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German Pages [228] Year 2014
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Staats- und Verfassungskrise 1933 Herausgegeben von der Parlamentsdirektion
BÖHLAU VERLAG WIEN · KÖLN · WEIMAR
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Redaktion: Barbara Blümel, Ulrike Felber Umschlagabbildung: © ÖNB /Hilscher Inv. Nr. H1918/2
© 2014 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Layout: Bettina Waringer, Wien Korrektorat: Melanie Mandl Druck und Bindung: Finidr s.r.o., CZ-737 01 Český Těšín Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-205-79519-3
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Inhalt
Susanne Janistyn-Novák Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Demokratiekrise und Staatsentwürfe Ilse Reiter-Zatloukal Parlamentarismus im Fadenkreuz. Demokratiekonzepte und (Anti-)Parlamentarismus in Österreich 1918 bis 1933/34 . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Helmut Wohnout Schritte auf dem Weg zur Diktatur. Die Entwicklung nach dem Ende des demokratischen Parlamentarismus im Spannungsfeld der deutschen und italienischen Österreichpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Ewald Wiederin Die Rechtsstaatskonzeption der Verfassung 1934. Zugleich Mutmaßungen über die Gründe einer Begriffsrenaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Clemens Jabloner Wenigstens formale Kontinuität? Gescheiterte Bemühungen nach dem 4. März 1933 . . . . . . 99 Anton Pelinka Kommentar zum Panel „Demokratiekrise und Staatsentwürfe“ . . . . . . . . . . . . 113
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Inhalt
Wirtschafts- und europapolitische Verortung der Ereignisse Dieter Stiefel Der Ruf nach autoritären Strukturen: Wirtschaft und Ständestaat . . . . . . . . . . . . . . . . . .125 Helene Schuberth Aktuelle Krisenbewältigung im Vergleich mit den Strategien der 1930er-Jahre . . . . . . . . . . . . . 145 Peter L. Lindseth Der europäische Kontext: Von der Krise der Zwischenkriegszeit zur Verfassungsregelung nach dem Krieg und darüber hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Sonja Puntscher Riekmann Legitimität und Repräsentation in der EU in zeitgeschichtlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . 197 Ernst Bruckmüller Kommentar zum Panel „Wirtschafts- und europapolitische Verortung der Ereignisse“ . . . . . . . . . . 211
Autorinnen/Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
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Susanne Janistyn-Novák
Vorwort
Vielleicht fragt sich die Leserin/der Leser, weshalb – angesichts zahlreicher Publikationen über das politische System der Jahre 1933 bis 1938 in Österreich – nun ein weiterer Tagungsband zum 4. März 1933 erarbeitet wurde. Die Antwort darauf fällt eindeutig aus. Historische Betrachtungen sind wohl nie abzuschließen, weil jede Zeit aus ihrem Blickwinkel und mit ihren aktuellen Fragestellungen sowie Herausforderungen neue Interpretationen entwickelt. Die Autorinnen und Autoren haben dort, wo es möglich war, diesen Bezug zur Gegenwart hergestellt. Der 4. März ist aber gerade aus der Sicht des Parlaments ein markantes Datum, weil die anti-parlamentarischen Strömungen letztlich zu dessen Ausschaltung führten. So erklärte die Präsidentin des Nationalrates Mag.a Barbara Prammer in ihrer Eröffnungsrede zur Tagung, dass die Auseinandersetzung mit der Ersten Republik und mit den Ereignissen 1933/34 deshalb so wichtig ist, „weil sie uns lehrt, dass Parlament und Demokratie keine Selbstverständlichkeit sind, und dass sie immer wieder neu verteidigt werden müssen.“ Um den Einstieg zu erleichtern, möchte ich kurz den eigentlichen Anlass und Verlauf der verhängnisvollen Sitzung am 4. März 1933 nachzeichnen. Der Grund für die Einberufung des Nationalrates war die Durchführung eines zweistündigen Eisenbahnerstreiks am 1. März 1933, der sich gegen eine Gehaltsauszahlung in drei Raten richtete und mit der Befürchtung verbunden war, dass nicht der volle Lohn ausbezahlt würde. Als Folge dieses Streiks verhängte die Generaldirektion der Österreichischen Bundesbahnen mit dem Rückhalt der Bundesregierung drakonische Strafen, die bis zu Entlassungen führten. Mit Spannung erwarteten die Medien die Beschlüsse in der Nationalratssitzung, die auf Verlangen der sozialdemokratischen Par-
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Vorwort
lamentsfraktion am Samstag, dem 3. März 1933, um 15.15 Uhr vom damaligen Nationalratspräsidenten Karl Renner eröffnet wurde. Im Mittelpunkt der heftig geführten Auseinandersetzung stand die Frage nach den Konsequenzen für die Streikenden, die in drei Anträgen von den Abgeordneten der sozialdemokratischen, der großdeutschen und der christlich-sozialen Fraktion formuliert wurden. Der vom Sozialdemokraten Berthold König eingebrachte Antrag hatte folgenden Wortlaut: „Die Bundesregierung wird aufgefordert, 1. dafür Vorsorge zu treffen, daß die Generaldirektion der Bundesbahnen die ihren Bediensteten gebührenden Dienstbezüge dienstordnungs- und vertragsmäßig ausbezahle; 2. dafür Vorsorge zu treffen, daß die ihren Angestellten gegenüber in Verzug geratene Generaldirektion der Bundesbahnen keinerlei Maßregelung jener Bediensteten verfüge oder veranlasse, die zum Protest gegen das ordnungswidrige Verhalten der Generaldirektion der Bundesbahnen den Streik beschlossen und an ihm teilgenommen haben; 3. dafür Vorsorge zu treffen, daß die von der Generaldirektion der Bundesbahnen eingeleiteten und veranlaßten Maßregelungen und Verfolgungen aller Art rückgängig gemacht werden.“1
Die Abgeordneten des Nationalen Wirtschaftsblocks Hans Schürff, Hans Prodinger und der Dritte Präsident des Nationalrates Sepp Straffner, legten dem Nationalrat folgenden Antrag zur Beschlussfassung vor: „Die Bundesregierung wird aufgefordert, dem Nationalrat ehestens eine Vorlage, betr. die Rückführung der Bundesbahnen in die Hoheitsverwaltung und damit die Gleichstellung der Bundesbahnangestellten mit den Bundesangestellten, vorzulegen. [...] Der Nationalrat fordert die Bundesregierung auf, daß die am zweistündigen, 1
Stenographisches Protokoll über die 125. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, IV. Gesetzgebungsperiode, 04.03.1933, 3358.
Vorwort
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aus wirtschaftlichen Gründen geführten Demonstrationsstreik am 1. März l. J. beteiligten Eisenbahnbediensteten mit derselben Nachsicht behandelt werden, wie dies bei dem aus politischen Motiven entsprungenen Eisenbahnerstreike des Jahres 1927 der Fall war, und zwar umso mehr, als die Generaldirektion der Bundesbahnen erst im letzten Augenblick bisher nicht angewandte drakonische Maßnahmen gegen die am Streik Beteiligten angedroht hat.“2
Der Abgeordnete Leopold Kunschak fasste die Vorstellungen der christlichsozialen Fraktion wie folgt zusammen: „Die Bundesregierung wird ersucht, die Generaldirektion der Österreichischen Bundesbahnen zum sofortigen Abschluß aller aus Anlaß des Streiks gegen Angestellte der Bundesbahnen eingeleiteten Erhebungen zu veranlassen. Damit soll erreicht werden, daß mit der Beunruhigung, die sich draußen in den verschiedenen Stationen tut, Schluß gemacht wird. [...] Das im Zuge dieser Erhebungen gesammelte Material ist, soweit die Entscheidung hierüber in die Kompetenz des Bundesministeriums für Handel und Verkehr fällt, ohne Verzug dem Bundesminister für Handel und Verkehr zu übermitteln, welcher hierüber unter Vermeidung von Härten die Entscheidung zu treffen hat. Der Nationalrat nimmt die Erklärung des Herrn Ministers für Handel und Verkehr zur Kenntnis, wonach er in besonderen Fällen die Entscheidung der Bundesregierung einholen werde.“3
Noch in der laufenden Debatte meldete sich Bundeskanzler Engelbert Dollfuß zu Wort und verteidigte die Haltung der Bundesregierung, indem er darauf verwies, dass im Laufe von zwei Jahren fast 163 Millionen Schilling für die Aufrechterhaltung der Verpflichtungen gegenüber den Bundesbahnen für die Abdeckung des Finanzabgangs 2 3
Sten. Prot., 125. Sitzung, 3365. Sten. Prot., 125. Sitzung, 3372.
