rufen könnte. Aber natürlich stieß er damit auf allgemeinen entsetzten Widerspruch. Politisch war es auch nach der Meinung des Reichskanzlers für die Errichtung eines selbständigen polnischen Königreichs viel zu früh. Warum sollte er sich aber jetzt schon mit dem Bundesgenossen über Polens künftige Gestaltung, über „Condominium" oder deutsche „Präpotenz" ohne Ergebnis herumstreiten, wie es den Generälen so wichtig schien! Zuletzt hing ja doch alles vom Ausgang des Krieges ab. Mit Ludendorff, der Bethmanns Brief vom 10. Oktober sofort mit untragbaren Annexionsforderungen (Grodno, Kowno, Litauen und Kurland) beantwortet hatte, war ohnedies keine Einigung zu erzielen. Für Bethmann Hollweg wurden die Beschlüsse der Konferenz an demselben Tage, an dem sie gefaßt wurden, uninteressant im Vergleich mit einem

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viel größeren Projekt, das Burian im Anschluß an die Sitzung mit ihm besprach: mit dem Plan eines Friedensangebotes an die Feindmächte (das uns im nächsten Kapitel beschäftigen wird). Der Kanzler ging auf diese Anregung mit solchem Feuereifer ein, daß er das Friedensmanifest schon nach wenigen Tagen herausgehen lassen wollte. Die Polenproklamation konnte ihm gegenüber als störend empfunden werden, weil sie ja schon einen Teil der Friedensbestimmungen vorwegnahm und in Rußland voraussichtlich stark verstimmend wirken mußte. Dieses Bedenken trat besonders stark in einer Sitzung des diplomatischen Bundesratsausschusses (am 30.—31. Oktober) hervor, dem der Kanzler die Lage in Rußland ähnlich schilderte, wie in seinem Schreiben an Hindenburg vom 10. Oktober. Er berief sich aber auf den „ungeheuer starken Druck" der O H L , der ihn zu so hastigem Vorgehen nötige 48 ). In der Tat bestanden Hindenburg und Ludendorff, die sich am 26. Oktober von Bethmann für die Friedensaktion gewinnen ließen, mit Energie darauf, daß durch sie die Polenkundgebung (und damit die Rekrutierung) keineswegs verzögert werden dürfe 49 ). So wurde denn, nach kurzer Verhandlung mit Wien, das Datum des 5. November und auch der Wortlaut des Manifests vereinbart, den die O H L im letzten Augenblick in seiner politischen Zusage noch abzuschwächen versuchte, ohne damit bei Burian durchzudringen. Das am 5. November veröffentlichte Manifest an die Polen war mit soviel Vorsicht formuliert und inhaltlich so allgemein gehalten, daß seine politische Wirkung nur begrenzt sein konnte. Vor allem brachte es nichts als Versprechungen, noch keinen konkreten Ansatz zur Verwirklichung eines polnischen Staatswesens mit eigener Exekutive. Die durchaus gemäßigten Wünsche, die eine Deputation von polnischen Notabein am 22. Oktober dem Reichskanzler vorgetragen hatte, waren unerfüllt geblieben, und dieser hatte sie mit unverbindlichen Zusicherungen abspeisen müssen. Natürlich konnte auch ein Polenstaat, der ganz auf das ehemals russische Gebiet beschränkt war und nicht einmal die alte Königsstadt Krakau mit einschloß, das nationale Empfinden der Polen niemals befriedigen. Trotzdem war der Eindruck in der Welt, vor allem in Rußland, zunächst außerordentlich stark: schon seit langem fürchtete man in Petersburg, daß es den Deutschen gelingen könnte, die polnische Nation von Rußland abspenstig zu machen und sah nun mit höchstem Verdruß, daß sie den eigenen, immer wieder verzögerten Plänen eines nationalen Manifestes zuvorgekommen waren. Die Empörung darüber war vor allem bei der liberalen Opposition nicht gering, was den

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eben damals ausbrechenden Konflikt der Regierung Stürmer mit der D u m a noch verschärfte. A n Verhandlungen über einen Sonderfrieden war nun nicht mehr zu denken, und wer das Gegenteil vorausgesagt hatte, sah sich widerlegt. Aber Bethmann Hollweg wehrte im Hauptausschuß des Reichstags Vorwürfe darüber mit der Versicherung ab, Rußland werde ohnedies bald am Ende seiner K r ä f t e sein und den Frieden suchen müssen (9. N o v e m ber) 5 0 ). Damit hatte es freilich noch gute Weile. Aber man kann nicht sagen, das Polenmanifest hätte einen früheren Friedensschluß verhindert oder verzögert. Der Sturz des Kabinetts Stürmer vom 24. November hatte ganz andere Ursachen: er hing mit der wachsenden revolutionären Unruhe im Innern des erschöpften Rußland zusammen und änderte nichts an dem Kurs der zaristischen Außenpolitik, wenn er sie auch (im Sinn eines starren Festhaltens an der Kriegsallianz) noch versteift haben mag. Wohl aber wurde die Polenfrage durch den Erlaß des deutschen Manifestes mehr als vorher zu einem Problem der internationalen Politik: auch die Westmächte begannen sich jetzt für das Schicksal der Polen zu interessieren. Vor allem ließ sich Wilson (unter dem Einfluß Houses und des Emigranten Paderewski) d a f ü r gewinnen, versuchte eine Ernährungshilfe für das besetzte Polen zu organisieren und sprach in seiner großen Friedensrede vom 22. Januar 1917 von der Wiederherstellung „eines einigen, unabhängigen und autonomen Polen" als Bedürfnis künftiger europäischer Neuordnung. S o wurde die Sache der Polen durch den deutschen Schritt, auf längere Sicht gesehen, wesentlich gefördert. Für die H o f f n u n g e n der Mittelmächte bedeutete er einen absoluten Fehlschlag, und zwar in jedem Sinn. Zunächst und vor allem: es gelang zwar, wenigstens einen Teil der polnischen Bevölkerung, im wesentlichen eine Oberschicht von städtischen Honoratioren, Gutsbesitzern und Mitgliedern des höheren Klerus, von Rußland noch mehr als bisher schon abzuziehen und zu loyaler Haltung gegenüber den Besatzungsmächten zu bringen — einer Haltung, die auch durch das verspätete, nach endlosen inneren K ä m p f e n zustande gebrachte russische Polenmanifest der revolutionären Regierung Lwow-Kerenskij vom 29. März 1917 nicht wesentlich verändert, ja durch den Eindruck des Chaos in Rußland eher noch verstärkt wurde. Aber es gelang nicht, was General Beselers ideales Ziel war: die polnische Nation f ü r eine vertrauensvolle Anlehnung an die Mittelmächte, insbesondere an Deutschland zu gewinnen. Im Gegenteil: die polnische Nationalbewegung als Ganzes geriet je länger je mehr in erbitterten Gegensatz, zuletzt tödliche Feindschaft zum deutschen Besatzungsregime.

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Das hatte mancherlei Ursachen. Zunächst die unvermeidliche H ä r t e dieses Regimes, das in den wachsenden Kriegsnöten beider Mittelmächte gar nicht anders konnte als das Land durch Requision von Lebensmitteln, Rohstoffen, Schließung von Fabriken u. dgl. auszusaugen, und dadurch vor allem die Bauern und die städtische Arbeiterschaft gegen sich aufbrachte — letztere noch besonders durch zwangsweise Aushebung von Arbeitskräften, die teilweise mit unnötiger Rücksichtslosigkeit durchgeführt wurde. Die Abschneidung der polnischen Industrie vom russischen Markt wirkte lähmend, und der von uns gewünschte enge Anschluß der polnischen Wirtschaft an die deutsche kam infolge der österreichischen Opposition nicht zustande. Das alles wirkte sich um so stärker aus, je deutlicher die Siegesaussichten der Mittelmächte, die nach der Niederwerfung Rumäniens Ende 1916 immer noch bedeutend geschienen hatten, dahinschwanden. Es war ganz natürlich, daß seit dem Kriegseintritt Amerikas und den großen neuen Offensiven Frankreichs und Englands an der Westfront im Sommer 1917 die H o f f n u n gen und Sympathien polnischer Patrioten sich mehr und mehr dem Westen zuwandten. Aber schon vorher war deutlich geworden, daß die von konservativen, monarchisch erzogenen Kräften getragene Kriegsverwaltung der Deutschen (die Österreicher hatten es mit Hilfe ihrer polnisch-galizischen Beamtenschaft etwas leichter) ihrer ganzen Struktur nach außerstande war, engere Fühlung mit der allmählich aufsteigenden demokratischen Volksbewegung Polens und Verständnis f ü r deren Wünsche zu gewinnen. Ihr Regiment blieb dafür immer zu autoritär, und auch Beseler konnte sich nie entschließen, die Polen wirklich als Verbündete statt als Unterworfene zu behandeln — was freilich auch mitten im Krieg ein schweres Risiko gewesen wäre. Am wenigsten kam er der neu aufsteigenden demokratischen Nationalbewegung näher, die in der „polnischen Legion" der Österreicher (jetzt polnisches Hilfskorps genannt) weit überwog und eine Art von Nationalhelden in dem Partisanenführer Pilsudski, einem militanten Sozialisten aus dem polnischen Kleinadel, besaß, der schon lange vor 1914, begünstigt von der galizischen Landesregierung, einen unterirdischen Kampf gegen das Zarenregiment f ü r eine neue polnische Republik geführt hatte. Die Tatsache, daß es nur ganz vorübergehend gelang, diesen Mann f ü r die Mitarbeit in dem von Beseler geschaffenen „Staatsrat" zu gewinnen und daß er schließlich verhaftet und also zum Märtyrer der polnischen Demokratie geworden ist (22. Juli 1917) zeigt die Unüberwindlichkeit der hier bestehenden Spannungen.

Das Polenmanifest u n d sein Mißerfolg

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Seine Verhaftung hing damit zusammen, daß er heimlich an der Sabotage deutscher Rekrutenwerbung mitgewirkt hatte (von der wir noch hören werden). Damit ist der letztlich entscheidende Grund f ü r den politischen Mißerfolg der Mittelmächte berührt: ihre völlig verfehlte Militärpolitik. Es war einfach ein Unglück, daß man auf dringendes Verlangen der O H L , der sich aber Bethmann Hollweg in diesem Punkt ebenso wie Beseler angeschlossen hat 51 ), der Proklamation polnischer Freiheit beinahe unmittelbar (am 9. November) den geplanten Aufruf zur Bildung eines Freiwilligenheeres folgen ließ. N u r allzu deutlich wurde damit vor aller Welt, was das entscheidende, f ü r Ludendorff sogar einzige Motiv der Proklamation gewesen war: die Ausbeutung des polnischen „Menschenmaterials" f ü r den Krieg. Die politisch günstige Wirkung wurde dadurch in der breiten Masse des Volkes ganz erstickt. D a die Werbung nicht durch polnische, sondern durch deutsche Dienststellen erfolgte, wurde dieser E f f e k t noch verschlimmert und die nationale Volksbewegung Pilsudskis zur Obstruktion, d. h. zur heimlichen Abwerbung beinahe herausgefordert. So erwies sich die Werbung als völliger Fehlschlag: im Lauf des November meldeten sich nur ein paar hundert Rekruten, von denen die meisten f ü r den Dienst an der Front unbrauchbar waren. Bis Ende April 1917 hat sich ihre Zahl nur auf etwa 4700 erhöht. Das war eine böse Enttäuschung für Ludendorff. Aber statt nun einzusehen, daß die von ihm erzwungene Überstürzung des Vorgehens verfehlt war und man (was Conrad vorausgesagt hatte) zuerst so etwas wie einen polnischen Staat aufbauen mußte, wenn man ein polnisches Heer haben wollte, verstockte er sich gänzlich gegen die Wünsche der Politiker und verdarb durch seinen Eigensinn vollends, was noch zu verderben war. Im Grunde von tiefer Verachtung f ü r die Polen erfüllt, wollte er immer erst „Leistungen", d. h. Rekruten sehen, ehe man ihnen als eine Art von Gegengabe politische Konzessionen machen dürfte. Jede andere Politik war für ihn einfach „Schwäche". So wurde er zum Hemmnis jeden Fortschritts auf dem Weg zur allmählichen Verwirklichung eines polnischen Staatswesens. Aber die österreichische Heeresleitung war nicht minder eigensinnig. Für die Ausbildung und Organisation der angeworbenen Truppe bedurfte man unbedingt eines Stammes von Offizieren und Unteroffizieren polnischer Nationalität. Ein solcher stand im „polnischen Hilfskorps" der Österreicher zur Verfügung und sollte (nach einer Verabredung der Generalstäbe vom 11. November) auch so verwendet werden. Tatsächlich wurde

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das „ H i l f s k o r p s " auch in das deutsche Okkupationsgebiet verlegt. Aber die Eifersucht General Conrads ließ nicht zu, daß es aus dem österreichischen Heeresverband ausschied und unter deutschen Befehl trat. Denn mit der Proklamation v o m 5. November war die Rivalität der beiden Bundesgenossen in der Polenfrage nicht etwa ausgeräumt, sondern eher noch verstärkt. Weder General Conrad noch Baron Burian hatten den Gedanken der „austro-polnischen" Lösung wirklich begraben. D a s noch bestehende „Condominium" suchten sie nach K r ä f t e n auszunützen, um die Polen doch noch auf ihre Seite zu ziehen. General Beseler hatte mit Recht den Verdacht, daß die Vertreter Wiens beim Warschauer Gouvernement gegen ihn Obstruktion betrieben: die Berichte Baron Andrians an das auswärtige Ministerium kann man nicht ohne Erschrecken über die Gehässigkeit ihres Tones und ihrer Vorschläge lesen 52 ). Auch der totale Regierungswechsel in Österreich-Ungarn (Tod Kaiser Franz Josephs 21. November 1916, Ablösung Burians durch den Grafen Czernin vier Wochen später) änderte daran nichts. Jedenfalls stieß der Versuch der deutschen Diplomatie, Anfang J a n u a r nunmehr ihren Alleinanspruch auf die Okkupationsverwaltung und das Protektorat über Polen durchzusetzen, auf den heftigsten Widerstand Czernins, den Bethmann Hollweg auch in persönlicher Aussprache (am 6. Januar) nicht überwinden konnte. Die Abmachung der beiden Staatsmänner ließ die politische Zukunft Polens einfach offen und bestätigte nur den deutschen Anspruch auf militärische Führung. U n d bald darauf beschloß der gemeinsame Ministerrat Österreich-Ungarns, gegen den Widerspruch Tiszas (der Polen den Deutschen gegen wirtschaftliche Kompensationen zu überlassen bereit war) völliges Offenhalten des Problems mit der H o f f n u n g , im Friedensschluß schließlich „eine allzu große deutsche Präponderanz zu verhindern" — „im Verhandlungswege", d. h. praktisch mit H i l f e der Entente 5 3 ). Die „austro-polnische Lösung" hat zwar Czernin bald darauf für praktisch unerreichbar erklärt, sie aber ebensowenig wie Burian förmlich aufgegeben. N u r daß er (im Unterschied zu diesem) nicht so sehr auf die Angliederung Kongreß-Polens als solche bedacht war wie auf das Festhalten eines „Faustpfandes", das er als Tauschobjekt f ü r andere Gewinne (womöglich in Rumänien) verwenden konnte. Aber auch so blieb Polen genau wie vorher der ewige Zankapfel zwischen den Mittelmächten - mit der Folge nie endender diplomatischer Reibungen. Natürlich wirkte sich das verhängnisvoll in der Militärfrage aus. Conrad erschwerte (oder sabotierte) nicht zuletzt deshalb das Zustandekommen

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einer neuen polnischen Truppe durch Zurückhaltung des „polnischen H i l f s korps", weil er jeder Stärkung der deutschen Machtstellung in Polen widerstrebte. Aber die Verantwortung für seine Weigerung teilte mindestens zur H ä l f t e Ludendorff. Nach längeren Verhandlungen war Ende November zwischen Beseler und dem österreichischen Gouverneur in Lublin, General K u k , eine Eidesformel für die polnische Truppe vereinbart worden, die eine Verpflichtung auf die Person der beiden Kaiser vermied und an ihre Stelle das polnische Vaterland und seinen künftigen König setzte, aber auch ein Gelöbnis „treuer Waffenbruderschaft" mit den Heeren Deutschlands und Österreich-Ungarns und ihrer Verbündeten „im gegenwärtigen Kriege" enthielt. Dieser Eidesformel verweigerte die deutsche O H L hartnäckig ihre Zustimmung und wollte sie durchaus durch eine Formulierung ersetzt haben, die Kaiser Wilhelm II. als obersten Kriegsherrn nannte und die „ W a f f e n bruderschaft" mit Deutschland für immer festlegte. Sie setzte ihren Widerstand auch dann fort, als zwischen Czernin und dem deutschen Reichskanzler am 6. J a n u a r vereinbart wurde, daß Kaiser K a r l die Übergabe des „polnischen H i l f s k o r p s " befehlen und den deutschen Oberbefehl über das polnische Heer anerkennen würde, falls die deutsche O H L sich mit der BeselerKukschen Eidesformel einverstanden erklärte. Ihre Weigerung bedeutete also eine glatte Sabotage des militärischen Aufbauwerkes, ja der ganzen deutschen Polenpolitik, die doch Ludendorff selbst so überstürzt vorangetrieben hatte. Offensichtlich hatte er jetzt nicht nur das Interesse daran verloren, sondern schon im Dezember erklären lassen, die O H L würde unter solchen Umständen lieber auf die polnische Armee verzichten und Arbeiter statt Soldaten wünschen. Dieser Streit um die Eidesformel zog sich durch viele Monate hin 54 ) — ein geradezu grotesker Vorgang angesichts der lächerlich geringen Zahl polnischer Soldaten, um deren Verpflichtung es ging! Der aus polnischen H o n o ratioren am 14. J a n u a r gebildete „ S t a a t s r a t " k a m mit seinen Bemühungen u m ein polnisches Heer keinen Schritt voran, so lange die Eidesfrage nicht geklärt war. Aber Ludendorff blieb zähe. „Wenn die Polen überhaupt kommen wollen", meinte er, „kommen sie auch mit diesemEid", der sie dem Kaiser unterstellt. „Polen kann nun mal zeigen, ob es überhaupt mit Deutschland gehen will. Ihnen muß jetzt endlich mal gezeigt werden, daß wir zu befehlen haben, und nicht sie. Wir haben wirklich genug nachgegeben, jetzt sollen sie uns endlich mal was bringen, später werden wir wohl andere Saiten aufziehen müssen." Das war „Militarismus" in Reinkultur.

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Ende Februar erklärte er sich endlich bereit, der Beseler-Kukschen Eidesformel zuzustimmen, aber nur dann, wenn die österreichische Okkupationsbehörde aus Lublin verschwände und die etwa 7000 Soldaten österreichischer Staatsangehörigkeit (meist Galizier) aus dem „Polnischen H i l f s k o r p s " zurückgezogen würden. Darüber war gar nicht ernstlich zu reden. Aber eben damals verlor Conrad von Hötzendorf sein A m t als Generalstabschef im A O K , und sein Nachfolger, General von Arz, ein entschiedener Anhänger des deutschen Bündnisses und Bewunderer des deutschen Heerwesens, suchte nach einem Kompromiß. U m nicht die 7000 österreichischen Staatsangehörigen des polnischen Hilfskorps, die auf Kaiser K a r l vereidigt waren, in den deutschen Heeresverband übernehmen zu müssen, während anderseits Czernin eine Zerreißung des Hilfskorps verweigerte, stimmte Ludendorff einem Vorschlag des Generals Arz zu, das ganze K o r p s im österreichischen Heeresverband an die Front zu verlegen. Aber diese „Abschiebung" erregte sofort Empörung in Warschau bei den Polen. Der Staatsrat protestierte, forderte energische Schritte zur Bildung eines nationalpolnischen Heeres unter seiner eigenen Leitung und drohte mit Rücktritt. Diese Opposition hatte (zum ersten Mal!) Erfolg. Nach langen Verhandlungen wurde das polnische Hilfskorps aus dem österreichischen Staats- und Heeresverband entlassen und endlich dem Befehl General Beselers unterstellt — übrigens ohne Klärung der Frage des Eides und der Staatsangehörigkeit seiner österreichischen Angehörigen. Aber nun war es zu spät geworden, um eine brauchbare polnische Nationalarmee mit seiner H i l f e aufzubauen. In Rußland war die Revolution ausgebrochen, hatte den Zarenthron gestürzt und ein radikales Polenmanifest erlassen. Die ehemalige „polnische Legion", nun schon ein Jahr lang untätig in Garnisonen herumliegend, hatte sich zu einem zuchtlosen Söldnerhaufen entwickelt, der in manchen Fällen mehr als eine Bande von Dieben, Marodeuren und Kriegsschiebern erschien denn als ernst zu nehmende Truppe. Dieser Zerfall schritt unter dem Eindruck der russischen Revolution und ihrer Soldatenmeutereien noch weiter fort, was um so bedenklicher war, als es seit Frühjahr 1917 an Unruhen, Plünderungen und Streiks, Studentenaufruhr u. dgl. im Lande nicht fehlte. U m so wichtiger wäre es gewesen, einen besseren E r f o l g mit der Neuanwerbung von Rekruten zu erzielen. Der polnische Staatsrat war denn auch bereit, seinerseits dazu mitzuwirken und beschloß am 22. April 1917 einen neuen Werbeaufruf; aber Ludendorff legte Protest gegen seine Veröffentlichung ein, weil er in der Eidesfrage nicht

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nachgeben wollte, solange er nicht durch ein Abkommen der beiden Kaiser dazu gezwungen war. Die Verhandlungen über dieses Abkommen zogen sich bis zum 18. Juni hin. A m selben T a g bestätigte Czernin eine am 18. M a i in Kreuznach (auf Drängen Ludendorffs) getroffene (später noch zu besprechende) Ubereinkunft, nach der Österreich-Ungarn formell auf sein Condominium über Polen verzichtete (ohne es deshalb wirklich fallen zu lassen). Erst am 29. Juni traf der Text der kaiserlichen Absprache in Warschau ein, und somit war die Eidesfrage nun endlich erledigt. Aber diese Lösung konnte nicht mehr gutmachen, was in den Monaten vorher verdorben und versäumt worden war. Der Staatsrat hatte zwar seinen Werbeaufruf doch schon im Mai veröffentlicht und ein weitgespanntes N e t z von Werbebüros eröffnet. Er hatte jedoch damit im Lauf des Juni nur bescheidene Erfolge (etwa 2000 Meldungen) erzielt, und da die (anscheinend von Pilsudski beeinflußte) Tätigkeit der neuen Werbebüros den Verdacht der deutschen Besatzungsbehörde erregte, daß sie heimlich der Partisanenwerbung diente, wurden sie im Lauf des Sommers zum größten Teil wieder aufgelöst. Noch schlimmer war, daß die Mehrzahl der polnischen Soldaten die Ableistung des Eides jetzt verweigerte und daraufhin interniert werden mußte. Verantwortlich dafür waren die (schon vorhin erwähnte) Agitation Pilsudskis, der am 3. Juli aus dem Staatsrat unter Protest ausgetreten war, das Anwachsen republikanischer Neigungen und anti-deutscher Stimmungen, vor allem aber die endlose Verzögerung des entscheidenden Schrittes durch die O H L und den Gegensatz der Okkupationsmächte, Offiziere und Mannschaften des „polnischen H i l f s k o r p s " wollten nicht dadurch auseinander gerissen werden, daß man Galizier und Nicht-Galizier durch Verschiedenheit des Eides voneinander unterschied. D i e Anwesenheit des „ H i l f s k o r p s " war nun für die deutsche Besatzungsmacht eine tödliche Verlegenheit, und man bemühte sich, zum mindesten die österreichischen Angehörigen wieder abzuschieben. Nach wochenlangen Verhandlungen wurde schließlich (Ende August) das ganze Hilfskorps mit Ausnahme eines kleinen Stammes für Neuaufstellungen nach Galizien abtransportiert. Es ist dort mit vieler Mühe leidlich restauriert und Ende des Jahres an die österreichische K a m p f f r o n t verlegt worden. Bethmann Hollweg hat dieses klägliche Ende des von Beseler und der O H L einst mit so großen H o f f n u n g e n unternommenen Versuches nicht mehr als Kanzler miterlebt. Seine Skepsis konnte dadurch nur bestätigt werden.

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Sie war noch gewachsen, seit im Sommer der revolutionäre Zerfall der russischen Front immer deutlicher wurde und damit neue Aussichten auf einen Sonderfrieden im Osten sich eröffneten. Der Kanzler hatte deshalb im Mai 1917 den Fortschritt nationaler Selbstverwaltung der Polen durch Einsetzung eines Regenten, wie ihn der Warschauer Staatsrat forderte und Beseler befürwortete, noch einmal verzögert — gemeinsam mit Ludendorff, aber aus ganz anderen Motiven. Er wollte sich wiederum nicht zu früh auf ein fait accompli festlegen, das den Friedensschluß erschweren konnte. Im übrigen war sein Einfluß auf den Gang der Dinge in Polen nicht allzu groß — schon deshalb nicht, weil ihn bald nach der Proklamation viel größere Sorgen bedrängten und es f ü r ihn immer schwerer wurde, sich in seiner Stellung gegen die erbitterte Feindschaft Ludendorffs und seine inneren Gegner zu behaupten. Die Kritiker des Polenmanifestes in den Parlamenten und im Bundesrat hat er im November 1916 mehrfach auf den „ungeheuren Druck" der Obersten Heeresleitung verwiesen, dem er habe nachgeben müssen. Er suchte also seine Polenpolitik durch die Autorität Hindenburgs zu decken. Das hinderte seine Gegner nicht, ihm unverzeihliche Schwäche gegenüber den Polen vorzuwerfen und die Proklamation des 5. November als einen typischen Fehlgriff schwächlich-humanitärer, unrealistischer Politik (Tirpitz nannte sie sogar „selbstmörderisch!") zu verlästern. Gegen eine ernsthafte Revision der „hakatistischen" Germanisierungspolitik in den polnisch besiedelten Ostprovinzen Preußens erhob sich nach wie vor die Opposition der ostelbischen Landjunker. N u r gewisse Milderungen der bestehenden anti-polnischen Ausnahmegesetze wurden vom preußischen Staatsministerium im Frühjahr 1917 angekündigt und vorbereitet. Obwohl die Überstürzung des Polenmanifestes und danach der Verschleppung, ja Sabotage seiner Durchführung eindeutig dem Eigensinn Ludendorffs zur Last fiel, wurde der Mißerfolg des Versuches zu einem der Kernstücke in den Anklagen militaristischer Gegner des „unfähigen" Kanzlers.

8. Kapitel DAS F R I E D E N S A N G E B O T D E R MITTELMÄCHTE UND D E R BRUCH MIT AMERIKA

Erster

Das Verhältnis

Deutschlands Belgische

Abschnitt

zu Amerika im Sommer Friedensfühler

1916

An keinem anderen Punkt hat sich der Aufstieg der neuen „militaristisch" gesinnten Heeresleitung Deutschlands zu politischer Hegemonie so verhängnisvoll ausgewirkt wie im Verhältnis zu Amerika und in der dafür zentralen Frage des U-Boot-Krieges. Das ganze Jahr 1916 über sieht man die Politik Bethmann Hollwegs eifrig, ja verzweifelt darum bemüht, aus der immer hoffnungsloser werdenden Verstrickung dieses mörderischen Krieges sich herauszuwinden mit Hilfe von Friedensfühlern aller Art: bald mit dem Ziel des Separatfriedens mit einem der Gegner, bald mit dem eines allgemeinen Friedens der Verständigung ohne Sieger und Besiegte. Da nun weder in Rußland noch in Frankreich sich greifbare Möglichkeiten für den Abschluß eines Separatfriedens boten — trotz aller fortgesetzten, uns schon bekannten Friedensfühler über Stockholm und des Aufwandes vieler Millionen zum Kauf eines Presseorgans und zum Ausbau einer Oppositionsgruppe in Frankreich —, blieb zuletzt immer nur die Hoffnung auf Wilson und dessen Freund, Oberst House, als Friedensvermittler. Nur über sie war mit einiger Erfolgsaussicht an den „Hauptfeind", an England, heranzukommen. Wir haben bereits gesehen, mit welchem Eifer Bethmann Hollweg seit März 1916 die Verhandlungen über den U-Boot-Krieg dazu benützte, um die amerikanische Diplomatie nicht nur von seinem guten Willen zur Verständigung zu überzeugen, sondern sie gleichzeitig zu einer Friedensinitiative zu drängen (oben Kap. 5, I I I ) . Welch ungeheure Mühe hat er es sich kosten lassen, um gegen den Widerstand der Militärs und der nationalisti-

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sehen Oppositionsgruppen die Einstellung des verschärften U-Boot-Krieges nach dem „Sussex-Fall" durchzusetzen! Seine nächste Umgebung w a r damals stark beeindruckt von seiner ganz persönlichen Leistung im Kampf gegen Tirpitz und dessen Anhang. „Er hat Deutschland gerettet", sagte Jagow zum Abgeordneten Haussmann. „Er ist in seine weltgeschichtliche Stellung wirklich hineingewachsen", versicherte ihm Riezler; man müsse der Ö f f e n t lichkeit seine persönlichen Verdienste einmal darlegen 1 ). Aber wie hoffnungslos war seine Lage! Vergeblich hoffte er von Monat zu Monat, mehrfach ermutigt durch optimistische Berichte Bernstorffs aus Washington, daß der amerikanische Präsident auch etwas tun würde, um entweder die englische Blockade gegen Deutschland zu mildern oder einen Verständigungsfrieden herbeizuführen. Bis Ende Mai haben denn auch Wilson und House ihre Versuche fortgesetzt, in London ihre Vermittlungsvorschläge, wie sie im sogen. Grey-House-Memorandum vom 22. Februar festgelegt waren (s. oben Kap. 5, III), doch noch voranzutreiben. Als alle Briefe und Depeschen an Grey erfolglos blieben, hielt Wilson am 27. Mai vor einem amerikanischen Pazifistenverband eine Aufsehen erregende Rede, die zum ersten Mal sein Ideal eines Verständigungsfriedens (wie er es später noch o f t verkündet hat) vor aller Welt darlegte: Selbstbestimmungsrecht für alle Völker, f ü r die kleinen ebenso wie f ü r die großen, dauernde Sicherheit der Welt gegen Angriffskriege und Völkerrechtsbruch sowie Errichtung eines Völkerbundes zur Stabilisierung des Weltfriedens. Obwohl das alles sehr bew u ß t auf die englische Mentalität berechnet war, fand es in der britischen Presse eine fast ebenso ungünstige Aufnahme wie in der deutschen: man war darüber empört, daß Wilson erklärte, der Streit um die Ursachen und Ziele des Krieges sei nicht Sache Amerikas, statt eindeutig für die Kriegsgegner Deutschlands Partei zu nehmen. Diese Reaktion hat ihn um so tiefer verstimmt, als gleichzeitig von Paris zu hören war, Frankreich hätte kein Interesse an irgendwelcher Friedensvermittlung, denn die Franzosen würden nie wieder eine so glänzende Gelegenheit haben wie jetzt, im Bund mit der halben Welt Deutschland niederzuwerfen 2 ). Für den großen Ideologen bedeutete das eine schwere Ernüchterung: er begann jetzt zu ahnen, daß die Westmächte genauso um die Macht kämpften wie die Deutschen, durchaus nicht als selbstlose Verteidiger der Freiheit gegen „Autokratie" und „Militarismus". Er hat diese Enttäuschung nie wieder ganz verwunden 3 ). Gleichzeitig wuchs die Spannung zwischen ihm und den Briten wegen der Handelsblockade und Schiffskontrolle, die von den Engländern immer rück-

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siditsloser ausgeübt wurde. D i e Erbitterung darüber in amerikanischen H a n delskreisen erreichte im Sommer 1916, während der langen Ruhepause im U-Boot-Krieg, ihren Höhepunkt. Das führte, wie schon früher einmal, zu gereizten diplomatischen Auseinandersetzungen, hat auch den Präsidenten gelegentlich so aufgebracht, daß er überlegte, ob es nicht das beste wäre, dem Drängen der deutschen Politik zu folgen und ihr Verlangen nach einem Verhandlungsfrieden („armistice looking toward peace") zu unterstützen, auch gegen Englands Willen 4 ). Aber die wirtschaftlichen Interessen Amerikas (das vom Handel mit den Alliierten reich und reicher wurde) machten ihm einen diplomatischen Bruch ebenso unmöglich wie seine moralischgeistigen Bindungen an die westeuropäische Welt. Und seine intimsten Berater, Oberst House und Staatssekretär Lansing, warnten ihn, immer wieder zu bedenken, in welche Gefahren ein öffentliches Vermittlungsangebot hineinführen würde, dessen Annahme durch die Entente nicht vorher zugesichert wäre. Wie, wenn die Deutschen darauf eingingen und die Gegenseite sich sträubte? D a n n würde Amerika genötigt sein, entweder offen auf die deutsche Seite zu treten, deren Niederlage es doch so dringend wünschte — oder aber seine eigene Ohnmacht vor aller W e l t zu demonstrieren. Solche Vorstellungen ergänzte der Londoner Botschafter Walter H . Page durch immer neue Berichte: in England wünsche kein Mensch einen „vorzeitigen" Frieden vor dem Totalsieg, auf den alles vertraue; ja, der Präsident habe sich schon durch seine Rede vor der Friedensliga und durch die verschiedenen Sendungen des Obersten House mit diplomatischen Sonderaufträgen bei den Engländern verdächtig und unbeliebt gemacht 5 ). Das alles hat zwar den Ehrgeiz Wilsons, als „Friedensmacher" die Welt zu beglücken, nicht zu ersticken vermocht. Aber er blieb den ganzen Sommer und Herbst über in der Friedensfrage völlig passiv — schon um nicht durch einen diplomatischen Fehlschlag seine am 7. November bevorstehende Neuwahl zu gefährden; überdies fürchtete er (was Bernstorff verkannte), der von ihm geplante große Friedensappell an die Welt könnte vor dem 7. November als bloßes Wahlmanöver erscheinen und dadurch sein moralisches Gewicht verlieren. Bethmann Hollweg hatte also mit seinen Wünschen nach einer Friedensaktion Wilsons eine lange Geduldsprobe zu bestehen. Sie wird ihm um so schwerer gefallen sein, als er offensichtlich mit seinen nächsten diplomatischen Beratern in dieser Frage nicht ganz einig war. Zimmermann, aber auch J a g o w dachten sehr skeptisch über eine von Amerika ausgehende Friedens-

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Vermittlung. Sie hielten Wilson für anglophil und für „naiv", Richteten also, er werde nicht wahrhaft neutral bleiben, sondern als „berufener Schirmherr" alles dessen auftreten, „was er für recht und Gerechtigkeit hielte" (vor allem wohl des absoluten status quo), und wenn wir uns weigerten, darauf einzugehen, „offen in das Lager unserer Feinde übergehen". (Eine Befürchtung, die nach dem Inhalt des „Grey-House-Memorandums" vom Februar 1916 ja auch voll berechtigt war: der amerikanische Vermittler setzte darin Deutschland von vornherein unter den Druck einer Kriegsdrohung.) In einer Instruktion, die Jagow am 7. Juni an Bernstorff absandte, wies er also diesen an, „zu verhindern, daß Präsident Wilson mit einem positiven Vermittlungsvorschlag an uns herantritt". Das klang sehr abweisend und ging auch von der Voraussetzung aus, daß „bei weiterem für uns günstigen Fortgang des Krieges ein Friede auf der Grundlage des absoluten status quo (auch in der belgischen Frage) unannehmbar ist". Muß man daraus schließen, daß Jagow unter allen Umständen einen Frieden verschmäht haben würde, der den „status quo" in der belgischen Frage brachte? Das ist nach seiner sonstigen Haltung wenig wahrscheinlich, zumal er sofort hinzufügte, es lasse sich noch nicht übersehen, „inwieweit wir in der Lage sein werden, eine unseren Interessen entsprechende Lösung der belgischen Frage herbeizuführen". Aber er war offensichtlich nicht bereit, die nun schon so oft (zuletzt wieder in Bethmanns Reichstagsrede vom 5. April) geforderten „realen Garantien unserer Sicherheit" ohne weiteres fallen zu lassen, und dies um so weniger, als er noch stärker als der Kanzler die heftige Abneigung der deutschen Öffentlichkeit gegen Wilson als Friedensvermittler in Anschlag brachte 6 ). Nun teilte Bethmann Hollweg die Meinung des Auswärtigen Amts, daß man eine Einmischung Wilsons in das Materielle der Friedensverhandlungen verhindern müsse; er sollte sich darauf beschränken, eine Konferenz der Delegierten der europäischen Mächte zustande zu bringen — ein Standpunkt, den er bis Januar 1917 zähe festgehalten hat. Er fürchtete, Wilson als Vermittler anzurufen, würde praktisch bedeuten, daß wir uns ganz „in seine Hand gäben", da eine internationale Friedenskonferenz, einmal begonnen, sich nicht so leicht wieder sprengen lassen würde, um den Krieg noch einmal aufzunehmen. Dagegen machten ihm die Abneigung und das Mißtrauen des deutschen Volkes gegen Wilson weniger starken Eindruck: die würden sich schon legen, meinte er, wenn Deutschlands Not noch spürbarer würde7). Ende Juli, angesichts der bedrohlichen Kriegslage in Ost und

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West, erwog er ernstlich, Wilson um eine Friedensinitiative zu ersuchen „aufgrund unserer Bereitwilligkeit, Belgien wiederherzustellen", also (wie es scheint) unter Verzicht auf die viel erörterten „Sicherheiten und Garantien" 8 ). Auf eine Rückfrage Bernstorffs ließ er diesem am 18. August eine Erläuterung jener Instruktion vom 7. Juni zugehen, die einen völlig veränderten Ton anschlug. Zwar könne uns „nicht zugemutet werden, uns bei Annahme einer Vermittlung auf irgendwelche konkrete Friedensbedingung zu verpflichten". Aber der Botschafter solle alles tun, um Wilson zu einer Vermittlung zu ermutigen, „die den Beginn von Friedensverhandlungen der Kriegführenden untereinander herbeiführen will". Darüber hinaus war der Kanzler (im Gegensatz zum Entwurf Jagows) bereit, auch einer allgemeinen Friedenskonferenz unter Beteiligung der Neutralen (d. h. Amerikas) zuzustimmen, falls sie im Anschluß an vorangegangene erfolgreiche Friedensverhandlungen der Kriegführenden abgehalten würde mit dem Ziel, allgemeine völkerrechtliche und internationale Fragen, wie Freiheit der See oder Abrüstung (auf die Wilson so großen Wert legte), zu regeln 9 ). Wie schon immer, kam es Bethmann Hollweg darauf an, zunächst einmal die Kriegführenden an einen Tisch zu bringen; alles weitere sollte erst dann geregelt werden — in der Erwartung, daß maßlose Forderungen auf beiden Seiten sich von selbst ermäßigen würden, wenn erst einmal das Ende des grausigen Ringens in greifbare N ä h e gerückt und eine Fortsetzung des Gemetzels für reine Eroberungsziele schwierig geworden wäre. Die heikle belgische Frage h o f f t e er dadurch gewissermaßen auszuklammern, daß er sich zunächst auf eine allgemeine Erklärung beschränkte, wir hätten niemals die Absicht gehabt, das Land zu annektieren und wünschten, uns über die künftigen Beziehungen in unmittelbaren Verhandlungen mit König Albert zu verständigen. Ein Vorspiel solcher Verhandlungen hatte — in tiefer Heimlichkeit — schon im Winter 1915/16 stattgefunden: zwischen dem bayrischen Grafen Törring, einem Schwager des Königs, und dessen vertrautem Berater, dem belgischen Soziologen und Politiker Prof. Waxweiler 10 ). Beide waren mehrmals in Zürich zusammengetroffen. Die Unterredungen hatten zwar zunächst kein praktisches Ergebnis erzielt, wohl aber gezeigt, daß König Albert sehr ernsthaft einem Verständigungsfrieden zustrebte 11 ). Albert I. zeigt sich in seinen Kriegstagebüchern 12 ) als ein Politiker von unbestechlicher Nüchternheit und Unabhängigkeit des Urteils, völlig frei von patriotischem Pathos, auch von Haßgefühlen, und überaus kritisch gegenüber der militärischen Leistungsfähigkeit seiner Bundesgenossen, deren

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Siegeszuversicht er immer geneigt ist, als bloßen Krampf zu bewerten. Vor den Leistungen der deutschen Armee hat er großen Respekt. Er glaubt also, daß der Krieg noch endlos fortdauern und ohne eindeutigen Sieg mit allgemeiner Erschöpfung enden wird, wenn ihm nicht rechtzeitig durch friedliche Verständigung ein Ende gemacht wird. Er ist sehr eifersüchtig auf die „Autonomie" seiner Regierung bedacht und hat sich immer geweigert, den Rest seiner Armee (die sich nur noch durch Freiwillige ergänzen konnte, die über die holländische Grenze flüchteten) in den Verband des britischen oder französischen Heeres aufgehen zu lassen. Da er überzeugt ist, daß man Belgien „sehr schnell vergessen wird", wenn es keine Truppen mehr besitzt, sträubt er sich energisch, seine Regimenter durch Teilnahme an nutzlosen Teiloffensiven sich ausbluten zu lassen, wie sie die britischen und französischen Generäle immer wieder unternehmen. Mehr noch: er fürchtet nichts mehr als eine große englisch-französische Offensive zur gewaltsamen Rückeroberung Belgiens; denn sie würde das Land nur in einen Trümmerhaufen verwandeln. Großartige Schlagworte wie „Rettung der europäischen Kultur" vor den Barbaren, oder „Kampf f ü r das Recht" machen ihm nicht den geringsten Eindruck. „Sauver la civilisation", notiert er trocken, „ce serait chercher résolument à faire la paix dans une Europe encore saine." Er ist stolz darauf, seine internationalen Verpflichtungen als Neutraler niemals verletzt zu haben. Aber er ist bitter enttäuscht vom Ergebnis dieser Neutralitätspolitik und nunmehr überzeugt, daß ein so kleines Land wie Belgien nur mit Hilfe einer starken Militärmacht sich davor schützen kann, als Schlachtfeld zertrampelt zu werden. Da er Deutschland letztlich für stärker hält als das im Innern so labile Frankreich, erklärt er sich in einem Brief an Graf Törring und einer Aufzeichnung vom 5. Januar 1916 geneigt, hier seinen Schutz zu suchen. Nach der Aufzeichnung war er bereit, auf Belgiens Neutralität zu verzichten und mit dem deutschen Reich eine Art von Militärbündnis zu schließen, das diesem die von Bethmann gewünschte Sicherung seiner Westgrenze, Belgien Schutz vor fremder Überwältigung im Falle eines neuen Krieges bieten sollte. Die Festungen Lüttich, N a m u r und Antwerpen sollten „aufgelassen", also entfestet und nur mit kleinen belgischen Garnisonen belegt werden, aber nicht von deutschen Truppen. Der König schlug vor, statt dessen französische Grenzbefestigungen wie Givet, Maubeuge oder Condé als deutsche Stützpunkte zu besetzen; die Verbindungsbahnen dorthin könnten unter Kontrolle Deutschlands kommen und ihm jederzeit f ü r Truppen- und

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Armeematerial-Transporte zur Verfügung stehen. Deutschland würde somit den militärischen Schutz der Südhälfte Belgiens übernehmen, die Verteidigung der N o r d h ä l f t e fiele der belgischen Armee zu; in einem Defensivabkommen könnte auch ein Zusammenwirken beider Armeen für gewisse Fälle festgelegt werden. Statt einer direkten Zollunion wurde eine Revision der bestehenden Zolltarife und eine Anpassung der belgischen Sozialgesetze an die deutschen vorgeschlagen. Belgien würde sich überdies verpflichten, an keinem gegen Deutschland gerichteten Wirtschaftsabkommen teilzunehmen. Volle Autonomie Belgiens in allen inneren Angelegenheiten wie auch die volle Integrität seines bisherigen Besitzstandes wurde ausbedungen. Von deutschen Entschädigungszahlungen für seine Verluste war ebensowenig die Rede wie von Zahlungen an Deutschland; wohl aber äußerte der belgische Abgesandte den Gedanken, Deutschland könne durch Ankauf eines Teils der Kongo-Kolonie (auf die König Albert nicht gern verzichtete) zu hohem Preis eine Art von indirekter Entschädigung leisten. Der belgische Wunsch nach einem Gebietstausch mit den Holländern (linkes Scheideufer gegen eine belgische Enklave) erscheint nur als Nebenpunkt; der Tausch sollte wohl vor allem dazu helfen, den Vertrag populär zu machen 13 ). Alles in allem: ein so konkreter Vergleichsvorschlag, wie er von keinem anderen Friedensfühler jemals erreicht worden ist! Die deutsche Antwort war im wesentlichen zustimmend und brachte in ihrer letzten Fassung auch die ursprünglich aufgestellte Forderung einer Teilung des Landes in flämische und wallonische Verwaltungsbezirke nicht mehr zur Sprache. Was an D i f f e renzen blieb, lief nicht eigentlich auf eine Verstärkung der deutschen „Sicherheiten", sondern mehr auf eine Konkretisierung des von König Albert gewünschten militärischen Schutzverhältnisses hinaus. Die deutsche Wunschliste verlangte nicht ein dauerndes, wohl aber ein fakultatives Besatzungsrecht, was offenbar heißen sollte: „für den Kriegsfall", für den es ja u. U . unentbehrlich war; dabei wurde zugesagt, daß „je nach L a g e der Dinge" von diesem Recht ein schonender Gebrauch gemacht werden sollte. D a aber nun Deutschland nicht nur gegen Frankreich, sondern auch gegen England geschützt sein wollte, wurde als unaufgebbare Forderung hinzugefügt, „die Möglichkeit der Errichtung eines Stützpunktes an der belgischen Küste zum Schutze dieser, eventuell unter Einbeziehung des Dreiecks Zeebrügge— Brügger H a f e n — O s t e n d e " . Dagegen wurde die Besetzung französischer Grenzfestungen als „ungeeignet" 1 4 ) abgelehnt. U m die neue Forderung f ü r das Selbstgefühl der Belgier erträglicher zu machen, wurde die Form einer

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Pachtung der Hafenanlagen für eine längere Dauer von Jahren vorgeschlagen. Von der Kongo-Kolonie war keine Rede; die Regelung aller Gebietsfragen einschließlich der Kolonien sollte von dem künftigen Gesamtstatus des Landes gegenüber Deutschland abhängen — was sich wohl als indirekter Verzicht auf Annexionen auslegen läßt. Die belgischen Entschädigungswünsche blieben unberücksichtigt. M a n kann sogar eine Gegenforderung in dem Verlangen des deutschen Partners sehen, daß ihm 6 0 % der Aktien einer neu zu gründenden Gesellschaft f ü r die Verwaltung der belgischen H a u p t bahnen und der Antwerpener Hafenanlagen kostenlos überlassen werden sollte; doch wurde statt der ursprünglich geforderten Zollunion nur noch ein „tunlichst enger Zollanschluß Belgiens an Deutschland" gewünscht, über den noch verhandelt werden sollte. Auf einen belgisch-holländischen Gebietstausch wollte sich die Reichsregierung „zur Zeit" nicht festlegen lassen. Ob Bethmann H o l l w e g auf allen diesen Forderungen bei weiteren Verhandlungen bestanden hätte, läßt sich nicht sagen 1 5 ), da die Besprechungen abgebrochen werden mußten, ehe die letzte Wunschliste der deutschen Seite überhaupt zur Sprache kam. Sicher ist, daß König Albert (wie er mehrfach betonte) sich auf kein Abkommen eingelassen hätte, das die Souveränität seiner Krone, d. h. die „Autonomie" seines Staates, und die Integrität der belgischen Grenzen verletzte. Er wollte sich mit den Deutschen verständigen, um nicht in vasallenartige Abhängigkeit von den Westmächten („inf^odation") zu geraten und hat deshalb im Juli 1916 sowohl den Abschluß einer Zollunion mit Frankreich wie den eines Militärvertrages mit den beiden Westmächten abgelehnt, der ihm die Einführung der allgemeinen Dienstpflicht aufnötigen sollte 1 6 ). Aber natürlich wollte er ebenso wenig Vasall Deutschlands werden. Ob sich eine Form des geplanten Schutz- und Trutzbündnisses hätte finden lassen, die auch den Anschein der Vasallität vermied, ist ungewiß, aber nicht ausgeschlossen; jedenfalls hat er darauf vertraut. Ausgeschlossen ist aber, daß sich die Westmächte, insbesondere England, damit abfinden konnten, ehe sie den Krieg eindeutig verloren hatten. Insofern tragen diese ganzen Geheimverhandlungen mit einem Vertrauensmann der Reichsregierung einen utopischen Zug. Daran, und nicht etwa an der Maßlosigkeit deutscher Forderungen 1 7 ), sind sie denn auch gescheitert. Im L a u f des Februar hatten die Staatsmänner der Entente Wind von den geheimen Verhandlungen des Königs bekommen und setzten ihm seitdem durch alle möglichen Staatsbesuche zu. Überdies befand er sich im Gegensatz zu seinen Ministern, von denen nur drei allen-

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falls einem Verständigungsfrieden zuneigten 18 ). Die anderen waren mehr oder weniger radikale Nationalisten, teilweise sogar Annexionisten, die alles Heil von den Westmächten erwarteten. Einen Beitritt zum LondonPakt vom 4. September 1914, der Belgien genötigt hätte, unter allen Umständen an der Seite der Entente auszuharren, hat der Ministerrat allerdings im Januar 1916 abgelehnt. Aber eben damals verhandelte er schon seit Wochen über eine öffentliche Erklärung der alliierten Mächte, die dem Land volle Wiederherstellung seiner Unabhängigkeit, seines Territoriums, reichliche Entschädigung und Teilnahme an den künftigen Friedensverhandlungen versprechen sollte. Das geschah in der „Deklaration von Sainte Adresse" am 14. Februar, machte in Belgien starken Eindruck und wirkte somit als wohlgezielter Gegenschlag gegen alle Versuche einer Separatverständigung mit Deutschland 19 ). Der König geriet dadurch in eine aussichtslose, ja gefährliche Lage 20 ). Ende Februar ließ er deshalb durch seinen Unterhändler darum bitten, man möge ihn jetzt nicht drängen. Trotzdem gab er seine Bemühungen nicht einfach auf. Zunächst versprach er, sich an der f ü r März nach Paris einberufenen Wirtschaftskonferenz, die einen dauernden Wirtschaftsboykott gegen die Mittelmächte vorbereiten sollte, nur informatorisch zu beteiligen. Außerdem schlug er Vertagung der Gespräche bis Anfang Mai, nicht etwa endgültigen Abbruch vor. Im Laufe des Sommers, hoffte er, würden Frankreich und Rußland wohl ermattet und eher friedensbereit sein als jetzt. Dann wollte er sein Ministerium auflösen und durch ein weniger nationalistisches ersetzen, einen Verständigungsfrieden aushandeln und ihn durch das Parlament bestätigen lassen; das würde erleichtert werden, hieß es, wenn es Belgien gestattet würde, den „Defensivvertrag" mit Deutschland durch einen Rückversicherungsvertrag mit anderen Mächten zu ergänzen, die das Land vor etwaigen „vertragswidrigen Eingriffen Deutschlands" schützen sollten — ein Wunsch, der aber nicht den Charakter der Forderung zu tragen schien. Das waren Gedankengänge, die ein erstaunlich hohes Maß von Vertrauen auf deutsche Waffenerfolge (die Verdun-Offensive hatte eben begonnen!) und von Zweifeln an der Standfestigkeit der Vierverbandsmächte bekunden. Es war selbstverständlich, daß die Regierung Bethmann Hollweg diesen Faden nicht wieder abreißen ließ. Auch wenn König Albert sich aus den Fesseln seines Bündnisses mit England nicht mehr lösen konnte, mußte es doch f ü r Deutschland sehr wertvoll sein, mit diesem einzigen Regierungschef des westlichen Lagers, der grundsätzlich dem Verständigungsfrieden statt

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dem Vernichtungssieg zuneigte, in Verbindung zu bleiben. D a f ü r standen von Anfang an klerikale Mittelsmänner zur Verfügung, da Papst Benedikt XV. am Schicksal Belgiens besonders lebhaften Anteil nahm. Die Verbindung mit ihm lief zumeist über den bayrischen Ministerpräsidenten Grafen Hertling und den Zentrumsabgeordneten Erzberger, die beide schon seit August 1915 in diesem Sinn beim Kanzler tätig waren 21 ). Schon im April 1916 gelangte aus Rom ein neues Angebot an das Auswärtige Amt, eine Verhandlung mit König Albert zu vermitteln. Graf Törring, um seine Meinung gefragt, riet, darauf einzugehen, aber sich „Rom gegenüber" auf sehr allgemeine Äußerungen über die Friedensbedingungen zu beschränken 22 ). Diese selbst empfahl er nochmals zu ermäßigen: durch eine Entschädigungszahlung an Belgien und Bestehenlassen einer „begrenzten Armee" (statt einer bloßen Miliz). Vor allem f a n d er (sehr mit Recht), daß der geplante Stützpunkt an der Kanalküste den erbitterten Widerstand Englands herausfordern würde. Sollte man nicht einen Weg suchen, sich f ü r später (also f ü r den Fall eines neuen Krieges) die Möglichkeit einer Besetzung der Küste zu sichern, ohne jetzt schon diese Absicht „zu sehr in den Vordergrund zu schieben"? Ein kluger Rat, wenn auch seine Befolgung den Einspruch der Ententemächte sicher nicht verhindert hätte! Mit Feuereifer griff Erzberger die römische Anregung auf, die ihm Ende April durch den päpstlichen Prälaten Gerlach, einen seiner Intimen, mitgeteilt wurde. Der Reichskanzler, mit dem er mündlich darüber verhandelte, erklärte sich in aller Form zur Annahme „jeder Vermittlung des Heiligen Stuhles in der belgischen Frage wie in Fragen des Friedens überhaupt" und zu einem neuen Meinungsaustausch mit König Albert bereit. Tatsächlich wurde denn auch mit diesem eine Verbindung über klerikale Mittelsmänner hergestellt. Aber der König teilte Ende Mai nach Rom mit, er könne nichts tun, ehe er sich endgültig mit seinen Ministern darüber geeinigt hätte, den „Mächten des Vierverbands klarzumachen, daß sich das unglückliche belgische Land mit den Zentralmächten verständigen will". Am 24. Juli meldete Gerlach: „Es kam wieder ein Vertrauensmann des Königs der Belgier. Seine Majestät wäre absolut dafür, aber kann noch nicht mit der Regierung einig werden." Dabei ist es dauernd geblieben 23 ). Von deutscher Seite hat man aber bis Früjahr 1917 immer wieder versucht, mit ihm Fühlung zu gewinnen. Anfang Oktober 1916 (so berichtet sein früherer Adjutant General van Overstraaten) wurde dem Monarchen auf zwei verschiedenen Wegen „eine offiziöse Fühlungnahme" des deutschen Kanzlers mit der englischen

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und belgischen Regierung zugeleitet, die schon im Mai begonnen hatte. Darin wurde von deutscher Seite als Basis allgemeiner Friedensverhandlungen angeboten: Rückkehr Belgiens zu vollständiger Unabhängigkeit, Entschädigung f ü r seine Verluste und Rückgabe auch des Gebietes von Longwy-Briey an Frankreich unter gewissen Bedingungen. König Albert sollte dabei als Vermittler mitwirken. Das britische Kabinett, durch den amerikanischen Ernährungskommissar Hoover informiert, habe (so glaubte man in Brüssel zu wissen) zunächst gezögert, ein solches Angebot abzuweisen, schließlich hätte aber Lloyd George, unterstützt von der „Times", rundheraus erklärt, England könne nicht über Frieden zu schwatzen beginnen in einem Augenblick, in dem das Schwergewicht seiner militärischen K r ä f t e erst anfinge, sich geltend zu machen. Daraufhin habe die belgische Regierung es f ü r klüger gehalten, sich nicht mit einer Vermittlung zu komprimittieren und den Außenminister Baron Beyens zum König geschickt, um zu erreichen, daß dieser den belgischen Mittelsmann (M. Philipson) nicht in Audienz empfinge. Nach der Unterredung mit Beyens hat Albert I. in sein Tagebuch notiert (am 10. Oktober), außer Lloyd George habe auch Briand der Mission Philipson widerstrebt und dessen Reise nach La Panne (der damaligen Residenz des Königs) untersagt; der Vermittler würde wohl nicht kommen 24 ). Über die Zuverlässigkeit dieser sehr merkwürdigen Nachrichten wird sich erst dann urteilen lassen, wenn ihr Urheber Näheres über seine Quellen mitteilt; insbesondere wird nachzuprüfen sein, ob wirklich die deutschen Angebote bereits so weit gingen und vor allem: welchen Grad von amtlicher Ermächtigung die belgischen Mittelsmänner besaßen. An der Tatsache ihrer Bemühungen als solcher ist nicht zu zweifeln; daß sie irgendwie in deutschem A u f t r a g handelten, ist mindestens sehr wahrscheinlich. Noch im Dezember hat sich Bethmann Hollweg um eine Mittlerrolle König Alberts bemüht, diesmal durch den spanischen Gesandten in Brüssel, Marquis Villalobar. Der Marquis, dessen König starken Ehrgeiz besaß, als Friedensvermittler tätig zu werden 25 ), war schon am 1. Juli in dessen Auftrag bei dem belgischen Monarchen vorstellig geworden, der aber seine Intervention als unzeitig abgewiesen hatte und von spanischer Vermittlung offensichtlich nichts wissen wollte 26 ). Auch die neue Fühlungnahme (Ende Dezember) führte nicht weiter; nach der Meinung des Kanzlers hat sie der Spanier mit wenig Geschick durchgeführt 27 ). Infolgedessen lehnte Bethmann eine Wiederholung desselben Experiments ab, zu der ihn Hertling Ende Februar 1917 überreden wollte, als ihm von (ungenannter) belgischer Seite ein Vergleichsvor-

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schlag zugegangen war, der auf eine ziemlich restlose Annahme aller im Vorjahr von Graf Törring vorgelegten deutschen Bedingungen hinauslief. Vorher schon, im Januar, hatte die päpstliche Kurie durch ihren Münchner Nuntius erneut Vermittlungsangebote gemacht, die aber in der völlig veränderten Situation dieses Zeitpunktes, unmittelbar nach Ablehnung des öffentlichen Friedensangebots der Mittelmächte durch die Entente und unmittelbar vor Erklärung des unbeschränkten U-Boot-Krieges, keine Aussicht auf Erfolg mehr boten 28 ). Trotzdem sind die Versuche, durch belgische Vermittlung einem Verständigungsfrieden näher zu kommen, durch das ganze Jahr 1917 fortgesetzt worden; davon wird noch später zu reden sein, ebenso von der sehr selbständigen Haltung König Alberts gegenüber dem deutschen öffentlichen Friedensangebot vom Dezember 1916, die ihn zeitweise in schroffen Gegensatz zu den Alliierten brachte (unten Abschnitt IV). Die eifrige Mitwirkung Graf Hertlings an diesen Vermittlungsversuchen entsprach dessen allgemeiner Haltung seit dem Frühjahr 1916. Im Spätherbst 1915 hatte er die ersten Nachrichten aus Berlin, daß man im Auswärtigen Amt jetzt an baldigen Friedensschluß dächte, mit einem gewissen Erschrecken aufgenommen (s. Anfang von Kap. 4). Aber Anfang Mai, nach dem Scheitern der Verdun-Offensive, sah er (ähnlich wie Weizsäcker) „keinerlei Hoffnung mehr, diesen Krieg rechtzeitig militärisch zu einem für uns befriedigenden Ende zu führen" — rechtzeitig vor allem im Hinblick auf die Ernährungsnöte, die man ja in Bayern besonders schwer empfand. Er machte sich über den Gang der Dinge jetzt so große Sorgen, daß er durch Lerchenfeld in Berlin immer von neuem auf eine Sitzung des „diplomatischen Bundesratsausschusses" drängte, um sich dort über die Lage orientieren — und wohl auch trösten zu lassen. Sein Gesandter antwortete ihm am 6. Mai, er selbst habe schon „seit der Marneschlacht an einem guten Ausgang des Krieges immer mehr oder weniger gezweifelt", finde aber im Augenblick keinen Anlaß zu besonders großer Hoffnungslosigkeit. Wenn wir nur verhindern könnten, „daß unsere Marine keine weiteren Torheiten begeht", Amerika also aus dem Krieg herausbliebe und unsere Ernte nicht fehlschlüge, so könnten wir noch länger durchhalten. Aber auch er glaube, daß wir Frieden machen sollten, „ehe uns die Nahrungssorgen dazu zwingen. Ich hätte schon im November 1914 aufgrund des status quo Frieden gemacht.. . Aber was hätte das deutsche Volk dazu gesagt? Jetzt sehe ich nicht, wie man zu einem Frieden kommen soll, so lange nicht einer von den andern müde wird". Er meldete aber Hertling zu einem Besuch in Berlin

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beim Reichskanzler an und erfuhr von diesem, daß auch er „stets den Frieden im Auge behalten habe und jetzt . . . mehr denn je das Ziel im Auge behalte". „Er tue auch alles, was geschehen könne, um die Marine zu zügeln . . . und Amerika herauszuhalten 29 )." Graf Lerchenfeld war einer der klügsten Staatsmänner und Zeitbeobachter in den Kriegsjahren. Sehr richtig hatte er erfaßt, wie völlig die Friedenspolitik des Kanzlers davon abhing, daß es gelang, den U-Boot-Krieg noch weiter stillzuhalten. Aber er urteilte auch überraschend klar und treffsicher über die allgemeinen Aussichten, zu einem Verständigungsfrieden mit unseren Gegnern zu kommen. Am 24. Juli ließ ihm Hertling einen Vorschlag zur Verwendung beim Reichskanzler zugehen, der bis in gewisse Einzelheiten hinein dessen eigene Absicht vorwegnahm: dem Gegner sobald als möglich ein öffentliches Friedensangebot zu machen. Unsere Situation, ließ Hertling schreiben, würde sich „ja doch fortdauernd weiter verschlechtern", durch wirtschaftliche Schwierigkeiten und Erschöpfung der Menschenreserven. Wir dürften deshalb nicht lange mehr zögern, den Krieg zu Ende zu bringen. Sofort nach Abflauen der Groß-Offensive an der Somme dürfte der psychologische Augenblick gekommen sein, „von uns aus den Vorschlag zu Friedensverhandlungen zu machen", und zwar unverzüglich, ohne auf einen „ersten Schritt" der Gegner zu warten. Neutrale, „vielleicht der Papst, Schweden und Holland zugleich", sollten unseren Vorschlag übermitteln. Wir könnten uns einen solchen Schritt besser leisten als die Gegner angesichts der Kriegskarte und der Erfolglosigkeit der feindlichen Offensiven, brauchten also das zu erwartende Jubelgeschrei der Auslandspresse nicht zu fürchten; die feindlichen Staatsmänner wüßten ja doch genau, daß wir noch längst nicht am Ende unserer K r ä f t e wären, was wir natürlich auch unterstreichen müßten. Ein so öffentliches und feierliches Friedensangebot könnten sie angesichts der Stimmung in ihren eigenen Ländern nicht einfach ablehnen — täten sie es doch, so würde das „sicher die Volksstimmung bei unseren Feinden aufs nachhaltigste beeinflussen". Käme es aber zu Verhandlungen, so würde es schwerlich gelingen, diesen fürchterlichen Krieg noch einmal aufleben zu lassen, „dafür würde die Stimmung der Völker wohl sorgen". Unsere Friedensbedingungen dürften wir „natürlich" erst im Lauf der Verhandlungen bekanntgeben. Unsere Ausgangslage wäre aber günstig, zumal England ja das Anwachsen unserer U-Boot-Flotte fürchten müßte 8 0 ). Das waren so ziemlich dieselben Erwägungen, aus denen das Friedensangebot der Mittelmächte vom 12. Dezember 1916 entsprungen ist. Sie

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tauchen hier zum ersten Mal in den uns vorliegenden diplomatischen Korrespondenzen auf. U m so interessanter ist, was Graf Lerchenfeld darüber am 27. J u l i zu bemerken hatte. Vielleicht, meinte er, hätten unsere Gegner nach dem Scheitern der Somme-Offensive den Krieg wirklich „ s a t t " bekommen, wenn nicht inzwischen die Österreicher an der Ostfront total versagt hätten. Jetzt ist es „mit dem Eindruck der Unbezwinglichkeit einstweilen vorbei". „ E s müßten große Dinge geschehen, um die Schlappen und Verluste im Osten auszugleichen." (Daß solche „großen Dinge" mit der Niederwerfung Rumäniens bald geschehen würden, ließ sich Ende Juli noch nicht voraussehen.) Aber Lerchenfeld war überhaupt skeptisch gegenüber dem Rechnen mit „Volksstimmungen in feindlichen Ländern". „Gewiß haben die Völker den Krieg satt, aber genau wie bei uns, ist auch bei den Feinden die Uberzeugung fest gegründet: Wir müssen durchhalten, sonst sind wir verloren." „Sie ist den Leuten eingeredet und ist so stark geworden, daß dagegen einzelne Stimmen der Vernünftigen nicht aufkommen. Der Friede ist daher keine Frage von Bedingungen. Wir könnten heute die Rückgabe von Polen, Belgien und dem N o r d e n von Frankreich anbieten, es würde nichts nützen. Deutschland muß besiegt sein, das ist es, was unsere Feinde verlangen. Wie lange der Wahnsinn noch dauern wird, ich weiß es nicht." Einzige H o f f n u n g ist das Abbröckeln eines unserer Feinde, nämlich Frankreichs, wo zwar die Kriegsstimmung noch nicht im Abflauen ist, aber allmählich die Leute im Heer und bei der Arbeit zu fehlen anfangen. Lerchenfeld versichert, er begegne diesen Ansichten auch bei anderen, z. B. bei Helfferich. „Einstweilen hilft nichts als die Zähne zusammenzubeißen." Sollte aber Frankreich anfangen schwach zu werden, so „müßte ein deutscher Wink an die dortigen Friedensleute hinübergeschickt werden, daß wir bereit sind, goldene Brücken zu bauen. D a s wird auch geschehen, dazu ist man bereit, ebenso wie man jeden T a g Rußland entgegenkommen würde trotz aller Erklärungen im Reichstag über ein selbständiges Polen — leider ohne viel Aussicht auf Erfolg: ,Der russische K l o t z ist zu unbeweglich, die Menschen sind das H u n gern gewöhnt'." War das richtig geurteilt? Es wird nötig sein, zunächst einen Überblick über die Friedensaussichten im Lager der Gegner Deutschlands zu gewinnen, ehe wir Bethmann Hollwegs Friedensbemühungen seit dem August 1916 (insbesondere seit dem Wechsel der Obersten Heeresleitung) weiter verfolgen. So lange die Archive von London und Paris noch verschlossen sind, ist das freilich nur unvollkommen möglich.

Das Friedensproblem und die alliierten Regierungen Zweiter

Das Friedensproblem

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Abschnitt

und die alliierten

Regierungen

Die Kriegsmüdigkeit und Friedenssehnsucht war im Sommer und Herbst 1916 bei allen Völkern, am meisten bei denen des Kontinents, stark im Ansteigen. In Rußland war sie nach den ungeheuren Verlusten der Sommeroffensive und infolge der wachsenden wirtschaftlichen N o t so groß, daß sich gegen Ende des Jahres bereits die ersten Auflösungserscheinungen im Heer und Verwaltung zeigten. Die schwer enttäuschende Niederlage Rumäniens hat sie noch verstärkt. Wir hörten schon davon, sahen aber auch, daß die politische Vertretung des Landes, die Duma, nicht etwa auf Frieden drängte, sondern ihren patriotischen Eifer verdoppelte und alle Wut und Enttäuschung gegen die Regierenden richtete, denen sie ihr Versagen vorwarf. Der militärische Mißerfolg führte also zu revolutionärer Unruhe, nicht aber — zunächst wenigstens — zu einem Nachlassen des Kriegseifers. Der Zar hätte gar nicht wagen können, sich auf irgendwelche Friedensverhandlungen einzulassen, die ihn in den Ruf des Verräters gebracht hätten. Noch im Frühjahr 1917 hat er sich ohne weiteres einverstanden erklärt mit einem ausschweifenden Kriegszielprogramm, das ihm ein Spezialgesandter Frankreichs (Doumergue) aus Anlaß einer Petersburger Diplomatenkonferenz vorlegte; es sah f ü r Frankreich das linke Rheinufer als Grenze vor und gestand R u ß land (um es im Kriege festzuhalten) jede von ihm gewünschte Erweiterung seiner Westgrenze zu. Der letzte Brief Nikolaus' II. an Poincaré, der f ü r die Petersburger Mission Doumergues dankte, wurde acht Tage vor seiner Abdankung geschrieben 1 ). Ein ähnlicher Gegensatz zwischen der Friedenssehnsucht des kämpfenden und leidenden Volkes und der politischen H a l t u n g seiner parlamentarischen Vertreter und seiner Regierenden läßt sich in Frankreich beobachten. Hier war es in der Tat so, wie es Graf Lerchenfeld sah: Erschöpfung der Armee und ihrer Menschenreserven durch die furchtbaren Blutverluste bei Verdun und an der Somme (der Jahrgang 1918 mußte schon 1916 einberufen werden! 2 )), allgemeine Furcht vor weiteren blutigen Opfern und einem dritten Kriegswinter, Mangel an Arbeitskräften, fortwährend steigende Preise bei zurückbleibenden Löhnen und Gehältern, wachsende Unzufriedenheit der Massen, beginnende Spaltung der Sozialisten durch Abkehr einer radikal pazifistisch gestimmten Gruppe (in Frankreich défaitistes, also Verräter

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genannt) von der union sacrée der Parteien — alles ähnlich wie in Deutschland. Ähnlich wie hier auch das Schimpfen auf die (angeblich) schlappe und „zu passive" Regierung und der Ruf nach dem „starken Mann". N u r mit dem Unterschied, daß auch auf die (angeblich) unfähigen Generäle geschimpft und nach jedem militärischen Mißerfolg ihre schleunige Ablösung gefordert, vor allem aber eine immer weitergehende Einmischung des Parlaments in rein militärische Fragen verlangt und durchgesetzt wurde — bis zur Entstehung fast unerträglicher Zustände (vgl. Bd. II, 37 ff.). Nach der Verdun-Schlacht sah sich die Regierung Briand zur Einführung von Geheimsitzungen der Kammer und des Senates gezwungen, in denen sowohl die politische wie die militärische Kriegsleitung zur weitgehenden Preisgabe militärischer Geheimnisse genötigt und einem Trommelfeuer neugieriger Fragen und kritischer Angriffe (letztere besonders von Seiten ehrgeiziger Rivalen und politischer Intriganten) ausgesetzt wurde. Aber so gut wie niemals kam in diesen Angriffen eine Opposition gegen die Fortsetzung dieses grausigen Gemetzels zu Worte — im Gegenteil: so gut wie ausschließlich wurde eine nodi höhere Steigerung kriegerischer Energie, noch stärkerer Kräfteeinsatz verlangt. Wohl nirgends ist die Dämonie des modernen Volkskrieges mit seinem hemmungslosen Rasen politischer Leidenschaft, heroischen Siegeswillens, patriotischen Stolzes und Ehrgeizes, aber auch tödlichen Hasses so eindrucksvoll in Erscheinung getreten wie in dem aus tausend Wunden blutenden Frankreich. Was blieb seinen Regierungen, auch dem im tiefsten Grunde seines Herzens sicherlich zur Mäßigung neigenden Briand, anders übrig, als diesen Leidenschaften nachzugeben, um nicht von ihnen in den Abgrund gerissen zu werden? Er hat es aber auch, soviel man sieht, niemals versucht, sie abzudämpfen oder sich ihnen nach Möglichkeit zu entwinden — anders als Bethmann Hollweg, der kaiserliche Kanzler. Denn er w a r ja nur ein Funktionär des Parlaments und wußte hinter sich einen Staatspräsidenten (den chauvinistischen Poincaré), der seine „patriotische" H a l t u n g kaum minder mißtrauisch überwachte als die Kammer und seine parlamentarischen Rivalen. Seine besondere Gabe war die feurige, an das patriotische Gefühl appellierende Rhetorik. Mit ihr riß er die Kammer zu stürmischer Begeisterung hin, als zwei Vertreter der extremen Linken am 19. September es wagten, die Ungeheuerlichkeit der Opfer zur Sprache zu bringen, die Frankreich in diesem Krieg bringen müsse, sie in Vergleich zu stellen mit den geringen Leistungen seiner Alliierten und den Abschluß eines Verständigungsfriedens

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statt unabsehbarer weiterer Opfer zu fordern. Was Briand diesem „Defaitismus" entgegenzustellen hatte, war im Grunde nur ein Aufruf zu wildem H a ß : H a ß auf die Deutschen, die 1914 jählings, aber nach lange vorbedachtem Plan, dem friedlichen Frankreich „an die Gurgel gesprungen" wären, jetzt Greise, Frauen, junge Mädchen, Kinder verschleppten und brutal mißhandelten. Mit ihnen einen Frieden auszuhandeln, wäre „entwürdigend und ehrlos", eine „Schmach f ü r das Gedächtnis aller unserer Toten". Überdies würde ein Verhandlungsfrieden die von Deutschland drohende Gefahr n u r verewigen. Mit dieser Warnung verbunden war ein höchst wirksamer Appell an das nationale Selbstbewußtsein: Frankreich, der Vorkämpfer der Freiheit und des Rechtes in der Welt, das Ursprungsland „der edelsten und bewundernswertesten Ideen, deren sich die zivilisierte Menschheit rühmt", muß aus dieser schweren Prüfung „vergrößert" hervorgehen; es schaut schon jetzt „mit strahlendem Gesicht" dem kommenden Sieg entgegen, es sieht schon „seine Stirne verklärt vom Strahlenglanz des Prestiges und Ruhmes" usw. Diese improvisierte Rede war Briands größter oratorischer Erfolg und h a t ihn (nach dem Urteil seines Biographen) im Ausland recht eigentlich erst berühmt gemacht. Die Kammer raste vor Begeisterung und beschloß, gegen eine winzige Minderheit (421 gegen 25) die öffentliche Plakatierung des Meisterwerkes 3 ). Ohne Zweifel hatte der Redner ganz und gar auf seiner Seite, was man in der modernen Demokratie die „öffentliche Meinung" nennt, d.h. die Wortführer der inneren Politik, jedenfalls in ihrer überwältigenden Mehrheit. Der Abgeordnete Brizon, der den Ministerpräsidenten zu seiner rhetorischen Glanzleistung herausgefordert hatte, war ein ähnlich radikaler Einzelgänger wie der deutsche Kommunist Karl Liebknecht im Reichstag. Er hatte n u r eine kleine Schar von Gesinnungsgenossen an seiner Seite und gehörte zu jener internationalen Gruppe extremer Sozialisten, die eben damals in der Schweiz (im bernischen Zimmerwald und Kienthal) unter der Führung Lenins sich zu Kundgebungen gegen das Völkermorden und Aufrufen an das Proletariat aller Länder zusammenfand. Einstweilen blieb sie in Frankreich politisch ohnmächtig — nur daß im Lauf des Winters die Mehrheiten geringer wurden, die auf den französischen Sozialistenkongressen sich f ü r eine Fortsetzung der union sacrée und Beteiligung an der Regierung aussprachen. Immerhin gab es eine Reihe von Oppositionsblättern in der Arbeiterschaft und dem Kleinbürgertum (wie Bonnet Rouge, L'Éclair, l'Oeuvre, les N a tions, La Tranchée républicaine), die sich in Beschwerden über alle möglichen

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Kriegsmißstände ergingen. Aber statt eines Friedensprogramms hatten sie nur den Ausdruck allgemeiner „Malaise" zu bieten, und bei den führenden Schichten galten sie, teilweise sicher mit Recht, als bestochen von deutschem Geld. Als heimliche H o f f n u n g aller Unzufriedenen wurde der frühere Ministerpräsident Caillaux betrachtet, der sich nach seinem jähen, wesentlich durch seine Frau verschuldeten Sturz Sommer 1914 in brennendem Ehrgeiz und in der H o f f n u n g verzehrte, als Führer einer anti-militaristischen Opposition, wenn nicht gar als Friedensstifter wieder zur Macht zu kommen, dabei mit mancherlei fragwürdigen internationalen Abenteurern und Agenten Deutschlands in Verbindung geriet, aber unfähig war, als führende Gestalt einer Oppositionsgruppe positive Ziele zu weisen 4 ). Zum Patriotismus der Mehrheit gehörte, ähnlich wie in Deutschland, ein kräftiger Annexionismus, der auch in Frankreich von der Schwerindustrie gefördert wurde. Das Comité des Forges, ihre wichtigste Vertretung, erklärte Mitte Juli, das Kohlenbecken der Saar würde f ü r die französischen Hüttenwerke unentbehrlich sein, wenn durch die (als selbstverständlich beklärte Mitte Juli, das Kohlenbecken der Saar würde für die französischen H a n d kämen, ja noch weiterer Landerwerb auf dem linken Rheinufer wäre aus wirtschaftlichen Gründen erwünscht 5 ). Eine rein politisch-militärische Begründung f ü r solche Eroberungsziele lernte die belgische Regierung im Pariser Ministerium des Auswärtigen kennen, als sie Anfang 1916 dort ihren Wunsch nach einer Annexion Luxemburgs zur Sprache brachte. Philippe Berthelot, damals Adjoint, später Chef der politischen Abteilung, erklärte rundheraus, diese Frage müsse noch offen bleiben, da sich Frankreich selbst nach Osten erweitern müsse. „Unsere Hauptstadt", sagte er, „liegt der Grenze zu nahe. Wir müssen die Gelegenheit ergreifen, sie davon weiter abzurücken, mit einem Wort: die Politik Ludwigs X I V . wieder aufnehmen. Die Wiedervereinigung Elsaß-Lothringens mit Frankreich genügt nicht. Mindestens einen Teil der Pfalz brauchen wir, um uns vor der Wiederkehr der Ereignisse von 1914 zu schützen." Ob auch Luxemburg annektiert werden müsse, sei noch nicht entschieden 6 ). Das entsprach durchaus den Ansichten der damaligen Regierung Frankreichs. Seit Juli waren drei von Briand eingesetzte Kommissionen zur Vorbereitung der Friedensbedingungen tätig. Eine sollte die finanziellen Folgen einer Neutralisierung des Rheinlands studieren, die zweite Fragen der Ausnützung okkupierter Bergwerke und Industrien, die dritte vom historischen und diplomatischen Standpunkt die „Rechtsansprüche" Frankreichs auf das linke Rheinufer. Das Ergebnis,

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eine Denkschrift des Ministers Leon Bourgeois, ist in einer Besprechung Poincares mit Briand, Freycinet, Bourgeois am 7. Oktober verhandelt, später auch den beiden Kammerpräsidenten vorgelegt worden. Man zögerte zunächst, „mit Rücksicht auf die Alliierten", sofort die Neutralisierung oder gar die Annexion des ganzen linken Rheinufers zu verlangen, wurde sich jedoch darüber einig, daß zum mindesten eine verlängerte Besatzung unabdingbar sei, in der Form einer „Garantie" f ü r die Zahlung der Reparationen. Auch sollte nach Auflösung des Habsburger Reiches der Anschluß Deutsch-Österreichs an das Reich verhindert werden 7 ). Man sieht: die Versailler Kriegsziele waren schon Jahre vorher in Vorbereitung. Im November hat sich Briand noch deutlicher darüber ausgesprochen, im Entwurf einer Weisung an seinen Londoner Botschafter Paul Cambon, die diesem dann am 12. Januar 1917 (etwas verändert) zuging und einem förmlichen Beschluß des Ministerconseils entsprach. Elsaß-Lothringen, heißt es darin, soll nicht in den „verstümmelten" Grenzen von 1815, sondern in denen von 1790, also mit Landau, Homburg und Tholey zurückgefordert werden. Dazu soll das Saargebiet kommen. Ob Luxemburg französisch oder belgisch wird, bleibt noch offen. Die Rückgabe Elsaß-Lothringens ist nicht als Gewinn Frankreichs zu rechnen, sondern nur als Wiederherstellung alten Rechts. Kluge Köpfe (bons esprits) in Frankreich wollen das ganze linke Rheinufer, als „verlorenes Erbe der französischen Revolution" annektiert haben; es sei notwendig f ü r Frankreich als „Vorgelände" im Sinne Richelieus. Die Annexion würde aber doch wohl als reine Eroberung angesehen werden und darum Schwierigkeiten machen. D a nun Deutschland keinesfalls „einen Fuß jenseits des Rheins" mehr haben darf, muß über Neutralisierung und provisorische Besetzung des linken Rheinufers mit den Alliierten verhandelt werden. (Im ursprünglichen Entwurf vom November ist sogar von zwei linksrheinischen Vasallenstaaten die Rede, der eine unter französischem, der andere unter belgischem Protektorat 8 ).) Eben diese Vorschläge wurden zu ihrer Bestätigung durch den Zaren und damit zu ihrer besseren Durchsetzung im Kreis der anderen Alliierten Doumergue auf seine (schon erwähnte) Mission nach Petersburg mitgegeben. Das Ergebnis war ein Geheimvertrag, der den anderen Alliierten vorsichtshalber zunächst nicht mitgeteilt wurde und auch im französischen Ministerium auf manchen Widerspruch stieß, weil er die Festsetzung der russischen Westgrenze dem Zaren überließ und damit f ü r die Z u k u n f t Polens gefährlich werden konnte 9 ).

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Aber die Briandsche Weisung an Cambon enthielt (in ihrer ursprünglichen Fassung) noch weitere Forderungen: Ostfriesland mit den Inseln sollte Holland zufallen, Helgoland den Engländern, Schleswig mit den nordfriesischen Inseln der dänischen Monarchie. Uber die Z u k u n f t Polens war darin nur mit Vorsicht gesprochen; jedenfalls aber sollten die polnischen Teile Schlesiens, Posen und die untere Weichsel ebenso an Polen fallen wie die polnischen Gebiete Österreichs, also Galizien. „Berlin würde so militärisch von jeder Deckung (gegen Polen) entblößt." Natürlich war auch von „Sanktionen" (nicht bloß Reparationen), Entschädigungen und von Garantien für deren Zahlung die Rede, schließlich auch (im Sinne Wilsons) von einer künftigen Dauerallianz der Siegermächte zur Sicherung des Friedens. Das Ganze betrachtete Briand als Ausdruck der Vernunft und Bescheidenheit, die allein in Europa das Gleichgewicht der Mächte wiederherstellen könne, und erwartete, daß die britischen Alliierten dieUneigennützigkeitder französischen Absichten anerkennen würden. So also malte sich das Bild der deutschen Z u k u n f t in den Augen der französischen Regierung am Ende des Schreckensjahres 1916. Es ist danach selbstverständlich, daß man in Paris von amerikanischer Friedensvermittlung durchaus nichts wissen wollte. Schon Ende Mai, auf die Nachricht vom Inhalt des „Grey-House-Memorandums" und Wilsons anschließende Kundgebungen hin, hatte die französische Diplomatie mit heftigster Ablehnung reagiert und Friedensverhandlungen in diesem Augenblick als „desastre für die Menschheit" bezeichnet. Selbst die harmlose Äußerung Greys gegenüber einem Friedensfühler aus Skandinavien, die Alliierten könnten nur ein offizielles Angebot Deutschlands in Erwägung ziehen, erschien Briand gefährlich: er wollte vor dem Sieg überhaupt nichts von Friedensgesprächen hören. Im Entwurf seines Schreibens an Cambon vom November hat er denn auch mit äußerster Schärfe jeden Vermittlungsversuch Neutraler als unberechtigte „Einmischung" zurückgewiesen: sie verfolgten nur ihre eigenen Interessen oder betrieben Intrigen unter deutschem Einfluß. Das ergab äußerst düstere Perspektiven f ü r den Erfolg jedes deutschen Friedensschrittes. Sie waren um so düsterer, als auch in England der Gedanke eines Verständigungsfriedens sich nicht durchzusetzen vermochte. Die allgemeine Lage war hier insofern anders als in Frankreich, als die Nation ihre Menschenreserven trotz der grausigen Blutverluste in den SommeSchlachten noch nicht so stark erschöpft hatte wie die Franzosen und auch ihre Rüstungsindustrie sich immer noch im Aufstieg zur vollen Entfaltung

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ihrer Leistungsfähigkeit befand. Jedenfalls empfand der Kriegsminister Lloyd George alles bisher Geschehene nur als einen ersten Anlauf. Anderseits bedurfte es auf der britischen Insel eines viel stärkeren Aufwandes an Kriegspropaganda als auf dem Festland, um gegen die altererbte Neigung der englischen Liberalen zu insularem Neutralismus, grundsätzlichem AntiMilitarismus den rechten Kriegseifer und die Bereitschaft zu großen Opfern zu entzünden. Denn hier war ja eine unmittelbar spürbare Bedrohung des heimischen Bodens (abgesehen von den praktisch bedeutungslosen Bombenwürfen der Zeppelinluftschiffe) nicht vorhanden. Im Unterhaus wurde denn auch im Oktober 1916 von riesigen Massenversammlungen berichtet, die in weiten Industriezentren Woche f ü r Woche für den Frieden demonstrierten 10 ). Im ganzen ist es aber erstaunlich, wie gut die Kriegspropaganda gelang, mit wie hemmungslosem Eifer der britische Liberalismus die ihm gepredigte Ideologie vom „war to end war", vom „German barbarism fighting his last battle" und vom „Kampf für die Freiheit der Welt" aufnahm 1 1 ), und wie zäh geduldig die Masse durchhielt. Zweifellos hat der U-Boot-Krieg dabei wesentlich, vielleicht entscheidend mitgeholfen, indem er nicht nur den nationalen Stolz der Briten auf ihre absolute Vorherrschaft zur See bis zur Weißglut reizte und als „barbarisch" in seinen Methoden empfunden wurde, sondern mehr und mehr ihre nackte Existenz bedrohte. Vielleicht noch erstaunlicher ist die unbeirrbare Festigkeit, mit der Englands leitende Männer am Gedanken des Totalsieges festhielten — trotz aller immer erneuten militärischen Enttäuschungen und Fehlschläge, über deren Ernst sie sich völlig im klaren waren. Eine noch düsterere Schilderung der unermeßlichen Schwierigkeiten, ja der scheinbar aussichtslosen Weltlage Englands gegen Ende 1916, als sie Lloyd George in seinen Memoiren bietet, läßt sich kaum denken — allerdings malt er auch deshalb so schwarz, weil auf diesem Hintergrund seine Leistung als Premierminister um so strahlender erscheinen soll. Aber auch die Denkschriften anderer englischer Kabinettsmitglieder, wie des Schatzkanzlers McKenna, des Handelsministers Runciman, des Blockadeleiters Sir Robert Cecil oder gar Lord Lansdownes aus dem Herbst 1916 sind das Gegenteil von Schönfärberei. Alle militärischen Kraftanstrengungen, auch die gigantische an der Somme, sind zuletzt gescheitert, die große Seeschlacht am Skagerrak ist bestenfalls als ein halber Erfolg ausgegangen, das Saloniki-Unternehmen ist so vergeblich geblieben, daß man die Rumänen hilflos ihrem Schicksal überlassen mußte; eine ganze englisch-indische Armee ist in der mesopotamischen Wüste (bei

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Kut el Amara) in die Hände der Türken gefallen. Die Ernährungslage ist zwar noch nicht ernst, wird aber immer schwieriger, und die rasch sich steigernden Erfolge der deutschen U-Boote in den Herbstmonaten lassen Böses f ü r die Z u k u n f t voraussehen. Die Kriegskosten, gesteigert durch Hilfeleistungen an die Alliierten, haben längst eine schwindelnde H ö h e erreicht und werden den alten Reichtum Englands für immer zerstören. Englands Finanzlage ist so bedenklich geworden, daß sie überhaupt nur noch mit amerikanischer H i l f e aufrechterhalten werden kann, was Großbritannien in eine beklemmende Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten bringt und durch die zunehmende Spannung zwischen beiden Ländern (wegen der Blockadefrage) noch beklemmender wird 1 2 ). Rußland ist offensichtlich nahe am Zusammenbruch, Italien voll innenpolitischer Unruhe und militärisch sehr wenig leistungsfähig, Frankreich kampfentschlossen, aber stark ermattet. Was bedeuten einer solchen Realität gegenüber die Versicherungen der Generäle Robertson und Haig, nächstes Jahr werde die Offensive in Frankreich und Flandern besser gelingen, die dieses Jahr nicht zum Durchbruchserfolg geführt hat? War es in solcher Lage nicht wirklich ratsam, auf das amerikanische Angebot einer Friedensvermittlung einzugehen, wie es House im Frühjahr überbracht hatte, in der (uns schon bekannten) Form des GreyHouse-Memorandums vom 22. Februar, das im Fall deutscher Widerborstigkeit den Kriegseintritt Amerikas in Aussicht stellte? Sir Edward Grey hat bis zu seinem Rücktritt im Dezember sich nicht von der H o f f n u n g losreißen können, es möchte, bei zunehmender Ermüdung der festländischen Alliierten, schließlich doch noch zu Verhandlungen kommen, bei denen sein Abkommen mit House irgendwie wirksam würde 13 ). Man hörte im Sommer 1916 immer wieder aus neutralen Ländern (Amerika, Holland, Spanien, dem Vatikan, Schweden), die Regierung Bethmann Hollweg sei ernstlich friedensbereit, insbesondere zu einem Sonderfrieden mit England 1 4 ). Sollte man diese Fühler abweisen, und konnte man es angesichts der Friedenswünsche Amerikas? Was Grey am meisten beunruhigte, war offenbar die Lage in Petersburg: der Sturz Sazonows, des bewährten Ententefreundes, am 23. Juli. Man wird vermuten dürfen, daß hauptsächlich dieses Ereignis den Anstoß gab zu den Beratungen, die der „Kriegsausschuß" des Kabinetts im August abhielt, um sich klarzuwerden über die Kriegsziele Englands. Man wünschte vorbereitet zu sein f ü r den Fall, daß es plötzlich doch zu Friedensverhandlungen käme. An ihrem Anfang stand ein sehr umfangreiches Memorandum, das

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auf Weisung des Premierministers von „zwei hervorragenden Beamten" des Foreign Office aufgesetzt wurde, bei den Kabinettsmitgliedern zirkulierte, aber ohne Kommentar Greys, und erst 1917 vom Kabinett förmlich beraten worden ist. Gleichwohl bildete es offensichtlich die Grundlage aller weiteren Kriegszieldiskussion, auch mit Frankreich 15 ). Im Unterschied von allen französischen Kriegszielplänen ist für das englische Gutachten nicht die Sicherheit und Machterweiterung des eigenen Landes oberster Grundsatz (England hat auf dem europäischen Kontinent keine eigenen territorialen Erwerbswünsche und fühlt sich in seiner insularen Sicherheit nicht bedroht), sondern das Nationalitätsprinzip, dessen Durchführung allen europäischen Nationen, großen wie kleinen, Befriedigung ihrer „nationalen Ansprüche", Sicherheit und Freiheit der Entwicklung gewähren soll. N u r so könne ein dauerhafter Friede gesichert werden, der Englands Hauptinteresse sei. Die Verfasser waren sich aber darüber klar, daß die Verwirklichung dieses edlen Grundsatzes nur annäherungsweise möglich sein würde, infolge der schon bestehenden Kriegszielverträge (besonders mit Italien) und widerstrebender Sonderinteressen und Eroberungswünsche der alliierten Mächte. Das galt gleich für das erste Kriegsziel: die Wiederherstellung und Entschädigung Belgiens. Es war Englands Sonderinteresse, unter keinen Umständen die belgische Küste wieder in die H a n d Deutschlands kommen zu lassen. Darum sollte das Land seine Neutralität aufgeben und eine Dauerallianz mit den Westmächten schließen — entgegen den damaligen Wünschen König Alberts, wie wir wissen 16 ). Die luxemburgischen Annexionswünsche Belgiens sollten erfüllt werden, natürlich ebenso die französischen auf Rückgabe Elsaß-Lothringens — ohne Erörterung der Nationalitätsfrage und ohne Volksabstimmung. Sogar einer gewissen „Grenzberichtigung" Frankreichs aus strategischen Gründen wollte man zustimmen; doch sollte sie keine „beträchtliche" Ausdehnung haben und nicht ohne Volksbefragung stattfinden. Über die Zukunft Helgolands und des Kaiser-Wilhelm-Kanals sollte die Admiralität sich äußern (deren Wünsche ja vorauszusehen waren). Für die Ostgrenzen Deutschlands interessierte sich die Denkschrift nur insofern, als sie die Schaffung eines groß-polnischen „Pufferstaates" forderte, in bloßer Personalunion mit der russischen Monarchie, mit freiem Zugang zur Ostsee und Angliederung aller polnisch besiedelten Gebiete Preußens und Österreichs. Seltsamerweise wollte sie auch die Tschechen in das neue Polen einverleiben und war der Meinung, diese würden sich gern

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der „überlegenen" polnischen Kultur erfreuen. Die Serben, Kroaten, Slowenen, aber auch die Montenegriner würden am besten in einem gemeinsamen, neu zu gründenden Staat Südslawien zusammengefaßt. Die Verfasser hofften, dieser würde sich mit den Italienern über deren (ethnologisch widersinnige) Eroberungswünsche an der Adriaküste friedlich verständigen. Alle neu geschaffenen slawischen Staaten zusammen würden ein nützliches Gegengewicht sowohl gegen russische wie gegen deutsche Hegemonie bilden. Von der Habsburger Monarchie würden danach nur Deutsch-Österreich und Ungarn übrig bleiben und dieser Reststaat dank seiner Schwäche, aber auch entsprechend den politischen Wünschen der Bevölkerungsmehrheit, immer in einem Abhängigkeitsverhältnis zum deutschen Reich stehen. Das Beste wäre, statt ein so unglückliches Gebilde zu belassen, das Nationalitätsprinzip konsequent durchzuführen und Deutsch-Österreich in Reichsdeutschland aufgehen zu lassen. Damit würde das süddeutsch-katholische Element stark vermehrt, das Übergewicht Preußens — das die Denkschrift als den eigentlichen Urheber alles Bösen in der neueren Geschichte Europas betrachtet erheblich geschwächt, also ein wichtiger Beitrag zur Entmilitarisierung und Demokratisierung Deutschlands geleistet. Auch könnten die Deutschen im „Anschluß" der Österreicher eine Art von Entschädigung für die großen Bevölkerungsverluste in Elsaß-Lothringen, Schleswig und Posen finden. Vielleicht würden sie dann auch leichter von ihrem Widerwillen gegen die Idee einer allgemeinen Abrüstung zu „bekehren" sein, die den Verfassern als ein Hauptziel für die Zeit nach dem Kriege vorschwebt. Sie fürchten freilich, daß die Deutschen nur im Fall eines Diktatfriedens zum Verzicht auf ihre überlegene Armee zu bringen sein werden; denn ihr ganzer Stolz, ihr Vertrauen und ihre Hoffnung ruht auf der bewaffneten Macht — weit über die Kreise der Alldeutschen hinaus, von denen sich die Reichsregierung immer distanziert hat (ohne deshalb, meint die Denkschrift, auf eine aggressive Politik zu verzichten 17 )). Ein Völkerbund zur Sicherung des Friedens könnte aber nur dann von Nutzen sein, wenn Amerika sich entschlösse mitzumachen und seine Isolierung endgültig aufzugeben. Auch die Frage eines Verhandlungsfriedens wird kurz erörtert. Er könnte unvermeidlich werden, falls kein eindeutiger Sieg zustande kommt. Dann würde wohl nichts übrig bleiben, als Belgien den Deutschen durch Zugeständnisse an anderer Stelle gewissermaßen abzukaufen; dafür kämen praktisch wohl nur Kolonialgebiete in Frage. England würde also der Hauptleidtragende sein, die Deutschen aber könnten triumphierend von Sieg sprechen,

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auch wenn sie nur eine Abschlagszahlung (instalment) auf ihre ehrgeizigen Wünsche erreicht hätten. Das war wohl als Warnung gedacht: die Denkschrift fürchtete billige Kompromisse, wenn es erst einmal zu Verhandlungen käme; immerhin schloß sie diese nicht aus. Noch weniger tat das der Generalstabschef Robertson, den Asquith gleichfalls um seine Meinung befragte. Er war ein Militär von ungewöhnlich klarem und ruhigem Urteil, auch in politischen Fragen 18 ) — übrigens ein Bewunderer der deutschen Armee, voll Kritik an der militärischen Leistung der Verbündeten Englands. Die französischen Generäle fielen ihm, dem nüchtern Schweigsamen, schon durch ihre Beredsamkeit auf die Nerven. U m den immer behenden Franzosen zuvorzukommen, hielt er eine rechtzeitige Festlegung der britischen Forderungen beim Friedensschluß f ü r dringend notwendig. Die große Denkschrift, die er dafür am 31. August vorlegte, hat selbst Lloyd George, der sich viel an ihm rieb, als „staatsmännisch"empfunden. Darin ging es Robertson nicht um das Nationalitätsprinzip, sondern (ganz altenglisch) um das Gleichgewicht der kontinentalen Mächte, die Behauptung der britischen Seeherrschaft und das Fernhalten jeder starken Macht von der belgisch-holländischen Küste. Das europäische Gleichgewicht erforderte nach seiner Meinung die Aufrechterhaltung einer starken Macht in Zentraleuropa; das könne nur Deutschland sein, kein slawischer Staat. N u r so ließe sich die russische Großmacht eindämmen. Man sollte also das deutsche Reich als Landmacht stark lassen, dagegen als Seemacht gründlich schwächen. Letzteres, riet Robertsons Denkschrift, sollte erreicht werden durch Rückgabe Schleswigs und vielleicht eines Teils von Holstein an Dänemark, Internationalisierung des Kieler Kanals, Wegnahme des Kieler Hafens, der nordfriesischen Inseln und der östlichen Küste der Helgoländer Bucht — also durch eine sehr gründliche Amputation, über deren Umfang aber die Admiralität zu entscheiden hätte. Anderseits hatte auch er keinerlei Bedenken gegen die Aufnahme Deutsch-Österreichs in das Reich, falls der Habsburger Staat ganz aufgelöst würde (was er nicht unbedingt f ü r wünschenswert hielt) oder gegen eine enge Verbindung der verkleinerten Donaumonarchie mit Deutschland. Die elsaß-lothringische Frage müsse nach Frankreichs Wünschen geregelt werden; doch sprach er nur von „Teilen" des Landes, die Deutschland verlieren würde, und sagte kein Wort von „strategischen Grenzverbesserungen". Belgien sollte das Großherzogtum Luxemburg und das linke Scheide-Ufer bekommen. Über Polens Z u k u n f t dachte er skeptisch: sie müsse wohl nach Rußlands Wünschen geregelt wer-

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den; aber er zweifelte, ob es gelingen würde, die Deutschen jemals so gründlich zu schlagen, daß sie sich bereit fänden, die Provinz Posen an die Polen abzutreten — es sei denn, daß dieses als Teil des Reiches unter einen deutschen Fürsten käme; noch weniger würden sie Ostpreußen durch Wegnahme Westpreußens vom Reich abtrennen lassen. Über die Zukunft der Baltenvölker und des Näheren Orients sprach er nur mit vorsichtiger Zurückhaltung, gab aber zu bedenken, daß die jetzige Mächtekonstellation nicht ewig andauern würde, was offenbar als Warnung gemeint war gegen allzu große Nachgiebigkeit gegenüber maßlosen Wünschen der Alliierten, besonders Italiens und Rußlands. Große Sorge machte ihm die Kolonialfrage. Er vermutete (ähnlich wie die Denkschrift des Foreign Office), daß die Deutschen für die Räumung Belgiens und die Preisgabe von Teilen Elsaß-Lothringens und Polens Entschädigungen durch Rückgabe ihrer Kolonien verlangen würde, an deren Besitznahme doch in erster Linie und ernstlich nur GroßBritannien und (noch mehr) seine Dominien interessiert wären. Daraus würden während der Sonderverhandlungen wohl starke Differenzen mit den Dominien erwachsen, und wahrscheinlich bliebe angesichts deren Haltung zuletzt nur Togoland als frei verfügbar für Kompensationszwecke in britischer H a n d . D a s alles müsse jetzt schleunigst mit den Dominien geklärt werden. Man sieht aus alledem, daß der britische Generalstabschef ernstlich an Verhandlungen über den Frieden mit Deutschland gedacht hat — ernstlicher noch als das Foreign Office unter Grey, und daß er es aufgrund seiner nüchternen Einschätzung der militärischen Zukunftsaussichten für unwahrscheinlich hielt, den Frieden eines Tages einfach diktieren zu können. Ausführlich erörterte er deshalb auch die Frage, wie man den Waffenstillstand während der Friedensverhandlungen einrichten sollte. Die Fortsetzung der Blockade während dieser Zeit empfand er selbst als unbillig, tröstete sich aber schließlich damit, daß die Deutschen in derselben Lage wie England sicher ebenso rücksichtslos verfahren würden. Die Blockade würde helfen, die Verhandlungen abzukürzen. „ J e hungriger der Feind gehalten wird, um so besser, und schließlich hat er wahrscheinlich genug zu leben." Alles in allem: einen Waffenstillstand sollte man nicht verweigern, aber unter harten Bedingungen: sofortige Räumung der besetzten Gebiete, sofortige Freigabe aller von Deutschland festgehaltenen Kriegsgefangenen, „versuchsweise" Übergabe eines Teils der Flotte. So also dachte derjenige unter den militärischen Führern Englands, der

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am wenigsten „Militarist", am wenigsten von Illusionen über die militärische Lage beherrscht und (wahrscheinlich) am wenigsten von Deutschenhaß besessen war. Seine Meinung, daß man sich auf Verhandlungen mit den Deutschen einrichten und sie durch ein Kriegszielprogramm vorbereiten müsse, teilte auch Grey, der ein paar Tage später darüber mit dem französischen Botschafter Paul Cambon sprach und sich von diesem die uns schon bekannten Rheinlandwünsche der Pariser Regierung vortragen ließ, ohne zu widersprechen, f ü r England allerdings nur die Annexion Helgolands als Eroberungsziel ausdrücklich anerkannte 19 ). Aber deutschen Friedensfühlern gegenüber verhielt sich die englische Regierung äußerst spröde 20 ). Und es gab im britischen Kabinett ein Mitglied, das von Friedenmachen überhaupt nichts hören wollte, am wenigsten von amerikanischer Friedensvermittlung: Lloyd George, den Kriegsminister, die weitaus stärkste Persönlichkeit der Regierung. Um allem Friedensgerede ein Ende zu machen, erklärte er am 28. September einem führenden amerikanischen Journalisten in einem Interview: Deutschland ist entschlossen, mit England zu kämpfen, bis einem von beiden der Rest gegeben ist. Es soll seinen Willen haben. Der Kampf wird fortdauern bis zur Niederschmetterung (knockout). Die ganze Welt soll wissen, daß irgendwelche Einmischung Unbeteiligter nicht in Frage kommt. England hat keinen Vermittler angerufen zu der Zeit, als es zum Kampf noch nicht vorbereitet war; es wird jetzt keinen dulden, da es dazu vorbereitet ist, bis der preußische Militärdespotismus auf ewig zerstört ist. Man hat dem ungleichen Kampf zu Anfang des Krieges mit trockenen Augen zugesehen — man soll sich jetzt die Tränen und das Wehgeschrei sparen, wo er zu Ende gebracht wird. Die größte Unmenschlichkeit des bevorstehenden Kampfes wird nicht so groß sein wie die Grausamkeit, die darin bestünde, den Krieg jetzt zu beenden, so lange die Zivilisation von denselben Feinden bedroht bleibt. Dieses schreckliche Gemetzel (der Redner schildert seine Eindrücke von den Schlachtfeldern Frankreichs) darf sich nicht noch einmal ereignen. Man muß ihm ein Ende machen, indem man den Urhebern dieses Verbrechens gegen die Menschheit eine solche Strafe auferlegt, daß ihnen die Neigung, es zu wiederholen, ein für allemal vergeht 21 ). Dieses Interview hat für den internationalen Ruf Lloyd Georges ungefähr dieselbe Bedeutung gehabt wie die kurz vorher gehaltene berühmte Kammerrede Briands für diesen. Mit seiner Mischung von Moralität und Sportsgeist hat es die Popularität des Ministers in der breiten Masse des

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englischen Volkes enorm gesteigert. E r erschien von jetzt an recht eigentlich als der „starke M a n n " , nach dem die öffentliche Meinung auch hier mehr und mehr verlangte. Vergeblich blieb der briefliche Protest Sir E d w a r d Greys, der die Tür nach Amerika mit einem K n a l l zugeschlagen sah 2 2 ), vergeblich der Einspruch liberaler Abgeordneter im Unterhaus gegen die Brutalität dieses Kampfgeistes, die sie als unenglisch empfanden 2 8 ). Dieser Walliser Liberale wurde, ohne es zu wollen, zum Zerstörer des Liberalismus, indem er eine radikal kämpferische Politik zum Siege führte, und zwar mit H i l f e der Massendemokratie, nicht mehr des Parlamentes. D a s Unterhaus, vor sechs Jahren gewählt, wurde nicht mehr als echte Vertretung des nationalen Willens empfunden. Nicht mehr die Reden der Right Honourables, sondern die Massenappelle der Volksversammlungen und Straßenkundgebungen mit ihrem patriotischen Pathos und ihrer hemmungslosen Haßpredigt wurden jetzt bestimmend für die öffentliche Meinung des Landes 2 4 ). Der Premierminister Asquith, eine typisch liberale Vermittlernatur, geriet beim chauvinistischen Flügel der Konservativen, den „Diehards", in den Ruf der Schlappheit und des Mangels an Aktivität. D i e radikal deutschfeindliche, unter dem Einfluß von Lord N o r t h c l i f f e stehende Presse tat alles, diesen bösen R u f zu vermehren. So konnten Asquith und Grey gar nicht anders als sich öffentlich gegen den Verdacht irgendwelcher Friedensneigungen wehren. Beide taten es (Asquith am 11. Oktober im Unterhaus, Grey am 23. auf einem Pressebankett) mit demselben, uns längst bekannten Argument: dieser Krieg dürfe nicht eher aufhören, als bis der preußische Militarismus ein für allemal ausgerottet und damit die Freiheit der Welt gesichert sei. Sonst wären alle Opfer umsonst gebracht 25 ). Am 9. November benutzte Asquith das LordMayor-Bankett in der Guild Hall, um nachdrücklich von dem Gedanken eines deutsch-englischen Sonderfriedens abzurücken. Er sprach von „ G e rüchten", die von deutschen Agenten in England ausgestreut würden, daß Deutschland bereit wäre, um eines solchen Sonderfriedens willen die U n a b hängigkeit Belgiens wiederherzustellen und ihm Entschädigung zu leisten. England könne also einen billigen Frieden haben, wenn es sich nicht von seinen Alliierten für deren Eroberungsziele weiter in den Krieg hineinzerren lasse. D e m stellte Asquith entgegen: England sei nicht nur zur Wiederherstellung Belgiens, sondern auch Serbiens verpflichtet; vor allem aber fechte es für gemeinsame Ziele der ganzen Kriegsallianz, und die Interessen seiner Verbündeten wären auch die seinigen. Es ginge darum, die Freiheit der Welt für immer zu sichern, nicht um Belgien allein 2 6 ).

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Das war eine sehr klare Absage an die H o f f n u n g vieler Liberaler, eine deutsch-englische Verständigung würde möglich sein, sobald nur der deutsche Reichskanzler zu einer eindeutigen Erklärung zugunsten Belgiens sich entschließen könnte. Der radikal pazifistische Arbeiterführer McDonald hatte das am 24. Mai im Unterhaus zu sagen versucht — allerdings den entscheidenden Satz unvollendet abgebrochen. In deutschen liberalen Kreisen hatte er damit gleichwohl große Hoffnungen erweckt 27 ). Aber er war im Unterhaus (zusammen mit Snowden) eine ganz isolierte Erscheinung. Der zum Kabinettsmitglied aufgestiegene, sehr populäre Arbeiterführer H e n derson schloß sich den Warnungen Asquith's vor einem vorzeitigen, d. h. vor dem Sieg auszuhandelnden Kompromißfrieden rückhaltlos an: er würde gegen die nationale Ehre und gegen den nationalen Rechtsanspruch verstoßen 28 ). Gern wüßte man Näheres über den Ursprung und Hintergrund jener in England verbreiteten „Gerüchte", Deutschland gebe jeden Anspruch auf Belgien auf. Mehr als vereinzelte Notizen stehen dafür bis jetzt nicht zur Verfügung 29 ). Es ist aber nicht leicht zu glauben, daß es sich um völlig grundlose Gerüchte gehandelt hat, wenn es der englische Premier f ü r notwendig hielt, öffentlich darauf zu antworten und somit die politische Welt darauf aufmerksam zu machen. In jedem Fall: die belgische Frage hat in der internen Diskussion des Kabinetts Asquith über Verhandlungs- oder Diktatfrieden, die in den Herbstmonaten zuweilen sehr lebhaft wurde, keine erkennbare Rolle gespielt. Sie wurden eingeleitet durch eine Fortführung der im August begonnenen Kriegszieldiskussion. Am 4. Oktober legte der Marineminister Arthur J a mes Balfour, als früherer Premier eines konservativen Kabinetts und späterer Außenminister Lloyd Georges eine sehr gewichtige Persönlichkeit, seine Ansichten über den wünschenswerten Kriegsausgang schriftlich vor 30 ). N u r f ü r den Fall eines Diktatfriedens wollte er Kriegsziele aufstellen, wenn auch der Sieg noch nicht gesichert wäre. Im ganzen entspricht seine Niederschrift etwa dem, was schon die Denkschriften des Foreign Office und Robertsons vorgeschlagen hatten. N u r daß sie noch kräftiger als der Generalstabschef die Notwendigkeit betont, das deutsche Reich als eine starke Landmacht zu erhalten und ihm den Zusammenschluß mit Österreich-Ungarn (das er nach Losreißung der slawischen Gebiete erhalten möchte) zu ermöglichen. Deutschland, meint Balfour, wird immer reich, bevölkerungsstark und dadurch unter Umständen immer bedrohlich bleiben — das sollte man

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nicht gewaltsam zu verhindern suchen und Napoleons verfehltes Experiment mit der E n t w a f f n u n g Preußens nicht wiederholen. Ein starkes Deutschland wird ohne Schwierigkeit imstande sein, das Ubergewicht Rußlands in Europa abzuwehren. Von Einmischung in Deutschlands innere Verhältnisse will er überhaupt nichts wissen, auch nichts von erzwungenen Wirtschaftsverträgen nach dem Krieg (die erniedrigend wären) und von Kriegskontributionen. N u r Reparationen für den in Belgien, Nordfrankreich, Serbien und auf der See angerichteten Schaden sollen gefordert werden. Österreich, wenn es seine südslawischen Länder verliert, muß auf irgendeine Weise der freie Zugang zum Mittelmeer gesichert bleiben. Natürlich werden die beiden Zentralmächte alles abgeben müssen, was an nichtdeutscher Bevölkerung in ihren Grenzen wohnt (das Elsaß einbegriffen) — insgesamt, schätzt Balfour, über 20 Millionen. Aber das Motto der Alliierten sollte sein: „Deutschland für die Deutschen, aber nur deutsches Land." Im einzelnen weicht Balfour von den früher vorgelegten Denkschriften (die er offenbar vor sich hat) nur wenig ab. Die Rückgabe Schleswig-Holsteins an Dänemark, fürchtet er, wird dieses Land wohl nicht ohne internationale Garantien annehmen wollen, und „leider ist das Gebiet des Kieler Kanals beiderseits deutsch nach Sprache und Empfinden". Polen darf unter keinen Umständen (wie es die Denkschrift des Foreign Office sich gedacht hatte) ein ganz selbständiger „Pufferstaat" werden. Der würde nur, wie das alte polnische Königreich, ein ewiger Zankapfel zwischen seinen Nachbarn werden; und warum sollten wir Deutschlands Sicherung seines Rückens durch einen „Pufferstaat" gegen Rußland schenken? Am besten wird Polen ein autonomer Staat im Verband des russischen Reiches und hilft dieses europäisieren. Auch den Tschechen sollte man, wenn es möglich ist, einen eigenen freien Staat verschaffen, an Polen angrenzend, aber nicht darin einverleibt. Das war, vom britischen Standpunkt gesehen, gewiß ein gemäßigtes Programm — aber ebenso wie alle früher vorgelegten diskutabel nur im Fall einer totalen Niederlage Deutschlands. Eben darum wiedersprach ihm Balfours früherer Außenminister, Lord Lansdowne, ein Konservativer, der als der eigentliche Begründer der englisch-französischen Entente galt und dessen Stimme schon darum besonders großes Gewicht besaß 31 ). Ihm schien der Totalsieg der Alliierten nichts weniger als gewiß. In einer großen Denkschrift vom 13. November malte er die Lage und die Zukunftsaussichten Englands und seiner Verbündeten in sehr düsteren Farben — alles sorgfältig

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begründet mit den jüngsten militärischen, wirtschaftlichen und politischen Berichten der verschiedenen Dienststellen. Soll dies blutige Ringen, so fragt er, einfach ins Endlose fortgehen, ohne daß wir und die Alliierten genau geprüft haben, was von ihren Kriegszielen wirklich unentbehrlich ist? D e m Gedanken Robertsons, einen Verhandlungsfrieden vorzubereiten, stimmt er lebhaft zu, das „knockout" Lloyd Georges betrachtet er mit größter Skepsis. Man darf keinesfalls irgendeinen Versuch entmutigen, meint er, zum Gedankenaustausch mit dem Gegner zu kommen über die Möglichkeit einer Verständigung (settlement). Es gibt Nachrichten aus neutralen Ländern und Vorgänge in Deutschland selbst in Menge (Lord Lansdowne zählt einige davon auf), die auf ernsthafte Friedensbereitschaft auf deutscher Seite schließen lassen, nicht zuletzt auch auf Kriegsmüdigkeit des deutschen Volkes. J a , es müßte schon wunderbar zugehen, wenn nicht schon im kommenden Winter eine Sondierung erfolgen würde, ob wir bereit sind, Friedensbedingungen oder Vorschläge für einen Waffenstillstand zu diskutieren (der Lord sieht also so etwas wie ein Friedensangebot der Mittelmächte voraus, das ja denn auch vier Wochen später erfolgt ist). Darauf sollte England vorbereitet sein. Mit der allgemeinen Formel, die Asquith in einer seiner Reden gebraucht hatte, kein Friede ohne ausreichende Entschädigung für das Vergangene und ausreichende Sicherung für die Zukunft, erklärt sich Lansdowne einverstanden. Aber in der Welt darf nicht der Eindruck entstehen, als wäre die Politik der Entente rachsüchtig, egoistisch und unversöhnlich und betrachte jeden noch so ehrlichen Versuch, ihr aus der Sackgasse herauszuhelfen, als unfreundlichen Akt. In diesem Sinn bedauert Lansdowne das knock-out-Interview Lloyd Georges, noch mehr aber Briands Hyperpatriotismus, der schon das Wort Friede für frevelhaft erkläre. D a s war eine ebenso ernste wie sachlich wohlbegründete Warnung, und sie hat im englischen Kabinett tiefen Eindruck gemacht. Seine Mitglieder waren sich völlig klar darüber, daß man an einem entscheidenden Wendepunkt des Krieges stand. Die Spitzen des Militärs und der Flotte wurden von Asquith um eine Äußerung darüber ersucht, ob ein unentschiedener Kriegsausgang zu erwarten sei. Was der Oberkommandierende General H a i g darauf antwortete, war kaum mehr als der übliche Ausdruck soldatischer Zuversicht, nicht ohne Uberschätzung der eigenen Erfolge und Unterschätzung der K a m p f m o r a l des Gegners 3 2 ). Sir William Robertson dagegen hatte sich schon vorher in einem von Lloyd George angeforderten Gutachten mit bewundernswerter Ehrlichkeit und Sachlichkeit über die enormen Schwie-

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rigkeiten der alliierten Kriegführung ausgesprochen, jede Prophezeiung eines künftigen „Durchbruchs" an der Westfront vermieden, auch ganz offen erklärt, daß er als britischer Generalstabschef nur eine sehr beschränkte Möglichkeit habe, die Zukunftsaussichten in einem modernen Koalitionskrieg zu beurteilen, dessen Verlauf von tausenderlei politischen und wirtschaftlichen Faktoren mitbestimmt würde; schließlich hatte er geraten, das Kriegsende nicht vor Sommer 1918 zu erwarten. Auf die neue Anfrage des Premiers hin wies er zwar mit soldatischer Schroffheit jeden Gedanken zurück, auf den Endsieg zu verzichten, erklärte aber offen, es würden noch viel größere Menschenopfer als bisher zu erwarten sein, und sehr viel größere Anstrengungen wären nötig, auch eine größere Unabhängigkeit des Generalstabs von der Politik, wenn der Krieg nicht verloren gehen sollte. Auf diese Darlegungen reagierte der Außenminister Grey sehr unsicher. Wenn die militärischen Stellen glauben, schrieb er, daß Deutschland geschlagen werden und ihm am Ende der Friede diktiert werden kann, so wäre es gewiß voreilig, jetzt Verhandlungen zu beginnen. Aber die Aussichten des U-Boot-Krieges sind noch nicht geklärt. D i e Zukunft des Landes hängt davon ab, ob es Deutschland gelingen könnte, „uns auf die Knie zu zwingen, bevor die militärischen Operationen zu Lande Deutschland niederzwingen". Immerhin: auch wenn die Heeres- und Flottenautoritäten nur meinen, daß die Lage der Alliierten sich wahrscheinlich verbessern wird, sollten wir mit Verhandlungen noch zuwarten; sind sie nicht dieser Meinung, so wäre es besser, den Krieg nicht noch ein J a h r nutzlos fortzuführen, sondern ihn „zu den besten jetzt möglichen Bedingungen zu beenden". D a s sollte sofort geschehen, und zwar „mit H i l f e einer nicht unfreundlichen Vermittlung", sobald die Militärs eine Verschlechterung der Lage voraussehen sollten. Dabei wird besonders wichtig sein, was die zuständigen Stellen über die Aussichten unserer Handelsschiffahrt und der Schiffsraumfrage überhaupt zu sagen wissen. D a s war, ganz deutlich, ein Ausweichen vor der Entscheidung: die Militärs sollten die Verantwortung allein tragen. Aber Greys Neigung ging sicherlich mehr in der Richtung auf einen Verhandlungsfrieden. In diesem Sinn war offenbar seine Warnung zu verstehen, sich bei der Entscheidung nicht vom „ G e f ü h l oder der Schönrednerei" bestimmen zu lassen. Sehr viel eindrucksvoller war die Stellungnahme des Leiters der Blockade Lord Cecil. Auch er machte sich keine Illusionen über den Ernst der Lage. Werden nicht die äußersten Anstrengungen gemacht, schrieb er, so kann sie verzweifelt werden, besonders in der Schiffsraumfrage. Vollends in den

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Ländern der Alliierten, zumal in Rußland, sieht es böse aus. Gleichwohl: „Ein jetzt geschlossener Friede könnte nur unheilvoll sein. Wir könnten bestenfalls nicht mehr erreichen als den status quo mit großem Zuwachs deutscher Macht in Osteuropa." (Von Belgien sprach er nicht.) „Darüber hinaus würden die Deutschen sehen, daß der Friede uns aufgezwungen ist durch ihre U-Boote, und es würde sich zeigen, daß die Insellage Englands seine Verwundbarkeit erhöht statt sie zu vermindern." Wir müssen also den Krieg fortsetzen 33 ). Das war auch die Meinung des Premierministers. Er entschied, ohne Widerspruch im Kabinett zu finden, die Zeit sei für Friedensfühler noch nicht gekommen. Es war dieselbe Haltung, an der schon im Frühjahr die Vermittlungsbemühungen Houses gescheitert waren. Aber den „Unentwegten", vor allem in der konservativen Partei, wie Bonar Law und seinen Freunden, genügte sie noch nicht. Lord Cecil hatte einen wesentlich verschärften Stil der Kriegführung für unumgänglich erklärt: mit Einschränkung der Importe (und damit des Lebensstandards), wahrscheinlich Zwang zu industriellem Arbeitsdienst, auf alle Fälle großen Neuerungen der industriellen Organisation, teilweiser Verstaatlichung der Industrie, verstärkter militärischer Aushebung, verschärfter Heranziehung der Wohlhabenden zu den allgemeinen Opfern, Schließung gewisser Clubs der Reichen, Kürzung der Ministergehälter und ähnlichen rigorosen Maßnahmen. Um das alles durchzuführen, sollte ein Kabinettskomitee von nur drei Mitgliedern ernannt werden, denen die eigentliche Kriegsleitung zufiele. Diese Forderung griff Lloyd George, der Kriegsminister, mit feuriger Energie auf. Tief enttäuscht war er soeben von einer Reise nach Paris zurückgekommen, die er Mitte November zusammen mit Asquith unternommen hatte, um mehr Einheit und Energie in die gemeinsame Kriegführung der Alliierten zu bringen und den Franzosen den Ernst der allgemeinen Lage deutlich zu machen. Er war erschrocken über den oberflächlichen Optimismus eines Briand, der sich mit rhetorischen Phrasen über seine Sorgen hinweghalf, aber auch über die innenpolitische Labilität der französischen Regierungsverhältnisse. Um so energischer drängte er nun auf eine straffere Form der Kriegsleitung in England. Er mutete Asquith nichts Geringeres zu, als ihm selbst die Leitung des Dreierkomitees zu überlassen, an dem der Premier unbeteiligt sein sollte — eine Reform, deren sachliche Begründung durch die Mängel des englischen Kabinettssystems uns schon bekannt ist (Bd. II, S. 68 ff.). Aber natürlich lag in dieser Zumutung auch ein persönliches Mißtrauensvotum gegen Asquith, das dieser als uner-

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träglich empfand. Aus diesem Gegensatz ist dann, nicht ohne Mitwirkung persönlicher Intrigen konservativer Parteigrößen und gezielter Indiskretionen der Presse, rasch eine Regierungskrise geworden, der das Kabinett Asquith Anfang Dezember zum Opfer fiel. Lloyd George, der schon längst in der Presse als „starker Mann" Gerühmte, kam dadurch zur Herrschaft. Wir kennen bereits den neuen Stil seines aus Konservativen, Liberalen und Labours zusammengesetzten Kriegskabinetts (Bd. II, S. 73 ff.), dem Sir Edw a r d Grey nicht mehr angehörte. Es begann seine Tätigkeit am 10. Dezember 1916 — zwei Tage vor dem Friedensangebot der Mittelmächte. Dessen Schicksal war also bereits entschieden, ehe es ans Licht trat. Die Briten haben, wie aus unserer Schilderung hervorgeht, im Herbst 1916 mit ganz ähnlichen Nöten und Zweifelsfragen gerungen wie die Regierungen der Mittelmächte. Was die dritte deutsche O H L unter Ludendorffs Führung erstrebte und durchsetzte: eine verschärfte Zusammenfassung aller K r ä f t e für den Endkampf, haben auch sie als Ausweg aus diesen N ö t e n betrachtet und durchgeführt. Aber das grausige Ringen durch Verhandlungen zu beenden, haben sie nicht einmal den Versuch gemacht — wesentlich aus demselben Grund, der Bethmann Hollweg zu einem solchen Versuch ermutigte: sie wußten ebenso wie er (Lloyd George hat es ausdrücklich gesagt 34 )), daß an einen Wiederbeginn der Kämpfe von dem Augenblick an nicht mehr zu denken war, in dem man sich an den Verhandlungstisch setzte. Genau wie im Frühsommer 1916 war dies ihr entscheidendes Bedenken, nicht eigentlich die Sorge vor einem Ubermaß deutscher Forderungen. Auch die Wiederherstellung des status quo wurde (wie es Lord Cecil offen aussprach) als unerträglicher Triumph der Deutschen empfunden. Und es sind nicht die Militärs gewesen, sondern die Zivilminister, die den Ausschlag für die schicksalhafte Entscheidung gaben. Keiner der britischen Generäle oder Admiräle hätte, wie in Deutschland Ludendorff, sich eine eigene politische Rolle angemaßt.

Vorbereitung eines Friedensangebotes A u g u s t - D e z e m b e r 1916 Dritter

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Abschnitt

Hinausschieben des U-Boot-Krieges und Vorbereitung eines Friedensangebotes (August bis Dezember 1916) Ob aussichtsreich oder nicht — Bethmann Hollweg hatte keine Wahl: er mußte alles daransetzen, möglichst bald zu Friedensverhandlungen zu kommen, weil sie wahrscheinlich das einzige Mittel waren, den Losbruch des unbeschränkten U-Boot-Krieges und damit den Kriegseintritt Amerikas zu verhindern. Das lag nicht nur am Ehrgeiz und Eigensinn der Marineleute: es war zu erwarten, daß die Nation oder der Kaiser sich niemals bereit finden würden, den Krieg trotz der gewaltigen Leistungen und Erfolge des deutschen Heeres abzubrechen, d. h. zu kapitulieren, ehe nicht dieses letzte und äußerste Mittel zur Niederwerfung Englands erprobt war. Seine Anwendung ließ sich wohl hinausschieben, aber auf die Dauer schwerlich verhindern, wenn erst einmal allen klar geworden war, daß es keine Möglichkeit mehr gab, zu Lande den „Endsieg" zu erreichen. Natürlich drängte die Marine schon den ganzen Sommer über auf verstärkten Einsatz der U-Boote, vor allem der Flottenchef Admiral Scheer, dessen Selbstbewußtsein durch die von ihm geleitete Schlacht am Skagerrak noch stark gestiegen war. Während der Admiralstabschef Holtzendorff f ü r die politischen Sorgen des Reichskanzlers Verständnis hatte und nach einer Form des U-Boot-Krieges suchte, die möglichst wirksam sein sollte, ohne neue Konflikte mit Amerika heraufzubeschwören, verwarf Scheer alle solche Bemühungen als Halbheit. Ein beschränkter Handelskrieg, meinte er, würde nur den Erfolg haben, Reichsleitung und öffentliche Meinung zu beruhigen, ohne wirklich zum Sieg zu führen, also den einzig richtigen Entschluß nur verhindern oder verzögern. Über diesen Meinungsgegensätzen entstand nach und nach eine ernste Vertrauenskrise f ü r den Admiralstabschef, der bei den Frontoffizieren bereits als „Mann der unsicheren Entschlüsse" galt. Im Hochsommer wurde zwischen politischen und militärischen Stellen lange darüber beraten, ob man nicht wenigstens im Englischen Kanal den unbeschränkten U-Boot-Krieg eröffnen sollte, um den Material- und Mannschaftsnachschub aus England nach Frankreich während der Sommeschlacht zu unterbinden. H ä t t e Falkenhayn unbedingt darauf bestanden, so hätte Bethmann Hollweg wohl schließlich (für dieses begrenzte Seegebiet) nachgegeben 1 ). Aber der Generalstabschef, durch den Fehlschlag seiner Verdun-Offensive und die sich

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häufenden Katastrophen an der Ostfront tief beunruhigt, war einsichtig genug, um jetzt nicht auch noch das Risiko eines Kriegseintritts der Amerikaner heraufzubeschwören. So ließ man den Plan fallen. (16. August). Aber würde die neue O H L ebenso einsichtig sein? Die Frage des U-Boot-Krieges ist so ziemlich das erste gewesen, das der Reichskanzler mit den neuen Männern nach deren Ernennung besprach — zunächst mehr vertraulich und dann im Kreise aller obersten Träger militärischer und politischer Verantwortung. Hindenburg und Ludendorff waren in diesem Moment (29.—31. August) noch nicht näher orientiert über die militärische Gesamtlage, mußten unmittelbar nach der Kriegserklärung Rumäniens neue tiefe Einbrüche in die Südostfront fürchten und hatten das natürliche Bedürfnis, zunächst einmal abzuwarten, wie die Lage sich dort entwickeln würde, ehe sie das Risiko einer amerikanischen Kriegserklärung in Kauf nahmen. Da der Kanzler ihnen vorstellte, Amerikas Kriegseintritt könnte sehr wohl auch europäische Neutrale, besonders Dänemark und Holland, zu unseren Feinden machen, wollte Ludendorff so lange zuwarten, bis nach der Niederwerfung Rumäniens eine genügende Zahl von Divisionen zur Sicherung der dänischen und holländischen Grenzen verfügbar würde. Von diesem Standpunkt ließ er sich auch nicht durch das Plädoyer der Admiräle Holtzendorff und Capelle abbringen, die beide jetzt zum erstenmal mit Entschiedenheit den unbeschränkten U-Boot-Krieg forderten — beide offensichtlich unter dem Druck des Flottenchefs Scheer und seines Anhangs, aber auch wohl der so rapide verschlechterten Kriegslage, und nicht zuletzt mitbestimmt durch eine im Admiralstab entstandene neue Denkschrift, die mit großem Zahlenmaterial nachzuweisen suchte, daß jetzt der geeignete Augenblick sei, um den großen Schlag gegen Englands Importe zu führen 2 ). Bereits bis Ende des Jahres, behauptete Holtzendorff plötzlich, würde der unbeschränkte U-Boot-Krieg angesichts der jetzt schon schwierigen Lage der britischen Wirtschaft und Ernährung „Englands Kriegswillen brechen" können. Bethmann Hollweg, unterstützt von Helfferich und Jagow, widersprach und konnte schließlich soviel erreichen, daß die Entscheidung bis zur weiteren Klärung der militärischen Lage vertagt werden sollte. Das war aber ein fragwürdiger Erfolg. Denn in dem Bedürfnis, die Autorität Hindenburgs für seine Sache auszunützen und im Vertrauen auf gute Zusammenarbeit mit diesem, eben von ihm zur Macht emporgebrachten Volksheros, erklärte er den Admirälen, „daß für die Entscheidung der Frage des U-Boot-Krieges die Einschätzung der militärischen Lage durch die Oberste Heeresleitung wesent-

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lieh, sein müsse" — was Ludendorff sofort so verstand, daß ihm und nicht der politischen Reichsleitung die letzte Entscheidung und Verantwortung in dieser Frage zufallen sollte. Das war um so gefährlicher, als sich sogleich zeigte, daß auch Hindenburg nur scheinbar mit Bethmann und dessen politischen Gehilfen zusammenging. Diese waren voller Zweifel (und Bethmann sprach das auch aus), ob es der Marine jemals gelingen würde, einen so engen „eisernen Ring um England zu legen", daß er nicht durchbrochen werden könnte und der Gegner auf die Knie gezwungen würde. Hindenburg dagegen teilte die Illusion aller U-Boot-Enthusiasten. „Wir würden jubeln", rief er aus, „wenn wir den U-Boot-Krieg sofort beginnen könnten." Er wollte nur noch kurze Zeit (er sprach von 8 bis 14 Tagen!) damit zuwarten. Als daher der Reichskanzler am Schluß erklärte, er wolle den Führern der Reichstagsparteien mitteilen, alle berufenen Instanzen wären nach eingehender Beratung zu dem Schluß gekommen, daß die Entscheidung vertagt werden müsse, und auch der Feldmarschall hätte erklärt, zunächst müsse die Entwicklung des rumänischen Feldzuges abgewartet werden, erhoben die beiden Generäle sofort Einspruch: es dürfe nicht so aussehen, äußerten sie, als wären sie gegen den U-Boot-Krieg. Hindenburg verlangte sogar, der Kanzler solle hinzufügen: er, der Feldmarschall, hätte volle Sympathie dafür — was ihm erst wieder ausgeredet werden mußte. Nach dieser Aussprache durfte Bethmann Hollweg sich sagen, daß in der Frage des U-Boot-Krieges — der unmittelbar wichtigsten seiner Politik! — seine Aufgabe durch den Wechsel der O H L nicht leichter, sondern nur noch schwerer geworden war. Er stand von jetzt an mit seinen Friedensbemühungen unter gewaltigem Zeitdruck. Aber es gibt Zeugnisse dafür, daß zu diesem Zeitpunkt seine eigene Opposition gegen den unbeschränkten U-Boot-Krieg nicht mehr von einer so sicheren Uberzeugung getragen war wie ehedem; nur so läßt sich sein späteres Verhalten ganz erklären. In der (schon erwähnten) Sitzung des Bundesratsausschusses vom 8. August — also unter Ministerkollegen und Gesandten, auf deren Verschwiegenheit und Sympathie er unbedingt vertrauen durfte — war das zum erstenmal deutlich geworden. Er hatte zwar die Möglichkeit, England durch Abschneiden seiner Lebensmittelzufuhren auszuhungern, schon deshalb f ü r ganz gering erklärt, weil ja die Engländer ihre Schiffstransporte durch Convois von Kriegsschiffen ebenso sichern könnten, wie wir das schon längst für unsere Seetransporte nach Schweden und Dänemark täten und wie es für Truppentransporte im Kanal geschähe. (Auch die U n -

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fähigkeit der U-Boote, nachts etwas zu unternehmen, hat er öfters als Grund f ü r seine Skepsis angeführt.) Gleichwohl hatte er gesagt, „die Wiederaufnahme des rücksichtslosen U-Boot-Krieges käme, wenn überhaupt, erst Februar 1917 in Frage" — er schloß sie also nicht völlig aus, sondern wollte nur ihre Erfolgschancen nicht durch vorzeitigen Einsatz der Boote vermindern; auch würden wir durch verfrühtes Losschlagen alle Aussicht „auf Beendigung des Krieges noch im Jahr 1916 verlieren" — freilich eine sehr ungewisse Aussicht 3 ). Noch viel unsicherer zeigte er sich in der Sitzung des preußischen Staatsministeriums am 28. August, unmittelbar nach der Kriegserklärung Rumäniens, die ihn offenbar schwer beunruhigte, auch seine H o f f nung auf einen Separatfrieden mit Rußland stark erschütterte. Man müsse sich fragen, meinte er, ob es jetzt an der Zeit sei, zum rücksichtslosen Unterseebootkrieg überzugehen. Holtzendorff dränge darauf, und vieles spräche dafür, zumal durch das Vorgehen Rumäniens (und früher schon Italiens) der frühere Gegengrund: die Besorgnis vor dem Kriegseintritt dieser Länder nach einem Kriegseintritt Amerikas weggefallen sei. Allerdings sei die Haltung Hollands und Dänemarks in einem solchen Fall noch ungewiß. Dazu bemerkte aber Helfferich, die Zufuhren aus Norwegen, Dänemark und der Schweiz hätten seit Juli ohnedies erheblich nachgelassen. Holland werde von England schwer gedrückt. Mit einem Zurückgehen der Importe aus den Nachbarländern auf den Nullpunkt fiele aber einer der Hauptgründe gegen den rücksichtslosen U-Boot-Krieg weg. Unsere Ernte sei günstig ausgefallen (die katastrophale Fehlernte in Kartoffeln war noch nicht bekannt), die englische schlecht, die amerikanische und kanadische so gering, daß England seine Zufuhren vorwiegend auf dem langen Seeweg aus Argentinien, Indien und Australien beziehen müsse. Trotzdem bleibe fraglich, ob England in sechs Monaten kapitulieren müsse, andererseits auch: ob wir so lange würden aushalten können. Bethmann Hollweg teilte diese Zweifel, stellte aber doch fest, daß die Lage sich seit dem Frühjahr stark verändert habe: die Zahl der großen, der Hochseeflotte zur Verfügung stehenden Tauchboote habe sich von 17 auf 26 vermehrt, und die militärische Lage auf dem Festland sei erheblich schlechter geworden, kein entscheidender Sieg unserer Heere mehr in Aussicht, wie damals bei Verdun. So kam er zu dem Schluß: „Wenn zum rücksichtslosen U-Boot-Krieg übergegangen werden sollte, dürfe kein Tag mehr versäumt werden 4 )" — eine höchst überraschende Äußerung, wenn man die Haltung des Kanzlers auf der (oben erörterten) drei Tage später abgehaltenen großen Konferenz bedenkt. Offensichtlich ist es so gewesen, daß

V o r b e r e i t u n g eines F r i e d e n s a n g e b o t e s A u g u s t - D e z e m b e r 1916

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er (aber auch Helfferich) unter dem Schock der rumänischen Kriegserklärung zunächst den Landkrieg verloren gab, zumal er Österreich-Ungarns baldigen Zusammenbruch befürchten mußte, und daß er dadurch unsicher geworden war, ob nicht doch der U-Boot-Krieg als letztes Rettungsmittel versucht werden müßte. D a s war in Berlin. Zwei Tage darauf, in Pless, konnte er die E r nennung Hindenburgs zum Generalstabschef durchsetzen und hatte mit ihm lange Aussprachen. Diese Unterredungen haben ihn (wir hörten es schon früher 5 )) sehr beglückt: vor allem wohl deshalb, weil der Feldmarschall seine unerschütterliche Ruhe und Zuversicht, auch der rumänischen Gefahr gegenüber, auf ihn ausstrahlte — ohne ihn zu überstürzten Entschlüssen zu drängen. So wird sich der rasche Wandel in der Haltung des Kanzlers wohl erklären lassen. Immerhin hat er auch am 31. August nur für ein Hinausschieben des Entschlusses gekämpft, nicht für eine endgültig negative Entscheidung, und sogar erklärt: „Wenn ich die Überzeugung hätte, daß der U-Boot-Krieg zum erfolgreichen Ende führt, würde ich sofort zustimmen . . . Hier handelt es sich nur darum, die verschiedenen Faktoren, die dafür und dagegen sprechen, darzulegen." Seine Skepsis blieb nach wie vor sehr groß; aber sie war immerhin gemildert — wahrscheinlich auch dadurch, daß die technischen Argumente der Marine jetzt von Holtzendorff und Capelle vorgetragen wurden, zwei Admirälen, die in der Krisis des Frühjahrs auf der Seite des Kanzlers gestanden hatten. Mit 26 statt 17 großen U-Booten ließen sich immerhin fünf Stationen an der Westküste Englands dauernd besetzt halten. Im Laufe des Winters sollte eine ganz stattliche Zahl neuer und wesentlich verbesserter Boote zur Ablieferung kommen. Man rechnete bereits für Februar mit einer Zahl frontbereiter, gegen England bestimmter Boote zwischen 40 und 50, f ü r den Frühsommer mit noch größeren Zahlen 0 ). Daran, daß die Versenkungsziffern nach Aufhebung aller beschränkenden Vorschriften auf monatlich mindestens 6 0 0 0 0 0 Registertonnen steigen würden, was der Admiralstab nach den Erfahrungen der letzten Jahre berechnete, war kaum zu zweifeln und hat auch Bethmann Hollweg nicht gezweifelt. N u r darüber behielt er sich ein eigenes Urteil vor, wie sich diese Verluste politisch auswirken würden. So war ihm eine ganze Reihe seiner früheren Gegenargumente aus der H a n d geschlagen, vor allem das wichtigste: seine Hoffnung, neue militärische Erfolge des Landheeres oder das Ausscheiden wenigstens eines unserer Gegner aus der Kriegsallianz würde auch ohne Eröffnung des schrankenlosen U-BootKrieges ein gutes oder doch leidliches Kriegsende möglich machen. Weil diese

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H o f f n u n g jetzt schwand, auch bei den Generälen, schien nur noch das große Wagnis einen letzten Ausweg zu bieten, aus w a h r h a f t verzweifelter Lage — ein Wagnis, dessen politische Folgen Staatssekretär von Jagow der Konferenz in Pleß drastisch vor Augen stellte: „Deutschland wird als der tolle H u n d angesehen werden, auf den sich alle stürzen, um endlich wieder zum Frieden zu kommen." Bethmann Hollweg mußte also eiligst alles aufbieten, was sich tun ließ, um den Krieg diplomatisch zu Ende zu bringen 7 ). Am 2. September fragte er bei Graf Bernstorff telegraphisch an, ob er eine Friedensvermittlung Wilsons f ü r möglich und erfolgreich hielte, „wenn wir Belgiens bedingte Wiederherstellung zusichern? Andernfalls müßte rücksichtsloser U-Boot-Krieg erwogen werden 8 )". Das war schon eine Art von Notruf, aber er verhallte ins Leere. H ä t t e Bernstorff die Lage in Amerika nicht immer zu optimistisch gesehen 9 ), so hätte er nicht nur berichten müssen, daß Wilson bis zu seiner Neuwahl keinen Schritt zur Friedensvermittlung tun würde, sondern daß seine Umgebung sich ganz entschieden gegen jede Intervention sträubte. „Es soll und darf keinen Kompromißfrieden mit den Deutschen geben", schrieb Lansing damals in einem Memorandum, also auch keinen Vermittlungsversuch. Unternimmt der Präsident ihn doch, so würde ich nicht mitmachen, wenn ich glauben müßte, daß irgend etwas dabei herauskäme. Die wahre Politik Amerikas ist jetzt: „So bald als möglich den Alliierten sich anschließen und die deutschen Autokraten zu Boden werfen!" 1 0 ) Aber Bernstorffs Antwort auf die Berliner Anfrage ließ von solchen Widerständen nichts ahnen. Wilsons Friedensvermittlung, telegraphierte er, sei bis zur Präsidentenwahl „aufgeschoben", werde aber dann sofort eintreten und „noch vor Jahresschluß sehr aussichtsvoll" sein. Vielleicht, deutete er an, würde Wilson schon früher aktiv werden, falls der Kanzler ihn selbst dazu anregen wolle. Das hatte den Erfolg, daß im Auswärtigen Amt am 23. September eine Instruktion für den Botschafter aufgesetzt wurde, die ihn anwies, in vertraulichem Gespräch mit Oberst House dem Präsidenten nahezulegen, daß er jetzt gleich, nicht erst nach seiner Wiederwahl, den Mächten einen „Friedensantrag" zugehen ließe. Dieser sollte aber keine bestimmten Vorschläge territorialer Art enthalten und dürfe auch nicht erkennen lassen, daß er auf deutsche Anregung zurückginge. Unsere Marine, hieß es weiter, verspräche sich von ihren stark vermehrten U-Boot-Kräften angesichts der wirtschaftlichen Lage Englands einen schnellen Erfolg; sie glaube, diesen H a u p t f e i n d durch rücksichtslosen U-Boot-Krieg in wenigen Monaten zum Frieden zwin-

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gen zu können. Eile sei geboten, „da wir sonst andere Entschlüsse zu fassen hätten". Dieser in seinen Formulierungen genau überlegte Entwurf wurde im Großen Hauptquartier so umgestaltet, daß er mehr wie eine Drohung als wie eine höfliche Einladung klang. Die Änderungen nahm Wilhelm II. persönlich vor, aber aufgrund eines von Ludendorff aufgesetzten Gegenentwurfs. Es war das erste Mal, daß die oberste militärische Instanz ganz unmittelbar in das Geschäft der Diplomaten korrigierend eingriff, und der Vorgang zeigte, wie stark der Kaiser jetzt schon unter dem Einfluß des willensstarken Generalquartiermeisters geraten war. Der Kaiser hat sogar selbst eine Mitteilung an den Botschafter Gerard in englischer Sprache aufgesetzt, die den unbeschränkten U-Boot-Krieg noch unverblümter ankündigte, und zeigte sich empört, als Bethmann sie zurückzuhalten bzw. ihre Übergabe zu verzögern versuchte. Das Endergebnis war, daß trotz aller Bemühungen des Auswärtigen Amts um Diskretion das kaiserliche Machwerk schließlich über House in Wilsons Hände gelangte und bei diesem den Eindruck noch verstärkte, daß die deutsche Regierung von ihm eine Friedensaktion durch militärische Drohungen erpressen wolle. Vorher schon hatte Botschafter Gerard der amerikanischen Presse die Neuigkeit zugehen lassen, daß der rücksichtslose U-Boot-Krieg sehr bald losbrechen würde, wenn nicht vorher eine entschiedene Friedensaktion in Gang gebracht würde 11 ). Das erregte große Sensation und einen neuen Sturm antideutscher Stimmungen. Auf Wilson selbst mag es trotzdem anstachelnd gewirkt haben, da er ebenso wie der Reichskanzler dringend wünschte, dem U-Boot-Krieg und dem daraus folgenden kriegerischen Konflikt beider Staaten zu entgehen. Aber zunächst änderte sich nichts an seiner Haltung: bis zur Präsidentenwahl blieb die Friedensaktion liegen. Unterdessen waren Offiziere der Flottenleitung 12 ) im Großen Hauptquartier eifrig bemüht, die Oberste Heeresleitung für einen sofortigen Beginn des unbeschränkten U-Boot-Krieges zu erwärmen, da es als ausgemacht galt, daß jetzt Hindenburg die Entscheidung darüber zustünde. Ludendorff verhielt sich diesmal loyal, indem er es ablehnte, das Urteil über die p o l i t i schen Folgen eines solchen Schrittes von der Marine einfach zu übernehmen und damit die Zuständigkeit des Kanzlers zu mißachten. Es scheint, daß er auch gegenüber den technischen Angaben der Marine zunächst mißtrauisch war. Einige Offiziere seines Stabes, Major Wetzeil, der Chef der Operationsabteilung, und General Groener, Chef der Eisenbahnabteilung, erklärten

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sich sogar entschieden gegen den rücksichtslosen U-Boot-Krieg, teils aus politischen, teils aus technischen Gründen 1 3 ). Immerhin wurde in diesen Gesprächen von der O H L in Aussicht gestellt, daß bei günstiger Entwicklung des rumänischen Feldzuges etwa Mitte Oktober der Zeitpunkt gekommen sein könnte, um den U-Boot-Krieg in Gang zu bringen. Bethmann Hollweg zeigte sich darüber erschreckt und betonte, daß zunächst unbedingt der Erfolg unserer noch unerledigten Friedensaktion in Washington abgewartet werden müsse. Er mobilisierte Helfferich zu seiner Unterstützung und schickte den Gesandten Kühlmann, der eben aus Den H a a g kam, ins H a u p t quartier, wo dieser berichtete, die Holländer könnten im Kriegsfall über eine halbe Million Soldaten auf die Beine bringen 14 ). Aber es zeigte sich, daß Bethmanns Sorge übertrieben war: Hindenburg und Ludendorff schrieben sofort, sie hätten gar nicht die Absicht gehabt, über den Beginn des U-BootKrieges ohne Mitwirkung des Kanzlers zu entscheiden, legten vielmehr auf loyale Zusammenarbeit mit ihm größten Wert und dächten nicht daran, hinter seinem Rücken Sonderpolitik zu treiben und sich überhaupt in politische Verhältnisse zu mischen 15 ). Lediglich die militärische Möglichkeit, den U-Boot-Krieg Mitte Oktober zu beginnen, sei von ihnen erwogen worden. Bald darauf (5. Oktober) brachte Hindenburg aber dann doch die Frage der Kompetenzabgrenzung zwischen Militär und Politik zur Sprache. Sollte die Abrede von Ende August nicht mehr gelten? Der Kanzler habe doch auch Reichstagsmitgliedern gegenüber die Verantwortung der O H L für die Entscheidung der U-Boot-Frage betont! Sei er jetzt anderen Sinnes geworden? Damit schien nun doch ein Kompetenzkonflikt der Obersten Reichsinstanzen im Anzug. Aber die sehr höfliche Sprache des Feldmarschalls ließ schon erkennen, daß diesem einstweilen nichts an einem offenen Machtkampf lag und daß er nur keine Verantwortung vor der Öffentlichkeit tragen wollte f ü r die Vertagung des U-Boot-Krieges, dessen Beginn ja durch die Verhandlungen in Washington auf unbestimmt lange Frist hinausgeschoben wurde. (Ein Vierteljahr später hat er sehr energisch ein maßgebendes Votum in der U-Boot-Frage f ü r sich beansprucht.) Bethmann Hollweg benutzte die Gelegenheit, um seine in Pleß gefallene Äußerung zu begrenzen: das Urteil der militärischen Führung über den U-Boot-Krieg habe natürlich größtes Gewicht, und die Entscheidung des Kaisers darüber sei ein Ausfluß seiner militärischen Kommandogewalt (damit war unversehens der Kaiser an die Stelle der O H L gerückt). Da indessen diese Entscheidung „unmittelbar in unser Verhältnis zu den neutralen Staaten eingreift", stellt sie auch einen „Akt der

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Auswärtigen Politik" dar, f ü r die der Reichskanzler „die alleinige und nicht übertragbare verfassungsmäßige Verantwortung zu tragen hat". Aber auch abgesehen davon wird der Feldmarschall wohl zugeben, daß eine so einschneidende Maßregel wie der rücksichtslose U-Boot-Krieg nicht ohne Beteiligung des Reichskanzlers beschlossen werden kann. Das war eine sehr deutliche Wahrung des politischen Leitungsanspruches in der U-Boot-Frage. Da sie von der O H L ohne Widerspruch hingenommen wurde, durfte Bethmann ihr Einverständnis annehmen. Da auch Holtzendorff den warnungslosen U-Boot-Krieg nicht mit demselben Übereifer wie Admiral Scheer und seine Leute betrieb, blieb dieser weiter aufgeschoben. Doch setzte der Admiralstabschef beim Kaiser durch (und zwar auf Antrag einer Frontkommandostelle!), daß am 15. Oktober der von Admiral Scheer so lange verhinderte Handelskrieg „nach Prisenordnung" mit gewissen Vorsichtsmaßregeln wieder aufgenommen wurde. Er ist bis Ende Januar 1917 durchgeführt worden und erzielte weit größere Versenkungsziffern, als der Chef der Hochseeflotte erwartet hatte: monatlich über 350 000 t 16 ). „Zwischenfälle" mit Verlusten amerikanischer Menschenleben blieben zwar auch jetzt nicht aus, ließen sich jedoch ohne größere politische Konflikte beilegen. Aller weitere Streit um die U-Boot-Frage drehte sich nunmehr darum, ob man den Krieg mit Amerika riskieren sollte, um diese Versenkungsziffer noch weiter zu steigern. Der Admiralstab meinte allerdings, daß vierzehn Tage Schockwirkung im Fall der rücksichtslosen Versenkung aller Schiffe genügen würde, um die Neutralen vom Handel mit England gänzlich abzuschrecken 17 ). Inzwischen sorgten die Reichstagsparteien dafür, daß dem Kanzler die von der O H L stillschweigend anerkannte Vollmacht, gemeinsam mit ihr, aber in eigener politischer Verantwortung über die U-Boot-Frage zu entscheiden, wieder verloren ging. An dieser unglücklichen Entwicklung ist allerdings Bethmann Hollweg selbst nicht ganz unschuldig gewesen. In dem Bedürfnis, die Meute seiner innenpolitischen Gegner und Verleumder mit einem Ruck von sich abzuschütteln, gebrauchte er in seiner Reichstagsrede vom 28. September sehr starke Worte gegen England: „Ein deutscher Staatsmann, der sich scheute, gegen diesen Feind jedes taugliche, den Krieg wirklich abkürzende Kampfmittel zu gebrauchen, ein solcher Staatsmann verdiente gehängt zu werden." Das verstimmte — wie der Gesamtton seiner Rede — seinen sozialdemokratischen Anhang; es erweckte aber bei allen Parteien den Eindruck, der Wider-

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stand des Kanzlers gegen den U-Boot-Krieg sei nicht mehr so entschieden wie früher. Dieser Eindruck verstärkte sich noch in den anschließenden geheimen Verhandlungen des Haushaltausschusses vom 29. September bis 10. Oktober, in deren Mittelpunkt die U-Boot-Frage stand. Staatssekretär Capelle versicherte dort (im Gegensatz zu seinen Erklärungen im März), die Zahl der U-Boote und das ausgebildete Personal reiche nunmehr vollkommen zur Durchführung eines rücksichtslosen U-Boot-Krieges für mehrere Monate aus. Er verstieg sich dabei zu der kühnen Behauptung, die militärische Bedeutung einer Kriegsteilnahme Amerikas sei „gleich null"! Der Kanzler erklärte zwar nach wie vor die Frage noch offen, ob und wann der unbeschränkte U-Boot-Krieg einsetzen könne. Aber er lehnte sehr entschieden ab, ein grundsätzlicher Gegner dieser radikalen Kriegsform zu sein. „Wenn er auch nur um einen Tag uns dem Frieden nähert, wird er gemacht." Jede Entscheidung in dieser Frage könne nur „pro tempore" nach Gesichtspunkten reiner Zweckmäßigkeit getroffen werden. Den eigentlichen Kampf gegen die U-Boot-Enthusiasten überließ er Helfferich, dem jugendlichsten und fähigsten seiner Mitarbeiter. Aber auch Helfferich zeigte eine veränderte Haltung. Abermals bot er ein großes (und sehr einleuchtendes) statistisches Zahlenmaterial auf, um damit zu beweisen, daß keinerlei Sicherheit bestünde, durch rücksichtslose U-BootBlockade England in absehbarer Zeit friedenswillig zu machen. Aber er gab ebenso wie der Reichskanzler zu, daß die Lage f ü r eine solche Blockade im Vergleich zum Frühjahr wesentlich günstiger geworden wäre. Er wollte auch seine Ausführungen durchaus nicht als „Plädoyer" gegen den U-Boot-Krieg verstanden wissen. Für ihn gäbe es, sagte er, in dieser Frage kein „Niemals". „Wenn wir mit gutem Gewissen den U-Boot-Krieg machen können, müssen wir ihn machen und dürfen wir keinen Tag länger warten." Warum diese weitgehenden Konzessionen an die U-Boot-Enthusiasten, die bei den Abgeordneten der Linken große Verwirrung stifteten 18 )? Stand der Kanzler unter dem Druck der Kundgebungen und Eingaben f ü r den U-BootKrieg, die eben damals von den großen Wirtschaftsverbänden und der Hamburger Kaufmannschaft beim Kaiser und der Reichsleitung einliefen 19 ), oder wollte er so lange als möglich die Fortdauer seines immer noch guten Verhältnisses zur O H L sichern? Viel wahrscheinlicher ist die Erklärung, daß er die offensichtlich rapide zunehmende Hoffnungslosigkeit der Volksvertreter beschwichtigen wollte. Von allen Seiten, auch von den Vertretern der Rechtsparteien, wurde ein überaus düsteres Bild der militärischen

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und politischen Situation entworfen. Noch immer tobte — nun schon seit Monaten! — die Sommeschlacht und bewies die gewaltige Überlegenheit des Kriegsmaterials unserer Gegner. D i e innere Vermorsdiung des österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaates und der Zerfall seiner Front stand vor aller Augen. Der rumänische Feldzug war erst im Anlaufen, sein Ausgang noch ungewiß. Vor allem die rapide anwachsenden Schwierigkeiten der Ernährung und Versorgung der Bevölkerung mit dem täglichen Lebensbedarf weckten düstere Sorgen; von allen Seiten kamen Klagen über wachsende Unruhe, Verbitterung, Kriegsmüdigkeit der Massen. Im Gegensatz zu den scheinbar siegesfreudigen Reden im Plenum des Reichstages herrschte in den Geheimsitzungen der Ausschüsse ein so düsterer Pessimismus, daß Bethmann Hollweg eine kleine G r u p p e von Parteiführern zu streng vertraulichen Besprechungen zusammenholte, um ihnen durch genaue zahlenmäßige Angaben über die militärischen Stärkeverhältnisse und die K a p a z i tät der Wirtschaft wieder Mut zu machen. Sehr entschieden weigerte er sich, „Desperadopolitik" zu treiben und den U-Boot-Krieg als einen A k t der „Desperadopolitik" ins Werk zu setzen. Aber mehr als die Hoffnung, wir würden den Krieg „durchhalten" können, d. h. die Front nicht durchbrechen lassen, konnte auch er nicht wecken. Durch Siege des Landheeres ließ sich der Gegner, jedenfalls der im Westen, offenbar nicht mehr zum Frieden bringen. Angesichts dieser Lage waren die Sozialdemokraten und die Mehrzahl der Demokraten (Fortschrittspartei), diese allerdings nicht ohne Schwankungen 2 0 ), bereit, sich mit dem „Durchhalten" abzufinden in der Hoffnung, daß auch unsere Gegner schließlich ermatten, die Aussichtslosigkeit ihrer Anstrengungen einsehen und sich zu Verhandlungen bereit finden würden. Den Vertretern der Rechtsparteien, die auch für ihre Annexionsziele fürchteten, genügte das nicht. „ D i e Zeit arbeitet für die Gegner", erklärte der Nationalliberale Stresemann. Sie verlangten also den sofortigen Einsatz des rücksichtslosen U-Boot-Krieges. Dieser Forderung ließ sich mit einer radikalen Ablehnung des gewagten Experimentes schwer begegnen, ohne in den Ruf des Verräters an der Nation zu geraten. Bethmann Hollweg suchte sich dagegen zu schützen, indem er von Verschiebung, nicht von Preisgabe des U-Boot-Krieges sprach, zugleich aber immer wieder sich auf die „militärische Notwendigkeit" des Abwartens berief, das kein Geringerer als Hindenburg fordere; er befinde sich in vollkommener Übereinstimmung mit der Obersten Heeresleitung 2 1 ). D a m i t hat er selbst das Stichwort für eine Entwicklung der Debatte ge-

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liefert, die f ü r ihn verhängnisvoll wurde. Im März hatte er vor allem deshalb eine Mehrheit im Reichstag für seine Ablehnung des U-Boot-Krieges hinter sich bringen können, weil das Zentrum unter Führung Erzbergers an seine Seite trat. Erzberger hat auch diesmal seine Politik zu stützen gesucht (u. a. f ü r einen Sonderfrieden mit Belgien gesprochen). Aber er wurde überspielt von dem Abgeordneten Gröber, der den rechten, nationalistischen Flügel der Partei anführte. Gröber brachte eine Resolution ein, auf die er den ganzen Ausschuß zu einigen hoffte — in dem begreiflichen Bedürfns, den immer unversöhnlicher werdenden Gegensatz zwischen rechts und links noch einmal zu überbrücken und damit den zu Bruch gehenden „nationalen Burgfrieden" zu retten. Einig war man sich nur (bis auf geringe Ausnahmen) in dem grenzenlosen Vertrauen auf den Volksheros Hindenburg; sollte es also nicht möglich sein, den ganzen Ausschuß dahin zu bewegen, dieses Vertrauen auch in der U-Boot-Frage zu bekräftigen? Gröbers Resolution lief in ihrer ersten, am 6. Oktober eingebrachten Fassung darauf hinaus, eine „gutachtliche Äußerung" der Obersten Heeresleitung zu erbitten und zu verschern: „Wird die Oberste Heeresleitung sich für den rücksichtslosen U-BootKrieg aussprechen, so hat der Reichstag keinen Grund, sein Einverständnis zu versagen." Das hieß also: Hindenburg sollte durch ein zustimmendes Votum des Reichstages ermutigt werden, sich für den unbeschränkten U-BootKrieg auszusprechen — aber nur gutachtlich! Denn der erste Satz der Resolution besagte: „Der Reichskanzler allein ist dem Reichstag für die politische Entscheidung der Frage des rücksichtslosen U-Boot-Krieges verantwortlich." Staatsrechtliche Bedenken scheinen dann eine nachträgliche Änderung des Entwurfs bewirkt zu haben; in der Tat fiel eine so unmittelbare Verbindung des Parlaments mit den militärischen Instanzen und die Bestätigung eines militärischen Gutachtens durch den Reichstag über den Kopf des Reichskanzlers hinweg aus dem Rahmen der verfassungsrechtlichen Traditionen heraus. Was aber nun am 7. Oktober an die Stelle des ersten Entwurfs gesetzt wurde, war ein sehr unglückliches Kompromiß: „Für die politische Entscheidung über die Kriegführung ist dem Reichstag gegenüber der Reichskanzler allein verantwortlich. Die Entscheidung des Reichskanzlers wird sich dabei wesentlich auf die Entschließung der Obersten Heeresleitung zu stützen haben. Fällt die Entscheidung für die Führung des rücksichtslosen Unterseebootkrieges aus, so darf der Reichskanzler des Einverständnisses des Reichstages sicher sein." Was geschehen würde, wenn er die gegenteilige Entscheidung traf, war nicht gesagt; aber das Ganze ließ sich praktisch nur

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so verstehen, daß er dann auf die Opposition des Reichstages rechnen mußte — jedenfalls derjenigen Abgeordneten, die der Resolution zugestimmt hatten. Er wurde also in der wichtigsten Frage seiner Kriegspolitik nicht nur an das Votum der O H L gebunden, sondern praktisch schon jetzt auf eine positive Entscheidung für den rücksichtslosen U-Boot-Krieg verpflichtet. Der Abgeordnete Gröber hat allerdings eine Annahme seiner Resolution nur innerhalb seiner Fraktion erreicht (auch Erzberger hat sich einverstanden erklärt); im Reichstagsplenum wurde sie nur verlesen, da Fortschrittspartei und Sozialdemokraten widersprachen. Aber ohne das Zentrum konnte Bethmann Hollweg keine Mehrheit hinter sich bringen, und so bedeutete die Entschließung dieser Partei für ihn nichts Geringeres als seine politische Entmachtung gegenüber der Heeresleitung. Zentrumspolitiker haben später energisch bestritten, daß dies die Absicht gewesen sei: man habe nur den zaudernden Kanzler beruhigen wollen für den Fall, daß er sich etwa f ü r den U-Boot-Krieg entschließen sollte. Daran ist nur so viel richtig, daß die Reichstagsabgeordneten damals keinen Zwiespalt, sondern volle Einigkeit zwischen Kanzler und Oberster Heeresleitung vor Augen sahen, daß sie also von der politischen Gefährlichkeit und Tragweite ihrer Resolution im Fall eines Konfliktes der beiden Instanzen wohl keine klare Vorstellung hatten. Die verhängnisvolle Konsequenz des Beschlusses ist aber nicht zu bestreiten 22 ). Sofern der Kanzler es wagen sollte, gegen die Meinung der O H L den unbeschränkten U-Boot-Krieg zu verweigern oder noch weiter hinauszuschieben, konnte er nur noch auf die Unterstützung der Fortschrittspartei und der Gefolgsleute Scheidemann-Davids rechnen — und nicht einmal das war unbedingt sicher. Kronprinz Wilhelm scheint diese Situation sofort erfaßt zu haben (oder sein Berater Maitzahn hat sie ihm deutlich gemacht). Er schrieb seinem Vater einen Brief, in dem er ihm riet, diesen Kanzler sofort zu entlassen, der sich ja nur „auf Juden und amerika-hörige (?) Sozialdemokraten" stütze: „Schmeiß doch den Kerl raus 2 3 )!" Was viele Politiker, auch solche der Linken, nach den Ausschußverhandlungen am schwersten bedrückte, war das Gefühl hilfloser Passivität einem kriegerischen Geschehen gegenüber, das wachsend größere O p f e r erforderte, ohne doch jemals zu einer klaren Entscheidung zu führen und angesichts einer wirtschaftlichen und innenpolitischen Lage bei uns und unseren Verbündeten, die von Monat zu Monat schlimmer zu werden drohte. Wenn der unbeschränkte U-Boot-Krieg nicht zustande kam oder ein gewagtes Abenteuer mit höchst ungewissen Erfolgschancen blieb, was ließ sich dann tun,

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um dem Frieden wenigstens einen Schritt näher zu kommen? Aus dem Gef ü h l dieser Bedrängnis heraus schrieb der demokratische Abgeordnete Conrad Haussmann dem Kanzler am 25. Oktober einen Brief, in dem er ihm dringend riet, dem Gegner ganz offen Friedensverhandlungen vorzuschlagen — nicht in einer Parlamentsrede oder in einem Zeitungsinterview, sondern auf diplomatischem Weg. Er möge den Vorwurf des „Schwächesymptoms" nicht scheuen. Würde Asquith heute einen solchen Schritt tun, so würden ihn Mit- und Nachwelt für einen Staatsmann erklären. Lehnten unsere Gegner es ab, „dann hat Deutschland Recht und Pflicht, von seinem Volk den Hunger, von seinem Heer die höchsten Anstrengungen und von den Okkupierten notgedrungen neue O p f e r zu verlangen". Denn jeder Zweifel an der Friedensmöglichkeit, „die jetzt allen vorgaukelt", sei dann beseitigt 24 ). Haussmann wußte nicht, als er das niederschrieb, daß genau derselbe Plan schon Gegenstand diplomatischer Verhandlungen zwischen Berlin und Wien geworden war und daß Bethmann Hollweg aus eben denselben Erwägungen heraus ihn mit höchstem Eifer betrieb. Einen gewissen Antrieb dazu hatten auch Nachrichten gegeben, die Anfang Oktober aus England an das Auswärtige Amt gelangt waren: das berühmte Knock-out-Interview Lloyd Georges vom 28. September habe in liberalen Kreisen heftigen Widerspruch geweckt. Andere Nachrichten besagten, ein faires Friedensangebot Deutschlands würde die englische Politik gerade jetzt in große Verlegenheit bringen. Auch die Rede Greys vom 23. Oktober wurde in der Umgebung Bethmanns (vor allem von Riezler) als Symptom eines gewissen „Einlenkens" aufgefaßt, weil sie im Ton weniger heftig war als früher. Der Kanzler nahm sie so wichtig, daß er eigens eine Sitzung des Reichstagshauptausschusses einberief, um öffentlich darauf zu antworten (8. November). Er wies die Kriegsschuldthese Greys in scharfer Polemik zurück, betonte aber erneut den reinen Defensivcharakter des Krieges und erklärte Deutschlands Bereitschaft, an einer internationalen Organisation zur dauernden Sicherung des Friedens mitzuarbeiten. Das Wichtigste war seine Versicherung, er habe niemals die Annexion Belgiens als deutsches Kriegsziel aufgestellt. Das schloß noch immer nicht alle Zweifel über unsere Absichten aus, war aber wohl das Äußerste, was er öffentlich sagen konnte, um dem Ausland seine Bereitschaft zur Verständigung auch über die belgische Frage bekanntzugeben; er stieß deshalb auch auf energischen Widerspruch der Rechtspresse 25 ). Aber bei oratorischen Äußerungen sollte es nach seiner Meinung nicht

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bleiben, auch nicht beim Warten auf eine Friedensaktion des amerikanischen Präsidenten, die sich enttäuschend lange hinzog, trotz aller zeitweise optimistischen Meldungen Bernstorffs 26 ). Die beiden Mittelmächte mußten schon einen eigenen diplomatischen Schritt wagen, wenn ein internationales Friedensgespräch bald Zustandekommen sollte. Das war auch die Meinung Baron Burians, die er am Schluß der schon früher erörterten Aussprache vom 18. Oktober über die Polenfrage 27 ) dem Kanzler vortrug. Dieser zeigte größtes Interesse f ü r diese Anregung. Sie entsprach politischen Erwägungen, mit denen er sich schon seit dem Sommer 1915 getragen hatte. Bisher hatte er aber seine Friedensbereitschaft immer nur in Reichstagsreden öffentlich kundgetan, aus Sorge, ein förmliches Friedensangebot auf diplomatischem Wege würde als Symptom der Schwäche aufgefaßt werden und damit den Kriegswillen unserer Gegner erst recht stärken. Jetzt war f ü r solche Bedenken kein Platz mehr und keine Zeit zu verlieren: alles kam darauf an (meinte der Kanzler), die Friedensgespräche in Gang zu bringen, ehe ein neuer dritter Kriegswinter begonnen hätte, vor dem doch in der ganzen Welt die Völker sich fürchteten. Schon eine Woche nach dem Gespräch mit Buriän entschloß er sich, dessen Anregung zu folgen 28 ), holte die Zustimmung des Kaisers ein und begab sich am 26. Oktober nach Pless, um das Einverständnis der O H L zu gewinnen. Das scheint ihm ohne größere Schwierigkeiten gelungen zu sein: die beiden Generäle waren bereit, sich mit der kaiserlichen Entscheidung abzufinden, obwohl Ludendorff sofort erklärte, England würde sich niemals durch diplomatische Mittel zum Frieden bringen lassen. Aber vielleicht war gerade das der geheime Grund für seine Zustimmung. Jedenfalls widersprach er nicht der Darlegung des Kanzlers, die Kundgebung unseres Friedenswillens könne die Pazifisten im feindlichen Ausland in Bewegung bringen und eine Ablehnung unseres Angebots die deutsche Kampfmoral stärken. Im österreichischen A O K hat man bald darauf (aufgrund von Gesprächen im deutschen Hauptquartier) noch ein weiteres Motiv vermutet: Ludendorff habe darauf spekuliert, daß alle Widerstände gegen den unbeschränkten U-BootKrieg in dem Augenblick zu Boden fallen würden, in dem die Aussichtslosigkeit der Friedensbemühungen des Kanzlers vor aller Welt demonstriert wäre. Bis dahin zu warten wäre unbedenklich, da erst nach der Niederwerfung Rumäniens Truppen zur Sicherung der dänischen und holländischen Grenze frei würden 2 9 ). Das klingt nicht unwahrscheinlich. Die O H L machte aber ihre Zustimmung davon abhängig, daß der äußere

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Eindruck eines deutschen Schwächeanfalls unbedingt vermieden werden müßte, sowohl in der Formulierung des Angebots wie dadurch, daß zuerst die Polenproklamation erfolgte und die Einführung eines allgemeinen, zwangsweisen Hilfsdienstes für Kriegszwecke vom Reichstag beschlossen und verkündigt wurde. Beides betrachtete Ludendorff als eindrucksvolle Kundgebung deutschen Selbstvertrauens und unverminderter Kampfentschlossenheit. Da die politischen Instanzen — auch in Wien — eine solche Voranstellung aus guten Gründen unzweckmäßig fanden, gab es darüber noch ein längeres Hin und Her, in dem die O H L schließlich doch ihren Willen durchsetzte — zum Schaden der Sache. Noch am späten Abend des Tages, an dem der Kanzler aus dem Großen Hauptquartier nach Berlin zurückgekehrt war (27. Oktober), legte er seinen Plan dem preußischen Staatsministerium dar. Sein stärkstes Argument für das Friedensangebot war hier, wie fortan immer: „die Regierung dürfe nicht ratlos dasitzen", während der Krieg ohne Aussicht auf durchschlagende deutsche Erfolge weiterginge. Sie müsse etwas tun, um den Frieden näherzubringen. Sie sollte aber auch die Neutralen durch ein faires Friedensangebot überzeugen, daß wir nicht die maßlosen, wilden Barbaren wären, als die uns die feindliche Propaganda hinstelle. Welche Friedensbedingungen ihm als Unterlage der Verhandlungen vorschwebten, wollte er (aus noch zu erörternden Gründen) im Angebot selbst nicht bekanntgeben. Auf Befragen des Vizepräsidenten Breitenbach zählte er sie dann aber doch den Ministern auf — in einer Liste, die f ü r uns deshalb von höchstem Interesse ist, weil sie, in vertrautem Kreise und zu streng vertraulicher Behandlung mitgeteilt, sicherlich die letzten Absichten Bethmann Hollwegs getreuer wiedergibt als alle späteren, über die er mit der O H L und Burian zu verhandeln hatte. Für Frankreich schlug er vor: Austausch eines Teiles des Beckens von Briey gegen einzelne Gemeinden von Lothringen und Elsaß 30 ) und Verständigung über die Kolonien — also nicht mehr Annexion des ganzen lothringischen Erzbeckens wie ehedem, Verhandlungen auch über die Z u k u n f t der Reichslande. Belgien sollte wieder hergestellt werden, aber Lüttich abtreten (dessen Besitz der Kriegsminister Wild in der Diskussion für militärisch bedeutungslos erklärte) und wirtschaftliche Abmachungen treffen, „welche uns vor Boykottierung schützen" (offenbar im Hinblick auf die berüchtigte Pariser Wirtschaftskonferenz des Frühjahrs 1916). „Das Festhalten der flandrischen Küste halte er nicht für erreichbar." Das war eine gewaltige Reduzierung des „Septemberprogramms" von 1914, aber auch ein weitgehender

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Verzicht auf die vielberufenen „Sicherheiten und Garantien" der letzten Jahre. Auch von Verwaltungsteilung zwischen Vlamen und Wallonen war hier nicht mehr die Rede. Rußland sollte „einen Teil von Kurland und Litauen" abtreten und die Selbständigkeit Polens anerkennen. Von den Kolonien war der Kanzler bereit, Kioutschou und die Südseeinseln aufzugeben, wollte aber nach wie vor die „Bildung eines kompakten Kolonialreiches in Afrika anstreben". Schließlich wünschte er noch Kriegsentschädigungen, aber nicht unbedingt in bar, sondern ersatzweise durch wirtschaftliche Konzessionen und Handelsverträge mit den Hauptmächten. Das war, wie man sieht, ein Programm äußerster Mäßigung. Es bleibt in seinen Forderungen sogar noch etwas zurück hinter den — freilich viel unbestimmter formulierten — Bedingungen, die der Kanzler Ende Januar 1917 dem Präsidenten Wilson vertraulich hat mitteilen lassen. Im Westen kommt es der einfachen Wiederherstellung des status quo sehr nahe 31 ). Im Vergleich mit den enormen Eroberungszielen, über die man eben damals in Paris, London, Petersburg und Rom verhandelte (wir kennen sie schon) und die man sich dort gegenseitig zusicherte, erscheint diese deutsche Wunschliste nicht nur bescheiden, sondern beinahe als Totalverzicht. Ein solcher Friede, sagte Bethmann, würde zwar „mager" sein, ihm selbst aber keine große Enttäuschung bringen, denn er habe sich immer gesagt: „Wenn wir der Welt gezeigt hätten, daß wir nicht zu besiegen seien, daß unsere Entwicklungsfähigkeit nicht gehemmt werden könnte, wenn wir das 1870 Erreichte erfolgreich verteidigt hätten, dann müßten wir Gott dankbar sein." Es ist sehr bemerkenswert, daß er mit dieser Auffassung im Ministerium mehr Zustimmung als Widerspruch fand, wenn auch der Verzicht auf Belgien die meisten enttäuschte und die Skepsis über die Aussichten eines Friedensangebots allgemein überwog 32 ). Drei Tage später legte der Reichskanzler seinen Plan auch dem „diplomatischen" Bundesratsausschuß vor, der dazu auf seinen ausdrücklichen Wunsch zusammenberufen wurde (30.—31. Oktober). Hier entwickelte er ein ähnliches Kriegszielprogramm, ließ aber an fast allen Punkten offen, ob das von uns Gewünschte (wie etwa Briey) erreichbar sein würde. Uber Kolonialfragen zu sprechen, sei noch zu früh; er begnüge sich mit dem altbekannten, allgemeinen Wunsch: „Nicht Verzettelung, sondern großes afrikanisches Zentralreich". Auf Kriegsentschädigungen wollte er sich nicht festlegen lassen, am wenigsten auf Barzahlung. Unsere Kosten würden sich doch niemals damit decken lassen, zumal wir die einkommende Summe mit

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unseren Verbündeten teilen müßten. Er selbst habe nie viel erwartet. „Wenn wir diese Ubermacht bestehen und verhandlungsfähig herauskommen, so haben wir gewonnen 33 )." Audi auf Fixierung irgendwelcher Bedingungen als Minimalforderungen (conditio sine qua non) ließ er sich nicht ein. Es ist zweifelhaft, meinte er, ob wir mit Mindestforderungen überhaupt zu Friedensverhandlungen gelangen. Außerdem ist kaum festzustellen, was militärisch wirklich als unentbehrlich anzusehen ist. „Erstrebenswertes Ziel im Osten sei z. B. auch Kurland und die Dünaburglinie, conditio sine qua non könnten aber doch sehr verschiedene Mittellinien sein", z. B. bloß ein Teil von Kurland. In Belgien hätte Falkenhayn auf Lüttich keinen Wert gelegt, aber die Küste als notwendig angesehen, die jedoch nicht zu haben sei. H i n denburg dagegen halte an Lüttich als Minimalforderung fest. Uber Beifort hätten sich Falkenhayn und Hindenburg ebenfalls sehr verschieden ausgesprochen. Als ihn (ähnlich wie drei Tage vorher die preußischen Minister) einzelne Bundesratsmitglieder wegen Belgien bedrängten, bemerkte der Kanzler, „er werde natürlich so viele Sicherheiten als möglich dagegen erstreben, daß Belgien ein friedliches Bollwerk bleibe; wie weit das aber möglich sei, müßten die Verhandlungen ergeben. Die Militärs wollten Schleifung der Festungen, was vielleicht erreichbar sei, auch ein Wegerecht, das den Durchgang im Fall eines Krieges garantiere. In wirtschaftlicher Hinsicht käme Sicherheit f ü r unseren Handel, insbesondere in Antwerpen, in Frage, auch Einfluß auf das belgische Eisenbahnsystem, etwa durch Bildung einer Eisenbahngesellschaft mit überwiegend deutschem Kapital". Man sieht: das waren ziemlich genau dieselben Bedingungen, über die im Januar 1916 Graf Törring mit dem Abgesandten König Alberts hatte verhandeln sollen und die er teilweise schon mit ihm vereinbart hatte. N u r war jetzt einiges davon abgestrichen, und Bethmann fügte sogleich (weitere Einwände abwehrend) hinzu: „Im allgemeinen müsse er befürchten, daß die Kriegslage nicht so beschaffen sei und sein werde, daß eine sehr weitgehende Abhängigmachung Belgiens ins Auge gefaßt werden könne." Nach alledem steht eindeutig fest, daß Bethmann Hollweg zu diesem Zeitpunkt sein „Septemberprogramm" von 1914 nicht nur revidiert, sondern fast völlig aufgegeben hatte. Von Niederhaltung Frankreichs f ü r einen gewissen Zeitraum war überhaupt nicht mehr die Rede, im Gegenteil: gerade diesem Gegner wollte er mit betonter Vorsicht gegenübertreten, da er hoffte, mit ihm noch am ehesten zu einer Verständigung zu kommen 34 ). Von den „Garantien und Sicherheiten", die Belgien leisten müsse, war nur ein ziem-

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lieh bescheidener Rest übrig geblieben, über den er sich mit König Albert I. zu verständigen hoffte, und gerade im Blick auf die belgische Frage hat er im Bundesratsausschuß ausdrücklich ausgesprochen: „Die weitgespannten H o f f n u n g e n , die man in dieser Hinsicht im Jahre 1914/15 gehabt habe, seien nicht wohl erfüllbar; der Krieg sei eben leider nicht so verlaufen." Er hat aber auch im Dezember 1916 im Gespräch mit Graf Westarp sich entschieden geweigert, die Zukunft Belgiens unter dem Gesichtspunkt eines ewig fortdauernden Kampfes mit England zu betrachten, an dessen unversöhnliche, auf Vernichtung zielende Feindschaft er so wenig glauben wollte wie an die unverminderte Fortdauer kriegerischer Spannungen im Nachkriegseuropa überhaupt 3 5 ). Selbstverständlich hat er auch eine von Deutschland beherrschte kontinentale Wirtschaftsgemeinschaft längst aufgegeben. N u r im Osten h o f f t er auf größere Erwerbungen zur „Grenzverbesserung" f ü r Ostpreußen. Ihr U m f a n g liegt indessen noch nicht fest; nur daß der Kanzler zwischen „Erstrebenswertem" und wirklich Notwendigem streng unterscheiden möchte. Die Bundesratsmitglieder ließen sich, ähnlich wie die preußischen Minister, von der Notwendigkeit der geplanten Friedensaktion überzeugen, erhoben aber ernste Bedenken gegen die Vorwegnahme der Polenproklamation und mehr noch gegen die Absicht, das Friedensangebot ohne Mitteilung konkreter Friedensbedingungen hinausgehen zu lassen. Ohne Frage war das der schwächste Punkt des ganzen Programmes, über den es auch von Anfang an mit der Wiener Politik (wie noch zu zeigen sein wird) Differenzen gegeben hat. H o f f t e Bethmann Hollweg wirklich, wie er sagte, „in der ganzen Welt eine Empörung gegen alle Kriegspolitik auszulösen", so mußte er ihr schon ganz konkrete, bei gutem Willen f ü r alle Seiten tragbare Friedensmöglichkeiten vor Augen stellen. Es genügte dann nicht, wie er es plante, noch einmal in allgemeinen Wendungen vom „Defensivcharakter" des Krieges zu sprechen und „Wahrung der Ehre, des Daseins und einer gesicherten Z u k u n f t " Deutschlands als deutsches Kriegsziel zu nennen. N u n wissen wir freilich schon, was den feindlichen Regierungen als Friedensprogramm vorschwebte und daß es mit dem Bethmanns völlig unvereinbar war. Auch die größte Mäßigung auf deutscher Seite hätte den Regierungshäuptern der Entente bei weitem nicht genügt. Sie wollten nicht Mäßigung, sondern Kapitulation, nicht über Bedingungen verhandeln, sondern sie diktieren. Das hatte schon Lerchenfeld ganz richtig gesehen. Es gab schlechterdings keine Verständigungsmöglichkeit zwischen den Regierungen. Eine ganz andere

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Frage war, ob sich durch ein deutsches Friedensangebot eine starke Friedensbewegung in den feindlichen Völkern in Gang bringen ließ. Einen klugen Rat hierfür ließ der päpstliche Diplomat Monsignore Marchetti damals der deutschen Diplomatie zukommen: die Mittelmächte sollten auf der Höhe ihres Sieges über Rumänien (der im Rahmen der Entente tief deprimierend wirkte) „die generelle Erklärung abgeben, daß sie prinzipiell bereit seien, den status quo in Belgien und Frankreich wiederherzustellen und Serbien seine staatliche Unabhängigkeit wiederzugeben" — und das alles, ohne vor Beginn der Verhandlungen schon von irgendwelchen Garantien oder Gebietsveränderungen zu sprechen; dies zu tun, sei dann später Sache der Verhandlungsführer. Ein solches Vorgehen würde bei allen Neutralen, aber auch in den feindlichen Bevölkerungen allerstärksten Eindruck machen 36 ). Ein kluger Rat, aber ohne jede Aussicht auf Erfolg — was man wohl ein Verhängnis nennen muß. Bethmann Hollweg hätte den Vorschlag Marchettis weder im Großen Hauptquartier noch in Wien und Sofia durchsetzen können, obwohl Deutschland die Wiederherstellung Serbiens ebenso wünschte wie Österreich-Ungarn einen Verzicht Deutschlands auf französisches Gebiet und eine volle Restauration Belgiens. Aber das Friedensangebot war ja nicht bloß als moralische Geste gedacht, um die Sympathien der Friedenswilligen in aller Welt auf unsere Seite zu bringen. Es sollte zu ernsthaften Verhandlungen führen. Wenn wir nun schon vor deren Beginn so große, entscheidende Konzessionen machten, war mit Sicherheit vorauszusehen, daß dies im Lager unserer Gegner nicht als Großmut oder als Auswirkung echter Friedensliebe betrachtet, sondern sofort als Symptom eines moralischen Zusammenbruchs infolge innerer Schwäche ausgelegt würde. Im eigenen Lager aber würden nicht nur die Nationalisten über feige Preisgabe unserer größten militärischen Errungenschaften schreien, sondern auch bei den Gemäßigten schwere Bedenken darüber aufsteigen, daß ein vorweggenommener, freiwilliger Verzicht auf unsere wichtigsten „Faustpfänder", ohne jede Gegengabe, unsere „taktische Position" in den Friedensverhandlungen unerträglich erschweren müßte. Solche Bedenken waren auch bei Bethmann selbst lebendig, und Burian hat ihm darin zugestimmt 37 ). Beide weigerten sich also, gerade das zu tun, was die Gegenseite (wie sich bald zeigen sollte) als die erste Voraussetzung f ü r den Beginn jeder Verhandlung betrachtete. Beide waren auch nicht frei in ihren Entschließungen, der deutsche Kanzler noch weniger als der österreichische Minister. Es ging ihnen darin nicht anders als den Briand, Asquith, Protopopow und ihren Nachfolgern: sie alle waren

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Gefangene der tief aufgeregten „öffentlichen Meinung" und der nationalistischen Leidenschaften ihrer Nationen. N u r daß die anderen gar nicht erst den Versuch machten, wie der deutsche Reichskanzler, alle Kriegführenden an einen Tisch zu bringen. Wie eng die Regierungen der Entente durch Verträge über Annexionsziele und den gemeinsamen Friedensschluß aneinander gebunden waren, haben wir schon gesehen. Sie haben immer in Sorge geschwebt, dieser enge Zusammenhalt könnte verlorengehen und betrachteten jede Erklärung des Reichskanzlers, Deutschland wäre zu einem billigen Frieden bereit, als Spaltungsversuch. Eine so enge Bindung bestand zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn nicht. Aber alle unsere Verbündeten waren noch weit entfernt von politischer Resignation: ihr ganzes Vertrauen auf den starken deutschen Bundesgenossen (und damit ihre Bündnistreue) hing davon ab, daß er sich bereit zeigte zu ihrer Unterstützung bei der Behauptung gewonnener, der Rückgewinnung verlorener Gebiete und möglichst auch bei dem Erwerb neuer. Die sichere Erwartung, daß unsere Verbündeten eine schier uferlose Liste von Kriegszielen vorlegen und bei der Komplikation der Verhältnisse auf dem Balkan sehr schwer zu einer Einigung zu bringen sein würden, war einer der Gründe (und nicht der letzte), weshalb Bethmann Hollweg sich weigerte, seine Aktion mit der Bekanntgabe konkreter Friedensbedingungen zu beginnen. „Dazu würde in diesem Koalitionskrieg ein dickes Buch erforderlich sein", meinte er sarkastisch im preußischen Staatsministerium und nahm damit nur eine Erfahrung vorweg, die Deutschland seinerseits später in Versailles gemacht hat. Im Bundesratsausschuß gab er noch eine andere Begründung: jede Kriegszielliste würde für unsere Gegner ein Maximum, für unsere Völker aber ein Minimum bedeuten. „Das ist die Quadratur des Kreises." „Nennen wir den anderen ein hohes Maximum (wie es der öffentlichen Meinung und den Forderungen der O H L entspricht), so lehnen sie ab. Fordern wir wenig, so handeln sie uns noch weiter herunter." In der Tat war dies das entscheidende Hindernis: Bethmann Hollweg konnte keine Liste von Friedensbedingungen aufstellen, die nicht in Deutschland als schwächlicher Verzicht, im feindlichen Ausland dagegen als Dokument deutscher Anmaßung und militaristischen Übermutes verketzert worden wäre, also Verhandlungen unmöglich machte. Trotz ungeheurer Blutverluste und wirtschaftlicher Nöte der Völker war der Machtwille und Selbstbehauptungsdrang auf fast allen Seiten noch viel zu stark, als daß ein Verständigungsfrieden, ein Friede der Kabinette möglich gewesen wäre.