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Vorwort
reserviert worden waren. Er erklärte, dass es für weitere Zahlungen weder eine rechtliche Grundlage noch einen finanziellen Spielraum gebe. Dem Antrag der Sozialdemokraten erteilte er namens der Bundesregierung eine Absage. Er stellte jedoch in Aussicht, dem Antrag Kunschak im Sinne der Beschleunigung der Ermittlungen wie auch der Milde Rechnung zu tragen. In der namentlich durchgeführten Abstimmung wurde zunächst der Antrag der Sozialdemokraten eindeutig mit 70 Ja- und 92 NeinStimmen abgelehnt. Der Antrag Schürff erzielte eine knappe Mehrheit von 81 : 80 Stimmen. Bevor Nationalratspräsident Renner in die Abstimmung des Antrages von Kunschak eingehen konnte, meldete sich der Abgeordnete Prodinger zu Wort und vertrat die Ansicht, dass diesem Antrag durch die Annahme des Antrags Schürff schon teilweise Rechnung getragen worden sei und daher nur noch Teile des Antrags Kunschak abzustimmen seien. Über diese Auffassung brachen große Meinungsverschiedenheiten aus, die zu einer Sitzungsunterbrechung führten.4 Anlässlich der Wiederaufnahme der Sitzung teilte Nationalratspräsident Renner mit, dass es zu Ungereimtheiten bei den namentlichen Abstimmungen gekommen sei. Während die Korrektur bei der Abstimmung des Antrags König, die auch keine Auswirkungen auf das Abstimmungsergebnis hatte, problemlos vorgenommen werden konnte (es fanden sich zwei auf den Abgeordneten Michael Paulitsch von den Christlichsozialen lautende Stimmzettel in der Wahlurne), wog im Fall des Antrags Schürff der Umstand von zwei auf den Abgeordneten Simon Abram (sozialdemokratische Partei) lautenden Stimmzetteln bei der Knappheit der Entscheidung schwer. Obwohl der Abgeordnete Wilhelm Scheibein, der Sitznachbar von Abram und Fraktionskollege, mitgestimmt hatte, fand sich von diesem kein Stimmzettel in der Urne. Bei einem Vorgehen analog zur Abstimmung des Antrags König wäre es zu einem Stimmengleichstand gekommen und der Antrag wäre abgelehnt worden. 4
Nachzulesen in: Sten. Prot., 125. Sitzung, 3391.
Vorwort
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In zahlreichen Wortmeldungen zur Geschäftsbehandlung wurde die Ausgangslage immer verwirrender und auch Vorschläge zur Lösung des Konflikts durch den Nationalratspräsidenten wurden von einem Großteil der Abgeordneten zurückgewiesen. Renner legte daraufhin sein Amt nieder, weil seine Entscheidungen nicht akzeptiert würden, so seine Begründung. Zahlreiche Autorinnen und Autoren haben diesen Entschluss Renners in der historischen Betrachtung als schweren Fehler beurteilt. Als der Zweite Präsident des Nationalrates Rudolf Ramek dazu ansetzte, die mit Unklarheiten behaftete Abstimmung für ungültig zu erklären und zu wiederholen, wurde auch dieser Vorschlag von einer großen Mehrheit abgelehnt. Daraufhin legte auch er seine Funktion zurück. Schließlich übernahm der Dritte Präsident des Nationalrates Sepp Straffner den Vorsitz mit der Erklärung: „Da sich das Haus über die Streitfälle, die das Haus auf Grund der Abstimmung eben beschäftigen, nicht einigen kann, bin ich nicht in der Lage, die Sitzung des Hauses weiterzuführen, und lege ebenfalls meine Stelle als Präsident nieder.“5 Um 21.55 Uhr hatte auch der Dritte Präsident des Nationalrates das Präsidium verlassen, ohne die Sitzung zu beenden. Ein Versuch Straffners, die Sitzung am 15. März wieder aufzunehmen, wurde von einem Großaufgebot der Polizei verhindert. Die Ausschaltung des Parlaments trug zur Vertiefung des Misstrauens zwischen den Parteien bei. Das entschiedene Auftreten der Bundesregierung gegen den Parlamentarismus spiegelte sich in der Auseinandersetzung mit der sozialdemokratischen Partei wider und gipfelte im Bürgerkrieg 1934. Erst am 30. April 1934 wurde die Sitzung vom Zweiten Präsidenten des Nationalrates Ramek wieder aufgenommen. In seiner Eröffnungsrede ging er weder auf die Ereignisse vor mehr als einem Jahr ein, noch nahm er zum 12. Februar 1934 Stellung. Er gab das gegen die sozialdemokratische Partei verhängte Betätigungsverbot bekannt, wodurch die Mandate im Nationalrat erloschen waren. Erst danach schloss er die am 4. März 1933 abgebrochene Sitzung. In der un5
Sten. Prot., 125. Sitzung, 3393.
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Vorwort
mittelbar danach folgenden letzten Sitzung wurde das Bundesverfassungsgesetz über außerordentliche Maßnahmen im Bereiche der Verfassung beschlossen. 76 Abgeordnete nahmen damals an der Abstimmung teil, zwei stimmten gegen den Entwurf. Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelte es sich um die Abgeordneten Ernst Hampel und Hermann Foppa (beide Nationaler Wirtschaftsblock bzw. Großdeutsche Partei).6 Sie hatten gegen die Art der Abstimmung protestiert und vor der Abstimmung in Dritter Lesung den Saal verlassen. Der Entwurf wurde dann, wie im Stenographischen Protokoll festgehalten ist, „mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit angenommen. (Bundesminister Dr. Ender: Einstimmig!)“.7 Mit diesem Bundesverfassungsgesetz wurden sowohl der Nationalrat als auch der Bundesrat aufgelöst und alle Befugnisse, insbesondere die Gesetzgebung des Bundes, an die Bundesregierung übertragen. Am Ende der Sitzung hielt Nationalratspräsident Ramek die Abschiedsrede auf den eben aufgelösten Nationalrat. Er schloss seine Ausführungen: „Gern und getreu folgt unser Volk der Politik des Herrn Bundeskanzlers, von dessen Weitblick und zielbewußter Führung wir Österreichs Aufstieg erhoffen. So wünschen wir denn in der Stunde, in der wir aus diesem Haus ausscheiden, aus tiefstem Herzen, daß die neue Verfassung die Grundlagen schaffen möge für eine in Eintracht und Liebe der Wohlfahrt unseres Volkes und Vaterlandes gewidmete Arbeit. Diesen unseren Wunsch fassen wir in die Worte, die wie ein Gebet zum Himmel dringen mögen: Steig empor den Pfad des Glückes, Gott mit Dir, mein Österreich!“8 Das ständisch autoritäre Experiment wurde durch den Einmarsch der deutschen Wehrmacht im März 1938 beendet. Bereits davor aber 6 7 8
Zu dieser Sitzung existiert kein amtliches Protokoll. Auch wurde damals die fraktionelle Zuordnung der Pro- und Contra-Stimmen, wie sie heute üblich ist, nicht aufgezeichnet. Sten. Prot., 126. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, IV. Gesetzgebungsperiode, 30.04.1934, 3405. Sten. Prot., 126. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, IV. Gesetzgebungsperiode, 30.04.1934, 3466.