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Die Friedensaktion Bethmann Hollwegs war also von Anfang an aussichtslos. Sie erscheint, so betrachtet, mehr als eine Tat gewissenhafter, ihrer sittlichen Verantwortung vor der Geschichte bewußter Staatskunst denn als Ausfluß politischer Klugheit. So hat es der Kaiser auch gleich nach einem der ersten Vorträge empfunden, die ihm der Kanzler über die geplante Aktion hielt. Der große Plan hat ihn geradezu begeistert. „Den Vorschlag zum Frieden zu machen", schrieb er Bethmann noch am selben Abend (31. Oktober), „ist eine sittliche Tat, die notwendig ist, um die Welt von dem auf allen lastenden Druck zu befreien 3 8 )". Der Kanzler selbst hat sich ähnlich in einer vertraulichen Zusammenkunft von Vertretern der Bundesstaaten im Reichskanzlerpalais geäußert, die am Vorabend der Friedenskundgebung stattfand. E r empfinde die Pflicht, erklärte er dort, „zum Volk und dem Heer draußen und daheim zu sagen: wir wollen nicht um wilder Eroberung willen diesen Krieg um einen Tag länger dauern lassen als notwendig ist. Wer kann in die Zukunft sehen? . . . Wer darf in diesen Weltgeschehnissen das Schickal herausfordern? Geben wir die Möglichkeit, daß der Friede wieder einkehrt, so ist unser Gewissen rein vor Gott und unserm Volk 39 )". Das w a r ganz sicher ehrlich gesprochen. Aber natürlich war der Gewissensdruck nicht das einzige und auch nicht das letztlich entscheidende Motiv f ü r den Entschluß des Staatsmannes. Dahinter stand, wie wir schon wissen, die bittere Notwendigkeit, alles zu versuchen, was nur möglich war, um den Krieg ohne das Wagnis des unbeschränkten U-Boot-Krieges zu Ende zu bringen, also ohne den Kriegseintritt Amerikas herauszufordern und damit die Z u k u n f t Deutschlands erst recht aufs Spiel zu setzen. Dazu kam die sehr ernste Gefahr eines vorzeitigen Zusammenbruchs (unter Umständen Abfalls) der Bundesgenossen. Beides drängte die deutsche Diplomatie zu höchster Eile. Ursprünglich hat Bethmann Hollweg geplant, das Friedensangebot sofort, d. h. schon am 2. November im Reichstag öffentlich anzukündigen und deshalb einen ersten Entwurf schon am 28., also unmittelbar nach der Ausschußsitzung des Bundesrates, von Jagow aufsetzen lassen. Aber dann ergaben sich Schwierigkeiten in der Verhandlung mit Burian, die einen längeren Aufschub nötig machten. Dem österreichischen Minister ging es von Anfang an nicht bloß darum, den Krieg zu Ende zu bringen, sondern ebenso, ja vielleicht noch mehr darum, den deutschen Alliierten auf die diplomatische Vertretung österreichisch-ungarischer Interessen bei den Friedens-

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Verhandlungen festzulegen 40 ). Von seinen eifrigen, aber vergeblichen Bemühungen, ein „Solidaritätsabkommen" der beiden Mittelmächte durchzusetzen, das Deutschland nötigen sollte, seinem Verbündeten die Integrität seines Gebietes, also die Rückgabe verlorener Territorien zu erkämpfen, haben wir schon früher gehört (Anfang von Kap. 7). Parallel damit lief nun die Verhandlung über ein gemeinsames Programm der Friedensbedingungen. Ein solches hatte Burian schon gleich am 18. Oktober nachPless mitgebracht. Sein erster und wichtigster Punkt war die Wiederherstellung der „Integrität", d. h. der Grenzen von 1914 für alle vier verbündeten Mächte — praktisch bedeutsam nur für Österreich-Ungarn und die Türkei, in beiden Fällen aber unerreichbar. D a f ü r sollte Deutschland alle seine Kolonien wiederbekommen (was es nicht einmal wünschte) und den belgischen Kongostaat erwerben, aber Frankreich und Belgien völlig aus der H a n d geben „unter Sicherung der legitimen Interessen Deutschlands gegenüber Belgien". In der Hauptsache beschäftigte sich das Programm mit der Neuordnung im Osten und auf dem Balkan, forderte für den Habsburger Staat „strategische Grenzverbesserungen" gegen Italien, Rußland, Rumänien, Serbien, Neuordnung der Verhältnisse an der dalmatinischen Küste (in dem uns aus Kap. 3 schon bekannten Sinn, also Protektorat in Albanien, teilweise Annexion Montenegros), Wiederherstellung, aber totale Verstümmelung Serbiens, vor allem zur Befriedigung bulgarischer Wünsche. Auch von deutschen Grenzverbesserungen im Gebiet von Kurland und Litauen war die Rede und von Anerkennung des Königreichs Polen, dessen künftiges Verhältnis zu den Zentralmächten unerörtert blieb 41 ). Im ganzen war der Gewinn f ü r Österreich-Ungarn erheblich reichlicher bemessen als f ü r die Deutschen, wie Bethmann sogleich bemerkte 42 ). Vor allem die Rückgabe der Bukowina und ganz Ostgaliziens sowie die Forderung italienischer Grenzverbesserungen, obwohl die Italiener auf österreichischem Boden standen, schien ihm recht viel verlangt. Aber nicht das allein war der Grund f ü r seine Abweisung, sondern die grundsätzliche Abneigung der deutschen Politik, sich vor Beginn der Friedensverhandlungen auf ein konkretes Programm festzulegen, vollends auf ein so aussichtsloses, wie es dem Bundesgenossen vorschwebte. Käme es erst einmal zu einer Konferenz, meinte der Kanzler, so sollte jeder der Bundesgenossen selbst sein Programm aufstellen und durchzusetzen suchen — er forderte also eben das, was Burian gerade vermeiden wollte. Das führte zu sehr ärgerlichen, teilweise aufgeregten Verhandlungen. Schließlich ließ sich der Minister davon überzeugen, daß die Ankündigung so vieler

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Forderungen das Friedensgespräch gar nicht erst in Gang kommen lassen würde, bestand aber zähe darauf, daß wenigstens der Versuch gemacht würde, ein gemeinsames Friedensprogramm aus den Kriegsziellisten herzustellen, die jeder der verbündeten Staaten zunächst für sich ausarbeiten sollte. Sein Argument, daß am Konferenztisch keine Uneinigkeit unter den vier verbündeten Mächten auftreten dürfe, ließ sich nicht widerlegen, und so wurde denn zunächst mit der Aufstellung einer offiziellen deutschen und österreichisch-ungarischen Kriegszielliste begonnen. Bethmann Hollweg hat die ersten Entwürfe dazu am 4. November an die O H L mit der Bitte um Stellungnahme geschickt. Damit räumte er dieser in aller Form ein Mitspracherecht in einer rein politischen Frage ein. Das müßte verwundern, wenn wir nicht schon wüßten, daß er die Deckung eines „mageren Friedens" durch die Autorität Hindenburgs der öffentlichen Meinung gegenüber f ü r unentbehrlich hielt, also dessen Zustimmung unbedingt brauchte. Eben dies war ja der politische Hauptzweck der Berufung des Volkshelden zum Generalstabschef gewesen. Was er nun nach Pless übersandte, waren im wesentlichen dieselben Programmpunkte, die er schon im preußischen Ministerrat vorgelegt hatte, aber mit leichten Abänderungen, die sie den beiden Generälen schmackhafter machen sollten. Vorangestellt war jetzt die „Annexion kurländischer und litauischer Gebiete", aber mit dem Zusatz, daß dadurch „mit Einbegriff des Königreichs Polen eine gute, von Norden nach Süden laufende strategische Grenze gegen Rußland geschaffen wird". Das ließ auch jetzt den Umfang der geplanten Grenzerweiterung offen, klang aber nach einem höheren Ziel. Von Wiederherstellung Belgiens war nicht mehr ausdrücklich die Rede, wohl aber von „Garantien in Belgien, welche möglichst durch Verhandlungen mit König Albert festzusetzen sind". Daß Bethmann dabei im wesentlichen an Wirtschaftsverhandlungen zur Verhinderung eines Warenboykotts dachte, wurde verschwiegen, aber die Annexion von Lüttich für den Fall angekündigt, daß Garantien „in nicht genügendem Maße zu erreichen sind". Frankreich gegenüber waren die Ansprüche insofern gesteigert, als nicht mehr Teile von Briey gegen einzelne elsaß-lothringische Gemeinden ausgetauscht werden, sondern „Briey" und „Longwy" einfach in deutscher H a n d bleiben sollten, während die Frage einer „Grenzregulierung mittels elsaß-lothringischer Grenzstreifen" zwar erwähnt, aber „zunächst" zurückgestellt wurde 43 ). Außerdem wurde jetzt (in offenbar absichtlich unbestimmter Form) von „eventuellen Kriegsentschädigungen bzw. Kompensationen" gesprochen.

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Wer diese Abänderungen unbefangen liest, kann ihren rein taktischen Zweck unmöglich verkennen, zumal dann nicht, wenn er hinzunimmt, wie skeptisch sich Bethmann Hollweg kurz zuvor im Bundesratausschuß über Kriegsentschädigungen, militärische Grenzbedürfnisse und insbesondere über die belgische Frage ausgesprochen hatte. Wie zu erwarten, genügte aber das Programm auch in dieser Form den beiden Generälen nicht. Vor allem wollten sie die „Grenzregulierungen" im Baltikum präziser bestimmt haben und sehr weit nach Osten ausgreifen lassen: „bis zur Linie Rigaer Meerbusen westlich Riga, östlich Wilna vorbei Richtung Brest-Litowsk". In Belgien verlangten sie zusätzlich „Ausnützung der Bodenschätze der Campine", wirtschaftlichen Anschluß an Deutschland, Inbesitznahme der Eisenbahnen und Besatzungsrecht. Für die Freigabe Belgiens in dieser beschränkten Form sollte England auch noch eine Kriegsentschädigung an Deutschland zahlen. Auch Frankreich sollte eine „zu suspendierende Kriegsentschädigung und Kompensation" zahlen, die besetzten Teile des Elsaß räumen, außerdem deutsche „Grenzbefestigungen" auf dem Westabhang der Vogesen zugestehen, außer der Abtretung von Longwy und Briey. Weiterhin sollte im Rahmen der kolonialen Verständigung der Kongostaat deutsch werden, ebenso Luxemburg. Auch die Auslandsdeutschen sollten eine Entschädigung erhalten. Den Friedensbedingungen Österreich-Ungarns stimmte die O H L bis auf Einzelheiten zu. Was sie dem Kanzler entgegenhielt, waren, wie man sieht, recht kräftige Mehrforderungen 4 4 ), die am Verhandlungstisch die Aussichten des Verständigungsfriedens noch weiter erschwert oder gar verhindert hätten — wenn es überhaupt dazu kam und Bethmann Hollweg dann auf ihnen bestand. D a ß er diese Absicht gehabt haben sollte, ist mehr als unwahrscheinlich (was durch später noch zu zitierende Mitteilungen Riezlers ausdrücklich bestätigt wird). Im Augenblick konnte es ihm nicht darauf ankommen, sich auf ein Minimum von Friedensbedingungen festzulegen, die als „conditio sine qua non" gelten sollten (das hatte er ja schon im Bundesratsausschuß grundsätzlich abgelehnt) 45 ), sondern nur darauf, daß er sich gegenüber dem Kaiser, den Österreichern (und über kurz oder lang auch gegenüber der deutschen Volksvertretung) auf das Einverständnis der Obersten Heeresleitung berufen konnte f ü r ein Kriegszielprogramm, das die Öffentlichkeit ohne Zweifel immer noch als „mager" empfinden würde. So begnügte er sich damit, nur die ganz utopische Forderung einer englischen „Kriegsentschädigung" für die Freigabe Belgiens ausdrücklich abzuweisen 40 ) und das Ganze in eine neue

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Form zu bringen, die stillschweigend einige erhebliche Milderungen enthielt 47 ). Zur Mitteilung an die Österreicher ist noch eine dritte Fassung hergestellt worden, in der die Gebietserwerbungen, „Grenzberichtigungen" und Kolonialfragen in einer möglichst allgemeinen und unbestimmten, also unverbindlicher Form behandelt waren (auch Briey nicht mehr erwähnt wurde), Luxemburg den Status eines „selbständigen Bundesstaates" und Belgien seine „Wiederherstellung als souveräner Staat" ausdrücklich zugesagt erhielt. Außerdem war eine Reihe von Bestimmungen gegen wirtschaftliche Diffamierungen der Zentralmächte, f ü r Freiheit der Meere und der Donauschiffahrt hinzugefügt 48 ). Mit anderen Worten: Bethmann Hollweg bemühte sich, unter der H a n d das Kriegszielprogramm wieder abzuschwächen — schon deshalb, um nicht den Widerspruch Burians herauszufordern, der immer wieder auf Freigabe Belgiens drängte. Auch in Österreich war inzwischen der Versuch gemacht worden, sich mit den dortigen Militärs über die Friedensbedingungen zu verständigen. General Conrad hatte aber dem Ministerium eine Antwort erteilt, die einen so schroff militaristischen Geist atmet, daß neben ihr die Forderungen der deutschen O H L als verhältnismäßig harmlos erscheinen müssen. Sie hat aber an Burians früherem Programm nicht viel verändert 4 9 ). Am 15. November kam der Minister zu einer zweitägigen Verhandlung mit Bethmann, Jagow und Zimmermann nach Berlin, in der die Form des Friedensschrittes und das gemeinsame Kriegszielprogramm vereinbart werden sollten. Dabei trat der Gegensatz zwischen beiden Zentralmächten sehr scharf zutage: das Verlangen der Österreicher, ein möglichst genau präzisisiertes Kriegszielprogramm durch beide Mächte gemeinsam vertreten zu lassen und das entschiedene Widerstreben der Deutschen gegen jede Bindung dieser Art. Auch im Materiellen der Kriegszielwünsche bestand keine Ubereinstimmung: wie Burian die Forderungen Deutschlands an Belgien und Frankreich übertrieben fand, so Bethmann erst recht die österreichischen Balkanwünsche. Immerhin einigte man sich (wenigstens vorläufig) über den Wortlaut der Friedensnote, die schon vorher auf Betreiben Ludendorffs einen verschärft kriegerischen, siegesgewissen Ton erhalten hatte und jetzt auf Burians Wunsch wenigstens das Mitbringen einer fertigen Kriegszielliste zur Friedenskonferenz in Aussicht stellte 50 ). Schließlich wurde, nach langem Sträuben der deutschen Seite, doch noch verabredet, ein gemeinsames Kriegszielprogramm aufzustellen. Burian legte einen Entwurf dazu bereits vor. Er ist aber praktisch nicht zum Zuge gekommen, weil zunächst Bulgarien und

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die Türkei eingeladen werden sollten, sich daran zu beteiligen. Diese aber, gesichert durch die Erwerbszusagen, die ihnen in ihren Allianzverträgen mit den Mittelmächten schriftlich gegeben waren, hatten es gar nicht eilig mit ihren Wunschlisten, von denen man nur erfuhr, daß sie sehr weit gehen würden. So ging viel Zeit verloren, und in Wien wurde man zuletzt ängstlich. Anfang Dezember w a r sich Burian darüber klar, daß unter diesen Umständen die ganze Friedensaktion an dem Programm gemeinsamer Kriegsziele scheitern könnte. Er ließ also den Gedanken stillschweigend fallen, und der Berliner Beschluß blieb Papier. Um so eifriger hat sich der Minister um das schon früher erörterte „Solidaritätsabkommen" in Berlin bemüht 51 ). Die Tatsache, daß der Kanzler sich schließlich nur zu einer mündlichen Zusage bewegen ließ, Deutschland würde „alles daran setzen, der Monarchie aufgrund der heute im Besitz der Mittelmächte (also nicht nur Österreich-Ungarns!) befindlichen Faustpfänder ihre ursprüngliche Grenze zu verschaffen", ohne sich jedoch dazu für verpflichtet zu erklären, hat in Wien tiefe Verstimmung ausgelöst und das Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Bundesgenossen noch weiter erschüttert. Wie tief man in Berlin den Gegensatz der Meinungen und Interessen schon während der Berliner Konferenz vom 15.—16. November empfand, wird dadurch besonders deutlich, daß unmittelbar nach Abschluß der Verhandlungen und offensichtlich im Zusammenhang mit ihnen 52 ), folgende Depesche Jagows an Graf Bernstorff abging: „Läßt sich übersehen, ob Präsident in Friedensvermittlung Schritte unternehmen will, eventuell welche und wann? Frage wichtig zur Beurteilung etwaiger anderweiter Schritte im gleichen Sinn." Wilson war am 7. November wiedergewählt worden. Angesichts der Schwierigkeit, mit den Österreichern ein befriedigendes Übereinkommen zu erzielen, schwenkte die deutsche Regierung um und war nun wieder geneigt, zunächst eine amerikanische Friedensaktion abzuwarten, ehe sie eigene Schritte unternahm. Bethmann Hollweg vertraute (nach Bernstorffs früheren Meldungen) darauf, daß Wilson sich in die Frage der Friedensbedingungen nicht einmischen, uns also freie Hand lassen würde — anders als Baron Burian. So begnügte er sich nicht mit Weisungen an den Botschafter, sondern suchte unmittelbar auf die amerikanische Politik einzuwirken: am 17. November durch ein Interview mit einer Journalisten der Hearst-Presse, am 22. durch eine Aussprache mit dem Stellvertreter des Botschafters Gerard, Geschäftsträger Grew, die auf diesen tiefen Eindruck machte. Er fand den

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Kanzler sehr niedergeschlagen, müde und tief enttäuscht durch die immer neuen Fehlschläge seiner Friedensbemühungen, ja fast erbittert darüber, daß der „absolute Wahnsinn dieser Menschenschlächterei" nun immer weitergehen müsse, weil die Politiker keine Vernunft annehmen wollten. Aber die Nachrichten aus Washington klangen wenig ermutigend. Zwar berichtete Bernstorff von einem Gespräch mit House, in dem dieser versichert hatte, der Präsident beabsichtige, „möglichst bald, vermutlich zwischen jetzt (21. November) und Neujahr" Schritte in der Friedensfrage zu tun. Ähnliche Auskunft gab Grew. Aber wie oft hatte man nun schon gehört, sofort nach der Neuwahl würde Wilson aktiv werden! Als neues Hindernis wurden teils die jüngsten Zwischenfälle mit U-Booten (warnungslose Versenkung der Schiffe „Arabic" und „Marina") bezeichnet, teils die brutalen, von Ludendorff durchgesetzten Deportationen belgischer Zivilbevölkerung in deutsche Arbeitslager zum Einsatz in der Kriegsindustrie (von denen noch zu reden sein wird). Beides, hieß es, habe die öffentliche Meinung der Welt zu stark gegen Deutschland erregt, als daß jetzt eine Friedensaktion möglich wäre; diese sei deshalb nicht aufgegeben, aber müsse abermals verschoben werden. Was davon wirkliches Hindernis, was bloßer Vorwand war, ließ sich von Deutschland aus schwer beurteilen. Tatsächlich haben die belgischen Arbeiterdeportationen große Aufregung im ganzen Ausland geschaffen. Anderseits hatte Wilson seit dem berühmten Knock-out-Interview Lloyd Georges doppelt große Sorge, seine Friedensaktion könnte in England abgewiesen werden, und dieser Mißerfolg könnte sein Ansehen schädigen. Sein Freund House, der Bernstorff gegenüber das neue Zögern nur Wilsons Unentschlossenheit schuldgab, hat in Wirklichkeit selber der Friedensaktion widerstrebt. E r fürchtete (ähnlich wie schon im Sommer), die Deutschen könnten darauf eingehen, die Engländer ablehnen, und dann würde Amerika entweder auf die deutsche Seite getrieben, müßte also gegen die Entente kämpfen oder, wenn die Deutschen nunmehr den unbeschränkten U-Boot-Krieg eröffneten, gegen sie in den Krieg eintreten — was Wilson ja gerade vermeiden wollte. Darüber hinaus wollte er überhaupt keine Schritte tun, die in England und Frankreich Verstimmung wecken und Amerika tief in die Probleme europäischer Friedensordnung verstricken würden. Er riet also dem Präsidenten (der ihm den ersten Entwurf seiner späteren Friedensnote schon Ende N o vember vorlas) dringend zu weiterem Abwarten 5 3 ). Auch die Haltung Lansings war unverändert. Die Ideen Wilsons über Friedensvermittlung machten ihn geradezu unglücklich: er habe immer noch nicht richtig begriffen,

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schrieb er in einem „Memorandum", welche Gefahr der freien Welt von einem Sieg der „Autokraten" drohe und daß zunächst der Totalsieg errungen werden müsse. Am 8. Dezember empfahl er dem Präsidenten, die diplomatischen Beziehungen wegen der neuen Marinezwischenfälle abzubrechen und warnte ihn zwei Tage später vor jeder Vermittlungsaktion, etwa mit derselben Begründung wie House 54 ). Der Präsident stand also mit seinen Ideen ganz isoliert in seiner nächsten Umgebung und geriet ins Schwanken. Bethmann Hollweg aber konnte unmöglich aufs Ungewisse hin warten. Der dritte Kriegswinter, vor dessen Beginn er seine Aktion hatte durchführen wollen, hatte längst begonnen; die Österreicher wurden ungeduldig. Der junge Kaiser Karl VI. drängte persönlich bei Wilhelm II. und war entsetzt, von diesem an Hindenburg verwiesen zu werden: in Deutschland, telegraphierte er an Buriän, scheine die reine Militärdiktatur zu herrschen. Er suchte aber den Feldmarschall gleich am nächsten Tage auf, der seinerseits das Auswärtige Amt beschuldigte, die Aktion zu verzögern 55 ). Wichtiger als dieses Drängen war für Bethmann Hollweg die Tatsache, daß in allernächster Zeit der große Erfolg in Rumänien, die Einnahme Bukarests, bevorstand, die als „psychologischer Moment" so wichtig schien. So setzte er die Vorbereitungen für die eigene Friedensaktion fort, gleichzeitig aber seine Bemühungen um Wilson, versuchte also zwei Eisen zugleich im Feuer zu halten. Inzwischen verschärfte sich auch die Gefahr, die Bethmanns Friedenspolitik von der Marine her drohte. Deren Vertreter suchten, durch immer neue Vorstellungen bei Ludendorff, die O H L auf ihre Seite zu ziehen. Kapitän von Bülow erklärte dem General, der U-Boot-Krieg würde „in Versumpfung enden", wenn man noch weiter die warnungslose Versenkung verhindere, und die amerikanische Friedensvermittlung würde den Engländern nur dazu dienen, durch Hinschleppen der Verhandlungen die große U-Boot-Aktion so lange aufzuhalten, bis die neue Ernte importiert, also der rechte Augenblick f ü r die Blockade versäumt wäre. Ludendorff seinerseits zeigte ebenso wie Hindenburg immer entschiedenere Neigung, auch in die Marinefragen hineinzureden; nur mit Hilfe Admiral Müllers gelang es vorläufig noch, ihn auszuschalten und kaiserliche Weisungen an die U-Boot-Flotte zu erreichen, die neue, in diesem Augenblick unerträgliche „Zwischenfälle" verhindern sollten. Der Admiralstabschef Holtzendorff war damals noch ehrlich bestrebt, den U-Boot-Krieg womöglich so zu gestalten, daß er Erfolge brachte, ohne den Bruch mit Amerika herbeizuführen. Aber er stand unter dem Druck des Flottenchefs, und der

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sog. U-Boot-Kreuzerkrieg (nach Prisenordnung) wurde immer schwieriger, da die britischen Handelsschiffe jetzt fast alle bewaffnet wurden. So drängte auch er jetzt darauf, daß über die Freigabe der warnungslosen Versenkung wenigsten von bewaffneten Handelsschiffen, die Amerika im Frühjahr abgelehnt hatte, erneut mit Washington verhandelt würde. Am 9. Dezember erklärte sich Bethmann Hollweg damit einverstanden — in demselben Augenblick, in dem endgültig beschlossen wurde, nun nicht länger auf Wilsons Friedensschritt zu warten, nachdem Bukarest am 6. Dezember in unsere Hände gefallen war 5 6 ). Dieser Entschluß war im Großen Hauptquartier nicht ohne neue erhebliche Schwierigkeiten zustande gekommen. Im letzten Augenblick (am 8. Dezember) hatte die OHL den Versuch gemacht, in Abwesenheit des Kanzlers Wilhelm II. für einen plötzlichen Kurswechsel zu gewinnen. Er sollte sie ermächtigen, dem Kanzler neue Bedingungen für ihre Zustimmung aufzunötigen: das Friedensangebot sollte nur dann gemacht werden, „wenn die politische Reichsleitung darauf rechne, daß sie den Frieden herbeiführen würde, den Deutschland braucht" — eine Klausel, die sich nach Belieben auslegen ließ und die Aussicht auf neue bedenkliche Kriegszielerörterungen eröffnete. Außerdem sollte Ende Januar der rücksichtslose U-Boot-Krieg begonnen werden, offenbar in jedem Fall, da vom Scheitern der Friedensverhandlungen nicht die Rede war. Aus diesen Forderungen war zu entnehmen, daß die OHL, seit dem Fall von Bukarest ohne Sorgen um die Verteidigung der dänischen und holländischen Grenzen, an dem Friedensangebot jedes Interesse verloren hatte und nur noch eine lästige Verzögerung des unbeschränkten U-Boot-Krieges darin sah. Sie wollte also die Politik des Kanzlers einfach mit Hilfe des Kaisers überrennen. Zu Bethmanns Glück ließ sich dieser nicht darauf ein, sondern gab dem Kanzler Gelegenheit zur Stellungnahme. Dieser reiste mit Zimmermann sofort nach Pless, wies in einer kurzen Aufzeichnung in sehr bestimmtem Ton das Ansinnen der Generäle zurück und setzte den Beschluß durch, das Friedensangebot der Mittelmächte im vereinbarten Wortlaut am 12. Dezember an die Öffentlichkeit zu geben. Aber das ging nicht ab ohne die uns schon bekannte Konzession an Holtzendorffs Wünsche. Falls das Angebot abgewiesen wurde, sollte zwar nicht der unbeschränkte U-Boot-Krieg eröffnet, aber doch nach Washington mitgeteilt werden, daß wir nunmehr dazu übergehen müßten, die bewaffneten Handelsschiffe als Kriegsschiffe zu behandeln und demnach warnungslos zu versenken. Ein gefährlicher Schritt! Aber

Scheitern der Friedensaktion. Sieg der O H L in der U-Boot-Frage

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gefährlicher noch für den Kanzler war die Erfahrung, daß seine Politik von den Militärs überspielt zu werden begann 57 ). Mit dem Friedensangebot an die Feindmächte trat seine Politik in ihre entscheidende Krisis ein.

Vierter

Abschnitt

Scheitern der Friedensaktion Sieg der Heeres- und Marineleitung in der U-Boot-Frage (12. Dezember 1916 bis 9. Januar 1917) Das deutsche Friedensangebot kam in einem Zeitpunkt zustande, in dem in den drei Hauptländern des Entente-Ringes gerade ein Wechsel der Kabinette stattfand, und zwar in allen drei Fällen mit dem Ziel einer Verschärfung und Verhärtung des Kriegswillens. In Rußland war das Ministerium Stürmer, dessen Haltung in Berlin zeitweilig so große Hoffnungen auf einen Sonderfrieden erweckt hatte, am 23. November gestürzt und wurde durch ein Kabinett Trepow ersetzt, dessen Außenminister Pokrowsky den entschieden nationalistischen Gruppen der Duma nahe stand. In Paris hatte Briand am 7. Dezember unter den fortgesetzten Angriffen seiner Rivalen, vor allem Clemenceaus, die ihm Mangel an Energie vorwarfen, zurücktreten müssen, konnte aber gerade am 12. Dezember ein neues Ministerium der „nationalen Konzentration" bilden, das er am 13. der Kammer mit dem Erfolg seiner Bestätigung (freilich ohne viel Aussicht auf Dauer) vorstellte. In England trat am 10. Dezember das neue „Kriegskabinett" Lloyd George zusammen, dessen Bedeutung wir schon kennen. Besonders dieses Ereignis hat Bethmann Hollweg schwer beunruhigt. Es verminderte die Aussichten eines Verständigungsfriedens noch mehr. Als er am 11. Dezember eine Reihe von Ministerpräsidenten der Bundesstaaten und Bundesratsgesandten im Reichskanzlerpalais empfing, um sie über das bevorstehende Friedensangebot zu orientieren, berief er sich ausdrücklich auf diesen Regierungswechsel, um damit seine Vermutung zu begründen, daß die Chance der Ablehnung im Lager der Gegner wohl größer sein würde als die der Annahme. Das veranlaßte ihn, um so stärker die innerpolitischen und moralischen Motive des Schrittes zu betonen (wir hörten

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schon früher davon) 1 ) sowie die Wirkung, die er sich davon auf die Neutralen und auf die pazifistischen Strömungen in aller Welt versprach. Er gewann d a f ü r die Zustimmung fast aller Versammelten, stieß aber doch auf das Bedenken, daß die Alldeutschen einem Verhandlungs- und Verständigungsfrieden entschieden widerstreben würden und daß im Falle der Ablehnung unseres Angebots die Agitation f ü r den unbeschränkten U-Boot-Krieg sich nicht mehr würde eindämmen lassen. Seine Antwort war: Unsere moralische Position gegenüber den Neutralen würde in diesem Fall soviel günstiger geworden sein, daß man hoffen könne, eine Ausdehnung des U-Boot-Krieges über die jetzige Form hinaus (gemeint war die warnungslose Versenkung bewaffneter Handelsschiffe) ohne Konflikt mit Amerika durchführen zu können. Schon in der jetzigen Form hätten wir sehr große Versenkungsziffern erreicht, die sich noch steigern ließen. Das zeigt, wie er sich den Ausweg aus einer drohenden Zwangslage dachte — ohne daß ihm deshalb die ganze Friedensaktion nur diplomatisches Hilfsmittel zur Vorbereitung des U-BootKrieges gewesen wäre. Indessen stieß deren Durchführung auch innenpolitisch auf mancherlei Widerstände. Schon in der Ministerbesprechung am 11. warnte der badische Ministerpräsident von Dusch vor einer „zu milden" Behandlung Belgiens, weil das Stürme der Entrüstung im Lande zur Folge haben würde. In seiner Reichstagsrede am folgenden Tag bemühte sich der Kanzler, durch eine betont siegesgewisse und kampfentschlossene Haltung die Befürchtung der N a tionalisten und Militaristen vor dem Eindruck eines deutschen „Schwächeanfalls" zu zerstreuen. Er sprach von „größerer Sicherheit unserer Fronten als je zuvor", ja sogar vom „Gespenst der Hungerblockade", das unseren Gegnern von den U-Booten her drohe und erleichterte damit der feindlichen Propaganda die Ablehnung noch mehr, als es schon der Text der Friedensnote in seiner durch die O H L umgestalteten Form tat; denn wer wollte schon den Frieden aus der H a n d eines selbstbewußten Siegers nehmen? Unglücklicherweise verstärkte der Kaiser den Eindruck der Siegergeste noch durch eine schneidige Truppenansprache bei Mülhausen, die - offenbar auf Betreiben der O H L und zum Entsetzen des Kanzlers — sofort in die Presse kam. Aber keine Demonstration der Siegeszuversicht vermochte das Mißtrauen der Rechtsparteien gegen den „schlappen" Kanzler und seine Friedenspläne zu mindern. N u r mit größter Mühe gelang es den Linksparteien und dem Zentrum zu verhindern, daß die Opposition in der feierlichen Reichstagssitzung vom 12. Dezember sogleich Gelegenheit erhielt, über die

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Friedensbedingungen zu diskutieren — und damit den Eindruck der N o t e im Ausland vollends zu zerstören. Die national-liberale Partei (unter Stresemanns Führung) protestierte in einem „offenen Schreiben" an den Kanzler heftig gegen die „Ausschaltung des Reichstags" bei der Vorbereitung der Friedensnote. Sie verlangte zur Erörterung der Friedensbedingungen sofortige Einberufung des Hauptausschusses, was der Kanzler ablehnte. Zimmermann, der neue Staatssekretär, der als Vertrauensmann der Rechten galt, war tief enttäuscht über die Haltung, die ihm auch in informatorischen Besprechungen mit den Fraktionsführern entgegentrat. Um sie zu beschwichtigen, hat er in einer Pressekonferenz behauptet (was nicht zutraf), wir hätten die Note nur deshalb abgesandt, um einer höchst unerwünschten Friedensaktion Wilsons zuvorzukommen 2 ). Aber er war auch selbst nur mit halbem Herzen bei der Sache. Nach einer Mitteilung Hertlings vom 15. hat er diesem vertraulich gesagt, „er hoffe nur, daß unsere Vorschläge nicht angenommen würden", was der Minister so verstand (und billigte), daß er einen internationalen Kongreß über die Friedensfrage „nicht in unserem Interesse" fand — also (so wird man vermuten dürfen) entweder Sonderfriedensverhandlungen oder einen verschärften U-Boot-Krieg (zunächst gegen bewaffnete Handelsdampfer) vorzog. In letzterem Sinn hat er sich jedenfalls zwei Wochen später zu einem bayrischen Diplomaten ausgesprochen, nachdem inzwischen eine Friedensnote Wilsons eingelaufen war. Er fürchtete von internationalen Verhandlungen ein bloßes Hinausschleppen der Entscheidung so lange, bis es zu spät wäre zu einem wirksamen Einsatz der U-Boot-Flotte, den er (ähnlich wie der Kanzler) gegen bewaffnete Schiffe auch ohne Bruch mit Amerika hoffte durchführen zu können 3 ). In gewissem Sinn war das realistischer gedacht als die vergeblichen (wenn auch schon mit sehr viel Skepsis gemischten) Hoffnungen Bethmanns auf ein internationales Friedensgespräch. Aber die Differenz zwischen den Meinungen des Kanzlers und seines ersten außenpolitischen Gehilfen hat sich dann doch (obgleich mehr taktischer als grundsätzlicher Art) auf den Gang der Verhandlungen mit Wilson recht ungünstig ausgewirkt. Wir werden davon noch hören. Ehe es dazu kam, drohte indessen dem Friedenswerk noch von anderer Seite Gefahr: vom hemmungslosen Annexionismus der Militärs. Solange noch keine Antwort der feindlichen Regierungen auf das deutsche Angebot vorlag, glaubte man in der Marine und im Großen Hauptquartier offenbar,

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sich auf die bevorstehenden Verhandlungen durch Aufstellung eines Minimalprogramms von Friedensbedingungen rüsten zu sollen. So entstanden die ersten förmlichen Kriegsziellisten amtlicher Stellen, die einen ganz umfassenden Katalog deutscher kontinentaler und überseeischer Eroberungsziele entwickeln. Sie waren nicht etwa von Bethmann Hollweg angefordert 4 ); dieser hatte nur mündlich Auskunft von Holtzendorff darüber erbeten, welche strategischen Stützpunkte die Marine außerhalb eines zentralafrikanischen Kolonialreiches zu dessen Verteidigung brauche5). Das benutzte der Admiralstab, um in zwei Denkschriften (vom 26. November und 18. Dezember) ein Programm aufzustellen, das über den vom Kanzler bezeichneten defensiven Zweck weit hinausgriff: es forderte die Einrichtung eines Systems von Stützpunkten, Ausfallhäfen und Funkstationen, das geeignet sein sollte, die Seeherrschaft Englands ernstlich zu erschüttern, aber auch den Welthandel in allen großen Ozeanen zu stören bzw. zu kontrollieren. Um die unglücklich eingeengte maritime Lage Deutschlands in Europa grundlegend zu verbessern, wurde der Erwerb der flandrischen, aber auch der kurländischen Küste mit Windau und Libau, der Inseln ösel und Moon und der Faröer-Gruppe (zur Sicherung des Ausgangs in den Atlantischen Ozean) für notwendig erklärt, im Mittelmeer Valona, in den Weltmeeren die Azoren, Dakar mit Senegambien, Tahiti und das Festhalten unserer meisten Südseekolonien gefordert. Die O H L unterstützte das alles, fügte aber (am 23. Dezember) ein eigenes, nicht minder ausschweifendes Annexionsprogramm hinzu. Es war sogleich mit Karten versehen, in denen die gewünschten neuen Reichsgrenzen eingetragen waren. Diese griffen sowohl im Westen wie im Osten weit über die Anfang November mit Bethmann verabredeten Ziele hinaus, immer nach dem Grundsatz, die zur „Sicherung" des Reichs geforderten Neuerwerbungen ihrerseits durch noch weiteres Vorschieben der Grenzen zu sichern: Longwy durch weiter nördlich anschließende belgische Landstriche, Luxemburg durch „Aufsaugen" in ein ringsumher liegendes deutsches Gebiet, den Maas-Ubergang bei Lüttich durch Einverleibung von Givet in Belgien, durch Annexion eines „Aufmarschgebietes" westlich der Maas und straffe Abhängigkeit ganz Belgiens. Die deutsche Ostgrenze sollte gegen Polen durch einen breiten deutschen Grenzstreifen abgeschirmt werden, der baltisch-litauische Neuerwerb durch Vorschieben der Grenze gegen Rußland nach Osten, wobei Polen weit „umfaßt" und von Rußland bis auf eine schmale Grenzberührung abgetrennt werden sollte. Schließlich wollte Ludendorff auch noch

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die rumänische Walachei „in irgendeiner Form — etwa im Sinn einer alten römischen Provinz — f ü r Deutschland n u t z b a r machen". In geradezu herrischer Wendung ließ er H i n d e n b u r g zu den polnischen Grenzfragen bemerken: „Unter das Geforderte k a n n ich nicht herabgehen 6 )." Über Wunschträume dieser A r t lange zu verhandeln oder zu streiten wäre Kräfteverschwendung gewesen in einem Augenblick, in dem es bereits feststand, daß die feindlichen Regierungen sich auf gar keine direkten Verhandlungen einlassen würden. Bethmann Hollweg verwies die O H L kurzerhand auf eine mündliche Aussprache, die d a n n auch am 29. in Pless stattf a n d , aber in einer Atmosphäre schwerer gegenseitiger Verstimmung (über deren Ursache noch zu reden sein wird). U m es zu keiner Explosion kommen zu lassen, beschränkte man sich im wesentlichen auf die Erörterung der Grenzprobleme der Westfront und schob die heiklen Fragen des Ostens, über die es starke Meinungsverschiedenheiten gab, als „noch nicht a k u t " beiseite 7 ). So hat es Bethmann in einem vertraulichen Schreiben an Valentini selbst geschildert. O f f e n b a r hat er aber darüber hinaus versucht, durch „dilatorische Behandlung" der Festlegung auf ein bestimmtes Kriegszielprogramm überhaupt auszuweichen. Denn wie eine A n f r a g e der O H L vom 31. Dezember zeigt, hat er diese durch die Bemerkung erschreckt, „vielleicht könnten wir Briey nicht behalten", und weitere Erörterungen hingen v o n der künftigen Kriegslage ab. Hindenburg wünschte deshalb zu wissen, welche territorialen Mindestforderungen Bethmann, „falls es zu Friedensverhandlungen kommt, bei der jetzigen Kriegslage unter allen Umständen, selbst auf die Möglichkeit der Kriegsverlängerung hin, festhalten wolle". Aber der Kanzler ließ sich dadurch nicht beirren. E r verwies den Fragesteller auf den Telegrammwechsel von A n f a n g November, der f ü r ihn immer noch maßgebend sei — also auf sein eigenes, sehr gemäßigtes Kriegszielprogramm. Im übrigen sei die „Politik immer eine Kunst des Erreichbaren". Es sei deshalb unmöglich, sich vor Beginn der Verhandlungen auf ein starres Minimalprogramm festzulegen. M a n müsse versuchen, den Block unserer Gegner aufzusprengen, was unter Umständen Nachgiebigkeit an der einen Stelle erfordere, um an einer anderen größere Vorteile zu gewinnen. Unseren Unterhändlern würden wir nicht ein Minimum, sondern ein M a x i m u m an Forderungen mit auf den Weg geben; was davon unbedingt festzuhalten wäre, müsse nach der Gesamtlage entschieden werden. Sollte die Absprengung Frankreichs oder der Friedensschluß überhaupt an der Forderung von Briey und Longwy zu scheitern drohen, so würde die Frage „im Einvernehmen mit der Obersten

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Heeresleitung nach den Befehlen Sr. Majestät entschieden werden". Er könne unmöglich jetzt schon eine conditio sine qua non daraus machen, weil die Frage frühestens nach Monaten akut werden und niemand voraussehen könnte, wie die Gesamtlage dann aussehen würde 8 ). Der Gesandte Riezler hat später (vor dem Untersuchungsausschuß des Reichstags) diese dilatorische Taktik des Reichskanzlers nach Unterhaltungen mit ihm genauer geschildert und begründet. Danach hat er sich nicht nur geweigert, den „von irgendeinem Generalstabsoffizier entworfenen phantasievollen Kriegszielkatalog" der O H L wirklich ernst zu nehmen, sondern auch sich mit ihr lange darum zu streiten. Dabei würde bestenfalls doch nur ein Kompromiß herauskommen, das immer noch viel zu weit gehen und ihm die Hände binden würde. „Ich weiß ganz genau, in dem Augenblick, wo eine greifbare Friedensmöglichkeit vorliegt und ich damit komme, daß ich beim Kaiser alles durchsetze." Die OHL, fügte er hinzu, würde ihn mit Vorwürfen überschütten und das Volk sich über einen miserablen Frieden empören. „Aber der Frieden wird gemacht 9 )." Bethmann Hollweg hielt also damals schon eine wirkliche Verständigung mit der O H L über Kriegszielfragen für praktisch unmöglich und baute statt dessen auf die Friedensliebe und das persönliche Vertrauen des Kaisers. Von der ehemals erhofften Deckung eines „mageren Friedens" durch die Autorität Hindenburgs war längst keine Rede mehr. Einer bindenden Abmachung über das Friedensprogramm wich der Kanzler aus — aber ebenso einem offenen Kampf um die Macht; denn wie hätte er den gegen die Heroen der Volksverehrung gewinnen sollen? Auf die Dauer würden sich diese auch das Ausweichen nicht mehr gefallen lassen. Ein Vierteljahr später haben sie die förmliche Mitunterzeichnung eines Kriegszielprogramms durch Kanzler, Staatssekretär und Admiralstabschef durchgesetzt, das ganz und gar ihren Wünschen und ihren ausschweifenden Machtphantasien entsprach. Bethmann und seine Gehilfen haben dann (wie sich noch zeigen wird) ihr politisches Gewissen durch einen geheimen Vorbehalt beschwichtigt: das Programm würde ernsthafte Bedeutung nur im Fall eines Totalsieges gewinnen, den sie für praktisch ausgeschlossen hielten, und der Kaiser würde im Ernstfall den Frieden nicht an maßlosen Annexionswünschen scheitern lassen. Auch das war ein Ausweg. Aber geheimer Vorbehalt und dilatorische Taktik zeigen beide, wohin der Weg ging: zur politischen Vorherrschaft der Militärs.

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Unterdessen hatte das deutsche Angebot eines Verhandlungsfriedens trotz aller Schwächen seiner Form im Ausland, auch im feindlichen, starken E i n druck gemacht. In den skandinavischen Ländern, H o l l a n d und der Schweiz, also bei den nicht grundsätzlich deutschfeindlichen Neutralen, erweckte es sogar warme Zustimmung und anfangs sogar Hoffnung. Bei unseren Feinden dachten die Völker, wie der schwedische Außenminister Wallenberg dem deutschen Gesandten sagte, überall anders als die Regierungen. Am deutlichsten war die Reaktion der kriegsmüden Volksmassen, wie es Bethmann erwartet hatte, in Frankreich zu beobachten. T r o t z einer dringenden W a r nung, die Briand gleich am 13. in der Kammer ausgesprochen hatte, die Deutschen suchten durch ihr heuchlerisches Angebot nur die öffentliche Meinung des Landes zu vergiften, beschloß drei Tage später der Verband der sozialistischen Vereine von Paris und Vororten mit sehr großer Mehrheit eine Resolution, die es als Pflicht der alliierten Regierungen bezeichnete, „das Friedensangebot nicht zurückzuweisen, ohne die Vorschläge der Gegner zur Kenntnis genommen zu haben", und einen Vernichtungs- und Eroberungskrieg ablehnte. Auch in Italien befürchtete man ähnliche Kundgebungen und sogar innere Unruhen, falls die ablehnende Antwort der Entente in einen zu schroffen Ton verfallen sollte. Der Außenminister Sonnino hat sich deshalb in der Deputiertenkammer am 18. sehr vorsichtig über die deutsche Friedensnote ausgesprochen: niemand würde sich weigern, darüber zu verhandeln, wenn sie ernsthafte Vorschläge brächte, die den Prinzipien der Nationalität, der Menschlichkeit und Gerechtigkeit entsprächen; Italien wünsche keine Unterjochung oder Vernichtung fremder Völker. Zunächst müsse aber mit den Alliierten ein Einvernehmen über die Antwort erzielt werden. In England war die Presse, wie überall, weitgehend gleichgeschaltet im Sinn des kämpferischen Patriotismus, also mehr als mißtrauisch gegen alles, was von Berlin kam. Immerhin fingen besonders die liberalen Blätter bald an, sich ernsthaft mit dem Friedensangebot zu beschäftigen, und die Regierung wurde von vielen Seiten gewarnt, sich nicht durch glatte Ablehnung jeglicher Friedensverhandlungen ins Unrecht zu setzen und damit den geheimen Wünschen der Deutschen zu entsprechen. Außer den Neutralen (unter denen Amerika besonders hervortrat) warnte auch Sonnino vor einem solchen Verfahren, fügte freilich hinzu: Italien würde sich nie mit dem status quo zufriedengeben. Belgien wünschte eine gemeinsame Antwort zu beraten, die Deutschland auffordern sollte, seine Friedensbedingungen zu nennen, aber nicht einfach ablehnend lauten dürfe. D e r V a t i k a n machte einen ähn-

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liehen Vorschlag und fügte hinzu: der Kardinalstaatssekretär habe Grund zu glauben (natürlich aufgrund vertraulicher Mitteilungen deutscher und österreichischer Katholiken), daß die deutschen Forderungen gemäßigt sein würden 1 0 ). Das alles wurde im englischen Kabinett erwogen mit dem Ergebnis, daß Lloyd Georges Rede am 19. wenigstens formell vermied, die Tür zu Verhandlungen endgültig zuzuschlagen. Der siegesbewußte Ton der Kanzlerrede und der Friedensnote, sagte er, beweise deutlich die Fortdauer des arroganten preußischen Militarismus, der Deutschland seit langem zum verhaßten Störenfried Europas gemacht habe und dessen Ausrottung das eigentliche Ziel dieses Krieges sei. Und auf ein Friedensangebot einzugehen, dessen Bedingungen nicht bekannt wären, hieße den Kopf freiwillig „in eine Schlinge stecken, deren Strick Deutschland in der H a n d hält". Immerhin schloß er mit den Worten: „Wir werden warten, bis wir hören, welche Bedingungen und Garantien Deutschland anbietet 11 )." Es gibt Gründe, daran zu zweifeln, daß die britische Regierung ernsthaft bereit war, konkrete deutsche Friedensvorschläge auch nur anzuhören, geschweige denn zu diskutieren; denn schon das Anhören konnte in Paris als Verrat an der gemeinsamen Sache betrachtet werden 12 ). Immerhin: wenn die deutsche Regierung sofort darauf einging und zunächst wenigstens die volle Wiederherstellung Frankreichs und Belgiens in Aussicht stellte, womöglich verbunden mit der Bereitschaft zur Teilnahme an einer internationalen Friedensorganisation, so kam zwar noch immer kein Friedensgespräch der Kabinette zustande, es wurde aber doch eine Diskussion in der internationalen Öffentlichkeit entfesselt, die f ü r die Regierungen der Ententeländer sehr unangenehm werden konnte. Nichts haben die Regierungen in Paris und Petersburg mehr gefürchtet. Am eiligsten hatten es (begreiflicherweise) die Russen damit, durch einen Parlamentsbeschluß jeder Diskussion im Lande zuvorzukommen. Schon am 15., also unmittelbar nach Bekanntwerden der deutschen Friedensnote, beschloß die Duma nach einer fulminanten Rede des neuernannten Außenministers Pokrowsky nicht nur die „kategorische Ablehnung" des „heuchlerischen" Angebots der Deutschen, das nur ein Beweis ihrer inneren Schwäche sei, sondern verwarf ebenso jeden Gedanken, „unter den jetzigen Verhältnissen sich auf irgendwelche Friedensverhandlungen einzulassen". Der Beschluß wurde einstimmig gefaßt — da die radikale Linke gerade einige Tage vorher vorübergehend von den Sitzungen ausgeschlossen war. Es war eine Art von gewaltsamem Sporenstich, um den erlahmenden

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Gaul der Kriegsbegeisterung noch einmal in Trab zu bringen. Wie krampfh a f t dieser Entschluß war, zeigten die Berichte Paleologues, der Briand zu melden wußte, daß die deutschfreundlichen Kreise des Hofes, der hohen Bürokratie, der Wirtschaft und der sozialistischen Parteien dem Angebot der Mittelmächte zustimmten 13 ). Briand selbst hatte die Deputierten Frankreichs schon am 13., wie wir hörten, vor der „vergiftenden" Wirkung des deutschen Angebots gewarnt, konnte aber keinen Beschluß der Kammer herbeiführen, ohne vorher mit London verhandelt zu haben. Dort schlug Unterstaatssekretär Hardinge vor, man solle antworten, daß man Vorschläge von den Deutschen erwarte. Aber am Quai d'Orsay f a n d man das viel zu gefährlich, weil das zu Diskussionen führen könnte. Was Deutschland auch immer vorschlüge, schrieb de Margerie (Direktor der Politischen Abteilung), man könne ihm doch nicht trauen. Mit einem solchen Gegner könne nicht anders verhandelt werden als so, daß man ihm die eigenen Bedingungen aufzwinge. Das war am 19. Dezember. Am selben Tage hielt Briand eine Rede im Senat, in der er eine gemeinsame Antwort der Alliierten ankündigte, und zwar eine ablehnende, da es sich nur um ein deutsches Betrugsmanöver und ein Symptom nachlassender K a m p f k r a f t handele. Nach einer Geheimsitzung, die auf Antrag Clemenceaus daraufhin stattfand, wurde vom Senat am 22. kurzerhand erklärt, „daß Frankreich mit einem Feinde, der sein Gebiet besetzt hält, nicht Frieden schließen kann". Das war eine eindeutige Festlegung. Aber die gemeinsame Antwort der Entente zu formulieren, machte doch einige Mühe. Das französische Außenministerium, das diese Aufgabe (mit englischem Einverständnis) übernahm, stieß mit seinen Entwürfen auf mancherlei Widerspruch. Es sollte eine Note werden, die noch mehr auf die Neutralen und die Völker als auf die Regierungen der Mittelmächte wirken sollte, also die Ablehnung des Friedensangebotes sehr geschickt und vorsichtig begründen mußte 14 ). Welche Verlegenheit, als mitten in diese Vorbereitungen am 20. eine (schon vom 18. datierte) Friedensnote des Präsidenten Wilson hineinplatzte! Sie erklärte freilich, in keiner Weise mit der deutschen zusammenzuhängen, sie sei schon lange vorher geplant gewesen. Sie hütete sich auch, eine Vermittlertätigkeit des Präsidenten anzubieten oder einen Friedensvorschlag zu machen, weil das von den Alliierten als Einmischung empfunden werden konnte. Aber sie tat genau das, was der deutschen Regierung am unangenehmsten und von ihr am wenigsten erwartet war: sie forderte die Streiten-

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den auf, endlich einmal ihre Kriegsziele genauer zu präzisieren. Vielleicht wären sie gar nicht so weit voneinander entfernt, wie man fürchte, so daß eine Verständigung möglich wäre. Denn auf beiden Seiten höre man ja Erklärungen f ü r dieselben idealen Ziele wie Schutz der kleinen und schwachen Völker vor der Vergewaltigung, Sicherung eines Dauerfriedens durch einen Völkerbund statt konkurrierenden Mächtegruppen u. dgl. Eben diese versöhnliche Wendung, die beide kämpfende Gruppen auf dasselbe moralisch-politische Niveau stellte, statt den „Aggressor" moralisch zu verdammen, weckte in England und Frankreich heftige Empörung. Wilson selbst hat sie zweifellos ernst gemeint: er sträubte sich, an die Unversöhnlichkeit der nationalen Interessengegensätze zu glauben und wollte einen Verständigungsfrieden, um dem — sonst mit Sicherheit vorauszusehenden — unbeschränkten U-Boot-Krieg und damit der Kriegsteilnahme des eigenen Landes zu entgehen 15 ). Aber seine nächsten Berater fürchteten, die Freundschaft der Ententeregierungen durch versöhnlich klingende Kundgebungen zu zerstören, und boten alles auf, sie zu beschwichtigen, indem sie die Note nicht allzu ernst zu nehmen rieten. Der englandhörige Botschafter Page sprach selbst zu Balfour von „insulting words" (beleidigenden Worten) seines Präsidenten, die er als bedauerliche Entgleisung auffaßte, und warnte davor, „das Schwein im Sack zu kaufen", wie es die Deutschen den Alliierten zumuteten. Lansing ging soweit, die Wirkung der Note beinahe zu sabotieren, indem er in einer Pressekonferenz erklärte, Amerika stünde bereits am Rande des Krieges und wolle nun genau wissen, für was eigentlich gekämpft werden solle; es handle sich also um nichts weniger als eine Friedensnote. Wilson, der darüber so empört war, daß er im ersten Augenblick an seine Entlassung dachte, zwang ihn, diese Erklärung nachträglich stark abzuschwächen. Aber der amerikanische Gesandte in Paris Sharp tat alles, um unter Berufung auf Lansing die Franzosen zu beruhigen: die amerikanische Note sei weiter nichts als ein taktisches Manöver zu innenpolitischen Zwecken. Lansing selbst beteuerte dem Botschafter Jusserand, der Präsident stünde mit seinen Sympathien durchaus auf Seiten Frankreichs, er selbst, der Staatssekretär, halte alle französischen Kriegsziele f ü r legitim (einschließlich der Rückgabe Elsaß-Lothringens, über die sich damals House und Wilson noch nicht ganz im klaren waren) und riet, den Deutschen zu antworten, man könne nicht mit einer „militärischen Autokratie" verhandeln, sondern nur mit einer iiberalisierten Regierung (wie es dann ja auch 1918 geschehen ist). Im übrigen glaubte er zu wissen, die Deutschen wären bereits so entmutigt, daß sie

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die Bedingungen der Alliierten wahrscheinlich annehmen würden. Ähnlich hat er sich dem britischen Botschafter Spring-Rice gegenüber geäußert 16 ). Trotz aller Verärgerung über den Friedensschritt Wilsons haben die Ententeregierungen ihre Antwort an ihn mit ebensolcher Vorsicht und Sorgfalt vorbereitet wie die an Deutschland. Sie hatten dazu um so mehr Anlaß, als die amerikanische N o t e bei den Neutralen ein sehr warmes Echo fand, das die schweizerische und die skandinavische Regierung auch in offiziellen Antwortnoten zum Ausdruck brachten. Die Antwort an Deutschland wurde am 30. Dezember von Briand dem amerikanischen Botschafter überreicht und am 31. veröffentlicht. Sie vermied offene Schmähungen (wie sie Briands Entwurf ursprünglich enthalten hatte), stellte aber mit betonter Schärfe Deutschland als den Angreifer und Rechtsbrecher und Verächter der Menschenrechte dar (nicht ohne Hinweis auf die Zwangsarbeiten und Deportationen in Belgien) und suchte ihm damit das moralische Fundament für einen Frieden der Verständigung zu entziehen. Das deutsche Angebot wurde als bloßes Taschenspielermanöver zur Verwirrung der öffentlichen Meinung bezeichnet, als kunstvoll gestellte Falle, um in Verhandlungen die augenblickliche Gunst der Kriegskarte auszunutzen und der Welt einen „deutschen Frieden" aufzwingen zu können, vor allem, um die Verantwortung f ü r das Unheil des Krieges der anderen Seite aufzuladen. Von Friedensbedingungen war nur andeutungsweise die Rede: Wiederherstellung aller verletzten Rechte und Freiheiten, Prinzip des Rechts der Nationalitäten (in sehr allgemeiner, für alle Beteiligten unverbindlicher Form), freie Existenz der kleinen Staaten, wirksame Garantien f ü r die allgemeine Sicherheit, endgültige Beseitigung der lange schon anhaltenden Bedrohung der Welt. Damit war der „preußische Militarismus" gemeint; aber er wurde nicht genannt, und auch nicht von „Vernichtung" der deutschen Macht gesprochen. Ebensowenig vom sicheren Triumph der alliierten W a f f e n . Statt dessen wurde beteuert, daß die alliierten Regierungen den „Ernst der Stunde" tief empfänden, aber völlig einig in ihrer Haltung mit ihren Völkern wären. Alles war also aufgeboten, um Deutschland selbst die Schuld am Scheitern seiner Friedensaktion aufzuladen und sie als unaufrichtig zu verketzern. Die Antwort an Wilson zog sich sehr viel länger hin (bis zum 10. Januar), da es sich als schwierig erwies, die maßlosen Eroberungsziele der Alliierten Englands in eine Form zu bringen, die sie Amerika gegenüber nicht als gar zu anstößig erscheinen ließ. Besonders das von England propagierte

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„Nationalitätsprinzip" machte den Russen und Franzosen Kopfschmerzen, weil es (wie Botschafter Jusserand schrieb) zu gehässigen Hinweisen auf Irland (wo eben ein Aufstand der Sinnfeiners niedergeschlagen war), Polen, die Burenrepublik, Indien usw. führen konnte. Aber das Kunstwerk gelang — in der Hauptsache durch Verschweigen der extremsten Abmachungen und durch moralisch-völkerrechtliche Verklärung der Hauptziele. Die Mächte des Vierbundes wurden nicht nur als gemeingefährliche Aggressoren und Welteroberer, sondern schlechthin als verbrecherisch geschildert, unter Aufzählung aller Kriegsgreuel von der belgischen Invasion, dem scheußlichen Armeniermassaker, das die Türken erst kürzlich angerichtet hatten, bis zu der (noch zu besprechenden) Erschießung der Krankenschwester Miß Cavell, den belgischen Arbeiterdeportationen, den Bombardements der Zeppeline auf London und - selbstverständlich - den U-Boot-Handelskrieg. Demgegenüber erschienen die Alliierten als Retter der Humanität und des internationalen Rechts, völlig einverstanden mit den idealen Zielen Wilsons, aber entschieden dagegen protestierend, daß sie mit ihren Gegnern auf eine Stufe gestellt würden, als stünden sich hier zwei „Gruppen von Kriegführenden" mit gleichem Rechtsanspruch gegenüber. N u r zur Sicherung des Rechtes und der Freiheit verlangten sie außer der Wiederherstellung und Entschädigung Belgiens, Serbiens, Montenegros die Räumung und Schadloshaltung Frankreichs, Rußlands, Rumäniens, die „Garantie territorialer und maritimer Grenzen gegen ungerechtfertigten Angriff" — ohne sie näher zu bezeichnen —, die Rückgabe „früher gewaltsam entrissener Provinzen", die „Befreiung der Italiener, Slawen, Rumänen und Tschechoslowaken von fremder Herrschaft", die Befreiung von (nicht näher genannten) Völkerschaften von der blutigen Tyrannei der Türken und deren Vertreibung aus Europa. Die deutsche Bevölkerung wolle man nicht „ausrotten" (!) oder „politisch verschwinden lassen 17 )", aber Europa von der „brutalen H a b sucht des preußischen Militarismus befreien". Es gab im Lager der Entente nur einen Staatsmann, der sich hartnäckig weigerte, die von Deutschland dargebotene H a n d ohne weiteres zurückzustoßen. Es w a r der Monarch des am schwersten getroffenen, von der deutschen Militärverwaltung gerade jetzt mit Brutalität ausgebeuteten Landes: König Albert I. von Belgien. Er brachte sein Ministerconseil am 19. bis 20. Dezember zu dem Beschluß, eine eigene belgische Antwort an Deutschland zu erteilen und dessen Friedensfühler nicht eher abzulehnen, ehe man nicht die deutschen Friedensbedingungen erfahren hätte. Dahinter stand

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der uns schon bekannte Widerwille des Königs gegen eine Fortsetzung des Krieges ä outrance, der Belgien in jedem Fall vollends ruinieren mußte. „Unser Kriegsziel ist nicht dasselbe wie das Englands", schrieb er am 5. Dezember in sein Tagebuch. „Wir stehen nicht unter Waffen, um Deutschland zu zerstören." Er ließ sich auch von einem französischen Diplomaten, den man zu ihm sandte (Berthelot) nicht davon überzeugen, daß der Krieg (dem Amerika ja damals noch nicht beigetreten war) sicherlich mit einem Totalsieg der Entente enden würde, sondern glaubte an ein Ende durch allgemeine Erschöpfung ohne Sieger und Besiegte. Anderseits meinte er zu wissen (so berichtet wenigstens sein Biograph), daß die deutsche Politik zu einer Wiederherstellung der Unabhängigkeit Belgiens, zum Verzicht auf den Kongo und zu Entschädigungszahlungen bereit war 18 ). Er dachte nicht etwa an Sonderfrieden und erklärte den Engländern, die das befürchteten, Belgien könne ja gar nicht von den Deutschen geräumt werden, ehe der allgemeine Friede herbeigeführt wäre. Aber er verlangte Verhandlungen mit dem Gegner, nicht gerade jetzt, auf der Höhe deutscher militärischer Erfolge, aber möglichst bald. Er war entsetzt, aus dem Munde Berthelots zu hören: „Selbst wenn Deutschland uns Elsaß-Lothringen anböte und noch mehr, würde es nach meiner Meinung keinen Franzosen geben, der daran dächte, die W a f f e n niederzulegen." Mit seiner Opposition erregte der König natürlich große Aufregung in London und Paris — so große, daß seine Minister bald wieder schwankend wurden und sich (zu seinem tiefen Verdruß) auf ein Kompromiß einließen: der alliierten Antwortnote an Deutschland wurde ein besonderer Schlußteil angehängt, der Belgiens moralischpolitische und völkerrechtliche Sonderstellung unterstrich, ohne indessen mehr zu enthalten als ziemlich nichtssagende Allgemeinheiten, deren Zweck dunkel blieb. Der gemeinsamen Antwort auf die amerikanische Friedensnote dagegen wurde ein belgisches Sondervotum beigefügt, das jedes Wort über die Aussichten einer Friedensvermittlung vermied, die „leidenschaftliche Sehnsucht" des leidenden belgischen Volkes nach einer „Beilegung dieses langen Krieges" stark unterstrich und Amerikas H i l f e bei der Rettung und Wiederherstellung des Landes erbat 19 ). Die politische Linie der Alliierten war durch ihre Antworten auf die deutsche und amerikanische N o t e eindeutig festgelegt: sie wollten jetzt keine Friedensverhandlungen und lehnten auch Wilson als Vermittler ab. Sie wollten nicht eher verhandeln, als bis ihr militärischer Triumph eindeutig

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feststand. Sogar das Zarenreich, nahe am inneren Zusammenbruch, getraute sich nicht von dieser Linie auch nur einen Schritt abzuweichen. Dieser geschlossenen und klaren H a l t u n g der Ententemächte gegenüber bietet die deutsche Politik in den entscheidenden Wochen um die Jahreswende 1916/17 ein Bild der vollendeten Unsicherheit, Uneinigkeit und Verwirrung. Wie lange und eifrig hatte sich Bethmann Hollweg um einen amerikanischen Schritt zur Herbeiführung eines Verständigungsfriedens bemüht! N u n , da er erfolgte, wurde er in Berlin nicht mit Freuden als Unterstützung des deutschen Friedensangebotes aufgenommen, sondern teils mit Mißtrauen, teils mit Zweifel und Sorge. Nicht nur die Rechtsparteien, sondern auch die O H L wollten nichts anderes darin sehen als ein mit England abgekartetes Manöver, um den Beginn des U-Boot-Krieges neu hinauszuzögern und dadurch das bedrohte Inselreich zu retten. Das war nun ziemlich genau das Gegenteil der Wahrheit; aber Hindenburg fuhr sogleich schweres Geschütz a u f : „Wir können aus nationalen Gründen", telegraphierte er dem Kanzler, „in Rücksicht auf unsere starke militärische Position darauf nicht eingehen. Es würde eine schwere und militärisch nicht zu rechtfertigende Unterlassung sein, wollten wir uns irgendwie hinhalten lassen. Dies würde auch die Armee, die am Feinde steht, in gleicher Weise empfinden. Offiziere und Soldaten erwarten den rücksichtslosen Einsatz aller K r a f t 2 0 ) . " Eine so plumpe Attacke konnte Bethmann Hollweg zunächst noch abwehren. Aber nicht nur der Kaiser, sondern auch Zimmermann, sein außenpolitischer Mitarbeiter, waren mißtrauisch: wenn der Präsident in seiner K u n d gebung die Bekanntgabe der Kriegsziele forderte, so schien er sich doch, trotz gegenteiliger Beteuerungen seiner Note, in das Materielle der Friedensverhandlungen einmischen zu wollen? In diesem Mißtrauen kam die ganze Paradoxie (und darum Halbheit) der deutschen Politik gegenüber Wilson zum Ausdruck: man hatte ihn als eine Art Vertrauensmann für die Vermittlung eines Verständigungsfriedens angerufen, ohne ihm doch wirklich zu vertrauen, ohne an die Echtheit seiner Neutralität zu glauben und ohne darum seine Vermittlung wirklich zu wollen. Man erwartete von ihm, daß er die Kriegführenden an einen Tisch bringen sollte, ohne ihnen irgend etwas von dem zu verraten, was wir dem Gegner dort vorlegen wollten. Zimmermann fürchtete sogar (wir hörten es schon) das Zustandekommen der von uns selbst vorgeschlagenen Friedenskonferenz, weil wir dort endlich Farbe bekennen mußten, und weil er meinte, sie würde in jedem Fall unseren stärksten militärischen Schlag, den verschärften U-Boot-Krieg, hinauszögern. U n d

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mit ihm stellten sich, wie es scheint, noch andere Staatsmänner in der nächsten Umgebung des Kanzlers (Helfferich, Solf, Kühlmann) die Verhandlungen so vor, daß man einen der Gegner gegen den anderen ausspielen und schließlich einen von ihnen (etwa Rußland) aus dem feindlichen Block heraussprengen würde 21 ). H a t t e das aber, nach den Regierungserklärungen in Paris, London, Petersburg und Rom zur deutschen Friedensnote, noch irgendwelche Aussicht auf Erfolg? Und glaubte man, Wilson würde bereit sein, dazu die H a n d zu bieten? N u n war sich auch der Präsident darüber klar, daß mit einer öffentlichen Debatte über laut proklamierte Kriegsziele auf dem Weg zu einer Verständigung der Regierungen nicht weiterzukommen war. Er ergänzte deshalb am 24. seine Friedensnote durch eine an alle Kriegführenden gerichtete Mitteilung, ihre Antwort könne auch vertraulich erfolgen. Botschafter Bernstorff erfuhr schon am 21. aus dem Munde Lansings dasselbe mit dem Bemerken, die geplante Konferenz könne aus solchen vertraulichen Bekanntgaben der Friedensprogramme erst allmählich erwachsen. Bernstorff faßte das so auf, daß der Präsident als eine Art von „Clearing house" f ü r die weiteren Schritte zum Frieden tätig werden möchte. Aber damit erregte er bei Zimmermann erst recht Besorgnis. Wollte Wilson etwa direkte Verhandlungen zwischen den Kriegführenden verhindern, um sich einmischen zu können? Bethmann Hollweg, auf dessen Schultern die ganze Last der Verantwortung lag, hat von Anfang an (wir hörten es schon) die amerikanische Mittlertätigkeit ernster genommen und mehr davon erwartet, als alle seine Mitarbeiter. Aber niemand hatte so viel wie er von einer Diskussion der deutschen Parteien über seine Kriegszielliste zu fürchten — wenn sie erst einmal in ihrer ganzen Mäßigung bekannt wurde. U n d sehr gemäßigt mußte sie schon sein, wenn sie überhaupt internationales Gehör finden sollte. Nicht nur die ganze Zerrissenheit der öffentlichen Meinung in Deutschland würde durch eine solche Diskussion (seit Ende November war sie auf Drängen der Parteien offiziell in der Presse freigegeben) an den Tag kommen und noch gewaltig verstärkt werden, sondern ebenso der Zwiespalt zwischen politischer Reichsleitung und O H L , den man ihr bisher sorgfältig verborgen hielt und der gerade in diesen Tagen infolge der vorhin erörterten, ausschweifenden Annexionsforderungen der Marine- und der Heeresleitung bis hart an den Bruch heranführte. Gewiß: die Amerikaner wünschten zunächst nur vertrauliche Mitteilungen; aber wer konnte sich, nach früher gemachten E r f a h rungen, auf die Diskretion des State Department wirklich verlassen? Daß es

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der Neugier der Journalisten in hohem Maße zugänglich war, wußte alle Welt. Es lag also nahe, die Antwort auf Wilsons Friedensnote mindestens so lange hinauszuzögern, bis wir die schriftliche (und damit endgültige) Antwort der Feindmächte auf unser eigenes Angebot in H ä n d e n hielten. Fiel sie, (wie zu vermuten) negativ aus, so w a r unsere Weigerung, unsere Kriegszielliste vorzeitig aus der H a n d zu geben, wohlbegründet: sie war zwecklos, wenn die Gegner jede Verhandlung verweigerten, und die Verantwortung f ü r das Scheitern der Friedensaktion fiel dann eindeutig der anderen Seite zu, auch in den Augen Wilsons. Höchst unglücklich war es dagegen, sofort zu erklären (wenn auch in höflicher Form), wir wünschten eine Erörterung der Friedensbedingungen „in unmittelbarem Gedankenaustausch" mit unseren Gegnern, also ohne Beteiligung Amerikas, das erst nach Kriegsende zugezogen werden sollte, um die Möglichkeiten einer dauernden Sicherung des Friedens (durch eine Völkerbundorganisation) zu erörtern. Eben das aber geschah in der Antwortnote, die Zimmermann im Namen des Auswärtigen Amtes am 26. dem amerikanischen Botschafter Gerard überreichte. Es war trotz aller verhüllenden Worte eine Art von Mißtrauenserklärung, und praktisch um so mehr verfehlt, als man ja schon aus den Reden Lloyd Georges vom 19. wissen mußte, daß unsere Gegner gar nicht daran dachten, „das Schwein im Sack zu kaufen", sondern zunächst abwarten wollten, was die deutsche Regierung an Friedensbedingungen zu bieten hatte, ehe sie sich, (wenn überhaupt) an den Konferenztisch setzten, wie es Zimmermanns Note erneut vorschlug. Der Staatssekretär, der diese überstürzte Antwort formulierte (nach einigem Schwanken und nach Vorberatung mit Wien) hat seinen verfehlten Schritt damit begründet, wir müßten einer zu erwartenden Frage unserer Feinde nach unserer Kriegszielliste (die ja Lloyd George in Wahrheit schon gestellt hatte!) zuvorkommen und uns die Initiative in der Friedensfrage nicht durch Wilson aus der Hand winden lassen. Wie aus der Summe seiner Äußerungen in diesen Tagen hervorgeht, wollte er im Grunde keine allgemeine Friedenskonferenz und auch keine Tätigkeit Amerikas als vermittelndes „clearinghouse", weil er davon, ähnlich wie alle deutschen Rechtspatrioten und die O H L , nach den Reden der uns feindlichen Regierungshäupter nur noch Unheil f ü r Deutschland erwartete. O b Bethmann ebenso gedaclit hat, ist zweifelhaft; aber er stand in diesen Wochen (wie noch zu erörtern sein wird) unter stärkstem politischen Druck der O H L , was ihn erst recht skeptisch und unsicher machte. So ließ er Zimmermann freie Hand 2 2 ).

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Vielleicht ist er sich nicht sogleich bewußt geworden, daß er damit die Linie seiner bisherigen Amerikapolitik verließ. Jedenfalls war er sofort bereit, sie wieder aufzunehmen, als kurz nach Veröffentlichung der ablehnenden Antwort der Ententeregierungen auf unser Friedensangebot überraschende neue Erbietungen aus Washington eintrafen. Man hat (schon damals in Ententekreisen) viel davon gesprochen, daß Präsident Wilson dadurch gekränkt worden sei, daß die Zentralmächte seiner Friedensnote durch eine eigene zuvorkamen. Und sicherlich war ihm das zunächst ärgerlich, weil nun seine Aktion in den Verdacht geriet, zur Unterstützung der Deutschen unternommen zu sein. Aber, wie sein neuester Biograph (A. S. Link) nachweist, hat ihn der Kommentar, den ihm Bethmann Hollweg durch Bernstorff und Grew übermitteln ließ, tief befriedigt und zu seiner eigenen Friedensaktion erst vollends ermutigt. Er hat an ihr unentwegt weitergearbeitet, bis zum letzten Januartag — immer in der Sorge vor dem unbeschränkten U Boot-Krieg, der für Amerika nach allen Vorgängen der letzten Jahre den Kriegseintritt unvermeidlich machte, wenn es sein außenpolitisches Prestige nicht völlig verlieren wollte. Für ihn persönlich war diese Aussicht doppelt bedrückend, weil er stolz darauf war, Pazifist zu sein und seine Wiederwahl im Herbst 1916 hauptsächlich dem Ruf verdankte: er habe das Land vor dem Krieg bewahrt. Aus dieser Haltung mag es sich erklären, daß er die ablehnende Note Zimmermanns nicht mit Empfindlichkeit aufnahm 23 ), sondern sich auf einen neuen Vorschlag einließ, den sein Freund House mit dem immer verständigungsbereiten Botschafter Grafen Bernstorff am 27. Dezember ausheckte: die deutschen Friedensforderungen sollten streng vertraulich nicht dem State Department, sondern House zur persönlichen Information des Präsidenten mitgeteilt werden. Dieser wollte dann versuchen, aufgrund dieser Kenntnis eine Friedenskonferenz zustandezubringen. Die Amerikaner legten (so berichtete Bernstorff) auf territoriale Neuregelung geringen Wert, um so stärkeren auf Zustimmung zu ihren Plänen für eine Sicherung des Friedens: Abrüstung, „Freiheit der See", schiedsrichterliche Einrichtungen und Friedensliga. Bernstorff war auch diesmal optimistisch: er glaubte nicht, daß die Amerikaner auf ihrer eigenen Teilnahme an der Friedenskonferenz bestehen, wohl aber daß sie bereit sein würden, auf die Entente einen starken Druck auszuüben, um die Konferenz in Gang zu bringen, die ohne diese Nachhilfe bestimmt nicht zustande kommen würde. „Mit Ausnahme der belgischen Frage", schloß er, „dürfte die hiesige Regierung uns bei allen Ver-

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handlungen mehr Vorteil als Nachteil bringen, da die Amerikaner jetzt erst zur Erkenntnis gekommen sind, was die Seeherrschaft Englands bedeutet." E r empfahl also mit Wärme, die Vermittlung Wilsons in Anspruch zu nehmen, ließ allerdings erkennen, daß er fürchtete, man würde in Berlin sich dagegen sträuben. D a s war bei Bethmann Hollweg selbst zunächst nicht der Fall. Bernstorffs Depesche erreichte ihn erst am 3. Januar, als mittlerweile die Antwort der Entente auf unser Friedensangebot eingetroffen war, die jede H o f f n u n g auf „direkte Verständigung" mit unseren Gegnern zerstörte. O f f e n b a r hat ihn der Optimismus des Botschafters nicht unberührt gelassen. Vielleicht öffnete sich hier, nach dem Scheitern unserer eigenen Friedensaktion, doch noch ein Weg, mit H i l f e des Präsidenten (dessen Appell ja noch nicht von den Alliierten beantwortet war) dem ersehnten Ziel näher zu kommen? Jedenfalls setzte er eigenhändig einen Entwurf zur Antwort nach Washington auf, der mit Sicherheit eines beweist: daß es ihm bei der ganzen Aktion nicht darauf angekommen ist, den rücksichtslosen U-Boot-Krieg diplomatisch vorzubereiten, sondern ihn, wenn irgend möglich, noch im letzten Augenblick zu verhindern. Zum mindesten wollte er sich bemühen, durch Entgegenkommen die Verantwortung f ü r das Scheitern der Friedensaktion auf die Gegenseite abzuwälzen. Sein Entwurf enthielt zunächst eine Kriegszielliste, die im großen und ganzen dem Programm entsprach, das der Kanzler am 4. November der O H L übersandt hatte, ohne deren Abänderungen und Zusätze zu berücksichtigen, aber mit einer leichten Verschärfung an einzelnen Stellen. Neu war (mit Rücksicht auf die Bundesgenossen) die generelle Forderung „territorialer Integrität Deutschlands und seiner Verbündeten" und eine allerdings sehr knappe und vage Erwähnung der wichtigsten Kriegsziele Österreich-Ungarns und Bulgariens 2 4 ). Der Botschafter sollte ermächtigt werden, diese Liste unter der Voraussetzung absoluter Diskretion an House und Wilson mitzuteilen und hinzufügen, wenn „auf solcher Grundlage in einer Konferenz zwischen den Kriegführenden ein Präliminarfrieden zustande käme, verpflichte sich Deutschland, auf einer allgemeinen Konferenz (also unter Beteiligung der Neutralen) für schiedsrichterliche Einrichtungen und Friedensliga einzutreten und nach Wegen zu suchen, auf denen g e schränkte Abrüstung zu Lande und zu Wasser' zu erreichen und damit auch die Freiheit der See herzustellen w ä r e . " D a s war eine volle Annahme der Vorschläge House-Bernstorffs — nur daß die Erfüllung der deutschen Kriegsziele im Präliminarfrieden zur Be-

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dingung einer deutschen Unterstützung der amerikanischen Wünsche für den künftigen Frieden gemacht wurde. Offenbar hoffte Bethmann, dadurch den Präsidenten zu unserer Unterstützung zu gewinnen. Aber das setzte schon ein gewisses Vertrauen auf dessen ehrlich neutrale Haltung, ja mehr noch: auf sein Verständnis f ü r die Kriegsziele der Mittelmächte voraus. Besaß er das nicht, betrachtete er die Liste der Friedensforderungen mit englischen Augen, d. h. als unerhörte Arroganz und Zeichen unbelehrbaren Militarismus, so war zu erwarten, daß er dagegen wirken und daß so die Mitteilung der Liste das deutsch-amerikanische Verhältnis nur noch verschlimmern statt verbessern würde. Es ist unbekannt, ob es diese Erwägungen waren oder andere, die den Kanzler schließlich bestimmt haben, seinen Entwurf fallen zu lassen zugunsten eines anderen, der von Zimmermann im Auswärtigen Amt aufgesetzt und auch der O H L zur Billigung vorgelegt wurde. Denn so weit war es inzwischen schon gekommen, daß ohne Ludendorffs Zustimmung kein wichtiges diplomatisches Aktenstück mehr hinausgehen konnte. Wahrscheinlich w a r auch dies ein Grund f ü r Bethmanns Verzicht: er konnte angesichts der inzwischen entstandenen ungeheuren Spannung mit dem Großen H a u p t quartier gar nicht hoffen, seinen Entwurf dort durchzubringen. So fand er sich damit ab, daß ein ganz anderer, von Zimmermann formulierter und mit der O H L und Holtzendorff beratener Entwurf nach Washington am 7. Januar übermittelt wurde, in dem von gemeinsamer Arbeit an einem Ausgleichsfrieden keine Rede mehr war 25 ). Statt dessen wurde die amerikanische Vermittlung noch schroffer als je zuvor abgewiesen: sie sei „schon wegen unserer öffentlichen Meinung (!) durchaus unerwünscht". Wir dürften nicht den Eindruck der Schwäche erwecken und wären überzeugt, „den Krieg militärisch und wirtschaftlich zu einem siegreichen Ende bringen zu können" (was f ü r die politischen Stellen sicher nicht zutraf). Die Frage der Friedensbedingungen solle „dilatorisch" behandelt werden, aber mit Eifer wäre unsere Bereitschaft zur Mitarbeit an Wilsons Friedensliga und dgl. zu betonen; freilich könnte davon erst nach Vollzug eines Präliminarfriedens die Rede sein. Einstweilen böten wir den Abschluß eines Schiedsgerichtsvertrages (sog. Bryan-Paktes) mit Amerika als Zeichen unseres guten Willens an. Außerdem sollte Bernstorff versichern, daß unsere Friedensbedingungen sehr gemäßigt wären und wir Belgien nicht annektieren wollten, dagegen allerdings die elsaß-lothringische Frage als indiskutabel betrachteten und uns keine wirtschaftliche Boykottierung nach dem Kriege gefallen lassen wür-

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den. Den Schluß bildete eine Art von Drohung: falls Wilson, wie nach den bisherigen Erfahrungen zu befürchten sei, keine Möglichkeit besäße, die Entente durch „starken Druck" auf England „zum Einlenken zu nötigen", würde der unbeschränkte U-Boot-Krieg zur „unbedingten Notwendigkeit". Sollte Bernstorff ein Mittel wissen, ihn ohne Bruch mit Amerika durchzuführen, so möchte er es sofort drahten 26 ). Die ganze Instruktion war offensichtlich mehr unter dem Gesichtspunkt entworfen, damit Beifall bei der Obersten Heeresleitung zu ernten, nach deren Wünschen sie auch umgestaltet wurde 27 ), als unserem Botschafter bei seinen Verhandlungen mit den Amerikanern hilfreich zu sein. D a ß Bethmann Hollweg ihre Absendung zuließ, war eine recht bedenkliche Konzession. Je länger wir uns weigerten, unsere Friedensbedingungen auch nur in vertraulicher Form zu nennen (während die Ententemächte die ihrigen drei Tage später aller "Welt bekannt gaben), um so größer wurde die Gefahr, daß unser Friedensangebot den Amerikanern als bloße Spiegelfechterei erschien. Inzwischen w a r die Entmachtung des Kanzlers auch in der Frage des U-Boot-Krieges erfolgt: eine im höchsten Grad schicksalhafte Wendung im Verhältnis von Staatskunst und Kriegshandwerk. Wie zu erwarten, hatte Ludendorff gleich die ersten Nachrichten über die Rede Lloyd Georges vom 19. Dezember zu der Forderung benutzt, der U-Boot-Krieg müsse nunmehr „mit aller Schärfe" einsetzen. Auch die Lage an der Westfront, die er soeben besichtigt hatte, zwinge dazu. Zwar ließ er sich dann durch Zimmermanns Antwort, man müsse „ruhiges Blut und einen kühlen Kopf behalten" und „zunächst die formelle Antwort der Gegner auf das Friedensangebot abwarten", noch einmal beschwichtigen, wollte sich aber mit dem verschärften Vorgehen gegen bewaffnete Handelsschiffe, das früher verabredet und ihm auch jetzt wieder in Aussicht gestellt wurde, nicht mehr begnügen. „Ohne rücksichtslosen U-Boot-Krieg", erklärte er am 22., „werden wir den Feldzug verlieren. Sein Eindruck von der Westfront hätte ihn hierin noch bestärkt." Der Reichskanzler hätte ja im September zugestimmt, daß die O H L über den Zeitpunkt des Beginns des rücksichtslosen U-Boot-Krieges entscheiden solle. Dieser Zeitpunkt sei Ende Januar gekommen. Amerika würde sowieso über kurz oder lang gegen uns losschlagen. „Der Feldmarschall könne die Verantwortung für den Verlauf des Feldzugs nicht mehr tragen, falls sich die Regierung noch länger sträuben sollte 28 )." Hindenburg bestätigte das in dem uns schon bekannten Tele-

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gramm vom 23., in dem er die Friedensnote Wilsons für ein bloßes Manöver erklärte, um England durch Hinauszögern unseres Entschlusses zu H i l f e zu kommen 2 9 ). Auch er berief sich auf die im September gemachten Zusagen Bethmanns, begnügte sich aber damit, zunächst noch einmal den Unterwasserangriff auf bewaffnete Handelsschiffe zu fordern; auf die D a u e r könne das aber nicht genügen. Allenfalls ließen sich gewisse Rücksichten gegenüber den nordischen Staaten, vielleicht auch Amerika gegenüber, diskutieren, falls sie die Wirksamkeit des U-Boot-Krieges nicht verminderten. „Ich behalte mir nach dieser Richtung meine Stellungnahme ausdrücklich v o r " , fügte er selbstbewußt hinzu, und forderte jetzt schon Vorbereitungen für den unbeschränkten U - B o o t - K r i e g . D a m i t war dem Kanzler eine A r t von Ultimatum gestellt, und zum zweiten Male die schon im Oktober umstrittene Kompetenzfrage aufgegriffen. Natürlich verwies er auf seine damalige Antwort und hielt daran fest, daß „zunächst" nur die Torpedierung bewaffneter Schiffe in Frage käme. Auch darüber könne eine Erklärung an Amerika (die schon vorbereitet sei) frühestens nach dem Eingang der formellen Antwort unserer Gegner erfolgen. Diese würde wohl in der Hauptsache ablehnend lauten, „vielleicht aber noch eine Hintertür offen lassen", die wir nicht zuschlagen dürften. W i r müßten doch den Eindruck vermeiden, als ob unsere ganze Friedensaktion nur als „Auftakt für den uneingeschränkten U - B o o t - K r i e g " geplant gewesen wäre, wie jetzt schon viele Stimmen im neutralen Ausland behaupteten, leider durch Kriegsrufe der deutschen Presse darin bestärkt. Bethmann Hollweg kann wohl kaum erwartet haben, daß diese Argumente auf die O H L starken Eindruck machen würden; denn für sie hatte j a die ganze Friedensaktion niemals etwas anderes bedeutet als einen „Auft a k t " zum U-Boot-Krieg. Aber er gab sich betont versöhnlich, um einen offenen Konflikt womöglich zu vermeiden. Eben deshalb schloß er auch sein Telegramm mit einer Wendung, die seine ganze innere Unsicherheit erschrekkend verrät: „Wofern ich mich mit Euer Excellenz davon überzeugen kann, daß die Vorteile des ganz rücksichtslosen U-Boot-Krieges größer sind als die Nachteile des Eintritts Amerikas zu unseren Feinden, werde ich bereit sein, auch die Frage des uneingeschränkten U-Boot-Krieges in Erwägung zu ziehen." Besprechungen darüber könnten stattfinden, „sobald unsere Friedensaktion durch die evtl. Antwort der Entente zu einem gewissen Abschluß gelangt ist". Selbstverständlich würde er auch „der Stimmung in der Armee voll Rechnung tragen".

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Das war bereits ein halber Rückzug, wenn auch der Kanzler sich selbst die letzte Entscheidung vorbehielt. Die Generäle stießen denn auch, nach soldatischer Art, sofort nach: mit einem Telegramm von massiver Rücksichtslosigkeit (26. Dezember): „Unsere militärische Lage", hieß es darin, „erlaubt es nicht, durch irgendwelche Verhandlungen eine einmal als richtig erkannte militärische Maßnahme hinauszuschieben und so die Energie der Kriegführung zu lähmen." Die O H L bitte also, den U-Boot-Krieg gegen bewaffnete Handelsschiffe sofort ohne Verhandlungen mit Amerika beginnen zu lassen und „unverzüglich" Besprechungen über den verschärften (gemeint war: unbeschränkten) U-Boot-Krieg aufzunehmen. Die öffentliche Meinung mache nun einmal in mißverständlicher Auffassung der Erklärung Bethmanns vor der Reichstagskommission den Feldmarschall statt des Kanzlers für die Entscheidung über die U-Boot-Frage verantwortlich. Das sei jetzt, da „die Ansichten scharf auseinanderzugehen scheinen, nicht länger tragbar. Ich muß es zur Wahrung der Stellung der Obersten Heeresleitung aussprechen" (ob auch öffentlich, wurde nicht gesagt), „daß Euer Excellenz als Reichskanzler zwar die ausschließliche Verantwortung beanspruchen" (also nicht: tragen!), „daß ich aber selbstverständlich auch weiter mit aller K r a f t und in vollem Verantwortlichkeitsgefühl f ü r den siegreichen Ausgang des Krieges d a f ü r eintreten werde, daß militärisch das geschieht, was ich dazu f ü r richtig halte". Das kam schon ziemlich nahe an eine Kriegserklärung heran und veranlaßte den Kanzler, sogleich seinen Besuch in Pless zu mündlicher Rücksprache anzukündigen. Was er nicht erfuhr, war die Tatsache, daß inzwischen der Admiralstabschef Holtzendorff, der ihm in den letzten Monaten immer wieder geholfen hatte, den schrankenlosen U-Boot-Krieg hinauszuschieben und zuletzt mit ihm verabredet hatte, sich mit dem verschärften Vorgehen gegen bewaffnete Handelsschiffe zu begnügen, jetzt auf der Gegenseite stand. Am 22. erhielt der Feldmarschall von ihm einen Brief und ein höchst umfangreiches Gutachten des Admiralstabes, das dringend die Eröffnung des unbeschränkten U-Boot-Krieges, spätestens zum 1. Februar, empfahl. Dieses Memorandum (die sog. Kalkmann-Denkschrift) hat für die schließliche Entscheidung des Kaisers und seiner militärischen Berater entscheidende Bedeutung gewonnen. Es suchte, aufgrund sehr vielseitiger und sorgfältiger Berechnung der englischen und der Welt-Tonnage, der (immerhin vorsichtig geschätzten) Vorräte des Inselreiches an Lebensmitteln und Rohstoffen sowie der noch ausschöpfbaren Reserven die von Helfferich im August vor-

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getragenen Bedenken, Schätzungen und Berechnungen zu entkräften. Als wahrscheinlich erreichbare Versenkungsziffer wurde nach wie vor, trotz inzwischen gestiegener Zahl und Qualität der großen U-Boote, dieselbe Zahl von 600 000 t monatlich angegeben wie schon zu Jahresanfang; man errechnete also eine Steigerung gegenüber den Ergebnissen des sog. Kreuzerkrieges von November und Dezember um rd. die Hälfte. Das Hauptgewicht war auf den Nachweis gelegt, daß entscheidend wirksame Abhilfemaßnahmen f ü r England nicht möglich sein würden. Die ungünstigen militärischen und wirtschaftlichen Folgen eines Kriegseintritts der Amerikaner wurden zwar nicht abgestritten, aber nach Möglichkeit bagatellisiert 30 ). Vor allem: längst ehe sie wirksam werden könnten, würden wir am Ziel sein: nach etwa fünf Monaten würde die für England verfügbare Schiffstonnage um etwa 39 Prozent vermindert und damit ein f ü r die Insel unerträglicher Zustand geschaffen sein. Alles das unter der Voraussetzung, daß der unbeschränkte U-BootKrieg ohne Vorankündigung schlagartig am 1. Februar 1917 einsetzte mit starker Schockwirkung auf die Neutralen und ihre Schiffsbesatzungen. Mit dem Torpedoangriff nur auf bewaffnete Handelsschiffe würde ein durchschlagender Erfolg nicht zu erzielen sein. An vielen Stellen der Denkschrift und des vom Admiralstabschef beigefügten Schreibens an Hindenburg finden sich typisch „militaristische" Argumente: „Es bedeutet eine schwere Gefahr nicht nur für die Gegenwart, sondern auch f ü r die Zukunft, wenn Deutschland nicht, da es eben noch Zeit ist, das Steuer herumwirft und die Neutralen lehrt, daß es an Willenskraft und an Macht, die sich durchsetzt, hinter England nicht zurücksteht." „ H a ß und Erbitterung, die der Krieg erzeugt hat, können wir durch Nachgiebigkeit und Rücksichten am wenigsten beseitigen. Aber was an freundlicher Gesinnung fehlt, vermag der Respekt zu ersetzen. Der Erfolg des Starken ist es noch immer gewesen, vor dem die Welt sich beugt." Die Erfahrungen des Jahres 1917 haben nachträglich gezeigt, daß diese ganze Planung des Admiralstabes eine furchtbare Fehlrechnung gewesen ist; aber es wäre trotzdem falsch, sie in demselben Maße als kopfloses Abenteuer zu verurteilen, wie die früheren Planungen (Frühjahr 1915 und 1916). Die technischen Möglichkeiten und damit die Chancen des Erfolges hatten sich seither immerhin erheblich gesteigert. Niemand hat mit größerem Ernst davon gesprochen als Lloyd George in seinem Memoirenwerk. Nach seinem Bericht erwartete der Handelsminister Runciman in der Sitzung des Kriegsausschusses am 9. November 1916 einen vollständigen Zusammenbruch

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(complete break-down) der englischen Schiffahrt bereits vor Juni 1917; bald darauf meinte er, dieses Ende würde noch viel früher kommen. Der Flottenchef Admiral Jellicoe hat Ende Oktober schriftlich erklärt, er sähe die ernste Gefahr vor Augen, daß England im Frühsommer 1917 durch Mangel an Schiffstonnage gezwungen sein würde, sich auf ungünstige Friedensverhandlungen einzulassen. I m April 1917, als die Versenkungsziffern gewaltig gestiegen waren, hat er dem amerikanischen Admiral Sims gesagt: „Die Deutschen werden den Krieg gewinnen, wenn wir diese Verluste nicht stoppen können, und zwar bald; wir sehen aber keinen Weg dazu 3 1 )." Das w a r nun allerdings nicht ohne Berechnung so zugespitzt gesagt: Jellicoe brauchte Flottenhilfe von den Amerikanern und wollte darum ihren Optimismus dämpfen. Immerhin: von hundert großen Uberseedampfern, die England verließen, kehrten damals 25 nicht zurück. Also, sagt Lloyd George wörtlich, schien bei solchen Versenkungsraten „Deutschlands Erwartung, uns bis August auf die Knie zu zwingen, keine unwahrscheinliche Folgerung aus den gegebenen Tatsachen". Er schildert die Lage Englands wohl absichtlich dunkel, um sein persönliches Verdienst auf diesem Hintergrund um so heller erstrahlen zu lassen. Denn offenbar hat er selbst das größte Verdienst daran, daß die englische Admiralität nach merkwürdig langem Sträuben sich Anfang Mai 1917 endlich entschloß das zu tun, was Bethmann Holl weg 1916 schon vorausgesagt hatte: systematisch die Schiffstransporte in Geleitzügen (convoys) zusammenzufassen und in der Gefahrenzone durch Kriegsschiffe zu schützen. Dann aber sanken die Erfolge der U-Boote in ebenso rapidem Abstieg wie ihre Verluste stiegen, so daß der von unserer Marine prophezeite Erfolg ausblieb. Immerhin: wer konnte das alles in Deutschland 1916 mit absoluter Sicherheit voraussehen, vor allem wenn er nicht selbst Marinefachmann war und wenn die Ansichten schlechthin aller Militärs gegen ihn standen? Holtzendorff scheint von den Argumenten seiner Mitarbeiter und vom beständigen Drängen Scheers schon Mitte Dezember f ü r den Beginn des unbeschränkten U-Boot-Kriegs spätestens zum 1. Februar endgültig gewonnen zu sein: in einem Augenblick, in dem unsere Friedensnote eben hinausgegangen war, in der Admiralität aber jedermann ihren Mißerfolg erwartete. Schon am 15. wußte er, daß auch die O H L mit diesem Termin rechnete 32 ). Am 24. wurde es ihm von Hindenburg ausdrücklich bestätigt. Um so seltsamer ist es, daß er bis Jahresende dem Kanzler die Denkschrift des Admiralstabs nicht zugehen ließ, sondern sich diesem gegenüber mit der Forderung begnügte, das

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warnungslose Versenken bewaffneter Handelsschiffe müsse spätestens Ende Dezember beginnen 33 ). (Was hinter dieser Taktik stand, wird sich sogleich noch zeigen.) Unter diesen Umständen war der Versuch Bethmann Hollwegs, durch eine mündliche Aussprache den offen ausgebrochenen Gegensatz zwischen ihm und der O H L auszugleichen, von vornherein aussichtslos. Man empfing ihn am 29. in Pless nicht nur mit Eiseskälte, sondern lehnte zunächst in unhöflichster Form überhaupt ab, den Staatssekretär und Vizekanzler Helfferich, der ihn begleitete (und mit dem sich Ludendorff wegen des Hilfsdienstgesetzes überworfen hatte), überhaupt zum Gespräch zuzulassen, was der Kanzler aber dann doch erzwang. Sachlich wurde, wie es scheint, hauptsächlich über das unmögliche Kriegszielprogramm der O H L vom 23. Dezember verhandelt, das Bethmann, wie schon früher erörtert (oben Anm. 7), durch dilatorische Behandlung zu entschärfen suchte. Unter den (z. T. lächerlichen) Beschwerden, die von den Generälen vorgebracht wurden, befand sich aber auch die, daß man sie in der U-Boot-Frage beiseite zu drängen versuche. Das gab dem Kanzler Anlaß, noch einmal seine verfassungsmäßige Verantwortung f ü r die politische Entscheidung dieser Frage zu betonen, aber gleichzeitig zu versichern, daß er auch hier „völlige Ubereinstimmung" mit der O H L erstrebe. Notfalls müsse der Kaiser entscheiden. Er hat auch, ebenso wie sein Begleiter, nochmals schwere Bedenken gegen den unbeschränkten U-BootKrieg vorgebracht, ohne daß die Denkschrift des Admiralstabs zur Sprache kam. Statt dessen einigte man sich ziemlich rasch auf den Wortlaut der Note, mit der in Washington der verschärfte Krieg gegen bewaffnete Handelsschiffe angekündigt werden sollte — aber erst nach Eintreffen der Antwort der Ententemächte auf unser Friedensangebot, die man in den nächsten Tagen erwartete. Im Grunde hatte diese Note für Ludendorff schon kein Interesse mehr. Vielmehr traf er unmittelbar nach der Sitzung mit dem Vertreter des Admiralstabs im Großen Hauptquartier, Kapitän von Bülow, zusammen, dem er über das Ergebnis berichtete. Nach einer Aufzeichnung Bülows scheint es, daß dieser ihn drängte, sofort noch einmal beim Kanzler wegen des unbeschränkten U-Boot-Krieges vorstellig zu werden. Ludendorff lehnte indessen ab, vor den von Bethmann zugesagten offiziellen Besprechungen noch einmal als „Sturmbock" voranzugehen — das sei Holtzendorffs Aufgabe. Er selbst „müsse sich f ü r eine vielleicht noch wichtigere Sache aufsparen" (für den Sturz des Kanzlers?). Darauf machte ihm der Marinevertreter

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klar, daß der Admiralstabschef keine Möglichkeit sähe, den Kanzler für den unbeschränkten U-Boot-Krieg zu gewinnen, und so lange dieser bei seinem „Nein" beharre, wäre auch der Kaiser nicht dafür zu haben. Nur dann, wenn die OHL Wilhelm II. vor die Alternative stelle: „Bethmann oder Hindenburg", müsse er gegen den Kanzler entscheiden. Darauf Ludendorffs brummige Antwort: „Was ich für nötig halte, tue ich, ob mit oder ohne Admiralstab, ist mir gleich." Schließlich setzte ihm der Kapitän noch auseinander, daß und warum von irgendwelchen „äußerstenfalls möglichen Zugeständnissen" an die Neutralen im unbeschränkten U-Boot-Krieg nur Verderbliches zu erwarten sei, um damit allen etwaigen Konzessionen an die Diplomatie vorzubeugen 34 ). Man sieht daraus deutlich, warum Holtzendorff gezögert hat, seine Denkschrift dem Reichskanzler vorzulegen: er erwartete praktischen Erfolg nur von einem Ultimatum der Obersten Heeresleitung, das er herbeizuführen suchte. Nur wenn alle militärischen Autoritäten vereinigt vor den Kaiser traten und den U-Boot-Krieg in ultimativer Form verlangten, würde dieser nachgeben „müssen". Aber es scheint, daß er die Festigkeit des Kanzlers in dieser so schwierig gewordenen Frage sogar überschätzt hat. Nach einer (allerdings erst zehn Jahre später gemachten) Mitteilung des Legationssekretärs Freiherrn von Lersner, der als Vertreter des Auswärtigen Amtes in Pless tätig war, hat Bethmann gleich nach dem Ende der Aussprache schwere Sorgen und Zweifel geäußert, ob er noch lange imstande sein würde, den unbeschränkten U-BootKrieg zu verhindern 35 ). Es war ihm danach klar, daß es nicht ohne offenen Bruch mit der OHL gelingen würde, den er aus politischen Gründen scheute. Die offene Feindschaft, mit der man ihn im Großen Hauptquartier aufgenommen hatte, kann ihn unmöglich darüber im Zweifel gelassen haben, daß nunmehr auch diese beiden Generäle, die ihre Berufung an die Spitze des Heeres ihm verdankten, an seinem Sturz arbeiteten. Und er wußte, daß der Volksheros im offenen Kampf um die Macht der Stärkere war. Zwei Tage später wurde in Berlin die Antwort der Entente auf unser Friedensangebot bekannt. Sie schlug auch die letzte schwache Hoffnung nieder, in direkter Verhandlung mit unseren Kriegsgegnern zu einer Verständigung zu kommen. Kaiser Wilhelm II. äußerte wütend: angesichts eines „so unverschämten Zynismus" müsse er „seine Friedensbedingungen" ändern. Frankreich und Belgien gegenüber würde es keine Schonung mehr geben. König Albert dürfe nicht mehr nach Belgien zurückkehren. Die flämische

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Küste müßte unser sein. Kaiser K a r l telegraphierte ihm im umgekehrten Sinn: „Die Antwort der Entente ist zwar in ihren Konklusionen nicht erfreulich, schließt aber doch die Möglichkeit einer Fortspinnung des Friedensgedankens nicht aus." Er fürchte, der Faden würde abreißen, wenn die beiden Monarchen jetzt überstürzt Kundgebungen an ihre Heere richteten, in denen sie diese zum Weiterkämpfen aufforderten. Wilhelm möge doch vorher „nochmals einen diplomatischen Versuch unternehmen". Wieder umgekehrt drängte die deutsche O H L darauf, sofort einen Armeebefehl ohne Rücksicht auf österreichische Wünsche loszulassen. Zwischen diesen einander widerstrebenden Tendenzen hatte Bethmann nun zu vermitteln. Zunächst erreichte er, daß die Heeresbefehle beider Mächte wenigstens miteinander vereinbart wurden, also keine Verstimmung darüber zwischen den Verbündeten aufkam. Diese drohte aber von neuem, als am 6. Januar G r a f Czernin in Berlin erschien, um die Polenfrage und zugleich die Reaktion der Mittelmächte auf die Ententenote zu besprechen. Während dieser Verhandlungen trat offen zu Tage, was wir schon aus der Behandlung des neuen Wilsonschen Vermittlungsangebots vom 27. Dezember wissen 3 6 ): daß nicht einmal mehr zwischen dem Reichskanzler und dem Leiter des Auswärtigen Amtes Ubereinstimmung bestand. Zimmermann erklärte, die Antwort der Ententemächte sei „so niederträchtig", daß wir ihnen durchaus in unserer Erwiderung (die allen Neutralen als Kommentar unserer Haltung zugehen sollte) „die Maske vom Gesicht reißen müßten; die Gemeinheiten, die die Antwort enthalte, müßten scharf zurückgewiesen werden". Wir müßten „einen scharfen Ton anschlagen und auf die politischen Schandtaten der Entente hinweisen, das erwartet unser Volk von uns". Er schwamm also ganz im Strom der empörten öffentlichen Meinung, während der Kanzler der Ansicht war, die Wirkung auf die deutsche Öffentlichkeit sei nur sekundär wichtig. Es komme jetzt darauf an, den Eindruck unserer Friedensaktion bei den Neutralen noch zu vertiefen; das geschähe nicht durch Polemisieren, „das uns dem Frieden nicht näher bringt", sondern durch kurze und objektive Richtigstellung der Verleumdungen deutscher Politik und Kriegführung, die sich in der feindlichen N o t e fänden. Wir dürften „die Tür zum Frieden nicht ganz zuschlagen". Czernin sprach sich in ähnlichem Sinne aus: auch er wollte „den Faden nicht ganz abreißen lassen". S o wurde der Entwurf Zimmermanns schließlich abgelehnt und eine neue Fassung vereinbart. Sie war im ganzen auf einen ruhig-würdigen Ton gestimmt, antwortete aber auf die Vorwürfe der Entente, wir verletzten das Völkerrecht und die Frei-

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heit der kleinen Nationen, mit genau jenen Gegenvorwürfen, die man auf der anderen Seite schon vorher erwartet — und befürchtet hatte. Sie erinnerte an „das Geschick des irischen Volkes, die Vernichtung der Freiheit und Unabhängigkeit der Burenrepubliken, die Unterwerfung N o r d a f r i k a s durch England, Frankreich und Italien, die Unterdrückung der russischen Fremdvölker und schließlich die ohne Vorgang in der Geschichte dastehende Vergewaltigung Griechenlands" (gewaltsame Besetzung, Niederwerfung nationalistischer und royalistischer Aufstände, durch Blockade erzwungenen Umsturz der Regierung). Deutschland, hieß es, habe sein rein defensives Kriegsziel bereits erreicht, seine Gegner forderten dagegen die Eroberung ganzer Provinzen, Erniedrigung, Aufteilung oder Verstümmelung seiner Verbündeten. Zimmermann war damals (um den 7. Januar) auch schon in der U-BootFrage ins Lager der Militärs übergegangen, nicht ohne Nachhilfe seiner Freunde unter den Reichstagsabgeordneten der nationalistischen Rechten. Unterstaatssekretär von Stumm dagegen teilte die Bedenken des Kanzlers, vor allem das wichtigste: daß die Aussicht auf Kriegshilfe Amerikas unsere Gegner, insbesondere die Engländer, trotz aller wirtschaftlichen Nöte im Krieg so lange festhalten würde, bis uns vollends der Atem ausginge 37 ). Bethmann Hollweg selbst suchte wie gewöhnlich seine letzte Entscheidung so lange wie möglich hinauszuschieben. Aber die Militärs sorgten dafür, daß er schon bald und jählings zum Entschluß gezwungen wurde. Der Anstoß dazu ging diesmal von der Marine aus, nachdem sich Ludendorff geweigert hatte, auch jetzt wieder „den Sturmbock" zu machen. Bis zum 4. Januar hatte Holtzendorff dem Kanzler noch immer kein Zeichen seiner Sinnesänderung gegeben, so daß an diesem Tage das Auswärtige Amt die verabredete telegraphische Weisung an Bernstorf fertigstellen ließ, die eine schonungslose Versenkung bewaffneter Handelsschiffe ankündigte 38 ). Am nächsten Tag erschien plötzlich der Admiralstabschef bei Bethmann Hollweg und übergab ihm eine Kopie seines Schreibens vom 22. Dezember an Hindenburg nebst der großen Denkschrift seines Stabes. Den Entschluß dazu scheint er nach eine „Szene" mit einem Abgesandten Scheers (Kapitän von Levetzow) gefunden zu haben, der ihm am 4. rundweg erklärte, er habe wegen seines Zögerns jedes Vertrauen in die Marine verloren, die praktisch führerlos sei; man fühle sich von ihm geradezu hinters Licht geführt. Einmal entschlossen, ging Holtzendorff sogleich noch einen Schritt weiter: er telegraphierte am 6. an Hindenburg, er werde sich nun direkt an den Kaiser wenden. Am 8. erschien er im Hauptquartier, wo nunmehr auch der

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Chef des Marinekabinetts v. Müller — eine sehr wichtige Wendung! — sich seiner Ansicht anschloß, so wie es vorher schon Capelle getan hatte 3 9 ). Dort wurde nun, in gemeinsamer Beratung mit Ludendorff und Hindenburg, ein förmlicher Plan zur Überrumpelung des Kanzlers ausgeheckt. Dieser muß aus den von Holtzendorff ihm überreichten Schriftstücken entnommen haben, daß, wie im Frühjahr, alle Militärs in geschlossener Front gegen ihn standen und daß er nach der allgemeinen Kriegslage und dem Scheitern seines Friedensangebotes keine Aussicht mehr hatte, die E r ö f f n u n g des unbeschränkten U-Boot-Krieges noch lange zu verhindern. Mit dieser resignierten Erkenntnis hängt es offenbar zusammen, daß er der früher erörterten Instruktion Zimmermanns f ü r Bernstorff vom 7. Januar, die bereits mit dem unbeschränkten U-Boot-Krieg drohte 4 0 ), seine Zustimmung gegeben hat — immerhin mit der Schluß Wendung, vielleicht wisse der Botschafter einen Weg, um den Bruch mit Amerika trotz dieser Kriegführung zu vermeiden. An diesen letzten Schimmer einer Möglichkeit und an die Meldung Bernstorffs vom 27. scheint er sich geklammert zu haben, als er am 8. Holtzendorff ans Telefon rufen ließ und ihm erklärte: er müsse sich die diplomatische Vorbereitung des unbeschränkten U-Boot-Krieges noch vorbehalten, werde am nächsten T a g selbst nach Pless kommen und die soeben nach Amerika abgegangene N o t e mit der Ankündigung des schonungslosen Angriffes auf bewaffnete Handelsschiffe telegraphisch anhalten. Natürlich wollte er damit verhindern, daß man im Hauptquartier einfach über seinen K o p f weg über die U-Boot-Frage entschied — die wichtigste der ganzen Kriegspolitik. Wie hoch seine Erbitterung gegen die in Pless sich anbahnende „Militärverschwörung", aber auch sein Mißtrauen gegen Holtzendorff persönlich gestiegen waren, geht daraus hervor, daß er dem Admiral auf den K o p f zusagte, sein ganzer Vorschlag eines verschärften K a m p f e s gegen bewaffnete Handelsschiffe sei nichts als eine den Politikern gestellte „ U - B o o t F a l l e " : man wolle dadurch den Krieg mit Amerika herbeiführen, um ihn dann hemmungslos ausweiten zu können. Holtzendorff seinerseits drohte damit, die bereits vorbereiteten Befehle an die U-Boot-Flotte für das Abschießen bewaffneter D a m p f e r sofort herausgehen zu lassen, falls der K a n z ler nicht verspräche, die N o t e in Amerika überreichen zu lassen. Für das Mißliche der Tatsache, daß sie drüben geradezu als eine Art von Täuschungsmanöver erscheinen mußte, wenn bald darauf der unbeschränkte U-BootKrieg einsetzte, fehlte ihm offenbar der Sinn; aber er versprach wenigstens, seine Weisungen an die U-Boote noch einen T a g zurückzuhalten 4 1 ).

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Der Vorfall zeigt, wie unsicher er und die beiden Generäle (die ihm sofort zustimmten) immer noch waren, ob sich der Kanzler wirklich für den unbeschränkten U-Boot-Krieg gewinnen lassen würde. Wenn nicht, so wollte Holtzendorff wenigstens die Teilaktion gegen bewaffnete Dampfer in der Hand behalten. Aber der Anruf Bethmanns trieb die Militärs nun erst recht zur Eile: vor seinem Erscheinen mußte die große Entscheidung gefallen sein. Der Admiral hatte den Kaiser beim ersten Zusammensein mittags „sehr mau" gefunden. Jetzt rüstete er sich, ihm nicht nur den Befehl an die U-Boote zur Genehmigung vorzulegen, sondern auch sein Schreiben an Hindenburg (vom 22. Dezember) vorzulesen, dessen Argumente Wilhelm II. noch nicht zur Kenntnis genommen hatte. Bewaffnet damit, mit der großen „Kalkmann-Denkschrift" und der Zustimmung aller militärischen Autoritäten zu seinen Forderungen (nicht bloß Vorschlägen) hoffte er zum Ziel zu kommen. Man überlegte aber schon jetzt, was geschehen sollte, wenn der Kanzler trotz allem hartnäckig bliebe, und war sich einig darin, daß er dann gestürzt werden müsse. Nur wenn er sich fügen sollte, könnte sein Bleiben von Nutzen sein, weil er (wie Holtzendorff versicherte) großes Vertrauen im Ausland genösse, so daß vielleicht die Aussicht auf Fernbleiben Amerikas vom Kriege dann etwas größer wäre, als im Fall des Kanzlerwechsels. Übrigens betrieb man diese Kanzlerstürzerei genau so dilettantisch wie sie dann im Juli durchgeführt worden ist: man hatte überhaupt keinen Vorschlag für die Nachfolge Bethmanns und riet blindlings auf lauter unmögliche Namen 4 2 ). Die Audienz des Admiralstabschefs verlief ganz nach Wunsch: der Kaiser ließ sich ohne allzu viele Mühe gewinnen. Allerdings spürte er wohl selbst, daß dieses Vorgehen der Militärs nicht verfassungsgerecht war und suchte sich nun durch bramarbasierende Redensarten Mut zu machen für die kommende Auseinandersetzung mit Bethmann-Hollweg: der U-Boot-Krieg, sagte er abends zu Müller, „sei eine rein militärische Sache, die den Kanzler gar nichts anginge. Im übrigen käme es auch auf einen Personenwechsel nicht an" — was ihm dann die beiden Admiräle doch auszureden suchten, Holtzendorff natürlich mit dem Hintergedanken, „falls er nachgibt, ist es besser, er bleibt". Um den Kaiser in seiner Zustimmung zum U-Boot-Krieg festzumachen und ihn mit Argumenten für die Aussprache mit Bethmann auszurüsten, verfaßte er eine kurze, sehr wirksam formulierte Niederschrift, hauptsächlich politischen Inhalts, die er dem Monarchen am nächsten Morgen übergab. Aber es kam gar nicht zu den von allen befürchteten erregten Auseinan-

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dersetzungen. Als der Kanzler am Vormittag des 9. Januar nach langer Nachtfahrt in Pless ankam, körperlich leidend (hartnäckige Bronchitis), sehr erregt und deprimiert, wurde er gleich am Bahnhof von Admiral Müller, der ihn dort abholte, mit der Nachricht empfangen, daß alles schon entschieden sei, und daß er selbst, Müller, der doch immer ein Gegner des unbeschränkten U-Boot-Krieges gewesen sei, nunmehr sich ebenso wie Capelle von seiner Unvermeidlichkeit, aber auch von seinen guten Erfolgschancen habe überzeugen müssen 43 ). Das sollte den Kanzler „beruhigen"; es scheint aber, daß es ihm den letzten Rest von Selbstsicherheit in der U-Boot-Frage geraubt hat. Denn mit dem Frontwechsel dieses immer vermittelnden Freundes brach die letzte militärische Stütze seiner bisherigen Opposition gegen den U-Boot-Krieg zusammen. Schon vorher hatte ihm, wie er selbst berichtet, die große Denkschrift des Admiralstabes immerhin starken Eindruck gemacht, und dieser Eindruck w a r noch durch die Zuschrift einer „seemännischen Autorität ersten Ranges von der Hochseeflotte" verstärkt worden 44 ). Allerdings hatte inzwischen der immer rastlose Helfferich die ganze Nacht vom 8. auf den 9. auf das Studium der umfänglichen „Kalkmann-Denkschrift" verwendet und morgens um 4 U h r eine kurze Gegendenkschrift aufgesetzt, die er sofort nach Pless telegraphieren ließ. Sie mußte aber die statistischen Berechnungen des Admiralstabes und die angekündigten Versenkungsziffern als zuverlässig anerkennen und bestritt nur, daß die Entscheidung so eilig sei, wie man in Pless behauptete. Außerdem wies sie darauf hin, daß durch den Kriegseintritt Amerikas dessen Anstrengungen sich verdoppeln und also Englands Lage sich entsprechend verbessern würde. Das konnte dem Kanzler in der Diskussion mit den Generälen nicht viel helfen, kam aber auch gar nicht mehr zur Sprache, da beim Eintreffen des langen Telegramms in Pless (um 2.30 Uhr) die Verhandlung mit ihnen längst beendet war. Uber ihren Verlauf sind wir durch ein sehr knappes Protokoll der Heeresleitung unterrichtet, das den Eindruck macht, als ob der Kanzler gar keinen ernsthaften Versuch zum Widerstand gegen die Forderung Hindenburgs mehr versucht, ja sogar gleich zu Anfang die diplomatische Vorbereitung des unbeschränkten U-Boot-Krieges versprochen hätte, um womöglich Amerika vom Kriegseintritt fernzuhalten — ein Versuch, dessen Aussichten er freilich selbst bezweifelte. Im Lauf des Gesprächs hat er — nach dieser Quelle — zwar verschiedene wohlbekannte Bedenken wiederholt, im ganzen aber die Erfolgsaussichten der U-Boot-Kampagne eher als günstig beur-

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teilt, jedenfalls zugegeben, daß die Chance sich seit Frühjahr wesentlich verbessert hätte. Immerhin sei der U-Boot-Krieg „die letzte Karte. Ein sehr ernster Entschluß! Wenn aber die militärischen Stellen den U-Boot-Krieg f ü r notwendig halten, so bin ich nicht in der Lage zu widersprechen". Nach dem Bericht, den er gleich nach dieser Aussprache Valentini gab, war der Verlauf doch etwas anders. Demnach hätte er „über eine Stunde all die schwerwiegenden Gründe gegen den verschärften U-Boot-Krieg dargelegt", aber weder bei den Generälen noch bei den Admirälen (mit denen er getrennt verhandelt zu haben scheint) damit durchdringen können. Besonders tiefen Eindruck hat ihm nach seiner Erzählung an Helfferidi das Argument Ludendorffs gemacht: im nächsten Frühjahr stünde eine Großoffensive unserer Gegner an allen Fronten bevor, die im Westen die SommeSchlacht an Wucht und Munitionseinsatz noch weit übertreffen würde. Es sei kein Tag mehr zu verlieren, um durch rechtzeitigen Einsatz der U-BootFlotte den Nachschub und die Munitionszufuhr unserer Gegner noch rechtzeitig zu lähmen. Andernfalls könnte die O H L die Verantwortung für den Gang der militärischen Operationen nicht übernehmen. Auf solche Argumente konnte er unmöglich mit vagen Hinweisen auf allenfalls noch denkbare Erfolge des amerikanischen Friedensschrittes erwidern (der erst am nächsten Tag von den Ententemächten offiziell mit einem Kriegszielprogramm abgelehnt wurde, das bereits auf den Versailler Frieden vorauswies); noch weniger mit einer Erörterung der neuesten vertraulichen Unterhaltungen des Obersten House mit Graf Bernstorff, die ja den Generälen mitsamt unserer ablehnenden Antwortnote vom 7. bereits bekannt war 45 ). Mit anderen Worten: er hatte schlechterdings nichts mehr in der Hand, das er als Alternative zum U-Boot-Krieg in die Waagschale werfen konnte: keine greifbare Möglichkeit eines Verständigungsfriedens, keine Aussicht auf durchschlagende Erfolge unseres Heeres — dafür um so sicherer die Aussicht auf baldigen Zusammenbruch der Kräfte unserer Bundesgenossen und auf rasches Zusammenschmelzen unserer Menschenreserven — und das alles mitten im „Kohlrübenwinter", der zum ersten Mal unsere Lebensmittelknappheit zu wirklicher N o t ansteigen ließ. Was konnte er anderes erwidern, als noch einmal seine Befürchtung äußern, daß der Kriegseintritt Amerikas den Krieg verlängern anstatt verkürzen würde, indem er dem sinkenden Mut unserer Gegner neuen Auftrieb gab, ihren Heerführern neue Zukunftsperspektiven eröffnete, ihre Wirtschaft und ihre Kampfmittel wesentlich verstärkte? Das hat er den Generälen auch alles gesagt und sogar —

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auf der krampfhaften Suche nach militärischen Argumenten — den seltsamen Gedanken hinzugefügt, unsere Feinde könnten am Ende die Schweizer durch Aushungern zwingen, ihnen den Durchmarsch durch ihr Land zu gestatten — was Hindenburg „militärisch nicht ungünstig" fand. Ohne positive und greifbare Zukunftsaussichten aber konnte er gar nicht hoffen, auf Hindenburg und Ludendorff irgendwelchen Eindruck zu machen. Sie hätten nicht Soldaten sein müssen, wenn sie bereit gewesen wären, auch jetzt noch auf das Experiment des verschärften U-Boot-Krieges zu verzichten — es sei denn, der Kanzler hätte ihnen exakt beweisen können, daß die Rechnung des Admiralstabes eine Fehlrechnung war. Das konnte er aber (nach eigenem Geständnis) ebensowenig, wie sie zu einem exakten Gegenbeweis imstande waren. Wie die Dinge jetzt standen, kam keine Berechnung über bloße Schätzungen, Vermutungen, Wahrscheinlichkeiten hinaus. Wenn im Kriege alles ungewiß ist, so galt das erst recht von einer so unerprobten neuen Form. Der sog. „Kronrat", der abends um 6 U h r über die U-Boot-Frage stattfand, war nach alledem nur noch Formsache: im Grunde nur dazu bestimmt, dem Kanzler nachträglich die ihm verfassungsmäßig zustehende Mitwirkung bei einem schon vorher festliegenden Beschluß (Eröffnung des unbeschränkten U-Boot-Krieges am 1. Februar ohne weitere Verhandlung und Vorankündigung) einzuräumen. Wilhelm II., bleich und erregt, mit der H a n d auf einen Tisch gestützt, um den alle Teilnehmer (darunter auch die drei Kabinettchefs) herumstanden, ließ auf jede Weise erkennen, daß ihm eine eigentliche Beratung höchst unerwünscht war. So hatten der Kanzler, Holtzendorff und Hindenburg nur noch Gelegenheit, in Kürze ihren Standpunkt darzulegen. Valentini hatte den Eindruck, daß Bethmanns ziemlich ausführlicher Vortrag vom Kaiser mit sichtlicher Ungeduld und Ablehnung aufgenommen wurde; wahrscheinlich wartete er nervös auf die abschließende Erklärung: daß er trotz aller vorgetragenen Bedenken die Verantwortung nicht d a f ü r übernehmen könne, Sr. Majestät gegen dessen militärische Ratgeber zur Ablehnung des verschärften U-Boot-Krieges zu raten (ohne diesem förmlich zuzustimmen). Ein paar Wochen später hat aber Wilhelm II. dem Grafen Rödern berichtet, daß er geradezu mit Ergriffenheit den Worten seines Kanzlers in dieser schweren Entscheidungsstunde gefolgt sei und dabei für die ebenso vornehme wie gewissenhafte Persönlichkeit des Redners wärmste Sympathie empfunden habe. Seine drei Kabinettchefs hätten denselben starken Eindruck gehabt 46 ).

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Ob das nun richtig ist oder nicht: ohne Frage war diese abendliche Beratung des 9. Januar die dunkelste Stunde in der politischen Laufbahn Bethmann Hollwegs. Denn sie bedeutete die förmliche Kapitulation der politischen Autorität vor der militärischen in der entscheidungsvollsten Frage des Ersten Weltkriegs überhaupt. Für Bethmann persönlich leitete sie den letzten Akt seiner Tragödie ein, für Deutschland eine Entwicklung, die seinen schweren Kampf nicht nur unheilvoll verlängerte, sondern (wie noch zu zeigen sein wird) auch militärisch erst wirklich aussichtslos machte. Für die Welt hatte sie die Folge (wie alle daran Beteiligten wußten), daß nunmehr unvermeidlich die Großmacht jenseits des Ozeans in den Krieg mit hineingezogen und aus ihrer historischen Isolation herausgerissen wurde 4 7 ). Damit aber setzte (was die Beteiligten nicht ahnten 48 )) eine weltgeschichtliche Wende ein, wie sie die europäische Staatenwelt seit anderthalb Jahrtausenden noch nicht erlebt hatte: ihre Umwandlung vom Zentrum weltpolitischen Geschehens zu einem bloßen Teilschauplatz - ein Vorgang, der heute nach dem Zweiten Weltkrieg vollends globale Ausmaße angenommen hat. Nichts hat dem Ansehen des Staatsmanns Bethmann Hollweg später, nach dem Fehlschlag der großen U-Boot-Offensive, so geschadet wie die Tatsache, daß er den Triumph der Militärs über seine Politik nicht sofort mit der Forderung seines Abschieds beantwortet hat. Sogar Helfferich, sein treuester Gehilfe, war über sein Nachgeben so empört, daß er ihm nach der Rückkehr von Pless zunächst auswich und ihm seine eigene Abschiedsforderung zugehen ließ - allerdings nur in erster Aufwallung, um sich dann durch den Kanzler überzeugen und zum Bleiben bereden zu lassen. Bei diesem selbst überwog unmittelbar nach dem „Kronrat" bitterste Enttäuschung über den Kaiser, auf dessen Festhalten er bisher alle seine Pläne gebaut hatte. In dieser Stimmung traf ihn Admiral Müller auf dem Zimmer Valentinis gleich nach dem Abendessen. Er war tief verletzt durch eine Geste des Kaisers, die er so verstanden hatte: „Herrgott, hat der Mensch immer noch Bedenken!" Wilhelm II., sagte er, „habe das deutsche Volk in den letzten zwanzig Jahren von Grund aus verdorben und Eitelkeit und Chauvinismus großgezogen. Nur die untersten Schichten des Volkes seien wirklich deutsch geblieben. Der Kaiser habe sein und der Dynastie Ansehen schwer geschädigt". Aber als ihm Valentini riet, unter diesen Umständen seinen Abschied zu verlangen und dies u. a. mit Zukunftsperspektiven begründete, die an Düsterkeit die Befürchtungen Bethmanns offenbar noch übertrafen, hat er das sofort abgelehnt; denn er hatte sich schon am Vormittag, nach der Unter-

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redung mit den Militärs, darüber seine Gedanken gemacht. Nichts sei „verlockender" und einfacher, hatte er gefunden, als angesichts der ohne ihn bereits getroffenen, nicht mehr umzustoßenden Entscheidung seinen Abschied einzureichen und zu der abendlichen Besprechung beim Kaiser nicht mehr zu erscheinen. Aber er hatte dieser Verlockung nach längerem inneren Kampf dann doch widerstanden und gab nun die Gründe für seinen Entschluß dem Kabinettschef ungefähr ebenso bekannt, wie er sie seitdem noch oft wiederholt hat. Danach betrachtete er das Abschiednehmen als eine Art von Fahnenflucht, ein Sichdrücken von der Mitverantwortung für den Ausgang des Krieges. Auf sein persönliches Schicksal, auf Ruhm oder Tadel der Nachwelt, kam nach seiner Meinung wenig an, und an der Macht zu bleiben war für ihn jetzt weniger als je verlockend. Noch weniger aber lockte ihn die Rolle eines Oppositionsführers an der Spitze der sozialdemokratischen und freisinnigen U-Boot-Gegner im Kampf gegen Hindenburg und die Reichstagsmehrheit; das betrachtete er als ein „zur Katastrophe führendes Abenteuer 4 9 )". Am Losbruch des U-Boot-Krieges würde durch seinen Abgang nichts geändert werden, im Gegenteil: Bethmann war sicher, daß „nach seinem Abgange die ganze Macht, sowohl außenpolitisch als innerpolitisch an die Maschinerie der Kriegsleidenschaft übergehen würde". War aber der U-Boot-Krieg einmal beschlossen, so hielt es Bethmann Hollweg für seine Pflicht, seinerseits alles zu tun, um ihm zum (immerhin möglichen) Erfolg zu verhelfen und alles zu unterlassen, was die Aussicht auf sein Gelingen vermindern und Deutschlands schwere Lage, die äußere wie die innere, noch mehr erschweren würde. Sein Abgang, meinte er, würde als Demonstration, als offener Protest wirken und somit böse Folgen haben, im Inland ebenso wie im Ausland. Im Inneren würde er nicht nur den „Burgfrieden" der Parteien vollends zerstören, sondern den Gegensatz zwischen rechts und links auf das Gefährlichste verschärfen — gefährlich vor allem in seiner Wirkung auf die sozialdemokratischen Arbeitermassen, die doch gerade jetzt verschärft zur Arbeit für das Rüstungsprogramm Hindenburgs herangezogen werden sollten. Dieser innere Streit würde unseren Gegnern nicht verborgen bleiben und sie frohlocken lassen. Das Mißtrauen der Neutralen, vor allem Amerikas, gegen die deutsche Politik würde so gesteigert werden, daß sofort die letzte Hoffnung verschwände, „Amerika draußen zu halten". (Man wußte ja in der Tat auch im Ausland, daß Bethmann zu den „Gemäßigten" gehörte und hatte seine ständige Befehdung durch die Alldeutschen genau verfolgt.)

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Uberall in der Welt, besonders aber bei unseren Verbündeten, die längst mit Sorgen und Mißtrauen auf die deutsche U-Boot-Hetze und die Reibungen mit Amerika blickten, würde der Abgang des Kanzlers das Vertrauen auf den Erfolg der neuen W a f f e vermindern, ja unter Umständen ihre Bündnistreue (die ohnedies in Sofia und Wien nicht mehr eisern feststand) noch mehr erschüttern. Das alles waren gewiß recht ernst zu nehmende Bedenken: Bedenken eines gewissenhaften Patrioten, an deren Echtheit nicht zu zweifeln ist. Aber es fällt schwer, zu glauben, daß ihn sein Gewissen nicht doch genötigt hätte, trotz aller Bedenken ganz laut und offen durch seinen Abgang zu protestieren, wenn er unbedingt sicher gewesen wäre in seiner Überzeugung von der Verderblichkeit des U-Boot-Krieges f ü r Deutschland und von dem utopischen Charakter der Versprechungen des Admiralstabes. Daß er in dieser Frage schon seit Wochen nicht mehr ganz seiner Sache sicher w a r (und sein konnte), hat unsere eingehende Darstellung bereits deutlich gemacht. Er hat es auch Helfferich zu verstehen gegeben. „Angesichts der Bestimmtheit", sagte er, „mit der Hindenburg und Ludendorff die Entlastung der Fronten durch den sofortigen Beginn des U-Boot-Krieges als unerläßlich bezeichneten und mit der sie die Verantwortung f ü r alle militärischen Folgen auf sich nahmen, und angesichts der Sicherheit, mit der nicht nur der Chef des Admiralstabs, sondern auch der Hochseeflotte und der früher dem uneingeschränkten U-Boot-Krieg abgeneigte Staatssekretär des Reichsmarineamts (Capelle) innerhalb weniger Monate den vollen Erfolg in Aussicht stellten, ja gewährleisteten, habe er, der Kanzler, sich die Frage vorlegen müssen, ob er in seinem Gewissen berechtigt sei, dem Kaiser zu raten, dem Antrag . . . nicht zu entsprechen 50 )." Wäre es anders gewesen, so hätte er sicher den Kronrat nicht einfach abgewartet, sondern in Privataudienz wenigstens den Versuch gemacht, den Kaiser noch in letzter Minute umzustimmen, nötigenfalls mit der Abschiedsdrohung. D a ß er es unterließ, beweist aufs deutlichste seine innere Unsicherheit 51 ). Man kann diese Unsicherheit einen Mangel an staatsmännischer Begabung nennen, wenn man will. Man kann Bethmann Hollweg nachsagen, er sei zuletzt doch nur ein typischer Intellektueller gewesen, immer von Zweifeln gequält, ohne ganz sicheren politischen Instinkt und festen Willen. Aber man muß sich dann auch darüber klar sein, welches ganz ungewöhnliche (um nicht zu sagen übermenschliche) Maß von Instinktsicherheit und Willenstärke man damit von einem Mann erwartet, der gegen den R a t schlecht-

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hin aller zur Führung berufenen Militärs und Marinefachleute, gegen den Willen seines Monarchen, der Reichstagsmehrheit und des größten Teils der politisch aktiven, in der Öffentlichkeit sich äußernden Deutschen (bis in die Reihen der Sozialdemokraten hinein), allein seiner persönlichen Einsicht (oder eigentlich nur: seinem Instinkt) vertrauend, die Last der fürchterlichen Verantwortung auf seine Schultern nehmen sollte. U n d das in einer Lage, die keinen anderen Ausweg mehr zu bieten schien, als die radikal durchgeführte Hungerblockade gegen England. Bethmann Hollweg wurde nicht zum ersten, sondern nun bereits zum dritten Mal vor eine Entscheidung dieser A r t gestellt. Er hat an seiner politischen Verantwortung f ü r den Kriegsausgang immer schwer getragen. U n d schließlich w a r seine seelische K r a f t nicht unbegrenzt.

Fünfter

Abschnitt

Der Bruch mit

Amerika

D e r Reichskanzler h a t am 16. J a n u a r im Bundesratsausschuß gestanden, d a ß ihm wieder ähnlich zumute sei wie im Juli und August 1914: abermals hatten es die Militärs viel zu eilig, um politische Kompromißversuche erst einmal ausreifen zu lassen. Schon ehe die A n t w o r t der Entente auf Wilsons Friedensaktion eingetroffen war, m u ß t e die militärische Entscheidung erzwungen werden, weil — so hieß es genau wie 1914 — kein Tag mehr zu verlieren war, sollte die technische Vorbereitung eines schlagartigen Einsatzes der W u n d e r w a f f e noch bis zum vorgesehenen Termin gelingen. Ludendorff wollte unter keinen Umständen dulden, daß diplomatische Verhandlungen nochmals die militärische Aktion aufhielten. U n d doch stellte sich sehr bald heraus, daß weder die sehr reservierte H a l t u n g der deutschen Regierung noch die schroif ablehnende der Ententemächte Wilson davon abgeschreckt hat, den Faden seiner Friedensvermittlung weiterzuspinnen. Im Gegenteil: niemals ist er d a f ü r mit solchem Eifer tätig gewesen wie in den letzten Wochen vor dem von ihm befürchteten Losbruch des unbeschränkten U-Boot-Krieges. Zunächst schien es, als ob sich Bethmanns H o f f n u n g erfüllen könnte, in der U-Boot-Frage mit Amerika zu einem tragbaren Kompromiß zu k o m -

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men: zu einer Verständigung über die warnungslose Versenkung b e w a f f neter Schiffe. Bernstorff erhielt am 9. Januar eine Denkschrift über diese Frage und die Weisung, sie zunächst informell mit Lansing zu besprechen 1 ). (Daß sie inzwischen durch die Entscheidung vom 9. überholt war, hat er erst viel später erfahren.) Der Botschafter warnte sofort davor, das Vorgehen zu überstürzen, um Wilsons Friedenswerk nicht zum Scheitern zu bringen. Seit Mitte des Monats hatte er guten Grund, zu hoffen, es werde sich eine Verständigung finden lassen. Wir hörten schon früher (Kap. 5, III), wie stark die Frage der Bewaffnung von Handelsfahrzeugen in der öffentlichen Meinung Amerikas umstritten war und daß auch Lansing und Wilson im Frühjahr 1916 an diesem Punkte ihrer Sache nicht ganz sicher gewesen waren. Jetzt waren sie es noch weniger, weil die Engländer zur Bewaffnung der Schiffe mit immer größeren Geschützen, ihrer Bedienung durch wohlausgebildete Artilleristen der Armee und Marine übergingen und die Neutralen geradezu zwangen (durch Verweigerung der Kohlenlieferung an unbewaffnete Schiffe), sich ihrem Vorgehen anzuschließen. Darüber ist es am 18. Januar zwischen Lansing und dem britischen Botschafter zu einer sehr erregten Auseinandersetzung gekommen 2 ). Vor allem aber: im Weißen Haus herrschte den ganzen Januar über so ausgesprochene Friedensneigung, daß der eben von Washington zurückgekehrte Botschafter Gerard am 6. Januar in einer vielbeachteten Tischrede vor der deutsch-amerikanischen Handelskammer in Berlin erklären konnte: „Die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland wären niemals besser gewesen als in diesem Augenblick 3 )." Am 4. Januar hat Wilson seinem Freunde House eifrig versichert: „Es wird keinen Krieg geben. Unser Land will nicht in diesen Krieg verstrickt werden. Wir sind das einzige der großen weißen Völker, das noch fern ist vom Kriege, und es wäre ein Verbrechen gegen die Zivilisation, wenn wir hineingingen." Gleichzeitig äußerte er zu Lansing, der ihm über neue U-Boot-Zwischenfälle berichtete: er glaube nicht, daß das amerikanische Volk willens wäre, in den Krieg zu gehen, weil ein paar Amerikaner (auf Handelsschiffen) umgekommen wären 4 ). Die deutsche Denkschrift über die Illegalität bewaffneter Handelsschiffe hat ihn denn auch nicht empört, sondern seine früheren Zweifel noch verstärkt. Am 24. fragte er Lansing, ob nicht doch eine Änderung der amerikanischen Haltung nötig wäre angesichts der neuerdings von England geübten Praxis, und noch am 31. Januar (also unmittelbar vor der E r ö f f nung des unbeschränkten U-Boot-Krieges durch die Deutschen) schrieb er

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seinem Staatssekretär, er fände die Frage äußerst knifflig; es sei ihm ziemlich klar geworden, daß die Briten jedenfalls über den Geist der bisherigen Abmachungen und in vielen Fällen über die reine Verteidigung hinausgingen 5 ). D a r f man daraus schließen, daß er sich schließlich mit einer verschärften Kriegführung nur gegen bewaffnete Handelsschiffe abgefunden haben würde, so wie es Bethmann Hollweg erhoffte 6 ) — wenn wir nicht mit unserer Erklärung des unbeschränkten U-Boot-Krieges jählings dazwischen geplatzt wären? D a s ist doch wenig wahrscheinlich. Lansing hat (nach längerer Besinnung und einigem Schwanken) am 31. J a n u a r dem Präsidenten Argumente schriftlich vorgelegt, die gerade diesem Pazifisten starken Eindruck machen mußten. Die warnungslose Versenkung bewaffneter Handelsschiffe durch deutsche U-Boote würde sofort eine so große Erbitterung bei den Regierungen der Entente wachrufen, daß jedes Friedensgespräch mit ihnen sinnlos würde. Außerdem würden die Deutschen durch jede Konzession in der U-Boot-Frage in ihrer Meinung noch bestärkt, in Washington wäre man so kriegsscheu, daß sie auch den Ubergang zum warnungslosen Angriff auf alle Schiffe riskieren könnten ohne Gefahr des Bruchs mit Amerika 7 ). Wilson hat das nicht sofort überzeugt; aber es ist doch schwer vorzustellen, daß er um eines verschärften U-Boot-Krieges willen sich mit den Ententemächten überworfen hätte. Bethmanns Plan bot sicher größere militärische Vorteile, als der Admiralstab und die O H L damals wahrhaben wollten 8 ); aber auch er war politisch äußerst riskant. Ohne Abbruch der diplomatischen Beziehungen wäre es schwerlich abgegangen. Immerhin: vielleicht hätte wenigstens der Kriegseintritt Amerikas durch unsere Selbstbeschränkung verhindert oder hinausgezögert werden können; und in jedem Fall wäre die öffentliche Meinung der Welt nicht so brutal herausgefordert worden, wie es durch den am 9. J a n u a r beschlossenen Befehl zur warnungslosen Versenkung jedes nach oder von England und Frankreich fahrenden Schiffes vom 1. Februar an geschah. Unterdessen waren auch die Verhandlungen über die Friedensvermittlung Wilsons weitergegangen. In Berlin hat sich Staatssekretär Zimmermann eine Zeitlang mit der H o f f n u n g geschmeichelt, Wilson würde durch die Ablehnung seiner Friedensnote durch die Ententemächte so erbittert sein, daß er in seiner Neutralität beharren würde, auch wenn Deutschland den unbeschränkten U-Boot-Krieg entfesselte. Das war eine törichte Illusion 9 ). Sicherlich war die N o t e der Alliierten vom 10. J a n u a r für den Präsidenten eine

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Enttäuschung. Er wird aus ihren territorialen Forderungen gesehen haben, daß sie ihren Kampf trotz aller beschönigenden Worte keineswegs als reine Idealisten für die Sache der Freiheit führten; diesen Verdacht hatte er aber schon lange. Daß Staatssekretär Lansing hinter seinem Rücken den Botschaftern Frankreichs und Englands so ziemlich dieselbe Kriegszielliste empfohlen hatte, die in dem Manifest vom 10. Januar auftauchte, hat er nicht geahnt 10 ). Immerhin fing er an, sich vor einem Totalsieg der Entente zu fürchten, und ließ sich darum in seinem Friedenswerk nicht beirren. Das wurde überraschend deutlich in den Verhandlungen, die Graf Bernstorff am 15. Januar mit House über die Frage einer amerikanischen Friedensvermittlung zu führen hatte. Wir erinnern uns, daß ihm Zimmermann am 7. Januar den Auftrag erteilt hatte, die Bitte Houses um Mitteilung unserer Friedensbedingungen mit der Begründung abzuschlagen, daß Deutschland direkt, ohne Vermittler, mit seinen Kriegsgegnern verhandeln wolle 11 ). Das war eine wenig freundliche Haltung. Aber der Botschafter hat diese Instruktion, die ihn offenbar sehr verspätet erreichte, in einem Gespräch mit House am 15. Januar in einer Form ausgeführt, die den bitteren Kern seiner Mitteilungen entweder ganz unterdrückte oder so verhüllte, daß House das Gegenteil davon heraushörte. Der Bericht des Obersten an Wilson weiß nichts von einer deutschen Ablehnung amerikanischer Friedensvermittlung. Er ist vielmehr höchst erfreut über die unerwartet große Friedenswilligkeit der deutschen Regierung: sie ist bereit, sich einem Schiedsgericht als Mittel zur Herstellung des Friedens zu unterwerfen, sich einem Völkerbund anzuschließen zur Sicherung des Weltfriedens und zur Beschränkung der Land- und Seerüstung; sie schlägt vor, daß Wilson ein Programm für eine Friedenskonferenz vorlege und gibt im voraus ihre Zustimmung dazu; schließlich, um ihren guten Willen zu zeigen, will sie sofort mit Amerika einen Bryan-Vertrag (Schiedsgerichtsvertrag) abschließen. Auch ihre Friedensbedingungen werden sehr gemäßigt sein. Die Deutschen wollen nichts von Belgien annektieren. Das hat man dem Botschafter aus Berlin mitgeteilt. Von sich aus hat er hinzugefügt, er glaube, die Mittelmächte würden ein unabhängiges Polen und Litauen schaffen wollen, sie würden auch einen „sehr schmalen Gebietsstreifen" von Serbien verlangen, der Österreich-Ungarn mit Bulgarien in direkte Verbindung brächte, um einen ununterbrochenen Weg von Berlin nach Konstantinopel zu sichern — was er, House, schon immer erwartet habe. Auch gegen wechselseitige Wiederherstellung und Entschädigung hätten sie nichts eingewen-

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det, wenn Lloyd George das vorgeschlagen hätte. Vielleicht würden sie die Vereinigung von Serbien und Montenegro fordern unter der montenegrinischen Dynastie; denn die serbische Dynastie sei ja ganz korrupt und genieße einen bösen Ruf. „Nach meiner Ansicht", fügte House hinzu, „ist dies die wichtigste Mitteilung, die wir seit Kriegsbeginn erhalten haben, und gibt eine reale Basis f ü r Verhandlungen und f ü r den Frieden 12 )." Man sieht: Graf Bernstorff hat, entgegen seiner Instruktion, mit dem Amerikaner doch über konkrete Friedensbedingungen gesprochen und damit sehr guten Eindruck gemacht. In seiner Überraschung ließ sich House von ihm die Richtigkeit der Notizen bestätigen, die er sich während der Unterhaltung gemacht hatte. Trotzdem ist kein Zweifel (und geht auch aus der weiteren Korrespondenz hervor), daß er den Botschafter mißverstanden hatte. Er faßte die deutsche Zustimmung zum Schiedsgerichtsverfahren und Völkerbund so auf, als sollte jetzt gleich „die Frage des Friedens einem Schiedsgericht unterworfen werden, oder, als Alternative, Wilson Vorschläge f ü r eine Konferenz vorlegen", denen Deutschland im voraus zustimmen würde 13 ). Am 18. schrieb er dem Präsidenten, auf allen seinen früheren Deutschlandbesuchen hätten sich der Kaiser und seine Staatsmänner mehr oder weniger abweisend über Abrüstung und Völkerbund geäußert. Jetzt müsse in Berlin ein völliger Gesinnungswandel eingetreten sein. Offenbar wäre die Regierung jetzt ganz in der H a n d der Liberalen und zeige sich so fortschrittlich wie irgendeine der Demokratien. Man müsse sie also jetzt beim Wort nehmen und sofort Frieden schließen. „Sie stimmen beinahe allem zu, was die liberale öffentliche Meinung in demokratischen Ländern gefordert hat." House war so begeistert, daß er sich erbot, sofort die wichtige Botschaft nach London zu telegraphieren oder gar selbst dorthin zu reisen 14 ). Wilson ging, nach anfänglichen Zweifeln, mit Eifer auf diese Pläne ein. Der Oberst solle entsprechende Telegramme an Balfour und Lloyd George sofort vorbereiten, aber mit der Absendung noch warten, bis er neue und bestimmtere Zusicherungen von Bernstorff in der H a n d hätte; auch wollte er selbst zunächst seine (schon seit Ende Dezember geplante) Friedensrede vor dem Senat halten und deren Wirkung abwarten. Das alles schien der deutschen Politik recht günstige Chancen zu eröffnen, und Bernstorff versäumte denn auch nicht, sogleich nach Berlin zu melden (sicher zum Erstaunen des Auswärtigen Amtes), Wilson betrachte die ihm am 7. Januar aufgetragene Äußerung nach Houses Mitteilung „als höchst wertvoll". Im übrigen, schrieb er, „ist sicher, daß der Präsident augenblick-

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lieh keinen anderen Gedanken hat als Frieden zu stiften und diese Absicht mit äußerster Energie und jedem möglichen Mittel durchzuführen suchen wird 1 5 )". Das w a r sicher richtig. Aber die Ernüchterung Houses w a r groß, als ihm der Botschafter auf Rückfrage am 18. mitteilen mußte, die deutsche Regierung habe ihre Zustimmung im voraus n u r f ü r Wilsons Vorschläge f ü r Sicherung des Weltfriedens nach dem Kriege gegeben. D a r ü b e r sollte dann auf einer allgemeinen Weltkonferenz verhandelt werden. Zunächst aber müßte der Krieg durch eine Konferenz der Kriegführenden (also ohne Teilnahme Amerikas) zu Ende gebracht werden. Auf die Rückfrage des Obersten, ob der vorgeschlagene deutsch-amerikanische Bryan-Vertrag auch auf den U Boot-Krieg Anwendung finden sollte, konnte Bernstorff natürlich nur negativ antworten: eine Unterbrechung der Kriegshandlungen w ä h r e n d einer schiedsgerichtlichen Untersuchung würde nicht möglich sein. I n demselben Brief (vom 20.) machte er die betrübende Mitteilung, leider habe die kriegerische A n t w o r t der Entente auf Wilsons Friedensvorschläge die Lage in Berlin umkippen lassen, so d a ß jetzt wieder die „Extremisten" das Ubergewicht bekommen hätten, und er fürchte, seine Regierung könne sich bald zu „strengen M a ß n a h m e n " gezwungen sehen; weitere Mitteilungen über die Friedensbedingungen würden wohl jetzt k a u m zu erreichen sein. M a n begreift, daß House darüber mit einem Ausbruch von Ärger über die „aalglatte" deutsche UnZuverlässigkeit reagierte. Er hat aber, wie sich noch zeigen wird, ebenso wenig wie Wilson deshalb die Friedensaktion aufgegeben 1 6 ). Bernstorff selbst befand sich eben jetzt in tödlicher Verlegenheit. Am 19. hatte er die Mitteilung aus Berlin erhalten, daß der unbeschränkte U-BootKrieg am 1. Februar an der englischen und französischen Küste beginnen würde, zugleich aber ein strenges Verbot, dies der amerikanischen Regierung vor dem 31. mitzuteilen. E r sollte Vorschläge machen, was sich etwa tun ließe, um durch Schonfristen f ü r neutrale Fahrzeuge, freie Passage amerikanischer Passagierdampfer mit besonderen Kennzeichen u. dgl. den Bruch mit Amerika wenigstens hinauszuschieben, erhielt aber gleichzeitig die Mitteilung, d a ß Deutschland entschlossen wäre, diesen Bruch notfalls zu riskieren. Welch eine Lage f ü r den Botschafter! Die vertraulichen Gespräche mit House konnte er nicht abbrechen, um keine Verschärfung der Lage herbeizuführen; setzte er sie aber fort, so erschien er als Heuchler, sobald er später die böse Botschaft bekannt gab. Dringend riet er am 19. in Berlin, wenigstens den Termin des 1. Februar um einen M o n a t hinauszuschieben, um eine aus-

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reichende Schonfrist für die auf Seefahrt befindlichen Amerikaner zu gewinnen und Wilsons gerade jetzt auf ihren Höhepunkt gelangende Vermittlertätigkeit nicht zu durchkreuzen. Die Ankündigung des verschärften U-BootKrieges unmittelbar vor dessen Beginn würde in Washington wie eine Kriegserklärung an Amerika wirken. Am 23., nach Wilsons Senatsbotschaft, meldete er, der Präsident habe ihn durch House erneut und dringend ersucht, die deutschen Friedensbedingungen mitzuteilen, öffentlich oder vertraulich; dann würde er sofort eine Friedenskonferenz vorschlagen, auf deren Zustandekommen er nach wie vor vertraue 17 ). Das war unmittelbar nach Wilsons berühmter Senatsbotschaft vom 22. Januar: dem zweiten großen Vorstoß des Präsidenten zur Beschwörung des großen Brandes. Er hatte sie schon seit Ende Dezember sorgsam vorbereitet unter Ausschaltung Lansings, dessen Widerspruch er voraussah, aber unter eifriger Mitwirkung Houses. Sie sollte den Völkern, nicht mehr bloß den Regierungen seine eigenen Friedensideale verkünden und wurde darum schon im voraus an alle amerikanischen Gesandtschaften mit dem Auftrag möglichst weiter Verbreitung telegraphiert. Als erste in einer ganzen Reihe ähnlicher Kundgebungen der nächsten Jahre hat sie ihre besondere Bedeutung gewonnen und in gewissem Grad das „Vierzehn-Punkte-Programm" vom 18. Januar 1918 schon vorweg genommen. Unverkennbar ist ihre Absicht, die Regierungen, die am 10. Januar eine Friedenskonferenz verweigert hatten, eines Besseren zu belehren, dadurch die Deutschen zur Teilnahme an Friedensgesprächen zu ermutigen und an die Friedenssehnsucht aller Völker zu appellieren 18 ). Freilich geschah das in einer sehr vorsichtigen und vieldeutigen Form. Wilson redete (sozusagen) als professoraler Prophet, d. h. er predigte seine Ideale in sehr doktrinären Wendungen und vermied beinahe ängstlich, mit seinen Forderungen konkret zu werden. Das hätte nach unbefugter Einmischung in territoriale Streitfragen der Europäer ausgesehen: ein Eindruck, den er auf alle Fälle zu vermeiden wünschte, um nicht die Alliierten weiter zu verstimmen und in Deutschland erneut Ablehnung zu erfahren, aber auch im Bewußtsein davon, daß ihm zum Schiedsrichter die militärische Macht fehlte. Den Kern des Ganzen bildete ein Gedanke, der in der ganzen Welt sogleich die begeisterte Zustimmung der Liberalen erweckte: daß nur ein solcher Friede dauerhaft sein könne, der von allen Völkern als gerecht und vernünftig empfunden würde, nicht aber als Vergewaltigung und Unterdrük-

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kung. Also kein Macht- und Diktat-, sondern ein Verständigungsfrieden! „Ein Friede ohne S i e g ! " Diese Formulierung, die auf den Siegerwillen der Ententeregierungen und der deutschen Nationalisten schockierend wirken mußte, hat Wilson gegen alle Einreden und Abschwächungsvorschläge seiner Berater hartnäckig festgehalten, und sie hat seine Botschaft ebenso berühmt wie bei allen Militaristen verhaßt gemacht. Neben ihr w a r das wichtigste die Proklamation des Grundsatzes der Selbstbestimmung aller Völker, innenpolitisch wie außenpolitisch verstanden: die Monroe-Doktrin sollte auf alle Nationen der Erde, große wie kleine, ausgedehnt, es sollte aber auch überall Selbstregierung eingeführt werden. Diese edlen Grundsätze wurden in England zwar mit Beifall aufgenommen, aber man bemerkte mit Bitterkeit dazu: der Präsident habe gut reden, er begnüge sich damit, über sie zu sprechen und überlasse es den Alliierten, ihr Blut d a f ü r zu vergießen. Die Prinzipien der Menschlichkeit, schrieb Lord Bryce, sind hoch zu achten, aber wie soll man darüber mit einer Regierung verhandeln, die einen unmenschlichen Krieg führt und das internationale Recht mit Füßen tritt? Man weigerte sich also, den deutschen Gegner auf dem Fuß der Gleichberechtigung zu behandeln und sah in ihm nur den „Kriegsverbrecher", der bestraft werden müsse. War es unter diesen Umständen nicht eine Illusion, wenn Wilson trotzdem mit Zähigkeit an dem Glauben festhielt, er würde einen Verständigungsfrieden zustande bringen, falls nur die Deutschen sich „vernünftig" zeigten? Für Deutschland war es gewiß erfreulich zu hören, daß er nur einen „Frieden unter Gleichen" als gerecht anerkenne, also von einem Frieden der Rache und der Bestrafung nichts wissen wollte. U n d es ist bedauerlich, daß so weite Kreise der deutschen öffentlichen Meinung diesen Kerngedanken der Rede gar nicht erfaßten, sondern sich nur darüber entrüsteten, daß er gleich zu Anfang die Bereitwilligkeit der Entente, ihre Friedensbedingungen zu nennen, lobend in Gegensatz stellte zur deutschen Zurückhaltung, ferner darüber, daß er in verhüllten Worten unseren Verzicht auf Elsaß-Lothringen sowie die Vereinigung aller polnisch besiedelten Gebiete mit dem neuen „unabhängigen" Polenstaat zu fordern schien 19 ). Darüber ist das Wort vom „Frieden ohne Sieg" nicht ernst genommen worden. Aber hätte unsere Zustimmung zur Kundgebung Wilsons an der Ablehnung jeder Friedenskonferenz durch die Entente irgend etwas geändert? Die amerikanische Geschichtschreibung von heute scheint sich ziemlich einig zu sein in dem Urteil, die Deutschen hätten hier eine große Gelegenheit versäumt, sich zu retten und

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mit amerikanischer H i l f e den heiß ersehnten Verständigungsfrieden zu erreichen. Aber auch wenn man absieht von der Frage, wie dieser Frieden ausgesehen haben würde und ob er sich hinsichtlich der deutschen West- und Ostgrenze wesentlich von den Bedingungen des 10. Januar 1917 und von dem Versailler Diktat unterschieden hätte: ist im Ernst zu glauben, daß die Alliierten sich durch eine Rede Wilsons von ihrer eisernen Entschlossenheit, zunächst einmal den „preußischen Militarismus" gründlich zu zerstören, hätten abbringen lassen? Wilsons neuester Biograph (A. S. Link) glaubt freilich aus dem Studium englischer und amerikanischer Verhandlungen über Kriegsfinanzen und Kriegsbedarf erweisen zu können, daß die europäischen Westmächte nicht imstande waren, ohne amerikanische H i l f e den Krieg zu gewinnen, ja gegen Amerikas Willen ihn wohl kaum über das Frühjahr 1917 hinaus hätten fortsetzen können. Der Präsident hielt also (wenn das richtig ist) große Macht in Händen. Aber war er nicht auch seinerseits sehr abhängig von guten Beziehungen zu den Westmächten — geistig und vor allem wirtschaftlich? Das britische Foreign Office k a m im Oktober 1916 aufgrund einer ausführlichen Analyse der Lage zu dem Schluß, daß Amerika einen Bruch mit England und dem Empire gar nicht wagen könne, ohne seine Wirtschaft zu ruinieren 20 ). U n d wie weit hätte Deutschland in seiner Konzessionsbereitschaft gehen müssen, um Wilson zur Anwendung des schärfsten Druckmittels gegen die Alliierten, d. h. zur offenen Drohung mit dem Bruch (der ja immer nur ein diplomatischer, niemals eine Kriegserklärung sein konnte) zu bringen? Uns scheint, es geht nicht an, die Schuld am Scheitern der amerikanischen Friedensaktion einseitig nur bei der Hartnäckigkeit der deutschen Regierung zu suchen. Sicher ist nur, daß die Erhaltung der Neutralität Amerikas einen militärischen Sieg der Entente praktisch unmöglich gemacht hätte 21 ). Auch wäre nach dem rasdien Scheitern der großen englisch-französischen Frühjahrsoffensive 1917 (die Hindenburg und Ludendorff so sehr gefürchtet hatten) und dem völligen Zusammenbruch der russischen K a m p f k r a f t infolge der Märzrevolution der Kriegswille auch in den Ententeländern, vor allem in Frankreich und Italien, sicherlich sehr bald erloschen — wenn nicht die H o f f n u n g geblieben wäre, Amerikas H i l f e würde schließlich doch noch den Sieg bringen. Dieses Erlahmen abzuwarten und bis dahin sorgfältig alles zu vermeiden, was Amerika in den Krieg bringen konnte, zu diesem Zweck auch Wilsons Hoffnungen auf einen großen Erfolg als Friedensvermittler zu nähren, auf jede Weise, durch jedes nur mögliche Entgegenkommen — das war die große

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deutsche Erfolgschance. Und diese Chance ist nun allerdings durch den unglückseligen Beschluß vom 9. Januar und das sture Festhalten an ihm verloren gegangen. Schuld daran war vor allem der eiserne Wille Ludendorffs. Im Auswärtigen Amt war man nicht ohne Empfänglichkeit für Bernstorffs Warnungen und Mahnungen. Zimmermann verhandelte mit Holtzendorff nicht ganz ohne Erfolg über eine Verlängerung der Schonfrist für neutrale Handelsschiffe 22 ). Überdies hatte er mit schwersten Bedenken des österreichischen Bundesgenossen zu kämpfen. Czernin erklärte am 12., die deutsche Regierung träfe eine furchtbare Verantwortung, wenn der erhoffte rasche Erfolg ausbleiben oder auch nur verzögert werden sollte. Ein Mißerfolg würde auch die Bundesgenossen treffen. Er schickte einen eigenen Sonderbotschafter (Sektionschef Baron Flotow) zur Verhandlung darüber nach Berlin, da der Botschafter Prinz Hohenlohe sich zu stark von den deutschen Argumenten beeindruckt zeigte, und Zimmermann mußte versprechen, die Wiener Regierung sollte „vor der endgültigen Entscheidung" (die ja aber schon gefallen war!) noch einmal gehört werden. Hinter dieser Aufregung steckte die schwere Besorgnis Kaiser Karls und dessen scharfe Kritik am Vorgehen der Deutschen. Zimmermanns Erwartung, Wilson würde aus Enttäuschung über die Haltung der Entente zuletzt doch neutral bleiben, hielt er für völlig verfehlt: wenn der Präsident wirklich abgekühlt sein sollte in seiner Freundschaft mit England, dürfe man ihn doch nicht durch die U-Boot-Frage wieder in die Arme der Entente treiben! Er legte größtes Gewicht darauf, am 20. sowohl den österreichischen Admiral Haus wie einen deutschen Marinevertreter zu hören und nicht einfach bei der Entscheidung übergangen zu werden. Aber Flotow brachte aus Berlin nur die uns schon bekannten militärischen Gegenargumente (vor allem den Hinweis auf die drohende feindliche Frühjahrsoffensive) und reichlich optimistische Urteile Zimmermanns über die Haltung der Neutralen, vor allem Amerikas, mit. Man versicherte ihm sogar, wir würden 15 U-Boot-Stationen gegen England einrichten können, das Durchkommen auch nur eines Schiffes sei kaum denkbar (!), und der Schiffsverkehr im Ärmelkanal sei ohne große Bedeutung wegen der unzulänglichen französischen Eisenbahnverhältnisse (!). Außerdem würde der Terror so stark wirken, daß sich neutrale Schiffe kaum mehr auf die See wagen würden. Das alles war zur Beruhigung des Bundesgenossen bestimmt. Hinterher gestand Zimmermann den Österreichern, auch er „habe viele schlaflose

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Nächte darüber verbracht. Eine positive Sicherheit f ü r den Erfolg gibt es nicht. . . Zeigen Sie mir einen Weg, um zu einem möglichen Frieden zu kommen, und ich bin der erste, der den Unterseebootkrieg verwirft. Wie die Dinge heute liegen, habe ich und viele andere mich dazu schon beinahe bewegen lassen". Am 20. erschien dann Holtzendorff in Begleitung Zimmermanns in Wien zur Beratung mit Kaiser Karl, Großadmiral Haus, Czernin und Tisza. Aber dieser Kronrat brachte nur zu Tage, daß die deutsche Regierung ihren Entschluß längst gefaßt hatte. Holtzendorffs äußerst optimistische Darstellung der Erfolgschancen der Marine (er übertrieb die Zahl der verfügbaren U Boote auf 120!) machte nur auf Haus Eindruck, der ihm bedingungslos zustimmte. Die österreichischen Politiker und Tisza blieben sehr skeptisch, äußerten ihre (ungläubige) Verwunderung über den so ganz neu auftretenden Pessimismus der O H L im Blick auf die feindliche Frühjahrsoffensive, konnten aber an dem deutschen Entschluß nichts mehr ändern. Für Österreich-Ungarn erhob sich nun die Frage, ob es sich selbst von dem deutschen Vorgehen ausschließen oder auch seinerseits im Mittelmehr den unbeschränkten U-Boot-Krieg eröffnen sollte. Um nicht den Zwiespalt der Verbündeten nach außer hervortreten zu lassen und den Erfolg der deutschen U-Boote nicht durch Schaffung einer Zone größerer Sicherheit im Mittelmeer zu gefährden, hielt Czernin das Mitmachen — schweren Herzens - für unvermeidlich. Es wurde denn auch so in einer Sitzung des „Ministerrates für gemeinsame Angelegenheiten" unter Vorsitz Kaiser Karls am 22. beschlossen, nachdem General Conrad und Kriegsminister Krobatin sich d a f ü r eingesetzt und die militärischen Befürchtungen der deutschen O H L bestätigt hatten - trotz schwerer politischer Sorgen, die besonders Tisza äußerte 23 ). Aber es war ein Beschluß ohne alle Freudigkeit und Siegeszuversicht. Dieselbe gedrückte Stimmung fand Bethmann Hollweg im diplomatischen Bundesratsausschuß vor, dem er am 16. die veränderte Lage bekanntgab. E r berief sich zwar auf die Argumente der O H L und Marineleitung, insbesondere auf die Notwendigkeit, dem Gegner die Zufuhr an Geschützen und Munition zu versperren, ließ aber deutlich genug erkennen, daß er sich nur schweren Herzens dem Druck der Militärs und der Entscheidung des Kaisers gefügt hatte. Die Bedenken und Zweifel der Mitglieder brachte am entschiedensten (wie zu erwarten) Ministerpräsident von Weizsäcker zur Sprache. Er stellte zunächst in betontem Widerspruch zu den unsicheren Berechnungen und Zahlenangaben der Marine fest, daß auch jetzt nicht mehr als 18 große

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U-Boote gleichzeitig gegen England in Aktion treten könnten. „Von diesen 18 U-Booten wird also das Schicksal Deutschlands abhängen." Lohnt es wirklich, wegen eines Mehr von 200000 t monatlich versenkter Schiffe „die Gesinnung der ganzen Welt gegen uns aufzubringen?" Kann England diese Verluste nicht durch Neubauten ersetzen, nachdem allein schon Amerika während des Kriegs seine Tonnage verdoppelt hat? Früher ist doch immer gesagt worden, „die Engländer würden auch nicht weich werden, wenn sie 600000 t im Monat verlieren". Hat sich das plötzlich geändert? „Kann die Marine nicht auch irren?" Und was ist schon auf die politische Meinung der O H L zu geben, die sich in der Frage der Polenproklamation so gründlich getäuscht und mit den belgischen Arbeiterdeportationen so großes Unheil angerichtet hat? Überdies: „Wie soll man überhaupt zum Frieden kommen, auch wenn England anerkennt, daß es nicht genug zu essen hat? Auf welcher Basis soll der Frieden ein dauerhafter werden, wenn wir durch den U-BootKrieg die ganze Welt an die englische Flagge hängen?" Schließlich: glaubt man wirklich, die Stimmung in den Schützengräben zu heben (wie die OHL behauptet), wenn man dort erfährt, daß nun auch Amerika sich unseren Kriegsgegnern zugesellt? Im Volk mag die große Aktion zunächst Beifall finden. Wenn sie aber nicht gelingt, „werden alle jene, die jetzt am heftigsten den schrankenlosen U-Boot-Krieg gefordert haben, verschwinden, ja die ersten sein, die der Regierung Vorwürfe machen". Kräftiger, nüchtern-einsichtiger und rücksichtsloser konnte man nicht Kritik üben. Offensichtlich hat Weizsäcker damit auch im Bundesratsausschuß, besonders bei seinem Vorsitzenden (Grafen Hertling) starken Eindruck gemacht, und Bethmanns Gegenargumente klangen weder sehr überzeugend noch sehr überzeugt. Weizsäcker hatte u. a. gemeint, auch bei einem bloßen Halten der Front werde schließlich ein bescheidener Friede doch möglich werden. Aber die OHL, erwiderte der Kanzler, bezweifle, ob sich die Front ohne den U-Boot-Krieg würde stabil halten lassen. „Wenn Landheer und Marine sagen: es muß sein, dann können wir nicht nein sagen." Das war sein stärkstes Argument, und es ist bezeichnend für die Lage, daß der Bundesratsausschuß einschließlich Weizsäckers dagegen zuletzt nicht aufzutrumpfen wagte, sondern sich mit der einmal gefaßten Entscheidung abzufinden bereit war. Denn auch der Bundesrat war nicht imstande, gegen das Übergewicht der Militärs im Kriege aufzukommen 24 ). Bethmann hat am 15. auch das preußische Staatsministerium und weiterhin einzelne Parteiführer des Reichstags vertraulich orientiert. Den Ministern

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gegenüber begründete er seinen Entschluß, jetzt nicht den Abschied zu nehmen, und f a n d dafür ihre Zustimmung: sie hielten die Kehrtwendung seiner Politik für notwendig, aber ohne Optimismus f ü r den neuen Kurs. Von seinen streng vertraulichen Besprechungen mit den Parteiführern berichtet er selbst: „Die national-liberalen und konservativen Schreier schwelgen in Wonne", doch wäre Bassermann über die amerikanische Kriegsgefahr sehr erschrocken gewesen. Die Demokraten hätten sich bereit erklärt, mitzumachen, „die Sozialdemokraten sind erschüttert, wollen sich aber fügen, wobei sie betonten, daß ihnen das nur möglich sei, wenn ich nicht demissioniere" — wie es ja Bethmann erwartet hatte 2 5 ). Als er das niederschrieb, erwartete er noch eine neue „Friedensaktion" Wilsons. Tatsächlich blieb diese auch nicht aus. Wir hörten schon von der Meldung Bernstorffs am 23. 26 ), Wilson bestehe nach wie vor auf einer Friedenskonferenz, die er zustande zu bringen hoffe, wenn er nur die deutschen Friedensbedingungen erfahren würde. Der Botschafter meinte dazu, wir könnten sie ja ruhig nennen, um aber nicht die deutsche öffentliche Meinung über ihre Bescheidenheit in Aufregung geraten zu lassen, könnten wir hinzufügen: sie wären inzwischen durch die schnöde Antwort der Alliierten überholt. Drei Tage später bat er dringend um sofortigen Aufschub aller Kriegsmaßnahmen und gab dazu am 27. folgende Erklärung: Wilson habe ihm soeben (am 26.) durch House offiziell angeboten, sofort eine vertrauliche Friedensvermittlung bei den Ententemächten zu unternehmen, und zwar aufgrund seiner Senatsbotschaft, ohne Einmischung in territoriale Friedensfragen; doch müsse er dazu die deutschen Friedensbedingungen erfahren, und das nicht nur in vertraulicher Form. House, der dieses Angebot überbrachte, habe von „unmöglichen" Friedensbedingungen unserer Gegner gesprochen und hinzugefügt: nachdem die Alliierten ihre Bedingungen offen genannt hätten und der Präsident sein eigenes Programm „in direktem Gegensatz hierzu" entwickelt hätte, wäre nun auch Deutschland moralisch verpflichtet, seine Bedingungen bekannt zu geben, weil sonst seine Friedensabsicht nicht als ehrlich erscheinen würde. Bethmann Hollweg hätte ja schon mitteilen lassen, daß unser Friedensprogramm sehr gemäßigt sei und daß wir auf eine zweite Friedenskonferenz (über Völkerbund, Freiheit der Meere, Abrüstung) eingehen wollten. Also hoffe Wilson mit seiner Senatsbotschaft den deutschen Wünschen entsprochen zu haben. Er würde besonders erfreut sein über eine gleichzeitige Erklärung, daß Deutschland bereit sei, auf der Grundlage seiner Senatsbotschaft zu verhandeln, bitte um unser Vertrauen

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und sei überzeugt, daß er beide Konferenzen (sowohl die eigentliche Friedenskonferenz wie die nachfolgende zur Sicherung des Dauerfriedens) zustande bringen könne, und zwar so rasch, daß unnötiges Blutvergießen der Frühjahrsoffensive verhindert werde. Die ablehnende Antwortnote der Entente an Amerika brauche nach Ansicht Wilsons als bloßer Bluff „nicht in Betracht gezogen zu werden". Das war in der Tat eine aufregende Nachricht. Natürlich bewegte sie sidi in Illusionen: die Ententenote war ganz und gar kein „Bluff", und kein deutsches Friedensprogramm war denkbar, das sich mit den offen proklamierten und zum größten Teil vertraglich bereits festgelegten Kriegszielen der Alliierten vereinigen ließ. Unsere Gegner hatten ja auch deutlich erklärt (nicht zum erstenmal), daß sie sich mit einem noch unbesiegten Deutschland auf keinen Fall an einen Tisch setzen wollten. Es ist schwer vorzustellen, daß Wilson das alles übersehen haben sollte. Was steckte hinter der Meldung Bernstorffs? Das Gespräch mit House ging auf ein Schreiben des Präsidenten vom 24. zurück, in dem dieser dem Obersten in der Tat die Uberzeugung ausgesprochen hatte: „Wenn Deutschland tatsächlich Frieden wünscht, so kann es ihn bekommen, und zwar bald, falls es mir nur vertrauen will und mir eine Chance verschafft." Bernstorffs letzte Äußerungen gegenüber House hätten allerdings nicht weitergeführt. „Es kommt mir so vor, als würde es gut f ü r Sie sein, nochmals Bernstorff zu sprechen. Sagen Sie ihm, daß dies jetzt der Zeitpunkt wäre, etwas zustande zu bringen, wenn sie (in Berlin) wahrhaftig und wirklich Frieden wünschen; daß die Anzeichen, die uns zukommen, von der Art sind, daß sie uns glauben lassen, ich könnte die Dinge vorwärts bringen (bring things about), mit Hilfe einer vernünftigen Anregung, die von ihnen kommt." Sonst bestünde bei den Vorbereitungen, die Deutschland offenbar zur Durchführung von unbeschränkten Angriffen auf H a n delsschiffe träfe, die größte Gefahr, daß es zu einem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten käme. „Feindliche Gefühle und Erbitterung gibt es weder hier noch dort. Wünschen sie wirklich meine Hilfe? Ich habe Anspruch darauf, das zu wissen, weil ich den echten Wunsch habe zu helfen und mich jetzt selbst in eine Stellung gebracht habe zu helfen ohne Begünstigung einer von beiden Seiten 27 )." Wilsons A u f t r a g liegt ganz auf der uns schon bekannten Linie. Oberst House soll noch einmal versuchen, ob die Deutschen dahin zu bewegen sind,

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ihn als Friedensvermittler einzuschalten und ihm „vernünftige" Vorschläge dafür an die H a n d zu geben. House hat diesen Auftrag erfüllt, aber offenbar eigene Meinungsäußerungen hinzugefügt. Jedenfalls war in seiner Instruktion weder von „Bluff" noch von „unmöglichen Friedensbedingungen" der Alliierten die Rede, aber auch nicht von einem Verzicht Wilsons auf Einmischung in territoriale Streitfragen, nicht von zwei getrennten Friedenskonferenzen, nicht von der Senatsbotschaft als Grundlage einer neuen Vermittlungsaktion, und vor allem nicht von einer Forderung, die Friedensbedingungen Deutschlands öffentlich bekannt zu geben. Was von alledem auf selbständige Anregung Houses zurückgeht, was auf vorhergegangene mündliche Besprechungen Wilsons mit House oder auf Mißverständnisse bzw. Übertreibungen Bernstorffs, ist nicht genau zu erkennen, weil die Berichte der beiden Gesprächspartner voneinander abweichen. Nach Houses Angaben war der Botschafter schwer bedrückt von Sorgen über die Vorherrschaft der O H L in Deutschland und über die — wie er andeutete — „im Frühjahr" bevorstehende neue U-Boot-Offensive. Der Oberst schlug vor, Deutschland müßte Wilson sofort „etwas Endgültiges" in die H a n d geben, mit dem er „arbeiten" könne. Er regte an, die Deutschen sollten sich bereit erklären, Belgien und Frankreich vollständig zu räumen und „gegenseitiger Restauration, Reparation und Entschädigungen" zustimmen. Vor der zweiten dieser Forderungen (die ja Bernstorff selbst am 15. als annehmbar bezeichnet hatte) sei der Botschafter nun doch etwas zurückgescheut. Der Oberst sagte ihm dann, Wilson wünsche etwas in die H a n d zu bekommen, mit dem sich die öffentliche Meinung in den Ländern der Alliierten in Bewegung bringen ließe, um ihre Regierungen zur Diskussion der Friedensfrage zu zwingen. Bernstorff meinte (offenbar ausweichend), die Senatsbotschaft des Präsidenten hätte der öffentlichen Meinung in Deutschland gut gefallen, besonders die Ausführungen über Freiheit der Meere. Nach längerer Diskussion kam man (auf Bernstorffs, nicht auf Houses Vorschlag) dahin überein, daß der Botschafter am nächsten Tag nach Berlin telegraphieren solle, der Präsident wünsche eine Mitteilung der endgültigen Friedensbedingungen. „Er dächte, wenn sie gemäßigt wären, gäbe es Grund zu glauben, daß etwas getan werden könnte in der Richtung, bald einen Frieden herbeizuführen 2 8 )." Bernstorff sollte dem Auswärtigen A m t vollständige Räumung Frankreichs und Belgiens vorschlagen. Darüber hinaus würde er anregen, die Regierung solle sich bereit erklären, eine Friedenskonferenz auf der Grundlage der Senatsbotschaft Wilsons zu beschicken. Nach House hat

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er von sich aus hinzugefügt, er glaube, für den Kanzler wäre es, zu seiner eigenen Deckung, notwendig, die deutschen Friedensbedingungen in der Form einer Botschaft an den Präsidenten und als Antwort auf dessen Ersuchen öffentlich bekannt zu geben. Deutschlands öffentliche Meinung würde durch eine endgültige Festlegung in dieser Form am besten zur Ruhe gebracht, besser als durch bloß vertrauliche Mitteilungen. House bemerkte dazu (gegenüber Wilson): die Tatsache, daß dieser die Friedensbedingungen von Deutschland angefordert und erhalten habe, würde ja die Verhandlungen mit den Alliierten erleichtern, und da es Bernstorff so wünsche, hielte er es für das Beste, „die Dinge so laufen zu lassen" — nämlich auf eine zunächst vertrauliche Weitergabe der deutschen Friedensbedingungen an die Alliierten zu verzichten, denn der Präsident würde ja auch so als der Urheber der ganzen Aktion in Erscheinung treten. An der Zuverlässigkeit des Houseschen Berichts, der unmittelbar nach der Unterredung niedergeschrieben wurde, ist nicht zu zweifeln. Er braucht aber nicht vollständig zu sein, und so dürfen wir annehmen, daß House von sich aus (aber sicher im Sinne des Präsidenten) hinzugefügt hat, was seine Instruktion nicht ausdrücklich enthielt, insbesondere die (für Wilsons Auffassung sehr bezeichnende) Abwertung der Note der Alliierten vom 10. Januar als bloßer „ B l u f f " . Was Bernstorff verschwieg, war die Forderung der Räumung Belgiens und Frankreichs und der „gegenseitigen" Reparationen, mit der er das Auswärtige Amt wohl nicht verprellen wollte, und vor allem: daß die Forderung öffentlicher Bekanntgabe der Friedensbedingungen auf seinen eigenen Vorschlag zurückging und der ursprünglichen Absicht des Präsidenten sogar widersprach. Natürlich stürzte seine Meldung die Berliner Regierung in ärgste Verwirrung. Ließ sie sich auf Wilsons Vorschläge ein, so mußte sie sich schon entschließen, die längst beschlossene U-Boot-Offensive aufzugeben oder zu vertagen — aber auf wie lange Zeit? Bernstorff rechnete damit, daß die Pläne Wilsons an der Hartnäckigkeit unserer Gegner rasch scheitern würden. Dann brauchte der Aufschub nicht lange zu dauern, und wir hatten den ungeheuren Vorteil, als die Gemäßigten und Friedfertigen im Gegensatz zu unseren Feinden dazustehen, was Wilsons Eintritt in den Krieg gegen uns wegen der U-Boot-Frage zum mindesten sehr erschweren würde. Bernstorff wird die Veröffentlichung unserer gemäßigten Friedensziele vor allem deshalb gewünscht haben, weil er sicher zu sein glaubte, daß sie helfen könnten, die im Ausland umlaufenden bösen Gerüchte über deutsche Eroberungs- und Welt-

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herrschaftspläne zu zerstreuen — so wie er es eben erst am 15. im Gespräch mit House erlebt hatte. Das konnte den feindlichen Regierungen ihre Kriegspolitik — auf die Länge gesehen — sehr erschweren, und diesen Vorteil wird er (als Diplomat auf ausländischen Posten) wichtiger genommen haben als alles zu erwartende Wehegeschrei der deutschen Nationalisten. Wie aber, wenn die Feindmächte sich doch auf Wilsons Vorschlag einließen, die deutschen Friedensbedingungen als freche Anmaßung ablehnten und verketzerten und die Verhandlungen endlos hinzogen? In diesem Fall kam der UBoot-Krieg am Ende zu spät, um noch die erhoffte Wirkung zu haben. Den Botschafter, der an einen Erfolg der U-Boote ohnehin nicht glaubte, hat das offenbar ebensowenig geschreckt wie die Aussicht auf sehr schwierige Friedenskonferenzen. Die Hauptsache war, überhaupt erst einmal Konferenzen in Gang zu bringen. Sie wieder abzubrechen, würde für den Gegner so leicht nicht möglich sein, und Bernstorff bekannte sich in seinem Bericht zu der Ansicht, daß Deutschland in jedem Fall durch Konferenzen jetzt einen besseren Frieden erreichen würde, als wenn sich die Vereinigten Staaten mit ihrer (trotz allem) gewaltigen Macht seinen Gegnern anschlössen. Auf der anderen Seite: was würde die Folge sein, wenn wir ablehnten und ohne weiteres den U-Boot-Krieg in Gang setzten? Bernstorff sagte sehr richtig voraus: das müßte als „Schlag ins Gesicht des Präsidenten" wirken und den Krieg mit den Vereinigten Staaten unvermeidlich machen. Staatssekretär Lansing hat damals eine Betrachtung in sein Tagebuch geschrieben, die kennzeichnend ist f ü r die Haltung unserer Gegner in Amerika: „Wenn unser Volk sich nur klar wäre über die unersättliche Gier dieser deutschen Autokraten in Berlin und ihre finsteren Pläne zur Weltbeherrschung, so wären wir schon heute im Kriege . . . Früher oder später wird ja der Würfel fallen . . . Der Krieg wird sicher kommen, doch müssen wir geduldig warten, bis die Deutschen irgend etwas tun, das allgemeine Empörung weckt und allen Amerikanern die Gefahr eines deutschen Erfolges in diesem Kriege deutlich macht. Wenn diese Zeit kommt, so wird sie kommen wegen einer deutschen D u m m h e i t . . . Ich hoffe, daß diese deutschen Tölpel bald hineinstolpern werden, weil ohne Zweifel die Alliierten im Westen eine schwere Zeit durchzustehen haben und Rußland trotz seiner Menschenmassen nicht vorankommt 2 9 )." Während diese Zeilen niedergeschrieben wurden, brütete Bethmann Hollweg gerade mit seinen Mitarbeitern über der Antwort auf Bernstorffs Telegramm, das am Nachmittag des 28. (4.15 Uhr) in Berlin eingetroffen war.

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Drei Stunden später ließ er bereits einen ersten Entwurf für die Bekanntgabe unserer Friedensbedingungen an Wilson nach Pless telegraphieren und beauftragte Grünau, darüber mit Wilhelm II. und der OHL zu verhandeln 30 ). Helfferich, den er noch am späten Abend des 28. (gegen 10 Uhr) zu sich bitten ließ, traf ihn in einer Erregung an, wie er sie noch nie an ihm erlebt hatte. „Der Kanzler sah", schreibt er, „noch einmal die Hoffnung auftauchen, es könne der Krieg mit Amerika vermieden und vielleicht sogar der Friede erreicht werden." Das letztere kann freilich nicht mehr gewesen sein als eine ganz vage Hoffnung; denn auf eine Bereitschaft unserer Gegner zu Friedensverhandlungen hat er sicher nicht gerechnet und war durchaus abgeneigt (wie er selbst später bezeugt hat), das Schicksal Deutschlands „willenlos der Hoffnung und der Hand Wilsons anzuvertrauen 31 )". Etwas ganz anderes war die von Bernstorff eröffnete Aussicht, dem Präsidenten die Kriegserklärung Amerikas „schwer zu machen". Wir konnten seinem guten Willen und seinem Ehrgeiz, als Friedensvermittler tätig zu werden, durch dankbare und freudige Annahme seines Angebots entgegenkommen und ihm als besonderem Vertrauensmann unsere Friedensbedingungen (in möglichst gemäßigter Form) mitteilen, ohne uns dadurch in Gefahr zu bringen. Eben in diesem Sinne hat denn auch der Kanzler seine Antwort aufgesetzt und eine vorsichtig formulierte Liste von deutschen Kriegszielen darin aufgenommen. Aber er entwertete diese Mitteilung (in ihrer endgültigen Form) dadurch, daß er erklärte, sie sei „ganz ausschließlich für diese Person des Präsidenten" bestimmt, und es handele sich dabei auch nur um die Friedensbedingungen, unter denen wir bereit gewesen wären, in Friedensverhandlungen einzutreten, falls die Gegner unser Angebot vom 12. Dezember angenommen hätten. Also waren sie (so mußte man folgern) jetzt überholt. Außerdem wurde ausdrücklich betont, die deutsche Regierung betrachte die Antwort der Entente vom 10. Januar keineswegs als Bluff. Ihre damals bekanntgegebenen Kriegsziele entsprächen durchaus den zwischen den Alliierten geschlossenen vertraglichen Abmachungen, und solange sie öffentlich aufrechterhalten blieben, würde eine Veröffentlichung der bescheidenen deutschen Wunschliste als „Zeichen nicht vorhandener Schwäche unvertretbar sein und nur zur Verlängerung des Krieges beitragen". Damit war praktisch dem Präsidenten jede Möglichkeit genommen, auf unsere Gegner im Sinn eines Verständigungsfriedens einzuwirken, und unsere Versicherung, wir nähmen sein Angebot dankbar an, wirkte als bloße Heuchelei. Wie dieses unglückselige Kompromiß zustande gekommen ist,

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läßt sich nicht genau erkennen. Es scheint doch, als hätte der Kanzler zunächst die Absicht gehabt, Wilson eine echte Chance zur Durchführung seiner Friedensaktion zu geben. Denn noch in der Nacht vom 28. auf den 29. ist er in Begleitung Zimmermanns nach Pless gefahren, um dort eine vorläufige Vertagung der U-Boot-Offensive zu erreichen. Er stieß aber dort, wie er berichtet, auf die „kategorische Erklärung des Admiralstabs, daß ein Aufschub unmöglich sei, weil ein großer Teil der ausgesandten U-Boote für neue Befehle nicht mehr erreichbar sei". Das ist sehr wenige einleuchtend: mehr als ein paar neue „Zwischenfälle" war angesichts dieser technischen Schwierigkeiten wohl kaum zu befürchten. Aber vielleicht hat man im Hauptquartier auch Protest erhoben gegen die Kriegszielliste und gegen ihre Bekanntgabe an die Kriegsgegner, so daß sie nur als „schon überholt" zugelassen wurde? Näheres darüber ist nicht bekannt. Jedenfalls hat sich der Kanzler gegen die Militärs, die schon dem großen Ereignis entgegenfieberten, mit seinen Aufschubwünschen nicht durchsetzen können 32 ). Und so wurde schließlich dem Antworttelegramm an Bernstorff noch hinzugefügt: leider wäre es aus technischen Gründen schon zu spät, den unbeschränkten U-Boot-Krieg noch anzuhalten, zu dem uns die Haltung unserer Gegner gezwungen hätte; wir wären aber jederzeit bereit, den „Bedürfnissen Amerikas nach aller Möglichkeit Rechnung zu tragen" und den verschärften U-Boot-Krieg einzustellen, „sobald volle Sicherheit dafür geboten sei, daß die Bemühungen des Präsidenten zu einem für uns annehmbaren Frieden führen würden". Ein noch verfehlteres Kompromiß war kaum möglich. Der unglückliche Botschafter, der dieses Schreiben zusammen mit der Erklärung, der unbeschränkte U-Boot-Krieg würde am 1. Februar beginnen, am Nachmittag des 31. Januar überreichen mußte, geriet dadurch in die denkbar peinlichste Lage. Gewissermaßen in einer Hand die Friedenspalme, in der anderen das Torpedorohr, trat er Lansing gegenüber, der innerlich triumphiert haben muß: Also waren die deutschen Tölpel, wird er gedacht haben, richtig „hineingestolpert". Der Anlaß zur allgemeinen Empörung über die deutschen Heuchler und brutalen Militaristen war nun da, den er brauchte, um Amerikas Kriegseintritt „zur Rettung der Freiheit der Welt" durchzusetzen. Es war so wie im August 1914: die Ungeduld der Militärs und ihre „technischen Schwierigkeiten" hatten der Diplomatie gründlich das Handwerk verpfuscht. Die Ankündigung der neuen Phase des Krieges erfolgte in ebenso unglücklicher Form wie damals die Kriegserklärungen an Rußland und Frankreich.

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Sie wurde aber auch in Deutschland keineswegs mit der allgemeinen Begeisterung aufgenommen, die man nach der jahrelangen U-Boot-Hetze hätte erwarten können. Für die innere Unsicherheit, aber auch den menschlichen Charakter des Führers dieser Hetzkampagne ist es sehr bezeichnend, daß Tirpitz im Februar dem Grafen Westarp aufs tiefste durch die Mitteilung erschütterte, er fürchte, es sei schon zu spät geworden für einen erfolgreichen U-Boot-Krieg — eine Äußerung, die sicher dazu dienen sollte, ihm selbst, dem immer unfehlbaren Propheten, ein Alibi zu verschaffen in dem Falle eines Fehlschlags33). Aber natürlich tat er solche Äußerungen nur im allervertrautesten Kreise; in der Öffentlichkeit zeigte er sich, wie alle Welt, voller Zuversicht. Indessen: was als Fernziel gelockt hatte, weckte bei denen, die ein Stück politischer Verantwortung mitzutragen hatten, doch auch bängliche Gefühle, seit es unmittelbar vor der Tür stand. Sowohl im Bundesrat, dem die neue Kriegsphase am Vormittag des 31. bekanntgegeben wurde, wie im Hauptausschuß des Reichstages, der am Nachmittag zusammentrat und zwei Tage darüber beriet, herrschte nicht freudige, sondern eine recht ernste, z. T. sogar gedrückte Stimmung. Lebhaften Beifall fand die deutsche Kampfansage auf der Rechten, viel Besorgnis und Kritik auf der Linken, wo der süddeutsche Demokrat von Payer etwa dieselben Bedenken vorbrachte wie früher sein Landsmann von Weizsäcker im Bundesratsausschuß. Noch schärfer äußerten die Sozialdemokraten Ledebour, David und Hoch ihre Zweifel an den Berechnungen des Admiralstabs; es fehlte auch nicht an Beschwerden darüber, daß der Reichstag abermals vor vollendete Tatsachen gestellt wurde. Die Staatssekretäre Zimmermann und Capelle überboten sich in optimistischen Äußerungen über die Chancen des U-Boot-Krieges34), und auch Helrferich wandte zum allgemeinen Erstaunen seine früheren statistischen Berechnungen über die englische Wirtschaftslage jetzt in ihr Gegenteil um: zugunsten statt zur Bekämpfung der großen Tauchbootoffensive. Nachdem der Beschluß einmal gefaßt war, hielt er sich für verpflichtet, nun seine ökonomische Sachkenntnis zur Ermutigung des deutschen Volkes einzusetzen35). Capelle verstieg sich auch diesmal wieder zu der Behauptung, die militärische Bedeutung einer Beteiligung Amerikas am Kriege sei „gleich null"! Man würde amerikanische Truppen wegen Mangel an Schiffsraum gar nicht über den Ozean bringen können! Selbst Bethmann Hollweg, der es nicht leicht hatte, seinen erzwungenen „Umfall" mit Würde zu rechtfertigen, ließ sich zu einer etwas krampfhaft übersteigerten Schlußwendung hinreißen: „Wir müssen, darum können wir auch!" Er wiederholte seine schon früher

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ausgesprochene Weigerung, „Desperado-Politik" zu treiben. In Wirklichkeit war das, was er „Notwendigkeit" nannte, ein echter Verzweiflungsschritt. D a er die Verhandlung in seinen Besprechungen mit den Parteiführern sehr geschickt vorbereitet hatte, erklärten schließlich alle Parteien sich bereit, zum mindesten das Geschehene (unsere Note wurde während der Sitzung Botschafter Gerard überreicht!) ohne Widerstand hinzunehmen. Auch die nach Washington übersandten Friedensbedingungen wurden einem engen Kreis von Abgeordneten und den stimmführenden Mitgliedern des Bundesrats vertraulich mitgeteilt. Es war die erste, offizielle Kriegszielliste, die der Reichstag kennenlernte, und so wurde denn auch eifrig darüber diskutiert. Natürlich bemängelte man auf der Rechten, daß zuwenig, und auf der Linken, daß zuviel gefordert wäre. Aber diese Kriegszielliste war, nach mehreren Vorentwürfen, mit viel Kunst und Vorsicht so formuliert worden, daß sie weder in Amerika noch in Deutschland ernsten Anstoß erregen sollte. Die allgemeine Grundlage bildeten (unvermeidlicherweise) die Anfang November mit der O H L getroffenen Vereinbarungen, während von Deutschlands Verbündeten nur gesagt wurde, ihre Friedensbedingungen „bewegten sich in mäßigen Grenzen". Von Annexionswünschen, Grenzberichtigungen, finanziellen Kompensationen, Kolonialfragen und der Z u k u n f t Belgiens war nur in so allgemeinen und unbestimmten Wendungen die Rede, daß die Regierung dadurch praktisch fast völlig freie H a n d behielt: sowohl zu einem Eroberungs- wie zu einem Verzichtfrieden 36 ). Natürlich war die Forderung nach „Freiheit der Meere" und der Verzicht auf Handelsbeschränkungen nach Friedensschluß ebensowenig vergessen wie die deutsche Bereitschaft zur Teilnahme an Wilsons Lieblingsplan: der internationalen Konferenz für die Begründung allgemeiner Weltsicherheit, und zwar „auf der Basis der Senatsbotschaft des Präsidenten". Schließlich wurde den Einwänden der Annexionisten dadurch vorgebeugt, daß (wie schon erörtert) das ganze Friedensprogramm sich selbst als Planung vom 12. Dezember vorstellte und damit den Charakter als bindende Verpflichtung verlor. Natürlich weckte das bei den Sozialdemokraten den Verdacht, daß Bethmann trotz früherer Dementis annexionistische Ziele verfolge. Aber es stellte sich im Laufe der Debatte heraus, daß wenigstens der rechte Flügel dieser Partei (David und Südekum) bereit war, einen Unterschied anzuerkennen zwischen „Grenzberichtigungen" und „Annexionen"; sogar mit einem „Herzogtum Kurland" wollte D a v i d sich abfinden 37 ). Nach alledem war es also Bethmann Hollweg glücklich gelungen, ohne

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Verlust seines Anhangs auf der Linken über die parlamentarische Klippe hinwegzukommen. Aber wie lange würde er sich deren Vertrauen noch erhalten können, nachdem einmal das Ubergewicht der Militärs im Staate so deutlich sichtbar geworden war? Es spricht f ü r die Echtheit der pazifistischen Gesinnung Wilsons, daß er nach der Ubergabe der deutschen Note noch volle zwei Monate gebraucht hat, bis er sich zum Entschluß der Kriegserklärung an Deutschland durchgerungen hatte. Der plötzliche Zusammenbruch aller seiner Friedenshoffnungen traf ihn als schwerer Schlag. Ihm wäre zumute, sagte er seinem Freund House, als ob die Welt sich plötzlich umgedreht hätte: statt von Ost nach West, jetzt anfinge von West nach Ost zu laufen und alles ins Taumeln brächte 38 ). Daran, daß die einzig würdige Antwort auf die deutsche Herausforderung — die er wirklich als „Schlag ins Gesicht" empfand — der sofortige Abbruch der diplomatischen Beziehungen sein müßte, war er sich mit House und Lansing einig. Der Präsident hatte sich ja auch schon in der Sussex-Note darauf festgelegt. Bernstorff erhielt seine Pässe am 3. Februar, und Gerard wurde gleichzeitig von Berlin abberufen. Aber mit puritanischem Eigensinn und Idealismus klammerte sich Wilson noch viele Wochen lang an die H o f f n u n g , daß es möglich sein müßte, trotz des diplomatischen Bruchs um den Krieg herumzukommen. Schon vier Tage, nachdem Bernstorff seine Pässe bekommen hatte, saß er wieder über einem neuen Projekt zur Organisation eines Dauerfriedens, das er Lansing zur Kritik vorlegte und das dieser mehr oder weniger utopisch fand 3 9 ). Die Aufkündigung der diplomatischen Beziehungen, hoffte er, würde die Deutschen noch im letzten Augenblick „zur Besinnung bringen". Sie sind verrückt geworden, meinte er, man muß ihnen Zügel anlegen! Als der diplomatische Bruch diese Wirkung nicht hatte (und auch nicht seine Kongreßbotschaft mit der Kriegsdrohung für den Fall, daß amerikanische Schiffe und Menschenleben zu Schaden kämen), versuchte er den diplomatischen Druck zu verstärken, indem er alle Neutralen einlud, auch ihrerseits die Beziehungen zu Deutschland abzubrechen. Aber niemand außer China folgte dieser Aufforderung. Nicht ganz ohne Erfolg blieb jedoch sein Bemühen, einen diplomatischen Keil in das deutsch-österreichische Bündnisverhältnis zu treiben und die Wiener Politik zu einem Druck auf Deutschland zu veranlassen. Graf Czernin hatte gleichzeitig mit Zimmermanns Note die österreichische Erklärung des unbeschränkten U-Boot-Krieges nach Washington abgehen lassen. Wilson

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vermied aber ihre Veröffentlichung und den diplomatischen Brudi mit der Wiener Regierung. Der (noch nicht förmlich im Weißen Haus eingeführte) neue österreichische Botschafter Tarnowski konnte am 5. Februar seinem Minister melden, Lansing habe ihm den Wunsch Wilsons mitgeteilt, die Beziehungen zu Österreich nicht abzubrechen, rechne aber mit einer gewissen Milderung der österreichischen U-Boot-Note (es handelte sich offenbar darum, daß Versenkungen nicht ohne vorhergehende Warnung erfolgen sollten). Eiligst antwortete Czernin mit „herzlichstem D a n k " und beschwor den Präsidenten, er möge die Ententemächte dahin bringen, daß sie „gleich uns" das Programm seiner Senatsbotschaft eines „Friedens ohne Sieg" annähmen, also ihr bisheriges Friedensprogramm aufgäben, das die Aufteilung der Donaumonarchie androhe und das deshalb Österreich nie unterschreiben könne. Der U-Boot-Krieg lasse sich aus technischen Gründen (also nicht aus politischen!) nicht mehr abändern, aber wenn Wilson den Frieden zustande brächte, fiele ja die U-Boot-Offensive von selber hin. Diese Note wurde erst nachträglich auch in Berlin mitgeteilt, wobei sich Czernin darauf berief, wir hätten ja auch die Einstellung des U-Boot-Krieges zugesagt, wenn Wilson eine Friedenskonferenz garantiere. Das war nun freilich eine Umfärbung des Sachverhalts, da die deutsche Note zuerst „volle Sicherheit für einen annehmbaren Frieden" gefordert hatte; es ließ sich aber erkennen, daß die Österreicher ihrerseits sich auch mit weniger zufrieden geben würden. Czernin stellte überdies in Berlin vor, daß der österreichische Botschafter, wenn er in Washington bliebe, beiden Zentralmächten nützlich werden könnte als Vermittler zur Fortsetzung der Wilsonschen Friedenspolitik. Das war — in sehr vorsichtiger Form — genau die diplomatische Einwirkung, die sich der Präsident von Wien auf Berlin erhofft hatte. Man wurde dort sofort mißtrauisch. Zimmermann erklärte die Note Czernins für eine Mißdeutung unserer Bereitschaft und fügte hinzu, wir hätten uns auch niemals zu einem Frieden ohne Sieger und Besiegte bekannt. „Selbst unsere mäßigen Forderungen werden wir nur als Sieger durchsetzen können." Österreichs allzu freundliche Haltung in Washington würde nur dazu führen, zwischen den beiden Bundesgenossen einen Unterschied zu machen. „Wilsons Ziel ist ersichtlich, uns militärisch zu behindern. Als Vermittler würde er sein ganzes Gewicht gegen uns einsetzen." Czernin erwiderte darauf (mit gutem Grund), daß er durch sein Entgegenkommen, das uns ja praktisch nichts koste, den Gegensatz zwischen Wilson und den Ententemächten zu vertiefen und Amerika in der Neutralität zu erhalten suche40).

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Die deutsche Antwort lautete sehr schneidig: f ü r uns sei die Vermittlerrolle Wilsons ausgespielt. Die Geschmeidigkeit des österreichischen Ministers erwies sich aber als erfolgreicher. Sein Antwortschreiben vom 5. Februar hatte Wilson veranlaßt, sofort durch seinen Botschafter Page bei Lloyd George vertraulich anfragen zu lassen, ob es nicht möglich wäre, die in der Ententenote vom 10. Januar enthaltene Drohung mit der Zerstückelung Österreich-Ungarns zurückzunehmen, wenigstens für die „älteren Einheiten des Reiches". Nach seiner Meinung hätten diese (er dachte wohl vor allem an Böhmen und Ungarn) doch schon genügend Autonomie, um die Erhaltung eines stabilen Friedens in diesem Teil Europas zu garantieren. Auch sollte Österreich ein freier Zugang zur See (gemeint war offenbar: Triest) durch die künftige Weltorganisation garantiert werden. Man könne es zufriedenstellen, ohne den berechtigten Interessen der Balkanstaaten zu nahe zu treten. Er wisse, daß beide „teutonischen Mächte" dringend Frieden wünschten, am dringendsten aber die Österreicher (über deren jammervolle Ernährungslage und wachsende Mutlosigkeit er durch seinen Botschafter genau informiert war). Man müsse verstehen, daß sie angesichts der Drohung der radikalen Zerstückelung ihres Reiches glaubten, um ihre Existenz zu kämpfen. Nähme man ihnen diese Sorge, so werde sich „in sehr kurzer Zeit" der Friede erreichen lassen, und zwar ein solcher, der den Grundsätzen Amerikas entspräche und f ü r die seine Regierung niemals aufhören würde, sich energisch einzusetzen — auch dann nicht, wenn sie selbst in den Krieg verwikkelt würde 4 1 ). Diese Anfrage muß Lloyd George in nicht geringe Verlegenheit gesetzt haben. Es w a r das erste Mal, daß der Präsident so eindeutig und tief in die Regelung europäischer Territorialfragen eingriff — und gerade an dem empfindlichsten Punkt. In England bestand (wie wir früher hörten) an sich keine Neigung zur Zerstörung der Habsburger Monarchie; aber um so stärker waren die Begehrlichkeiten seiner Verbündeten: der Rumänen, Serben und Italiener. K a m das österreichische Problem zur Sprache, so mußte auch die enge Bindung der Briten an die Allianzverträge seit dem September 1914 ans Licht kommen — was auf Wilson nur abschreckend wirken konnte 42 ). Der britische Premier hat deshalb mit höchster Vorsicht geantwortet: er kenne Österreichs N ö t e ebenso genau wie die dringenden Friedenswünsche Kaiser Karls und dessen Besorgnis, nach einem deutschen Sieg zum bloßen Vasallen Deutschlands herabzusinken. Es bestünde auch in England nicht die geringste Animosität gegen Österreich-Ungarn, das „ja niemals den Krieg

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gewünscht hätte" (!). Man habe auch nichts dagegen, daß der Kaiser Ungarn und Böhmen behielte, müsse aber wegen der slawisch, rumänisch und italienisch besiedelten Territorien Rücksicht auf die Alliierten nehmen. Vor allem wäre der Augenblick ungünstig f ü r einen Sonderfrieden mit Österreich-Ungarn: die Alliierten könnten Italien noch nicht als Bundesgenossen entbehren; „die Blockade dürfe nicht auf der österreichischen Seite durchbrochen werden", und da Österreich f ü r Deutschland jetzt nur eine schwere Last bedeute, dürfe man sie ihm jetzt nicht von den Schultern nehmen. Aber der Präsident möge doch unterderhand zu erfahren suchen, welche konkreten Zugeständnisse die Wiener Politik jetzt zu bieten bereit wäre; auf die könnte man dann zu gegebener Zeit zurückkommen. Im übrigen beeiferte sich Lloyd George, in geradezu überschwenglichen Worten zu beteuern, wie unschätzbar die Hilfe Amerikas, der einzigen wirklich selbstlosen, von idealistischen Motiven getriebenen Großmacht und seines hochherzigen Präsidenten bei der künftigen Neuordnung der Welt sein werde (Bericht Pages vom 11. Februar). Dieses Lob konnte freilich Wilsons Enttäuschung darüber nicht vermindern, daß seine H o f f n u n g , das von Deutschland durchkreuzte Friedenswerk könnte auf dem Umweg über Österreich-Ungarn doch noch zustande kommen, gescheitert war. Indessen meldete Page schon am 20., der englische Ministerpräsident habe sich inzwischen, anscheinend auf Drängen von Heer und Marine, eines anderen besonnen: er sei jetzt doch gern bereit, einen formellen Friedensverhandlungsvorschlag Österreich-Ungarns entgegenzunehmen, aber nur in allerstrengster Geheimhaltung vor den Deutschen. Schon zwei Tage später erhielt der amerikanische Gesandte Penfield in Wien den Auftrag, vertraulich mit Czernin darüber zu sprechen und diesem mitzuteilen, er sei von höchster Stelle darüber informiert, daß die alliierten Regierungen nicht die Absicht hätten, Ungarn und Böhmen vom Habsburger Staat abzutrennen, falls nicht die Fortsetzung des Krieges die Bedingungen ändern sollte. Eine endgültige Zusicherung wäre unzweifelhaft zu erreichen, falls die Wiener Regierung einen raschen Frieden wünsche und amerikanische Vermittlung dazu in Anspruch nehmen wolle; doch müsse allerstrengste Geheimhaltung garantiert werden. Czernin nahm das mit eifrigen Beteuerungen seiner grundsätzlichen Friedensbereitschaft und seiner Uberzeugung auf, daß der Friede schließlich doch durch Präsident Wilson zustande kommen müßte und daß die Ententeregierungen gewiß schon in Washington dafür arbeiteten 43 ). Aber das Memorandum, das er am 27. Februar überreichte,

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stellte doch fest: die Monarchie könne in keine Friedensverhandlungen eintreten ohne Einverständnis mit ihren Verbündeten; auch müsse ihre Integrität garantiert werden und die anti-österreichische Propaganda bei ihren Nachbarn (besonders Serbien) unterbunden werden. D a Penfield nicht den Eindruck hatte, dies sei Czernins letztes Wort, bekam er am 3. März Weisung, ihm vorzustellen, er möge bedenken, daß Österreich nicht ein zweites Mal auf ein so vorteilhaftes Angebot rechnen dürfe und Amerikas Mittlerrolle „durch Fortschreiten des Krieges" sehr bald zu Ende gehen würde. Czernins Versicherungen seiner Dankbarkeit für so viel guten Willen verdoppelten sich daraufhin, und er hatte nicht weniger als vier Aussprachen mit dem Amerikaner. Er gab sogar (am 13. März) die schriftliche Versicherung ab, daß er an keinen Endsieg einer der kämpfenden Gruppen glaube und darum sobald wie möglich das Gemetzel durch einen für alle Seiten ehrenvollen Frieden beendet sehen möchte. Er sei gerne bereit zu einem Friedensgespräch und schlüge vor, zu diesem Zweck einen Vertreter der Entente in ein neutrales Land zu schicken, wo er sich mit einem Vertrauensmann der Wiener Regierung treffen sollte. Aber es dürfe dort nur von einem allgemeinen Frieden, nicht von einem Separatfrieden für Österreich-Ungarn die Rede sein 44 ). Diese Bereitschaftserklärung wurde in Washington mit tiefer Befriedigung aufgenommen. Lansing riet dringend darauf einzugehen und nahm die Ablehnung eines Sonderfriedens durch Czernin durchaus nicht ernst: selbstverständlich müsse er sich den Anschein vollkommener Loyalität gegenüber Deutschland geben, schon deshalb, um nicht die Rache dieses mächtigen Bundesgenossen auf sich zu ziehen, falls das Geheimnis nicht gewahrt bliebe. Aber er müsse ja doch genau wissen, daß keiner der Alliierten daran dächte, über einen allgemeinen Frieden mit Österreich zu verhandeln, das ja gar nicht in der Lage wäre, ihn bei seinen Verbündeten durchzusetzen. Wenn er trotzdem geheime Verhandlungen anböte, so verfolge er bestimmt damit einen anderen Zweck. „Ein Sonderfriede mag abgelehnt werden, aber er kann gleichwohl diskutiert werden." Lansing schlug also vor, Czernin zu fragen, ob er etwas dagegen hätte, daß der Präsident an die alliierten Regierungen den Vorschlag eines geheimen Treffens weitergäbe, und zwar in der Form, als ginge er von Washington aus 45 ). Es scheint nicht, als ob Wilson diesem Rat gefolgt wäre. Jedenfalls erhielt Czernin keine Antwort mehr 46 ). Aber Mitte März waren tief geheime Verhandlungen des österreichischen Kaisers mit Agenten der Westmächte über

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einen Sonderfrieden bereits in vollem Gang; u n d zwar mit Wissen (wenn auch sehr unvollständigem Wissen) Czernins. Wir werden davon noch hören (s. Kap. 10 Absdin. I). Um sich das Wohlwollen Amerikas zu erhalten, hat Czernin auch in der U-Boot-Frage einen Mittelweg gesucht. Am 2. März übergab er Penfield ein sehr wortreiches Memorandum, in dem er die Ankündigung des unbeschränkten U-Boot-Krieges durch Österreich-Ungarn zu verharmlosen suchte: kein Schiff werde ohne Warnung versenkt, nur sei jetzt die Warnung in genereller Form als allgemeine Warnung vor dem Seekriegsgebiet erfolgt (!); überdies beschränke sich der U-Boot-Krieg der Österreicher auf Adria und Mittelmeer, bedeute also keine Bedrohung amerikanischer Interessen. Diese Denkschrift f a n d in Washington zwar keine Zustimmung, aber eine unerwartet wohlwollende Aufnahme. Czernin, sehr erfreut darüber, fügte später (am 22.) noch die vertrauliche Versicherung hinzu, Österreich-Ungarn gebe sich wenig Mühe mit der U-Boot-Kriegführung und würde niemals amerikanische Schiffe belästigen 47 ). Die Kriegsgefahr hielt er jetzt f ü r überwunden und empfahl der deutschen Regierung am 14. März, zwei bewaffnete amerikanische Schiffe, die gerade nach England unterwegs wären, „zufällig zu übersehen", also nicht zu torpedieren. Dies würde Wilson „der öffentlichen Meinung Amerikas gegenüber genügen; es würden daraufhin gewiß keine weiteren Schiffe fahren" (!). Er stellte dies als „spontane", aber „auftragsgemäße" Anregung des Botschafters Penfield hin; es war aber offensichtlich seinem eigenen Kopf entsprungen 48 ). Natürlich wurde das im deutschen Hauptquartier sofort abgelehnt. Holtzendorff nannte es ein „leichtfertiges, frevelhaftes Spiel mit den Geschicken der Völker", wenn Wilson die Frage vom Krieg und Frieden davon abhängig mache, ob wir bei der Passage einzelner amerikanischer Schiffe ein Auge zudrückten. Und Wilhelm II. verfügte sehr forsch: „Es ist jetzt ein f ü r allemal Schluß mit den Verhandlungen mit Amerika! Will Wilson Krieg, soll er ihn herbeiführen und dann haben!" An Verhandeln mit Deutschland hat damals Mitte März in Amerika auch niemand mehr gedacht. Wohl war Anfang Februar versucht worden, durch Vermittlung der schweizerischen Botschaft in Washington, die unsere Interessen dort vertrat, Besprechungen darüber zustande zu bringen, was sich tun ließe, um Zwischenfälle mit amerikanischen Passagierdampfern tunlichst zu vermeiden; aber das war nicht gelungen, weil Staatssekretär Zimmermann, Holtzendorff und vor allem der Kaiser davon nichts wissen wollten, ehe nicht die diplomatischen Beziehungen wiederhergestellt wären 49 ). Es war

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auch zunächst nicht nötig gewesen, da bis Mitte M ä r z keine amerikanischen Schiffe versenkt wurden — teils aus Zufall, teils infolge der Schonfrist für neutrale D a m p f e r , teils deshalb, weil die amerikanischen Reeder zunächst nicht mehr wagten, ihre Schiffe ausfahren zu lassen. Aber gerade dies war f ü r die amerikanische Regierung beunruhigend: nicht nur deshalb, weil damit ein wirtschaftlicher Schaden entstand, sondern mehr noch, weil ihr politisches Prestige darunter litt. Man warf ihr in England vor, sie beuge sich der deutschen Blockade widerstandslos und lasse die Alliierten in ihrer Furchtsamkeit ohne die nötige Zufuhr. Uberhaupt erweckte die Passivität des Präsidenten im Ausland (so auch in Deutschland) den Eindruck ratloser Schwäche. Uberall hieß es, er sei deprimiert, nervös und wisse nicht, wie er sich aus der fatalen Lage herauswinden sollte, in die er sich selbst gebracht habe. Lansing beobachtete mit Sorge, wie die allgemeine Empörung über Deutschlands Herausforderung allmählich verebbte und friedfertige Strömungen sich breitmachten. Die Berater des Präsidenten drängten ihn energisch, die amerikanischen Schiffe zu bewaffnen. Lange wehrte er sich, sogar mit Ausbrüchen von Zorn. Endlich am 26. Februar gab er doch nach und forderte vom Kongreß die Vollmacht, amerikanische Handelsschiffe zu bew a f f n e n . D a s Repräsentantenhaus stimmte zu, aber im Senat verhinderte eine Pazifistengruppe die Beschlußfassung. Nach längeren Erwägungen entschloß sich der Präsident schließlich, ohne Vollmacht des Senats zu handeln, und ließ Lansing am 12. M ä r z die Bewaffnung der Handelsschiffe ankündigen. Dieser Entschluß wurde ihm wesentlich dadurch erleichtert, daß am 24. Februar der amerikanischen Regierung aus England ein Propagandastück allerersten Ranges übermittelt worden war: das bekannte Telegramm Zimmermanns an den deutschen Gesandten in Mexiko vom 19. Februar, das diesen beauftragte, im Falle einer Kriegserklärung Amerikas an Deutschland der mexikanischen Regierung ein Kriegsbündnis gegen die Vereinigten Staaten anzubieten, das ihr (ein höchst phantastischer Vorschlag!) die Rückgewinnung von Texas, N e w Mexico und Arizona in Aussicht stellen sollte. D a s kunstvoll verzifferte Telegramm war in die H ä n d e des englischen Geheimdienstes gefallen; seine Entzifferung war mit H i l f e eines Code-Schlüssels gelungen, den das Foreign Office schon seit langem besaß. Seine Veröffentlichung am 1. M ä r z erweckte natürlich einen Sturm der Entrüstung, der um so größer war, als das Auswärtige Amt die Weisung nach Mexiko über Bernstorff geschickt und dabei die telegraphischen Einrichtungen der amerikanischen Regierung benutzt hatte, die diesem für Verhandlungen

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über Friedensvermittlung großzügigerweise zur Verfügung gestellt waren 5 0 ). So war man nahe an den Krieg herangerückt, aber Wilson war fest entschlossen, sich von keinen Leidenschaften und Gefühlen, sondern allein von dem bestimmen zu lassen, was er als heilige Pflicht empfand. Er schloß sich deshalb vom 7. bis 19. März völlig in die Einsamkeit seines Studierzimmers ein 51 ), wollte von aufgeregten Ratschlägen nichts hören und ließ niemanden in seiner Umgebung auch nur ahnen, was er beschließen würde. Unterdessen nahmen die Schiffsversenkungen immer größeren Umfang an und zogen auch immer mehr amerikanische Menschenleben in die Tiefe. Es gab schließlich nur noch eine Alternative: Verzicht auf den Handel mit Europa, d. h. Unterwerfung unter Deutschlands Willen — oder Krieg. Denn „bewaffnete Neutralität" ließ sich gegen U-Boot-Angriffe, wie Wilson einer Senatorengruppe einleuchtend auseinandersetzte 52 ), nicht durchführen, ohne aggressiv zu werden. In diesen Wochen ist die weltgeschichtlich so unendlich folgenreiche Entscheidung getroffen worden, Amerika aus seiner historischen Isolation heraustreten zu lassen und damit seine Politik endgültig in die verworrenen Händel der Alten Welt zu verstricken. Sie ist Wilson ungeheuer schwergefallen; denn er lebte ganz in der geschichtlichen Tradition seines Volkes, und man hat wahrscheinlich mit Recht gesagt, daß selbst der Völkerbund für ihn und viele seiner Landsleute eine Art von Traumbild war, das ihnen den totalen Umbruch erleichterte: sollte er doch verhindern, daß Amerika nun in eine Kette blutiger Machtkämpfe verstrickt würde, die es in seiner glücklichen Isolation bisher nicht hatte mitkämpfen müssen. Aber der Kriegseintritt bedeutete f ü r Wilson zugleich, wie es schien, die Preisgabe seines bisherigen Ideals: die Welt als Friedensvermittler, Prophet und Begründer einer neuen, besseren Staatsordnung in eine schönere Z u k u n f t zu führen. Aber es schien nur so: in Wirklichkeit w a r es kein Verzicht. Die entscheidende Überlegung Wilsons in diesen Wochen scheint gewesen zu sein, daß er als Neutraler, der abseits stand und die anderen sich für die „Rettung der Freiheit" abkämpfen ließ, ohne sich zu rühren, wenn auch in „bewaffneter Neutralität", das Prestige Amerikas preisgeben würde. Niemand von den Kämpfenden würde seine Stimme mehr ernst nehmen, wenn es erst einmal zum Abschluß des blutigen Ringens und zu Friedensverhandlungen käme. Er würde als weltfremder Träumer dastehen mit seinen Völkerbunds- und Abrüstungsideen. Amerika aber bliebe dann — weltpolitisch gesehen — Provinz.

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Dies ist, wie alle seine Kongreßreden und brieflichen Äußerungen erkennen lassen, zuletzt für ihn das Entscheidende gewesen: der politische Geltungsdrang, das Bedürfnis der Großmacht, ihre Reputation als solche zu behaupten — also genau dasselbe Bestreben, das wir im J u l i 1914 die europäischen Großmächte, eine nach der andern, in den Krieg hineintreiben sahen und das in aller großen Politik noch immer den letzten Ausschlag gibt. Wirtschaftliche Überlegungen, wie man sie ihm in Deutschland so viel nachgesagt hat, wie etwa die Sorge um das in die Kriegsunternehmungen der Westmächte investierte amerikanische Geld, haben in Wilsons Überlegungen überhaupt keine Rolle gespielt. Nirgends ist davon in seinem Beraterkreise auch nur mit einem Wort gesprochen worden. Es wäre auch töricht gewesen; denn Amerikas Wirtschaft wäre bei fortgesetzter Neutralität viel besser gediehen. Der Krieg ist (wie immer) ein ungeheuer kostspieliges und unwirtschaftliches Unternehmen gewesen, und wer in die Vorgänge der ersten Kriegsmonate in Amerika tiefer hineinblickt, mit den unabsehbaren Nöten der Finanzierung aller Alliierten zugleich, der ebenso totalen wie plötzlichen Umstellung amerikanischer Wirtschaft und Lebensform ohne jeden geschulten und erfahrenen Beamtenapparat, fast ohne alle Kriegserfahrung, der sieht, daß Wilsons Entschluß seine Staatsverwaltung zeitweise in ein völliges Chaos zu verwandeln drohte 53 ). Wilson hat auch nicht etwa den Krieg aus der Furcht heraus begonnen, die Entente könnte von Deutschland besiegt werden, wenn Amerika ihr nicht zu Hilfe käme. Natürlich spielte die Sorge darum irgendwie mit. Aber sie war weder bei ihm noch bei den alliierten Staatsmännern damals so groß wie bei Lansing, und er selbst rechnete ebenso wie dieser nur mit wenigen amerikanischen Freiwilligenkorps (bis zu höchstens 500 000 Mann), nicht mit dem Aufgebot eines Zweimillionenheeres, wie es dann 1918 auf die europäischen Schlachtfelder gezogen ist. Weder im Weißen Haus noch in London oder Paris war man geneigt, die militärische Leistungsfähigkeit des Landes sehr hoch einzuschätzen, und weder hier noch dort ganz sicher, ob amerikanische Truppen noch vor Kriegsende zum Schlagen kommen würden. Vollends die uns bekannten phantastischen Befürchtungen Lansings von dem Ausgreifen deutschen Macht- und Expansionsstrebens bis nach dem amerikanischen Kontinent hat der Präsident nicht geteilt; er hat sie gelegentlich ausdrücklich abgewiesen. Und schließlich wäre es auch falsch, zu behaupten, daß allein der unbeschränkte U-Boot-Krieg Amerika in den Krieg hineingezogen hätte. Das ist nur insofern richtig, als er mit seiner rücksichtslosen Vernichtung

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amerikanischer Schiffe und Menschenleben dem Präsidenten so deutlich vor Augen f ü h r t e wie nichts anderes, daß Amerikas Prestige, seine nationale Ehre auf dem Spiele stand; auch insofern, als es ohne seinen Losbruch sehr schwer, wenn nicht unmöglich gewesen wäre, das amerikanische Volk f ü r den Kriegseintritt zu gewinnen und seine neutralistischen, isolationistischen und pazifistischen Stimmungen zu überwinden. Lansing hat kurz nach der Kriegserklärung in sein Tagebuch geschrieben: „Wir hätten auch dann den Alliierten zu Hilfe kommen müssen, wenn Deutschland nicht so schwer unsere Rechte verletzt hätte, sonst könnte der Kaiser H e r r von Europa und dieses Land das nächste O p f e r seiner Gier werden 5 4 )." Das war durchaus nicht Wilsons Meinung. Z w a r hat er 1919 im Kreuzverhör durch eine Senatskommission gesagt, er „glaube" oder „hoffe" doch, daß Amerika auch ohne die deutschen U-Boot-Angriffe zur Verteidigung in den Krieg gezogen wäre. Aber das war eine unsichere, in der Bedrängnis durch seine politischen Gegner (Senator McCumber) und aus späterem Rückblick gegebene Antwort, mit der nicht viel anzufangen ist 55 ). Als er sie aussprach, war ihm der Krieg schon längst zu einem reinen Kreuzzug für das Recht und die Freiheit geworden, wie ihn Lansing immer gesehen und ihm gepredigt hatte. Diese Kriegsziele hat Wilson zuerst in seiner Kongreßrede vom 26. Februar entwickelt. Am 2. April hat er sie wiederholt, als er dem Kongreß (nach einem Kabinettsbeschluß vom 20. März, in dem die letzten Bedenken überwunden wurden) die Kriegserklärung vorlegte. Diese Kongreßbotschaft ist als eine seiner berühmtesten oratorischen Leistungen bekannt. Von einem „Frieden ohne Sieg" ist darin keine Rede mehr, sondern n u r noch von der Niederwerfung Deutschlands, das als Feind der Menschheit und Verächter aller Menschlichkeit erscheint. Der Krieg soll dem Frieden dienen, indem er es möglich macht, einen Dauerfrieden überhaupt erst zu begründen. Ein Krieg also, um dem Krieg für immer ein Ende zu machen! E r soll die Völker frei machen, auch die Deutschen, von tyrannischer Gewalt und Unrecht. „Die Welt muß sicher gemacht werden f ü r Demokratie." Das waren echt Wilsonsche Gedankengänge; aber sie waren auch sehr amerikanisch, und so weckte der Redner mit ihnen die stürmische Begeisterung seiner Landsleute. Aber standen sie nicht in krassem Widerspruch zum Gedanken des Ausgleichsfriedens, des Friedens der Vernunft anstelle der blutigen Gewalt und des Strafgerichts, den derselbe Wilson am 22. Januar in seiner Senatsbotschaft proklamiert hatte? W a r er so sicher, daß seine neuen „Assoziierten"

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Achtes Kapitel V

(so nannte er sie in bewußter Distanzierung, um nicht zu streng an die „Allianz" gebunden zu sein) von denselben erhabenen Idealen bestimmt wurden, wie er sie predigte 56 )? Man liest nicht ohne Erschütterung, was der ihm nahestehende Journalist Cobb von der N e w York-World von einem Besuch berichtet, den er ihm nicht lange vor seiner berühmten Kongreßrede gemacht hat 57 ). Er fand den Präsidenten so tief niedergedrückt, wie er ihn noch nie gesehen hatte. Die Kriegserklärung, sagte er, würde nun bedeuten, daß Deutschland geschlagen würde, und so schwer geschlagen, daß es einen Diktatfrieden geben würde, einen Frieden der Sieger. Das wäre es, was die Alliierten sich wünschten, und ihnen würde nun der Weg offenstehen zu dem Ziel, das Amerika gerade zu blockieren gehofft und gegen das es gekämpft hätte. In diesem Augenblick war Wilson wirklich ein hellsehender Prophet.

9. K a p i t e l

MILITARISIERUNG DER WIRTSCHAFT Erster

Das Hilfsdienstgesetz

Abschnitt

vom Dezember

1916

Wenn Bethmann Hollweg geglaubt haben sollte, mit dem Beschluß zur Eröffnung des unbeschränkten U-Boot-Krieges vom 9. Januar wären die Spannungen zwischen ihm und der Obersten Heeresleitung ausgeräumt, so hätte er sich gründlich getäuscht. Gleich am nächsten Tag erschien Hindenburg beim Kaiser zu einer Privataudienz und forderte rundheraus die Verabschiedung des Kanzlers: „Er habe einen solchen Mangel an Entschlußfähigkeit gezeigt, daß er (Hindenburg) nicht mehr mit ihm arbeiten könne." Nach der Meinung des Feldmarschalls hing also die Eignung zum Kanzlerposten weniger vom Vertrauen des Kaisers als von dem der O H L ab. Wilhelm I I . , mehr bestürzt als empört, beauftragte Valentini, mit den Generälen zu sprechen. Das geschah zunächst unter vier Augen mit Hindenburg persönlich, der sich ziemlich rasch davon überzeugen ließ, daß ein Kanzlerwechsel in diesem Augenblick, unmittelbar vor der Eröffnung der neuen Phase des U-Boot-Krieges, sehr unglücklich im In- und Ausland wirken würde und daß die fortdauernden Angriffe der extremen Nationalisten auf den Kanzler bloße Verleumdung wären. Aber er wollte sich doch ohne Ludendorffs Zustimmung auch diesmal nicht selbständig entscheiden, und alle Bemühungen Valentinis, auch den Generalquartiermeister zu überzeugen, stießen auf eisernen Widerstand. Die O H L wolle in diesem Augenblick, wurde ihm gesagt, nicht auf dem Kanzlerwechsel bestehen, aber auf die Dauer glaube sie weder mit Bethmann noch mit Zimmermann noch mit Helfferich arbeiten zu können. Eine ganze Sturmflut von Warnungen, Mahnungen, Beschwörungen konservativer und alldeutscher Politiker, die alle Bethmanns Entlassung forderten, wurden dem Chef des Zivilkabinetts in den nächsten Wochen durch die O H L zugeleitet. Als dieser eines Tages dem Kaiser davon Meldung machte, mit dem (wohl berechneten) Zusatz, Hindenburg habe Tirpitz als neuen Kanzler vorgeschlagen, machte Wilhelm I I .

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Neuntes Kapitel 1

den Generälen eine Szene. Aber Valentini zog damit sich selbst deren erklärte Feindschaft auf den Hals 1 ). Die offene Aggression auf den Kanzler hatte Ludendorff dem General von Stein schon Anfang November angekündigt: „Bethmann bringt nie einen Frieden fertig. Er muß fort 2 )." Er besaß zu ihrer Durchführung sozusagen eine eigene Dienststelle. Oberstleutnant Bauer, seit September Chef der Operationsabteilung II (schwere Artillerie, Munition, Kriegswirtschaft, Ausbildung), machte sein Büro zu einer Sammelstelle von politischen Zuschriften, Zeitungsausschnitten und mündlichen Zuträgereien, die alle zur Unterwühlung der Autorität des Kanzlers dienten und die nach Bedarf Ludendorff zur Verfügung standen. Bauer rühmt sich selbst (in seinen Memoiren), für seinen Chef damals (wohl im Januar) eine Denkschrift verfertigt zu haben, die alle „Unterlassungssünden" Bethmann Hollwegs und ihre Folgen für den Kriegsausgang aufzählte. Der General habe sie Valentini vorgelegt, der sie aber abgewiesen und sowohl dem Kaiser wie dem Kanzler davon Kenntnis gegeben habe 3 ). Denkschriften dieser Art, alle rein politischen Inhalts, finden sich zahlreich in Bauers Nachlaß; sie reichen bis in den August 1918 und zeigen alle dieselbe erstaunliche Primitivität politischen Denkens wie sein Erinnerungsbuch, alle aber auch dieselbe Anmaßung eines typischen „Militaristen", der in jede politische Frage von seinem eng begrenzten soldatischen Gesichtspunkt her hineinredet. Es scheint, daß dieser militärisch tüchtige, aber politisch völlig wirklichkeitsfremde Offizier dank seines politischen Ehrgeizes so etwas wie der „böse Geist" in Ludendorffs engster Umgebung gewesen ist. Er w a r aber auch dessen wichtigster Gehilfe bei den Bemühungen der O H L , ihren Machtbereich auf immer weitere Gebiete des öffentlichen Lebens auszudehnen — insbesondere auf die Regelung der Wirtschaft und der sozialen Verhältnisse im militärischen Interesse. Den Anstoß dazu gab das unbestreitbare Bedürfnis des Heeres nach Steigerung der Rüstungsproduktion und des Mannschaftsersatzes. Eine mehr oder weniger weitgehende Militarisierung und zentrale Steuerung der Wirtschaft hat sich im Ersten Weltkrieg überall als notwendig herausgestellt — sie gehört seitdem zum Wesen des modernen „Totalkrieges". In Österreich-Ungarn gab es schon vor 1914 ein Gesetz, das gewisse Kriegsleistungen der Bevölkerung vorschrieb. In Frankreich wurden die eigentlichen Rüstungsbetriebe militarisiert und die Arbeiter an ihre Arbeitsplätze gebunden. In England schuf das „Kriegsvorräte-Gesetz" (munitions of war act) vom Juli 1915 die legale Grundlage für sehr weitgehende Eingriffe in

Das H i l f s d i e n s t g e s e t z v o m D e z e m b e r 1916

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die freie Wirtschaft. Man verbot Streiks und Aussperrungen ganz allgemein (allerdings ohne rechten Erfolg), stellte die eigentlichen Rüstungsbetriebe unter staatliche Kontrolle, beschränkte ihre Gewinne, regulierte die Löhne und Gehälter, hob alle Privilegien und Abmachungen der Gewerkschaften auf, soweit sie der Produktionssteigerung im Wege standen, ermöglichte dem Rüstungsminister, detaillierte Betriebsvorschriften zu erlassen und ihre Durchführung durch Inspektoren zu überwachen, erlaubte dem Rüstungsarbeiter den Wechsel des Arbeitsplatzes nur mit schriftlicher Genehmigung des Unternehmers, und zwar ohne dessen Recht zur Entlassung zu beschränken, verbot ebenso die Einstellung eines Rüstungsarbeiters ohne Entlassungsschein und führte eigene Arbeitsgerichte und obligatorische Schiedsstellen für Arbeitsstreitigkeiten ein. Damit hat man nicht nur eine starke organisatorische Sicherung der Rüstungsproduktion erreicht, sondern zugleich die übermäßige Steigerung der Kriegslöhne und Kriegsgewinne verhindert, was in Deutschland nicht gelungen ist. Gerade im klassischen Land der trade unions und des Wirtschaftsliberalismus bedurfte es sehr kräftiger Eingriffe, um eine leistungsfähige Rüstungsindustrie überhaupt erst aufzubauen und zu kontrollieren. Der praktische Erfolg dieser Maßnahmen war so groß, daß er zur Nachahmung reizte: eine enorme Steigerung der Produktion von Waffen, besonders Geschützen und Munition, die den Deutschen zuerst auf den Schlachtfeldern an der Somme im Sommer 1916 spürbar wurde 4 ). So erhob sich im deutschen Hauptquartier ganz natürlich die Frage, was geschehen könnte und müßte, um der waffentechnischen Überlegenheit des Gegners zu begegnen und das deutsche Heer mit stärkerer und besserer Ausrüstung zur Abwehr der im Frühjahr 1917 bevorstehenden neuen Großoffensive an der Westfront zu versehen. D a ß mit dem Amtsantritt der dritten O H L diese Fragen mit neuer, wesentlich verstärkter Energie angepackt wurden, auch in der Form einer stark intensivierten und genau durchdachten technischen Durchbildung der Fronttruppen, hat damals jeder Frontoffizier (und so auch der Verfasser) sehr bald gespürt. Die gewaltige Energie Ludendorffs hat darin unzweifelhaft Großes geleistet; sie strahlte irgendwie bis in die untersten Dienstgrade aus. Aber sie führte an den Zentralstellen auch bald zu erheblichen Reibungen und geriet rasch in die Gefahr einer Überspannung der Kräfte. Die Reibungen entstanden zunächst zwischen dem Generalstab des Feldheeres und dem preußischen Kriegsministerium, dessen bisherige Leistungen Ludendorff f ü r völlig unzulänglich hielt, auch wenn er sie als „hervor-

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ragend" anerkannte. K a u m zwei T a g e im Amt, forderte er bereits kurzerhand, daß bis zum nächsten Frühjahr die Erzeugung von Munition verdoppelt, die von Geschützen und Maschinengewehren verdreifacht werden müßte. Zur Durchführung dieses „Hindenburgprogrammes" (wie es bald darauf genannt wurde) sollte eine ganze Armee neuer Arbeitskräfte aus Kriegsbeschädigten, Kriegsgefangenen, Frauen und Minderjährigen herangezogen und ausgebildet werden 5 ). Oberstleutnant Bauer bezeichnete sich selbst als „Vater des Gedankens" dieser Rüstungspolitik, und in seinem Nachlaß finden sich so viele Zeugnisse seiner Mitwirkung am Hindenburgprogramm und den daraus folgenden Beratungen, daß man wohl vermuten darf, die meisten Schreiben der O H L in dieser Sache stammten aus seiner Feder. Stil und Geist seiner Denkschriften zeigt vor allem das große Schreiben, das Hindenburg am 13. September an den Kanzler und den Kriegsminister abgehen ließ und das die weitere Debatte über den „ H i l f s d i e n s t " in Gang brachte. Darin wird nichts Geringeres als eine totale Militarisierung des deutschen Lebens verlangt. „Arbeit für das Allgemeinwohl ist jetzt Pflicht für alle", heißt es, „und gibt keinen Anspruch auf besondere Rechte, sondern ist höchstens ein Grund für die Existenzberechtigung." Es soll also ein „Kriegsleistungsgesetz" geschaffen werden, das es ermöglicht, zwangsweise jeden Arbeitsfähigen in der Kriegsindustrie einzusetzen, auch die Kriegsbeschädigten, die „in größtem U m f a n g " durch Lehrkräfte dafür auszubilden sind, und auch die Frauen. „Es gibt ungezählte Tausende von Kriegerwitwen, die nur dem Staat Geld kosten. Ebenso laufen Tausende Frauen und Mädchen herum, die nichts tun oder höchst unnützen Berufen nachgehen." „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, ist in unserer Lage mehr als berechtigt, auch den Frauen gegenüber. Wer wegen allgemeiner Körperschwäche, Herzschwäche oder dgl. dienstuntauglich ist, muß, in besonderen Abteilungen zusammengefaßt, einer Gesundungskur unterworfen werden." Aus nicht kriegswichtigen oder infolge Materialmangel fast stilliegenden Betrieben, aus Warenhäusern und dgl. sind möglichst viele Arbeitskräfte herauszuziehen und zwangsweise in die Kriegsindustrie zu verpflanzen. Die Wehrdienstpflicht ist vom 45. bis zum 50. Lebensjahr auszudehnen. um so durch garnisondienstfähige Männer Felddienstfähige hinter der Front ablösen zu können. Die männliche Jugend soll schon vom 16. Lebensjahr an „energisch" für den Militärdienst ausgebildet und dafür von der Arbeit in Fabriken, aber auch höheren Schulen entsprechend entlastet werden. D i e „Universitäten,Seminare usw." sind zu schließen, soweit

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sie nicht zur Ausbildung für einzelne kriegswichtige Berufe (wie den Arztberuf) unentbehrlich sind. Studenten der Chemie und technischen Berufe sind „in Fabriken usw. zu verwenden" — auch deshalb, damit sie und die studierenden Frauen den aus dem Felde Zurückkehrenden „nicht den Rang ablaufen und in Zukunft die Stellen wegnehmen". „Ich zweifle nicht, daß unser V o l k " , hieß es zum Schluß, „wenn ihm der Ernst der Lage klargemacht wird — und das muß geschehen — , sich willig fügt. Täte es dies nicht, so wäre Deutschland nicht des Sieges w e r t . " Freilich muß Schreiern und Hetzern ebenso das Handwerk gelegt werden wie der „stellenweise herrschenden, unwürdigen Gewinn- und Vergnügungssucht". „Das ganze deutsche Volk darf nur im Dienste des Vaterlandes leben." „Die nötigen Maßregeln sind sofort zu ergreifen." „Jeder Tag ist von Wichtigkeit." Man kann sich denken, mit wie gemischten Empfindungen dieses Produkt echt militaristischen Denkens — eine der ersten Willensäußerungen der neuen O H L ! — nicht nur in der Reichskanzlei aufgenommen wurde, sondern auch im Kriegsministerium. Diesem ging noch eine zweite Liste von Vorschlägen zu, in der die Durchführung des Arbeitszwanges näher ausgemalt wurde: mit Zuteilung von Arbeitsstunden je nach Leistungsfähigkeit des Arbeiters und entsprechender Zuweisung von Lebensmitteln, ärztlichen Attesten für Arbeitsversäumnis u. dgl., alles überwacht durch ein zentrales Reichsarbeitsamt. Nun hatte das Kriegsministerium längst alles getan, was sich irgendwie tun ließ, um die Felddienstfähigen an die Front zu bringen, die Zahl der für die Industrie Reklamierten durch Einsatz Garnisondienstfähiger zu vermindern, die Betriebe also immer wieder „durchzukämmen", alle zur Arbeit fähigen K r ä f t e heranzuholen und kriegsunwichtige Betriebe entweder umzuwandeln oder einzuschränken. Gegen die vom Generalstab schon im Juli angeregte Ergänzung des bestehenden Kriegsleistungsgesetzes durch Einführung eines Arbeitszwanges hatte man sich indessen mit sehr beachtlichen Gründen zur W e h r gesetzt. „Die Arbeiterschaft", hatte der stellvertretende Kriegsminister, General von Wandel, am 31. Juli geschrieben, „würde eine solche Maßnahme als unverdiente Antwort auf die bisher von ihr eingenommene Haltung empfinden." Die deutsche Arbeiterschaft habe unter Führung ihrer Organisationen (der Gewerkschaften aller Richtungen) sich „im Gegensatz zu den anderen Ländern von Anbeginn des Krieges an spontan und geschlossen für Kriegsarbeiten zur Verfügung gestellt. Sie hat dann Leistungen übernommen und durchgeführt, die das Friedensmaß weit hinter sich lassen". Erzwungene Arbeit würde nur zu einem Ab-

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sinken der Leistungen, sowohl nach Umfang wie nach Qualität, führen. Sie würde außerdem die Regierung mit einer sehr gefährlichen Verantwortung f ü r das Wohlergehen des Arbeiters, insbesondere f ü r sein Einkommen belasten und sie unmittelbar in den Existenzkampf der Interessentengruppen hineinziehen, statt daß sie über ihnen stünde. Gute Löhne und freie Arbeitsverträge hätten sich in Deutschland viel besser bewährt als der in England und Österreich bestehende Arbeitszwang, die dort zu zahlreichen Streiks und auch zu Sabotageakten geführt hätten, während bei uns die Arbeitergewerkschaften unschätzbare Hilfe leisteten für die Erhaltung von Arbeitsfreudigkeit und Arbeitsdisziplin 6 ). General von Wandel, der diesen liberalen Standpunkt verfocht, nahm gleich nach dem Wechsel der O H L seinen Abschied. Er war bis dahin die Seele des Kriegsministeriums in Berlin gewesen, da General Wild ständig im Hauptquartier weilte und sich nicht allzuviel um den „Kleinkram" der Verwaltung (wie er es nannte) kümmerte. Durch die neue O H L wurde aber Wild sofort nach Berlin abgeschoben, was General von Wandel als Herabminderung seiner eigenen Stellung betrachtete. Der Kriegsminister hat sich dann bemüht, den Forderungen Ludendorffs gerecht zu werden, sah sich aber doch genötigt, gegen das Bauersche Programm vom 13. September erhebliche Bedenken anzumelden, auf die wir noch zurückkommen werden. Seine Gegenvorschläge blieben nicht ganz ohne Erfolg, aber das ständige Hineinregieren Ludendorffs in seinen Geschäftsbereich, vielfach über seinen Kopf hinweg, empfand er als unerträglich, verbat sich das schließlich und wurde daraufhin Ende Oktober abgelöst und an die Front versetzt 7 ). Das mag für das Ministerium kein allzu großer Verlust gewesen sein; aber wenig glücklich war die Wahl seines Nachfolgers: des Generals von Stein, eines betont schneidigen Generalstabsoffiziers altpreußischen Stils, dem im Verkehr mit den Reichstagsabgeordneten politisches Geschick und Taktgefühl fehlte und der in den Geschäften des Ministeriums (einer Behörde von 4—5000 Beamten und Angestellten!) keinerlei Erfahrung, auch keine Personalkenntnis besaß 8 ). Der Skepsis seiner Referenten gegenüber den Organisationsplänen der O H L und den von dort kommenden, z. T. recht unbedachten Forderungen 9 ), scheint er sich zwar bis zu einem gewissen Grad angeschlossen zu haben, aber zu entschiedener Opposition war er ebensowenig der Mann wie zur Entfaltung einer selbständigen Initiative. So sind die von Ludendorff durchgesetzten Neuerungen teils ohne seine Mitwirkung, teils ohne erkennbaren Einfluß des Ministers zustande gekommen.

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Um so wichtiger war die Stellungnahme Bethmann Hollwegs und seiner Gehilfen, unter denen Helfferich als Staatssekretär des Innern (und damit der Wirtschaft) am stärksten interessiert war. Eine Steigerung der Munitionserzeugung hatte er schon im August betrieben, in Verbindung mit einer Eingabe des Vereins deutscher Eisenhüttenleute, und hatte gleich am 3. September Ludendorff d a f ü r zu mobilisieren gesucht. Aber das Bauersche Programm vom 13. September entsetzte ihn. Er warnte (in einer Denkschrift f ü r den Kanzler) auf das dringendste davor, die Freiwilligkeit der Kriegsarbeit, mit der schon bewundernswürdige Ergebnisse erzielt worden wären, „durch einen das freie Gefüge unseres Wirtschaftskörpers zermalmenden Zwang ersetzen zu wollen. Eine Armee läßt sich kommandieren, eine Volkswirtschaft nicht". So formulierte er in geradezu klassischer Form den Gegensatz zwischen militaristischem und bürgerlich-liberalem Denken. Überdies f a n d er, daß durch die Vorschläge der O H L größtenteils offene Türen eingerannt würden: längst hätten die hohen Löhne der Rüstungsindustrie alle brauchbaren Arbeitskräfte aus anderen Betrieben abgezogen; auch alle Arbeitsfähigen über 45 Jahre stünden schon im Arbeitsprozeß, das Angebot an weiblichen Arbeitskräften übersteigt schon jetzt bei weitem den Bedarf usw. — es lohne wirklich nicht, um ganz geringfügiger Wirkungen willen den gesunden Aufbau der deutschen Wirtschaft ins Wanken zu bringen 10 ). In diesem Sinn führte denn auch die (von Helfferich aufgesetzte) offizielle A n t w o r t des Kanzlers vom 30. September aus, daß und weshalb die geplanten Zwangsmaßnahmen nur sehr geringen praktischen Nutzen stiften, dagegen eine sehr gefährliche politische Wirkung haben würden. Auch die Militarisierung der noch nicht wehrfähigen Jugend wurde als bedenklich, die Schließung der Universitäten und höheren Schulen als untunlich und praktisch zwecklos bezeichnet. N u r einzelne Maßnahmen von begrenzter Bedeutung erklärte der Kanzler f ü r durchführbar: die Einschränkung nichtkriegswichtiger Bauten, die planmäßige Ausbildung von Kriegsverletzten f ü r die industrielle Arbeit, die vorzeitige Einberufung der 17- und 18jährigen zum Militärdienst und allenfalls eine Ausdehnung der Wehrpflicht bis zum 50. Lebensjahr. Besonders charakteristisch f ü r das auch ihn beherrschende liberale Wirtschaftsideal sind die Schlußsätze des Schreibens: „Wir würden durch den Arbeitszwang in unserem Wirtschaftskörper, dessen Atmen und Arbeiten nicht restlos durch obrigkeitliche Anordnungen ersetzt werden kann, eine geradezu lebensgefährliche Störung hervorrufen", die Siegeszuversicht der Bevölkerung trüben und schließlich die ohnedies „stark ge-

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lichteten Kaders völlig vernichten, die w i r f ü r den Wiederaufbau und den Fortbestand unseres Wirtschaftslebens nach dem Friedensschlüsse nicht entbehren können". M a n sieht: der Staatsmann wehrt sich gegen die Totalisierung des Krieges und gegen die Forderung des Soldaten, ohne Rücksicht auf den späteren Frieden das Leben der Nation schlechthin f ü r die militärischen Bedürfnisse des Augenblicks einzusetzen. Da a m 14. Oktober auch das Kriegsministerium (noch unter General W i l d ) aus seinen Erfahrungen heraus den allgemeinen Arbeitszwang f ü r Männer und Frauen für unnötig und schädlich erklärte und auf eine Fülle von M a ß nahmen hinweisen konnte, die man dort zur Steigerung der W a f f e n - und Munitionserzeugung bereits vorbereitet hatte 1 1 ), bestand f ü r Ludendorff keine Aussicht, die schlecht durchdachten Vorschläge Bauers beim Kaiser durchzusetzen. Er wählte den Ausweg (im Anschluß an einen Vorschlag Wilds), gewissermaßen ersatzweise die Ausdehnung der Wehrpflicht auf alle arbeitsfähigen Männer vom 15. bis 60. Lebensjahr zu fordern — um so gleichzeitig eine industrielle Arbeitsarmee und eine Verstärkung der militärischen Front zu gewinnen (23. Oktober). Wie eilfertig auch dieser Vorschlag formuliert und w i e wenig er durchdacht war, zeigen schon die Ausführungen über die Jugend und die Frauen. Die höheren Schüler, heißt es, könnten militärisch recht wohl neben der Schule ausgebildet werden, wenn man nur Erleichterungen der Reifezeugnisse und Staatsexamina gewähre 1 2 ). Die Einführung einer förmlichen Dienstpflicht der Frau sei allerdings eine „verfehlte" Maßnahme. Trotzdem solle der Arbeitszwang für alle unbeschäftigten oder in nebensächlichen Berufen tätigen Frauen eingeführt werden! Freilich dürfe der Wert der Frauenarbeit nicht überschätzt werden. „Fast die ganze geistige Arbeit, die schwere körperliche sowie alle eigentlich erzeugende Arbeit werden nach wie vor auf den Männern lasten, neben der ganzen Kriegführung." Man sollte das aber auch öffentlich deutlich zum Ausdruck bringen und damit dem Verlangen nach Gleichstellung der Frau in allen Berufen entgegentreten. „Wir brauchen nach dem Krieg die Frau als Gattin und Mutter." Für sie die höheren Schulen und Universitäten offen zu halten, „ist wertlos, weil der wissenschaftliche Gewinn gering ist" und dadurch nur eine weibliche Konkurrenz f ü r die Männer großgezogen w i r d . Für dieses ganze Gerede, das kaum einen konkret faßbaren Vorschlag enthielt, nahm Hindenburg (der es unterzeichnete) ausdrücklich die Autorität als „berufener Ratgeber seiner Majestät in der Kriegführung" in Anspruch. Er drängte auf höchste Eile und schloß mit einer Art von Drohung: „Sollte

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der Reichstag bei der Lösung dieser Aufgaben versagen, so wird sich zeigen, welche Teile sich den Forderungen der Staatserhaltung verschließen. Über die dann zu ergreifenden Maßnahmen brauche ich mich heute noch nicht zu äußern." Für den weiteren Gang der Verhandlungen wurde entscheidend, daß die O H L Mitte Oktober ihre Fortführung einer militärischen Persönlichkeit übertrug, die in ungewöhnlichem Maß technische, militärische und politische Fähigkeiten miteinander verband: General Wilhelm Groener, dem Chef des Feldeisenbahnwesens und seit Mai Vorstandsmitglied des neu geschaffenen Kriegsernährungsamtes. Ludendorff, der gefühlt haben mag, daß er mit den unreifen Produkten seines Mitarbeiters Bauer nicht zum Ziel kam, wollte Groener zu einer Art von Wirtschaftsdiktator machen: er sollte Leiter eines „Kriegsamtes" werden, das gleichzeitig f ü r die Beschaffung, Verwendung und Ernährung der Arbeiter der Kriegsindustrie und f ü r die Produktion von Waffen und Munition zuständig wäre; er wollte also die Aufgaben des Kriegsernährungsamtes mit allen vom Kriegsministerium inzwischen eingerichteten oder vorbereiteten Ämtern für Waffen- und Munitionsbeschaffung (W.U.M.B.A.), f ü r Organisation der Arbeit, Beschaffung von Rohstoffen und Bekleidung, für Aus- und Einfuhr, Ersatzwesen usw. in einer H a n d vereinigen. Diktatoren haben immer die Neigung, Generalbevollmächtigte f ü r besonders wichtige Aufgaben einzusetzen, an deren Verantwortung sie sich dann halten können, statt auf umständliche Verhandlungen mit weitverzweigten und bedachtsam arbeitenden Behörden angewiesen zu sein. Wäre das Kriegsamt in der ursprünglich geplanten Form geschaffen worden, so hätte Ludendorff einen General aus seiner engeren Umgebung zur Verfügung gehabt, durch den er das ganze Wirtschaftsleben der Nation gewissermaßen kommandieren und nach militärischem Bedürfnis umgestalten konnte. Als Vorbild schwebte ihm das „Munitionsministerium" Lloyd Georges vor; doch wollte er noch über dessen Befugnisse hinausgreifen. N u n war eine Vereinheitlichung der zahlreichen Dienststellen f ü r Beschaffungszwecke (neben der W.U.M.B.A. gab es noch besondere Beschaffungsstellen für Luftstreitkräfte, Pioniere, Eisenbahntruppen, Post und Eisenbahnen, Marine usw.) sicherlich sehr erwünscht, zumal angesichts der Knappheit der Rohstoffe und Arbeitskräfte in Deutschland und der Schwerfälligkeit der bundesstaatlichen Verfassung mit vier selbständigen Kriegsministerien, deren Amtsbezirke auch noch von denen der stellvertretende Generalkommandos überschnitten wurden. Aber der Planung Ludendorffs einfach zu-

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zustimmen, hinderten den Reichskanzler ebenso verfassungsrechtliche wie politische Bedenken. D a s preußische Kriegsministerium mit seinem riesigen Stabe geschäftskundiger und erfahrener Sachbearbeiter ließ sich ebensowenig einfach ausschalten wie das bayrisch-württembergische oder sächsische; es ließ sich aber auch nicht ohne Verfassungsänderung zur Reichsbehörde erheben und als solche in das Kriegsamt einbauen. U n d vor allem: wie sollte sich dieses neue Amt mit der parlamentarischen Verantwortlichkeit des Reichskanzlers für den weiten Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik vereinbaren lassen, vollends wenn es — wie geplant — die stellvertretenden Generalkommandos, Träger einer sehr weitreichenden Exekutivgewalt unter dem sog. Belagerungszustand, als seine Organe zur Verfügung hatte 1 3 )? Das Ergebnis rasch durchgeführter Beratungen war ein Kompromiß: durch kaiserliche Kabinettsordre vom 1. November wurde das Kriegsamt geschaffen, aber nicht dem preußischen Kriegsministerium übergeordnet, sondern (wenigstens formell) ihm unterstellt. Es übernahm dessen wichtigste rüstungspolitische Abteilungen in seinen Amtsbereich, arbeitete aber faktisch als selbständige Zentralbehörde des Reichs — auch dem Kriegsernährungsamt gegenüber, von dem es die Ernährungsfürsorge für die Arbeiter der Kriegsindustrie an sich zog. Die stellvertretenden Generalkommandos dienten ihm als Ausführungsorgane, doch besaß Groener über sie keine direkte Befehlsgewalt und richtete darum überall im Lande besondere Kriegsamtsstellen ein. Mit anderen Worten: der bestehende Behördenapparat wurde nicht in eine militärische Zentralstelle mit diktatorischen Vollmachten eingefügt, sondern um eine neue Behörde mit unklarer Kompetenzabgrenzung, aber rasch anschwellenden Beamtenapparat von vielen Tausenden vermehrt — eine neue Behörde ohne Verwaltungstradition und mit vielfach noch ungeschultem Personal. Im Kriegsministerium betrachtete man sie nicht ohne Eifersucht und warf ihr vor, daß sie den G a n g der Geschäfte nur unnütz kompliziere, besonders die Einstellung kriegstüchtiger Arbeiter in das Heer erschwere 14 ) —, ob mit Recht, brauchen wir hier nicht zu untersuchen. Sicher ist nur eines: auch die Schaffung des Kriegsamtes konnte nichts daran ändern, daß die Zahl verfügbarer Mannschaften nun einmal nicht ausreichte, um gleichzeitig die unersättlichen Bedürfnisse des Heeres nach Soldaten zur Auffüllung der Lücken (vom Januar bis Oktober 1916 allein 1,4 Millionen Mann Verluste!) und zur Aufstellung neuer Divisionen zu befriedigen und dazu noch die gewaltige Zahl neuer Arbeitskräfte, insbesondere geschulter Facharbeiter, zu beschaffen, die zur Durchführung des „Hindenburgpro-

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gramms" unentbehrlich waren. Auch die immer ungeduldiger werdenden Mahnungen, Vorwürfe und Eingriffe Ludendorffs änderten daran nichts. Weder konnte die Einsetzung eines preußischen Ernährungskommissars (Michaelis) neben dem Kriegsernährungsamt unter Batocki die bösen Folgen einer Mißernte in K a r t o f f e l n aus der Welt schaffen, die jeder Miterlebende des „Kohlrüben-Winters" 1 9 1 6 / 1 7 noch heute in schrecklicher Erinnerung hat, noch die Einsetzung eines „Kohlendiktators" das Absinken der Kohlenproduktion. Wohl aber verleideten diese beständigen Eingriffe der O H L dem Leiter des Kriegsamtes seine Tätigkeit, die nun einmal zum Erfolg einer gewissen Anlaufszeit bedurfte. Alles in allem erschien das „Hindenburgprogramm", von der Schwerindustrie, aber auch von vielen Patrioten begeistert begrüßt, nachträglich den Beteiligten als eine Überspannung der K r ä f t e . Es führte zu einer überstürzten Bautätigkeit, die infolge katastrophalen Mangels an Transportmitteln und Kohlen im Winter 1 9 1 6 / 1 7 sehr bald wieder eingeschränkt, vertagt oder aufgegeben werden mußte (40 neue Hochöfen konnten, wie Helfferich berichtet 1 5 ), im Frühjahr 1 9 1 7 nicht angeblasen werden!) und damit zu einem gewaltigen Fehleinsatz von Arbeitskräften. General Groener, der das alles schon deshalb nicht verhindern konnte, weil die Industriellen mit Ludendorff (bzw. Bauer) direkt verhandelten, wollte audh gar kein Wirtschaftsdiktator sein und stand dem Prinzip des Arbeitszwangs, das er im Auftrag der O H L zu vertreten hatte, innerlich mit ähnlichen Bedenken gegenüber wie Helfferich, Bethmann Hollweg und das Kriegsministerium. Dieser schwäbische Offizier unterschied sich nicht nur durch seine Begabung, sondern in seiner ganzen Wesensart deutlich vom Durchschnitt seiner preußischen Standesgenossen. V o r allem fehlte ihm jeder Standeshochmut und die übliche Bindung an politisch-konservative Traditionen der preußischen Junkerklasse. Ihm war es selbstverständlich, daß eine Verpflichtung des ganzen Volkes zum Arbeitsdienst nur durchführbar war in enger, vertrauensvoller Zusammenarbeit mit den Arbeitergewerkschaften, auch den sozialistischen, nicht aber gegen sie. Seine volkstümlichherzhafte Redeweise und schlicht-natürliche Art, sich zu geben, weckte rasch und in erstaunlich hohem Maße das Vertrauen der Gewerkschaftsvertreter — ganz im Gegensatz zu Helfferich, der zwar viel zu klug war, um nicht ebenfalls die Notwendigkeit der Zusammenarbeit in diesem kritischen Augenblick einzusehen und sich zu mancherlei Konzessionen bereitfand, aber schon als früherer Bankdirektor, also „Kapitalist", politisches Mißtrauen bei den

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Sozialisten erweckte und auch selbst von politischem Mißtrauen gegen die radikale Linke erfüllt war 1 6 ). Trotz dieses Gegensatzes ist aber das Gesetz über den „vaterländischen Hilfsdienst" vom 5. Dezember 1916, das Kernstück des „Hindenburgprogramms", in der Hauptsache durch enge Zusammenarbeit des Staatssekretärs mit dem General zustande gekommen. Bethmann Hollweg war zunächst unsicher, was er tun könnte, um die Notlage der Industrie zu beheben. Die Vorschläge der O H L vom 23. Oktober, von denen wir zuletzt hörten (s. S. 424), erklärte er in einem für Heliferich bestimmten Schreiben für „unausführbar", fügte aber zögernd hinzu: „Irgendwie eingreifen und organisieren müssen wir" — angesichts der entschiedenen Willensäußerng des Kaisers17). Am liebsten hätte er, was sich zur Beschaffung neuer Arbeitskräfte und Umschaltung der Industrie auf den Kriegsbedarf noch tun ließ, ohne viel Aufhebens durch Bundesratsverordnungen geregelt. Aber Ludendorff bestand durchaus auf einem feierlich verkündeten, vom Reichstag als „imposante Kundgebung unverminderten deutschen Siegeswillens" einmütig beschlossenen Gesetz, von dem er sich sowohl eine starke Wirkung auf das Ausland versprach wie (seltsamerweise) einen neuen Aufschwung nationalen Lebens in Deutschland. Eben deshalb drängte er auch unablässig auf höchste Eile. Das Gesetz sollte unter allen Umständen noch vor dem Friedensangebot der Mittelmächte herauskommen, als eine Art von nationalem K r a f t beweis — während der Kanzler und das Auswärtige Amt gerade umgekehrt fürchteten, sein Erlaß unmittelbar vor dem Friedensangebot könnte dessen Ernsthaftigkeit als zweifelhaft erscheinen lassen. N u n bedurfte aber eine Gesetzesvorlage, die neue gesteigerte Ansprüche an die Opferbereitschaft des Volkes stellte und die Freizügigkeit des Arbeiters beschränkte (oder gar aufhob), einer sehr sorgsamen Vorbereitung im Bundesrat und Hauptausschuß des Reichstages, wenn sie nicht zu stürmischen, sehr wenig „eindrucksvollen" Plenardiskussionen führen und darin zerredet werden oder gar scheitern sollte. Der erste von Groener vorgelegte Entwurf stieß in den Beratungen eines engeren Kreises von Ministern und Staatssekretären (29. Oktober bis 1. November) auf viele Bedenken. Helfferich wollte nichts wissen von staatlicher Festsetzung der Arbeitsbedingungen (aus ähnlichen Gründen, wie sie schon General Wandel im Juli vorgebracht hatte), Bethmann fürchtete militärische Herrschsucht und wollte zunächst mit Unternehmern und Arbeitervertretern der Kriegsindustrie sprechen. Am 4. November wurde der Reichstag vertagt, was der Kanzler der

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O H L gegenüber als erwünschte Arbeitspause bezeichnete. Die Antwort w a r ein Telegramm des Kaisers vom 6. November: „Ich befehle, daß sofort und unverzüglich das Arbeitsgesetz vor den Reichstag gebracht wird. Als H a u p t satz hat darin zu stehen: Jeder Deutsche vom 16. bis 60. Lebensjahr ist verpflichtet, seinem Vaterland Kriegsdienste zu leisten." Der Kanzler ließ sich dadurch nicht beirren und erwiderte: die Beratungen wären seit acht Tagen in vollem Gang. Wichtige Besprechungen mit den Industrieführern stünden unmittelbar bevor. Für die O H L fügte er hinzu: nachdem ihm die Bedürfnisse der O H L mitgeteilt wären, habe er „unter eigener Verantwortung alles zu tun, was dem obersten Reichsbeamten obliegt, um die Erfüllung dieser Bedürfnisse zu sichern". „Nichts würde ärgere Versäumnis bringen als ein unpraktischer und oberflächlicher Entwurf, dessen Durchführung nicht wie ein guter strategischer Plan durchdacht ist und dem Reichstag klar gemacht werden kann 1 8 )." Am 7. und 8. verhandelten Helfferich und Groener mit Industrieführern, Arbeiterorganisationen und Fraktionsführern des Reichstags. Der Gedanke des Arbeitszwanges war inzwischen schon so abgeschwächt worden, daß jeder das Recht haben sollte, sich zunächst eine ihm passende Arbeit selbst auszusuchen — nur daß alle Männer zu irgendwie kriegswichtiger Arbeit verpflichtet wurden. Dagegen erhoben Gewerkschaften und Sozialdemokraten keine Einwendungen. Aber sie wollten, wie zu erwarten, durchaus keine Überstürzung der Reichstagsverhandlungen und zunächst die Rechte des Arbeiters gesichert sehen: durch Beseitigung aller bisherigen Einschränkungen der Koalitionsfreiheit, Streikrecht, Einführung von Schlichtungsstellen f ü r Lohnstreitigkeiten, angemessene Wohnungsverhältnisse im Falle der Uberführung in einen anderen Industriezweig und dergleichen. Über diese Forderungen und die dem Bundesrat einzureichende Gesetzesvorlage beriet das Preußische Staatsministerium am 10. November. Einzelne Minister, unter Führung des hochkonservativen Innenministers von Loebell, wollten von Verhandlungen mit Industriekapitänen und nun gar mit A r beitervertretern überhaupt nichts wissen: man sollte diese Leute ins H a u p t quartier schicken und dort von Sr. Majestät empfangen sowie von Hindenburg und Ludendorff „aufklären" lassen. Doch erreichte Bethmann Hollweg, von Helfferich und Groener unterstützt, daß zwar nicht die unbeschränkte Koalitionsfreiheit und das Streikrecht, wohl aber Einigungsämter f ü r Lohnstreitigkeiten in die Vorlage aufgenommen wurden; auf die Heranziehung schon der 16jährigen wollte man (nach längerer Debatte) verzichten. Groe-

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ner versprach harmonische Zusammenarbeit des neuen „Kriegsamtes" mit den Reichs- und Landesbehörden. Am 14. kam der abgeänderte (und vom Kaiser genehmigte) Entwurf vor den Bundesrat 19 ). Aber inzwischen war Ludendorff die Geduld ausgegangen. Am 15. veranlaßte er Hindenburg zu telegraphieren: er müsse „die Verantwortung für die Fortsetzung des Krieges ablehnen", wenn die Heimat ihm die nötige Unterstützung nicht gewähre. „Seit meiner ersten Anregung sind Monate in der Hauptsache mit Erwägungen ausgefüllt worden, während unsere Gegner in vorbildlicher Weise handeln." Dieses Telegramm kam (wohl durch das Büro Bauer?) sofort in die Presse, um den Kanzler öffentlich bloßzustellen 20 ). Dessen Antwort klang denn auch gereizt: „Ich muß dringend bitten", hieß es am Schluß, „mir die für die Vorbereitung einer glatten und eindrucksvollen Erledigung des Gesetzes erforderliche Zeit zu lassen. Die Verantwortung f ü r die Folgen eines an sich schon aussichtslosen Versuchs, die Sache über das Knie zu brechen, bin ich nicht in der Lage zu übernehmen 21 )." In einem späteren Telegramm 22 ) wies er darauf hin, daß die von ihm vorausgesagten scharfen politischen Gegensätze zwischen den Parteien „viel leichter hätten überwunden werden können, wenn nicht so kategorisch Überstürzung gefordert worden wäre". Helfferich, dem die Hauptarbeitslast zufiel (gerade in diesen außenpolitisch so aufgeregten Wochen vor dem Friedensangebot!), war so empört über die in Pless geschwungene Hetzpeitsche, daß er den Kanzler bat, dem Kaiser sein Entlassungsgesuch zu unterbreiten. Er bestand aber nicht darauf, als Bethmann durch persönliche Aussprache im Hauptquartier eine vorübergehende Entspannung herbeiführen konnte — freilich auch den Eindruck gewann, daß dort bereits eifrig an seinem Sturz gearbeitet wurde. Am 21. wurde die Vorlage vom Bundesrat angenommen und seit dem 23. im Hauptausschuß des Reichstags beraten — in fortgesetzter, erschöpfender Tages- und Nachtarbeit, bei der sich Helfferich mehrfach über Zugeständnisse ärgerte, die General Groener gegen seinen Wunsch den Sozialdemokraten machte. Auch das Plenum des Reichstags arbeitete in Dauersitzungen, so daß die Annahme in dritter Lesung schon am 2. Dezember erfolgen konnte - nicht einstimmig, aber nur gegen die Stimmen der äußersten Linken, der „Unabhängigen" (235 gegen 14). Die von Ludendorff gewünschte „nationale Kundgebung" war also doch annähernd erreicht, aber auf Kosten einer ihm sehr unerwünschten Liberalisierung des Gesetzes zugunsten der Arbeiterschaft. Von zwangsweiser Rekrutierung von

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Arbeiterbataillonen war keine Rede mehr, auch nicht von Frauenarbeit, sondern nur noch von der Verpflichtung aller männlichen Deutschen vom 17. bis zum vollendeten 60. Lebensjahr, die nicht im Heer standen, zu „vaterländischem Hilfsdienst". Als solcher galt so ziemlich jede Tätigkeit, die „unmittelbar oder mittelbar" dem Gemeinwohl im Kriege nützlich war. N u r wurde die Nützlichkeit der Beschäftigung im Sinn des Gesetzes überp r ü f t durch das Kriegsamt und durch die Bezirksausschüssse, in denen je ein Offizier den Vorsitz hatte, aber zwei höhere Staatsbeamte neben je einem Vertreter der Arbeitgeber und Arbeitnehmer das Gremium bildeten. Auch in der Oberinstanz beim Kriegsamt waren zivile Persönlichkeiten ausschlaggebend. Für diejenigen, die hiernach einer kriegswichtigen Beschäftigung erst zugeführt werden mußten, war in jeder Weise die Wahrung ihrer berechtigten Privatinteressen vorgesehen, und freiwillige Meldung stand an erster Stelle. Nicht einmal eine feste Bindung des Beschäftigten an seinen Arbeitsplatz, also eine Beschränkung der freien Arbeitswahl und Freizügigkeit war mit voller Strenge durchgeführt. Er bedurfte zwar eines Entlassungsscheins des Arbeitgebers, wenn er seine Stelle wechseln wollte, konnte sich aber, falls dieser verweigert wurde, an einen Ausschuß wenden, in dem er auch Berufskollegen vorfand, und der aus „wichtigen Gründen" gegen den bisherigen Arbeitgeber entscheiden konnte. Da als wichtiger Grund auch eine angemessene Verbesserung der Arbeitsbedingungen galt (§ 9, Absatz 3), war dem Wettbewerb der Arbeitgeber um die so raren Arbeitskräfte durch Steigerung des Lohnangebotes Tor und Tür geöffnet. Die Folge dieses vielumstrittenen und viel gescholtenen § 9 war ein ziemlich hemmungsloses Ansteigen der Kriegslöhne, das dadurch noch begünstigt wurde, daß die Unternehmer bei staatlichen Lieferungsaufträgen ihre Unkostensteigerung in vollem U m f a n g geltend machen konnten. Für die Arbeiter der Kriegsbetriebe brachte das Gesetz ganz wesentliche Verbesserungen ihrer sozialen Lage. Es bestätigte nicht nur die bestehenden Vereins- und Versammlungsrechte, sondern schrieb vor — eine sehr wichtige Neuerung! —, daß in allen größeren Betrieben „Arbeiterausschüsse" zur Vertretung der Arbeiterinteressen gebildet werden mußten. Für die Beilegung von Streitigkeiten über Lohn- und Arbeitsbedingungen war ein Schlichtungsverfahren, ebenfalls vor gemischten Ausschüssen, vorgesehen. U n d schließlich wahrte sich auch der Reichstag seinen Einfluß, indem er den Erlaß aller Durchführungsbestimmungen an die Zustimmung eines Ausschusses von 15 Abgeordneten band 23 ).

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Es ist sehr bemerkenswert, daß so im Zwang der Kriegslage ein Gesetz geschaffen wurde, das die Arbeiterschaft als „sozial fortschrittlich" empf a n d . Niemand war damit so zufrieden wie die Gewerkschaften, die ihre Mitglieder denn auch zu eifriger Mitarbeit an der Kriegsproduktion aufriefen, während die Unternehmer ihre Autorität durch das Gesetz stark beeinträchtigt fühlten und teilweise dagegen rebellierten. D a nun, wie zu erwarten, die deutsche Kriegsindustrie nach wie vor mit ihrer Produktion hinter den Ansprüchen des Heeres zurückblieb, konnte es nicht ausbleiben, daß die großen, auf das Hilfsdienstgesetz gesetzten Hoffnungen bald in bittere Kritik umschlugen. Man gewöhnte sich daran (sowohl im Kreise der Arbeitgeber wie der O H L ) , das „ v o m Reichstag verpfuschte" Hilfsdienstgesetz für alles verantwortlich zu machen, was an Hunger und politischer Unzufriedenheit die Arbeiterschaft in Gärung brachte, zumal seit Ausbruch der russischen Revolution. Während General Groener ohne Bedenken mit dem Führer der radikalen Linken, dem Abgeordneten Haase, mündlich verhandelte und ihn zur Abwendung eines Streiks bewog, riefen norddeutsche Unternehmer nach einer Rückwärtsrevision des Hilfsdienstgesetzes und nach schärfstem, polizeilichem Vorgehen gegen Unruhestifter 2 4 ). Am lautesten schalt Ludendorff auf die „Pfuscharbeit" des Reichstages, die alles verdorben habe, und auf die unverantwortliche Schwäche des Kanzlers und seiner Mitarbeiter, die nicht widerstanden hätten. Befürchtungen und Klagen über die Anmaßungen der Arbeiterschaft hatten Bethmann Hollweg und Helfferich schon auf den Sitzungen des preußischen Staatsministeriums, die zwischen den letzten, entscheidenden Reichstagssitzungen stattfanden, reichlich zu hören bekommen. Aber ihre Antwort war unwiderlegbar und durchschlagend: die Regierung befand sich in einer Zwangslage: bestand die O H L auf der Beschlußfassung des Reichstages, so mußte diesem alles bewilligt werden, was er forderte, da außer den Konservativen keine Partei den Wünschen der Arbeiter offen zu widerstehen wagte. In dieser L a g e kam deutlich der Wandel der Zeit zum Ausdruck, den der Krieg vollbracht hatte: die Fortsetzung des Klassenstaates war unmöglich geworden, die Arbeiterschaft hatte sich — gerade durch ihre patriotische H a l t u n g im Feld und in der Heimat — den Anspruch auf soziale Gleichberechtigung erkämpft. (Der bald darauf erfolgende Ausbruch der russischen Revolution sollte ihre sozialen und politischen Ansprüche noch weiter verstärken.) Bethmann Hollweg seinerseits war auch bereit, diese Entwicklung als Fortschritt zu bejahen, teilte jedenfalls nicht das Gejammer der Konser-

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vativen. Eine Bemerkung des Kriegsministers von Stein, nach Kriegsende werde ja das Gesetz wieder verschwinden und eine starke Regierung dann frei in ihren Entschlüssen sein, wies er entschieden zurück. Die Regierung, sagte er, werde nach dem Kriege erst recht der Zustimmung des Reichstags bedürfen. Jetzt im Kriege sei eine politische Neuorientierung notwendig, und in ihrer Folge werde man nach Friedensschluß auch der Bildung obligatorischer Arbeiterausschüsse und Einigungsämter nicht entgehen. Da sei dieses Gesetz als Uberleitung ganz nützlich; es vermittle praktische Erfahrungen 2 5 ). Wir werden bald sehen, daß diese seine Bereitschaft zu innerpolitischer „Neuorientierung" eine der wichtigsten Ursachen seines Sturzes geworden ist.

Zweiter Die belgischen

Abschnitt Arbeiterdeportationen

Im ganz auffallenden Gegensatz zu dieser bewußt schonsamen und liberalen Behandlung der deutschen Arbeiterschaft steht die brutale Zwangsrekrutierung von Rüstungsarbeitern aus den besetzten Gebieten, vor allem aus Belgien, die gleichzeitig durchgeführt wurde. Sie war nicht nur arbeitspolitisch ein Fehlschlag, sondern zugleich außenpolitisch ein so grober, nicht wieder gutzumachender Fehler, ja eine so böse Befleckung des Namens und des Ansehens der Deutschen als Kulturnation, daß sie zu den dunkelsten Erinnerungen der Kriegszeit gehört. Und doch ist die Verantwortung dafür nicht auf die politisch kurzsichtigen Militärs beschränkt, sondern fällt auch den politischen Instanzen in hohem Maße zur Last. Ludendorff persönlich stand unter den Urhebern nicht einmal an erster Stelle 26 ). Der entscheidende Anstoß kam vielmehr vom Preußischen Kriegsministerium. Dort beschäftigte man sich schon seit langem mit Versuchen, die belgische Industrie und noch mehr die belgische Industriearbeiterschaft f ü r deutsche Zwecke auszunutzen. Die belgischen Industriewerke f ü r deutsche Rüstungszwecke arbeiten zu lassen, war nur in begrenztem U m f a n g möglich, weil völkerrechtliche Bestimmungen dem Zwang zu direkter Kriegsarbeit im Wege standen, die belgischen Industriellen und Arbeiter sich weigerten, aber auch — und nicht zuletzt — weil die deutsche Kriegsindustrie

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sidi gegen die belgische Konkurrenz zur Wehr setzte. Uber diese Fragen entstand ein bedeutender Gegensatz zwischen dem Kriegsministerium und dem Generalgouverneur von Bissing. Generaloberst von Bissing war — ähnlich wie Beseler — nicht reiner Fachmilitär, sondern an politischen Fragen in ungewöhnlich hohem Maße interessiert. Eine große Denkschrift vom Februar 1915, in der die Grundsätze seiner Okkupationsverwaltung ausführlich entwickelt werden, zeigt ihn als entschiedenen Annexionisten. Er betrachtete es als seine wichtigste Aufgabe, die Angliederung Belgiens an das deutsche Reich (in Form einer dauernden Statthalterschaft) vorzubereiten, sowohl theoretisch durch Erforschung seiner wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Struktur, wie praktisch durch Einwirkung auf die Bevölkerung. Dabei bestimmte ihn die Absicht, „mit möglichster Rücksichtslosigkeit und ohne unwürdige Nachgiebigkeit gegen das dreiste Ausland Deutschlands Interessen allein zur Geltung zu bringen". Die Belgier sollten an den Gedanken gewöhnt werden, daß ihr Land „in irgendeiner Form zur Machterweiterung Deutschlands benutzt wird". Er wollte „die Bevölkerung zur Ordnung erziehen, sie dem Deutschtum näher bringen und zur Anerkennung der Vorteile eines strafferen Regiments zwingen", weil nur so Belgien „zu einer brauchbaren Vorpostenstellung für Deutschlands Kraft und Macht werden könne". Dieses streng obrigkeitliche, ja patriarchalische Regiment sollte „Selbstverwaltung des Landes durch seine eigenen Einwohner und bürgerlichen Organe" nicht ausschließen, die aber „gefügig und arbeitsfreudig" gemacht werden müßten 27 ). Das klang reichlich „militaristisch" und streng autoritär. Aber in der Praxis seiner Verwaltung wurde Bissing immer mehr zum Protektor der belgischen Wirtschaft gegen die Bemühungen der deutschen Heeresverwaltung, das Land hemmungslos für ihre Zwecke auszubeuten. Es war mit seinen großen Industriezentren und Kapitalien das weitaus reichste der von uns eroberten Länder, aber auch das weitaus dichtest besiedelte, hatte also große eigene Lebensbedürfnisse. Und je mehr die Okkupationsverwaltung damit vertraut wurde, um so deutlicher sah sie auch die Schäden und menschlichen Leiden, die der Krieg über das Land brachte, mit allen ihren politischen Konsequenzen. Bissing wollte die Belgier „den Deutschen näher bringen"; er hatte auch den Ehrgeiz, dafür zu sorgen, daß ihr Land nicht beim Friedensschluß als bloße Trümmerstätte, völlig ausgesaugt und erschöpft, erfüllt von menschlichem Elend und grenzenlosem Haß, an das Reich fiel. „Ich denke", hat er am 19. Juli 1915 vor einer Konferenz belgischer Industriel-

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ler in Brüssel gesagt, „daß eine ausgepreßte Zitrone keinen Wert hat und daß eine getötete Kuh keine Milch mehr gibt 28 )." Da Deutschland infolge der englischen Hungerblockade außerstande war, die Belgier und N o r d f r a n zosen aus seinen Vorräten mit zu ernähren, wurde mit den Feindmächten das berühmte belgische Hilfswerk (Relief Commission) vereinbart: die Zuf u h r hauptsächlich amerikanischer Lebensmittel auf dem Seeweg über Holland, geleitet von dem Amerikaner Herbert C. Hoover, dem großen Menschenfreund und späteren Präsidenten. Bissing sorgte dafür, daß die Verteilung dieser Lebensmittel durch ein unabhängiges belgisches Nationalkomitee, das schon unter seinem Vorgänger, Feldmarschall von der Goltz, sich gebildet hatte, ohne Eingriff der Besatzungsbehörden erfolgen konnte und daß die agrarischen Landesprodukte entsprechend der Vereinbarung im wesentlichen den Belgiern selbst vorbehalten blieben. Er hat auch die flämische Volksbewegung eifrig gefördert, die nach Gleichberechtigung des flämischen Volksteils und seiner Sprache neben dem französischen und dem wallonischen Element im Schulwesen und der Verwaltung strebte. Darin entsprach er den Wünschen Bethmann Hollwegs, der schon am 2. September 1914 dem Chef der Zivilverwaltung in Belgien, von Sandt, die Förderung dieser Bewegung empfohlen und seitdem immer wieder darauf gedrängt hatte 29 ). Freilich war seine Zielsetzung nicht ganz dieselbe wie die des Reichskanzlers. Diesem scheint es hauptsächlich darauf angekommen zu sein, Deutschland „bei einem starken Teil der belgischen Bevölkerung die Stellung eines natürlichen Schützers und Freundes zu erwerben und zu sichern", den bösen Eindruck unserer Ausbeutung des Landes im Ausland wenigstens abzumildern, Sympathien besonders in Holland zu erwerben und die in den Verhandlungen mit König Albert angestrebte Loslösung Belgiens von der Entente zu erleichtern. Der Generalgouverneur dagegen wollte die flämische „Volksrasse" gegen die wallonische politisch „ausspielen", um damit die spätere Einverleibung in Deutschland vorzubereiten, die Bethmann niemals gewünscht hat, Aber die H o f f n u n g , wenigstens einem Teil der Bevölkerung mehr als „Schützer und Freund" denn als Eroberer zu erscheinen, beseelte auch den Generalgouverneur Bissing. Darin ähnelte seine Politik der des Generalgouverneurs von Beseler in Polen. Aber sie w a r aus vielen Gründen noch viel mehr Illusion als jene, und sie scheiterte völlig an der Haltung des Kriegsministeriums u n d d e r O H L . Bissing wünschte die belgische Industrie so weit als irgend möglich am Leben zu erhalten und zerstörte Fabriken wieder aufzubauen. Das Kriegs-

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ministerium ließ gleich im ersten Kriegswinter alle Rohstoffe und Maschinen, die unsere Kriegsindustrie gebraudien konnte, beschlagnahmen und nach Deutschland schaffen. Dem Generalgouverneur gelang es indessen, seit Juni 1915 nach und nach wieder 17 Fabriken in Gang zu bringen, und zwar im Militärbetrieb, und die Kohlengruben mit 157000 Arbeitern im Gang zu halten, die 1916 immerhin monatlich 1,45 Millionen Tonnen förderten, teilweise zur Ausfuhr nach neutralen Ländern und Österreich 30 ). Im August 1915 versuchte er vergeblich, durch ein Abkommen belgischer Industrieller mit England zu erreichen, daß außer dem Import von Lebensmitteln auch eine bestimmte Menge von Rohstoffen f ü r die belgische Industrie von der Blockade ausgenommen wurde. Da dies scheiterte, nahm die Arbeitslosigkeit in dem industriell hoch entwickelten Land unaufhaltsam zu. Sie vergrößerte sich noch dadurch, daß viele Industrielle lieber ihre Fabriken schlössen, als daß sie f ü r die Okkupationsmacht arbeiteten (ähnlich wie die deutschen Unternehmer während der Besetzung des Ruhrgebiets 1923). Man rechnete 1916 mit 4—500000 arbeitslosen Männern, was mit Einschluß der Familienangehörigen etwa ein Viertel der Bevölkerung ausmachte. Die Folgen f ü r den einzelnen wurden aber dadurch stark abgemildert, daß sich ein dichtes Netz von karitativen Hilfskomitees über das Land ausbreitete und auch die Gemeinden in großem U m f a n g Notstandsarbeiten einrichteten. Für den Generalgouverneur war das eine große Sorge: er sah die Gefahr eines moralischen Niedergangs der Arbeiterbevölkerung und wachsenden Hasses auf die Besatzungsmacht vor Augen, die unmittelbar im Rücken der kämpfenden Truppe auch militärisch bedrohlich werden konnte, zumal die deutschen Besatzungstruppen nur noch ein Minimum von Mannschaften, meist älterer und ältester Jahrgänge, besaß. Er wollte also alles aufbieten, um den Leuten in Belgien selbst wieder Arbeit zu verschaffen. Im Berliner Kriegsministerium dachte man darüber ganz anders. Je drohender der Zustand der Arbeitslosigkeit in Belgien war, um so mehr hoffte man aus Belgien Arbeitskräfte für die deutsche Kriegsindustrie zu gewinnen. Seit Juni 1915 bestand ein „deutsches Industriebüro", zunächst von westdeutschen Industriellen begründet, später behördlich gestützt und erweitert, zur Anwerbung von Arbeitswilligen nach Deutschland. Aber der Erfolg blieb bescheiden, obwohl der Generalgouverneur seine Tätigkeit dadurch unterstützte, daß er am 15. August 1915 durch einen Erlaß jeden Unterstützungsempfänger mit Gefängnisstrafe bedrohte, der „ohne hinreichenden Grund" eine ihm angebotene Arbeit zu übernehmen ablehnte. Das ließ sich in großem

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Umfang gar nicht durchführen und sollte zunächst nur als Drohung wirken. Aber es hatte um so weniger Erfolg, als das belgische Comité national nunmehr seine Anstrengungen zur Unterstützung Arbeitsloser verdoppelte und seinerseits mit dahin wirkte, daß die Annahme von Arbeit in deutschen I n dustriewerken als unpatriotisch, ja fast als Landesverrat betrachtet wurde. Denn auch wenn es sich dort nicht um direkte Rüstungsproduktion handelte, so machte doch jeder belgische Arbeiter an einer deutschen Werkbank (so sagte man) einen deutschen Soldaten frei f ü r die Front. Infolgedessen blieb die Zahl der belgischen Arbeiter, die sich durch das Industriebüro anwerben ließen, bis zum März 1916 auf 12 000 beschränkt. Offensichtlich stand hier die militärische Zwangsgewalt an der Grenze ihrer Möglichkeiten. Aber soldatischem Denken ist eine solche Einsicht nun einmal fremd. Im Berliner Ministerium sah man nur den unerfreulichen Zustand vor Augen, daß in Belgien ein Uberfluß an Arbeitskräften, in Deutschland großer Mangel herrschte und viele Hunderttausende von Frontverwendungsfähigen in der Industrie festgehalten werden mußten. Der stellvertretende Kriegsminister General von Wandel ließ schon am 2. März 1916 mit dem Stabschef des Generalgouverneurs über den (in Wahrheit abenteuerlichen) Plan verhandeln, einige Hunderttausend belgische Industriearbeiter zwangsweise nach Deutschland zu schaffen, wo sie eine entsprechende Anzahl kriegsverwendungsfähiger deutscher Arbeiter an ihren Arbeitsplätzen f ü r die Front frei machen sollten 31 ). Bissing erhob natürlich Einspruch, wies u. a. auf die Gefahr hin, daß das Hilfswerk der Amerikaner für Belgien angesichts solcher Gewaltmaßnahmen eingestellt würde, und wandte sich hilfesuchend an den Reichskanzler. Dessen A n t w o r t war aber auffallend flau. Er hatte mit General Wild gesprochen und sich von diesem überzeugen lassen, daß eine verstärkte Tätigkeit der belgischen Industrie für das Hauptziel nichts nützen würde: f ü r das Freimachen deutscher Arbeiter zum Einsatz an der Front. So verlangte er zunächst Klärung der Frage, was sich durch verstärkte Anwerbungstätigkeit erreichen ließe, ehe er sich selbst entscheiden könnte. Generaloberst Bissing legte das — recht gewaltsam — so aus, daß also zwangsweise Abschiebung belgischer Arbeiter nach Deutschland nicht mehr in Frage käme, versprach verstärkte Werbungen, empfahl aber gleichzeitig dringend die Entlastung der deutschen Kriegsindustrie durch belgische Fabriken, deren Leistungsfähigkeit er rühmte. Z u r Klärung dieser Frage bat er um eine gemeinsame Konferenz aller daran interessierten Dienststellen mit

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dem Generalgouvernement. Zur Unterstützung des Werbefeldzuges erließ er am 15. Mai 1916 eine neue Verfügung, in der die „Arbeitsscheuen" nicht mehr bloß mit Gefängnis bedroht wurden, sondern mit »zwangsweiser Abschiebung zur Arbeitsstelle", und zwar aufgrund von Urteilen nicht belgischer Tribunale, sondern deutscher Militärgerichte. Am selben Tage (und am nächsten) fand die von ihm angeregte Konferenz mit dem Kriegs- und Handelsministerium statt. Sie verlief im ganzen nach den Wünschen Bissings, dessen Vertreter sich wohl auf die (angebliche) Willensäußerung des Kanzlers berufen haben. Man einigte sich dahin, daß für die Gewinnung von Arbeitskräften „unmittelbarer Zwang nicht in Betracht kommen könne", entwickelte einen Plan zur Verbesserung der Werbemethoden und einen weiteren für die verstärkte Heranziehung der belgischen Industrie (aber nur eines Teiles!) für Kriegszwecke. Immerhin wünschten die Vertreter des Handelsministeriums, die Kohlenförderung für Ausfuhrzwecke (4 Mill. t jährlich) auf die deutschen Zechen zu übertragen und dadurch 20—25000 belgische Bergleute zur Verwendung in deutschen Bergwerken frei zu machen; das Kriegsministerium forderte sogar die allmähliche Stillegung aller nicht für Kriegszwecke wichtigen belgischen Fabriken, „um durch die entstehende Arbeitslosigkeit die Bedingungen einer Abwanderung von Belgiern in die deutsche Industrie zu verbessern". Die Vertreter des Generalgouvernements versprachen das zu überlegen, stimmten aber nicht zu. So war die Zwangsdeportation noch einmal abgewendet, aber das Gedeihen der belgischen Wirtschaft von den Berliner Stellen für unwichtig erklärt. Großen Erfolg hatten aber auch die verstärkten Werbungen nicht: man erreichte bis Mitte September nur die Anwerbung von insgesamt 26000 belgischen Arbeitern 32 ). In Kreisen der deutschen Schwerindustrie lief das Gerücht um, daran sei wesentlich die bessere Ernährung der belgischen Arbeiterschaft infolge des amerikanischen Hilfswerkes schuld, und so erhob sich die Forderung, dessen Lebensmittel strenger zu rationieren 33 ). Neue Dringlichkeit gewann das Arbeiterproblem durch das „Hindenburgprogramm", und so wandte sich Ludendorff am 13. September an die beiden Generalgouvernements mit der Bitte, deutsche Arbeitskräfte in ihrem Dienstbereich möglichst nicht mehr zu beschäftigen und belgische (bzw. polnische) möglichst weitgehend auch außerhalb der Generalgouvernements „verfügbar zu machen", d. h. zunächst in Listen zu registrieren. Nötigenfalls müßten die Verpflegungssätze der Bevölkerung oder jedenfalls der Arbeitslosen auf dieselbe Höhe herabgesetzt werden wie die der leicht arbeitenden Arbeiter in Deutsch-

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land. Angesichts unserer Notlage müßten „alle sozialen und völkerrechtlichen Bedenken unbedingt zurückstehen". Hinter diesen Sätzen witterte Bissing sofort die alte, im Mai mit Mühe abgeschlagene Forderung des Kriegsministeriums nach Zwangsdeportationen und beeilte sich, sie unter Hinweis darauf abzuweisen, daß inzwischen von allen beteiligten Dienststellen anerkannt worden sei, man müsse „jeden mit der Haager Konvention 3 4 ) offensichtlich in Widerspruch stehenden Zwang vermeiden". Sein Schreiben zeigte deutlich seine schwere Besorgnis, ja Aufregung. Er sei durch seine Bestallung ausdrücklich auf die Haager Landkriegsordnung verpflichtet und müsse jede Zuwiderhandlung ablehnen, solange er nicht von Sr. Majestät dazu ermächtigt oder angewiesen würde. Vorher müsse aber auch der Reichskanzler gehört werden. Eine lückenlose Erfassung der etwa 700000 belgischen Arbeitslosen in Listen (er zählte wohl die weiblichen Arbeitskräfte mit) sei undurchführbar, ihre massenhafte Zwangsabführung nach Deutschland und erst recht zum Stellungsbau nach Nordfrankreich völkerrechtswidrig. Beides werde die schwersten Folgen haben: es könnten Unruhen, ja wohl gar Aufstände darüber ausbrechen, denen die schwachen Besatzungstruppen nicht gewachsen wären. Sicher würden die im Interesse des deutschen Militärs arbeitenden etwa 15 000 Mann die Arbeit niederlegen, wahrscheinlich auch die 140000 Arbeiter in den Kohlenbergwerken; die Tätigkeit der Commission for relief würde sofort aufhören mit sehr bösen Folgen. Überdies würden sich die Neutralen, ganz besonders das benachbarte Holland, aber auch Schweden, über die neue deutsche Völkerrechtsverletzung empören, und alle bösen Gerüchte über deutsche Mißwirtschaft in Belgien würden neue Nahrung finden. Schließlich bliebe die bedenkliche Maßnahme auch noch nutzlos: „Da ein Mittel, widerwillige Arbeiter zu zwingen, in einem Kulturstaat bisher noch nicht gebräuchlich geworden ist, so werden diese widerwilligen Arbeiter, die auch gar keine Qualitätsarbeiter sein werden, nur unnötige Esser, aber kein Ersatz für die fehlenden Arbeiter in Deutschland sein. Jedenfalls kann ich die Verantwortung f ü r die Folgen nicht übernehmen." Das war kräftig und deutlich gesprochen. Aber der Generaloberst muß wohl doch gefürchtet haben, daß es zuletzt vergeblich sein würde. Jedenfalls verwies er gleich zu Anfang auf seine Verfügung vom 15. Mai und auch auf einen neuen Erlaß, nach dem das „deutsche Industriebüro" die Namen solcher Leute verzeichnen und den Gouverneuren der belgisdien Verwaltungsbezirke nennen sollte, die sich, obwohl arbeitslos, weigerten, eine ihnen an-

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gebotene Arbeit anzunehmen. Die Gouverneure wären so in der Lage, „wirkungsvoller einzugreifen" und angewiesen, die Abschiebung „jedes Mal in kleineren Transporten" als „Maßregel zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit anzugeben". Bissing machte also von vornherein einen Kompromißvorschlag, der dann noch mehrfach diskutiert worden ist. Er lief darauf hinaus, die „Arbeitsscheuen" als eine Art von Strafgefangenen zu behandeln. Aufsässig gegen eine Verordnung des Generalgouvernements, waren sie gleichsam Aufrührer, bedrohten also die öffentliche Ordnung und konnten demgemäß „abgeschoben" werden zur Zwangsarbeit. Da sich das aber nicht in großem Maßstab durchführen ließ, sollte es — weniger auffällig — in „kleineren Transporten" geschehen, deren Durchführung man als „Sicherungsmaßnahme" angab. Welch eine Rabulistik! Und welcher Widerspruch zu Bissings eigener Feststellung, daß gerade von den Zwangsdeportationen (die doch nur in großem Maßstab ihren Zweck erfüllen konnten), die Gefahr des Aufruhrs, also die Störung „öffentlicher Ordnung" drohe! In seiner Aufregung und Besorgnis, das Schlimmste zu verhüten, hat so der Generalgouverneur selbst einen Weg gewiesen, auf dem sich die Hindernisse des Völkerrechts allenfalls umgehen ließen. Seine Unruhe war so groß, daß er, obwohl schwer herzleidend und betagt (73jährig), die 48stündige Fahrt von Brüssel nach Pless nicht scheute, um dort (am 19. September) seine Besorgnisse mündlich vorzutragen. Er stieß aber auf zähen Widerstand der O H L , die seinen fragwürdigen Kompromißvorschlag als „halbe Maßregel" ablehnte und seine Vorstellungen, die geplante Gewaltmaßnahme sei eines Kulturstaates nicht würdig, sehr kühl aufnahm: „Der ganze Krieg ist etwas Ungewöhnliches", hieß es in einer Niederschrift der O H L . Auch seine Abschiedsforderung blieb ohne Erfolg: der Kaiser verlangte von ihm, daß er im Amt bliebe. Schließlich scheint er sich mündlich mit Ludendorff auf eine Abschiebung der belgischen Wehrfähigen geeinigt zu haben, die man wenigstens listenmäßig erfassen konnte und deren Deportation sich als rein militärische Maßnahme frisieren ließ. Aber gleich nach der Rückkehr nach Brüssel zog er dieses Zugeständnis zurück, da sich herausstellte, daß der zwangsweise Einsatz Wehrfähiger als solcher in der Rüstungsindustrie völkerrechtlich erst recht unzulässig war. Die letzte Entscheidung sollte auf einer Konferenz aller beteiligten Ressorts am 28. September in Berlin fallen 35 ). Die Haltung der O H L war zweifellos mitbestimmt durch den Verlauf

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einer Konferenz des Kriegsministeriums mit Führern der Schwerindustrie, die am 16. September das „Hindenburgprogramm" beraten hatte. Hier war von den Industriekapitänen, vor allem von Geheimrat Duisberg f ü r die chemischen Werke, in höchst massiver Weise gefordert worden, „das große Menschenbassin Belgien zu ö f f n e n " und die Lebensmittelrationen der dort lebenden Arbeiter zu kürzen, damit die nach Deutschland Überführten nicht wieder wegliefen, wie es bisher geschehen sei. Walther Rathenau, Präsident der A E G und der Organisation der Kriegsrohstoffbeschaffung, stark beteiligt an der Ausplünderung Belgiens, hatte am selben Tage einen Brief an Ludendorff geschrieben, in dem es hieß: vordringlich sei, „die Lösung des belgischen Arbeiterproblems, das ohne Rücksicht auf internationale Prestigefragen nur dadurch bewältigt werden kann, daß die dort verfügbaren 700000 Arbeiter dem heimischen M a r k t zugeführt werden, auch wenn darüber das amerikanische Hilfswerk zugrunde geht 36 )". So mächtigen Strömungen gegenüber stand der Generalgouverneur von vornherein auf verlorenem Posten. In seiner Bedrängnis wandte er sich hilfesuchend an den Reichskanzler, der bisher noch gar nicht in Aktion getreten war. In einem langen, sehr bewegten Schreiben setzte er seine schweren Bedenken gegen die geplanten Massendeportationen auseinander. Sie würden vor der Welt „die gesamte belgische Frage in eindrucksvollster Form wieder aufrollen" und „an agitatorischer Wirkungskraft alles weit übertreffen", was bisher schon der Krieg in Belgien seit dem Überfall von 1914 angerichtet hätte. Viel ausführlicher und eindringlicher noch als in seinem früheren Schreiben malte er die außenpolitische Wirkung der Deportationen aus, die man im Lager der Feinde ebenso als Zeichen militärischer Schwäche wie als neuen Beweis deutscher Brutalität auslegen würde: Einstellung des Hilfswerks, Empörung der Neutralen, nicht zuletzt Amerikas. Vor allem würde die ganze bisherige Politik des Generalgouvernements in Belgien mit einem Schlage zusammenbrechen, wilder H a ß erneut aufflammen, Gewerkschaften und Kirchen in gefährliche Bewegung geraten. Mit besonderer Ausführlichkeit schilderte Bissing die bösen Folgen f ü r den Lieblingsplan des Kanzlers, seine Flamenpolitik, und für die künftige Haltung Belgiens gegenüber den deutschen Plänen wirtschaftlicher Vereinigung. Und das alles sollte aufs Spiel gesetzt werden um eines höchst zweifelhaften wirtschaftlichen Gewinnes willen, während doch in Wahrheit die belgische Arbeiterschaft mit viel größerem Nutzen in den belgischen Fabriken und Bergwerken zur Entlastung der deutschen Wirtschaft eingesetzt werden könnte!

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Wie reagierte der Reichskanzler auf diesen Hilferuf? Man sollte glauben, daß jetzt der Moment gekommen war, der es dringend nötig machte, mit Energie und staatsmännischer Klarheit die Bedürfnisse der Politik gegen alle Erwägungen der Rüstungsexperten und Wirtschaftsträume der Industriekapitäne durchzusetzen, ohne sich auf juristische Spitzfindigkeiten in der Auslegung der Haager Konvention einzulassen. Offensichtlich hat aber dazu Bethmann Hollweg die Härte des Willens, vielleicht auch die volle Klarheit staatsmännischer Einsicht gefehlt. In einer Randnotiz auf dem Schreiben Bissings hat er sich zwar „grundsätzlich mit der Abstandnahme von Zwangsmaßnahmen einverstanden" erklärt. Aber er hat die von Bissing eindringlich geschilderten Gefahren so wenig ernst genommen, daß er es vermied, in dieser wichtigen Frage eine eigene Initiative zu entwickeln und sich in die Beratungen der Militärs einzuschalten — mit der Folge, daß sie ihn auch diesmal ebenso überspielten wie im Juli 1914 und im Januar 1917. Es war immer dieselbe Unsicherheit des Zivilisten gegenüber dem Militärressort 37 ). Nur daß diesmal der an die Spitze einer großen Zivilverwaltung gestellte General sogar mehr politische Einsicht zeigte als der Leiter der Reichspolitik. Auf die von Bissing dargelegten politischen Bedenken ging das vorsichtig verklausulierte, erst am 7. Oktober unterzeichnete Antwortschreiben des Kanzlers, das er durch einen Juristen des Auswärtigen Amtes hatte entwerfen lassen, nur mit einer nichtssagenden Wendung ein: er „würdige in vollem Maße" die Bedenken des Generalgouverneurs. Aber er zog daraus nicht die Konsequenz der entschiedenen Ablehnung von Zwangsdeportationen nach Deutschland, sondern nur die, daß versucht werden müsse, die „nach den Erklärungen der Heeresverwaltung unumgänglich notwendigen belgischen Arbeitskräfte" durch Anwerbung freiwillig zu erhalten — also eine Selbstverständlichkeit. Im übrigen beschränkte er sich auf völkerrechtliche Erörterungen, auf die sich inzwischen auch die Beratung der Militärs ganz einseitig konzentriert hatte. Eine Besprechung zwischen Vertretern der O H L , des Kriegsministeriums, des Reichsamts des Innern, der beiden Generalgouvernements und des Auswärtigen Amtes, die am 28. September stattfand, hatte zu keinem klaren Ergebnis geführt, sondern nur den Gegensatz zwischen den Meinungen scharf hervortreten lassen. Dabei war die Frage, ob es praktischen Erfolg verspräche, belgische Arbeiter zur Zwangsarbeit nach Deutschland zu verschikken, überhaupt nicht zur Sprache gekommen, sondern immer nur, ob sich eine juristische Begründung für Zwangsarbeit finden ließe, die der Haager

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Konvention nicht allzu offensichtlich widerspräche. Der General von Sauberzweig (der schon früher als Militärgouverneur von Brüssel einen totalen Mangel an politischem Verständnis gezeigt und dadurch großes Unheil angerichtet hatte 38 )), forderte im Namen der O H L 200 000 belgische Arbeiter f ü r das Etappengebiet des Westens und berief sich auf das Recht der Besatzungsmacht, durch die Verschickung der Müßiggänger zur Zwangsarbeit f ü r „Ruhe und Ordnung" zu sorgen. Der Vertreter des Auswärtigen Amtes (von Ekkardt) zeigte sich schwankend in seinem Urteil, hatte aber kein Bedenken gegen den Einsatz belgischer Arbeiter im Etappengebiet. Oberstleutnant Bauer und der Vertreter des Kriegsministeriums, Oberst von Wrisberg, schlössen sich Sauberzweigs Forderungen an, während die Abgesandten des Generalgouvernements sie als völkerrechtswidrig entschieden verwarfen. Klar w a r am Ende der etwas wirren Diskussion nur soviel, daß keine Aussicht bestand, vom Generalgouvernement die Deportation von belgischen Arbeitern in das Etappengebiet, also direkt hinter der Frontlinie, zu erreichen; die Verschickung nach Deutschland wurde nur nebenbei erörtert. Es scheint, daß daraufhin die O H L sich entschlossen hat, die Arbeiterfrage in den Etappengebieten des Westens, die den Armeekommandos, nicht Bissing unterstanden, ohne weitere Mitwirkung und Befragung des Generalgouvernements allein zu regeln 39 ). Tatsächlich ist dort der zwangsweise Arbeitseinsatz der Zivilbevölkerung (auch von Frauen und Mädchen) für Straßen-, Bahn-, Baracken- und Stellungsbau bis zum Kriegsende mit großer Rücksichtslosigkeit durchgeführt worden; er hatte schon vorher in einzelnen Armeebezirken begonnen und dort teilweise (z. B. in Lille und Roubaix) zu aufruhrähnlichen Zuständen geführt. Nach dem Scheitern der Berliner großen Konferenz suchte nun Ludendorff durch zweiseitige Verhandlungen mit dem Generalgouvernement weiterzukommen und drängte in Brüssel auf konkrete Vorschläge für den Fall, daß die Arbeiteranwerbung kein genügendes Resultat ergeben würde. Bissing weigerte sich weiterhin standhaft, Zwangsdeportationen in das Etappengebiet zuzulassen, ließ sich aber in der Frage der Abschiebung von Arbeitern nach Deutschland mehr und mehr zum Rückzug drängen. Jedenfalls war in seiner Antwort von „jeweils kleinen Transporten" keine Rede mehr; er schien also bereit, auch große Massen von „Arbeitsscheuen" mit Hilfe seiner Verordnung vom 16. Mai nach Deutschland abschieben zu lassen. Seine Begründung, sie störten die Ordnung im okkupierten Gebiet und gefährdeten die Sicherheit der Besatzungstruppen, war offensichtlich nur eine juri-

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stisdie Fiktion. Denn eben erst auf der Berliner Besprechung hatte sein Verwaltungschef von Sandt erklärt, „von irgendeiner Bewegung, die nach Aufstand auch nur rieche", sei in Belgien keine Rede 40 ). Ludendorff seinerseits sorgte dafür, daß die neue Besprechung (am 6. Oktober), zu der die O H L zwei Offiziere nach Brüssel entsandte, nicht wieder im Sande verlief. Seine Vertreter forderten diesmal 200000 Arbeiter nicht f ü r die Etappe, sondern f ü r die deutsche Wirtschaft. Sie lehnten aber auch den Gedanken Bissings ab, die Arbeiter als „Strafgefangene" aufgrund der Verordnung vom 15. Mai nach Deutschland zu deportieren. Nach längerem H i n und Her, bei dem Bissing sich erneut gegen Abschiebungen in das Etappengebiet verwahrte und seinen Gewissenszwang betonte, wurde beschlossen, den Reichskanzler telegraphisch um Entscheidung über die Frage zu bitten, ob die nach Deutschland Abgeschobenen als Strafgefangene betrachtet und demgemäß zur Arbeit herangezogen werden dürften, was der Generalgouverneur persönlich bejahte. Das war ein sonderbarer Ausweg aus einer juristischen Klemme — um so sonderbarer, als doch Bissing gerade das Unmenschliche der Massendeportation scheute! Konnte man im Ernst daran denken, 200000 „Strafgefangene" nach Deutschland zu bringen? Wollte der Generalgouverneur nur die Verantwortung von seinen Schultern abwälzen und dem Reichskanzler zuschieben, dem sie ja auch von Rechts wegen letztlich zustand? Oder hoffte er immer noch, durch dessen Eingreifen um die Massenabschiebung herumzukommen und sich mit „jeweils kleineren Transporten" vom Kriegsgericht zur Zwangsarbeit Verurteilter begnügen zu dürfen — was dann vielleicht als Terrormaßnahme wirken und die Zahl der freiwilligen Meldungen verstärken konnte? Die Vertreter der O H L waren überzeugt, daß der Kanzler „Arbeitszwang in Deutschland f ü r unzulässig erklären" würde und daß General Bissing darauf auch hoffte. Das hinderte sie aber nicht, noch am selben Tage mit den Beamten des Generalgouvernements gewisse Einzelheiten f ü r den Fall von Massentransporten, aber auch f ü r die Verstärkung der Werbung zu verabreden. Beide Seiten werden überrascht gewesen sein, daß die Antwort des Kanzlers (am 9. Oktober) fast rein juristischer N a t u r war. Die Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes (Geheimrat Kriege) lieferte ein Meisterstück juristischer Dialektik: das Bissingsche System der Strafgefangenschaft wurde abgelehnt, aber ein Ausweg gezeigt, wie sich die Abschiebung „arbeitsscheuer Belgier" auch ohne Gerichtsurteil durchführen ließ, ohne das Völkerrecht gröblich zu verletzen — eine Argumentation, die seitdem vom Auswärtigen

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Amt streng festgehalten und auch in seinen Erwiderungen auf die Proteste des Auslands benutzt worden ist 41 ). Politische Erwägungen klangen nur sehr matt an: „Geplante Maßnahme muß mit Vorsicht ausgeführt werden, da entsprechende Maßnahme in Lille Vorstellungen des Papstes und Königs von Spanien zur Folge gehabt, auch die öffentliche Meinung in neutralem und feindlichen Ausland in bedenklichen Maße gegen uns erregt hat. Es wäre deshalb sehr zu begrüßen, wenn Maßnahme ohne Zwang oder wenigstens durch bloße Andeutung von Zwangsmaßnahmen — vielleicht durch Gewährung hoher Lohnsätze — durchgeführt werden könnte." Mit anderen Worten: statt durch energischen Eingriff das unmittelbar drohende Unheil zu verhüten, empfahl Bethmann Hollweg den Militärs „Vorsicht", bot ihnen aber gleichzeitig eine juristische Begründung für ihr Vorhaben und äußerte den frommen Wunsch, es möchte auch ohne Massendeportation abgehen. Was sollten nun die Ludendorff und Sauberzweig damit anfangen? Die weiteren Beratungen zwischen O H L , Kriegsministerium, Reichsamt des Innern und Reichskanzlei, die bis Ende Oktober fortgingen, brauchen wir hier nicht mehr zu verfolgen. Am 22. konnte General Sauberzweig in einer abschließenden Sitzung feststellen, daß alle Ressorts sich über die Arbeiterfrage einig wären: in Belgien sollten nur noch kriegswichtige Industrien fortgeführt, die Zivilbevölkerung zu gewissen Arbeiten für die Armee herangezogen, belgische Arbeitskräfte möglichst durch Anwerbung zu freiwilliger Arbeit, notfalls aber auch durch Zwang in großem Umfang nach Deutschland geschafft werden 42 ). General von Bissing erhob keinen Widerspruch mehr, und so begannen am 26. Oktober die Massendeportationen; im Etappengebiet hatten sie schon am 8. Oktober, also vor der Brüsseler Konferenz eingesetzt, und zwar gerade in Brügge, im Zentrum Flanderns! Ihre Durchführung litt, wie alle von der O H L ausgehenden Maßnahmen dieses Winters, unter übermäßiger Hast. Sie hätte, um zu gelingen, einer längeren Vorbereitung bedurft, vor allem einer sorgsamen Auswahl derjenigen Personen, die nachweislich seit längerem arbeitslos, von öffentlicher U n terstützung abhängig, arbeitskräftig und womöglich f ü r die Zwecke geschult waren, f ü r die sie gebraucht wurden. N u n verweigerten aber die belgischen Ortsbehörden hartnäckig die Auslieferung von Listen der Arbeitslosen, teils deshalb, weil sie gar keine besaßen, zum größten Teil aber aus patriotischen Gründen. Auch Terrorakte, wie das Einsperren von Bürgermeistern und Schöffen, führten nicht zum Ziel, und das Comité National war durch inter-

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nationale Abmachungen geschützt. Die Folge war an den meisten Orten ein sehr brutales Verfahren, das aber in seinen Grundzügen auf Weisungen des Generalgouvernements zurückging. Der Ortskommandant rief die ganze männliche Bevölkerung eines Ortes oder Bezirks vom 17. Lebensjahr an ohne Altersgrenze zu einer „Kontrollversammlung" ein. Dort wurden solche Personen ausgeschieden, die wegen ihres Standes (als Geistliche, Rechtsanwälte, Ärzte oder Lehrer) oder wegen offensichtlicher körperlicher Mängel als unbrauchbar erschienen. Auch solche Arbeiter, die nachweisen konnten, daß sie in irgendeinem Betrieb voll und auf längere Zeit beschäftigt waren, besonders in solchen, die „im deutschen Interesse arbeiteten", sollten zurückgestellt werden. Alle anderen wurden aufgefordert, sich zu freiwilliger Arbeit in Deutschland zu melden. Wer sich weigerte, wurde ohne weiteres abgeführt, in einen bereitstehenden Güterzug (oft Viehwagen) verladen und unter militärischer Bewachung nach Deutschland abtransportiert. So sollten auf Verlangen des Groenerschen Kriegsamtes wöchentlich zunächst 8 000 Mann, später mehr, in deutsche Sammelstellen gebracht werden, die i. A. freigemachte Lager für Kriegsgefangene waren, aber nicht „Konzentrationslager", sondern „Unterkunftsstätten" genannt wurden. Von diesen Lagern wurden diejenigen, die sich auch jetzt noch nicht für freiwillige Arbeit gewinnen ließen, täglich zum Arbeitsplatz unter militärischer Bewachung abgeführt und wieder zurückgebracht. Das Ganze wirkte wie ein regelrechter Sklavenmarkt und Sklaventransport — eine Tatsache, an der auch Milderungen des Verfahrens durch einzelne wohlwollende Ortskommandanten nichts ändern konnten 43 ). Den schauderhaften Eindruck auf die Bevölkerung, die Verzweiflung der Zurückbleibenden, vielfach ohne Abschied verlassenen Familien brauchen wir nicht erst zu schildern, ebensowenig die Leiden der Abtransportierten, die oft ohne warme Kleidung und Unterkleidung und ohne alles Gepäck abgeführt wurden, auf endlosen Fahrten in Güter- oder Viehwagen während eines besonders naßkalten Winters und bei dürftiger Verpflegung massenhaft erkrankten und ihre Lagerbaracken in körperlich und seelisch vielfach trostlosem Zustand erreichten. Die Auswahl der Personen war mit solcher Hast erfolgt, daß zahlreiche Mißgriffe vorkamen: auch Vollbeschäftigte wurden abtransportiert, vereinzelt sogar höhere Beamte und (angeblich) über tausend Angestellte des amerikanischen Hilfswerks 4 4 ), viele Jugendliche bis zu 15 Jahren herab und einzelne Amputierte mit nur einem Bein. Der Bericht, den eine militärisch-medizinische Untersuchungskommission des Kriegsmini-

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steriums im März 1917 von ihrer Inspektion der Lager lieferte, wirkt erschütternd. Sie stellte fest, daß nach Auskunft der Lageroffiziere die Deportierten schon bei der A n k u n f t „größtenteils einen körperlich minderwertigen Eindruck gemacht hätten", „eine ganz beträchtliche Anzahl" völlig arbeitsuntauglich gewesen sei. Schuld daran war, daß man anfangs keine ärztliche Untersuchung der Abzuschiebenden vorgenommen hatte; später war das geändert worden, und in Brüssel hatten die Ärzte (wohl auch aus humanem Mitgefühl) von 1200 Mann nur 360 für arbeitsfähig erklärt. Bis zum Ende der Deportationen (10. Februar) waren im ganzen 61000—62000 Mann überführt worden. 17433 hatte man zurückgeschickt, davon 4283 Reklamierte und 13150 Arbeitsunfähige. Im Lager oder in Krankenhäusern der Industrie waren 816 gestorben, die meisten an Lungenentzündung, Herzschwäche oder Tuberkulose 45 ). Der praktische Gewinn f ü r die deutsche Wirtschaft war ganz gering im Vergleich mit dem politischen Schaden, den die Deportationen anrichteten. Erfolgreich waren sie nur insofern, als immerhin viele Belgier, um sich dem unerträglichen Lagerleben und seiner schlechten Kost zu entziehen, sich nun doch zum Abschluß von „freiwilligen" Arbeitsverträgen bereit erklärten 4 8 ). Einmal der Absperrung entronnen, in gutmütigen deutschen Familien untergebracht und gut entlohnt, scheinen viele dieser Arbeiter sich auch in die neue Lage gut eingewöhnt zu haben. Wo aber reiner Zwang herrschte, wurde natürlich auch sehr wenig geleistet. Von Anfang zeigten denn auch die deutschen Unternehmer geringe Neigung, sich aus den Lagern ausländische Arbeiter zu holen, von denen sie nachher Widerwillen, Aufsässigkeit, womöglich Sabotageakte zu befürchten hatten. Es machte einen üblen Eindruck, daß man die Deportierten zum großen Teil wochenlang in den Lagern behalten mußte, weil sich keine Arbeitsgelegenheit f ü r sie fand. Anfang Dezember wurde amtlich berichtet, daß von den bis dahin deportierten 40 000 Arbeitern nur ein Fünftel in Arbeit stünde, vier Fünftel in den Lagern herumsäßen 47 ). Die Organisation des Kriegsamtes hatte also vollkommen versagt. Politisch traten nicht alle die bösen Folgen ein, die Bissing vorausgesagt hatte: es gab keine Arbeiteraufstände, keine Generalstreiks, zunächst auch keinen Abbruch des amerikanischen Hilfswerks, dessen weitere Durchführung allerdings durch den unbeschränkten U-Boot-Krieg sehr erschwert, ja fast unmöglich gemacht wurde. Aber der deutsche N a m e geriet nun vollends in Verruf, und die Welt fand das Schreckbild des preußisch-deutschen Mili-

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tarismus aufs neue bestätigt. Es hagelte diplomatische Proteste der Neutralen aus Spanien, der Schweiz, Holland, der päpstlichen Kurie, vor allem aus Amerika, w o man den mündlichen Vorstellungen bald eine Protestnote folgen ließ. Wie schwer das deutsch-amerikanische Verhältnis und damit die geplante Friedensaktion der Mittelmächte durch diese allgemeine Empörung bedroht war, scheinen der Reichskanzler und das Auswärtige Amt erst nach und nach begriffen zu haben. Freilich konnte Bethmann die Militärs nicht vor aller Welt desavouieren - dies um so weniger, als er ja selbst an ihren Maßnahmen nicht unbeteiligt war! Er begnügte sich also, sie als völkerrechtlich zulässig und militärisch-politisch notwendig zu verteidigen, unter anderem auch durch Hinweise auf die Verschleppung der Bevölkerung Ostpreußens durch die Russen, gegen die kein Neutraler protestiert habe. Die Abstellung der gröbsten Mißgriffe wurde versprochen und auch nach und nach durchgeführt. Arbeitsunfähige wurden zu vielen Tausenden heimgesandt; die Auswahl in Belgien wurde ärztlich überwacht. Der Kanzler hat sofort seine Zustimmung erteilt, als die Amerikaner die Freigabe einer Inspektion der „Unterkunftsstätten" durch neutrale Kommissionen forderten. Gegen den Nahrungs- und Kohlenmangel des „Kohlrübenwinters", der die Zustände in den Lagern so verschlimmerte, war freilich auch er ohnmächtig. In Belgien f a n d die allgemeine Volkserregung viele Sprecher: den spanischen Gesandten Marquis Villalobar, der als Vertreter der Schutzmacht die belgischen Beschwerden weitergab, viele Kommunalbehörden, die sich auch durch Verhaftungen nicht schrecken ließen, vor allem den katholischen Klerus und seine Bischöfe unter Führung des Erzbischofs von Mecheln, Kardinal Mercier. Deren Eingaben und kirchliche Kundgebungen fanden naturgemäß Unterstützung durch die päpstliche Kurie; aber auch der deutsche Episkopat wurde unruhig, und der Kölner K a r d i n a l Erzbischof Hartmann trug seine Besorgnisse dem Kanzler mündlich vor. Schließlich war man auch in Wien schwer besorgt, zumal der österreichische Kommissar beim Generalgouvernement, Baron Frankenstein, sehr kritische Berichte über die „überstürzte und höchst unglückliche" Methode der deutschen Arbeiteraushebungen sandte, hinter denen er die „derbe und unpolitische H a n d " des Generals von Sauberzweig vermutete. Er wußte die „bis zum Rotglühen angefachte" Erbitterung der Belgier lebhaft zu schildern. Der Botschafter Hohenlohe erhob Vorstellungen beim Auswärtigen Amt, f a n d viel Verständnis dafür, aber auch viel Unsicherheit gegenüber der O H L , die man nicht öffentlich ins Unrecht setzen dürfe 4 8 ).

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Generaloberst von Bissing, durch das Scheitern seiner Belgienpolitik seelisch tief erschüttert, war seit Weihnachten durch eine schwere Kriegsgrippe in seiner Aktionsfähigkeit schwer gelähmt. E r ist im April 1917 gestorben. An seiner Stelle bemühte sich aber der Leiter des politischen Amtes im Generalgouvernement, Gesandter von der Lancken, dem Unheil nach Möglichkeit zu steuern. Im Januar 1917 wurde der neugebildete „Rat von Flandern", der auch seine Volkstumspolitik hoffnungslos scheitern sah, wenn die Deportationen nicht aufhörten, bei ihm vorstellig, er möge sich f ü r die Rückbeförderung der Deportierten nach ihrer Heimat einsetzen 49 ). Besprechungen darüber mit General Groener, dem Leiter des Kriegsamts, blieben erfolglos. Im Februar wurden in Belgien Unterschriften gesammelt für eine von Kardinal Mercier und anderen namhaften Persönlichkeiten geplante Kundgebung belgischer Intellektueller, in der diese „vor der gesamten gesitteten Welt" gegen die Sklavenjagd in Belgien protestieren sollten. Von der Lancken verabredete mit Villalobar, daß dieser dem Kardinal zureden sollte, der Kundgebung lieber die Form eines Bittgesuches an Wilhelm II. zu geben. Der Kardinal erklärte sich dazu nur dann bereit, wenn ihm Lancken bestimmt versichern könne, daß er keine Abweisung erfahren würde. Mit bemerkenswertem Mut hat sich daraufhin der deutsche Diplomat auf den Weg ins Hauptquartier gemacht, um zunächst die Zustimmung Ludendorffs zu erwirken, die ihm vom Auswärtigen Amt als unerläßlich bezeichnet wurde. Es gelang ihm (am 20. Februar), den allmächtigen General unter vier Augen, d. h. ohne Anwesenheit seiner Referenten, der „Halbgötter" des Hauptquartiers, zu sprechen. Zu seiner Überraschung ließ sich Ludendorff ohne viel Mühe davon überzeugen, daß die große Arbeiteraktion ein Fehlschlag w a r und schleunigst abgebaut werden müsse. So berichtet von der Lancken. Es liegt aber Anlaß vor zu glauben, daß dem General der praktische Mißerfolg schon lange vorher klar geworden war 5 0 ). So ließ er das Unternehmen jetzt ebenso rasch fallen wie kurz vorher die Aufstellung einer polnischen Armee. Tatsächlich hatten die Deportationen schon am 10. Februar aufgehört. Es ist bezeichnend f ü r die Machtverhältnisse im Hauptquartier, daß daraufhin von der Lancken sogleich beruhigt abreisen und dem Kardinal Mercier, ohne den Kaiser selbst gesprochen zu haben, versichern konnte, dieser werde befehlen, daß alle zu Unrecht nach Deutschland überführten Personen sofort zurückkehren könnten und weitere Zwangsdeportationen unterbleiben würden. Die daraufhin umrevidierte Eingabe belgischer Intellektu-

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Neuntes Kapitel II

eller wurde von ihm selbst dem Kaiser eingereicht und hatte vollen Erfolg. Der kaiserliche Bescheid war in der Form so gehalten, daß nur eine genaue „Untersuchung" versprochen wurde und bis zu deren Ergebnis die Abschiebungen sistiert werden sollten. Tatsächlich sind aber nicht nur die „zu U n recht Abgeschobenen", sondern alle belgischen Arbeiter im Lauf der nächsten Monate heimgeschickt worden (natürlich in möglichst unauffälligen „kleineren" Transporten), soweit sie nicht von sich aus die Arbeit in Deutschland fortzusetzen wünschten 51 ). Als Abschluß oder Nachspiel dieser Tragödie läßt sich der Briefwechsel betrachten, den Generaloberst von Bissing und Ludendorff nach der Audienz Lanckes miteinander führten. Bissing sprach dem mächtigen Gegenspieler am 22. Februar seinen Dank aus für dessen Entgegenkommen, betonte erneut die Selbständigkeit seiner Verantwortung und erbat (in umschreibenden Worten) die Einstellung der Zwangsdeportationen auch im Etappengebiet. Ludendorff suchte am 3. März in einer langen Erwiderung nachzuweisen, daß nicht er bzw. die OHL, sondern das Kriegsministerium den Gedanken der Massenabschiebungen aufgebracht, die Industrie sie lebhaft gefordert, das Generalgouvernement die Zahl mit Vertretern der Industrie verabredet habe. Die O H L habe die Forderung der Industrie zwar ganz im allgemeinen kräftig unterstützt, sei aber weder f ü r die Zahl noch f ü r die Eile der Durchführung noch für die dabei vorgekommenen Mißgriffe verantwortlich. Im übrigen sei die Steigerung von freiwilligen Anmeldungen von Belgiern zur Arbeit unter dem Druck der Deportationen nach Deutschland ein schöner Erfolg 5 2 ). Es war also alles in bester Ordnung. Auf den Wunsch nach Einwirkung auf die Etappengebiete ging Ludendorff mit keinem Worte ein. Tatsächlich wurden dort nach wie vor etwa 60000 Menschen zur Zwangsarbeit herangezogen. Und seit Frühjahr 1917 begann ein systematischer Abbau der belgischen Industrie mit Wegführung alles für die Deutschen brauchbaren Materials. In einem Schreiben an den Reichskanzler vom 11. März erklärte Hindenburg: bisher habe er das Ziel verfolgt, Belgiens Friedensbedürfnis durch Ausbeutung so zu steigern, daß die Regierung in Le Havre zum Frieden gezwungen werde. Das sei angesichts der von Bethmann betriebenen Vlamenpolitik nicht mehr möglich; dennoch müsse Belgien auch jetzt wirtschaftlich mehr geschwächt werden, als das deutsche Volk es durch den Krieg sei; denn nur so könne es von Deutschland abhängig gehalten werden. 53 ) Das war „Militarismus" in Reinkultur.

10. K a p i t e l

ERLAHMEN DES KAMPFWILLENS IN ÖSTERREICH DIE PRINZ-SIXTUS-AFFÄRE

Erster

Kaiser Karl und die

Abschnitt

Bourbonen-Prinzen

Während Deutschland sich mühte, durch restlose Heranziehung aller Menschenreserven zum Militärdienst und zur Rüstungsarbeit seine K a m p f k r a f t noch einmal zu steigern und durch rücksichtslose Ausbeutung der besetzten Gebiete das Absinken seines Wirtschaftspotentials hinauszuzögern, schwand die Kampffähigkeit seiner Bundesgenossen rasch dahin. Am sichtbarsten war das in der Türkei der Fall, die seit dem Spätjahr 1916 nur noch mühsam gegen den Zerfall ihres Reiches ankämpfte. Seit dem endgültigen Scheitern ihres Vorstoßes an den Suezkanal (Anfang August 1916) drängten die Engländer Schritt für Schritt gegen Palästina vor, unterstützt durch Aufstände arabischer Stämme, vor allem aber durch Bahnbauten und Wasserleitungen zur Überbrückung der Wüsten. Im Sommer 1916 war ganz Armenien an die Russen verloren gegangen; seitdem hatten sich K ä m p f e in Persien entwickelt, die einen beträchtlichen Teil der asiatischen Kampftruppen der Türkei in Anspruch nahmen und diese hinderten, rechtzeitig auf dem entscheidenden K a m p f p l a t z zur Stelle zu sein: im Irak. So gelang es den Engländern im März 1917, das große politische, wirtschaftliche und militärische Zentrum Bagdad zu erobern und dadurch ihre Niederlage von Kut-El-Amara im Vorjahr mehr als wettzumachen. Den türkischen Verteidigern fehlte es an allen asiatischen Fronten bedenklich an Mannschaftsersatz, technischer Ausrüstung und Munition, und nur der unerhörten Leidensfähigkeit, Bedürfnislosigkeit, aber auch Tapferkeit des türkischen Soldaten war es zu verdanken, daß diese dünne Front überhaupt noch hielt. Schuld an diesem Zustande war nicht zuletzt die Tatsache, daß die türkische Heeresleitung nicht weniger als sieben gut ausgerüstete Divisionen ihren

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Zehntes Kapitel I

europäischen Verbündeten zur Verfügung gestellt hatte: an der galizischen, rumänischen und mazedonischen Front. Das Hauptmotiv dafür war ein politisches gewesen. Man war sich in Stambul im klaren darüber, daß die eigentliche Entscheidung über das Schicksal der Türkei auf den Schlachtfeldern Europas, nicht Asiens fallen würde, suchte also im Moment der höchsten Gefahr (als Rumänien in den Krieg eintrat) die wankende österreichische und die schwer bedrohte bulgarische Front zu stützen, vor allem aber die Zentralmächte moralisch so eng als irgend möglich sich zu verpflichten. In einem zusätzlichen Bündnisvertrag, der aufgrund der türkischen Militärhilfe mit Deutschland am 28. September 1916 abgeschlossen wurde, verpflichteten sich die beiden Staaten nicht nur gegenseitig, keinen Sonderfrieden zu schließen, sondern auch — in verklausulierter Form — beim Friedensschluß jeden Vorteil, den einer von ihnen besäße, auch dem andern zugute kommen zu lassen. Das hieß praktisch: Deutschland sollte die großen, von ihm besetzten feindlichen Gebiete dazu benutzen, um womöglich damit die Rückgabe verlorener Gebiete der Türkei zu erkaufen, an deren militärische Rückeroberung praktisch nicht zu denken war 1 ). Mit anderen Worten: die Türkei hatte nun einmal ihr Schicksal ganz und gar an das Deutschlands gekettet, vertraute fest auf dessen Endsieg und versprach, auch weiterhin jedes Angebot eines Sonderfriedens von sehen der Entente abzuweisen; aber sie wollte dafür teilhaben am Gewinn des äußerlich so eindrucksvollen militärischen Erfolgs der Verbündeten, seiner territorialen „Faustpfänder". Die deutsche Regierung ließ sich in der Notlage des Herbstes 1916 den Türken gegenüber auf eine solche Verpflichtung ein, die sie gleich darauf, nach Uberwindung der rumänischen Krise, dem österreichischen Bundesgenossen verweigerte, wie wir schon hörten. (Oben Kap. 7 zu Anm. 7.) Freilich geschah das in einer etwas vagen Form und mit dem inneren Vorbehalt, die Durchführung des Versprechens notfalls f ü r unmöglich zu erklären 2 ). Aber die Türken haben den Vertrag ganz ernst genommen. Sie blieben ihm unbedingt treu, als die englische Regierung, schwer bedrängt durch den U-Boot-Krieg und in dem dringenden Wunsch, ihre militärischen Transporte im Mittelmeer einstellen zu können, seit Ende April auf verschiedenen Wegen Friedensfühler ausstreckte: durch Agenten und diplomatische Vertreter in der Schweiz, auch solche Frankreichs, die sehr verlokkend klingende Angebote eines Sonderfriedens machten. Die türkische Diplomatie wies nicht nur alles zurück, was ihr zugetragen wurde, sondern meldete es auch jedesmal sofort beiden Verbündeten — natürlich mit der Neben-

Kaiser Karl u n d die B o u r b o n e n - P r i n z e n

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absieht, für solche Beweise der Bundestreue auch belohnt zu werden, vor allem durch die Unterstützung gegen die unersättlichen Begehrlichkeiten der Bulgaren. Auch das Erlahmen des russischen Gegners im Sommer 1917 hat an dieser Haltung der Türken nichts geändert 3 ). Bulgarien befand sich nach den großen Erfolgen des serbischen und des rumänischen Feldzuges in der glücklichen Lage, militärisch alles erreicht zu haben, was man sich gewünscht hatte. Sein Bündnisvertrag sicherte ihm starken Landgewinn zu, und an der Fortsetzung des Krieges war es nur noch insofern interessiert, als natürlich der Enderfolg der Mittelmächte Voraussetzung für die Verwirklichung auch der bulgarischen Kriegsziele war. Die Maßlosigkeit dieser Ziele, besonders der Ansprüche auf serbisches und rumänisches Gebiet, erschwerte jeden Versuch eines Verständigungsfriedens und ließ spätere Reibungen voraussehen. Aber sie machte auch ein Absprengen dieses Verbündeten durch Angebote der Entente unwahrscheinlich, jedenfalls so lange, als Expeditionsheere der Entente in Saloniki das Land noch weiterhin von Süden her bedrohten. General Ludendorff fand deshalb, die Entente tue uns durch ihre Saloniki-Expedition geradezu einen Gefallen, indem sie Bulgariens Abfall verhindere 4 ). Im Gegensatz zur Haltung der beiden schwächsten Bündnispartner Deutschlands geriet die Bündnistreue seines Hauptalliierten Österreich-Ungarn im Frühjahr 1917 bedenklich ins Schwanken. Der entscheidende Grund d a f ü r waren nicht so sehr wirtschaftliche Bedrängnisse und militärische Schwächen der Monarchie wie politische Sorgen und Wünsche ihrer Regierenden. Natürlich war die wirtschaftliche Lage der Österreicher am Ende des „Kohlrübenwinters" sehr schlecht — noch schlechter als in Deutschland infolge einer mangelhaft funktionierenden Verwaltung und der (bis Frühjahr 1917) rücksichtslosen Absperrung der Zufuhr agrarischer Produkte aus dem viel besser versorgten Ungarn. Jedenfalls wurden sie hier noch bitterer empfunden, und es hat auch nicht an regelrechten Hungerrevolten gefehlt; aber diese Krise wurde durch ungarische und rumänische Zufuhren schließlich doch überwunden. Von dem Zerfall militärischer Disziplin in großen Teilen der vielsprachigen Armee und den vielen Schwächen ihrer Organisation und Ausrüstung hörten wir schon früher; nach ihren ungeheuren Menschenverlusten in den russischen Kampfgebieten im Sommer und Herbst 1916 machte die Frage des Mannschaftsersatzes noch viel größere Sorgen als in Deutschland. Aber dafür war die Österreich-ungarische Front 1917 auch an keiner Stelle mehr ernstlich bedroht: seit dem Sturz des Zaren am 15. März und im

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Fortgang der Revolution löste sich die K a m p f k r a f t des russischen Heeres mehr und mehr auf, und über die inneren Zustände des italienischen Heeres urteilte dessen eigener Befehlshaber, General Cadorna, äußerst skeptisch. Als er sich nach langem Zögern auf Drängen der Westmächte zu einer neuen, 10. Durchbruchsoffensive am Isonzo entschloß, blieb sie ebenso erfolglos wie alle früheren. Aber schon lange vorher hatte Kaiser Karl geheime Friedensverhandlungen mit den Westmächten eingeleitet, die er vor seinen deutschen Verbündeten völlig geheimhielt und in die er sogar seinen Außenminister Grafen Czernin nur sehr unvollkommen einweihte. Karl ist der Typus des fürstlichen Dilettanten: ein junger Kavallerieoffizier, der, ohne jede Schulung und Erfahrung in Fragen der Politik und Verwaltung in sein hohes Amt gelangt, sich sogleich alles zutraut und den Ehrgeiz hat, auch ohne erfahrene Berater auszukommen, sofern diese ihm durch fachliche Autorität und Eigenwillen unbequem sind. Er hat gleich in den ersten Monaten seiner Regierung die meisten hohen Amtsträger seines Reiches gewechselt. Das Oberkommando des Heeres nahm er in eigene H ä n d e und entließ Erzherzog Friedrich in ziemlich rücksichtsloser Form. Tatsächlich aber war er weder imstande noch arbeitseifrig genug, um den regelmäßigen Gang einer so großen Behörde zu sichern, so daß diese in Unordnung geriet. Der Generalstabschef Conrad wurde als „bockbeinig" empfunden und Ende Februar an die Front versetzt. Sein Nachfolger wurde der geschmeidige General Arz von Straussenberg, ein tüchtiger Offizier ohne überragende Begabung, der sich streng auf seine fachmilitärischen Aufgaben beschränkte. Der fähige, aber eigenwillige Ministerpräsident Koerber erhielt ebenfalls seinen Abschied, um in raschem Wechsel durch Minister ersetzt zu werden, die mehr Höflinge als Staatsmänner waren; die letzte selbständige und bedeutende Persönlichkeit der Regierung, Graf Stefan Tisza, wurde im Mai 1917 entlassen und ebenfalls durch rasch wechselnde Nachfolger von unvergleichlich geringerem Format abgelöst. Der junge Herrscher hatte seit seiner Thronbesteigung nur den einen Ehrgeiz: sich als humanitär gesinnter Friedenskaiser populär zu machen und den Krieg möglichst rasch zu Ende zu bringen. Man muß anerkennen, daß er als Regent des Vielvölkerstaates an der Donau dazu besonders dringenden Anlaß hatte, seit die Antwort der Entente auf die Friedensvermittlung Wilsons am 10. Januar die „Befreiung" der nicht-deutschen Nationalitäten des Habsburger Staates öffentlich proklamiert und damit praktisch dessen Auf-

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lösung zum Kampfziel erklärt hatte. Aber die Mittel, mit denen Karl sein Ziel verfolgte, waren ebenso dilettantisch wie leichtfertig. Schon ehe die Antwort der Entente auf das Friedensangebot der Mittelmächte vom 12. Dezember eingetroffen war, schickte er den deutschen Verbindungsoffizier am Wiener Kaiserhof, General Cramon, mit einem zweiten Friedensvorschlag nach Pless, wo er natürlich ebenso von Wilhelm II. wie von der O H L abgewiesen wurde — was ihn und die Damen seiner Umgebung zur Empörung über deutschen Militarismus trieb 5 ). Ein schwacher Charakter, wurde er in so hohem Maße von seiner Gattin, Kaiserin Zita aus dem Hause Bourbon und seiner Schwiegermutter, der Herzogin von Parma, beherrscht, daß in höheren Offizierskreisen der Armee das Spottwort umlief: alle wichtigen Entscheidungen in Heer und Staat würden jetzt im Schlafzimmer des Schlosses Baden getroffen. Diese weiblichen Einflüsse führten gelegentlich zu ebenso wohlgemeinten wie unbedachten militärischen Befehlen: etwa zu dem Verbot, Fliegerbomben hinter der feindlichen Front ohne besondere kaiserliche Genehmigung abzuwerfen, oder feindliche Flieger mit Brandmunition zu bekämpfen. Vor allem führten sie zu dem Entschluß, heimlich durch seine bourbonischen Schwäger, Offiziere der belgischen Armee und glühende f r a n zösische Patrioten, Frankreich und England den Friedensschluß anzubieten. Dabei spielte auch die Eifersucht auf Deutschlands überlegene Macht und der Wunsch, sich aus der Abhängigkeit von ihm zu lösen, eine wichtige Rolle. Mit den bourbonischen Schwägern hatte Karl schon als Thronfolger sich über dieses Thema unterhalten: im August 1914, als die beiden Prinzen auf der Durchreise durch Österreich vom Kriegsausbruch überrascht wurden. Man war sich damals einig darüber gewesen, daß nur eine künftige Allianz mit Frankreich der Donaumonarchie die nötige Bewegungsfreiheit verschaffen und sie aus dem Druck der „preußischen" Allianz befreien könne 6 ). Von dieser Grundhaltung scheint sich Karl auch als Kaiser nicht gelöst zu haben. Jedenfalls protestierte er im Mai 1917 in einem Schreiben an Czernin heftig gegen jeden Gedanken, Österreich durch wirtschaftliche Abmachungen enger an Deutschland zu binden — also gegen „Mitteleuropapläne", wie wir sie schon von 1916 her kennen (s. o. Kap. 4). Es handle sich bei diesen Bemühungen, erklärte Karl, nur um einen Versuch der Hohenzollern, „Österreich in völlige Abhängigkeit von Deutschland zu bringen". Bismarck habe wohl gewußt, was er tat, als er sich nicht damit begnügte, den Staat der Habsburger aus Deutschland herauszuwerfen, sondern auch noch den Dreibund mit Italien schloß. Er wollte „unsern Todfeind Italien stärken, uns zwingen,

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seinen die Großmachtstellung der Habsburger Monarchie gefährdenden und zersetzenden Einfluß auf unsere Italiener zu dulden und uns auf friedlichem Wege oder durch einen gemeinsamen Krieg gänzlich in Deutschlands militärische und wirtschaftliche Abhängigkeit bringen". „Militärisch arbeiten sie immer weiter, uns zu knechten." Daher die Durchsetzung unserer „herrlichen Armee" mit preußischen Offizieren und die Oberste Leitung der verbündeten Heere durch den deutschen Kaiser! Das hat im Ausland „die Idee erweckt, daß Österreich gänzlich unter Preußens Einfluß stünde, was natürlich nicht zur Beschleunigung des Friedens beitrug. Ein eklatanter militärischer Sieg Deutschlands wäre unser Ruin". W i r müssen also den Frieden „ä l'amiable auf dem status quo" suchen; dann „hätten wir es mit den Westmächten, die eigentlich gar nicht unsere Feinde sind, nicht ganz verdorben. Dies müssen wir erreichen, und wir dürfen, ohne Italien zu spielen, nichts versäumen, was uns auch eventuell gegen den Willen Deutschlands zum Frieden im oben angedeuteten Sinne bringt 7 ). Das heißt doch wohl: nicht offener Bündnisbruch (wie ihn Italien verübt hatte), aber Herbeiführung eines Friedens „eventuell auch gegen den Willen Deutschlands". Ob man das „Sonderfrieden" nennen will oder nicht, ist schließlich nur eine Frage der Bezeichnung. Es bedeutet jedenfalls den Entschluß, auch dann Frieden zu schließen, wenn der Verbündete weiterkämpfen will. Karls bourbonischer Schwager, Prinz Sixtus, hat seine Absicht niemals anders verstanden, hat niemals in anderem Sinn mit ihm verhandelt und ihm keinen Zweifel darüber gelassen, daß die Westmächte, wenn überhaupt, dann nur mit Österreich allein Frieden machen, Deutschland dagegen unter allen Umständen völlig niederschlagen wollten. Das hat den Kaiser in seinem Vorhaben nicht beirrt. Übrigens scheint die erste Anknüpfung mit den beiden Prinzen nicht von ihm selbst ausgegangen zu sein, sondern von seiner Schwiegermutter, der Herzogin von Parma, die schon seit Anfang Dezember ein Treffen mit ihren Söhnen Sixtus und Xavier in der Schweiz betrieb. Er selbst hat noch am 12. Januar in einer Sitzung des gemeinsamen Ministerrates angeregt, eine Verständigung mit Rußland zu suchen, „da man zu den westlichen Ententemächten kaum Anschluß finden werde 8 )". Aber er muß dann rasch anderen Sinnes geworden sein; denn als sich die Herzogin am 29. Januar mit ihren Söhnen in der Schweiz (damals einem Tummelplatz unzähliger Agenten, Spione, Unterhändler und Politiker der kämpfenden Nationen) zusammentraf, überbrachte sie ihnen bereits eine dringende Einladung nach Österreich zu

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geheimen Friedensbesprechungen. Was Sixtus als vorläufige Grundlage solcher Beratungen nach Wien antworten ließ (ohne Vorbesprechung mit irgendeinem Staatsmann der Westmächte), trug ganz den Charakter fürstlicher Amateurdiplomatie: es gab einfach wieder, was ihm als Friedenswunsch Frankreichs bekannt w a r : Rückgabe Elsaß-Lothringens, und zwar in den Grenzen von 1814, also einschließlich des Saarlandes und Landaus, ohne koloniale Entschädigung Deutschlands oder anderen Gebietsaustausch, Wiederherstellung Belgiens, das seine Kongo-Kolonie behält, und Serbiens, das eventuell durch Albanien vergrößert werden soll, schließlich Preisgabe K o n stantinopels an die Russen. Diese vier Punkte sind auch weiterhin die Grundlage der Verhandlungen geblieben. Uber Frankreichs Allianzverträge war der Prinz offenbar nicht orientiert, sonst hätte er wohl kaum darauf verzichtet, Italien, Rumänien, Polen und die künftige deutsche Ostgrenze überhaupt zu erwähnen. Seine erste Orientierung auf dem französischen Außenministerium erfolgte am 11. Februar durch den Generalsekretär Jules C a m bon, der ihm (wenn man dem Bericht des Bourbonen glauben darf) vorlog, inzwischen sei schon ein geheimes deutsches Friedensangebot eingelaufen, das rücksichtslos die Interessen Österreichs an Italien, Rußland, Rumänien und Serbien preisgäbe, um sich dadurch eigene Opfer an der Westfront zu ersparen. Kaiser K a r l müsse sich also sehr beeilen, um seinem ungetreuen Bundesgenossen zuvorzukommen; er sollte Wilhelm II. mitteilen, daß er die W a f f e n zu einem bestimmten D a t u m niederlegen würde. Man würde auf seiten der Entente seine Unterschrift respektieren (was wohl heißen sollte: auch ohne Mitzeichnung seines Ministers), aber Elsaß-Lothringen müßte vollständig und ohne koloniale Entschädigung an Frankreich kommen, und keiner der Alliierten (also auch nicht Rußland!) würde sich auf einen Frieden ohne Zustimmung seiner Verbündeten einlassen. D a s war keine diplomatische Information und auch kein Verhandlungsvorschlag, sondern ein ziemlich plumpes Manöver, um K a r l zur Eile zu drängen und zunächst einmal zu erproben, ob und wieweit er sich als französisches Werkzeug zur Erpressung Elsaß-Lothringens von den Deutschen (durch Drohung mit dem Abfall) gebraudien ließ. Aber Prinz Sixtus ging nicht nur darauf ein, sondern sogleich noch weiter. E r händigte dem Abgesandten seines Schwagers, dem Rittmeister Grafen E r d ö d y (einer ganz subalternen Figur) zwei Schriftstücke aus, von denen K a r l je nach Gutdünken eines unterzeichnen sollte: den Entwurf einer offenen Proklamation des Sonderfriedens an seine Völker und den eines Geheimvertrags mit der Entente. Beide

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liefen auf sofortige Einstellung des Kampfes an allen Fronten Österreichs und vorbehaltslose Annahme der oben genannten vier Kriegsziele der Entente hinaus. Uber Polen, Galizien, Rumänien, Serbien und Italien erwarte der Kaiser (hieß es im zweiten Schriftstück) „vertrauensvoll" eine baldige Einigung. Von irgendeiner Gegenleistung der Entente, wie etwa einer Garantie des österreichisch-ungarischen Länderbestandes, war keine Rede. Praktisch wurde dem Kaiser die schlichte Kapitulation zugemutet — aber die Opferung von Territorien nur seinen Verbündeten. Es scheint, daß angesichts dieser Forderung das Kaiserpaar nun doch unsicher wurde und es deshalb vorzog, den Außenminister zu Rate zu ziehen — allerdings nur sehr unvollkommen zu informieren 9 ). Czernin hat weder erfahren, daß der Anstoß zur Verhandlung vom Kaiser selbst ausging (er vermutete, sie stünde mit den Umtrieben Caillaux im Zusammenhang 10 )), noch hat er (scheint es) die Schriftstücke des Prinzen zu sehen bekommen, die ihn von jeder weiteren Verhandlung hätten abschrecken müssen. So riet er, die beiden Schwäger zu mündlicher Beratung heimlich nach Österreich kommen zu lassen, um rasch ins klare zu kommen, und um Indiskretionen auf Schweizer Boden zu vermeiden. Er setzte auch dem Kaiserpaar gewisse Richtlinien für ihre weiteren Verhandlungen auf. Sie sollten zuallererst erklären, ein Sonderfriede Österreichs sei ausgeschlossen und sollten sich über ihre Kriegsziele ähnlich aussprechen, wie es Czernin in denselben Tagen gegenüber den Amerikanern tat (s. o. Kap. 8, V) und wie es in einem Kronrat vom 12. Januar festgelegt worden war, nur mit gewissen Milderungen: keine Vernichtung Serbiens, sondern Wiederherstellung und weitgehende wirtschaftliche Zusammenarbeit mit ihm, aber endgültige Abstellung aller Wühlereien gegen den Bestand der Monarchie; auch keine Vernichtung Rumäniens, aber vorläufiges Festhalten des Landes als Unterp f a n d f ü r die „volle Integrität" der Monarchie (also für die Rückgabe der jetzt von ihr verlorenen Gebiete); Wiederherstellung Belgiens und Einverständnis mit der Rückgabe Elsaß-Lothringens an Frankreich, „wenn Deutschland darauf verzichten will". Sie sollten weiter betonen, daß ÖsterreichUngarn keinen Eroberungskrieg führt, keineswegs unter politischer Vormundschaft Deutschlands steht, wie man im Ausland glaubt (also als selbständiger Friedenspartner verhandeln kann 11 )), und nichts von Privilegien irgendeiner seiner Nationalitäten weiß. Die Slawen (gedacht ist wohl vor allem an die Tschechen) genießen volle Gleichberechtigung mit den Deutschen, bedürfen also keiner „Befreiung" und sind ebenso kaiser- wie reichstreu.