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hatte sich mit dem zunehmenden außenpolitischen Druck Benito Mussolinis und in der widersprüchlichen und primär auf finanzpolitische Erfordernisse ausgerichteten Wirtschaftspolitik dessen Scheitern abgezeichnet. Ao. Univ.-Prof.in Dr.in Ilse Reiter-Zatloukal widmet sich in ihrem Beitrag den vielfältigen zeitgenössischen Demokratiedefinitionen und deren Interpretationen und zeigt das Verhältnis der politischen Parteien zum Parlamentarismus auf. Priv.-Doz. Dr. Helmut Wohnout legt dar, dass es für den 4. März 1933 keinen „Masterplan“ gab. Er stellt die Ereignisse in Österreich in Bezug zu den Wahlen im Deutschen Reich und zu den engen außenpolitischen Verflechtungen Österreichs mit Italien im Frühjahr und Sommer 1933. Die These, die Univ.-Prof. Dr. Ewald Wiederin in den Mittelpunkt rückt, ist getragen von der Überlegung, dass die Verfassung 1934, obwohl nicht nur im Entstehungsprozess von Verfassungsbrüchen begleitet, hinsichtlich ihrer rechtsstaatlichen Teile um Kontinuität in rechtstheoretischer Hinsicht bemüht war. Univ.-Prof. Dr. Clemens Jabloner, bis Ende 2013 Präsident des Verwaltungsgerichtshofes, hebt besonders die Bemühungen von Ernst Karl Winter hervor, die einen formalen Rückweg zur Verfassung 1920 zum Ziel hatten. Diese Bemühungen kamen zu spät, sie hatten längst keine politische Grundlage mehr. Die verfassungsrechtlichen und politischen Facetten werden um die wirtschaftspolitischen Analysen ergänzt. So führt em. Univ.-Prof. DDr. Dieter Stiefel aus, dass die Wirtschaftspolitik der autoritären Regierungen Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg nicht alleine aus der Umsetzung bestimmter volkswirtschaftlicher Theorien, sondern aus machtpolitischen Notwendigkeiten heraus zu erklären ist. Mag.a Dr.in �������������������������������������������������� Helene Schuberth, MPA zeigt die erstaunlichen Parallelitäten in der Geschichte von Finanzkrisen auf. Sie nennt als wesentliche Faktoren die Deregulierung des Finanzsystems, steigende Verschuldung, Ungleichgewichte und Ungleichheit. Univ.-Prof. Peter Lindseth, JD, PhD analysiert die politischen Umwälzungen der Zwischenkriegszeit und deren Folgen für das Verhältnis zwischen Parlamenten und Regierungen in Europa. Er spannt den Bogen
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ebenfalls bis in die Zeit nach 1945, mit einem Schwerpunkt auf die in Deutschland entwickelten Konzepte. Schließlich beschäftigt sich Univ.-Prof.in Dr.in Sonja Puntscher Riekmann mit der Europäischen Union, insbesondere mit der Rolle des Europäischen Parlaments, als Antwort auf den Zivilisationsbruch der autoritären und totalitären Regime in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Autorinnen/Autoren ganz herzlich für die interessanten Denkanstöße und ihre Überlegungen zu den Nachwirkungen der historischen Fakten bis heute bedanken. Mein Dank gilt ebenso den beiden Kommentatoren, Univ.-Prof. Dr. Anton Pelinka und em. Univ.-Prof. Dr. Ernst Bruckmüller, die zu den dargelegten Analysen und Thesen Stellung nehmen. An dieser Stelle möchte ich mich auch bei Mag.a Barbara Blümel und Dr.in Ulrike Felber für ihre Unterstützung bedanken. Ohne deren Engagement wäre der Tagungsband nicht zustande gekommen. Schließlich möchte ich meine Einleitung nicht beenden, ohne kurz darauf einzugehen, welche Konsequenzen aus den historischen Ereignissen gezogen wurden. Ingeborg Bachmanns pessimistischer Befund, dass die Geschichte keine Schüler fände, gilt zumindest für die Staats- und Verfassungskrise 1933 nicht uneingeschränkt. 1948 wurde der sogenannte „Alterspräsident“ in der Geschäftsordnung des Nationalrates verankert. Das bedeutet, dass bei Verhinderung der gewählten Präsidentinnen/Präsidenten das an Jahren älteste am Sitz des Nationalrates anwesende Mitglied den Vorsitz führt. 1961 wurde erstmals die Präsidialkonferenz verankert, die sich aus den Präsidentinnen/Präsidenten und den Klubvorsitzenden zusammensetzt. Obwohl ein beratendes Organ, erlangt die Präsidialkonferenz in der Praxis große Bedeutung bei der Klärung von Unstimmigkeiten im Ablauf des parlamentarischen Betriebs. Auch die aktuelle Debatte über eine Demokratiereform wird vielfach aus dem Blickwinkel einer Stärkung oder Schwächung des Parlaments geführt. Und wie Puntscher Riekmann aufzeigt, hat sich aus der Zusammenarbeit der europäischen Staatengemeinschaft ein Projekt entwickelt, das seit mehr als 70 Jahren Frieden und Wohlstand auf dem europäischen
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Kontinent ermöglicht. Nicht zuletzt führten die Konsequenzen, die man aus den Wirtschaftskrisen der 1920er- und 1930er-Jahren zog, zu einer beispiellosen internationalen Kooperation von Notenbanken, um die aktuelle Finanzkrise zu bewältigen. Um auf den Beginn meiner Ausführungen zurückzukommen, ist auch klar festzuhalten, dass ohne die Bereitschaft, in parlamentarischen Verfahren transparente Kompromisse zu finden, alle getroffenen Vorkehrungen ins Leere gehen. Diese „Mühe“, die vielfach in ihrer Komplexität und ihren Ansprüchen an die Akteurinnen/Akteure unterschätzt wird, zählt zu den Kernelementen der Demokratie.
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Parlamentarismus im Fadenkreuz Demokratiekonzepte und (Anti-)Parlamentarismus in Österreich 1918 bis 1933/34
1. Einleitung Der Parlamentarismus stellt Hans Kelsen zufolge für einen modernen Staat „die einzige reale Form“ dar, „in der die Idee der Demokratie innerhalb der sozialen Wirklichkeit von heute erfüllt werden kann“, da die unmittelbare Demokratie „praktisch unmöglich“ ist.1 Parlamentarismus war nach Kelsen die „Bildung des maßgeblichen staatlichen Willens durch ein vom Volke auf Grund des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes, also demokratisch, gewähltes Kollegialorgan nach dem Mehrheitsprinzipe.“2 Dadurch werde auch „jede Klassenherrschaft“ verhindert, weil dem Parlamentarismus die ständige Kompromissbildung immanent sei.3 Ein zentrales Element des Parlamentarismus bildeten die politischen Parteien, auf denen Kelsen zufolge die moderne Demokratie geradezu beruht, könne „das isolierte Individuum“ doch „keinen wirklichen Einfluß auf die
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Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Tübingen 1920, Neudruck der 2. überarbeiteten und erweiterten Auflage 1929, Aalen 1981, 19–37. Hans Kelsen, Das Problem des Parlamentarismus (= Soziologie und Sozialphilosophie. Schriften der Soziologischen Gesellschaft in Wien, III), Wien/Leipzig 1926, 5-6. Alexander Somek, Soziale Demokratie. Jean-Jacques Rousseau, Max Adler, Hans Kelsen und die Legitimität demokratischer Herrschaft, Wien 2001, 10-11.
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Staatswillensbildung gewinnen“.4 Die „Entscheidung über den Parlamentarismus“ war für Kelsen daher „zugleich die Entscheidung über die Demokratie“.5 „Deutschösterreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volke eingesetzt“, normierte am 12. November 1918 das „Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich“.6 Das parlamentarische Regierungssystem wurde in weiterer Folge mit der sogenannten „Märzverfassung“ vom 14. März 19197 eingeführt, und zwar in Form eines „Parlamentsabsolutismus“8, da die im Parlament verortete Volkssouveränität weder durch eine Gewaltenteilung aufgespaltet, noch das Repräsentativsystem durch plebiszitäre Elemente oder das parlamentarische System durch eine korporative Interessenvertretung geschwächt wurden. Eine derartige Betonung des demokratischen Prinzips nahm auch das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) von 19209 vor, indem es ebenfalls ein extrem parlamentarisches Regierungssystem mit ausgeprägter Gewaltenverbindung festschrieb. Mit der Verfassungsreform 1929 fand dann nicht nur das berufsständische Element erstmals Eingang in die Verfassung, indem der Bundesrat zu einem Länder- und Ständerat umgestaltet wurde, sondern es kam auch zur Umwandlung der gewaltenverbindenden parlamentarischen Republik in eine gewaltenteilende Präsidentschaftsrepublik. Der auf die Ausschaltung des Nationalrates im März 1933 folgende schrittweise Aufbau eines autoritären Regimes gipfelte schließlich in der Erlassung einer neuen Verfassung für den Bundesstaat Österreich 1934, die einen autoritären Ständestaat verankerte. 4 5 6 7 8 9
Kelsen, Parlamentarismus, 5. Kelsen, Wesen, 5. StGBl 5/1918. StGBl 180/1919. Reinhard Owerdieck, Parteien und Verfassungsfrage in Österreich. Die Entstehung des Verfassungsprovisoriums der Ersten Republik 1918–1920 (= Studien und Quellen zur österreichischen Zeitgeschichte 8), Wien 1987, 156. BGBl 1/1920.
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Im Folgenden soll aufgezeigt werden, welche Demokratieverständnisse den Diskurs der Ersten Republik prägten und wie weit die Wertvorstellungen der Parteien hinsichtlich des Parlamentarismus auseinanderklafften, wobei eine Beschränkung auf die Positionen der Kommunistischen Partei (Deutsch)Österreichs (KPÖ) und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (Deutsch)Österreichs (SDAP), der Christlichsozialen Partei (CSP), der Heimwehr (Heimatblock) und auch des Landbundes für Österreich (beide aufgrund ihrer Regierungsbeteiligung 1932/33) sowie der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) vorgenommen wird. Die unterschiedlichen Zugänge der politischen Parteien zu Demokratie und Parlamentarismus mündeten zunächst im Kompromiss der Verfassungsreform von 1929, bis die Regierung schließlich im März 1933 den parlamentarischen Weg überhaupt verließ. Mit der „Entscheidung über den Parlamentarismus“ 1933 war tatsächlich, um die Formulierung Hans Kelsens erneut aufzugreifen, „zugleich die Entscheidung über die Demokratie“ in Österreich gefallen.10 2. Demokratiekonzepte der Parteien und Haltung zum Parlamentarismus 2.2 Kommunistische Partei (Deutsch)Österreichs / Rätebewegung Die Rätebewegung trat erstmals in der Pariser Kommune 1871 und in der Russischen Revolution von 1905 zutage. Zwischen 1917 und 1920 verbreitete sie sich auch außerhalb Russlands, wo unter Wladimir Illjitsch Lenin die Sowjetdiktatur als Gegenstück zur bürgerlichen Demokratie errichtet wurde. Charakteristisch für die Rätebewegung ist ihr „konsequent demokratischer Charakter“, sind doch alle Führungspersonen durch Wahlen legitimiert, und alle führenden MandatarInnen können jederzeit von den Wahlkörperschaften ihrer Funktionen enthoben werden, was einen „steten, engen Kontakt mit 10 Siehe FN 8.