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Diese Aufzählung zeigt schon, daß Czernin den Charakter der Mission des Prinzen von Bourbon völlig verkannt haben muß, und wenn der Kaiser auf einen praktischen Erfolg seiner Gespräche hoffte, so war es sehr naiv von ihm, diese Aufzeichnung seinem Mittelsmann Erdödy in die Schweiz mitzugeben, so daß sie über Sixtus von Parma an die französische Regierung gelangte. Wie man sich in Paris den Frieden damals dachte, wissen wir schon aus den Verhandlungen Doumergues in Petersburg (Kap. 8, Abschnitt II). Es war also selbstverständlich, daß Poincaré, mit dem Sixtus am 5. März eine erste Unterredung hatte, es sofort ablehnte, über die von Czernin genannten Kriegsziele auch nur zu sprechen. Was ihm einen gewissen Eindruck machte, war nur die Versicherung des Prinzen, sein Schwager habe sich mündlich (durch Erdödy) zur Annahme der vier von ihm aufgestellten Forderungen bereit erklärt und in einer schriftlichen Erläuterung zur Aufzeichnung Czernins betont: „Wir werden Frankreich unterstützen und mit allen Mitteln auf Deutschland einen Druck ausüben. Wir haben die größten Sympathien für Belgien und wissen, daß ihm Unrecht geschehen ist . . . Wir stehen absolut nicht unter deutscher H a n d ; so haben wir gegen Deutschlands Willen nicht mit Amerika abgebrochen." Das klang in der Tat nach einer Bereitschaft zu einem Sonderfrieden. Aber wie konnte Österreich f ü r die Rückgabe Elsaß-Lothringens und Wiederherstellung Belgiens einstehen, über die es doch gar nicht verfügte? Nach Rücksprache mit Briand wurde Poincaré einigermaßen mißtrauisch. Anderseits fürchtete man in Paris damals eine nahe bevorstehende gemeinsame deutsch-österreichische Offensive gegen Italien, das ihr schwerlich gewachsen sein würde. Vielleicht ließ sie sich durch Friedensgespräche mit Kaiser Karl verhindern, wenn man von ihm sofortige Einstellung der Feindseligkeiten gegen Italien als Voraussetzung d a f ü r verlangte? Der Prinz wurde also von dem Präsidenten der Republik am 8. März dahin beschieden, die Regierung sei bereit, mit dem Kaiser, aber nicht mit Deutschland zu verhandeln, falls er in aller Form die restlose Annahme der vier Bedingungen bezeuge und sich zum Waffenstillstand auf allen Fronten bereit fände; man würde dann sein Friedensangebot den alliierten Regierungen zu weiterer Beratung mitteilen. Italien würde sicher große Forderungen stellen, aber Österreich könne sich ja an Deutschland (etwa in Schlesien) schadlos halten. Sixtus, hocherfreut über diesen Erfolg seiner Bemühungen, bestimmte seinen kaiserlichen Schwager in einem langen Brief vom 16. März, so rasch wie möglich eine gleich im Entwurf beigelegte Erklärung zu unterzeichnen, die

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u. a. auch Serbien einen gewaltigen Zuwachs (Albanien) als Zugang zur Adria versprach und f ü r Österreich ausbedang, daß ihm die Alliierten beistehen würden, falls es in militärischen Konflikt mit Deutschland geriete. Die Sorge des Kaisers wegen Italiens suchte er zu beschwichtigen: auf keinen Fall dürfe er gegen diesen „Todfeind" jetzt offensiv werden, und auf der Preisgabe von Triest würde die Entente gewiß nicht bestehen. Das war also in aller Form die Aufforderung zum Bündnisbruch. Sie wurde diesmal von den beiden Prinzen selbst nach Wien überbracht, und sie haben darüber lange mit dem Kaiserpaar unter vier Augen beraten. Was Prinz Sixtus über diese Gespräche berichtet, zeigt, daß der Kaiser nicht ohne weiteres den Sonderfrieden annahm. Er fühle sich, soll er gesagt haben, zunächst zu einem letzten Versuch verpflichtet, die Deutschen „zur Vernunft", d. h. zur Annahme der vier Punkte zu bewegen, glaube aber nicht, daß er sie von ihrer Idee eines „Siegfriedens" würde abbringen können. Doch würde er, wenn sie hartnäckig blieben, nicht Österreich-Ungarn der „Narrheit seines Nachbarn opfern", sondern sofort selber Frieden machen. Über die vier Punkte wurde man sich im allgemeinen einig, auch darüber, daß Elsaß-Lothringen einschließlich des Saargebietes an Frankreich zurückfallen müsse, während die „Neutralisierung des linken Rheinufers" zunächst nur als persönlicher Wunsch des Prinzen behandelt wurde. Die Frage der russischen Grenzen und der türkischen Meerengen sollte noch offenbleiben, solange die inneren Zustände Rußlands noch ungewiß wären, Serbien dagegen wiederhergestellt und durch die „ganze albanische Küste" vergrößert werden. N u r die italienische Frage machte Schwierigkeiten; denn natürlich war sich Karl bewußt, daß er alle Popularität verlieren, ja die Empörung ganz Österreichs auf sich ziehen würde, wenn er Südtirol oder Triest dem „Todfeind" Italien überließe, ohne daß dieser imstande gewesen wäre, mit noch so vielen Offensiven das Land zu erobern. So lehnte er es ab, mit den Italienern direkt zu verhandeln; er wolle mit Frankreich, England und Rußland Frieden schließen; mit ihnen zusammen ließe sich dann auch über einen Frieden mit Italien reden. Gegen Schluß der Unterredung erschien auch Czernin, der am nächsten Tag noch eine gesonderte Besprechung mit den Prinzen hatte. Was er ihnen gesagt hat, ist nicht genau zu erkennen, da er sehr verschlossen und vorsichtig blieb. Offensichtlich bemühte er sich, den Agenten Frankreichs Zuversichtlichkeit statt Ängstlichkeit zu zeigen. Allerdings berichtet Sixtus, er habe mehrmals geäußert, das Bündnis mit den Deutschen würde ein Ende nehmen, falls sie es Österreich unmöglich machen sollten, einen „vernünftigen" Frie-

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den zu schließen. D a sie wohl niemals Elsaß-Lothringen aufgeben würden, müsse wohl eines Tages der Zweibund daran scheitern. O b Czernin wirklich so undiplomatisch von dem Bündnis mit Deutschland gesprochen hat, erscheint wenigstens zweifelhaft, wenn man bedenkt, wie vorsichtig er sich in seinen Richtlinien f ü r das Kaiserpaar über das elsässische Problem geäußert hatte. Irgendeine Andeutung darüber, daß Österreich-Ungarn nicht bereit wäre, an diesem Problem den Frieden scheitern zu lassen, muß aber dodi gefallen sein l l a ). Merkwürdig ist, daß er das Gespräch nicht abbrach, als ihm die Bourbonen eindeutig erklärten, daß die französische Politik irgendwelche Friedensverhandlungen mit Deutschland überhaupt nicht wünsche. Das läßt sich wohl nur so erklären, daß ihm eine Form vorschwebte, in der Österreich f ü r beide Mittelmächte, stellvertretend also auch f ü r Deutschland, verhandelte — immer in der H o f f n u n g , den Bundesgenossen doch noch zu großen Opfern an seiner Westgrenze zu bewegen und damit schließlich auch Frankreich zum Frieden zu bringen. Wir werden später sehen, daß er eben damals genau diese Linie verfolgt hat. Kaiser Karl ging sogleich wesentlich weiter. Wenn Czernin etwa gehofft hat, er könne gefährliche Seitensprünge des jungen Monarchen verhindern, indem er sich selbst in dessen Gespräche mit den Verwandten einschaltete, so hat er sich geirrt. Hinter seinem Rücken schrieb Kaiser Karl am 24. März einen eigenhändigen Brief an seinen Schwager nieder (wohl sicher nach dessen Diktat oder Vorlage 12 )), der zur Weitergabe an Poincaré bestimmt war und als Beweis seines unbedingten Friedenswunsches dienen sollte. Dieses wichtige Schriftstück war der später berühmt gewordene „Kaiserbrief", dessen Existenz sein Urheber im April 1918, als ihn Clémenceau veröffentlichte, vergeblich abzuleugnen versucht hat — ein Akt von so peinlicher Verlogenheit und Ungeschicklichkeit, daß dadurch sein moralisches Ansehen schwer erschüttert, aber auch der Rücktritt Czernins herbeigeführt worden ist. Darin wird nach lebhafter Beteuerung der Sympathie aller Österreicher f ü r Frankreich („von dem mein Reich durch keine wirklichen Interessengegensätze getrennt ist") versichert, daß der Kaiser „mit allen Mitteln und mit seinem ganzen persönlichen Einfluß die gerechte französische Zurückforderung Elsaß-Lothringens unterstützen werde". Weiterhin, daß er zur Annahme auch der anderen, von Sixtus ihm vorgelegten Punkte bereit sei — und zwar in der Begrenzung, wie sie mündlich soeben besprochen war, also mit vorläufiger Zurückstellung der russischen Frage und ohne Anrühren des Problems Italien. Über dieses Angebot möge der Prinz die Ansicht Frank-

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reichs und Englands erkunden und so die Grundlage schaffen f ü r offizielle Friedensverhandlungen. Von einer Befragung und Heranziehung Deutschlands zu diesen Verhandlungen war mit keinem Wort die Rede, obwohl es doch ganz wesentlich um deutsche Gebietsfragen ging. Es versteht sich, daß der Prinz dem Präsidenten Poincaré diesen Brief als Angebot eines Sonderfriedens darstellte und dieser ihn auch sofort so auffaßte (31. März). Da Briand inzwischen gestürzt war, zog der Präsident dessen greisen Nachfolger Ribot mit ins Geheimnis: einen alten Routinier der parlamentarischen Bühne, immer besorgt, sich durch betonten Kriegseifer gegen politische Rivalen, vor allem gegen den Tiger Clémenceau und dessen Skandalblatt abzusichern und ziemlich eng begrenzt in seinem außenpolitischen Horizont. Mit Poincaré stimmte er darin überein, die neuesten Eröffnungen des Prinzen müßten zunächst mit den Verbündeten besprochen werden — auch mit dem italienischen Ministerpräsidenten Sonnino, obwohl sich Sixtus dagegen sträubte. Der Prinz begründete das mit der Sorge vor italienischen Indiskretionen und zeigte sich überhaupt sehr ängstlich, das Geheimnis gegenüber Deutschland zu wahren; ja, er behauptete, die Deutschen würden sich nicht scheuen, Kaiser Karl zu ermorden, wenn sie von dessen Abfall hörten! Aber Poincaré und Jules Cambon eröffneten ihm sofort, ohne Beiziehung Italiens wäre an keine Friedensverhandlungen zu denken. Sie schlugen vor, Österreich solle das Trentino abtreten und sich dafür mit Schlesien entschädigen — also ein Stück festen Besitz gegen eine erst noch zu erobernde Provinz eintauschen, wie Sixtus sogleich bitter bemerkte. Den Wunsch seines Schwagers, zunächst mit den Westmächten Frieden zu machen und dann zu dritt mit Italien zu verhandeln, hat er offenbar gar nicht vorzutragen gewagt — mit gutem Grund. Denn wie hätte er Italiens Alliierte dazu bewegen sollen, ein solches Spiel hinter dem Rücken ihres Verbündeten zu treiben und durch Bruch der Bundesverträge (die jeden Sonderfrieden ausschlössen), dessen Abfall von der Koalition förmlich herauszufordern? War doch Sonninos, des Kriegstreibers, politische Stellung in seinem längst kriegsmüde gewordenen Land ohnedies unsicher genug. Aber die Franzosen gingen, wie es scheint, überhaupt ohne sonderliche Begeisterung auf das österreichische Angebot ein 13 ). D a sie an keiner Stelle mit diesem Gegner Frontberührung hatten, erwarteten sie von seinem Ausscheiden keine unmittelbare Erleichterung. Ob er imstande sein würde, durch Druck auf Deutschland die Rückgabe von Elsaß-Lothringen durchzusetzen, war mehr als zweifelhaft. Ja, es war für den patriotischen Ehrgeiz Frank-

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reichs nicht einmal erwünscht (wir hörten schon früher davon), dieses Kriegsziel durch friedliche Verständigung zu erreichen, ehe der „preußische Militarismus" eindeutig und endgültig zu Boden geworfen wäre. N u r so erklärt sich die mehrfach wiederholte energische Erklärung der Pariser Staatsmänner dem Prinzen Sixtus gegenüber, man lehne jede Vermittlung eines Friedens mit Deutschland ab und wolle gegen diesen Erzgegner weiterkämpfen. Der Kriegseintritt Amerikas am 2. April hat die Franzosen in dieser Haltung erst vollends bestärkt. Was Poincaré von der Agententätigkeit des Prinzen erhofft hatte, war in Erfüllung gegangen: Sixtus brachte ihm von Wien die Versicherung des Kaisers mit, daß kein Angriff gegen Italien stattfinden würde, so lange die Friedensgespräche andauerten. Es empfahl sich also, diese Gespräche zunächst fortzuführen. Aber daß Italiens unersättliche Wünsche nach Landgewinn (über die sich niemand mehr als Poincaré ärgerte) von Österreich befriedigt werden könnten, blieb ganz unwahrscheinlich — doppelt unwahrscheinlich nach dem, was der Prinz darüber zu sagen wußte. Und letztlich schien es Ribot nicht einmal vorteilhaft für Frankreich, wenn Italien seinen Frieden mit Österreich machte. Schied es doch damit überhaupt aus der Front der Alliierten aus, die sich durch das Versagen Rußlands ohnedies stark gelockert hatte! Denn es war sehr unwahrscheinlich, daß die Italiener gegen Deutschland den Krieg weiterführen würden. Dazu kam (nach dem Urteil Lloyd Georges) ein Stück Eifersucht der Franzosen: sie gönnten ihren italienischen Alliierten nicht, daß sie so große Gewinne, wie sie forderten, aus einem Krieg heimbringen sollten, dessen Hauptlast nicht Italien, sondern Frankreich getragen hatte und noch weiter trug. Schließlich blieb auch Poincaré ebenso wie Ribot) mißtrauisch, ob das Angebot Kaiser Karls überhaupt praktische Bedeutung hatte angesichts der Haltung seines Ministers, der Anfang April (aus noch zu erörternden Gründen) die volle H a r monie der beiden Zentralmächte in der Friedensfrage öffentlich betonte und deutliche Neigung zeigte, das von den russischen Revolutionären ausgegebene Schlagwort vom Frieden ohne Annexionen und Entschädigungen, ohne Sieger und Besiegte sich zu eigen zu machen. Nichts fürchtete aber die f r a n zösische und italienische Politik mehr als diese Parolen. Überdies fand Ribot ein Friedensangebot, das nur solche Gebiete preiszugeben sich bereit erklärte, die dem Kaiser gar nicht gehörten, sehr fragwürdig und in jedem Fall unvereinbar mit Frankreichs Allianzverträgen. War diese ganze Friedensaktion am Ende nichts weiter als ein deutsches Täuschungsmanöver, um Frankreichs Friedensneigung zu erkunden?

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Unter diesen Umständen war Lloyd George der einzige unter den Staatsmännern der Westmächte, der sich für den österreichischen Sonderfrieden ernstlich erwärmte. Unter dem Druck der Schiffsversenkungen, die gerade im April auf ein Höchstmaß stiegen 14 ), war er aufs stärkste daran interessiert, den Krieg im Nahen Osten rasch zu Ende zu bringen und rechnete damit, daß ein Ausscheiden Österreich-Ungarns Bulgarien und die Türkei von der Verbindung mit Deutschland, aber auch dieses von Zufuhren aus Rumänien abschneiden und dem U-Boot-Krieg im Mittelmeer ein Ende machen müßte. Er fand es sehr kurzsichtig, daß die französische Politik (so auch der alterfahrene Londoner Botschafter Paul Cambon) das nicht einsehen wollte und hoffte seinerseits immer noch, die Italiener würden zu einem gemäßigten Sonderfrieden mit Österreich (vor allem zum Verzicht auf Triest) zu bringen sein, wenn man ihnen das Trentino und in Klein-Asien einen kräftigen Anteil an der türkischen Beute (Smyrna) fest zusagte. Aber damit täuschte er sich. Auf einer Zusammenkunft Sonninos mit Ribot und Lloyd George, die am 19. April in St. Jean-de-Maurienne stattfand, zeigte sich der Italiener so hartnäckig und so maßlos in seinen Ansprüchen auf Gewinnanteil an der asiatisch-afrikanischen Kriegsbeute, daß seine Partner es sehr bald aufgaben, die Friedensfrage weiter zu diskutieren. Man unterzeichnete statt dessen ein Protokoll, das einen Sonderfrieden mit Österreich ausdrücklich ablehnte, weil er den engen Zusammenhalt der Alliierten gefährden würde. Von wem die Friedensaktion ausging, hatte man Sonnino ohnedies auf Bitte des Bourbonenprinzen verschwiegen. Damit war dessen Friedensaktion zunächst gescheitert, und dies wurde ihm auch mitgeteilt. Die französische Regierung hielt sogar die Fortsetzung der Gespräche mit ihm, die Lloyd George plante, weil er auf österreichische Konzessionen an Italien hoffte, für gefährlich. Denn in Paris beobachtete man mit großem Mißtrauen das Verhalten des Grafen Czemin.

Zweiter

Abschnitt

Czemin und die bourbonische

Friedensaktion

Czernin war ein viel beweglicherer Geist als sein Vorgänger Buriän, nüchterner in seiner Einschätzung der Lage und klar bewußt der inneren Schwächen der Donaumonarchie, einfallsreich, aber sprunghaft, nervös, ohne Ste-

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tigkeit in der Verfolgung seiner Pläne. Von deutscher Seite wurde seine Berufung zunächst begrüßt, zumal er hier als „bündnistreu" galt 1 5 ). Eine erste Enttäuschung brachte die Zähigkeit, mit der er, genau wie Buriän, sich weigerte, das Okkupationsgebiet von Lublin aufzugeben und Polen den Deutschen zu überlassen 1 8 ). Der deutsche Botschafter Graf Wedel riet ihm damals (11. Januar), Österreich möge sich doch für Polen in Rumänien schadlos halten. Vielleicht ließe sich das L a n d zwischen Rußland, Bulgarien und der Habsburger Monarchie so aufteilen, daß diese die Walachei bekämen; das wäre dann „ein fetter Bissen". Diesen Vorschlag will Czernin zunächst abgelehnt haben, um eine Verschiebung des Gleichgewichts der Nationalitäten in Ungarn zu vermeiden 1 7 ). Er scheint ihm aber doch sehr eingeleuchtet zu haben, denn er kehrt seitdem (in abgewandelter Form) in seinen Denkschriften und politischen Äußerungen als eigene Forderung immer wieder. Zum erstenmal schon in der Kronratssitzung vom 12. Januar, in der man über die polnische Frage und die allgemeinen Kriegsziele der Monarchie beriet. D a s war zwei T a g e nach der für Österreich-Ungarn so bedrohlich klingenden Antwort der Entente auf Wilsons Friedensvorschlag 1 8 ). Wohl unter dem Druck dieser Drohungen und unter dem Eindruck, daß nun alle Friedensvorschläge gescheitert waren, fiel die österreichische Kriegszielliste sehr gemäßigt aus, gemäßigter jedenfalls als zur Zeit Burians. In der Hauptsache wollte sich Czernin mit der „territorialen Integrität" der Monarchie begnügen (was freilich den Wiedererwerb großer verlorener Gebiete in sich schloß, der nur mit deutscher H i l f e denkbar war), darüber hinaus nur einige „militärische Grenzverbesserungen" auf Kosten Montenegros, Serbiens und R u mäniens verlangen, aber Serbien nicht mehr zertrümmern. Eine Zertrümmerung der Balkanstaaten, meinte er, würde die Entente nicht zulassen, und die südslawische Bewegung werde sich ja doch mit elementarer Gewalt durchsetzen, entweder mit oder gegen Österreich-Ungarn. Man müsse also Serbien wirtschaftlich entgegenkommen, entweder durch das Zugeständnis eines H a fens an der Adria oder (besser noch) durch „handelspolitische Annäherungen seitens der Monarchie". Von einer gänzlichen Aufteilung Rumäniens im Sinne Wedels sprach er nicht, wohl aber davon, daß die Entente „eine starke Beschneidung" dieses Landes nach seinem Versagen als Kriegshelfer wohl hinnehmen würde, und von einem Angebot der Moldau an Rußland, um es so vielleicht zum Sonderfrieden zu bewegen. Der Gedanke f a n d bei Tisza und Kaiser K a r l Zustimmung; Conrad wollte aber dann die Walachei f ü r Österreich haben, was Czernin zurückwies, weil es den Friedensschluß er-

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schweren würde. Man müsse durch gemäßigte Forderungen (vor allem auch durch Verzicht auf Kriegskostenentschädigung) der Entente, namentlich England „vortäuschen" (!), daß ein Frieden „ohne Sieger und Besiegte" begründet werden sollte 19 ). Da er seine Vorschläge im wesentlichen durchsetzte, hat sich Czernin offenbar in der Lage gefühlt, seinerseits eine neue Friedensaktion zu unternehmen und den Ehrgeiz besessen, jetzt Österreich in der Friedensfrage in die Vorhand zu bringen, besser als sein Vorgänger. Zunächst suchte er mit England in Fühlung zu kommen und beauftragte Mitte Februar den früheren Londoner Botschafter, Grafen Mensdorff, dies in Skandinavien zu versuchen, wo er die Thronbesteigung Kaiser Karls offiziell anzuzeigen hatte. Er sollte in seinen Gesprächen Österreichs Bereitschaft zu einem „Vermittlungsfrieden" ohne Eroberungen bekunden, jedoch mit Vorbehalt von Grenzkorrekturen zugunsten der Donaumonarchie und Offenhalten der polnischen Frage, sollte jede Gebietsabtretung verweigern, die Überlassung der Moldau an Rußland wenigstens vorsichtig andeuten, sich sehr siegessicher geben und vor allem Unerschütterlichkeit des Bündnisses mit Deutschland betonen. Das war also das Programm vom 12. Januar; es hatte praktisch nicht die geringste Aussicht auf Erfolg, und es ist nicht einmal zu einer Verhandlung darüber mit einem britischen Diplomaten gekommen, obwohl Lloyd George einen solchen eigens nach Skandinavien entsandte 20 ). Ganz ähnlich wie in der Instruktion f ü r Mensdorff hat Czernin sich Mitte Februar (wir hörten es schon) dem Kaiserpaar gegenüber in seinen Richtlinien f ü r die Verhandlungen mit den Bourbonenprinzen ausgesprochen, ähnlich auch dem amerikanischen Vermittlungsangebot gegenüber: beide Male lehnte er einen Sonderfrieden ab. U m so eifriger war er aber bemüht, einen allgemeinen Frieden, wenn irgend möglich, herbeiführen zu helfen. Natürlich war ihm bekannt — und die Berichte seines Kaisers über die Äußerungen des Prinzen Sixtus werden es ihm bestätigt haben —, daß ohne Abtretung Elsaß-Lothringens mit Frankreich über den Frieden überhaupt nicht zu reden war. Da er aber nun glaubte, die Aktion der bourbonischen Prinzen ginge von Frankreich aus (er ihre Tragweite also erheblich überschätzte), bot er nunmehr alles auf, um die deutsche Regierung für große Konzessionen an Frankreich zu gewinnen. Dieses Ziel hat er seit Anfang März mit solcher Energie verfolgt, durch Monate hindurch, daß darüber die schwersten Spannungen im deutsch-österreichischen Bündnisverhältnis entstanden — bis hart an den Bruch heran.

C z e r n i n u n d die bourbonische Friedensaktion

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Natürlich konnte er Bethmann Hollweg nichts von den geheimen Verhandlungen seines Kaisers mit den bourbonischen Verwandten sagen. E r suchte statt dessen k r a m p f h a f t nach einer neuen Anknüpfung über die Schweiz, wo schon seit Monaten einzelne französische Agenten, mit und ohne offiziösen Auftrag, sich an die österreichischen Diplomaten heranzupirschen suchten, um etwas über politische Strömungen und Friedensneigungen in Wien auszukundschaften 21 ). Am 10. März meldete der österreichische Gesandte, Baron Musulin, einer dieser Agenten (Haguenin) habe durch einen polnischen Mittelsmann (Graf Rostworowsky) wissen lassen, daß demnächst ein M. Moysset, Experte des Quai d'Orsay für polnische Fragen, nach der Schweiz kommen werde; Rostworowsky vermute, daß er politische Gespräche mit einem österreichisch-ungarischen Vertrauensmann suchen werde. Man höre außerdem, daß in Paris zur Zeit eine Österreich-freundliche Stimmung herrsche und daß man sich dort wünsche, die Wiener Regierung möge als Vermittler zwischen Frankreich und Deutschland tätig werden. Musulin, der von alledem gar nichts hielt 22 ), bekam zu seiner offensichtlichen Verwunderung sofort den Auftrag, diesen (mehr als dünnen) Faden nicht etwa fallen zu lassen, sondern „behutsam weiterzuspinnen". Gleichzeitig ging ein Telegramm an Hohenlohe ab, das einen Besuch des Botschafters von Merey in Berlin ankündigte, um dort mit dem Staatssekretär und dem Kanzler über „eine von französischer Seite ausgehende Anregung" zu sprechen, nach der je ein Vertrauensmann Frankreichs und Österreichs in der Schweiz über Friedensmöglichkeiten verhandeln sollten. Tatsächlich hat Merey am 14. März diese Besprechung in Berlin gehabt, ohne aber den Namen des Unterhändlers zu nennen, den Czernin in die Schweiz schicken wollte: des Botschafters Grafen Mensdorff. Natürlich stieß er auf Verwunderung, Skepsis und Abneigung — dies um so mehr, als das deutsche Auswärtige Amt mit Haguenin schon längst viele unerfreuliche Erfahrungen gemacht hatte und genau wußte, daß er nicht Vertrauensmann Briands war, sondern des schroff antideutschen Generalsekretärs Jules Cambon. Sollte Czernin selbst wirklich geglaubt haben, er hätte durch Vermittlung Haguenins einen haltbaren Faden nach Paris in die H a n d bekommen, an dem sich mit Aussicht auf E r folg weiterspinnen ließ? Sollte er sich eingebildet haben, mit Hilfe eines gar nicht näher bekannten Monsieur Moysset, dessen Absichten nur vermutet wurden und dessen Erscheinen nicht einmal sicher war, ließe sich eine solidere Basis f ü r österreichisch-französische Friedensgespräche schaffen, als auf dem Weg über die Bourbonenprinzen? Das ist mehr als unwahrscheinlich. Am

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18. ließ er nach Bern telegraphieren, ihm läge „ganz ausnehmend viel" daran, daß die geplante Zusammenkunft Mensdorff—Moysset zustande käme. Natürlich: er brauchte ja den Deutschen gegenüber wenigstens einen Strohmann, um sie von der Person des eigentlichen Unterhändlers, des Prinzen Sixtus abzulenken 23 ). Sein nächstes Ziel war, mit Hilfe des vermeintlichen französischen Friedensfühlers dem deutschen Bundesgenossen eine verbindliche Aussage abzupressen über das Höchstmaß seiner möglichen Zugeständnisse an den Gegner, also über sein äußerstes Minimalprogramm — und dieses Minimalprogramm womöglich noch weiter herabzudrücken. Seltsamerweise hat er diesen Versuch mit einer ganz bedeutenden Steigerung der österreichischen Kriegszielwünsche verbunden. Botschafter von Mérey erreichte in Berlin nicht mehr als das ungern gegebene Einverständnis zu der Entsendung eines österreichischen Vertrauensmannes in die Schweiz. Es sollte aber ein Privatmann, keine irgendwie offizielle Persönlichkeit gewählt werden, die Verhandlung ganz inoffiziellen und so geheimen Charakter tragen, daß man sie notfalls ableugnen könne; denn die deutsche Diplomatie fürchtete sehr die Kritik der O H L und der öffentlichen Meinung. Würde die Abtretung von Elsaß-Lothringen gefordert, so müsse das als indiskutabel bezeichnet werden; allenfalls ließe sich über die Abtretung „eines kleinen Stückchens Lothringen gegen einen Teil des französischen Erzgebietes" reden 24 ). Zwei Tage später kam Bethmann Hollweg selbst mit Unterstaatssekretär Stumm nach Wien, wo nun eine große Beratung (unter Teilnahme auch der beiderseitigen Botschafter) über die Kriegszielfrage stattfand, über die noch zu reden sein wird. Nach längerem Zögern hat sich hier der Kanzler mit der Entsendung Mensdorffs als Unterhändler einverstanden erklärt, aber als Privatmann und unter den schon genannten Bedingungen. Er sollte sich rein rezeptiv verhalten und keinesfalls Deutschland auf irgendein Minimalprogramm festlegen. Das hätte praktisch seine Mission wohl aussichtslos gemacht — wenn es überhaupt zu irgendwelchen Verhandlungen gekommen wäre. Aber, wie es Musulin gleich gefürchtet hatte, trotz wochenlangen Wartens erschien kein Vertrauensmann aus Paris — die ganze Aktion Haguenin erwies sich als Seifenblase, die rasch zerplatzte. Es gelang dann zwar Musulin, eine Dame der internationalen Gesellschaft zu finden, die sich bemühte, mit H i l f e der französischen Gesandtschaft Verbindungsfäden nach Paris zu knüpfen und die von dort auch mancherlei Interessantes zu berichten wußte. Aber während Briand sie hatte gewähren lassen, lehnten Poincaré undRibaud

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alle Geheim Verhandlungen mit Mensdorff grundsätzlich ab: sie würden bei den Mittelmächten nur den Eindruck ermattender K a m p f k r a f t Frankreichs erwecken und überdies die Aktion des Prinzen Sixtus und des Kaisers K a r l stören, die ernster zu nehmen wäre 2 5 ). Unter diesen Umständen wurde Mensdorffs Rolle in der Schweiz allmählich peinlich. Als sich schließlich auch Zimmermann bei Hohenlohe darüber beschwerte, rief Czernin seinen Vertrauensmann am 7. April zurück — nicht ohne bittere Bemerkungen über deutsche Anmaßung, die um so ärgerlicher klangen, als die Deutschen eigene Verbindungen in der Schweiz zur Fühlungnahme mit französischen Politikern zu besitzen erklärten 2 6 ). Wichtiger als diese wohl nur vorgeschützte „Friedensaktion" war die Aussprache über Friedensziele, die Czernin mit Bethmann Hollweg am 16. und 17. M ä r z in Wien hatte. Sie zeigt den österreichischen Minister in merkwürdig veränderter H a l t u n g in der Kriegszielfrage gegenüber der Kronratssitzung vom 12. J a n u a r . Damals hatte er grundsätzlich von größerem Landerwerb für die Monarchie nichts hören wollen und jeden Gedanken an E r werb der Walachei als Friedenshindernis abgelehnt. Auch in seinen Richtlinien f ü r das Kaiserpaar Mitte Februar hatte er nur eine zeitweise Besetzung Rumäniens vorgesehen; das Königreich solle nicht zerstört werden, sondern nur als Unterpfand f ü r die Wiederherstellung der Integrität der Donaumonarchie dienen. J e t z t plötzlich schien es, als wäre nichts dringender f ü r Österreich-Ungarn, als im Vergleich mit Deutschland und Bulgarien bei der Verteilung der Kriegsbeute nicht zu kurz zu kommen. Rundheraus erklärte er Bethmann Holl weg, die „aus hundert Wunden blutende Monarchie könne es sich nicht leisten, mit leeren Händen, j a sogar verkleinert aus dem Völkerringen heimzukehren", während Deutschland und Bulgarien großen Gewinn davontrügen 2 7 ). D a s würde sie „den ärgsten Gefahren aussetzen". Er wollte also jetzt nicht nur die Walachei, sondern auch noch die westlichen Teile der Moldau zwischen den Karpathen und dem Sereth annektieren, nur den östlichen Teil den Russen anbieten, den Bulgaren den Teil der Dobrudscha überlassen, den sie seit 1913 verloren hatten, und aus dem Rest der Dobrudscha ein unter internationaler Kontrolle stehendes winziges Staatswesen Rumänien bilden. Gegen diesen Plan, der auf eine totale Zerstückelung Rumäniens hinauslief, erhob der mitanwesende Botschafter von Merey das Bedenken: ein so weites Vordringen der Russen auf dem Balkan würde dort alle slawischen Völker wieder in Unruhe bringen; wenn also schon rumänisches L a n d annektiert werden sollte, dann müßte es „ein größeres Gebiet

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sein", weil nur so „irredentistische Umtriebe" zu verhindern wären 28 ). Das ist sehr merkwürdig; denn in einem Gutachten, das Merey bald darauf f ü r Czernin verfaßt hat, vertrat er genau den entgegengesetzten Standpunkt. Der Krieg, hieß es da, ist für Österreich-Ungarn reiner Verteidigungskrieg; also wollen wir (im Gegensatz zu Deutschland und Bulgarien) auch bei günstigstem Kriegsausgang keine Eroberungen machen. Niemand verlangt danach, und was sollen wir damit? Sie sind für den Vielvölkerstaat ja doch unverdaulich und vermehren nur dessen innere Schwierigkeiten. Uns genügt im Fall des Sieges ein Anteil an der Kriegsentschädigung, worüber ja eine Vereinbarung mit Deutschland besteht. Übrigens wird sich auch der deutsche Bundesgenosse nicht stark vergrößern können: im besten Fall ein kleiner Gebietsaustausch mit Frankreich im Westen und ein von Deutschland protegiertes Polen und Litauen im Osten — das ist alles. Wir sollten aber auch keine Eifersucht zeigen. „Wir dürfen es uns ja doch nicht verhehlen, daß Deutschland nicht nur absolut, sondern auch relativ in diesem Krieg mehr geleistet hat als die Monarchie", militärisch, finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch. Es hat also auch Anspruch auf größeren Erfolg. Annektieren wir jetzt größere Teile von Rumänien, so nötigen wir dadurch geradezu die Deutschen, auch ihrerseits große Annektionen zu verlangen und machen dadurch einen Verständigungsfrieden unmöglich 29 ). Dieses Memorandum war auf Aufforderung Czernins zur Kritik einer Aufzeichnung des Ministers niedergeschrieben, die ihrerseits kurz nach der Wiener Konferenz mit Bethmann Hollweg entstanden zu sein scheint und als Grundlage für eine am 29. März stattfindende Kronratssitzung dienen sollte. D a also Merey nur f ü r den internen Dienstgebrauch schrieb, ist als gewiß anzunehmen, daß dieses Memorandum seine wahre Meinung aussprach. O f f e n b a r hatte er sich in der Besprechung vom 16. nur deshalb anders geäußert, weil er sich verpflichtet fühlte, seinem Minister gegenüber den Deutschen zu Hilfe zu kommen 30 ). Oder sind ihm seine kritischen Bedenken erst nachträglich aufgestiegen? Das ist ebenso schwer zu beantworten wie die Frage: warum Czernin so jählings vom Kriegsziel des status quo zu sehr massiven Eroberungszielen überging. Er selbst gab dafür den deutschen Gesprächspartnern keinen anderen Grund an als den schon genannten: daß Österreich-Ungarn nicht hinter seinem Verbündeten zurückstehen dürfe. Aber mit gutem Grund erwiderten Bethmann und Stumm, daß Deutschland ja keine großen Annexionen plane und in Aussicht habe. Und wie vereinte sich der plötzlich so gewaltig gesteigerte Anspruch Österreich-Ungarns auf

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Eroberungen mit der geradezu grausigen Schilderung seiner verzweifelten inneren Notlage, mit der Czernin die Besprechung eröffnete und mit der er den deutschen Kanzler schon den Vormittag über bearbeitet hatte? ö s t e r reich-Ungarn, sagte er, steht am Ende seiner Kräfte. In einzelnen Bezirken herrscht schon der Hungertyphus. N u n muß man auch noch mit einer progressiven Verschlechterung der Ernte rechnen, und auch Rumänien wird so geringe Erträge haben, daß für die Zentralmächte kein Überschuß bleibt. Ebenso schlecht steht es mit den Rohmaterialien der Kriegsindustrie und noch schlechter mit den (bereits völlig ausgeschöpften) Menschenreserven. Nach genauer Prüfung und Berechnung aller Verhältnisse hat sich gezeigt, daß es unmöglich sein würde, den Krieg länger als bis allenfalls zum nächsten Herbst fortzusetzen. Also muß schleunigst der von Frankreich ausgestreckte Friedensfühler aufgegriffen und ein geeignetes Friedensprogramm der beiden Zentralmächte festgelegt werden. Als österreichischer Beitrag zu diesem Programm wurde aber nicht etwa von Konzessionen an Italien oder R u ß land gesprochen, sondern von Aufteilung Rumäniens und von Rückgewinnung der an Rußland verlorenen Provinzen: Ostgalizien und der Bukowina; zu diesem Zweck wollte Czernin nach wie vor das Gouvernement Lublin als „Faustpfand" in der H a n d behalten. Wie soll man diese seltsame Kombination von Verzagtheit und großen Zukunftsansprüchen verstehen? Es wird kaum anders möglich sein als so: daß Czernin zwar sehr besorgt, aber in seinem Innersten keineswegs so verzweifelt war, wie er sich gab, und daß er die vermeintliche Mission des Prinzen Sixtus zu Gunsten Österreich-Ungarns so kräftig auszunutzen gedachte wie nur irgend möglich. Die Hauptsache war für den Augenblick, die Deutschen zum Verzicht auf Elsaß-Lothringen und Belgien zu bringen. Dazu mußten sie so tief wie möglich erschreckt werden durch den Anblick eines mut- und kraftlos zusammenbrechenden, halb verhungerten Bundesgenossen. Dieser Schock würde sie dessen Abfall vom Bündnis befürchten lassen, trotz aller Versicherung der Bündnistreue, und diese Furcht sich noch verstärken durch die Ankündigung tief geheimer Friedensgespräche mit ungenannten Agenten Frankreichs. Das konnte die Berliner Politik wohl dahin bringen (so wird Czernin gehofft haben), Österreich jeden Gewinn an Land einzuräumen, den es sich auf dem Balkan wünschte — am leichtesten wahrscheinlich in Rumänien, auf das ja schon Graf Wedel den Minister hingewiesen hatte. Wie verlockend jetzt dieses Kriegsziel dem Grafen Czernin geworden war, geht aus seinem (vorhin schon erwähnten) Expose für den Kronrat

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hervor 3 1 ). „Rumänien ist ein Milliardenobjekt", heißt es dort. „Dies auszuführen hieße Eulen nach Athen tragen" (gedacht ist natürlich vor allem an die großen ölschätze, dort allein können wir „auf unsere Kosten kommen". War dies die Taktik Czernins, so blieb sie nicht ganz ohne Erfolg. Allerdings waren die deutschen Gesprächspartner über den rumänischen Aufteilungsplan sichtlich erschrocken. Ein derartiges Mißverhältnis in den Kriegserrungenschaften der beiden Verbündeten, erklärten sie, „könnte dem deutschen V o l k " (und der Obersten Heeresleitung, die sie natürlich im Auge hatten) „nicht plausibel gemacht werden". Sehr bedenklich sei auch die Zuteilung der Moldau an Rußland. Bethmann suchte sogleich nach einem Kompromiß: vielleicht genüge es, den Russen nur den nördlichen Teil der Moldau zu geben, und Österreich könnte sich mit der Westwalachei begnügen; Deutschland selbst erstrebe in Rumänien nur wirtschaftliche Vorteile; aber er müsse die ganze Frage erst noch in Berlin genauer studieren. Immerhin erklärte er sich mit einer dehnbaren Schlußformel einverstanden, die Czernin so klug war vorzuschlagen: 1. russisches oder Balkangebiet, das die beiden Zentralmächte besetzt haben, darf nicht herausgegeben werden, ehe die Rückgabe der vom Gegner besetzten österreichischen Gebiete gesichert ist, 2. die Neuerwerbungen Deutschlands und Österreich-Ungarns „sollen in territorialer und wirtschaftlicher Hinsicht in eine gewisse Relation gebracht werden". D a s k a m nahe an das von Burian vergebens betriebene „Solidaritätsabkommen" heran, wurde aber etwas abgemildert durch die Erklärung, daß Österreich „sich mit der vollen Integrität zufrieden geben wolle" (die ihm Deutschland freilich erst zu erkämpfen hatte!), falls sein Verbündeter seinerseits sich mit dem status quo begnügen würde. Ohne Frage war das ein beträchtlicher diplomatischer Erfolg. Nicht ganz erfolglos war auch das Bemühen Czernins, die deutsche Politik auf ein Minimalprogramm ihrer Friedensbedingungen festzulegen. Besonders für den Osten formulierte der Kanzler seine Ziele mit äußerster Mäßigung. Am autonomen Königreich Polen unter deutschem Protektorat hielt er natürlich fest, erklärte aber, keine polnischen Gebietsteile (also keinen „Grenzstreif e n " ! ) für Deutschland zu beanspruchen, sondern sich mit einem beschränkten, strategisch notwendigen Landerwerb in K u r l a n d und Litauen (Grodno und Wilna) zu begnügen, dessen Ausmaß ganz von der militärischen Lage bei Friedensschluß abhängen würde. Er sprach sogar von der Möglichkeit, „schlimmstenfalls" zum status quo zurückzukehren. Sollte Deutschland gezwungen sein, beim Friedensschluß Polen an Rußland zurückzugeben, so

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würde es sich mit bloßen Grenzberichtigungen an der schlesischen und ostpreußischen Grenze begnügen. Was Czernin nicht erreichen konnte, war irgendeine Konzession in der elsaß-lothringischen Frage. Hier wiederholte der Kanzler, was er kurz zuvor sdion Merey in Berlin als deutsches Kriegsziel genannt hatte (s. o. Anm. 24) und wies jeden Gedanken an Verzicht auf die Reichslande weit von sich. Er wollte auch die besetzten Teile von Frankreich und Belgien nicht ohne weiteres räumen, sondern zunächst als „Faustpfand" f ü r die Rückgabe deutschen Kolonialbesitzes in der H a n d behalten. Praktisch politisch ließ sich damit natürlich nichts anfangen. Ohne Rückgabe Elsaß-Lothringens und Räumung Frankreichs und Belgiens ließ sich mit Paris überhaupt nicht verhandeln. Aber konnte Bethmann Hollweg anders verfahren? In Deutschland herrschte nun einmal nicht die Verzagtheit wie in Österreich-Ungarn, sondern immer noch gute Zuversicht, vor allem im Großen Hauptquartier, auf dessen Haltung die deutschen Unterhändler auch ausdrücklich hinwiesen. Eben jetzt, Mitte März, wurde der Ausbruch der russischen Revolution bekannt, mit nicht abzusehenden Folgen für die Entlastung der Ostfront; die Ergebnisse des U-Boot-Krieges im Februar übertrafen die kühnsten Erwartungen um 50 Prozent; die Räumung des gefährdeten Frontbogens an der Somme und der Rückzug auf die wohl vorbereitete, wesentlich verkürzte „Siegfried-Stellung" hinter völlig verwüstetem Vorgelände gelang vom Feinde unbemerkt. Seine so lange gefürchtete Großoffensive wurde dadurch um viele Wochen verzögert und ihrer besten Erfolgschancen beraubt, ehe sie begann. War das der Moment für eine solche Art von Kapitulation, wie sie Kaiser Karl und seinem Minister vorschwebte? Vor allem: das deutsche Volk ist niemals bereit gewesen — und zwar in allen seinen Schichten —, vor der endgültigen, unwiderruflichen Niederlage auf die Reichslande freiwillig zu verzichten; denn Elsaß-Lothringen war nun einmal für die Deutschen, genau so wie für die Franzosen (ja noch viel mehr!) ein nationales „Kleinod" geworden: Erbe und Symbol der stolzesten Epoche ihrer neueren Geschichte. Es muß aber f ü r Bethmann Hollweg ein schreckliches Erlebnis gewesen sein, plötzlich zu spüren, daß der größte unserer Bundesgenossen nicht nur schwach und mutlos, sondern politisch unsicher wurde. Wie beunruhigend, von ihm mit Forderungen bedrängt zu werden, deren Erfüllung nicht nur schwerste Konflikte mit der O H L und der öffentlichen Meinung heraufgeführt, sondern im Auslande als untrüglicher Beweis dafür gewirkt hätte,

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daß auch Deutschland am Ende seiner Kräfte war und politisch resignierte! In Wiener Hofkreisen erzählte man sich, am Ende des zweiten Tages, nach einem Essen an der kaiserlichen Hoftafel und dem Anhören endlosen Gejammers über die österreichischen Zustände im Hause Czernins, habe der Kanzler zuletzt die Nerven und seine Fassung verloren 32 ). Vielleicht hat Czernin diesen — ihm sicherlich erwünschten — Moment benutzt, um ihn zu Äußerungen zu bringen, die sehr resigniert klangen? Jedenfalls findet sich in seinem Expose für den Kronrat der bemerkenswerte Satz: „Ich bin überzeugt, der Schlüssel der Situation liegt im Westen. Wenn Deutschland Frankreich und Belgien herausgibt und noch etwas dazu, dann ist der Friede da. Der Reichskanzler hat mir dieses Opfer streng geheim zugesagt." Welches Opfer? Das bleibt absichtlich dunkel. Czernin beschloß aber nun, für die weiteren Verhandlungen mit Deutschland stärkeres Geschütz aufzufahren. „Wenn wir den Deutschen erklären", schrieb er in seinem Expose für den Kronrat, „daß wir die von uns besetzten Gebiete Polens nicht herausgeben werden, bevor sie uns nicht Rumänien angegliedert haben, so werden wir darin ein Mittel finden, unsere Zwecke zu realisieren." „Gutwillig und freiwillig gehen wir nicht aus unserem Polen heraus, bevor es uns abgekauft wird." Das ist eine Taktik, die man auch in Berlin verstehen wird. Czernin wäre also bereit, die bisher so hartnäckig festgehaltene „austro-polnische Lösung" jetzt endgültig fallen zu lassen — aber nur gegen Entschädigung durch Rumänien. Sie ist ja praktisch doch unerreichbar, und das ewige Gezerre mit Deutschland über Polen ein „vollständig impotentes Manöver". Die oft gehörte Besorgnis von einer Irredenta der polnischen Galizier, die dann auf Vereinigung mit dem neu geschaffenen Königreich drängen würden, wischt er mit einer gewissen Leichtfertigkeit beiseite. Irredenten gibt es überall in der Welt, meint er, in Österreich-Ungarn nur eine besonders „farbenprächtige Kollektion"; wer eine starke Armee hat und nicht gerade Krieg führen muß (aber es wird nach diesem fürchterlichen „Morden" sicherlich auf „undenkliche Zeiten hinaus" keinen mehr geben), braucht Irredenten nicht zu fürchten. Auch das anfängliche Murren der „Wiener Bierhauspolitiker und ungarischen Desperados" über die Angliederung Rumäniens kann den Minister nicht schrecken, ebensowenig die Gefahr einer Umklammerung durch Rußland in der östlichen Moldau; denn waren die Rumänen etwa ein besserer und sicherer Nachbar als die Russen? Fadenscheinige Argumente, wie man sieht, gegen die denn auch Merey sogleich Einspruch erhob. Aber

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sie sind charakteristisch f ü r die leichte und schnellfertige Art, mit der Czernin seine Pläne zimmerte. Einmal im Zuge, will er jetzt auch Serbien nicht nur verkleinern, sondern zugleich in die Zoll- und Handelsgemeinschaft der Donaumonarchie aufnehmen und es zwingen, in immer engerem Anschluß an sie sein künftiges Heil zu suchen. Der letzte Sinn des Ganzen wird aber erst im Schlußsatz des Expose enthüllt. „ N u r dadurch, daß wir auf den Balkan gehen und Deutschland Polen verkaufen, kann der Gedanke an eine partielle Abtretung von Elsaß-Lothringen Gestalt annehmen" — natürlich nur unter österreichischem Druck. Mit anderen Worten: der deutsche Bundesgenosse soll durch Freigabe seines alleinigen Protektorates über Polen bewogen werden, wenigstens auf einen Teil der Reichslande zu verzichten — aber gleichzeitig das (im wesentlichen mit deutschem und bulgarischem Blut eroberte) Rumänien den Österreichern überlassen. Das klingt fast zu abenteuerlich für einen erfahrenen Berufsdiplomaten. Aber es war durchaus ernst gemeint und bildete von jetzt an die Richtlinie f ü r Czernins Politik. In der Kronratssitzung, die am 22. stattfand, hat er allerdings doch nicht gewagt (wenn das Protokoll exakt ist), bereits von einem deutschen Verzicht auf Teile des Elsaß zu sprechen, sondern nur von einem Verzicht auf Eroberungen an der Westgrenze. Im übrigen ließ er sich hier die allgemeinen Grundzüge der am 16. von ihm vertretenen Politik bestätigen und den Auftrag erteilen, soweit als möglich eine gewisse H a f tung Deutschlands f ü r den Territorialbestand der Monarchie (also das alte „Solidaritätsabkommen" Burians) durchzusetzen 33 ). Am Abend desselben Tages erschienen Prinz Sixtus von Parma und sein Bruder in Wien, verhandelten am nächsten Abend und am 24. mit dem Kaiserpaar und ihrem Minister und verließen Wien mit dem uns schon bekannten „Kaiserbrief" in der Tasche, der Frankreich die ganz energische Unterstützung seiner „gerechten Zurückforderung Elsaß-Lothringens" versprach. Czernin hatte ihnen wenigstens mündlich versichert, daß Österreich-Ungarn den Frieden nicht an der elsaß-lothringischen Frage scheitern lassen würde (s. oben, S. 461). Der nächste Schritt war eine Reise Czernins nach Berlin (am 26. März) mit dem Hauptziel, der deutschen Regierung den Verzicht Österreichs auf Polen f ü r den Fall anzubieten, daß ihm der Hauptteil Rumäniens überlassen würde, außerdem aber erneut auf schleunige Festlegung großer Konzessionen an Frankreich zu drängen 34 ). U m sein polnisches Angebot recht groß erscheinen zu lassen, versicherte er: „Wenn es jemals in der Monarchie tran-

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spiriert, daß ich Polen aufgeben will, so wird meine Stellung ganz unmöglich." D a ß darüber der Kronrat bereits Beschluß gefaßt hatte, verschwieg er wohlweislich. Den Gewinn, den Österreich mit dem Erbe Rumäniens machen würde, stellte er als bescheiden hin und versicherte kühnlich, die M a gyaren würden sich auf das heftigste dagegen sträuben — obwohl Tisza eben erst im Kronrat mit beiden Händen zugegriffen und mit dem österreichischen Ministerpräsidenten um das „fette" Beutestück gestritten hatte. U m Österreichs großzügige Selbstbescheidung zu demonstrieren, erklärte er sich persönlich bereit (er habe allerdings noch mit niemandem darüber gesprochen), den Serben einen H a f e n an der Adria zu verschaffen und sie in die Österreich-ungarische Zollgemeinschaft aufzunehmen; das würde die Entente möglicherweise dazu bringen, „sich f ü r Rumänien zu desinteressieren". Daß es sich dabei um eine (uns wohlbekannte) Forderung des Prinzen Sixtus und einen Vorschlag handelte, den er selbst eben dem Kronrat gemacht hatte, blieb im Dunkel. U m zur Eile zu drängen, malte er die N o t l a g e Österreichs so düster aus, als ob eine innere Katastrophe, insbesondere eine Arbeiterrevolution der nichtdeutschen Nationalitäten ganz nahe bevorstünde: „Es ist bei uns nur noch eine Frage von Wochen, wie lange wir noch aushalten können", bestenfalls bis August oder September, aber auch das ist nicht sicher. Also tut höchste Eile not. Wenn Mensdorff (gemeint war natürlich: Kaiser K a r l ) „ein zweites Mal mit dem französischen Vertrauensmann zusammentrifft, wird er irgend etwas sagen müssen" (über günstige Friedensbedingungen der Zentralmächte). Die deutsche Seite war aber nun schon abgebrüht und ließ sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Auf die alarmierenden Nachrichten über Lebensmittelnöte erwiderte der Kanzler sehr kühl: es würde schwer sein, die O H L davon zu überzeugen; denn es kämen immer wieder Nachrichten von Offizieren und Beamten, die in Ungarn zu tun hatten, daß dort ein gewisser Uberfluß herrsche. Czernins Wunsch, auch Bulgarien an den (angeblichen) Verhandlungen in der Schweiz zu beteiligen (um so seine eigene Position zu verstärken), wurde als überflüssig und bedenklich abgelehnt, seine Warnung vor einem (angeblich) drohenden Sonderfrieden der Türken aus der diplomatischen Korrespondenz der jüngsten Zeit widerlegt, seine Beschwerde über das Verhalten der O H L in Polen als überholt nachgewiesen. Uber die Tätigkeit des Grafen Mensdorff in der Schweiz äußerte sich Zimmermann sehr skeptisch und warnte vor zuviel Empressement: man sollte die Gegner ruhig „kommen lassen", ihre Lage sei gerade jetzt keineswegs rosig. Beson-

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ders große Sorge hatte Czernin, das Auswärtige A m t könnte auf die Annahme eines etwas mysteriösen italienischen Angebots drängen, das im Februar der deutschen Gesandtschaft in Bern (einer großen Nachrichten- und Gerüchtezentrale) zugegangen war. Es schien aus dem italienischen Generalstab zu stammen und besagte, daß der K ö n i g von Italien zu einem Sonderfrieden mit Österreich bereit wäre, wenn er das Trentino und die „Vorherrschaft in Istrien" zugesagt erhielte. Wahrscheinlich war das Ganze nur ein taktisches Manöver Cadornas, um dem damals befürchteten Angriff österreichischer und deutscher Truppen aus Tirol zuvorzukommen 3 5 ). Bethmann Hollweg hatte dem Minister schon in Wien davon gesprochen, hatte sich aber gehütet, die Annahme des Vorschlags und die Abtretung des Trentino zu empfehlen, weil das mit Sicherheit Kompensationsforderungen Österreichs zur Folge gehabt hätte: entweder Überlassung eines Stücks von Schlesien 36 ) oder deutscher Verzicht auf einen Teil Elsaß-Lothringens. E r hatte sich aber gleichzeitig strikt geweigert, irgendeine Garantie f ü r die Rückgabe der jetzt von Italien besetzten Gebiete zu übernehmen. Jetzt bemühte sich Czernin eifrig, doch noch eine solche Zusage zu erhalten; er versicherte, die jetzige Stellung der Italiener sieben Kilometer vor Triest sei für die Monarchie unerträglich, und auch der H a f e n von Valona könne ihnen unmöglich überlassen werden. Kaiser K a r l habe geäußert, „er würde lieber zugrunde gehen als auch nur einen Quadratmeter von der Monarchie an Italien abtreten". Aber die deutschen Gesprächspartner blieben ungerührt, und das erst recht, als Czernin mit seinem wichtigsten Anliegen herausrückte: „Würde Deutschland eventuell bereit sein, einen Teil von Elsaß-Lothringen an Frankreich abzutreten?" Bethmann Hollwegs Antwort war kurz und ironisch: „ G r a f Czernin hat soeben erklärt, er könnte auch nicht einen Q u a dratmeter österreichischen Bodens an Italien abtreten — wir aber sollen den Franzosen ein Stück des Reichslandes geben!" Weiter als zu einer neuen Formulierung sehr gemäßigter deutscher Friedensziele in Ost und West 3 7 ) ließ er sich auch diesmal nicht drängen, und Zimmermann meldete überdies Deutschlands Interesse an dem rumänischen Petroleum an. Die neue diplomatische Offensive Czernins wurde also abgeschlagen; zugleich aber war in dem gegenseitigen Vorrechnen der großen, von beiden Zentralmächten im Krieg gebrachten O p f e r und Verluste sichtbar geworden, wie ihr Kriegsbündnis anfing brüchig zu werden: das gegenseitige Vertrauen war deutlich erschüttert. U m nicht mit leeren H ä n d e n aus Berlin zurückzukehren, setzte Czernin

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eine schriftliche Festlegung und Präzisierung der am 16. in Wien getroffenen mündlichen Abmachungen durch: einen Entwurf dazu hatte er von Wien mitgebracht, und zwar in der Form eines Briefwechsels zwischen ihm selbst und dem Reichskanzler, der beide Regierungen und ihre Staatsoberhäupter förmlich auf das vereinbarte Programm verpflichten sollte. Darauf hat sich aber die deutsche Regierung nicht eingelassen, sondern nur auf ein von Czernin und Bethmann unterzeichnetes „Resume" der Berliner Verhandlungen, und auch das nur in abgeschwächter Form, die zugleich eine Korrektur der Wiener Abmachungen enthielt. Zunächst war nicht mehr von einer Verpflichtung, sondern nur noch von einer Absicht der beiden Mächte die Rede, das von ihnen besetzte feindliche Gebiet zur Wiederherstellung des status quo ante bellum zu benutzen, und auch dies nur „in erster Linie", nicht mehr unbedingt. Vor allem: es sollte nicht bloß der status quo Österreich-Ungarns wiederhergestellt werden, sondern der „beider Mächte im Osten und im Westen". Bestand also Österreich auf deutschen Gebietsabtretungen im Westen, so konnte das dazu führen, daß sein Bundesgenosse die ganze Abmachung für hinfällig erklärte. Die Wiederherstellung des status quo wurde als „Minimalprogramm" bezeichnet, im zweiten Absatz wurde nicht mehr ohne weiteres von „Neuerwerbungen" gesprochen, sondern nur bedingungsweise, nämlich für den Fall eines „günstigen" Kriegsausgangs. Dann sollten die „Gebietserwerbungen der beiden Mächte mit den beiderseitigen Leistungen in Ubereinstimmung gebracht werden müssen" — was indirekt, aber eindeutig eine Vorrangstellung der deutschen Wünsche bedeutete. Czernin wird aber darüber befriedigt gewesen sein, daß es im Schlußsatz hieß: „Für Deutschland käme hierbei hauptsächlich der Osten, f ü r Österreich-Ungarn vor allem Rumänien in Betracht." N u r daß durch Einschiebung des Wortes „hauptsächlich" die Möglichkeit deutschen Gebietserwerbs auch im Westen (Briey!) offen gehalten wurde 38 ). Ein Bericht über den Verlauf der Berliner Verhandlungen wurde vom Auswärtigen Amt sofort zur Information Ludendorffs ins Große H a u p t quartier gesandt 39 ). Czernin aber war keinesfalls bereit, sich mit dem Ergebnis, das für die weiteren Verhandlungen mit Sixtus fruchtlos geblieben war, zufrieden zu geben. Sofort nach seiner Rückkehr nach Wien ließ er an die wichtigsten diplomatischen Missionen Österreichs einen eben eingelaufenen Bericht Musulins aus Bern mitteilen, in dem es hieß: immer deutlicher habe dieser den Eindruck gewonnen, daß die elsaß-lothringische Frage das entscheidende Friedenshindernis sei. Von der „Vernichtung des preußischen

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Militarismus" wären die Franzosen bereits zurückgekommen und vernünftiger geworden; aber man müsse ihrer Eitelkeit ein wenig Befriedigung in der Frage des Reichslandes gönnen, sonst gingen sie auf keinen Friedenskongreß. Hohenlohe wurde besonders beauftragt, diese Mitteilung bei der deutschen Regierung zu verwerten 40 ). Er sollte auch (nach einem weiteren Telegramm) dem Reichskanzler erneut mitteilen, daß territoriale Konzessionen an Italien ausgeschlossen wären und Österreich nur aufgrund des status quo sich zu einem Separatfrieden mit Italien bereit finden würde. Vermutlich ging das auf eine Weisung Kaiser Karls zurück 41 ). Aber in Berlin erklärte man, nicht zu verstehen, wie man sich diese Hartnäckigkeit mit einer gleichzeitig einlaufenden Meldung des Grafen Wedel zusammenreimen sollte: sowohl Czernin wie der Ministerpräsident Clam-Martinitz hätten ihm erklärt, Österreich könne aus inneren Gründen den Krieg unmöglich noch länger als sechs Wochen aushalten und müsse daher um jeden Preis Frieden schließen. Das war doch auch für Prinz Hohenlohe zu starker Tabak: er warnte seinen Minister, solche Notrufe nicht zu übertreiben, da sie bei den Deutschen zur Mißachtung des Bundesgenossen führen und Österreich in den Ruf bringen könnten, es verhindere durch sein Gejammer das Erkämpfen eines guten Friedens. Das würde sich bei späteren Friedensverhandlungen böse auswirken 42 ). Indessen Czernin wußte sehr wohl, was er tat: systematisch sollte auf die deutschen Staatsmänner im Sinn der geplanten Friedensaktion eingehämmert werden. Gleich nach seiner Rückkehr nach Wien am 28. März verabredete er mit Kaiser Karl einen ganz großen Schlag: einen Kaiserbesuch in Homburg mit dem Ziel, das Versprechen des „Kaiserbriefes" an Prinz Sixtus wahr zu machen, d. h. auf Wilhelm II. persönlich „mit allen Mitteln" im Sinn eines deutschen Verzichtfriedens einzuwirken 43 ). Wie diese Aktion gedacht war, gab der Minister unmittelbar vor der Abreise dem deutschen Botschafter Grafen Wedel bekannt: er hoffe, die deutsche Regierung zur Abtretung eines größeren Teiles von Elsaß-Lothringen ohne Briey als Gegenleistung zu bringen; Österreich würde f ü r die Herstellung eines allgemeinen Friedens zur Abtretung Galiziens oder Südtirols (also doch!) sofort bereit sein 44 ). In Schloß Homburg selbst ging Czernin noch weiter. Er hat dort vorgeschlagen, Deutschland solle ganz Elsaß-Lothringen abtreten und dafür eine Anwartschaft auf Polen nebst Galizien eintauschen. Darüber hat es allerdings eine regelrechte Verhandlung gar nicht gegeben, weil der Kaiserbesuch mehr als ein Familientreffen mit großem beiderseitigen Gefolge organisiert war denn als eine Arbeitstagung. Czernin hatte nur eine

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persönliche Aussprache mit dem Kanzler und später mit Ludendorff, dem er (natürlich vergeblich) das Friedensbedürfnis der Donaumonarchie plausibel zu machen suchte. Die offizielle Konferenz der Minister und Generäle wurde schon nach zehn Minuten dadurch unterbrochen, daß Czernin und der Kanzler zu den beiden Kaisern gerufen wurden. Wenn nun der Minister seine H o f f n u n g darauf gesetzt hat, daß Kaiser Karl diese Gelegenheit benutzen würde, um Wilhelm II. mit seinen Vorstellungen zu bestürmen und für seine Pläne zu gewinnen, so sah er sich schwer enttäuscht. Der junge Monarch, politisch unreif und geistig unbedeutend, fühlte sich einer so lebendigen Persönlichkeit wie Wilhelm II. gegenüber völlig hilflos. Er hat sein eigentliches Anliegen anscheinend überhaupt nicht vorzubringen gewagt, sondern es Czernin überlassen, die Lage Österreichs noch einmal schwarz in schwarz zu malen. Dies zu tun, hat er auch General Arz beauftragt, der aber dem Siegeswillen eines Hindenburg und Ludendorff gegenüber ebensowenig standhielt. Für die menschliche Schwäche Karls ist es bezeichnend, daß er nach dem Gespräch auf die Frage Kaiser Wilhelms, ob Czernin nicht doch die Lage zu düster geschildert hätte, die Antwort gab: „Graf Czernin übertreibt immer 4 5 )." Irgendwie muß aber die polnische Frage zwischen den beiden Kaisern zur Sprache gekommen sein. Denn Wilhelm hat angeboten, den Erzherzog Karl Stephan zum Regenten (und späteren König) von Polen zu berufen. Man einigte sich schließlich darüber, daß „weitgehende annexionistische Velleitäten" nicht einem rechtzeitigen Friedensschluß im Wege stehen dürften, und daß man „einer Verständigung revolutionärer Strömungen der verschiedenen Länder über die Köpfe der Regierenden hinweg" zuvorkommen müsse. Ein neues Friedensangebot sollte nicht gemacht, aber die schon laufenden „Friedenskonversationen" sollten fortgeführt werden, und zwar in gegenseitiger Verständigung beider Bundesgenossen. Vor allem: etwa zu bringende O p f e r sollten „in einem gewsisen billigen Verhältnis von beiden Staaten zusammen getragen werden". Mit diesem glatt und erfreulich klingenden Resume tröstete sich Czernin über den totalen Mißerfolg des Homburger Treffens hinweg 46 ). Wie hätte es auch gelingen sollen, selbst wenn man annimmt, daß der so plötzlich improvisierte Verzicht auf Galizien nachträglich im gemeinsamen Ministerrat Zustimmung gefunden hätte und die Schadloshaltung Österreichs durch Rumänien bei der Entente durchzusetzen gewesen wäre? Schon in den Berliner Verhandlungen vom 26. März hatte Bethmann Hollweg gesagt: kein

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Mensch in Deutschland würde es verstehen, wenn wir nicht nur alle besetzten Gebiete im Westen, sondern sogar einen Teil des Elsaß herausgeben, und als Ersatz dafür „den unbequemen polnischen Nachbarn" betrachten wollten, während Österreich-Ungarn ungeschmälert, ja durch serbisches und rumänisches Gebiet vergrößert aus dem Krieg hervorginge. Die eigentliche Schwäche des Czerninschen Vorschlages war aber nicht diese „Disproportion der Gewinne", sondern die Tatsache, daß er nicht die geringste Sicherheit dafür in der H a n d hielt, daß die Opferung Elsaß-Lothringens Deutschland einen sofortigen und „ehrenvollen" Frieden brachte. Die angebliche Mission Mensdorffs war Anfang April längst als Fiktion zu durchschauen, u n d von dem vermeintlichen Friedensangebot des Prinzen Sixtus durfte der Minister nicht einmal reden. Übrigens urteilte Ludendorff (den der Kanzler nach seiner Meinung fragte) ganz richtig, daß unmittelbar vor dem Losbruch der feindlichen Frühjahrsoffensive ein deutsches Friedensangebot militärisch, aber auch politisch verfehlt wäre. Nicht minder richtig meinte Graf Wedel, daß man zum mindesten erst einmal abwarten müsse, wie sich die Verhältnisse an der revolutionären russischen Front entwickelten. War es nicht letztlich überhaupt ein verfehlter Gedanke, gerade jetzt, da der russische Gegner ins Taumeln geriet, während die Siegeshoffnung der Westmächte durch den Kriegseintritt Amerikas mächtigen Auftrieb erhielt, einen Sonderfrieden durch große Opfer im Westen erkaufen zu wollen, statt durch Verzicht auf fragwürdige Annexionen im Osten und durch vorteilhafte Angebote in Petersburg? Graf Czernin betrachtete sich selbst als klugen Realisten im Gegensatz zu den verblendeten deutschen Militaristen. Gewiß nicht ohne Grund. Aber der Plan, den er in Homburg vorschlug, w a r nicht realistisch, sondern auf Sand gebaut — um nicht zu sagen dilettantisch. I m Berliner Auswärtigen Amt fand man ihn „grotesk". Unterstaatssekretär von dem Bussche erinnerte sich daran, von Czernin einmal gehört zu haben, „die Deutschen wären durch Erwerb Elsaß-Lothringens 1870 schuld am Kriege und müßten in dieser Beziehung ein Opfer bringen 47 )". Aber Czernin hat, wie sich noch zeigen wird, auch nicht einseitig auf den vermeintlichen französischen Friedensfühler gesetzt. Vielleicht hat er seinen „ grotesken " Plan des Länderaustausches (Polen-Galizien gegen Elsaß-Lothringen) eben deshalb in Homburg nur mit halber K r a f t betrieben, weil inzwischen eine ganz neue, ganz andersartige Friedensmöglichkeit am politischen Horizont aufgetaucht war.

11. K a p i t e l

D I E R U S S I S C H E M Ä R Z R E V O L U T I O N U N D DAS P R O G R A M M EINES ANNEXIONSLOSEN

Erster

FRIEDENS

Abschnitt

Deutschlands Hoffnung auf das revolutionäre in Rußland

Chaos

Die Tage vom 12.—15. März 1917, an denen das Zarenregiment in R u ß land widerstandslos zusammenbrach, bezeichnen den Anfang einer geschichtlichen Wende, deren epochale Bedeutung uns heute erst voll bewußt geworden ist. Denn aus dem Chaos, das die Petersburger Märzrevolution durch Zerstörung aller alten Autoritäten anrichtete, ist unter dem Druck der Kriegsnöte nach wenigen Monaten der neue Staatstypus emporgestiegen, dessen Erscheinen das alte Europa völlig verwandelt hat: die totalitäre Demokratie, der Einparteienstaat. E r war in Rußland die Schöpfung eines genialen Einzelgängers, eines Fanatikers von dämonischer Wildheit und Willensstärke. Aber er war zugleich die äußerste Konsequenz und Obersteigerung eines Entwicklungsprozesses, den der Weltkrieg — der erste totale Krieg — in allen daran beteiligten Staaten Europas in Gang gebracht hatte: der Auflösung der Gesellschafts- und Staatsformen des bürgerlich-liberalen Zeitalters und ihrer Umwandlung zur Massendemokratie des 20. Jahrhunderts. So hat mit dem J a h r 1917 eine neue Epoche der Weltgeschichte begonnen. Natürlich hat keiner der Mitspieler bei dem Petersburger Arbeiter- und Soldatenaufstand des März 1917 geahnt, welche unheimlichen Konsequenzen der jähe Zusammenbruch aller öffentlichen Autorität in dem alten Zarenstaat diesmal haben würde. Alles glaubte, nur eine verbesserte, d. h. radikalere Wiederholung der Revolution von 1905 zu erleben. Noch viel weniger haben die ausländischen Beobachter begriffen, was da eigentlich vor sich ging. Ganz naiv glaubten die bürgerlich-liberalen Politiker des Westens,

Deutschlands Hoffnung auf das revolutionäre Chaos in R u ß l a n d

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nun endlich wäre das Ärgernis beseitigt, das sie seit Kriegsbeginn verdrossen hatte: gemeinsam mit einer höchst reaktionären Autokratie für den Sieg liberal-demokratischer Freiheitsideale fechten zu sollen. In der historischen Sitzung des Wilsonschen Kabinetts am 20. März, in dem die Kriegserklärung an Deutschland beschlossen wurde, hat Lansing dem Präsidenten vorgestellt, jetzt gerade sei der rechte Moment gekommen, den Krieg als Kreuzzug für die Demokratie und gegen den Absolutismus zu proklamieren; denn jetzt sei die Autokratie in Rußland gefallen, und die junge russische Demokratie müsse ermutigt werden 1 ). So dachte man überall im Westen, und bald hagelte es Glückwunschtelegramme an die provisorische Regierung in Petersburg, abgesandt nicht nur von Vertretern der sozialistischen Arbeiterparteien, sondern ebenso von den Parlamenten und Regierungen der alliierten Mächte. Aber diese Freudenbezeugungen und Sympathiekundgebungen waren ein Irrtum, sofern sie die russische Revolution als einen Aufbruch des russischen Volkes zu verstärkter militärischer Aktivität verstanden. Nicht um die O p f e r und Anstrengungen des Krieges noch zu steigern, haben sich die meuternden Soldaten der Petersburger Garnison und die Arbeiter der Kriegsindustrie erhoben, sondern um dem ganzen Kriegselend so rasch wie möglich ein Ende zu machen. N u r die merkwürdige Tatsache, daß die dünne Schicht des liberalen Bürgertums, die im „Duma-Block" der bürgerlichen Linksparteien politisch organisiert war, im Chaos der Revolution zunächst obenauf kam, hat den entschieden kriegsfeindlichen Charakter der revolutionären Massenbewegung vorerst verdeckt. Diese Liberal-Demokraten organisierten sich als „provisorische Regierung" und machten den radikalsten aller Chauvinisten, den Historiker Miljukow, zum Außenminister. Aber von Anfang an war der Zwiespalt innerhalb der revolutionären Staatsleitung offenkundig, da neben der „provisorischen Regierung" der Petersburger,, Arbeiterund Soldatenrat" stand, der sich mit seinem Exekutivausschuß als Organ des unmittelbaren, echten Volkswillens betrachtete. Ohne die vermittelnde T ä tigkeit des Sozialrevolutionärs Kerenski, der als einziger Vertreter der radikalen Linken in die Regierung eintrat, hätte diese sich überhaupt nicht durchsetzen können, und der Gegensatz der politischen Meinungen zwischen ihr und den „Arbeiter- und Soldatenräten" (Sowjets) ließ sich nur durch immer neue Konzessionen beschwichtigen. Eben dieser Gegensatz war es nun, auf den die Mittelmächte im Moment des Umbruchs ihre H o f f n u n g setzten. Die deutsche Regierung war schon seit Jahren bemüht, mit H i l f e aller möglichen Agenten, unter denen die aben-

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Elftes Kapitel I

teuerliche Gestalt des russischen Sozialisten Dr. Alexander Parvus-Helphand eine besonders große Rolle spielte, die revolutionäre Bewegung in Rußland zu stärken, soweit sie sich für eine Völkerverständigung einsetzte und gegen den von der Entente immer wieder angefachten russischen Nationalismus ankämpfte. Das lief auf eine planmäßige Unterwühlung des Kampfwillens in Armee und Volk hinaus, mit Hilfe der Parolen des grundsätzlichen Pazifismus und des Internationalismus der extremen Linken, wie er sich besonders auf den Sozialistenkonferenzen in Zimmerwald und Kienthal während des Krieges äußerte. Sturz der bürgerlichen Regierungen, Vereinigung der Proletarier aller Länder zur Herbeiführung des Weltfriedens, also Weltrevolution war hier das letzte Ziel. Es erscheint auf den ersten Blick höchst verwunderlich, daß die Regierung der deutschen Monarchie sich nicht gescheut hat, mit diesen Kräften des Umsturzes in heimliche Verbindung zu treten und durch Jahre hindurch ganz gewaltige Summen (Beträge von vielen Millionen!) an die Unterstützung russischer Emigranten und ihrer illegalen Propagandatätigkeit zu wenden. Man hantierte da mit einem hochexplosiven Zündstoff und war sich dessen auch bewußt. Aber da alle (uns schon bekannten) Bemühungen, mit der zaristischen Regierung zu einem Sonderfrieden zu kommen, vergeblich blieben, so scheute man vor dem Paktieren mit revolutionären Kräften nicht zurück. In der Notlage eines immer aussichtsloser werdenden Krieges hielt man alle Mittel für erlaubt, um den eisernen Ring unserer Gegner zu sprengen. General Max Hoffmann hat das in soldatischer Form ausgesprochen: „Ebenso wie ich Granaten gegen den feindlichen Schützengraben schieße, wie ich Giftgase gegen ihn abblase, habe ich als Feind das Recht, die Mittel der Propaganda gegen seine Besatzung anzuwenden 2 )." Wie sich die Förderung der revolutionären Propaganda in Rußland in weiterer Zukunft auswirken würde, w a r ganz ungewiß und ließ sich von Deutschland aus schon gar nicht übersehen; hier dachte man nur an die dringende Not des Tages und wartete mit Ungeduld auf den moralischen Zusammenbruch des Gegners. Um ihn zu beschleunigen, wurde mit allen Agenten Rußlands zugleich verhandelt, an die man irgendwie herankam: mit Kundschaftern der regierenden Schicht ebenso wie mit den Todfeinden des Zarentums. Zentrum der Verbindung mit den Revolutionären waren die Gesandtschaft in Kopenhagen unter dem Grafen Brockdorff-Rantzau und die in Bern, wo der Gesandte Freiherr von Romberg zur russischen Emigration in Zürich, die sich um Lenin scharte, mancherlei Verbindungen besaß. Diese Emigranten

Deutschlands H o f f n u n g auf das r e v o l u t i o n ä r e Chaos in R u ß l a n d

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waren sehr großzügig in der Annahme von deutscher Geldunterstützung 3 ). Audi Lenin hat davon offenbar keine Ausnahme gemacht, wenn er auch mit größter Sorgfalt darauf bedacht war, direkte Berührung mit deutschen Agenten (insbesonders mit Helphand) zu vermeiden. Nach einem Immediatbericht Kühlmanns vom 3. Dezember 1917 4 ) sind ihm auch nach seiner Heimkehr nach Petersburg noch reichliche Geldmittel aus deutschen Quellen zugeflossen, die es ihm ermöglichten, sein Parteiblatt Prawda und seine sonstige Propaganda in großem Stil auszubauen. Natürlich dachte er nicht daran, dem kaiserlichen Deutschland irgendwie sich nützlich zu machen, sondern benutzte das deutsche Geld ausschließlich dazu, seine weltrevolutionären Pläne zu betreiben; aber diese schlössen doch einen sofortigen und radikalen Abbau des Krieges durch Erhebung des Proletariats gegen die „Imperialisten" aller Länder, auch Rußlands, ein. Ebenso selbstverständlich war f ü r die deutsche Diplomatie die russische Revolution nur Mittel f ü r deutsche Zwecke: sie sollte im Lager des Gegners das Chaos anrichten— ein Chaos, das noch vergrößert werden sollte durch Förderung separatistischer Bestrebungen in der Ukraine und den baltischen Küstenländern. Brockdorff-Rantzau hat auf die Wirksamkeit solcher Mittel das größte Vertrauen gesetzt, offenbar unter dem Einfluß Helphands, den er immer wieder in Berlin als Vertrauensmann empfahl. „Der Sieg und als Preis der erste Platz der Welt ist unser", schrieb er im Dezember 1915 in einem Bericht, „wenn es gelingt, Rußland rechtzeitig zu revolutionieren u n d dadurch die Koalition zu sprengen 5 )." Diese H o f f n u n g war nun freilich immer wieder enttäuscht worden, und den Märzaufstand von 1917 haben weder deutsche noch englische Treibereien bewirkt. Seine Ursache war die tiefe Erschöpfung des Landes und die Erbitterung fast aller Volksschichten — auch der bürgerlichen — auf das allgemein als unfähig und korrupt empfundene Regiment der zaristischen Bürokratie. Sein Zusammenbruch wurde aber in Berlin und Wien und nicht zuletzt im deutschen Hauptquartier mit ebenso großer Erleichterung begrüßt wie in den Ententeländern. N u r im umgekehrten Sinn: man erhoffte sich davon nicht ein neues Aufflammen, sondern ein völliges Erlöschen des russischen Kampfwillens, und man setzte nicht so sehr auf die provisorische Regierung, die sich unter dem Vorsitz des liberalen Fürsten Lwow als Ausschuß des bürgerlichen Duma-Blocks bildete, wie auf die Arbeiter- und Soldatenräte. Die Frage war nun dringend, was geschehen könnte und geschehen sollte, um den dort tätigen Kräften der Opposition gegen den Krieg, also

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Elftes Kapitel I

den „Defaitisten" und Deserteuren, zum Sieg zu verhelfen. Darüber gab es Meinungsdifferenzen zwischen Politikern und Soldaten, vor allem aber zwischen der Berliner und der Wiener Regierung, die das Bündnis der Mittelmächte schwer erschüttert haben. Im Oberkommando Ost, das jetzt dem Prinzen Leopold von Bayern und General H o f f m a n n als Generalstabschef unterstand, war die erste Reaktion auf die Nachrichten aus Petersburg der schlicht soldatische Wunsch, sofort durch „einige kräftige Offensivschläge" die gesunkene Kampfmoral der russischen Truppen vollends zu vernichten. Ein solcher Offensivschlag ist denn auch bei günstiger Gelegenheit am 3. April (bei Toboly am Stochod) durchgeführt worden, mit großem militärischem Erfolg, aber mit der politischen Wirkung, daß die Versicherungen deutscher Unterhändler, Deutschland suche Frieden mit dem russischen Volk, ebenso unglaubhaft wurden wie die entsprechenden Kundgebungen deutscher Sozialistengruppen. Politisch war dieser Teilsieg also nur eine Verlegenheit, und die Oberste Heeresleitung verbot vorläufig jeden weiteren Angriff dieser Art; denn auch Ludendorff sah ein, daß mit solchen Teilerfolgen mehr geschadet als genutzt wurde, und zur Durchführung einer Großoffensive fehlten ihm angesichts der gespannten Lage an der Westfront die Streitkräfte 6 ). Soweit war auch nach dem Urteil H o f f m a n n s die Zersetzung der russischen Front noch nicht fortgeschritten, daß an ein widerstandsloses Vordringen deutscher Truppen zu denken war. Auch die sozial-revolutionäre Volkspartei, die im russischen Arbeiter- und Bauernstand seit 1905 den größten Anhang hatte, war nicht unpatriotisch oder international gesinnt, wie die extremen Marxisten in der Gefolgschaft Lenins. Es war für Offiziere und Propagandisten der Regierung immer noch möglich, den einfachen Muschik davon zu überzeugen, daß die neu errungene Freiheit gegen die deutsche Reaktion verteidigt werden müsse und daß man diesem Gegner auch nicht erlauben dürfe, größere Truppenteile von der Ostfront nach dem Westen zu schaffen, um so den Sieg der Alliierten zu verhindern. Selbst die Bolschewisten Stalin und Kamenew haben sich vor dem Wiedererscheinen Lenins in Petersburg energisch gegen ein einfaches Verlassen der Front im Sinn der defaitistischen Parole: „Nieder mit dem Krieg" gewandt. Was ließ sich nun tun, um diese patriotische Haltung zu zersetzen? Darüber haben im März und April der Gesandte von Romberg und Graf Brockdorff-Rantzau mit russischen Emigranten eifrig verhandelt. Brockdorff riet, „unter der H a n d die Gegensätze zwischen der gemäßigten und der extremen Partei zu ver-

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tiefen", die letztere mit allen Mitteln zu fördern, aber ohne „von außen erkennbare Einmischung", und so ein Chaos anzurichten, das dann in einigen Monaten der deutschen Armee ermöglichen würde, rasch den totalen Zusammenbruch der russischen Macht herbeizuführen"). Niemand aber schien zu der Agitation, auf die man hoffte, so geeignet wie Lenin, der radikalste aller Revolutionäre, und seine Anhänger. Schon seit 1915 wußte Bethmann Hollweg, daß zu seinem Umsturzprogramm „ein sofortiges Friedensangebot ohne Rücksicht auf Frankreich" gehörte, allerdings unter Verzicht Deutschlands auf Annexionen und Kontributionen. Und schon Lenins erster Entwurf revolutionärer Thesen, mit dem er im März 1917 die provisorische Regierung bekämpfen wollte, enthielt fast als wichtigstes die Forderung, „unverzüglich und offen allen kriegführenden Ländern vorzuschlagen, sofort einen Waffenstillstand und dann einen Frieden auf der Grundlage der völligen Befreiung aller Kolonien und aller abhängigen und nicht gleichberechtigten Nationen zu schließen". D a s klang utopisch, aber sehr radikal. Der vierte seiner später berühmt gewordenen „Berichte aus der Ferne" (vom 25. März) wendet sich erbittert gegen die von Maxim Gorki soeben verkündete Parole eines „ehrenvollen Friedens" als „landläufiges Spießervorurteil" und entwickelte ein Friedensprogramm, das auf Proklamierung der Weltrevolution hinauslief 8 ). Für die deutsche Diplomatie war von alledem so viel erkennbar, daß hier auf die unbedingte Kriegsmüdigkeit der Massen gerechnet und jeder Patriotismus (auch der im sozialistischen Lager) als „Spießertum" heftig bekämpft wurde. So hat denn Bethmann Hollweg sofort nach Ausbruch der russischen Revolution zugestimmt (oder sogar Anweisung gegeben 9 )), daß Romberg Verbindung mit den in der Schweiz lebenden russischen Revolutionären, vorzüglich mit Lenin, aufnahm und ihnen die Aussicht auf Rückkehr nach Rußland über Deutschland und Schweden eröffnete. Die Verhandlungen darüber haben bekanntlich sehr rasch zum Ziel geführt: schon am 12. April konnte die erste Gruppe russischer Emigranten, darunter Lenin, von Zürich abfahren, mit sicherem Geleit über die Grenzen und quer durch Deutschland. Alle an dieser Aktion beteiligten Stellen haben sie eifrig und ohne jedes Bedenken gefördert: Bethmann Hollweg, der Kaiser, das Auswärtige Amt, die O H L , die deutsche Gesandtschaft in Bern, die Schweizer Behörden, die Sozialdemokraten und ihre Gewerkschaft 1 0 ). Später sind noch weitere Transporte russischer Emigranten nachgefolgt, und auch die Alliierten sahen sich nach dem deutschen Vorgang genötigt, den bei ihnen lebenden russischen

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Elftes Kapitel I

Revolutionären die Heimreise zu gestatten — darunter einer so bedeutenden Führergestalt wie Trotzki, der aus Amerika zurückkehrte. Niemand, weder bei uns noch im Ausland, ahnte etwas davon, welche unheimlichen geschichtlichen Folgen dieser Rücktransport dereinst haben würde. Alles dachte nur an die Bedürfnisse der Tagespolitik. Aber gerade vom Gesichtspunkt der nächsten tagespolitischen Sorgen her gesehen erscheint die Heimbeförderung Lenins als ein Fehlschlag. Zwar hat gleich sein erster Aufruf nach der Rückkehr die Regierung Lwow als gekaufte Helfershelfer englischer und französischer Imperialisten beschimpft und sich darüber entrüstet, daß Millionen russischer Bauern und Arbeiter geopfert würden, „um Gutschkow (dem Kriegsminister) Konstantinopel zu verschaffen, Syrien den Franzosen und Mesopotamien dem englischen Kapitalismus auszuliefern". Er hat auch die sofortige Veröffentlichung aller geheimen Allianzverträge verlangt. Aber bekanntlich ist es ihm durchaus nicht gelungen, sogleich den von ihm geförderten Bürgerkrieg zum Sturz der Regierung und Errichtung der Rätediktatur in Gang zu bringen. Durch die Maßlosigkeit seiner revolutionären Forderungen stieß er sogar viele seiner ältesten Anhänger vor den Kopf und war zunächst viel mehr mit seinem innerpolitischen Programm als mit der Friedenspropaganda beschäftigt. Die Predigt eines totalen Defaitismus konnte er schon deshalb nicht wagen, weil er ohnedies durch das Gerücht bedroht war, ein von Deutschland bezahlter Agent zu sein. Ein russisches Angebot, Sonderfrieden zu machen, hatte er nie gewünscht, weil sein oberstes Ziel, die Weltrevolution, nur erreicht werden konnte, wenn die Sozialisten aller Länder sich f ü r den Frieden erhoben. Er hat sich auch nach seiner Rückkehr öffentlich dagegen ausgesprochen, ebenso wie die provisorische Regierung und schließlich auch die Mehrheit der Sowjets. Unterdessen gelang es Kerenski durch ein riesiges Aufgebot von Propaganda, an der Front wieder eine gewisse Kampfbereitschaft zu erzeugen und am 30. Juni in Galizien eine neue Offensive durchzuführen. Auch nach ihrem Scheitern infolge einer deutschen Gegenoffensive war das Spiel Lenins noch nicht gewonnen. Der von den Bolschewiki inspirierte Aufmarsch von Soldaten und Arbeitern gegen die provisorische Regierung verlief sich wieder, weil die Exekutive der Sowjets nicht mitmachte, und die Veröffentlichung gewisser Dokumente über die Zahlung deutscher Hilfsgelder für die Partei Lenins erregte größte Empörung in allen Kasernen. So konnte die Verhaftung der bolschewistischen Führer angeordnet und teilweise auch durchgeführt werden. Lenin selbst mußte sich verbergen, floh nach Finnland und konnte erst

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Ende Oktober wagen, heimlich nach Petersburg zurückzukehren. Es hat also über ein halbes Jahr gedauert und einer unendlich mühsamen Propaganda und Organisationsarbeit im ganzen Lande bedurft, bis seine Stunde kam. Erst die Novemberrevolution hat dann die Parole des „Friedens um jeden Preis" durchgesetzt, und auch der Partei Lenins wäre das nicht gelungen, hätten nicht das noch weiter gesteigerte Elend der Kriegsfolgen, die Furcht vor einem vierten Kriegswinter, das völlige Erlöschen des Kampfwillens in den Schützengräben und das Desertieren von Millionen bäuerlicher Soldaten, die an der Verteilung des Großgrundbesitzes teilnehmen wollten, die Fortsetzung des Krieges ohnedies sinnlos gemacht. Wenn es also nicht gelang, durch Schüren des Chaos im Innern Rußlands den Krieg rasch und gewaltsam zu Ende zu bringen, was blieb dann anderes übrig als der Versuch einer friedlichen Verständigung mit den Elementen, die sich friedenswillig zeigten, und zwar unter Schonung ihrer nationalen Empfindlichkeit? Eben dies war denn auch das Ziel, dem die Diplomatie der Mittelmächte mit dem größten Eifer zustrebte. Den ersten Anstoß gab eine Erklärung russischer Sozialisten in Kopenhagen am 25. März, ihre Partei wünsche sofortigen Frieden, aber ohne Eroberungen und Kriegsentschädigungen; sie würde sich aber jedem Versuch Deutschlands energisch widersetzen, die Entwicklung der russischen Revolution zu hindern und dem alten Regime irgendwelche Dienste zu leisten 11 ). Schon am nächsten Tag wurden sich Bethmann Hollweg und Czernin bei ihren Berliner Verhandlungen darüber einig, auf diesen Appell zustimmend zu antworten. Der Kanzler tat es in seiner Reichstagsrede vom 29. März. Er gab die Versicherung ab, in Deutschland dächte niemand daran, „die Herrschaft des Zaren über seine geknechteten Untertanen wiederherzustellen" oder sich überhaupt in die inneren Verhältnisse Rußlands einzumischen. Wir wünschten nur, „möglichst bald mit dem russischen Volk wieder in Frieden zu leben", und zwar in einem „für alle Teile ehrenvollen" Frieden. Eine Kundgebung der deutschen Sozialdemokratie bestätigte diese Erklärung zwei Tage später mit Nachdruck 12 ). Czernin ging (in einem Interview des „Wiener Fremdenblattes" vom 30.) noch weiter: er gab sich zwar (im Gegensatz zu seinen internen Äußerungen, die wir kennen) äußerst siegeszuversichtlich, schlug aber vor, sofort eine Friedenskonferenz aller kämpfenden Mächte einzuberufen; das könne ja auch ohne vorherigen Waffenstillstand geschehen; über die Friedensbedingungen sprach er sich so aus, wie es im Friedensangebot der Mittelmächte vom 12. Dezember geschehen war 13 ). Noch eifriger drängte man in

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Bulgarien darauf, die neue Lage in Rußland auszunutzen. Besonders Zar Ferdinand empfahl, sich nicht mit Neutralitätserklärungen gegenüber der Revolution zu begnügen, sondern der neuen Regierung einen möglichst günstigen Frieden anzubieten 14 ). Aber auf die erste, friedfertig klingende Erklärung russischer Emigranten folgte bereits am 27. März ein Aufruf des Petersburger Sowjets an die Proletarier aller Länder, in erster Linie an die deutschen und österreichischen, sich nach russischem Muster gegen ihre annexionistischen Regierungen zu erheben, deren „selbstherrliches Joch abzuwerfen", den Waffendienst „für Könige, Gutsbesitzer und Bankiers" zu verweigern und damit „diesem monströsen Krieg" ein Ende zu machen. Mit einem Schlage wurde so die bedrohliche Kehrseite der Petersburger Ereignisse deutlich — so deutlich, daß die militärische Zensur sofort eingriff und die Veröffentlichung dieser Proklamation verbot. Die monarchischen Regierungen der Mittelmächte spürten, daß eine mächtige Welle demokratischer Oppositions- und Reformbestrebungen in ihren Völkern jetzt auf sie zukam, seit das Zarentum in Rußland gefallen war und Präsident Wilson der „Autokratie" feierlich den Krieg erklärt hatte. In diesen Tagen hat Bethmann Hollweg den Entschluß gefaßt, die Reform des preußischen Wahlrechts, über die nun schon seit Jahren im preußischen Staatsministerium beraten wurde, in einer feierlichen „Osterbotschaft" des Kaisers anzukündigen. Er hatte dringenden Anlaß, einer drohenden Radikalisierung der Sozialdemokratie entgegenzuwirken, deren linker Flügel sich gerade an Ostern zu einer eigenen Partei „unabhängiger" Sozialisten zusammenschloß. (Gothaer Tagung vom 9. bis 11. April.) Überdies fürchtete die Regierung den Ausbruch einer gefährlichen Streikbewegung nach einer, Mitte April bevorstehenden, neuen Kürzung der Lebensmittelrationen - eine Befürchtung, die sich dann auch bestätigt hat. Auch die Wiener Regierung sah sich zum Entgegenkommen gegen populäre Strömungen genötigt: sie entschloß sich, jetzt endlich den seit Frühjahr 1914 vertagten Reichsrat der österreichischen Reichshälfte einzuberufen — trotz der Gewißheit, daß darin sofort wieder die unversöhnlichen Gegensätze der Nationalitäten aufeinanderplatzen und tausend Beschwerden laut werden würden. Uber die Haltung der russischen Machthaber zur Friedensfrage liefen in diesen Wochen sehr widersprechende Meldungen ein. Die erste kam von Matthias Erzberger, der als immer eifriger Amateurdiplomat sich sofort nach dem Umsturz auf den Weg gemacht hatte, um Friedensmöglichkeiten auszukundschaften. Mit Zustimmung des Auswärtigen Amtes fuhr er nach Stock-

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holm, auf Einladung eines früheren russischen Staatsrats Kolyschko, der seit Kriegsausbruch dort schriftstellernd lebte und schon im Sommer 1 9 1 6 mit Hugo Stinnes über deutsch-russische Friedensmöglichkeiten verhandelt hatte 1 5 ). In langen Unterredungen (am 26. März) gab dieser liberale Mittelsmann, offensichtlich ohne alle amtliche Vollmacht 1 6 ), die Versicherung ab, „die neue Regierung wolle gut Freund mit Deutschland werden"; doch müsse Deutschland auf „größere Annexionen" verzichten und sich mit (immerhin beträchtlichen) Grenzkorrekturen begnügen, außerdem über die polnische Frage Verständigung suchen und gewisse russische Ansprüche an die Türkei unterstützen. Diese und noch weitere „Ergebnisse" meldete Erzberger dem Kanzler mit schwungvoll-pathetischem Optimismus: einer der Momente der Weltgeschichte sei jetzt erreicht, da es nach Bismarcks berühmten W o r t gelte, „den Saum des Kleides der Vorsehung zu berühren" — und zwar schnell, ehe es zu spät wäre! Er empfahl dringend ein sofortiges Angebot an R u ß land mit maßvollen Friedensbedingungen, wollte am 20. April mit K o lyschko weiter darüber verhandeln und war überzeugt, daß ein Sonderfriede erreichbar wäre, obwohl sein Gesprächspartner nur von einem allgemeinen Frieden gesprochen hatte 1 7 ). Wenige Tage darauf, am 5. April, erschien eine Erklärung des neuen Außenministers in der Presse, die sich ausdrücklich zu den Kriegszielen der Entente bekannte. Darin wurde die Rückkehr zum status quo, also ein Frieden ohne Annexionen und Entschädigungen, wie ihn der Petersburger Sowjet drei Tage vorher erneut proklamiert hatte, ausdrücklich abgewiesen: das würde „ganz und gar dem deutschen Interesse entsprechen". Von Sonderfrieden war natürlich erst recht keine Rede. Allerdings stieß diese Haltung bei den Sowjets auf heftigen Widerspruch, so daß sich die provisorische R e gierung gezwungen sah, am 9. April eine neue Kundgebung zur Frage der Kriegsziele zu veröffentlichen. Mit ihren sehr gewundenen Formulierungen stellte sie ein ausgesprochenes Kompromiß dar: sie betonte die Bereitschaft des russischen Volkes, „das nationale Erbe um jeden Preis zu verteidigen", den Feind aus dem Land zu jagen und immer „in enger Gemeinschaft mit den Alliierten" zu handeln; gleichzeitig aber versicherte sie, keine Machterweiterung zu erstreben und fremde Völker nicht knechten zu wollen, sondern das Recht jedes Volkes zur Selbstbestimmung anzuerkennen — wie es soeben (am 29. März) durch Proklamation eines unabhängigen Polen geschehen war, das alle Gebiete mit polnischer Bevölkerungsmehrheit (also auch die deutschen und österreichischen!) einschließen sollte.

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Elftes Kapitel II

Zweiter Abschnitt

Czernin,

Bethmann Hollweg und die sowjetische

Friedensformel

Miljukows Erklärung war eine sehr ernüchternde Antwort auf den naiven Optimismus Erzbergers, und dieses beständige Tauziehen zwischen Regierung und Sowjets ließ deutlich erkennen, daß die Zeit vorbei war, in der man allenfalls hoffen konnte, durch Vermittlung wohlgesinnter Emigranten und Staatsräte der Zarenzeit in Petersburg etwas Nützliches auszurichten. Alles in allem wirkte die Erklärung des Kabinetts Lwow eher wie ein Aufruf des russischen Volkes zu neuem Kriegseifer denn als Friedensparole. Trotzdem bemühte man sich in Berlin und Wien, aus der Ablehnung von Eroberungen so etwas wie einen verschleierten Friedensfühler herauszulesen. Besonders stark war Czernin von den Nachrichten aus Petersburg beeindruckt. Noch am 7. April, also lange nach Abschluß der Homburger Besprechungen, hatte er in Berlin mit Energie darauf gedrängt, Deutschland müsse „durch weitgehende Konzessionen an der Westfront den Frieden erkaufen", dachte also an Friedensschluß im Westen. Als zwei Tage später eine Depesche aus Kopenhagen einlief, die so klang, als hätten sich die Sowjets zu einem Sonderfrieden ohne Annexionen und Entschädigungen bereit erklärt, schlug er sofort eine „konforme" Erklärung der beiden verbündeten Regierungen vor, die einen vollständigen Verzicht auf Annektionen im Osten aussprechen sollte 18 ). Aus Berlin kam die Antwort: gewiß wäre man auch dort der Meinung, „russische Friedenswünsche, wenn irgend tunlich, nähren zu sollen"; aber an wen sollte man sich halten, so lange man nicht wisse, wer in Petersburg eigentlich die Macht in Händen hielte? Einstweilen widerspräche eine Meldung der anderen, und so lange das Chaos anhielte, wäre jede Kundgebung zwecklos 19 ). Aber bei dieser Taktik des Abwartens blieb es nicht. Bereits am 13. bat Bethmann Hollweg den Prinzen Hohenlohe zu sich und erklärte sich bereit, gemeinsam mit Wien auf die Kundgebung der Regierung Lwow eine Antwort zu erteilen. Er begründete das wesentlich mit innenpolitischen Motiven: man dürfe angesichts der inneren Spannungen in beiden Reichen den Vorschlag eines annexionslosen Friedens nicht unbeantwortet lassen. Aber sich auf einen Frieden völlig ohne Annexionen festzulegen, wäre unratsam. In Rußland würde ein allzu eiliges Entgegenkommen die Haltung nur versteifen, in Frankreich und England würde sie mit Jubel „als Symptom unseres

C z e r n i n , B e t h m a n n H o l l w e g u n d die sowjetische F r i e d e n s f o r m e l

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kompletten Zusammenbruchs" begrüßt werden. Er schlug also vor, eine allgemeine Zustimmung zu den Grundsätzen der russischen Kundgebung zu erklären mit dem Hinzufügen, die Mittelmächte waren „nach wie vor zu einem für beide Teile ehrenvollen Frieden" bereit 20 ). Das war eine ausgesprochene Halbheit: mehr ein Mittel der bloßen Beschwichtigung der öffentlichen Meinung als ein ernst gemeinter diplomatischer Schritt. Was hat Bethmann dazu veranlaßt? Am 12. hatte Erzberger in vielstündigen Gesprächen auf den Kanzler, auf Helfferich, Zimmermann und Unterstaatssekretär Stumm eingeredet, die günstige Gelegenheit eines (vermeintlichen) Friedensfühlers der provisorischen Regierung doch ja nicht zu versäumen. Da er einsah, daß eine direkte Antwort kaum möglich war, hatte er vorgeschlagen, Kaiser Wilhelm solle durch einen sofort zu publizierenden Brief an den Kanzler (im Stil der „Osterbotschaft") diesen in aller Form zur Eröffnung von Friedensverhandlungen ermächtigen. In seinem bekannten Ubereifer schickte er auch sogleich einen Entwurf des kaiserlichen Briefes an Admiral von Müller zur Vorlage beim Kaiser — natürlich mit dem Erfolg, daß die O H L Einspruch erhob 21 ). Sie veranlaßte Wilhelm auch zur Ablehnung des Entwurfs für eine gemeinsame Kundgebung beider Monarchen, den Bethmann Hollweg (Czernin entgegenkommend) am 12. vorgelegt hatte, in der sie sich zum Abschluß eines gemäßigten Friedens bereit erklären sollten. Wie mißtrauisch man im Hauptquartier durch die umlaufenden Friedensgerüchte geworden war, hatte schon am 5. April ein von Hindenburg unterzeichnetes Schreiben an den Kanzler gezeigt, in dem er eine sofortige Verständigung mit dem Bundesgenossen über die Rußland zu stellenden Friedensbedingungen für notwendig erklärte. Zuvor aber müßte darüber ein „Einvernehmen der zahlreichen und leider recht widerstrebenden deutschen Stellen" erzielt werden, und zwar sehr rasch und in der Form „kommissarischer Beratungen 22 )". Damit meldete die O H L ihr Mitspracherecht deutlich an, und es war mit absoluter Sicherheit vorauszusehen, daß sie mit äußerster Zähigkeit an ihren Eroberungszielen im Osten, vor allem im Baltikum, dem „Königreich" Ludendorffs, festhalten würde. So war der Kanzler vom ersten Augenblick an in die Klemme geraten: zwischen den Wünschen des österreichischen Bundesgenossen und den Bedürfnissen der Innenpolitik einerseits, den Eroberungszielen der O H L anderseits. Wesentlich auf die Hemmungen im Hauptquartier war es zurückzuführen, daß der Kanzler den Wünschen Czernins nicht weiter entgegenkam. Man einigte sich schließlich auf einen offiziösen Zeitungsartikel. Am 15. April wurde in der

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„Norddeutschen Allgemeinen" versichert, die Zentralmächte beabsichtigten nicht, „Ehre und Freiheit des russischen Volkes" anzutasten, wollten sich auch in dessen innere Verhältnisse nicht einmischen. Nicht sie, sondern die Mächte der Entente verhinderten den Frieden, und zwar durch ihre maßlosen, offen verkündeten Eroberungsziele. Das war eine indirekte Aufforderung, sich von diesen Verbündeten loszumachen. Aber sie wurde (wahrscheinlich auf Rat Erzbergers) stark abgeschwächt durch den Zusatz, alle Welt erwarte, daß die russische Nation „ihren Verpflichtungen gegen ihre Verbündeten treu bleiben würde" — was aber dann unermeßliche Menschenopfer zugunsten alliierter Eroberungsziele zur Folge haben müßte. Gegen diesen Zusatz hat Czernin ärgerlich protestiert; er selbst hatte tags vorher (am 14. April) in einer ähnlichen Verlautbarung des österreichischen Pressebüros viel eindeutiger zu Verhandlungen über einen Verständigungsfrieden aufgefordert 2 3 ). Aber der Gegensatz der beiden verbündeten Regierungen ging bereits viel tiefer. Czernin sah natürlich ebenso wie Bethmann Hollweg den Widerstand der deutschen O H L gegen den Verzicht auf Annexionen im Osten voraus. Das w a r der Grund f ü r seine bald sehr folgenreich gewordene, an Kaiser Karl gerichtete, aber zur Weitergabe an Wilhelm II. bestimmte Denkschrift über die Lage Österreich-Ungarns vom 12. April. Sie sollte die Siegeszuversicht im deutschen Hauptquartier möglichst gründlich erschüttern. Darum war nicht mehr bloß, wie in früheren Kundgebungen, von der verzweifelten Ernährungslage der Donaumonarchie und ihrem Mangel an Mannschaftsersatz die Rede, sondern in wohlberechnet dunklen Wendungen („Euer Majestät sind die geheimen Berichte der Statthalter bekannt!") von der unmittelbar drohenden Gefahr revolutionärer Unruhen, vom „dumpfen Grollen, das in der breiten Masse vernehmbar ist", von der starken und unmittelbaren Wirkung der russischen Revolution vor allem auf die slawischen Bevölkerungsteile und von der Gefahr eines Auseinanderfallens der Monarchie. Der Bogen sei dermaßen gespannt, „daß ein Zerreißen täglich erwartet werden kann". Auch in Berlin wüßten die „verantwortlichen politischen Faktoren" sehr gut, „daß Deutschland genau ebenso wie wir am Rande seiner K r a f t angelangt ist", aber es sei zu fürchten, „daß man sich in den militärischen Kreisen gewissen Täuschungen hingibt. Man pocht auf die unleugbar großen, ja bewundernswerten Erfolge der U-Boote, aber heute schon nach zweieinhalb Monaten unbeschränkten Tauchbootkrieges steht fest, daß an einen Niederbruch Englands nicht zu denken ist". „Nichts ist gefährlicher in

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der Politik, als jene Dinge zu glauben, die man wünscht." Bestenfalls wird England in einigen Monaten eher als jetzt zu Verhandlungen bereit sein — aber nur, wenn wir bereit sind, ihm goldene Brücken zu bauen. Wir müssen also unbedingt, ehe es zu spät ist und Amerika aktiv eingreifen kann, „einen weitergehenden detaillierten Friedensvorschlag machen und uns nicht davor scheuen, eventuell große, schwere Opfer zu bringen 2 4 )". Czernins Sprache erhob sich zu einem sehr leidenschaftlichen und sehr eindrucksvollen Appell an das Gewissen der Monarchen. Unter Umständen, drohte er, würden die Völker über ihre K ö p f e hinweg Frieden machen. Wo die O p f e r gebracht werden sollten, zu denen sie bereit sein müßten, wurde nicht gesagt. Wahrscheinlich hat Czernin nach wie vor an ElsaßLothringen gedacht, aber zunächst kam es ihm sicherlich auf Verzichte Deutschlands im Osten an. D a seine Denkschrift das deutsche Hauptquartier mitten in der großen Abwehrschlacht erreichte, die A n f a n g April an der Westfront begonnen hatte, und da sie keine unmittelbar dringenden Forderungen stellte (Czernin sprach nur von Friedensverhandlungen nach Abschluß der großen K ä m p f e in Frankreich), blieb sie zunächst unbeantwortet. Erst Anfang Mai hat Bethmann Hollweg in einem ausführlichen Gegenmemorandum darauf erwidert, das betont optimistisch gehalten war und auf das wir später noch zurückkommen werden 2 5 ). Inzwischen hatte sich aber auch der Druck der Obersten Heeresleitung auf die Politik des Kanzlers wesentlich verstärkt. Es ist ein erregendes Schauspiel, zu verfolgen, wie dieser sich, von allen Seiten zugleich bedrängt, in den entscheidenden Aprilwochen vergeblich müht, sich die Entscheidungsfreiheit seiner Politik zu wahren. Am 16. lehnte er die Forderung der O H L nach „kommissarischen Beratungen" über die Kriegsziele als verfrüht und zwecklos ab. Was Generalstab und Admiralität an Kriegszielen zu erreichen wünschten, sei ihm ja vom Dezember her schon bekannt. „Es liegt auf der H a n d " , schrieb er, „daß wir dem ersten unserer Gegner, der zum Frieden bereit ist, goldene Brücken bauen müssen." Daher wäre „die Aufstellung „eines unter allen Umständen durchführbaren Programms fest umschriebener Maximal- und Minimalforderungen" jetzt verfehlt. Bethmann deutete auch an, daß nur ihm allein, dem Staatsmann, die letzte Entscheidung in politischen Fragen zustünde. Er tat das aber nur in sehr abgeschwächter und sogar eingeschränkter Form: „ E s wird unser Bestreben sein müssen, von den Forderungen, die eine Steigerung unserer militärischen Sicherheit bezwekken, das denkbar größte Maximum zu erreichen. Dem gegenüber werden

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die unter allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu verfolgenden Kriegsziele, deren Feststellung mir in Anpassung an die Allerhöchsten Befehle obliegt, zurücktreten müssen 26 )." Das klang wie eine Anerkennung des Vorrangs militärischer vor den politischen Erwägungen. Gleich im nächsten Satz heißt es dann aber: der leitende Gedanke muß sein, „die jetzige Koalition unserer Gegner zu sprengen und eine oder mehrere derselben für die Zukunft auf unserer Seite zu bringen. Dieser Gesichtspunkt wird auch bei dem Ausmaß der ins Auge zu fassenden Annexionen zu berücksichtigen sein. Ich sehe daher keine Möglichkeit, auch nur in diesem Punkte heute schon zu endgültigen Entschließungen zu gelangen". Er wollte sich also, wie von jeher, für den Moment des Friedensschlusses unbedingt die Hände frei halten und von den Militärs nicht auf Annexionen festlegen lassen. Aber er vermied es offensichtlich, durch eine feste und klare Sprache einen Konflikt mit Ludendorff heraufzubeschwören. Diese Vorsicht ist verständlich aus der Lage, in der er sich damals befand: seit er am 14. März im preußischen Abgeordnetenhaus höchst unzweideutig einen neuen Kurs deutscher und preußischer Innenpolitik angekündigt hatte, stieg die Hetze seiner innenpolitischen Gegner gegen den „Gefolgsmann der Juden und Sozialdemokraten" auf einen neuen Höhepunkt, und die O H L war längst ebenso zu einem Zentrum der Opposition gegen seine Kanzlerschaft geworden wie ehedem das Reichsmarineamt unter Tirpitz. Er wird also versucht haben, durch übermäßige Betonung seines Wunsches nach einem „Maximum militärischer Sicherheit" und durch die Wendung von den „ins Auge zu fassenden Annexionen" die Generäle noch einmal zu beschwichtigen. Aber was war nun seine eigentliche Meinung? Wäre er ohne hemmenden Druck der O H L bereit gewesen, wie Czernin am 10. April gewünscht hatte, auf jede Annexion im Osten zu verzichten, um den Russen „goldene Brücken zu bauen"? Daß er an den Annexionsfragen den Frieden nicht scheitern lassen wollte, hat er selbst so oft und so eindeutig bezeugt, daß daran kein Zweifel möglich ist 27 ). Etwas anderes war es, sich im voraus, ehe überhaupt Verhandlungen in konkreter Aussicht standen, öffentlich auf einen Verzicht festzulegen. Das bedeutete für Deutschland durchaus nicht dasselbe wie für unseren österreichischen Bundesgenossen. Wurde ein allgemeiner Friede ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen geschlossen, so brachte das für österreich-Ungarn nur Gewinn: es erhielt dann seine an Rußland und Italien verlorenen Provinzen wieder, und es hatte keine Eroberungen in der Hand,

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auf die es hätte verzichten müssen — abgesehen von seinem Anteil an Polen, das ja aber längst von den Mittelmächten f ü r autonom und von der russischen Regierung am 29. März für frei erklärt war. Für Deutschland hieß Verzicht auf Annexionen: Freigabe großer Territorien, die es als „Faustpfand" in der H a n d hielt und deren Besitz ihm helfen konnte, einen leidlich günstigen Frieden zu erzwingen. Dies bedingungslos zu tun, d. h. ohne jede Gewißheit, daß der Gegner bereit war, seinerseits auf der Basis der Gleichberechtigung und ruhigen Staatsvernunft über den Frieden zu verhandeln, wäre verantwortungslos gewesen. Gewiß: die Theorie der „Faustpfänder" wurde von der nationalistischen Rechten weit überspitzt: sich grundsätzlich bereit erklären zu einem Frieden ohne Eroberungen, bedeutete ja noch nicht: ohne weiteres die besetzten Gebiete zu räumen. Aber es war doch selbstverständlich, daß die Berliner Politik vorsichtiger sein mußte mit ihren Kundgebungen zur Friedensfrage als die Wiener; sie war auch nüchterner in ihrem Urteil über die Chancen eines russischen Sonderfriedens. Tatsächlich ist bis zur Novemberrevolution eine solche Möglichkeit nie in greifbare Nähe gerückt. Weder die Duma-Regierung des Fürsten Lwow noch die ihr nachfolgenden sozialistischen Koalitionsregierungen waren jemals zu einem Separatfrieden mit den Mittelmächten bereit. Statt dessen haben sich die Russen von April bis Oktober immer von neuem, aber immer vergeblich bemüht, ihre westlichen Alliierten zur Revision der Kriegszielverträge im Sinn der sowjetischen Parole vom Frieden ohne Eroberungen und Entschädigungen zu bringen. Die Verantwortung dafür, daß es nicht gelang, tragen nicht die Mittel-, sondern die Westmächte. Niemand hat größeren Abscheu und größere Furcht vor der sowjetischen Parole gezeigt als Ribot, niemand mit ärgerer Heuchelei die Eroberungsziele des eigenen Landes beschönigt als Sonnino 28 ). So betrachtet, erscheint der sich rasch erhitzende Streit zwischen Wien und Berlin als praktisch wenig bedeutsam: ein rascher Sonderfrieden mit Rußland, wie Deutschland ihn brauchte, war durch Friedensmanifeste doch nicht zu erreichen, mochten sie mehr oder weniger eindeutig klingen. Überdies gehörte zu den sowjetischen Friedensparolen (was man in Wien nur zu gern übersah) auch das Schlagwort vom „Selbstbestimmungsrecht der Völker", das gerade bei den Radikalsten, den Bolschewisten, eine besonders große Rolle spielte. Seine Anwendung auf Österreich-Ungarn konnte, ja mußte dessen Katastrophe zur Folge haben. In Czernins Friedenskundgebungen ist denn auch davon nie die Rede gewesen. Seine Politik war

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nicht eigentlich klüger, sondern nur eilfertiger, nervöser und darum unvorsichtiger als die Bethmann Hollwegs. Aber bei dem Bekenntnis zu einem Frieden ohne Eroberungen und Entschädigungen kam es nicht nur auf die außenpolitischen Erfolgschancen an. Das Friedensproblem war 1917 nicht bloß eine Frage der Diplomatie (im herkömmlichen Sinn), sondern zugleich der politischen Moral. Die europäischen Völker allesamt waren der maßlosen O p f e r und Leiden dieses Krieges überdrüssig und jubelten den russischen Revolutionären zu, die das befreiende Wort zu sprechen schienen, so wie sie schon vorher Wilsons Aufruf zum „Frieden ohne Sieg" lebhaft begrüßt hatten. Überall machten sich die Sozialisten zu Wortführern dieser Volksstimmung. Auch die von Frankreich und England zur Fühlungnahme und Verständigung mit den Sowjets nach Petersburg entsandten „Sozialpatrioten" kehrten ganz erfüllt von solchen Friedenswünschen heim. Die beiden sozialistischen Minister Thomas (Paris) und Henderson (London) empfahlen ihren Kabinetten sofort nach der Rückkehr Revision des Kriegszielprogramms. Auch die Wirkung sozialistischer Sendboten aus Petersburg in die Länder des Westens war so stark, daß die dortigen Regierungen nicht wagten, ihren Sozialisten Pässe für den Besuch f ü r die Internationale Sozialistenkonferenz in Stockholm auszustellen, zu der die zweite Internationale und dann die Sowjets einluden. Schon die Einberufung dieser Konferenz ist ein Symptom für das Bedürfnis der Regierten, jetzt ihren Regierungen das Friedensgeschäft aus der H a n d zu nehmen — noch nicht durch revolutionären Umsturz, aber durch stärksten Druck der öffentlichen Meinung. In Frankreich blieb freilich die Forderung des radikalen Sozialistenflügels nach Revision der Kriegsziele (z. B. Volksabstimmung in Elsaß-Lothringen statt einfacher Annexion) stark in der Minderheit. Aber es gab doch stürmische Debatten über die Teilnahme an der Stockholmer Konferenz (die von der Mehrheit des Nationalrats der Sozialistischen Partei am 28. Mai, entgegen dem Antrag ihres Ausschusses, beschlossen wurde), erregte Kammerdebatten über die geheimen Kriegszielverträge der alliierten Regierungen, bald auch große Streiks, besonders in Paris, mit politischem Einschlag, und schließlich, nach dem Scheitern der großen englischfranzösischen Frühjahrsoffensive, schwere Meutereien, die mehr als die H ä l f t e der französischen Armee in Aufruhr brachten — also geradezu einen Ohnmachtsanfall der Dritten Republik herbeiführten. In England zeigte sich die Labour-Partei in der Friedensfrage gespalten, und die Versuche radikaler Pazifisten wie Snowden, im Unterhaus eine Zustimmung zum annek-

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tionslosen Frieden durchzubringen und eine Revision der am 10. Januar verkündeten Kriegsziele zu erreichen, blieben ohne den geringsten Erfolg. Aber der März und April waren von schweren Streiks und Arbeiterunruhen der Kriegsindustrie erfüllt, die Lloyd George tiefe Sorge machten, und in denen sich auch der Eindruck der Ereignisse in Rußland widerspiegelte. Am 3. Juni kam das in einer Massenversammlung in Leeds zum Ausdruck, die von den Linksextremisten veranstaltet wurde: man forderte Annahme der sowjetischen Friedensformel und lehnte einen „französischen" Frieden im Stile Ribots ab. In Italien blieb es zunächst bei Kammerdebatten, in denen der Sozialistenführer Turati die Regierung zu gemäßigten Erklärungen über ihre Kriegsziele drängte, Sympathiekundgebungen für die Sowjets u. dgl.; aber auch hier steigerte sich die Unruhe im Lauf des Sommers: am 12. Juli brachten die Sozialisten einen Antrag auf sofortige Einleitung von Friedensverhandlungen ein, und im August gab es schwere revolutionäre Unruhen in Turin, mit Proklamation des Generalstreiks und Barrikadenbau, und gleich darauf eine Massenpetition f ü r sofortigen Frieden. Nimmt man das alles zusammen, so könnte immerhin der Eindruck entstehen, daß eine offen und laut verkündete, völlig eindeutige Bereitschaftserklärung der deutschen und der österreichisch-ungarischen Regierung, Frieden auf der Grundlage des „status quo ante bellum" zu schließen, zum mindesten die inneren Schwierigkeiten der Ententeregierungen noch sehr gesteigert hätte. Freilich: ein solcher Friede hätte praktisch den Sieg der Mittelmächte bedeutet, und den zu verhindern waren ihre Gegner unmittelbar nach dem Kriegseintritt Amerikas eisern entschlossen. Aber auch wenn man die Frage nach der Wirkung auf das Ausland ganz offen läßt, blieb noch ein zwingender Grund für die Regierungen der Mittelmächte, sich unzweideutig f ü r einen Frieden ohne Eroberungen zu erklären: sie konnten sich nur durch eine solche Erklärung das Vertrauen der breiten Masse in ihren eigenen Völkern erhalten. Die Kampfbereitschaft der Masse mußte erlöschen, sobald der Verdacht aufkam, daß nur noch f ü r irgendwelche, von der oberen Führung und gewissen bürgerlichen Chauvinisten erstrebte Eroberungsziele geblutet und gelitten werden sollte. Der politische „Burgfriede" in Deutschland war wesentlich dadurch zustande gekommen, daß die Mehrheit der Sozialdemokraten sich bereit gefunden hatte, regelmäßig für die Kriegskredite zu stimmen und die Pflicht der Verteidigung des Vaterlandes genauso zu predigen und zu betätigen wie die bürgerlichen Parteien. Dieser Entschluß war wesentlich dadurch erleichtert und mitbedingt worden, daß der Krieg gegen das

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Zarenreich ging, noch immer die reaktionärste der großen Monarchien Europas. Jetzt war der Zar gefallen, und in Rußland schien sich das erste sozialistische Staatswesen der Welt herauszubilden. Das bedeutete für die deutschen Sozialdemokraten eine völlig neue Lage. Nirgends hat deshalb die russische Revolution ein so begeistertes Echo gefunden wie bei ihnen und ihren österreichisch-ungarischen Parteigenossen. Wie hätten sie anders als mit den größten Hoffnungen für die Zukunft auf dieses Ereignis blicken, vor allem: mit größter Spannung und Sympathie die Friedensbemühungen der Sowjets verfolgen sollen! Es war selbstverständlich, daß sie sofort alles aufboten, was in ihren Kräften stand, um sich mit den russischen Parteigenossen in Verbindung zu setzen und mit ihnen Verständigung über die Friedensfrage zu suchen. Die Regierung Bethmann Hollwegs hat diese Bemühungen tatkräftig gefördert. Gleich das erste Begrüßungstelegramm der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion an die Revolutionäre (vom 21. März) ging mit lebhafter Zustimmung des Staatssekretärs Wahnschaffe in der Reichskanzlei ab 29 ). Mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes wurde die erste persönliche Fühlungnahme über Kopenhagen Anfang April hergestellt, durch den dänischen Sozialisten Borbjerg, der den Sowjets sehr günstig und mit gutem Erfolg über die Haltung der deutschen Parteifreunde berichtete. Weiterhin ist dann die Vorbereitung der Stockholmer Konferenz in den deutschen Gesandtschaften in Den Haag, Bern und Stockholm mit solchem Eifer gefördert worden, daß man geradezu von einer Mitbeteiligung deutscher Diplomatie am Zustandekommen dieses internationalen Unternehmens sprechen kann 30 ). Dabei haben sich die Sozialdemokraten der deutschen Mehrheitspartei, vor allem Ebert und Scheidemann, mit großem Eifer für die Vertretung deutscher Lebensinteressen eingesetzt, unter anderem das Recht der Deutschen auf Elsaß-Lothringen ebenso mutig wie geschickt verteidigt, während die „Unabhängigen" unter Haase für Volksabstimmung in den Reichslanden eintraten 31 ). Aber auch diese radikale Gruppe hatte keine Schwierigkeit, Pässe nach Stockholm zu bekommen. Und wenn Noske im Reichstag am 29. März die Notwendigkeit innerpolitischer und Verfassungsreformen damit begründete, daß Deutschland, nunmehr mitten zwischen lauter Demokratien stehend, sich unmöglich auf die Dauer isolieren könne, so konnte er für seine Forderung auf die volle Zustimmung des Kanzlers rechnen. Denn dieser hatte schon vorher erklärt, daß für ihn der „neue Kurs" im Innern auch ein Bedürfnis der Außenpolitik sei.

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Wurde dieser Kurs konsequent weiter verfolgt, im Sinn eines „demokratischen Kaisertums", wie es Friedrich Naumann schon lange gepredigt hatte und wie es jetzt auch einzelne namhafte Intellektuelle (darunter so bedeutende Geister wie Friedrich Meinecke und Max Weber) in ihrer Kriegspublizistik forderten, so mochte wohl aus der gemeinsam getragenen N o t des Krieges noch so etwas wie eine innere Einigung deutschen politischen Lebens und eine Überwindung alter, unlösbar erscheinender Parteigegensätze erwachsen. Dies ist die große Hoffnung Bethmann Hollwegs gewesen, der sie mit der größten Wärme und Leidenschaft, deren er als Redner fähig war, in seinen letzten Parlamentsreden ausgesprochen hat. Aber es zeigte sich sofort, daß die verknöcherte Struktur des alten Klassen- und Obrigkeitsstaates Preußen-Deutschland einer wirklichen Reform zähe widerstand. Außenpolitisch ging es dabei um das Festhalten an militaristischen Eroberungszielen, innenpolitisch um die Erhaltung des preußischen „Junkerparlamentes" mit Hilfe des Dreiklassenwahlrechtes. Die ganze Politik des Kanzlers stand und fiel mit seinem Vertrauensverhältnis zum Kaiser. Sowohl gegen die Widerstände seiner militärischen wie seiner feudal-reaktionären Gegner konnte er nur dann ankommen, wenn er die „Allerhöchste Entscheidung" f ü r sich hatte. Seine Haltung im Frühjahr und Sommer 1917 wäre geradezu sinnlos, wenn er nicht geglaubt hätte, im Ernstfall, d. h. wenn es wirklich zu Friedensverhandlungen kam, den Kaiser für einen gemäßigten Verständigungsfrieden (den die alldeutsche Propaganda damals anfing als „Scheidemann-Frieden" im Gegensatz zum „Hindenburg-Frieden" zu verketzern) gewinnen zu können. Und ebenso zählte er auf Zustimmung des Monarchen zur preußischen Wahlrechtsreform. Beides mit gutem Grund; denn schließlich war Wilhelm II. gar nicht der bramarbasierende Draufgänger, als den er sich unter seinen Generälen und in seinen berüchtigten Randglossen aufspielte, sondern letztlich von Furcht um das Schicksal seines Thrones erfüllt. Er „kämpfe um seine Krone", hat er am 26. April 1917 zu Admiral von Müller gesagt. Aber freilich war das keine seelische Haltung, die dem von so vielen Seiten her bedrängten Reichskanzler eine starke Stütze versprach. Und es w a r für diesen ein großes Unglück, daß es weder ihm noch den wiederholten Bemühungen Valentinis und Admiral von Müllers gelang, den Kaiser für längere Zeit vom Hauptquartier weg nach Berlin zu bringen, obwohl er ja praktisch bei der Obersten Heeresleitung nur eine Scheinrolle spielte. D a der Kanzler immer nur tageweise, f ü r kurze Zwischenperioden, auf den

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Monarchen unmittelbar einwirken konnte, hat er ihn seit der Berufung L u d e n d o r f f s immer mehr aus der H a n d verloren. G e r a d e auch in der Friedensf r a g e ! In einem Brief an seinen Nachfolger Hertling im J a n u a r 19 1 8 3 2 ) hat er versichert, im M a i 1917 habe er die Absicht gehabt, die Formel v o m Frieden ohne Annexionen und Entschädigungen „ R u ß l a n d gegenüber ausdrücklich u n d pure zu akzeptieren"; er sei damit aber „ a n dem von Seiner M a j e stät gebilligten Widerspruch der Obersten Heeresleitung" gescheitert. D i e D o k u m e n t e v o m M a i 1917, die wir noch kennenlernen werden, geben keinen Anlaß, die Richtigkeit dieser Behauptung zu bezweifeln. Aber sie machen es nicht wahrscheinlich, daß er auch von der N o t w e n d i g k e i t , sich öffentlich zum annexionsfreien Frieden zu bekennen, damals schon „ p u r e " überzeugt war. J e d e n f a l l s hat er damals nicht d a f ü r g e k ä m p f t . Ein kaiserlicher K a n z ler, der an der Seite der Sozialdemokratie gegen die von der N a t i o n vergötterte Oberste Heeresleitung für einen „Verzichtfrieden" k ä m p f t — das setzte eine gründliche Wandlung der öffentlichen Meinung in der Kriegszielfrage und den Friedenserwartungen, aber auch ein g a n z verändertes Verhältnis zwischen Regierung und Parteien voraus. 3 3 ) I m J u l i dieses Sommers werden wir eine solche Wandlung sich vorbereiten sehen — aber unter so schweren Wirrungen und Zuckungen, daß darüber der K a n z l e r zu Fall gekommen ist. Der O H L gegenüber w a r es immer die Schwäche seiner Position, daß er in keinem Augenblick eine konkret f a ß b a r e Friedensmöglichkeit aufweisen konnte, um den grundsätzlichen Verzicht auf Annexionen damit zu rechtfertigen. So geriet er zwangsläufig mehr ins Schlepptau der O H L , als seiner vernünftigen Einsicht und seiner eigentlichen Willensrichtung entsprach: auf den W e g fortgesetzter Kompromisse. Es war praktisch, wie wir glauben, der einzige Weg, den er gehen konnte, wenn er den offenen K a m p f nun einmal nicht wagen durfte. Aber diese H a l t u n g hat nicht nur das Vertrauen seiner parlamentarischen Gefolgschaft ins W a n k e n gebracht, sondern hat ihm auch den R u f innerer Unsicherheit und Charakterschwäche eingetragen, der bis heute sein C h a r a k t e r b i l d in der Geschichte verdunkelt.

B e t h m a n n s Friedenspolitik im Kreuzfeuer zwischen Kreuznach u n d Wien Dritter

Bethmanns

Friedenspolitik Kreuznach

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Abschnitt

im Kreuzfeuer und

zwischen

Wien

Wer nach historischer Gerechtigkeit strebt, wird nicht einfach von „Schwäche" reden, ohne zunächst ein klares Bild von den Gegenkräften zu besitzen, die Bethmann Hollweg auf den Weg des Kompromisses in der Friedensfrage drängten. Diese Gegenkräfte wurden sofort äußerst mobil, als das neue Schlagwort vom „Frieden ohne Annexionen und Entschädigungen" am H o rizont auftauchte. Ganz im Bann des Militärs, ließ Wilhelm I I . am 17. April dem Kanzler telegraphieren, ihm „sei aufgefallen", daß neuerdings in neutralen Ländern und sozialistischen Kreisen soviel von einem Frieden „ohne jeden Landerwerb und ohne Geldentschädigung" gesprochen werde. Der Kanzler möge dem doch entgegentreten und auch auf die Sozialdemokraten dahin einwirken, daß sie „nach außen hin in gewissem U m f a n g für Entschädigung für die gebrachten Opfer eintreten 3 4 )". Bethmanns Antwort erklärte öffentliche Kriegszieldebatten in diesem Moment für höchst unerwünscht. Doch wolle er in seinen Weisungen der Presse einen „vernünftigen Mittelweg" empfehlen: keinen R u f nach Frieden um jeden Preis, aber auch nicht Forderung von Gebietserwerbungen, die j a nur eines der vielen Friedensprobleme darstellen, „und nicht einmal das wichtigste"; deren Erörterung müsse jetzt „möglichst zurücktreten". Er werde sich bemühen, in den „breiten Volksmassen" Verständnis dafür zu wecken, daß gerade im Interesse der Arbeiterschaft und des Kleinbürgertums die Wiederherstellung wirtschaftlicher Beziehungen zum Ausland, also womöglich auch die Rückgabe unserer Kolonien, wichtig sei. Das erfordere ein kräftiges Pochen auf die von uns erworbenen „Faustpfänder". W i r müßten nur starke Nerven behalten und „nicht darauf hereinfallen, wenn die Entente demnächst, um den russischen Sonderfrieden zu verhüten, den beiderseitigen bedingungslosen Verzicht auf jede Entschädigung vorschlagen sollte". „Auch auf die Abgeordneten der Linken wird in diesem Sinn eingewirkt werden." Anderseits müsse aber der Rechten und den Alldeutschen klargemacht werden, daß unsere Lage uns keineswegs erwarten läßt, in absehbarer Zeit einen Frieden diktieren zu können und daß wir einen für uns günstigen Verhandlungsfrieden zustande bringen müssen, ehe Amerika wirksam eingreifen kann. Auch machen es die Verhältnisse bei unseren Bundesgenossen unmöglich, „allenthalben mit dem

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Kopf durch die Wand zu gehen". Übertriebene Forderungen schrecken den Gegner von der Verständigung ab und schüren die Gegensätze im eigenen Lager 35 ). Das war ein gequälter Versuch des Kanzlers, vor dem Kaiser und der O H L seine Politik der Mäßigung in ein möglichst günstiges Licht zu rücken. Auf die „Abgeordneten der Linken" hat er keineswegs in dem hier geschilderten Sinn eingewirkt. D a ß die Westmächte demnächst einen annexionslosen Frieden vorschlagen würden, kann er unmöglich erwartet und einen echten Verständigungsfrieden mit ihnen auf solcher Basis würde er ganz sicher nicht als „Hereinfall" betrachtet haben. Aber alle Verstellungskünste blieben vergeblich. Das Mißtrauen der O H L war unüberwindlich und wurde wohl noch verstärkt durch Nachrichten über die Sondierungsgespräche, die damals mit Zustimmung des Auswärtigen Amtes durch Erzberger und neuerdings durch den bulgarischen Gesandten Rizow mit russischen Vertretern in Stockholm und Kristiania geführt wurden 36 ). In einem Schreiben vom 20. April an den Kanzler bedauerte Hindenburg lebhaft dessen Ablehnung kommissarischer Beratungen über die Kriegsziele und erklärte, die jetzt „eingeleiteten Verhandlungen mit den russischen Machthabern" könnten ebensowenig wie die an der russischen Front inzwischen getriebene Schützengrabenpropaganda zum Ziel führen ohne Festlegung unserer Kriegsziele. Über diese sprach er sich mit soldatischer Bestimmtheit und Selbstsicherheit aus: „Auf einen Frieden auf der Grundlage des status quo, wie ihn H e r r Rizow vertritt, vermag ich aus militärischen Gründen nicht einzugehen." Wir könnten ja Rußland goldene Brücken bauen, indem wir ihm f ü r Kurland und Litauen, deren Annexion „unumgänglich notwendig" ist, die besetzten Teile von Ostgalizien und der Bukowina überlassen und Österreich vielleicht in Serbien oder der Walachei entschädigen. Jedenfalls, heißt es weiter, „muß ich selbstverständlich erwarten, daß ich über E. E. Absichten im Bilde gehalten werde", da ein „dauerndes, inniges Zusammenwirken von Politik und militärischen Maßnahmen notwendig ist 37 )". Aber es kam noch schlimmer. Am 19. April erließ der Vorstand der sozialdemokratischen Partei im Reich und Preußen gemeinsam mit einer Delegation österreichisch-ungarischer Parteigenossen unter Viktor Adler eine Kundgebung zur Friedensfrage. Darin wurden zunächst mit großer Entschiedenheit innenpolitische Reformen als Ergebnis des Krieges gefordert und jede ausländische Einmischung (z. B. Wilsons) in die inneren deutschen Verhält-

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nisse abgewiesen. Gleichzeitig begrüßten die Parteivorstände mit „leidenschaftlicher Anteilnahme" den Sieg der russischen Revolution und ihrer Friedensbestrebungen. Sie erklärten sich einverstanden mit der russischen (eben erst wieder von einem Sowjetkongreß bestätigten) Parole eines Friedens „ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen auf der Grundlage einer freien nationalen Entwicklung aller Völker". Es sei die Pflicht der Sozialisten aller Länder, „die Machtträume eines ehrgeizigen Chauvinismus zu bekämpfen, die Regierungen zu klarem Verzicht auf jegliche Eroberungspolitik zu drängen" und so rasch wie möglich entscheidende Friedensverhandlungen auf dieser Grundlage herbeizuführen. In der „Internationalen Korrespondenz" der Partei wurde die deutsche Regierung direkt gefragt, ob sie bereit sei, offiziell zu erklären, daß sie auf Annexionen verzichte. Das Manifest der Sozialdemokraten, eine klare und schöne Friedenskundgebung, erschien am 20. April, noch während des großen Streiks der Berliner Munitionsarbeiter, im „Vorwärts". Am nächsten Tag las es Hindenburg dem Kaiser, der krank im Bett lag, vor und verlangte Bethmann Hollwegs sofortige Entlassung, da er offensichtlich der Sozialdemokraten nicht mehr H e r r werde. Valentini, eilends herbeigerufen, vermochte den Sturm noch einmal zu beschwichtigen. Aber am 22. wiederholte er sich, als Kriegsminister von Stein die Forderung Ludendorffs mit denselben Argumenten im Namen der Armee vortrug. Abermals gelang es Valentini, besänftigend einzugreifen, da der Kaiser den Kanzler nebst Zimmermann auf den 23. ins H a u p t q u a r tier nach Kreuznach einbestellt hatte: zu der von der O H L gewünschten Besprechung der Kriegsziele, aber auch zur Beratung darüber, was sich gegen die empörend „anmaßliche" Erklärung der Sozialdemokratie tun ließe 38 ). Bethmann Hollweg vermutete, als er die Einladung erhielt, ganz richtig, daß ihn Ludendorff jetzt zu Fall bringen oder aber auf die Kriegsziele der O H L festlegen wollte. In dieser aufs höchste gespannten Atmosphäre fanden die vielberufenen Kreuznacher Verhandlungen vom 23. April statt 39 ). Verhandlungen im eigentlichen Sinn des Wortes sind es wohl kaum gewesen, und ein Protokoll darüber wurde auch nicht geführt. Ludendorff legte wohlvorbereitete Karten vor, auf denen die neuen Grenzlinien eingetragen waren, die er „aus militärischen Gründen" für notwendig hielt. Bethmann Hollweg und Zimmermann scheinen zwar einige allzu maßlose Forderungen mit Erfolg abgelehnt zu haben, sahen aber, daß ein vernünftiges Programm in keinem Fall durchzusetzen war, und nahmen die Erklärungen Ludendorffs als Ansicht

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der militärischen Instanz einfach zur Kenntnis. Am 21. abends hatte der Kanzler mit einem engeren Kreise preußischer Minister beraten, ob sich nicht ein Kompromiß finden ließe, um die Annexion von Kurland und Litauen, die ihm Hindenburg am 20. als „unumgänglich notwendig" bezeichnet hatte, doch noch ohne Konflikt mit der O H L zu vermeiden, zugleich das baltische Deutschtum vor dem Hereinbrechen des russischen Chaos zu schützen und auch den von Erzberger in seinen Verhandlungen mit Kolyschko benutzten vieldeutigen Begriff der „Grenzkorrektur" zu vermeiden. Auf Vorschlag des Landwirtschaftsministers Schorlemer hatte man sich dahin geeinigt, die „Autonomie" der baltischen Gebiete zu fordern, also ihre Selbstbestimmung entsprechend den Parolen der russischen Revolution; sie sollten frei sein von russischem Militär und wirtschaftlich an Deutschland angeschlossen werden 40 ). In Kreuznach hat aber Bethmann diesen Kompromißvorschlag gar nicht vorgebracht, sondern statt dessen, wie es scheint, gemeinsam mit Zimmermann den einfachen Verzicht auf Annexionen zur Sprache gebracht, der aber natürlich von Ludendorff sofort abgelehnt wurde 41 ). Am Nachmittag wurde (unter Vorsitz des Kaisers und unter Teilnahme Holtzendorffs) ein Kriegszielprogramm festgelegt, das durch seine Maßlosigkeit schon bei seiner ersten Veröffentlichung 1929 Entsetzen erregt hat, das aber auch Admiral von Müller und Valentini sofort als geradezu „kindisch" empfanden 4 2 ). Zunächst wurden gewaltige Annexionen im Osten vorgesehen, die an der Ostsee möglichst bis nahe an Riga reichen sollten, dazu der schon am 20. von Hindenburg geplante Ländertausch (Galizien-Bukowina gegen Walachei). Sodann im Westen die militärische Besetzung und Kontrolle Belgiens auf unbestimmte Zeit, d. h. „so lange, bis es für ein Schutz- und Trutzbündnis mit Deutschland politisch und wirtschaftlich reif ist", die dauernde Besitznahme Lüttichs und der flandrischen Küste nebst Brügge, der Gegend von Arlon, wo die O H L Erze vermutete, Luxemburgs, des Beckens von Longwy-Briey und gewisser „Grenzverbesserungen" an der elsässisch-französischen Grenze. Weitere Erörterungen über den Balkan, Klein-Asien, die vom Admiralstab gewünschten Flottenstützpunkte 4 3 ) und die Kolonien wurden angekündigt. Das Ganze wurde in mehreren Exemplaren von der O H L angefertigt und den Konferenzteilnehmern einige Tage darauf zur Unterschrift übersandt. Für die Akten des Auswärtigen Amtes vermerkte Bethmann Hollweg auf dem Begleitschreiben Grünaus: er habe in den Verhandlungen wiederholt und ausdrücklich hervorgehoben, daß er diese Friedensbedingungen nur für erreichbar halte, „wenn wir den Frieden

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diktieren können. N u r unter dieser Voraussetzung habe ich ihnen zugestimmt". Dasselbe vermerkte Zimmermann für die belgischen Kriegsziele: sie setzten die völlige Niederwerfung Englands voraus, wie O H L und Admiralstab zugegeben hätten. Für die Reichskanzlei schrieb der Kanzler noch eine ausführliche Aktennotiz nieder, in der er den (schon oben erörterten) Verdacht über Ludendorffs letzte Absichten aussprach und hinzufügte: „Ich habe das Protokoll mitgezeichnet, weil mein Abgang über Phantastereien lächerlich wäre. Im übrigen lasse ich mich natürlich durch das Protokoll in keiner Weise binden. Wenn sich irgendwie und irgendwo Friedensmöglichkeiten eröffnen, verfolge ich sie. Was ich hiermit aktenmäßig festgestellt haben will." Schließlich hat er Hertling am 26. Januar 1918 in einem längeren Schreiben auseinandergesetzt, daß er sich niemals auf ein festes Kriegszielprogramm habe festlegen lassen, und daß die Kreuznacher Niederschrift als bloße Willenserklärung der O H L f ü r ihn selbst „weder Unterlage f ü r die Entschließung über die weitere Kriegführung, noch Unterlage f ü r ein weiteres Friedensangebot von uns" bedeutet habe 44 ). Das waren sehr eindeutige Vorbehalte, die nicht bloß „taktisch" gemeint sind, sondern einer grundsätzlichen Ablehnung gleichkommen; rein „taktisch" war dagegen die Unterschrift unter das Programm gemeint. Bethmann Hollweg hat geglaubt, die „Phantastereien" Ludendorffs nicht ernst nehmen zu müssen, weil er die Möglichkeit, mit den Gegnern (auch mit Rußland) Friedensverhandlungen zu beginnen, vorläufig f ü r ausgeschlossen hielt und überzeugt war, den Kaiser auf seine Seite ziehen zu können, sobald sich „irgendwo und irgendwie eine Friedensmöglichkeit eröffnen" sollte. Aber offensichtlich hat er damit die praktische Bedeutung des unter kaiserlichem Vorsitz einmal festgelegten Programms doch unterschätzt. Denn es wurde von Ludendorff sofort als starke W a f f e im Kampf des „Kriegshandwerks" gegen den Vertreter der „Staatskunst" gebraucht und lähmte diesen in seiner politischen Bewegungsfreiheit. Das erwies sich gleich in den nächsten Tagen, in der „Affäre Erzberger". Der Zentrumsabgeordnete war am 23. von seinem zweiten Zusammentreffen mit Kolyschko zurückgekehrt und hatte dem Auswärtigen Amt triumphierend einen von den beiden Herren unterzeichneten Waffenstillstandsentwurf vorgewiesen, den er gleich auch dem Großen Hauptquartier (durch Admiral von Müller) zugehen ließ. Besonders stolz war er darauf, daß er seinem russischen Gesprächspartner die Zustimmung zu „Grenzberichtigungen" entlockt hatte, von denen er (optimistisch wie immer) beteuerte, sie

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wären „nach russischem Maßstab zu verstehen", könnten also sehr beträchtlich sein. Praktisch-politisch hatte das Ganze keinerlei Bedeutung. Es war reine Privatarbeit zweier wohlgesinnter Amateurdiplomaten ohne jede amtliche Vollmacht. Kolyschko ist bald darauf in Petersburg als angeblich „deutscher Agent" verhaftet worden 45 ). Natürlich nahm man die Eröffnung Erzbergers im Auswärtigen Amt mit Wohlwollen auf, vielleicht sogar mit Freude darüber, daß sie immerhin den Ausblick auf verständigungsbereite Strömungen in Petersburg zu eröffnen schien. Als Anfang ernster Verhandlungen oder auch nur als Zugang dazu hat sie Bethmann Hollweg sicher keinen Augenblick betrachtet 46 ), hat ihnen auch keine praktische Folge gegeben. Um so wilder war die Aufregung darüber im Großen Hauptquartier. Hindenburg hielt dem Kaiser Vortrag über die unerhörte Einmischung des Kanzlers in militärische Befugnisse, indem er über ein Waffenstillstandsabkommen ohne Befragung der O H L verhandeln lasse. Er klagte aber auch über die Schwäche Bethmanns, die diesen seinen angeblichen Unterhändler vom status quo habe reden lassen. Tief empört auch über die „unmöglichen und haarsträubenden" Bedingungen des vermeintlichen Abkommens, setzte Wilhelm sofort ein „saugrobes" Telegramm an den Kanzler auf, dessen Absendung Admiral von Müller nur mit äußerster Mühe verhindern konnte. Telegraphische Aufklärungs- und Berichtigungsversuche Zimmermanns hatten nur halben Erfolg. Schließlich befahl der Kaiser höchst ungnädig, das Auswärtige Amt habe künftig seine Unterhändler mit von ihm selbst gebilligten, „absolut bindenden" Instruktionen zu versehen. Für seine Friedenssondierungen hätten die gleichen Richtlinien zu gelten wie in der Schützengrabenpropaganda. Jedes deutsche Angebot, schrieb er, hat sich an die „hier unter meinem Vorsitz" am 23. April befohlene Linie zu halten 47 ). Man sieht: jede auch nur scheinbare Abweichung von dieser Linie gab den Generälen neue Handhaben, die Vertrauensstellung des Kanzlers zu erschüttern. Unmittelbar noch folgenreicher war die Tatsache, daß die Entscheidung von Kreuznach eine wirklich fruchtbare Fortführung der Schützengrabenpropaganda unmöglich machte, obwohl die O H L doch schließlich um ihretwillen auf einer Klärung und Festlegung der deutschen Kriegsziele bestanden hatte. Diese seltsame Form der Propaganda, seit Mitte März vom Oberkommando Ost durch Abwurf von Flugblättern und Soldatenzeitungen in russischer Sprache begonnen, ging ursprünglich nur auf die Zersetzung der Kampfmoral des russischen Soldaten aus. Man suchte ihm einzureden, daß er sinn- und nutzlos für englische Kriegszwecke aufgeopfert werde und

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auch der englandhörigen provisorischen Regierung nicht trauen dürfe. Er solle doch darauf sehen, bei der bevorstehenden großen Landeinteilung daheim nicht zu kurz zu kommen. Das hat sicher viel Verwirrung bei den russischen Soldaten angerichtet und ihre Disziplin noch mehr untergraben helfen, als es die Räterevolution ohnedies tat. Es führte aber auch zu Verbrüderungsszenen (besonders an Ostern) und einem lebhaften Briefverkehr über das Niemandsland zwischen den Gräben hinweg. Auf die Dauer bedrohte es aber auch die Kampfmoral der deutschen und noch mehr der österreichisch-ungarischen Truppen und weckte daher wachsende Bedenken bei der Truppenführung. Anderseits ergaben sich bald auch Möglichkeiten, durch Nachrichtenoffiziere Verbindung mit der russischen Truppenführung aufzunehmen und hier Waffenstillstandsverhandlungen anzuregen, die vielleicht sehr weittragende politische Konsequenzen haben konnten. Die Gefahren ungeregelter Gespräche dieser Art und der Grabenpropaganda brachte vor allem General Seeckt Ende April zur Sprache, der damals Generalstabschef der Heeresgruppe Erzherzog Josef an der Karpathenfront war. Es ist dann auch ein Fünfpunkteprogramm zwischen der OHL und dem Auswärtigen Amt festgelegt worden, das allen weiteren Verhandlungen mit russischen Stäben zugrunde gelegt werden sollte. Es versprach Nichteinmischung in russische Verhältnisse, gute Dienste bei der Regelung der Dardanellenfrage, enge wirtschaftliche Beziehungen, finanzielle Unterstützung beim Wiederaufbau Rußlands, Verzicht auf Kriegsentschädigung, forderte aber „Grenzberichtigung, soweit Deutschland in Betracht kommt, aus Litauen und Kurland". Damit war die Annexionsforderung Ludendorffs kunstvoll verharmlost; aber es hatte Zimmermann schwere Mühe gekostet, diese vorsichtige Formulierung durchzusetzen, und nicht lange darauf wurde sie von der OHL wieder aufgegeben zugunsten ganz unverhüllter Eroberungswünsche48). Das Mißtrauen, mit dem die Russen die deutschen Vorschläge aufnahmen, war also wohlbegründet. Ende Mai hat sich General von Seeckt darüber brieflich sehr kritisch geäußert. Man habe wohl viel Verwirrung bei den Russen erzeugt, aber auch viel Unsicherheit, die zum Rückschlag führen könne. „Die Schwierigkeit liegt darin, daß man bei uns Kurland und Litauen behalten will. Ich habe diese Notwendigkeit nie eingesehen, im Gegenteil es als eine Verschlechterung unserer geographischen Lage empfunden. Nach meiner Ansicht sollte man den Verzicht aussprechen . . . Die OHL ist in diesen politischen Fragen nicht glücklich beraten und will alles am besten wissen 49 )." Das war, aus dem Munde gerade dieses hohen Offiziers, den wir als

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Gegner Bethmann Hollwegs schon kennen 5 0 ), ein überraschend nüchternkritisches Urteil. Seeckt hat mehrfach sich mit Erfolg bemüht, durch Verbesserungsvorschläge auf die Frontpropaganda einzuwirken; aber an den Annexionsplänen Ludendorffs konnte er natürlich auch nichts ändern. Immerhin legte er eine Formulierung des Friedensprogramms vor, die sich ausdrücklich zum Grundsatz bekannte: „Keine Eroberung, keine Kontribution" und die unvermeidlichen „Grenzberichtigungen in Litauen und K u r l a n d " wenigstens dadurch schmackhafter zu machen suchte, daß sie nicht direkt gefordert, sondern einer „Vereinbarung" vorbehalten wurden 5 1 ). Bethmann Hollweg hat es offenbar widerstrebt, das vieldeutige Wort „Grenzberichtigung" überhaupt zu gebrauchen; er wußte ja, daß damit die Annexion beider russischer Provinzen gemeint war und bemühte sich, ihr zu entgehen. Als deshalb am 7. M a i eine Meldung von der Front kam, die ernsthafte Friedensgespräche mit einem Vertreter des Petersburger Sowjets (Stecklow) in Aussicht stellte, holte er den am 21. April in der Beratung mit preußischen Ministern erörterten Vorschlag hervor, nach dem K u r l a n d und Litauen autonome Staatswesen werden sollten, allerdings militärisch, politisch und wirtschaftlich an Deutschland angeschlossen, und erreichte Ludendorffs Zustimmung dazu. D a s erwartete Gespräch kam schließlich nicht zustande, da der sowjetische Unterhändler ausblieb. Der Vorgang zeigt aber deutlich, daß Bethmann bei der ersten (scheinbaren) Eröffnung einer Friedensmöglichkeit in seiner Politik keineswegs so ungebunden war, wie er in seiner N o t i z zum Kreuznacher Programm sich vorgestellt hatte: er blieb auch jetzt wieder zu einem fragwürdigen Kompromiß genötigt. Tags vorher hatte Ludendorff ausdrücklich gefordert, daß der Kanzler in seiner bevorstehenden Reichstagsgerede nicht in Widerspruch treten dürfe zu den für die Frontunterhändler gegebenen Richtlinien (was ihm selbstverständlich zugesagt wurde). Wie das aber gemeint war, erläuterte Grünau kurz darauf dem Staatssekretär: man erwarte im Hauptquartier, daß Bethmann „mit aller Entschiedenheit" von dem Scheidemann-Frieden abrücke 5 2 ). So wurden die Friedensgespräche zwischen den Schützengräben durch Ludendorffs Annexionspläne sehr erschwert. Noch folgenreicher war ihre Wirkung auf das Bündnisverhältnis der beiden Zentralmächte. Man kann sich vorstellen, mit welcher Bestürzung Bethmann eine Anfrage Czernins aufnahm, die gerade am 23. April, also während der Kreuznacher Besprechungen, abgegangen war. D a s Manifest der Sozialdemokratie über den

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annexionslosen Frieden, hieß es darin, dürfe nicht unbeantwortet bleiben. Er selbst sei bereit, das Programm eines solchen Friedens Rußland gegenüber vorbehaltlos anzunehmen und dies öffentlich zu erklären; wie denke man in Berlin darüber 5 3 )? Fast in demselben Augenblick, in dem Hohenlohe diese Anfrage vortrug, forderte eine öffentliche Erklärung der deutschen Annexionisten ( „ U n a b hängiger Ausschuß für einen deutschen Frieden"), die deutsche Regierung müsse offen gegen dieses sozialdemokratische Manifest Stellung nehmen. Was blieb dem unglücklichen Kanzler unter diesen Umständen übrig als ein diplomatischer „Eiertanz" (wie er es selbst in einer Aktennotiz nannte)? Er ließ am 25. einen Artikel in der offiziösen „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" erscheinen, die einerseits Zweifel an der Wirksamkeit der sozialdemokratischen Kundgebung äußerte angesichts des entschlossenen Kriegswillens und der „wahnwitzigen Kriegszielforderung" unserer westlichen Gegner, anderseits aber vermied, die Formel vom „annexionslosen Frieden" abzulehnen und in das Verdammungsgeschrei einzustimmen, das die Rechtspresse inzwischen gegen die Sozialdemokratie erhoben hatte. Es wurde nur gesagt, die Regierung könne ihren früheren Friedensangeboten jetzt nichts mehr hinzufügen. Dieser Artikel wurde Czernin vorher angekündigt, und Hohenlohe bemühte sich (am 25.), seinen Minister davon zu überzeugen, daß eine Erklärung der Mittelmächte zu der Friedensfrage jetzt verfrüht und überflüssig sei, da die entente-freundliche Regierung L w o w ohnehin bald gestürzt würde. Aber er kam mit seinen Ratschlägen bereits zu spät. A m selben T a g erschien im „Wiener Fremdenblatt" ein von Czernin inspirierter Artikel „Antwort an die Sozialdemokratie", in dem das sozialistische Manifest verständnisvoll begrüßt und versichert wurde, „daß unsere Monarchie absolut keine aggressiven Pläne verfolgt und auch nicht beabsichtigt, ihr Gebiet auf Rußlands Kosten zu erweitern". Beide Mittelmächte hätten ja auch im Gegensatz zu ihren Gegnern die Stockholmer Sozialistenkonferenz entschieden gefördert. Offensichtlich war das ein Versuch, die deutsche Regierung zu überspielen. Czernin meinte, es würde ihr im Grunde willkommen sein, durch den Bundesgenossen festgelegt und so „den Militärs gegenüber kompromittiert" zu sein. Aber damit irrte er sich: Kanzler und Staatssekretär zeigten sich tief verstimmt, ja Zimmermann erklärte, die Stellung Bethmann Hollwegs würde durch solche Seitensprünge geradezu „unhaltbar". Die österreichische „Enunziation" wirke als Aufforderung an die deutschen Parteien, nunmehr

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die unheilvolle Kriegszieldebatte wieder aufzunehmen. Die Sozialdemokratie, der gegenüber Czernin ja geradezu eine „Verbeugung gemacht" habe, würde zu weiteren Kundgebungen ermutigt, was wütende Gegenkundgebungen der Rechten hervorrufen, den „Burgfrieden" zerstören und den Kanzler in schwerste Verlegenheit bringen müsse; dies um so mehr, als Deutschland ja nicht so leichter H a n d wie Österreich auf seine „Faustpfänder" verzichten könne. Schließlich würde vor aller Welt der Eindruck der Uneinigkeit zwischen den Verbündeten erweckt. Czernins Reaktion war nicht minder erregt. Eine gleichzeitig auftauchende D i f f e r e n z über neue Vermittlungsversuche des bulgarischen Gesandten Rizow 5 4 ) brachte ihn f a s t zu einem Zornesausbruch: er entnehme, schrieb er an Hohenlohe, aus den ewigen Bedenken des deutschen Bündnispartners, „daß Deutschland einen Frieden mit Rußland ohne gegenseitige Annexionen und Entschädigungen nicht will. Ich frage mich immer wieder mit Erstaunen, ob diese Herren den Ernst der Situation noch immer nicht einsehen und es auf sich nehmen würden, einen eventuellen Separatfrieden an ihren Annexionswünschen scheitern zu lassen". U m Bethmann einen moralischen Stoß z u versetzen, ließ er nach Berlin telegraphieren, soeben sei in einem kleineren mährischen O r t eine ernste Hungerrevolte ausgebrochen, bei der das Militär eingreifen mußte; es habe 12 (später hieß es: 21) Tote und zahlreiche Verwundete gegeben. Seine Aufregung war so groß, daß er an einem T a g nicht weniger als vier Erlasse an Hohenlohe abgehen ließ. Es gäbe in Österreich keine Alldeutschen als Gegengewicht gegen die Sozialdemokratie, in deren Schlepptau sich jetzt alle Slawen Österreich-Ungarns befänden. Er müsse mit ihnen kooperieren, denn die L a g e sei äußerst ernst. „Die meisten Truppen des Hinterlands sind unverläßlich, und ein Aufruhr größeren Stils würde natürlich katastrophale Folgen haben": er würde Österreich „ f ü r Deutschland wertlos machen". Als Preis der Kooperation verlangten die Sozialdemokraten aber nun einmal eine Erklärung für den Frieden ohne Annexionen. Diese düstere Lageschilderung stand in merkwürdigem Gegensatz zu den beruhigenden Erklärungen, die der Abgeordnete Erzberger eben damals in Wien von prominenten Persönlichkeiten erhielt, die ihm versicherten, es bestünde keine ernstliche Streik- oder Revolutionsgefahr 5 5 ). Aber Czernin telegraphierte, er würde es auf das lebhafteste beklagen, wenn ihm der Reichskanzler „keinen vollen Glauben beimesse und nicht das Seinige dazu beitragen würde, damit wir die Situation hier halten können". Vorhaltun-

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gen, die ihm der Botschafter Graf Wedel gemacht hatte, wies er mit Entschiedenheit zurück: er sei nicht schuld an der Differenz und lehne es ab, die „unverständlichen Schwankungen" der Berliner Politik mitzumachen 5 6 ). Auch er sei für Harmonie des Bündnisverhältnisses, aber nicht so, „daß wir uns immer bedingungslos den Berliner Enunziationen unterwerfen". Das war schon fast eine Fehdeansage, und Hohenlohes Versuch, die Eintracht wiederherzustellen, schien zunächst wenig aussichtsreich. Er bemühte sich, seinem Minister die schwierige Lage Bethmanns und den Grund seiner Erregung über Czernins Pressekundgebung verständlich zu machen 57 ), drängte aber den Kanzler auch aus eigener Überzeugung zu einer eindeutigen Erklärung über seine Kriegsziele im Osten. Durch den Sturz des Zarentums seien ja doch seine früheren Äußerungen im Reichstag über die Zukunft des Baltikums hinfällig geworden — warum also jetzt noch zögern, diese Länder freizugeben, denen ihr Selbstbestimmungsrecht doch schon von der Revolution garantiert sei? Wolle er aus Furcht vor den Alldeutschen oder den Militärs die Möglichkeit eines russischen Sonderfriedens fahren lassen? Es ist qualvoll zu verfolgen, wie der Kanzler sich gegen diese Argumente sträubte, ohne die letzten Gründe seines Widerstrebens, insbesondere seine Zwangslage seit Kreuznach, dem Botschafter offenbaren zu können. Schließlich ließ er sich darauf ein, zu erklären, er sei „jederzeit zu Friedensverhandlungen mit Rußland bereit, die er unbeschadet militärischer Grenzrektifikationen nicht an annexionistischen Wünschen scheitern lassen würde". D a s ließ sich mit dem Kreuznacher Programm allenfalls vereinbaren, und so versprach Bethmann, es nötigenfalls auch gegen Alldeutsche und Militärs zu vertreten. Aber zu einer offenen Kundgebung, wie sie der Österreicher ihm vorschlug, konnte er sich doch nicht entschließen — auch nicht in der Form einer nachträglichen Zustimmung zu Czernins „Enunziation" im Fremdenblatt. Er meinte aber auch, zu viele Kundgebungen erweckten nur den Eindruck „als ob wir uns nicht mehr zu helfen wüßten". Man könne ja versuchen, den Petersburger Arbeiter- und Soldatenrat irgendwie vertraulich zu informieren — ein ebenso aussichtsloser wie verfehlter Plan. Denn nicht auf vertrauliche Mitteilung kunstvoll verklausulierter Friedensbedingungen kam es jetzt an, sondern auf ein offenes Hervortreten mit einer möglichst klaren, einfachen Friedensparole. D a z u aber war Bethmann außerstande. Czernin versuchte daraufhin eine gemeinsame „feierliche Enunziation" beider Regierungen zustande zu bringen, in der jeder politische Gegensatz

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zwischen ihnen energisch bestritten und am Schluß erklärt werden sollte, daß Österreich-Ungarn auf Annexionen russischen Gebietes verzichte und Deutschland die Möglichkeit eines Friedensschlusses mit Rußland daran nicht scheitern lassen, sondern sich mit „jenen Grenzberichtigungen bescheiden wolle, deren es zur Sicherung seiner Grenzen gegen Rußland bedarf". Das war zwar immer noch keine politisch wirksame, populäre Friedensparole — aber wenigstens eine öffentliche Festlegung Deutschlands 58 ). Um ihre Annahme in Berlin zu sichern, hat Czernin die Hilfe des bayerischen Ministerpräsidenten, Grafen Hertling, in Anspruch genommen, den er schon am 24. nach Wien eingeladen hatte, um ihn als süddeutschen Sturmbock gegen die alldeutschen und militaristischen Hemmungen in Berlin in Bewegung zu bringen. Tatsächlich hat Hertling (der seine Reise korrekterweise vorher dem Auswärtigen Amt angezeigt hatte) den Vorschlag Czernins empfehlend am 30. an den Kanzler telegraphiert; er hat auch nicht versäumt, dem österreichischen Minister das deutsche Bedürfnis nach gewissen „Grenzkorrekturen" zum Schutz Ostpreußens zu erläutern 59 ). Aber trotz der bayerischen Empfehlung stieß der Plan Czernins beim Kanzler auf entschiedene Abneigung, und es gab abermals eine sehr gereizte Korrespondenz zwischen Berlin und Wien. Bethmanns und Zimmermanns Einwände waren zunächst rein taktischer N a t u r : eine feierliche Betonung der Einigkeit beider Regierungen würde nur als Dementi wirken und also Verdacht erwecken; sobald von „Grenzberichtigungen" öffentlich die Rede wäre, würde jedermann auf Annexionsabsichten schließen, also der beabsichtigte Effekt in sein Gegenteil verkehrt (was sicher richtig war). Anderseits wäre an öffentlichen feierlichen Verzicht auf Annexionen durch Deutschland nicht zu denken; er würde sich nicht auf den Osten beschränken lassen, und alle „Faustpfänder" auch im Westen ohne konkrete Friedensaussicht preiszugeben, wäre nicht zu verantworten. Es bliebe nur die Möglichkeit, „unter der H a n d " Verständigung zu suchen. Der Staatssekretär habe das eben erst im Hauptausschuß des Reichstages mit Mühe den Abgeordneten klargemacht und könne sich jetzt nicht selber Lügen strafen. Man sei zwar mit dem sachlichen Inhalt der in Wien geplanten Kundgebung völlig einverstanden, könne es aber nicht öffentlich sagen 60 ). Bethmann blieb also zähe bei seiner von jeher verfolgten Taktik: keine öffentliche Äußerung über konkrete Friedensziele, ehe die Verhandlungen begonnen haben — sich die Hände freihalten bis zu diesem Augenblick! Was waren die letzten Motive seines Sträubens? Ganz eindeutig ist das

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nicht zu erkennen, da er sich nirgends in diesen Wochen ohne taktische Rücksichten äußern konnte. Sicherlich war es nicht bloß Scheu vor neuen K o n flikten mit der O H L , obwohl er voraussehen mußte, wie man in Kreuznach über ihn herziehen würde, wenn er Arm in Arm mit dem „defaitistischen" Czernin öffentlich einen „Verzichtfrieden" proklamierte. Wichtiger war die Sorge, eine neue, gefährliche, die Wirkung jeder amtlichen Enunziation aufhebende und den Zwiespalt im deutschen V o l k noch vertiefende Kriegszieldebatte zu entfesseln. Man kann das auch so ausdrücken: daß die N a t i o n noch nicht reif war zu jener Uberwindung der Partei- und Klassengegensätze, die dem Kanzler als ideales Ziel vorschwebte. Wenn sich aber der tiefe Zwiespalt nicht überwinden ließ, so wollte er ihn wenigstens nach Möglichkeit zudecken. Aber es scheint doch auch, als wäre er nicht ganz unberührt geblieben von der Hochstimmung, die damals im Großen Hauptquartier herrschte, wo man ein siegreiches Kriegsende bereits „etwa Ende J u l i " erwartete: nach den großen Anfangserfolgen der U-Boote, dem Ende April bereits erkennbaren Scheitern der französisch-englischen Durchbruchsoffensive und dem Zerfall der russischen Front. W i r hörten schon früher von der großen Denkschrift, mit der er Anfang Mai auf Czernins düsteres Zukunftsbild vom 12. April geantwortet hat. D a r i n wurde u. a. ein (vom Nachrichtendienst der O H L aufgefangenes) Telegramm des italienischen Botschafters aus Paris vom 9. 4. zitiert, in dem von Ribots schweren Besorgnissen berichtet wurde. D e r Kriegseintritt der Vereinigten Staaten, hieß es da, sei von der Vorsehung gesendet, denn „wir gehen der Erschöpfung entgegen 6 1 )". Dem Pessimismus Czernins stellte hier Bethmann ein sehr optimistisches Bild der Gesamtlage gegenüber und erklärte, in diesem Augenblick würde eine „zu stark unterstrichene Friedensbereitschaft" nicht nur ohne Aussicht auf Erfolg, sondern geradezu schädlich sein (als Schwächesymptom); in zwei bis drei Monaten dagegen würde der Zeitpunkt für eine kräftige Friedensoffensive kommen. Bis dahin gelte es, russische Friedenssondierungen „ohne zur Schau getragenes empressement" zu behandeln, aber freilich den Faden niemals abreißen zu lassen. Ähnlich, wenn auch gedämpfter, hat er sich im diplomatischen Bundesratsausschuß am 8. Mai ausgesprochen. H i e r berichtete er von den Kreuznacher Abmachungen, wiederholte aber seine bekannten Vorbehalte und wollte sich gegebenenfalls „mit dem absolut Notwendigen begnügen". „Das sei eigentlich nur die Narew-Linie." Erwägenswert erscheine immerhin auch die Errichtung eines „Pufferstaates" in Kurland und L i -

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tauen — erwägenswert, also nicht notwendig. Denn wir „dürften den Frieden nicht scheitern lassen an strategischen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen. Soweit gehe er H a n d in H a n d mit Österreich". Als Ministerpräsident von Weizsäcker in seiner nüchtern-verständigen Art zum raschen Ergreifen jeder Friedensmöglichkeit mahnte, weil Deutschland in eine schwierige L a g e geraten würde, wenn die englische und die russische Chance vorüberginge, widersprach der Kanzler nicht, ebensowenig den Zweifeln des Württembergers am Nutzen baltischer Pufferstaaten und der Möglichkeit, sie zu organisieren. Immerhin distanzierte er sich, herausgefordert durch Bemerkungen des hochkonservativen sächsischen Vertreters von Vitzthum, mit Betonung von Scheidemann, den er „gern abschütteln" würde, was er aber Österreichs wegen nicht tun könne. Seine eigenen Friedensvorstellungen, sagte er, unterschieden sich wesentlich von denen Scheidemanns und „gingen gerade nach Osten eher unvorsichtig zu weit". (Was sich wohl auf die „autonomen Fürstentümer" bezog 6 2 ).) Wie immer bewegte sich Bethmann Hollweg also auch diesmal auf der „ D i a g o n a l e " ; er suchte vorsichtig zwischen den Extremen zu vermitteln und sich „freie H a n d " zu bewahren. Aber die Wiener Politik überzeugte er damit nicht: weder von der günstigen militärischen Lage noch von der Möglichkeit, durch vertrauliche Friedensfühler in Petersburg weiterzukommen 6 3 ). Durch seine Politik der Winkelzüge geriet er nachgerade in Gefahr, sowohl das Vertrauen der Mehrheitssozialisten wie des Bundesgenossen zu verlieren. Czernin begriff seine Haltung einfach nicht mehr. Warum dieser Widerstand gegen das gemeinsame Manifest, nachdem doch auch Ludendorff in seinen Richtlinien für die Frontpropaganda nicht von Annexionen, sondern nur von „Grenzberichtigungen" sprach? Das würde in ÖsterreichU n g a r n böse Folgen haben: alle nicht-deutschen Elemente fingen an, die Parole auszugeben, „ d a ß der deutsche Annexionshunger die Monarchie in das Unglück zieht". Er war erbittert über Bethmanns „unvernünftige H a r t näckigkeit", die sich nur aus Furcht vor den Alldeutschen erklären lasse. Wieder überstürzten sich die aufgeregten Telegramme an Hohenlohe mit Weisungen zu fortgesetztem Drängen. Zu ihrer Verstärkung wurde auch noch Admiral Holtzendorif aufgeboten, der einen Besuch in Wien zu politischen Gesprächen benutzte und in Czernins Kritik an der Politik des Kanzlers ohne weiteres mit einstimmte. Er unternahm es auch, im A u f t r a g Czernins bei diesem und Zimmermann vorstellig zu werden und berichtete diesen (die Äußerungen Czernins noch übertreibend und entstellend), man

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habe ihm in Wien gesagt, die Gespräche in Berlin führten zu nichts, man zöge es vor, mit der O H L direkt zu verhandeln — was er Ludendorff mitteilen möge. Natürlich forderte er damit nur den Zorn des Kanzlers heraus, der sich die Einmischung der Militärs in seine Zuständigkeit energisch verbat. Seine Empörung war um so größer, als gleichzeitig noch andere Nachrichten einliefen, nach denen Czernin auf mehreren Wegen direkte Verbindung mit dem Hauptquartier gesucht und Beschwerden über Bethmann durch militärische Stellen an Ludendorff und den Kaiser herangetragen habe — Nachrichten, die sich später zum Teil als Mißverständnisse herausstellten, aber doch zu einem energischen Protest des Auswärtigen Amtes in Wien führten 6 4 ). Schließlich wurde das nervöse Drängen auch dem österreichischen Botschafter zuviel. Er erklärte seinem Minister in einem großen Bericht (am 4. Mai), bisher habe er seinen A u f t r a g so verstanden, daß alles geschehen müsse, um die Regierung Bethmann Hollwegs so lange als irgend möglich am Ruder zu erhalten. Seit drei Jahren berichte er, daß ein Wechsel der Reichsleitung nur zu Ungunsten Österreichs erfolgen könnte. Aber den bayerischen Ministerpräsidenten, den Admiralstabschef (einen politischen Ignoranten) und durch diesen die O H L gegen den Kanzler aufzuwiegeln, hieße dessen Sturz systematisch vorbereiten — mit der Folge, daß Falkenhayn, Tirpitz oder der alte Hindenburg mit einem schneidigen Staatssekretär Nachfolger würde. Er habe alles getan, was nur möglich war, um die gemeinsame „Enunziation" in Berlin durchzusetzen. Aber Staatssekretär Zimmermann versichere ihm, er habe durchaus keine Scheu vor Auseinandersetzungen mit den Militärs. Aber eine öffentliche Erklärung, wie sie Czernin wünsche, würde derartig lauten Protest in der konservativen und nationalliberalen Presse und anschließend einen so heftigen Streit um die Kriegsziele wachrufen, daß der innere Friede dadurch zerstört, die Parteiengegensätze vor aller Welt demonstriert und damit die beabsichtigte Wirkung in ihr Gegenteil verkehrt würde. Diese — auch von Bethmann ausgesprochene — Motivierung halte er für absolut aufrichtig. Diese Vorhaltungen haben Czernin offensichtlich sehr erschreckt 65 ). Er versicherte jetzt eifrig, Bethmanns Verbleiben im Amt sei in Wien nach wie vor sehr erwünscht und veranlaßte, daß Kaiser K a r l dies dem Gafen Wedel noch besonders aussprach. Seine verschiedenen Aufträge an Hertling, H o l t zendorff und andere suchte der Minister zu verharmlosen und erklärte sich schließlich bereit, auf die gemeinsame Kundgebung zu verzichten. Doch

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schlug er einen Ersatz dafür vor: ein Glückwunschtelegramm des Kanzlers an ihn zur Verleihung des Großkreuzes vom Stephansorden, in dem der Absender „die Gleichartigkeit unserer Kriegsziele und volle Übereinstimmung in allen Fragen" betonen möge. Ein solches Telegramm ging denn auch gleich am nächsten Tag ab. Es war sehr herzlich gehalten, sprach aber nicht von „Gleichartigkeit der Kriegsziele" (was Bethmann sich für seine Reichstagsrede vorbehielt), sondern nur von „gemeinsamer Arbeit und vollstem Einverständnis". Czernin benutzte das in seiner Antwort, um sein persönliches Vertrauen zu Bethmann Hollweg öffentlich zu bekunden. Immerhin: die Verpflichtung Deutschlands auf Österreichs Kriegsziele war auch auf diesem eleganten Umweg nicht erreicht, und so ging der österreichische Minister nunmehr zu stärkeren Druckmitteln über. Das bedenklichste dieser Mittel war die unmittelbare Einwirkung auf führende Abgeordnete des Reichstags — eine grobe Einmischung in die innere deutsche Politik mit dem Ziel, gegen die offizielle Haltung der Reichsregierung in der Friedensfrage eine parlamentarische Opposition mobil zu machen. Zu diesem Zweck bestand bereits eine Dauerverbindung mit Berliner Abgeordneten. Czernin hatte einen Besuch Erzbergers am 22. April dazu benutzt, mit ihm einen laufenden Gedankenaustausch durch den zwischen Berlin und Wien hinund herreisenden ruthenischen Abgeordneten Baron Wassilko zu verabreden; er war ein Freund des Ministers mit vielseitigen Verbindungen zu deutschen Parlamentariern 6 6 ). Erzberger war im Auftrag des Auswärtigen Amtes nach Wien gekommen, um zu erkunden, ob die Gerüchte über Sonderfriedenspläne Österreichs begründet wären und um seinerseits gegen den dort herrschenden Pessimismus anzukämpfen. Um ihn für diese Aufgabe vorzubereiten, hatte man ihm im Auswärtigen Amt die geheime Denkschrift Czernins vom 12. April für den Kaiser gezeigt. Das Ergebnis der Reise aber war, daß Erzberger sich selbst vom österreichischen Pessimismus bis zu einem gewissen Grade anstecken ließ und daß ihm Karl nach einer Privataudienz eine Abschrift des Memorandums aushändigen ließ mit der Ermächtigung, sie nach Gutdünken zu benützen. Diesen Schritt hat Karl aber seinem Minister streng geheim gehalten und später, als das Memorandum im Ausland bekannt geworden war, mit kalter Stirn abgeleugnet. Umstritten ist, ob Erzberger an diesem politischen Unglücksfall schuld gewesen ist, weil er den Bericht einer Versammlung von Parteifreunden Ende Juli vorgelesen hat; er selbst will das in vertraulicher Form getan haben und versichert, daß viele Kopien des Memorandums von der Schweiz aus

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nach Deutschland versandt wurden und eine von diesen aus der Schweiz nach England gelangt sei. Wie dem auch sei: in jedem Fall war das Memorandum von seinem Urheber selbst und vom Kaiser K a r l als eine Art politischer Sprengbombe gedacht und hat also solche bald darauf seine Wirkung voll getan — einerlei, ob es nun dem Wortlaut oder nur dem Inhalt nach den Parteifreunden Erzbergers bekanntgegeben wurde. Wenn ein Staatsmann in verantwortlicher Stellung und im Besitz aller geheimen I n f o r m a tionsquellen dienstlich versicherte, die K r a f t seines Landes sei restlos erschöpft, die Revolution könne jeden Tag losbrechen, die W a f f e des U - B o o t Krieges habe bereits versagt, und länger als bestenfalls ein paar Sommermonate könne der Krieg nicht mehr fortgesetzt werden — so mußte das auf Außenstehende und Urteilslose eine ganz unabsehbare Wirkung üben 6 7 ). Aber damit noch nicht genug. Bethmann Hollweg mußte in Furcht vor dem Abfall des Bundesgenossen versetzt werden. D a z u wurde ein — an und für sich bedeutungsloses — Nachspiel der Mission des Prinzen Sixtus benutzt. D e n Bourbonen hatte das Scheitern seiner Mission nicht zur Ruhe kommen lassen; vielleicht ließ es sich doch fortsetzen, wenn es gelang, seinen Schwager zu gewissen Konzessionen zu bewegen, die man Italien anbieten konnte? Lloyd George hatte gemeint, die Italiener würden sich vielleicht mit dem Trentino oder ein paar dalmatinischen Inseln abfinden lassen, ohne auf Triest zu bestehen. Auf Anregungen dieser A r t hin, die er (ohne jeden Auftrag) nach Wien weitergab, wurde er sofort wieder nach Schloß Laxenburg eingeladen, wo er am 8. Mai mit Kaiser K a r l zusammentraf. G r a f E r d ö d y , der ihn in der Schweiz abholte, hatte ihm versichert (so berichtet jedenfalls Sixtus 6 7 1 )), das Kaiserpaar sei zu einem Sonderfrieden mit den Westmächten bereit; auch Czernin sei damit einverstanden und bitte im Friedensfall um Versetzung der an der österreichisch-russischen Front stehenden französischen Offiziere an die deutsch-russischen Frontteile; man würde auch in R u ß l a n d von der Entente gekauftes Getreide durch Österreich nach der Schweiz fahren lassen, möchte aber das von den Deutschen in Rumänien und der Türkei gesäte Getreide nach der Ernte Deutschland zuführen und diesem nicht den Krieg machen. Sonderbare und unwahrscheinliche Details für eine Vorbesprechung! Sie erwecken den Verdacht, daß sie nur dazu bestimmt waren, dem Prinzen die Ernsthaftigkeit der österreichischen Friedensbereitschaft glaubhafter zu machen, indem sie eine weitgehende Vorbereitung der Wiener Friedenspläne vorspiegelten. U m sie ihm auch schmackhaft zu machen, wurde hinzugefügt,

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man erwarte unmittelbar nach Abschluß des österreichischen Sonderfriedens Arbeiteraufstände in den deutschen Munitionsfabriken zugunsten des allgemeinen Friedens und den Abfall Bulgariens und der Türkei vom Viererbund. U n d um das italienische Hindernis wenigstens scheinbar aus dem Wege zu räumen, wurde das längst überholte und mysteriöse Friedensangebot eines italienischen Generalstabsoffiziers vom Februar 6 8 ) wieder aufgewärmt und dem Prinzen als angeblicher Beweis d a f ü r vorgesetzt, daß die Italiener gar nicht so unzugänglich für Ausgleichsverhandlungen wären, wie sie sich gäben. H a t man wirklich in Wien geglaubt, damit auf die Ententeregierungen irgendwelchen Eindruck zu machen — oder ging es nur darum, den Prinzen zu weiteren Bemühungen zu ermutigen, an deren Erfolg man selbst nicht mehr glaubte — vor allem, ihn noch einmal nach Wien zu locken? Auch der Verlauf der Laxenburger Besprechungen läßt Zweifel an ihrer Ernsthaftigkeit aufkommen. Sie vollzogen sich fast von A n f a n g an unter Teilnahme Czernins — in einer Atmosphäre aufgeräumter Munterkeit, in der niemand auch nur fragte, welche Vollmacht Prinz Sixtus hätte, im N a men der Ententeregierungen zu sprechen und was deren Meinung sei. Es wurde hauptsächlich über die italienische Frage gesprochen. Kaiser K a r l erklärte sich jetzt bereit, das Trentino (aber nicht mehr!) den Italienern zu überlassen, wenn Österreich dafür eine Entschädigung erhielte — aber nicht auf deutschem Boden! Prinz Sixtus machte den abenteuerlichen Vorschlag, eine afrikanische Kolonie, etwa Somaliland, gegen das Trentino einzutauschen. G r a f Czernin sondierte, ob seine rumänischen Wunschträume wohl Aussicht hätten, erfüllt zu werden, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten. Auch forderte er eine Garantie für die Erhaltung des status quo der Monarchie als Voraussetzung jeder Konzession, erklärte mit starken Worten die Selbständigkeit der Wiener Politik gegenüber Berlin und wünschte Fortsetzung der Gespräche durch bevollmächtigte Berufsdiplomaten. D a n n zog er sich mit auffälliger Eile zurück, ehe irgendeine feste Abrede getroffen war. Kaiser K a r l gab seinem Schwager am folgenden Tage ein Schreiben mit, das die Ergebnisse der Begegnung zusammenfassen sollte, aber nichts als eine Wiederholung des Märchens von dem angeblichen Friedensangebot Italiens und und einige unverbindliche Redensarten enthielt. Der A n f a n g entsprach wörtlich einem Entwurf, den Sixtus aus der Schweiz mitgebracht hatte; aber alles, was dieser Entwurf an politischen Zusagen enthielt, war herausgestrichen. Außerdem händigte er seinem Schwager eine deutsch geschriebene Aufzeichnung Czernins aus, die Prinz Sixtus von diesem erbeten hatte und

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die eindeutig zeigte, daß der Minister an einen Sonderfrieden hinter dem Rücken Deutschlands überhaupt nicht gedacht hat. Sie enthielt vier Punkte: 1. Keine Gebietsabtretung ohne wirklich gleichwertige Kompensation. 2. Garantie der Entente, daß bei einer Friedensverhandlung die Integrität der Monarchie bestehen bleibt. 3. Erst wenn diese Forderungen positiv beantwortet sind, kann ÖsterreichUngarn mit seinen Verbündeten in Besprechungen eintreten. 4. Immerhin ist es bereit, die begonnenen Besprechungen fortzusetzen, „ f ü r einen ehrenvollen Frieden zu arbeiten und damit auch den allgemeinen Weltfrieden anzubahnen". Der „ehrenvolle Friede" konnte wohl nur als Sonderfriede verstanden werden, wenn er die Vorstufe zum allgemeinen Weltfrieden bilden sollte. Aber eine so völlig unverbindliche, ja nichtssagende Zusage war natürlich als Grundlage ernsthafter diplomatischer Verhandlung völlig ungeeignet und sollte es wohl auch sein. Prinz Sixtus mußte sie schon in seiner Ubersetzung ins Französische zum Angebot eines Sonderfriedens umfälschen, um sie Poincaré und Ribot überhaupt präsentieren zu können. D a ß er damit erfolglos blieb, ist selbstverständlich. Nach einigem Hin und Her in Beratungen mit Lloyd George wurde die Aktion des Bourbonen endgültig zu den Akten gelegt 69 ). Für die österreichische Politik hatte sie ihren Hauptzweck bereits erfüllt. Gleich nach der Abreise des Prinzen wurde Bethmann Hollweg zu einer dringlichen Unterredung nach Wien eingeladen, auf der ein Friedensangebot der Gegner, aber auch die bevorstehende Reichstagsrede des Kanzlers besprochen werden sollte. Er erschien am 13. und erfuhr aus dem Munde Czernins und Kaiser Karls in tiefstem Vertrauen: England, Frankreich und Italien hätten Österreich-Ungarn einen Sonderfrieden gegen Abtretung des Trentino und einer oder der anderen Insel an Italien angeboten. Für Deutschland, fügte der Minister heuchlerisch hinzu, würde ein solcher Sonderfriede kein Nachteil sein. Denn die an der italienischen Front frei werdenden Truppen könnten den Schutz der österreichischen Ostfront übernehmen und dort deutsche Truppen ablösen, die dann an die Westfront geworfen werden könnten. Außerdem würde die Blockade der Adria aufhören, und die dort hereinkommenden Lebensmittel könnten nach Bedarf Deutschland zugeführt werden; nur aus Rußland kommende Waren müßten nach der Schweiz transportiert werden. Auf dieses Angebot habe er, Czernin, erwidert, er

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müsse das zunächst mit seinen Verbündeten besprechen, und man habe erwidert, das werde als selbstverständlich betrachtet — es handle sich nur um einen „legitimen Sonderfrieden". Es ist wohl ausgeschlossen, daß Czernin auch nur einen Augenblick damit gerechnet hat, der Kanzler würde auf dieses Lügengespinst hereinfallen und etwa zustimmen. Seine Versicherung fortdauernder Bündnistreue war sicher (für den Augenblick) ehrlich gemeint; denn weder kann es ihm verborgen geblieben sein, daß Prinz Sixtus ohne jeden Auftrag der westlichen Regierungen gekommen war, also gar kein Friedensangebot existierte, noch kann er so töricht gewesen sein, die verheerenden Folgen eines Sonderfriedens für beide Mittelmächte zu übersehen, sofern dieser nicht sofort in den allgemeinen Frieden überging, an den aber kein Staatsmann des Westens dachte. Was wären diese Folgen gewesen? Ende des so erfolgreichen U-Boot-Kriegs im Mittelmeer, Absperrung Bulgariens und der Türkei von deutschen Waffenund Munitionszufuhren, wahrscheinlich auch Internierung der dort stehenden Truppen, also Ende der Kriegführung dieser Verbündeten, freie Verfügung der Entente über den Balkan, insbesondere über die Z u k u n f t Rumäniens, Serbiens und der adriatischen Küste, völlige Auflösung der deutschen Ostfront, aus der sich die ineinander verfilzten deutschen und österreichischen Verbände gar nicht ohne weiteres auseinanderklauben ließen, tiefste moralische Empörung des deutschen Volkes — aber auch der Deutsch-Österreicher — über den Verrat gerade desjenigen Bundesgenossen, zu dessen Rettung wir 1914 ins Feld gezogen waren, schließlich und nicht zuletzt katastrophale Auswirkungen auf die breite Masse der deutschen Bevölkerung, besonders in der Munitionsindustrie, wie sie Erdödy dem Prinzen Sixtus mehrmals ausmalte, mit nicht abzusehenden revolutionären Gefahren für beide Monarchien. Aber es kam Czernin ja auch gar nicht darauf an, daß ein Sonderfriede zustande kam, sondern nur darauf: der Siegesgewißheit der deutschen Regierung einen Stoß zu versetzen und Bethmann zu größerer Rücksichtnahme auf seine Wünsche zu nötigen. Der Kanzler vermutete zutreffend (durch Wedel über das Auftauchen des Prinzen informiert), wer der Unterhändler aus Paris gewesen war, obwohl ihm Czernin dessen Persönlichkeit verschwieg 70 ). Er ließ sich sein Mißtrauen nicht merken, fand das angebliche Angebot der Entente nur reichlich unklar und äußerte die Vermutung, entweder wolle die Entente unter dem Druck des U-Boot-Krieges, des Scheiterns ihrer Westoffensive und der russischen Revolution einen allgemeinen

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Frieden anbahnen oder das Bündnis der Mittelmächte auseinandersprengen. Eine Antwort wolle er zunächst mit Kaiser Wilhelm beraten, dem er sogleich einen Bericht sandte. Die Hauptsache aber glaubte der Minister erreicht zu haben: er hatte den Eindruck, daß Bethmann Hollweg geneigt sei, den Wiener Wünschen entsprechend in seiner bevorstehenden Reichstagsrede sich Rußland gegenüber verständigungsbereit zu zeigen und zwischen diesem Gegner und den anderen einen deutlichen Unterschied zu machen. Hohenlohe, der den Auftrag erhielt, sogleich noch einmal nachzustoßen, konnte ihn nicht ausführen, weil der Kanzler, müde und abgespannt von Wien zurückgekehrt, eine Besprechung ablehnte 71 ). Am nächsten Tag hat er seine letzte Reichstagsrede gehalten. Wenn er auch dem Kaiser versicherte, an Österreichs Bündnistreue nicht zu zweifeln, muß ihn doch das Wiener Erlebnis tief deprimiert haben: zum mindesten zeigte es, daß der Bundesgenosse an der Fortsetzung des Krieges kein wirkliches Interesse mehr besaß und sich sobald als möglich in Sicherheit zu bringen suchte. Sofort nach Bethmanns Abreise aus Wien bemühte sich Czernin, den Botschafter Grafen Wedel unter Druck zu setzen und hatte damit besten Erfolg. In der freundschaftlichsten Form gab er ihm zu verstehen, am Wiener Hof sei die Verstimmung und das Mißtrauen gegen Deutschland im Wachsen, nicht zuletzt auch unter „römischem Einfluß". Man fürchte dort, die Deutschen würden im Fall des Sieges Österreichs Interessen überall hintanstellen: in Polen, Galizien und der Bukowina, Serbien, Südtirol, R u m ä nien. Die Entente, meinte Graf Wedel, könne dank ihrer „bekannten Verbindung zum hiesigen H o f " glänzende Angebote machen, die zum Sonderfrieden verlockten und mit denen wir schwer konkurrieren könnten. „Auf Dankbarkeit und Treue ist in der Politik allein nicht zu bauen." Man täte also in Berlin gut daran, dem Minister, der am 17. im Hauptquartier erscheinen wolle, möglichst „befriedigende Perspektiven über österreichische Kriegsziele" zu eröffnen. Bei der schwankenden und geteilten Meinung, „auch in einflußreichen Kreisen" Österreichs, sei es wichtig, den zuverlässigen Anhängern des Bündnisses, zu denen Czernin gehöre, den Rücken zu stärken. Man sieht: der kluge Österreicher verstand beides zugleich mit Erfolg zugunsten seiner Kriegsziele auszuspielen: seine eigene Bündnistreue und die Unzuverlässigkeit seines Kaisers, der ihm genau an demselben Tag jenen haßerfüllten Brief über deutsche Politik und die Notwendigkeit eines Sonderfriedens geschrieben hat, den wir schon kennen 72 ).