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den revolutionären Massen“ bedingt.11 Hinzu kommen als weitere Merkmale die Öffentlichkeit der Verhandlungen der Räte und die Bindung derselben an die konkreten Wähleraufträge, außerdem der stufenförmige organisatorische Aufbau der Rätedemokratie. Auch die am 3. November 1918 gegründete KPÖ12 schrieb die „Errichtung der Diktatur des Proletariats“ bzw. einer Rätediktatur auf ihre Fahnen.13 Ebenso kam es in Deutschösterreich zum Versuch der Ausrufung einer sozialistischen Republik – wie zuvor in Deutschland, wo am 9. November 1918 einerseits vom Sozialdemokraten Philipp Scheidemann die „deutsche Republik“ und andererseits vom Führer des Spartakusbundes Karl Liebknecht die „freie sozialistische Republik“ ausgerufen worden war: Als am 12. November 1918 auf der Rampe des Parlaments die demokratische Republik Deutschösterreich proklamiert wurde und die rot-weiß-rote Fahne aufgezogen werden sollte, stürmte eine Gruppe von Rotgardisten die Rampe, schnitt deren Mittelteil heraus und hisste den Rest als rote Fahne. Danach verlas Karl Steinhardt am Pallas Athene-Brunnen die Proklamation der Kommunistischen Partei, in der die Bildung einer Arbeiter- und Bauern regierung gefordert wurde. Parallel dazu erzwang eine kommunistische Gruppe unter Elfriede Friedländer die Herausgabe von Sondernummern der „Neuen Freien Presse“, in denen über die Ausrufung der „sozialen Republik“ vor dem Parlament berichtet bzw. die „sozialistische Republik“ verkündet wurde.14 Hauptparole der KommunistInnen im Winter 1918 war: „Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten.“15 Der Rätegedanke war nicht allein auf die KommunistIinnen beschränkt. Er wurde auch von einigen Linksradikalen unter der 11 Wilfried Gottschalch, Parlamentarismus und Rätedemokratie, Berlin 1968, 32. 12 Hans Hautmann, Die verlorene Räterepublik. Am Beispiel der Kommunistischen Partei Deutschösterreichs, Wien/Frankfurt/Zürich 1971, 80-83. 13 Hans Hautmann, Rätedemokratie in Österreich 1918–1924, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 1 (1972) 1, 73–87, 76. 14 Hautmann, Räterepublik, 84–85. 15 Hautmann, Räterepublik, 105.
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Führung Franz Koritschoners innerhalb der Sozialdemokratie propagiert.16 Angesichts der für die Sozialdemokratie bedrohlichen Situation im Zuge der Jännerstreiks 1918 hatte deren Parteivorstand sogar zur allgemeinen Konstituierung gewählter Arbeiterräte aufgerufen. Im daraufhin gebildeten Wiener Arbeiterrat stellten jedoch die linksradikalen Kräfte nur eine Randerscheinung dar, weil als deutschösterreichisches Spezifikum nur Mitglieder der SDAP bzw. der Gewerkschafsorganisation wählbar waren, die überdies die „Arbeiter-Zeitung“ abonniert haben mussten.17 Den KommunistInnen waren die Arbeiterräte als „Vollzugsorgane der Sozialdemokratischen Partei“18 freilich zu wenig radikal, weshalb Elfriede Friedländer am ersten Parteitag Anfang Februar 1919 auch zu deren Sturz und Paul Friedländer zum „radikalen Kampf gegen die kapitalistische und bürgerliche Demokratie“ aufrief.19 Wie die „1. Reichskonferenz der Arbeiterräte Deutschösterreichs“ Anfang März 1919, als gerade die Neuwahlen zu den Arbeiterräten anliefen, in ihrem Organisationsstatut festhielt, sollten die Arbeiterräte „den Willen des gesamten werktätigen Volkes aller Betriebe und Berufe sowohl in politischer als auch wirtschaftlicher Hinsicht zum Ausdruck bringen und ihm so eine direkte Anteilnahme an der Politik ermöglichen, die vor allem das Ziel haben muß, die Erfolge der Revolution zu festigen und auszubauen.“20 Entsprechend dem Konzept der Rätedemokratie traf die gewählten MandatarInnen eine dauernde Verantwortlichkeit, d. h. sie konnten jederzeit durch die WählerInnen abberufen werden.21 Der „erste Schritt auf dem Weg zur Diktatur des Proletariats“ war damit nach Ansicht der Kommu16 Hautmann Rätedemokratie, 74. 17 Hautmann, Rätedemokratie, 78. 18 So der Vorsitzende des Linzer Arbeiterrates Richard Strasser im Februar 1918, zit. n. Hautmann, Räterepublik, 134. 19 Hautmann, Räterepublik, 122. 20 Jahresbericht der Polizeidirektion über die sozialdemokratische Bewegung 1919, zit. n. Hautmann, Rätedemokratie, 77. 21 Hautmann, Rätedemokratie, 79.
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nistInnen getan, wenngleich man sich nicht damit zufrieden geben dürfe. Die Räte dürften nicht „neben der Nationalversammlung […] verkümmern“, vielmehr sollten sie „kommunistisch werden“.22 Als dann am 21. März 1919 in Ungarn und vierzehn Tage später in Bayern die Räterepublik ausgerufen wurde, war auch in Deutschösterreich die Lage gespannt. Wie sich Otto Bauer später erinnerte, hätten „Arbeiter und Soldaten jeden Tag die Diktatur des Proletariats aufrichten können“, es „gab keine Gewalt, sie daran zu hindern.“23 Nach den Ereignissen des 15. Juni 1919, als eine kommunistische Demonstration durch Polizei und Wiener Sicherheitswache blutig beendet wurde24, erklärten die kommunistischen Arbeiterräte schließlich am 30. Juni Deutschösterreich zur „Räterepublik“, wobei Elfriede Friedländer als Gründe für „die jetzige Errichtung der Räterepublik“ neben den Friedensbedingungen und dem wirtschaftlichen Zusammenbruch vor allem die „totale Mutlosigkeit der Massen inbezug auf die demokratische Regierung“ und die „proletarische Bewegung in den Ententeländern“ anführte.25 Was solle in Deutschösterreich sonst geschehen, so Friedländer, „wenn nicht der Kampf um die sozialistische Gesellschaft durch die Diktatur des Proletariats?“26 Eine Verankerung des Rätesystems in der Verfassung wurde in Österreich, selbst in der Revolutionszeit, nicht diskutiert, auch kam es hier nicht zu einer derartigen Machtfülle der Räte wie in Deutschland. Die Arbeiterräte waren nach Ansicht der SozialdemokratIn22 Soziale Revolution, 8.3.1919, zit. n. Hautmann, Räterepublik, 136. 23 Otto Bauer, Die österreichische Revolution, Ausgabe 1923, Neudruck Wien 1965, 197; siehe auch Otto Bauer Werkausgabe (OBW), hg. von der Arbeitsgemeinschaft für die Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung, Wien 1975–1980, Band 2, 489–866. 24 Hautmann, Räterepublik, 183–190. 25 Ist Deutsch-Österreich reif zur Räterepublik? Reden von Karl Tomann und Elfriede Friedländer auf der 2. Reichskonferenz der Arbeiterräte Deutsch-Österreichs am 30.6.1919, Wien 1919, 37. 26 Reden Tomann Friedländer, 47; mit der Durchführung aller zur Errichtung der Räterepublik „notwendigen Maßnahmen“ wurde der „Reichsvollzugsausschuss der Arbeiterräte“ betraut, 17.
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nen bloß ein Instrument gemeinsamer Aktion des Proletariats bzw. boten „einen gemeinsamen Kampfboden für alle Richtungen des Sozialismus“27, nicht aber sahen sie in der Rätedemokratie „die große Alternative zur bürgerlichen parlamentarischen Demokratie“.28 Vielmehr wurde, wie Otto Bauer später schrieb, der „Abwehrkampf gegen den Kommunismus auf dem Boden der Arbeiterräte geführt.“29 Nachdem Anfang August 1919 die ungarische Räterepublik ihr Ende gefunden hatte, verlor auch in Österreich die Rätebewegung an Boden. Bereits 1920/21 war die „von der herrschenden Klasse so gefürchtete Rätebewegung“ in Österreich „praktisch tot“30, hatten die Arbeiterräte doch nach dem Austritt der KommunistInnen 1921 ihren revolutionären Anspruch völlig verloren. 1924 wurden sie aufgelöst.31 2.2. Sozialdemokratische Arbeiterpartei (Deutsch)Österreichs / Austromarxismus Die Sozialdemokratie hatte sich bereits im 19. Jahrhundert auf einen demokratischen und friedlichen Weg der Machteroberung und damit grundsätzlich zu Demokratie und Parlamentarismus bekannt, mit deren Hilfe die Arbeiterklasse an die Macht gelangen und schließlich den Sozialismus verwirklichen sollte. Sie lehnte folglich auch 1918 den revolutionären Weg zum Sozialismus ab, weshalb die Ausrufung der demokratischen Republik gleichsam als „Präventivmaßnahme gegen eine befürchtete Rätediktatur“ gesehen werden kann.32 In diesem Sinne wandte sich die Sozialdemokratie auch gegen die „[b]lutigeStörung der Massenkundgebung“33 am 12. November 27 Julius Braunthal, Die Arbeiterräte in Deutschösterreich. Ihre Geschichte und ihre Politik, Wien 1919, zit. n. Hautmann, Rätedemokratie, 5. 28 Hautmann, Rätedemokratie, 85. 29 Bauer, Revolution, 151. 30 Hautmann, Rätedemokratie, 73. 31 Hautmann, Rätedemokratie, 76. 32 Owerdieck, Parteien, 54. 33 Arbeiter-Zeitung (AZ), 13.11.1918 (Morgenblatt), 1; auch das folgende Zitat.
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auf der Parlamentsrampe: „Wir haben jahrzehntelang um die Demokratie gekämpft“, schrieb die Arbeiter-Zeitung am 13. November 1918, „das heißt um das Prinzip, daß die Mehrheit des Volkes über Staat und Gesellschaft entscheide. Jetzt endlich hat dieses Prinzip gesiegt. Jetzt gilt es, nicht zu zerstören, was wir errungen haben; nicht an die Stelle der alten Gewaltherrschaft eine neue Gewaltherrschaft zu setzen; nicht an die Stelle des Willens der Volksmehrheit abermals die Diktatur einer Minderheit zu rücken. Jetzt gilt es vielmehr, die Rechte, die die Demokratie uns gibt, zu gebrauchen, die Mehrheit des Volkes für den Sozialismus zu gewinnen, damit aus dem Willen der Volksmehrheit die sozialistische Gesellschaftsordnung hervorgehe!“ Eine Ausnahmeposition in der Sozialdemokratie nahm der Linkssozialist Max Adler ein34, dessen Standpunkte aber Leo Trotzki zufolge mehr eine „literarische Opposition“ darstellten.35 Adler sei zwar für die soziale Revolution, jedoch „nicht für die stürmische, barrikadenhafte, terroristische, blutige, sondern für eine vernünftige, sparsame, ausgeglichene, juristisch-geheiligte, im philosophischen Revier approbierte.“36 Seiner Partei warf Adler vor, dass sie aus dem „Sozialismus mehr und mehr eine Bestrebung“ gemacht habe, „sich die Zukunft im Staate wohnlich zu gestalten, statt den Zukunftsstaat zu verwirklichen.“37 Um jedoch „dem verderblichen Schlagwort von 34 Owerdieck, Parteien, 97–104; Peter Heintel, System und Ideologie. Der Austromarxismus im Spiegel der Philosophie Max Adlers, Wien/München 1967. 35 Raimund Löw, Theorie und Praxis des Austromarxismus, in: Raimund Löw/Siegfried Mattl/Alfred Pfabigan (Hg.), Der Austromarxismus. Eine Autopsie, Frankfurt a. M. 1986, 9–77, 66. 36 Leo Trotzki, Terrorismus und Kommunismus. Anti-Kautsky, hg. im Auftrage der Kommunistischen Partei Österreichs, Wien 1920, Nachdruck Berlin 1990, zit. n. Peter Goller, Otto Bauer – Max Adler. Beiträge zur Geschichte des Austromarxismus (1904–1938), Wien 2008, 115. 37 Max Adler, Die Bedeutung des Sozialismus (1918), zit. n. Ilias Katsoulis, Sozialismus und Staat. Demokratie, Revolution und Diktatur des Proletariats im Austromarxismus, Meisenheim a. Glan 1975, 127.
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der Räterepublik“ entgegenzutreten38, verfasste Adler 1919 die Schrift „Demokratie und Rätesystem“, die gleichzeitig, Raimund Löw zufolge, auch „die denkbar weitgehendste Anpassung sozialdemokratischer Politik an das revolutionäre Bewußtsein der Arbeiterschaft darstellte.“39 Adler kritisierte darin, dass die 1918 geschaffene bürgerliche Republik nur eine „politische Demokratie“ (und keine wirkliche Volksherrschaft bzw. „soziale Demokratie“) realisiere. Die „politische Demokratie“ sei aber bloß die Diktatur einer Klasse über die andere: „In den Formen der parlamentarischen Mitbestimmung des Volkes vollzieht sich immer nur ein Stück des Klassenkampfes: Sie ist stets Machtdurchsetzung, Gewalt der einen Klasse gegen die andere, die die Gesetze der widerstrebenden Klasse aufzwingt. Solange die besitzenden Klassen die Majorität im Parlament haben, üben sie durch dieselbe eine Diktatur aus, wie sehr diese auch durch den Schein des Parlamentarismus verhüllt wird.“40 So sei eine Diktatur also auch in der Form des Parlamentarismus möglich, weshalb das Proletariat nicht die Demokratie, sondern nur die bürgerliche Scheindemokratie und ihre klassische Ausdrucksform, den Parlamentarismus, bekämpfe. Adler trat im Sinne einer „revolutionären Sozialdemokratie“ für die „Diktatur des Proletariats“ und das Ende des bürgerlich-demokratischen Staats ein, lehnte aber die für den Bolschewismus legitime Herrschaft einer Minderheit ab. Die „Diktatur des Proletariats“ wachse nämlich „aus der Demokratie heraus, sie baut sich auf der Demokratie auf, weil die politische Demokratie immer Diktatur ist, nur war sie bisher Diktatur der Bourgeoisie[,] und sie soll jetzt die Diktatur des Proletariats werden“41, zu welchem Zweck die Arbeiterklasse zur „Majorität im Staate“ aufsteigen müsse.42 Erst die „soziale Demokratie“ der klassenlosen Gesellschaft gewährleiste nach Adler 38 39 40 41 42
Max Adler, Demokratie und Rätesystem, Wien 1919, 37. Löw, Theorie, 69. Adler, Demokratie, 9. Max Adler am sozialdemokratischen Parteitag 1926, zit. n. Löw, Theorie, 73. Max Adler, Zur Diskussion des Neuen Parteiprogramms 1926, 496, zit. n. Löw, Theorie, 73.
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die „wirkliche Solidarität der Lebensinteressen […] und damit das Zustandekommen eines Gemeinwillens.“43 Die 1918 auch in Österreich entstandenen Arbeiterräte erachtete Adler als eine „revolutionäre Übergangsform“, nicht als „dauernde Gestaltungsprinzipien einer neuen Gesellschaft“. In der Übergangsphase würden die Arbeiterräte jedoch „jene widerspruchslose ökonomische Grundeinheit her[stellen], auf der sich ein wirklich einheitlicher Wille aufbauen läßt“, und womit auch „der tote Punkt des parlamentarischen Systems überwunden“ werde.44 Das „Lebensprinzip“ der Demokratie war für Adler also nicht der Wille der Mehrheit, sondern ein vorgegebener „Gemeinwille“ und die Arbeiterräte für ihn Wegbereiter „revolutionärer Gemeinschaftsinteressen“. Als Alternative zur Räterepublik schlug er die Verankerung einer Doppelregierung von sozialistischen Arbeiterräten und einer nach dem allgemeinen Wahlrecht gewählten (den nichtsozialistischen Teil der Bevölkerung repräsentierenden) Nationalversammlung vor. Dieses proletarischbürgerliche Zweikammersystem sollte in Zeiten der „Ungeduld“ und „Undiszipliniertheit der Massen […] die Revolution in geordnetere, weniger selbstzerstörende Bahnen [...] lenken“45 und die Arbeiterschaft mit der Aufrechterhaltung des bürgerlichen Parlamentarismus versöhnen. Adlers Verfassungsentwurf schrieb also, da die „Verwirklichung des Sozialismus“ noch nicht möglich war46, gleichsam eine Vorbereitungsstruktur für die spätere sozialistische Mehrheitsherrschaft fest, die erst nach intensiver marxistischer Schulungs- und Aufklärungsarbeit bzw. nach der „Erziehung zum Sozialismus“ realisiert werden könne. Durchsetzen konnte sich Max Adler, das „enfant terrible“ der Partei, wie ihn Friedrich Adler einmal nannte47, freilich in seiner Partei nicht. 43 44 45 46 47
Adler, Demokratie, 9. Adler, Demokratie, 28–30. Adler, Demokratie, 37. Max Adler, Zum 12. November 1919, zit. n. Löw, Theorie, 71. Rolf Reventlow, Zwischen Alliierten und Bolschewiken. Arbeiterräte in Österreich 1918 bis 1923, Wien/Frankfurt a. M./Zürich 1969, 86.