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Elftes K a p i t e l III

M a n begreift, d a ß es der Reidiskanzler unter solchen U m s t ä n d e n eine verzweifelt schwere, im Grund unlösbare A u f g a b e f a n d (wie er im Bundesratsausschuß am 8. M a i geäußert hatte), überhaupt noch öffentlich über deutsche Kriegsziele zu sprechen. Von Wien her wurde er stürmisch gedrängt, die russische Friedensformel anzunehmen, und die neuesten Nachrichten aus Petersburg (der S t u r z Miljukows stand nahe bevor, und die Friedenspartei schien obenauf zu kommen) verlockten d a z u . Auf der anderen Seite hagelte es warnende und drohende Telegramme und Schreiben aus dem H a u p t quartier, die das Gegenteil forderten. D e r Kaiser ließ am 9. Mai telegraphieren, angesichts der glänzenden U - B o o t - E r f o l g e solle das Auswärtige A m t „ u m Gottes willen kein empressement" in der Friedensfrage zeigen. M a n sollte L u d e n d o r f f s Wünschen entsprechen und in L i v l a n d und E s t h l a n d eine Bewegung organisieren, die auf Anschluß an K u r l a n d (und d a m i t an Deutschland) ziele. D i e Stimmung i m H a u p t q u a r t i e r sei sehr zuversichtlich. M a n erwarte ein k r ä f t i g e s Abrücken v o m Scheidemann-Frieden in der bevorstehenden Reichstagsdebatte. Ein p a a r T a g e später beschwerte er sich, daß ihm nach drei J a h r e n Kriegführung immer noch kein Kriegszielprog r a m m vorgelegt sei (trotz Kreuznach!). „ D a h e r habe Ich die Z u s a m m e n stellung nach Meinen Wünschen u n d die Meiner bewaffneten Macht zu umschreiben" — w a s in F o r m einer Kriegszielliste geschah, die a n Abenteuerlichkeit alles überstieg, was selbst die O H L seit Dezember 1916 vorgelegt hatte. D a z u die Drohung: „ J e d e Woche K r i e g wird teurer!" - n ä m lich durch Steigerung der deutschen Forderungen. N u n , im Auswärtigen A m t u n d in der Reichskanzlei nahm man solche gelegentlichen Ausbrüche kaiserlicher Phantasie (sie waren diesmal durch einen als Aufschneider bekannten Besucher angeregt 7 3 )) nicht allzu ernst. Aber auch Ludendorff ließ sich hören: empört über Äußerungen der „Bayerischen Staatszeitung", nach der sich H e r ren des Auswärtigen Amtes darin geäußert haben sollten, er, der General, w ä r e f ü r einen beschleunigten Frieden: „ D a s ist nicht der Fall, denn die Zeit ist f ü r uns", und die O H L wolle von bescheidenen Friedensbedingungen durchaus nichts wissen 7 4 ). D e n K a n z l e r brachte dies alles u m so mehr ins Gedränge, als er durch eine Interpellation der sozialdemokratischen Mehrheitsfraktion des Reichstages k l i p p und klar g e f r a g t war, w a s er angesichts der österreichischen und russischen Friedenskundgebungen „ z u tun gedenke, um ein Ubereinkommen aller beteiligten Regierungen darüber herbeizuführen, daß der k o m m e n d e Friede a u f g r u n d gegenseitiger Verständigung ohne Annexionen und Kriegs-

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entschädigungen geschlossen werden könne". Ein Versuch, diese Interpellation abzubiegen, war daran gescheitert, daß auch die konservative Fraktion eine solche Frage stellte: ob er bereit sei, über seine Stellung zu der sozialistischen Proklamation eines annexionslosen Friedens Auskunft zu geben. Beide Extreme wollten ihn also jetzt zwingen, offen Farbe zu bekennen. U n d so drohte die Reichstagssitzung vom 15. Mai, in der das geschehen sollte, zur heikelsten seiner ganzen politischen Laufbahn zu werden. U m sich zu sichern, hielt er eine Besprechung mit den Fraktionsführern der Mittelparteien ab, die er davon überzeugte, daß eine eindeutige Erklärung, sowohl gegen wie f ü r den annexionslosen Frieden, in diesem Augenblick außenpolitisch erfolglos, innenpolitisch aber verhängnisvoll sein würde, indem sie den Streit um die Kriegsziele zu äußerster Glut entfachen würde. Er erreichte auch, daß sie eine gemeinsame Erklärung beschlossen, die ihm das Vertrauen aussprach und seine Zurückhaltung billigte 75 ). Unzufrieden scheint nur Erzberger gewesen zu sein, der dem Kanzler zu einem politisch unmöglichen Kompromiß riet und damit abgewiesen wurde 76 ). Im letzten Moment scheint übrigens Bethmann auch noch versucht zu haben, die Zustimmung des Kaisers für eine Formel zu finden, die der russischen wenigstens sehr ähnlich sehen sollte. Bei seiner Rückkehr aus Wien am Mittag des 14. hatte er ein Telegramm der Berner Gesandtschaft vorgefunden, in dem es hieß: ein zuverlässiger Vertrauensmann (der Sozialist Dr. Adolf Müller) habe „aufgrund gewissenhaftester Ermittlungen" festgestellt, daß der Kanzler in seiner Reichstagsrede die Friedensformel der Sowjets rückhaltlos annehmen müsse, wenn es zum Sonderfrieden mit Rußland kommen sollte. Bundesrat H o f f m a n n , der Chef des schweizerischen außenpolitischen Departements, befürworte ebenfalls diesen Schritt 77 ). Das Telegramm wurde sofort ins Hauptquartier weitergeleitet und dort abends vom Kaiser mit den drei Kabinettschefs und Grünau besprochen. „Der Kanzler habe sich dazu bereit erklärt", die Formel anzunehmen, sagte Wilhelm II., wie Admiral Müller in seinem Tagebuch vermerkt 78 ). Wenn das richtig ist, müßte es im Lauf des Tages telefonisch geschehen sein. Aber Ludendorff widersprach, wie zu erwarten, und wollte nur eine nichtssagende Kompromißformel gelten lassen: „Verständigung auf der Grundlage der Wahrung gegenseitiger Interessen." Damit fiel dieser Versuch des Kanzlers (dessen Ernsthaftigkeit sich nicht beurteilen läßt) ins Wasser. Denn die letzte Entscheidung in so kritischen Fragen lag längst bei der O H L . Aber Bethmann Hollweg hat sich überhaupt auf keine Friedensformel

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Elftes Kapitel III

eingelassen. Seine mit soviel Spannung erwartete Reichstagsrede am 15. Mai war ein diplomatisches Meisterstück. Sie wich einer klaren Entscheidung für oder gegen den annexionslosen Frieden aus und erweckte doch gar nicht den Eindruck schwächlicher Halbheit, sondern männlicher Festigkeit in der Behauptung des eigenen Weges und staatsmännischer Überlegenheit in der Abwehr bloßer Gefühlspolitik der extremen Parteien. Er lasse sich durch keine Drohung oder Kritik auf einen falschen Weg drängen, rief er aus, weder auf ein Eroberungsprogramm noch auf vorzeitige Verzichterklärungen. Beides würde katastrophale Folgen haben, im Innern ebenso wie nach außen. Er stünde im Bann keiner Partei, sondern nur im Bann seines Volkes. Eine drohend klingende Wendung Scheidemanns über die Gefahr einer Revolution, falls der Krieg nur für Annexionen fortgesetzt würde, benutzte er sehr geschickt, um sich von der radikalen Linken zu distanzieren. Aber noch viel entschiedener setzte er sich gegen die plumpen Vorwürfe des hochkonservativen Agrariers Roesicke zur Wehr, dem er höchst eindrucksvoll die kaiserliche Osterbotschaft entgegenhielt — zur Befriedigung seiner Anhänger in der Sozialdemokratie. D a s Große Hauptquartier wurde durch die Erklärung erfreut: noch nie sei Deutschlands militärische L a g e so günstig gewesen wie in diesem Augenblick. Auch Czernin wurde befriedigt, indem der Redner gleich zu A n f a n g jede Meinungsverschiedenheit zwischen den Verbündeten in der Friedensfrage energisch bestritt, vor allem aber dadurch, daß er zwischen den Gegnern im Westen und dem russischen Nachbarn im Osten sehr klar unterschied. Nur bei jenen f a n d er eine Verständigung zur Zeit aussichtslos, während er den Wunsch, zum russischen Volk in ein dauerndes Verhältnis „friedlichen Nebeneinanders" zu treten, „eine Selbstverständlichkeit" nannte. Nichts, w a s die Entwicklung dieses Verhältnisses stören könnte, dürfe unser Kriegsziel sein, also keine Forderung, „die sich mit der Freiheit und dem Willen der Völker selbst nicht verträgt, die ins russische Volk nur den Keim zu neuer Feindschaft legen würde. Jeder Gedanke an Vergewaltigung müsse ausgeschlossen bleiben, kein Stachel, keine Verstimmung dürfe zurückbleiben". Damit war die sowjetische Friedensformel vermieden, aber im Grunde doch nur kunstvoll umschrieben: Selbstbestimmung der Völker ebenso wie der Verzicht auf gewaltsame Eroberung. Mehr konnte er nicht sagen — wollte er aber wohl auch nicht. Für den Augenblick war der oratorische Erfolg gewaltig; ganz deutlich schlössen sich die Mittelparteien hinter ihm gegen die Extremen von rechts und links zusammen. So kann man diese letzte seiner Reichstagsreden den glänzenden

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Abschluß einer glanzvollen Reihe nennen. Der österreichische Botschafter war besonders tief beeindruckt und meldete, der Kanzler habe, angefeuert durch seine Erregung über die Angriffe von rechts und links, die „beste seiner Reden gehalten 7 9 )". Aber oratorische Wirkungen halten selten lange vor. Die Sozialdemokraten blieben letztlich unbefriedigt und die Rechtsparteien unverändert in ihrem H a ß . Wenn der Kanzler (mit einer ans Zynische streifenden Ausnutzung der Kreuznacher Besprechung) versicherte, er befinde sich „bezüglich der Kriegsziele in voller Ubereinstimmung mit der Obersten Heeresleitung", so weckte er damit zwar zunächst starken Beifall auf der Rechten; doch schlug dieser bald in verstärktes Mißtrauen um: ob das aufrichtig und nicht doppelsinnig gemeint sei; und die Linke wurde erst recht unsicher. Beide Seiten des Reichstags wollten nicht länger hingehalten werden: beide verlangten (wie es Hoetzsch in der Kreuzzeitung ausdrückte) eine „politische Beeinflussung des Kriegsverlaufs", nachdem die Entscheidung der Waffen sich so endlos hinauszog. Man rief nach politischer „Führung", nach „politischer Initiative", ohne viel danach zu fragen, ob es eine Möglichkeit gab, durch Erklärungen im Reichstag dem eisernen Zwangsablauf des deutschen Kriegsschicksals zu entrinnen.

Vierter

Czernin

Abschnitt

und das Balkanprogramm

der OHL (Mai bis Juni)

Unterdessen war Ludendorff politisch immer aktiver geworden — so aktiv, daß man aus den Kriegsakten fast den Eindruck gewinnt, als hätte sich in der O H L ein eigenes Außenministerium gebildet und der Generalstabschef unbegrenzt Zeit zur Bearbeitung rein politischer Fragen besessen. Zunächst kam es ihm darauf an, auch den österreichischen Bundesgenossen auf seine Annexionspolitik im Baltikum festzulegen. E r benutzte dazu Äußerungen des österreichischen Armeeoberkommandos von Ende April, die Frontpropaganda sei jetzt so weit fortgeschritten, daß den russischen Unterhändlern konkrete Friedensbedingungen vorgelegt werden müßten; man wünsche sich darüber mit der deutschen O H L zu verständigen. E r schlug also (gleich mit zwei Telegrammen an einem Tag!) vor, „an der Hand der Kreuznacher Besprechung" schleunigst eine Kriegszielliste mit Österreich

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Elftes Kapitel IV

zu vereinbaren. Vergebens wandte Zimmermann ein, Czernin sei nervös und weich; er wünsche einen Sonderfrieden mit Rußland, Verzicht auf alle Annexionen und volle Integrität Österreich-Ungarns. Eilig veranstaltete Konferenzen würden also (angesichts der Kurland-Frage) erfolglos bleiben und nur zu „verletzenden Auseinandersetzungen" führen. Es gäbe nur die Möglichkeit, durch den erfahrenen Botschafter Grafen Wedel die Österreicher behutsam und allmählich auf die Forderungen der O H L vorzubereiten. Sein Telegramm war kaum abgegangen, als Grünau meldete, er habe durch einen bulgarischen Verbindungsoffizier, Oberst Gantschew, und den Oberstleutnant von Massow erfahren, Ludendorff sei schon dabei, eine Konferenz der Zentralmächte (einschließlich Bulgariens) vorzubereiten, die Mitte Mai nach Berlin einberufen werden sollte — was Zimmermann mit Entsetzen aufnahm. Welche hochgeschraubten Kriegsziele würden da wohl die Bulgaren vorbringen und wie sollten wir damit fertig werden, ohne allgemeine Verstimmung zu erwecken 80 )? Er instruierte dann Wedel über die Kreuznacher Besprechungen; er solle Czernin nach und nach zu überreden suchen, sich mit der dort verabredeten Überlassung Ostgaliziens an die Russen gegen Entschädigung Österreichs in Serbien und Rumänien abzufinden; Hohenlohe seinerseits habe sich nicht ganz abweisend gezeigt 81 ). Ludendorff hatte es, wie immer, sehr eilig und berief sich u. a. auf eine angebliche, durch General Arz ihm übermittelte Bitte Czernins, er möge doch das Auswärtige Amt drängen, mit ihm wegen Klärung der Kriegsziele endlich engere Fühlung aufzunehmen (auf Rückfrage stellte sich dann bald heraus, daß eine solche Bitte nie ergangen war 82 )). Er sah auch keinerlei Schwierigkeit bei den Verhandlungen mit Österreich voraus. Man müsse dem Bundesgenossen nur ganz offen die deutschen Kriegsziele im Osten darlegen und ihn energisch auf Serbien-Montenegro verweisen, dann werde er sich schon zum Verzicht auf Ostgalizien (als Entschädigung f ü r die Russen) bereit finden. Kein Mensch in Österreich dächte ja daran, f ü r die Wiedereroberung Ostgaliziens, des „Saulandes", auch nur einen Mann zu opfern. Österreichs Interessen lägen in Wahrheit auf dem Balkan; die Einverleibung eines Teils von Serbien und die Gründung eines neuserbischen Vasallenstaates „dürfte für Österreich einen vollen Ersatz bedeuten und die Monarchie stärken". Dies um so mehr, versicherte er, als Serbien den Österreichern „als reife Frucht in den Schoß fällt. Die deutsche Armee aber hat Serbien miterobert und braucht sich ihren Lohn in KurlandLitauen nicht verkümmern zu lassen". „Das monarchische Ansehen in

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Deutschland würde leiden, wenn der Frieden uns nicht Kurland-Litauen bringt." Österreich in Rumänien zu entschädigen (Czernins große H o f f nung!) f a n d Ludendorff bedenklich; ein vollständiges deutsches Desinteressement dort ginge zu weit und entspräche nicht der Kreuznacher Aufzeichnung. Er möchte lieber Prinz Kyrill von Bulgarien zum Herrscher Rumäniens machen, der ein guter Bundesgenosse Deutschlands werden würde; zugleich ließe sich so die Dobrudscha-Frage — ein zwischen Berlin und Sofia strittig gewordenes, schwieriges Territorialproblem — am einfachsten lösen 83 ). Um diese und andere Streitfragen (auch solche mit Griechenland und der Türkei) zu klären, wünschte der General einen Besuch König Ferdinands beim Kaiser Wilhelm und hielt bereits detaillierte Lösungsvorschläge bereit. Man sieht: die O H L betrieb ihre eigene Balkanpolitik und suchte das Auswärtige Amt hinter sich herzuziehen, wenn nicht gar als bloßes Werkzeug zu benutzen. Mit eiserner Energie bestand Ludendorff auf einer Konferenz der Verbündeten über die Kriegsziele und darauf, daß noch vor ihrem Zustandekommen ein vollständiges Programm f ü r die Neuordnung der Balkanverhältnisse aufgestellt würde. Zu diesem Zweck fand am 12. Mai im Auswärtigen Amt eine Besprechung von zwei Offizieren der O H L (Oberst von Bartenwerffer, Chef der „Politischen Abteilung", und Oberst von O d e n hausen von der Eisenbahnabteilung) mit Vertretern des Auswärtigen Amtes und des Reichsamts des Innern statt. Hier wurde genau festgelegt, wie man über Rumänien, die Dobrudscha, Alt- und Neu-Bulgarien, Serbien und die Donauschiffahrt mit den Österreichern und Bulgaren verhandeln wollte. Höchst umfangreiche wirtschaftliche Vorrechte Deutschlands in Rumänien, aber auch in der Donauschiffahrt und in Serbien einschließlich der von Bulgarien zu erwerbenden Teile dieses Landes wurden präzisiert, mit Enteignung französischer und bulgarischer Bergwerksgesellschaften, Erwerb von Eisenbahnen, Schürfrechten, vor allem einem deutschen ölmonopol in Rumänien. Begründet wurde das alles mit dem überwiegenden Anteil Deutschlands an der Eroberung sowohl Rumäniens wie Serbiens und den ungeheuren Geldsummen, die es seinen Verbündeten bisher schon als Subsidien gezahlt hatte und noch weiterzahlte; über die Höhe dieser Summen erhielt die O H L eine schriftliche Aufstellung. Natürlich machte man sich auf mancherlei Widerstand bei den Verbündeten gefaßt, wollte deshalb auch nicht alle deutschen Wünsche jetzt schon zur Sprache bringen und war bereit, Österreichs rumänische Erwerbungen vom deutschen Wirtschaftsmonopol auszunehmen, falls sie sich auf die kleine Walachei beschränkten. Aber alles in allem kün-

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digte sich doch hier (ähnlich wie schon in den Kreuznacher Punktationen vom 23. April) eine neue Epoche deutscher Kriegspolitik an, beherrscht vom Geiste Ludendorffs, der das Entwerfen großer Eroberungspläne ebenso wichtig nahm wie seine militärischen Aufgaben und sich für beides gleich berufen fühlte 8 4 ). Von einem Frieden „ohne Annexionen und Entschädigungen" war hier ganz und gar nicht mehr die Rede. Wie wichtig die OHL ihre Balkanpläne nahm, ergibt sich am deutlichsten daraus, daß sie schon vor der geplanten neuen Konferenz und ohne dem Auswärtigen Amt davon ein Wort zu sagen, ihrem Militärattache von Lossow in Konstantinopel ein Achtpunkte-Programm über Balkanfragen übersandte, das dem in Kreuznach im April vorgelegten ähnlich sah und ihn beauftragte, darüber mit der türkischen Regierung zu verhandeln. Erst nachträglich erfuhr der Botschafter Kühlmann und das Auswärtige Amt davon, und es kostete mancherlei Verwirrung und Rückfragen, um Näheres über dieses eigenmächtige Vorgehen zu ermitteln. Für die deutsche Diplomatie ergab sich daraus die fatale Notwendigkeit, die Türken über die deutsch-bulgarischen Geheimverträge, später auch über die Abmachungen von Kreuznach zu orientieren 83 ). Bethmann Hollwegs Ansicht über das große Balkan-Programm der OHL läßt sich nur vermuten; wahrscheinlich teilte er die Skepsis Zimmermanns, der es im wesentlichen für utopisch — also praktisch für belanglos hielt 86 ). Er wird aber auch die Befürchtung des Staatssekretärs geteilt haben, daß eine Verständigung über so viele heikle Fragen zwischen den Verbündeten nicht gelingen und die Folge nur eine weitere Erschütterung des Bündnisses sein würde. Tatsächlich hat Czernin zunächst mit heftiger Abwehr reagiert: von der Abtretung Ostgaliziens und der Bukowina, um den Deutschen den Erwerb der Ostseeprovinzen zu erleichtern, wollte er durchaus nichts hören, erklärte auch den Hinweis auf rumänische oder serbische Gewinne für „vage Vertröstungen" 87 ). Aber in denselben Tagen erlebte der österreichische Minister, daß nicht nur die Deutschen an Landgewinn dachten. Am 12. beschwerte sich der bulgarische Geschäftsträger über seinen Artikel im Fremdenblatt: die öffentliche Meinung in Bulgarien sei darüber sehr beunruhigt und fürchte, daß Österreich seinem Bundesgenossen einen Frieden ohne Annexionen aufnötigen wolle. Das bedeute soviel wie einen Bündnisbruch angesichts der großen, Bulgarien vertraglich gegebenen Zusagen. Czernin hatte alle Mühe, die Sofioter Regierung zu beschwichtigen, indem er (wenig glaubhaft) versicherte, sein Artikel habe sich überhaupt nicht auf den Balkan bezogen und

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sei nur d a f ü r bestimmt gewesen, die slawische Bevölkerung der Monarchie zu beruhigen 88 ). War es dieser Einspruch oder das Zureden Graf Wedels: jedenfalls erklärte sich Czernin zur Teilnahme an der Kriegszielbesprechung bereit, die am 17. und 18. Mai im Kreuznacher Hauptquartier stattfand, unter Teilnahme Bethmann Hollwegs, Zimmermanns, der O H L , Holtzendorffs und Capelles. Er hat sich aber dort in keiner Weise auf das deutsche „Tausch-Programm" und den Verzicht auf Ostgalizien festlegen lassen. Ursprünglich hat er sogar ein erneutes „Solidaritätsabkommen" in der Art der Abrede vom 27. März 8 9 ) geplant, nach dem die weiten in Rußland eroberten Gebiete in erster Linie dazu dienen sollten, der österreichisch-ungarischen Monarchie Ostgalizien und Bukowina wieder zu verschaffen 90 ). Was in Kreuznach schließlich erreicht wurde, war kein Abkommen, sondern eine Aufzeichnung, die kaum mehr enthielt als Willenserklärungen beider Partner nebeneinander, teilweise einander widersprechend. Österreich-Ungarn hieß es, fordere die volle Integrität der Monarchie, darüber hinaus aber den Berg Lovcen und (die uns schon bekannte) Neuordnung der Verhältnisse in Serbien. Die deutschen Partner wünschten eine andere Form der Neuordnung des Balkans, außerdem die „Entfernung Italiens aus Valona" (das offenbar deutscher Kriegshafen werden sollte). Auch sollte ihnen Österreich-Ungarn freie H a n d zur Ausbeutung der Bodenschätze Neu-Bulgariens lassen. Doch sollte darüber noch verhandelt werden, und Czernin gab keine förmliche Zusage. Ein großer Erfolg für diesen war es, daß die deutsche Seite sich damit einverstanden erklärte, das ganze besetzte Rumänien mit Ausnahme des ehemals bulgarischen Teils der Dobrudscha und eines Grenzstreifens südlich der Bahn Czernavoda— Constanza „als besonderen Staat" Österreich-Ungarn zu überlassen — also die uns schon bekannten Wunschträume des österreichischen Ministers zu erfüllen, ja zu übertreffen; allerdings verlangte Deutschland einen „stark überwiegenden Anteil an Besitz und Ausbeutung der Bodenschätze", worüber noch beraten werden sollte. Und warum dieses große Zugeständnis? Ausschließlich um zu erreichen, daß Österreich-Ungarn die Eroberung von Kurland und Litauen und die (solange umstrittene) „Anlehnung Polens" an Deutschland wenigstens duldete (ohne sie in der Punktation förmlich anzuerkennen); denn ihm sollte Rumänien nach der deutschen Willenserklärung nur dann zufallen, wenn Deutschland die eben genannten Erwerbungen „durchsetzen" könnte. Man kann sich vorstellen, wie zähe Czernin sich gegen die Annexionen im Baltikum und gegen die Opferung Polens gesträubt hat,

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wenn man sieht, daß ihm nicht nur weit mehr als die (ehemals allein gewünschte) Walachei eingeräumt, sondern auch noch versprochen wurde, durch die deutsche Militärverwaltung in Rumänien für den Anschluß des Landes an die Mittelmächte Stimmung machen zu lassen und — wichtiger noch — „die beiderseitigen Erwerbungen und wirtschaftlichen Vorteile in einem entsprechenden Verhältnis zueinander zu halten 9 1 )". Man kann nicht sagen, daß durch diese Punktation der Gegensatz zwischen den beiden Verbündeten aus der Welt geschafft worden wäre. N a t ü r lich war Czernin sehr befriedigt darüber, daß es ihm gelungen war, im Fall des Sieges auch für sein Land sich einen stattlichen Siegespreis zu sichern, ohne auf Ostgalizien zu verzichten. Aber er blieb skeptisch, ob jemals Wirklichkeit aus allen diesen Abmachungen würde (man habe „ungefangene Fische" geteilt, sagte er zu Wedel), und vor allem mißtrauisch gegen die Wirtschaftsziele der Deutschen auf dem Balkan — und dies mit gutem Grund. Man würde wohl die österreichische Wirtschaft ganz herauszudrängen suchen, meinte er, so daß der Kern von Rumänien Deutschland zufiele und Österreich nur die Schale übrig bliebe 92 ). Es dauerte (infolge einer Kabinettskrise in Ungarn) sehr lange (bis zum 18. Juni!), bis er Bethmann Hollweg die Zustimmung der beiden Ministerpräsidenten melden konnte, und dies nur mit starken Vorbehalten: erst der Verlauf der späteren Sonderverhandlungen könne über Deutschlands wirtschaftliche Stellung auf dem Balkan entscheiden. N u r in dem Fall, daß Kurland und Litauen nicht an Deutschland angegliedert werden sollten, würde Österreich-Ungarn sich damit begnügen (!), in Rumänien dieselben Vorteile zu genießen wie Deutschland in Polen. Die Abmachung über Polen müsse strengstens geheim bleiben — andernfalls wäre sie als hinfällig zu betrachten! Es bedurfte erst eines längeren Schriftwechsels, um Czernin dazu zu bewegen, daß er sich mit dem Recht begnügte, die polnische Abmachung zu dementieren, falls etwas darüber in die Öffentlichkeit dringen sollte 9 3 ). Vor allem: ungemindert blieb die Besorgnis der Österreicher, das hartnäckige Bestehen der O H L auf ihren baltischen Eroberungsplänen würde jede Aussicht auf einen Sonderfrieden mit Rußland verschütten. Diese Sorge w a r nicht unbegründet. Ende Mai erbot sich ein schweizerischer Sozialist von der Zimmerwalder Richtung (Nationalrat Grimm), der sich in Petersburg aufhielt, den dortigen Revolutionären ein deutsches Friedensprogramm zu übermitteln, das deren pazifistische Bestrebungen fördern könne, und Bundesrat H o f f m a n n , der Außenminister der Schweiz, ging so weit, f ü r dessen

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Übermittlung nach Petersburg seine amtliche Drahtverbindung zur Verfügung zu stellen. Was nun Zimmermann auf diesem Wege übermitteln ließ, war in der Form so entgegenkommend wie möglich gehalten: über den heikelsten Punkt, die Zukunft des Baltikums und Polens, wurde eine „freundschaftliche Verständigung" angeboten. Aber die nun einmal festgelegte Tatsache deutscher Gebietsforderungen ließ sich nur verhüllen, nicht aus dem Weg räumen, und so verfehlte das Ganze seinen Zweck. Zu allem Unglück wurde die Depesche auch noch von der russischen Regierung aufgefangen, entziffert und veröffentlicht, was den schweizerischen Vermittler, Bundesrat H o f f mann, in größte Verlegenheit brachte, j a sogar nötigte, seinen Abschied zu nehmen; Nationalrat Grimm wurde aus Rußland ausgewiesen 9 4 ). Nach und nach versteifte sich die Haltung der Russen überhaupt immer mehr. D i e Friedensgespräche an der Front schliefen ein, seit Kerenski seine große O f fensive agitatorisch vorbereitete. In der österreichischen Armee war man natürlich geneigt, die Schuld dafür den deutschen Annexionswünschen zuzuschieben. Der (uns schon bekannte 9 5 )) österreichische Verbindungsoffizier beim Stabe Oberost, Hauptmann Fleischmann, meldete Anfang Juni in Wien, was Czernin schon längst prophezeit hatte: die Stimmung an der russischen Front sei deshalb umgeschlagen, weil Deutschland „in herausfordernder T o n a r t " die Annexion von Kurland und Litauen verlangt habe; auch setze sich die O H L in ihren Mitteilungen an die Russen über die Absprachen mit Österreich hinweg. D a s führte zu einer erregten Aussprache des Ministers mit Graf Wedel und dem Auftrag an Fleischmann, Kaiser Wilhelm ein Handschreiben Kaiser Karls zu überbringen, in dem dieser bittere Beschwerde über das deutsche Verhalten führte. Es ist kein Zweifel möglich, versicherte er kühnlich, daß „Rußland die Feindseligkeiten definitiv einstellen würde, wenn es die Gewißheit erhielte, daß auch Deutschland ebenso wie Österreich-Ungarn den status quo ante bellum akzeptiert". Leider habe die deutsche Forderung nach bedeutenden Grenzerweiterungen in Rußland die „Kriegslust neu entfacht". Das aber, hieß es weiter, ist f ü r die Völker der Monarchie, besonders für die slawischen, unerträglich: „Es dämmert ihnen jetzt, daß die Möglichkeit, mit Rußland zu Ende zu kommen, vorhanden war, und daß die Forderungen Deutschlands die Ausschaltung Rußlands unmöglich gemacht haben." Also muß schleunigst ein Angebot nach Petersburg ergehen, „aufgrund des status quo ante bellum Frieden zu schließen". Dieser Kaiserbrief, am 16. Juni in Schloß Homburg überreicht, bezeichnet einen ersten Gipfelpunkt der Entfremdung zwischen den beiden Verbünde-

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Elftes Kapitel IV

ten. Es war seine Schwäche, daß er sich auf bloße, unbeweisbare Vermutungen stützte und daß er die Motive der Politik Kerenskis ebenso falsch einschätzte wie seine Bereitschaft zu einem Sonderfrieden (die in Wahrheit nie bestanden hat). Das Auswärtige Amt hatte also recht, wenn es den Kaiser veranlaßte, in seinem Antwortschreiben (vom 22. Juni) sehr dringlich um Beweise f ü r die Behauptung Fleischmanns zu ersuchen. Aber politisch kam es jetzt nicht darauf an, ob die österreichischen Vorwürfe sachlich berechtigt waren, sondern darauf, daß sie in so schroffer Form vorgebracht wurden — in einem Schreiben, das zwischen den Zeilen ein hohes Maß von persönlicher Erbitterung spüren ließ. Das hat Kaiser Wilhelm und seine Berater offensichtlich tief erschreckt. Bethmann Hollweg war ohnedies über die russischen Dinge beunruhigt. „Es wissen zuviel Menschen", notierte er am 9. Juni f ü r das Auswärtige Amt, „daß die O H L Kurland und Litauen haben will. Entsteht die Auffassung, daß wir wegen Annexionen den Frieden mit Rußland verpassen, dann erfolgt der Zusammenbruch 96 )." Es wurde jetzt unvermeidlich, durch eine öffentliche Erklärung diesem Eindruck entgegenzuwirken. Sie erfolgte am 16. Juni in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung in der Form eines Artikels, der eine kurz zuvor ergangene Kundgebung Wilsons über Amerikas Kriegsziele zurückwies. Darin hieß es am Schluß: die russische Formel eines Friedens ohne Annexionen und Kontributionen „bildet keinerlei H i n derungsgrund für einen Frieden zwischen Rußland und den verbündeten Mächten, die von R u ß l a n d nie Annexionen und Kontributionen gefordert haben. Die Mittelmächte und ihre Verbündeten wollen vielmehr in freier gegenseitiger Verständigung mit Rußland durch Ausgleich einen Zustand schaffen, der ihnen fortan ein friedliches und freundnachbarliches Nebeneinanderleben auf alle Dauer gewährleistet". Diese Schlußsätze waren das mühsam gedrechselte und im Entwurf immer wieder korrigierte Ergebnis von Beratungen, die Bethmann Hollweg und sein Staatssekretär im Hauptquartier hatten führen müssen, um das Einverständnis der O H L , König Ferdinands von Bulgarien und seines Ministerpräsidenten Radoslawow zu erreichen. Gleichzeitig sollte aber (was schwer mit den Wünschen dieser Annexionisten zu vereinigen war!) auch das Einverständnis Czernins eingeholt und schließlich noch verhindert werden, daß die Rechtspresse ein patriotisches Wehegeschrei anstimmte und dadurch die außenpolitische Wirkung des Artikels völlig zerstörte. Zimmermann betonte also in seinem Schreiben an das Auswärtige Amt und an Graf

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Wedel (am 13. Juni), der Zweck des Aufsatzes sei, „endlich Wien den Vorwurf zu entziehen, daß wir durch unsere Haltung Frieden mit Rußland unmöglich machen. Die Verfolgung unserer Wünsche hinsichtlich Kurlands und Litauens wird keineswegs aufgegeben". Für das Kriegspresseamt fügte er hinzu, „bitte sofort die Pressevertreter zu verständigen und dafür zu sorgen, daß Entgleisungen im patriotischen Interesse vermieden werden. Dies ist auch der ausdrückliche Wunsch der Obersten Heeresleitung". Man wird nicht daran zweifeln dürfen, daß auch der stark abschwächende Satz, wir hätten unsere Wünsche hinsichtlich Kurlands und Litauens keineswegs aufgegeben, einem „ausdrücklichen Wunsch der Obersten Heeresleitung" entstammte. Denn k n a p p zwei Wochen später protestierte Ludendorff beim Auswärtigen Amt dagegen, daß Czernin dem bulgarischen Oberst Gantschew gegenüber die letzten Sätze des Artikels so aufgefaßt hätte, als wollten wir auf Kurland und Litauen verzichten. Er verlangte, den Minister sofort darüber aufzuklären, daß keine deutsche Stelle daran dächte, erhielt aber aus Wien die beruhigende Meldung, Czernin habe dem deutschen Botschafter gegenüber gerade sein Bedauern darüber ausgesprochen, daß die deutsche Erklärung keinen ausdrücklichen Verzicht auf Kurland und Litauen enthalte. Übrigens sei das auch die Meinung fast der ganzen Wiener Presse. Aber Ludendorff blieb mißtrauisch: er habe in Wien persönlich den Eindruck gehabt, als ob Czernin und Hohenlohe doch an einen deutschen Verzicht auf die Ostseeprovinzen glaubten 97 ). Man sieht deutlich: was die umstrittene Erklärung besagte, war bewußt immer noch zweideutig gehalten: es war nur als Beruhigungspille gedacht und sollte Gebietserwerb in Rußland zwar nicht als Kriegsziel verkünden, aber auch nicht ausschließen — wenn er von den Russen zu haben war. Aber es war das Äußerste, was die politische Reichsleitung der O H L abringen konnte, wollte sie einen offenen Konflikt vermeiden. Dieser Konflikt blieb freilich trotzdem nicht aus.

12. K a p i t e l

I N N E R P O L I T I S C H E WIRREN,

FRIEDENSRESOLUTION

DES R E I C H S T A G S STURZ B E T H M A N N HOLLWEGS, T R I U M P H DER O H L

Erster

Die Osterbotschaft

Abschnitt

des Kaisers und ihre Folgen

Die Auswirkung der russischen Revolution blieb nicht auf die Veränderung der Frontlage und die Steigerung der Friedenshoffnungen in Mitteleuropa beschränkt. Sie brachte auch die innerpolitischen Fronten in Bewegung. Zunächst gab sie der radikalen Linken innerhalb der deutschen Sozialdemokratie einen starken Auftrieb, die schon längst gegen die versöhnliche, zur Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Mitte und der Regierung bereite Haltung der Mehrheitsfraktion kämpfte. Man kann zwar nicht sagen, daß die im April 1917 zur eigenen Partei zusammengeschlossenen Gruppe der „Unabhängigen" eine wirklich revolutionäre Partei gewesen sei. Trotz aller drohenden Worte ihrer Führer Haase und Ledebour blieb der Wille zu revolutionärem Umsturz auf eine kleine Zahl von Extremisten (den sog. „Spartakus-Bund") beschränkt, und alle Versuche, die Hungerstreiks des April 1917 zu einer politisch-revolutionären Massenaktion auszugestalten, sind rasch gescheitert. Aber die Agitation der Radikalen hatte seit dem Zusammenbruch der Zarenmonarchie und dem Auftauchen der „Arbeiter- und Soldatenräte" in Rußland doch viel größere Erfolgschancen als früher und erschwerte es den Mehrheitssozialisten in bedrohlichem Maße, den Massen auch weiterhin patriotische Haltung zu predigen. W a r doch mit dem Sturz des reaktionären Zarismus (wie schon im vorigen Kapitel erörtert) eine der wichtigsten Kampfparolen der Partei von 1914 hinfällig geworden. Mit anderen Worten: der „Burgfriede", die nationale Einheitsfront von 1914, brach jetzt endgültig auseinander. Das war aber nicht nur, und nicht

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einmal in erster Linie, eine Folge der russischen Revolution, sondern der zunehmenden Erschöpfung des dr utschen Volkes durch die O p f e r und Leiden eines schier endlosen Krieges. Was die Stimmung der Massen drückte, waren nicht so sehr die — freilich furchtbaren — Menschenopfer, die kaum noch eine Familie verschont ließen, sondern die im dritten Kriegsjahr immer grausamer sich auswirkenden Folgen der englischen Blockade. Sie wurde von Monat zu Monat verschärft und verstopfte allmählich auch die letzten Quellen der Zufuhr aus neutralen Ländern, die bis 1916 noch offen gestanden hatten. Und der rücksichtslose U-Boot-Krieg, der die Schiffahrt dieser Länder ebenso bedrohte wie die der Gegner, brachte die europäischen Neutralen selbst in Not. Im Kohlrübenwinter 1916/17 und noch danach bis zur neuen Ernte wurde schwer gehungert, bis zur völligen Entkräftung der Schwerarbeitenden, und die Dürre des Sommers 1917 versprach nicht Besserung, sondern noch Ärgeres f ü r die Zukunft. Der Mangel an Rohstoffen, an Arbeitskräften für den Zivilbedarf, an Kohlen, an Verkehrsmöglichkeiten beim Versagen der Eisenbahnen — die zunehmende Armseligkeit aller Lebensverhältnisse, die Furcht vor einer endlosen Fortsetzung des Krieges bis in einen vierten Kriegswinter hinein — das alles ließ ganz unaufhaltsam die Stimmung sinken, die Verdrossenheit steigen. Mit der Verdrossenheit aber auch das Mißtrauen gegen die Regierenden und die sozial Bessergestellten. Der Bürokratie warf man vor, daß ihre Lebensmittelverteilung versage, daß sie Schiebern und Kriegsgewinnern nicht das Handwerk lege; den Wohlhabenden, daß sie auf Kosten der Ärmeren mit Hilfe des Schleichhandels praßten; der Großindustrie, daß sie sich am Krieg bereichere, die annexionistische Kriegspropaganda unterstütze und so als „Kriegsverlängerer" wirke 1 ). Die enge Verbindung der Rechtsparteien mit den ostelbischen Junkern und dem Industriekapital einerseits, der alldeutschen Kriegspropaganda anderseits gab den sozialen Ressentiments eine scharf politische Färbung. Es gehört zu den charakteristischen Irrtümern eines wirklichkeitsblinden „Militarismus", wenn Ludendorff und seine Propagandisten glaubten, solcher Mißstimmung ließe sich durch das Mittel des moralischen Appells und der „vaterländischen Erziehung" begegnen. Dieser Irrtum hat bis September 1918 (wie sich im nächsten Band dieses Werkes zeigen wird) noch sehr viel Unheil angerichtet. Mit Siegesvertröstungen und Versenkungsziffern ließ sich weder der knurrende Magen noch das politische Mißtrauen beschwichtigen. Und durch das Gerede vom siegreichen „Hindenburgfrieden" mit seiner Erweiterung deutscher Macht, die gerade die Arbeiterschaft brau-

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che, um auch künftig gut zu verdienen, während sie ein schmachvoller „Scheidemann-Frieden" in unabsehbares Elent stürzen würde — durch diesen patriotischen Phrasenschwall wurde die nationale Einheitsfront nicht wieder hergestellt, sondern erst recht zerstört. Es war einmal nicht anders: der monarchisch-konstitutionelle Bundesstaat bismarckischen Gepräges geriet im dritten Kriegsjahr in eine ernste Krise, in der sich erst zeigen mußte, ob er die Fähigkeit zur Selbsterneuerung und damit zum Uberleben auch im Fall eines unglücklichen Kriegsendes besaß. Im ersten Kriegsjahr, in der Epoche der großen Siegeszuversicht, war die Autorität dieses monarchischen Staates noch unerschüttert geblieben; alles hatte mit Vertrauen zu seiner Leitung aufgeschaut. Am Ende des zweiten Kriegsjahres hatte Bethmann Hollweg es nötig gefunden, dieses Vertrauen, weil es zu wanken begann, durch die Autorität des Volksheros Hindenburg zu stützen. Am Ende des dritten Kriegswinters war klar, daß er damit die Nöte der politischen Reichsleitung nur vergrößert statt verringert hatte. U m das Anwachsen von Kriegsverdrossenheit und politischem Mißtrauen einzudämmen, konnten Männer wie Hindenburg und Ludendorff nichts helfen. D a gab es nur ein Mittel: die Volksvertretung an der immer schwerer lastenden politischen Verantwortung stärker als bisher teilnehmen zu lassen und alles auszuräumen, was an Traditionen des Altpreußentums politisch aufreizend wirkte wie das Dreiklassenwahlrecht von 1849, das veraltete Gesetz über den Belagerungszustand von 1851 mit seiner starken Beschränkung persönlicher Freiheit durch die Militärbehörden, politischer „Schutzhaft" und Pressezensur, gewisse Bestimmungen des Vereinsrechts, die als arbeiterfeindlich galten u. dgl. mehr. Zur Aufreizung solcher Forderungen trugen außer der russischen Revolution auch die von Wilson in die Welt geschleuderten Anklagen gegen das „System der Autokratie" viel bei, von dem die Deutschen befreit werden müßten. Im monarchisch gesinnten Bürgertum riefen diese Äußerungen allerdings empörte Proteste wach, die sich in zahllosen Resolutionen, Telegrammen und Treuekundgebungen von Versammlungen, Vereinen, Gemeinden und Verbänden äußerten 2 ). Trotzdem blieben sie in der Arbeiterschaft nicht ohne Wirkung. Klagen über Mißstände der Verwaltung und Unterdrückung der Freiheit durch die militärischen Behörden wurden seit Frühjahr 1917 mit verstärktem Eifer von den sozialdemokratischen Führern beider Richtungen im Reichstag vorgebracht. Aber darüber hinaus beschäftigte Bethmann Hollweg immer stärker die Frage, was geschehen könnte, um seiner Regierung einen gesicherten Anhang im

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Reichstag zu verschaffen, sie gegen die dauernden und immer heftiger werdenden Angriffe von rechts und von links parlamentarisch abzuschirmen und damit auch das Vertrauen in die Reichsführung trotz aller Kriegsverdrossenheit neu zu beleben. D a s Vertrauen des Kaisers allein — durch dessen militärische Umgebung fortdauernd unterwühlt — konnte ihm keine genügende Deckung mehr bieten, wenn er auch immer wieder darauf baute und darum kämpfte, auf immer häufiger werdenden Reisen ins Große Hauptquartier. Es erwies sich jetzt, daß die bismarckische Reichsverfassung, ganz und gar aufgebaut auf die persönliche Autorität eines populären Monarchen und seines erfolggekrönten Kanzlers, f ü r die kritische Situation eines totalen Krieges von endloser Dauer nicht mehr hinreichte. Aber ihr Umbau im Sinn der parlamentarischen Regierungsweise, die in Amerika und Westeuropa als allein „freiheitlich" galt, war mitten im Krieg praktisch undurchführbar, zumal bei der föderalistischen Struktur der Reichsverfassung; sie wäre in jedem Fall ein gefährliches Experiment gewesen. Bethmann Hollweg war also auf Aushilfen und Provisorien angewiesen. Er hat von Kriegsanfang an sich ständig bemüht, durch vertrauliche Aussprachen mit den Parteiführern um Verständnis f ü r seine Politik zu werben, dabei aber auf der Rechten (bei Konservativen und Nationalliberalen) eine Enttäuschung nach der andern erlebt. So wurde er ganz von selbst zu immer engerer Fühlungnahme mit den Linksparteien (Zentrum, Freisinnige, Mehrheitssozialisten) gedrängt. J e gründlicher die nationale Einheitsfront aller Parteien zerfiel, um so weniger konnte es gelingen, die herkömmliche Stellung der monarchischen Regierung „oberhalb" der Parteien zu behaupten: unaufhaltsam wurde sie dahin gedrängt, vorzugsweise bei einer bestimmten Parteigruppe ihren Rückhalt zu suchen. U n d Bethmann Hollweg war grundsätzlich bereit, diesen Rückhalt auch noch dadurch zu verstärken, daß er einzelne Parteiführer in sein Kabinett berief (als Staatssekretäre oder Minister mit und ohne Portefeuille) oder sie zu einem dauernden Beratungsorgan der Regierung zu vereinigen. Aber diese Bemühungen haben nicht zum Erfolg, sondern zu seinem Sturz geführt, weil im entscheidenden Augenblick die O H L in das innerpolitische Kräftespiel eingriff und das persönliche Vertrauen der Parteiführer auf Bethmann Hollweg so tief zu erschüttern verstand, daß man ihn einfach fallen ließ — und damit den Triumph Ludendorffs, die kaum noch begrenzte politische Allmacht des radikalsten aller „Militaristen" herbeiführte.

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Schon im März 1915 war eine Neuorientierung deutscher Politik im Sinn des entschiedenen Liberalismus vom Staatssekretär des Innern (damals Clemens Delbrück) im Reichstag angekündigt worden; sie sollte aber erst nach Kriegsabschluß durchgeführt werden. Immerhin hatte Bethmann Hollweg schon im Dezember 1914 das preußische Innenministerium mit den Vorarbeiten für eine Reform des Dreiklassenwahlrechts beauftragt, die dort in sehr gemächlichem Tempo, bei innerem Widerstreben des konservativen Ministers vonLoebell, in langen Denkschriften bearbeitet wurde. Das Ergebnis war ein Gesetzentwurf, der anstelle des allgemeinen gleichen Stimmrechts ein solches mit Abstufung (durch Pluralstimmen bestimmter Wählergruppen) vorsah. Die Ankündigung einer Wahlrechtsreform, die Bethmann in der Thronrede des Januar 1916 vornehmen wollte, stieß bei seinen hochkonservativen Ministerkollegen auf so entschiedenen Widerstand, daß es bei recht vagen Zukunftsversprechungen verblieb 3 ). In diesen schleppenden Gang der Reformberatungen brachte der Kanzler im Frühjahr 1917 neuen Schwung. Zuerst in einer Reichstagsrede vom 27. Februar, in der er auf Wilsons Befreiungsparole antwortete und mit großer Wärme seinen Lieblingsgedanken von der neuen Lebensgemeinschaft entwickelte, zu der dieser Krieg das deutsche Volk umgeschmiedet habe: zu einem Volk, in dem (nach einem bekannten Wort des Arbeiterdichters Bröger, das er zitierte) „sein ärmster Sohn auch sein getreuester war". E r zog daraus den Schluß, daß die Monarchie von heute ihre Wurzel in den breitesten Schichten des Volkes haben und ihre Kraft aus der „Liebe des freien Mannes" ziehen müsse. Deutlicher wurde er bald darauf in einer improvisierten Rede im preußischen Landtag, der gerade, vom Herrenhaus herausgefordert, über dessen R e f o r m debattierte 4 ). Hier kündigte er ganz eindeutig eine „Umgestaltung unseres innerpolitischen Lebens an, allen etwaigen Widerständen zum T r o t z " , und zwar eine Reform des preußischen Wahlrechts, die „auch den breiten Massen vollberechtigte und freudige Mitwirkung an der staatlichen Arbeit ermöglicht", eine Überwindung der Klassengegensätze durch Neuregelung des Arbeiterrechts und eine Neuordnung des „Landtags im ganzen", unter Hinweis auf das Herrenhaus. Mitwirkung an der staatlichen Arbeit ermöglicht", eine Überwindung der Klassengegensätze durch Neuregelung des Arbeiterrechts und eine Neuordnung des „Landtags im ganzen", unter Hinweis auf das Herrenhaus. „Wehe dem Staatsmann", rief er pathetisch aus, „der die Zeichen der Zeit nicht erkennt, daß einer glaubt, nach einer Katastrophe, wie sie die Welt

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überhaupt noch nicht gesehen h a t . . e r k ö n n t e einfach wieder anknüpfen an das, was vorher war." Man habe Zweifel geäußert, fügte er hinzu, ob er den W o r t e n auch die Taten folgen lassen würde. Aber er beteuerte mit spürbarer Leidenschaft: „Ich will diese Gedanken, ich werde sie durchführen, ich werde mein Letztes daran geben." Damit machte er (wie immer in seinen Reden) starken Eindruck auf allen Seiten. Die Rechte faßte seine Worte als offene Kampfansage auf, und von Stund an geriet die Hetze gegen ihn in verstärktes Tempo. Auf der Linken gewann er — zunächst jedenfalls — neues Vertrauen: niemand wagte, an der Aufrichtigkeit seiner Reformabsicht zu zweifeln. Aber allgemein — und nur allzu begründet — war der Zweifel, ob er sich auch wirklich durchsetzen könnte. Zunächst war sicher, daß dieser Landtag mit seiner konservativen Mehrheit niemals einer durchgreifenden R e f o r m des Dreiklassenwahlrechts zustimmen würde, am wenigsten einer Einführung des Reichstagswahlrechts in Preußen, wie sie die Sozialdemokraten forderten. Davor scheuten sogar viele entschieden Liberale noch zurück, die teils dem radikalen Gleichheitsprinzip dieses Wahlrechts grundsätzlich widerstrebten, teils von der Vorstellung sich nicht lösen konnten, daß Preußen eine besondere Aufgabe habe als H o r t konservativ-monarchischer Tradition 5 ). U n d doch konnte nur eine sehr weitgehende Angleichung des preußischen Wahlrechts an das im Reich geltende den immer unerträglicher werdenden Zwiespalt beseitigen zwischen der Willensrichtung der beiden in Berlin tagenden Parlamente und der ihnen zugehörigen Regierungsgewalten — einen Zwiespalt, der jetzt im Krieg geradezu lebensgefährlich wurde, da er sich als gegensätzliche Einwirkung auf die Person des Kaisers und als L ä h m u n g der Handlungsfreiheit des Kanzlers auswirkte. Es ist denn auch kein Zweifel, daß Bethmann Hollweg in dieser zentralen Frage seines Reformwerks einer ganzen u n d nicht einer halben Lösung zugestrebt hat, nämlich einer vollen Demokratisierung des preußischen Wahlrechts. E r hat sich Wahnschaffe gegenüber mehrfach darüber ausgesprochen, daß es zwecklos wäre, ein neues Wahlrecht konstruieren zu wollen, das anti-demokratisch wirken u n d doch als demokratische Errungenschaft erscheinen sollte. Es gäbe da n u r die Konsequenz des gleichen Wahlrechts f ü r alle. Es war auch nicht Schwäche oder innere Unsicherheit, sondern der unausweichliche Zwang der Verhältnisse, wenn er diesem Ziel sich n u r schrittweise, mit tastender Vorsicht zu nähern suchte. Auflösung des Landtags und Neuwahl aufgrund des alten Wahlrechts ver-

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sprach nur sehr unsichere Ergebnisse, mit Sicherheit aber das Aufwühlen sehr harter Parteikämpfe. Das scheute er, mitten im Krieg, wenn so viele Wähler draußen im Schützengraben standen, und erklärte gleich in seiner Landtagsrede, um solche inneren Kämpfe zu vermeiden, solle die Vorlage eines neuen Wahlgesetzes erst nach dem Krieg erfolgen. Aber würden die Linksparteien so lange warten wollen? Und würde die Reformbereitschaft der Regierung über den Krieg hinaus fortdauern, würde Bethmann selbst dann noch im A m t sein? Einen Tag nach seiner Landtagsrede traf die Nachricht vom Sieg der Revolution in Petersburg ein. Sie wirkte sich sofort auf die Haltung der Sozialdemokratie aus. Scheidemann forderte im „Vorwärts" am 19. März die sofortige Einführung des Reichstagswahlrechts in Preußen. In Unterredungen auf der Reichskanzlei schlug er vor, der König von Preußen solle es kurzerhand oktroyieren, durch einfache Zurücknahme der Kabinettsordre von 1849, auf der es beruhte. Ein anderer Vorschlag, dem auch bürgerliche Politiker sich anschlössen, ging dahin, die preußische Wahlrechtsfrage durch ein Reichsgesetz zu lösen, also über die Rechte des Preußischen Landtags einfach hinwegzugehen. Die Redner der Linken, denen sich auch Stresemann zugesellte, beschworen in der Reichstagssitzung vom 29. März den Kanzler geradezu stürmisch, seine am 14. so eindrucksvoll dargelegte Bereitschaft zu großen innerpolitischen Reformen sogleich zur Tat werden zu lassen und mit der Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts nicht bis Kriegsende zu warten. Sie waren tief enttäuscht, daß er sich weigerte, diesem Rat zu folgen, und sein Zögern abermals mit dem nicht sehr eindrucksvollen Argument begründete, man müsse während des Krieges alle Kräfte auf den äußeren Kampf konzentrieren. Sie überhörten seine Versicherung, ihm „wäre es am liebsten, wenn er die Reform morgen machen könnte", und fände es verführerisch, „eine große politische Aktion von dem Schwung höchster politischer Spannung tragen zu lassen" — überhörten aber auch die wiederholte, sehr genau überlegte Formulierung: „bis zur Stunde" habe er sich noch nicht überzeugen lassen können, daß es dem Interesse des Landes dienen würde, die Reform „unmittelbar in Angriff zu nehmen", und so müsse er davon Abstand nehmen, „bis er zu der Uberzeugung gelangt sein würde"! Was steckte dahinter? Bestimmte Zusagen konnte er so lange nicht geben, als er der Zustimmung des Kaisers noch nicht sicher war. Sicher war ihm aber nur das eine: daß weder eine Oktroyierung des preußischen Wahlrechts durch den König noch

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eine durch den Reichstag die geringste Aussicht hatte, im Großen H a u p t quartier Gnade zu finden. Beide würden dort n u r als Versuche empfunden werden, Alt-Preußens Recht auf Selbstbestimmung zu vergewaltigen — ein Recht, das gerade eben im Herrenhaus mit Leidenschaft verteidigt wurde. Eben dieses Hindernis konnte Bethmann als kaiserlicher Kanzler natürlich nicht nennen, weil er damit die Person des Monarchen in die Debatte gezogen hätte. Er mußte also einen andern Weg suchen, u m z u m Ziel zu gelangen. Er hat ihn gesucht (wie wir noch sehen werden) und schließlich auch gefunden. Dem hitzigen Reformeifer der Linksparteien aber blieb seine Haltung unverständlich. Z u m ersten Mal während des Krieges stand die gesamte Presse der Linken in einer innerpolitischen Frage geschlossen gegen ihn, sprach von „dilatorischen Erklärungen", mit denen nicht mehr weiterzukommen sei, von Mangel an Initiative und Führerqualität. Das Mißtrauen wuchs, ob er auch als Kanzler der rechte Mann am rechten Platz wäre, willensstark genug, um sich gegen die Reaktionäre durchzusetzen, und klar genug in seinen Zielen. Bis zu seinem Sturz ist dieses Mißtrauen nicht m e h r geschwunden. Wie die Dinge aber lagen, war in der Wahlrechtsfrage mit Willensstärke weniger auszurichten als mit Klugheit. Bethmann Hollweg hätte sich jede Erfolgsmöglichkeit bei Wilhelm II. verbaut, wenn er der Entscheidung des Monarchen in der heiklen Wahlrechtsfrage durch öffentliche Erklärungen irgendwie vorgegriffen oder ihn durch radikale Vorschläge verprellt hätte. In seinem Ziel war er seinen Kritikern viel näher, als diese glaubten. In einer Besprechung am Abend des 31. März hat er seinen nächsten Mitarbeitern, aber auch einem Vertreter des preußischen Innenministeriums eröffnet, daß er eine Reform „in Richtung auf das Reichstagswahlrecht" also mit gleichem Wahlrecht aller Staatsbürger plane, gleichzeitig aber eine zeitgemäße Reform des Herrenhauses, um dessen Autorität als Gegengewicht gegen radikale Strömungen im Abgeordnetenhaus zu verstärken. Ihrer Zustimmung versichert, reiste er am nächsten Tag zur Kaiserbegegnung nach H o m b u r g u n d benutzte die Gelegenheit, seinen Reformvorschlag Wilhelm II. vorzutragen. Es gab ein wirksames Mittel, um den Kaiser f ü r ein ihm zunächst unerwünschtes Ziel zu gewinnen: ihm die Pose eines hochherzigen u n d weitblickenden Herrschers zu suggerieren. Bethmann Hollweg hat das immer meisterhaft verstanden. So wie er ihm am 4. August 1914 das berühmte W o r t eingegeben hatte: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne n u r

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noch Deutsche!" (um damit die frühere Beschimpfung der Sozialisten als „vaterlandslose Gesellen" vergessen zu machen), so hat er ihm auch jetzt das Ideal des Volkskaisers vor Augen gestellt, dem alle Söhne des Volkes gleich teuer sind und der keine Klassenunterschiede gelten läßt. Damit ist es ihm gelungen, Wilhelm II. zu einer feierlichen Kundgebung zu bereden, in der eine Reform des Landtagwahlrechts und des Herrenhauses versprochen wurde — zunächst ohne genaue Umschreibung des Inhalts. Bethmann erhielt nur die Vollmacht, darüber mit dem Staatsministerium zu beraten. Sein Versuch, schon jetzt den Kaiser auch auf das „gleiche" Wahlrecht festzulegen, blieb zunächst ohne Erfolg, und er hielt es für klüger, ihn nicht sofort zu wiederholen 6 ). Er mußte schon froh sein, daß Wilhelm mit einer Art von Begeisterung auf den Gedanken einer feierlichen Botschaft An Mein Volk einging, die ihn an die Kundgebung seines Großvaters zu Beginn der Arbeiterschutzgesetzgebung erinnerte. Er drängte sogar auf Eile: schon zu Ostern müsse sie unbedingt herauskommen. Dabei spielte der (vom Reichsernährungskommissar Batocki ihm soufflierte) Gedanke eine besondere Rolle: es sei besser für die Krone, sie käme allen Drängen von unten zuvor, als daß sie sich von Position zu Position weiterschieben ließe. Gestützt auf die kaiserliche Vollmacht, ließ Bethmann Hollweg durch seinen Unterstaatssekretär Wahnschaffe einen Entwurf der Osterbotschaft ausarbeiten, der ein weitreichendes Reformprogramm entwickelte: Ausgestaltung der Wehrmacht zu einem wahren Volksheer, Förderung des sozialen Aufstiegs, gleiches Stimmrecht aller Staatsbürger in unmittelbarer und geheimer Wahl, Umgestaltung des Herrenhauses in der Weise, daß es Männer des öffentlichen Vertrauens aus allen Ständen zu Mitgliedern hat, Neuordnung des politischen und wirtschaftlichen Lebens durch „Beseitigung gewisser Ausnahmebestimmungen", Änderung der Ostmarkenpolitik, Reform des Arbeiter- und Gesinderechts, Verbesserung der Rechtspflege und Verwaltung, Freiheit der Selbstverwaltung. Die Kernstücke dieses großen Programms sollten sofort in Angriff genommen und so rasch gefördert werden, daß „die erforderlichen Gesetzentwürfe noch in diesem Jahre vor die gesetzgebenden Körperschaften gebracht werden können". Bethmann hat also ernstlich beabsichtigt, über die Vorbehalte seiner Reichstagsrede vom 29. März hinauszugehen und das allgemeine gleiche Wahlrecht sowie die Modernisierung des Herrenhauses dem preußischen Landtag zwar nicht aufzuzwingen, aber in der Form einer Gesetzesvorlage zuzuleiten, und zwar sobald als möglich, ohne das Kriegsende abzuwarten. Das

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war der stärkste Beweis ernsthaften Reformwillens, den er nach den gegebenen Umständen zu liefern vermochte. Indessen: wie zu erwarten, stieß er im preußischen Staatsministerium auf zähen Widerstand der hochkonservativen Minister: Loebells, Schorlemers, des Kriegsministers von Stein und vor allem des Kultusministers Trott zu Solz, der in den Reformvorschlägen geradezu den „Anfang vom Ende" des alten Preußen sah. Für die sofortige Vorlage eines Wahlgesetzes, das ein gleiches Wahlrecht vorsah, war in der Abstimmung n u r eine Mehrheit von einer Stimme zu erreichen, und auch dies nur dadurch, daß die Staatssekretäre Helfferich und Graf Roedern (als preußische Minister ohne Portefeuille) mitstimmten. Dazu traf unheilverkündend aus dem Großen Hauptquartier während der Beratungen ein Telegramm Valentinis m i t der Meldung ein, Ludendorff habe sich im Privatgespräch schroff ablehnend über die E i n f ü h r u n g des gleichen Wahlrechts geäußert, dazu die dringende Warnung: „Sehe schwerste Krisis voraus, wenn nicht Formulierung gelingt, die Möglichkeit der Verständigung offen läßt." Diese H a l t u n g des Kabinettchefs war f ü r den Kanzler besonders alarmierend. Bisher war Valentini immer seine zuverlässigste Stütze beim Kaiser gewesen und hatte schon mehrfach rettend eingegriffen, wenn seine Entlassung von den Generälen gefordert wurde. Aber als Innenpolitiker stand er rechts von Bethmann, gehörte zu den Studienfreunden von Loebells und scheint dessen Bedenken gegen das gleiche Wahlrecht wenigstens anfangs geteilt zu haben 7 ). So war es zunächst ebenso aussichtslos, dieses Wahlrecht beim Kaiser durchzusetzen, nur auf eine verschwindend kleine Majorität des Ministeriums gestützt, wie eine Umbildung des preußischen Kabinetts durch Neubesetzung einiger Ressorts zu erreichen (wie es Wahnschaffe ihm riet). Es blieb nichts übrig, als abermals zu „temporisieren", um nicht alles zu verschütten. Die Vorlage f ü r den Ostererlaß w u r d e an verschiedenen Stellen abgeschwächt. Vor allem wurde jetzt nicht m e h r von allgemeinem, gleichem Wahlrecht gesprochen, sondern nur noch von Beseitigung des Dreiklassensystems u n d von „umittelbarer geheimer Wahl"; auch nicht mehr von einer Vorlage des Gesetzes in kurzer Frist, sondern erst nach „Rückkehr unserer Krieger" aus dem Feld. In dieser stark veränderten F o r m wurde die Osterbotschaft einstimmig vom Ministerium beschlossen, am 7. April vom Kaiser unterzeichnet und sofort veröffentlicht. Sie hat auch so auf die Öffentlichkeit beruhigend gewirkt und in vielen Liberalen neue H o f f n u n g e n geweckt — aber auch neue Zweifel an der

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Fähigkeit des Kanzlers, einen ganzen Schritt nach vorwärts zu tun. U m so mehr waren die Parteien der Linken jetzt entschlossen, ihrerseits zu handeln, ohne allzuviel Rücksicht auf seine schwierige Lage zu nehmen. Der Reichstag hatte am 29. März einen eigenen Ausschuß zur Beratung von Verfassungsreformen eingesetzt, der Anfang Mai unter Vorsitz des Sozialdemokraten Scheidemann zusammentrat und eine ganze Reihe schwieriger, verfassungsrechtlicher Fragen auf einmal in Angriff nahm. Zum Entsetzen Bethmanns wurde hier von den Mittelparteien auch ein Antrag eingebracht, die Gegenzeichnung aller Offiziersernennungen durch den verantwortlichen Kriegsminister einzuführen. Das war von den Antragstellern, wie sich bald herausstellte, weder als ernsthafte Kritik an der Tätigkeit des Generals von Lyncker als Chef des Militärkabinetts gemeint, noch als Eingriff in die kaiserliche Kommandogewalt, sondern entsprang mehr formaljuristischen Erwägungen und dem allgemeinen Wunsch, mit veralteten Traditionen aus der Zeit des Absolutismus aufzuräumen. Aber wir wissen schon aus dem Verfassungsstreit der sechziger Jahre (siehe Band I, Kapitel 7), welche führende Rolle gerade das Militärkabinett von jeher im Kampf um die militärischen Vorrechte der Krone gespielt hatte. Vor allem: es gab keinen Punkt, an dem das monarchische Selbstbewußtsein Wilhelms II. empfindlicher verletzt werden konnte als sein persönliches (wenn auch im Millionenheer des Weltkriegs längst rein formal gewordenes) Immediatverhältnis zum Offizierskorp, in das kein Minister und vollends keine Volksvertretung hineinreden sollte. Politisch konnte darum nichts ungeschickter sein als das Aufrollen dieser formaljuristischen Frage in eben dem Augenblick, als der Kanzler mühsam versuchte, ein engeres Vertrauensverhältnis der monarchischen Regierung zur Volksvertretung zu begründen und den Kaiser von der Ungefährlichkeit des neuen Kurses seiner Innenpolitik zu überzeugen. Wilhelm war tief verstimmt, auch über seinen Kanzler, der nach seiner Meinung sofort mit einem donnernden „ Q u o s ego" im Reichstag hätte dazwischenfahren müssen. Von stetigem Fortschreiten auf dem Weg der Osterbotschaft (etwa durch die Berufung geeigneter Parlamentarier auf Ministerposten, wie sie Bethmann plante) konnte vorläufig keine Rede mehr sein. Dies um so weniger, als sich Valentini heftig dagegen sträubte und dabei mit Bethmann scharf aneinandergeriet 8 ). Aber schon lange vorher war die Osterbotschaft zum Signal für einen verstärkten Kampf aller Gegner des Kanzlers, vor allem der konservativen Altpreußen, gegen seine Machtstellung geworden. Der Generaloberst Ples-

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sen, Kommandant des Kaiserlichen Hauptquartiers, gab ihm seither nicht mehr die Hand. Der Minister von Loebell suchte hinter seinem Rücken die Mehrheitsparteien des preußischen Landtages gegen das allgemeine, gleiche Wahlrecht auf seinen eigenen Kompromißvorschlag festzulegen. Das Kesseltreiben der Altpreußen gegen den „schlappen Kanzler" erreichte seinen Gipfelpunkt in einer öffentlichen Rede, die der konservative Parteiführer von Heydebrand am 17. Mai in Herford hielt. Es müsse endlich ein Halt gerufen werden auf dem Weg, der in den Abgrund und zu dem Ruin Preußens führe. „Wer regiert denn jetzt augenblicklich im deutschen Reiche: regiert noch unser Kaiser und König, oder regiert Herr Scheidemann die Welt?" Wenn es so weitergeht wie bisher, dann haben wir am Ende die Republik 9 ). Aber die gefährlichsten Feinde des Kanzlers saßen natürlich im Großen Hauptquartier. Von den Bemühungen der OHL und des Kriegsministers Stein, ihres getreuen Gefolgsmanns, Mitte April Bethmanns Entlassung durchzusetzen, hörten wir schon früher (oben, S. 505). Die Osterbotschaft nannte Ludendorff (gegenüber Wahnschaffe) einen „Kotau vor der russischen Revolution"; die Aprilstreiks der Munitionsarbeiter betrachtete er als die herausfordernde Antwort des Proletariats auf eine von der Angst diktierte Politik 10 ). Das kaiserliche Manifest habe aber auch den Feinden Deutschlands „unsere Blöße aufgedeckt" und ihnen unsere Angst vor der Revolution sichtbar gemacht. „Wo Rauch ist, mußte der Feind folgern, da glimmt es zum mindesten." Für die Wahlrechtsfrage als solche hat er schwerlich mehr Interesse aufgebracht als die Masse des Frontheeres und des Volkes überhaupt, dem sie nach seiner Meinung völlig gleichgültig war 11 ). Aber alle „Demokratisierung und Parlamentarisierung" hielt er für erbärmliche Schwäche, und eine wirkliche Revolutionsgefahr gab es für ihn einfach nicht12). Wenn er in seinen Memoiren mehrfach versichert, Probleme der inneren Politik hätten ihm immer ganz fern gelegen, so hat ihn das nicht gehindert, im Frühjahr 1917 eine innenpolitische Aktivität zu entwickeln, die seiner (uns schon bekannten) außenpolitischen Betriebsamkeit mindestens gleichkam. Liest man die Dokumente dieser Tätigkeit während der Aprilwochen, so kann man den Eindruck gewinnen, als ob es in der Umgebung Ludendorffs sogar während des Tobens der Abwehrschlachten in Frankreich zu viele Leute gegeben hat, denen es an wirklich nützlicher Beschäftigung fehlte. Nicht nur bis in die kleinsten Details wurden da Fragen der Ernährung, der Getreidelieferung aus dem Ausland (z. T. durch Vermittlung der Militärattaches),

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der Stickstoff- und Kohlenproduktion, des Transports, der Trocknungsanlagen für K a r t o f f e l n und Futtermittel — also dringliche Bedürfnisse des Tages bearbeitet, sondern darüber hinaus auch noch Zukunftspläne von sehr fragwürdigem Wert aufgestellt. In einem sehr ausführlichen Schreiben ließ Ludendorff am 3. April seine Gedanken über die Demobilmachung am Kriegsende auseinandersetzen. Die Organisation der Kriegszeit mit ihrer zentral gelenkten Wirtschaft müsse möglichst lange erhalten bleiben; denn auch nach dem Krieg müsse die deutsche Wirtschaft schlagfertig bleiben, um jeden Augenblick den Übergang zum Kriegszustand vollziehen zu können. Große Vorräte an Kriegsbedarf müßten angesammelt werden; durch planmäßige Förderung des Exports und durch Schiffbau größten Stils müßte die deutsche Wirtschaft kampffähig gemacht werden. Ohne scharfe und dauernde Einwirkung des Staates auf das Wirtschaftsleben wird dieses Ziel nicht erreicht werden. „Militärische und wirtschaftliche Demobilmachung sind überhaupt nur einheitlich zu steuern; darum muß beides in der H a n d der Militärs, am besten des Kriegsamts bleiben." Vergebens legte Bethmann in seinem Antwortschreiben dar, daß alle diese und noch viele andere Fragen längst von den zuständigen Reichsämtern bearbeitet würden und übersandte eine Drucksache, die eine Übersicht über die schon geleisteten Arbeiten bot. Das alles den Militärbehörden übergeben, hieße die ganze Reichsverwaltung auflösen und wäre unvereinbar mit der verfassungsmäßigen Verantwortlichkeit des Kanzlers für die Reichsgeschäfte (17. April). Hartnäckig bestand Ludendorff darauf, das Reichsamt des Innern sei ungeeignet für solche Aufgaben, die „militärische Oberleitung" müsse erhalten bleiben, da nur sie die nötige Übersicht und Sachkenntnis besitze (5. Mai). Am 11. drängte er noch weiter: nach dem Krieg müßten schnellstens Rohstoffe und Lebensmittel f ü r die „Festung Deutschland" so rechtzeitig beschafft werden, daß kein neuer Druck entstünde, falls England nochmals „über uns herfällt"; sie müßten also f ü r mindestens dieselbe Zeitspanne wie der gegenwärtige Krieg, also f ü r etwa drei Jahre gestapelt werden. Dabei ist Voraussetzung, hieß es weiter, daß es uns bald gelingt, in den meisten Industriezweigen und der Landwirtschaft „uns auf die eigenen Füße zu stellen". Die dafür nötigen Einfuhren allein durch die Friedensverträge zu sichern, genügt nicht. Wir müssen also am Kriegsende sehr viel eigenen Schiffsraum haben, die Feinde möglichst wenig. Das bedeutet: wir müssen durch die Friedensverträge reichlich englischen und amerikanischen Schiffsraum erwerben und so viele weitere Schiffe zunächst „besetzen", daß wir die Erfüllung der Friedensverträge da-

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mit durchdrücken können und im Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft vor den Kriegsgegnern einen beträchtlichen Vorsprung gewinnen. Auf diese Phantasien eines Kadettengehirns (anders wird man es kaum nennen können) scheint Bethmann Hollweg nicht mehr geantwortet, sondern sich damit begnügt zu haben, die geforderte Machtstellung des Kriegsamts rundweg abzulehnen 13 ). Mit welchem inneren Ingrimm er es tat, zeigen die bitteren Randglossen, mit denen er die Zuschrift Ludendorffs vom 5. Mai versah. Für uns ist die Lektüre dieser Schriftstücke deshalb wichtig, weil sie besonders anschaulich machen, was „militaristisches" Denken bedeutet. Ihr Verfasser war vermutlich derselbe Oberst Bauer, den wir schon als Berater Ludendorffs in Fragen der Kriegswirtschaft und als Organisator der Hetze gegen Bethmann Hollweg kennen (oben Kap. 9) und der dann im Juli die Hauptrolle in der großen Intrige der Militärs gespielt hat, die zum Sturz des Kanzlers führte. Es lohnt sich also, eine der politischen Denkschriften zu studieren, die er im Frühjahr 1917 f ü r seinen Chef Ludendorff und f ü r den Kronprinzen verfaßt hat 14 ). Zu Kriegsbeginn, heißt es da, herrschte eine ausgezeichnete Volksstimmung, alle anti-monarchischen Strömungen waren vergessen. „Als dann die politischen Fragen wieder in den Vordergrund drängten, wäre es f ü r die Regierung ein leichtes gewesen, durch Aufklärung und überhaupt aktive Tätigkeit im Innern das Volk bei der Fahne zu halten." Sie überließ es aber der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften, die zunächst den anti-monarchischen Weg verlassen hatten, um ihre Anhänger nicht ganz zu verlieren. Jetzt wühlen sie wieder, doch die Regierung sieht tatenlos zu. Noch ist ihr Anhang gering (!), wächst aber beständig bei weiterer Untätigkeit der Regierung. Wir haben heute zwei Parteien in Deutschland: eine kleine und eine große. Jene besteht aus den Führern der Sozialdemokratie und des jüdischen Liberalismus, steuert auf eine Republik los und benutzt als Propagandamittel die Ernährungsnöte, das Versprechen allgemeiner Gleichheit des Wahlrechts und die Forderung eines sofortigen Friedens ohne Annexionen. Dieser kleinen, aber sehr aktiven Gruppe steht die zweite, große Partei der Monarchisten gegenüber, die von den Konservativen bis zur Masse der Arbeiter reicht. Sie will eine kraftvolle Monarchie und einen kraftvollen Frieden. Zu ihr gehört der größte und beste Teil des Volkes. Sie ist unzufrieden mit der Regierung Bethmann Hollwegs, die sich nur auf die kleine Gruppe der unentwegten Sozialdemokraten und jüdischen Liberalen stützt. Was sind die Gründe ihrer Unzufriedenheit?

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Erstens die Duldung anti-monarchischer Strömungen und die Verleihung viel zu weitgehender Arbeiterrechte im Hilfsdienstgesetz. Zweitens die U n klarheit der Ziele. Die Regierung f ü h r t nicht, sondern gibt immer nur Volksstimmungen nach. Man will aber einen starken Staat und einen starken Willen. Drittens schwere Fehler der Ernährungspolitik: Duldung von Wucherpreisen, verfehlte Maßnahmen in der Verteilung der Lebensmittel und in der Steigerung der Produktion. Deren Folge ist allgemeine Unzufriedenheit und gegenseitiges Mißtrauen. Der Kampf gegen Wucher, Schwarzhandel und Hinterziehung von Lebensmitteln wird viel zu schwächlich geführt. Die Landtagsrede des Kanzlers vom 14. März hat den letzten Rest innerer Einigkeit zerstört. Viertens Mißerfolge der Außenpolitik. Es mag offen bleiben, in welchem Maß der Kanzler daran schuld ist; aber die Tatsache, daß jetzt die ganze Welt gegen uns steht, erschüttert das öffentliche Vertrauen zu seiner Führung. Es ist sein schwerwiegender Fehler, daß heute Leute wie Scheidemann, Erzberger und andere sich als Vertreter des Volkes aufspielen dürfen, ohne in die Schranken gewiesen zu werden. Die Tatsache, daß der sozialdemokratische Friedensaufruf (vom 20. April) veröffentlicht werden durfte, hat „maßlos verbittert", und diese Erbitterung hält sogar vor dem Thron nicht mehr zurück. Dazu kommt, daß der Kanzler das Mißtrauen der ganzen Welt gegen sich wachgerufen hat, schon 1914 durch sein törichtes Wort vom „Fetzen Papier", den ihm die belgischen Neutralitätsverträge bedeuteten. Damit hat er den Glauben der Welt an die deutsche Treue ein Ende bereitet. Es ist ausgeschlossen, daß mit diesem Mann irgendeine Regierung ernsthafte Friedensverhandlungen führen kann. Was bleibt an Möglichkeiten der Zukunft? Es ist möglich, daß bald ein sozialdemokratisch-international gestimmtes Friedensangebot an uns herantritt. Dann wird es einen heißen Kampf im Innern geben. Der Krieg „muß ohne Rücksicht auf Frieden, Entbehrungen und internationale Tendenzen" bis zu vollem Sieg weitergeführt werden. D a z u brauchen wir eine starke Führung, sonst kommt es zur „Republik mit internationalem Einschlag". Also ist sofort ein neuer Kanzler nötig. Auch nach dem Friedensschluß stehen uns noch schwere Aufgaben des Wiederaufbaus und der Sozialpolitik bevor, die jetzt schon vorbereitet werden müssen. D a f ü r hat der Kanzler aus eigener Initiative noch nichts getan. Auch das Durchhalten in kommenden neuen Kriegsnöten mit neuen Entbehrungen muß vorbereitet werden. Auch d a f ü r wird ein neuer, starker Kanzler gebraucht. Wer dieser neue Mann sein sollte, darüber sagt die Denkschrift Bauers

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nichts. Es gibt aber Äußerungen von ihm, die deutlich erkennen lassen, was sein Ideal war: die Militärdiktatur. Er selbst schreibt in seinen Memoiren, sie wäre die beste Lösung gewesen, da „mit dem Reichstag, wie er war, nichts zu machen war". Das entsprach auch Ludendorffs Meinung. Er enttäuschte zwar seine Mitarbeiter und Verehrer durch die Erklärung, er selbst wolle kein politisches Amt haben (das auch Hindenburg von sich wies); aber der Gedanke der „Diktatur" leuchtete ihm ein 15 ). Und tatsächlich ist er ja auch zum Diktator geworden, sobald es ihm gelungen war, mit Beihilfe des Reichstags Bethmann Hollweg zu stürzen. Die Monarchie wurde seitdem zu einem bloßen Schattenkaisertum. Wie sich die politische Wirklichkeit in den Augen Bauers, seines politischen Beraters und nächsten Gehilfen, spiegelte, wissen wir nun. Kronprinz R u p precht von Bayern, der ihn damals im Hauptquartier kennen lernte, nannte ihn einen „gefährlichen Phantasten" und fand seinen Einfluß auf Ludendorff ebenso unheilvoll wie den des Chefs der „Politischen Abteilung" des Generalstabs, Oberst Bartenwerffer 16 ). Es gehört zu den größten Merkwürdigkeiten der Kriegsjahre, daß dieser „Phantast" bei bekannten Parteiführern des Reichstags, alterfahrenen Politikern, nicht nur Zugang, sondern Vertrauen finden konnte. Die Tatsache w i r f t ein seltsames Licht auf die politische Reife unserer damaligen Volksvertreter.

Zweiter

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Abschnitt

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Die Stellung Bethmann Hollwegs schien Anfang Mai bereits so stark erschüttert, daß der bayerische Kriegsminister von Hellingrath aus dem Großen Hauptquartier nach München berichtete: auch seine Freunde gäben ihn jetzt verloren, „seine Tage seien gezählt" 1 ). Er meldete das mit Bedauern; denn allenthalben in den süddeutschen Regierungen wurde die Hetze gegen den Kanzler mit ebensoviel Empörung wie Spannung verfolgt. Auch Hohenlohe, der österreichische Botschafter, war dadurch schwer beunruhigt, und Czernin veranlaßte Kaiser Karl zu einer sehr nachdrücklichen Vertrauenskundgebung f ü r den so viel Befehdeten 2 ). Dieser selbst hatte zuweilen mit Stimmungen hoffnungsloser Resignation zu kämpfen. „Im Schützengraben sei es leichter

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zu sein", gestand er von Weizsäcker am 8. M a i in einem vertraulichen Gespräch, „da könne man sich seine Kugel suchen. Das könne er in der furchtbaren Lage, in der er sei, nicht 3 )." Er hielt es also für seine Pflicht, trotz allem auf seinem Posten auszuharren und gegen alle Hindernisse Schritt f ü r Schritt sich voranzukämpfen. W i e er durch die Osterbotschaft sich eine Zeitlang wieder Luft verschafft hatte, so gelang es ihm am 15. M a i in seiner letzten Reichstagsrede (wir hörten schon davon), noch einmal die Mittelparteien zur Stützung seiner Politik um sich zu sammeln. Danach brachte die Vertagung des Reichstags eine gewisse Ruhepause. Neue Gefahren kündigten sich an, als die rasche Erschöpfung des letzten Kriegskredits einen neuen großen Kredit und damit die Einberufung des Reichstags auf A n f a n g J u l i nötig machte. Es w a r vorauszusehen, d a ß die Linksparteien diesmal noch viel schärfer als im M ä r z und April auf Durchführung innerpolitischer Reformen bestehen und daß die Sozialdemokraten noch viel lauter und dringlicher nach einem Verständigungsfrieden auf Grund der sowjetischen Friedensformel rufen würden. Denn die Kriegsstimmung w a r inzwischen noch weiter abgeflaut, die Furcht vor einem vierten Kriegswinter und neuen Ernährungsnöten (bei sommerlicher Dürre) noch größer geworden; vor allem schien es, daß der U-Boot-Krieg seit M a i den Höhepunkt seiner Wirksamkeit überschritten hatte, und von Hungersnöten oder Friedensbereitschaft in England war nichts zu spüren. Bethmann Hollweg erhielt darüber Ende Juni einen sehr klaren und zuverlässigen Bericht des dänischen Staatsrats Andersen, den wir schon als Träger deutscher Friedensfühler im ersten Kriegsjahr kennen 4 ). Er hatte soeben acht Tage in London zugebracht und dort einen deutschen Luftangriff miterlebt. Danach w a r England, „ausreichend und auf längere Zeit mit Lebensmitteln versehen", mit dänischer Butter und Fett geradezu überschwemmt. Die allgemeine Stimmung w a r „verbitterter und kriegsentschlossener denn je", Amerikas Kriegseintritt finanziell, politisch und moralisch „von entscheidender Bedeutung", an „Einlenken" überhaupt nicht zu denken. Besonders verheerend wirkten sich die Luftangriffe auf London aus: sie steigerten die Kriegsstimmung zur Weißglut und verbitterten selbst pazifistische Kreise 3 ). Mit anderen Worten: alle Voraussetzungen der Entscheidung für den unbeschränkten U-Boot-Krieg hatten sich als irrig erwiesen. Der Kanzler versäumte denn auch nicht, den Inhalt dieses Berichts sofort dem Kaiser zu melden und um Einstellung der sinnlosen Luftangriffe zu bitten.

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Indessen im Großen Hauptquartier herrschte nach wie vor eine krampfhaft festgehaltene Siegeszuversicht. Holtzendorff sprach von bloßen „Gerüchten", als ob der U-Boot-Krieg erfolglos bliebe und forderte Bethmann auf, ihnen in einer Reichstagserklärung entgegenzutreten. Auf seinen Vorttrag hin schickte der Kaiser am 4. April dem Kanzler die Weisung, er solle bei nächster Gelegenheit den Volksvertretern „in Kopf und Herz einhämmern — je schärfer, desto besser", daß die U-Boote vollen Erfolg haben würden. „Sicher ist nur", hatte Hindenburg am 19. Juni Bethmann schreiben lassen, „daß wir imstande sind, den Erfolg mit Ruhe zu erwarten. Unsere Lage ist militärisch gesichert und wird gesichert bleiben. Unsere Ernährungslage wird nicht schlechter sein als die bei unseren Gegnern." Jetzt kommt alles darauf an, „die Geschlossenheit im Innern zu stärken und den Willen zum Durchhalten wachzuhalten. Ich denke mir die Lösung dieser Aufgabe nicht schwer, wenn jedem klar gemacht wird, daß die Zeit f ü r uns spricht, und daß wir eher einen weiteren Winter überstehen können als unsere Feinde". Wenn jede Klage über fehlgeschlagene Hoffnungen und jeder Ausdruck der Friedenssehnsucht unterbleibt, wird der Gegner die Nutzlosigkeit seiner Bemühungen schon einsehen 6 ). Das war nun genau die „militaristische" Redeweise, mit der man die Linksparteien damals zu heller Empörung treiben konnte: den Politikern wurde nach dem Fehlschlag des großen militärischen Abenteuers die angeblich einfache Aufgabe zugeteilt, „Geschlossenheit im Innern" herzustellen und die Massen zum „Durchhalten" zu bringen - nach Meinung Ludendorffs nur eine Frage des starken „Führerwillens". Vergeblich blieb Bethmanns Versuch, der O H L das Illusionäre ihrer Erwartungen klar zu machen und für seine eigene Politik Verständnis zu wecken: keine neuen Voraussagen über U-Boot-Erfolge, die doch keinen Glauben mehr finden würden, keine „Vorspiegelung eines fetten Friedens", der dann doch nicht kommt, keine Erörterung der Kriegszielfrage, die nur den Riß zwischen Rechts und Links noch vertiefen würde, keine Verurteilung des Strebens nach einem Verständigungsfrieden; denn nichts würde bei uns und bei unseren Verbündeten die Kriegsstimmung sicherer verderben als die Meinung, wir setzten den Krieg nur für Eroberungsziele fort. Statt dessen Fortführung der im Ostererlaß des Kaisers angekündigten inneren Reform, deren politische Bedeutung vor allem für die Stimmung in der Heimat die O H L unterschätzt. Denn nichts ist gefährlicher, als wenn die Vorstellung sich noch weiter verbreitet und festsetzt, „daß die Gegner der Neuordnung sich eines starken, im Endergebnis vielleicht entscheidenden

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Rückhalts erfreuen". Die O H L erwiderte darauf mit einer schroffen Anklage angeblicher Versäumnisse der Reichsregierung, die wir aus Bauers Denkschrift schon kennen: Versagen in der Regelung der Lebensmittel- und Kohlenfrage, Versagen vor allem in der festen Führung der öffentlichen Meinung. Z u einem „Verständigungsfrieden" wird England sich niemals bereit finden, wohl aber wird es über kurz oder lang nachgeben müssen, wenn wir nur fest entschlossen bleiben und durchhalten. Auch die Luftangriffe auf London sind nützlich und nötig. Der Kanzler wird gebeten mitzuteilen, welche englischen Staatsmänner vor dem letzten großen Luftangriff zum Friedensschluß geneigt waren, jetzt aber diese Absicht aufgegeben haben 7 ). Es war eine hoffnungslose Diskussion. Hindenburg hat die Antwort Bethmanns nur dazu benutzt, um ihn beim Kaiser als „Flaumacher" anzuschwärzen. U n d so begreift man die schwer gedrückte Stimmung, mit der Bethmann Hollweg die Eröffnungen entgegennahm, die ihm die Sozialdemokraten Scheidemann und D a v i d am 27. Juni machten. Sie waren soeben von der Sozialistenkonferenz in Stockholm zurückgekehrt. Dort war ihnen, in unmittelbarer Begegnung mit ihren ausländischen Parteigenossen, die ganze Furchtbarkeit der L a g e Deutschlands in der Welt erst recht sichtbar geworden: nirgends auch nur ein Ansatz zum Einlenken im Lager der Gegner! In Frankreich auch nicht ein Sozialist erkennbar, der sich mit seinen deutschen Parteigenossen über die Kriegsziele verständigen könnte 8 )! D a s Letztere scheint Bethmann Hollweg an ihrem Bericht, den er mit Spannung aufnahm, besonders tief erschüttert zu haben. Noch wichtiger war die Feststellung, daß jeder deutsche Versuch, mit den russischen Sozialisten zu einem Sonderfrieden zu kommen, deren Friedensbereitschaft nur zerstören konnte, da man sofort dahinter die Absicht witterte (natürlich mit Recht), Truppen im Osten frei zu bekommen, um mit ihnen die Franzosen und Engländer zu überrennen. Die beiden Sozialdemokraten zogen daraus den Schluß: die bisherigen Erklärungen des Kanzlers an die Adresse der Russen waren verfehlt. Es bleibt nur noch ein Weg, um weiterzukommen: nicht ein neues Friedensangebot (davon sprachen sie nicht), aber eine „jeder Deutungskunst entzogene" Erklärung der Reichsregierung, zu einem allgemeinen Frieden ohne Annexionen und Entschädigungen bereit zu sein. Das würde die friedenswilligen Kräfte nicht nur in Rußland stärken, zugleich aber innenpolitisch beruhigend wirken. Denn nur die Gewißheit, nicht für Eroberungsziele kämpfen und leiden zu müssen, könnte jetzt noch die Masse der Deutschen „bei der Stange halten". Dazu würde freilich auch ein sichtbares Fortschreiten auf dem in der Osterbot-

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schaft angekündigten Weg der inneren Reformen gehören, also vor allem: „Fortentwicklung der Reichsverfassung in der Richtung einer auf die Volksvertretung gestützten und von ihr ausgehenden Regierung" und sofortige Einführung des gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts in Preußen. Diese Forderungen wurden mit so großer Entschiedenheit vorgetragen und mit einer so düsteren Schilderung der inneren Zustände und der Volksstimmung begleitet, daß der Kanzler daraus schon entnehmen konnte, diesmal würde der Kriegskredit nicht ohne weitgehende Konzessionen zu haben sein, und mit „dilatorischen" oder mehrdeutigen Erklärungen war es vorbei. Das wurde ihm auch von den beiden Sozialdemokraten im Auftrag des Parteiausschusses9) unzweideutig erklärt. Nach Scheidemanns Bericht gab er den beiden Abgeordneten „fast in allem recht, gestand auch zu, daß ihre Stellungnahme eine durchaus konsequente und von ihrem Standpunkt aus gesehen wahrscheinlich die einzig richtige sei". Aber er ließ durchblicken, daß er mit großen Schwierigkeiten im Hauptquartier zu rechnen habe und bat, ihm eine schriftliche Darlegung dorthin mitzugeben, auf die er sich stützen könne. Das geschah in der Form einer großen, von den Vorständen der Partei und der Fraktion unterzeichneten Denkschrift, die ein sehr eindrucksvolles Bild von der deutschen Notlage entwarf, zugleich aber sehr bestimmte Forderungen stellte 10 ). Mit dieser Denkschrift (und nicht erst mit der später noch zu erörternden Alarmrede Erzbergers im Reichstagsausschuß) begann die politische Krise, in deren Strudel Bethmanns Kanzlerschaft schließlich untergegangen ist. Es gibt keinen Grund, zu bezweifeln, daß er innerlich mit den Ansichten der beiden Abgeordneten, Führern des rechten Flügels der Sozialdemokratie, übereingestimmt hat. Auch in der Friedensfrage - wenigstens im Grundsätzlichen. H a t t e er noch in seiner Reichstagsrede vom 15. Mai geglaubt (in Ubereinstimmung mit Czernin), es genüge, den Russen gegenüber Entgegenkommen zu zeigen, den Westmächten gegenüber dagegen sich abwartend und abweisend zu verhalten, so war inzwischen jede Hoffnung auf einen Sonderfrieden im Osten geschwunden. Die Friedenspropaganda in den Schützengräben hatte längst aufgehört, und am 30. Juni brach die große Offensive Kerenskis unter General Brussilow los. Am 25. Juni hatte ein Generalkongreß der Arbeiterund Soldatenräte Allrußlands sich mit großer Entschiedenheit für einen allgemeinen Verständigungsfrieden auf der Grundlage des bekannten sowjetischen Friedensprogramms ausgesprochen, aber ebenso entschieden jeden Gedanken an einen Sonderfrieden oder auch nur einen Waffenstillstand mit den

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Mittelmächten verworfen. D a s entsprach durchaus den Mitteilungen der beiden Sozialdemokraten über die Haltung der russischen Sozialrevolutionäre. Wer überhaupt noch glaubte, durch öffentliche Erklärungen irgendetwas zur Abkürzung des Kriegs beitragen zu können, mußte sich damit schon an die Gesamtheit der Alliierten wenden. N u n ist nicht anzunehmen, daß der Kanzler und sein Staatssekretär damals noch diesen Glauben besaßen. Jedenfalls hat das Auswärtige A m t einen Vorschlag der türkischen Regierung als aussichtslos abgelehnt, die am 20. Juni anregte, allen Feindmächten die Bereitschaft zum Verzicht auf Annexionen und zum Abschluß eines Friedens auf der Grundlage des Status quo zu erklären, Rußland aber eine bestimmte Frist von etwa einem Monat zu setzen, innerhalb deren es seine Verbündeten zur Annahme bringen sollte. T a l a a t Pascha, der Großwesir, erhoffte sich davon zum mindesten eine Spaltung im Lager der Entente 1 1 ). Einer solchen Erneuerung des Angebots vom Dezember 1916 (in veränderter Form) hat Bethmann Hollweg gewiß auch innerlich widerstrebt: es würde (wie er am 7. Juli im Hauptausschuß des Reichstags erklärte) im Lager der Westmächte nur mit Hohn und Triumphgeschrei als Zeichen beginnenden Zusammenbruchs aufgenommen werden. Etwas Anderes w a r eine grundsätzliche Erklärung über den Charakter unserer Kriegsziele — darüber war er bereit, mit sich reden zu lassen, wie sich noch zeigen wird. Wesentlich mehr erwartete er allerdings, wie von jeher, von vertraulichen Fühlungnahmen und Vermittlungsbemühungen eines Neutralen, und so hat er mit beiden H ä n d e n zugegriffen, als sich ihm eben damals eine Gelegenheit dieser Art zu bieten schien. Am 26. Juni, also einen T a g vor der Aussprache mit den Sozialdemokraten, war der neue päpstliche Nuntius, Monsignore Pacelli (der spätere Papst Pius X I I . ) zu einem Antrittsbesuch in Berlin erschienen, mit einem Brief des Papstes Benedikt X V . an den Kaiser, der von päpstlichen Bemühungen zur Wiederherstellung des Friedens sprach. Er hatte zugleich den Auftrag, streng vertraulich die deutschen Kriegsziele zu erkunden, und stellte so bestimmt gefaßte Fragen, daß der Kanzler vermutete, die alterfahrene und vorsichtige Diplomatie der Kurie habe bereits mit England Fühlung genommen und glaube Grund zu haben zu der Annahme, daß gewisse Aussichten auf eine Verständigung bestünden, falls Deutschlands Ansprüche gemäßigt blieben. D a s war nun freilich nicht der Fall, wie der Kardinal-Staatssekretär Gasparri später nachdrücklich versichert hat: die Kurie hat ganz von sich aus ihren Schritt unternommen. Die Antwort des Kanzlers zeigt aber deutlich, daß er

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bereit war, seine frühere Forderung nach „realen Garantien" gegen die Abhängigkeit Belgiens von den Westmächten fallen zu lassen. Er begnügte sich damit, die Wiederherstellung der vollen Unabhängigkeit dieses Landes ohne Einschränkung zu versprechen, nur mit dem Zusatz, diese würde freilich mit einer Vorherrschaft Englands und Frankreichs unverträglich sein. Auch zu späteren Rüstungsbeschränkungen und Schiedsgerichtsverfahren erklärte er sich grundsätzlich bereit und versicherte, daß an der elsaß-lothringischen Frage der Friede nicht zu scheitern brauche, falls Frankreich verständigungsbereit sei; „unter der Form gewisser gegenseitiger Grenzberichtungen werde sich ein Weg finden lassen". Das war offenbar das Äußerste an Verständigungsbereitschaft, das ein deutscher Staatsmann damals äußern konnte, und entsprach vollkommen den Erklärungen der deutschen Sozialdemokraten in Stockholm. N u r über Deutschlands Kriegsziele im Osten weigerte sich der Kanzler, irgendwelche Angaben zu machen - natürlich, da er etwaige Friedensaussichten durch die bekannten Forderungen der O H L nicht verderben lassen wollte. Da er aber diese Zurückhaltung mit den noch fortdauernd chaotischen Zuständen in Rußland einleuchtend begründete, erklärte sich der Nuntius für hochbefriedigt und glaubte nun, freie Bahn für die päpstlichen Friedensbemühungen vor sich zu sehen. Die Zukunft Belgiens war für die Kurie von jeher das Hauptstück ihrer Sorge gewesen 12 ). Unterdessen war man im Großen Hauptquartier eifrig dabei, in erneutem Ansturm auf den Kaiser die Entlassung Bethmann Hollwegs durchzusetzen, dessen Abgang - so wurde ihm vorgestellt - von allen Parteien gefordert werde. Um das zu bekräftigen, riefen Hindenburg und Generaloberst von Plessen den hochkonservativen Oberpräsidenten von Ostpreußen von Berg herbei, der den Kaiser am 24. stundenlang in diesem Sinn bearbeitete - offen in lautem Gespräch vor der Hofgesellschaft. Übrigens war Berg auch dazu ausersehen, so bald als möglich Valentini abzulösen, was aber erst im Januar 1918 gelungen ist. Valentini müsse zuerst beseitigt werden, hatte Plessen an Berg geschrieben, eher werde der Kanzler nicht fallen 13 ). Unter diesen U m ständen verliefen die Besprechungen, in denen sich Bethmann Hollweg am 29. Juni die Rückendeckung des Kaisers für seine Konzessionen an die Linksparteien zu sichern suchte, höchst unerquicklich. Es war der letzte Versuch des Kanzlers, durch offene Aussprache mit der O H L eine Verständigung herbeizuführen; aber er erlebte zu seinem Schrecken, daß jetzt auch der Kaiser unsicher geworden war und sich (wie es scheint) auf Mahnungen an die Generäle beschränkte, sie sollten sich versöhnlich zeigen. Hindenburg tat das

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auch, aber nur unter vier Augen. In seiner Abneigung vor scharfen Konflikten und seiner Unsicherheit in politischen Fragen hatte er sich schon mehrfach dem Kanzler persönlich gegenüber verständigungsbereit gezeigt. Aber er lehnte es ab, Ludendorff an dem Gespräch teilnehmen zu lassen. U n d dieser scheint mit Bethmann überhaupt nicht gesprochen zu haben. Statt dessen erklärte er Wahnschaffe, dem Chef der Reichskanzlei, ganz offen seine Feindschaft gegen Bethmann Hollweg: dieser verstünde es nicht, die Begeisterung des Volkes durch belgische und baltische Zukunftsbilder zu entflammen. Er verweigerte nicht nur seine Unterstützung, sondern ebenso den Verzicht auf aktive Bekämpfung des Kanzlers. So hatte Valentini den Eindruck, daß dieser „bereits den K a m p f der Verzweiflung kämpfe und sich von aller Welt verlassen fühle". E s scheint aber, daß auch der Chef des Zivilkabinetts selbst diese Empfindung noch verstärken half: durch Widerstand gegen die B e r u f u n g von Parlamentariern in die Regierung, die Bethmann gleichwohl, wenigstens grundsätzlich, beim Kaiser durchgesetzt zu haben scheint 14 ). Schließlich empfand sich aber auch der Kaiser nachgerade isoliert in seiner militärischen Umgebung. E r zeigte sich nervös und beunruhigt. Abends klagte er Valentini darüber, daß im Lauf dieses stürmischen Tages sowohl Bethmann wie Hindenburg ihren Abschied gefordert hätten. Seelisch schwer belastet, trat der Kanzler die Rückreise nach Berlin an. Seine einzige bisher zuverlässige Stütze, der Kaiser, war unsicher geworden; u n d daß er außer der Kaiserin, die längst gegen ihn kämpfte, auch den Thronfolger zum Gegner haben würde, hatte ihm eben erst wieder ein Schreiben des Kronprinzen gezeigt 15 ). Zum ersten Male war er jetzt auf eine kräftige Unterstützung durch den Reichstag angewiesen, wollte er seine Pläne gegen die Mächte der politischen Reaktion und des Militarismus durchsetzen. Gerade hier aber stand ihm die furchtbarste aller Enttäuschungen bevor. Schon in der Vorbesprechung, die Helfferich, unterstützt von Wahnschaffe, a m 30. Juni mit den Fraktionsführern hielt, brachten Scheidemann und D a v i d ihre Forderungen mit großer Schärfe vor: klares Kriegsziel (d. h. Erklärung für den annexionslosen Frieden) und preußische Wahlrechtsreform. Was dabei besondere Besorgnis der Mitarbeiter Bethmanns weckte, war Scheidemanns Bemerkung: „Wenn der Reichskanzler, den ich gewiß hochschätze, morgen ginge, so würde das den Frieden auch erleichtern! Ich setzte voraus, d a ß ein besserer kommen müßte 1 6 )." Das war höchst unerwartet nach den vielen vertrauensvollen Aussprachen, die Bethmann Hollweg von jeher, und

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gerade in letzter Zeit verstärkt, mit den sozialdemokratischen Führern gehabt hatte. Wie es gemeint war, zeigte sich bald: die Aktivisten der Linken wollten jetzt nicht mehr bloß Vorstellungen erheben und Wünsche äußern, sondern selbst auswärtige Politik machen. Sie hatten zu überlegen begonnen, ob nicht die Friedenserklärung des Reichstags, die sie planten, im Ausland sehr viel eindrucksvoller wirken würde, wenn der Reichstag seine politische Macht dadurch demonstrierte, daß er einen Regierungswechsel erzwang. Sie nahmen also gewissermaßen die „parlamentarische" Regierungsform, die im Reich nicht bestand, vorweg und stellten sich vor, daß ein neuer Reichskanzler, als Vertrauensmann des Parlaments berufen, der Welt den Wandel aller Dinge in Deutschland sehr viel glaubhafter demonstrieren würde als der alte, der doch selbstverständlich betonen würde, daß er immer schon friedensbereit gewesen sei. Man wollte nicht Kontinuität, sondern Umbruch. H a t t e man aber einen solchen Vertrauensmann, einen „besseren Reichskanzler", zur H a n d ? Scheidemann und seine Leute zweifellos nicht. Sie haben in den folgenden kritischen Wochen keinen einzigen Namen genannt, und noch am Mittag des 11. Juli (also noch ehe die preußische Wahlrechtsfrage nach ihren Wünschen entschieden war) haben sie (ebenso wie die Vertreter der Fortschrittspartei) dem Vizekanzler Helfferich erklärt, sie hätten kein Interesse mehr an einem Kanzlerwechsel 17 ). Auch hat sich gerade Scheidemann in den Beratungen des interfraktionellen Ausschusses der Linksparteien gegen eine überstürzte Einführung des „parlamentarischen Systems" gewehrt, die nur Verwirrung stiften würde und schrittweises, wohlüberlegtes Vorgehen empfohlen. Seine Redewendung am 30. Juni sollte also wohl nur besagen: wir fühlen uns nicht an den Kanzler Bethmann Hollweg gebunden - er soll nur nicht zögern und ausweichen! Wir machen unsere eigene auswärtige Politik und lassen uns darin nicht beirren. Aber gerade das Zögern und Ausweichen schien Bethmanns Absicht in der ersten Parteiführerbesprechung nach seiner Rückkehr von Kreuznach. Offenbar hat er sich dagegen gewandt, das Bekenntnis zur sowjetischen Friedensformel als Ausfluß tief pessimistischer Betrachtungen über die Lage Deutschlands und der Welt erscheinen zu lassen - was auf die Haltung des Auslands ja nur „perniziös" wirken könnte, hat also vor panikartigen Stimmungen gewarnt und über die Fortführung der inneren Reformen zunächst geschwiegen. Indessen: die Panik war schon da und die Ungeduld der zur Aktion drängenden Mehrheitssozialisten nicht mehr zu zügeln. Sie selbst mußten ja fürchten, ihre Anhänger aus der H a n d zu verlieren, wenn es jetzt nicht zu

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einem sichtbaren Erfolg ihres Vorstoßes kam. Diese Ungeduld spiegelt sich a m deutlichsten im Tagebuch des sonst so gemäßigten Abgeordneten David, der Bethmann jetzt einen „unentschiedenen bürokratischen Kleber" nannte und es schlechthin unerträglich fand, ihn immerfort „zwischen politisierendem Hauptquartier und Parlament hin- und herpendeln" zu sehen 18 ). Nun hatte ja D a v i d selbst schon seine Erfahrungen mit Vertretern der Obersten Heeresleitung bei der Erörterung der Friedensfrage gemacht 19 ). Es kann ihm ebensowenig wie allen anderen Abgeordneten der Linksparteien verborgen geblieben sein, w a r u m der Kanzler zu solchem „Pendeln" gezwungen w a r und wo in Wahrheit die Wurzel des ganzen Übels steckte: im „politisierenden Hauptquartier". Es bleibt für den nachlebenden Betrachter schwer verständlich, w a r u m keiner der Abgeordneten, die jetzt zu entschiedener Aktion drängten, auf den Gedanken verfiel, das Übel an der Wurzel zu packen und zunächst einmal gegen die längst zur öffentlichen Gefahr gewordene, fortgesetzte Einmischung des Generalstabs in politische Entscheidungen Protest zu erheben. In der französischen Kammer hat man viel weniger Scheu getragen, an den Generälen Kritik zu üben, und ist in manchen Fällen (Sturz Lyauteys, Anklage Nivelles) darin sicher zu weit gegangen. N u n wohl: diese Generäle wurden auch nicht von dem Glanz großer militärischer Erfolge umstrahlt w i e die Sieger von Tannenberg. Aber w a r es nicht auch eine Folge des altüberlieferten, übermäßigen Respekts v o r den militärischen „Halbgöttern", was unsere Politiker von rechts bis links so stark in Bann hielt, daß sie es vorzogen, sich über die „Schwäche" und „Halbheit" des Kanzlers zu entrüsten, statt ihm ganz einfach zu H i l f e zu kommen? Der Fortgang unseres Berichts w i r d uns noch mehrfach zum Nachdenken über diese Frage A n l a ß geben. Das „Problem des Militarismus in Deutschl a n d " hat offenbar auch seine parlamentarische Seite gehabt. Indessen stimmt es ebenso zum Nachdenken, wenn man hört, wie sich Bethmann Hollweg selbst geäußert hat, als in jener unglücklichen Besprechung vom 2. Juli seine Fähigkeit angezweifelt wurde, gegen die Widerstände im Hauptquartier aufzukommen. M a n klage über die Einmischung der O H L in die Politik, sagte er in seinem Schlußwort. Aber „Kriegführung und Politik berührten sich in jedem Krieg sehr nahe, jetzt besonders". Das sei auch 1870/71 nicht anders gewesen. M a n kenne doch Bismarcks Bericht darüber. Aber er müsse sich dagegen verwahren, daß seine Politik durch die O H L beeinflußt werde. „Seine Majestät der Kaiser trifft die Entscheidung, und niemals ohne mich. In großen Fragen ist gegen mein Votum bisher noch nichts entschieden worden."

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Als Scheidemann daraufhin bemerkte, der Kanzler hätte gegen seine Überzeugung für den unbeschränkten U-Boot-Krieg gestimmt, erwiderte er: „Ich habe ganz offen darüber gesprochen und am 31. Januar (im Reichstag) ausgeführt, weshalb ich damals dafür war 2 0 )." Wozu dieses Dementi, das obendrein nur halb der Wahrheit entsprach? Wehrte er sich dagegen, als hilflose Scheingröße betrachtet zu werden, deren Zusagen niemand mehr ernst nimmt? Wollte er die Parteipolitiker ermutigen, seinem Wort trotz allem zu vertrauen? Oder wollte er den Kaiser gegen Mißachtung seiner persönlichen Autorität decken? Oder schließlich: sträubte er, der kaiserliche Kanzler, sich innerlich dagegen, an der Spitze einer Linksopposition gegen die O H L vorzugehen? So oder so: er selbst schlug in diesem Augenblick den Parlamentariern die Waffe aus der H a n d , die er vielleicht hätte nutzen können, um sich und seine Politik zu retten. Allerdings bildeten die Linksparteien in diesen Tagen offenbar noch keine geschlossene Front - auch nicht in der Frage einer Friedensaktion 21 ). Die Folge war, daß Bethmann die Ungeduld und Verstimmung in ihren Reihen unterschätzte, sich selbst in den Aussprachen zurückhielt und Helfferich mehr oder weniger hinhaltend und beschwichtigend verhandeln ließ. Erst die berühmte Rede Erzbergers im Hauptausschuß am 6. Juli führte zu einer Art politischer Explosion. Sie war als großer, überraschender Schlag geplant (überraschend auch für die meisten Mitglieder der Zentrumsfraktion), obwohl ihr gewisse Warnungen an die Regierungsmitglieder seit Juni vorangegangen waren. Ihre Wirkung beruhte wesentlich darauf, daß hier nicht ein Sozialdemokrat, sondern ein Führer der bürgerlichen Zentrumspartei, selbst bekannt als ehemaliger Vertreter einer annexionistischen Kriegspolitik und auch als Vertrauensmann des Auswärtigen Amtes, plötzlich die militärische und wirtschaftliche Lage Deutschlands in so düsteren Farben schilderte, daß nur eine sofortige Friedensaktion der Regierung, gestützt auf eine Erklärung des Reichstags, die Lage retten zu können schien. Der Eindruck dieses Feuerwerks wurde noch dadurch wesentlich verstärkt, daß der Redner auf Grund eigenen statistischen Zahlenmaterials die Voraussagen der Marineleitung als irrig erwies - und damit aussprach, was Unzählige fühlten, aber noch niemand so unverblümt anzusprechen gewagt hatte. Die Schockwirkung dieser Rede auf alle Hörer (und das waren im H a u p t ausschuß Hunderte) war ungeheuer. Die nächste und zugleich dauerhafteste Folge war, daß interfraktionelle Besprechungen zwischen Sozialdemokraten, Fortschrittspartei, Zentrum und Nationalliberalen, die schon vorher verab-

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redet waren, nunmehr zu einer parlamentarischen Blockbildung der Linken führten. Zu ihr haben die Nationalliberalen allerdings kein festes Verhältnis gewonnen. Sie hat sich aber als „Mehrheit der Friedensresolution" bis zum Kriegsende fortgesetzt und die „nationale Einheitsfront" der ersten Kriegsjahre abgelöst. Im „interfraktionellen Ausschuß", der vor allem auf Betreiben der schwäbischen Demokraten Haussmann und von Payer organisiert wurde, fand sie sogleich ein O r g a n gemeinsamer Willensbildung. Die Tatsache, daß es Bethmann Hollweg nicht gelungen ist, sich das Vertrauen dieses Ausschusses zu sichern, hat seinen Sturz ganz wesentlich mitverschuldet. Warum gelang es nicht? Die ursprüngliche Grundlage der neuen Parteigruppierung bildete Erzbergers Vorschlag einer Resolution des Reichstags zur Frage von Krieg und Frieden. Sie stellte schon in ihrem ersten Entwurf, der am 6. Juli entstand, nicht ein neues Friedensangebot dar, auch nicht eine Wiederholung der russischen Friedensformel, sondern eine Erklärung des Reichstags (nicht der Regierung), das deutsche Volk führe nach wie vor nicht aus Eroberungslust Krieg, sondern allein zur Verteidigung seiner Freiheit, Selbständigkeit und der Unversehrtheit seiner Grenzen. „Zwangsweise" Gebietserwerbungen (im ersten Entwurf auch „Vergewaltigung des Rechts anderer Völker auf Freiheit und Selbstbestimmung") wurden abgelehnt, ebenso „aufgezwungene Kriegsentschädigungen und andere wirtschaftliche Vergewaltigungen". Die späteren Fassungen sprachen von „politischer, wirtschaftlicher oder finanzieller Vergewaltigung", während von Kriegsentschädigungen nicht mehr die Rede war. Einige Sätze gegen wirtschaftliche Absperrung der Völker nach dem Kriege, für Wirtschaftsfrieden, Freiheit der Meere und internationale Rechtsorganisation als Zukunftsziel wurden angefügt. A m Schluß wurde versichert, daß die deutsche N a t i o n weiter im K a m p f ausharren würde, solange Deutschland und seine Verbündeten mit Eroberung und Vergewaltigung bedroht würden 2 2 ). Es ist kein Zweifel, daß an dieser Friedensresolution die Verständigung zwischen den Linksparteien und dem Kanzler nicht zu scheitern brauchte. Er hat schon am Abend des 6. Juli mit einer Delegation der verschiedenen Parteien darüber verhandelt und am 7. im Hauptausschuß seine Auffassung ausführlich dargelegt. Er warnte (wie es seine Pflicht war) dringend davor, von einem Extrem ins andere zu fallen: vom Überschwang patriotischer Siegesgewißheit in mutloses Verzagen. Ein neues Friedensangebot, wie es einzelne Abgeordnete gefordert hatten, erklärte er gerade jetzt während der KerenskiOffensive für verfehlt, wandte sich aber ebenso gegen die weitere Propaganda

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ausschweifender Kriegsziele. „Ich halte es für richtig", sagte er, „daß die Welt, auch ohne daß wir ein Friedensangebot machen, weiß: wenn Ihr kommt, wenn Ihr bereit seid, Euch mit uns an einen Tisch zu setzen, so werden wir es nicht abschlagen, und wir werden dabei den Grundsatz aufrecht erhalten, daß wir für unser Dasein und für die Sicherheit unserer Zukunft kämpfen, um weiter nichts." Dieser Tag würde gewiß niemals kommen, wenn wir jetzt mutlos die Arme sinken ließen. Aber nach drei Jahren Krieg dürften wir uns auch „nichts vormachen". Er kenne genau den Ernst der Situation und halte es darum, ohne formales Friedensangebot, für unbedingt nötig, an der schon früher bezeugten Friedensbereitschaft festzuhalten. „Ich würde es begreifen und es als eine wesentliche Unterstützung dieser Haltung ansehen, wenn sie den ausgesprochenen Beifall des Reichstags finden würde." Durch solche Erklärungen könne auch die „Kriegsmüdigkeit in den fremden Ländern am meisten gefördert werden". Das Ziel des Krieges sei schließlich doch nur, „den Feind zum Frieden zu bringen". Das würde freilich am besten nicht durch den Austausch von Formeln erreicht, sondern durch Anknüpfen nichtöffentlicher Verhandlungen 23 ). Er suchte also die Friedensaktion des Reichstags mit seiner eigenen Politik in Einklang zu bringen, zugleich aber die von Erzberger erzeugte Panikstimmung einzudämmen. Aber die Linksparteien waren bereits in eine Bewegung geraten, die sie unfähig machte, auf diese Stimme mit ihren Mahnungen zur Vorsicht und Besonnenheit noch zu hören. Gereizt durch einen beschwichtigenden Brief Hindenburgs, den der Kriegsminister im Ausschuß verlas, und durch einen sehr matten Versuch Capelles, den Angriff Erzbergers auf die Marinestatistik abzuwehren, wiederholte Scheidemann dessen Warnungen und Vorschläge mit größter Energie. Im Gegensatz zur Skepsis des Kanzlers erwartete er von der geplanten Reichstagsresolution einen durchschlagenden Erfolg im Ausland. Die russische Regierung würde dann ihren Allierten sagen: warum weiter Krieg, wenn doch Deutschland und seine Verbündeten mit uns grundsätzlich einig sind? Die französische und englische Regierung würde „in dem Augenblick, wo sich der Reichstag zu einer klaren Entscheidung entschließen würde, in die größten Schwierigkeiten kommen". Gleichzeitig würde dann das deutsche Volk die Gewißheit haben, daß der Krieg nicht fortgesetzt würde, weil wir Eroberungen wollen. Um sie zu geben, wünschte der Redner nicht eine vom Reichstag bestätigte Kundgebung der Regierung, sondern eine Erklärung der Volksvertretung „aus eigenem heraus" 24 ).

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Das w a r nun auch die Haltung des neuen interfraktionellen Ausschusses. Hier herrschte Schwung, ja fast Begeisterung f ü r eine jetzt anbrechende neue Epoche parlamentarischer Wirksamkeit, vereint mit tiefem Pessimismus im Blick auf die Kriegslage, naive Überschätzung der eigenen Erfolgsmöglichkeiten und eine fast grenzenlose Verwirrung in der Erörterung der nächsten, konkreten Aufgaben 2 3 ). Deutlich w a r vom ersten Tage an, daß der Ausschuß entschlossen w a r , seine eigene Politik zu machen, und daß er dies durch einen Personenwechsel in der Reichsleitung zu unterstreichen wünschte, w i e das Scheidemann schon am 29. J u n i angedeutet hatte. Nur bestand keine Einigkeit darüber, wer ausgewechselt werden sollte und noch weniger: durch wen. Haussmann und Payer wünschten Bethmann Hollweg nicht zu stürzen, sondern zu unterstützen. Auch die Sozialdemokraten (selbst D a v i d ) waren überzeugt, er würde f ü r die Friedensresolution zu gewinnen sein. Sie forderten also jetzt nicht seinen Rücktritt, zumal sie damit rechneten, daß er die preußische Wahlrechtsreform beim Kaiser durchsetzen würde. Dagegen w a r allgemein die Abneigung gegen Helfferich und die Meinung, daß wenigstens Zimmermann und Capelle gehen müßten, die beide als schwer kompromittiert galten 2 6 ). Indessen trieb die Debatte rasch über so begrenzte Ziele hinaus: nicht bloß einzelne Persönlichkeiten sollten gewechselt werden, sondern das ganze System. M a n diskutierte mit Eifer über die Einführung des „parlamentarischen Systems", zeigte sich aber ziemlich ratlos in der Frage, was darunter konkret zu verstehen wäre und wie man es mitten im Krieg durchsetzen sollte. Seltsamerweise ging dieses Drängen nicht eigentlich vom linken, sondern vom rechten Flügel der neuen Parteiengruppe aus: von den Nationalliberalen. Ihre anfängliche (später aufgegebene) Beteiligung an den Beratungen des interfraktionellen Ausschusses hat in hohem Grade verwirrend gew i r k t . N u r der ruhig-nüchternen Einsicht der beiden schwäbischen Demokraten und dem praktischen Sinn Eberts und Scheidemanns w a r es zu verdanken, daß die Debatte nicht in uferlose Reformprojekte entgleiste. Die Nationalliberalen zeigten sich innerlich gespalten. Gerade diese Fraktion w a r von jeher ein Hauptzentrum des kämpferischen Nationalismus gewesen. Andererseits hatte sie sich in den letzten "Wochen wieder stärker auf ihre liberale Tradition besonnen. Niemand w a r eifriger als Stresemann f ü r innerpolitische Reformen im Sinn der Osterbotschaft und des Verfassungsausschusses eingetreten. Jetzt wollten sie mit dabei sein, wenn es liberaldemokratische Neuerungen gab, und es fehlte auch nicht an persönlichem Ehrgeiz mancher ihrer Mitglieder, die nach Ministerposten strebten. Indessen

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die Friedensresolution weckte in ihren Reihen schwerste Bedenken, obwohl die Rede Erzbergers mit ihrer Zerstörung so vieler Illusionen bei vielen von ihnen, den unentwegten Predigern des „Siegfriedens", eine geradezu fassungslose Niedergeschlagenheit erzeugt hatte 27 ). Manche von ihnen fürchteten, die Friedensresolution könnte die Stellung des Kanzlers wieder befestigen, da sie ja Bethmanns allgemeiner politischer Richtung entsprach 28 ). So bemühten sich ihre Redner, den interfraktionellen Ausschuß dahin zu drängen, daß er den Personalwechsel allen anderen Programmpunkten voranstellte, also eine parlamentarische Mehrheitsregierung fordern sollte, zunächst ohne gemeinsames Programm. Damit sind sie nicht durchgedrungen; aber sie haben viel dazu beigetragen, das Selbstbewußtsein des Ausschusses zu steigern und gegen Bethmann Hollweg Mißtrauen und Mißmut zu erregen. Mit erstaunlicher Unbekümmertheit, ja Naivität schoben sie alle verfassungsrechtlichen Probleme der von ihnen gewünschten Neuordnung beiseite. „Mit einer Kabinettsorder", erklärte der Abgeordnete von Richthofen am 6. Juli, „ist die Sache gemacht". „Wir müssen hingehen und erklären, daß wir die Regierung in die H a n d nehmen wollen. Das ist das einzige, was wir machen können", und Stresemann versicherte kühnlich: „Der Reichstag kann alles, was er will 29 )." Um das Vertrauen auf Bethmann Hollweg zu erschüttern, wurde kein Mittel gescheut. Am weitesten ging darin Stresemann, der von jeher zu den hemmungslosesten Propagandisten der Kanzlerfronde gehört hatte. Er war erst vor kurzem als Hauptakteur einer groß aufgezogenen Konferenz von Wirtschaftsführern im Berliner Hotel Adlon (25. Februar) aufgetreten, in der eine Eingabe an den Kaiser, die Bethmanns Entlassung forderte, beschlossen werden sollte. Er war aber damit, dank einer geschickten Gegenaktion Haussmanns in der Presse, gescheitert 30 ). Jetzt benutzte er die aufgeregte Stimmung des Reichstags zu einer großen Angriffsrede im Hauptausschuß (am 9. Juli), in der er alles zusammentrug, was sich an Fehlschlägen, Nöten und Enttäuschungen der deutschen Politik im Krieg nur irgend aufzählen ließ, um damit ohne weiteres den Kanzler - und ihn allein — zu belasten und seine Unfähigkeit daran zu demonstrieren. Er hatte sogar die Stirn, den U-Boot-Krieg in diesem Zusammenhang zu nennen (allerdings in vorsichtiger Form), obwohl er selbst dessen entschiedenster Propagandist gewesen war und (wie Zimmermann bitter bemerkte) noch im Dezember über eine Torpedierung gejubelt hatte, weil sie den Bruch mit Amerika unvermeidlich mache 31 ). Obgleich er selbst sich noch immer als Annexionisten bekannte,

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erklärte er Bethmann Hollweg für ungeeignet als Träger einer Politik der Selbstbescheidung, weil er in den Augen des Auslands durch seine bisherige Politik so schwer belastet sei. Den naheliegenden Einwand, daß ja nicht Bethmann, sondern die O H L für gewisse Fehler, wie die überstürzte Polenproklamation und die belgischen Arbeiterdeportationen, verantwortlich wäre, fegte er mit der rhetorisch blendenden These hinweg: „Es gibt keinen vergewaltigten Reichskanzler. Ein Reichskanzler muß sich durchsetzen können; wenn er das nicht kann, muß er die Konsequenz daraus ziehen." Theoretisch w a r das gewiß nicht falsch; aber es war hinterhältig aus dem M u n d eines Politikers, der gleichzeitig darüber klagte, daß O H L und politische Reichsleitung immerfort „gegeneinander ausgespielt" würden, der aber selbst so viel dazu beigetragen hatte, in Deutschland die Autorität der Militärs über die Zivilgewalt zu erhöhen und der — was noch schwerer wiegt — auch in diesem Augenblick im Interesse der O H L tätig war und mit ihr in enger Verbindung stand. Bei den Sozialdemokraten galt Stresemann längst als der „junge Mann Ludendorffs" 3 2 ). Ohne Grund war das nicht. Wir kommen damit zu dem dunkelsten Punkt der ganzen parlamentarischen Kampagne. Der Reichstag war in diesen Tagen gleichsam umlagert von Ludendorffs Verbindungsoffizieren, die ihn über alle Ereignisse auf dem laufenden hielten. Außer Oberst Bauer gehörte auch der uns schon von 1915 her bekannte Oberstleutnant von Haeften dazu. Gleich nach der alarmierenden Rede Erzbergers am 6. telegraphierte der Kriegsminster von Stein an Ludendorff, er möge sofort mit Hindenburg nach Berlin kommen und erbat Audienz beim Kaiser zu gemeinschaftlichem Vortrag „behufs Stellungnahme zum Vorschlag Erzbergers vom militärischen Standpunkt aus". Die beiden Generäle erschienen denn auch am 7. in Berlin - aber nicht nur zum Immediatvortrag! Oberst Bauer arrangierte ein Zusammentreffen zwischen ihnen, Stresemann und Erzberger; außerdem wurden auch Ebert und Scheidemann zu einer gesonderten Aussprache mit LudendorfF ins Hotel Excelsior auf den Abend eingeladen 33 ). Deutlicher konnte die Einmischung der O H L in rein politische Fragen sich gar nicht mehr manifestieren. Dem Reichskanzler, der von dem Plan der Audienz erfuhr, gelang es gerade noch rechtzeitig, den von Wien anreisenden Kaiser vorher zu sprechen und ihm das Unerhörte dieses Vorgehens klar zu machen. Der E m p f a n g der beiden Herren war deshalb äußerst kühl; mit ihnen über die Reichstagsdebatte zu verhandeln, wurde abgelehnt und ihnen empfohlen, sich schleunigst wieder an ihre Arbeitsstelle zu begeben. Nach-

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träglich wurden sie aber dann doch zur kaiserlichen Abendtafel befohlen, mußten also die von Bauer arrangierten Verabredungen (von denen sie natürlich bei H o f e nichts sagen durften) im Stich lassen, und fuhren dann zurück nach Kreuznach 34 ). Die Abgeordneten sahen sich dadurch allesamt in ihrer Hoffnung auf eine Begegnung mit den beiden Heroen enttäuscht. Erzberger und Stresemann mußten den Abend mit Oberst Bauer allein verbringen. Natürlich vermuteten sie (zu Unrecht), der Kanzler habe dieses schöne Zusammentreffen hintertrieben. Stresemanns Empörung darüber (die Bauer wohl tüchtig geschürt hat) kommt noch in seiner Rede vom 9. deutlich zum Ausdruck, und Erzberger hat gleich am nächsten Tag im interfraktionellen Ausschuß getobt: der Kanzler habe die Reichstagsparteien um eine unschätzbare Begegnung gebracht; die beiden Generäle wären gern bereit gewesen, Auskunft zu erteilen; aber Bethmann habe immer noch nicht den Ernst der Lage begriffen und sie dem Kaiser gegenüber bagatellisiert. Das Vertrauen auf den Kanzler erklärte er daraufhin für tief erschüttert 35 ). Er hat den Vorfall in seinen späteren Darstellungen dazu benutzt, um f ü r seinen Abfall von der Sache des Kanzlers eine einleuchtende Begründung zu geben. Aber kann man glauben, daß ein ernst zu nehmender Politiker einen so totalen und folgenreichen Kurswechsel vorgenommen hat nur wegen einer Bagatellsache, die sich überdies durch ein bloßes Telephongespräch aufklären ließ? War so viel Aufregung wirklich echt? Und wenn ja, warum? Was hatten die beiden Abgeordneten (die sich übrigens schon sehr früh am Morgen getroffen hatten, um das Schicksal Bethmanns miteinander zu besprechen) mit den Generälen so Wichtiges zu bereden? Es wird doch niemand glauben wollen, daß sie sich militärische „Auskünfte" von ihnen erhofften. Und noch weniger aufrichtig kann die Beschwerde in Stresemanns Rede gewesen sein: es sei so eine wunderbare Gelegenheit verpaßt worden, aus dem Munde Hindenburgs selbst zu erfahren, ob wirklich die O H L für die Polenproklamation und die belgischen Arbeiterdeportationen mitverantwortlich und wirklich Gegnerin der Osterbotschaft wäre, wie man ihr nachsage, oder nicht. Ein so häufiger Besucher des Hauptquartiers wußte natürlich ganz genau Bescheid, wußte auch im voraus, was ihm Ludendorff auf solche Fragen antworten würde. Das alles war nur Tarnung: die beiden Abgeordneten haben sicherlich genau denselben Plan gehabt wie Oberst Bauer und sein Chef: einen Feldzugsplan zum Sturz Bethmann Hollwegs mündlich zu verabreden. Von Stresemann ist das leichter zu verstehen als von Erzberger. Er hat

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immer den Kanzler stürzen wollen und immer in derselben Absicht wie Ludendorff: um freie Bahn für die Politik der O H L zu schaffen. Verwunderlich ist nur, daß er sich nicht an der ihm bekannten Gegnerschaft des Generals gegen die Osterbotschaft und das „parlamentarische System" gestoßen hat. Aber vielleicht rechnete er darauf, daß Bethmann die preußische Wahlreform und die Berufung einiger Parlamentarier in hohe Staatsämter noch durchsetzen würde, ehe er gestürzt würde, oder er erwartete dasselbe von Bülow, dem Kandidaten der nationalistischen Fronde, der mit Versprechungen ja niemals sparsam war. Außerdem war Ludendorff Machiavellist genug, durch seine „jungen Leute" das Gerücht in Berlin verbreiten zu lassen, er sei durchaus kein Gegner des „parlamentarischen Systems" 30 ). Sehr viel rätselhafter ist das Verhalten Erzbergers. Wie kam er dazu, sich mit dem Alldeutschen Stresemann und mit dem Vertrauten Ludendorffs zu verbinden, wenn er eine Friedenserklärung des Reichstags durchsetzen wollte, die auf einen „Verzichtfrieden", einen „Scheidemann-Frieden" hinauslief? Nicht weiter rätselhaft ist seine Wandlung vom Annexionismus (großen Stils) zum Ideal eines Verständigungsfriedens. Erzberger war eine typische Publizistennatur: mit sicherem Gespür, aber auch großer Anfälligkeit für das jeweils Zeitgemäße, für die wechselnden Volksstimmungen. Daß er 1917 nicht mehr auf den hochgehenden Wogen patriotischer Siegeshoffnung schwamm, ist also selbstverständlich, zumal ihm die technischen Berechnungen des Admiralstabs schon Anfang 1916 verdächtig geworden waren 37 ) und er sich in technischen Fragen immer ein eigenes Urteil bewahrte. Außerdem erfuhr er durch seinen weitverzweigten Nachrichtendienst im Ausland zuviel von ernüchternden Tatsachen, um an das Gerede von englischer Wirtschaftsnot zu glauben. Überdies hat ihm, wie wir schon wissen, die pessimistische Denkschrift Czernins vom 12. April über die verzweifelte Lage ÖsterreichUngarns tiefen Eindruck gemacht. Czernin hat sich in seinen Memoiren geradezu gerühmt, er sei der eigentliche Urheber der Friedensresolution des deutschen Reichstags gewesen. Er habe durch seinen Freund Baron Wassilkow an Erzberger und Südekum ein Friedensprogramm gelangen lassen, das zur Grundlage der Resolution geworden sei38). Das kann aber nicht richtig sein. Weder ist irgend etwas Näheres von der Einwirkung Wassilkows auf die beiden Abgeordneten bekannt geworden, noch hat die Notlage Österreichs in der entscheidenden Rede Erzbergers mehr als nur eine Nebenrolle gespielt. Vor allem stimmt das (angeblich) Wassilkow übergebene Programm Czernins durchaus nicht mit der Friedensresolution des Reichstags überein, an deren

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Ausarbeitung Erzberger übrigens nur wenig beteiligt war 39 ). Auch hat Czernin im Ernst weder auf Annexionen f ü r Österreich-Ungarn (vor allem in Rumänien) verzichtet noch an die Annahme eines neuen Friedensvorschlages der Mittelmächte durch die Entente geglaubt. Ihm kam es offenbar nur darauf an, durch eine solche Reichstagserklärung die Entente in Verwirrung zu bringen, womöglich Rußland abzuspalten, vor allem aber den deutschen Bundesgenossen auf die bedingungslose Preisgabe Belgiens und auf die schon so lange vergeblich erstrebte „Solidarität" beider Mittelmächte festzulegen, nach der die deutschen Okkupationsgebiete als Pfand f ü r die Rückgabe aller von Österreich-Ungarn verlorenen Gebiete dienen sollten. Auch der Zeitpunkt der deutschen Reichstagsresolution — mitten im Zug der KerenskiOffensive! - war Czernin durchaus nicht willkommen 40 ). Für den deutschen Zentrumsabgeordneten dagegen spielten diplomatisch-taktische Erwägungen überhaupt keine Rolle. Für ihn war sicherlich ganz einfach die Sorge bestimmend, wie dieser unglückliche Krieg jemals zu Ende gebracht werden sollte - eine Sorge, die freilich durch die Jammerrufe aus Wien sehr verstärkt worden ist. Und er hat die erste Gelegenheit, die ihm die Reichstagssession bot, dazu benutzt, seine Ängste so laut als möglich herauszuschreien, ohne viel danach zu fragen, wieviel Porzellan dadurch den Diplomaten zerschlagen wurde. Als geborener Optimist und treuer Katholik hat er aber dabei auch eine große H o f f n u n g gehabt: die Friedensaktion des Papstes. Er war vertraulich über die Mission Pacellis unterrichtet, wollte sie durch die Friedensresolution des Reichstags unterstützen und glaubte (wie gewöhnlich bei seinen Aktionen) an sehr rasdien Erfolg. Wenn Deutschland wirklich wolle, könne es den Frieden haben, versicherte er seinem Freunde Müller-Fulda schon am 2. Juli. „Rußland kommt in wenigen Wochen an unsere Seite", sagte er im Ausschuß der Partei am 7. Juli und tags vorher mit Betonung: „Ich bin der Überzeugung, daß eine Art von parlamentarischer Regierung mit einer solchen Erklärung uns noch in diesem Jahre den Frieden bringt 4 1 ." Wenn aber die Friedensverhandlung schon so nahe vor der Tür stand, dann war ihm zweifelhaft, ob ein Mann mit so „bekleckerter Weste" wie Bethmann Hollweg nicht schleunigst ausgewechselt werden müßte. Wer ihm diesen Gedanken eingeblasen hat, sagte er selbst gleich am 6. Juli im Parteienausschuß: Fürst Bülow und der kürzlich verabschiedete Botschafter Wolff-Metternich, beides ebenso ehrgeizige wie unzufriedene ehemalige Diplomaten. „Seien Sie überzeugt", hatte ihm Wolff-Metternich mit bedeutsamem Augenaufschlag

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gesagt, „Sie mögen machen, was Sie wollen, ohne Änderung des Systems der Regierung bekommen Sie keinen Frieden." Was damit gemeint war, ließ der gleich nachfolgende typische Diplomatenklatsch erkennen: die Regierung Bethmanns hätte Wilson mit solchem Ungeschick behandelt, daß dieser schließlich Bernstorff geradezu hinausgeworfen habe 42 ). Wie töricht diese Rederei war, braucht dem Leser dieses Buches nicht erst auseinandergesetzt zu werden. Wir wissen schon, daß man im Ausland, ganz besonders in Amerika, sehr genau orientiert w a r über die schweren Kämpfe mit der OHL, die Bethmann Hollweg dauernd zu bestehen hatte, und daß er allgemein als der Mann der Mäßigung galt, dem es nur an der Macht fehle, sich gegen die Militärs und Annexionisten durchzusetzen. Die Berichte Hohenlohes an Czernin während der Julikrise zeigen, daß dieser österreichische Diplomat geradezu mit Verzweiflung das Schauspiel der parlamentarischen Intrigen verfolgte, die Bethmanns Stellung unterwühlten - und dabei hatte es doch gerade mit Wien eben erst so harte Meinungsstreitigkeiten gegeben 43 )! Genauso dachte man an den Höfen Süddeutschlands, wo man sich aufs höchste über die Berliner Vorgänge erbitterte — so sehr, daß der bayerische Kriegsminister Hellingrath am 4. Juli dem Grafen Hertling schrieb, es sei höchste Zeit, den „General Ludendorff als Politiker auszuschalten" und ihn ausschließlich als Soldaten sich betätigen zu lassen 44 ). Indessen Erzberger, den Fürst Bülow mehrmals in seinem eleganten Schweizer Wohnsitz empfangen hatte, war der persönlichen Magie des großen Intriganten schon lange erlegen. Wie hätte er, der schwäbische Kleinbürger mit bescheidener Allgemeinbildung, die Hohlheit dieses scheinbar so reichen Geistes und gewandten Causeurs auch durchschauen können (die wir heute aus dem ebenso faden wie unwahrhaftigen Gerede seines letzten Memoirenbandes so deutlich erkennen)? Sicher war er hoch beglückt, von dem Fürsten so ernst genommen zu werden, während man im Auswärtigen Amt seine Betriebsamkeit, die des Schulmeisterlichen nicht immer entbehrte 45 ), nicht ohne Reserve, oft sogar mit Ärger verfolgte. Jedenfalls w a r er voll Bewunderung und unterschied sich darin erheblich von Scheidemann, der später die liebedienerischen Bemühungen des alt gewordenen Ehrgeizlings um sozialdemokratische Hilfe für seine Kanzlerkandidatur (beim Abgang von Michaelis) mit innerer Heiterkeit und Verachtung aufgenommen hat 46 ). Aufdringlich wie immer, hat Erzberger schon Anfang 1917 Bethmann und Zimmermann zu überreden versucht, Fürst Bülow als Friedensunterhändler einzusetzen, und hat dafür auch in Bayern agitiert 47 ).

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In dieser seiner Agitation berührte er sich mit Stresemann, der gleichfalls (wie viele alldeutsche Gegner Bethmanns) auf Bülow schwor 48 ), und mit der O H L , vertreten durch Oberst Bauer. Stresemann hat den Bruder der K a i serin, Herzog Ernst Günther von Schleswig-Holstein, für Bülows Kandidatur gewonnen, um durch ihn auf die Kaiserin zu drücken, die sich denn auch für Bülow einsetzte. Der Herzog soll sogar zu diesem Zweck dem Kaiser eine Denkschrift eingereicht haben. D a auch die hochkonservativen preußischen Minister f ü r Bülow eintraten, darunter der in Personalfragen einflußreiche Hausminister Graf August Eulenburg, bestand eine Art von konservativ-national-liberaler Bülowfront, die während der Julikrise recht aktiv wurde 4 9 ). Ihr also schloß sich Erzberger an, und es ist ihm auch gelungen, seine Fraktionskollegen davon zu überzeugen, daß Bethmann als Friedensunterhändler unmöglich sei. A m 11. Juli ist er ohne Auftrag seiner Partei zu Valentini gegangen und hat bei ihm (vergeblich) die Berufung Bülows als Bethmanns Nachfolger durchzusetzen versucht. Wie merkwürdig! Für extreme Nationalisten wie Stresemann mag Bülow immer noch als Kanzler der (scheinbaren) Blütezeit deutscher „Weltpolitik" einen glanzvollen Namen besessen haben. D a ß aber ein führender Politiker gerade der linken Parteigruppe, die sich eben damals zusammenschloß, um einen neuen, betont antiimperialistischen K u r s deutscher Politik durchzusetzen, diesen Imperialisten und charakterlosen Opportunisten zum Kanzler vorschlug, wirkte beinahe grotesk. H a t Erzberger sich wirklich eingebildet, Bülow wäre besser geeignet, die Machtgelüste der O H L in Schranken zu weisen und konsequent eine Politik der Selbstbescheidung und der Verständigung durchzusetzen als der charaktervolle, ganz aus tiefem Verantwortungsbewußtsein lebende Bethmann Hollweg? Es ist kaum zu glauben, muß aber doch so gewesen sein, und wirft ein böses Licht auf die Urteilsfähigkeit des Politikers Erzberger. D a ß gerade ein Mann so kleinen Formats (bei aller Strebsamkeit und Tüchtigkeit im einzelnen) zur Schlüsselfigur der Julikrisis geworden ist, kann man nur ein Verhängnis nennen. Sein Fehlurteil über Bülow hatte dabei entscheidende Bedeutung. Denn ohne einen vermeintlich besseren Nachfolger zu wissen, hätte er schwerlich mit solchem Eifer auf den Kanzlersturz hingearbeitet - zunächst als einziger seiner Fraktion und sämtlicher Linksparteien. D a ß er aus rein taktischen Motiven auf den Kanzlerwechsel losgesteuert wäre, wie sein neuester Biograph meint 50 ), um nämlich die Nationalliberalen zu dem neuen Parteiblock der Linken hinüberzuziehen und dadurch eine

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überwältigende Mehrheit f ü r die Friedensresolution zu gewinnen, ist nach seinem ganzen Verhalten höchst unwahrscheinlich. Wäre es aber der Fall gewesen, so könnte man darin nur das Gegenteil einer Rechtfertigung sehen. Denn dieser Versuch w a r von vornherein aussichtslos, wie die Sozialdemokraten und Demokraten sehr rasch erkannten. Obendrein hätte Erzberger wissen müssen (Valentini hat es ihm am 11. J u l i deutlich gesagt, aber es w a r schon vorher jedem Kundigen klar), daß Wilhelm II., durch die Ereignisse von 1908 tief verbittert, es mit Empörung ablehnte, Bülow erneut zum Kanzler zu machen, und noch dazu: daß diese Berufung das Bündnis mit Österreich tief erschüttert hätte. Hohenlohe hielt Bülow für einen bloßen „Charlatan" 3 1 ), hatte ebensowenig wie Czernin das geringste Vertrauen zu ihm und trug ihm seine Politik als Botschafter in Rom 1915, die in ganz Österreich als einseitig italienfreundlich galt, böse nach. Diese Kandidatur zu verfolgen w a r also aussichtslos und auch außenpolitisch ein Fehler. Aber noch viel schwerer wiegt der zweite Fehler: die hemmungslose Beteiligung Erzbergers an dem Intrigenspiel der O H L . Auch sie hat ihre monatelange Vorgeschichte. Angefangen hat es anscheinend im M ä r z 1917, als auf einer Reise ins Hauptquartier Oberost General M a x Hoffmann ihm und dem nationalliberalen Abgeordneten von Richthofen ein sehr düsteres Bild der militärischen Gesamtlage entwickelte. Hoffmann w a r ein Zyniker, der es liebte, durch kaltschnäuzige Äußerungen seine Gesprächspartner zu verblüffen. Erzberger lernte hier einen neuartigen Soldatentyp kennen, der ihm imponiert zu haben scheint. Natürlich verband sich mit der Zerstörung militärischer Illusionen das übliche Schimpfcn auf die Reichsregierung, die nichts täte, um das Volk aus seinen Träumen zu wecken und propagandistisch auf eine lange Kriegsdauer vorzubereiten. In diese Tonart stimmte auch Oberst Bauer ein, mit dem Erzberger am 10. Juni eine längere Unterredung hatte und der geradezu darin geschwelgt zu haben scheint, ihm - besonders auf Grund der Munitionslage - die Zukunftsaussichten des Landkrieges schwarz in schwarz zu malen — so schwarz, daß der Oberst später (auf Grund einer Meldung des Kanzlers an Ludendorff) von seinem Chef wegen defaitistischer Äußerungen zur Rechenschaft gezogen wurde. Daß diese planmäßige Zerstörung von Illusionen, verstärkt durch etwa gleichzeitig eintreffende Nachrichten über den Stand der Welttonnage, bei Erzberger einen Schock erzeugte, ist verständlich. Aber welches positive Ziel verfolgte Bauer damit? Erzberger spricht von einem „geistigen Kriegsernährungsamt", einer Propagandastelle zur Vorbereitung des Volkes auf den nächsten Kriegswinter,

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über deren Organisation sie beide beraten hätten 32 ). Indessen: waren dazu so schwer erschütternde Nachrichten das geeignete Mittel? Und hatte nicht die O H L selbst immer sehr siegesfroh von baldigem Kriegsende, spätestens im Herbst, gesprochen 53 )? Es ist kaum anders denkbar, als daß es die Absicht Bauers gewesen ist, Erzberger zu einer Alarmrede aufzureizen, die so große Verwirrung im Reichstag stiften sollte, daß darüber die Autorität der Regierung ins Wanken geriete - um dann aus dieser Verwirrung Nutzen zu ziehen und Bethmann Hollweg zu beseitigen. Dann wäre also das Vorgehen des Zentrumsmanns als ein vorgeplantes Manöver militärischer Drahtzieher zu verstehen - ob ihm das nun klar bewußt war oder nicht. General H o f f m a n n hat er schon am 26. Juni, also längst vor Beginn der Krise im Reichstag, telephoniert, daß „auch seine Geduld zu Ende und daß er auch für einen Wechsel sei". Und in den Zusammenkünften mit Oberst Bauer und Stresemann am 7. Juli äußerte er sich zuversichtlich: bis zum nächsten Dienstag (10. Juli) werde H e r r von Bethmann „besorgt" sein54). Prinz Hohenlohe hat ihn einen „eitlen Faiseur" genannt und seine Alarmrede sich einfach aus dem Bedürfnis erklärt, eine große politische Rolle zu spielen, nachdem er das Gefühl gehabt habe, in letzter Zeit „nicht mehr politisch ganz ernst genommen zu werden" 55 ). Das ist sehr scharf geurteilt. Indessen: sein politischer Geltungsdrang war sicher nicht alltäglich, und sich als Vertrauensmann hoher und höchster Dienststellen aufzuspielen, der viele Dinge wußte, die andere nicht einmal ahnten, war von jeher sein Ehrgeiz. Es scheint aber, daß Bauer ihm auch mancherlei vorgespiegelt hat, was er naiv genug war zu glauben. Gleich in der ersten Sitzung des interfraktionellen Ausschusses, als von „parlamentarischem System" die Rede war, erklärte er (mit der Miene des Eingeweihten): „Die Oberste Heeresleitung steht solchen Gedanken nicht fern. Darin erblickt man eine starke militärische Entlastung. Durch Kabinettsordre könnte ein Kriegsrat gebildet werden." U n d am 9. Juli mit gewohntem Optimismus: „Morgen Abend können wir eine parlamentarische Regierung haben. Bis morgen Abend! Das müssen die entscheidenden Stellen wissen 56 )." Darüber, daß die O H L , sobald das Hindernis Bethmann einmal beseitigt war, den Reichstag überspielen, ihren eigenen Kanzler (der nicht unbedingt Bülow zu heißen brauchte) und ihren eigenen Willen durchsetzen könnte, hat er sich offenbar keine Sorge gemacht. Er fühlte sich selbst als Mittelpunkt der Ereignisse. Noch am 13. hielt er es für „undenkbar", daß ein neuer Kanzler käme, der dem Ausschuß der Parteien nicht genehm wäre 57 ).

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Durch sein Verhalten hat er ein großes politisches Unglück anrichten helfen: den endgültigen Triumph der O H L über die Zivilgewalt. Allerdings bedurfte es dazu noch sehr massiver Nachhilfen. Bethmann Hollweg hat den Verhandlungen im Reichstag nicht passiv zugesehen, sondern die seltene Gelegenheit, den Kaiser f ü r ein paar Tage in Berlin, getrennt vom Generalstab, zur Stelle zu haben, nach Kräften ausgenutzt. A m 8. veranlaßte er den Monarchen, eine Kronratsitzung über die Frage des preußischen Wahlrechts auf den 9. einzuberufen, und erklärte in einer Vorbesprechung der preußischen Minister, er würde seinen Abschied einreichen, falls die Krone sich nicht für das gleiche Wahlrecht entschiede. In der Sitzung am 9., die unter Vorsitz des Königs fast vier Stunden dauerte, wurde das Wahlrechtsproblem sehr gründlich von allen Seiten diskutiert, aber keine endgültige Entscheidung erreicht, die sich der Kaiser allein vorbehielt. Wie genau die O H L über alle Vorgänge orientiert war, geht daraus hervor, daß während der Sitzung ein Telephonanruf des Kronprinzen eintraf, der von Valentini wissen wollte, was vorginge, und verlangte, sein Vater sollte sich in der Wahlrechtsfrage keinesfalls ohne Hindenburg entscheiden. Der Kabinettschef veranlaßte daraufhin den Kaiser, die Entscheidung noch hinauszuschieben und den Kronprinzen zu einer Besprechung herzubestellen, was auch noch in der Nacht geschah. A m nächsten Morgen (10. Juli) traf Valentini Wilhelm II. in größter Aufregung: er hatte eine schlaflose Nacht gehabt, war von der Kaiserin mit Vorwürfen wegen des Verlaufs der Kronratsitzung überhäuft und schon am frühen Morgen von den Hochkonservativen Loebell und August Eulenburg mit Vorstellungen bestürmt worden. Loebell hatte ihn bedrängt, er solle zunächst noch Mitglieder des Landtags hören. Die Reaktion der Konservativen war also bereits auf dem Marsch, und wie am 8. wurde die Frage der Nachfolge Bethmanns mit dem Kabinettschef und dem Hausminister erörtert, freilich ohne daß sich gleich ein geeigneter N a m e gefunden hätte, da Wilhelm II. von Bülow durchaus nichts hören wollte. Während des Gesprächs mit Valentini, das im Park des Schlosses Bellevue stattfand, traf der Reichskanzler ein und hatte mit dem Kaiser eine höchst dramatische, zwei Stunden währende Aussprache. Die Befragung von Vertrauensmännern des Landtags erklärte er für unwürdig der Krone, setzte aber Wilhelm in tiefem Ernst auseinander, daß seine eigene Stellung jetzt doppelt bedroht sei: sowohl durch die konservative und alldeutsche Opposition wie durch die Feindschaft der Obersten Heeresleitung. Diese schilderte

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er im einzelnen und bot dem Kaiser seine Entlassung an, da er nicht den Eindruck erwecken wolle, als fordere er deshalb das gleiche Wahlrecht, weil er seine eigene Stellung sichern wolle. Allerdings würde auch jeder andere Kanzler dieselben Konzessionen an die Linke machen müssen wie er, was Wilhelm zugab. Die Fortsetzung des Gesprächs hat Valentini mitangehört und so lebendig geschildert, daß sein Bericht hier im Wortlaut folgen soll: „Bethmann fuhr mit einer vor innerer Erregung vibrierenden Stimme in seinem Vortrag fort, ohne von irgend einer Seite unterbrochen zu werden. Was er sagte, war das großartigste Plädoyer über das Thema ,Der Kaiser im Volksstaat'. Mit idealem Schwung sprach er von den überwältigenden Leistungen des Volkes in diesem Kriege, denen gegenüber die letzte Spur von Mißtrauen oder Zurückhaltung staatlicher Rechte unangebracht sei. Nicht die Krisis des Augenblicks, sondern seine feste innerliche Uberzeugung von der Reife des preußischen Volkes f ü r das gleiche allgemeine Wahlrecht wäre für sein Votum bestimmend. Dieses, jetzt freiwillig von der Krone gegeben, bedeute keine Beeinträchtigung, sondern eine außerordentliche Stärkung und Festigung des monarchischen Gedankens. Der Eindruck der Worte und der ganzen Persönlichkeit, voll Kraft und ehrlichster Uberzeugung, war so stark auch beim Kaiser, daß dieser nach Bethmanns Fortgang — gegen 2 U h r - zu mir sagte: ,Und den Mann soll ich entlassen, der alle anderen um Haupteslänge überragt!'" 5 8 ). Was Valentini nicht berichtet, ist die Tatsache, daß der Kanzler die günstige Stimmung des Kaisers dazu benützt hat, ihm auch gleich den Entwurf zur Friedensresolution des Reichstags vorzulesen mit der Bemerkung, d a ß „vielleicht noch einige Korrekturen im Sinn größerer Entschlossenheit angebracht werden würden". Tatsächlich erreichte er, daß Wilhelm zustimmte und ihn ermächtigte, auch im Reichstag seine Zustimmung zu erklären. In der Wahlrechtsfrage behielt er sich aber noch immer die letzte Entscheidung vor. Wahrscheinlich hat ihn erst die bald nachfolgende Audienz Hohenlohes vollends auf Bethmanns Seite gebracht. Der österreichische Botschafter hatte sie ausdrücklich nachgesucht in der Absicht, den Kaiser vor der Entlassung seines Kanzlers zu warnen, und er tat es mit stärkstem Nachdruck und Erfolg: offenbar ist Wilhelm erst aus dieser Unterhaltung ganz klar geworden, welches starke persönliche Vertrauenskapital Bethmann Hollweg bei den Verbündeten besaß, trotz aller uns bekannten politischen Differenzen zwischen ihm und Czernin. Er hat das am nächsten Tag auch dem Kronprinzen gesagt, der morgens in

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Berlin eingetroffen war, und zwar, wie es scheint, in der (Bethmann unerwünschtesten) Form: der Kanzler sei um Österreichs willen unentbehrlich; man müsse ihm also, um seinen Abgang zu vermeiden, das gleiche Wahlrecht konzedieren. Wirksamer war, was Valentini dem Prinzen zur Begründung des neuen Wahlrechtes vortrug. Er erinnerte ihn an den leidenschaftlichen Widerstand der preußischen Konservativen gegen Bismarcks große Neuerungen 1866 und 1870/71 und legte ihm dar, wieviel besser es wäre, wenn die Krone einen solchen Schritt aus freien Stücken täte, als gezwungen durch revolutionäre Unruhen. „Man müßte ja ein Idiot sein, wenn man das nicht einsähe", war die Antwort, und so war der Weg für das neue Wahlrecht frei. Die letzte Beratung f a n d am selben Nachmittag in einer Sitzung des preußischen Staatsministeriums statt. Hier legte Bethmann den Entwurf einer Kabinettsorder vor, die ihn beauftragte, eine Gesetzesvorlage zur Einführung des allgemeinen, geheimen und gleichen Wahlrechtes in Preußen so rechtzeitig ausarbeiten zu lassen, daß bereits die nächsten Wahlen danach stattfinden könnten. D a die Entscheidung bereits festlag, blieb den dissentierenden Ministern nichts übrig, als ihren Abschied einzureichen, und um eine Neubildung des Kabinetts zu erleichtern, stellten auch die andern Minister ihre Ämter zur Verfügung. Die königliche Kabinettsorder erschien am Morgen des 12. in der Presse - sogleich beantwortet durch eine Protestkundgebung der konservativen Partei. Das Ganze war ein großer und ganz persönlicher E r f o l g Bethmann Hollwegs, überraschend nach allem, was vorausgegangen war. Die Kanzlerkrise schien glücklich beschworen. Aber es schien nur so. Der Erfolg des Kanzlers, der sich heilvoll hätte auswirken können, hat statt dessen sein Verderben nur beschleunigt. Denn die O H L bot nun ihr Äußerstes auf, um zu verhindern, daß seine Autorität sich wieder befestigte. Als erster Agitator war natürlich Oberst Bauer tätig, der in allen Fraktionen das Gerücht verbreiten ließ: „Offiziere vom Großen Hauptquartier" hätten berichtet, daß Hindenburg und Ludendorff unter allen Umständen die weitere Zusammenarbeit mit Bethmann ablehnten. Ludendorff halte den Krieg für verloren, wenn der Kanzler nicht gewechselt würde. D a s steigerte die allgemeine Aufregung mehr und mehr zur „Hysterie" (wie es Valentini nannte). Vergebens bemühte sich Helfferich, als Vizekanzler in vielen Verhandlungen mit Fraktionsführern der Linken die dort gewünschte Verfassungsreform weiterzutreiben, d.h. Vereinbarungen zu tref-

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fen, die eine engere Fühlung zwischen Parlament und Regierung ermöglichen sollten. Um das zu erleichtern, waren er und andere Staatssekretäre bereit, ihre Ämter für Parlamentarier zur Verfügung zu stellen. Aber es zeigte sich, daß im allgemeinen die Neigung der Abgeordneten gering war, in so kritischer Lage ein schwieriges Staatsamt zu übernehmen, so daß zunächst keine festen Abreden gelangen. Schließlich wurde ein „Reichsrat" als Verbindungsorgan zwischen Reichsregierung, Bundesrat und Reichstag vorgeschlagen, dem außer dem Kanzler und seinen Staatssekretären auch Vertrauensmänner der größeren Parteien und eine gleiche Anzahl von Bundesratsmitgliedern angehören sollten. Er sollte vor größeren Entscheidungen der äußeren und inneren Politik gehört und laufend informiert werden. Das war offensichtlich nur ein Provisorium, das die ohnedies sehr komplizierte Struktur des deutschen Bundesstaats noch verwickelter und schwerfälliger gemacht hätte, aber doch als erster Schritt zum Umbau der Reichs Verfassung im Sinn der „Parlamentarisierung" Beachtung verdient. Auch über die Friedensresolution, über deren Formulierung der interfraktionelle Ausschuß fortgesetzt weiter diskutierte, wurde natürlich gesprochen. Doch hielt sich hier der Kanzler vor den Parteien mit seinen Äußerungen möglichst zurück, solange ihm noch kein endgültiger Entwurf vorlag - vorsichtig angesichts der Wühlarbeit der O H L - und begnügte sich mit allgemeinen Mahnungen, keine zu „schlappe" Resolution zu machen 59 ). Das alles blieb zuletzt vergeblich, da sich das Interesse der Abgeordneten immer einseitiger auf die Personenfrage konzentrierte. Kronprinz Wilhelm war mit dem offensichtlichen Auftrag der O H L nach Berlin gekommen, die Entlassung Bethmann Hollwegs durchzusetzen 60 ). Am Abend des 11. war er mit seinem früheren politischen Berater, Frh. von Maitzahn, beim Essen zusammen, einem der Haupthetzer der Kanzlerfronde. Auf dessen Vorschlag lud er für den nächsten Vormittag (wohl mit Einverständnis seines Vaters) eine Reihe von Abgeordneten in sein Palais ein, um ihre Ansichten über Bethmann Hollwegs Eignung als Kanzler zu erkunden — ein in der Geschichte der preußischen Krone unerhörter Vorgang! Die Auswahl der Namen (Graf Westarp, Stresemann, Mertin, von Payer, Erzberger, David) war mit Bedacht so getroffen, daß sich ein für Bethmann ungünstiges Ergebnis voraussehen ließ. Oberst Bauer führte im Nebenzimmer während der Besprechung Protokoll 61 ). Am radikalsten griffen natürlich Stresemann und Erzberger die Politik Bethmanns an: „Er verpaßt jede Konjunktur", sagte der Zentrumsführer, „und verhindert dadurch den Friedensschluß." „Er übernimmt keine Verant-

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wortung, er hat keine Gedanken, läßt alles laufen - er hat immer flau gemacht", behauptete Stresemann. Und David, statt für die Reformpolitik des Kanzlers einzutreten, hielt ausgerechnet diesen Augenblick f ü r geeignet, dem Thronfolger einen langen Vortrag über die Wünsche und Ziele seiner Partei zu halten. Keiner dieser Politiker scheint bedacht zu haben, w a s die Wirkung seiner Worte auf den Kaiser sein mußte, dem Bethmann eben erst mit so viel Mühe das Zugeständnis der Wahlrechtsreform abgerungen hatte. Als einziger setzte sich von Payer für das Verbleiben Bethmanns im Kanzleramt ein. Er fand die ganze Szene mit ihrem pünktlichen Antreten der Abgeordneten zum Verhör („wie bei einer Rekrutenmusterung") wenig würdig, j a komisch. Sie w a r aber noch viel würdeloser für die Krone als für die Volksvertreter, und man kann sie nur Symptom einer geschichtlichen Wende nennen. Eine Wende hat sie auch für das Schicksal des Kanzlers bedeutet (den von Payer sofort informierte). Noch am T a g vorher (also vor dem Sieg Bethmanns in der Wahlrechtsfrage!) w a r die Mehrzahl der Mitglieder des Parteienausschusses bereit gewesen, mit ihm weiter zusammenzuarbeiten, wenn er die Friedensresolution annehmen wollte. Auch das Zentrum hatte sich so erklärt - wenn auch mit einem gewissen Vorbehalt, und Erzberger hatte seinen Vorstoß bei Valentini (wie schon erwähnt) ohne A u f t r a g ausgeführt. Jetzt überschattete die Sensation der Kronprinzengespräche alles andere, auch die wichtige Nachricht von der Ankündigung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts für Preußen. Wenn die Krone, wie es jetzt vor der Öffentlichkeit schien, zu schwanken begann, wurden auch die Volksvertreter unsicher. Dies um so mehr, als Stresemann die große Neuigkeit mitbrachte, es sei nun ganz sicher, daß Ludendorff seinen Abschied fordern würde, falls Bethmann Kanzler bliebe. Daraufhin fiel auch das Zentrum um. Und nachmittags ließen die Nationalliberalen, ebenso w i e die Konservativen, Valentini sagen, daß ohne Bethmanns Abgang die Krise nicht mehr zu lösen sei. Es gab keine Mehrheit für den Kanzler im Reichstag mehr. N u n kam alles auf die Haltung des Kaisers an. Dessen Vertrauen zu Bethmann H o l l w e g w a r bis zum Abend des 11. Juli trotz alles Schwankens noch nicht gebrochen - jedenfalls hat er das dem Grafen Lerchenfeld, den er in diesen Tagen mehrfach zu sich berief, ausdrücklich versichert: er wolle Bethmann halten und habe ihm darum auch seine Forderung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts in Preußen zugestanden. Wilhelm schien geradezu nach einer Stütze f ü r seinen Kanzler im Bundesrat zu suchen und ließ das den Vertreter Bayerns deutlich erkennen. Immer w a r er voll Lobes für das hohe

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geistige Niveau und die charaktervolle, vornehme Persönlichkeit Bethmanns. Als Lerchenfeld einmal einwarf, leider fehle ihm eine gewisse Entschlußfreudigkeit, gab er das zu, meinte aber, das sei nur die Folge seiner großen Gewissenhaftigkeit 6 2 ). Außerdem habe ihm großen Eindruck gemacht, daß alle Berichte aus Wien und die Mitteilungen Hohenlohes erkennen ließen, daß die Bundesgenossen den Abgang Bethmanns geradezu als Katastrophe empfinden würden. Uber die Einmischung der Generäle, besonders Ludendorffs, in die Politik beschwerte er sich sehr bitter und berichtete darüber dem Botschafter Österreichs empörende Einzelheiten. Erst am Nachmittag des 12. schlug der Wind plötzlich um. Welchen Anteil daran der Bericht des Kronprinzen über seine Aussprache mit den Abgeordneten gehabt hat, läßt sich nicht genau erkennen. Nach dem Gespräch mit ihnen hatte der Prinz noch die Botschafter Österreichs und Bulgariens (Hohenlohe und Rizow) aufgesucht, um auch ihre Meinung über Bethmann zu hören. Beide hatten aufs stärkste ihre Sympathie, ja Bewunderung für den Kanzler ausgesprochen, und Hohenlohe hat auch nicht versäumt, den Thronfolger dringend vor dem „ C h a r l a t a n " Bülow und dem alten Intriganten Tirpitz zu warnen: beide würden für Österreich unerträglich sein. D a s scheint ihm immerhin Eindruck gemacht zu haben, und Valentini tat in einer gleich nachfolgenden Aussprache alles, um diesen Eindruck noch zu verstärken. Er scheute sich auch nicht, dem Kronprinzen zu sagen, daß „die Thronrechte durch nichts mehr untergraben würden, als wenn der Thronerbe an die Vertreter der Reichstagsparteien die offizielle Anfrage richte, ob sie verlangten, daß der Kaiser seinen ersten Minister entlasse 6 3 )." Gleichwohl muß der Bericht des Kronprinzen, daß der parlamentarische Anhang des Kanzlers auf ein Minimum zusammengeschmolzen sei, den Kaiser tief erschüttert haben. War das der Erfolg so großer politischer Konzessionen an die Linksparteien, die er sich eben so mühsam und widerstrebend hatte abbringen lassen? Welch bittere Enttäuschung! A m selben Nachmittag trat aber auch die O H L wieder in Aktion. Der Kriegsminister von Stein telegraphierte nach Kreuznach: die O H L müsse sofort beim Kaiser telegraphisch dagegen vorstellig werden, daß Bethmann etwa der vom Reichstag geplanten Friedensresolution zustimme, die „als Verzichtfrieden aufgefaßt werden und größtes Unheil anrichten und den übelsten Einfluß auf das Heer haben müßte." Prompt kam der gewünschte Protest Hindenburgs, der zwar den Wortlaut der Resolution gar nicht kannte, aber „allerschwerste Bedenken" dagegen hatte, da sie „die bereits vorhandene Beunruhigung im Heer ver-

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mehren würde" und „alleruntertänigst bat, der Reichsleitung aufzugeben, daß sie eine solche Erklärung verhindere" 64 ). Die Folge war, daß der Kanzler eine „unwirsch und unfreundlich" gewordene Atmosphäre vorfand, als er abends im Schloß Bellevue erschien. Natürlich wurde ihm die vergebliche Konzession des allgemeinen, gleichen Wahlrechts vorgehalten. Von der Friedensresolution wollte der Kaiser nichts mehr wissen, obwohl er ihr doch zwei Tage vorher schon zugestimmt hatte. Als ihm Bethmann den Wortlaut noch einmal vorlas, wollte er zunächst Hindenburgs Meinung darüber hören. So wurde der Text nach Kreuznach telefoniert, und nach einer halben Stunde kam die Antwort: Hindenburg vermisse einen Dank an die Armee; außerdem wollte er gerade die Sätze herausgestrichen haben, die politisch allein wichtig waren; denn sie „würden die Stoßkraft und Widerstandsfähigkeit der Armee erschüttern". Ohne weiteres stimmte Wilhelm diesem Votum zu und beauftragte Bethmann, es den beteiligten Parlamentariern mitzuteilen. Währenddessen lief aber schon eine Meldung aus Kreuznach ein: Abschiedsgesuche Hindenburgs und LudendorfTs wären unterwegs, weil beide mit dem Kanzler nicht zusammen arbeiten könnten. Der Vertreter des Militärkabinetts von Marschall fügte hinzu: Ludendorff habe erklärt, unter allen Umständen auf seinem Willen zu bestehen. Für Bethmann Hollweg war das keine Überraschung. Auf dem seltsamen Umweg über den bayrischen Militärbevollmächtigten im Hauptquartier (der zuerst davon erfahren hatte), aber wohl auch aus den von Stresemann verbreiteten Nachrichten wußte er von diesen Rücktrittsgesuchen und war sich schon seit dem Morgen darüber klar, daß er nun völlig verlassen und einsam auf der politischen Bühne stand. Jetzt erlebte er einen Zornesausbruch des Kaisers über den unerhörten Disziplinbruch seiner höchsten Offiziere, die ihn in eine solche Zwangslage versetzten. Beide wurden sofort telegraphisch nach Berlin beordert, wo der Kaiser sie (auf Lynckers Vorschlag) zur Rede stellen und ihnen den Abschied verweigern wollte. Indessen: Bethmanns Lage wurde dadurch nicht verbessert. Sicherlich hat er keinen Augenblick daran geglaubt, daß Wilhelm II. wirklich der Mann war, den Eigensinn eines Ludendorff zu brechen, und ohne Ludendorff war auch Hindenburg niemals zu halten; denn was war schon der Heros von Tannenberg ohne seinen „Chef"? Im Grunde kam es aber schon gar nicht mehr darauf an, ob die Generäle gingen oder blieben. Gingen sie, so war ein Sturm der öffentlichen Meinung vorauszusehen, der alle politischen Be-

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mühungen des Kanzlers illusorisch machen und über kurz oder lang seinen Sturz und die Rückberufung der Volkshelden erzwingen würde. Nicht eine H a n d hatte sich ja im Reichstage gerührt, dem bedrängten Kanzler gegen die Allmacht der O H L beizustehen - ganz im Gegenteil 6 5 )! Der Aberglaube an das Genie der großen „Feldherrn", die vielleicht doch noch Deutschland zu retten vermöchten, wenn man ihnen alle Hemmungen aus dem Weg räumte, schien alle in Bann zu halten. U n d daß auf den Kaiser kein Verlaß war, trotz der Osterbotschaft und der neuesten Wahlrechtsorder, hatte soeben sein Verhalten in der Frage der Friedensresolution gezeigt. Es war danach sicher, daß der Kanzler, falls die beiden Generäle im Amt blieben, nur die Wahl hatte: ihren willigen Gefolgsmann zu spielen oder sich in neuen, verschärften, ununterbrochenen Konflikten mit ihnen zu verbrauchen. D i e Politik, die er für richtig hielt, war in jedem Fall aussichtslos geworden. Noch am 11. hatte er darauf gerechnet, in den nächsten Tagen in einer großen Reichtagsrede den Beginn einer neuen Epoche deutscher und preußischer Politik anzukündigen, die Friedensresolution als A u f t a k t zu einer Außenpolitik der Verständigung zu begrüßen, die Einführung des Reichstagswahlrechts in Preußen und die Berufung von Parlamentariern in hohe Reichsämter bzw. in den neu zu schaffenden „Reichsrat" anzukündigen und damit eine Verfassungsreform in Preußen und im Reich anzubahnen mit dem Ziel einer Uberwindung altverhärteter Klassen- und Parteigegensätze. Die rasche Bewilligung des neuen Kriegskredits schien dann sicher. D a s alles war an einem einzigen Vormittag zusammengebrochen. Bethmann Hollweg hatte schon am Vormittag des 12. kurz mit dem G r a fen Hertling gesprochen, der auf Bitten Lerchenfelds nach Berlin geeilt war, und den Eindruck gewonnen, daß der bayrische Ministerpräsident wohl bereit sein würde, seine Nachfolge zu übernehmen. Abends beim Kaiser hat er sich mit mündlichen Auseinandersetzungen über seine Lage und seine Rücktrittsabsichten nicht weiter aufgehalten, sondern sich nur kurz mit der Bemerkung verabschiedet: selbstverständlich könne von einer Entlassung Hindenburgs und Ludendorffs keine Rede sein 66 ). Sein Entschluß war längst gefaßt: er hatte endgültig genug. Mit dem Abgeordneten von Payer, der ihm gleich darauf die endgültige Form der Friedensresolution überbrachte mit dem A u f t r a g der Parteien, sie müsse vom Kanzler ohne jede Änderung oder erklärenden Zusatz und ohne Berufung auf seine eigene frühere Friedenspolitik angenommen werden, hat er gar nicht erst weiter verhandelt. E r übergab ihm einfach das Votum Hindenburgs mit der Bemerkung, daß er

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sich ihm „als dem zuständigen Ausdruck der Ansicht der Armee anschließe" — was nur heißen konnte: die oberste politische Entscheidung liege jetzt bei der O H L . Er riet Payer deshalb, mit Hindenburg und Ludendorff unmittelbar zu verhandeln. Wie er selbst über die Friedensfrage dachte, hat er bald darauf in seiner Abschiedsaudienz dem Kaiser deutlich gemacht: er bat ihn dringend (es war seine letzte Bitte), „etwaige Friedensmöglichkeiten auch nicht für angeblich notwendige, bei fortschreitender Kriegstechnik aber leicht trügerische, strategische Sicherungen preiszugeben" 67 ). Es war ein Zeichen seiner ebenso vornehmen wie streng monarchischen Gesinnung, daß er sein Abschiedsgesuch am Morgen des 13. so rechtzeitig Valentini übergab, daß es der Kaiser vor Eintreffen der Generäle in H ä n d e n hielt. Er wollte seinem Monarchen die Peinlichkeit einer Szene ersparen, die schließlich doch mit seiner Unterwerfung unter den Willen der O H L enden mußte. Tatsächlich hat sich Kaiser Wilhelm sehr erleichtert gefühlt, daß er den Herren bei ihrem Eintreffen eröffnen konnte: es sei alles schon erledigt, der Kanzler sei freiwillig zurückgetreten. Er konnte ihnen jetzt sogar gefahrlos „seine Meinung" über ihr Verhalten sagen. Seiner Umgebung hat er wenigstens versichert, das habe er getan. Nach Hohenlohes Bericht scheint es freilich, daß er den ganzen Ernst der politischen Situation nicht recht erfaßt hat. Am 13. früh ließ er den Botschafter kommen, „um mit ihm im Bellevuegarten spazieren zu gehen. Die Kanzlerkrise wurde kaum mehr berührt, der Kaiser war sehr guter Laune und erwähnte nur flüchtig, wie froh er sei, daß sich wieder alles eingerenkt hätte." Abends um 10 Uhr rief er dann freilich Hohenlohe telephonisch an, um ihm mitzuteilen, die „Katastrophe" sei inzwischen ganz unerwartet hereingebrochen. Er habe sich „schweren Herzens" entschließen müssen, Bethmanns Abschiedsgesuch anzunehmen 68 ). Das alles läßt sich wohl nur so erklären, daß Wilhelm II., als Bethmann Hollweg am Abend des 12. nicht um seine Entlassung bat, allen Ernstes gemeint hat, er könne den Streit zwischen O H L und Kanzler durch mündliche Rücksprachen mit den Generälen irgendwie wieder „einrenken". Von der Tiefe des Gegensatzes und dem Ernst der Entscheidung, um die es hier ging, verstand er offenbar nichts. Auch das Galopptempo, in dem die Frage der Nachfolge erledigt wurde, läßt das vermuten. Da Hertling sofort eine Absage gab, (er fühlte sich - mit Recht - zu alt und müde für eine so schwere Aufgabe und war tief empört über die Politik der O H L ) war guter Rat teuer. Ein Hochkonservativer sollte es nicht sein angesichts der neuen Lage im Reichstag. Gegen den Grafen Bernstorff, den Valentini vorschlug, hatte Wil-

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heim I I . natürlich Bedenken und wollte ihn nur d a n n annehmen, wenn H i n d e n b u r g zustimmte. D a sich Valentini weigerte, mit diesem zu verhandeln, sollte der Chef des Militärkabinetts, General von Lyncker, die Mission übernehmen, der aber sofort Bernstorff empört ablehnte. So ist schließlich diese wichtigste aller Personalfragen zwischen den Generälen allein v e r h a n delt u n d entschieden worden: auf Vorschlag Plessens u n d mit freudiger Z u stimmung Ludendorffs w u r d e der Unterstaatssekretär im preußischen W i r t schaftsministerium Georg Michaelis erkoren — ein tüchtiger konservativer Verwaltungsbeamter, politisch ebenso u n b e k a n n t wie unerfahren und u n orientiert. Ein p a a r Tage später h a t er selbst Scheidemann gesagt: „Er sei bisher infolge vieler Arbeit eigentlich n u r als Zeitgenosse neben dem Wagen der großen Politik hergelaufen". Als er sein A m t übernahm, k a n n t e er weder den W o r t l a u t der Friedensresolution noch w u ß t e er etwas von dem Meinungsgegensatz zwischen O H L u n d Reichstag; er glaubte vielmehr, seine B e r u f u n g der Einigkeit beider Instanzen zu verdanken. In Wahrheit hatte niemand daran gedacht, die H e r r e n Gustav Stresemann und Matthias Erzberger auch nur u m ihre Meinung zu befragen. Geheimrat Riezler, der vertraute Gehilfe Bethmanns, hat damals zynisch zu dem Demokraten H a u s s m a n n bemerkt: „Ich habe Ihnen mit dem p a r l a mentarischen System immer widersprochen. Ich bin bekehrt, denn v e r w o r rener als jetzt das herrschende System k a n n es nicht sein 69 ). Er hatte recht. Dieser erste Versuch des Reichstags, eigene große Politik zu machen, h a t t e nichts als Verwirrung gestiftet. Gewiß: m a n besaß jetzt so etwas wie einen Block der „Mehrheitsparteien", mit Linksrichtung. Aber wie dieser Block der Linken mit den neuen Machthabern, d . h . m i t LudendorfT, zusammenwirken sollte, blieb ein Rätsel. Die neue Lage w a r durch eine ausgesprochene M i l i t ä r intrige geschaffen, der sich die Abgeordneten der Mehrheit fast widerstandslos zur Verfügung gestellt hatten. Es w a r deshalb vom ersten Tage an k l a r , wer in dem neuen Bund der Stärkere sein würde. Das Bild der Volksvertreter, die sich gleich nach Bethmanns Sturz am Nachmittag des 13. durch L u d e n dorff z u r „militärischen Vernehmung" (wie Scheidemann das spöttisch nannte) einer nach dem andern ins Generalstabsgebäude einberufen ließen, w a r nichts weniger als imponierend. G e w i ß : sie haben bei der Besprechung sich nicht einfach „belehren" lassen, wie der General sich das dachte, sondern ihre Sicht der Lage ungescheut dargelegt. Aber h a t keiner von ihnen bedacht, was es politisch bedeutete, d a ß sie ihre Politik v o r den Militärs zu rechtfertigen suchten? 70 ) Verfolgt m a n die Ängstlichkeit, mit der selbst die Sozialdemo-

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Z w ö l f t e s K a p i t e l II - D i e J u l i - K r i s e

kraten bemüht waren, Exzellenz Ludendorff nicht durch vorzeitige Veröffentlichung ihrer Resolution zu verstimmen (es gab darüber aufgeregte, nächtliche Besprechungen und telephonische Rückfragen bei dem General), so spürt man hinter allen politischen Erwägungen etwas von jenem Übermaß von Respekt vor dem „bunten Tuch", zu dem nun einmal die Preußen erzogen waren. Noch weniger imponierend war freilich der Versuch der beiden Exzellenzen, durch joviale Aussprachen im Garten des Reichsamtes des Innern mit den Parteivertretern über die Friedensresolution einig zu werden. Vor Bethmanns Sturz war sie als Äußerung feigen Verzagens beschimpft und als bedrohlich für die K a m p f k r a f t der Armee abgelehnt worden. Jetzt versuchten die Generäle - nach Hindenburgs Ausdruck - nur noch, „etwas mehr Pfeffer" hineinzubringen und gaben sich schließlich zufrieden, als ein bewundernder D a n k an die Armee hinzugefügt wurde (der den Eindruck des Ganzen höchst zwiespältig machte). Außerdem wurde eine Wendung gestrichen, aus der das Einverständnis der O H L herausgelesen werden konnte. Dies aber geschah durch friedliche Verständigung mit demselben Scheidemann, der bis dahin als Ausbund unpatriotischer Gesinnung verketzert worden war.

So begann der politische Triumph der O H L . Es ist längst zur festen Tradition der deutschen Geschichtschreibung geworden, den Kriegskanzler von Bethmann Hollweg einen „Unglücksmann" zu nennen und seine Politik des „Lavierens" als Zeichen „mangelnder Führerschaft" auszulegen - so ziemlich mit denselben Wendungen, wie sie schon Stresemann gebraucht hat. Mit Erzberger (und dem ebenso gescheiten wie schnoddrigen General Hoffmann) spricht man von einer Politik der „verpaßten Gelegenheiten" - meist ohne auch nur anzudeuten, welche günstigen Chancen denn eigentlich verpaßt worden sind - und erklärt sie mit „Willensschwäche" und „Entschlußlosigkeit" des Kanzlers. Den am häufigsten zu hörenden Vorwurf gegen ihn hat bereits Scheidemann in seinen Memoiren formuliert: er wollte es allen Parteien recht machen und kam dadurch zuletzt zwischen alle Stühle zu sitzen. Unsere Darstellung hat sich bemüht, unabhängig von solchen Generalurteilen bis in die letzten Einzelheiten hinein die Motive, die Erfolgschancen

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und die Hindernisse seiner Politik sichtbar zu machen und sie aus den weitesten, universalhistorischen Zusammenhängen seiner Epoche zunächst einmal zu verstehen. Was sich dabei vor unseren Augen enthüllte, war nicht das Bild einer charakterschwachen Persönlichkeit, die es allen zugleich recht machen wollte und es darüber zuletzt mit allen verdarb, sondern die erschütternde Tragödie eines charakterlich höchst achtbaren Staatsmannes, der mit verzweifelter Anstrengung, aber niemals verzweifelnd, sich mühte, aus der Verstrickung eines übermächtigen Kriegsschicksals sich loszuwinden und für sein Volk in hoffnungsloser Lage einen Ausweg ins Freie zu finden. Er hat sein Handeln niemals von dem Wunsch bestimmen lassen, es „allen recht zu machen", sondern ausschließlich das zu tun versucht, was er als verantwortlicher Leiter der Reichspolitik für notwendig und vernünftig hielt. U n d weil er eben so handelte, wie er es vor seinem Gewissen allein verantworten konnte, hat er es mit so vielen verdorben, denen er entweder zuviel oder zu wenig tat. Was ihm fehlte, war das Mitreißende einer immer selbstgewissen, immer zielsicheren Führernatur. Er erschien oft unsicher in seinem Urteil über kommende Möglichkeiten, fragte dann gern Experten, auch militärische, und verlor dabei erst recht an Sicherheit der eigenen Entscheidung, auch wohl an Autorität. D a s lag nicht etwa an mangelndem Wirklichkeitssinn, auch nicht bloß an der natürlichen, im Kriege noch vielfach gesteigerten Unsicherheit aller politischen Voraussicht. Seine Gegner haben ihm den albernen Nachnamen des „Philosophen von Hohenfinow" angehängt. N u n : wer unsere Darstellung bis ins einzelne verfolgt hat, wird von weltfremder Abstraktion gar nichts, um so mehr aber von unbeirrbar klarer, nüchterner Einsicht in die wirkliche Lage Deutschlands bemerkt haben. Gerade um ihretwillen haben ihn seine nächsten Mitarbeiter immer wieder bewundert. Aber was ihm sein Blick auf die politische Wirklichkeit offenbarte - heller als den meisten seiner Landsleute - , war eine verzweifelt schwere, letztlich aussichtslose Lage Deutschlands in der Welt. Er hat sich dadurch nicht entmutigen lassen, sondern zähe weitergekämpft. Aber er war nicht der Mann, sich mit raschen, gewagten Entschlüssen über alle Zweifel, Probleme und Gefahren hinwegzusetzen, sondern mußte sich immer wieder erst zum Entschluß durchringen: bedachtsam und gewissenhaft bis zur Schwerfälligkeit, immer sorgenvoll, ohne seelische Entlastung durch die Gnadengabe eines gesunden Humors. So konnte er auf Fernerstehende oft unentschlossen und halb, auf seine nächste Umgebung zuweilen bedrückend wirken - aber dann auch wieder imponie-

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rend durch die unerschütterliche Festigkeit des Charakters in besonders schweren Stunden — in seinen Reichstagsreden sogar oft hinreißend durch die Wucht und Echtheit seines sittlichen Pathos. Alles in allem: er war nicht weltfremd, kein müßiger Grübler, aber ein Intellektueller ohne ganz sicheren Machtinstinkt und ohne robuste Nerven — d a f ü r auch frei von jeder Verfallenheit an das Dämonische der Macht, deren Besitz er nicht genoß, sondern als eiserne Verpflichtung zum Dienst am nationalen Staat und an der ererbten preußisch-deutschen Monarchie verstand. Ein märkischer Edelmann, aber mit reichem, westdeutscher Familientradition entstammendem Geisteserbe, ohne alle junkerliche Enge, von menschlich vornehmer Gesinnung und großer Wahrhaftigkeit (wie sie auch sein ungewöhnlich ehrliches Memoirenwerk bezeugt). Eben darin lag auch die Grenze seines Vermögens. Er war durchaus nicht „willensschwach", sondern hat seine Ziele mit erstaunlicher Zähigkeit und tapferer Konsequenz verfolgt. Indessen war er keine Kämpfernatur, kein robuster Willensmensch, der unbekümmert seine eigenen Machtziele verfolgt und dafür kein Mittel scheut, auch nicht Verschlagenheit, Lüge und Hinterlist, wenn er nicht anders vorankommt. Er war feinnervig, gewissenhaft und sorgenvoll; das brachte ihn in Nachteil im Kampf mit einem so rücksichtslosen Willensmenschen wie Ludendorff. Was ihn aber schließlich scheitern ließ, ist nicht seine angebliche Willensschwäche gewesen, sondern das Problem, das im Mittelpunkt dieses Buches steht: das Problem des deutschen Militarismus. Gegen erfolgreiche Soldaten haben es die Politiker im Kriege immer schwer, Autorität zu gewinnen und zu behaupten. D a ß und warum es in Deutschland besonders schwer sein mußte, ist das Grundthema dieses Werkes vom ersten Band an und braucht hier nicht wiederholt zu werden. U m eine Politik der Mäßigung in den Kriegszielen und der Versöhnung von Klassen- und Parteigegensätzen im Innern, wie sie Bethmann vorschwebte, gegen alle militaristischen und nationalistischen Widerstände durchzusetzen, hätte der Reichskanzler eine starke, geschlossene Volksbewegung hinter sich bringen müssen. Wie aber sollte das gelingen in der Hitze nationalistischer Leidenschaften des totalen Volkskriegs und in der besonderen Lage, in der sich ein kaiserlicher Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident nun einmal gefangen sah? Wir haben die besonderen Schwierigkeiten dieser Lage ausführlich und von allen Seiten her betrachtet. Bethmann selbst hat sich in einem Gespräch mit Weizsäcker am 8. Mai 1917 gegen den Vorwurf des ewigen „Lavierens" da-

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mit gewehrt, daß er bemerkte: schon Bismarck habe ihm einmal gesagt, nur im Weg des Lavierens könne er die Geschäfte führen 71 ). Und ähnlich im September 1917 in einem Brief an den Herausgeber der „Preußischen Jahrbücher" Hans Delbrück: nach der Struktur des deutschen Staatswesens sei jeder Kanzler auf eine Politik der Diagonale angewiesen. „Aber auch die Diagonale ist ein gerader Weg, und ich glaube ihn gegangen zu sein 72 ). In der Tat: nur im konsequent durchgeführten System des Parlamentarismus ist ein anderer Weg gangbar. Aber in jenem Schreiben an Delbrück hat Bethmann auch angedeutet: von ihm aus habe kein Hindernis bestanden, im Sommer 1917 den Weg der Diagonale zu verlassen und die Möglichkeit zu ergreifen, die sich ihm damals zum ersten Mal darzubieten schien: mit einer festen Parteimehrheit zu regieren. Bis dahin habe er über keine feste Mehrheit verfügt, „oder höchstens eine, deren Geschäfte ich nicht betreiben konnte oder wollte". Erst im Sommer 1917, nach der großen Ernüchterung, schien sich das zu ändern, schienen sich neue Möglichkeiten zu eröffnen. Wer die Schuld daran trägt, daß der Versuch zuletzt gescheitert ist, darüber zu urteilen kann ich dem Leser dieses Buches überlassen. O b ein anderer Reichskanzler, eine schroffere Kämpfernatur, mehr erreicht hätte, vermag kein Nachlebender zu sagen. Sicher ist nur: daß mit der Tragödie Bethmann Hollwegs sich auch die Tragödie der „Staatskunst" in Deutschland vollendet hat. Was nachfolgte, war eine Epoche, in der man von einem „Problem des Militarismus" in dem bisherigen Sinn kaum noch reden kann. Denn der Militarismus war jetzt kein Problem mehr. Er war die harte Wirklichkeit.

ANMERKUNGEN (Quellennachweise und

Ergänzungen)

A N M E R K U N G E N Z U M 1. K A P I T E L !) Vgl. Bd. II, Kap. 6 und meine dort (Anm. 7 zu S. 135) zitierte Schrift „Europa und die deutsche Frage", die 1962 u. d. T. „Das deutsche Problem. Grundfragen deutschen Staatslebens gestern und heute" bei R. Oldenbourg, München, in veränderter Form neu erschienen ist (Kap. IV, 3). Zur Vorgeschichte des Weltkrieges vgl. auch meinen Aufsatz „Eine neue Kriegsschuldthese?" HZ 194 (1962), der sich kritisch mit F. Fischers Thesen auseinandersetzt, ebenso wie mein Artikel „Bethmann Hollweg im Schlaglicht des deutschen Geschichtsrevisionismus" in: Schweizer Monatshefte Jg. 42, Nov. 1962, und mein Beitrag zur Festschrift für P. E. Schramm: „Bethmann Hollweg und die Machtträume deutscher Patrioten im ersten Jahr des Weltkriegs" (1964). 2) So L. Dehio: HZ 194, S. 134 u. ö. 2 a ) Ein besonders eindringlicher Beleg dafür findet sich in einem Schreiben an den Krönprinzen vom 15. 11. 1913, der auf schneidige Aktionen drängte: „In einem künftigen Kriege, der ohne zwingenden Anlaß unternommen wird, steht nicht nur die Hohenzollernkrone, sondern auch die Zukunft Deutschlands auf dem Spiel . . . Mit dem Schwert rasseln, ohne daß die Ehre, die Sicherheit und die Zukunft des Landes bedroht sind, ist nicht nur tollkühn, sondern verbrecherisch." S. H. G. Zmarzlik: Bethmann Hollweg als Reichskanzler, 1909-14 (1957), S. 81. 3 ) Bd. II, S. 343. Vgl. auch meinen Aufsatz: „Der Anteil der Militärs an der Kriegskatastrophe von 1914", in: H Z 193 (1961). Uber Bethmanns pessimistischen Fatalismus vgl. jetzt K. D. Erdmann: Zur Beurteilung Bethmann Hollwegs, in: G W U September 1964 (XV, 9) 525 ff. Die hier erstmals verwerteten (und feinsinnig ausgedeuteten) Tagebücher Riezlers sind unschätzbar als Zeugnis der Wirkung, die B.H. auf seine nächste Umgebung ausübte, aber vielfach auch als Offenbarung geheimer Gedankengänge und letzter Absichten des Kanzlers. Allerdings tragen die Tagebuchnotizen stark emotionalen Charakter und müssen schon deshalb mit Vorsicht benützt werden, weil Riezler wohl nicht eigentlich homo politicus war, jedenfalls der nüchternen Wirklichkeitssicht Bethmanns nicht gleichkam.

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4 ) Belege dafür u. a. bei Graf Westarp, Konservative Politik, Bd. I I (1935), passim, S.22 besonders des S. 301 ff. Die konservative Partei war in ihrem Kampf gegen den Kanzler nicht nur durch ihre grundsätzliche Scheu vor „Eingriff in die Kronrechte" (in der Ernennung und Entlassung von Ministern) gehemmt, sondern mehr noch durch die seit 1908 immer noch nicht ganz geschlichtete Ungnade Wilhelms II. über ihr damaliges Versagen als Paladine des Throns. Der gefährlichste Gegner Bethmanns bei Hofe, der politische Berater des Kronprinzen, Landrat von Maitzahn, wurde im Juni 1916 abgelöst, ohne aber seine politische Rolle deshalb aufzugeben. 5 ) Direkte Quellenzeugnisse liegen kaum vor. Vgl. aber Valentini. 162. - Die Memoiren s.22 Wilhelms II. (Ereignisse und Gestalten, 1924) betonen außer menschlich sympathischen Eigenschaften das hohe Ansehen, das Bethmann bei den Bundesregierungen und im Ausland (sogar während des Krieges) genoß. Er hat sich aber das Vertrauen des Kaisers erst erwerben müssen. Nach Valentini: p. 121, hat sich dieser 1909 erst lange gegen seine Berufung als Nachfolger Bülows gesträubt: „Er doziert immer und will alles besser wissen" m. a. W.: er war ihm zu humorlos und zu steifnackig. - In der radikalen Ablehnung einer Wiederberufung Bülows hat der Kaiser nie geschwankt. 6) A. v. Müller, 50. Das Folgende ebd. 53 und 366. s. 23

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) House, II, 139. ) Nachlaß des Staatssekretärs Grafen Roedern mit interessanten, 1919 v e r f a ß t e n E r innerungen aus den Kriegsjahren, mir zugänglich gemacht durch Vermittlung des Göttinger Max-Planck-Instituts f ü r Geschichte (Prof. Heimpel). Es ist erschütternd zu lesen, wie der konservative Monarchist Roedern nach dem Umsturz von 1918 sich mit tiefem Schmerz eingesteht, d a ß der Fall der Hohenzollernmonarchie schlechthin unvermeidlich und n o t wendig geworden sei, weil ihre letzten Vertreter restlos versagt hätten. - Die Szene in Straßburg kurz erwähnt auch bei v. Müller, Kriegstagebücher 133. 9 ) „Ereignisse und Gestalten", S. 116ff.: der Kaiser fühlt sich ausgeschaltet aus allen militärischen Entscheidungen, v. Müller, 68: „Wenn man sich in Deutschland einbildet, d a ß ich das H e e r führe, so irrt man sich sehr. Ich trinke Tee und säge H o l z und gehe spazieren, und dann erfahre ich von Zeit zu Zeit, das und das ist gemacht, ganz wie es den H e r r e n beliebt." N u r der Eisenbahnchef Groener sei nett genug, ihn über alle seine Pläne zu unterrichten (zu Prinz Max von Baden, 6. 11. 1914). 10) Vgl. K. H. Janßen, Kriegszielpolitik. 11) Vgl. E. Deuerlein, Bundesratsausschuß, bes. S. 189 ff., 227. Über die oft hilfreiche, gelegentlich aber auch hemmende Rolle des Bundesrats vor dem Krieg vgl. H. G. Zmarzlik Kap. II. Ii» v. Tirpitz, Erinnerungen 231. In Dokumente I I , 103 (an P r i n z Heinrich, 10.9. 1914) ist von 6 - 8 weiteren Friedensjahren die Rede. 12) Westarp II, 107 nennt besonders Tirpitz' Schwiegersohn v. Hassell und den K a p i t ä n Löhlein, Vorstand des Nachrichtenbüros im Reichsmarineamt, der aber sehr vorsichtig gewesen sei, ferner den hochkonservativen L a n d r a t von Maitzahn als seine Mittelsmänner. Löhlein leugnete in einer schriftlichen Erklärung a n das Auswärtige Amt vom 8. 3. 1915 jede A r t von Betätigung zum Sturz Bethmanns im Auftrag und zugunsten Tirpitz' r u n d weg ab: A. A. Personalakten Bethmann Hollweg, Deutschland 122, N r . 16, Bd. 8 Über das Mißtrauen Bethmanns gegen Tirpitz vgl. u. a. von Müller 76,9 u. ö. C . Haussmann, Schlaglichter 25. Tirpitz: Dokumente I I , 96. Westarp, I I , 29, 304. Bemühungen Bethmanns im Oktober 1914, von Maitzahn aus seinem Posten zu entfernen, ebd. 307. Ein erstaunliches Beispiel seiner raffinierten Technik der Verleumdung bietet Tirpitz selbst: D o k . II, 102: Brief an P r i n z Heinrich vom 10. 9. 1914: „Es schwirren Gerüchte in Deutschland herum von einer Flaumacherei gegen England. Wenn d a r a n etwas Richtiges ist, w ü r d e ich das sehr b e d a u e r n . . . " England muß unter allen Umständen niedergekämpft w e r d e n . . . Leider haben wir die Flotte 6 - 8 Jahre zu langsam gebaut, denn der Kanzler wollte Entgegenkommen gegen England, „schwache Flotte", Verständigung, unterstützt von Pazifisten, Gelehrten, Pastoren, Geschäftsleuten... „Durch Deutschland geht das unheimliche G e f ü h l , d a ß der Versuch des Entgegenkommen gegen E n g l a n d . . . wieder aufgenommen werden soll. Bankkreise gehen hierbei jedenfalls voran. Ich will hier ohne ausreichende Unterlagen kein Urteil aussprechen, d ü r f t e es auch nicht." D e r Prinz soll aber einen Vertrauten zur I n f o r m a t i o n ins Reichsmarineamt schicken... Vgl. a. die Fühlungnahme eines ungen. hohen Offiziers im Reichsmarineamt mit dem wütenden Bethmann-Gegner H . Class und den Alldeutschen gleich zu Kriegsanfang: H. Class; Wider den Strom (1932) 320. 8

13) Bericht des bayr. Gesandten in Stuttgart Moy, 1 3 . 1 . 1 9 1 5 , über eine U n t e r h a l t u n g mit dem Baron von Plessen von der deutschen Botschaft in R o m ; - (G. St. A. München Pol. A. V I I N r . 30). Westarp, II, 304. Haussmann, 12 ff., 20 (Äußerungen Rathenaus), 24. Kritische Äußerungen des Bankdirektors A. v. G w i n n e r bei Tirpitz; Dokuments I I , 65. D a s vollkommene „Versagen" der deutschen Diplomatie im Juli 1914 bildete eines der Hauptagitationsmittel der Alldeutschen gegen Bethmann Hollweg, s. H . Class, 301 ff., 310 ff.

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1 4 ) Aus den von Tirpitz selbst veröffentlichten Dokumenten „Deutsche Ohnmachts- s.27 politik im Weltkrieg" ( = Dok. II, 1926) und von Müllers Tagebuchaufzeichnungen 1. c. Das Werk des Marinearchivs „Der Krieg in der Nordsee" I, bearb. von O. Groos (1920) 83, hebt u. a. hervor, daß die einseitige Vorbereitung auf die Seeschlacht sich als Hindernis bei jedem Versuch erwiesen habe, die britischen Truppentransporte zu stören. Die Aussichtslosigkeit einer Seeschlacht beleuditet sehr interessant die von T i r p i t z erbetene, ihn enttäuschende Denkschrift des Admirals Lenz. Tirpitz: Dokumente II, 85-89. S.28 15) Tirpitz: Dokumente II, 61. B e t r a c h t u n g e n I I (1921), 8

ff.

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17) Tirpitz: Dokumente II, 109, ferner 42, 48, 78; dazu O. Groos: Nordsee I, 81 f. s.28 l g ) U m so raffinierter, als das Interview dem Ausw. Amt absichtlich verspätet z u r s.29 Zensur vorgelegt wurde. Abdruck: Tirpitz: Dokumente II, 621 ff. Vgl. auch v. Müller, 76 f. und Westarp II, 91 ff. Man liest den Wortlaut heute nicht ohne Erstaunen sowohl über die Plumpheit der darin geäußerten Angriffe auf England (ausschließlich f ü r die deutsche Leserschaft berechnet) wie über die bedenkenlose Renommage mit einer n u r erst in bescheidensten Anfängen existierenden Waffe. l') v. Müller: Tagebudi, 87, 89 u. ö. Tirpitz: D o k u m e n t e II, 80. Zeitweise hat sich Tirpitz auch zu der Phantasie aufgeschwungen, der alte Hindenburg sollte Reichskanzler, Chef des Generalstabs und der Admiralität in einer Person werden: Tagebucheintragungen v o m J a n u a r und März 1915: Erinnerungen 443, 457, 460 f., 462, 466. 20) Westarp, I I , 125. 21 ) 20 Briefe an Dr. Wyneken, C h e f r e d a k t e u r der „Königsberger Allgemeinen Zeitung", 1915-19, im Anhang des etwas konfusen Buches L. G. von dem Knesebeck: Die Wahrheit über den Propagandafeldzug und Deutschlands Zusammenbruch (1927), S. 151 ff. I m Sommer 1916 beginnt der Umschlag von Ludendorffs Meinungen im Zusammenhang mit dem Nachgeben Deutschlands in der U-Boot-Frage. - In den Akten der Reichskanzlei (Z. A. Potsdam, R . K. VII, 4-6) findet sich ein sehr herzlich gehaltener Briefwechsel Bethmanns mit Hindenburg, 8. 7.-7. 12. 1915, der von Versicherungen gegenseitiger Ergebenheit ganz erfüllt ist. 22) A. A. Deutschland, 122, 16, Bd. 6 (Personalakten B. H.). 23 Ich konnte eine im Besitz des Lautarchivs des Deutschen R u n d f u n k s in F r a n k f u r t a. M . befindliche, recht gute Schallplattenaufnahme aus der Reichstagsrede vom 27. 2. 1917 hören, leider nur ein sehr kurzes Fragment umfassend. Erstaunlich ist, aus Scheidemanns Memoiren (Der Zusammenbruch 1921, S. 33) zu erfahren, d a ß Bethmann seine schriftlich sehr sorgfältig vorbereiteten Reichstagsreden mühsam memorierte, um sie ohne Benützung des Manuskripts frei vortragen zu können. 24 Vertrauliches Gespräch mit Min.Präs. von Weizsäcker, 1 3 . 5 . 1 9 1 7 (von diesem a u f gezeichnet, Nachlaß Weizsäcker): „Sein Blick auf die Konservativen, die (im Reichstag am 4. 8. 1914) eiskalt da saßen, sei ihm ein furchtbarer Moment seines Lebens gewesen." 25) Brief C. Haussmanns an Min.Präs Frhr. v. Weizsäcker in dessen Nachlaß ( P r i v a t besitz der F r e i f r a u v. Weizsäcker, Lindau). 26) Westarp, I I , S. 1. 27) B. A. Nachlaß H a e f t e n , M a p p e 1. Delbrück ließ den Entwurf zuerst durch H a r n a c k umarbeiten, Bethmann dann nochmals durch R. Koser. 28) B. A. ebd. - Cl. Delbrück: D i e wirtschaftliche Mobilmachung in Deutschland 1914 (a. d. Nachlaß 1924) 128 f. berichtet offenbar irrig, der Kanzler habe die Proklamation abgelehnt. Über die A u f n a h m e der seltsamen, sdion in Bd. II, S. 339, erörterten „militärpolitischen" Forderungen Moltkes vom 2. August, die einen Versuch darstellten, dem Kanzler die Führung der Außenpolitik aus der H a n d zu nehmen, ist nichts bekannt.

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29) Vgl. A n m . 30! ) Wir brauchen hier nicht die ganze Sintflut deutscher Wunschträume und Forderungen noch einmal v o r z u f ü h r e n . Das ist bereits bei F. Fischer, a. a. O., in aller Breite geschehen, der aus der Kriegszielliteratur und der Stellungnahme Bethmanns ein hemmungsloses deutsches Streben nach Weltmacht herausliest, kaum einen Blick auf parallele Erscheinungen im Ausland wirft und nicht einmal den Versuch historischen Verstehens unternimmt. Reichen, großenteils ungedruckten Quellenstoff bieten zwei umfängliche Arbeiten meiner Schüler: Klaus Schwabe: Die deutschen Professoren u. d. polit. G r u n d f r a g e n des 1. Weltkrieges (Freiburger Diss. 1958, ungedr.), dazu der zusammenfassende Aufsatz: Z u r politischen H a l t u n g der deutschen Professoren im 1. Weltkrieg, H Z 193 (1961) und Karl Heinz Janssen: Macht u n d Verblendung, 1963 (schon oben zit.). Vgl. ferner: Volkmann: U A . IV, 2., Bd. 12, 1929. - H. W. Gatzke: Germanys D r i v e to the West. Baltimore 1950. I. M. Geiss: Der polnische Grenzstreifen 1914-18. 1960. (Schüler Fischers.) - Paul Rohrbach: Chauvinismus und Weltkrieg. Bd. I I . Die Alldeutschen, 1919. 30

31 ) Denkschrift Erzbergers vom 2. 9. 1914 mit Begleitschreiben an B. H., eing. 5. 9. 1914: Z A Potsdam Reichskanzlei (RK) 2476, gedr. bei Tirpitz: Dokumente II, 68-72. Entwurf der sehr vorsichtigen A n t w o r t B. H.s bei W. Basler: Deutsche Annexionspolitik in Polen u n d Baltikum (1962), S. 29, Anm. 22 (aus Z A Potsdam, a . a . O . ) . Sie vermied jedes Wort der Zustimmung und bemerkte nur: „Unter allen Umständen müssen wir bis zur völligen Sicherung der deutschen Zukunft durchhalten. Wenn auch alle Möglichkeiten durchdacht werden müssen, so hängen die schließlichen Entschlüsse doch noch ganz von der weiteren Entwicklung ab." - Einen etwas gedämpfteren, aber immer noch sehr weitgehenden und höchst dilettantischen Kriegszielplan Erzbergers vom 28. 6. 1915, gibt Westarp II, 53, aus Akten der R K wieder. Eingaben des Tyssenkonzerns, 2 8 . 4 . 1 9 1 4 , unter Berufung auf Erzberger, an das Auswärtige Amt, in dem Aktenband A. A. Weltkrieg 15 geh. Bd. 1: Memoranden über Kriegsziele. - Schon vorher (26. 8.) hatte Bethmann Delbrück angewiesen, festzustellen, wie weit sich die Erzlager von Briey erstrecken. Am 3. 9. übersandte ihm der Statthalter von Elsaß-Lothringen v. Dallwitz Vorschläge Röchlings wegen der Erzgruben. Bethmann wünschte jetzt auch von Dallwitz Näheres darüber zu hören (Briefwechsel vom 3.9., 9 . 9 . , 14.9., 17.9). Am 17.11. w u r d e Delbrück ersucht, ein Minimalu n d M a x i m a l - P r o g r a m m des in Briey-Longwy zu Fordernden aufzustellen. A. A. Friedensschlüsse, N r . 21, Bd. 1. Auf den politischen Sachverstand deutscher „Wirtschaftsführer" wirft ein bezeichnendes Licht, was H. Class, 327, über eine Unterhaltung mit H u g o Stinnes H e r b s t 1914 berichtet: dieser wünscht sich den Journalisten Weiss von der F r a n k f u r t e r Zeitung zum Nachfolger des verhaßten Bethmann Hollweg! S. 38 32) Die Denkschrift v. Class, im September entstanden, w u r d e auf Beschluß des alldeutschen Vereinsvorstands als Privatdruch in fast 2000 Exemplaren gedruckt und an zahlreiche Adressen versandt, deren die Polizei bei der Beschlagnahme (12. 1. 1915) nicht mehr habhaft werden konnte. S. H. Class, 343 ff., 345 ff. Ein Abdruck ging mit Zuschrift an J a g o w (23.12.) dem Auswärtigen Amt z u : A . A . W K r . 15 geh. Bd. 6, adhib. Ebd. Bd 1 findet sich die Denkschrift des Herzogs von Mecklenburg, am 7. 7. 1915 als Privatdruck dem Kanzler übersandt, von diesem am 17. 7. beantwortet. Ferner eine Denkschrift des K r o n p r i n z e n Rupprecht von Bayern, am 29. 7. 1915 dem Kaiser übersandt, von diesem mißbilligt, durch Treutier an Bethmann weitergeleitet, offenbar identisch mit der von F. Fischer, 213 f. erwähnten. Rupprecht h o f f t auf freiwilligen Anschluß H o l l a n d s und Luxemburgs als neue Bundesstaaten ans Reich, wenn man sie durch belgisch-französische Industriegebiete v e r g r ö ß e r t . Frankreichs N o r d g r e n z e soll von Etaples (südlich Boulogne) über Arras-Soissons-Montmedy bis in die H ö h e von Metz verlaufen, also die n o r d f r a n z ö sische Festungskette o p f e r n .

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33) Valentini, 252. S.38 34 ) Näheres siehe in der schon zitierten Arbeit von Kl. Schwabe. Als die würdigste u n d s.39 geistig gehaltvollste Schrift der deutschen Kriegspublizistik erscheint mir auch heute noch das Sammelwerk: Deutschland und der Weltkrieg, hrsg. v. O. Hintze, Fr. Meinecke, H. Oncken und S. Schumacher, 1915. D a r i n u. a. ein f ü r uns besonders interessanter Versuch Meineckes, den deutschen „Militarismus" gegen seine Ankläger zu verteidigen. Auch die Ausführungen O. Hintzes über die Beseitigung der Welthegemonie haben geistigen Rang. 35) Privatbrief an J a g o w A. A. W K r . 15 geh. Bd. 6 adhib. Solf ist bereit, ein ganzes s.39 „Florilegium" in Berlin umlaufender, zum Teil abenteuerlicher Friedenspläne ins H a u p t quartier zu liefern. Fischer, a. a. O., 109 f., deutet nur indirekt an, d a ß Solf Gegner europäischer Annexionen w a r ; er schildert d a f ü r um so ausführlicher seine kolonialen Erwerbspläne, um den Eindruck des hemmungslosen Imperialismus zu erwecken. Solf h a t seine Warnungen am 25. 9. (an Jagow) wiederholt und über die Germanisierungsapostel in der E t a p p e gespottet; er legte aber doch jetzt Vorschläge zur strategischen Verbesserung der Westgrenze in Form einer K a r t e bei, die deutsche Erwerbungen begrenzten U m f a n g s v o r sahen (ebd.). 36 ) Ein ähnlicher Gedanke findet sich auch in einer umdatierten großen Denkschrift der Abt. II des A. A. (nach einer Bleistiftnotiz: 1. 10. 1914): Anregungen = Vorschläge für den Friedensschluß mit Frankreich. Der Verf. will Belgien „im Prinzip" einverleiben, aber zunächst als „auswärtige Besitzung" verwalten, die belgisch-französischen Küstengebiete als Druckmittel gegen England besetzt halten, sie aber freigeben, wenn sich dadurch der Friede mit England erreichen läßt. A. A. W K r . 15 geh. Bd. 1. 37) Denkschrift vom 29. 10. A. A. W k r . 15 geh. Bd. 6 adhib. 42 Spalten, nur teilweise abgedruckt von Volkmann, a . a . O . , 187-193. Eine ähnliche Stellung zu R u ß l a n d vertrat in der Öffentlichkeit der Historiker O t t o Hoetzsch, der durch Graf Westarp und die „Kreuzzeitung" auf die konservative Partei wirkte; doch stand er den Alldeutschen viel näher, vgl. Kl. Schwabe, a. a. O., Tl. I, K a p . 4. 38) Es ist mir vollkommen unbegreiflich, wie F.Fischer, 126, behaupten k a n n , L o e b e l l h a b e sich in dieser Denkschrift „auf entschiedene Weise zugunsten weitgehender Annexionen im Osten geäußert". Das geschah auch nicht in dem Begleitschreiben vom 4. 11., mit dem L. sein Memorandum an Bethmann übersandte: Z. A. Potsdam R.K. 2476. Auch S. 343 f. wird Loebell von Fischer unter die wildesten Annexionisten eingereiht. 39 ) Das „wohl" hat Bethmann eigenhändig in den (gleich noch zu besprechenden) E n t wurf Riezlers eingefügt. Er behielt sich also die „Spitze" u. U. vor! 40 ) Die Frage, welchen Anteil etwa Bethmanns politischer Sekretär, V o r t r . R a t Riezler, (dessen Buch „Grundzüge der Weltpolitik in der Gegenwart", unter dem Pseudonym R u e dorffer 1913 erschienen, viel von Wandlungen der machtpolitischen Gegensätze durch internationale Verbindungsfäden der Wirtschaft spricht) an der Ausbildung des Europa-Planes gehabt hat, wird sich erst beantworten lassen, wenn sein in Tagebuchform erhaltener Nachlaß der Forschung zugänglich wird. Die „Septemberdenkschrift" ist eigenh. von Riezler konzipiert, ebenso ein Teil der anschließenden Korrespondenz. Es scheint, d a ß die H a l t u n g Riezlers madhtpolitisch schärfer profiliert w a r als die des Kanzlers, der schwer unter seiner Verantwortung litt und schon im Oktober die Möglichkeit einer Niederlage ins Auge faßte.

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41 Delbrück seinerseits hat den „Wirtschaftsbund" offensichtlich als Interessenvereini- s.42 gung, nicht als Zwangsverband betrachtet, denn er erhob (in vorsichtiger Form) gegen Bethmanns noch zu erörternde Forderungen an Frankreich den Einwand, d a ß die Annexion des Erzbeckens von Briey unnötig, und eine schwere Belastung Frankreichs mit K o n t r i butionszahlungen höchst unratsam sei, wenn der Wirtschaftsbund zustande k ä m e : Delbrück

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Anmerkungen zum 1. Kapitel

an B.H. 13. 9., bei F. Fischer, 109, Anm. 14, irrig als Erlaß Bethmanns zitiert. E. Zechlin: Beil. 20/63 zur Wochenzeitung „Das Parlament", S. 14 ff., möchte den Mitteleuropaplan Bethmanns wesentlich als Mittel des „Wirtschaftskriegs" gegen England, also als vorübergehende K a m p f m a ß n a h m e deuten. Das scheint mir schon deshalb nicht möglich, weil Bethmann 1915 solche Gedanken, die ihm Falkenhayn entwickelte, als Utopie abgewiesen hat, s. u. Kap. 4. S. 43

S.44 5.44 5.45

42 ) Korrespondenz Bethmann-Delbrück in Bd. 2476 der Reichskanzlei Z. A. Potsdam, auch für das Folgende: Schreiben B.H.s an Delbrück nebst vorläufiger „Aufzeichnung" über die zu erstrebenden Kriegsziele. Beides vom 9. 9. 1914. Ders. an dens. 16. 9. und 22. 10. Delbrück an B.H. 3. 9. und 13. 9. Neuerdings sorgfältiger Abdruck der Stücke vom 9., 13. und 16. 9. durch E. Zechlin, a. a. O., S. 41 ff. Die „Richtlinien" vom 9. 9. auch bei W. Basler: Deutschlands Annexionspolitik in Polen und im Baltikum 1914-18 (1962), S. 381 ff. Die Entdeckung dieser wichtigen Korrespondenz in den Akten der Reichskanzlei ist ein Verdienst F. Fischers; dessen freundliche Mitteilung der Stücke vom 9 . 9 . konnte ich durch Fotokopien und Aktenauszüge ergänzen, die mir das Z. A. (Direktor Dr. Lötzke) freundlichst übermittelte. F. Fischer f ü h r t den Gedanken des „Wirtschaftsbundes", S. 108 f., im wesentlichen auf Anregungen W. Rathenaus (28. 8. und 7.9.) und Arthur v. Gwinners (3. 9.) zurück. Dem widerspricht aber die folgenden Stelle in dem Begleitschreiben an Delbrück vom 9. 9.: „Ober das wirtschaftliche Programm eines mitteleuropäischen Zollverbands haben wir ja kurz nach dem Ausbruch des Krieges" (also vor der Abreise B.H.s nach Koblenz!) „mündlich gesprochen und eine Übereinstimmung in den Grundzügen feststellen können." Wenn also Delbrück selbst, a . a . O . , 124ff., Rathenau als Urheber der Unionsidee nennt, so muß das auf einem Gedächtnisfehler seiner erst 1917 niedergeschriebenen Aufzeichnung beruhen; dieser lag nahe, da er am 3. 9. mit Schärfe gegen Rathenaus Eingabe vom 28. 8. protestiert hat, die eine sofortige Zollunion mit Österreich-Ungarn forderte. B. H . bat daraufhin am 16. 9. zu erwägen, ob nicht doch ein besonders enges Verhältnis der beiden Verbündeten innerhalb der neuen Wirtschaftsgemeinschaft möglich sei. (ZA, a. a. O.) Rathenaus weitere Eingaben vom 7. 9. und 10. 10. gingen unbeantwortet zu den Akten. Die Frage der ersten Anregung bleibt also offen. Von Gwinner könnte B.H. nicht mehr als die ganz allgemeine Anregung entnommen haben, statt politischer Annexionen „Deutschlands wirtschaftliche Vorherrschaft zu etablieren", von Rathenau die Einsicht, d a ß England dank seiner Weltverbindungen wirtschaftlich überhaupt nicht zu erschöpfen sei. Rathenaus Ausführungen waren, wie immer, eine Mischung von Scharfsinn mit Überscharfsinn bzw. Phantasterei; er glaubte, Frankreich durch milde Behandlung nach dem Sieg aus dem englischen Bündnis lösen und in eine Allianz mit Deutschland bringen zu können, unter Berufung auf Bismarcks Nikolsburger Frieden 1866. - (Vgl. Briefausgabe v. Eynerns (1955), 118 ff. 43

) Ich benutze im folgenden die endgültige Ausfertigung des Programms als Vorlage. ) Nicht 18-20 Jahre, wie Fischer, 111, schreibt. 44 ) So in der Berliner Konferenz mit Czernin am 26. 3. 1917 (AA. Wkr. 15 geh. Bd. 2). Zu B.H.s Bemühungen, über den wirklidien Umfang des deutschen Interesses an Briey ins klare zu kommen, vgl. oben Anm. 31. 45 S.45 ) D a s hatte der elsässische Statthalter v. Dallwitz in einem Privatbrief vom 4 . 9 . vorgeschlagen, vermutlich unter dem Eindruck der französischen Vorstöße bei Mülhausen; Bethmann ging sofort darauf ein, erbat und erhielt d a f ü r Kartenmaterial (9. 9., 14. 9.) A . A . Friedensschlüsse Nr. 21, Bd. 1. 46 S. 47 ) Begleitschreiben an Delbrück vom 9 . 9 . Bethmann erwog, diese Forderung dadurch abzuwenden, daß er sie in eine Abtretung der lothringischen Eisenwerke an deutsche Unternehmer umbog. Über die annexionsfreudige Hochstimmung des Kaisers und verschiedener 43a

A n m e r k u n g e n z u m 1. Kapitel

595

deutscher Bundesfürsten Mitte und Ende August berichtet K. H. Janssen, a. a. O., K a p . 1, S. 30 f. nach süddeutschen Quellen. 4 7) In dem oben Anm. 24 zitierten Gespräch mit Weizsäcker am 13. 5. 1917 bemerkt Bethmann, er habe über Belgien so sprechen müssen, „denn nur so habe er die Sozialdemokraten f ü r die vaterländische Sache gewonnen". « ) Vgl. dazu Bd. II, 87ff. 49 ) Tirpitz; Dokumente II, 65. Ebd. 68 ist von einem „couloir" durch Belgien die Rede, 50) Antwortschreiben vom 15.1.1915, Z. A. Potsdam, R . K . N r . 2476. F. Fischer, 121, liest aus dem obigen Zitat heraus: Bethmann habe nicht eine Auskunft vom S t a n d p u n k t des Marineressorts verlangt, sondern sich hier zum erstenmal aktenmäßig zu einem P r o g r a m m künftiger deutscher „Weltmacht" bekannt. Das ist eine für F. typische Fehldeutung. 51 ) Natürlich fehlte auch nicht die Versicherung, „der Krieg ist kein Gegenbeweis gegen das Risikoprinzip". 52 ) Das erkannte - aber erst im Juli 1918! - sogar der eifrigste Gefolgsmann Ludendorffs an: „Gedanken über die Fortsetzung des Krieges" (Entwurf) im Nachlaß Bauer, B. A . Koblenz, Mappe 2, Bl. 269.

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) Quellennachweise bei Fischer, 228ff. Ähnlich im Bundesratsausschuß f ü r auswärt, s.48 Angelegenheiten, 7. 4. 1915, nadi einer Aufzeichnung Lerchenfelds (G. St. A. München). S. auch: E. Deuerlein: Der Bundesratsausschuß f ü r die Auswärtigen Angelegenheiten 1870 bis 1918 (1955), S. 281. Tatsächlich hat sich Belgien im Sommer 1916 um Aufhebung seiner N e u t r a l i t ä t bemüht: E. Hölzle in G. W. U. 1962, S. 470, Anm. 16. Besorgnisse über eine künftige „Revanche" Belgiens äußerte der Historiker H e r m a n n Oncken in einem Brief an H . Delbrück v. 28. 6. 1915 (bei Kl. Schwabe, K a p . 1,4). Helfferich war überzeugt v o n dem fortdauernden H a ß der Belgier: Sitzungsprotokoll einer Besprechung in der Reichskanzlei vom 19. 6. 1915 bei Fischer, 325. 54 ) Als hoffentlich letzte in einer langen Reihe von Streitschriften über den „Fall L ö w e n " , s.48 vgl. jetzt die um Versöhnung bemühte Broschüre: Peter Schöller: D e r Fall Löwen und das Weißbuch, 1958, gegründet auf das Studium ebenso deutsdier wie belgischer Dokumente. 55 ) D e r Verbreitung solcher Stimmungen dienten auch die in offiziösem A u f t r a g durch- S.49 geführten, übrigens sachlich ausgezeichneten Studien des Historikers K. Hampe über die belgische Neutalität. Eine erhebliche Rolle spielten diese historischene Betrachtungen auch in der großen Denkschrift des Generalgouverneurs v. Bissing vom Febr. 1915 über die Z u kunft Belgiens, welche die Grundlage seiner O k k u p a t i o n s v e r w a l t u n g bildete. (Abschrift in München, GStA Pol. A V I I , N r . 56.) Uber die H a l t u n g der deutschen Intelligenz vgl. K. Schwabe, H . Z. 193, 610 und sein Buch Kap. I, 4. 56

) Aus dem Privatnachlaß Weizsäckers, bei K. H. Janssen, K a p . 1, Anm. 121. S.49 ) A u f t r a g an Delbrück und U. St. S. Zimmermann, 18.10., deren gr. Denkschr. v o m S.49 3 1 . 1 2 . 1 9 1 4 in A. A. W k r . 15 geh. Bd. 6 adh. (gedr. bei Volkmann 193-199), Gesandter v. d. Lancken (Brüssel) 7. 2. 1915 - Ballin an B. H . 8. 2. 1915. Bankdirektor Max W a r b u r g dazu 13. 2. 1915 - Riezler 15. 2. 1915 - alle in demselben Aktenbande, von der Denkschrift Riezlers nur Inhaltsübersicht. Über die A n f r a g e bei Tirpitz vgl. oben Anm. 50. 57

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) K. H. Janssen, 35. Bethmanns Schreiben an Hertling vom 15.11. auch in A . A . s.50 Friedensschlüsse N r . 21, Bd. 1. 59 ) Max Hoff mann, II, 83. Genau dieselbe Erklärung hat Bethmann f ü r seine zwei- S.50 deutige H a l t u n g in der belgischen Frage in einem Brief an P r o f . Hans Delbrück v o m 8 . 9 . 1917 (Nachlaß Delbrück) gegeben. Sie ist sicherlich zutreffend, jedenfalls f ü r 1914/15. In einem Brief vom 12. 8. 1918 an Delbrück bemerkt er, ein Versprechen der vollen Wiederherstellung Belgiens sei einfach unmöglich gewesen; wie d ü r f e man aber von einem Politiker das Unmögliche verlangen? - Am 15. 6. 1915 sagte er zu Admiral v. Müller: „Ein

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Anmerkungen zum 2. Kapitel

Friede mit England sei ausgeschlossen, solange wir an dem Besitz der belgischen Küste festhalten. Das solle ich einmal durchdenken und ihm darüber schreiben." v. Müller, 109. 6 0 ) Zu diesem Zweck äußerte er u.a. „im großen und ganzen gingen unsere Ansichten nicht S. 50 sehr weit auseinander", was sich offensichtlich vor allem auf die „Mitteleuropa-Idee" bezog, von der auch die beiden Unterhändler gesprochen hatten. Daß Fischer, S. 117, 192, 226 daraus schlechthin eine „weitgehende Identität" der Ziele Bethmanns mit denen der alldeutsch geführten Wirtschaftsverbände abliest und den rein taktischen Sinn obiger Worte in Zweifel zieht, zeigt ein bedauerliches Maß von Voreingenommenheit und mangelnder Einfühlungsgabe. Die Tatsache, daß er dabei den übrigen Inhalt des Gesprächs, der das Gegenteil beweist, völlig verschweigt, kann nur als üble Tendenzhistorie gewertet werden. Das Stresemannsche Protokoll der Besprechung ist zuerst publiziert in englischer Übersetzung von R. Sweet im Journal of Central European Affairs X V I , 3, October 1956, p. 244 ff. (aus dem Stresemann-Nachlaß), dann deutsch von E. Zeehlin in der Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament" vom 14.6. 1961 als Anlage 6. In einem gleich nachfolgenden Gespräch mit Delbrück zeigte sich dieser skeptisch gegenüber allen Annexionen in Ost und West und lehnte Roetgers Vorschlag einer Besiedelung belgischer und baltischer Gebiete durch ausgediente Soldaten völlig ab. ( R . Sweet, a. a. O., 247 ff.) 5.51

6 1 ) Vgl. dazu Bethmann Hollwegs eigene Gedankengänge in seinen Betrachtungen zum Weltkrieg, I I , 17. 6 2 ) Uberzeugender Nachweis in der Studie von W.Lipgens, 5.52 Bismarck, die öffentliche Meinung und die Annexion von Elsaß-Lothringen 1870: H . Z . 199 (1964), S. 31 ff. Ich habe meinerseits in Band 1, 322 ff, schon dargelegt, daß es nicht „die Stimme aufgewühlter nationaler Leidenschaften war", die Bismarck zur Annexion Elsaß-Lothringens veranlaßte, am wenigsten die Vorstellung vom deutschen Charakter des Elsaß, sondern macht- und militärpolitische Erwägungen, allerdings verstärkt durch den Eindruck sehr starker nationaler Gegensätze. Daß aber Bismarck selbst das meiste, ja offenbar alles dazu getan hat, die elsaß-lothringische Frage in die publizistische Diskussion zu bringen, war mir noch unbekannt. Meine Darstellung bedarf also an dieser Stelle der Korrektur (erfolgt in 3. Aufl.). 6 3 ) Untersuchungsausschuß der Nationalversammlung. 2. Unterausschuß vom 23. 10. 1919 S. 53 Sten.Ber., S. 182 f.

A N M E R K U N G E N ZUM 2. K A P I T E L 5.55 5.56

') H. v. Zwehl. Zu vergleichen auch: Groeners Lebenserinnerungen, 187 und passim. ) Nachlaß Wild von Hohenborn (B. A.). Wild war zuerst Generalquartiermeister im Stabe Falkenhayns, dann dessen Nachfolger als Kriegsminister, blieb aber auch als solcher im Hauptquartier und wurde v. F. fortdauernd zu strategischen Beratungen herbeigezogen. 3 ) Die Oberste Heeresleitung 1914-16 in ihren wichtigsten Entschließungen 1920. - Über S. 57 die militärischen Leistungen Falkenhayns und seine Konflikte mit Ludendorff-Hindenburg finden sich in der militärgeschichtlichen Literatur, auch im Reichsarchivwerk, fast durchweg Urteile, die deutlich von den Traditionen der sogen. Schlieffen-Schule und von der herkömmlichen, m. E übertriebenen Bewunderung nicht nur des Organisators, sondern des Strategen Ludendorff bestimmt sind. Eine Ausnahme macht (außer der Biographie F.'s von H. v. Zwehl) das klug-besinnliche Memoirenwerk des Generals Frhr. v. Freytag-Loringhoven, „Menschen und Dinge wie ich sie in meinem Leben sah" (1923), der zeitweise Generalquartiermeister im Stabe Falkenhayns war. Über meine Beurteilung Ludendorffs vgl. meinen Artikel „Ludendorff" f. d. „Neue Deutsche Biographie". 5.57

2

4 ) Nach einer Notiz im Diary of Lord Bertie of Thames, II, 59, hätte er B. H . gleich anfangs „mit offener Verachtung" behandelt, zit. nach P. R. Sweet in Journal of Central European Affairs X V I (1956), 235.

A n m e r k u n g e n z u m 2. Kapitel

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5 ) Aufzeichnungen f ü r Wahnschaffe, 7. 1.1915, im Nachlaß H a e f t e n B. A. Sehr scharfes Urteil über T a p p e n an Valentini, 10. 7. 1916, Valentini, 236. Über Tappen urteilte auch Wild von H o h e n b o r n (Nachlaß B. A.) sehr ungünstig: er hinge immer nur an kleinen Tagesmeldungen und habe einen viel zu engen H o r i z o n t . Übrigens sei Tappen der wütendste Gegner Ludendorffs und meine, d a ß dieser wegen seiner Obstruktion „nach dem Krieg vor ein Kriegsgericht gestellt werden müsse". E r hat auch nach anderen Quellen viel zur Verschärfung der Spannung zwischen F. und „Oberost" beigetragen, die Wild seinerseits zu mildern suchte. - Vgl. auch Groeners klug abgewogenes Urteil über T a p p e n : Lebenserinnerungen, hgg. v. Hiller v. Gärtringen (1957), 178. 6 ) Reichsarchivwerk (RAW) V (1929), 11 f. Groener, a . a . O . , 179, betrachtet die Strategie F.s nach dem Marne-Rückzug als Halbheit. O b aber sein eigener Vorschlag echte Erfolgsdiancen bot, bleibt doch fraglich. 7 ) Eigh. Glosse zu einem Zeitungsartikel Reventlows (s. o., S. 64, Anm. 22). B. H . klagt, er und das Auswärtige Amt hätten „seit dem O k t o b e r dauernd, leider allerdings vergeblich, darauf hingewirkt, 1. rechtzeitig zu erkennen, von welchem Zeitpunkt ab die nächste E n t scheidung nicht mehr im Westen, sondern im Osten zu suchen war, 2. den Nordosten Serbiens freizumachen. In beiden Fällen haben die Militärs ein non possumus entgegengesetzt." 8 ) Vgl. seinen Streit darüber mit Falkenhayn, J a n u a r 1915 bei Admirai v. Müller, 79. 9) Das folgende R A W VI, 2ff., 92ff., 254ff., 405 ff. 10 ) Nach R A W VI, 437 (Mitteilungen Fabecks) soll er damals zum erstenmal zu seiner vertrauteren Umgebung Rücktrittsabsichten und als „Autodidakt" wiederholt Zweifel an der Eignung zu seiner Stellung geäußert haben. n ) R A W V I , 93 (Tagebuch Plessens und Oberst Tappens). Es ist bemerkenswert, d a ß der Kanzler - schwer besorgt über die nutzlosen Blutopfer bei Ypern - nicht beim Kaiser selbst vorstellig zu werden wagte, sondern sich (mit gutem Erfolg) an den Generala d j u t a n t e n v. Plessen wandte. Wilhelm I I . hätte direkte Vorstellungen als Übergriff des „Zivilisten" in die militärische Kommandogewalt empfunden. 12) Bethmanns Bericht vom 19. 11. 1914, inhaltlich schon lange bekannt ( R A W VI, 406f.), ist zuerst in englischer Ubersetzung von P. R. Sweet im Journal of Central European Affairs (Vol. 16, 1956, 231 ff.), d a n n deutsch von E. Zechlin, in: Beilage zur Wochenschrift „Das P a r l a m e n t " , 17.5.1961, S. 284 f. veröffentlicht worden. Jetzt auch in: L'Allemagne et les problèmes de la Paix pendant la première Guerre Mondiale, p. p. A. Scberer et / . Grunewald, I, 1962 N r . 13 (im folgenden zit. Sch. Gr.). - Das R A W h a t die Dokumente des A. A. nebst den (1945 durch Bomben zerstörten) Akten des Heeresarchivs benutzt. 13) Aus Bethmanns Erlaß vom 25.11. {Sch. Gr. N r . 16) geht hervor, daß nachträglich Falkenhayn Bedenken kamen, ob man den unzuverlässigen und militärisch immer stärker versagenden Bundesgenossen überhaupt ins Geheimnis ziehen sollte; er suchte jetzt einen Weg zur Fühlungnahme ohne förmliche „invite". - P. R. Sweet, a. a. O., nimmt an, d a ß der Gedanke eines Sonderfriedens mit R u ß l a n d dem General durch Tirpitz souffliert w o r den ist, zu dessen Doktrin ja von jeher die Verständigung mit R u ß l a n d zur Bekämpfung Englands gehörte; darüber hatte nach Tirpitz: D o k u m e n t e II, 166 ff., am 15. 11. ein G e spräch zwischen den beiden stattgefunden. 14) R A W V I , 254. 15

Das „traurige Bild von Unentschlossenheit und Pessimismus", das er und Jagow nach v. Müller, 57, am 13. 9. 1914, nach dem Scheitern der Marneschlacht geboten haben sollen, darf als soldatisches Urteil und bloßer Stimmungseindruck nicht überwertet werden, wie Müller später selbst bemerkt hat. Der „Pessimismus" scheint bei J a g o w noch größer gewesen zu sein als beim Kanzler. Nach einer E r z ä h l u n g des Gesandten Romberg von etwa 1924, über den mir Leg.Rat Dr. Ullrich (A.A.) berichtete, soll er Romberg gegenüber schon

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A n m e r k u n g e n z u m 2. Kapitel

im Dezember 1914 den Krieg f ü r praktisch verloren gegeben haben. In einer Sitzung des Preußischen Staatsministeriums am 28. 11. 1914 hat Bethmann ähnlich wie in dem Schreiben an Zimmermann v o m 19. 11. geäußert, d a ß er schon die reine Selbstbehauptung als großen E r f o l g betrachten w ü r d e : E. Zechlin in der Beilage z. d. Wochenschrift „Das P a r l a m e n t " , 15. 5. 1963 (B 20/63), S. 3 f. S.62

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,6 ) Dokumente der Mission im A.A. W . K r . geh. 2, Bd. 1 ff. (Vermittlungsaktionen), jetzt vollständig bei Sch.-Gr. Eine ausführliche Darstellung aller Friedensfühler u n d Vermittlungsversuche des ersten Kriegsjahres, hauptsächlich aufgrund der deutschen diplomatischen Akten, bringt die Dissertation von C.V. Lafeber, Vredes-en-bemiddelings-pogingen, 1961. D a r i n über Andersens Bemühungen, S. 189 ff. Erste A n f r a g e aus Dänemark trifft 24. 11. ein. D e r Entwurf Bethmanns zu einer A n t w o r t an Andersen, 30.11.: Der Kaiser sei bereit, Friedensvorschläge der Gegner (Andersen wollte auch in London vorfühlen) „im Einvernehmen mit seinen Verbündeten zu prüfen und dem Inhalt nach zu behandeln." Gestrichen ist der Satz: „Die Bedingungen müssen jedoch derart sein, d a ß sie f ü r Deutschland volle Entschädigung und Sicherheit gegen erneute Überfälle seitens seiner Gegner gewährleisten." O f f e n b a r wollte Bethmann die Tür zu Verhandlungen keinesfalls durch Vorbelastungen zuschlagen. Sch.-Gr. ( N r . 20) hat nur die Reinschrift benutzt, F. Fischer, 223 f., offenbar auch; jedenfalls bringt er nichts über diese Streichung. Die Art, wie er B . H . s Verhalten behandelt, ist kraß tendenziös. Sollte dieser etwa in Petersburg eiligst den status quo anbieten, ohne auch nur den Ausgang der schweren K ä m p f e um Lodz abzuwarten, und sollte er von vornherein auf „Sicherungen" jeder Art verzichten? 17

) Paleologue I (1925), 184 ff. (Audienz vom 21.11.1914), dazu C. Joy Smith jun., 99 f. l 8 ) Memorandum vom 27. 11. Sch.-GR., N r . 17. Die ausführliche Wiedergabe des Inhalts bei F. Fischer, 221 f., bemüht sich, dem Memorandum einen „imperialistischen" Sinn zu geben, den es gar nicht hat, und verkennt darüber seine eigentliche Absicht. 19) Bethmann Hollweg, II, 44. 20) Vg[. d a z u oben K a p . 1, S. 18 f. H o f f mann f a n d den Kanzler „sehr verständig", „einen klugen M a n n " , etwas unentschlossen; er hat es aber auch schwer (Aufzeichnungen, I , 64, 100). 21) R A W VI, 415, ohne Quellenangabe. Ebenso heißt es dort, habe er sich wenige Tage später auch gegenüber Moltke geäußert. Ähnliche Mitteilungen in einem großen Bericht von H a e f t e n s (165 S. Masch.) über die Falkenhayn-Krise des Winters 1914/15 in B. A., N a c h l a ß H a e f t e n . Diesen Bericht hat (nach Abschluß meines Manuskriptes) auch E. Zechlin: Beil. zum „Parlament" (B. 20,63, 1 5 . 5 . 6 3 ) 26 ff. benutzt. H.K.Janssen: D e r Wechsel in der O H L 1916, in: Vjh. f. Zeitgesch. V I I (1959), 340 weist auf einen Ratschlag des bayr. Ministerpräsidenten Hertling hin, der A n f a n g Dezember dem Kanzler ebenfalls Falkenhayns Ablösung empfohlen habe. n ) R A W VI, 408. Über die Friedensneigung des Kaisers vgl. P. R. Sweet, a . a . O . , nach A . A . W.Kr. 2 geh. Bd. 1 (25.11. u n d 2 . 1 2 . 1 9 1 4 ) . Danach drängte auch der Kaiser auf Schritte in Petersburg und erbot sich selbst dazu. 23) R A W VI, 4 2 1 f . 24 ) A . A . W.Kr. 2 geh. Bd. 1 (1. 12. 1914). 25 ) R A W V I 310, 419. C. MülAmann, 80 ff. 26 ) So die Aufzeichnung Bethmanns v o m 7. 1. 1915 f ü r Wahnschaffe (Nachlaß v. H a e f t e n , B. A.) auch f ü r das Folgende. Weitere Zitate aus dieser Aufzeichnung s. o. Anm. 5. 27) D a ; R A W , das im wesentlichen überall f ü r Ludendorff-Hindenburg Partei nimmt, macht Bethmann, V I , 440 f., geradezu einen Vorwurf daraus, d a ß er damals nicht auf der Absetzung Falkenhayns und Berufung Ludendorffs bestanden hat. 28 ) H.v. Moltke, 395 ff. D a z u Zwehl, a. a. O., 105 ff.

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29) R A W V I I , 75 ff., 11 ff. 30 ) M a n vergleiche die von Nowak in den „Aufzeichnungen" schonend unterdrückten Briefstellen voll grausamen Hohnes, veröffentlicht in der F r a n k f u r t e r Allgemeinen Zeitung, 10. 1. 1955. Der Nachlaß H o f f m a n n s , mit Schreibmaschinenauszügen aus den Briefen an seine Gattin, findet sich im BA. 31 ) Schreiben von H a e f t e n s an Bethmann, 12. 1. 1915, Nachlaß H a e f t e n BA. Nach H a e f ten hatte dieser den Feldmarschall gedrängt, sich dem Kaiser selbst als Nachfolger Falkenhayns anzubieten, was er jedoch ablehnte. 32 ) So in dem Immediatschreiben Hindenburgs v o m 9. 1. 1915, R A W V I I , 11. 33) R A W V I I , 13. 34 ) H. v. Moltke, a . a . O . , 413 ff. Vorangegangen waren schon zwei Immediatschreiben (vom 10. und 15. 1.), in denen Moltke auch im Sinne Ludendorffs auf Umsteuerung der Kriegführung von West nach Ost drängte, und ein Schreiben vom 12. an einen ungenannten Hofgeneral (wohl Plessen), in dem scharf gegen Falkenhayn Stimmung gemacht wurde. 33) H a e f t e n h a t Marschall dreimal stundenlang bearbeitet: am 7., 8. und 21. Januar. 36) Von der zuversichtlichen Stimmung dort berichtete Graf Wedel im A . A . an den w ü r t tembergischen Gesandten Varnbüler - nach Mitteilungen eines „von der O s t f r o n t kommenden Generalstabsoffiziers" - : „Hindenburg lasse dem A . A . sagen: bis E n d e Februar müsse die Diplomatie die schwankenden Neutralen noch hinhalten - bis dahin würden wir so sichtliche militärische Erfolge erzielt haben, d a ß die Welt an unserem endgültigen Siege im Osten nicht mehr zweifeln könne." Varnbüler an Weizsäcker, 15. 2. 1915, H S t A . Stuttgart, E 73, V 61, F. 12 g. 37) Falkenhayn: Oberste Heeresleitung, 5 0 f . 38) So z. B. von Müller, 92, nach Mitteilungen Helfferichs aus Berlin, 19. 2. 1915. Lerchenfeld an Hertling, 3. 4. 1915: Janssen: Macht und Verblendung (1963), S. 45. Im Generalstab selbst scheint im Sommer 1915 die Meinung („Version") weit verbreitet gewesen zu sein, daß F. „sich auf den Kanzlerposten vorbereite". Der Ostreferent des A . A . , T r a u t m a n n , der das am 10. 6. Jagow a u f g r u n d vertraulicher Unterhaltungen mit „Generalstabsoffizieren" (doch wohl des als üble Gerüchtezentrale auch sonst bezeugten Berliner stellvertretenden Generalkommandos?) meldete, fügte die „persönliche" Vermutung hinzu, F. könnte die durch den Lusitania-Fall erzeugte Spannung mit Amerika benutzen, um durch forsche Behandlung dieses Falles (im Gegensatz zu Bethmanns Vorsicht) die öffentliche Meinung f ü r sich zu gewinnen und so „seine Träume zu verwirklichen". Das widerspricht aber völlig der sonst bezeugten H a l t u n g F.s in der U-Boot-Frage 1915, und gerade w ä h r e n d des Rußlandfeldzuges hat er keinerlei Neigung gehabt, einen Bruch mit Amerika und w o möglich noch anderen Neutralen zu riskieren. Aufzeichnung Trautmanns (nicht Kaulmanns, wie Sch.-Gr., I, Nr. 102, den N a m e n verliest) A . A . W.Kr. 15 geh. Band 1). Vgl. auch Groeners Lebenserinnerugnen, 239. Bethmann H o l l w e g war allerdings mißtrauisch genug, auch seinerseits F. für einen Bewerber um den Kanzlerposten zu halten. General Wild, der im J a n u a r 1916 mit F. darüber offen sprach, e r f u h r : er wolle jetzt nicht Kanzler werden, „scheine es aber f ü r später nicht abzulehnen" (Aufz. v. 20. 1. 1916 im Nachlaß Wild). Auch Kronprinz Rupprecht von Bayern, der Falkenhayn wenig günstig gesinnt war, vermutete, daß dieser den Ehrgeiz habe, nach dem Krieg (nicht vorher) Kanzler zu werden. Bericht des Leg.-Rat Krafft an Hertling, 21.2.1916 (G.St.A. München, Pol. A. V I I , 66). Über Seeckts Haltung vgl. unten Kap. 3, I I . Gerüchte dieser Art wurden erleichtert durch die oft u n nahbare Verschlossenheit Falkenhayns. Immerhin hat er nach Zwehl, 217, schon im Sommer 1915 sich entsdiieden, aber erfolglos, dagegen v e r w a h r t .

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39) Volkmann, 54 nach den (jetzt verbrannten) Akten des Heeresarchivs. Die Nachricht s. 73 stimmt mit den Mitteilungen Graf Westarps überein.

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) Valentini, 227. ) Lerchenfeld a n Hertling, 6.3.1915, nach einer Mitteilung des G r a f e n Wedel, der Bethmann gesprochen h a t t e : Geh.St.A. München A. V I I , 50. Aus einem Schreiben B . H . s an Treutier vom 14. 3. 1915 (Z. A. Potsdam, R. K. II, Abt. V I I , 3) geht hervor, d a ß H i n d e n burgs pessimistische Äußerungen auch dadurch bestimmt waren, d a ß er sich sträubte, Divisionen f ü r eine Westoffensive abzugeben. Das könne den Verlust ganz Ostpreußens bis zur Weichsel zur Folge haben! Vgl. auch R A W VII, 295: Forderung von Verstärkungen April 1915.

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42 ) N ä h e r e s : R A W V I I , 323 ff. Abdruck der sehr umfänglichen Korrespondenz Falkenh a y n - C o n r a d , 27. 12. 1914 bis 23. 5.1915, bei H. Wendt: D e r ital. Kriegsschauplatz in europäischen Konflikten (1936), S. 409-456. Sehr bemerkenswert ist F.s politisch kluge Verh a n d l u n g mit dem italien. Militärattache Bongiovanni, 13. 4. 1915, über die dieser C a d o r n a berichtete: Adriano Alberti: General Falkenhayn. Die Beziehungen zwischen den Generalstabschefs des Dreibundes (dt. Ubers.) 1924, 108 f. Vgl. auch Zwehl, 129, und Jos. Stürgkh: I m deutschen G r o ß e n H a u p t q u a r t i e r (1921), S. 117, dem F. Ende J a n u a r seine politischen Wünsche mit Seitenhieben auf die bisherige Untätigkeit der Diplomaten vortrug. D e r oben Anm. 5 zit. Brief Bethmanns an Valentini klingt sehr ärgerlich gegenüber F., und v. Müller 104 berichtet von „schnoddriger" Abweisung Bethmannscher militärischer Wünsche durch F. Ende Mai.

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) Falkenhayn, 55. ) Mühlmann, 86 ff. 45 ) Conrad, V 811, 754 ff. R A W V I , 370, 416. Man vgl. die an letztgenannter Stelle gegebene Darstellung von Conrads völlig grundloser Aufregung (er wußte nichts von der offiziellen Zustimmung der Wiener Regierung zum Friedensfühler Andersens und witterte Verrat) mit F. Fischer, 226, der unbesehen f ü r Conrad Partei nimmt und behauptet, dieser habe „recht genau die geheimen Ziele B. H.s und Jagows erfaßt."(!) In Wahrheit ist von „österreichischer Gegenwirkung" keine Rede. Scharfe Kritik Conrads durch den österreichischen Verbindungsoffizier Grafen Stürgkh in dessen Memoiren, a . a . O . , 116. Für die Vorgänge im September 1914 und f ü r das Folgende vgl. meine Studie: Die Zusammenarbeit der Generalstäbe Deutschlands und Österreich-Ungarns vor dem Ersten Weltkrieg. (In: Festgabe f ü r H e r z f e l d 1958), S. 546 ff. (nach Akten der Wiener Archive). Eine äußerst scharfe K r i t i k an den deutschen Operationen in Polen übt Conrad in einem Schreiben an den Chef der Kaiserl. Militärkanzlei, Baron Bolfras, vom 20. 10. 1914, das sich in Abschrift in Kr.Arch. Wien (Conrad-Archiv) findet. Den deutschen Wunsch, die 1. österreichische Armee Hindenburg zu unterstellen, findet er „eine echt preußische U n v e r frorenheit und Taktlosigkeit". Uber die verfehlten österreichischen Offensiven in Serbien Herbst und Winter 1914 vgl. R A W I X , 140 f., 144 ff. 44

46

) So zum Beispiel Baron Wolf von Plessen von einer „maßgebendsten Persönlichkeit" des Hauses am Ballhausplatz nach dem Bericht des bayr. Gesandten in Stuttgart an H e r t ling, 13. 1. 1915 (G.St.A. München, Pol. A. V I I , N r . 30). 47 S.77 ) Die entscheidenden Belege hierfür finden sich in der Aktenreihe: Krieg geheim, X L V I I , 2b, 1914-18, fasc. 1-17 der H . H . S t . A . Wien, aus der sich ein sehr anschauliches Bild gewinnen läßt. 48 S.77 ) Conrad, IV 476, 518 ff., 537 (Streit um die Wegnahme von Truppenteilen aus Serbien und um die Befestigung der Grenze nach Italien August-September 1914). Ebd., 671 ff. (Streit um die Außenstelle des Auswärtigen Minist, im H a u p t q u a r t i e r ) . 49 S.77 ) D a s f ü h r t e keineswegs immer zu Spannungen. Es bestand eine regelmäßige (und z. T. sehr weitgehende) wechselseitige Informationen des A O K u n d des Außenministeriums,

Anmerkungen zum 2. Kapitel

601

wie die Aktenserie Krieg X I I (Informationen und Instruktionen für den Vertreter des Außenministeriums im A O K ) in H.H.St.A. Wien zeigt. 50) Tisza an Berchtold, 1 5 . 1 2 . 1 9 1 4 . Ders. an A O K , 1 8 . 1 . 1 9 1 5 . Minister d. Ä . an Conrad, 12. 1. 1915. Dessen gequälte, aber politisch scharf offensive Antwort, 14. 1. 1915. Alles in H.H.St.A. Wien, Kr.geh. X L V I I , 2 b - 7 bzw. 9. 5 1 ) Berchtold an Bethmann 1 0 . 1 1 . 1 9 1 4 . Antwort Jagow-Bethmanns 2 3 . 1 1 . bei Sch.-Gr. I, N r . 9 u. 15. 5 2 ) Denkschrift Baron Andrians Dez. 1914, dazu Stellungnahme des Botschafters Mérey 15. 12. 1914 und Privatschreiben des Botschafters Pallavicini an Graf Forgâch aus Stambul 16. 12. 1914, alles in H.H.St.A. Wien K r . geh. X L V I I 1 c (Mémoires). Dort auch die im folgenden besprochene Denkschrift des Grafen Forgâch vom 10. 1. 1915. 5 3 ) Korrespondenz der Württemberg. Gesandten Moser (München) und Varnbüler (Berlin) mit Weizsäcker, 17. 9. 1914-12. 6. 1915 ( H S T A . Stuttgart), Korrespondenz der bayr. Gesandten Grafen Lerchenfeld (Berlin), Grafen Podewils (Spezialmission nach Wien), Moy (Stuttgart) mit Graf Hertling und Staatsrat Dandl, 9 . 1 . - 2 6 . 5 . 1 9 1 5 , G.St.A. München, Pol. A. V I I . 5 3 a ) Nähere Nachweise (nach deutschen und österreichischen Akten durch E. Zechlin: Das schlesische Angebot und die italienische Kriegsgefahr 1915 in: G W U Jg. 14 (1963), 533-556. Weizsäcker gegenüber hat B. H. immerhin seine Absicht durchblicken lassen, durch „eine kleine Landentschädigung" preußischen Gebietes den Österreichern den Verzicht auf das Trentino zu erleichtern: Bayr. Gesandter Moy an Hertling, 15. 3. Lerchenfeld meldete am selben Tag: niemand denke in Berlin daran, den Österreichern Berchtesgaden für das Trentino anzubieten, wie in München ausgesprengt würde. Es sei immer nur an ein preußisches Territorium gedacht worden. „Darüber haben allerdings Erwägungen geschwebt und wurde dabei an verschiedene Teile Schlesiens gedacht. Aber auch hierzu hätte man sich nur äußerstenfalls entschlossen und ist jetzt durch das Versprechen wegen Sosnowice und durch den Beginn der Verhandlungen zwischen Wien und Rom die Frage erledigt!" München, G S T A , Pol. A. V I I , Nr. 30 bzw. 50. Einen entsprechenden Vorschlag machte Conrad noch am 6 . 5 . 1915: wenn schon Österreich Opfer bringen müßte, sollten die Deutschen es entschädigen etwa durch Hergabe der Grafschaft Glatz und Überlassung Polens bis zur Weichsel (an Buriân, Wien H.H.St.A., Kr. geh. X L V I I , 2 ^ - 1 2 ) . 5 4 ) Eine Reihe von Aufzeichnungen Buriâns über seine Verhandlungen mit Bethmann, Jagow, Falkenhayn über die italienische und rumänische Frage im Wiener H.H.St.A. (Kr. geh. X L V I I , 3 - 1 6 b i s ) gibt ein sehr anschauliches Bild sowohl von der Intensität des deutschen Drängens auf Konzessionen wie von dem Eifer, mit dem Falkenhayn dieses Drängen unterstützt hat; Bethmann ruft ihn immer wieder als Sachkundigen zu Hilfe. 55) Conrad an Buriân, 2 . 4 . 1 9 1 5 , Wien H.H.St.A. K r . geh. X L V I I / 2 b - l l . Vgl. dazu R A W V I I , 340; Conrad äußerte auch Falkenhayn gegenüber den Vorschlag, mit Rußland Frieden zu machen, was dieser sofort an den Reichskanzler weitergab und Conrad in mündlicher Besprechung als aussichtslos auszureden suchte. Noch am 27. 12. hatte Conrad selbst ihm gegenüber Sonderfriedensverhandlungen für ganz aussichtslos erklärt ( R A W V I I , 2). 56) A . A . W . K r . 15 geh. Bd. 1. Aufzeichnung Bethmanns über eine Verhandlung mit Buriân unter Mitwirkung beider Generalstabschefs. 57) Deutsche Übersetzung: Die internationalen Beziehungen im Zeitalter des Imperialismus, Reihe II, Bd. 7, I I , 604-608 (1935). 58) Beste Übersicht bei C. Jay Smith jun. Die Dokumente (von den Bolschewisten veröffentlicht) in dt. Ubers, in: Die europäischen Mächte und die Türkei während des Weltkrieges. Konstantinopel und die Meerengen. Bd. I—II, 1930. Die Aufteilung der asiatischen

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602

A n m e r k u n g e n zum 2. Kapitel

Türkei 1932. Smith behandelt auch S. 46 ff. das Z w ö l f p u n k t e p r o g r a m m Sasonows vom 13./14. Sept. 1914 wesentlich aufgrund des russischen Dokumentenwerks (deutsch: Die internationalen Beziehungen im Zeitalter des Imperialismus, Reihe II, Bd. 6) und die Reaktion der Westmächte darauf. Vgl. auch den Bericht Iswolskis an Sasonow vom 13.9. 1914 bei Volkmann, Annexionsfragen ( = U.A. IV, Bd. 12, I, 1929) Anl. 2 und ebd. die Anlagen 3-5, ferner E. Höhle: Das Experiment des Friedens im Ersten Weltkrieg. 1914-17. G W U 1962, 465-522. Über die Zukunft der preußischen Provinz Posen bestand im russischen Ministerrat keine volle Einigkeit, vgl. W. Conze: Polnische Nation, 76. S.84

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) Näheres bei Lafeber, a . a . O . , und bei Sch.-Gr., I, passim. Zusammenfassung in dem Akademievortrag von G. Wormser: Les sondages de l'Allemagne en 1915 et 1916 en vue d'une paix séparée avec la Francs, in: Revue des T r a v a u x de l'Académie des Sciences Morales et Politiques, 116 e année, 4^ m e série, 1963, p. 255 ff. Uber Sondierungen in Petersburg s. auch E.Zechlin, a . a . O . , (Beil. 22/23, 28.5.1963), S 3-23. Der große Aufsatz von R, Stadelmann: Friedensversuche im ersten J a h r des Weltkriegs, H Z 156 (1937), setzt, noch ohne Kenntnis der deutschen Aktenbestände, den Beginn der Mission Andersen viel zu spät an u n d gelangt dadurch, S. 541 f., zu irrigen Vorwürfen gegen angebliche Versäumnisse der deutschen Diplomatie. Er scheint mir aber auch, allzu kühn konstruierend, sowohl die praktische Bedeutung der Opposition Wittes und der von St. konstruierten „Gruppe fortschrittlicher russischer Bürokraten" (S. 537 ff.), zu überschätzen wie die Besorgnisse der russischen Diplomatie im Blick auf die Zukunft der Meerengen und die Möglichkeit eines russisch-deutschen Condominiums in Stambul. Fischers Behauptung, S. 277, die Russen hätten Angst gehabt vor zu weitgehenden Forderungen Deutschlands (was F. offenb a r begründet findet), stützt sich auf weiter nichts als auf eine völlig belanglose Äußerung des Agenten Nobel, man hätte Angst vor den deutschen Juden (gemeint sind: Bankiers), die Bethmann wegen Kriegskontributionen zu Rate ziehen würde! - Uber die (doch redit ungeschickten und Jagows Instruktion sicherlich nur sehr inkorrekt wiedergebenden) Bemühungen der Wassiltschikowa vgl. auch O. Becker: D e r Ferne Osten und das Schicksal Europas 1907-18 (1940), S. 52ff. Beckers These, die Furcht des Zaren vor einer Invasion Japans in Sibirien im Fall eines deutsch-russischen Sonderfriedens habe dessen Entschlüsse wesentlich mitbestimmt, verträgt sich nicht recht mit den zahlreichen Bemühungen des japanischen Gesandten Ushida in Stockholm 1915-17, mit den deutschen und österreichischen Diplomaten in Fühlung zu kommen, um einen Sonderfrieden mit den Mittelmächten zu erreichen oder Vermittlung eines Sonderfriedens mit R u ß l a n d anzubieten. Allerdings wurden diese Bemühungen sowohl in Wien wie in Berlin als sehr fragwürdig betrachtet: Wien H . H . S t . A . K r . 25, 1. Sch.-Gr., I, S. X X X I I I (Aufzählung der betr. Stücke). J a g o w vermutete: „Die Japs haben die Verhandlungen mit uns benützen wollen, um damit auf R u ß l a n d (in ihren China-Verhandlungen) zu drücken": ebd., N r . 270, N . 3. Ausführlich behandelt die Bemühungen Ushidas E. Höhle in der Festschrift f ü r O. Becker von 1954, 266 ff. Er sieht darin eine „Umschichtung des Weltstaatensystems" sich anbahnen, deren Vollzug die deutsche Politik durch ihr Zögern verfehlt habe. Mir scheint das eine überkühne Deutung.

60 ) Vertrag v o m 1./6. 10. 1914 s. Smith, a . a . O . , 23 ff. Varnbüler an Weizsäcker 24. 5. 1915: J a g o w h a t ihm erklärt, die Rumänen forderten ganz Siebenbürgen bis zur Theiss, das könne niemand den Österreichern zumuten. D a müsse man schon auf den Erfolg der galizischen Offensive vertrauen. H.St.A. Stuttgart, E 73/61/129 II. 61 S. 86 ) Die wichtigsten von ihnen aufgeführt bei Zwehl, 144 f. Das R A W läßt in seinem abschließenden Urteil, V I I I , 622 f., die Frage, ob eine „Totalvernichtung" der russischen K a m p f k r a f t möglich war, vorsichtig offen, hält es aber f ü r sicher, daß eine anders angelegte (östlich des Bug und über Wilma vorstoßende) Operation größere Erfolge, vor

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A n m e r k u n g e n z u m 2. K a p i t e l

603

allem einen „ ü b e r s t ü r z t e n " und also verlustreichen R ü c k z u g der Russen aus Polen b e w i r k t h a b e n w ü r d e . L u d e n d o r f f s zurückhaltendes U r t e i l in seinen 1919 geschriebenen E r i n n e r u n g e n e r k l ä r t sich wahrscheinlich aus seinem d a m a l s stark e m p f u n d e n e n Bedürfnis, nichts auf die alte kaiserliche A r m e e und ihre F ü h r u n g k o m m e n zu lassen. «) Falkenhayn: O b e r s t e Heeresleitung, 107, 120 ff. R A W V I I I , 3 4 7 f f . s.86 63 ) E r hat das selbst a m 24. 8. in einem Schreiben an H i n d e n b u r g ( R A W V I I I 350) sehr s. 86 eindrucksvoll und w ü r d i g z u m Ausdruck gebracht: Seine schwere G e s a m t v e r a n t w o r t u n g k ö n n e n i e m a n d m i t i h m teilen. Er w ü r d e es als Verbrechen empfinden, seine „ehrliche sachliche Ü b e r z e u g u n g der Ansicht irgendeines anderen, m a g er noch so hoch s t e h e n . . . o d e r noch so v e r e h r u n g s w ü r d i g sein", u n t e r z u o r d n e n , „nicht e t w a , weil ich mich f ü r besser h a l t e als viele a n d e r e - ich kenne meine Unzulänglichkeit nur zu genau - , sondern weil es in meinem A m t , das m i r ohne eigenes Z u t u n . . . ü b e r t r a g e n w o r d e n ist, nach meiner A u f fassung keine sachlichen Kompromisse geben d a r f . " So R. Stadelmann, H Z 156, S. 524. ) Ludendorff an U.St.S. Z i m m e r m a n n E n d e August (pr. 2 7 . 8 . 1 9 1 5 ) : „ J e t z t m u ß die Zeit da sein, w o w i r den Lithauern etwas bieten müssen, d a n n ist dort etwas zu erreichen. D e n S e p a r a t f r i e d e n mit R u ß l a n d b e k o m m e n w i r nicht, brauchen ihn auch nicht, denn w i r sind stark. N a c h d e m m i r Polen g e n o m m e n ist" (nämlich durch die Schaffung des selbständigen G e n e r a l g o u v e r n e m e n t s Warschau a m 2 4 . 8 . , d. Verf.) „ m u ß ich m i r ein anderes Königreich in L i t h a u e n und K u r l a n d g r ü n d e n . N u r geben Sie mir politische D i r e k t i v e n . L i t h a u e n w a r t e t auf ein Schlagwort." F o l g t die F o r d e r u n g , die V e r w a l t u n g des G o u v e r n e m e n t s Lomsha jetzt schon v o n der Polens a b z u t r e n n e n , da ja doch „die N a r e w - G r e n z e 65

bei O s t r o l e n k a - L o m s h a - O s s o w i e c z " deutsch w e r d e n m u ß . A . A . W . K r . 20 c geh., Bd. 1 ( K o p i e von A. S. 5422). 66 ) Vgl. d a z u H. Meier-Welcker: D i e deutsche F ü h r u n g an der W e s t f r o n t im F r ü h s o m m e r 1918. Zum P r o b l e m der militärischen Lagebeurteilung, W a G 1961, 164 ff. Briefwechsel, 8. 7., 5. 8., 10. 8., 18. 8., 27. 8., 7. 12. 1915 in Z.A. P o t s d a m , R K V I I , 9. 68 ) An Valentini, 2 2 . 8 . : Valentini, 228. Ferner Schreiben des O b e r p r ä s i d e n t e n in Posen, 8. 7. 1915: Z.A. P o t s d a m , V I I , 4. D e r österreichische Botschafter Prinz H o h e n l o h e berichtete ä u ß e r s t gehässig über F a l k e n h a y n nach Wien, e r k l ä r t e ihn f ü r einen ehrgeizigen Streber u n d eifersüchtigen R i v a l e n H i n d e n b u r g s u n d beschwerte sich beim A . A . über die Verleihung des Schwarzen A d l e r o r d e n s an ihn nach d e m Durchbruch v o n T a r n o w - G o r l i c e , dessen I d e e doch von C o n r a d s t a m m e ! Wien H . H . S t . A . Kr. IVe Deutschland im allg. 69 ) Wie es F. Fischer 232 dem Leser nahezulegen scheint. D e r Briefwechsel (beide a m 3. 6.) bei Sch.-Gr., I, N r . 96/97, s. a. R A W V I I I , 604. 70 ) Angebot M a n k i e w i t z E n d e Juli nach dem Bericht des Stockholmer russischen G e s a n d t e n N e k l u d o w in: „Die europäischen Mächte u n d die T ü r k e i . K o n s t a n t i n o p e l und die Meerengen." Bd. I V 333-337. Es ist s o n d e r b a r , d a ß von der soviel besprochenen Mission M a n k i e w i t z im Politischen Archiv des A. A. nichts zu finden ist. Vgl. aber über ihre V o r bereitung ( V e r a b r e d u n g mit der Türkei, usw.). Fischer, 232, 234, ferner B e t h m a n n H o l l w e g selbst in P r . Jb. 178, 115 ff. sowie Lafeber, 108 f. 71 ) „Aus zuverlässiger Quelle", die a b e r nicht g e n a n n t w i r d , und auch aus d e m bisher b e k a n n t e n M a t e r i a l nicht zu erschließen ist: Reichskanzler an F a l k e n h a y n , A . A . W . K r . 2 geh. Bd. 8 ( R e i n k o n z e p t ) . 72) A . A . W . K r . 15 geh., Bd. 1 (14.6.), Sch.-Gr., N r . 104, v e r a n l a ß t durch die schon oben ( A n m . 38) zitierte Niederschrift des O s t r e f e r e n t e n T r a u t m a n n ( N r . 102). Diesem h a t t e n seine G e w ä h r s m ä n n e r v o n einem „im G e n e r a l s t a b a u f g r u n d der Schiemannschen Schriften ausgearbeiteten memoire" berichtet, nach dem nicht nur K u r l a n d , sondern auch L i v l a n d mit R i g a deutsch w e r d e n sollte. Dieses memoire k a n n wohl n u r aus d e m G e n e r a l -

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A n m e r k u n g e n z u m 2. Kapitel

stab Oberost stammen. T r a u t m a n n hielt seinerseits einen Sonderfrieden mit R u ß l a n d auch nach noch größeren deutschen Erfolgen f ü r ebenso ausgeschlossen wie eine Revolution w ä h rend des Krieges. 73 S. 89 ) B. H . wendet sich ausdrücklich gegen die Publizistik des Baltendeutschen Th. Schiemann, von dem die ganze gefährliche Bewegung ausgehe. F. Fischer, 233, bringt es fertig, auch dieses D o k u m e n t als Beweisstück f ü r Bethmanns „Griff nach der Weltmacht" auszuwerten, indem er nur einen Satz daraus zitiert, der (sachlich belanglos, aber f ü r den Soldaten bestimmt) darauf hinweist, eine grundsätzlich anti-russische Politik des dominium maris Baltici wäre überhaupt nur denkbar, wenn Finnland und Schweden mitgingen. Übrigens h a t sich die Haltung B. H.s gegenüber der Baltenfrage rasch gewandelt. D a r ü b e r vgl. das nächste Kapitel. 74 S, 89 ) F. Fischer, 225. 1mm. Geiss: Der polnische Grenzstreifen 1914-18 (1960), S. 73. Fisdier stellt es so dar, als wäre der Anstoß von B. H . ausgegangen, was mir aber unsicher scheint: er könnte auch Hindenburg nur gebeten haben, seine Wünsche kartenmäßig genauer zu fixieren. 75 S. 89 ) Sch.-Gr., N r . 121. Es gehört zur Methode F. Fischers, daß er Referentenberatungen der verschiedenen Ministerien über Ostfragen ohne weiteres als identisch mit den letzten Absichten u n d Kriegszielen des Kanzlers betrachtet, ebenso die Gutachten von Experten wie dem Regierungspräsidenten von Schwerin oder dem Agrarpolitiker Sering. So ist ihm sicher, d a ß der Grenzstreifen „mehr als doppelt so groß als Elsaß-Lothringen" sein sollte, u n gerechnet das kurländisch-litauische Gebiet (Beschlüsse einer Beratung vom 13. 7., S. 235, nach I. Geiss, 91 ff., dazu vgl. die Kritik von H. Günther, in: Außenpolitik, X I I , 1961, 602 u n d E. Zechlin, a. a. O., Beil. 22/63, S. 16-21). D e r badische Bundestagsgesandte Nieser w u ß t e am 7. 8. aus Berlin zu melden, Hindenburg habe ein Programm der Grenzsicherung entworfen, das auf Annexion eines Gebietes im U m f a n g Schlesiens hinausliefe: GLA. Karlsruhe, H . u. St. A. IV, 35. S. 90 S.90

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76 ) Wie es F. Fischer, 236, tut. Die oben hervorgehobene Wendung zeigt m. E. deutlich, d a ß B . H . an einen Totalsieg über Rußland ebensowenig geglaubt hat wie Falkenhayn. 77 ) B . H . an Falkenhayn 4 . 8 . (zwei Schreiben), Sch.-Gr. N r . 121/23. Falkenhayn hatte a m 22. 7. ein Schreiben Conrads übersandt: man d ü r f e den rechten Zeitpunkt zum Sonderfriedensschluß nicht verpassen: ebd., N r . 117 (auch R A W V I I I , 608). A n t w o r t Bethmanns an Falkenhayn, ebd., N r . 119. Das Schreiben ist betont höflich gehalten und schließt mit der Bitte um Stellungnahme des Militärs. Replik Falkenhayns, 4. 8. (Resignation), ebd., N r . 122. B. H . an Gesandten Lucius, 31. 7., ebd., N r . 120. 7S ) H o h e n l o h e an Burian, 9. 8. 1915, Wien H . H . S t . A . Kr. IVa Deutschland allg. Korrespondenz über deutschen Annexionismus, 11. 7. u n d 22. 7., ebd., Aufzeichnung Bethmanns über U n t e r h a l t u n g mit Tisza, 18. 6. 1915, bei Sch.-Gr., N r . 105. 79 ) Vgl. den oben Anm. 70 zitierten Bericht N e k l u d o w s vom 31.7., N r . 337. Ferner Berichte Andersens vom 5. 8. (durch Rantzau-Kopenhagen) und 9.8. (Aufzeichnung Ballins) bei Sch.-Gr. I, N r . 124, 127. D a z u Bethmann Hollweg: Betrachtungen II, 99 ff. 80 ) Klaus Schwabe, a . a . O . , K a p . I, 4. Der oben Anm. 78 zitierte Bericht des Prinzen Hohenlohe v o m 11.7. unterstrich besonders (wohl etwas übertreibend) die Rolle des Fürsten H a t z f e l d t im Kreise der Anti-Annexionisten und w u ß t e zu melden, d a ß dieser nicht ohne Erfolg bei H i n d e n b u r g Unterstützung suche. Der Marschall habe auf ein Schreiben H a t z feldts, in dem dieser den Charakter des Krieges als reiner Verteidigungskrieg unterstrich, geantwortet: das sei ihm direkt aus der Seele gesprochen! Diese Mitteilung stimmt zu der damaligen H a l t u n g von Oberost Bethmann gegenüber. 81 ) Allerdings h a t er den sozialdemokratischen Abgeordneten gegenüber E n d e Mai vorsichtige Andeutungen über seine Hoffnungen auf russische Friedensbereitschaft gemacht und

Anmerkungen zum 3. Kapitel

605

seine eigene grundsätzliche Friedensbereitschaft unzweideutig bezeugt: Ph, Scheidemann: Memoiren eines Sozialdemokraten I, 346 ff. Das Buch macht die verklemmte Lage des Kanzlers zwischen Rechts und Links sehr anschaulich, zeigt auch deutlich sein Bestreben, immer mit den Führern der Linksparteien in Fühlung zu bleiben. 82) S. Kap. 1, Anm. 58. 8 3 ) Briefwechsel Hertling-Lerchenfeld-Bethmann Hollweg-Legat.Rat von Schoen 2 1 . 3 . bis 24. 6. 1915. Dazu Aufzeichnungen Lerchenfelds über die Sitzung des Bundesratsausschusses vom 7. 4. 1915, alles Geh.St. A. München. S. a. E. Deuerlein: Bundesratsausschuß, S. 279. Ludwig I I I . wollte von Hertlings Vorschlägen für einen russischen Sonderfrieden nichts wissen. Hertling seinerseits war entsetzt über die Skepsis, die er im A. A. (Stumm) hinsichtlich des Sonderfriedens antraf. Vgl. K. H. Janssen, 44 ff. 8 4 ) Nähere Darlegung bei E. Zechlin: Beil. 22/63 zum „Parlament", S. 27ff. 8 5 ) Näheres s. Kap. 5. 86) F. Fischer, der diese Rede, S. 238 f., zu einem Haßgesang gegen England stempelt, verkennt völlig die politische Notwendigkeit für Bethmann, mitten im Streit um die U-Boot-Kampagne sich gegen den Vorwurf der Anglophilie zu wehren. Daß Bethmann in seiner Aussprache mit Parteiführern der Rechtsparteien am 13. Mai, die er für eine Mäßigung ihrer Polemik zu gewinnen suchte, sich über seine „Kriegsziele" eingehender und positiver äußerte als in der Reichstagsrede (Fischer, 229 ff.), ist selbstverständlich, besagt aber nichts über seine letzten Absichten und seine Beurteilung der Gesamtlage. 8 7 ) Vgl. seine sehr skeptische Aufnahme einer Denkschrift über die Beschlagnahme des belgischen Eisenbahnwesens, die ihm Groener am 13. 3. 1915 zur Weitergabe an den Kanzler überreichte: W. Groener Lebenserinnerungen 277. Im Frühjahr 1916 allerdings, unter dem Einfluß der Marine und ihrer U-Boot-Führung stehend, hat er sich für die Beherrschung Belgiens ausgesprochen: Schrb. an B. H. 13.2. 16: Sch.-Gr. I, Nr. 199. Allerdings war ihm 1916 ebenso klar wie 1915, daß ein deutsches Festhalten an Belgien eine Aussöhnung mit England unmöglich machen würde; er hoffte aber 1916 auf ein Niederringen Englands mithilfe der U-Boote, s. Kap. 5 I I I .

S.93 s.93

s.93 S.94 s.94

s.94

A N M E R K U N G E N ZUM 3. K A P I T E L 1) R A W I X , 4, 20 und passim. 2) BA Koblenz. Nachlaß Wild Nr. 2, Aufzeichnung vom 1. 11. 1915. Wild war von der Persönlichkeit Bethmanns, den er in Charleville dreimal gesprochen hatte, stark beeindruckt. Er höre sehr aufmerksam zu und ließe sich gern durch soldatischen Optimismus aufrichten. Seine Einwände seien immer anregend und ideenreich; er habe nur zuviel „dickes Blut". 3 ) Eine klare und präzise Darstellung bietet C. Muehlmann, der sich in der Hauptsache auf die 1945 verbrannten Akten des ehemaligen Heeresarchivs in Potsdam stützt. 4) Muehlmann, 101 ff. Zu beachten ist die selbstsichere und selbstbewußte Sprache der Gegendenkschriften Falkenhayns in der Korrespondenz mit Bethmann Hollweg. Serbischer Sonderfrieden: Schriftwechsel Tschirschky-Jagow, 18.-30.5. bei Sch.-Gr. I, Nr. 84, 86, 87, 90, 91. R A W I X , 152. Jagows Plan gründete sich auf den scharfen Gegensatz der Serben zu Italien, denen im Londoner Aprilvertrag fast die ganze dalmatinische Küste versprochen worden war. 5 ) A . A . Deutschland 122, Nr. 16 geh. Personalia Bethmann Hollwegs. Bemühungen um einen Sonderfrieden mit Serbien: Sch.-Gr. I, Nr. 142ff. 6 ) A . A . Deutschland, 128, Nr. 8 geh. und Griechenland, 61. Ich verdanke die Kenntnis dieser Korrespondenzen meinem Amanuensis cand. phil. Gerd Lauruschkat, der eine Studie über die deutsche Griechenlandpolitik im Ersten Weltkrieg vorbereitet.

s. 9 7 s.97

s.99 s.100

s. 103 s. 104

606 S. 104

S. 105

S. 106

S. 106

S. 107

S. 107 S. 107

S. 109 S. 109 S. 109

S. 112

Anmerkungen z u m 4. Kapitel

7 ) Sch.-Gr. I, 143 bzw. 149 bis. Auch das weitere nach den Dokumenten bei Sch.-Gr. Aufzählung der Stücke S. LVIII ff. Die österreichischen Gegenstücke der Korrespondenz finden sich in Wien H.H.St.A., Krieg 25g, eine sehr ausführliche Aufzeichnung Burians über seine Aussprachen mit Bethmann am 10./11. November, ebd., sub X L V I I geh. 3t»s-10. Der (bald fallengelassene) Gedanke Burians, König Nikita zum Herren über Serbien zu erheben, wurde von Jagow mit viel Befremden aufgenommen. Recht genaue Berichte über die Balkanverhandlungen mit Österreich und über die österreichisch-bulgarischen Streitigkeiten nach Mitteilungen aus dem A. A. lieferte der badische Bundestagsgesandte Nieser seiner Regierung Januar bis April 1916: GLA. Karlsruhe, Gesandtschaft Berlin, fasc. 36. 8 ) Viele Zeugnisse dafür, besonders in Bethmanns Korrespondenz zum Beispiel an H e r t ling, 2 . 7 . 1 9 1 5 : „Mit Burian ist es unmöglich politische Geschäfte zu machen" (München GSTA, Pol. A. V I I , 53). 9 ) Burian legt das vorläufige Einverständnis des Ausw. Amts sogleich so aus, daß „Deutschland ihm empfohlen habe, ganz Serbien von der Landkarte verschwinden zu lassen"! Erlaß Burians an Hohenlohe, 24. 1. 1916 (s. u.) und Sch.-Gr. I, S. 261. 10 ) Berichte Hohenlohes über Aussprachen mit Bethmann vom 20., 22. und 25. 1. 1916. Erlasse Burians an Hohenlohe vom 21. und 24.1.1916: Wien, H.H.St.A., Krieg 25 k. Beridit des G r a f e n T h u m aus Pleß vom 27. 1., ebd. Danach wurde auch Wilhelm II. veranlaßt, in Bethmanns Sinn auf die österreichische Politik einzuwirken. " ) Eine Havasnachricht vom Abbruch der Verhandlungen durch Nikita am 18. 1. nahm Bethmann mit Erschrecken auf und wollte zunächst nicht glauben, daß die österreichische Diplomatie so ungeschickt gewesen sei, dem besiegten Gegner nicht goldene Brücken zu bauen: Lerchenfeld an Hertling am 20.1. GSTA München, Pol. VII, 50. 12 ) An den Botschafter Prinz Hohenlohe, 2. 11. 1915. Wien H.H.St.A., Krieg 25 g. 13 ) C o n r a d an Burian, 5. 11., 26. 11., 28. 11., undatiert pr. 7. 12., 18. 12., 21. 12. Zwei undat. Schreiben pr.: 26. 12., 31. 12., undat. p r . : 2. 1., 24. 1., 25. 1., 31. 1. Burian an C o n r a d : 25.12., 26.12., 28.1., 30.1. Alles in Wien H.H.St.A., Krieg geh. XLVII, 2 b 14/15. 14 ) Burian an Graf T h u m (diplomat. Vertreter beim AOK) f ü r Baron Conrad, 30.1.1916: Wien, H.H.St.A., a. a. O., fasc. 15. 15 ) Tisza an Burian, 30.12.1915, a . a . O . , fasc. 14. 16 ) C o n r a d an Burian, 31. 12. 1915, ebd.; dazu Conrad an Tisza, 4. 1. 1916. = Anhang zum Protokoll des Ministerrats vom 7. 1.: Wien H.H.St.A., Pol. Arch. X X X X , 292, Sitzung 526. 17 ) Falkenhayn: Oberste Heeresleitung, 160 ff. Diese Darstellung läßt nicht erkennen, wie lange immerhin F. am Gedanken eines Angriffes auf Saloniki festgehalten hat.

A N M E R K U N G E N Z U M 4. K A P I T E L S. 113

1) K. Helfferich,

S. 114

2

II (1919), 291.

) Korrespondenz Lerchenfeld-Hertling, 27.10., 31.10., 2.11., 3.11.1915. München G.St.A., Pol. A. VII, 50. Lerchenfeld mußte seine eigene entschiedene Zustimmung zu den Ausführungen Wedels gegenüber Hertling etwas verschleiern. Am 2. 11. meldete er, der Kaiser wäre, nach einem Besuch in Brüssel, „wieder happig auf Belgien geworden", und auch Hindenburg, „der bisher immer gegen Annexionen" (sc. im Westen) „und für einen baldigen Frieden auch ohne Landgewinn w a r und das auch schriftlich ausgesprochen hat, will jetzt auch möglichst viel nehmen." - Über die Haltung Falkenhayns in der belgischen Frage vergleiche den Bericht Treutiers vom 2.11. 1915: Sch.-Gr., N r . 159. Danach hat er dem Kaiser gegenüber eine (vom Generalstab als geeignet erkundete) Linie Ostende-Metz

Anmerkungen zum 4. Kapitel

607

als „Aufmarschlinie" in künftigen Kriegen „als unerläßlich bezeichnet", sich aber innerlich nicht festgelegt. Man müsse erst den Kriegsausgang abwarten. 3) Schon am 20. 10. hatte ihm Prinz Hohenlohe diesen Vorschlag gemacht und ihn nicht s.114 abgeneigt gefunden: Hohenlohe an Buriän, 2 1 . 1 0 . 1 9 1 5 : Wien, H.H.St.A. g e h . X L V I I , 3 - 1 0 . Auf erneutes Drängen Hohenlohes am 24. 11. äußerte B . H . indessen Bedenken wegen Vorwurf der Schwäche (ebd.). - Mit Admiral von Müller hatte er schon am 7. 8. die Eröffnung von Friedensverhandlungen mit unseren Kriegsgegnern erörtert und gemeint, die Zeit dafür wäre gekommen, sobald der große Angriff auf die Dardanellen abgeschlagen wäre. v. Müller, 121 f. «) B. A. Koblenz, Nachlaß Wild Nr. 2. 5 ) Falkenhayn (über Leg.Sekr. von Luckwald) an B . H . , 29. 11. Dessen Antwort, 30. 11. Potsdam Z . A . , R . K . I I , G r . H . Q u . 21, Bd. 1. S. auch R A W X , 1. Wie F. Fischer, 258, aus Bethmanns Schreiben eine „Einheit des deutschen Siegeswillens" herauslesen kann, ist mir unerfindlich. - In einer Sitzung des diplomatischen Bundesratsausschusses vom 30. 11. hat Bethmann ein Friedensangebot der Mittelmächte in diesem Augenblick (während des serbischen Feldzuges also) abgelehnt, da es als Schwächezeichen wirken würde. Bericht Varnbünlers. Stuttgart H.St.A. Ausw.Min. I V , 3, B.A.V., 16. Ebenso Bericht Niesers: Karlsruhe GLA. Gesandtsch. Berlin, 35. Beide Berichte zeigen aber auch, daß Bethmann in völliger Ungewißheit über den Kriegsausgang jede Festlegung auf bestimmte „Kriegsziele" ablehnte.

S. 114 S . 114

6) Scheidemann: Zusammenbruch, 30 ff. Die inneren und äußeren Schwierigkeiten der s. 115 Partei schildert sehr anschaulich Scheidemanns 2. Buch: Memoiren I, 334 ff. 7) F. Fischer, 259. S. 115 8) Falkenhayn an Bethmann, 4. 11., Antwort, 12. 11.; Bethmann an Wild, 29. 11., Ant- s. 115 wort 6 . 1 2 . ; Potsdam Z. A., R . K . V I I , 6. Dazu B . A . Koblenz, Nachlaß Wild, Nr. 2. Falkenhayn bittet den Kanzler, durch Besprechung mit den Parteiführern zu verhindern, daß die Lebensmittelnot im Plenum des Reichstags zur Sprache kommt. B . H . erklärt, es bedürfe dieser Mahnung nicht. Wild habe erklärt, das Menschenmaterial reiche noch bis Herbst 1916, Falkenhayn dagegen: es reiche noch drei Jahre, ebenso Rohstoffe und Lebensmittel. Auf Rückfrage wegen dieses Widerspruchs erklärt Wild, mehr als subjektive Schätzungen wären vorläufig nicht möglich. Falkenhayn über Erschöpfungskrieg: Sch.-Cr. I , p. 164 ( 3 0 . 8 . 1915).

9) v. Müller, 144. 1°) Sehr genaue Schilderung in dem vortrefflichen Buch des Amerikaners H . C. Meyer: Mitteleuropa in German Thought and Action 1815-1945, 1955. Kap. V I I ff. (noch ohne Kenntnis der deutschen diplomat. Akten). 11) Nach Th. Heuss: Friedrich Naumann. 2. Aufl., 1949, S. 336, bis 1917 über insgesamt 137 000 Exemplare verbreitet. 12) Sch.-Gr. I, 134, 135, 137, 139, 141, 147 (Korrespondenz Bethmann-Falkenhayn, 30. 8. bis 13. 10.). Dazu Nachlaß Wild, Nr. 2 in B. A. Kobl. Weitere Dokumente bei P. R. Sweet, in: Festschrift für H. Benedikt, 1957. 1 3 ) General Wild (Nachlaß, a. a. O.) riet auf Falkenhayns Bruder Arthur, Geheimrat im preußischen Innenministerium, den auch Riezler im November 1914 als besonders tätigen Bearbeiter des Mitteleuropagedankens neben Geh.R. Rechenberg traf. Nach einer (mit B. unterzeichneten) Aktennotiz vom 27. 10. vermutete man im A. A., der diplomatische Agent Ludwig Roselius, der am 6. 11. 1914 den König von Rumänien für einen großen antirussischen Staatenverband zu gewinnen versucht hatte, stecke dahinter. A. A. Dtld. 180 geh. Bd. 1. 14) Wild: Nachlaß B . A . Koblenz.

S. 115 S. 116

s. 117 S. 119

s. 120

S.121

608 S. 122 S. 123

A n m e r k u n g e n z u m 4. K a p i t e l

15

) 29. 12. 1915, N a c h l a ß Delbrücks. ) N a c h l a ß W i l d , a. a. O . E r berichtet, d a ß auch B e t h m a n n d e n „Schmiß" a n e r k a n n t e . W i l d s n ü c h t e r n e eigene V o r s c h l ä g e : Sch.-Gr. I, N r . 147, 13. 10. 1915. u S. 123 ) H. v. Seeckt: A u s m e i n e m Leben. 258 ff., Brief v o m 29. 10., d a z u vgl. U n t e r h a l t u n g m i t F a l k e n h a y n a m 26. 10., ebd., 249. 18 S. 124 ) S z ö g y e n y an B e r c h t o l d 11. 8. 1914 ( v e r a n l a ß t durch T e l e f o n a t des G r a f e n H o y o s v o m 10. 8.) m e l d e t , d a ß J a g o w keinen A u f r u f a n die P o l e n o h n e v o r h e r i g e R ü c k s p r a c h e m i t W i e n erlassen w i r d . Bisher n u r militärischer A u f r u f d u r c h Z e p p e l i n a b g e w o r f e n . Wien, H . H . S t . A . G e h . X L V I I , 11., E b d . auch die im f o l g e n d e n z i t i e r t e n D o k u m e n t e . Sie sind (neben a n d e r e n Q u e l l e n ) auch in der D a r s t e l l u n g v o n W. Conze: Polnische N a t i o n , 5 ff. schon v e r w e n d e t w o r d e n , u n d z w a r u n t e r B e n u t z u n g der in m e i n e m A u f t r a g d u r c h W . Steglich a n g e f e r t i g t e n A k t e n a b s c h r i f t e n . ,6

,9

) D a r ü b e r e i n g e h e n d W. Conze, a. a. O., 51 ff. ) D i e P r o k l a m a t i o n des G r o ß f ü r s t e n N i k o l a i (nicht des Z a r e n ! ) v o m 16. 8. v e r s p r a c h z w a r d i e W i e d e r v e r e i n i g u n g , aber nur „ F r e i h e i t des G l a u b e n s , d e r Sprache u n d d e r Selbstv e r w a l t u n g " , nicht v o l l e U n a b h ä n g i g k e i t . 21 S. 126 ) Telefonische W e i s u n g an Szögyeny, 1 8 . 8 . , a . a . O . , vgl. d a z u Berchtold an C o n r a d , 1 8 . 8 . , in dessen „ M e i n e D i e n s t z e i t " IV, 4 8 0 .

S. 124 S. 124

S. 126

20

22

) Es ist sehr b e m e r k e n s w e r t , d a ß T i s z a auch noch in seinem b e k a n n t e n G e s p r ä c h m i t B . H . a m 1 8 . 6 . 1 9 1 5 , nach seinen Kriegszielen b e f r a g t , v o m E r w e r b Polens nichts sagte, s o n d e r n n u r einen E r w e r b der K o h l e n g r u b e n v o n Sosnowice f ü r erwünscht e r k l ä r t e , allenf a l l s i m Austausch gegen ostgalizisches o d e r ruthenisches G e b i e t : Sch.-Gr. I, N r . 105. 23 S. 127 ) I m E r l a ß an H o h e n l o h e v o m 21. 8. findet sich ein P r o k l a m a t i o n s e n t w u r f , d e r u. a. b e h a u p t e t , d a s neu z u schaffende Königreich P o l e n solle „ u n t r e n n b a r an die S t a a t e n d e r habsburgischen M o n a r c h i e angegliedert" u n d „ u n t e r Berücksichtigung der höchsten I n t e r essen u n d B e d ü r f n i s s e d e r M o n a r c h i e n a t i o n a l f r e i h e i t l i c h u n d a u t o n o m v e r w a l t e t w e r d e n " . H o h e n l o h e hielt ihn a b e r klugerweise z u r ü c k , w a s Berchtold nachträglich billigte. S. 127

24 ) G r a f H o y o s a n H o h e n l o h e , 2 8 . 8 . Bereits hier taucht die s p ä t e r so oft w i e d e r h o l t e A n r e g u n g a u f , die D e u t s c h e n sollten sich doch a n der baltischen K ü s t e östlich v o n O s t p r e u ß e n einen „ P u f f e r s t a a t " schaffen. D a s Schreiben a t m e t Besorgnis v o r einem Z w i s t m i t d e n D e u t s c h e n über P o l e n u n d Bereitschaft, sich schlimmstenfalls auch mit deutschen A n n e x i o n e n im K o h l e n g e b i e t a b z u f i n d e n , d a s a b e r d a n n geteilt w e r d e n müsse!

S. 128

25 ) E r l a ß a n H o h e n l o h e , 1 3 . 1 0 . 1 9 1 4 : Beschwerde ü b e r F ö r d e r u n g n a t i o n a l - r e v o l u t i o n ä r e r B e w e g u n g e n ( w o h l Pidsuldskis?) in K o n g r e ß - P o l e n d u r c h die deutschen T r u p p e n o h n e K o n t r o l l e durch d a s K r a k a u e r N a t i o n a l k o m i t e e . P r i v a t s c h r e i b e n Berchtolds an C o n r a d , 14. 10.: er m ö g e diesem T r e i b e n durch E n t s e n d u n g eines M i l i t ä r g o u v e r n e u r s nach RussischP o l e n e n t g e g e n w i r k e n . (Beides W i e n , H . H . S t . A . , a. a. O.)

26 ) B u r i ä n an G r a f T h u m f ü r A . O . K . , 17. 7. 1915. W i e n , H . H . S t . A . , Krieg I I a . E r w e i ß bisher n u r , d a ß D e u t s c h l a n d sich polnisches Gebiet nicht a n g l i e d e r n will, a u ß e r G r e n z r e k t i f i k a t i o n e n , w i r d a b e r bestimmte E r k l ä r u n g e n f o r d e r n . K o r r e s p o n d e n z B e t h m a n n F a l k e n h a y n , 4. 8. 1915: Sch.-Gr. I, N r . 1 2 1 - 1 2 3 . 27 S. 128 ) O b e n K a p i t e l 2, z u A n m . 75.

S. 128

S. 128

28 ) W e i s u n g J a g o w s a n T r e u t i e r 19. 7. u n d A n t w o r t v o m 23. 7. bei Zwehl, h a y n , 168.

S. 128

29

S. 129

30

) Sch.-Gr.

Falken-

I, N r . 140 A n h a n g .

) Es ist selbstverständlich, d a ß F. Fischer, 243 ff., sie ausschließlich im Licht des e r oberungssüchtigen deutschen I m p e r i a l i s m u s sieht. W e n n er b e h a u p t e t , J a g o w h a b e P o l e n „auch nicht im Fall eines S o n d e r f r i e d e n s " a n R u ß l a n d z u r ü c k g e b e n w o l l e n , so e n t h ä l t dessen S e p t e m b e r d e n k s c h r i f t d a v o n nichts. W o h l a b e r w u r d e n sich B e t h m a n n u n d B u r i a n i n ihrer

Anmerkungen zum 4. Kapitel

609

großen Aussprache am 10. und 11. 11. darüber einig, auf Polen zu verzichten, wenn ein Sonderfrieden mit Rußland zu haben wäre: Sch.-Gr. I, p. 220. 3 1 ) Der russische „Albdruck" hat in den Erwägungen Bethmann Hollwegs und seiner s. 129 nächsten Umgebung schon im Juli 1914, wie der Nachlaß Riezlers zeigt, eine mindestens ebenso große Rolle gespielt wie im Generalstab. Riezler war zweifellos an der polnischen Politik Bethmanns 1915 stark beteiligt, vgl. dazu W. Conze, a. a. O., 141 und Bülow: Denkwürdigkeiten I I I , 249. 3 2 ) So z . B . Bülow: Denkwürdigkeiten III, 249. s. 129 33) Waldersee: Denkwürdigkeiten I, 223, 230, 301, 303, 410, 412, II, 14, 81. s.m R. Stadelmann: Moltke und der Staat (1950), 330 ff. Gegenüber Chlodwig Hohenlohe hat Bismarck am 27. 10. 1883 geäußert, in einem Krieg zur Unterstützung Österreichs gegen Rußland würden wir uns genötigt sehen, zur Wiederherstellung Polens „bis an die Düna und den Dnjepr" zu gehen, würden aber die Revolutionierung des Landes Österreich überlassen, „das dann einen Erzherzog, wenn es einen hätte, zum König von Polen proklamieren würde". Das war eine halb spielerisch hingeworfene Phantasie; offenbar betrachtete Bismarck diese Notwendigkeit als unheilvoll und erwartete, daß das neue Polen bald wieder von seinen drei Nachbarn aufgeteilt würde: Hohenlohe: Denkwürdigkeiten II, 343. Waldersee versichert jedoch, mit seinen polnischen Restaurationsplänen Bismarcks Beifall gefunden zu haben. 34) Sch.-Gr., p. 172 (an Bethmann, 8 . 9 . 1 9 1 5 ) . Die Stelle widerlegt eindeutig die DarStellung Falkenhayns in seinen Memoiren, S. 233, die ihn als prinzipiellen Gegner der Polenpolitik Bethmann erscheinen lassen möchte (was W. Conze, 139, offenbar übersieht). Natürlich wurde der Glaube an polnische Hilfstruppen auch von Conrad geteilt, der sich davon sogar „eine starke Armee ausgezeichneter Soldaten" erhoffte! Sitzungsprotokoll des gemeinsamen Ministerrats vom 7. 1. 1916. Wien, H.H.St.A., P. A. X X X X , 292. 35) Sch.-Gr. I, Nr. 141. 3 6 ) Näheres bei Conze, a. a. O., 85 ff. 3 7 ) Aufzeichnung von Bethmann vom 13.8.: Sch.-Gr. I, Nr. 131. Aufzeichnung Burians vom 14.8. Wien, H.H.St.A.XLVII Geh., 3-9. Conze, 80 f. kennt nur die letztere und hält danach Bethmann für nachgiebiger, als er gewesen ist. Nicht Nachgiebigkeit hat den Kanzler damals bestimmt, sondern die (weiter unten näher erörterte) Meinung, die austropolnische Lösung sei doch wohl das relativ geringste Übel. - Dem Besuch Burians waren Unterhaltungen Hohenlohes mit Kanzler und Staatssekretär vorausgegangen, in denen der Botschafter, durch die neuesten Feldzugserfolge zum Annexionisten geworden, jedem Gedanken an Sonderfrieden mit Rußland entgegentrat, statt dessen Aussöhnung mit England empfahl und Anschluß Polens an Österreich im Sinn eines „Trialismus" wünschte. (Stellung Polens analog der Ungarns.) Damit würde Berlin sich abfinden, meinte er, nicht mit einer Eingliederung in eine cisleithanische Reichshälfte: Hohenlohe an Burian, 9 . 8 . 1 9 1 5 , Wien, H.H.St.A., Krieg 4 a. - Die recht breite Darstellung Burians in seinen Memoiren (Drei Jahre der Zeit meiner Amtsführung im Kriege. 1923, S. 60 ff.) trägt stark apologetischen Charakter. 3 8 ) Er hatte das selbst in einem Erlaß an Lucius vom 31. 7. ähnlich ausgeführt: Sch.-Gr. I, Nr. 120. 39) An Falkenhayn, Sch.-Gr. I, Nr. 140. 4 0 ) Das ist um so merkwürdiger, als Jagow sich gerade auf jene Gründe „nationaler Sentimentalität" berief, die Bethmann am 14. 6. so scharf abgelehnt hatte. Allerdings führte er auch ein militärisches Argument an: das „autonome" baltische Herzogtum „würde uns auch einen Schutz gegen die Gefahr der östlichen Umklammerung Österreichs" (d. h. einer Umklammerung Deutschlands durch ein österreichisches Polen) „bieten". F. Fischer, 245 f.,

s. 129

s. 130 S. 130 s. 130

s. 130 S. 131 s. 131

610

A n m e r k u n g e n z u m 4. K a p i t e l

verwischt natürlich den offensichtlichen Gegensatz zwischen den Anschauungen J a g o w s u n d Bethmanns, der aber auch a m 10./11.11. noch bestanden h a t . (Siehe unten A n m . 48.) 41 S. 132 ) Näheres bei Sweet, a . a . O . , 184ff. nach den A k t e n des A.A., in denen sich ein A b druck nebst Begleitschreiben Friedjungs f ü r den K a n z l e r findet. D i e Denkschrift w u r d e (nach dem A k t e n b e s t a n d im A . A . Deutschland, 180 geh.) gleichzeitig mit einem Durchschlag des an F a l k e n h a y n gerichteten Schreibens v o m 1 1 . 9 . (bei Sch.-Gr. I, N r . 140) an T r e u t i e r zur V o r l a g e an d e n Kaiser übersandt. 42 ) Tschirschky an J a g o w , 29. 10.: Scb.-Gr. I, N r . 150. J a g o w s A u f z e i c h n u n g vom 25. 10. bei F. Fischer, 248 f. Tschirschky d r ä n g t e stark auf E r h a l t u n g des Übergewichts des deutschen Elements in Österreich u n d w a r n t e dringend v o r einer Angliederung Polens in Form des „Trialismus", weil das rasch z u r politischen E m a n z i p a t i o n der Polen v o n Wien f ü h r e n u n d sowohl dem reichsdeutschen wie dem deutsch-österreichischen Interesse z u w i d e r l a u f e n würde. 43 S. 133 ) 16 . 9 . 1 9 1 5, Sch.-Gr., N r . 141. Der E n t w u r f ( A . A . Deutschland, 180 geh., Bd. 1) von d e r H a n d Jagows. 44 S. 133 ) 13. 10, Sch.-Gr. I, N r . 147. 45 S. 133 ) I n einem (bei Sch.-Gr. fehlenden) Schreiben v o m 30. 10. an den K a n z l e r erklärte er die austro-polnische Lösung militärisch n u r d a n n f ü r t r a g b a r , w e n n alle „mündlich besprochenen" Sicherungen d u r c h g e f ü h r t w ü r d e n . In einem weiteren Schreiben v o m 4.11. f o r derte er, noch weiter gehend, eine deutsche Kontrolle der an Österreich zu überlassenden Teile Polens, schon wegen der G e f a h r russischer Wühlereien. A . A . W . K r . 2 0 c geh., Bd. l a . Vgl. d a z u Treutier a n Bethmann, 7. 11., bei Sweet, 196. Danach sah F a l k e n h a y n schon einen K a m p f mit Österreich-Ungarn u m die H e g e m o n i e voraus! General W i l d hielt das Polenp r o b l e m f ü r „im G r u n d e u n l ö s b a r " : wir können Polen nicht brauchen, es aber auch R u ß l a n d nicht wiedergeben. (Nachlaß Wild, Aufzeichnung v o m 1. 11. 1915.)

S. 133

S. 134

4

) Sitzungsprotokoll H . H . S t . A . , Pol. Arch. X X X X / 2 9 2 , N r . 524. D a s Verfassungse l a b o r a t Stürgkhs nebst Begleitschreiben Burians an H o h e n l o h e am 11. 10. gesandt: ebd., geh. X L V I I , 3 - 1 0 (in mehreren Alternativfassungen). A m 6 . 9 . (nicht 6. 10., wie Conze), 143, nach Kries angibt) h a t t e C o n r a d Burian auf schleunige Regelung der P o l e n f r a g e im austro-polnischen Sinn gedrängt. E r wollte vertrauliche Nachrichten haben, nach denen die Deutschen in ihrem „nachahmenswerten Egoismus" Polen selber zu a n n e k t i e r e n gedächten; m a n müsse sie d a r a n hindern, solange sie noch auf österreichische W a f f e n h i l f e angewiesen w ä r e n . Wien, H . H . S t . A . , K r i e g 110. S. ]34 47) Wien H . H . S t . A . X L V I I geh. 3 - 1 0 (Entwurf Burians eigh., 14, 11, K o p i e f ü r S.M.). Aufzeichnung J a g o w s v o m 14. 11. viel k ü r z e r , bei Sch.-Gr. I, N r . 167. S. 135

48 ) Es ist bemerkenswert, d a ß auch diesmal Bethmann v o n dem B e d ü r f n i s R u ß l a n d s nach „eisfreien H ä f e n " sprach, eine genaue Festlegung der ostpreußischen „Grenzverbesserung" vermied, aber nichts v o n einer „vierten Teilung Polens" wissen wollte u n d eine „sichtliche Disposition zu großer Genügsamkeit zeigte". Allerdings h a t er im Bundesratsausschuß am 30.11. (nach dem Bericht Niesers im G.L.A. Karlsruhe) gesagt, „es w ü r d e ein Vorteil f ü r uns sein, Polen, einen Teil von Litauen und Kurland von R u ß l a n d abzulösen", aber nur, „wenn es möglich wäre, ohne d a ß dadurch der G r u n d f ü r eine baldige russische Revanche gelegt w i r d . " Es sei aber schwer, sich jetzt schon d a r ü b e r bestimmte Vorstellungen zu machen.

S. 135

49 ) D i e Darstellung Fr. Fischers, 252 ff., sucht den Eindruck zu erwecken, d a ß die Aussprache wesentlich an den maßlosen Forderungen des Imperialisten B e t h m a n n gescheitert sei, w ä h r e n d Burian durchaus gemäßigt und verhandlungsbereit erscheint. D a b e i w i r d u. a. von verkehrspolitischen F o r d e r u n g e n des Kanzlers gesprochen, die Polen zum deutschen W i r t schaftsgebiet machen sollten. D a s P r o t o k o l l Burians spricht n u r ganz allgemein v o n „eisenbahnpolitischen Abmachungen, Verkehrserleichterungen u n d Abmachungen ü b e r Wasser-

A n m e r k u n g e n zum 4. Kapitel

611

Straßen", die Bethmann nicht näher präzisierte und gegen die er, Burian, keine grundsätzlichen Einwendungen erhob. 50 ) Wie zu erwarten, benutzt F. Fischer, 256, die Wendung v o n der „germanischen Ostm a r k " , um den ganzen Mitteleuropa-Plan Bethmanns als eine A r t von Eroberungsplan hinzustellen: die Habsburger Monarchie selbst sei zum „Kriegsziel" geworden. 51 ) Vertrauliche Besprechung mit den stimmführenden Bundesratsbevollmächtigten am 13.11., Sitzung des diplomatischen Ausschusses am 30.11., beides nach Berichten des badischen Bevollmächtigten Nieser: Karlsruhe G.L.A., H.St.A. IV, B 5. 52 ) Sch.-Gr. I, N r . 168. Dem diplomatischen Ausschuß des Bundesrats stellte Bethm a n n am 30. 11. diese A n t w o r t als Bereitschaftserklärung dar (Bericht Niesers, a. a. O.) H o h e n l o h e mahnte den Kanzler bei der Übergabe der offiz. A n t w o r t , „sich doch nicht den Kopf der Wiener Regierung über die Stellung der Deutschen in Österreich zu zerbrechen", ohne aber damit Eindruck zu machen. Hohenlohe an Burian am 24. 11. Wien, H.H.St.A., geh. X L V I I / 3 - 1 0 . D i e Husarenattacke, die Wilhelm I I . Ende November bei einem Besuch in Wien gegen die Tschechen ritt, (Sch.-Gr. I, N r . 170) hat das deutsche Anliegen sicherlich nicht gefördert. 53) Näheres bei G. Gratz und R. Schüller: Die äußere Wirtschaftspolitik ÖsterreichU n g a r n s während des Krieges, 1925. (Teil der Economic and Social History of the World W a r der Carnegie-Stiftung, lag mir nur in der engl. Fassung von 1928 vor.) Die Korrespondenz der beiden Außenministerien über den Beginn der Zollbündnisverhandlungen ( J a n u a r und April 1916) findet sich in Wien, H.H.St.A., geh. X L V I I / 3 - 1 0 . Sie zeigt die deutsche Regierung drängend, die österreichische ausweichend und zögernd. Ebd. auch gedruckte Protokolle der Wirtschaftsverhandlungen v o m 20. und 25. 4., 27. 4.-1. 5., 20.-26. 7. 1916. 54 ) F. Fischer, 251 (nach H. Delbrück, Ludendorffs Selbstporträt, 71); nach dem Original zit. bei Sweet, a. a. O. 55) Delbrück Nachlaß, 2 9 . 1 2 . 1 9 1 5 . 56) Seeckt, 208 ff. (14. 12.1915). 57) Sch.-Gr. I, N r . 192, auch schon bei Zwehl, 169. 53) Sch.-Gr. I, N r . 201 = Sweet, a. a. O., 204 f. Tsdiirschky h a t sich am 6. 4. (nach Sweet, 211, N . 67) Jagow gegenüber ebenfalls ablehnend über die austro-polnische Lösung geäußert. 59) Das kam schon in der Sitzung des gemeinsamen Ministerrates vom 7 . 1 . 1 9 1 6 zum Ausdruck, in der die serbische Frage beraten w u r d e : Wien, H.H.St.A., P . A . X X X X , 292. 60) Burian an Graf T h u m (für C o n r a d ) , 5 . 2 . 1 9 1 6 . ( A n t w o r t auf Bericht vom 3.2.) Wien, H.H.St.A., Krieg 11°. 61) 25. 12. 1916 Sch.-Gr. I, N r . 204. A n t w o r t Bethmanns durch Hohenlohe 29. 2., erneut 13. 3., Burian an Hohenlohe, 15. 3., A n t w o r t Hohenlohes, 16. 3., erneut 6. 4., alles in Wien, H . H . S t . A . , geh. X L V I I / 3 - 1 2 . 62) W. Conze, 146. 63) Erlaß an Beseler, 21. 2. 1916, bei W. Conze, 146. 64 ) Vorbereitung: Hohenlohe an Burian, 6 . 7 . und 10.4.; Burian an Hohenlohe, 8. u. 10. 4., alles Wien, H . H . S t . A . , geh. X L V I I / 3 - 1 2 . D e m letztgenannten Erlaß lag ein schon am 16. 3. verfaßtes Memoire bei, das jetzt gedruckt ist bei Sch.-Gr. I, N r . 223. - Deutscher Bericht über die Aussprache (an der auch Jagow, Zimmermann, Hohenlohe u n d der österreichische Gesandte von Ugron teilnahmen) in einem Schreiben Jagows an Treutier vom 16.4.: Sch.-Gr. I, N r . 227. Von österreichischer Seite liegen mehrere, zum Teil sehr ausführliche Niederschriften v o r : Protokoll Ugrons in zwei Fassungen (die zweite ist resume); dazu eine eigh. von Burian entworfene, aber Ugrons Schlußsätze wiederholende A u f zeichnung vom 18. 4., gedr. bei K. Werkmann: Deutschland als Verbündeter (1931), S. 146 ff.

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5.137

s. 138 S. 138 S. 138 S. 138 s. 138

3.139 S139

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S. 139 S. 139 s. 139

612

A n m e r k u n g e n z u m 4. Kapitel

Sie w a r f ü r den Kaiser bestimmt. Alle drei Niederschriften in Wien, H.H.St.A., g e h . X L V I I / 3-12. 65 S. 140 ) Bethmann an Treutier 10.4., dessen A n t w o r t 12.4., Sch.-Gr. I, N r . 221 bzw. 224. Dem Gesandten Treutier h a t t e Falkenhayn schon am 2 1 . 3 . erklärt: er sei durch die E r fahrung mit den mühsam ausgebildeten finnischen Freiwilligen entmutigt und lege keinen Wert mehr auf polnische Rekruten, die ihm nachher doch kein Armeeführer abnehmen wolle. Zwehl 171. 66 S. 141 ) So die Schlußsätze des Jagowschen Verhandlungsberichtes: Scb.-Gr. I N r . 277. F. Fischer, 295, behauptet, J a g o w habe darin „die Errichtung eines autonomen Polens unter deutscher Herrschaft mit Einschluß Galiziens" als deutsches Kriegsziel bezeichnet. D a v o n findet sich kein W o r t in dem Dokument. Auf S. 295 wird auch die Eingabe Beselers vom 22.4. unrichtig wiedergegeben: Beseler forderte nicht einfach, wie F. glauben läßt, „Einbeziehung Galiziens" in den polnischen Pufferstaat, sondern hoffte (seltsamerweise!), dessen freiwillige Dreingabe von Österreich gegen entsprechende Kompensationen zu erreichen. S. 142

S. 143 S. 143

67 ) Sogar Hoetzsdi, der im Gegensatz zu Schiemann f ü r einen Frieden der Mäßigung gegenüber R u ß l a n d eintrat, u m alle K r a f t des Angriffs gegen England richten zu können, und damit konservative Kreise stark beeinflußte, hat in seiner grundlegenden gedruckten Denkschrift vom Dezember 1914 „Vorläufige Gedanken zur polnischen Frage" die A n nexion von Teilen der P r o v i n z Kowno u n d des Gouvernements Lomza, ferner von Plock, Kaiisch, Grodno, Polnisch-Oberschlesien und „vielleicht" Kurland gefordert. Das galt bei den Alldeutschen als „Flaumacherei"; wie „flaumacherisch" erschien ihnen dann erst Bethmanns Annexionsforderung! Auch die um H . Delbrück gruppierte G r u p p e von Intellektuellen, die gegen die alldeutsch-annexionistische Professorenadresse a u f t r a t , ließ in der Formulierung ihrer Gegendenkschrift die Möglichkeit größerer Annexionen am Westrand Rußlands offen, indem sie n u r keine „politisch selbständigen und an Selbständigkeit gewöhnten Völker" annektiert sehen wollte. Nach und nach trieb Delbrück selbst auf ein (immerhin gemäßigtes) Annexionsprogramm im Osten zu. Auch A. v. Harnack, sonst Gegner der baltischen Pläne seines Landmanns Schiemann, hätte ein deutsches Festhalten an seiner H e i m a t Kurland begrüßt. Kl. Schwabe, a. a. O., Kap. IV. Vgl auch Gerhard Schmidt: D i e Stellung der deutschen Öffentlichkeit zum deutschen Ostkriegsziel 1914-16. Diss. Jena 1938. Masch.Schr. (fleißige Materialsammlung). 68

) Conze, 151 f. D a m i t w a r auch offenbar die am 2 0 . 1 . noch festgehaltene Memellinie nach Osten überschritten. Unverständlich ist mir, wie F. Fischer, 295, dazu k o m m t , die Zahl der q k m auf 90 000 zu erhöhen, indem er einen (weiteren?) „polnischen Grenzstreifen" von 30 000 q k m hinzufügt, von dem Bethmann kein W o r t gesagt hat. 70 S. 143 ) Über die damals von Deutschland betriebenen Versuche zur Aufwiegelung der russischen Fremdvölker vgl. F. Fischer, 290 f. 71 S. 144 ) Vgl. dazu unten Kap. 8! I m Bundesratsausschuß f ü r auswärt. Angelegenheiten h a t B . H . am 8. 8. 1916 ausgeführt: der Generalgouverneur Beseler verlange „aus strategischen G r ü n den die Einverleibung (polnischen Gebiets) bis zur Narew-Warthe-Linie. Das w ä r e aber ein Landstrich mit 3 Millionen Einwohnern. Wie sollte man die regieren?" M a n könne sie weder germanisieren noch polnisch lassen, letzteres wegen Posen nicht. „ M a n müsse bei Ziehung der strategischen Grenzlinie sich auf das Mindestmaß beschränken. Das Ostpreußen vorgelagerte Gouvernement Suwalki müsse freilich v o n uns behalten werden." Das w a r offensichtlich wieder ein Verzicht auf die Baltenländer. (Bericht Weizsäckers: H.St.A. Stuttgart, E 4 9 / 5 1 , ausw. Minist. I V Vz. 3, B AV/16.) D a z u ist zu bemerken, d a ß B.H. nirgends seine letzten politischen Absichten so offen darzulegen pflegte wie im Bundesrat. Seine völlig unromantischen Ansichten über die Baltenfrage h a t er noch einmal am 9. 11. 1916 im

Anmerkungen zum 5. Kapitel - I

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Hauptausschuß des Reichstags auf eine Andeutung des Grafen Westarp hin dargelegt: „Er suche Politik ohne Herz, nur mit dem Verstand für Deutschland zu führen. Wenn im Verfolg einer solchen Politik auch den Balten zu helfen sei, so werde er mit Freuden ihres Schicksals sich annehmen; lediglich aber im Interesse derselben Politik zu machen, sei er nicht in der Lage; maßgebend für ihn sei an erster Stelle, was Deutschland nützt." (Nachweis bei W. Steglich; Bündnissicherung, 129). Die im Gegensatz hierzu stehende Äußerung der Denkschrift Jagows vom 21. 11. 1916 zur Frage des „Solidaritätsabkommens" (Befreiung des alten Ordenslandes Kurland eine „ideale Forderung" s. Sch.-Gr. I, S. 574) sucht Steglich als bloß taktisch gemeint zu interpretieren. Es ist indessen zu beachten, daß Jagow über die Baltenfrage weniger kühl dachte als B.H., s. o. Anm. 40! Vgl. auch unten Kap. 7, Anm. 7. Über das belgische Problem haben 1915 zahlreiche Beratungen der Reichsämter, teilweise unter Vorsitz des Reichskanzlers, stattgefunden, in denen es darum ging, wie sich der Anschluß der belgischen Wirtschaft an die deutsche, womöglich gesteigert bis zur Währungs- und Zollunion und zu Beherrschung des belgischen Verkehrswesens, am besten durchführen lasse, und zwar mit dem Ziel deutscher wirtschaftlicher Vorherrschaft, aber auch zum Vorteil des Landes. F. Fischer behandelt diese Beratungen sehr ausführlich S. 321-333 nach den einschlägigen Akten. Indem er dabei Wünsche und Vorschläge der deutschen Okkupationsverwaltung und der Reichsämter mit Forderungen der deutschen Schwerindustrie, mit der deutschen Vlamenpolitik, vereinzelten annexionistischen Vorschlägen, Forderungen der Militärs bis hin zu den brutalen Arbeiterdeportationen der Ludendorffepoche in engsten Zusammenhang bringt, um eine fortlaufende „Kontinuität" deutscher Belgienpolitik sichtbar zu machen, erweckt er den Gesamteindruck hemmungslosen deutschen Machtstrebens mit dem Ziel, Belgien als „Tributärstaat" gründlich auszubeuten. Die für ein historisch-politisches Urteil entscheidende Frage, was von alledem ernsthaftes „Kriegsziel", was bloße Beratung, Erwägung und Klärung technischer Möglichkeiten, Vor- und Nachteile gewesen ist, wird kaum einmal berührt, ebensowenig die noch wichtigere: mit welchen inneren Vorbehalten (angesichts der Gesamtlage Deutschlands) der Kanzler alle diese Erörterungen hat durchführen lassen und ob und wie lange er sich ihre Vorschläge zu eigen gemacht bzw. daran festgehalten hat. Auf S. 331 scheint Fischer die Verhandlungen, die das Auswärtige Amt durch den Grafen Törring mit König Albert im Winter 1915/16 führen ließ, als den Versuch einer „Realisierung" der von ihm geschilderten „Vorarbeiten" zu betrachten. Wie verfehlt das ist, wird unsere Darstellung in Kap. 8, Abschnitt. I, zeigen. S. 332 wird kurzerhand behauptet, ein Vertragsentwurf der Reichsämter vom 9 . 2 . 1 9 1 6 betr. Wirtschaftsanschluß Belgiens sei bis Kriegsende „die Grundlage für die Behandlung der belgischen Frage" geblieben. Mir scheint eine neue, zusammenhängende, unvoreingenommene Untersuchung der deutschen Belgienpolitik sehr erwünscht. Mich mit Fischer in einzelnen darüber auseinanderzusetzen, würde den Rahmen dieses Buches sprengen.

A N M E R K U N G E N ZUM 5. K A P I T E L Abschnitt

I

!) Alle Zahlenangaben nach Spindler. Bedenken des Admiralstabs: ebd. Bd. I, Anl. 2-5, s. 146 Text 37 f. Tirpitz: Dokumente, II, 286 ff. 2 ) Eine Denkschrift des Kap. Lt. Blum, die Tirpitz im Juli 1914 vorgetragen wurde, setzt s. 147 für einen wirksamen Handelskrieg gegen England 48 Blockadestellungen und 222 Tauchboote an! Spindler, I, 154.

614

A n m e r k u n g e n z u m 5. Kapitel - I

3 ) Spindler, I I , 59. D i e erfolgreichste F a h r t des ganzen Krieges w a r die von U 38 vom 4.-28. 8. 15; sie dauerte 25 Tage (Spindler, II, 255). Das N o r m a l m a ß waren etwa 17 Tage, davon 12 Tage Marschzeit. 4 S. 147 ) Spindler, I I I (1934), 77, 368. D a z u die Verhandlungen vor dem 15. Untersuchungsausschuß ( U . A . ) der Nationalversammlung, Bd I (1920), Sitzungsprotokoll vom 6 . - 7 . 1 1 . 1919; darin bes. wichtig die Aussagen des Staatssekr. a . D . Capelle und des Reichstagsabgeordn. D r . Struve, eines genauen Sachkenners. Struve gibt dort (S. 390 f) etwas abweichende Zahlen über die Gesamtzahl der großen Boote, stellt aber ebenfalls fest, d a ß in der Irischen See nur 2 - 3 Boote gleichzeitig tätig sein konnten. 5 S. 147 ) So U . A. I, 390. N a c h dem Tagebuch des Abgeordneten H. P. Haussen: D i a r y of a Dying Empire (amerik. Ausg. 1955), S. 136, h a t Capelle im Haushaltsausschuß des Reichstags vom 28. 3. 1916 v o n drei Stationen an der englischen Westküste gesprochen; für jede von ihnen stünden 1 - 5 Boote zur Verfügung. D a s kann auf ungenauer Nachschrift H a n s sens beruhen.

S. 147

S. 148 S. 148 S. 148

S. 149

6

) Spindler, I, 6. ) Spindler, I, 83. s ) Gutachten des Völkerrechtsreferenten des A.A., Geh.Rat Kriege vom 30. 11. 1914 bei Spindler, I, 42 f. Ebd. 44 Auszug aus Krieges großem Gutachten f ü r den U.A., das dieser sich am 30. 5. 1923 zu eigen machte. Vollständiger Abdruck in: Werk des U.A., I I I , 4 (1927), 121-181, dazu 32 Anlagen: britische und deutsche Proklamationen betr. Seeblockade und Proteste der Neutralen. Der Streit um das Blockaderecht und die Illegalität des deutschen U-Boot-Krieges w i r d auch in der neueren amerikanischen Literatur über Wilsons Politik ausführlich behandelt, von denen ich u.a. benutzte: Ch. Seymour: American D i p l o macy during the World W a r (1934, 2. Aufl. 1942, in Deutschland nur auf der St.B. München zu finden, ein ausgezeichnetes Werk von dem Herausgeber der House Papers). Daniel M. Smith: Robert Lensing and American N e u t r a l i t y 1914-17). (1958, ebenfalls wertvoll). E. H. Buehrig: W o o d r o w Wilson and the Balance of Power (1955). - Alice M. Morrissey: The American Defense of Neutral Rights 1914-17 (1939). (Sehr kritisch gegen Wilsons Politik.) - Earnest R. May: The World W a r a n d American Isolation 1914-17 (1959, sehr objektiv, auch in der Behandlung der deutschen Kriegspolitik, rechtfertigt aber Wilson). Die große Wilson-Biographie von Artur S. Link ist mit ihrem 3. Band (Wilson, The struggle for N e u t r a l i t y 1914-15, 1960) bis Oktober 1915 gelangt. Der vierte, im Ms. abgeschlossen, w u r d e mir durch die G ü t e A. S. Links in Xeroxkopien zugänglich gemacht. Alle sind mit ausführlichen Bibliographien versehen und verzeichnen auch die großen amerikanischen Quellenpublikationen, von denen ich hier nur nenne: Intimate Papers of Colonel H o u s e (ed. Seymour, 4 Bde., 1926-28); The Lansing-Papers (2 Bde., 1939) u n d die Foreign Relations of the U.S., Suppl.: The World War (7 Bde., 1928-32). Zusammen mit den zahlreichen Memoirenwerken, besonders der Diplomaten, liegt heute schon von amerikanischer Seite ein so reiches Quellenmaterial vor wie von keinem anderen der Kriegsgegner Deutschlands. 7

Das deutsche Recht zur retaliation w i r d auch in der amerikanischen Literatur mehrfach anerkannt, z. B. von D. M. Smith, a.a. O., 30. Auch in dem germanophoben Staatssekretär Lansing, der immer streng auf das Völkerrecht pochte, regten sich im Februar 1915 Zweifel, ob die Deutschen nicht durch Kriegsnotwendigkeit zu ihrer Blockadepolitik gezwungen w ä r e n ; er zeigte überhaupt Verständnis d a f ü r , daß human w a r f a r e eine praktische U n möglichkeit sei (ebd. 43, 50 und E. H. Buehrig, a. a. O., 131 f., z. T . nach ungedr. Material im Wilson-Nachlaß u. d. Tagebüchern Lansings). S. 149 10) Spindler, I, 98. n S. 149 ) Wie E. R. May, 21 f., zeigt, drängten Englands Verbündete Rußland und Frankreich

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schon i m O k t o b e r 1914 auf V e r s c h ä r f u n g der B l o c k a d e , w ä h r e n d G r e y eher geneigt w a r , d e n P r o t e s t e n A m e r i k a s R e c h n u n g z u t r a g e n . A b d r u c k der ersten P r o t e s t e der N e u t r a l e n bei Spindler, I, A n l a g e 1 3 - 1 5 . 12 ) D e n k s c h r i f t Helfferichs v o m 6. 10. 1916 i n : Beilagen z u m Sten.Ber. des U . A . der N a t . s. 149 Vers. (2. U n t e r a u s s c h u ß ) I V (1920) N r . 167. D a n a c h b e t r u g der W e r t d e r E i n f u h r e n J a n . bis A u g . 1915 5 248 Mill. M k . ( g e g e n ü b e r 11 638 M i l l i o n e n im g a n z e n J a h r 1913), J a n . bis A u g . 1914 4 222 M i l l i o n e n , a l l e r d i n g s bei e r h ö h t e n P r e i s e n . Es h a n d e l t e sich dabei „ w e s e n t lich" u m L e b e n s m i t t e l . N ä h e r e s ü b e r die L e b e n s m i t t e l e i n f u h r bei K. Helfferich: Der Weltkrieg I I , 215 ff. - D i e U n t e r s u c h u n g v o n A. Skalweit: D i e deutsche K r i e g s e r n ä h r u n g s w i r t schaft ( = Wirtsch. u. Sozialgeschichte d. W e l t k r i e g e s d e r C a r n e g i e - S t i f t u n g , deutsche Serie 1927) geht auf die L i e f e r u n g e n d e r n e u t r a l e n L ä n d e r 1 9 1 4 - 1 6 k a u m ein u n d b r i n g t statistische Z a h l e n erst v o n 1 9 1 6 - 1 8 . - Ü b r i g e n s berief sich die englische R e g i e r u n g in i h r e n N o t e n gelegentlich auf Ä u ß e r u n g e n Bismarcks u n d C a p r i v i s , in d e n e n die B e h a n d l u n g v o n L e b e n s m i t t e l n als K o n t r e b a n d e i m K r i e g in gewissen F ä l l e n f ü r berechtigt e r k l ä r t w u r d e . Vgl. P a p e r s rel. t o the F o r e i g n R e l a t i o n s of t h e U S . 1915, S u p p l e m e n t (1928) p. 142. 13 ) N a c h E. H. Buehrig, 88 ff., h a b e n W a f f e n u n d M u n i t i o n i m g a n z e n V e r l a u f des S. 149 Krieges n u r r d . 23 d e r a m e r i k . A u s f u h r in die E n t e n t e l ä n d e r a u s g e m a c h t . A l l e r d i n g s entwickelte sich schon im ersten K r i e g s w i n t e r eine k r ä f t i g e amerikanische R ü s t u n g s i n d u s t r i e . 14 ) S o g a r L a n s i n g h a t t e d a f ü r V e r s t ä n d n i s , w i e seine H a l t u n g z u r F r a g e der „ b e w a f f - S. 150 n e t e n H a n d e l s s c h i f f e " zeigt. 15) Spindler, I I , 184. V o n A n f a n g M a i bis E n d e J u l i 1915 w u r d e n v o n 116 H a n d e l s - S. 150 schiffen 94 „nach d e r P r i s e n o r d n u n g " u n d n u r 22 w a r n u n g s l o s durch T o r p e d o v e r s e n k t ; v o n l e t z t e r e n w a r e n 10 n e u t r a l e , die i r r t ü m l i c h v e r s e n k t w u r d e n u n d f ü r d i e S c h a d e n e r s a t z g e z a h l t w e r d e n m u ß t e (ebd. I I , 182). N a c h B d . I I I , 118 w u r d e n im M ä r z / A p r i l 1916 t r o t z d e r offiziellen W e i s u n g d e r M a r i n e b e h ö r d e , n u r noch w a r n u n g s l o s e V e r s e n k u n g e n d u r c h z u f ü h r e n , v o n 68 Schiffen 60 nach K r e u z e r r e g e l n v e r s e n k t , n u r 8 o h n e W a r n u n g d u r c h T o r p e d o . I m S o m m e r u n d H e r b s t 1916 s t a n d es so, d a ß die F r o n t o f f i z e i r e , besonders d e r F l a n d e r n f l o t t i l l e , gegen die eigensinnige H a l t u n g des Flottenchefs Scheer, d e r n u r u n b e s c h r ä n k t e n U - B o o t - K r i e g o d e r k e i n e n wollte, d e n b e s c h r ä n k t e n nach P r i s e n o r d n u n g teils d u r c h f ü h r t e n , teils f o r d e r t e n u n d schließlich b e i m A d m i r a l s t a b d u r c h s e t z t e n : Spindler,

I I I , 242 ff. 16) U . A . 2 Beilagen V , N r . 190, Denkschrift H o l t z e n d o r f f s v o m 2 2 . 1 2 . 1 9 1 6 , S. 240 u . ö . s. 150 D a z u ist noch zu b e m e r k e n , d a ß d i e V e r s e n k u n g s z i f f e r n durch die ( v o n d e r Reichsregierung e r w o g e n e ) F r e i g a b e n u r der bewaffneten H a n d e l s s c h i f f e (die sogar L a n s i n g f ü r ein illegitimes K r i e g s m i t t e l hielt) z u m w a r n u n g s l o s e n A b s c h u ß noch h ä t t e n gesteigert w e r d e n k ö n n e n . 17) Spindler, I I I , 93 u. 15. U . A . I, 321, 323. W a s H o l t z e n d o r f f d e m K a n z l e r m i t t e i l t e , s.151 gibt dieser in seinen „ B e t r a c h t u n g e n " I I , 117 w i e d e r . D a n a c h h a t H . f ü r jede S t a t i o n n u r 3 s t a t t 5 B o o t e berechnet u n d d i e a u s n a h m s w e i s e l a n g e F a h r t d a u e r v o n 25 T a g e n als N o r m a l m a ß angesetzt, sowie als N o r m a l z a h l d e r m i t g e f ü h r t e n T o r p e d o s 9 s t a t t 6 - 7 a n gegeben. 18) Tirpitz: D o k u m e n t e , I I , 4 9 2 ff., 634 ff. D i e e b d . S. 494 ff. a b g e d r u c k t e A u s k u n f t s. 151 T i r p i t z ' a n d e n K a n z l e r v o m 8. 3. 1916 ist ein M u s t e r b e i s p i e l k u n s t v o l l e r V e r h ü l l u n g d e r n a c k t e n W i r k l i c h k e i t o h n e F ä l s c h u n g des Z a h l e n m a t e r i a l s . 19 ) Spindler, I, 174. Sp. gibt f ü r die a u f f a l l e n d l a n g s a m e V e r m e h r u n g d e r U - B o o t - F l o t t e s. ist im K r i e g e v o r allem d e n M a n g e l a n F a c h a r b e i t e r n u n d die a n f ä n g l i c h e V o r s t e l l u n g T i r p i t z ' an, d a ß d e r K r i e g w o h l k a u m z w e i J a h r e d a u e r n w ü r d e . D a z u k a m noch das z ä h e F e s t h a l t e n a m A u s b a u der Schlachtflotte, d e r e n R e p a r a t u r e n zeitweise die W e r f t e n s t a r k b e lasteten, u n d sehr viel E x p e r i m e n t i e r e n , also v e r s p ä t e t e r U b e r g a n g z u m s t a n d a r d i s i e r t e n Typenbau von Boot und Ausrüstung.