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Maßgeblich wurde im Austromarxismus vielmehr Otto Bauers Programm der sozialistischen Demokratie, das von der Beibehaltung der demokratischen Staatsform und dem Parlamentarismus sowie dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung bestimmt war. 1918/19 bestand das Interesse Bauers und der Parteiführung allerdings zunächst darin, der „Bourgeoisie“ die demokratische Republik aufzuzwingen48 und die Revolution bzw. die bolschewistische Gefahr unter Kontrolle zu bekommen. Einerseits war die Rätediktatur für Bauer keine demokratische Alternative zum Parlamentarismus, sondern eine seinem Demokratiebegriff widersprechende Minoritäten-Diktatur49, weshalb er den russischen Bolschewismus schon vor Kriegsende explizit abgelehnt hatte.50 Andererseits befürchtete er, dass die Errichtung einer Rätediktatur in Wien und Niederösterreich entweder zum Zerbrechen Deutschösterreichs durch Losreißen der westlichen, unter dem Einfluss der Christlichsozialen stehenden Länder oder zu einer militärischen Intervention der Entente führen würde. Wie Bauer 1920 schrieb, ziehe er es vor, „dem Proletariat offen zu sagen, daß die proletarische Revolution in einem Lande, dessen Volk zum Hungertod verdammt ist, sobald die kapitalistische Mächte ihm ihre Hilfe entziehen, nicht möglich ist“, weshalb er vermeide, „von der Rätediktatur zu schwätzen, die in unserem Lande doch kein realisierbares Ziel ist.“51 Die Arbeiterräte spielten in Bauers Konzeption im Unterschied zu der von Max Adler daher auch keine Rolle. Die sozialdemokratische Führung band die Arbeiterräte jedoch in der politischen Realität ein und gab in manchen Fragen deren radikalen Forderungen nach, hielt sie gleichzeitig aber „von revolutionären Abenteuern“ ab.52
48 49 50 51
Otto Bauer am Parteitag 1926, OBW, Band 5, 391–465, 409. Owerdieck, Parteien, 110. Otto Bauer, Die Bolschewiki und wir (1918), OBW, Band 8, 919–932. Otto Bauer, Die alte und die neue Linke (1920), OBW, Band 8, 1021–1037, 1032. 52 Bauer, Revolution, 141.
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Die austromarxistische Lösung hieß daher „Selbstbeschränkung des Proletariats“53 auf die bürgerliche Demokratie. Die Sozial demokratie hatte sich also 1918/19 in Alternative zum revolutionären Bolschewismus eindeutig für die parlamentarische Demokratie entschieden, die sie als ausreichende Voraussetzung dafür ansah, in „planmäßiger organisierter Arbeit, von einem Schritt zum anderen zielbewußt fortschreitend, die sozialistische Gesellschaft allmählich aufzubauen.“54 Die Machteroberung des Proletariats sollte allein auf parlamentarischem Weg erfolgen, denn: „Geht der Kampf weiter auf dem Boden der Demokratie, so gehen wir unaufhaltsam von Sieg zu Sieg. Lassen wir uns auf den Boden der Gewalt verlocken, so können wir zurückgeworfen werden.“55 Das Parlament sollte folglich zum „Machtinteresse der Arbeiterklasse“ und zum „Vollzugsorgan des proletarischen Umwälzungswerkes“ werden.56 Nachdem 1920 die Regierungskoalition von Sozialdemokraten und Christlichsozialen ihr Ende gefunden hatte, setzte Bauer darauf, „die Macht mit dem demokratischen Mittel des Stimmzettels [zu] erobern und sie in den demokratischen Formen des Parlamentarismus aus[zu]üben“57, wobei das „rote Wien“ als Vorzeigeprojekt fungieren sollte. Gewalt dürfe das Proletariat ausschließlich dann anwenden, wenn die Bourgeoisie die Demokratie beseitigen wolle. Zur Verteidigung der Demokratie gegen einen Staatsstreich der Bourgeoisie zwecks Verhinderung eines sozialdemokratischen Wahlsieges oder einer darauffolgenden sozialdemokratischen Regierung wurde 1923 der „Republikanische Schutzbund“ gegründet. In einem solchen Fall müsse nämlich, wie Bauer schon 1920 geschrieben hatte, die Diktatur des Proletariats als Übergangsform zur Demokratie eintreten. Dies sei aber „keine Diktatur gegen die Demokratie, sondern die Dikta53 54 55 56
Bauer, Revolution, 196. Otto Bauer, Der Weg zum Sozialismus, Wien 1921, 9. Otto Bauer, Kritiker links und rechts (1927), OBW, Band 9, 148–161. Otto Bauer, Der Parlamentarismus (1910), OBW, Band 7, 591–598, 597– 598. 57 Otto Bauer, Kampf um die Macht (1924), OBW, Band 2, 937–967, 965.
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tur der Demokratie“ zur Selbstrettung vor der „antidemokratischen Konterrevolution“.58 Das auf Bauer zurückgehende Linzer Parteiprogramm 1926 systematisierte den „Austromarxismus“ und enthielt ebenfalls ein klares Bekenntnis zur Demokratie, dies auch nachdem die Arbeiterklasse die „Herrschaft in der demokratischen Republik“ auf dem Wege von Wahlen erkämpft habe, die sie aber nicht erstrebe, „um die Demokratie aufzuheben, sondern um sie in den Dienst der Arbeiterklasse zu stellen.“ Die SDAP werde daher die „Staatsmacht in den Formen der Demokratie und unter allen Bürgschaften der Demokratie ausüben. Die demokratischen Bürgschaften geben die Gewähr dafür, daß die sozialdemokratische Regierung unter ständiger Kontrolle der unter der Führung der Arbeiterklasse vereinigten Volksmehrheit handeln und dieser Volksmehrheit verantwortlich bleiben wird.“ Die „Arbeiterklasse“ erobere die Herrschaft in der demokratischen Republik also nicht, „um eine neue Klassenherrschaft aufzurichten, sondern um jede Klassenherrschaft aufzuheben.“ Wenn sich jedoch „die Bourgeoisie gegen die gesellschaftliche Umwälzung, die die Aufgabe der Staatsmacht der Arbeiterklasse sein wird, durch planmäßige Unterbindung des Wirtschaftslebens, durch gewaltsame Auflehnung, durch Verschwörung mit ausländischen gegenrevolutionären Mächten widersetzen sollte, dann wäre die Arbeiterklasse gezwungen, den Widerstand der Bourgeoisie mit den Mitteln der Diktatur zu brechen.“59 Wie Bauer dazu am Parteitag 1926 ausführte, könne es also trotz der Entschlossenheit des Proletariats, die Demokratie zu verteidigen, der Bourgeoisie gelingen, diese zu zerstören, habe sie sich doch „schwer genug mit der Demokratie abgefunden.“ Sie beherrsche die Demokratie zwar, aber sie werde versuchen, diese „zu stürzen und eine faschistische Diktatur aufzurichten“, sobald die Demokratie 58 Otto Bauer, Bolschewismus oder Sozialdemokratie (1920), OBW, Band 2, 223–357, 350–351. 59 Klaus Berchtold (Hg.), Österreichische Parteiprogramme 1868–1966, Wien 1976, 252–253; Josef Hindels, Das Linzer Programm. Ein Vermächtnis Otto Bauers, Wien 1986.
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in die Hände der Sozialdemokratie fiele. Dann hätte das Proletariat „keine andere Wahl mehr, als die Staatsmacht nur noch im Bürgerkrieg zu erobern. Und eine im Bürgerkrieg eroberte Staatsmacht könne nicht anders ausgeübt werden als in der Form der Diktatur.“60 Bauer versuchte also schon im Linzer Parteiprogramm, eine Brücke zwischen revolutionärem Sozialismus und reformistischer Sozialdemokratie zu schlagen, ein Ansatz, den er zehn Jahre später als Dritten Weg zum „integralen Sozialismus“ entfaltete.61 Rezipiert wurden in der bürgerlichen politischen Öffentlichkeit freilich vor allem „die klassenkämpferischen Töne“ des Linzer Programms, und die „Drohung mit der Diktatur wirkte allgemein als effektiver Bürgerschreck“62, wenngleich die Diktatur bloß als „Akt der Notwehr“63 für legitim erklärt war und Bauer selbst immer wieder betonte, dass der eigentliche Zweck der „Wehrbarkeit“ des Proletariats bloß darin bestand, eine solche Situation zu vermeiden: „Die Arbeiterklasse muß […] zur Abwehr eines gewaltsamen Angriffs gerüstet bleiben. Aber wenn die Arbeiterklasse hinreichend gerüstet ist, dann 60 Otto Bauer am Parteitag 1926, OBW, Band 5, 391–465, 410–411; auch Katsoulis, Sozialismus, 276. 61 Otto Bauer, Zwischen Zwei Weltkriegen, Bratislava 1936, 324: „Es genügt nicht, gegensätzliche politische Ideologien miteinander zu alliieren. […] Die Aufgabe, die die Zeit dem Sozialismus stellt, ist vielmehr die sozialdemokratische These und die kommunistische Antithese in einer neuen, höheren Synthese zu überwinden und zu vereinigen. […] hat die Geschichte das Denken des Sozialismus differenziert, so gilt es heute, es zu integrieren. Es gilt, über die erstarrten Anschauungen des demokratischen Sozialismus und des Kommunismus hinwegschreitend, einen integralen Sozialismus zu entwickeln, der die geschichtlich gewordenen Besonderheiten und Beschränktheiten beider zu überwinden vermag, um beide in sich aufzunehmen.“ Vgl. Detlev Albers, Otto Bauer und die Konzeption des „Integralen Sozialismus“, in: Detlev Albers/Josef Hindels/Lucio Lombardo Radice (Hg.), Otto Bauer und der „Dritte Weg“. Die Wiederentdeckung des Austromarxismus durch Linkssozialisten und Eurokommunisten, Frankfurt a. M./New York 1979, 61–60. 62 Löw, Theorie, 33. 63 Hindels, Programm, 23.