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A n m e r k u n g e n z u m 5. Kapitel - I

20 ) D i e enorme W i r k u n g des Wiegand-Interviews auf die deutsche Presse illustriert Spindler, I, Anl. 25. Professorendenkschriften ebd. Anl. 19-24. Die Berliner Eingabe war von Sering (Agrarökonom) angeführt, aber von Triepel, Wilamowitz, Kahl, Gierke, Schiemann, H a r n a c k und Schmoller mit unterzeichnet. Eine exakte und ausführliche, z . T . auf ungedruckte D o k u m e n t e des A.A. gestützte Darstellung der Vorgeschichte und A n f ä n g e des U-Boot-Krieges bietet auch E. R. May in K a p . VI. S. 152 21 ) Ein Gutachten Krieges vom 30.1.. h a t t e inzwischen die Theorie vom Vergeltungsschlag aufgestellt, a n der die Regierung bis 1918 festgehalten hat. 22 S. 154 ) So die D e u t u n g Spindlers, I, 85. Sie ist wahrscheinlich richtig, da Delbrück am 20. 2. A d m i r a l von Müller gegenüber energisch bestritt (Kriegstagebücher 92), was Bethmann nach Tirpitz: D o k u m e n t e , II, 315 an Treutier berichtet haben m u ß : daß Delbrück erklärt hätte, „wir könnten die Belgier mit durchfüttern" und also den U-Boot-Krieg riskieren. 23 S. 154 ) von Müller: Kriegstagebücher, 87. 24 S. 155 ) Tirpitz: D o k u m e n t e , II, 286 ff., 300 ff., 307. T. kritisierte auch schärfstens die „Art des Startes mit Fanfarengeblase und D r o h u n g an die N e u t r a l e n " . Er wollte einfach den U-Boot-Krieg „sich selbst entwickeln lassen", ohne öffentliche Ankündigung, ohne besondere Weisung an die U-Boot-Kommandanten - eine Methode, die den Völkerrechtsbruch noch viel brutaler h ä t t e erscheinen lassen, da die Neutralen nicht einmal vor dem Befahren des neuen Kriegsgebietes vorher gewarnt worden wären. 25 ) D a s sprach P o h l am 10.2. offen aus; er wünschte deshalb geradezu einen Mißbrauch S. 156 neutraler Flaggen durch England: H. v. Pohl, Aus Aufzeichnungen und Briefen (1920), 109. 26 S. 157 ) Nach einer Denkschrift des Admiralstabs vom 2 7 . 6 . 1 9 1 5 hat dieser nur darum diesem Satz zugestimmt, weil das Auswärtige Amt bestimmt versicherte, England würde sich nicht darauf einlassen. Tirpitz: Dokumente, II, 368. Mit dem amerikan. Botschafter G e r a r d w u r d e über dieses Vermittlungsangebot offenbar schon vor dem 20. Febr. verhandelt, von Marineseite auch über Schutzmaßnahmen f ü r amerikan. Handelsschiffe: For. Rel. Suppl. 1915, p. 100, 116 (Berichte Gerards).

S. 152

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) Ch. Seymour, a. a. O., 28, nach H a n s a r d Parl.Deb. 5, Ser. L X X , 600. ) Tirpitz: D o k u m e n t e , II, 319 ff. Verhandlung in Schloß Bellevue am 2 8 . 2 . 1 9 1 5 . Notenwechsel: For.Relat. of the US. 1915 Suppl. (1928), p. 118, 129, 140. Nach v. Müller: Kriegstagebücher, 92 f., hatte schon am 24. 2. eine Besprechung beim Reichskanzler mit Müller, Tirpitz, Bachmann, Falkenhayn, Jagow, Delbrück, Wahnschaffe und Zimmermann über das amerikanische Angebot stattgefunden, das v. Müller irrig „ A n t w o r t n o t e " nennt. Danach hätten zuerst Zimmermann und Falkenhayn die dann von den Admirälen aufgegriffene „unsinnige" Zusatzforderung vorgebracht. Falkenhayn hätte aber nach der Sitzung das Auftreten von Tirpitz entschieden mißbilligt. Auch Admiral Capelle, der H a u p t berater Tirpitz', erklärte sich f ü r Bethmann gegen seinen Chef. Er sei „nicht nur der zur Zeit allein mögliche, sondern auch ein guter Reichskanzler". Nach E. R. May, a . a . O . , 142, der sich z. T. auf ungedruckte Quellen stützt, ging der Vorschlag ursprünglich von dem pazifistischen Staatssekretär Bryan aus und k n ü p f t e an die oben erwähnte Schlußw e n d u n g der deutschen N o t e vom 16.2. an, die Wilson als „Hoffnungsstrahl" freudig begrüßte. Lansing w a r dagegen, weil er nicht England in die Lage bringen wollte, durch Ablehnung seine moralische Position zu verschlechtern (!). In England zeigte nur G r e y eine gewisse Geneigtheit, darauf einzugehen, setzte sich aber, wie die englische A n t w o r t n o t e v o m 13.3. zeigt, nicht durch. Trotzdem stellt May, 144 f., den Verlauf so d a r , als hätte Deutschland, nicht England die Ablehnung verschuldet.

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S. 160 S. 160

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) Nach May, 205, sogar die F r a n k f u r t e r Zeitung. ) Eines der unerfreulichsten Produkte des Englandhasses und militaristischer Stimmungen ist der Artikel „ N u r keine Sentimentalität!" von M. Erzberger, den Kl. Epstein 30

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in seiner Erzberger-Biographie im A n h a n g I V abdruckt, aus der Anklamer Zeitung, 18. 2. 1915. 31 ) „Anhaltspunkte" v o m 12. 2. bei Tirpitz: Dokumente, II, 308. 32 ) Nach der m. E. besten Untersuchung des Lusitania-Falles von Thomas A. Bailey: The Sinking of the ,Lusitania', in: Am. Hist. Rev. X L I , O k t . 1935, p. 54-73, f ü h r t e das Schiff nachweislich über 5000 Kisten Munition mit sich, von der aber nur 4200 Kisten Gewehrkartuschen mit Explosivstoff geladen w a r e n ; etwa die H ä l f t e der L a d u n g (dem Geldwert nach) bestand aus Kriegsmaterial. Die Behauptung der deutschen Regierung, nur die Explosion dieser Munitionsmasse habe den unglaublich raschen Untergang des Schiffes verschuldet, hält B. z w a r nicht f ü r erweisbar, aber f ü r wahrscheinlich richtig. Sicher ist, daß die Schiffahrtsgesellschaft, der K a p i t ä n und die Passagiere vorher ergangene deutsche Warnungen in den Wind schlugen bzw. als Bluff betrachteten, daß der K a p i t ä n die in seiner Instruktion vorgeschriebenen Vorsichtsmaßnahmen bei Annäherung an die irische Küste und die englische Marine jede Sicherungsmaßnahme unterließ. Alles vertraute auf die weit überlegene Geschwindigkeit des Schiffsriesen. Weitere Literatur zum Lusitania-Fall verzeichnet E. R. May, 135. 33) v. Müller, 105 f. Tirpitz: Dokumente, II, 344-50. Die Aufzeichnung Müllers über die Verhandlung vom 31. Mai in Pleß weicht von der Tirpitz' etwas ab; danach hat sich der Staatssekretär dem (ihm wenig wohlgesinnten) Kaiser gegenüber vorsichtiger und zweideutiger ausgedrückt, als sein eigener Bericht erkennen läßt. Spindler, II, 101, nennt irrigerweise Bethmann unter den in Pleß am 31.5. Anwesenden, was nach den bei Tirpitz publ. Dokumenten unmöglich ist. 34 ) D a ß diese Auffassung von A n f a n g an in der Marine herrschte, zeigt die politisch verfehlte Bombardierung des englischen Küstenorts Y a r m o u t h A n f a n g N o v e m b e r 1914 ohne Benachrichtigung des Kanzlers, was dieser sich sehr energisch verbat: Tirpitz: D o k u mente, II, 151. Abschnitt

S. 160 s. 160

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II

!) K u r z e Übersicht über die wechselnden Ansichten der zwanziger und dreißiger J a h r e (Revisionismus!) bei D. M. Smith, a . a . O . , 166ff. 2 ) Vgl. dazu Graf Bernstorff: Deutschland und Amerika. Erinnerungen aus dem f ü n f jährigen Kriege, 1920, S. 28 und 60. 3 ) Das gilt besonders von dem durch Botschafter G e r a r d vor dem 9. Sept. vorgetragenen Angebot, das von Friedensschluß nur mit Frankreich sprach: Sch.-Gr. N r . 6 - 7 . Oberst Houses Brief an Zimmermann vom 5. 9. (ebd. N r . 3) w a r so inhaltlos, d a ß er gar nicht anders beantwortet werden konnte, als es Zimmermann am 3. 12. tat (ebd. N r . 20): erst müsse man wissen, was die andere Seite dächte. Bethmanns A n t w o r t vom 12. 9. auf Gerards Anerbietungen: das deutsche Volk brauche einen dauerhaften Frieden und „Garantien f ü r Sicherheit und R u h e " (ebd. N r . 7) hängt wohl noch mit den Siegeshoffnungen der ersten Kriegswochen zusammen. 4 ) Diplomatische Korrespondenz bei Sch.-Gr., I, N r . 1 ff. D a z u E. R. May, 33 ff. mit Zitierung der amerikanischen Quellen. A. Link, 191 ff. (sehr ausführlich), House, I (1926), 288 ff. Vgl. auch R. Stadelmann: H Z , 156, 496 ff. Die Darstellung bei F. Fischer, 220 ff. und 357 ff., erwähnt nichts davon, d a ß weder in Frankreich noch in England die geringste Neigung zu einem Verständigungsfrieden vorhanden w a r , so d a ß nur die deutsche Regierung als Hindernis der Verständigung erscheint. - Sehr bemerkenswert sind die von Trevelyan: Sir E d w a r d G r e y (dt. Übers. 1938) 394 ff., abgedr. Briefe des Liberalen G r e y an den Botschafter Spring-Rice vom 3. u n d 22. 9. 1914, 2. 1. 1915. Er nennt (als rein persönliche Meinung) nur zwei Friedensbedingungen: Wiederherstellung und Entschädigung

S. 163 S. 164 S. 166

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Belgiens u n d Herstellung eines dauerhaften Friedens, der die Alliierten vor zukünftigen Angriffen b e w a h r t . Was aber mit dem letzteren gemeint ist, zeigen seine Äußerungen über den „preußischen Militarismus", dessen Sieg "Westeuropa zu einem wenig schönen O r t machen, nämlich Freiheit, H u m a n i t ä t und Rechtssinn bedrohen würde. E r will keine Vernichtung Deutschlands, aber Niederlage u n d daraus folgende Demokratisierung. Schon hier taucht auch sein Plan eines künftigen Völkerbunds zur Friedenssicherung unter Teilnahme Amerikas auf, der zunächst von House noch abgelehnt wurde. S. 166 S. 166 S. 166

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) House, I, 299 (30. 8.1914). ) Tagebucheintragungen von November bis Dezember 1914 nach E. R. May, 77 f. 7 ) Die Ablehnung eines internationalen Kongresses hat Jagow nur in einem Schreiben an Berchtold v o m 23. 11.1914 entwickelt und begründet (Sch.-Gr., I, N r . 15), das dessen Mitteilung v o m 10. 11. (ebd. N r . 9) beantwortet. Nach dieser Mitteilung h ä t t e House dem österreichischen Botschafter D u m b a ein konkretes Friedensprogramm in drei P u n k t e n v o r getragen (keine größeren Gebietsabtretungen, gegenseitige Garantie des Besitzstandes aller Mächte, Abrüstung), das man in Wien mit einer A r t ängstlicher Beflissenheit a u f n a h m , in Berlin ablehnte bzw. als utopisch anzweifelte. Seltsamerweise ist von dieser Aktion Houses in dessen Intimate Papers und Korrespondenzen überhaupt nicht die Rede. 6

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) F. R• May, 78. D o r t auch die Belege f ü r das folgende. D a z u das M e m o r a n d u m Greys f ü r Asquith v o m 24.2.1915, bei Trevelyan, a. a. O., 397 ff. 9 S. 168 ) Es w a r von Grey schon im Sept. 1914 brieflich entwickelt worden. S. o. Anm. 4. 10 S. 169 ) Int. P a p . I, 381 und passim. S. auch Bericht Greys an Asquith v o m 24. 2. 1915 bei G. M. Trevelyan, a . a . O . , 397ff. F. Fischer, 359, scheint den großen Plan Houses, auf den Wilson u n d sein Berater auch nach der Versenkung der Lusitania wieder zurückkamen, f ü r eine Idee des Grafen Bernstorff zu halten. Wie stark Grey zeitweise von den V o r schlägen Houses beeindruckt war, zeigen seine Schreiben an Spring-Rice und an Lord Crewe vom 14. 6. 1915 (bei Trevelyan, a. a. O., 401 f.). E r dachte, die „Freiheit der Meere" mit einem Schutz gegen jede mögliche Aggression durch eine Feindesliga zu koppeln, überlegte aber auch, ob Freigabe der Lebensmittel f ü r Deutschland allenfalls möglich wäre, wenn dieses d a f ü r auf den U-Boot-Handelskrieg verzichtete. Sehr bald kam er darüber zu einer negativen Entscheidung: Memorandum f ü r das Kabinett 1 7 . 7 . 1 9 1 5 . Trevelyan, 403. u

S. 169 S. 169

) Sch.-Gr. II, N r . 46. S. auch Intimate Papers I, 377. ) Gerards eilfertiges D r ä n g e n am 1 5 . 2 . 1 9 1 5 („I am sure if a reasonable peace is prepared now — a matter of days, hours - it would be aeeepted") scheint sich so zu erklären, d a ß man aus dem Generalstab (durch den Militärattache Langhorne) eine Mitteilung in H ä n d e n hielt, die den dringenden Wunsch hoher Offiziere (Falkenhayns?) erkennen ließ, die eben damals bevorstehende Erklärung des U-Boot-Krieges doch noch überflüssig zu machen, jedenfalls aber Amerikas Neutralität zu sichern. Intimate Papers I 382 und 396. For.Rel. 1915, Suppl. p. 9, 15, 17. Gerards: Memoiren (Dt. Ausg. 1919), 204 f., geben einen sehr unklaren Bericht, erzählen auch von einem sonderbar geheimnisvollen Besuch Tirpitz', der vielleicht sondieren wollte, wie wohl die Amerikaner auf das bevorstehende Ereignis reagieren würden? - Vgl. R. Stadelmann, H Z , 156, 515. St. gibt S . 5 0 7 f f . eine sehr kritische Darstellung v o n Houses Europareise. Einige Ergänzungen bei C. V. Lafeber, 174 ff.

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13 ) Sch.-Gr. I, N r . 63, 68. Int. Pap. I, 404 ff. F. Fischer, 358, läßt die Verhandlungen mit House an der starren H a l t u n g Deutschlands in der belgischen Frage scheitern! K. E. Birnbaum: 94, berichtet aus ungedr. Nachlaßpapieren Houses, Gerard habe ihm am 18.4. nach Paris deutsche Friedensbedingungen mitgeteilt, die er mit Delcasse erörtert habe; dieser habe darin eine Lockspeise f ü r einen Separatfrieden mit Frankreich gesehen (franz. Kriegsentschädigung, Annexion von Lüttich, N a m u r , Teile des belgischen Kongo). O h n e den Text

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des Gerardschen Schreibens zu kennen, läßt sich nicht beurteilen, was den Botschafter dazu v e r a n l a ß t hat. 1+) Sch.-Gr. I, N r . 107. s. 170 15 S. I. B. Moore, zit. bei Alice M. Morrissey, a . a . O . S. 171 16) For.Rel. 1915, Suppl. p. 406, 415. A. Link III, 392 ff., der nidit an die Ernsthaftig- s. m keit der Bemühungen Houses glaubt. Botschafter Page sträubte sich, den Vermittlungsvorschlag überhaupt a n G r e y heranzutragen, um nicht das englische Kabinett in die Verlegenheit zu bringen, das O d i u m der Ablehnung f ü r den Fall auf sich zu nehmen, daß die Deutschen zustimmten! Intim. P a p . I, 452. D a s britische Kabinett w u r d e eben damals durch A u f n a h m e konservativer Unterhausmitglieder umgebildet, was die Neigungen des Liberalen Grey zu versöhnlicher H a l t u n g abschwächen mußte. - Vielleicht steht mit diesen schwankenden Erwägungen Wilsons in Zusammenhang eine ziemlich rätselhafte Meldung Graf Bernstorffs vom 29. 5., die am 26. 6. in Berlin einging, aber durch schwedische Vermittlung schon am 1. 6. vorgemeldet w a r . Wilson wolle, wie Bernstoff „aus bester Quelle" gehört haben wollte, bei günstiger Erledigung des Lusitania-Zwischenfalles England „von der völkerrechtswidrigen Störung des neutralen Handels abzubringen suchen". Wenn das gelänge, wolle er alle europäischen neutralen Staaten zusammenbringen, den k r i e g f ü h r e n den Staaten eine Friedenskonferenz vorschlagen und die neutralen Staaten veranlassen, d a ß diejenigen kriegführenden Mächte, die sich weigerten, die Konferenz zu beschicken, von jeder Z u f u h r an Munition, Lebensmitteln usw., abgeschnitten würden. Als Friedensbedingungen seien geplant: 1. der status q u o in Europa. 2. Freiheit der Meere, das heißt Neutralisierung der See. 3. Ausgleichung der Kolonialbcsitzungen. Dieser sonderbar utopische Vorschlag w u r d e von Jagow ohne A n t w o r t „zu den Akten" geschrieben mit dem Bemerken, ob sich Wilson etwa vorstellen könne, daß Italien, eben im Beginn eines Eroberungskrieges, sich mit den alten G r e n z e n zufrieden geben würde? F. Fischer, 359, stellt das Ganze als einen Vorschlag Bernstorffs hin, obwohl es in der schwedischen Übermittlung ausdrücklich hieß, er wünsche in keiner Weise „mit diesem Vorschlag in Verbindung gesetzt", ja nicht einmal als Quelle genannt zu werden (!). Fischer behauptet, J a g o w habe ihn abgelehnt, weil er überhaupt nichts v o m status quo wissen wollte (also Annexionist war!). Übrigens zitiert Fischer das Stück unter einem irrigen Aktenzeichen. Es findet sich in W.K. 2 geh. Bd. 8 (Film D . 956805/6). S. a. K.E. Birnbaum, 29 und 343 ff., der den Vorschlag ebenfalls als Einfall Bernstorff a u f f a ß t , ohne ihn als solchen einleuchtend zu machen. 17 ) Bernstorff: Deutschland und Amerika, 157 ff. B. übertreibt offensichtlich stark die G e f a h r und die beruhigende Wirkung seiner, aus eigener Initiative unternommenen Schritte vom 2. 6.: ebd. 148 ff. 1S ) E r forderte: Warnung vor dem Reisen auf Schiffen kriegführender Staaten, Protest auch gegen die englische Blockadepolitik, Einschaltung von Schiedsgerichten in die U-BootStreitigkeiten, Verhinderung der Bewaffnung von Handelsschiffen. 19 ) Denkschrift (Richtlinien seiner Politik) vom 11.7. 1915 in den W a r Memoirs (1935), 19, d a z u E. H. Buehrig, 134 ff. 20 ) Vgl. Bernstorffs Bericht vom 2 . 6 . , in s. Memoiren, 151. 21 ) Nach E. H. Buehrig, p. 88 f., stieg der Wert des Außenhandels der Vereinigten Staaten im Kriege von 3,4 auf 9,7 Milliarden Dollar, also um 2 8 4 % (nicht 184%, wie B. irrig schreibt). D a v o n w a r e n 2 3 % Waffen und Munition. Uber den Irrtum Bernstorffs vgl auch D. M. Smith, R. Lansing (1958), S. 90. 22 ) Spindler, II, 183. 23) For.Rel. 1915 Suppl. 453 f., 457-62 Berichte Gerards vom 24.6. bis 5 . 7 . Ttrpitz: Dokumente, II, 375 f. Warum E. R. May, 213, Gerards Vorschlag „albern" (fatuous) nennt, ist mir nicht verständlich. In seinen Memoiren (225) sucht ihn Gerard selbst als Vorschlag

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S. 178 s. 178 S. 178 S. 178

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A n m e r k u n g e n z u m 5. Kapitel - III

Zimmermanns hinzustellen. Nach D. M. Smith, p. 87, gab es auch im Ministerium Lansings Leute, die den deutschen Vorschlag ganz vernünftig f a n d e n (Johnson!). 24 ) Vgl. Bachmanns Aufzeichnungen über das Gespräch vom 2 2 . 6 . 1 9 1 5 bei Tirpitz: D o k u m e n t e , II, 364 ff. 25 ) Ebd. S. 407. 26 ) Tirpitz: Dokumente, I I , 372 ff. Westarp, I I (1935), 107 ff. 27 ) Helfferich: Weltkrieg, I I , 319 ff. Tirpitz: Dokumente, II, 385 ff. Ersten Anstoß gab ein großer Abschluß mit amerikanischen Baumwollexporteuren. E. R. May, 215 f. glaubt eine offiziöse P r e ß k a m p a g n e zur Unterstützung der Vorschläge Helfferichs nachweisen zu können. 28 ) Pohl: Aus Aufzeichnungen und Briefen w ä h r e n d der Kriegszeit (1920), 130 f. „Mir wäre es gar nicht unlieb, wenn der U-Boot-Krieg aufhörte, denn dann würde ich die U-Boote mehr auf die Kriegsschiffe ansetzen u n d davon habe ich mehr. Aber es bleibt so, wie es ist; dazu ist dieser U-Boot-Krieg viel zu populär. Das deutsche Volk verzichtet nicht auf diese Art der Kriegführung. Unsere guten Deutschen wollen jeden Morgen beim Zeitungslesen sehen, d a ß wieder so und so viele Schiffe versenkt worden sind" (An s. F r a u , 5. 6. 1915). Die Kriegsbriefe Pohls von seinem Flaggschiff sind ein erschütterndes D o k u ment der trostlosen Lage unserer zur Untätigkeit gezwungenen Marine.

29 ) Tirpitz: Dokumente, I I , 401, spricht fälschlich von 8 Todesopfern, darunter 3 Amerikanern. 30 S. 179 ) Der Bericht, den Tirpitz: Dokumente, I I , 404 ff., abdruckt, behandelt ausführlicher nur die vorausgehende Besprechung Bethmanns mit Tirpitz und Bachmann, die „ I m m e d i a t vorträge" nur sehr kurz. Über die Hauptbesprechung ausführlicher (wohl nach D o k u menten des Admiralstabes) Spindler, II, 274 ff. N e u e Darstellung der Vorgänge, unter Benutzung v o n Akten des A . A . bei E. R. May, 221 f. (nicht in allen Einzelheiten exakt).

S. 179

S. 181

31 ) Aus einem Briefwechsel Bethmanns mit H e r t l i n g am 9./10. 9. 1915 geht hervor, d a ß die Anhängerschaft des Staatssekretärs den König von Bayern f ü r die Unterstützung Tirpitz' gegen Bethmann zu mobilisieren suchte. München Geh.St.A., Pol.A. V I I , 591. Tirpitz selbst suchte sogleich aus Anlaß seines Abschiedsgesuchs die Kaiserin aufzuhetzen: Dokumente, II, 416 f. D e r neue Admiralsstabschef sah sich genötigt, einen kaiserlichen Erlaß zur A b d ä m p f u n g der Mißstimmung im Offizierskorps der Marine zu erwirken, ebd. 420, 431. — Die K.O. v o m 30. 8. betr. beschränkte Verwendung des Staatssekretärs wurde am 19. 9. wieder abgeschwächt: ebd. 437.

S. 181 S. 182

) Jedenfalls meldet Spindler, I I , 282, nichts darüber aus seinen Marineakten. ) War Memoirs, 44 ff. Der deutsche Admiralstab hatte während der Verhandlungen in Pless am 26. 8. ein beruhigendes Telegramm des Marineattaches erhalten, das er mit Erfolg gegen Bethmann ausspielte.

32

33

Abschnitt

III

S. 183

Das geschah allerdings nicht ohne heftige K ä m p f e im Kabinett, in dem die e n t schiedenen Liberalen (Grey, Runciman, McKenna, J o h n Simon) so entschieden gegen die Zwangskonskription a u f t r a t e n , daß zeitweise das Koalitionskabinett auseinanderzubrechen drohte. S. Trevelyen 408 ff. Lloyd George II, K a p . 23.

S. 183

2 ) Mein Anteil am Weltkrieg (dt. Ausg. 1933) 251 ff. Vgl. auch die Berichte des Staatsrats Andersen aus dem Dezember 1915 über die leidenschaftliche Kriegsstimmung in Engl a n d : Sch.-Gr. I, N r . 174.

S. 184 S. 185

3 4

) Seymour, 138 ff. ) Es handelte sich um das erneute Aufgreifen der Lusitania-Affäre und um die H e i m -

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A n m e r k u n g e n z u m 5. K a p i t e l - III Sendung des deutschen Militärattaches und Marineattaches (v. P a p e n u n d Boy-Ed) Verlangen des State D e p t . ( N o v . / D e z . 1915): House II, 105 ff. D a z u E. R. May, 350.

auf

5 ) Ü b e r die U n t e r r e d u n g mit H o u s e liegen dessen Aufzeichnungen u n d Briefe ( I n t . P a p . s. 186 I I , 140ff.) sowie die Aufzeichnungen B e t h m a n n s u n d Solfs v o r : U . A . 2 Beil., N r . 193/194, beide w i e d e r h o l t : Sch.-Gr. I, N r . 195 f. W e i t e r e Berichte Houses an Wilson h a t A. S. Link: Wilson, IV, cap. 3, wiedergegeben (aus dem Wilsonnachlaß). Sie zeigen, d a ß H o u s e g a n z richtig die b e d r o h t e Lage B.H.s e r k a n n t e u n d d e n Präsidenten w a r n t e , durch zu scharfe F o r d e r u n g e n in der L u s i t a n i a - A f f ä r e die Stellung des K a n z l e r s u n h a l t b a r zu machen, w a s Wilson d a n n auch einsah. Was von Müller: Kriegstagebücher, 152, nach einer E r z ä h l u n g Wilhelms I I . von einem V o r t r a g B e t h m a n n s v o m V o r t a g über dessen U n t e r r e d u n g e n n o t i e r t h a t , ist als Quelle d r i t t e r oder v i e r t e r H a n d wertlos u n d l ä ß t n u r v e r m u t e n , d a ß B e t h m a n n seine H a l t u n g gegenüber dem Kaiser (begreiflicherweise) etwas forscher geschildert h a t , als sie gewesen ist. Leider b e n u t z t F. Fischer, 361, ausschließlich diese f r a g w ü r d i g e Quelle, läßt die (ihm b e k a n n t e ) A u f z e i c h n u n g B e t h m a n n s unbeachtet und k o m m t

zu einem förmlichen „englischen A n g e b o t " des Friedens, das der K a n z l e r in K o n s e q u e n z seines K r i e g s z i e l p r o g r a m m s v o m September 1914 abgewiesen habe. E r verschweigt auch, d a ß H o u s e s Bemühungen nicht in Berlin, w o h l aber in Paris u n d L o n d o n scheiterten. Seine B e m e r k u n g e n über das sog. G r e y - H o u s e - M e m o r a n d u m v o m 22. 2. sind insofern gegenstandslos, als H o u s e in Berlin ü b e r h a u p t nichts d a v o n „verschweigen" k o n n t e , w e i l es am 28. 1. noch gar nicht existierte. 6 ) D a s D e m e n t i bei Sch.-Gr. I, N r . 212 ( 2 3 . 3 . ) . G e r a r d s sehr interessanter Bericht ü b e r s. is6 die Rücksprache v o m 18.3.: Foreign Relations 1916 Suppl. p. 207 f. D i e dementierte Z e i tungsnachricht sprach sogar v o n Bethmanns grundsätzlicher Bereitschaft, „zu dem status q u o a n t e bellum z u r ü c k z u k e h r e n " . 7

) Vgl. Schr.-Gr.,

N r . 196 ( H o u s e zu B e t h m a n n ) .

s. 186

8

) Vgl. Lloyd George, I I , 680. Houses Berichte über seine V e r h a n d l u n g e n in Paris u n d s. 1S6 L o n d o n , wie sie in den I n t i m . P a p . wiedergegeben sind, stecken voller Selbsttäuschungen u n d geben kein klares Bild. Meine D a r s t e l l u n g k o n n t e u. a. die Schilderung A. S. Links (Bd. I V , cap. 4) benutzen, der a u ß e r den Nachlässen Houses u n d Wilsons eine Fülle u n gedruckten Materials aus französischen u n d englischen Archiven b z w . Privatnachlässen v e r a r b e i t e t h a t . — Eine recht b e m e r k e n s w e r t e E r g ä n z u n g des bisher Bekannten ist L i n k s Nachweis, d a ß H o u s e bei der R ü c k k e h r nach L o n d o n den K ö n i g A l b e r t v o n Belgien in L a P a n n e aufsuchte und ihm vorschlug, er m ö g e sich bereit e r k l ä r e n , den Deutschen die K o n g o k o l o n i e zu v e r k a u f e n . W e n n Deutschland dieses T e r r i t o r i u m , d a z u Portugiesisch-Angola u n d eine kleinasiatische „Interessensphäre" bekäme, w ü r d e es g e w i ß bereit sein, d a f ü r E l s a ß - L o t h r i n g e n an Frankreich u n d gewisse deutsche Kolonien in A f r i k a an die s ü d afrikanische U n i o n a b z u t r e t e n . K ö n i g Albert h a b e gemeint, ein V e r t r a g über den K o n g o w ü r d e sich w o h l organisieren lassen. M a n sieht, wie die elsaß-lothringische Frage den a m e r i kanischen V e r m i t t l e r b e u n r u h i g t h a t , aber auch, w i e völlig falsch er sie beurteilte. ' ) So z. B. v o n Asquith in einer ausgedehnten Friedensdebatte des englischen U n t e r h a u s e s s. 188 a m 23. 2 . 1 9 1 6 . Er v e r l a n g t e a u ß e r voller Wiederherstellung Belgiens die „Sicherung F r a n k reichs gegen einen A n g r i f f " (d. h. E l s a ß - L o t h r i n g e n ) , „ U n a b h ä n g i g k e i t der kleinen N a t i o n e n " und totale „Vernichtung" der „Militärherrschaft P r e u ß e n s " . I n den R e d e n d e r französischen Minister w u r d e die „Rückgabe" E l s a ß - L o t h r i n g e n s schon seit N o v e m b e r 1914 gefordert. 1°) D a s sog. „ H o u s e - G r e y - M e m o r a n d u m " v o m 2 2 . 2 . 1916 gedr. bei Grey, 123, u n d in den I n t . P a p . , I I , 200 f. D a z u vgl. Lloyd George, II, 687. 11) Grey, I I , 131, ähnlich Seytnour, 159.

25 years, I I , s. 189 S. 189

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A n m e r k u n g e n z u m 5. Kapitel - III

12 ) Belege f ü r diese Ausführungen am besten bei Seymour, 149 ff. vgl. aber a u d i £ . R. May, Kap. XVII. 13 ) »The American terms were, it is true, not the terms t h a t the allies would regard as S. 191 those of victory, but for G e r m a n y they w e r e the terms of positive d e f e a t . . . I t seemed to me inconceivable that Prussian militarism could look at such terms, while it was undef e a t e d a n d hoping for victory." Grey, II, 130. S. 191 14 ) U. a. mit Kriegsminister "Wild v. H o h e n b o r n s. dessen Nachlaß B. A. „Weihnachtsdenkschrift" Falkenhayns in seinem Memoirenwerk (Die O H L 1914-16) 176-184. D a z u R A W X, 2 ff. 15 S. 192 ) Spindler, I I I , 70 wohl a u f g r u n d von Tirpitz: Dok., I I , 500. D a z u Bethmann H o l l wegs Denkschrift vom 29. 2., Betrachtungen, II, 260 und die Kriegstagebücher v. Müllers, 162. 16 S. 192 ) R A W X, 10 ff. Ludendorff und sein H a u p t q u a r t i e r , die immer nur Vorstöße im Osten planten, hatten f ü r diese Sorgen keinerlei Verständnis. Man betrachtete dort F a l k e n h a y n einfach als „Ignoranten": Nachlaß Wild, Tagebuch vom 15. 12. 1915 (B. A.). 17 ) Seine Unsicherheit über den Ausgang kam in einer Unterredung mit Admiral von S. 193 Müller a m 9. 2. ziemlich deutlich zu Tage. Gleichzeitig meinte er freilich (optimistisch), die A m e r i k a n e r würden wohl auch den verschärften U-Boot-Krieg schlucken, nachdem sie den Lusitania-Fall ohne Kriegserklärung geschluckt hätten! v. Müller, 154.

S. 190

S. 194

S. 194 S. 195

ls ) Scb.-Gr., I, N r . 199, schon gedruckt in den „Aktenstücken zur Friedensaktion Wilsons" (U.A. 2, Beil. N r . 148). Teilabdruck auch bei Spindler, I I I , 92. Bearbeitung Falkenhayns durch K a p i t ä n Widenmann im A u f t r a g T i r p i t z ' : dessen Dok., II, 473 ff. 19

) Tirpitz, I I , 459. ) Wir wissen schon (s. o.), d a ß im Februar ganze 12 große U-Boote mit Dieselmotoren zur Verfügung standen, von denen immer n u r 2 bis 3 gleichzeitig an der englischen Küste operieren konnten. Tirpitz in seiner Denkschrift vom 13. 2. (U.A. 2 Beil. N r . 147) sprach v o n 38 „einschließlich Mittelmeer - im April ca. 50, und von da ab im Monat durchschnittlich 10 Stück mehr". W i d e n m a n n {Tirpitz, I I , 476) faselte von 105 im September, 150 im Dezember. Die unkritische H a l t u n g Falkenhayns ist um so merkwürdiger, als selbst ein Außenstehender wie Ballin sich über die Unzulänglichkeit der U-Boot-Zahlen nicht täuschen ließ: Tirpitz, II, 461. 21 S. 195 ) Aus A.A.W.K. 18 geh. adh. I Bd. 1 gedr. von K. E. Birnbaum, Appendix, I I , 5, p. 345 ff. 22 S. 196 ) Spindler, I I I , 75. Den 1. M ä r z hatte Holtzendorff dem Kanzler gegenüber als den Termin bezeichnet, zu dem genügend U-Boote zur Verfügung stehen würden. 23 S. 196 ) Er w u r d e bedenklich über die unsicheren und schwankenden Angaben der Marine über die Zahl verfügbarer U-Boote. Außerdem machten ihm die Befürchtungen des A. A. vor einem Krieg mit N e u t r a l e n Eindruck. D i e Heeresverwaltung kaufe zu 1 0 0 % aus den nordeuropäischen und anderen neutralen Ländern unentbehrliche Kolonialprodukte, Fette, usw., täglich f ü r 5 Millionen Mark, notierte er am 20. 1. in sein Tagebuch. Wie sollten die ersetzt werden? Nachlaß B. A. K o b l e n z . Trotzdem trat er in den entscheidenden Beratungen auf Falkenhayns Seite. 20

24 ) Ziemlich ausführliche Schilderung der Presse-Aktion bei E. R. May, 264 ff. E b d o r t . w e r d e n auch Bethmanns Gegenaktionen in der Presse und seine Zensurmaßnahmen d a r gelegt. 25 S. 197 ) Tirpitz, II, 484, dazu Kl. Epstein: M . Erzberger, 173 ff. Epstein hat aber offenbar die Stelle bei Westarp, II, 116 übersehen, w o Erzberger ( 1 . 2 . 1916) geradezu als Kriegshetzer erscheint. Die H a l t u n g des immer Schnellfertigen war offenbar weniger konsequent, als sie Epstein darstellt. D i e allzu geringe U - B o o t - Z a h l hat er wohl erst im Februar 1916

S. 196

A n m e r k u n g e n zum 5. Kapitel - III

623

ausgekundschaftet. Auch der von Epstein, 176, zitierte Brief Lerchenfelds an Hertling vom 26. 1. (G.St.A. München) spricht von „einigen Schwankungen" in der H a l t u n g Erzbergers. E. R. May, 271, behauptet (ohne Beleg), daß die Bekehrung Erzbergers auf Bethmann persönlich zurückgegangen sei. Sehr bemerkenswert ist ein Bericht Hohenlohes an Burián v o m 20. 2. 1916 (Wien H.H.St.A., Preußen III, 172) über eine Unterhaltung mit Jagow. D a r i n sprach dieser mit Erbitterung über die „geradezu unerträgliche" Wichtigtuerei und Betriebsamkeit Erzbergers, der sich soeben in Konstantinopel gegenüber österreichischen Diplomaten als Beauftragten des A . A . aufgespielt hatte, ohne jeden A u f t r a g . Vergeblich habe das A . A . versucht, ihm von dieser Reise abzureden. „Leider hätte man kein Mittel, um H e r r n Erzberger zu internieren, w a s man sonst mit Vergnügen täte." Hohenlohe stimmte dem lebhaft zu. 2b ) So rechtfertigte er selbst sein Verhalten gegenüber Lerchenfeld, der zu seinen unbedingten Anhängern zählte, aber davon wußte, daß n u r etwa 10 U-Boote gegen England zur Verfügung standen und eine deutlichere Sprache gegenüber den P a r t e i f ü h r e r n gewünscht hätte: Lerchenfeld an Hertling 2 6 . 2 . 1 9 1 6 G.St.A. München. 27 ) Hertling an Lerchenfeld 3 . 2 . 1 9 1 6 : lehnt jede Intrigue gegen Bethmann ab, möchte den diplomatischen Bundesratsausschuß zur Stützung des Kanzlers einberufen. A n t w o r t Lerchenfelds 5. 2: glaubt nicht recht an Absicht Falkenhayns, Bethmann zu stürzen. Lerchenfeld an Hertling 2 2 . 2 : auch der mecklenburgische Gesandte regt Stützung des Kanzlers gegen seine Feinde an. Lerchenfeld an Hertling 26. 2.: hat Bethmann über die H a l t u n g des Bundesrats (gegen die Forderungen der Marine) orientiert, Einberufung diplomatischen Ausschusses angeboten (G.St.A. München), dazu ergänzend Kl. Epstein, a. a. O., 176. 28 ) Tirpitz, I I , 492 ff. (5. 3. 1916). M a n sieht dort, wie kunstvoll Tirpitz den wirklichen Stand der Dinge zu verschleiern w u ß t e . Im Auswärtigen Amt betrachtete man seine Zahlenangaben längst mit höchstem M i ß t r a u e n : Westarp, I I , 117 (Unterhaltung mit Jagow 5.2.) 29) Schriftwechsel Hohenlohe-Burián 27./28. 2., 6 . 3 . Wien H . H . S t . A . Krieg 4 c. Weitere Berichte vom 15. und 20. 3. ebd. Preußen III, 172. H o h e n l o h e kritisierte Tirpitz' politische H a l t u n g vor u n d nach 1914 aufs schärfste. Bethmann h ä t t e ihm, wie schon Bülow, viel zu viel freie H a n d gelassen, statt ihn offen zu b e k ä m p f e n . Burián wollte Durchführung des U-Boot-Krieges, aber Schonung der Passagierdampfer. Wenn wirklich Tirpitz auf Hertling gesetzt haben sollte, so hätte er sich über dessen H a l t u n g in der U-Boot-Frage gründlich getäuscht. Vgl. über diese Gerüchte auch E. R. May, 268 (nach Victor Naumann und Max Ho ff mann).

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3°) Wild Nachlaß B. A.: Tagebucheintrag v o m 9. 3. 1916. S. 198 ) D a f ü r bezeichnend ist u. a. eine Korrespondenz beider Männer vom 3-/4. April 1916 s. 198 (Z. A. Potsdam R.Kzl. V I I , 6), in der Falkenhayn die Bitte des Kanzlers um militärische Information f ü r seine Reichstagsrede sehr unwirsch a u f n i m m t . 32) Westarp, I I , 124. Eine noch schroffere Form der Ablehnung politischer Intriguen s. 199 gegen den Kanzler berichtet von Müller. Kriegstagebücher, 115, vom Juli 1915. - . . . „er w ü r d e den betr. Brief einfach in den Papierkorb w e r f e n " . Inkonsequent erscheint es allerdings, d a ß er gegenüber dem Kanzler den Vorstoß der konservativen Landtagsfraktion v o m 9 . 2 . (s. o.) nicht als „Eingriff in die Rechte der O H L " gelten lassen wollte: Tirpitz, II, 477. 33) Westarp, I I , 125. Knesebeck, a . a . O . , 153ff. (Brief Ludendorffs an Wyneken 2 3 . 1 . s 199 1916 ff.) 31

34) Lerchenfeld an Hertling 5 . 2 . 1916 mit besonderer Bezugnahme auf Äußerungen 5 199 Seeckts (G.St.A. München, a. a. O.). 35) Abdruck: Bethmann Hollweg, II, 260-73. U. A . 2, Beil. N r . 149. - Spindler, I I I , s. 199

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Anmerkungen zum 5. Kapitel - III

94 ff. Vermutlich hat auf B . H . auch ein Memorandum Jagows vom 31. Januar Eindruck gemacht, das einerseits den Bruch mit Amerika als sehr verhängnisvoll in jedem Fall schilderte, andererseits die Kriegslage zu Lande auf Grund der Erfolge des Jahres 1915 sehr ermutigend fand: K.E. Birnbaum, 3 4 7 f . }6) S. 200 Tirpitz: Dokumente, II, 455 f., 460, dazu Spindler, I I I , 72 ff. Nach einer bestimmten Versicherung Erzbergers (Erlebnisse im Weltkrieg 1920, S. 213) hat Tirpitz ihm gegenüber Anfang Januar sogar behauptet, die U-Boote würden England „in 6 Wochen auf die Knie zwingen" können. 3 7 ) Vgl. jedoch die oben Anm. 22 zitierte Unterredung mit Holtzendorff am 8. Januar S. 200 {Spindler, I I I , 75) und die Aufzeichnung vom 10. 1. bei Birnbaum, p. 345 ff. 3 8 ) Nach v. Müller, S. 201 158, ist eindeutig festzustellen, daß die Schonung der Passagierdampfer auf einen Wunsch Bethmanns, nicht auf die selbständige Initiative Holtzendorffs zurückgeht, wie Spindler, I I I , 88 glaubt. 39

) von Müller: Kriegstagebücher, 146 f. ( 1 0 . - 1 2 . 1 . 1 9 1 6 ) . Den Kaiser scheint ebenso die Unmenschlichkeit der warnungslosen Versenkungen beeindruckt zu haben wie die Furcht vor dem Krieg mit Amerika, die ihm den Schlaf rauben konnte: ebd. 147, 149, 151. 4 0 ) Es ist zu beachten, daß Wilsons 2. Lusitania-Note vom 9 . 6 . 1 9 1 5 ausdrücklich das S.202 Recht der U-Boote anerkannt hatte, solche Dampfer zu versenken, die „Widerstand leisteten", also bewaffnet waren.

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4 1 ) Näheres bei Bernstor ff: Deutschland und Amerika, 210 ff. Für die amerikanische Politik in diesen Monaten s. a. die früher zitierte neuere amerikanische Literatur, bes. Ch. Seymour und E. R. May. 4 2 ) Über die Verhandlungen vom 4 . 3 . ist die Hauptquelle ein Bericht Bethmanns an S. 206 Jagow vom 5. 3. bei Tirpitz, II, 499 ff. Ebd. weiteres Material. Wichtige Ergänzungen bieten v. Müllers Kriegstagebücher, 160 ff. Sehr bemerkenswert ist, daß die Nichteinladung des Großadmirals geradezu auf einen Wunsch Falkenhayns zurückging, der ihn zwar zum mächtigen Verbündeten hatte, aber das anmaßlich gespreizte Auftreten und unfruchtbare Gerede Tirpitz' bei solchen Beratungen schwer ertrug.

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4 3 ) Vgl. das erneute Drängen des Kaisers auf diplomatische Vorbereitung des unbeschränkten U-Boot-Krieges Ende März - Anfang April: Korrespondenz Treutler-B. H. bei K. E. Birnbaum, 66 f. 4 4 ) Nachlaß Wild B . A . , Tagebuch 9.3., 1916 ff., dazu v. Müller 1964 ff. 45 ) Deuerlein: Bundesratsausschuß, 191-195, 284-287, K. H. Janssen, 46 f. Bericht Lerchenfelds vom 15. 3. München G.St.A. E. R. May, 268 f. der sich auf das Buch von V. Naumann: Dokumente und Argumente 1928, stützt, das von Intriguen der Gegner Bethmanns bei Hertling berichtet, glaubt irrigerweise, dem Kanzler habe zunächst Gefahr vom Bundesratsausschuß gedroht. Das wird eindeutig widerlegt durch die schon oben Anm. 27 zitierte Korrenpondenz Lerchenfeld-Hertling. Dazu Schreiben Weizsäckers an Bethmann vom 19. 2., die Berichte des württ. Gesandten Moser aus München vom 9. und 20. 3. (H.St.A. Stuttgart) u. a. mehr. In München und Stuttgart war man eifrig darauf bedacht, den Kanzler gegen seine Feinde zu stützen. - Pressekonferenz vom 1 3 . 3 . : U.A. 2 Beil. N r . 152 46 v o n ) Müller: Kriegstagebücher, 169. Bericht des österr. Botschafters Prinz Hohenlohe an Burián 24. 3. Weitere lange Berichte dess. 8., 15., 19., 20. März: Wien H . H . S t . A . Preußen, I I I , 172. Hohenlohe schreibt natürlich als Gegner des Großadmirals, aber mit viel Kritik an der „Schwäche" des „philosophischen" Kanzlers, der seine Gegner schon längst viel energischer hätte bekämpfen müssen und dem die physische und geistige Kraft, vor allem die kämpferische Energie fehle, um sich noch lange in seinem Amt zu behaupten. 4 7 ) Höchst lebendige Schilderung im Tagebuch des Nordschleswiger (dänischen) Ab-

Anmerkungen zum 5. Kapitel - III

625

geordneten Hans Peter Haussen: Diary of a Dying Empire (amerikan. Ausgabe von R. H. Lutz u. a. 1955), 134. «) Westarp, II, 148 s. a. ebd. 127 ff., 141 ff. Ferner Tirpitz: Dokumente, I I , 484. s. Kl. Epstein: Erzberger, 174 ff. Erzberger: Erlebnisse, 214 ff. E. R. May, 272 ff., z. T. nach einem Bericht Erzbergers an Hertling vom 18. 3. 4 9 ) Nach Westarp, I I , 144. Einen sehr anschaulichen und offenbar exakten (wohl nach s. unmittelbarer Niederschrift gefertigten) Bericht bietet Hanssens Tagebuch, a . a . O . , 136ff. über die Sitzungen der Budget-Kommission am 28. und 29. März. Leider wurde mein Gesuch an das Z.A. Potsdam, Näheres über Bethmanns Ausführungen aus den dort lagernden Protokollen der Ausschußsitzungen zu erfahren, aus „magazintechnischen" Gründen abgelehnt. Was E. R. May, 273, über den Verlauf der Sitzungen berichtet, findet sich weder bei Westarp noch bei Hanssen, die er als Quelle zitiert. Geht es auf Pressenachrichten zurück? 5 0 ) Ein Resolutionsantrag der äußersten Linken allerdings wandte sich scharf gegen den s. rücksichtslosen U-Boot-Krieg und forderte die Einleitung von Friedensverhandlungen. 51) E. R. May, 191 ff. s. 52) v. Müller: Kriegstagebücher, 170, For.Rel. 1916. Suppl. p. 239: 20.4. (von Jagow); s 242ff.: 20.4., 24/25.4. (Bethmann); 253ff.: 3.5. (Empfang Gerards durch Wilhelm II.). Weitere Einzelheiten über die Verhandlungen Bernstorffs und die Haltung des A. A. bei K. E. Birnbaum, 72 ff. Für das Folgende von Müller, 171 ff. Tirpitz: Dokumente, II, 527 ff.U . A . 2 Beil. 1 (Aktenstücke zur Friedensaktion Wilsons 119) Nr. 1-9. Gerard: My four years in Germany, 1917, 324-345 (fehlt in der deutschen Übersetzung). Helfferich, II, 341 ff. Falkenhayn: Oberste Heeresleitung, 186 f. Graf Bernstorff: Deutschland und Amerika, 238 ff. 53) Ob diese Auffassung Holtzendorffs, der noch am 22. 4. in einem Schreiben an Jagow s. jede Konzession an Amerika abgelehnt hatte, bereits in der Konferenz vom 24. 4. zutage kam, ist nach Meinung K. E. Birnbaums, 78 und app. III, 3 zweifelhaft. Was die von ihm ebd. zitierte „Denkschrift vom 27. 4." (im Marine-Archiv) eigentlich enthielt, ist aus seiner Darlegung nicht recht zu entnehmen; es scheint sich nicht um eine Denkschrift, sondern eine Art von Protokoll zu handeln. Spätestens am 26. 4. vertrat aber Holtzendorff die von Spindler, I I I , 143 f. wiedergegebenen Ansichten. Das von Spindler benutzte Dokument kann kein Brief an v. Müller vom 30. 4. gewesen sein (beide waren an diesem Tag zusammen in Charleville); es war vielmehr nach v. Müller, 173, eine für den Immediatbericht bestimmte Aufzeichnung. - Auch in dieser Krise erbat und erhielt Hohenlohe aus Wien Anweisung, sich in die Verhandlungen einzuschalten. Er erklärte B. H. (anscheinend am 24. 4.), Österreich wünsche nicht durch mißverstandenen Schneid deutscher Seeoffiziere in das Abenteuer eines Krieges mit den USA verwickelt zu werden. Dazu erhielt er aus Wien Abschrift eines deutschen Memorandums, in dem Min.Dir. Kriege den Österreichern Weihnachten 1915 die verhängnisvollen Folgen eines solchen Krieges dargelegt hatte, um sie zur Nachgiebigkeit im Streit um den Ancona-Zwischenfall zu bewegen. Wien H.H.St.A. Krieg 4c. 5 4 ) Unbeschränkter U-Boot-Krieg rings um England, aber freie Passage für neutrale S. Schiffe auf bestimmten Routen (was Wilson schon 1915 abgelehnt hatte). Ausführliche Schilderung der Verhandlungen in Charleville (aufgrund der Korrespondenz B. H.s mit dem A.A.) bei K. E. Birnbaum: 79 ff., dar aber die Kriegstagebücher von Müllers (172 ff.) noch nicht kannte. Uber Falkenhayns Haltung und seine Denkschrift vom 10. 3. vgl. R.A.W. X , 306 ff.

55) Am 1. April 1915 hatte er Graf Lerchenfeld ausdrücklich versichert, vor Männern s. wie Tirpitz und Falkenhayn werde er seinen Platz nicht freiwillig räumen: K. H. Janssen, 45.

626 S. 212 S. 212

A n m e r k u n g e n zum 5. Kapitel - III

56

) S. d a z u oben Anm. 53! ) In Gerards Bericht (For.Rel. 1916, Suppl. 253 ff.) ist von einer Erörterung amerikanischer Absichten, den Frieden zu vermitteln, w i e sie Wilhelms I I . eigenhändige Aufzeichnung vom 3 . 1 0 . 1 9 1 6 behauptet (U.A. 2, Beil. N r . 2 1 ) nicht die Rede. Es bleibt unsicher, ob diese E r ö r t e r u n g nicht nur im Gespräch mit Bethmann stattfand. Gerards Memoiren (Kap. X V I I ) schildern den Besuch in Charleville sehr ausführlich, bringen aber gegenüber dem amtlichen Bericht in For.Rel. politisch nichts Neues. 58 S. 212 ) Was damit erreicht werden sollte, bedarf k a u m der Erläuterung: politische K o m p e n sation f ü r den Verzicht auf unbeschränkten U-Boot-Krieg. F. Fischer, 361 ff. deutet es so, d a ß „die Diplomatie in den Dienst der Vorbereitung eines unbeschränkten U-Boot-Krieges gestellt" werden sollte; übrigens läßt er auch die Begriffe „verschärfter" und „unbeschränkter" U-Boot-Krieg mehrfach unversehens ineinandergleiten. 57

59 ) Der Vorbehalt w a r auch in der Resolution der Reichstagskommission worden. 60 s,213 ) U . A . 2 Beil. N r . 1 ff.

S. 213

s. 213 S. 214

61

gefordert

) s. o. A n m . 6. ) Nach G e r a r d s Bericht (For.Rel. 1916, Suppl. 253 ff.) h a t Bethmann diesem abschließend gesagt: he hoped the President would be great enough to take u p peace, that G e r m a n y h a d won enough to be able t o talk of peace without suspicion of weakness, and that this a w f u l loss of life should cease. H e said t h a t he hoped Colonel H o u s e would take up the question a n d shall perhaps come here under the President's direction. Vgl. dazu Bethmann Hollwez, I I , 147. 63 S 214 ) A . A . W . K r . 18 geh. Bd. 16 (nicht 17!) gedr.: U.A. 2. Beil. N r . 7 . Es ist fast unglaublich, wie es F. Fischer 363 fertigbringt, den Eindruck dieser eindeutig friedensbereiten H a l t u n g durch abgekürztes Zitieren beinahe ins Gegenteil zu verkehren. A m 5. 5. entwarf B. H . eigenhändig ein Zirkulartelegramm an die deutschen Gesandtschaften in Kopenhagen, Stockholm, Bern, Kristiania, Bukarest, das den Verzicht auf unbeschränkten U-BootKrieg erläutern sollte: nicht Zeichen v o n Schwäche, sondern v o n Friedfertigkeit! So solle die neutrale Presse informiert werden. Bethmann fügte eine N o t i z f ü r das A. A. hinzu: gewiß w ü r d e eine Friedensvermittlung Wilsons zur Zeit im deutschen Volk auf Widerspruch stoßen; aber sofort würde ja der Druck auf England nicht Erfolg haben. „ U n d ist erst eine kurze Zeit vergangen, dann w ü r d e sich der Widerwille legen", bei wahrscheinlich sich verschlimmernder wirtschaftlicher Notlage. „Sind wir einmal der Überzeugung, d a ß der U-Boot-Krieg England nicht niederzwingen kann, d a n n m ü s s e n w i r eben j e d e M ö g l i c h k e i t , zum F r i e d e n zu k o m m e n , b e i m S c h ö p f e erg r e i f e n . " Fischer zitiert den hier gesperrt wiedergegebenen Satz, findet ihn aber unvereinbar damit, d a ß „den Deutschen" (worunter der Leser verstehen m u ß : auch Bethmann), die Friedensvermittlung Wilsons unerwünscht gewesen sei. Tatsächlich wünschte der Kanzler sogar eine Einwirkung auf die dänische Diplomatie dahingehend, d a ß diese in Washington f ü r eine Friedensvermittlung des Präsidenten sich einsetzen möchte. A . A . W . K r . 18 geh. Bd. 15 (die Aktensignatur Fischers ist irrig), dazu vgl. E. R. May, 391. K u r z vorher (s. 353) versteigt sich Fischer zu der seltsamen Behauptung, Bethmann habe von „einem Separatfrieden mit England" (welche Utopie!) deshalb nichts wissen wollen, weil das „dem Beginn eines allgemeinen Friedens gleichgekommen wäre" und den Verzicht auf Belgien zur Folge gehabt hätte. Ärger lassen sich die Gedankengänge des Kanzlers wohl k a u m verdrehen. 62

Anmerkungen zum 6. Kapitel

627

A N M E R K U N G E N ZUM 6. K A P I T E L !) Die optimistischen Ausführungen dieser Rede über die militärische Lage gingen auf s.216 Falkenhayn zurück, der sich (auf Rückfrage des Kanzlers vom 3. 4.) zuerst nur ganz allgemein äußerte, ohne irgendwelche Einzelheiten zu bieten, dann aber sich mit dem (ihm am 4. 4. vorgelegten) Wortlaut des Entwurfs einverstanden erklärte. Z. A. Potsdam, R. K. V I I , 6. 2 ) Falkenhayn an den Presseverband 27.5. Korrespondenz Bethmann-Falkenhayn 4.-8. 6. s. 217 Immediatbeschwerde des Kanzlers 9. 6. (an Valentini gesandt). Dem Reichsverband der Presse antwortete er am 1 0 . 6 . : Freigabe der Kriegszieldebatte sei noch nicht möglich, doch wünsche er milde Handhabung der Zensur auf diesem Gebiet und lasse sie vorbereiten. Votum des Kriegsministers 18. 5., alles in Z. A. Potsdam. R . K . II, Kriegsakten X , 8. Dazu Nachlaß Wild in B. A. Wild suchte mit Hilfe Lynckers zu vermitteln und fand, daß Bethmann die Angelegenheit zu tragisch genommen habe. Falkenhayn berief sich u. a. darauf, daß die Oberzensurstelle ein Organ des Generalstabs sei. Eine politische Opposition habe er gar nicht beabsichtigt. Ob die Immediatbeschwerde dem Kaiser vorgelegt oder zurückgezogen wurde, geht aus den mir bekannten Akten nicht hervor. - Nähere Nachrichten über Organisation und Funktion der Pressezensur bei Oberstleutnant W. Nicolai: Nachrichtendienste, Presse und Volksstimmung im Weltkrieg (1920), 73-88 und W. Vogel: Die Organisation der amtlichen Presse- und Propagandapolitik des deutschen Reidies bis zum Beginn des Jahres 1918, in: Zeitungswissenschaft, Jg. 16, H. 8/9, 1941. 3 ) Eine Pseudonyme Schrift von „Junius alter" und eine Denkschrift des späteren Put- S.218 schisten (von 1920) Generallandschaftsdirektors W. Kapp. Der letztere antwortete mit einer Pistolenforderung an den Kanzler und suchte, als dieser ablehnte, in einer Presseveröffentlichung vom 14.6. (s. Wippermann: Deutscher Geschichtskalender 1916, II, 1186) sich selbst als die verfolgte Unschuld hinzustellen. Er erhielt einen dienstlichen Verweis des Landwirtschaftsministers Schorlemer und rebellierte dagegen schriftlich am 18.6. Das Staatsministerium beschloß am 20.6., auf ein Disziplinarverfahren mit dem Ziel der Dienstentlassung zwar zu verzichten, aber seine Wiederwahl (zum 1. 7.) nicht zu bestätigen. A . A . Abt. 1 A Deutschland 122, Nr. 16 geh. (Personalpapiere Bethmanns). Unter dem Pseudonym Junius alter vermutete man in der Reichskanzlei (nach Westarp, II, 169) entweder den Grafen Höensbroech oder den Direktor des Bundes der Landwirte Hahn. Nach Haussen: Diary, 133, wäre es Baron Hans v. Liebig gewesen, was aber wohl eine Verwechslung mit dessen schon 1915 erschienenem Buch „Die Politik von Bethmann Hollwegs" darstellt. Uber dieses und die teilweise raffinierte Tarnungsmethode der Pamphletisten vgl. H. W. Gatzke: Germany's Drive to the West. (1950), 126 ff. Nach Gatzke war vielleicht Fr. Sontag, Herausgeber der „Alldeutschen Blätter", der Pseudonyme Autor. Prinz Hohenlohe berichtete am 20. 6. nach Wien von den eifrigen, aber ziemlich erfolglosen Bemühungen Bethmanns und der Reichsbehörden, die Pamphletisten und ihre Hintermänner wegen Verrats militärischer Geheimnisse zu fassen; am 7. 6. meldete er sehr erfreut den starken Eindruck des Vorstoßes B.H.s im Reichstag: beides Wien H.H.St.A., Krieg 4a. 4 ) Nachlaß Wild B . A . Wild meint, die Konservativen hätten auf dieses Telegramm hin endgültig die Kandidatur Falkenhayns für den Kanzlerposten aufgegeben. 5) Westarp, II, 309ff., 328ff. 6 ) Meldungen Grünaus vom 19. und 2 3 . 6 . an den Kanzler: A . A . 1 A Deutschland, 122, Nr. 16 geh. Dazu von Müller: Kriegstagebücher, 192. Bezeichnend ist, daß der Kronprinz es wagte, dem Kaiser gegenüber B. H. einen „Kneifer" zu nennen, weil er Kapps Pistolenforderung abwies. 7 ) Näheres bei Gatzke, a. a. O., 174. Ein (etwas skeptischer) Bericht des Prinzen Hohen-

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s.219

628

Anmerkungen zum 6. Kapitel

lohe vom 14. 7. über diese Gründung wurde im Wiener Außenministerium zur Verteilung an alle Dienststellen gedruckt: H.H.St.A. Krieg 4a. Er behandelte auch die Polemik alldeutscher Kreise, besonders des Leipziger national-liberalen Historikers E. Brandenburg mit der Nordd. Allgem. Zeitg. 8 ) Bericht Bethmann Hollwegs in Preuß. Staatsmin. am 1 9 . 8 . : Sch.-Gr. S. 220 I, Nr. 311. Bericht des preußischen Gesandten von Schoen aus München 23. 6.: A.A.W.Kr. geh. Bd. 30 und Bayern 50 - Notiz Schoens für Hertling o. D. (Ende Juli): München G.St.A. Pol.A. V I I . Bethmann Hollweg an Hertling 29.7. ebd. Protokoll der Audienz vom 5 . 8 . : ebd. Graf Preysing (radikaler Alldeutscher) an Hertling 5. 8. ebd. - Lerchenfeld an Hertling 9. 8. ebd. - Württbg. Gesandter Moser an Weizsäcker 12. 8. und 15. 8.: Stuttgart H.St.A. E 73 Verz. 61 - Notizen des Legat.Rates Stengel über Audienz des Prof. Gruber und einen Besuch Hertlings bei Kardinal Bettinger 14.8.: München G.St.A. Pol.A V I I . Über die Sitzung des Bundesratsausschusses vom 8-/9. 8. vgl. das Protokoll der Württemberg. Gesandtschaft H.St.A. Stuttgart E 49/51 auswärt. Min. IV, Vz. 3 B.A. V - 16 (sehr exakt und ausführlich), das der hanseatischen Gesandtschaft bei R. Koschnitzke: Die Innenpolitik des Reichskanzlers von Bethmann Hollweg im Weltkrieg. Diss. Kiel 1951. Anhang. Dort auch S. 305 die alldeutsche Eingabe an den Hamburger Senat. Der Protokollauszug bei Deuerlein, 287 ff., ist sehr knapp. - Der Hertling bedrängende Vizeadmiral z. D. Thomsen gehörte nach den Mitteilungen Bethmanns (Sch.-Gr. I, S. 444) zu dessen bösartigsten Verleumdern. - Eine Schilderung der innenpolitischen Entwicklung des Sommers 1916 bietet (nach Pressestimmen und den Memoiren von V. Naumann: Dokumente und Argumente 1928) E. R. May, 277 ff. S. 220

s. 221 S. 221

S. 221 S. 222 S.222 S. 223

9 ) Bethmann Hollweg hatte sie schon im Dezember 1914 angekündigt; deutlicher noch sprach die Thronrede vom 13. 1. 1916 davon; am 1. 5. 1916 wurde die Beschränkung der Gewerkschaften gelockert. 10 ) R.A.W. X , 638 f. (21.8.1916). n ) Das R.A.W. X 405 berechnet, daß bis Ende August 70 französische Divisionen zu 4 Regimentern (nicht wie auf deutscher Seite 3 Regimentern) im Abschnitt Verdun zum Einsatz kamen und daß die Gesamtzahl an französischen Verlusten (Toten, Verwundeten, Vermißten) nur um 1 0 % höher war als die der Deutschen (317 000 gegenüber 282 000). 12 ) R.A.W. X 304 f., 319. 1 3 ) R.A.W. X 640 (21. 8. 1916). 1 4 ) So z. B. vom Waffengeneral der schweren Artillerie v. Laufer nach v. Müller: Kriegstagebücher, 200. 15 ) R.A.W X , 660. Die anschließende Charakteristik der Persönlichkeit Falkenhayns (S. 670 ff.) scheint mir in mehrfacher Hinsicht verfehlt. Sein Denken war m. E. weder sprunghaft noch unsystematisch oder gar unlogisch. Daß es ihm an Selbstkritik gefehlt habe, läßt sich durch viele Zeugnisse widerlegen. Daß sein Seelenzustand im Sommer 1916 irgendwie „erschüttert" gewesen ist, mag zutreffen; es wäre jedenfalls begreiflich; seine Haltung als Soldat hat das aber nicht erkennbar beeinflußt.

5 223

16 ) Briefwechsel mit Conrad 16.12.1915: Falkenhayn: Oberste Heeresleitung, 166ff., dazu R.A.W. X , 571 ff. 1 7 ) Immediatdepesche Bethmanns 16. 8., R.A.W X , 637, u. Sch.-Gr. S. 224 I, Nr. 306. Bethmann hielt den Vorstoß aus Tirol für eine „Parallelaktion" zum Vorstoß gegen Verdun aufgrund eines gemeinsamen Planes. Vgl. auch sein Schreiben an Valentini vom 10. 7. 1916: Valentini, 236.

S. 224 S. 224

18) R.A.W. X , 441 ff. ) Ausführlicher Bericht des zum Hauptquartier Teschen abgeordneten Sektionsrates Baron Dr. von Wiesner an das Auswärt.Min. Es liegt in zwei Exemplaren im Wiener 19

A n m e r k u n g e n zum 6. Kapitel

629

H . H . S t . A . K r . geh. X L V I I Fase. 17 „streng geheim", undatiert u n d unsigniert, aber in einem Umschlag mit folgendem Vermerk: „In der Anlage habe ich die Ehre, E. E. in zweifacher Ausfertigung den adjustierten Brief H e r r n von Wiesners gehorsamst zu unterbreiten. Wien 27. 6. 1916 R a p p a p o r t . " W a r der Brief (offenbar Privatbrief an Burian. Anschrift fehlt in den Kopien) zur Vorlage an F r a n z Josef oder dessen Militärkanzlei „adjustiert"? Ein ähnlicher Privatbrief Wiesners v o m 12. 8. an Burian in demselben Fascikel. Über Wiesner und seine Tätigkeit vgl. General Baron Wladimir Giesl: Zwei Jahrzehnte im Nahen Orient (1927), 278. 20) Ludendorff an Zimmermann 29. 6. 1916: A . A . W K r . 15 geh. Bd. 30. 21 ) Nach einem Bericht Hohenlohes vom 5. 7. (Wien H.H.St.A. Krieg 4°) über ein Gespräch mit B. H . ist zu vermuten, daß dies auf Klagen Hindenburgs über die Zerstückelung der O s t f r o n t in lauter selbständige Armeegruppen zurückging. D e r Kanzler zeigte sich sehr erschüttert über den Erfolg der Brussilow-Offensive, beklagte sich aber auch über Falkenhayn, der eine neue russische Offensive f ü r unmöglich gehalten habe und der in seinem „Eigendünkel" und seiner „Unzulänglichkeit sich allein allen Aufgaben gewachsen zu sein glaube". Das ist offenbar ein Echo von Beschwerden aus dem Lager Ludendorffs. 22) Valentini, 226-239. Für J a g o w (12. 1. 1917) vgl. K. H. Janssen: Der Wechsel in der Obersten Heeresleitung 1916, in: Vjh. f. Zeitgeschichte V I I (Okt. 1959), 345. Dieser tüchtige Aufsatz bietet auch sonst viele Belege. 23) Bethmann an Baron Grünau f ü r Lyncker 2 3 . 6 . 1 9 1 6 : Z. A. P o t s d a m R . K . VII 7. Grünau w u r d e beauftragt, auch General von Wild und Valentini entsprechend zu informieren. Natürlich sollte Lyncker die Gedanken Bethmanns dem Kaiser vortragen. Plessen hatte B. H . vertraulich gesagt, er wolle versuchen, auch Falkenhayn f ü r Hindenburgs Oberbefehl an der O s t f r o n t zu gewinnen. 2t) v. Müller: Kriegstagebücher, 183. Varnbüler:: K. H. Janssen Vjh. 1959, S. 345. Weizsäcker: Schreiben Bethmanns an Jagow 21.7.: Z. A. Potsdam R . K . II 2, I I I G . H . Q u . 14 Bd. 1. Vgl. auch K. Helfferich: Weltkrieg, II, 102. K r o n p r i n z Rupprecht: (Mein Kriegstagebuch 1929 I 496 f.) notierte am 5 . 7 . , im Auswärtigen Amt herrsche allgemein dieselbe Meinung vor. Vgl. auch Tschirschky an Jagow 7. 8. bei K. H. Janssen, (Aufsatz), 365, Anm. 135: „Wir sollten einen Frieden, wie er jetzt erreichbar ist, mit Falkenhayn nicht machen angesichts der Stimmung im deutschen Volk." 25) Meldung Bussches an A . A . 1 2 . 7 . 1 9 1 6 : Sch.-Gr. I, N r . 283. Czernin schlug v o r : Territorialen status quo, Verzicht auf Kriegsentschädigungen, Wiederherstellung und E n t schädigung Belgiens, allgemeine Abrüstung. 26) Ebd. N r . 310. Tschirschky an J a g o w 19.8. 1916. 27) Meldungen Oberndorffs (des deutschen Gesandten in Sofia) über Unterhaltung des Militärattaches Paul v. Massow mit Z a r Ferdinand und dem Kronprinzen 14. 6. und 18. 7. A . A . W k r . 15 geh. Bd. 30, 31. B . H . an Jagow 2 0 . 7 . über Mitteilungen des bulgar. Gesandten, ebd. Bd. 31, Teilabdruck bei Zwehl: Falkenhayn, 208 f. Einer Bitte B.H.s, mit dem Erzherzogthronfolger über eine Reform des Ministeriums (Ersatz von Stürgkh und Burian) zu verhandeln, kam Wilhelm II. am 9. 10. 1916 nach: Sch.-Gr. I, N r . 345. 28) Bethmann an Jagow 2 4 . 7 . 1916: A.A. WK. 15 geh. Bd. 31 und R u ß l a n d 104 geh. Telegramm vom 23. 7. an Wilhelm I I . : W k r . 15 geh. Bd. 32 Ähnliche Äußarungen Andrassy's hatte schon am 21. 7. Tschirschky gemeldet (s. u. A n m . 57, Z. 7). Ähnlich wie Andrassy äußerte sich nach einem Bericht des Generalkonsuls Fürstenberg vom 3 1 . 7 . aus Budapest Graf Apponyi. Über die H a l t u n g Kaiser Franz Josefs lauteten die Nachrichten ziemlich unbestimmt. Es hieß, er w ü r d e sich einem deutschen Oberbefehl nicht widersetzen, wenn Kaiser Wilhelm ihn als notwendig ihm darstelle: Aussage General Cramons nach A u f -

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Anmerkungen zum 6. Kapitel

Zeichnung B. H.s vom 19. 7. Meldung Tschirschkys vom 24. 7. Meldung Metternichs vom 30. 7. über Unterhaltung mit Botschafter Markgraf Pallavicini. Jagow an Grünau 14. 8. über Eindrücke in Wien. Alles A.A. Wkr. 15, geh. Bd. 31-32. Später fügte er sich, nach einer Meldung Tschirschkys vom 7. 8., doch nur widerwillig in die Unterstellung eines Teils der österreichischen Truppen unter Hindenburg und meinte: „Vorher ist es ja auch gegangen". Ebd. Bd. 32. S.229 S.229

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2 9 ) Immediatberichte vom 11. und 1 6 . 8 . s. Sch.-Gr. I, Nr. 306. Einladung: Korrespondenz mit Tschirschky 24./26. 7.: A. A. Deutschland 122, Nr. 16, Bd. 7. 3 0 ) Vgl oben Anm. 19. Bemerkenswert sind auch die sehr verlegenen Entschuldigungen, mit denen sich Conrad am 24. 6. Burian gegenüber wegen der Mißerfolge in Italien und der Katastrophe bei Luck zu rechtfertigen suchte. Wien H.H.St.A. Krieg geh. 2b fasc. 17. 3 1 ) Die Erörterung dieser militärischen Erwägungen wird hier so ausführlich gegeben, weil sie m. E. von der bisherigen Geschichtschreibung allzusehr vernachlässigt sind und viel zu einseitig die persönliche Rivalität Falkenhayn-Hindenburg beachtet zu werden pflegt. 3 2 ) Einzelbelege bei K. H. Janssen: Vjh. f. Zeitgesch. V I I , 346. B. H . glaubte, der Telefonverkehr des A. A. mit Oberost werde durch die OHL überwacht und ließ Zimmermann und Wahnschaffe entsprechend warnen: ebd. 357. - Die wichtigsten Quellen für den Streit um den Oberbefehl Hindenburgs und den Sturz Falkenhayns finden sich in den Aktenreihen: a) W.K. 15 geh. Bd. 30-32 des A. A. b) Z. A. Potsdam R K . V I I 7. c) Z. A. Potsdam R K . I I 2, I I I G. H. 14, Bd. 1. d) Z. A. Potsdam R K . V I I 8. Ich zitiere im folgenden abgekürzt A . A . ; Z. A. R l ; Z. A. R 2 ; Z. A. R 3 unter Hinzufügung des jeweiligen Datums. 3 3 ) Nach dem Nachlaß Wilds (B. A.) äußerte allerdings Falkenhayn am 29. 6. Zweifel an den Fähigkeiten Seeckts. „Im russischen Feldzug habe man sich oft über seine Methodik geärgert." Er schien also zu wenig Draufgänger? 3 4 ) R-A.W. X , 482ff., 4 8 9 f . Legat.Sekr. Luckwald an A . A . 16.6.: A.A. 3 5 ) B e " c h t Grünaus an B . H . 23.6. und 2 5 . 6 . über eine Besprechung zwischen Falkenhayn und Conrad in Berlin. B. H.s Stellungnahme in einem an Grünau gerichteten, für Lyncker bestimmten Telegramm vom 23. 6. Beides Z. A. Potsdam R 1.

233

3 6 ) Die Rolle Wilds in diesen Wochen ist recht zwielichtig. Grünau gegenüber kritisierte er die strategischen Leistungen und Planungen seines alten Freundes und Gönners Falkenhayn sehr weitgehend, bat aber um Geheimhaltung „als private und persönliche Meinungsäußerung". (Grünaus Bericht vom 23. 6.) und wollte den Kaiser in der Frage des Oberkommandos nur unter vier Augen sprechen, um seine eigene Stellung nicht zu gefährden (dat. 25. 6.). Nach seinem Tagebuch (B. A.) hat er mehrfach bei Falkenhayn auf stärkeren Einsatz Hindenburgs gedrängt, jedoch ohne Erfolg: Tagebuch S. 155, 159 (2. 7-/3. 7.). Am 6. 7. sucht er in einer Unterredung mit dem Kaiser, der empört ist über Lynckers Eintreten für das Oberkommando Hindenburgs, vorsichtig zu vermitteln und Hindenburg zu empfehlen, drängt aber gleichzeitig auf die Entlassung des „entsetzlichen Flaumachers" Treutier.

S. 234 S.234

) Quellenbelege s. Anm. 38, bes. Bericht Grünaus vom 2 5 . 6 . ) Z . A . Zweiter Bericht Grünaus an B . H . vom 25. 6.: Z. A. R 1. Dieser Bericht ist nicht ohne Gehässigkeit: Grünau hält die militärischen Bedenken Falkenhayns, deren wichtigsten Punkt er verschweigt, für bloße Vorwände. Viel sachlicher ist ein Bericht Lynckers vom 5. 7. (über Treutier) an Jagow: A.A. Ein Bericht Treutiers an B . H . vom 27. 6. (Z.A. R 1) schildert ebenfalls das Scheitern der Bemühungen Lynckers am 25. 6. und die Hoffnung der „Verschwörergruppe" auf den König von Bayern.

S.234

3 9 ) Eigenhänd. Zusatz zu einem Schreiben an Grünau vom 25.6. Z.A. R 1. Er stützte sich dabei auf Berichte Schoens aus München, s. K. H. Janssen (Aufsatz), 348.

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A n m e r k u n g e n z u m 6. K a p i t e l

631

40 ) N ä h e r e s bei K. H. Janssen ( A u f s a t z ) 354 ff, d a z u v. Müller 196 Ü b e r Erzbergers s.234 Bemühungen, F a l k e n h a y n m i t H i l f e der süddeutschen katholischen Könige stürzen zu helfen, s. Kl. Epstein, M . Erzberger, 177 f. 41 ) Es hieß d a r i n u. a.: die Vorteile der geplanten Regelung lägen ebenso auf d e r H a n d s.235 wie die Nachteile. R . A . W . X , 525. 42) Bericht v. Müllers 2 0 0 f . D o r t mündlicher Bericht Lynckers über die A u d i e n z v o m s.235 2. Juli. D a z u Lynckers (schon erwähnter) Bericht an B . H . v o m 5 . 7 . : A . A . u n d Z. A. R 1. D a z u k a m e n Berichte Treutiers an J a g o w v o m 1. 7., 2. 7., 3. 7., 5. 7. A . A . , A b t . 1 Deutschl a n d 122 N r . 16 geh. (Personalakten B e t h m a n n Hollwegs). Sie zeigen, wie intensiv der G e s a n d t e an der U m s t i m m u n g des Kaisers arbeitete.

43) v. Müller, 201, 205. 44) Valentini, 235, das Folgende ebd. 232 (10. b z w . 4 . 7 . ) . 45) B. H . an T r e u t i e r f ü r Lyncker 4. 7., Wahnschaffe an T r e u t i e r 5. 7. Beides Z . A. R 1. Helfferich hat am 9. 7. dem K a n z l e r mündlich über die militärische K r i t i k L u d e n d o r f f s a n F a l k e n h a y n berichtet: Helfferich II, 100. 46) Max Hoffmann I, 127 f. Nach R A W X 526 h a t aber H i n d e n b u r g am 7. 7. doch a n Lyncker geschrieben, s. u. A n m . 49. 48) N ä h e r e s bei K. H. Janssen (Aufsatz), 3 5 4 f f . D a z u v. Müller 203, u n d M e l d u n g G r ü n a u s vom 17. 7. A . A . D e r Staatssekretär, a m 1. 7. z u m N a c h f o l g e r Delbrücks e r n a n n t , b e n ü t z t e seine Antrittsbesuche an süddeutschen H ö f e n , u m d o r t Stimmen f ü r d e n O b e r befehl H i n d e n b u r g s z u sammeln. Weizsäcker „flehte ihn geradezu an, der K a n z l e r müsse dem Kaiser die Augen ö f f n e n " . Helfferich: Weltkrieg, I I , 102. Ähnliche Ä u ß e r u n g e n des Königs v o n Bayern, der Königin v o n W ü r t t e m b e r g u n d Weizsäckers teilte B. H . a m 21. 7. J a g o w m i t : Z. A. R 2. 49 ) H i n d e n b u r g h a t t e am 7 . 7 . Lyncker geschrieben u n d einheitlichen O b e r b e f e h l über die ganze O s t f r o n t „ v o n K u r l a n d bis zur B u k o w i n a " g e f o r d e r t , u n d z w a r in „voller Selbständigkeit" u n d u n t e r Z u f ü h r u n g v o n Reserven. F a l k e n h a y n h a t t e danach s o f o r t den K o m p r o m i ß v o r s c h l a g gemacht und H i n d e n b u r g s Z u s t i m m u n g erwirkt. R . A . W . X , 526. C o n r a d lehnte ab. Aufzeichnung H o h e n l o h e s f ü r B . H . 1 5 . 7 . u n d 17.7. B . H . an G r ü n a u f ü r F a l k e n h a y n 16. u n d 1 7 . 7 . F a l k e n h a y n (über G r ü n a u ) an B . H . 17.7. F a l k e n h a y n a n B . H . 1 8 . 7 . G r ü n a u a n B . H . 17.7. B . H . an F a l k e n h a y n 18.7., alles A A . 50 ) Einladung 18. 7. Aufzeichnung des Kanzlers über die Aussprache v o m 1 9 . 7 . (zu datieren 20. 7. ?) A. A. 51 ) W. Groener: Lebenserinnerungen, 311. 52 ) G r ü n a u an B . H . 1 8 . 7 . G r ü n a u an J a g o w 18.7., beides A . A . Sehr z u beachten ist Groeners K r i t i k a n der Maßlosigkeit der F o r d e r u n g e n Ludendorffs, der sich u m keine K o m p e t e n z k o n f l i k t e k ü m m e r t , auch nicht gegenüber den Österreichern: „Wenn Ludendorff n u r etwas geschickter w ä r e in der Behandlung v o n Menschen; aber er ist so im Bann seines Machthungers, d a ß er niemand über sich a n e r k e n n t . " Groener: Lebenserinnerungen, 310 ( 9 . 7 . 1 9 1 6 ) . 53

S.236 S.236 s. 237

s.237 s.237

5.237

s.238 S.238 5.239

) Aufzeichnung B e t h m a n n s 1 9 . 7 . : Aussprache m i t C r a m o n im Anschluß an die m i t s. 239 F a l k e n h a y n A . A . G r ü n a u an A . A . 1 7 . 7 . ebd. J a g o w an B . H . 2 0 . 7 . und B . H . s A n t w o r t 21. 7. ebd. D e r K a n z l e r w a r e r f r e u t über F a l k e n h a y n s „Konzession" hinsichtlich des Alpenkorps, f o r d e r t e aber ihre sofortige politische A u s n ü t z u n g z u r Förderung des deutschen Oberbefehls. Er h a t d e m österreichischen Botschafter P r i n z H o h e n l o h e sofort berichtet, was er durch F a l k e n h a y n über C o n r a d s Sträuben gegen d e n deutschen O b e r b e f e h l e r f a h r e n hatte, was dieser s o f o r t nach Wien w e i t e r g a b : Bericht v o m 20. 7. Wien H . S t . A . K r i e g 4a. C o n r a d h a t t e die Berliner Botschaft „ w i e gewöhnlich" ü b e r h a u p t nicht aufgesucht u n d erklärte nach einem Bericht des G r a f e n T h u m v o m 20. 7. (ebd.), die Frage der K o m m a n d o -

632

Anmerkungen zum 6. Kapitel

Verhältnisse ginge das auswärtige Ministerium überhaupt nichts an. Das sei eine rein militärische Angelegenheit. S. 239

5 4 ) Die Verhandlungen über ihren Einsatz mit Enver Pascha Mitte Juli bieten ein Musterbeispiel für die Gegensätzlichkeit militärischer und politischer Denkweise. Falkenhayn erbat die taktische Nothilfe (2 Divsionen) zum Stopfen von Frontlücken, stieß damit bei Enver Pascha auf Bereitschaft, aber bei den deutschen politischen Stellen (Jagow, Botschafter Wolff-Metternich) und bei General Liman von Sanders auf starke Bedenken (Truppenmangel in der Türkei selbst, Sorge vor ihren politischen Kompensationsansprüchen). Um sie zu überwinden, beauftragte er den Militärattache General von Lossow, alle diese Bedenken in freimütiger Aussprache zu „klären". Das geschah ohne Befragung der Botschaft in so ungeschickter Form, daß bei den Türken tiefes Mißtrauen gegen den Bundesgenossen entstand, zu dessen Beschwichtigung schließlich ein politisch sehr bedenklicher Zusatzvertrag zum Bündnisvertrag am 28.9. abgeschlossen werden mußte. Falkenhayn sah nachträglich ein, daß er zu weit gegangen war. Näheres bei W. Steglich: Bündnissicherung oder Verständigungsfrieden (1958), 110 ff. Zugrunde liegt die Korrespondenz Metternich-Jagow-Falkenhayn vom 11. 7.-6. 8. 1916 in A.A.: Wkr. geh. Bd. 31/32. Dazu Bericht des Markgrafen Pallavicini an Burian v. 29.9.1916: Wien H.H.St.A. geh.XLVII/8b.

S. 239

5 5 ) Näheres R.A.W X , 529 ff. und Cramon 67. Cramon hatte festgestellt, daß ein Oberbefehl Hindenburgs über die gesamte Ostfront zwar viel Beifall im österreichischen Heer und Volk finden, aber zum sofortigen Rücktritt Conrads führen würde, den man vermeiden müsse. Durchführbar sei nur eine Regelung der Kommandofrage, die den Einfluß des österreichischen A O K auf die Operationen nicht vermindere: also Unterstellung des deutschen Oberbefehlshabers unter das Teschener Hauptquartier. - In: Z.A. R 2 finden sich Aufzeichnungen und Korrespondenzen vom 22. 7., aus denen hervorgeht, daß B. H. noch über einen weiteren Vorschlag Falkenhayns telefonisch mit Oberost verhandelte: Hindenburg solle die Heeresgruppe Linsingen unter Abgabe seines bisherigen Kommandos übernehmen (um die früher erhobenen Einwände der Österreicher gegen deren Unterstellung unter den Feldmarschall zu entkräften). B. H. riet diesem, nur dann zuzustimmen, wenn ihm auch alle nördlich von diesem Abschnitt stehenden Frontteile unterstellt würden, was natürlich die früheren Einwände Conrads erneut wachrufen mußte. Oberost erklärte, zu allem bereit zu sein, aber zu keinen „Halbheiten". B. H. telegraphierte sofort an Jagow ins Hauptquartier (22. 7 . ) , der Oberbefehl Hindenburgs auch an der Nordfront müsse unter allen Umständen durchgesetzt werden. „General von Lyncker muß jetzt ohne jeden Zeitverlust eingreifen. Tut er es nicht, so ist die ganze Partie verloren." Wir haben es hier offenbar mit einer Vorstufe des schließlich am 27. 7. in Pless erreichten Abkommens zu tun.

S. 240

5 6 ) Groener, 311 f. Den Anstoß gab Bethmanns Telegramm vom 2 1 . 7 . an Falkenhayn: „Neue österreichische Niederlage südwestlich Luck muß innerpolitische Rückwirkungen kritisch gestalten, wenn nicht alsbald Faktor Hindenburg, voll ausgenützt wird. Alle Verantwortlichen sind es dem Land und der Krone schuldig, solcher Gefahr vorzubeugen. Vaterländische Pflicht gebietet es mir, dies E. E. ausdrücklich auszusprechen." Z. A. R 2. Uber dieses Telegramm urteilte Groener, a. a. O., sehr kritisch. Falkenhayns Vorschlag ging übrigens über den Groeners noch hinaus: dieser wollte Hindenburg nur den linken Flügel der Österreicher (Heeresgruppe Linsingen und Böhm-Ermolli), nicht auch die Südarmee (Erzherzog Thronfolger Karl mit Seeckt als Chef) unterstellen.

S. 240

5 7 ) Es liegen folgende Depeschen vor: 1. B. H. an Jagow 20. 7. Bulgaren wünschen Oberkommando Hindenburgs. 2. Immediatbericht B. H.s 23. 7. (schon zitiert, betr. Andrassys Äußerungen). 3. B. H. an Jagow 23. 7. (dasselbe Thema) alles A. A. Letzteres Telegramm auch Z. A. R 2.

Anmerkungen zum 6. Kapitel

633

4. B. H. an Jagow 21. 7. Drängen des Königs von Bayern, der Königin von Württemberg und Weizsäckers auf Oberkommando Hindenburgs Z. A. R 2. 5. B . H . an Falkenhayn 2 1 . 7 . : Niederlage der Österreicher bei Lude macht Oberbefehl Hindenburgs noch dringlicher. Ebd. und R.A.W X , 529. 6. B . H . an Jagow 21. 7. Ernst der rumänischen Frage dem Kaiser vorhalten! Rettung nur durch Hindenburg möglich. Hohenlohe stark deprimiert, fragt in Wien an, ob dort jetzt Bereitschaft zum Nachgeben. Ist Nachgeben Falkenhayns zu erwarten? 7. Tschirschky an Jagow 21. 7.: nicht durch Prestigegründe abhalten lassen, Hindenburgs Oberkommando zu verlangen! Für Ungarn wäre es Erlösung von österreichischer Führung! 8. Ähnlich am 22.7. 9. B . H . an Jagow 22. 7.: gibt Inhalt eines Telegramms an S. M. wieder, worin Mitteilungen Tschirschkys gemeldet sind: Andrassy sagt, einziges Heil für die Monarchie ist Anschluß an Deutschland, Hindenburgs Oberbefehl als Erlösung empfunden, usw. Alles Z. A. R 2. Depesche Nr. 9, die nach v. Müller, 204, am Abend des 22. 7. in Charleville eintraf, hat den Kaiser zur Reise nach Pless bestimmt. Nr. 2 (ab 23. 7. 8 Uhr p. m. an 9 Uhr 10 p. m.) und Nr. 3 (datiert 23. 7., aber ab 24. 7. 2 Uhr 35 a. m., an 5 Uhr 50 a. m.) haben diesen Entschluß noch bestärkt. 5S) v. Müller, 204-206. Valentini, 136 ff. Wild von Hohenborn: Tagebuchnotizen vom $.241 24. 7. (Kaiser hat Scheu, Unterstellung der österreichischen Ostfront unter Oberleitung der deutschen OHL zu fordern. Wild macht Vorschläge, die bittere Pille den Österreichern zu versüßen), und 26. 7. (Bethmann hat dieselbe Scheu. Aber Wild hält den Vorschlag Falkenhayns für „Wahnsinn": er würde das deutsche Volk empören.) B . H . an Jagow 24. 7. Z. A. R 2 (fürchtet verspätete Einladung Hindenburgs nach Pless). Vgl. auch R.A.W. X , 531 f. und das amtliche österreichische Kriegswerk: Österreich-Ungarns letzter Krieg Bd. V (1934), 120 f. K.H.Janssen (Aufsatz), 362. Bemerkungswert ist, daß Wilhelm II. noch am 2 1 . 7 . von einem Besuch B.H.s im Hauptquartier nichts hat wissen wollen und erst durch dessen Telegramm betr. Andrassy ungestimmt wurde. 5 9 ) Metternich an A. A. 29. 7. - Tschirschky an A. A. 30. 7. - Generalkonsul Fürstenberg an A . A . 31. 7. - Tschirschky an Jagow 7. 8., alles A . A . 6 0 ) Das Einzelne ist in der streng sachlichen Darstellung des R.A.W. X , 536 f., 558 ff. zu verfolgen. 6 1 ) S. Groener, 313 ff. (12.-13.8.) Groener suchte durch gutes Zureden zu vermitteln. 6 2 ) Sie warnte zweimal ihren Gemahl, er solle nicht immer bloß Falkenhayn hören, sondern auch dessen Gegner in der Armee, wie den Herzog von Württemberg und Kronprinz Rupprecht. Dies ließ sie Grünau wissen: dessen Bericht an das A.A. 9 . 8 . : A . A . Sicherlich war sie von den Verschwörern dazu aufgestachelt. 6 3 ) A . A . an B . H . 11. 8.: übermittelt telefonischen Anruf Ludendorffs: ebd. Der Diplomat Grünau war in diesen Monaten erstaunlich aktiv in militärischen Fragen und ein Hauptträger der Intriguen. Vgl. s. Telegramme an das A.A. vom 17.7., 18.7., 9 . 8 . , 12.8., 13. 8., 15. 8., 17. 8., 19. 8. ebd. M) Nach der Darstellung des R.A.W. X , 420 ff. hat Falkenhayn auf einer Besprechung mit den Armeechefs der Westfront am 14. 8. die allgemeine Weisung ausgegeben, durch möglichst rein defensives Verhalten so viele Kräfte als möglich für den Osten frei zu machen. Auch seine Weisung für die Heeresgruppe Kronprinz vom 15. 8. drängte auf Einschränkung des Kräfteverbrauchs, wollte aber den Eindruck vermieden haben, als ob unser Angriff ganz eingestellt wäre und forderte eine Stellungnahme der Führer der beiden Angriffsgruppen ein, ob etwa noch gewisse Stellungen (Fort Souville) erorbert werden müßten, um eine haltbare Verteidigungslinie zu gewinnen oder nicht. Die zwei Gutachten

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A n m e r k u n g e n zum 7. Kapitel

fielen einander widersprechend aus, der K r o n p r i n z aber forderte im Gegensatz zu seinem Stabschef Knobelsdorf Verzicht auf alle Angriffshandlungen. Falkenhayn überließ a m 21. in einer etwas zweideutig klingenden neuen Weisung die letzte Entscheidung dem Heeresgruppenkommando, enthob aber gleichzeitig Knobelsdorf von seiner Stelle, entschied also praktisch im Sinn des K r o n p r i n z e n . Daß damit die bei Verdun eingesetzten 30 Divisionen nicht einfach weggezogen werden konnten, ist selbstverständlich. 65 ) Immediatbericht v o m 1 6 . 8 . 1 9 1 6 gedr. Sch.-Gr. I, N r . 306, schon oben A n m . 29 zitiert. Z u m Folgenden s. R.A.W. X , 560 ff., 634 ff. Vgl. dazu v. Müller, 212. 66 ) G r ü n a u an B. H . 17 8. (gibt stark gefärbten Bericht über die Lage und den A n t w o r t brief des Kaisers vom 17. 8. an Hindenburg, nach Major von Bockelberg, einem Agenten Ludendorffs). Ders. an dens. 19. 8. (Abschiedsgesuch Ludendorffs ist unterwegs) beides A . A . Ein zweites Telegr. vom 1 9 . 8 . meldet im voraus Denkschrift Falkenhayns vom 2 1 . 8 . an und schildert Falkenhayns H a l t u n g so, als ob dieser wünsche, daß H i n d e n b u r g „seinen R u h m verblassen sieht". G e d r . bei Sch.-Gr. I, N r . 312. Ober die aufhetzende Tätigkeit General H o f f m a n n s im Stab Oberost (auch er d r o h t e mit Rücktritt) vgl. M. Hoßmann I, 135 ff., I I , 152. Bethmanns Telegramm vom 19. 8. an Grünau f ü r Lyncker Z. A. R 3 gedr.: W.A. X , 637. 67 ) So urteilt auch das R.A.W. X , 565 f. Denkschrift Falkenhayns ebd. 638-641. Sie ist schon oben A n m . 13 zitiert. 68 ) B . H . an Jagow 23. 8. A . A . , dazu K. H.Janssen (Aufsatz), 367, Anm. 153. 69 ) Valentina, 139 f. Wahrscheinlich hat Lyncker einen Brief des Kronprinzen Rupprecht v o m 21. 8. verwendet, der erklärt hatte, F a l k e n h a y n besitze nicht mehr das Vertrauen der Armee: K. H. Janssen (Aufsatz), 368. 70 ) Nachlaß Wild B. A. Tagebuch vom 28. 8. 71 ) Vgl. Vertrag vom 17. 8. 1916 mit Großbritannien, Frankreich, Italien und R u ß l a n d bei Volkmann U.A., 4. Reihe, Bd. X I I (1929), S. 183. 72 ) Groener 316. 73 ) Besonders begeistert gratulierte am 30. 8. Erzberger: „Man darf sagen, d a ß ein Jubel durch das ganze deutsche Volk geht." Ähnlich Minister Breitenbach 30. 8. und P r i n z Max von Baden 27. 8., alles Z. A. R 3. Über die angebliche Rolle Erzbergers bei der Ernennung H i n d e n b u r g s zum Oberbefehlshaber der O s t f r o n t Ende Juli vgl. K. H. Janssen (Aufsatz), 361. W i e tief die Abneigung B.H.s gegen F a l k e n h a y n saß, zeigt der scharfe Einspruch, den er am 16. 11. 1916 gegen seine im H a u p t q u a r t i e r diskutierte, von dem General selbst sicher nicht gewünschte Ernennung zum Botschafter in Wien (als Nachfolger des dort auf Wunsch Burians abberufenen Tschirschky) an Grünau schickte. F. sei nicht n u r unbeliebt in Österreich wegen seiner Einwilligung (!) in die Tirol-Offensive Conrads und wegen der V e r d u n Offensive, sondern habe auch „als Generalstabschef versagt" (!) Zwehl: Falkenhayn, 221. A N M E R K U N G E N Z U M 7. K A P I T E L

S. 253

>) V. Müller,

S. 253

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217 (30. 8.).

) B. H . an O H L 2 8 . 9 . G r ü n a u an B . H . 2 9 . 9 . (zunächst zustimmend). Ders. an dens. nachmittags (ablehnend). Antworttelegramm B . H . s 29.9. Grünau an A . A . 30.9. P o t s d a m Z. A. V I I , 9. Der Haushaltsausschuß w u r d e damals auf D r ä n g e n der Parteien zum „Hauptausschuß" gemacht und als solcher D a u e r o r g a n des Reichstages, auch w ä h r e n d der Parlamentsferien, um l a u f e n d Informationen von der Regierung zu verlangen und Forderungen u n d Beschwerden vorzutragen - eine Parallelerscheinung also zu dem Kriegsausschuß der Pariser Kammer und f ü r die Regierungsmitglieder ähnlich zeitraubend, w a s vor allem Helfferich sehr schwer empfand. Auch im „diplomatischen" Bundesratsausschuß

Anmerkungen zum 7. Kapitel

635

(30. 10. 1916) gab es darüber besorgte Erörterungen. B . H . legte aber Wert auf dauernde Fühlung mit dem Reichstag und hatte vorher schon regelmäßig wichtige Fragen mit den Führern der Fraktionen besprochen. 3) Das Nähere s. R.A.W. X , 642 f. östr. Kriegswk. V, 263 ff. (mit Abdr. der Eingabe s. 254 Conrads vom 23. 8. Dokumente: Wien H . H . S t . A . Krieg geh. X L V I I 13-3. - D a z u A. v. Cramon: Bundesgenosse, 70ff. Abdruck der Vereinbar, zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei vom 15./19. 9. 1916 bei Gurt Liebmann, Die Entwicklung der Frage eines einheitlichen Oberbefehls im Weltkrieg, in: Wissen und Wehr, 8. Jg., 1927, 1 ff., 65 ff. Liebmann legt dar, warum der einheitliche Oberbefehl praktisch ebenso geringe Bedeutung hatte wie alle früheren Abmachungen über die Ostfront. Erst mit dem Abgang Conrads und seiner Ersetzung durch General Arz hörten die Spannungen mit der O H L auf. ) Cramon,

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a. a. O., 68 f.

S. 254

5) Hohenlohe an Buriän 1 3 . 9 . 1 9 1 6 , Wien H.H.St.A. Preußen I I I - 1 7 2 . Ein geradezu 5.255 trostloses Bild der politischen, finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Zustände in der Doppelmonarchie malte Tschirschkys großer Bericht vom 29. 9. 1916, der dringend empfahl, die deutsche Regierung sollte in Wien auf einem Wechsel der leitenden Persönlichkeiten bestehen und Erzherzog Eugen als Nachfolger des unfähigen Ministerpräsidenten Grafen Stürgkh empfahl. Sch.-Gr. Nr. 332. B. H . bat daraufhin den Kaiser (Immediatschreiben vom 30. 9. Sch.-Gr. Nr. 335) entsprechende Vorstellung beim Erzherzog-Thronfolger zu erheben und vor allem auf die Entlassung Buriäns zu drängen. Dieser drängte seinerseits seit dem 10. 9. durch Hohenlohe auf die Ablösung Tschirschkys, der das gute Verhältnis zwischen beiden Reichen störe. In Berlin wurde das zögernd aufgenommen. Buriän an Hohenlohe 1 0 . 9 . Dessen Bericht 1 8 . 9 . : Wien H.H.St.A. Preußen I I I 172. In einem Schreiben an Kaiser Franz Joseph vom 28. 10. suchte Wilhelm I I . die Abberufung bis nach dem Krieg hinauszuschieben. Das Antwortschreiben vom 5. 11. verlangte sofortige Beurlaubung (aus Anlaß einer Operation des Botschafters), der aber unbedingt die A b berufung zu folgen hätte. Wien H.H.St.A. Krieg 25 p. Tschirschky starb am 15. November. 6 ) Eine „Notiz" Hohenlohes, im A . A . am 4. 7. übergeben, führte zu Rückfragen bei der 5.255 O H L , dem Kriegsministerium, der handelspolitischen Abteilung des A. A. und dem Reichsschatzamt, die sich alle ablehnend zu der österreichischen Forderung äußerten. Bis zum 21. 12. hatte aber Hohenlohe trotz Mahnung noch keine Antwort, wie er in einer „Verbalnote" von diesem Tag erklärte, die ihrerseits dem Reichsmarineamt, Kriegsministerium, Reichsschatzamt und Generalquartiermeister bekanntgegeben wurde (alles A.A. WK. 15 geh. Bd. 2). Ob dann eine schriftliche oder mündliche Antwort erfolgt ist, läßt sich aus meinen Aktennotizen nicht ersehen. 7 ) Burian übergab B. H . seine „Desiderata" in skizzierter Form bei einer Aussprache s. 255 in Berlin, die am 15./16. 11. stattfand (Sch.-Gr. I, Nr. 382). Der Entwurf einer Antwort von Jagows Hand ( 2 1 . 1 1 . , Sch.-Gr. I, Nr. 388) bildete die erste Grundlage der offiziellen Antwort vom 21. 12. (Sch.-Gr. I , Nr. 428), an der auch das Reichsschatzamt mitgearbeitet hatte. Inzwischen hatte am 28. 11. Buriän durch Hohenlohe seine Forderung in Gestalt eines Vertragsentwurfs nochmals vorlegen lassen. Hohenlohe berichtete über vergebliches Drängen beim Kanzler, dem neu ernannten Staatssekretär Zimmermann und Unterstaatssekretär Stumm am 3., 4., 6. und 16. 12. Erlaß Buriäns an Hohenlohe vom 5. 12. Wien H . H . S t . A . X L V I I - 3-16 geh. A . A . W K r . 15 geh. und Sch.-Gr. I, Nr. 400. Vgl. a. die eingehende Darstellung W. Steglichs: Bündnissicherung Kap. 10 u. S. 147 f. Steglichs Zweifel (Anm. 372), ob das Original des Memorandums vom 21. 11. von Bethmann oder Jagow stammt, ist durch die Auffindung des handschriftlichen Entwurfs (Sch.-Gr. I, Nr. 388) entschieden.

636

Anmerkungen zum 7. Kapitel

Die Sätze über das Baltikum entsprechen auch ganz der Auffassung Jagows, nicht Bethmanns. Vgl. dazu oben Kap. 4, Anm. 70. 8 ) Hindenburg an B. H. 19. 9.: A.A. Deutschland 180 geh. Bd. 4. Ebd. Antwort B. H.s S. 256 vom 29.9., jetzt gedr. Schr.-Gr. I, Nr. 333. Uber Falkenhayns Haltung vgl. oben Kap. 4 zu Anm. 14. 9 ) Grünau (im Auftrag des Kaisers) an B. H. 6. 11.; dessen Antwort 6. 11.; Grünau i. A. der OHL an B . H . 7. 11.; Rückfrage Jagows bei deutscher Botschaft Wien 7. 11.; Antwort von dort 8.11.; B . H . an O H L 10.11.; Brief Grünaus an B . H . 1 3 . 1 1 . 1 9 1 6 . Alles in A . A . WK. geh. Bd. 34, 35. 1 0 ) Hindenburg an B . H . 15.11.1916 (wegen des Hilfsdienstgesetzes) bei S.258 Ludendorff: Urkunden 85. Der Brief kam in die Presse. Frhr. von Bissing, der Generalgouverneur von Belgien, ließ durch seinen Sohn am 17.11. Hertling mitteilen, er empfinde es als äußerst schmerzlich, daß Ludendorff sich herausnähme, „dem Kanzler des Deutschen Reiches Vorhaltungen und Vorschriften auf nichtmilitärischem Gebiet zu machen". „Es muß das Vorrecht des Kaisers und allenfalls der Bundesfürsten bleiben, in dieser Weise mit dem höchsten Beamten des Reiches zu verkehren". Hertlings Antwort (28. 11.) suchte zu beschwichtigen, Lerchenfeld dagegen erkannte deutlich die Tiefe des Konflikts, trotz eines beschwichtigenden Artikels in der Nordd. Allg. Ztg. vom 2 2 . 1 1 . Er beklagte, daß B . H . den ihm beim Amtsantritt der neuen O H L von Freunden erteilten Rat als unnötig abgewiesen habe, von vornherein die gegenseitigen Kompetenzen abzugrenzen, da Ludendorff einen „schwierigen und gewalttätigen Charakter" habe, und seinen Chef stark beherrsche. München G.St.A. Pol. A VII 62 bzw. 51.

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n ) F ° r m a l wurde das Abschiedsgesuch Jagows durch einen verletzenden Tadel Wilhelms II. wegen einer Bagatellsache veranlaßt. Daß die O H L hinter dem Wechsel stand, zeigt der Bericht Valentinis an B. H. vom 17. 11.: Valentini, 239, ferner Jagows Brief an Bernstorff vom 2 . 9 . 1 9 1 9 ( B e r n s t o r f f : Erinnerungen und Briefe 1936, 118) sowie Max Hoffmann I, 149. Eine beinahe groteske Erklärung des Amtswechsels bietet F. Fischer, 374. Nach ihm wäre Jagow als Vertreter eines einseitigen („fast völkisch-rassischen") antirussischen Kurses entfernt und durch den hemmungslosen Gewaltpolitiker Zimmermann ersetzt worden, der ebenso wie Ludendorff und Holtzendorff (!) einem Diktatfrieden zustrebte und eine Art von Kurswechsel der deutschen Politik herbeiführte. Richtig daran ist nur, daß Z. der nationalistischen Rechten im ganzen viel näher stand als Jagow. Das wirkte sich praktisch (wie Kap. 8, IV 4 zeigen wird) dahin aus, daß er Bethmanns Vertrauen auf die Friedensvermittlung Wilsons nicht teilte. Aber von einem Kurswechsel kann schon darum nicht die Rede sein, weil gerade seine Skepsis gegenüber Wilson auch von Jagow geteilt wurde. (S. unten Kap. 8, I.) Im übrigen hielt sein gutes Verhältnis zu Ludendorff nicht lange vor (s. o. im Text), und dieser erklärte Valentini (a. a. O., 149) schon Anfang Januar 1917, mit ihm so wenig wie mit Helfferich auf die Dauer arbeiten zu können - weshalb er denn auch nach B. H.s Sturz sang- und klanglos aus dem Amt verschwand. S. auch die folgende Anmerkung!

S.258

1 2 ) Hohenlohe berichtete am 23. und 25. 11. sehr ausführlich über den Personalwechsel im diplomatischen Dienst, den er teilweise schon am 18.9. vorausgesagt hatte. Den Sturz Jagows, den er für einen wesentlich „feineren Kopf" hielt als Zimmermann, führte er auf Kritik der Reichstagsparteien und Intriguen Bülows zurück (der für ihn immer eine Art von politischem Popanz darstellte). Zimmermann sei vielleicht durch „seine derbe Art und scheinbare Bonhommie" besser als Jagow imstande, Übergriffe der OHL abzuwehren, sei auch sehr beliebt beim Kaiser, der Kaiserin und Kronprinzessin. Gesprächsweise äußere sich aber der neue Staatssekretär sehr besorgt über die ihm von der O H L drohenden Konflikte. Grünau habe kein politisches Schwergewicht im Hauptquartier: Wien H.H.St.A. Preußen

Anmerkungen zum 7. Kapitel

637

I I I - 172. Bethmann zeigte sich im Gespräch mit Hohenlohe am 28. 11. „sehr bedrückt" über den Abgang Jagows: ebd. Krieg 4 a. Audi Lerchenfeld berichtete über dessen V e r abschiedung und seine Hintergründe am 24. und 30. 11. an Hertling: München G.St.A. Pol. A V I I , 52 I. 1 3 ) Mir liegen in reicher Fülle Aktenabschriften aus dem Wiener H . H . S t . A . Krieg geh. s. 259 X L V I I - 3, 1 2 - 1 6 zur Polenfrage vor, die mein damaliger Assistent W. Steglich 1956 für mich angefertigt hat. W. Conze hat sie teilweise schon für sein Buch „Polnische Nation und deutsche Politik im Ersten Weltkrieg" benützt. Von den Aktenbeständen des A. A . (besonders deren Serie W K . 20 c geh.) ist jetzt das Wichtigste von Sch.-Cr. I veröffentlicht (s. dort. Dokumentenverzeichnis S. X L I I f f . ) . D a nun Conze die Vorgeschichte des Polenmanifestes quellenmäßig ziemlich erschöpfend behandelt hat, verzichte ich im folgenden darauf, fortlaufend Dokumente zu zitieren und begnüge mich mit gelegentlichen Belegen und Einzelergänzungen. Auch die nicht von Conze benutzten Quellen bieten viel Interessantes; das alles hier auszuschöpfen, würde indessen den Rahmen meines Buches sprengen. 1 4 ) Andrian an Burian 26. 6. Wien, a. a. O., Fasz. 12b. Andrian war nach Ausweis seiner s.260 Berichte und Denkschriften nichts weniger als deutschfreundlich gesinnt. Oberst Paic dagegen fand die Ansprüche der Deutschen auf Polen voll berechtigt (man solle sie fördern und sie dadurch von Eroberungszielen im Westen ablenken!), die Ansprüche der Österreicher a u f Gewinn gleichzeitig auf dem Balkan und in Polen nach ihren militärischen Leistungen einfach ungerecht: Baron Hoenning (Vertreter des Ministeriums d. Ä. beim Gouvernement Lublin) an das Ministerium 19. 7. Wien H . H . S t . A . Krieg geh. X L V I I - 3-12. Auch Andrassy hielt (nach Bethmanns Immediatbericht vom 2 3 . 7 . A . A . W K . g e h . 32) die austro-polnische Lösung für überholt durch die Kriegsereignisse. 1 5 )Mutius an J a g o w 23. 6. (Privatbrief, Bericht über Beselers Ansichten) A. A. W K . geh. s. 260 Bd. 30. 16

) Vgl. oben K a p . 4 zu Anm. 34, 35, 45, 65.

17) Sch.-Gr. I, N r . 291. Antwort Bethmanns ( 2 0 . 7 . ) ebd. N r . 292. Bethmanns frühere Ablehnung: ebd. N r . 141 18) Sch.-Gr.

I, N r . 288.

) Näheres über die russischen Vorgänge bei W. Conze, 173 ff., vgl. auch Paleologue I I , 157ff., und G. Buchanan: Meine Mission in Rußland (1926), 145 f. 19

S.261 Si2

6i

5.261 s.262

2 0 ) Wie tief auch ihn der moralische Terrainverlust Österreichs seit der Brussilow- j . 262 Offensive beunruhigte, zeigt eine Mahnung, die er durch G r a f T h u m dem A O K zugehen ließ: man solle die Polen im österreichischen Okkupationsgebiet ja nur recht pfleglich behandeln, auch Pilsudski; denn es bestünde Gefahr, daß die Deutschen in Polen jetzt den Österreichern den Rang abliefen und polnische Sympathien auf sich zögen: Burian an G r a f T h u m 4. 8. Antwort Conrads 15. 8. Wien H . H . S t . A Krieg 11°. - Im A . A . rechnete man mit Unterstützung des deutschen Standpunktes durch Tisza, der in der T a t am 25. 7. Burian schrieb: da die austro-poln. Lösung unmöglich geworden sei, solle man das P r o tektorat über den polnischen Pufferstaat Deutschland allein überlassen (mitsamt allen polnischen Ressentiments!), dies als Freundschaftsdienst hinstellen und dafür Vorteile anderer Art einhandeln. Keinesfalls solle ein Habsburger als Vasall (oder Gegner) Deutschlands auf den polnischen Thron kommen. G r a f Stürgkh äußerte ( 2 5 . 7 . ) ebenfalls B e denken wegen des doppelten Protektorates, hoffte aber Reibungen durch genaue K o m p e tenzabgrenzungen und ein besonderes Ausgleichsorgan zu vermeiden. Burian antwortete am 30. 7. beiden Ministern kurz, der Kaiser habe seinen Entwurf inzwischen genehmigt, aber den Passus über einen habsburgischen Polenkönig gestrichen. Wien H . H . S t . A . geh. X L V I I - 3 - 1 2 . Tisza lehnte es daraufhin im Gespräch mit Tschirschky ab, seine Vorschläge

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Anmerkungen zum 7.Kapitel

gegen den Plan Burians (dessen Bedenklichkeit er jetzt bagatellisierte) weiter zu verfolgen: Tschirschky an A . A . 5. 8. Antwort Jagows 7. 8.: A . A . W K . geh. Bd. 32. 21 ) W. Conze, 185 f., der die Angaben von Falkenhayns Memoiren berichtigt. 22 ) Protokoll (von beiden Seiten genehmigt) bei Ludendorff: Urkunden der O H L , 298 ff. Eine Kommission von Wirtschaftsexperten, die Berechnungen über die Folgen einer Wirtschaftsunion mit Deutschland und dergl. anstellen sollte, lieferte am 6. 9. einen 32 Seiten langen ergebnislosen Bericht (Merey an Burian Wien H.H.St.A. geh. X L V I I - 3-12). 23 ) Wild von Hohenborns Tagebuch berichtet überdies, daß Falkenhayn empört darüber gewesen sei, daß B. H . ihn, den Kriegsminister, um den Entwurf einer Militärkonvention m i t Polen gebeten habe; das ginge den Kriegsminister gar nichts an. Der Vorgang sei nur ein neuer Beweis f ü r die Absicht des Kanzlers, ihn, Falkenhayn, auszuschalten und zu stürzen. 24 ) Bethmann an Tschirschky für Burian aus Pless 23. 8. Burian an Hohenlohe (Antwort) 24. 8. Wien H.H.St.A. geh. X L V I I - 3-12 c. Drängende Telegramme Burians an Hohenlohe 15. 8., 20. 8., 21. 8., 23. 8. ebd. W. Conzes Vermutung (S. 188), Falkenhayn habe die militärische Lage im August günstiger beurteilt, und darum für Vertagung gestimmt, geht also fehl. - Ludendorff hat noch am 7. 9. in einem Schreiben der O H L an Conrad das Hinauszögern der Proklamation mit Rücksicht auf die militärische Lage und auf die Möglichkeit eines russischen Sonderfriedens „in vollem Maße" gebilligt. Wien H.H.St.A. geh. X L V I I - 3-12 25 ) Sch.-Gr. I, Nr. 305. Wie Grünau diese Weisung ausnützte, um B . H . zu einem Protest gegen die angeblich einseitig „westliche" Strategie Falkenhayns aufzureizen, wurde schon im vorigen Kapitel Anm. 63/4 berichtet. 26 ) Es fällt auf, wie viel positiver er sich in der Sitzung des Staatsministeriums am 8. Oktober ausgedrückt hat, in der Beseler einen Vortrag über das Polenmanifest hielt: Sch.-Gr. I, S. 507. Damals war dessen baldiger Erlaß schon mit der neuen O H L vereinbart u n d mußte nun plausibel gemacht werden. 27 ) Sch.-Gr. I, S. 446 f., 442, 454. Der reservierten Haltung B.H.s in der Polenfrage entspricht, was Lerchenfeld am 21. 8. an Hertling meldete: im Auswärtigen A m t würde m a n die russische Oberherrschaft über das neu zu errichtende polnische Staatswesen der deutschen vorziehen, „einerseits weil die Polen voraussichtlich immer gegen den herrschenden Staat gehen würden" und andererseits, weil die Anziehungskraft Warschaus auf die deutschen Polen geringer wäre, wenn Rußland die Oberherrschaft ausübt. München G.St.A. Pol. A. V I I , 19-39 28

) So der eben zitierte Bericht Lerchenfelds aus dem A.A., der auch von einem im A.A. aufgestellten, sehr gemäßigten Friedensprogramm für einen russischen Sonderfrieden berichtet. Vgl. ferner Sch.-Gr. I, N r . 272, 281, 295, 314, 315. Über die durch Konsul Marx betriebene Friedensaktion vgl. Wrisberg Heer und Heimat 147-150. Berufung Botkins: Mitteilung Jagows an Hohenlohe, in dessen Bericht an Burian 21. 8. Wien H.H.St.A. geh. X L V I I - 3-12c. 29

) Vgl. etwa Jagow an B . H . 23. 8.: Sch.-Gr. I, N r . 315. ) Nach einer Mitteilung Bethmanns in der Sitzung des „diplomatischen" Bundesratsausschusses vom 30. 10. 1916 war die O H L damals der Meinung, daß die russische Armee sehr wohl im Lauf des Winters rekonstruiert werden könne. 31 S. 267 ) Näheres bei W. Conze, 195 ff., der nachweist, daß B . H . am 17.8. Oberost ausS.267 führlich über den Stand der Polenfrage orientiert hat. Hindenburgs späterer Versuch, seine Mitverantwortung an der Polenaktion abzustreiten, wird dadurch widerlegt. 32) Lerchenfeld an König Ludwig von Bayern 18. 8. 1916: München G.St.A Pol. A. VII N r . 9. s.265 S. 266

30

A n m e r k u n g e n z u m 7. Kapitel

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33) Gutachten vom 2 3 . 8 . nach Conze 190, dessen Quelle nicht deutlich angibt, ob die s. 268 »vorbereitenden Arbeiten" einer Freiwilligentruppe galten, die bald nach der P r o k l a mation des neuen Polen angeworben werden sollte. Es ist aber zu vermuten, zumal sich Beseler in diesem Sinn ausführlich in der Sitzung des preußischen Staatsministeriums am 8. 10. geäußert h a t : Sch.-Gr. I, S. 496. D e r Kriegsminister Wild w a r vorsichtiger: er rechnete nur mit einer Division: ebd. S. 502. Die Zahl von 3 Divisionen legt die Vermutung nahe, d a ß Beseler die österreichische Polenlegion (2 Divisionen zu je 12 Bataillonen nach Angabe Conrads) vor Augen stand: C o n r a d an Hindenburg 19.9., Beilage zu einem Bericht an Burian vom 22. 9. Wien H.H.St.A. Krieg geh. X L V I I - 3-121»». 34 ) Das besonders forsche Schreiben der O H L vom 30. 9. w a r , wie W. Conze, 202, nach- s. 268 weist, das Produkt einer Beratung Beselers mit der O H L im Großen H a u p t q u a r t i e r . 35) Hohenlohe an Burian 18.10.1916. Wien H . H . S t . A . geh. X L V I I / 3 - 1 2 . Die K o r - s.269 respondenz zwischen H i n d e n b u r g - C o n r a d - B u r i a n in Sachen der Okkupationsverwaltung Lublin vom 2.9., 7 . 9 . , 11.9., 16.9., 30.9., 1.10. ebd. Verhandlungen Burians mit Tschirschky bzw. Bethmann 9.10., 10. 10., 13. 10. ebd. Burian an T h u r n ( f ü r C o n r a d ) 13. 9. ebd. 12 b i s . Von einem vermittelnden Vorschlag B. H.s (Fortdauer der österreichischen Verwaltung unter deutscher Oberleitung) berichtet, nach Akten des Generalgouvernements, W. Conze, 198.

36) Zimmermann meinte, die Angriffe der Rechtsparteien auf Jagow und B. H . hätten s.269 in letzter Zeit etwas nachgelassen, weil man sich darauf besonnen habe, d a ß unter einem andern, „schneidigeren" Kanzler die Sozialdemokraten nicht mehr „mittun" würden. In der Tat w a r das in den Reichstagsverhandlungen, besonders in den Beratungen über die U-Boot-Frage im Hauptausschuß vom 2 9 . 9 . - 1 0 . 1 0 . (s. u. K a p . 8 I I I ) , sehr deutlich geworden. 37) Conrad an Burian 2 6 . 9 . ; N o t i z Tschirschkys f ü r Burian 2 7 . 9 . ; dessen A n t w o r t 2 9 . 9 . ; weitere Korrespondenz Tschirschky-Burian 3.10., 5 . 1 0 . Burian an verschiedene Dienststellen 6.10. Aufzeichnung Burians 9. 10. Wien H . H . S t . A . geh. X L V I I - 3.-12. W. Conce, 202, glaubt irrig, es habe sich um einen Versuch Burians gehandelt, die in Wien gegebenen Zusagen zurückzuziehen. 38 ) Cramon an C o n r a d 2 1 . 9 . (protestiert gegen die sofortige Bekanntgabe des Schrittes in der Presse). C o n r a d an Burian o. D, p r . 22. 9. Korrenspondenz C o n r a d - H i n d e n burg 19.9., 21.9. H o h e n l o h e an Burian 2 2 . 9 . (B. H . und J a g o w in höchster Aufregung über die Pressepublikation). Graf Thurn an Burian 25. 9. (Besprechung Erzherzog Friedrichs mit Wilhelm II.) H o h e n l o h e an Burian 27. 9. Wien H . H . S t . A . geh. X L V I I / 3 - 1 2 .

39) Immediatberichte B. H.s 2 . 1 0 . u n d 3 . 1 0 . Sch.-Gr. I, N r . 337, 338. B. H . an O H L 10. 10.: ebd. N r . 344. Nach Berichten Hohenlohes vom 1. 10. u n d 8. 10. hat J a g o w das D r ä n g e n des Botschafters auf baldigen Erlaß des Polenmanifestes zunächst damit abgewiesen, d a ß doch vorher die gemischte Militärkommission in Tätigkeit getreten sein müßte, später damit, d a ß es besser wäre, bis zum Schluß der Reichstagssession zu warten, um den Alldeutschen und H a k a t i s t e n nicht Gelegenheit zu Protesten zu bieten. Beides w a r wohl nur Ausrede. Für ein Hinausschieben des Termins t r a t auch B. H . im preußischen Staatsministerium am 8. 10. ein: erst müsse die Verschmelzung der beiden Verwaltungsgebiete erreicht sein, denn nachher würde sie bestimmt nicht mehr erreicht werden: Sch.-Gr. I,

s 270

s

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s 271

S. 507. 40 ) Immediatbericht B. H . s 2 . 1 0 . : Sch.-Gr. I, N r . 337, dazu W. Conze Hollweg II, 98 und 106.

208 f. Bethmann

s.27l

41 ) Diese Möglichkeit w u r d e in einer Besprechung mit Bundesratsmitgliedern sehr stark s. 272 durch Graf Wedel unterstrichen, der sich d a f ü r auf den f r ü h e r e n Petersburger Botschafter

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A n m e r k u n g e n z u m 7. Kapitel

Graf Pourtales berief: Meldung Varnbülers v o m 4 . 1 1 . : Stuttgart H.St.A., E 73/Verz. 61 Fasz. 12 h I I I . Das Schreiben B. H.s an die O H L vom 10. 10.: Sch.-Gr. I., N r . 344. 42 S,273 ) S. seine Äußerung in den Verhandlungen vom 17.10. bei W. Conze 212: in Berlin würden die Aussichten der Rekrutenwerbung als recht gering angesehen. D e r sächsische Bundestagsgesandte von N o s t i t z berichtet am 10.11., er habe „von den verschiedensten Seiten, d a r u n t e r Offizieren und Beamten, die in Polen tätig gewesen sind", auch von Minister von Loebell „sehr ernsthafte Zweifel aussprechen hören, ob tatsächlich auch nur irgendwie nennenswerte Zahlen von Freiwilligen aufzubringen sein würden". Ludendorff habe indessen in einem ausführlichen Brief auf Befragen durch rechtsstehende Kreise bestätigt, d a ß tatsächlich die O H L die Proklamation und Rekrutenwerbung gefordert habe. Dresden H . S t . A . Außenministerium 2078 Abt. X X V I I 2 N r . 9 a, 6 a, Bd. 5. 43 ) such, nicht 5.273 44)

S.273

5.274 S. 274

D e r Deutung W. Conzes, 209 f. als Ausdruck bloßer Unentschlossenheit und als Verdie „ihm allein zustehende Verantwortung abzuwälzen", vermag ich in dieser Form zu folgen. Sch.-Gr. I, N r . 346 (13.10.)

45

) Knesebeck, a . a . O . , 159. ) Protokoll Burians: Wien H.H.St.A., a . a . O . Ergebnis aufgezeichnet von Jagow 18. 10.: Sch.-Gr. I, N r . 348. Bethmanns N o t i z ebd. N r . 347 (mit irreführender Datierung) bezieht sich nur auf Burians Vorschlag einer Friedensaktion und ist schon abgedr. in U.A. 2 Beil. N r . 75. W. Conze, 212 ff., hat auch (etwas abweichende) Aufzeichnungen des Majors von H e y n i t z benützt, die auch die Vorbesprechung der deutschen Teilnehmer am 17. p r o t o kollierten. 47 S. 274 ) Vertrauliche U n t e r h a l t u n g mit Lerchenfeld, von diesem am 21.10. an Hertling berichtet: München G.St.A. Pol. A. VII/10-31. 48 S. 276 ) Handschriftliche protokollarische Notizen Wahnschaffes in Z. A. Potsdam, a u s f ü h r licher Bericht Niesers vom 31. 10., Karlsruhe GLA. IV. Ges. Berlin 37. 4 ') N ä h e r e Nachweise bei W. Steglich: Bündnissicherung 49 ff. D a ß B. H . ursprünglich S. 276 das Polenmanifest noch weiter hinausschieben wollte, wie Steglich glaubt, läßt sich m. E. nicht strikte beweisen, trotz seiner Äußerungen im diplomatischen Bundesratsausschuß am 30. 10. Auch im preußischen Staatsministerium, das dem Polenplan gegenüber bedenklich blieb, h a t er am 24. 10. ebenso wie am 27. 10. sehr stark den ungeheuren Druck der O H L betont. P r o t o k o l l : Sch.-Gr. I, N r . 351 bzw. Z. A. Merseburg Rep. 90a B I I I 2 b , N r . 6, Bd. 165. S. 277

46

50 ) In dieser Sitzung, zu der auch die Bundesratsmitglieder eingeladen waren, hielt B . H . zunächst eine Rede über den Kriegsausbruch in Beantwortung einer Rede Greys vom 23. 10. (s. dazu K a p . 8, I I I , zu Anm. 23), die veröffentlicht w u r d e . (Kriegsreden ed. Thimme, 150 ff.). In der anschließenden Geheimsitzung wurden recht ernste Bedenken gegen die neue Polenpolitik geäußert, nicht nur von der äußersten Linken (Ledebour), sondern auch von den Nationalliberalen Schiffer und (natürlich) von Graf Westarp. Die Debatte verlief aber (nach Ansicht des sächsischen Berichterstatters v. Nostitz) deshalb im ganzen recht „milde", weil bei der oppositionellen Rechten ein ausführlicher Privatbrief Ludendorffs umlief, der sich „aus militärischen G r ü n d e n " hinter die Proklamation stellte. Über die Art dieser militärischen Gründe zog es der Kanzler vor, zu schweigen. Sehr entschieden w u r d e von einzelnen Abgeordneten (v. Payer, Noske, Gröber u. a.) betont, daß ein gutes Verhältnis zu dem neuen Polen eine grundsätzliche Ä n d e r u n g der preußischen Polenpolitik voraussetze. I m ganzen war die A u f n a h m e recht kühl, ja sorgenvoll, aber auch B. H . zeigte keinen Enthusiasmus. Berichte: v. N o s t i t z - W a l l w i t z vom 10. 11. Dresden H.St.A. Außenmin. 2078, X X V I I , 2, 9a, 6a. (Pol. Ber. Bd. 5). - Nieser 10. 11.: Karlsruhe GLA Ges. Berlin 37.

A n m e r k u n g e n z u m 8. Kapitel - 1

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51 ) H o h e n l o h e an B u n a n 7 . 1 1 . : B. H . lehnt den Vorschlag Burians, den W e r b e a u f r u f s.279 wenigstens bis zum 1 6 . 1 1 . z u verschieben, ab. D e r „helle J u b e l " müsse jetzt gleich ausgenützt w e r d e n . Auch die sofortige Errichtung eines polnischen N a t i o n a l r a t e s w i r d v o n B. H . abgelehnt. Wien H . H . S t . A . Krieg 5 6 a / l . D a s Scheitern der W e r b u n g sagte B a r o n A n d r i a n schon am 27. 10. v o r a u s - in einer Depesche, die ausgesprochen deutschfeindlich ist u n d d e m Minister r ä t , polnische N o t a b l e in Wien zu e m p f a n g e n u n d in ihrer Abneigung gegen die Deutschen zu b e s t ä r k e n : ebd. geh. X L V I I / 3 - 1 2 . 52) Mir lagen vor Berichte A n d r i a n s v o m 2 7 . 1 0 . , 11.11., 3 0 . 1 2 . in Wien H . H . S t . A . s . 280 geh. X L V I I / 3 - 1 2 u n d K r i e g 5 6 a / l . 53) Aufzeichnung C z e r n i n s über U n t e r r e d u n g mit dem neuen deutschen Botschafter 280 B o d o G r a f v. Wedel 1 . 1 . 1 9 1 7 . Wien H . H . S t . A . geh. X L V I I / 3 - 1 6 . Wedel schlug u. a. Einsetzung eines sächsischen P r i n z e n z u m Regenten Polens v o r . C z e r n i n verlangte, d a ß Deutschland, wenn es schon G e w i n n im Osten beanspruche, eine „ v e r n ü n f t i g e r e " H a l t u n g gegenüber dem Westen zeige, auf Belgien endlich bedingungslos verzichte u n d an Frankreich n u r ein M i n i m u m v o n F o r d e r u n g e n stelle. So scharf traten die Gegensätze gleich in dieser ersten Aussprache mit dem neuen Außenminister heraus! - P r o t o k o l l der Aussprache u n d Abmachung Czernins m i t B. H . in Berlin 6. 1. 1917: Wien H . H . S t . A . geh. X L V I I / 3 - 1 7 u. A . A . A b t . I A Deutschland 180 geh. Bd. 4 (E 569036-46). C z e r n i n an H o h e n l o h e 1 6 . 1 . (Einverständnis Kaiser Karls) Wien ebd. - P r o t o k o l l der Sitzung des gemeinsamen Ministerrats vom 12. 1.: Wien H . H . S t . A . X X X X , 293, N r . 530. C z e r n i n meinte (schon jetzt!) „da Deutschland von dem P l a n der Armeebildung n u n m e h r abgegangen sei, entfalle die N o t w e n d i g k e i t der polnischen Staatsidee". 54 ) Mir liegt die österreichische S a m m l u n g der enormen, über die E i d e s f r a g e entstandenen s 2 si K o r r e s p o n d e n z v o n N o v e m b e r 1916 bis M ä r z 1917 v o r : Wien H . H . S t . A . Krieg 56c/3.

A N M E R K U N G E N Z U M 8. K A P I T E L Abschnitt

I

1) Haussmann Schlaglichter 61 ( 9 . 5 . 1 9 1 6 ) . S.286 ) So Botschafter Jusserand zu House, nach Houses Bericht an G r e y vom 8 . 6 . 1 9 1 6 : s.286 I n t . P a p . I I , 290. 3) House: I n t . P a p . I I , 290 ff. Seymour, 170 ff. R. E. May, 358 ff. Die Geschichte der S 286 deutschen u n d amerikanischen Friedensversuche 1916 ist in den Büchern von K. E. Birnbaum u n d W. Steglich (Bündnissicherung), sehr ausführlich b e h a n d e l t . Beide haben die deutschen u n d österreichischen D o k u m e n t e so erschöpfend ausgewertet, d a ß ich im folgenden auf A n f ü h r u n g v o n Einzelbelegen aus ihnen weitgehend verzichten k a n n . D i e weitaus meisten D o k u m e n t e sind veröffentlicht in den „Beilagen u n d Aktenstücken zur Friedensa k t i o n Wilsons 1916/17" zu den „Stenogr. Berichten" über die öffentlichen V e r h a n d l u n g e n des Untersuchungsausschusses, 2. Unterausschuß 1919 (im ff. mit U . A . 2 bezeichnet). V o n diesen „Beilagen", die an sich schon (wie alle Veröffentlichungen der Untersuchungsausschüsse der Weimarer N a t i o n a l v e r s a m m l u n g u n d des späteren Reichstages) bibliographisch sehr ungeschickt bezeichnet sind, gibt es (um die V e r w i r r u n g zu steigern) auch noch eine zweite Ausgabe von 1920 mit abweichender Paginierung (nach der K. E. Birnbaum zitiert). D a r i n ist der „Bericht des 2. Unterausschusses über die Friedensaktion Wilsons 1916/17" (hier auch „15. Ausschuß" genannt), vorangestellt. Ich zitiere nach D o k u m e n t e n - N u m m e r n , nicht nach Seitenzahlen. Viele der hier gedruckten Stücke sind bei Sch.-Gr. I w i e d e r h o l t , weitere h i n z u g e f ü g t . D i e V e r n e h m u n g s p r o t o k o l l e des Ausschusses, sachlich vielfach recht wichtig, sind in den „Stenogr. Berichten über die öffentlichen V e r h a n d l u n g e n des 15. U n t e r 2

642

S. 287 S. 287 S. 288 S. 288 S. 289 S.289 S. 289

S.289

S. 289

S. 291 S. 291 S, 292

5.292 S. 292

Anmerkungen zum 8. Kapitel - 1

sudiungsausschusses der verfassunggebenden Nationalversammlung Bd. I 1920" gedruckt, aber n u r unvollständig (bis 14. November 1919 reichend). Die Darstellung Steglichs ruht hauptsächlich auf den folgenden (mir in Abschrift vorliegenden) Aktenreihen: Wien H.H.St.A. Krieg 25, Krieg geh. XLVII/13-1 und Krieg 4a; A . A . W K r . 25 geh. Bd. 1-13, WKr. 23 geh. Bd. 2 - 5 . 4 ) B. ]. Hendrick: The Life and Letters of W. H. Page (1926), II, 186. 5 ) W. H. Page an Wilson 1. 6. 1916: Hendrick, II, 298 f. u. ö. 6 ) S. dazu Schreiben an B. H . 29.4. bei K. E. Birnbaum, 98, Anm. 8, und vom 29.5. ebd. 102. Uber die Abneigung des Auswärtigen Amts gegen eine Friedensaktion Wilsons berichtete auch der badische Bundestagsgesandte Nieser am 2 4 . 6 . : Karlsruhe GLA IV 35. 7 ) Vgl. s. Rundsdireiben vom 5.5. s. oben Kap. 5, III, Anm. 63. Dazu Bethmanns Erklärung vor dem U.A. der Nationalversammlung. U.A 2 Sten. Ber. S. 683 (17.11. 1919). 8 ) v. Müller, 206, 27. 7. 1916. 9 ) K.E.Birnbaum, 126 (stellt den Entwurf Jagows neben den eigenhändigen Bethmanns). 10 ) Näheres über diese politisch sehr aktive Persönlichkeit berichtet Paul Hymans Mémoires, p. p. F. van K a l k e n und J. Barthier 1958 passim., bes. p. 789-91. Seine politischen Ansichten hat er in einem vielbeachteten Buch „La Belgique Neutre et Loyale" dargelegt. Er starb schon im Frühsommer 1916 an einem Verkehrsunfall in London. Uber die politische H a l t u n g Törrings vgl. sein gemäßigtes, aber etwas phantastisches Kriegszielprogramm vom 27.8. 1916: Sch.-Gr. I, N r . 317. n ) Deutsche Dokumente im A . A . WKr. geh. 20a Bd. 1, gedr. bei Sch.-Gr. I, N r . 129. (11.8.), 132 (17.8.), 152 (30.10.), 169 (28. 11.), 172 (1.12.), 183 (9.1.17), 205 (28.2.), 206 (29.2.), 226 (14.4.). Der Abdrudt des schwer lesbaren Stückes N r . 205 enthält einige Lesefehler: Z. 5 „cum periculo" statt „hier prioriter". Z. 8: „durch" statt „dort". Anmerkung 1: Randglosse Bethmanns: „Schade" statt „Schach". 12 ) Les Carnets de Guerre d'Albert I roi des Belges, p. p. le général R. van Overstraeten 1953. 3. Edit. Die Verhandlung mit Graf Törring kommt in den Tagebüchern nicht zur Sprache. 13 ) Sch.-Gr. I, N r . 183, Beil. 2. 14 ) Nicht „ungenügend" wie F. Fischer, 269, irrig liest. 15 ) In einer (wohl zur Besprechung mit Jagow bestimmten) Aufzeichnung vom 1.1. 1916 (Sch.-Gr. I, N r . 180) heißt es: „Als äußerstes werden wir erreichen ein Schutzbündnis mit politischen, militärischen u n d wirtschaftlichen Sicherungen, wobei dahingestellt bleibt, ob wir Lüttich annektieren oder nicht". Er möchte aber „durdi energische Förderung des Vlamentums unsere auf ein solches Schutzbündnis zu basierende Stellung in Belgien stärken." Er glaubt damit vor der Welt als „Wohltäter der Vlamen" zu erscheinen und fürchtet keine ungünstige Wirkung auf das Ausland. Die Annexion von Lüttich ist in der Kriegszielliste, die B. H . am 31. 1. 1917 Wilson vertraulich mitteilen ließ, gestrichen, vom Vlamentum keine Rede mehr. 16

) Carnets de Guerre, 102 ff. ) Wie es F. Fischer, 262 ff., darstellt. Nach ihm hätte Graf Törring die Liste deutscher Forderungen (deren Übergabe an Prof. Waxweiler ja ein grober diplomatischer Fehler gewesen wäre, nachdem feststand, daß die Verhandlungen abgebrochen werden mußten) wegen ihrer Maßlosigkeit nicht zu überreichen „gewagt"! 18 5.293 ) Danmter auch Baron Beyens, seit 21. 1. 1916 Außenminister, nicht Ministerpräsident, wie F. F scher, 270, meint. Uber die schwierige Lage des Königs war B. H . gut informiert, s. z. B. Sch.-Gr. I, N r . 350 (B. H . an Ferdinand von Bulgarien 23. 10. 1916). S.293

17

19 ) Näheres darüber bei P. Hymans, a. a. O., Chap. VII (152 ff.) und 883 ff. (Dokumente 23-30). Am 24.2. wurde aber im Ministerrat beschlossen, es sei unbedenklich, etwaige An-

A n m e r k u n g e n z u m 8. K a p i t e l - I

643

geböte v o n feindlicher Seite wenigstens a n z u h ö r e n : Denkschrift de Broquevilles bei Suarez: Briand, I V (1940), p. 226. 20 ) U m ihn aus dieser Lage zu befreien, ist, wie es scheint, v o n belgischer klerikaler Seite der abenteuerliche P l a n e n t w o r f e n u n d der deutschen Regierung z u g e t r a g e n w o r d e n , K ö n i g A l b e r t möge sich „cum p e r i c u l o " , also w o h l an der F r o n t , d e r deutschen Besatzungsmacht g e f a n g e n geben. T ö r r i n g h a t das W a x w e i l e r am 25. 2. v o r g e t r a g e n u n d , „wie zu e r w a r t e n " , d a m i t „ n u r einen H e i t e r k e i t s e r f o l g g e h a b t " . Es ist f ü r die Arbeitsweise F. Fischers bezeichnend, d a ß er o h n e weiteres B e t h m a n n H o l l w e g f ü r diesen absurden Vorschlag v e r a n t w o r t l i c h macht, o b w o h l er d a f ü r keinen a n d e r e n „Beweis" besitzt als dessen R a n d b e m e r k u n g auf einem handgeschriebenen k u r z e n Vorbericht Törrings ( v o m 2 8 . 2 . ) über das Scheitern seiner Mission: „Schade!" (Sch.-Gr. I, 205). H ä t t e er ein p a a r Seiten in dem A k t e n b a n d w e i t e r g e b l ä t t e r t , so h ä t t e er in d e m n a c h f o l g e n d e n (von i h m auch b e n u t z t e n ! ) ausführlichen Bericht T ö r r i n g s die V e r m u t u n g W a x w e i l e r s g e f u n d e n , hinter d e m Vorschlag stecke eine „ I n t r i g u e der belgischen E x t r e m e n , die auf diese Weise versuchen möchten, den K ö n i g zu k o m p r o m i t t i e r e n " , u n d deren A g e n t sei ein J e s u i t e n p a t e r Henusse, Feldgeistlicher, der schon aus ähnlichen I n t r i g u e n gegen den K ö n i g b e k a n n t sei. (Ebd. S. 280.) 21) D e r Briefwechsel H e r t l i n g - B . H . v o m August 1915 (Sch.-Gr. I, N r . 129, 132) f a n d eine Fortsetzung im J a n u a r 1916: H e r t l i n g schlug ein Z u s a m m e n t r e f f e n d e r H e r z o g i n K a r l Theodor v o n B a y e r n mit ihrer Tochter, der belgischen Königin, in der Schweiz vor, w a s B. H . ablehnte, da es die Schwierigkeiten K ö n i g Alberts n u r v e r s t ä r k e n w ü r d e . Auch Lerchenfeld w a r d a m i t b e f a ß t . München G.St.A. P o l . A. V I I N r . 50, 53. 22 ) F. Fischer, 272, stellt diesen w a r n e n d e n Vorschlag T ö r r i n g s (dessen I n h a l t er etwas v e r z e r r t wiedergibt) seinen Lesern als M e i n u n g s ä u ß e r u n g des A u s w ä r t i g e n Amts v o r . E r ist jetzt g e d r u c k t : Sch.-Gr. I, N r . 226. G r a f T ö r r i n g h a t sich B. H . a m 24. 12. nochmals als Vermittler a n g e b o t e n : Sch.-Gr. I, N r . 438. 23 ) E r z b e r g e r an B. H . 8. 6. u n d anschließende K o r r e s p o n d e n z J a g o w - E r z b e r g e r - G e r l a d i 1 0 . - 2 2 . 6 . 1 9 1 6 : Sch.-Gr. N r . 268. F. Fischer, 272, b r i n g t über diese K o r r e s p o n d e n z f a s t nichts, gibt dagegen sehr ausführlich eine p r i v a t e M e i n u n g s ä u ß e r u n g Erzbergers über die belgische F r a g e aus einem Brief des A b g e o r d n e t e n an Gerlach v o m 16. 6. wieder, die er als halbamtlich erscheinen l ä ß t .

s.293

s.294

s. 294

s.294

2 "•) C a r n e t s de Guerre, 112 f. N ä h e r e A n g a b e n macht Overstraeten in seinem A u f s a t z : s.295 L a politique de guerre d u R o i A l b e r t , in: R e v u e générale Belge, mars 1964, p. 15 f. D a n a c h k a m zweimal (Mai u n d J u n i 1916) der R e k t o r der Berliner U n i v e r s i t ä t (das w a r d a m a l s U. v. W i l a m o w i t z - M ö l l e n d o r f f ) nach Brüssel zu d e m Bankier Philipson, einem B r u d e r des deutschen H i s t o r i k e r s P h i l i p p s o n , angeblich im A u f t r a g (se disant i n t e r p r è t e ) des K a n z l e r s . E r teilte mit, Deutschland sei bereit, die Rückkehr Belgiens zu voller politischer, militärischer u n d wirtschaftlicher U n a b h ä n g i g k e i t zuzugestehen u n d regte eine Z u s a m m e n k u n f t belgischer, französischer, deutscher u n d englischer V e r t r a u e n s l e u t e in R o t t e r d a m a n : mit Kenntnis, aber ohne A u f t r a g (engagement) ihrer R e g i e r u n g e n . D a s Ergebnis ihrer Beratungen k ö n n t e den R e g i e r u n g e n übersandt u n d v o n diesen als G r u n d l a g e offizieller V e r h a n d l u n g e n b e n u t z t w e r d e n . E n d e August k a m derselbe M i t t e l s m a n n noch einmal auf seinen A u f t r a g zurück, u n d P h i l i p s o n erhielt die Pässe f ü r eine Reise nach Frankreich, w o er den K ö n i g A l b e r t bitten sollte, diese A n r e g u n g d e n alliierten R e g i e r u n g e n zu u n t e r breiten, falls er d a z u bereit sein sollte. Diese A n g a b e n w u r d e n bestätigt durch den A m e r i k a n e r H o o v e r , den Leiter des amerikanischen H i l f s w e r k s f ü r Belgien u n d N o r d f r a n k r e i c h , der sie in Brüssel aus dem M u n d Philipsons e r f u h r . Dieselbe A n r e g u n g w u r d e auch an ihn selbst h e r a n g e t r a g e n durch d e n belgischen F i n a n z m a n n H e i n e m a n , einen F r e u n d H e l f f e richs. D a n a d i w ä r e Deutschland zu V e r h a n d l u n g e n bereit auf f o l g e n d e r G r u n d l a g e :

644

Anmerkungen zum 8. Kapitel - 1

Wiederherstellung der politischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit Belgiens und Entschädigung für dessen Verluste. Rüdegabe der besetzten Teile (Französisch-) Lothringens unter der Bedingung, daß Deutschland dort jährlich 5 Millionen Tonnen Mineralerz vorwegnehmen könnte. Auf Empfehlung des belgischen Finanzmanns und Politikers Émile Francqui, der damals zu den Leitern des belgischen Comité National de Secours et d'Alimentation gehörte, suchte Hoover das Foreign Office in London auf und unterrichtete dort Sir Eustace Percy von dem deutschen Friedensfühler - mit dem oben im Text erörterten Ergebnis. General a. D. van Overstrateen, den ich brieflich um Mitteilung seiner Quellen gebeten hatte, versichert mir, seine Angaben wären exakt. Weitere belgische Arbeiten über die Haltung König Alberts scheinen (nach den Mitteilungen belgischer Historiker an mich) nicht zu existieren. Über die Haltung Lloyd Georges vgl. den Abschnitt II. S. 295

25

) Militärattache Madrid an Generalstab 21.3.1916, A. A. WKr. 15 geh. Bd. 1 : Generalstab wird gebeten, den Wunsch des Königs, die deutschen Friedensbedingungen zum Zweck der Friedensvermittlung vertraulich zu erfahren, zu unterstützen. Vgl. auch die Berichte von der Lanckens an das A.A. vom 3. und 8.12.1916: Scb.-Gr. I, Nr. 401, 414 26 S. 295 ) König Albert: Carnets de Guerre, 98 f. Albert zeigt sich darüber verärgert, daß Bethmann in seiner letzten Reichstagsrede (5. 6.) von eindeutig deutschem Sieg unter Berufung auf die „Kriegskarte" gesprochen hat. Auf eine zweite Unterredung in La Panne scheint sich das Schreiben Jagows an B. H . vom 22.8. zu beziehen (Sch.-Gr. I, N r . 313). Ende Oktober beklagte B. H., daß König Albert in der Freiheit seiner Entschlüsse so beengt sei: ebd. S. 522, Abs. 2. 27 S. 295 ) B . H . an Hertling 5.3.1917: München G.St.A. Pol. A. VII, 53. Dazu W. Steglicb: Bündnissicherung, S. 238, Anm. 537 und Sch.-Gr. I, Nr. 447 und 467. Die Angaben in der (wissenschaftlich ziemlich wertlosen) Gedäditnisschrift des Pariser Museumsbeamten A. Chatelle, L'effort Belgique en France pendant la Guerre 1914-18 (1934), p. 224 sind ohne Quellenangaben nicht nachprüfbar und sachlich unbedeutend. Sie finden sich wiederholt in der Schrift desselben Verfassers La Paix Manquée? (1936), die den bekannten Verhandlungen von der Lanckens von 1917 gewidmet ist. - Die Kritik B.H.s an der Aktion Villalobars könnte die Tatsache im Auge haben, daß dieser sich bei seiner Durchreise in Paris über die Leiter der deutschen Politik recht unvorsichtig geäußert hat. Nach einer Meldung Iswolskis vom 23. 12. (Livre Noir t. III, 1. 4, p. 118) hat er Jules Cambon (was gewiß unerwünscht war) von vertraulichen Aussprachen erzählt, die er soeben im Berliner Auswärtigen Amt gehabt hatte. Er habe B. H . sehr gemäßigt gefunden, Zimmermann im Gegensatz dazu disposé de façon très irréductible. 28 S. 296 ) Hertling an Lerchenfeld 30. 1.1917, Hertling an B. H . 24. 2. 1917. Dessen Antwort 5.3.1917: München G.St.A. Pol. A. VII, 51, 53. Der päpstliche Versuch ging wohl auf Erzbergers Anregung zurück: Erzberger an Gerlach 11. 11. 1916: Sch.-Gr. I, N r . 371. Vgl. dazu und zur Haltung Hertlings auch E. Deuerlein: Hertling und die Annexion Belgiens, in: Hist. Jb. 70 (1951), 287 f. ferner Sch.-Gr. II Nr. 2, 9, 13, 15. 29 ) Hertling an Lerchenfeld 5. 5., Antwort Lerchenfeld 6. 5. und 8. 5. Bericht des StuttS. 297 garter Gesandten Moy 22. 5. über eine Unterhaltung Weizsäckers mit B.H. über die Frage, ob die deutschen Vorräte bis 1917 reichen würden. B.H. hofft auf Friedensschluß vor 1917. München G.St.A. Pol. A. VII, 50 bzw. 30. 30 S 297 ) Hertling an Lerchenfeld 24. 7., dessen Antwort 27 7., beides München G.St.A. Pol. A. VII, N r . 51.

Anmerkungen zum 8. Kapitel - II Abschnitt

645

II

!) Poincaré: Au service de la France, IX, 68 ff. Paléologtte: Am Zarenhof, II, 342 ff. G. Suarez: Briand, IV (1940), 132 ff. C. Jay Smith: 459 fi. Ausführliche Behandlung der Vorgeschichte bei A. Pingaud, t. I I I , 291 ff. Abdruck der Korrespondenz zwischen Pokrowski, Sazonow und Iswolski vom 12. 2. bis 11. 3. 1917 bei Volkmann Annexionsfragen (U.A. IV, 2, Bd. 12, I 184-186). 2 ) Georges Bonnefous: Histoire Politique de la Troisième République (1957), II, 169 (Kammersitzung vom 20.11.1916.) 3) Suarez: Briand, III, 413 f. Bonnefous, a . a . O . , 160ff. 4 ) Das zeigen am deutlichsten seine eigenen Memoiren. Vgl. auch (u.a.) A. Fabre-Luce: Caillaux 1933. Über die Rolle extremer Linkssozialisten in Frankreich und England während des Krieges vgl. die sehr präzise Darstellung von Arno ]. Mayer: Politicai Origins of the N e w Diplomacy 1917/18 (New H ä v e n 1959), Ch. 3: Allied War Aims in Transition. 5 ) G. Suarez, III, 419 druckt die Eingabe ab, fügt aber auch Protestschreiben eines Anti-Annexionisten, des Industriellen Darcy, hinzu, die eine sehr noble politische Gesinnung zeigen. 6 ) Bericht des belgischen Gesandten, Baron Gauffin, vom 31.1.1916 bei P. Hysmans: Mémoires, I, 159 und 189 f. 7

8

) Poincaré,

I X , 4 , dazu Suarez,

I I I , 412, I V , 130.

) Suarez, IV, 128 ff., dazu E. Höhle: Das Experiment des Friedens im Ersten Weltkrieg, in: GWU 1962, 472 ff. Für das Folgende ebd. 475. S. a. A. Pingaud, a. a. O., III, 286 f. 9 ) S. o. Anm. 1 ! ,0 ) Abgeordn. Dalziel (Liberaler) 11.10.1916: Schulthess: Europ. Gesch. Kalender N . F. Bd. 32, 1916, II, 179. H ) Eine sehr anschauliche Darstellung der Umwandlung der liberalen, pazifistisch und neutralistisch gestimmten Tagespresse Englands zu Herolden des „Heiligen Krieges" gegen den „Prussianism" und „Militarism" gibt das Buch von Irene Cooper-Willis; England's H o l y War. A study of English Liberal Idealism during the Great War. N e w York 1928. 12 ) Darüber wird der demnächst erscheinende Band IV der großen Wilson-Biographie von A. S. Link näheren Aufschluß bringen. Ende November 1916 hat Wilson die Federai Reserve Bank veranlaßt, amerikanische Bankiers vor der Annahme kurzfristiger Wechsel des britischen Schatzamtes zu warnen: A.S.Link, W. Wilson and the Progressive Aera. 1910-17, Neuaufl. 1963, p. 259. 13 ) Vgl. das Memorandum, das er f ü r seine Kollegen kurz vor einer geplanten Reise nach Petersburg im Dezember als eine Art von Vermächtnis niederschrieb: 25 years II, 126 ff., dazu G . Trevelyan: Grey (deutsche Ausgabe), 408. H ) Lloyd George: War Memoirs, II, ch. X X X p. 832 und passim. 15 ) Abdruck (gekürzt) bei Lloyd George: The T r u t h about the Peace Treaties, I (1938), 31-50. Es ist kein Datum angegeben, doch muß die Entstehungszeit nach den Äußerungen auf S. 36, Abs. 3 vor der Kriegserklärung Rumäniens (27. 8. 1916) liegen; vermutlich erste Augusthälfte. 16 ) S. o. Abschn. I. Nach einer Mitteilung E. Hölzles (a. a. O. 470, Anm. 16) aus f r a n zösischen Akten hat die belgische Regierung im Sommer 1916 Aufhebung ihrer Neutralitätsverpflichtung bei den Westmächten beantragt, offenbar aber nicht eine Dauerallianz mit diesen, da man sich in Paris und London dem Antrag abgeneigt zeigte. 17) Es ist sehr bemerkenswert, daß die Denkschrift (p. 47) f ü r die angebliche Aggressivität der deutschen Regierung vor 1914 nichts weiter vorzubringen weiß, als daß sie „zusätzliche Kolonien" aus dem Besitz anderer Mächte zu erwerben wünschte, (was sich wohl nur auf Angola beziehen kann) und durch „commercial pénétration" sich „Einflußsphären" schaffen

s.299

s.299 S.301 s.302

s. 302

s.302 S.303

s.303 S. 303

s.305 s.305

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S. 306 s 307

s 307

g jog

646 S. 309 S. 311 S. 311

5.311 s.312 s.312

Anmerkungen zum 8. Kapitel - II

wollte. Also „Griff nach der Weltmacht", ganz im Stile des Buches von Fischer, Kap. 1. 18 ) Vgl. Bd. II, S. 70 f., dazu seine nüchtern-sachliche Beurteilung der militärischen Lage Englands Ende 1916 bei Lloyd George, I I , 898 ff. Seine Denkschrift vom 31. 8 ebd. 833-843. 19 ) Bericht Cambons 10. 9 . 1 9 1 6 bei E. Höhle, a. a. O. 470. 2 0 ) Vgl. die Unterhaussitzung vom 2 1 . - 2 2 . 8 . 1 9 1 6 . Der Liberale Byles weist auf Erklärungen Zimmermanns hin, daß Deutschland schon mehrfach seine Bereitschaft zum Frieden gezeigt hätte, die Entente unter dem Druck Englands niemals. Ferner auf Friedenskundgebungen der deutschen Sozialdemokratie. Asquith und Cecil erklären, daß niemals offizielle Friedenserbietungen der deutschen Regierung an die englische gelangt wären; nur solche hätten politische Bedeutung. Schulthess, a. a. O. 174. 2 1 ) Lloyd George, II, 853 ff. (etwas abgedämpfte, fragmentarische Wiedergabe), Schulthess, 1916 II, 176 f. 2 2 ) Grey an Lloyd George 29. 9. 1916, in dessen War Memoirs II, 856 ff. 2 3 ) Abg. Holt und Trevelyan im Unterhaus am 11.10. (Schulthess 1916, II, 178 f.) Trevelyan beruft sich auf Scheidemanns Reichstagserklärung, daß B. H. keine Annexionen wolle; das sei nicht dementiert worden. Ein Ende des Kriegs sei noch nicht in Sicht, und es sei nicht sicher, daß die Alliierten den Krieg nicht zu Annexionszwecken fortführten.

S. 312 S. 312

) Vgl. dazu I. A. Spender und C. Asquith: Life of H. H. Asquith, vol. II (1932), 243 ff. ) Unterhausrede Asquith's: Lloyd George: War Memoirs, II, 891. Schulthess, 1916/11, 178. Rede Greys im Cecil Hotel: ebd. 893 bzw. 181. Die Rede „bestätigte" sowohl die Äußerungen von Briand wie die von Lloyd George und Asquith, suchte aber den ungünstigen Eindruck des knock-out-Interviews auf Amerika abzuschwächen durch eine bewußt mildere Tonart und starkes Unterstreichen der Aufgabe Amerikas nach dem Krieg, einen friedensichernden Völkerbund zu begründen und jetzt schon vorzubereiten. In Deutschland wurde das als „Einlenken" mißverstanden und weckte in der liberalen Umgebung B. H.s falsche Hoffnungen. S. Prinz Max von Baden: Erinnerungen 48 ff. Dazu Unterhaltung des Kapitäns Boy-Ed mit Riezler am 5. 11. bei K. E. Birnbaum, S. 360. S. auch unter Abschn. I I I , Anm. 25. B. H. besprach die Rede Greys auch in der Sitzung des preußischen Staatsministeriums am 27. 10., allerdings mit viel skeptischer Vorsicht. (Z. A. Merseburg Rep. 90a B I I I 2b Nr. 6 Bd. 165.)

5.312 S. 313 S. 313 5.313

) Schulthess, 1916 II, 185 f. Spender Asquith II, 241. ) Prinz Max von Baden, 46. 28) Lloyd George, II, 888 f. 2 9 ) Am nächsten liegt, die in den Cahiers König Alberts 112 erörterte Aktion Philipson (s. o. Abschn. I Anm. 24) dahinter zu vermuten. Es gab aber viele über Belgien und Holland laufende Verbindungsfäden nach England. Besonders tätig war (wir wissen es schon) der spanische Gesandte Graf Villalobar in Brüssel. E. Hölzle (a. a. O. 478) hat eine Aktennotiz des Direktors im Pariser Außenministerium de Margerie vom 30. 12. 1916 gesehen, nach der Villalobar ihm mitgeteilt hat, B. H. habe „die volle Wiederherstellung Belgiens mit wirtschaftlicher Abhängigkeit und die Rückgabe Elsaß-Lothringens in Aussicht gestellt". Der zweite Teil dieser Mitteilungen klingt so unwahrscheinlich, daß man wohl ein Mißverständnis de Margeries oder eine Übertreibung Villalobars annehmen muß. Die Mitteilung hatte aber (nach Hölzle) keine in den französischen Akten erkennbare Wirkung. Bemerkenswert ist auch, daß Grey in seinem „politischen Testament" vom Dezember 1916 (25 years II, 126 f.) „tempting offerts" der Deutschen in der belgischen Frage erwartete, die auf eine Spaltung des Ententeringes abzielten.

5.313 5.314

) Lloyd ) Lloyd I I , 138.

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George, II, 877ff. B. E. C. Dugdale: Arthur J . Balfour, II (1936), 435 ff. George, II, 862ff. Asquith: Memoirs und Reflections 1852 - 1927 (1928),

Anmerkungen zum 8. Kapitel - III

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32) Lloyd George, II, 874. Die verschiedenen Gutachten Robertsons ebd. 873, 899 ff. s.315 Eine Äußerung der Marinefadileute wird nicht angeführt. Das Gutachten Greys vom 27. 11. bei Trevelyan, a . a . O . 405ff. 33) Asquith: Memoirs and Reflections I I , 147 ff. Lloyd George, II, 889 f. s. 317 II, 889 f. 34) Lloyd George, I I , 895 f. S.318

Abschnitt

III

') Im diplomatischen Bundesratsausschuß am 8 . 8 . 1 9 1 6 berichtete B. H. von der gerade „heute" stattfindenden Beratung zwischen Holtzendorff und Falkenhayn. „Sollte letzterer erklären: es ist notwendig, absolut notwendig für den Kampf an unserer Westfront, dann - ja dann!?..." Bericht Weizsäckers H.St.A. Stuttgart E 42-51 Ausw.Min. I V v. 3 B A V 116. S. auch unten Anm. 6). 2 ) Ungedr. Denkschr. des Kapitäns Graßhoff, benutzt von K.E.Birnbaum 140. Dessen Schilderung der Verhandlungen in Pless (133 ff.) stützt sich außer auf das Protokoll Grünaus (U.A. 2 Nr. 158) auch auf eine ungedr. Aufzeichnung des Vizeadmirals Koch im Reichsmarinearchiv. 3 ) Bericht Weizsäckers, s. o. Anm. 1). 4) Scb.-Gr. I Nr. 318 (Sitzungsprotokoll). 5 ) Kap. 7 Anfang. 6) Spindler, I I I , 368, gibt 36 schon für den 20. 12. 1916 an, läßt aber offen, wie viele davon gegen England in Dienst gestellt wurden. Der Abgeordn. Struve sprach im U. A. 1919 nur von 20 Booten am 15. Januar 1917, zu denen aber von Februar bis Mai insgesamt 17 hinzugekommen wären, bis Juli 18 weitere. An anderer Stelle aber rechnet er für die Monate März bis Juni mit 41-53 Booten, die „auf Unternehmung" waren, leider ohne zu sagen, wie viele davon gegen England. 15. U.A. d. Nationalverslg. 1919 Sten. Ber. I, 391, 393, 396. Die große Denkschrift des Admiralstabs vom 22. 12. 1916 nennt keine Bootszahlen, sondern verharrt bei der schon früher theoretisch errechneten Versenkungsziffer von 600000 t pro Monat. Bei Spindler, IV, werden in den Tabellen auf S. 2 an U-Booten der Hochseeflotte (gegen England bestimmt) aufgeführt: für Februar 46, vermehrt bis Juli auf 59, um dann bis Ende 1917 durch Verluste auf 52 abzusinken. Die Gesamtzahl für Februar ist mit 105 angegeben. Einen genauen Überblick über den U-Boot-Stand nach einer Aufstellung des Reichsmarineamts vor dem 1 . 8 . 1 9 1 6 gab B. H. im Bundesratsausschuß am 8. 8. 1916; vgl. den hanseatischen Bericht (Sievekings) bei R. Koscbnitzke Die Innenpolitik des Reichskanzlers von Bethmann Hollweg im Weltkrieg, ungedr. Diss. Kiel 1951.

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S. 322 S.322 S.323 s.323

7 ) Die sonst ganz ausgezeichnete Monographie von K. E. Birnbaum vertritt an mehreren 5 Stellen (149 f., 169, 299, u. ö.) die These, B. H. habe gehofft, irgendwie würde sidi der unbeschränkte U-Boot-Krieg ohne Krieg mit USA durchführen lassen. Ich halte das für ebenso unwahrscheinlich wie unbeweisbar. Richtig ist nur, daß er in seiner großen Februardenkschrift 1916 nach Formen eines „verschärften" U-Boot-Krieges (mit warnungsloser Versenkung bewaffneter Schiffe) gesucht hat (oben Kap. 5, Abschn. III, Anm. 34 ff.) und daß der Kaiser durch ein Zirkular vom 8 . 3 . 1 9 1 6 den unbeschränkten U-Boot-Krieg diplomatisch bei den Neutralen vorbereiten ließ, was aber B. H. im Grunde für zweddos hielt (ebd. Anm. 41). An die Hoffnung, sich mit Wilson über Versenkung bewaßneter Handelsschiffe vielleicht einigen zu können, hat er sich auch um die Jahreswende 1916/17 noch geklammert, als jede andere Chance, den unbeschränkten U-Boot-Krieg zu vermeiden, geschwunden schien (s. u. Abschn. IV). Keinesfalls hat er die von ihm gewünschte Friedensaktion Wilsons bzw. der Mittelmächte nur als diplomatisches Mittel zur Vorbereitung des U-Boot-Krieges betrachtet und gehandhabt, indem er auf ihre Ablehnung von

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4

648

Anmerkungen zum 8. Kapitel - III

vornherein mit Gewißheit rechnete. Die einzige Stelle, die man so deuten könnte (Schreiben an die O H L vom 1. 10. 1916, U . A. 2 Beil. 162, dazu K. E. Birnbaum, 169) ist deshalb nicht beweiskräftig, weil sie ganz offensichtlich taktisch bedingt ist: B. H . mußte ein Argument vorbringen, das Ludendorff einleuchten konnte, um damit das Hinausschieben der Entscheidung über den beschränkten U-Boot-Krieg zu begründen. H ä t t e er gesagt, man müsse erst den Erfolg der Wilsonschen Vermittlung abwarten, so hätte er damit auf Ludendorff keinerlei Eindruck gemacht, der, wie B. H . wußte, an die Möglichkeit eines solchen Erfolges nicht glaubte. So stellte er ihm vor, daß gerade ein Scheitern der Friedensvermittlung unsere moralische Position bei der Eröffnung des neuen U-Boot-Krieges wesentlich verbessern würde. Ich sehe nicht, wie er sich anders hätte ausdrücken können. Selbstverständlich betrachtet F. Fischer, 369 f., diese Stelle als „Enthüllung" der wahren Absichten des Kanzlers. Dieser brauchte die Friedensaktion, an deren Erfolg er nie geglaubt hat, als „Alibi" für seine tückischen Absichten. Er war aber gleichzeitig so einfältig, zu meinen, er könne sich gegen Amerika diplomatisch so abschirmen, daß dieses trotz U-Boot-Krieg aus dem Krieg herausgehalten würde. Er beruft sich für diese These auf Birnbaum, der aber die Ehrlichkeit der Friedensbestrebungen Bethmanns durchaus nicht bezweifelt. - Gegen Birnbaum habe ich noch einen Einzeleinwand. Er schreibt S. 149: „Most political questions he (B. H.) judged primarily from the angle of home policy." Wäre das richtig, so hätte er z. B. nicht den äußerst unpopulären Versuch gemacht, Wilson als Friedensvermittler zu mobilisieren. Vgl. auch das oben, S. 80, erörterte Angebot eines Teiles von Schlesien an Österreich 1915 ohne Rücksicht auf innenpolitische Konsequenzen! 8 ) „Andernfalls rücksichtloser U-Boot-Krieg kaum vermeidbar" hieß es im ersten eigenhändigen Entwurf Bethmanns: K.E.Birnbaum, 129. Unter „bedingter Wiederherstellung Belgiens" verstand B. H . nach K. Helfferich, II, 351 (Gespräch vom 31.8.), daß wir uns vorbehielten, „unsere Beziehungen zu Belgien nadi dessen Restitution durch unmittelbare Verhandlungen zu ordnen". 9 S. 324 ) D a ß er das tat, liegt f ü r jeden kritischen Leser seiner Berichte auf der H a n d . F. Fischer, der die neuere amerikanichse Quellenliteratur nicht beachtet, setzt in seinem 9. Kapitel nicht nur überall voraus, daß Bernstorffs Berichte hundertprozentig zutreffen, sondern stellt die Politik Wilsons überhaupt so dar, daß der Leser den Eindruck gewinnt, Deutschland hätte nur zuzugreifen brauchen, um den Krieg „als Remis-Partie" mit Amerikas Hilfe zu beenden (S. 319). Aber B. H., der schon am 5.6. „eine Friedensvermittlung mit England vor der Nation abgelehnt hatte" (?!), wollte den Totalsieg mit Hilfe des unbeschränkten U-BootKrieges und fürchtete nichts mehr als einen Frieden des status quo, den Amerika durchgesetzt hätte. An dieser These ist schlechthin alles falsch, und das ganze Kapitel eine einzige Kette von Fehldeutungen, in denen der wahre Sachverhalt geradezu auf den Kopf gestellt wird. Ihre Widerlegung ergibt sich von selbst, denke ich, aus meiner Darstellung, so daß ich auf Einzelpolemik weitgehend verzichten kann.

S. 324

10 R ) - Lansing: War Memoirs (1935), 172 f. D a z u E.H.Buebrig, a . a . O . 138. D. M. Smith, 146 ff. S. 325 " ) Näheres bei K. E. Birnbaum, 155 ff. und Anhang VI 2 - 3 (mit Gegenüberstellung des Instruktionsentwurfs und seiner Änderungen), dazu Sch.-Gr. I, Nr. 324-327, 330, 331, 336, 343. Es ist f ü r die Geistesart Wilhelms II. (die oft so seltsam knabenhaft wirkt) bezeichnend, daß er B. H . gegenüber auf das gute Englisch seines Entwurfs pochte, über das „unmögliche" Englisch des Auswärtigen Amtes klagte und dem Kanzler (ganz im Stil seiner militärischen Umgebung) „philosophische Bedenklichkeit" vorwarf, auf dessen etwas gereizte Antwort hin aber sofort zurückwich. 12 S. 325 ) Kapitän zur See von Trotha, Chef im Stabe Scheers, ein glühender Bewunderer Tirpitz'; Kapitän von Levetzow, Chef der Operationsabteilung; Kapitän von Bülow, Ver-

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A n m e r k u n g e n z u m 8. K a p i t e l - I I I

t r e t e r des A d m i r a l s t a b s im G r o ß e n H a u p t q u a r t i e r . Ü b r i g e n s w a r d i e M a r i n e l e i t u n g schon seit E n d e A u g u s t auch i n W i e n sehr t ä t i g gewesen, u m d o r t f ü r i h r e A u f f a s s u n g S t i m m u n g z u m a c h e n . I m W i e n e r H . H . S t . A . findet sich eine F ü l l e v o n D e n k s c h r i f t e n ü b e r die A u s sichten d e s u n b e s c h r ä n k t e n U - B o o t - K r i e g e s , s o w o h l a n B u r i a n w i e a n C z e r n i n ü b e r m i t t e l t ( K r i e g geh. X L V I I / 3 - 1 5 ) . A n f a n g S e p t e m b e r w u r d e mitgeteilt, d a ß die deutsche O H L u n d das A . A . j e t z t e i n i g w ä r e n ü b e r die N o t w e n d i g k e i t des v e r s c h ä r f t e n U - B o o t - K r i e g e s , u n d u m S t e l l u n g n a h m e gebeten, auch u m die B a r o n C o n r a d s . D i e s e r a n t w o r t e t e s o f o r t : „ I n einer S i t u a t i o n , in welcher d i e k l a r e Absicht unserer G e g n e r , uns zu v e r n i c h t e n , so p e r f i d e F o r m e n a n g e n o m m e n h a t , w ü r d e ich j e d e a n d e r e H a n d l u n g s w e i s e f ü r ein V e r brechen a m eigenen S t a a t e h a l t e n . " B u r i a n suchte sich l a u f e n d d u r c h die Berliner Botschaft ü b e r die Absichten d e r Reichsleitung in d e r U - B o o t - F r a g e z u o r i e n t i e r e n ( K o r r e s p o n d e n z m i t H o h e n l o h e u n d B. H . a b 1 . 9 . ebd.). D i e österreichische M a r i n e l e i t u n g d a c h t e ebenso w i e die deutsche ( M e m o r a n d u m M u s u l i n s 4. 9.), w ä h r e n d B u r i a n w a r n t e , militärische G e s i c h t s p u n k t e ü b e r die politischen z u setzen, u n d ein sehr sachverständiges M e m o r a n d u m (eines H e r r n M o l d e n ) ü b e r d i e g r o ß e n G e f a h r e n einer V e r f e i n d u n g m i t A m e r i k a z i r k u l i e r e n ließ (ebd. N r . 4 9 9 0 / 9 1 , 10,10). - D e n g a n z e n H e r b s t ü b e r h a b e n n a t ü r l i c h auch V e r t r e t e r d e r deutschen R e c h t s p a r t e i e n bei H i n d e n b u r g a u f d e n U - B o o t - K r i e g g e d r ä n g t , d e r i h n e n versicherte, er „koche" ebenso w i e sie v o r U n g e d u l d , endlich d a s Stichwort f ü r seinen B e g i n n ausgeben zu k ö n n e n , vgl. Westarp I I , 134 (Besuch in Pless a m 14. 11.). 13 ) Es ist b e a c h t e n s w e r t , d a ß auch d e r G e n e r a l M a x H o f f m a n n sehr n ü c h t e r n ü b e r d i e s.326 Aussichten des U - B o o t - K r i e g e s d a c h t e : H ä t t e n w i r gleich z u A n f a n g des Krieges die j e t z t (21. 6. 1916) v o r h a n d e n e n U - B o o t e g e h a b t , ehe die E n g l ä n d e r i h r e n A b w e h r d i e n s t o r g a n i sierten, so w ä r e ein E r f o l g möglich gewesen. J e t z t sei es zu s p ä t d a z u , L u d e n d o r f f sei e b e n f a l l s sehr skeptisch, o b d i e Z a h l der U - B o o t e schon reiche. T i r p i t z , d e n seine eigenen U n t e r g e b e n e n „ V a t e r d e r L ü g e " n e n n t e n , h a b e im F r ü h j a h r offensichtlich g e s c h w i n d e l t : A u f z e i c h n u n g e n I, 124 f., 1 3 0 f. O b e r L u d e n d o r f f s H a l t u n g g e g e n ü b e r d e m S e n d b o t e n d e r M a r i n e v g l . dessen Bericht v o m 10. 9. bei Ludendorff: U r k u n d e n , 302 ff. 14

) B e t h m a n n ü b e r t r i e b noch u n d sprach v o n 700 000 M a n n . V a r n b ü l e r berichtete a m s. 326 7. 10., d a ß die A u s f ü h r u n g e n K ü h l m a n n s auf L u d e n d o r f f u n d H o l t z e n d o r f f s t a r k e n E i n d r u c k gemacht h ä t t e n (nach I n f o r m a t i o n im A . A . ) : S t u t t g a r t H . S t . A . E 73 V e r z . 6 1 / 1 2 h I I I 169. '5) U . A . 2 N r . 164 ( 2 . 1 0 . 1916). S.326 16 ) Spindler, I I I , 2 4 4 f., 350 f. S p i n d l e r rechnet d e n Z e i t r a u m v o n M i t t e O k t o b e r bis s.327 E n d e J a n u a r als v o l l e v i e r M o n a t e u n d k o m m t d a d u r c h z u einer m o n a t l i c h e n D u r c h sdhnittsziffer v o n n u r 3 0 7 6 3 4 t s t a t t v o n 3 5 1 5 8 2 t. 17) U . A . 2 S. 175 (31.8.) H o l t z e n d o r f f . S.327 18 ) V g l . C . Haussmann, Schlaglichter 63 ff. H a u s s m a n n h a t t e schon bei der Reichstags- s.328 r e d e B e t h m a n n s v o m 28. 9. d e n E i n d r u c k v o n „ R a t l o s i g k e i t " . 19 ) F. Fischer, 370. G r o ß e A u f r e g u n g v e r u r s a c h t e eine v o m „ u n a b h ä n g i g e n A u s s c h u ß s.328 f ü r einen deutschen F r i e d e n " a m 1 0 . 1 0 . ins p r e u ß i s c h e A b g e o r d n e t e n h a u s e i n b e r u f e n e V e r s a m m l u n g , in d e r ein V e r t r e t e r d e r O H L e r k l ä r t h a b e n soll, m a n solle die E n t s c h e i d u n g H i n d e n b u r g s in R u h e a b w a r t e n . R e v e n t l o w versicherte a b e r d a n n in d e r deutschen T a g e s z e i t u n g , B . H . h a b e sicherlich H i n d e n b u r g i r r e g e f ü h r t , w a s d a n n n e u e A u f r e g u n g schuf. N ä h e r e s in der o b e n i n A n m . 6 z i t i e r t e n Diss. v o n Koschnitzke. 20

)

V g l . Haussmann:

Schlaglichter, 64

ff.