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wird die Bourgeoisie einen gewaltsamen Angriff schwerlich wagen.“64 Grundsätzlich jedoch wolle die Sozialdemokratie, so betonte auch Julius Deutsch 1928, „keine Zusammenstöße“ und keine „gewaltsamen Auseinandersetzungen“, sondern „auf dem Boden der Demokratie bleiben und […] kämpfen, solange es geht, mit den Mitteln der Gesetze.“ Nur wenn „man das Lebensrecht der Arbeiterklasse antastet“, der Sozialdemokratie also „die Gewalt aufzwinge“, sei diese bereit, „alle Mittel zu gebrauchen“.65 Die Drohung mit der Diktatur war jedoch letztlich, wie dies Norbert Leser prägnant formulierte, ein „Bluff“, der ins Leere ging, da einerseits die Erklärungen der Parteiführung nur mehr oder weniger „hypothetischen Charakter“66 hatten und andererseits „der Gegner nicht unmittelbar auf historische Entscheidungsschlachten setzte, sondern langsam, aber systematisch die Positionen der Sozialdemokratie untergrub und erst ans Zuschlagen dachte, als das Kräfteverhältnis bereits entsprechend verändert war.“67 Angesichts der Bedrohung durch den Faschismus rief Bauer 1931 explizit dazu auf, „die Demokratie vom Jahre 1918 zu verteidigen, zu erhalten und der kommenden Generation gesichert zu übergeben.“68 Trotzdem warf ihm Engelbert Dollfuß in einer Parlamentsdebatte 1932 vor, „ein Bolschewik“ zu sein, „der sich nur zur Diktatur des Proletariats“, aber „niemals ehrlich zur Demokratie“ bekannt habe.69 Bauer verteidigte in weiterer Folge auch am sozialdemokratischen 64 Bauer, Revolution, 294. 65 Zit. n. Norbert Leser, Zwischen Reformismus und Bolschewismus. Der Austromarxismus als Theorie und Praxis, Wien 1968, 481. 66 Leser, Reformismus, 481. 67 Löw, Theorie, 37. 68 Otto Bauer, Ein Mahnwort zum 12. November 1918 (1931), OBW, Band 7, 713–714, 714. 69 AZ, 23.10.1932, 1–2; Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Nationalrates der Republik Österreich, IV. Gesetzgebungsperiode, 103. Sitzung, 21.10.1932, 2676–2677, zit. n. Zum Wort gemeldet: Otto Bauer, Vorwort von Heinz Fischer, in: OBW, Band 5, 739; vgl. auch Ernst Hanisch, Der große Illusionist. Otto Bauer (1881–1938), Wien/Köln/Weimar 2011, 21.
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Parteitag im Oktober 1933 abermals die Demokratie angesichts der bestehenden „bürgerlichen Diktatur“. Er befürwortete sogar eine Verfassungsreform, wenn diese „den Kern und das Wesen der demokratischen Republik unangetastet“ ließe. Keine Diskussion könne es mit den SozialdemokratInnen jedoch „über das allgemeine Wahlrecht“ geben. Eines der „wichtigsten Mittel der Festigung der Demokratie gegen alle faschistischen Gefahren“ könne darin liegen, dem österreichischen Volk die Möglichkeit zu geben, „wichtige Fragen nicht durch seine Vertretung, sondern durch seine unmittelbare Abstimmung zu entscheiden.“ Es gäbe „viele Genossen“, „die unter dem Druck der deutschen und österreichischen Erfahrungen so von oben herab über die Demokratie sprechen und sagen, für die Demokratie zu kämpfen, lohnt sich nicht. Aber dieselben Genossen regen sich auf, dass man uns die Pressefreiheit, die Versammlungsfreiheit, das Vereinsrecht genommen hat, sie sprechen sehr höhnisch über die Demokratie, aber sie sind sehr erbittert, daß wir die Demokratie nicht haben. Sie sind gegen die Demokratie, wollen aber die Freiheit, als ob das nicht dasselbe wäre“, sei die Demokratie „zum mindesten doch […] das Gefäß einer gewissen Freiheit für heute und der Möglichkeit für ihre Erweiterung in der Zukunft.“70 Wenngleich Bauer also weiterhin die Demokratie als Weg zum Sozialismus bejahte, so hatte er doch mit seiner Verweigerung einer Koalition mit den Christlichsozialen die Demokratie letztlich preisgegeben. Nach dem Ende der Februarkämpfe stellte Bauer dann im Mai 1934 bitter fest71, dass „der Faschismus nicht nur die demokratischen Institutionen“, sondern auch „den Glauben der Arbeiter an 70 Otto Bauer, Außerordentlicher Parteitag 1933, OBW, Band 5, 693–728, 709 und 723; vgl. auch Robert Kriechbaumer, Die großen Erzählungen der Politik. Politische Kultur und Parteien in Österreich von der Jahrhundertwende bis 1945 (= Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg 12),Wien/Köln/Weimar 2001, 371. 71 Otto Bauer, Die Strategie des Klassenkampfes (1934), OBW, Band 9, 363–377, 374.
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die Demokratie zerstört“ habe. „So tief“ sei „jetzt die Abneigung der Arbeiter gegen die Demokratie, daß viele selbst das Wort Demokratie aus dem Namen der Partei auslöschen möchten.“ Die „ungeheuren Opfer, die der revolutionäre Kampf gegen eine stabilisierte Diktatur erheischt“, würde das „Proletariat nicht bringen, um nur für die Wiederherstellung des gewesenen, für die Wiederherstellung der bürgerlichen Demokratie, die der Bourgeoisie die Möglichkeiten der Vorbereitung faschistischer Konterrevolution gibt, zu kämpfen. Es wird sie nur bringen, um die Diktatur des Proletariats als die stählerne Waffe zur Zerstörung des wirtschaftlichen Großeigentums der Bourgeoisie zu erkämpfen.“ Daher sei die „Vereinigung aller sozialistischen Kräfte in Österreich […] zu einer einheitlichen revolutionären sozialistischen Arbeiterpartei“ geboten.72 2.3. Christlichsoziale Partei / Politischer Katholizismus Die Haltung der Christlichsozialen zur Demokratie reichte in der Zwischenkriegszeit von Kritik bis zu mehr oder weniger heftiger Ablehnung, wobei die demokratische Republik zunehmend mit der Sozialdemokratie identifiziert wurde, deren Stellung als Parlamentsopposition untergraben werden sollte. Maßgeblich beeinflusst wurden die demokratiepolitischen Positionen der Christlichsozialen naturgemäß von ihrem Parteiführer, dem späteren Bundeskanzler, Ignaz Seipel, der 1918 noch klar dafür eingetreten war, die Republik anzuerkennen und eine demokratische Verfassung anzunehmen. Eine „konsequent durchgeführte Demokratie“ erschien ihm das „beste Gegenmittel gegen jede Art von Anarchie“73, der „freie und wahrhaft demokratische Staat“ als Garant für „Ruhe und Ordnung“.74 Auch im „neuen Staate“ würde es „selbstverständlich politische Kämpfe 72 Otto Bauer, Kommunisten und Sozialisten in Österreich (1934), OBW, Band 9, 395–414, 413. 73 Ignaz Seipel, Die demokratische Verfassung, in: Reichspost (RP), 21.11.1918, 1–2. 74 Ignaz Seipel, Das Volk und die künftige Staatsform, in: RP, 23.11.1918, 1–2.