S.329

21

) Z u d e m B r i e f w e c h s e l m i t H i n d e n b u r g , d e r dieser E r k l ä r u n g v o r a n g i n g , s. Westarp, s 329 I I , 132. H i n d e n b u r g s t r ä u b t e sich, in „politische D i s k u s s i o n e n " g e z o g e n z u w e r d e n . B. H . m u ß t e a l s o sehr vorsichtig o p e r i e r e n . 22

) Ü b e r die G e h e i m s i t z u n g des H a u p t a u s s c h u s s e s berichtet f r a g m e n t a r i s c h H. P. Haussen:

s. 331

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A n m e r k u n g e n z u m 8. Kapitel - III

Diary, 144 ff. Die (mir nicht zugänglichen) Protokolle liegen der (mittelmäßigen) Dissertation v o n Willy Bongart, D i e Zentrumsresolution vom 7. O k t o b e r 1916 (Köln 1937) zugrunde, die dadurch ihren W e r t erhält. Vgl. ferner Betbmann Hollweg: Betrachtungen, I I , 127 f. Helfferich, II, 390 ff. M. Erzberger: Erlebnisse, 217 f. Uber die H a l t u n g des Zentrums seit August 1916 und die Gegensätze innerhalb der Fraktion vgl. E. R. May, 298 ff. S. 331 S. 332 5.332

5.333 S. 333 S. 333

23

) Müller, 230. ) C. Haussmann, 72 ff. 25 ) Englische Gerüchte: Prinz Max von Baden, 48 ff. Gespräch Riezlers mit K a p i t ä n Boy-Ed vom 5.11.: K.E.Birnbaum, 360. Dessen Deutung, Riezler habe ein englisches Friedensangebot auf Grundlage des status quo „gefürchtet", w i r d insofern bestätigt, als B. H . im preußischen Staatsministerium am 27. 10. (vgl. Anm. 32) gesagt hat, wir m ü ß t e n einem etwaigen „Friedensangebot der Feinde auf Wiederherstellung des status q u o " zuvorkommen, da „bei einem solchen Angebot die Gegner die V o r h a n d hätten". D a s w a r aber sicher n u r ein Nebenmotiv, und auf ein englisches Angebot k a n n er im Ernst kaum gerechnet haben. Im Bundesratsausschuß am 30. 10. hat er aber Mitteilungen gemacht über angebliche Äußerungen des Unterstaatssekretärs H a r d i n g e im Foreign Office, d a ß ein faires deutsches Friedensangebot in England große Verlegenheit anrichten würde. (Sitzungsbericht Nieser, G.L.A. Karlsruhe). Rede B. H . s am 9. 11.: Kriegsreden, ed. Thimme, 151 ff. 24

26

) Korrespondenz Bernstorff - A.A. 11.-20. 10., U . A . 2 Beil. N r . 22-25. ) S. oben Kap. 7, A n m . 46 ff. 28 ) Nach Helfferich, II, 355 f. hätten den entscheidenden Anstoß die schon genannte Rede Greys und Helfferichs Zureden gegeben. Von jener Rede konnte man aber a m 25. in Berlin noch keinen W o r t l a u t kennen, u n d Helfferichs Darstellung, als stamme die Idee von ihm, ist zweifellos unrichtig. 29 S. 333 ) M e m o r a n d u m vom 8 . 1 1 . 1 9 1 6 . Wien H . H . S t . A . Krieg geh. X L V I I / 3 - 1 5 auch bei K. E. Birnbaum, 236. 30 S. 334 ) Dieses K o m p r o m i ß geht wahrscheinlich auf Vorschläge zurück, die der Gesandte von R o m b e r g in Bern, der in ständiger Verbindung mit Vertretern der französischen Oppositionsgruppen um Caillaux stand, im Mai 1916 dem A . A . gemacht hatte. In einem Bericht v o m 27.11. Sek.-Gr I ( N r . 397) erklärte er sie aber f ü r überholt infolge eines Stimmungsumschwungs in Frankreich und forderte radikalen Verzicht auf alle Gebietsaustausche und Grenzberichtigungen, außerdem mindestens die Gewährung voller Autonomie als Bundesstaat an Elsaß-Lothringen. Alles Mehr zerstöre jede Aussicht auf Verständigung auch mit den oppositionellen Kreisen Frankreichs. Zimmermanns A n t w o r t , enthalten in dem Bericht eines nach Berlin entsandten Gesandtschaftsmitgliedes vom 13. 12. ( A . A . W.Kr. 2 geh. Bd. 26, Kopie ohne Unterschrift) w a r f ü r Romberg enttäuschend: der Staatssekretär bestand auf der Abtretung des Bassins von Briey und irgendeiner (nötigenfalls getarnten) F o r m v o n Kriegsentschädigung und konnte die Autonomie der Reichslande wegen gewisser Zusagen, die Bayern schon gemacht waren, nicht in sichere Aussicht stellen. 27

31 ) F. Fischer erwähnt es nicht. Es läßt sich auch mit seiner These unveränderlich großer Annektionsziele Bethmann Hollwegs, die er gerade f ü r den Herbst 1916 hartnäckig verficht, durchaus nicht vereinen. 32 S. 335 ) A m entschiedensten w u r d e n B. H.s Vorschläge vom Innenminister v. Loebell unterstützt, den wir als Anti-Annexionisten schon kennen (Kap. 1, S. 40 ff.). Außerdem natürlich, wie immer, von Helfferich. Im wesentlichen ablehnend verhielt sich nur Wild v. H o h e n born u n d der Handelsminister von Sydow. Z. A. Merseburg. Rep. 9 0 a B . I I I 2b N r . 6 Bd. 165.

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33

) So die Fassung in der skizzierten Niederschrift Wahnschaffes Z. A. Potsdam. In dem ausführlichen Bericht des badischen Gesandten Nieser (G.L.A. Karlsruhe IV, fasc. 37)

Anmerkungen zum 8. Kapitel - III

651

heißt es: „Wenn wir entwicklungsfähig aus diesem Krieg herauskommen, haben wir gewonnen." 3 4 ) Im Bundesratsausschuß betonte er u. a., daß er in seinen Reden bewußt jedes scharfe s.336 Wort gegen Frankreich vermieden und die französische Tapferkeit mehrfach hervorgehoben habe. Nach den Notizen Wahnschaffes äußerte er: „Bei Franzosen vielleicht doch Gedanke: warum weiter mit Engländern schlagen: dann Separatsondierung." 35) Graf Westarp, II, 79: Gespräch vom 23. 12. 1916. S.337 }6) Sch.-Gr. I 583 f. Romberg an B. H . 2 7 . 1 1 . 1 9 1 6 berichtet über ein Gespräch des Grafen Berchem mit Marchetti, dessen Vorschläge er höchst beachtlich findet bzw. sich zu eigen macht; er warnt dringend vor allen „Grenzkorrekturen" gegenüber Frankreich. 37) B. H . an Graf Wedel 15. 12. Antwort 18. 12. U.A. 2 Beil. Nr. 92 und 100. 38) Helfferich, II, 358. Bethmann Hollweg I I , 152 f. Sch.-Gr. I Nr. 356. Die Fortsetzung war nicht frei von bramarbasierendem Selbstlob wilhelminischen Stils: „Zu einer solchen Tat gehört ein Herrscher, der ein Gewissen hat und sich Gott verantwortlich fühlt und ein Herz für seine und die feindlichen Menschen... Idi habe den Mut dazu, ich will es auf Gott wagen." Der Brief wurde Mitte Januar 1917 in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung veröffentlicht und erschien auch im Temps am 17. 1. 39) Bayrisches Protokoll der Besprechung vom 1 1 . 1 2 . : München G.St.A. M. A. 1936 Nr. 2494/69. S. auch W. Steglich: Bündnissicherung, 146. 4 0 ) Dies etwa ist die Grundthese der Dissertation von W. Steglich: Bündnissicherung oder Verständigungsfrieden?: den Österreichern kam es mehr auf das erste, den Deutschen auf das zweite an. 41) Sch.-Gr. I Nr. 347 = U.A. 2 Anlage Nr. 75. In allen späteren Fassungen des Programms ist aber (wohlbedacht!) von dem „von Deutschland und Österreich-Ungarn geschaffenen" Königreich Polen die Rede. 4 2 ) Sitzung des Bundesratsausschusses vom 30. 10. und Schreiben an Hindenburg vom 4. 11.: U.A. 2 Beil. 78. Schr.-Gr. I Nr. 361. 43) Unter welchem Druck B. H . in der Frage Briey-Longwy fortdauernd stand, illustriert seine Mitteilung an Grünau (für Valentini) am 25. 11., der Stahlwerksverband habe auf das Gerücht, der Kanzler wolle um jeden Preis Verständigung mit Frankreich und darum auf Briey verzichten, sofort eine Protesteingabe an Hindenburg beschlossen. Z. A. Potsdam R. K. V I I 10. 44) F. Fischer, 402 ff. bemüht sich, wie zu erwarten, die Unterschiede zwischen den Kriegszielprogrammen Bcthmanns und denen Hindenburgs, die für ihn „auf derselben Linie liegen", nach Kräften zu bagatellisieren, und benützt dazu insbesondere B. H.s scheinbar weitgehende Nachgiebigkeit nach Empfang der Antwort Hindenburgs vom 5. 11. Eine Auseinandersetzung im Detail scheint mir nicht lohnend. 4 5 ) Es kam auch (nach Buriäns Bericht) sehr eindeutig in den deutsch-österreichischen Verhandlungen zum Ausdruck, die am 15.-16. 11. in Berlin stattfanden. 4 6 ) Dabei berief er sich u . a . auf die schon jetzt laufend von Belgien geleisteten gewaltigen Kontributionszahlungen, mit dem Effekt, daß Hindenburg deren „sehr wesentliche" Erhöhung forderte. U.A. 2 Beil. 81. 47) Die Bestimmungen über Polen, Kurland, Litauen und Belgien wurden wieder in die ursprüngliche Form gebracht. Vom Kongostaat hieß es jetzt, daß er, „oder ein Teil desselben", von Deutschland erworben werden sollte. Luxemburgs Einverleibung, hieß es, erscheint nötig für den Fall, daß wir Briey und Longwy erwerben sollten, was damit als offene Frage hingestellt wurde! U.A. 2 Beil. 82. 4 8 ) Diese Kriegszielliste ist erst während der gleich zu besprechenden Berliner Verhand-

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Anmerkungen zum 8. Kapitel - III

lungen vom 15.-16.11. entstanden, von B. H. am 16.11. verlesen und Burian übergeben worden. 4 9 ) E r betrachtete die Übergabe einer Friedensnote ohne Aufzählung der Bedingungen (die ihm sehr „bescheiden" erschienen, auch in der von ihm selbst gewünschten Form) als demütigende „Friedensbitte", wollte also die Bedingungen genannt haben und sie mit der offenen Drohung des „rücksichtslosen U-Boot-Krieges" für den Fall der Ablehnung verbinden. Hinsichtlich der Grenzverbesserungen gegen Rußland war er skeptisch, da man j a leider das „Faustpfand" Polen aus der Hand gegeben habe. Gegen Italien wollte er vor allem den angeblich unentbehrlichen Hafen Valona gewinnen, Albanien, mindestens einen Teil Montenegros und den nicht an Bulgarien fallenden Teil Serbiens annektieren also das alte Eroberungsprogramm vom Februar 1916 durchführen, vermehrt um erhebliche „GrenzVerbesserungen" gegen Rumänien (9. 11.). Burian erkundigte sich dann bei Großadmiral Haus nach dem militärischen Wert Valonas und der geplanten Abmachungen über freie Donauschiffahrt und Freiheit der Meere. Haus erklärte das alles für völlig wertlos, ein Protektorat über Albanien oder dessen Annexion für höchst unerwünscht. Nützlich sei allein der Erwerb eines Donauuferstreifens am Eisernen Tor. (Korrespondenz 12. bzw. 15. 11. Alles Wien H.H.St.A. geh. X L V I I / 1 3 - 1 . Die Aufteilung Montenegros zwischen Österreich und Albanien wurde von Burian in sein Programm vom 15. 11. (U.A. 2 Beil. 85, Anl. 2) aufgenommen. 50) Die endgültige Einigung über den Wortlaut erfolgte allerdings erst am 8. 12. Dabei wurden auch bulgarische Wünsche berücksichtigt. 5 1 ) Näheres bei W. Steglich: Bündnissicherung, 81 ff., 126 ff. und oben Kap. 7 Anfang. 52) Exakter aktenmäßiger Nachweis durch W. Steglich: Bündnissicherung, 93. 53) K. E. Birnbaum: Appendix, V I I I , 3, pag. 365. House: Intim. Pap., II, 392 ff. Es ist bemerkenswert, daß House den Grafen Bernstorff den einzigen Diplomaten der kriegführenden Länder nannte, der sich „Sinn für Proportionen" frei von Chauvinismus erhalten habe (p. 398).

S. 347 S. 347

54) £>. M. Smith: Lansing, 146, 149. ) Karl an Burian 5. und 6. 12.: Wien H.H.St.A. Krieg geh. 25 p. Bemerkenswert ist, daß Karl sich auch darüber bestürzt zeigte, daß Wilhelm II. „gänzlich unorientiert ist über die triste Wirtschaftslage Deutschlands und unleugbare Kriegsmüdigkeit seines Volkes". Man sieht, warum es ihm so eilig war mit der Friedensaktion.

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5 6 ) Zimmermann hat am 12. Dezember 1916 vor Presseleuten gesagt, wir hätten mit unserer Friedensnote der Wilsons zuvorkommen wollen und hat das am 4. Juli 1917 im Hauptausschuß des Reichstages wiederholt - beide Male nur zu dem Zweck, die öffentliche Meinung (die der amerikanischen Vermittlung feindlich war) günstig zu stimmen, insbesondere, um Angriffe Stresemann auf das Vorgehen der Regierung abzuwehren. Vor dem Untersuchungsausschuß hat er das am 4. 11. 1919 (U.A. 2 Sten.Ber. S. 201 ff.) selbst als Motiv genannt und seine damaligen Behauptungen widerrufen, ohne dabei zu verschweigen, daß er persönlich der Vermittlung Wilsons skeptischer gegenüberstand als B. H . Objektiv war seine Behauptung von 1916/17 ohne Zweifel falsch, wie unsere Darstellung zeigt. Besonders deutlich werden B. H.s hin- und herschwankende Erwägungen in seinem Schreiben an die OHL vom 27. 11.: Sch.-Gr. I, Nr. 396. Das Ergebnis ist aber: „Zweifellos ist unsere Situation eine bessere, wenn die zu befürchtende Ablehnung aller Verhandlungen durch die Entente einen Appell Wilsons, als wenn sie ein Angebot von uns trifft. Deshalb wird die Unpopularität, der ein Wilsonscher Appell in weiten Kreisen bei uns begegnen wird, für unsere Entschlüsse nicht maßgebend sein dürfen." Nur dürfen wir, heißt es weiter, bei der Unsidierheit der Wilsonschen Entschlüsse, nicht so lange waren, bis der psychologische Moment für ein eigenes Friedensangebot verfehlt ist. Vgl. auch K. E. Bim-

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A n m e r k u n g e n zum 8. Kapitel - I V

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bannt, 242 ff. Natürlich benützt F. Fischer, 378 ff. auch diese Gelegenheit zur (indirekten) Stützung seiner verfehlten These, der Kanzler und das A. A. hätten ernstlich den Frieden gar nicht gesucht, sondern nur den U-Boot-Krieg vorbereiten wollen. 57) Nach einem Bericht Hohenlohes an Buriän vom 11. 12. wären Bethmann und Zimmer- s.349 m a n n gleichwohl recht befriedigt von Pless zurückgekehrt, der letztere besonders stolz d a r a u f , d a ß er unberechtigte Ansprüche Ludendorffs zurückgewiesen hatte. Dieser hatte verlangt, d a ß die Militärattaches k ü n f t i g politische Berichte unkontrolliert durch die Botschafter an den Generalstab schicken d ü r f t e n . H o h e n l o h e zweifelte stark, ob Z i m m e r m a n n wirklich auf die Dauer den „ungeschlachten" General werde zähmen können. Wien H . H . S t . A . Krieg 25 p.

Abschnitt

IV

!) Abschnitt I I I , Anm. 37. ) Vgl. dazu oben Abschn. I I I , A n m . 5 6 . H o h e n l o h e an Burian 1 6 . 1 2 . 1 9 1 6 . Wien H . H . S t . A . Krieg 25 p. 3 ) Bericht des württembergischen Gesandten Moser von einem E m p f a n g bei Graf H e r t ling am 14.12.: Stuttgart H.St.A. E 73, 61 fasz. 12 ¡.Bericht des Gesandtschaftsrates von Schoen über eine Aussprache mit Zimmermann am 2 7 . 1 2 . : München G.St.A. Pol. A. V I I N r . 10-80. 4 ) Wie F. Fischer, 408, behauptet, der S. 412 sogar von „grundsätzlicher Zustimmung" B. H . s spricht, die er aus dessen vertraulich nach Washington gesandtem P r o g r a m m herauslesen will. 5 ) Aus welchem Grunde diese A n f r a g e erfolgte, bleibt unbekannt. Es l ä ß t sich jedoch vermuten, d a ß der Kanzler f ü r die bevorstehenden Kolonialverhandlungen darüber orientiert sein wollte, ob und wie der Besitz des ihm vorschwebenden zentralafrikanischen Kolonialreiches seestrategisch gesichert werden könnte. Übrigens w a r kurz zuvor (20. 11.) die öffentliche Kriegszieldiskussion freigegeben worden. 6 ) Hindenburg an B. H . 2 3 . 1 2 . : Sch.-Gr. I, N r . 435. Zweites P r o g r a m m der Marine (übersandt an B. H . 24. 12.): ebd. N r . 437. Erstes P r o g r a m m u. d. gen. Stücke im A . A . W . K r . 15 geh. Bd. 2, dazu W. Steglich, Bündnissicherung, 155 ff. Nach Bethmanns Bericht über seine Aussprache in Pless am 29. 12. (bei Valentini 244) wollte die O H L Litauen, K u r l a n d und das Gebiet von Brest-Litowsk u n d Byalowiesk an Preußen bringen. 7 ) Bericht Bethmanns, s, vor Anm.! A m 29. 12. hat Zimmermann die O H L auch über die kolonialen Ziele der Regierung (mittelafrikanisches Reich) unterrichtet, über die Ludendorff Auskunft erbeten hatte. D a z u benutzte er wahrscheinlich eine kurze Aufzeichnung Solfs, die f ü r diesen Zweck von B. H . erbeten w a r (W.K. 15 geh. Bd. 2). Solf versicherte z w a r , mit seinen früheren Vorschlägen immer die Zustimmung des Kanzlers gefunden zu haben, b a t aber ausdrücklich, diese eilig entstandene Zusammenfassung als seine Privatarbeit, nicht als P r o g r a m m der Reichsleitung zu behandeln. Tatsächlich geht sie über B. H.s uns bekanntes P r o g r a m m insofern hinaus, als sie Rückgabe sämtlicher früheren Kolonien aus „Prestigegründen" wenigstens zu f o r d e r n wünscht, „ohne Rücksicht, ob das Ziel zu erreichen". Unser afrikanischer Kolonialbesitz soll durch Erwerb f r e m d e r Besitzungen - falls „erreichbar", auch englischer - zu einem „mittelafrikanischem Reich" konsolidiert und nach Westen möglichst weit ausgedehnt werden. Es handelt sich um ziemlich vage formulierte Wünsche, kein festes Verhandlungsprogramm. 8) U.A. 2 Beil. N r . 118, 119. 9 ) Aussage Riezlers vom 2 0 . 1 2 . 1 9 2 1 ungedr. Protokoll im A . A . (Fotokopie X V I I I , 461551-3, mir vorliegend). Ich v e r d a n k e den Hinweis auf diese interessanten Aussagen 2

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Riezlers, aber auch Helfferichs u. a. Mitarbeiter B. H.s der Habilitationsschrift von W. Steglich: Die Friedenspolitik der Mittelmächte 1917-18, Bd. I. Wiesbaden 1964 (mir schon im Ms. vorliegend). 10 S. 356 ) Lloyd George, I I I , 1104. Ähnlich optimistische Mitteilungen über die Absichten der Entente (z. T . offensichtlich falsche Gerüchte) gingen von Rom über Wien nach Berlin. U.A. 2 Beil. N r . 99; Sch.-Gr. I, N r . 445. Ober die vergeblichen Versuche des Vatikans, konkrete Einzelheiten über die deutschen Friedensbedingungen zu erfahren u n d womöglich ein Abkommen mit Belgien zu vermitteln, vgl. W. Steglich, Bündnissicherung 168 f. und Sch.-Gr. I, N r . 470. S. 356 " ) Über die Reaktion des Auslandes berichtete ausführlich nach Mitteilung des A . A . der Gesandte Nieser an Ministerpräsidenten von Dusch seit dem 15. 12.: Karlsruhe GLA, H . und St.A. IV, 37, 403 ff. Pressemeldungen im dt. Gesdi.Kal. (Ed. Putlitz) X X X I I , Bd. 11,2, S. 1189ff., 1192 f., 1194 ff., 1216 ff., 1239f., 1253ff. Lloyd George, I I I , 1096ff. D i e verschiedenen Kundgebungen zur Friedensfrage seit dem 12. 12.1916 in der Sammlung: Officiai Statements of W a r Aims and Peace Proposais December 1916 t o November 1918 ed. I. B. Scott: Washington 1921. ,2 ) A n dieser Besorgnis scheiterte wohl auch Houses Versuch, mit H i l f e eines britischen Attaches in L o n d o n zu erreichen, daß man dort jede öffentliche Erklärung so lange vermied, bis man Näheres über Deutschlands konkrete Friedensziele e r f u h r : House: Int. Pap., I I , 403 ff. 13 S. 357 ) E. Hölzle: G . W . U . 1962, S. 475 ff., auch f ü r das Folgende. ,4 S. 357 ) Vgl. die K r i t i k Iswolskys vom 22. 12. an dem E n t w u r f , der aus Beratungen Cambons, d e Margeries und Berthelots mit ihm selbst und Briand hervorgegangen w a r . Er d ü r f e keine offenen Schmähungen enthalten: Livre noir I I I , 4, S. 117. Englische Einwände: Lloyd George, I I I , 1109 15 S. 358 ) D a s ist jetzt von A. S.Link, Bd. IV, völlig überzeugend nachgewiesen. E r zeigt auch, d a ß Wilson durch das deutsche Friedensangebot nach den Erläuterungen, die ihm B. H . d a z u mitteilen ließ, keineswegs gekränkt, sondern darüber erfreut w a r u n d durchaus wünschte, die Alliierten möchten darauf eingehen.

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16 ) E. Hölzle: G W U 1962, S. 477 f., auf Grund von Berichten Jusserends vom 20., 21. und 22. Dezmber. Es ist nicht zu erkennen, ob der Optimismus Lansings auf Gespräche Houses m i t Bernstorff oder auf Nachrichten aus Berlin zurückgeht; er zeigt aber, w i e stark der Eindruck der Friedensbereitschaft des Auswärtigen Amts auf die Amerikaner gewesen sein m u ß . Sie w u r d e damals der Pariser Regierung auch durch Villalobar bestätigt, s. o. Abschn. I, Anm. 27, blieb aber dort ohne Wirkung B. I. Hendrick: W. H . Page I I , 207. Laming: War Memoirs, 186 ff. Livre Noir, III, 4 p. 120 (Iswolsky 24.12.). House: Int. Pap., I I , 418 (Beratung mit Wilson über Kriegsziele). D. M. Smith: Lansing 150ff. 17 S. 360 ) Jusserand h a t t e vorgeschlagen, diese Beteuerung zu streichen, da es sich doch um eine A r t annihilation politique handle. E r wollte auch von dem bedenklichen principe des nationalités lieber nichts hören: Berichte v o m 29. 12. und 5. 1. bei E. Hölzle: G W U 1962, S. 479. Wir haben es also wohl hier mit spezifisch englischen Ideen zu tun. T e x t der Note bei I. B. Scott, 35, und For.Rel. 1917 Suppl. 1, p. 6 f. Eine aktenmäßige Schilderung der Londoner Verhandlung über die Antwortnoten bietet A.S.Link, IV, cap. 17. Interessant ist sein Nachweis, d a ß die Liste der Friedensbedingungen ungefähr dem entsprach, was Lansing unter der H a n d den Botschaftern der Westmächte suggeriert hatte. 18 S. 361 ) So van Overstraeten in den Carnets de Guerre 121, der auf Mitteilungen hinweist, d i e der König von Philipson und vom Vatikan empfangen habe. Ebd. 123 ff. wichtige Tagebuchnotizen u n d Schreiben Alberts I. Das Buch von A. Chatelle: La P a i x manquée? (1936) spricht von den schon oben (Abschn. I, Anm. 27) erörterten Mitteilungen Villalobars

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u n d gibt S. 8 den Beschluß des belgischen Ministerrats vom 20. 12. wieder. Danach wollte m a n vor allem wissen, was Deutschlands Friedensbedingungen sein würden. Nach ebd. S. 9 h ä t t e Jules Cambon darüber am 24. 2. den Belgiern Mitteilungen gemacht, angeblich aufg r u n d der am 31. 1. an Wilson gesandten deutschen Kriegszielliste, die er von Gerard erfahren haben wollte. Es handelt sich dabei um rein verleumderische Phantasieprudukte. s.361 19) I. B. Scott, a. a. O . 38 f. 20) U.A 2 Beil. N r . 178 = Ludendorff U r k u n d e n , S. 315 f. (23.12.1916). s .362 21 ) Nachrichten aus einer Depesche des österreichischen Botschafters Markgraf Pallavicini s.363 v o m 30. 12. bei K. E. Birnbaum, 257. D a ß auch B. H . selbst solchen Gedanken nicht ganz fernstand, zeigt sein Schreiben an die O H L v o m 4. 1. 1917, U.A. 2 Beil. N r . 119. 22 ) K. E. Birnbaum, 277, stellt die Frage, ob nicht die ablehnende deutsche A n t w o r t auf s.364 Wilsons Friedensnote bewirkt haben könnte, d a ß die A n t w o r t der Entente auf unser Verhandlungsangebot schroffer ausfiel, als man es sonst mit Rücksicht auf Amerika gewagt hätte. Mir scheint das sehr unwahrscheinlich, sowohl nach der Vorgeschichte wie nach dem I n h a l t der Antwort an Deutschland, die in Paris und London sicherlich nicht als besonders schroff, sondern eher als vorsichtig e m p f u n d e n wurde. 23 ) D a f ü r gibt es allerdings noch eine weitere Erklärung. Die offizielle Mitteilung vom g. 365 24. 12., die Antwort der kriegführenden Mächte könnte auch vertraulich erfolgen (s. oben nach Anm. 2), erreichte Berlin erst nach der Absendung der N o t e Zimmermanns vom 26. D a s wird Wilson vermutet haben. Von der durch Lansing erfolgten I n f o r m a t i o n Bernstorffs hat er vielleicht nichts gewußt. Tatsächlich hat Gerard die Mitteilung vom 24. 12. erst am Jahresende überreichen können. 24 ) Sch.-Gr. I N r . 458. Die Kriegszielliste ist zu vergleichen mit dem Schreiben vom s.366 4. 11. an H i n d e n b u r g : U.A. 2 Beil. N r . 78. 25 ) K. E. Birnbaum 299, scheint mir die Chancen einer solchen Zusammenarbeit erheblich s. 367 zu überschätzen, wenn er meint, sie hätte dahin führen können, d a ß der unbeschränkte U Boot-Krieg ohne Kriegseintritt Amerikas s t a t t f a n d oder auch n u r : d a ß B . H . eine solche Möglichkeit ernsthaft erwogen hätte. Ihn f ü r so blind zu halten, m ü ß t e n schon stärkere Beweise vorliegen als die Stellen in Zimmermanns E n t w u r f , die Bernstorff ersuchten, in vertraulichen Gesprächen mit H o u s e zu erkunden, ob es vielleicht eine Möglichkeit d a f ü r gäbe, daß sich Wilson mit einer U-Boot-Blockade der englischen und französischen Küste abfände. Gegen die Streichung dieser Stellen auf Wunsch der O H L hat B. H . doch wohl deshalb nichts eingewandt, weil er von der Nutzlosigkeit solcher Sondierungen überzeugt w a r und ihm die militärischen Gegenargumente einleuchteten. Birnbaum 301, 310 f. 26) Scb.-Gr. I, N r . 463 = U.A. 2 Beil. N r . 53. 27) Näheres darüber bei K. E. Birnbaum, 310 f. 2S) Belege f ü r das Folgende bei K. E. Birnbaum, 276-286, 304-309, 315 ff. D i e meisten finden sich in den Beilagen zu U.A. 2, bei Helfferich und Valentini; Birnbaum ergänzt sie aus den Akten des Marinearchivs. 29 ) S. o. Anm. 20. Dieses Telegramm ging an demselben Tage ab wie das oben (Anm. 6) erörterte neue Kriegszielprogramm der O H L . 30 ) Sehr viel richtiger schätzt diese Wirkungen ein Schreiben des Geheimrats Albert in N e w Y o r k vom 6. N o v e m b e r ein, das Helfferich an Zimmermann am 18. 12. übersandte. U . A . 2 Beil. N r . 173. 31) Lloyd George I I I , 1126, 1130, 1159 ff. Sehr beachtlich sind auch Helfferichs Nachweise der enormen englischen Schiffsverluste und der daraus erwachsenen Schwierigkeiten der Versorgung, die er (nach Veröffentlichungen des brit. Admiralstabs) am 14. 11. 19 dem parlamentarischen Untersuchungsausschuß vortrug. U.A. 2 (Sten.Ber.). 535 ff. Vgl. auch die Memoiren Lord Jellicoes: The Submarine Peril. The Admirality Policy in 1917. 1934

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Anmerkungen zum 8. Kapitel - IV

(dt. Übers. 1938) u n d The Crisis of the N a v a l W a r 1920 (dt. Übers. 1937). Daraus geht u. a. hervor, daß die britische Admiralität die deutsche U-Boot-Gefahr bis Herbst 1916 sehr wenig ernst genommen und für ihre Bekämpfung sehr wenig vorbereitet hat. Spindler Bd. IV 194 ff. gibt die Versenkungsziffern Februar-Mai 1917 unter Berücksichtigung von Aufstellungen der englischen und französischen Marine. Sie liegen natürlich etwas unter den 1917 in Deutschland bekanntgegebenen Zahlen. Anfangs war ein relativ großer Teil der Schiffe nur beschädigt, später sank dieser Anteil stark ab. Vgl. auch u., S. 670, Anm. 14. 32 ) Holtzendorff an Müller 15.12.1916: v. Müller: Kriegstagebücher, 242f. Der Brief zeigt auch persönliche Verstimmung gegen B. H., von dem sich Holtzendorff zugunsten des Generalstabs übergangen glaubte. Zwischen Sdieer und Holtzendorff wurden die Reibungen seit dem Einsetzen des (unerwartet erfolgreichen) „Kreuzerkriegs" der U-Boote immer stärker: ebd. 233 (31.10.); 236 (21.11.). Nach K. E. Birnbaum, 305, hat aber Holtzendorff dem Hochseechef schon am 14. 12. brieflich versprochen, daß der unbeschränkte U-Boot-Krieg am 1 . 2 . 1917 beginnen würde. 33 ) K. E. Birnbaum, 279, nach den Admiralstabsakten. Auch der dort gegebene Bericht über das Gespräch B. H.s mit der O H L vom 29. 12. (S. 283 f.) verwendet neues ungedr. Material. 34 ) K. E. Birnbaum: Appendix, X, p. 370 ff. 35 ) R.A.W., X I , 461, A n m . : Zuschrift Lersners an das Reichsarchiv vom Februar 1927. Danach hätten Bethmann und Helfferich geäußert: „Daß sie in der Frage des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs nachgeben müßten, weil sonst zwischen O H L und Reichsleitung offener Kampf ausbrechen würde. Das würde Kaiser, Volk und Vaterland in ihren Grundfesten zum mindesten erschüttern. Sie als die Schwächeren müßten daher um des inneren Friedens willen ihre eigene bessere Überzeugung hintan setzen." Es ist mir doch sehr zweifelhaft, ob wirklich beide Staatsmänner vor den Ohren des noch sehr jungen Diplomaten eine so offene u n d totale Bereitschaft zur Kapitulation geäußert haben. Helfferich hat so wenig kapituliert, daß er am 10. 1., als die Entscheidung in Pless gegen sein Votum gefallen war, seinen Abschied forderte und sich davon nur mit Mühe wieder abbringen ließ: Helfferich, I I , 409. B. H . hat seinerseits erst am 9 . 1 . kapituliert, wenn er auch schon vorher sicherlich unsicher geworden war.

36 ) S. o. den Text zu A n m . 24-27. Zur Besprechung mit Czernin am 6. 1.1917 vgl. oben S. 280. 37 S. 376 ) Aufzeichnung des bayrischen Gesandtschaftrates von Schoen vom 9 . 1 . 1 9 1 7 über Unterhaltung mit v. Stumm: München G.St.A., Pol. A. V I I 11-10. 38 S.376 ) W.K. 18 geh. Bd. 24 Bl. 19-21 Tel. N r . 145 (L 118730-31) am 4.1. um 2 U h r 30 p . m . durch Kurier zur amerikanischen Botschaft (chiffriert) zur Durchgabe an Bernstorff; dessen Empfangsbestätigung vom 9.1. s. U.A. 2 Beil. N r . 54. B. H . hatte diese noch nicht in Händen, als er am 8. 1. telephonisch Holtzendorff sagte, die N o t e „werde heute abgegeben" (nämlich an Lansing): U.A. 2 Beil. N r . 212.

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S. 377 S. 377 S. 377 S. 378

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) Aufzeichnung v. Schoens, a. a .O., v. Müller, 247. ) Oben zu Anm. 26. 41 ) Protokoll der Besprechung vom 8.1.: U.A. 2 Beil. N r . 212. 42 ) Hindenburg, den Holtzendorff zuerst vorschlug, lehnte ab, weil er im Reichstag nicht reden könne (!) und nannte den hochkonservativen Statthalter von Elsaß-Lothringen, von Dallwitz. Ludendorff bemerkte dazu, man wisse nicht einmal, ob der überhaupt den U-BootKrieg wünsche. Bülow und Tirpitz, wußte Holtzendorff, würde der Kaiser niemals berufen. So blieben die Herren ratlos. 43 S. 378 ) V. Müller, Kriegstagebücher 248, dazu U.A. 2 Beil. N r . 183, 213. Ludendorff, Urkunden 323 ff. Valentini, 144 f. Bethmann Hollweg, II, 137, Helfferich, II, 405 ff. 40

A n m e r k u n g e n z u m 8. Kapitel - V

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44 ) Helfferich II, 405. W a r es Sdieer, dessen Berufung nach Pless der Kanzler am 8. s. 379 telegraphisch erbat? ( v . Müller, 248.) Aber w a r ihm dessen Rolle in der U-Boot-Frage nicht längst bekannt? 45 ) Es ist merkwürdig, d a ß K. E. Birnbaum dies in seinen ausführlichen Erörterungen s. 380 S. 325 ff. übersehen hat, in denen er B. H . vorwirft, er habe versäumt, die Generäle über die neuesten Nachrichten von amerikanischen Vermittlungsabsichten zu informieren. A u d i Bethmann h a t zur Widerlegung des bekannten Schreibens Hindenburgs an Prinz M a x v o m 10.10.1918 (U.A. 2 Sten.Ber. v o m 18.11.1919, S. 759 ff = Ludendorff, Dokumente 345 ff.) in seinem Schreiben an P r i n z M a x vom 23. 10. 1918 (ebd. S. 771) auf die Dokumente v o m 23. 12. u n d 27.12. hingewiesen. 46 ) Nachlaß Roedern (Familienbesitz) Februar 1917. In Valentinis u n d Müllers Berichten s. 381 klingt von solcher „Ergriffenheit" nichts a n ; Müller f a n d Bethmanns V o r t r a g „etwas weitläufig" und wunderte sich besonders über seine Befürchtungen hinsichtlich der Schweiz. 47 ) D a ß der Kaiser am E n d e der Besprechungen in Pless den Kanzler beauftragte, er s.382 solle versuchen, „Amerika evtl. durch besondere Zugeständnisse an die amerikanische P e r sonenschiffahrt aus dem Krieg herauszuhalten" ( f . Müller, 249), d a ß B. H . selbst a m Morgen einen ähnlichen G e d a n k e n geäußert h a t (U.A. 2 Beil. N r . 203) und d a ß selbst Ludendorff mit Holtzendorff am 8. 1. über solche Möglichkeiten gesprochen h a t (ebd. 212), ändert an diesem Wissen nichts. Für B. H . selbst h a t dieser Gedanke sicherlich nicht mehr bedeutet als eine letzte, verzweifelte H o f f n u n g in aussichtslos gewordener Lage. 48 ) Selbst B. H . erwartete am Morgen des 9. 1. vom Kriegseintritt Amerikas anscheinend s.382 nicht mehr als: „Lieferung v o n Lebensmitteln a n England, finanzielle Beihilfe, Entsendung von Flugmaschinen und Freiwilligenkorps." U . A . 2 Beil. N r . 213. 49 ) Betrachtungen, II, 136. S. 383 50

)

Helfferich,

s.384

II, 410 f.

51

) Die Darstellung Valentinis (146), erst im Februar 1918 entstanden, die B. H . auch s.384 nodi am Abend des 9. 1. als ganz überzeugten Gegner des U-Boot-Krieges erscheinen läßt, trägt offenbar eigene Überzeugungen in die des Kanzlers hinein. Abscbnitt

V

i) Abgedr. bei Ludendorff, U r k u n d e n 329ff. Die Denkschrift w a r am 4. 1. zwischen B. H . u n d Holtzendorff endgültig vereinbart w o r d e n (s. o. Abschn. I V , A n m . 38). K o r respondenz A. A.-Bernstorff s. U . A . 2 Beil. N r . 51, 52, 54, 56. Letztes Stück auch bei Ludendorff 328. 2) Nach A. S. Link, IV, cap. 17. 3) Karl Helfferich, II, 401. 4 ) House, Int.Pap., I I , 415. E. H. Buehrig, W . Wilson, 55 (nach einem Tagebucheintrag Wilsons) u. 76 ff. (für das Folgende). 5) For.Rel. Lansing Papers, I (1938), 579ff. D a z u H . P a g e s Bericht v o m 5 . 1 . 1 9 1 7 : A n frage, ob Amerika gegen verstärkte Bewaffnung der englischen Schiffe Einwände haben w ü r d e : For.Rel. 1917, Suppl. 1, p. 546ff. 6) Schon seit seiner großen Denkschrift vom 2 9 . 2 . 1 9 1 6 (s. o. cap. 5, I I I zu A n m . 35) und verstärkt seit Spätherbst 1916 (s. o. Abschn. I I I - I V ) . 7 ) Lansing Papers I, 581 ff. D e r Brief w a r noch nicht zu Ende geschrieben, als Barnstorff bei Lansing erschien und die Ankündigung des unbeschränkten U-Boot-Kriegs überreichte! Das beigefügte große M e m o r a n d u m des Staatssekretärs zeigt im übrigen, d a ß er völkerrechtlich-moralisch so gut wie jede Art von Waffengebrauch der Handelsschiffe zu recht-

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Anmerkungen zum 8. Kapitel - V

fertigen suchte. 4 Kanonen von 15-cm-Kaliber in beliebiger Aufstellung auf dem Schiff hielt er für durchaus vertretbar. 8 ) Nach englischen Berechnungen (bei E. H. Buehrig, S. 387 40) wurden 1916 über 300 bewaffnete englische Schiffe angegriffen, von denen vier Fünftel dem Angriff (infolge des Waffengebrauchs) entkam. 9 ) Hohenlohe an Czernin 12. und 1 3 . 1 . : Czernin, S. 387 Im Weltkrieg (1919), 153 ff. 10 s. 388 ) A. S. Link, a. a. O., dazu E. Höhle, G.W.U. 1962, 477 f. ) S. o. Abschn. IV, zu Anm. 26. ) House an Wilson 1 5 . 1 . 1 9 1 7 . Arthur S. Link hatte die große Freundlichkeit, mir Fotokopien der in den Int.Pap. merkwürdigerweise von Seymour ausgelassenen Schreiben Houses an Wilson vom 15., 16., 17., 18., 19., 20. und 26. 1. 1917 und zweier Briefe von Bernstorff an House vom 18. und 20.1. zu übersenden. Sie stammen alle aus dem WilsonNachlaß in die Congress-Library in Washington. 1 3 ) Schreiben vom 18.: S. 389 „They had proposed submitting the question of peace to arbitration, or, as an alternative, that you submit proposals yourself for a conference." Bd. IV, cap. 17) war er jetzt empört über die sture Kampfhaltung der Engländer und die S. 388 S. 389

5.389

5.390 5.390

S. 391 5.391

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1 4 ) Nach einer tagebuchartigen Niederschrift vom 18. (wiedergegeben von A.S.Link, Bd. IV, cap. 17) war er jetzt empört über die sture Kampfhaltung der Engländer und die „horribeln" Kriegsziele der Franzosen. Jetzt müsse der Präsident die Alliierten zum Frieden geradezu zwingen, zu ihrem eigenen Besten, um neue Schlächtereien von Menschen zu verhindern. Er entwickelte auch schon Gedanken eines gerechten Friedens. So müsse ÖsterreichUngarn ebenso einen guten Seehafen haben wie Rußland. Als House mit Wilson am 3. Januar beriet, welches Friedensprogramm der Präsident in seiner (schon damals geplanten) Senatsrede entwickeln könnte, kamen sie auf folgende Punkte: freies Polen, über das sich Deutschland und Rußland ja schon einig wären, Wiederherstellung Belgiens und Serbiens, Vertreibung der Türken aus Europa, womöglich Zugang Rußlands zu einem „warmen Seehafen". Über Elsaß-Lothringen waren beide noch unsicher. House, Int.Pap. I I , 418. Sollte also Bernstorff instruktionsgemäß in seinem Gespräch erwähnt haben (House meldet davon nichts), daß die elsaß-lothringische Frage für Deutschland „indiskutabel" sei, so könnte das bei House auf ein gewisses Verständnis gestoßen sein. 15

) Bernstorff an A . A . 1 6 . 1 . 1 9 1 7 , eing. 2 2 . 1 . : U.A. 2 Beil. Nr. 59 = Sch.-Gr. Nr. 469.

) In einem Brief von 20. an Wilson meldete er, trotz allem habe er den Glauben noch nicht aufgegeben, daß at the moment liberal elements have control of the German Government, allerdings sei er mißtrauisch, ob nicht der Kaiser mit der russischen Autokratie heimlich im Bunde sei (!) oder die Deutschen bloß manövrierten, um hinter dem Tarnschild der Friedfertigkeit ihren unbeschränkten U-Boot-Krieg vorzubereiten und die Verantwortung dafür abzuschieben. Im übrigen riet er den Engländern (durch den ihm nahestehenden Diplomaten Wiseman), sich zu einem Friedenskongreß zu erbieten, falls die Deutschen sich verpflichteten, unterdessen den U-Boot-Krieg einzustellen. Einmal in Gang gesetzt, würde der Friedenskongreß nicht ohne Friedensschluß wieder aufhören können. 16

) Sdo.-Gr. I, Nr. 472. ) E. R. Mays Behauptung p. 369: „the speach was adressed only to Germany" halte ich für irrig. 19 ) Wortlaut der Wilsonschen Rede bei I. B. Scott, S. 392 a. a. O., in Ludewdorff, Urkunden, 330 ff., bei Bernstorff, Deutschland undAmerika, 351 ff. auch in den „Geschichtskalendern".Man hat in Deutschland Wilsons Forderung nach „freiem Zugang zum Meer" für alle Staaten offenbar mißverstanden. Nach House, Int.Pap. II, 416 ff. und Wilsons Auftrag an Page vom 8 . 2 . (For.Rel. 1917, Suppl. 1, p. 40) ergibt sich, daß damit nicht zuerst die Er17 ls

A n m e r k u n g e n z u m 8. K a p i t e l - V

659

o b e r u n g W e s t p r e u ß e n s f ü r Polen gemeint w a r , s o n d e r n Z u g a n g R u ß l a n d s z u m M i t t e l m e e r u n d Österreichs z u r A d r i a (Triest). 20 ) N a c h w e i s bei A. S. Link selbst in cap. 16. 21 ) V g l . d a z u den interessanten A u f s a t z v o n O b e r s t D r . Meier-Welcker, D i e militärischen P l a n u n g e n u n d ihre Ergebnisse 1917/18 in W e l t w e n d e 1917, ed. H. Rössler, 1964. 22 ) Ludendorj U r k u n d e n 336. D i e O H L w u r d e l a u f e n d über die K o r r e s p o n d e n z mit BernstorfT i n f o r m i e r t . 23 ) Czcrnin 153 ff., 156 ff., 161 ff. A k t e n n o t i z e n des Wiener A u ß e n m i n i s t e r i u m s 14. u n d 18. 1., K o r r e s p o n d e n z C z e r n i n - H o h e n l o h e 12., 14., 15., 2 3 . 1 . : Wien H . H . S t . A . X L V I I geh. 3 - 1 5 . S i t z u n g s p r o t o k o l l des gemeinsamen Ministerrats v o m 22. 1.: ebd. X X X X 293 N r . 532. 24 ) B a y r . P r o t o k o l l der Sitzung des Bundesratsausschusses v o m 1 6 . 1 . 1 9 1 7 : München G.St.A. P o l . A . V I I R . N r . 58. E r g ä n z e n d d e r Bericht B. H . s an V a l e n t i n i v o m 2 2 . 1 . : Valentini 246 f. H e r t l i n g h a t sich nach d e r Rückkehr nach München zu d e m österreichischen Geschäftsträger G r a f e n Brusselle sehr t r ü b über den V e r l a u f der Sitzung g e ä u ß e r t : u n b e d i n g t sei für den verschärften U - B o o t - K r i e g eigentlich n u r die M a r i n e : Brusselle an C z e r n i n 19. 1.: W i e n H . H . S t . A . K r i e g X L V I I geh. 3 - 1 5 . 25 ) Valentini 246 f. (an V a l e n t i n i 22. 1.) Westarp I I , 152 ff. W e s t a r p berichtet, d a ß er bis 30. 1. nicht orientiert, sondern n u r gebeten w u r d e , das Geschrei der k o n s e r v a t i v e n Presse nach dem U - B o o t - K r i e g v o r l ä u f i g a b z u s t o p p e n , u m m i t A m e r i k a schwebende V e r h a n d lungen nicht z u stören. B. H w i r d seinen R a d i k a l i s m u s gefürchtet h a b e n , d e r ja d a n n auch a m 30. d a r i n z u m Ausdruck k a m , d a ß ihm die A n k ü n d i g u n g des unbeschränkten U - B o o t Krieges noch nicht genügte, weil sich d a r i n ein A n g e b o t z u r Schonung einzelner a m e r i k a nischer P a s s a g i e r d a m p f e r f a n d . 2 ) S. o., S. 391. U . A . 2 Beil. N r . 67 = Scb.-Gr. I, N r . 472. 27 ) D i e K e n n t n i s dieses wichtigen Briefes sowie die des vollständigen, (in den I n t . P a p . I I , 432 n u r sehr unvollständig abgedruckten) W o r t l a u t s v o n Houses Bericht v o m 26. v e r d a n k e ich ebenfalls der Liebenswürdigkeit v o n A. S.Link. Wilsons Brief befindet sich im H o u s e - N a c h l a ß . E r ist auch v o n E. R. May 369 b e n u t z t w o r d e n . D e r Bericht v o n Bernstorff v o m 27. 1. findet sich U.A. 2, Beil. N r . 69 = Sch.-Gr. I, N r . 475. 28 ) „ A f t e r much discussion it w a s f i n a l l y decided, a t his suggestion, t h a t he send a despatch t o m o r r o w to his g o v e r n m e n t telling t h e m t h a t y o u h a d requested a reply f r o m t h e m giving definite terms, and t h a t y o u t h o u g h t if their terms w e r e m o d e r a t e , there w a s reason t o believe something might be d o n e t o w a r d s b r i n g i n g a b o u t a n e a r l y peace. H e is t o suggest t h e m t h a t the terms i n c l u d e complete e v a c u a t i o n of Belgium a n d France. I n a d d i t i o n to this he is suggesting t h a t t h e y m a k e a n offer t o go into a p e a c e conference o n the basis of y o u r address to t h e S e n a t e " (nicht in I n t . P a p . I I , 432). D e r Bericht schließt m i t der Bitte, etwaige A b ä n d e r u n g s w ü n s c h e m ö g e Wilson noch am selben A b e n d „ w i r e in code". D a s machte die (theoretisch bestehende) Möglichkeit, der P r ä s i d e n t h a b e seine briefliche I n s t r u k t i o n v o m 24. telefonisch ergänzt, recht unwahrscheinlich. 29

) R. Laming W a r Memoirs 208 (Aufzeichnung v o m 28. 1.). ) W. Steglidj Bündnissicherung 177 u n d A n m . 556. E r beruft sich dabei nicht auf das neueste T e l e g r a m m Bernstorffs, s o n d e r n auf das oben ( A n m . 17) schon e r ö r t e r t e v o m 23., das den Vorschlag enthielt, die Bedingungen als j e t z t ü b e r h o l t zu bezeichnen. 31 ) A m 2 3 . 1 0 . u n d 1 8 . 1 1 . v o r d e m p a r l a m e n t a r i s c h e n Untersuchungsausschuß: U . A . 2 Sten.Ber. 154 b z w . 769. D a z u Bethmann Hollweg I I , 160 ff. u n d Helfjerich I I , 418 ff. 32 ) Z u den V o r g ä n g e n in Pless a m 29. ist besonders wichtig die Aussage B. H . s a m 1 8 . 1 1 . 1 9 1 9 i m U . A 2 Sten.Ber. 755. D a n a c h w a r die A b l e h n u n g des Aufschubs durch H o l t z e n d o r f f so kategorisch, d a ß B. H . seinen A n t r a g d e m Kaiser nicht m e h r vorgelegt h a t . 33) Westarp I I , 158. Tirpitz: E r i n n e r u n g e n , 385. 30

S. 393 s. 393 5.394 s.395

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S. 401 S. 402

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S. 406 3.407

5.408 5.408

5.409 S. 410

5.410 S.410 s ]4ii

S. 4u s. 411

Anmerkungen zum 8. Kapitel - V

3 4 ) Zimmermann gab im Bundesrat die Zahl der einsatzbereiten U-Boote mit 150 (120 große, 30 kleine) an, dazu 120 im Bau; Capelle nannte gleich darauf im Reichstagsausschuß nur je 100 als einsatzbereit und im Bau! Beides war im Blick auf die Stationen im Atlantisdien Ozean übertrieben. 3 5 ) So hat er sich selbst im Parlamentarischen Untersuchungsausschuß zu rechtfertigen gesucht: U.A. 2 Sten.Ber. 546 ff. (14.11.1919). 3 6 ) Es ist selbstverständlich, daß F. Fischer 414 f. diese Unbestimmtheit dazu benutzt, um so ziemlich das ganze „Septemberprogramm" B. H.s hineinzulesen und daran die „Kontinuität" von dessen Machtpolitik zu demonstrieren. 3 7 ) Berichte Lerchenfelds vom 31. 1. und 1. 2. 1917 an Hertling: München G.St.A. Pol.A. V I I 11/24 bzw. 11/28 (über Bundesratssitzung und Hauptausschuß). Bericht Niesers an Dusch vom 31. 1. 1917: Karlsruhe GLA., Gesandtschaft Berlin, fasc. 38, 84-92. Dazu Westarp II, 153 ff. Ph. Scheidemann: Zusammenbruch 45 ff. 38 ) Ch. Seymour 201. Außer Seymour sind für die amerikanische Politik vom Februar bis April auch E. R. May Kap. X I X und E. H. Buehrig, D. M. Smith, die Lansing-Memoiren und Lansingpapers, der Foreign Relations 1917 Suppl. 1 und House II herangezogen. Der 4. Band der großen Wilson-Biographie von A. S. Link bringt noch weitere Einzelheiten. 3 9 ) Lansing War Memoirs 199 ff. 4°) Korrespondenz Wien-Berlin 5.-8.2. und 1 1 . 2 . 1 9 1 7 : U.A. 2 Beil. Nr. 215-18, 222, 23. Czernin mußte aber versprechen, den Botschafter Tarnowski sofort abzuberufen, wenn Amerika uns den Krieg erklären sollte, was dann auch im April geschehen ist; dagegen weigerte er sich, ihn zu Protesten gegen Wilsons Politik benutzen zu lassen. Vgl. dazu auch Czernin, Im Weltkrieg 171 ff. 4 1 ) Wilson an Page 8.2.1917: For. Rel. 1917 Suppl. 1 p. 40. Lansing stimmte dieser Aktion am 10. lebhaft zu: F. R. Lansing Papers I, 596. 4 2 ) Wilson hat in einem Kreuzverhör vor dem Senat am 19. 8. 1919 versichert: er habe das ganze Teufelsnetz der geheimen Kriegszielverträge der Alliierten erst auf der Versailler Friedenskonferenz kennengelernt. Ch. Seymour 267 f. weist aber nach, daß er spätestens am 28. 4. 1917 im Gespräch mit Balfour darüber unterrichtet wurde. Die Grundzüge des Programms enthielt ja auch schon die Antwortnote der Entente vom 10. 1. 1917. 4 3 ) Nach seinen Memoiren 192 glaubte er, das Angebot komme von russischer Seite. Seine Note vom 5. 3.1917 ebd. S. 381 ff. 4 4 ) Korrespondenz Lansings mit Penfield und Page 5. 2., 6. 2., 8. 2., 10. 2., 20. 2., 21.2., 22.2., 27.2., 3.3., 13.3. in For.Rel. 1917 Suppl. 1 p. 38 ff., p. 55 ff., p. 62-65. In seinen Memoiren verschweigt Czernin den Inhalt seiner Mitteilungen vom 13. 3. betr. geheimes Friedensgespräch. 4 5 ) F- R- Lansing Papers I, 24 f. (17. 3. 1917) 4 6 ) Czernin 193. 4 7 ) For.Rel. 1917 Suppl. 1, 161, 178, 186. Deutscher Text der großen Denkschrift (mit dem Datum 5. 3.) bei Czernin als Anhang II, S. 381 ff. Sie wurde auch der Presse mit dem gleichen Datum übergeben: Schultheis: Geschichtskalender 1917, I, 572 ff. Sie wurde trotz der vom deutschen Botschafter Graf Wedel geäußerten Bedenken (U. A. 2 Beil. 230) Penfield überreicht. 4 8 ) Die For. Rel., sehr vollständig in der Wiedergabe der Wiener Korrespondenz, enthalten nichts davon. Schriftwechsel mit dem Deutschen Hauptquartiers: U.A. 2 Beil. Nr. 231 bis 233. 49) U.A. 2 Beil. Nr. 219, 221, 227, 228: 8.-21.2.1917. I. B. Scott 72 f. Ausführliche Darstellung bei A. S. Link IV, cap. 18. Bernstorff hatte dabei insgeheim seine Hand im Spiel, getarnt durch einen Journalisten. Am 10. 12. telegraphierte er selbst (durch Ritter) an das

Anmerkungen zum 9. Kapitel - I

661

A. A., Wilson wolle nur Schutz der amerikanischen Schiffahrt, wir könnten durch Schonung amerikanischer Schiffe den Kriegseintritt Amerikas noch lange hinauszögern, könnten auch jederzeit über die österreichische oder schweizerische Botschaft darüber in Verhandlung treten. Am 12. gab Lansing auf die vom Gesandten Ritter übermittelte Anregung eine ablehnende Antwort, die sofort der Presse bekanntgegeben wurde und in der deutschen Presse einen Sturm der Empörung über den Anschein deutscher Kompromißbereitschaft weckte. 5 0 ) Ausführliche Behandlung in Lamings War Memoirs 226 ff. und bei B. I. Hendrick: Life and Letters of W. H. Page I I I (1926) 330 ff. Lansing ist erstaunt, daß Zimmermann die Echtheit sofort zugab, statt durch Forderung der authentischen Beweise seine Gegner in Verlegenheit zu bringen. In minutiöser Vorführung aller Details ist die Affäre behandelt von Barbara W. Tuchman: The Zimmermann Telegramm (1959) 244 S. Das Telegramm war auf drei Wegen an Bernstorff gesandt und auf allen dreien in britische Hände gelangt. 5 1 ) Am 7. war er, schwer erkältet, für einige Tage bettlägerig geworden. 52) An die Senatoren Matthew u. Hall 31. 3.1917, bei A. S. Link I V cap. 20. 5 3 ) Sehr anschauliche Schilderung bei Ch. Seymour cap. 6: Diplomatie Speech of CoOrdination.

54) 7. 4.1917. E. H. Buehrig 149. 55) U.A. 2 Sten. Ber. 23. 10.1919, S. 106. 5 6 ) Es ist sehr bemerkenswert, was A.S.Link I V cap. 19 aus französischen Akten ermittelt hat: daß man im Pariser Außenministerium u. Kabinett im März 1917 schwerste Sorgen hatte, Amerikas Eintritt in den Krieg könnte ihm später ein Übergewicht verschaffen bei den Friedensverhandlungen. Es würde dann äußerst schwierig sein, den Präsidenten von seinen Ideen eines „Friedens ohne Sieg" und „politisches und wirtschaftliches Gleichgewicht wie vor dem Krieg" abzubringen. „Notgedrungen" müsse man trotzdem Amerikas Kriegshilfe zu erreichen suchen; aber es werde eine schwere Aufgabe der französischen Diplomatie sein, die amerikanische Politik mit den Plänen und Interessen der Alliierten in Ubereinstimmung zu bringen. So u. a. ein von Louis Aubert verfaßtes Memorandum, das die Probleme von Versailles 1919 schon vorausgesehen zu haben scheint. 57) E. H. Buehrig 265, nach I. L. Heaton: Cobb of the World, 268ff. Cobb glaubte sich zu erinnern, das Gespräch habe kurz vor der Kongreßrede stattgefunden, aber A. S. Link weist nach, daß es nur am 19. 3. stattgefunden haben kann.

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A N M E R K U N G E N ZUM 9. K A P I T E L Abschnitt

I

') Valentini 146 ff. Nach dem Briefwechsel ebd. 245 ff. und nach v. Müller 250 suchte s. 418 die Kaiserin, die v. Müller Bethmanns „schlimmste Feindin" nennt, ihren Gemahl brieflich von dem körperlichen „Zusammenbruch" des Kanzlers zu überzeugen, um (zunächst) dessen Beurlaubung zu erreichen. Bethmann Hollweg witterte indessen die Intrigue und ließ sich nicht darauf ein. 2 v. Stein Erlebnisse, 133. S.418 3 ) Oberst Bauer: Der große Krieg in Feld und Heimat 123. Bei der S. 134ff. abge- s.418 druckten Denkschrift, auf die wir bald noch zurückkommen müssen, scheint es sich um ein anderes Stüde zu handeln. Unter den massenhaften Zuschriften zur Kritik Bethmanns, die der Nachlaß Bauers (B. A. Koblenz) enthält, findet sich auch ein Bericht des Kapitäns Graßhoff vom Admiralstab der Marine (Polit. Abt.) vom 3 . 2 . 1917 an Bauer, der neues Licht wirft auf die von E. Deuerlein im Hist. Jb. 70 (1951) 160 ff. geschilderte „Kontro-

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Anmerkungen zum 9. Kapitel - 1

verse" zwischen Hertling und der O H L im Februar/März 1917. Graßhoff teilt darin mit, er habe von Graf Preysing die kritischen Äußerungen erfahren, die Hertling im Finanzausschuß der bayrischen Kammer über die Politik der O H L in der Polenfrage und in der Frage der belgischen Arbeiterdeportationen vertraulich gemacht hatte. Graßhoff empfahl, mit Preysing selbst darüber zu sprechen, um dann „einmal durchgreifen zu können". Beigelegt w a r ein Privatbrief des Grafen Bothmer an Preysing, der am 30.1. von einem Herrn aus der Umgebung B. Hs erfahren hatte, daß dieser immer noch am Erfolg des U-BootKrieges zweifele, und sich darüber entrüstete. Preysing war also der Denunziant, den man in München vergeblich suchte. Am 3.2. berichtete Graßhoff von angeblichen weiteren Äußerungen Hertlings: er hoffe, daß der U-Boot-Krieg Wilson zur Friedensvermittlung drängen werde. S. 419

4 ) H. Wolfe: Labour Supply and Regulation. 1923 (Teil des Carnegie Werkes, engl. Serie). Das Buch bringt auch den Wortlaut der einschlägigen Gesetze. Deren Auswirkung beleuchtet eingehend und interessant Lloyd George IV, p. 1925 ff. Es zeigt sich, daß 1917 das ganze System zu versagen drohte (große, bedrohliche Streikwellen!), aber geschickt umgebaut wurde. Das französische Gegenstück zu Wolfe, A. Thomas L'Organisation des industries de guerre (in der franz-Serie angekündigt) scheint nicht erschienen zu sein. 5

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) O H L an Kriegsministerium 31.8.1919: Ludendorff: Urkunden 63 f. Ebd. folgt die weitere Korrespondenz der O H L zum Hindenburgprogramm bis zum 26.11. Die Akten der Reichskanzlei (einschl. der zugehörigen Beratungen des preußischen Staatsministeriums) liegen mir in Auszügen aus dem Z. A. Potsdam, R. K . VII 9-10 vor. Dazu der Nachlaß Bauers und Wilds, B. A. Koblenz. Vgl. ferner R.A.W. X I , 32 ff. Ferner: W. Groener: Lebenserinnerungen 339 ff. E. v. Wrisberg: Erinnerungen, Bd. 2: Heer und Heimat, bes. 124 ff. und Anl. 3 (229 ff.). Bd. 3: Wehr und Waffen 1914-18, 141 ff. (viel Tatsachenmaterial). K. Helffericb II, 249 ff. Dr. von Stein: Erlebnisse und Betrachtungen aus der Zeit des Weltkrieges 1919. Die militärischen, politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen des Hilfsdienstgesetzes sind noch nicht gründlich untersucht. Das Buch von P. Umbreit: Deutsche Gewerkschaften im Kriege, beschränkt sich im wesentlichen auf die H a l t u n g der Gewerkschaften. M. W. ist eine größere Monographie demnächst von amerikanischer Seite zu erwarten.

S. 422

6 ) v. Wrisberg: Heer und Heimat 232 ff. Vgl. die dort in der Anlage abgedruckten Weisungen an die Stellvertretenden Generalkommandos. Die deutschen Gewerkschaften hatten im August 1914 beschlossen, während des Krieges keine Streikunterstützung zu zahlen. Trotzdem blieben die Streiks nicht aus und stiegen im Hungerjahr 1916 bis auf 240 (Wrisberg a. a. O., 116), was man aber im Kriegsministerium immer noch „verschwindend wenig" im Vergleich mit Friedenszeiten fand.

S.422

7

) Wild nahm an, daß auch B. H . an seinem Sturz mitgewirkt habe, da er dem Kanzler sowohl in der U-Boot-Frage wie in der des Friedensangebots scharf opponierte: Nachlaß Wild, B. A. Koblenz, bes. Brief an Prof. Zorn v. 1. 1. 1917. 8 S.422 ) i>- Stein 83, W. Groener 347. 9 5.422 ) Ein Beispiel d a f ü r bietet v. Wrisberg: Heer und Heimat 101. Für v. Stein bezeichnend ist, daß er (nach seinen Memoiren 109) vorgeschlagen hat, zum Ausgleich zwischen Front und Heimat die Arbeiter in wehrfähigem Alter mit Soldatensold zu entlohnen! Am Kriegsamt und Hilfsdienstgesetz übt er in seinen Memoiren Kritik. 10 5.423 ) Undatierte Aufzeichnung, zwischen 13. und 20. 9. entstanden: Z. A. Potsdam a. a. O. B. H . gab am 17. 9. zunächst einen Zwischenbescheid an die O H L , in dem er eine „Prüfung" der Vorschläge vom 13. zusagte, aber auch betonte, d a ß ein Teil der darin angeschnittenen Fragen nur zur Zuständigkeit des Kanzlers gehöre. Ludendorffs Antwort vom 20. war auffallend höflich, sprach nur von „Anregungen", nicht Forderungen der O H L und erkannte

A n m e r k u n g e n z u m 9. K a p i t e l - 1

663

an, d a ß abgesehen v o n einzelnen militärischen M a ß n a h m e n alle a n d e r e n Fragen in d i e Z u s t ä n d i g k e i t des K a n z l e r s gehörten. E r stellte sich „mit a u f r i c h t i g e m D a n k " f ü r dessen grundsätzliche Bereitwilligkeit zu gemeinsamen B e r a t u n g e n jederzeit z u r V e r f ü g u n g . ( E r w a r w o h l der H a l t u n g des Kaisers noch nicht sicher.) " ) R . A . W . X I , 37. s. 424 12) M i t welchem naiven D i l e t t a n t i s m u s v o n der O H L H o c h s c h u l f r a g e n b e h a n d e l t w u r - s.424 den, zeigt u . a . ein Schreiben H i n d e n b u r g s an den K a n z l e r v o m 2 4 . 1 . 1 9 1 8 , in d e m gef o r d e r t w i r d , das S t u d i u m v o n A u s l ä n d e r n (mit A u s n a h m e „sicherer" V e r b ü n d e t e r ) a n deutschen Hochschulen u n d I n d u s t r i e s t ä t t e n k ü n f t i g z u untersagen. D e r deutsche technische V o r s p r u n g w ä r e in diesem K r i e g e noch g r ö ß e r gewesen, h ä t t e n w i r nicht v o r h e r A u s l ä n d e r an den Ergebnissen unserer Wissenschaft teilhaben lassen. U n t e r s t a a t s s e k r e t ä r v. R a d o w i t z v e r m e r k t e d a z u : „System Chinesische M a u e r " , ließ aber Abschrift d e m p r e u ß . K u l t u s ministerium, Kriegsministerium u n d Reichswirtschaftsamt zugehen, die natürlich alle a b lehnend a n t w o r t e t e n , das l e t z t g e n a n n t e u n t e r H i n w e i s d a r a u f , d a ß die Blüte des deutschen A u ß e n h a n d e l s nicht z u l e t z t d e m A u s l ä n d e r s t u d i u m v e r d a n k t w e r d e . Z . A. P o t s d a m , R . K . V I I , 11. 13 ) Diesen Gesichtspunkt h o b B. H . in seinem A n t w o r t s d i r e i b e n ( v o m 1 5 . 1 0 ) auf d e n s.426 ihm a m 10. 10. durch G r o e n e r überbrachten Vorschlag der O H L h e r v o r u n d z w a r ( w o h l bedachter Weise) in der F o r m , d a ß er e r k l ä r t e : w e n n das „ K r i e g s a m t " Befehlsgewalt ü b e r die stellvertretenden G e n e r a l k o m m a n d o s erhielte, w ü r d e i n d i r e k t d i e kaiserliche K o m m a n d o g e w a l t der V e r a n t w o r t l i c h k e i t des K a n z l e r s (die ja auch das Kriegsamt umfasse) u n d d a m i t d e r E i n w i r k u n g des Reichstags u n t e r w o r f e n w e r d e n . H i n d e n b u r g stimmte a m 21. im allgemeinen zu u n d legte einen a b g e ä n d e r t e n E n t w u r f d e r A K O v o r , die d a n n a m 1. 11. erlassen w u r d e . Z . A . P o t s d a m , R . K . V I I , 9. 1 4 ) v. Wrisberg: W e h r u n d W a f f e n 141 ff.; d a z u vgl. aber d i e scharfe K r i t i k G r o e n e r s an der schwerfälligen O r g a n i s a t i o n u n d Arbeitsweise des Kriegsministeriums in seinen Lebenserinnerungen, bes. 553 (16. 9 . 1 9 1 6 ) . 15) Helfferich I I , 277. 16 ) Dieser Gegensatz v o n P o p u l a r i t ä t u n d U n p o p u l a r i t ä t k o m m t in d e m Buch v o n Umbreit sehr stark z u m Ausdruck, auch in V e r t r a u e n s k u n d g e b u n g e n der Gewerkschaften für Groener. 1 7 ) Z . A . P o t s d a m a . a . O . ( 2 6 . 1 0 . ) . D a z u M e l d u n g e n H o h e n l o h e s a n Burian v o m 2 7 . und 28. 1. über ein Gespräch mit B. H . W i e n e r H . H . S t . A . K r i e g 4a. H o h e n l o h e b e k l a g t e die rasch z u n e h m e n d e A b h ä n g i g k e i t Wilhelms I I . v o n der O H L . ,s ) Z . A. P o t s d a m , R . K . V I I , ebd. auch das Folgende. Telegrammwechsel mit d e m K a i s e r auch A. A. W . K r . geh. B d . 34. l ' ) E i n e vorläufige v e r t r a u l i c h e I n f o r m a t i o n der s t i m m f ü h r e n d e n Bundesratsmicglieder durch Helfferich u n d G r o e n e r f a n d schon am 9. 11. s t a t t . (Bericht Niesers in G L A K a r l s r u h e I V - 3 7 , 310 ff.) Die D e b a t t e e r g a b keinen Widerspruch. 20 ) Ü b e r die W i r k u n g vgl. oben K a p . 7 A n m . 10. 21) 1 7 . 1 1 . 1 9 1 6 . Z . A . P o t s d a m a. a. O., auch im N a c h l a ß B a u e r B. A . 22 ) 2 5 . 1 1 . an G r ü n a u u n d V a l e n t i n i : ebd. 23 ) A b d r u c k des Gesetzes u n d des zugehörigen A u f r u f s der G e w e r k s c h a f t e n bei P. Umbreit, A n h a n g 2, S. 239 ff. 24 ) W . Groener, a . a . O . , 363 f. P. Umbreit, a . a . O . , 255 ff.: F o r d e r u n g e n des Vereins deutscher Eisen- u n d Stahlindustrieller im A u g u s t 1917. - A m 1 . 3 . 1 9 1 7 w a n d t e sich d e r G e n e r a l d i r e k t o r der deutschen W a f f e n - u n d M u n i t i o n s f a b r i k e n in Berlin, v o n G o n t a r d t , an L u d e n d o r f f mit der Beschwerde, das Hilfsdienstgesetz gebe d e n A r b e i t e r n H a n d h a b e n zur S a b o t a g e der Lieferungen. D i e Z u s t ä n d e in d e n Berliner F a b r i k e n w ä r e n schlimmer

s.426

S.427 s.428

s.428

s.429 s. 430

S.430 s.430 S.430 s.431 S.432

664

Anmerkungen zum 9. Kapitel - I

geworden als vorher. Er habe sich auch an das Oberkommando der Marken gewendet. Die Halbheit der behördlichen Maßnahmen sei unerträglich. Das in Abschrift beigelegte Schreiben an das Oberkommando der Marken fordert 1. die Fabriken und ihre Arbeiterschaft unter Militäraufsicht zu stellen; 2. Verbot der Arbeitsverweigerung bei schweren Freiheitsstrafen; 3. Festlegung einer Mindestarbeitszeit und Regelung derselben nach den Bedürfnissen der Heeresverwaltung; 4. Festsetzung von Maximallöhnen; 5. Aufhebung der Freizügigkeit. Würden diese Maßnahmen nicht getroffen, so lehne die Fabrikleitung jede Verantwortung für Nichterfüllung der vertraglichen Verpflichtung auf Ablieferung von Waffen ab. Dieses Schreiben erging nicht lange vor dem Ausbruch des ersten größeren Streiks in den Berliner Waffen- und Munitionsfabriken (im April). Groener hielt diesen Streik im wesentlichen f ü r eine Demonstration „armseliger, von Hunger und Kälte geplagter Menschen", Folge einer neuerlichen Kürzung der Brotration (Lebenserinnerungen 362). Er veröffentlichte dazu ein an ihn gerichtetes öffentliches Schreiben Hindenburgs vom 19. 4., der auf die Dringlichkeit des Kriegsbedarfs hinwies, zusammen mit einem schneidigen Aufruf, der mit den Worten schloß: „Ein Hundsfott, wer streikt, so lange unsere Heere vor dem Feinde stehen." Die Gewerkschaften antworteten mit einer Vertrauenskundgebung f ü r ihn und mit politischen Aufrufen an die Arbeiter, die auch Erfolg hatten. (A. Schultheis: Geschichtskalender 1917, Bd. I, 422 bzw. 460 f. Putlitz: Geschichtskalender VI, 2, 785 ff.) Die O H L war aber anderer Ansicht als Groener. Am 9. 3. hatte sie die Zuschrift Gontardts und eine weitere Krupps mit folgendem Begleitschreiben an den Kriegsminister und (in Abschrift) an den Kanzler übersandt: die inneren Zustände sind sehr bedrohlich geworden f ü r den Geist des Heeres. Der einfache Soldat ist erbittert über die fortgesetzten Lohnsteigerungen der Rüstungsarbeiter. Er erhält nur Groschen als Tageslohn, die qualifizierten Facharbeiter mehr als ein Stabsoffizier, trotz viel geringerer Verantwortung. Wenn die Offiziersgehälter gekürzt werden, warum nicht auch die Löhne der Hilfsdienstpflichtigen? Die Streiks müssen abgestellt werden. Sie fangen als Hungerstreiks an und enden regelmäßig mit Lohnerhöhungen. Das Hilfsdienstgesetz ist unglücklich abgefaßt: „Es ist zum Kampfmittel für sogenannte Arbeiterrechte geworden." Es fehlt den Streikenden an Pflichtgefühl. Den Hetzern muß rücksichtslos scharf entgegengetreten, die Arbeiter müssen belehrt, das Gesetz über den Belagerungszustand muß angewendet werden. Dazu notierte Wahnschaffe: „Hier wird von Seiten der Schwerindustrie in ganz frevelhafter Weise gehetzt." Aufgrund eines Entwurfes von Helfferich antwortete B. H . am 15. 3., er habe seine eigenen Bedenken gegen das Hilfsdienstgesetz nur auf Drängen der O H L seinerzeit zurückgestellt. Sie hätten sich alle bestätigt. Jetzt wäre es aber der größte Fehler, wegen der Wünsche einiger Arbeitgeber das Gesetz wieder aufzuheben oder die den Arbeitern gewährten Rechte wieder einzuschränken. Das würde nur die Folge haben, die gut gesinnten Arbeiterführer völlig ihres Anhangs zu berauben. Allenfalls könne versucht werden, den Absatz 3 des § 9 im Einverständnis mit ihnen zu mildern. Man müsse die vernünftigen Elemente der Arbeiterschaft stärken und durch ihre Vermittlung vaterländische Gesinnung zu verbreiten suchen. Aber das wäre nur möglich um den Preis gewisser Opfer, an denen die Arbeitgeber mittragen müßten und bei Verzicht auf erbitternde und aufreizende Zwangsmaßnahmen. Er warnte vor Mißgriffen in Einzelfällen, die nur zu berechtigter Erregung der Arbeiterschaft führen würden. Z. A. Potsdam a. a. O. S. 433

25 ) Z. A. Potsdam, a . a . O . Sitzungsprotokolle vom 26.11. und 1.12.1916. Bemerkenswert ist, mit welcher Energie Helfferich in Ubereinstimmung mit Breitenbach, dem Minister f ü r öffentliche Arbeiten, sich gegen die Ausdehnung der Arbeiterausschüsse auf die Staatseisenbahnen wehrte.

Anmerkungen zum 9. Kapitel - II Abschnitt

665

II

26

) Die Frage der belgischen Arbeiterdeportationen (und auch der Arbeiterdeportationen s. 433 aus Polen, Litauen und Kurland) bedürfte einer neuen aktenmäßigen Untersuchung, die von deutscher Seite m. W. noch ganz fehlt. Die Schwierigkeit ist nur, daß die militärisdien Akten (des Generalgouvernements, der belgischen Etappenkommandanturen, des Kriegsministeriums, der O H L usw.) wohl alle mit dem Heeresarchiv vernichtet sein dürften. Die Dokumente des Untersuchungsausschusses über das Völkerrecht im Weltkrieg (Reihe III, 1927) bringen nur wenige Dokumente außer dem völkerrechtlichen Gutachten Geh.Rat Krieges. Die Mehrheit des Ausschusses beschränkte sich 1925 ängstlich auf die Frage nach der völkerrechtlichen Zulässigkeit der Deportationen, und nur der Sozialdemokrat Levi brachte eine Reihe von wichtigen Dokumenten auch zur politischen Beurteilung des Vorganges zur Verlesung. Ludendorff s Urkunden bringen noch weniger Stücke. Die zahlreichen Arbeiten des belgischen Offiziosus F. Passelecq, eines Advokaten, vor allem sein umfängliches Werk Déportations et travail forcé des ouvriers et de la population civile de la Belgique occupée (1929, belg. Serie des Carnegie-Kriegswerkes) geht auf publizistische und propagandistische Vorstudien während des Krieges zurück, behandelt fast ausschließlich die Erlebnisse der belgischen Bevölkerung und benutzt neben den Kundgebungen der Besatzungsbehörden viele Aussagen und Erinnerungen von Augenzeugen oder Beteiligten, deren Zuverlässigkeit im einzelnen kaum mehr nachprüfbar ist. Das glänzend geschriebene Werk von H. Pirenne: La Belgique et la guerre mondiale (1929, dieselbe Reihe), der sich siditlich um Objektivität bemüht, obwohl er selbst ein Opfer deutscher Besatzungspolitik war, stützt sich für die Deportationsvorgänge im wesentlichen auf Passelecq und das Buch von M. L. v. Köhler über die politische Okkupationsverwaltung Belgiens (deutsche Reihe des Carnegie-Werkes). 27 ) Instruktion für den Chef der Zivilverwaltung Dr. v. Sandt vom 20.2.1915. Sie findet sich zusammen mit der großen Denkschrift über die Zukunft Belgiens im G.St.A. München Pol. A. VII, Nr. 52. Bissing übersandte die Denkschrift am 8. 11. 1915 an Hertling auf dessen Wunsch (ebd. Nr. 56). 28) H. Pirenne 172. 29 ) Näheres bei F. Fischer 336ff. 30) Gutachten Krieges U.A. III, 1, S. 205. 31 ) Dies und das Folgende nach den Korrespondenzen, die das U . A . III, 1, p. 334 ff. veröffentlicht hat: Bissing an B. H . 12. 4.1916, dessen Antwort 17. 4. Replik Bissings 28. 4. Dazu die Beschwerde des Kriegsministeriums beim Generalstab des Feldheeres vom März 1916 (o. D.) bei Wrisberg: Heer und Heimat. Anlage 4: über die wirtschaftspolitische Selbständigkeit der Generalgouvernements in Warschau und Brüssel gegenüber dem Kriegsministerium, über Exporte von Eisenbahnschienen aus Belgien und die Arbeiterfrage. Hier ist nicht direkt von Zwangsdeportationen die Rede, sondern nur von verbesserten Werbemethoden und dem Einsatz der belgischen Industrie für kriegswichtige Zwecke. 32) Bissing an O H L 15.9. U.A. III, 1, p. 341. 33 ) Helfferich an Generalgouvernement Brüssel 11.8. ebd. p. 345, dazu ebd. 383ff. Das Gerücht wurde von Bissing durch Schreiben vom 15. 8. an das Reichsamt des Innern widerlegt. Ebd. 344, ausführlicher in einem Telegramm an die O H L ebd. 347. 34 ) Haager Abkommen über die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges vom 18.11.1907. 35 ) O. v. d. Lancken-Wakenitz 234. Datum des 19. 9. bei W. Groener Lebenserinnerungen 553 (Tagebuch). O H L an Bissing 21. 9., dessen Antwort 24. 9. Aufzeichnung der OHL o. D . in U.A. III, 1, 345—48. 30 ) U.A.III 1, S. 382 ff. Das im folgenden erörterte Schreiben Bissings vom 26.9. ebd. S. 360-365.

s.434

s.435 S.435 s. 436 s.437

s.438 s.438

s.439 s. 440

s.441

666

Anmerkungen zum 9. Kapitel - II

S. 442

3 7 ) Als Zeuge vor dem Untersuchungsausschuß der Nationalversammlung am 4 . 1 1 . 1 9 1 9 (Sten. Ber. des U.A. 2, p. 222 ff.) hat sich B. H. mit einer auffallenden Unsicherheit über die Frage der Arbeiterdeportationen ausgesprochen, an deren Einzelheiten er sich nicht mehr erinnerte. Er betonte aber stark seine Ohnmacht gegenüber dem Willen der O H L : „Gegenüber dem Grundsatz der OHL, wir brauchten noch belgische Arbeiter, um unser Hindenburgprogramm durchzuführen, hätte ich nichts sagen können. Das wäre über das hinausgegangen, was ich hätte verantworten können. Ich konnte nicht sagen: nein, ich will das aber nicht! - Ich hätte dann die Antwort bekommen: dann wird unser Hindenburgprogramm nicht fertig."

S. 443

3 8 ) Er hatte sich trotz dringender Vorstellungen v. d. Lanckens, des Chefs der Politischen Abteilung des Generalgouvernements, stur geweigert, die vom Kriegsgericht zum Tod verurteilte englische Krankenpflegerin Miß Cavell zu begnadigen, sondern hatte sie erschießen lassen und der belgischen Freiheitsbewegung eine bis heute viel gefeierte Märtyrerin verschafft. Miß Cavell hatte ziemlich viele gefangene Soldaten versteckt und ihnen zur Flucht verholfen.

S. 443

3 9 In der Brüsseler Besprechung vom 6.10. baten ihre Vertreter, keine weiteren Anwerbungen im Etappengebiet durch das Industriebüro vornehmen zu lassen, „da die Verhältnisse in der Etappe besonders geregelt würden". Dem entspricht auch die Praxis der Arbeiterrekrutierung, die in der Etappe nicht, wie im Generalgouvernement, im März 1917 aufhörte. Näheres darüber bei Passelecq cap. X .

5.444

4

°) A . A . O .

350.

5.445

) Sie sah folgendermaßen aus: Arbeitsscheue Elemente, die der öffentlichen, nicht bloß der privaten Wohltätigkeit zur Last fallen, können zur Arbeit gezwungen werden. Die belgische Relief Commission trägt öffentlichen Charakter. In Belgien ist keine angemessene Arbeit zu finden. Zwangsarbeit in Deutschland trägt keinen „ausschließlichen Kriegscharakter", sofern „unmittelbare Heranziehung zu Munitionsarbeiten" vermieden wird. Der Zwang erfolgt aufgrund der Verordnung vom 15. 5.1916, aber als reiner Verwaltungsakt ohne strafrechtliches Verfahren und „unter Vermeidung unnötiger Härten". Angemessener Lohn wäre auch bei Zwang zu gewähren, freiwillige Arbeit noch besser zu entlohnen. U.A. I I I , 1, p. 368 f. Datum ebd. 308.

S. 445

4 2 ) Ich verzeichne noch folgende Dokumente der Reichskanzlei (Z.A. Potsdam V I I , 9): Kriegsminister an O H L 7. 10.: legt Standpunkt des Kriegsministeriums zur Arbeiterfrage dar, gedr. bei Ludendorff Urkunden 124ff. Kriegsminister an B. H. 1 0 . 1 0 . : übersendet dieses Schreiben und bittet um Unterstützung seiner Wünsche in Brüssel. - Wahnschaffe an Helfferich undat., vor 17. 10., betr. Verstärkung der Werbungen, aber auch Einrichtung von Sammellagern für Zwangsarbeiter. Erbietet sich zur Teilnahme an Besprechungen. - Ludendorff an A.A. vom 11. 10. bittet um Teilnahme an Besprechungen in Pless am 19.10. über Arbeiterfragen. - Ergebnis einer am 17. 10. abgehaltenen, vorbereitenden Besprechung: gedr. bei Ludendorff 127 f. - Besprechung im R. A. des Innern am 22. 10. (ursprünglich für Pless vorgesehen) unter Vorsitz von Sauberzweig. Bemerkenswert ist, daß man in Polen weit bessere Erfolge mit freiwilliger Anwerbung erzielte, aber den Widerstand Loebells gegen den Import zahlreicher jüdisch-polnischer Arbeiter zu überwinden hatte.

S. 446

4 3 ) Aufs den zahlreichen Augenzeugenberichten bei Passelecq geht hervor, daß im einzelnen die Handhabung der Deportationen doch sehr verschieden war. Uber die moralische Wirkung vgl. u. a. Auguste Vierset (Kabinettchef des Bürgermeisters von Brüssel) Mes souvenirs sur l'occupation allemande enBelgique (1932) 401 ff. (Tagebuchblätter).

41

5.446

44

) Meldung v. d. Lanckens an A . A . vom 11.1. 1917 s. U.A. 2 Beil. Nr. 123.

5.447

45

) Danach ist die von Pirenne

a . a . O . 192 nach Mahaim

wiedergegebene „Schätzung"

Anmerkungen zum 10. Kapitel - I

667

von 2614 viel zu hoch, doch mögen noch viele auf oder nach dem Rücktransport gestorben sein. 4 6 ) Nach dem soeben zitierten Bericht vom 31.3. 1917 U.A. III, 1, S. 374 ff. waren es immerhin 33 000. Auch Pirenne 196 f., der selbst die Apathie und den Widerwillen seiner Landsleute in deutschen Fabriken beobachtet hat, gibt den indirekten Erfolg des Terrors (starkes Ansteigen der Zahl der Arbeitsverträge) zu. 4 7 ) Bericht Nieser an Dusch 5.12. Karlsruhe G.L.A. IV/37. Danach hätte sogar das Interesse der OHL an den Deportationen stark nachgelassen. - Lerchenfeld an Hertling 6. 12. München G.St.A. Pol. A. VII/51. Lerchenfeld, klar und nüchtern wie immer, hielt die Deportation für politisch verfehlt, aber auch die Belgien-Politik Bissings für eine Illusion. 4 8 ) Hohenlohe an Czernin 22.2. 1917. Zu vgl. auch Bericht Hohenlohes an Burian vom 13. 12. 1916. Baron Frankenstein an Burian 6. 12., 13. 12.; 16. 2. 1917; 27. 2., alles Wien H.H.St.A. Krieg 4 f. Korrespondenz des Kardinals Hartmann mit Hertling 4. und 26.1. 1917: München G.St.A. Pol. A. V I I Nr. 52, dazu E. Deuerlein: Hist. Jb. 70 (1951) 292ff. Korrespondenz Lanckens und Bissings mit dem A. A. Oktober-November 16: A. A. W.Kr. 14 b Bd. 4. Amerikanische Proteste bzw. Vorstellungen: For.Rel. 1916 Suppl. 299, 310, 312 f., 319, 363, 366 f. Dazu Jos. C. Grew Turbulent Era. Diplomatie record of 40 years 1904-1945 vol. 1 (1952) 266 ff. Ferner die Urkundenbeilage zum Gutachten Krieges in U.A. III, 1, S. 246 ff. 49) v. d. Lancken 234. In einem Schreiben an Grünau vom 8.2. für Wilhelm II. teilte B. H. den Wunsch des neugebildeten Rats von Flandern mit, vom Kaiser empfangen zu werden, was dieser am 9. 2. mit Freude genehmigte. Beinahe grotesk wirkt der dabei ausgesprochene Wunsch Wilhelms, daß die Flamen noch vor der Frühjahrsoffensive eine große Kundgebung veranstalten möchten, damit alle Welt sehen könnte, daß die Flamen ihre Befreiung von Deutschland erwarteten und also die wesentlichen Ziele der Entente ablehnten. Scb.-Gr. II, Nr. 4-5. Immerhin mag diese, den Kaiser höchst überraschende Entwicklung der flämischen Bewegung ihn in der Arbeiterfrage nachgiebig gestimmt haben. ) Vgl. dazu die oben Anm. 47 zitierte Meldung Niesers nach Karlsruhe vom 5. 12. ) Über Bemühungen der Generalkommission der deutschen Gewerkschaften, bei der Reichsregierung und dem Generalgouvernement in Brüssel ein Abstoppen der Deportationen zu erreichen, berichtet Umbreit a . a . O . 123f. Seine Behauptung, die Sozialdemokratie habe die belgischen Arbeiterdeportationen zum Anlaß genommen, am 29. 3. zum erstenmal die Annahme des Kriegsbudgets zu verweigern, übertreibt stark. Für die Budgetverweigerung war die Wahlrechtsfrage, nicht das Problem der Arbeiterdeportationen maßgebend. Im Plenum hat, soviel ich sehe, nur Noske am 29. 3. die Zwangsverschickungen kritisiert - aber nur kurz, da sie inzwischen längst aufgehört hatten; außerdem wurden sie von Bernstein in der Erklärung der „Unabhängigen" zum „Notetat" erwähnt. Dagegen hat Scheidemann am 3. 3. in einer Sitzung des Hauptausschusses die sofortige Heimsendung der Deportierten verlangt: Scheidemann Memoiren eines Sozialdemokraten (1928) I 420. 52) Ludendorff: Urkunden 131 ff. 53) F. Fischer 582. 50

51

s. 447

s. 447

s.448

s.449

s.449 s.450

S.450 S.450

A N M E R K U N G E N ZUM 10. KAPITEL Abschnitt I 1) Wortlaut des Vertrags und Näheres über seine Entstehung bei W. Steglich Bündnis- s. 452 Sicherung 110 ff. Ein weiterer Zusatzvertrag (betr. Aufhebung der sogen. Kapitulationen) vom 11. 1. 1917 ebd. 118.

668

Anmerkungen zum 10. Kapitel - I

2 ) Erklärung Jagows gegenüber Hohenlohe am 1.10.1916 und Erlaß Jagows an Kühlmann vom 20.11.1916 bei W. Steglicb: Bündnissicherung 115 bzw. 120. 3 S. 453 ) Mir liegt in Abschrift aus dem Aktenband des Wiener H.H.St.A. Krieg 25/21 eine lange Serie von Korrespondenzen des Wiener Außenministeriums mit seinen Vertretungen in Konstantinopel, Bern und Berlin vor, von Ende April bis Anfang August 1917 reichend, in denen diese Friedensfühler erörtert werden. Sie fanden alle in Bern statt und gingen in ihren Erbietungen sehr weit, wenigstens nach der Angabe der türkischen Diplomaten: 1. „Status quo ante bellum, mais certaines concessions économiques et navales aux Anglais dans le golf Persique." 2. „Garanties de l'intégrité de l'Empire Ottoman par les pays de l'Entente et l'Amérique." 3. „Payement de tous les sommes avancées par l'Allemagne à la Turquie." 4. „Prêt des sommes nécessaires à la Turquie pour sa réorganisation économique. Au cas contraire menace de l'annéantissement de la Turquie." (Mitteilung des türkischen Botschafters im Wiener Außenministerium vom 23. 6.) Die deutsche Regierung wurde durch Talaat Pascha und den Großwesir sofort Ende April benachrichtigt und riet, „ohne empressement auf die englische Anregung einzugehen": Korrespondenz Zimmermann-Oberndorf 30. 4./1. 5. 1917. A.A. W.K. 15 geh. Bd. 3. Hauptagent Englands war ein Mr. I. R. Pilling, Agenten Frankreichs der Literaturhistoriker und Pressechef Prof. Haguenin (der auch Deutschland gegenüber den Vermittler spielte), die Bankiers Steeg und Villers, u. a. Auch der Name des amerikanischen Gesandten Morgenthau taucht gelegentlich auf. Eine Bereiterklärung des türkischen Gesandten, einen Frieden mit den Zentralmächten vermitteln zu helfen, wurde in London angeblich positiv aufgenommen, blieb aber ohne Folgen. In Stambul nahm man alle diese Eröffnungen wohl auch deshalb nicht ernst, weil man (durch Burian) schon längst über die geheimen Verträge der Entente zur Aufteilung der Türkei orientiert w a r : Notiz der Öster.-Ungar. Botschaft Berlin von 23.10.1916: A.A. W.K. 15 geh. Bd. 2 und Rußland geh. Eben diese abschreckende Wirkung war auch die Hoffnung des deutschen A.A. in der Wiener Besprechung mit Czernin am 16. 3., in der auch die Haltung der Türkei zur Sprache kam. Sch.-Gr. II, Nr. 20. Vgl. noch ebd. Nr. 44, 70 (weitere Meldungen) u. N r . 122, 138, 141, 142, 161.

S. 452

S. 453

R.A.W. X I I , 520. Zu gewissen Selbständigkeitsbestrebungen des saturierten Bulgarien gegenüber seinen Verbündeten vgl. K. E. Birnbaum 289, Nr. 3. Baron Wieden gab am 26.12. 1916 und 15. 1. 1917 Geheimnachrichten des österreichischen Militârattachés in Sofia an Czernin weiter; Depeschen des bulgarischen Gesandten in Bern ließen erkennen, daß dieser mit Vertretern der Entente Fühlung gesucht und gefunden habe, um die Stellung der Entente zu Bulgariens Kriegszielen zu sondieren. Diese sei teils scharf ablehnend (Morawatal, altserbisches Gebiet) teils zustimmend: Wien H.H.St.A. Krieg geh. XLVII/13 und Krieg 25 p. 5 S. 455 ) A. v. Cramon: Schicksalsbund, 158. Vgl. a. Ders. Unser österreichisch-ungarischer Bundesgenosse im Weltkrieg (1920), 98-115. 6 S. 455 ) P. H. Amiguet: La vie du prince Sixte de Bourbon (1934), p. 102 f. Die wichtigste Quelle für die Vermittlerrolle des Prinzen ist nodi immer sein eigener Bericht: Prince Sixte de Bourbon L'offre de paix séparée de l'Autriche (1934). Dazu die Memoiren bzw. die Tagebücher von Poincaré (Bd. 9) und Ribot, dazu Suarez Briand t. IV und (sehr ausführlich) Lloyd George IV, 1983 ff. Czernin ist in seinen Memoiren von 1919 natürlich sehr zurückhaltend. Die sogen. Memoiren des Grafen Erdödy, zusammengestellt von P. Szmere und E. Czech (1931) u. d. T. „Habsburgs Wege von Wilhelm zu Briand", bieten mehr romantisch ausschmückende Erzählung des Abenteuers als politische Information. A. Graf Polzer-Hoditz Kaiser Karl. Aus der Geheimmappe seines Kabinettschefs (1929) bringt mancherlei wichtiges Detail bei stark apologetischer Tendenz. Eine sorgsame, streng aktenmäßige Verteidigung Czernins bietet die kleine Schrift des Sektionsrats im Außen-

Anmerkungen zum 10. Kapitel - I

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ministerium A. Demblin Czernin und die Sixtus-Affäre (1920). Eine Reihe der wichtigsten Belegstücke hat Ludendorf} Urkunden 374 ff. (z. T. in deutscher Obersetzung) nachgedruckt. Die Bücher von R. Fester Die Politik Kaiser Karls und der Wendepunkt des Weltkrieges (1925) und Die politischen Kämpfe um den Frieden 1916-18 und das Deutschtum (1938) sind mit ihrer aufdringlich nationalistischen Grundhaltung heute nur noch schwer genießbar, haben jedoch das Verdienst einer ersten gründlichen und soliden Erforschung des Sachverhalts. Eine neue aktenmäßige Darstellung enthält die Habilitationsschrift von W. Steglich, Die Friedenspolitik der Mittelmächte 1917-18, Bd. I, deren Auffassung ich indessen vielfach nicht zustimmen kann. 7 ) Diktat eines Briefes an Czernin vom 15.5.1917 bei Werkmann 171. Uber Karls s. 456 erfolgreiche Bemühungen, die im Herbst 1916 begründete formelle Oberleitung des Krieges durch Wilhelm II. wieder zu beseitigen (durch ein geheimes Zusatzabkommen mit der OHL) vgl. R.A.W. X I , 486. 8) Protokoll Wien H.H.St.A. Pol. A. XXXX/293, Nr. 530. s. 456 9 ) R. Fester: Politik Kaiser Karls 51 nimmt an, daß den entscheidenden Anstoß das s. 458 Festhalten des Prinzen an der Restauration der Dynastie Karageorgewitsch in Serbien gab, während Karl (als einzige Abweichung vom Programm Sixtus') die Errichtung eines großen südslawischen Vasallenstaates unter einem Erzherzog gefordert hätte. Das ist möglich, aber nicht nachweisbar. Auf der (weiter unten zu besprechenden) Ministerkonferenz vom 12. 1. hatte Karl sich dafür ausgesprochen, „daß Serbien weitgehende Existenzmöglichkeiten gesichert werden müssen". Erdödy in seiner Schilderung der ersten Begegnung mit dem Prinzen (13. 2) bestreitet jede Unterhaltung über politische Fragen, wie sie Sixtus 55 berichtet. Wie mangelhaft Czernin über die Vorgeschichte der Verhandlungen orientiert wurde, zeigt sein eigener Bericht für den Abg. Baernreither, den Rober A. Kann in den „Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs" veröffentlichen wird (mir lagen die freundlicherweise zugesandten Korrekturfahnen vor): „J.M. Baernreither und Graf Ottokar Czernins Darstellung der Sixtus-Affäre". Der Bericht Czernins ist allerdings nicht vor 1920/21 entstanden, als Selbstrechtfertigung gedacht, bringt sie Unterredungen mit Sixtus im April und Mai durcheinander, ist also nur mit viel Vorsicht zu benutzen. 10 ) Czernin an Kaiserin Zita 17.2. bei K.F.Nowak Der Sturz der Mittelmächte (1921) 419. n ) Wenn Czernin, um die Franzosen zur Emanzipation von britischer Führung zu ermuntern, hinzufügte, man glaube, Frankreich „stünde völlig unter dem Druck Englands", so war das sehr ungeschickt: es war das Gegenteil der Wahrheit gerade in der Friedensfrage und konnte in Paris nur kränkend wirken. lla ) Nach Czernins Bericht an Baernreither (s.o. Anm. 9) hat der Minister u.a. gesagt: „Einen Eroberungskrieg Deutschlands würden wir nicht mitmachen und erwarteten das erlösende Wort von der Entente, daß auch sie selbst den Krieg ohne Eroberungen abzuschließen bereit sind. Würde dieses erlösende Wort in Paris fallen, dann würden wir uns mit ganzer Kraft in den Dienst dieser gemeinsamen Sache stellen und dann auch bis zum äußersten gehen." 12 ) Die stilistische und politische Gewandtheit des Briefes im Vergleich zu dem früher zitierten sprachlich unbeholfenen Diktat vom 15. Mai (s. o. Anm. 7) macht diese Vermutung R. Festers (Politik Kaiser Karls 74) sehr wahrscheinlich. Nach einer Mitteilung des Kabinettsdirektors Grafen Polzer an Baernreither waren weder Karl noch Kaiserin Zita imstande, enien korrekten französischen Brief zu verfassen. R. A. Kann a. a. O. Die Form eines (fiktiven) Briefes wurde darum gewählt, weil die Prinzen ihre Reise nach Wien und ihre mündlichen Unterredungen dort auch in Frankreich streng geheim hielten. 13 ) Für das Folgende vgl. Poincaré, Au service de la France, Bd. 9, 85 ff., 111. Ribot,

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62, 64 ff. 71 f. Lloyd George IV, 2000 ff., 2027 ff. Unter Clémenceau hat man versucht, sowohl Poincaré wie Ribot einen Stride daraus zu drehen, daß sie sich überhaupt auf diese Friedensgespräche einließen! S. 464 14) Nach der offiziellen deutschen Darstellung (s. Wippermann-Putlitz, 1917, II 749) wurden 1091000 t. versenkt. Nach Lloyd George, III, 1192 nur 526447 t. In einer Sitzung der Académie des Sciences Morales et Politiques am 10. 6. 1963 hat nun FrançoisPoncet mitgeteilt, man habe damals im französischen Außenministerium sehr genaue Berichte über das Schicksal der torpedierten Schiffe der Alliierten erhalten. Daraus sei hervorgegangen, daß eine große Zahl der Schiffe der Alliierten, die von der deutschen Marine als versenkt gemeldet wurden, in Wirklichkeit einen Hafen hätten erreichen können, dort repariert und wieder in Dienst gestellt wurden. Er selbst und Massigli hätten daraus den Gegenstand von zwei Aufsätzen in der „Neuen Züricher Zeitung" gemacht, mit drei Sternen gezeichnet. Erzberger habe sie in Zürich gelesen und daraufhin (?!) dem Reichstag berichtet, die Admiralität täusche die öffentliche Meinung über ihre Erfolge. Revue des travaux de l'Académie . . ., 116. année, 4. série, 1963, p. 268. Vgl. dazu oben, S. 656, Anm. 31 ! Abschnitt II S. 465

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) Bayr. Gesandter von Schoen an Hertling 27.12.1916 über Aufnahme des österreichischen Ministerwechsels im A.A. 16 S. 465 ) S. o. Kap. 7 zu Anm. 53. ,7 S. 465 ) So in seiner Aufzeichnung vom 1.1.1917, s. vorige Anmerkung! Nach Wedels Bericht vom 3.1. über diese Unterredung (A.A. W.Kr. 15 geh. und W.K. 20c) hat der Botschafter vorgeschlagen, die Moldau nicht an Ungarn anzuschließen, sondern sie als „Reichsland", als ein „zweites Bosnien" oder als „Vasallenstaat" anzuschließen. Auch das hat Czernin später wieder aufgegriffen, ebenso Wedels Hinweis auf Rußlands Verhältnis gegenüber Rumänien 1877. S. 465 18) Es ist richtig, daß die Drohung mit der Auflösung des österreichisch-ungarischen Staatsverbands weniger präzise darin ausgesprochen war, als die russische Regierung gewünscht hätte; immerhin kündigte sie die Verselbständigung der nicht-deutschen und nichtungarischen Gebietsteile deutlich genug an. Näheres vgl. bei E. Höhle: Rußland und die Entstehung der Tschechoslowakei, in: Bohemia, Bd. I (1960), 228 ff. S. 466 19) Protokoll vom 12.1.1917: Wien H.H.St.A. Pol. A. XXXX/293, Nr. 530. Kaiser Karl hoffte sogar auf ein Bündnis mit Rußland! S. 466 20) Instruktion Czemins für Mensdorff 14. und 16. 2.: Wien H.H.St.A. Preußen III/175. Die Berichte Mensdorffs vom 18. bis 28.2.1917 finden sich beigelegt. Zu vgl. ist Lloyd George, IV, 1987 ff. Danach erreichten Gerüchte von österreichischen Friedensneigungen den britischen Gesandten Findlay in Kristiania schon im Januar; der österreichische Gesandtschaftsattache Baron Franz hatte dem König von Norwegen davon erzählt. Auf weitere Nachrichten über österreichische Friedensagenten in Kopenhagen entsandte Lloyd George am 1.2. Sir Francis Hopwood nach Skandinavien, der mit verschiedenen angeblichen Agenten Österreichs sprach, aber mit Mensdorff sich nicht getroffen hat. Von dessen Vorschlägen (andeutungsweise) erfuhr er nur durch den norwegischen König. Mensdorff hat danach vor allem die Bedrohung der Donaumonarchie durch die Antwortnote der Entente beklagt. Vgl. dazu Scb.-Gr. II, Nr. 27 (22. 3.). ) Berichte der Berner Gesandtschaft seit November 1916: Wien H.H.St.A. Krieg 25 W. Besonders genannt werden der Matin-Redakteur Sauerwein und der uns schon bekannte Professor Haguenin. Als Vermittler war ein polnischer Graf Rostworowski tätig, Vertrauensmann des österreichischen „Evidenzbureaus", und ein polnischer Journalist Dr. Bader.

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2 2 ) Es kann sich nur um Versuche handeln, schrieb er, „durch unsere Vermittlung KonZessionen in der elsaß-Iothringischen Frage zu erlangen". Am 12. machte er darauf aufmerksam, daß bisher nichts weiter vorlag als eine Vermutung des Grafen Rostworowski. 2 } ) Diese meine Vermutung finde ich auch in den Memoiren von Polzer-Hoditz 333 ausgesprochen. 2 4 ) Mérey (durch Hohenlohe) an Czernin 14.3.1917 Wien H.H.St.A. ebd. 25) Poincaré I X , 82 f. 84 f. (22. und 28.3.). Auch die erstgenannte Notiz dürfte sich auf dieselbe Dame beziehen: Mme. Alix Barton. Deren Mitteilungen über wechselnde Stimmungen in Paris waren bald das einzige, was Mensdorff zu melden wußte: Berichte Musulins und Mensdorffs. 19.3. und 15.4. Wien H.H.St.A. Krieg 25 w. 2 6 ) Korrespondenz Czernin-Hohenlohe und Czernin-Mensdorff 6.4.-16.4. Wien H.H.St.A. a. a. O. Korrespondenz Romberg-Zimmermann 8./9. 4.1917 A. A. W.K. 15 geh. (pubi, in Münchener Neueste Nadir. 8. 3. 1922). Unter den von Hohenlohe gemeldeten deutschen Versuchen zur Fühlungnahme befindet sich ein (nicht zustande kommendes) Treffen von der Lanckens mit dem Kammerpräsidenten Deschanel und eine Aussprache Villalobars mit dem englischen Gesandten in Den Haag Tawnley. Über Gespräche mit Haguenin, Sauerwein u. a. vgl. Sch.-Gr. II, Nr. 22, 26, 46, 59, 124, 139. 2 7 ) In einem am 20. März kurz vor dem Zweiten Kronrat vorgetragenen Expose (s. u.) kam die österreichische Eifersucht noch massiver heraus. Es könnte so scheinen, hieß es da, als hätten wir „die heldenhaften Opfer nur ad majorem gloriam Germaniae gebracht". 2 S ) Protokoll der Besprechung vom 16.3.: A . A . WK. 2 geh. veröffentl. in Münchener Neueste Nachr. 23.-26. 2. 1922 und (ergänzend) durch R. Fester: Kaiser Karl, 272 ff., jetzt bei Sch.-Gr. II, Nr. 20. 2 ?) „Streng geheime" Denkschrift, dat. März 1917. Wien H.H.St.A. geh. XLVII/1 c. Eine zweite, gleichfalls undatierte Denkschrift eines ungenannten anderen Verfassers, überschrieben „Zur Denkschrift über unsere Kriegsziele" (ebd.) stimmt den Ansichten Czernins grundsätzlich zu, lehnt einen annexionslosen Frieden ab und findet Annexionen auf dem Balkan in der Richtung des Donaulaufes gesund und natürlich. Soll sich Deutschland allein vergrößern dürfen? Sollten wir dafür gekämpft haben? Fraglich erscheint dem Verf. nur, ob die Aufteilung Rumäniens wirklich erreichbar sein wird. 3 0 ) Czernin hat ihn in der Sitzung direkt dazu aufgefordert, wie das Protokoll vermerkt. Er sollte deutsche Bedenken zerstreuen bzw. abschwächen. Übrigens muß Mérey von Czernin über die Mission des Prinzen Sixtus informiert worden sein, und zwar in dem Sinn, daß hier ein französischer Friedensfühler ausgestreckt sei, den man ernster zu nehmen hätte als alle früheren. Denn in diesem Sinn äußerte er sich in der Konferenz, natürlich ohne den Prinzen zu nennen. Die vagen Redereien Haguenin-Rostorowskis kann er damit unmöglich gemeint haben. 3 1 ) „Kriegsziele und die polnische Frage. Streng geheim." Undatiert, aber auf dem Umschlag als Unterlage für das politische Expose Czernins auf dem Kronrat vom 20.3.1917 bezeichnet: Wien H.H.St.A. geh. XLVII/13. Gedr. mit irreführender Überschrift und falscher Datierung bei Nowak: Sturz der Mittelmächte, 420-428. 32) Polzer-Hoditz 334 berichtet von einem „Weinkrampf", der B. H. am Abend des 17. März überfallen habe. Er will das vom Chef der Militärkanzlei, Baron von Marterer, erfahren haben. 3 3 ) Sitzung des gemeinsamen Ministerrats 22. 3.1917. Protokoll Wien H.H.St.A. Pol. A. X X X X , 293, Nr. 535. Czernin teilte u. a. mit, daß B. H. sich strikte geweigert habe, irgendeine Garantie für die Rückgewinnung an Italien verlorener Gebiete zu übernehmen. Auf Wunsch Kaiser Karls wurde das Problem Serbien-Montenegro noch offen gelassen. 3 4 ) Protokoll einer Besprechung Czernins und Hohenlohes mit B. H., Zimmermann und

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Stumms am 2 6 . 4 . 1 9 1 7 : A . A . W.Kr. 15 geh. B d . 2 , sehr ungenau pubi, in Münchener Neueste Nadir. 1.-7. 3.1922, neuerdings durch Sch.-Gr. II, N r . 33. 35 S. 477 ) Näheres darüber bei R. Fester: Politische Kämpfe, S. 40 ff. Politik Kaiser Karls, 59, 273ff. Fester stand (durch Vermittlung Dietrich Schäfers) ein Teil der Akten des A.A. in Abschrift d. parlamentar. U.A. zur Verfügung. Vgl. jetzt audi Sch.-Gr. II, N r . 34, 35, 37, 56, 58. 36 S. 477 ) B. H . hat also diesen geheimen Wunsch Österreichs ebenso erraten wie Poincaré und Jules Cambon, die ihn Prinz Sixtus empfahlen. 37 S. 477 ) Besonders beachtlich ist die erneute Versicherung, Deutschland werde sidi mit König Albert „nach allem, was wir im Kriege von ihm gehört haben", schon einig werden können. Als Mindestforderung an Belgien wollte B. H . erreichen, d a ß Antwerpen nicht ein englischer Handelsplatz würde, möglichst aber auch wirtschaftlichen Anschluß des Landes an Deutschland. Wirtschaftliche Abmachungen würden ihm genügen, „wenn die belgischen Festungen geschleift und uns gewisse militärische Sicherheiten geboten würden". Mehr wäre wohl nicht zu erreichen. „Wenn an der Rückgabe Kurlands der Friede mit Rußland hinge, so würden wir es wohl aufgeben." S. 478 38) „Risümee", unterzeichnet von Czernin und B. H . 27. 3. 1917. Abgedr. bei Volkmann U.A. IV, 12, S. 200. Vorher schon bei Ludendorff Urkunden 373 f. unter dem irreführenden Titel „Wiener Dokument". W. Steglid) Bündnissicherung 226 f. hat die von ihm im Wiener H.H.St.A. gefundenen beiden Vorentwürfe abgedr., ebd. S. 148 ff. erläutert. Vgl. auch R. Neck Das „Wiener Dokument" vom 27. 3.1917 in Mitt. a. Österreich. Staatsarchiven, 7, 294 ff. (1953). 39 ) Zimmermann an Lersner 28.3.1917, abgeg. 2 9 . 3 . A . A . WK. 15 geh. Bd. 2 (Entwurf v. d. H a n d Stumms). Ludendorff irrt also, wenn er sich Urkunden 374 über mangelhafte Information beklagt. Er hat den Empfang des obigen Telegramms am 30. 3. bestätigt mit der Hinzufügung, er halte den Pessimismus Czernins f ü r übertrieben. 40 ) Musulin an Czernin 26. 3. Czernin an Hohenlohe 28. 3. Wien H.H.St.A. Krieg 25 w. S. 479 41 S. 479 ) Die Mitteilung von Polzer-Hoditz 340, Kaiser Karl sei von Czernin erst auf der F a h r t nach Homburg, das heißt am 2. 4. über das italienische Friedensangebot informiert worden, scheint auf dem Mißverständnis einer Äußerung Karls durch Polzer zu beruhen. Sonst wäre sowohl das oben zitierte Telegramm Czernins an Hohenlohe vom 31. 3. wie ein weiteres vom 2. 4. an das AOK., das italienische Angebot sei „abgelehnt", nicht recht zu verstehen. Wien H.H.St.A. geh. XLVII/13. 42 S. 479 ) Hohenlohe an Czernin 31.3. und 1.4. In ähnlichem Sinn schrieb Tisza am 1.4. warnend an Czernin. Dessen Memoiren 210f. Am 31.3. beschwerte sich Zimmermann durch Graf Wedel in Wien über pessimistische Reden des Botschafters Prinz Schönburg in der Schweiz, der gesagt haben solle, Österreich sei am Ende seiner Kraft, und die Abtretung Elsaß-Lothringens sei der einzige Weg, zum Frieden zu kommen. Abgedr. Münchener Neueste Nachr. 8. 3.1922. Vgl. ferner Sch.-Gr. I I , N r . 42, 43. 43 S. 479 ) Vorbereitung der Kaiserfahrt nach Schloß Homburg und diese selbst geschildert bei Polzer-Hoditz 339 ff. Werkmann Deutschland als Verbündeter, 221 ff. 44 S. 479 ) Wedel an A. A. 2 . 4 . 1 9 1 7 . Sch.-Gr. II, N r . 45. Wedels Meldung darüber enthielt den seltsamen Vorschlag des Botschafters, Österreich solle uns, um doch auch seinerseits ein Opfer zu bringen, einen Adriahafen als Flottenstützpunkt verpachten. Das wird im A. A. nicht geringeres Kopfschütteln bewirkt haben als die Äußerungen Czernins. 45 S. 480 ) Cramon Unser österr.-ungar. Bundesgenosse 112 - Zu vgl. ferner Ludendorff Meine Kriegserinnerungen 350 ff. Cramons Angabe (S. 111), er habe schon vor dem Homburger Treffen vom Besuch des Prinzen Sixtus in Wien gewußt und dies der O H L gemeldet, dürfte ein Gedächtnisirrtum sein. Seine Meldung ist erst im Mai erfolgt, bei dem zweiten Besuch

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A n m e r k u n g e n zum 11. Kapitel - I

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des Prinzen in Wien und anscheinend stark verspätet. (Bericht Wedels an A. A., publ. M ü n chener Neueste Nachr. 1922, N r . 107; mit dem D a t u m 30.5. Der zweite Besuch fand aber schon am 8. u n d 9. Mai statt!) Es ist nicht denkbar, d a ß die deutsche Seite schon in H o m b u r g über die N a t u r des angeblichen französischen Friedensangebots orientiert war. 46) Wien H . H . S t . A . geh. X L V I I / 3 - 1 6 o. D., wohl f ü r Kaiser K a r l bestimmt. Dem Bot- s.480 schafter Wedel gegenüber gab er sich von der Z u s a m m e n k u n f t sehr befriedigt (Privatbrief Wedels an Zimmermann, publ. Münchener Neueste N a d i r . 9. 3.1922 jetzt bei Sch.-Gr. I I , N r . 52). Nach Polzer-Hoditz 343 f. herrschte im kaiserlichen H o f z u g bei der A b f a h r t eine sehr gedrückte Stimmung und w a r K a r l sichtbar verstimmt. In seinen Memoiren (S. 198) behauptet Czernin, das österreichische Angebot sei in den Besprechungen nicht „unbedingt" angenommen, aber auch nicht abgelehnt, sondern zu weiterer Überlegung ad notam genommen worden. Aber das kann wohl nur ein Gedächtnisirrtum sein. Czernin verlegt auch die Besprechung von H o m b u r g nach Kreuznach. 47) Stumm an Grünau f ü r B. H . 2 . 4 . 1 9 1 7 , A . A . W K r . 2 geh. S.481

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I

1) G. F. Kennan: Soviet-American Relations 1917-1920 v. I : Russia Leaves the W a r (1956) p. 15 (nach dem Nachlaßpapieren Lansings). Für das Folgende vergleiche auch R. D. Warth: The Allies and the Russian Revolution (1954) und A. I. Mayer: Political Origins of the N e w Diplomacy 1917-18 (1959). 2) Max Hoffmann II, 174. 3 ) Im Juli 1915 ließ sich das Auswärtige Amt f ü r solche Zwecke 5 Millionen M a r k v o m Reichsschatzsekretär bewilligen, im Dezember dess. Js. wünschte H e l p h a n d 20 Millionen Rubel zur Organisation der russischen Revolution. A m 1.4. 1917 forderte das Auswärtige A m t nochmals 5 Millionen M a r k zu demselben Zweck, die auch bewilligt w u r d e n ; eine K o n trolle über die Verwendung dieser Gelder war natürlich ausgeschlossen. S. Belege in: G e r m a n y and the Revolution in Russia, 1915-18, ed. Z. A. B. Zeman, L o n d o n 1958 (aus dem Archiv des A. A.), S. 3, 9, 24. Weitere Dokumente bei W. Hahlweg. 4) Publ. von W. Katkov: German Foreign Office Documents on financial support to the Bolsheviks in 1917: in Foreign Affairs, vol. 32 (1956), 181 ff. 5 ) Zitiert von E. Höhle: Lenin 1917. Die Geburt der Revolution aus dem Kriege (1957), S. 38. Ähnlich zuversichtlich äußerte er sich am 14.8. 1915 ( Z e m a n S. 5), ganz beschwingt v o n der H o f f n u n g , zugleich die deutschen Sozialdemokraten, deren Patriotismus sich im Krieg so glänzend bewährte, d a u e r n d zu positiver Mitarbeit am Staate zu gewinnen. 6) Max Ho ff mann II, 168 ff. 7) Bericht v o m 2 . 4 . 1 9 1 7 bei W. Hahlweg 47 ff., Zeman 30 f. 8) Thesenentwurf vom 17. 3. 1917: Lenin: Sämtliche Werke X X , 1. H l . (1928), 8 ff., 53 ff. 9 ) So B. H . selbst in seiner Meldung vom 11.4. an den Kaiser (bei Hahlweg 94), vielleicht den Sachverhalt etwas verkürzend. Die Rolle Erzbergers in der ganzen Affäre ist nicht genau zu ermitteln; er h a t wohl nur Anregungen H e l p h a n d s im Auswärtigen A m t unterstützt. K. Epstein M. Erzberger 190. 10 ) Immerhin ist bemerkenswert, daß Ebert und Scheidemann gegen die Mitreise des Schweizer Sozialisten Grimm Einspruch erhoben - eines „Kienthalers", dessen deutschfeindliche Gesinnung sie fürchteten. 11) Schulthess 1917, II, 671.

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A n m e r k u n g e n z u m 11. Kapitel - II

12 ) D a ß diese E r k l ä r u n g e n durch E r z b e r g e r v e r a n l a ß t w a r e n , wie dieser selbst (Erlebnisse 235) m i t gewohnter Selbstgefälligkeit b e h a u p t e t , halte ich schon deshalb f ü r unwahrscheinlich, weil sie sich in keiner Weise mit d e n v o n Erzberger dem K a n z l e r vorgeschlagenen R e d e e n t w u r f (!) decken. 13 ) Schulthess 1917, I I , 55 f. Czernin wies die Auslandsvertreter Österreichs an, das I n t e r v i e w möglichst weit zu verbreiten. Es blieb aber, wie die A n t w o r t e n zeigen, ohne W i r k u n g . D i e mündliche V e r a b r e d u n g des Interviews mit B. H . geht aus einem T e l e g r a m m C z e r n i n s an H o h e n l o h e v o m 29. 3. h e r v o r . Wien H . H . S t . A . K r i e g 25 x. 14 ) Zwei Meldungen des Gesandten O b e r n d o r f f vom 2 8 . 3 . aus Sofia, Aufzeichnungen Rosenbergs über U n t e r r e d u n g mit Oberst Gantschew v o m 3 0 . 3 . A . A . W K . 15 geh Bd. 2. Es w u r d e n auch schon k o n k r e t e Friedensbedingungen wie freie D u r c h f a h r t durch die D a r danellen, sogar Rückgabe Polens erörtert. N a c h einem Bericht v o m 24. 3. wünschte Ferdin a n d d e n Verzicht auf Angriffe an der russischen F r o n t , was Ludendorff auch zusagte. Bei Scb.-Gr. I I , N r . 31, 32, 36, 39. Die Berichte O b e r n d o r f f s v o m 28. 4. fehlen. Briefwechsel W i l h e l m s I I . mit Z a r F e r d i n a n d 8 . 4 . b z w . 1 1 . 4 . ebd. N r . 51, 57. F e r d i n a n d sprach sich j e t z t gegen z u viele u n d zu eifrige Friedenserklärungen der Mittelmächte aus. 15 ) Sch.-Gr. I, N r . 272 v o m 17. 6. 1916 (Stinnes an Z i m m e r m a n n ) . 16 ) Nach Erzberger soll er die B e r u f u n g „in eine hohe Stellung der provisorischen R e g i e r u n g " e r w a r t e t haben, die aber nie erfolgt ist. Erzbergers Berichte f ü r B. H . bei K. Epstein 186ff. u n d Sch.-Gr. II, N r . 40. 17 ) Nach einer M e l d u n g Musulins v o m 1 . 4 . h a t Erzberger gleich auch in der Schweiz österreichischen D i p l o m a t e n v o n seiner erfolgreichen Stockholmer Mission sehr optimistisch berichtet. Allerdings gab er zu, daß bei der Ungewißheit der Verhältnisse in Petersburg jede V e r h a n d l u n g m i t einer P a r t e i zuletzt n u r „akademisch" sei. Er f a n d es aber bedenklich, m i t g a n z radikalen russischen Parteien zu verhandeln, da d a n n die R a d i k a l e n sich auch in D e u t s c h l a n d zu W o r t melden würden. W i e n H . H . S t . A . K r i e g 25 t.

Abschnitt S. 492 S.492 s.493 S. 493

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,8

11

) C z e r n i n an H o h e n l o h e 9 . 4 . : Wien H . H . S t . A . Krieg 25 w . Szechenyi (Gesandter in K o p e n h a g e n ) an C z e r n i n 9. 4., Czernin a n H o h e n l o h e 10. 4. ebd. Krieg 25 t. 19 ) H o h e n l o h e an C z e r n i n 11.4. ebd. 20 ) Hohenlohe an Czernin 13.4.1917 a . a . O . 21 ) So nach K. Epstein 189 f. In den Kriegstagebüchern v. Müllers findet sich d a r ü b e r nichts, aber Erzbergers Briefentwurf ist bei Sch.-Gr. I I N r . 64 abgedruckt. F ü r die Verh a n d l u n g e n mit W i e n (wohin v. Stumm als U n t e r h ä n d l e r entsandt w u r d e ) , u n d B. H . s Vorschläge vgl. ebd. N r . 61-63, 65, 66 u. W. Steglich Friedenspolitik K a p . 2. 22 ) H i n d e n b u r g a n B. H . 5. 4 . 1 9 1 7 . Sch.-Gr. I I , N r . 49. Kriegsminister v o n Stein schloß sich a m 12. pflichteifrigst der F o r d e r u n g des Feldmarschalls nach schleuniger E r ö f f n u n g „Kommissarischer B e r a t u n g e n " an u n d wollte seine Behörde d a r a n teilnehmen lassen, v . Stein an B. H . 1 2 . 4 . A . A . W K r . 15 geh. Bd. 2. 23 ) Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1 5 . 4 . K . K . T e l . K o r r e s p o n d e n z b ü r o 15 4. s. G e schichtskalender. D a z u R u n d e r l a ß Czernins nach Sofia u n d Konstantinopel 14. 4. Protest C z e r n i n s : an H o h e n l o h e 16.4., dessen A n t w o r t 17.4. Wien H . H . S t . A . K r i e g 25 t. E r z bergers W a r n u n g v o r Angebot eines S o n d e r f r i e d e n s : K. Epstein 189. H o h e n l o h e f a n d es auch v e r f e h l t , d a ß die deutsche K u n d g e b u n g gewissermaßen eine Entschuldigung f ü r den erfolgreichen Angriff am Stochod enthielt, der n u r als lokale Stellungsverbesserung gemeint gewesen sei u n d nicht als Beginn einer allgemeinen Offensivtätigkeit. 24 ) Czernin I m Weltkriege 198 ff., auch Ludendorff U r k u n d e n 374 ff. nebst Begleit-

Anmerkungen zum 11. Kapitel - II

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schreiben Kaiser Karls, mit dem er die Denkschrift am 14. 4. Wilhelm I I . zusandte, bei Sch.-Gr. I I , Nr. 68 mit den kaiserlichen Randglossen. 25) Czernin, a . a . O . , 204 ff. Ludendorff Urkunden 379 ff. mit dem Datum 4. Mai. Nach s.495 den Feststellungen W. Steglichs, Kap. 2, Anm. 190, hätte B. H . seine Denkschrift auf den 9. 5. datiert. Sch.-Gr. II, Nr. 104 bringt sie indessen ebenfalls mit dem Datum 4. 5. Begleitschreiben Wilhelms II. vom 1 1 . 5 . ebd. Nr. 113. Nadi Sch.-Gr. I I , Nr. 74 forderte Zimmermann bei der O H L und dem Admiralstab Gegendenkschriften als Unterlage für B. H.s Antwort an. Holtzendorffs Memorandum ebd. Nr. 75 vom 1 8 . 4 . ; Ludendorffs Erwiderung ebd. Nr. 80 vom 19. 4. Es ist charakteristisch für Ludendorff, daß er vom A. A. Vorlage der Antwort nach Wien vor der Absendung verlangte. Ein ähnliches weiteres Tel. vom 23. 4. (durch Grünau) ist pubi, in Mündiener Neueste Nachr. 9. 3. 1922. 2 6 ) Der ursprüngliche, später abgeänderte Entwurf sprach von „den unter politischen und s wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu verfolgenden Kriegszielen, über deren Feststellung ich in Anpassung an die Allerhöchsten Befehle allein unter Ausschluß anderer Stellen zu entscheiden habe' (Hervorhebung von mir). 2 7 ) Selbst Zimmermann hat Anfang April den zu Friedensgesprächen nach Kopenhagen reisenden deutschen Sozialisten ganz deutlich gesagt, daß es jetzt nur darauf ankäme, mit Rußland Frieden zu bekommen; an Annexionen dürfe er nicht scheitern: P. Scheidemann, Memoiren I (1928), 422. Allerdings hat er „wenn es irgend geht", Grenzberichtigungen am Narew für wünschenswert erklärt, dem bulgarischen Unterhändler Rizow (s. u.) sogar von Erwerb Kurlands und Litauens gesprochen. 2 8 ) Für Ribot vgl. u. a. seinen Kummer über die russische Regierungserklärung vom 9 . 4 . : Lettres à un ami (1924) p. 228 sowie die Meldung Iswolskis vom 2 5 . 4 . 1 9 1 7 (bei Adamow: Die europ. Mächte und die Türkei, I I , 1930, S. 429ff.); ihm hat Ribot gesagt: „Selbst wenn Deutschland sich verpflichten würde, alle besetzten Gebiete zurückzugeben, so wäre auch dadurch die Sache des Friedens kaum gefördert", da Frankreich sich selbst mit Elsaß-Lothringen nicht zufriedengeben könnte. Für das Gesamtthema zu vergleichen Robert D. Warth: The Allies and the Russian Revolution 1954. Arno J. Mayer: Politicai Origins of the New Diplomacy 1917-18 (1959). 29) Ph. Scheidemann: Memoiren I, 421. 3 0 ) Der Gesandte Rosen in Den Haag hat das in einem Bericht an das A. A. vom 14. 5. (A. A. WKr. 15 geh. Bd. 3) auch geradezu ausgesprochen. Wie weit hinter der bereitwilligen Förderung der Bestrebungen deutscher Sozialdemokraten in Stockholm ein wirkliches Interesse an der Belebung populärer Friedenswünsche mit Hilfe der Zweiten Internationale stand, bleibt mindestens für Zimmermann zweifelhaft. I n seinem (allerdings für Ludendorff bestimmten!) Exposé vom 4 . 5 . (Sch.-Gr. II, Nr. 102, Randnote) ist nur von taktischen Rücksichten die Rede: die Regierung will sich nicht durch Verweigerung der Pässe in den Ruf reaktionärer und „autokratischer" Haltung bringen u. dgl. Auch wird hier von der Gefahr der „Infektion unserer Sozialdemokratie mit internationalen Giftstoffen" gesprochen, vor der man sie aber doch nicht schützen könne. Was davon Taktik, was echte Uberzeugung war, läßt sich nicht mit Sicherheit erkennen, noch weniger, wie B. H. darüber dachte.

s.496

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S.500 s.500

3 1 ) Was F. Fischer 5 0 3 f . über das Auftreten der Mehrheitssozialisten in Stockholm aus- s.500 führt, ist ein Meisterstück künstlicher Umdeutung ihres Programms ins Imperialistische. 32) B. H. an Hertling 26.1. 1918 A . A . WKr. 15 geh. Bd. 5 und Deutschland 122, Nr. 16, s .502 gedr.: U.A. I V 2 (Schwertfeger) 142ff. 3 3 ) Um sich davon zu überzeugen, genügt es, den ausführlichen Bericht zu lesen, den s.502 Oberst von Winterfeldt am 24. 5. 1917 der O H L über seine Unterhaltungen mit dem Reichstagsabgeordneten Dr. David lieferte. David, auf dem äußersten rechten Flügel der Mehr-

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Anmerkungen zum 11. Kapitel - III

heitssozialdemokratie stehend, stieß mit seinen politischen Sorgen und Bedenken bei den hohen Militärs auf ein wahrhaft erschütterndes M a ß von Unverständnis und politischer Blindheit. Sch.-Gr. I I , Nr. 132. Vergeblich suchte Zimmermann der O H L die Haltung Davids verständlich zu machen: ebd. N r . 137. Abschnitt S.503

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III

34) Grünau (in Allerhöchstem Auftrag) an B. H . 1 7 . 4 . : Sch.-Gr. I I , Nr. 7 3 . Der Wortlaut der Depesche ist so unklar, daß man vermuten muß, der Kaiser habe die ihm vorgetragenen Wünsche der O H L nicht ganz verstanden. Er tut aber so, als hätte er seinerseits Hindenburg von diesen Fragen gesprochen, damit dieser „in seinen Generalskreisen entsprechend entgegentreten kann"(!). 35) B. H . an Grünau 18. 4. Sch.-Gr. I I , Nr. 76. 36) Nähere Nachweise über die Mission Rizows (Gespräch mit dem russischen Gesandten Gulkewitsdi in Kristiania am 11. 4.) bei W. Steglid): Friedenspolitik, Kap. 2. Erzberger hat einen Bericht über seine Stockholmer Reise am 12. 4. auch an Admiral v. Müller geschickt. Dieser gab ihn „ressortmäßig" an Holtzendorff weiter, und dieser las ihn am 19. Hindenburg und Ludendorff vor, die ihn gut aufnahmen und jetzt B. H . „Unentschlossenheit in der Vorbereitung eines Friedens mit Rußland" vorwarfen, v. Müller: Kriegstagebücher, 277. 3 7 ) Hindenburg an B. H . 2 0 . 4 . 1917. Sch.-Gr. I I , Nr. 81. Ein Erlaß Zimmermanns vom 22. 4., anscheinend an Grünau (A.A. WK,r. 15 geh.) geht auf den Vorschlag der O H L zum Gebietstausch, wie es scheint, bereits ein. Wir müssen Rumänien einstweilen festhalten, um gegebenenfalls Österreich für die Preisgabe Ostgaliziens und der Bukowina entschädigen zu können. 38) Zwei Telegramme Grünaus am 20.: A . A . WKr. 15 geh. Telegrammwechsel des Kaisers mit B. H. am 21. bei Westarp II, 85. Ebd. B. H.s gleich zu besprechende Aktennotiz. Vgl. a. Sch.-Gr. I I , Nr. 82, 84 Sehr lebendig schildert die Aufregung im Hauptquartier ein Bericht des dortigen bayrischen Militär-Bevollmächtigten an Kriegsminister Hellingrath vom 28. 4. Man warf natürlich B. H. vor, durch seine Schwäche Streik und sozialdemokratische Friedenskundgebungen verschuldet zu haben und redete davon, das Alpenkorps müßte nach Berlin geholt werden, um dort ein „paar hundert Schreier an die Wand zu stellen". Besonders aufgeregt zeigten sich Major Nicolai und Oberst Bauer: München G.St.A. Pol. A. V I I / 6 6 . 39) E s ; s t selbstverständlich, daß dem Leser des Buches von F. Fischer 4 4 9 f. und 485 von dieser gespannten Atmosphäre nicht das geringste spürbar wird und daß F. die sehr erhellende Aktennotiz bei Westarp einfach verschweigt. Seine Kunst des Auslegens und Zureditdeutens geht sogar so weit, daß er zu dem kühnen Schluß kommt (s. 487), es habe gar keinen konkreten Meinungsgegensatz zwischen dem Kanzler und der O H L gegeben, sondern nur „graduelle Differenzen" über die Form der Herrschaftsausübung bei sachlicher Gleichheit der „annexionistischen Linie" Bethmanns. Aktenmäßige Vorbehalte werden dahin bagatellisiert (S.452, daß der Kanzler sich nur „taktische Handlungsfreiheit" sichern und sich nicht verpflichten wollte, den Krieg „auf jeden Fall bis zur Erreichung dieser Ziele fortzusetzen". 4 0 ) Ob dabei für B. H auch jene älteren Vorstellungen von der Befreiung des Baltikums vom Zarenjoch eine Rolle gespielt haben, die in seiner Reichstagsrede vom 5 . 4 . 1916 anklangen, vermag ich nicht zu erkennen. Das von F. Fischer 485 f. benutzte Protokoll dieser Besprechung im Z. A. Potsdam war mir leider nicht zugänglich. Fischer deutet ihr Ergebnis ganz im Sinn der späteren Verhandlungen Hoffmann-Ludendorffs in Brest-Litowsk, also als Plan einer verschleierten Form der Annexion, und glaubt damit alle bisherigen Deutungen der Haltung B. H.s in Kreuznach umstoßen zu können.

A n m e r k u n g e n z u m 11. K a p i t e l - I I I

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•») S o b e r i c h t e t e e r a m 29. H o h e n l o h e , w i e dessen M e l d u n g a n C z e r n i n v o m gleichen s.506 T a g e z e i g t : W i e n H . H . S t . A . K r i e g 2 5 x . D a n a c h h a t B. H . g e s a g t : „ I h m sei n i c h t d a s g e ringste d a v o n b e k a n n t , d a ß die O H L auf d e m S t a n d p u n k t stehe, mit R u ß l a n d F r i e d e n s v e r h a n d l u n g e n auf d e m status quo a n t e einzugehen; g a n z im Gegenteil h a b e G e n e r a l L u d e n d o r f f bei der l e t z t e n Anwesenheit des K a n z l e r s im H a u p t q u a r t i e r f ü r eine diesbezügliche A n r e g u n g , die er u n d der S t a a t s s e k r e t ä r v o r g e b r a c h t h ä t t e , sehr w e n i g V e r s t ä n d n i s g e z e i g t . " W a s W. Steglichs F r i e d e n s p o l i t i k , S. 7 0 , A n m . 80, a u s d i e s e r k n a p p e n A n d e u t u n g ableitet, geht m. E. z u weit. D a B. H . d a m a l s ü b e r h a u p t nicht e r n s t h a f t an die Möglichkeit einer F r i e d e n s v e r h a n d l u n g geglaubt h a t , k ö n n t e er höchstens a n deutsche F T i e d e n s e r k l ä r u n g e n i m S i n n des s t a t u s q u o g e d a c h t h a b e n . - U b e r z e u g e n d ist W. Steglichs N a c h w e i s ( e b d . A n m . 2 0 2 ) , d a ß B. H . d e n V o r s c h l a g d e r E r r i c h t u n g „ a u t o n o m e r " F ü r s t e n t ü m e r in K u r l a n d u n d L i t a u e n e r s t a m 7. 5. L u d e n d o r f f ü b e r m i t t e l t h a t . « ) U . A . I V , B d . 12 I ( G u t a c h t e n V o l k m a n n ) , A n l . 14, S. 2 0 0 f f . v. Müller 2 7 9 . s.506 43 ) E i n e g r o ß e W u n s c h l i s t e ü b e r F l o t t e n s t ü t z p u n k t e w u r d e a m 30. M a i v o n H o l t z e n d o r f f s. 506 d e m K a n z l e r v o r g e l e g t , d e r sie als v e r f r ü h t z u d e n A k t e n schreiben l i e ß , o b w o h l sie v o m K a i s e r g e b i l l i g t u n d a u c h v o n Solf a l s sachlich b r a u c h b a r a n e r k a n n t w a r . Sch.-Gr. II, N r . 129 = U . A . I V 12, S . 2 0 9 f . ( V o l k m a n n ) . 44 ) A k t e n v e r m e r k e a u f d e m B e g l e i t s c h r e i b e n G r ü n a u s v o m 2 4 . 4 . : A . A . W K r . 15 g e h . s.507 B d . 2, w e i t e r e E x e m p l a r e e b d . B d . 3, m i t B e g l e i t s c h r e i b e n L u d e n d o r f f s v o m 28. 4. A k t e n v e r m e r k f ü r d i e R e i c h s k a n z l e i b e i Westarp I I , 85. S c h r e i b e n a n H e r t l i n g : e b d . B d . 5 ( A b s c h r i f t ) , O r i g i n a l : A . A . D e u t s c h l a n d 1 2 2 , N r . 16, p u b l . in U . A . I V , 2 ( G u t a c h t e n S c h w e r t f e g e r ) S. 144, j e t z t b e i Sch.-Gr. I I , N r . 87. 45 ) V o r h e r h a t t e ihn H u g o Stinnes im A u f t r a g v o n L u d e n d o r f f auf plumpste Weise zu bestechen u n d f ü r die Kriegsziele der O H L z u g e w i n n e n versucht, aber vergeblich. N ä h e r e s b e i K. Epstein 191 ff., d e r a b e r m . E . d e n A u f z e i c h n u n g e n E r z b e r g e r s v i e l f a c h n i c h t kritisch g e n u g g e g e n ü b e r s t e h t . E r z b e r g e r s B e r i c h t v o m 2 1 . 4 . n e b s t A n l a g e j e t z t b e i Sch.-Gr. II, N r . 85. 46 ) E r b a t E r z b e r g e r , nichts v o n s e i n e r S t o c k h o l m e r R e i s e in W i e n z u e r w ä h n e n ( a l s o d o r t nicht falsche H o f f n u n g e n z u erwecken), b e m ä n g e l t e s o f o r t , d a ß über d a s eigentliche P r o b l e m , d i e G r e n z z i e h u n g , in d e m „ W a f f e n s t i l l s t a n d s e n t w u r f " g a r nichts K o n k r e t e s g e s a g t w a r , u n d b e m e r k t e in d e r o b e n z i t i e r t e n A k t e n n o t i z ü b e r d a s „ K r e u z n a c h e r P r o g r a m m " , d a ß „ m o m e n t a n k e i n e M ö g l i c h k e i t z u F r i e d e n s v e r h a n d l u n g e n b e s t e h t " , also d i e A u f s t e l l u n g eines K r i e g s z i e l p r o g r a m m s g a n z ü b e r f l ü s s i g ist. 47 ) E i n z e l h e i t e n d e r K o r r e s p o n d e n z b e i F. Fischer 4 8 8 f . u n d bei Kl. Epstein a.a.O., v. Müller 2 7 9 , j e t z t a u c h Sch.-Gr. I I , N r . 88, 9 0 , 9 2 , 9 3 , 9 4 . 48 ) In einer f ü r G e n e r a l D r a g o m i r o w bestimmten Kriegszielliste v o m 12.5., die w a h r scheinlich n a c h P e t e r s b u r g w e i t e r g i n g , w u r d e a u ß e r „ G e l d e n t s c h ä d i g u n g f ü r d e n U n t e r h a l t v o n w e i t über einer Million K r i e g s g e f a n g e n e r " ganz b r u t a l g e f o r d e r t : „Anschluß L i t a u e n s u n d K u r l a n d s a n D e u t s c h l a n d , d a w i r z u r V o l k e s e r n ä h r u n g m e h r L a n d b r a u c h e n " (!). Sch.-Gr. I I , N r . 114, 119, 125. Z u d e r L i s t e v o m 29. 4 . v g l . e b d . N r . 98 ( R a n d n o t e Z i m m e r m a n n s ) und M e l d u n g H o h e n l o h e s v o m 3 . 5 . über ein G e s p r ä c h mit Z i m m e r m a n n : W i e n H . H . S t . A . K r i e g 25 x . V g l . a. L u d e n d o r f f s Ä u ß e r u n g e n z u K o n s u l M a r x v o m 1 9 . 4 . , in d e n e n e r a u c h d e n E r w e r b v o n ö s e l als u n e n t b e h r l i c h b e z e i c h n e t e : e b d . N r . 79. Z u r P r o p a g a n d a in d e n S c h ü t z e n g r ä b e n v g l . R . A . W . X I I , 4 8 5 ff., 4 9 2 ff. u n d Sch.-Gr. I I , N r . 83. 49

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) Rabenau Seeckt 5 6 2 . S c h r e i b e n v o m 2 9 . 5 . , A d r e s s a t n i c h t g e n a n n t , w o h l d i e G a t t i n , s. 509 ) S. o. K a p . 4 z u A n m . 17. S.510 51 ) A . A . W K r . 15 g e h . B d . 3, u n d a t i e r t , a u f K o p f p a p i e r d e r ö s t e r r e i c h i s c h - u n g a r i s c h e n s. 510 B o t s c h a f t g e s c h r i e b e n , P r ä s e n t a t v e r m e r k d e s A . A . 3 0 . 5. D a z u Rabenau: Seeckt 5 6 9 , d e r n o c h e i n e n a u s f ü h r l i c h e r e n V o r s c h l a g Seeckts g e s e h e n h a t . S. a. W. Steglich: Friedenspolitik, K a p . 2, A n m . 2 4 8 . 50

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Anmerkungen zum 11. Kapitel - III

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5 2 ) Grünau an Zimmerman 9. 5., A. A. WKr. 15 geh. Bd. 3. - Näheres über die Affäre Stecklow bei W. Steglid} a. a. O. und F. Fischer 492 ff. Sch.-Gr. II, Nr. 107, 108, 110. Nach der Meldung Lersners vom 7. 5. (die mir vorliegt), ist übrigens der mit den Russen verhandelnde Nachrichtenoffizier nicht auf unbedingten Widerstand gegen Annexionen gestoßen. B. H.s Haltung wird natürlich von Fischer nicht als notgedrungenes Kompromiß gedeutet, sondern als machiavellistisch, wozu ihm die (auf Ludendorff berechnete) Wendung des Kanzlers, man müsse Kurland und Litauen „als selbständige Staaten frisieren" willkommenen Anhalt bietet. Es ist aber nicht einzusehen, wie B. H. die O H L zum Totalverzicht ihrer militärischen Unterhändler auf die baltischen Länder hätte zwingen können. Er wird geplant haben, sich selbst nicht „starr" zu zeigen, wenn erst einmal ernsthafte Verhandlungen in Gang kamen. Das zeigt auch Zimmermanns sehr vorsichtige Formulierung der vorzuschlagenden Friedensbedingungen vom 14. 5. im Gegensatz zu den unverhüllten Annexionsforderungen Ludendorffs vom 12. und seiner am 9. erhobenen Forderung, die Unterhändler (Oberst v. Winterfeldt, Gesandter Rosenberg und Abgeordneter Dr. David) sollten den Russen vorrechnen, sie schuldeten Deutschland mindenstens 2,25 Milliarden Mark für den Unterhalt einer überschießenden Million russischer Kriegsgefangener: dann „würden sie wohl für die Abtretung Kurlands und Litauens zu haben sein" (!). Den Unterschied zwischen dieser Art von „Diplomatie" und der des A. A. sucht Fischer vergebens zu bagatellisieren.

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5 3 ) Czernin an Hohenlohe 23. 4. Wien H.H.St.A. Krieg 25 x. Für Czernin charakteristisch ist die Motivation seines Schrittes: Österreich braucht Sonderfrieden mit Rußland wegen seiner Ernährungsnöte, die ein friedliches Rußland lindern könne - was in Berlin auf stärkste Zweifel stieß. - Im einzelnen verzidite ich i. a. auf Einzelbelege und verweise dafür auf W. Steglich Friedenspolitik 2. Kap., der das mir vorliegende Quellenmaterial, noch durch weitere Dokumente vermehrt, sehr detailliert vorführt. 5 4 ) Ebd. Krieg 25 t (26.-28.4.). Rizow sollte an Maxim Gorki schreiben, „Rußland könne von den Zentralmächten einen Frieden ohne gegenseitige Annexionen und Entschädigungen bei Schaffung eines unabhängigen Polen haben"; aber B . H . und Zimmermann wußten „aus geheimer Quelle", daß man Rizow in Rußland „nicht über den Weg traue", wünschten ihn also nicht als Vermittler. 55 ) K. Epstein 194 f. Auch Graf Wedel meldete am 18. 4., Clam-Martinitz halte Czernins Befürchtungen für übertrieben und glaube an keine Revolutionsgefahr; audi die österreichischen Sozialisten dächten nicht daran: Sch.-Gr. I I , Nr. 77. 5 6 ) Der Eindruck „unverständlicher Schwankung" war durch eine bewußt unwahre Behauptung Kaiser Karls hervorgerufen worden, der Verbindungsoffizier der OHL, General Cramon, habe ihm mitgeteilt, daß diese jetzt mit russischen Militärs über einen Frieden ohne Eroberung und Entschädigung verhandle. Das führte zu Mißverständnissen und falschen Vorwürfen gegen Cramon, die erst nach und nach aufgeklärt werden konnten. Vgl. dazu Cramon Deutschlands Schicksalsbund 168 ff. 5 7 ) Sein ausführlicher Bericht über die deutschen Presse-Äußerungen zur Frage des annexionslosen Friedens und den Fremdenblattartikel (vom 28.4.) zeigt, daß die ganze bürgerliche Presse, selbst das demokratische Berliner Tageblatt, mit der Scheidemannschen Erklärung unzufrieden war und daß der Artikel Czernins der deutschen Regierung ernstliche Ungelegenheiten bereitete. Im Gespräch mit Stumm sdilug er vor, mit Rußland gegenseitige Grenzberichtigungen zu vereinbaren und bot dafür (offenbar ohne Auftrag und Vollmacht) Ostgalizien an. Stumm vermutete einen „Fühler" dahinter. Aufzeichnung Stumms 2 9 . 4 . A . A . WKr. 15 geh. Bd. 2. 5 8 ) Im ursprünglichen Entwurf war auch eine Wiederherstellung der vollen Integrität Österreich-Ungarns und entsprechende Modifikation der Balkangrenzen verlangt, was aber Czernin dann fallen ließ.

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Anmerkungen zum 11. Kapitel - III

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59) Näheres bei W. Steglich, a. a. O., nach den (auch mir vorliegenden) bayrischen Staatsakten und A. A. WKr. 15 geh. Bd. 3. Hertlings Telegramm an B. H. ging durch die deutsche Botschaft, war aber von Botschafter von Mérey aufgesetzt bzw. umredigiert. 60) Bericht Hohenlohes 2. 5., a. a. O. Vgl. a. die weitere Korrespondenz bei Sdi.-Gr. I I , Nr. 101. 61) Ludendorff Urkunden, 353, 380ff. Sdj.-Gr. I I , Nr. 104 s. o. Anm.25. 62) Protokoll Varnbülers 8.5., Stuttgart H.St.A. E 49-5. Auß.Min. IV, 3 B.A.V 16. 6 3 ) Gegenüber Hohenlohe sprach B. H . von Erzbergers Stockholmer Reise am 1 . 5 . in einer Weise, die sie als weitgehendes deutsches Friedensangebot erscheinen ließ. Zimmermann erklärte sich nach einigem Hin und Her damit einverstanden, daß Rizow an Gorki schreiben könne. Schließlich wurde auch auf einen Friedensfühler v. d. Lanckens mit dem Kammerpräsidenten Deschanel hingewiesen, alles, um die Österreicher zu beschwichtigen. Im Hauptausschuß hat Zimmermann am 28. 4. einen recht gequälten Versuch gemacht, die Politik des Schweigens zu rechtfertigen, ohne die Vertreter der Sozialdemokratie (David) zu verärgern. Protokollauszug im A. A. WKr. 15 geh. und Deutschland 122, 2 c, Nr. 1. 6 4 ) Näheres bei W. Steglich a a. O. Die Korrespondenz Czernin-Hohenlohe erliegt in Wien H.H.St.A. Krieg 25 x. Dazu Zimmermann an Wedel 3. 5. und 4. 5., Berichte Wedels 5. 5., 6. 5. Czernin an Hohenlohe 3. 5. Wien H.H.St.A. Preußen III/175. Czernin suchte die Entsendung des Grafen Berchtold durch Kaiser Karl ins deutsche Hauptquartier zu verharmlosen, ebenso die Mission Hertlings und Holtzendorffs. 65) Er nahm die (indirekte) Kritik des Botschafters auch nicht ohne Empfindlichkeit auf, was durch einen Privatbrief Hohenlohes vom 8. 5. bereinigt wurde. 66) So schildert es K. Epstein 194 nach Erzbergers Papieren. In Erzbergers offiziellem Bericht an das A. A. und in seinen Memoiren findet sich davon nichts.

s. 514 s. 514 .515 s. 516 s. 516

s

s. 517

s. 517 S. 518

67) Czernin: Im Weltkrieg 211 fF. Werkmann: Deutschland als Verbündeter 176 (sucht s.519 Kaiser Karl zu rechtfertigen und die Ubergabe der Denkschrift als bloßes Versehen darzustellen). Cramon: Deutschlands Schicksalsbund 179 ff. (berichtet über die Heuchelei und Lügen Karls). Ludendorff: Urkunden 390 ff. (Presseaufsätze Graf Wedels undCzernins 1919 über die Vorgänge). Erzberger: Erlebnisse 116 ff. K. Epstein: 195, 229 f. Bericht Erzbergers an Zimmermann 25.4., veröffentl. in den Münchener Neuesten Nachr. 10.3.1922. Auffallend ist an diesem Bericht (der in den „Erlebnissen" inhaltlich wiederholt wird), daß Czernin in der offenbar nur kurzen Unterredung mit Erzberger erklärt hat, er „glaube nicht an einen Sonderfrieden mit Rußland, den England immer verhindern werde" und „wolle vorerst keine Aktion zugunsten des Friedens unternehmen". Das klingt wie Resignation, kann aber auch als bloße Abwehr der Vorstellungen verstanden werden, die Erzberger gegen seine Politik zu erheben den Auftrag hatte. Außerdem lag Czernin daran, den Abgeordneten zu einer katholischen Friedensaktion zu ermuntern, was dieser auch positiv aufnahm. Unrichtig ist, wenn K. Epstein 194 meint, Czernin habe die Revolutionsgefahr „bagatellisiert". Nach Erzbergers Bericht war eher das Gegenteil der Fall. 67a) Prince Sixte, Offre de Paix Séparée 159ff. S.519

68) S. o. 10. Kapitel, Anm. 35.

s. 520

) Sixte de Bourbon 165 ff. Lloyd George War Memoirs IV, 2011 ff. Die Besprechung s. 521 mit Ribot am 20. zeigte u. a., daß diesem nicht das mindeste daran lag, den Italienern das Trentino zu verschaffen, ehe nicht die Franzosen Elsaß-Lothringen in Händen hielten. Überdies hielt er das italienische Angebot für mehr als fragwürdig. Karls Brief und der Entwurf des Prinzen Sixtus dazu auch bei Polzer-Hoditz 602 f. in deutscher Übersetzung. 69

7 0 ) Andeutung in B. H.s Immediatbericht vom 14. 5. Sch.-Gr. I I , Nr. 118 mit Randglosse s.522 Wilhelms II. Dazu Bethmann Hollweg Betrachtungen II, 203 ff. Gedanken des Kaisers zu dem vermeintlichen „Angebot" der Entente s. Sch.-Gr. II, Nr. 120. Ein erneutes Auftauchen

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A n m e r k u n g e n z u m 11. Kapitel - I V

d e r beiden Prinzen in Wien wurde dem Botschafter und der O H L (irrig) am 30. Mai durch C r a m o n gemeldet. Wedel gab die Nachricht an das A. A. weiter. B. H . vermerkte auf dem R a n d e dieser Depesche, er vermute, daß die Prinzen sich A n t w o r t holen wollten u n d daß C z e r n i n also wohl um Informationen bitten würde, was er antworten solle. In diesem Fall sollte angestrebt werden, mit ernsthaften Persönlichkeiten ins Gespräch zu kommen, U n t e r haltungen mit nicht verantwortlichen Persönlichkeiten w ä r e n nur schädlich. Demnach war bis 30. 5. noch keine offizielle Stellungnahme deutscherseits erfolgt. Wedel an A. A. 30. 5. Scb.-Gr. II, N r . 131. I m H a u p t q u a r t i e r brachte man den angeblichen neuen Besuch des P r i n z e n mit einer Reise Karls nach Feldkirch in Verbindung (wo die jüngsten Brüder d e r Kaiserin zur Schule gingen); er scheine dort Briand treffen zu wollen - Gerüchte, die Wedel nach Befragung Czernins zerstreute. Depeschenwechsel 4./6. 6. publ. in Münchener Neueste Nachr. März 1922. s.

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S. 524

S, 524 S. 525 S. 525

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) Czernin an Hohenlohe 13. 5., Antwort 15. 5. Wien H . H . S t . A . Krieg 25 x. ) S. o. 10. Kapitel, A n m . 7! Wedel an A . A . 15.5.: Scb.-Gr. II, N r . 121. Wie richtig Wedel die Stimmung in der österreichischen Diplomatie beurteilte, ergibt ein sehr verärgerter Telegrammwechsel Musulins (Bern) mit Czernin vom 4.-8. 5.: Wien H . H . S t . A . Krieg 25 x. Wedels Äußerungen über das Auftreten des Prinzen Sixtus im M a i (er kam diesmal allein) sind so unexakt, daß auf seine spätere Versicherung vor dem p a r l a m e n t a rischen Untersuchungsausschuß 1922 (auf die W. Steglich a. a. O. besonderen Wert legt), Kaiser Karl habe 1917 keinen Sonderfrieden gewollt, wenig zu geben ist. Er w a r doch nur halb informiert. 73 ) Es war der frühere Getreidehändler H e r m a n n Weil aus F r a n k f u r t , der sich schon seit J a h r e n durch statistische Gutachten über die englische Lebensmittelversorgung hervortat. Vgl. d a z u W. Görlitz in v. Müller Kriegstagebücher 286, A n m . 42. 74 ) G r ü n a u an Zimmermann 9. 5. und 13. 5. Lersner an A. A. 10. 5., alles A. A. W K r . 15 geh. Bd. 3. Die Depesche vom 13. bei Sch.-Gr. II, N r . 115. 75 ) Westarp II, 87. 76 ) Erzberger schlug v o r : „Keine Annexionen, keine Kriegskostenentschädigung, aber Kompensationen f ü r die besetzten Gebiete." K. Epstein: Erzberger, 200, der diese Formel z w a r zweideutig, aber seltsamerweise besser findet als B. H.s „vage Gemeinplätze". 77 ) Romberg an A . A . 13.5. gedr. bei W. Hahlweg: Lenins Rüdekehr, 58 ff. Dazu W. Steglich a. a. O. 78 ) Kriegstagebücher 287. 79 ) Hohenlohe an Czernin 15. 5. Wien H . H . S t . A . Preußen III/173. 71

Abschnitt IV S. 528

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) G r ü n a u an B . H . 2 5 . 4 . (zwei Telegramme). Zimmermann an Grünau 2 6 . 4 . G r ü n a u a n Z i m m e r m a n n 2 7 . 4 . A n t w o r t 28.4. Alles A . A . W K r . 15 geh. Bd. 2, jetzt teilweise bei Sch.-Gr. II, N r . 89, 91. 81 S.528 ) Zimmermann an Wedel 28. 4. Sch.-Gr. II, N r . 96. 82 S. 528 ) G r ü n a u an A. A. 2. 5.: Sch.-Gr. II, N r . 103 Wedel an A. A. 6. 5. und 7. 5. G r ü n a u an A . A . 8 . 5 . Aufzeichnung Stumms 8.5.: alles A . A . W K r . 15 geh. Bd. 3. Ludendorff entschuldigte sich, er habe verschiedene Meldungen miteinander verwechselt. - Schon vorher zwei drängende Telegramme Ludendorffs (durch Lersner) 29. 4., ebd. Bd. 2 u n d jetzt gedr. bei Sch.-Gr. II, N r . 100. 83 S. 529 ) Bulgarien verlangte den Erwerb der ganzen Dobrudscha, während ihm das Ausw ä r t i g e Amt nur die 1913 verlorenen südlichen Teile zugestehen wollte, um den Rumänen ihre einzige Bahnlinie zum Schwarzen Meer ( C z e r n a w o d a - C o n s t a n z a ) zu erhalten und

Anmerkungen zum 11. Kapitel - IV

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nicht alle Verbindungswege zur Türkei in bulgarische Hand zu bringen. Radoslawow berief sich indessen auf eine angebliche (wahrscheinlich mißdeutete!) mündliche Zusage Kaiser Wilhelms vom Dezember 1916. Vgl. dazu W. Steglich Bündnissicherung 152 ff. und Kühlmann Erinnerungen (1948) 552. - Zimmermann fürchtete ebenso wie der deutsche Gesandte in Sofia, daß Ludendorff durch schroffes Abweisen bulgarischer Wünsche in der Dobrudscha den Bundesgenossen verärgern könnte: A. A. an Lersner 4. 5. Oberndorff (Sofia) an A. A. 7. 5. Lersner an A.A. 10.5.: alles A.A. WKr. 15 geh. Bd. 3. 8 4 ) Akten über die Berliner Konferenz vom 12.5. in A . A . WKr. 15 geh. Bd. 3. (Teil- 5530 kopie auch in anderen Aktenscrien.) Vorausgegangen war am 5. 5. eine Besprechung im Reichsamt des Innern mit deutschen Interessenten (besonders Banken) für die bulgarischserbischen Kohlen- und Erzvorkommen: A.A. Bulgarien 7. B. H. erklärte sich am 6 . 5 . gegenüber der OHL mit einer Besprechung zwischen ihr, dem Kanzler und Czernin am 17. 5. vor Eintreffen König Ferdinands einverstanden. Antwort der OHL (durch Lersner) 7. 5. - Stumm an Grünau 9. 5. Grünau an A. A. 15. 5. (Ludendorff erbittet Mitteilung der Verträge mit der Türkei und der Abmachungen mit Österreich-Ungarn über Subsidienzahlungen, erhält sie zugesagt). Einen merkwürdigen Eindruck von der Abhängigkeit des A. A. von der OHL erhält man aus einem Telegrammwechsel Zimmermanns mit Lersner vom 2 8 . 4 . - 1 . 5 . Sch.-Gr. II, Nr. 95, 99, 102, in dem Ludendorff gewissermaßen um die Erlaubnis gefragt wurde, den Linkssozialisten Ledebour zur Stockholmer Konferenz reisen zu lassen, obwohl Ludendorff sich selbst für solche rein politischen Fragen zunächst für unzuständig erklärte. 8 5 ) Korrespondenz zwischen Kühlmann-A. A. und Lersner 19.5., 21.5., 23.5., 30.5., s. 530 1 . 6 . - Lossow an Ludendorff 6. 6. - Kühlmann an A. A. 14. 6. (überreicht Meldung Lossows für OHL vom 6. 6. nebst Achtpunkte-Programm mit Envers Stellungnahme). - Schriftwechsel Zimmermann-Grünau, 20. 6., 22. 6. Alles WKr. 15 geh. Bd. 3 Ludendorffs Auftrag an Lossow datiert von Anfang Mai. 8 6 ) Zimmermann an Kühlmann 23.5. ebd. Ludendorff dagegen betrachtete die Kreuz- s.530 nacher Punkte als feste Abmachung, auf die er sich z. B. bei einem Protest gegen die Anerkennung des venizelistischen Griechenland durch die Bulgaren berief: Ludendorff an A. A. 30. 5., ebd. 8 7 ) Zimmermann an Grünau (über eine Mitteilung Hohenlohes) 5 . 5 . A . A . WKr. 15 s.530 geh. Bd. 3. Wedel an A. A. 4.-6.5., ebd., der letztgenannte Bericht bei Sch.-Gr. II, Nr. 106. General Arz, der auf konkrete Weisungen für die Schützengrabenpropaganda drängte, zeigte sich seinerseits bereit, auf die ruthenischen Gebiete Galiziens zu verzichten. Czernins Weisung an Hohenlohe 4. 5., dessen Antwort 5. 5. Wien H.H.St.A. Krieg 25 t. 8 8 ) Czernin an Otto Graf Czernin (Sofia) Mai 12, dessen Antwort 15.5. (zwei Tele- s. 531 gramme), Wien H.H.St.A. Krieg 25 x. Czernin an denselben 16. 5. ebd. geh. XLVII/3-8. 89) S. o. 10. Kapitel, Anm. 38. S.531 9°) Es finden sich im Wiener H.H.St.A. geh. XLVII/13 verschiedene Entwürfe Czernins. s. 531 Der eine trägt die Form eines Vertrages, der andere den eines Czerninschen Briefes an B. H., den dieser bestätigen sollte. Im ersten Entwurf ist auch von Rüdegabe wenigstens der meisten deutschen Kolonien die Rede. Ob diese Entwürfe auch in Kreuznach vorgelegt wurden, ist nicht zu ermitteln. 9 1 ) Aufzeichnung mit Begleittexten: A. A WKr. 15 geh. Bd. 3. Gedr. bei Volkmann s.532 U.A. IV, 12, 202 ff. = Sch.-Gr. I I , Nr. 123. Unterzeichnet ist die Aufzeichnung zunächst von B. H.; dazu schrieb Czernin „vorbehaltlich der Zustimmung der kompetenten Faktoren einverstanden". 92) Wedel an A.A. 23.5.: Sch.-Gr. II, Nr. 127. Czernin an Kaiser Karl 18.5. „Verhand- s.532 lungen verlaufen befriedigend, Einsetzung eines polnischen Regenten leider nicht erreicht."

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S. 533 S. 534 S. 535

Anmerkungen zum 12. Kapitel - I

Wien H.H.St.A. geh. X L V I I / 3 - 1 8 . Am 28.5. empfing Clam-Martinitz ukrainische Abgeordnete und sagte ihnen, es sei keine Rede von Bereitschaft österreidis, Ostgalizien abzutreten: Wedel an A. A. 30. 5. A. A. WKr. 15 geh. Bd. 3. 93) Czernin an Bethmann 18.6. Zimmermann an Wedel 5 . 7 . Derselbe an Lersner 6 . 7 . Wedel an Zimmermann 8. 7. Zimmermann an Lersner 1 1 . 7 . Ludendorff (durch Leg.Sekr. Berckheim) an Zimmermann 10.7. Zimmermann an Wedel 2 6 . 7 . Dessen Antwort 31.7.: A. A. WKr. 15 geh. Bd. 3 ^ f . 9 4 ) Näheres s. bei W. Steglich Friedenspolitik und F. Fischer 498 ff., der die Bedeutung der Episode m. E. entschieden übertreibt. Daß die Veröffentlichung dieser Kriegszielliste die deutschen „Regierungssozialisten" (gemeint sind Scheidemann und Ebert) in Stockholm „mit dem Odium des Annexionismus belastet" habe, ist weder nachweisbar noch wahrscheinlich. K. Epstein M. Erzberger 201 spricht von einer vermittelnden Tätigkeit Erzbergers bei dieser Affäre, ohne sie zu belegen. S. a. Sch.-Gr. I I , Nr. 133, 134. 9 S ) Vgl. Bd. I I , 319 ff., 325 f. Für das Folgende: W. Steglich Friedenspolitik, Kap. 2 aus Wiener Akten. Handschreiben Kaiser Karls vom 7 . 6 . : Sch.-Gr. II, Nr. 136. Antwort Wilhelms II. vom 22. 6. ebd. Nr. 143. 9 6 ) Aktenbeleg bei W. Steglich: Friedenspolitik, Kap. 2, Anm. 260. 9 7 ) Zimmermann (aus dem Hauptquartier) an A. A. und an Wedel 13. 6. A. A. WKr. 15 geh. Bd. 3. Entwurf des Artikels mit Korrekturen ebd. WKr. 2 geh. Bd. 41 (Fotokopie D 9 6 6 1 7 7 - 8 ) . Ludendorff (durch Grünau) an A . A . 2 6 . 6 . Wedel an A . A . 2 8 . 6 . Ludendorff an A. A. 4. 7. ebd. WKr. 15 geh. Bd. 4. F. Fischer 468 bringt nichts über die Entstehungsgeschichte der Zimmermannsdien Instruktion.

A N M E R K U N G E N ZUM 12. K A P I T E L Abschnitt S. 537

S. 538 S. 540 S. 540 S.541

S. 544

I

Eindrucksvollste Schilderung dieser und anderer Nöte in der für B. H. bestimmten Denkschrift des sozialdemokratischen Partei- und Fraktionsvorstandes von Ende 1917 bei Scheidemann Zusammenbruch 161 ff. Über die inneren Schwierigkeiten der Sozialdemokratie Herzfeld auch zu vgl. das (vom rechtsparteilichen Standpunkt geschriebene) Buch von H. Die deutsche Sozialdemokratie und die Auflösung der nationalen Einheitsfront im Weltkrieg 1928. 2 ) Bethmann Hollweg II, 189. Über die Klagen und Mißstände s. K. Helfferich I I I , 86 ff. 3 ) L. Bergsträsser Die preußische Wahlrechtsfrage, besonders 95 ff. 4 ) Über die Vorgeschichte dieser Rede, zu der ihn Wahnschaffe und der Pressechef Deutelmoser gedrängt hatten, vgl. L. Bergsträsser, 117 f. 5 ) Vgl. etwa die Haltung Meineckes und seiner Berliner Freunde in diesen Monaten: F. Meinecke: Politische Schriften und Reden, hgg. von G. Kotowski (1958), 146ff.; dort auch S. 171 ff. die Vorschläge zur preußischen Wahlrechtsreform von F. Thimme vom August 1916. Ferner den Brief A. v. Harnacks an seine Nichte vom 23. 6. 1917 bei R. Fester Politik Kaiser Karls, S. 255 f. 6 ) Den Vorwurf L. Bergsträssers 133, das sei eine „Halbheit und ein Fehler" gewesen, wage ich nicht zu wiederholen. Denn wer vermag als Nachlebender abzuschätzen, was in diesem Augenblick im Gespräch mit dem Kaiser möglich und ratsam war? Immerhin hat B . H. mit seiner Bemerkung tiefen Eindruck auf den Kaiser gemacht: es würde ihm unmöglich sein, „vor dem Lande eine Vorlage zu vertreten, in der ein mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse geschmückter armer Arbeiter neben einem bemittelten Drückberger des-

Anmerkungen zum 12. Kapitel - II

683

selben Ortes mit ungleichem Stimmrecht zur Wahl zu gehen hätte". Das hat bei Wilhelm II. lange nachgewirkt. S. dazu L. Bergsträsser 140, Fußnote. 7 ) Vgl. das eben genannte Telegramm (bei L. Bergsträsser 153). Danach hat er zum mindesten nicht geglaubt, daß sich das allgemeine Wahlrecht im Landtag würde durdisetzen lassen. Doch klingt sein Bericht vom 11. Juli (Kaiser und Kabinettchef 163) anders. 8) Bethmann Hollweg II, 191 ff. Valentini 153. Dazu auch L. Bergsträsser a. a. O., 154 ff. Die dort S. 161 an B. H.s „Politik der Diagonale" geübte Kritik läßt die (m. E. entscheidende) Frage unerörtert, ob es in diesem Falle praktisch einen andern Weg gab, d. h., ob für B. H. irgendwelche Aussicht bestand, durch energisches Auftrumpfen und Rücktrittsdrohungen den Kaiser schneller und sicherer an das gewünschte Ziel zu bringen. - Uber Bethmanns zunächst vergebliche Versuche, Scheidemann und seinen Verfassungsausschuß von der Behandlung der Frage der Offizierspatente abzubringen, s. Scheidemann: Zusammenbruch, 168 ff. (Gespräch vom 7.5.). ') Schulthess: Geschichtskalender, 1917 I, 591 f. 10) Bethmann Hollweg II, 191. H) Ludendorff: Kriegserinnerungen, 356. Was er dort über das Ideal eines „berufsständischen Wahlrechts" schreibt, das auch Bismarck vorgeschwebt habe (!), dürfte erst aus der Zeit seiner politischen Aktivität nach dem Kriege stammen. 12 ) Vgl. sein Schreiben an Minister Drews am 8. 12. 1917: Urkunden 291 ff. 1 3 ) Kanzler an O H L 6. 6. Potsdam Z. A. Rkzl. V I I , 11; ebd. auch die anderen, im Text zitierten Stücke. Das Schreiben der O H L vom 11. 5. ist gedruckt bei Sch.-Gr. II, Nr. 112. 1 4 ) Ich gebe im folgenden den Inhalt einer 7 Seiten langen Denkschrift wieder, deren Entwurf sich im Nachlaß Bauers (B. A. Koblenz) Mappe 2 Blatt 169 ff. findet. Sie ist undatiert, scheint aber kurz nach dem 20. 4. entstanden zu sein, da sie gegen den sozialdemokratischen Friedensappell von diesem Tage polemisiert. Inhaltlich berührt sie sich stark mit dem Memorandum vom März 1917, das Bauer selbst in seinen Memoiren (Der große Krieg in Feld und Heimat) 134 ff. veröffentlicht hat. Freilich gibt es auch Widersprüche und Inkonsequenzen sowohl zwischen beiden Memoranden wie innerhalb jedes von ihnen. 15) S.Bauers Memoiren 159, dazu die von L. Bergsträsser 135 berichtete Äußerung. Am 29. 6. meldete der bayrische Legationsrat v. Krafft (im Hauptquartier des Kronprinzen Rupprecht), er entnehme aus Gesprächen mit dem preußischen Major Mende, Verbindungsoffizier der OHL, daß „der Generalstab Ludendorff (oder Hindenburg als seinen Strohmann) zum Kanzler machen möchte". Münch. G.St.A. Pol. A. VII/39. 16 ) Leg.Rat Y. Krafft an Hertling 13. 3. 1917: München G.St.A. Pol. A. VII/39. Abschnitt

s. 545 s.546

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s.547 s.549 s.549

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II

1) Hellingrath an Hertling 3 . 5 . 1 9 1 7 : München G.St.A. Pol. A. VII/66. Hellingrath war ein entschiedener Verfechter der preußischen Wahlrechtsreform; er fand sie zur Erhaltung der guten Stimmung in der ganzen Armee nötig: L. Bergsträsser a. a. O. 157. Man sagte ihm aber im Hauptquartier, der Kanzler versage vollständig, lasse „die Zügel am Boden schleifen", usw. 2 ) Berichte Hohenlohes an Czernin 26.2., 6 . 5 . , 9 . 5 . Czernin an Hohenlohe 9 . 5 . Wien H.H.St.A. Preußen III/173 bzw. Krieg 25 x. Meldungen aus Süddeutschland: A . A . Deutschland 122, Nr. 16 geh. Großherzogin Luise von Baden wollte am 1. 3. B. H. zu seiner letzten Reidistagsrede beglückwünschen. 3 ) Aufzeichnung Weizsäckers vom 13.5. über ein Gespräch vom 8.5., Nachlaß Weizsäcker,