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und infolge dieser Kämpfe Besiegte und Sieger geben“, aber es dürfe „keine Knechte und keine Knechtenden mehr geben.“ Zu „unrecht demokratisch“ nenne sich also, wer „nicht einer solchen Gesinnung ist.“75 Daher sei, so resümierte Ignaz Seipel 1920, „einhellig festgestellt“ worden, „dass unsere Verfassung für immerwährende Zeiten die demokratische Grundlage festhalten muss.“76 Relativiert wird dieses Bekenntnis zur Demokratie jedoch dadurch, dass Seipel zufolge die Demokratie damals „notwendig“ gewesen sei, weil „die Gefahr drohte, es könnte die demokratische Verfassung durch eine Herrschaft der Diktatur einer einzelnen Klasse ersetzt werden“. 1924 erklärte Seipel dann bereits, dass „an die Stelle der Demokratie des Dreinredens möglichst vieler, die Demokratie des Schaltenlassens Weniger“ treten müsse, aber „unter voller Verantwortung vor dem Ganzen“. An die Stelle „der Demokratie der bloßen Abstimmung“ müsse „die Demokratie der wahren Verantwortlichkeit“ treten.77 Nachdem sich die Christlichsozialen in ihrem Programm 1926 eindeutig zum „demokratischen Staate“ bekannt hatten78, stellte Seipel 1927 fest: „Wir haben im Parlament keine richtige Demokratie!“79 Die Schuld an der von ihm behaupteten parlamentarischen Krise wies er 1928 den SozialdemokratIinnen zu, da sie die Christlichsozialen „oft auf längere Zeit zu einem gänzlich unfruchtbaren Kampf im Par-
75 Ignaz Seipel, Das Wesen des demokratischen Staates, in: RP, 20.11.1918, 1. 76 Stenographische Protokolle über die Sitzungen der Konstituierenden Nationalversammlung der Republik Österreich, 100. Sitzung, 29.9.1920, 3375–3383; Anton Pelinka/Manfried Welan, Demokratie und Verfassung in Österreich, Wien/Frankfurt/Zürich 1971, 35–36. 77 Neue Freie Presse, 11.1.1924, 6; Robert Stöger, Der christliche Führer und die „Wahre Demokratie“. Zu den Demokratiekonzeptionen von Ignaz Seipel, in: Archiv 1986. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung, 54–67, 59-60. 78 Artikel V des Parteiprogramms, Berchtold, Parteiprogramme, 374; vgl. Friedrich Rennhofer, Ignaz Seipel. Mensch und Staatsmann. Eine biographische Dokumentation, Wien/Graz/Köln 1978, 484. 79 RP, 10.11.1927, 2.
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lament [zwängen].“80 Der „Kampf der christlichsozialen Partei um die wahre Demokratie“ stelle zukünftig den „eigentlichen Gegenstand der österreichischen Politik“ dar. Wenig später forderte er, im Sinne einer „wahren, der richtig verstandenen Demokratie“, die „repräsentative Demokratie mit Elementen der unmittelbaren Demokratie [zu] durchsetzen“ und „in gewissen Fällen die letzten Entscheidungen von den parlamentarischen Körperschaften hinweg[zu]rücken.“81 Die „Wurzel des Übels“ in der realen österreichischen Demokratie liege nämlich eindeutig „in der Art der Parteienherrschaft“. Trotz Sicherung der „reinen Parlamentsherrschaft“ in der Verfassung herrsche eben nicht das Parlament, sondern die Parteien, die er als „eine Art von politischen Organisationen“ verstand, „die über die Parlamente hinaus und von draußen her in die Parlamente hinein eine Macht ausüben, von der in den geschriebenen Verfassungen kein Wort zu lesen ist.“82 Die Demokratie werde daher von demjenigen gerettet, „der sie von der Parteienherrschaft reinigt und dadurch wieder herstellt.“83 Die Verfassungsreform 1929, die unter anderem eine Schwächung des Parlaments zugunsten des Bundespräsidenten brachte, richtete sich daher Seipel zufolge auch „nicht gegen das Parlament an sich, nicht gegen jeden Parlamentarismus, sondern nur gegen ein durch Parteienherrschaft depossediertes Parlament.“84 Jedenfalls müssten aber, wie er nach der Verfassungsreform festhielt, „das Parlament und die Parteien […] erst noch zu wahrer Demokratie erzogen werden.“85 In einer Rede im April 1930 konkretisierte Seipel erstmals die „wahre Demokratie“ als diejenige Regierungsform, die „Autorität 80 Ignaz Seipel, Acht Jahre Bundesregierung ohne Sozialdemokraten, in: RP, 25.10.1928, 2. 81 Tübinger Kritik der Demokratie 1929, zit. n. Ignaz Seipel, Der Kampf um die österreichische Verfassung, Wien/Leipzig 1930. 82 Seipel, Kampf, 167–168. 83 Seipel, Kampf, 181–182. 84 Ignaz Seipel, Die Entpolitisierung des Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshofes, in: RP, 27.10.1929, 1–2. 85 Zit. n. Rennhofer, Seipel, 651.
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und Freiheit nach Möglichkeit miteinander vereinigt“, denn „[j]e mehr Freiheiten sie dem Volk geben will, umso fester muß die Autorität begründet sein“, solle der Staat nicht „tödlicher Auflösung verfallen“. Es stelle eine „falsche Auffassung von der Demokratie“ dar, „das unablässige Dareinreden aller in alle politischen Angelegenheiten als wesentlich“ anzusehen. Wenn „die Autorität selbst mit strengster Verantwortlichkeit verbunden ist, und wenn sich ihr Wirkungsbereich auf das unbedingt Notwendige beschränkt“, dann sei sogar die „straffste Autorität“ möglich. Dem Volk und seinen Organisationen müsse aber „die größtmögliche Autonomie“ eingeräumt werden, deren „Ausübung nur der obersten Kontrolle der Staatsregierung und Gesetzgebung unterworfen“ sein dürfe.86 Seipel sprach sich auch gegen die „atomistische“ Staatsauffassung aus, der das allgemeine Wahlrecht entspringe. Im Sinne der von ihm propagierten „organischen“ Staatsauffassung sei der Staat „gesünder und besser geordnet“, wenn er „seine Bürger auf dem Umweg über ihre Familien und Berufsstände erfass[e].“87 Angesichts der noch herrschenden Konturlosigkeit der Ständestaatsidee sprach er sich jedoch dagegen aus, „den Ständerat in die Verfassung einzuführen, solange er auf dem Papier bestehen müßte und nicht in die Wirklichkeit übergeführt werden könnte.“88 Vielmehr versuchte er, diesen zunächst im Wege der Einrichtung einer Wirtschaftskammer umzusetzen. Er scheiterte damit aber sogar in der eigenen Partei, hielten doch Teile der Christlichsozialen nach wie vor am Primat des Nationalrates und an den modernen demokratischen Prinzipien fest.89 Im Zusammenhang mit Seipels grundsätzlicher Entfremdung von der modernen parlamentarischen Demokratie stand auch seine Annäherung an die Heimwehrbewegung. Bereits 1928 bezeich86 Ignaz Seipel, Der Kampf um die Demokratie, in: RP, 24.4.1930, 3–4. 87 Ignaz Seipel, Die demokratische Verfassung, in: RP, 21.11.1918, 1–2. 88 Ignaz Seipel, Rede am Bundesparteitag, 8.1.1930, zit. n. Rennhofer, Seipel, 654–655. 89 Helmut Wohnout, Regierungsdiktatur und Ständeparlament. Gesetzgebung im autoritären Österreich, Wien/Köln/Graz 1993, 46–47.
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nete er die Heimwehren als Verteidiger der „wahren“ bzw. „reinen Demokratie“90: „Nichts ist falscher, als wenn behauptet wird, die Heimwehrbewegung […] bedrohe irgendwie die Demokratie. Im Gegenteil! Die Sehnsucht nach wahrer Demokratie ist eine der stärksten Triebkräfte der Heimwehrbewegung!“91 Nur die Heimwehr könne die Demokratie von der Parteienherrschaft befreien. Mit dem Einschlagen dieses Heimwehrkurses gab Seipel freilich die moderne Demokratie endgültig auf. Kelsens Vorstellung von der Kompromissbildung als Wesen der Demokratie bezeichnete Seipel nun explizit als „eine der falschesten und schädlichsten Theorien, die jemals erfunden wurden“, führe eine derartige Kompromisspolitik doch nur „in allen wichtigen Dingen zur Verhinderung jeder Aktion.“ Seipels Nachfolger Engelbert Dollfuß berief sich für seine „demokratische Einstellung“ auf seine „Abstammung aus der Bauernschaft“92, die als „wahre Demokratie“ die harmonische Einheit von Führern und Herrschaftsunterworfenen betrachte.93 Sogar noch am 5. März 1933 betonte er auf einer Bauernversammlung in Villach, dass er „immer auf dem Boden des Parlamentarismus gestanden“ habe und sich „selbstverständlich auch heute zu einer gesunden Volksvertretung“ bekenne. Wenn jedoch das Parlament „sich selbst unmöglich macht, dann darf man nicht der Regierung die Schuld daran geben.“94
90 Ignaz Seipel, Österreich ist auf dem Wege nach vorwärts und aufwärts, in: RP, 19.12.1928, 2–3. 91 Ignaz Seipel, Demokratie und Diktatur […], in: Wiener Neueste Nachrichten, 18.7.1929, 1; auch das folgende Zitat. 92 Zit. n. Eva Dollfuß, Mein Vater. Hitlers Erstes Opfer, Wien/München 1994, 83. 93 Guenther Steiner, Wahre Demokratie? Transformation und Demokratieverständnis in der Ersten Republik Österreich und im Ständestaat Österreich 1918–1933, Frankfurt a. M. 2004, 173–174 und 230. 94 Wiener Zeitung, 7.3.1933, 6–7.
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2.4. Heimwehr Die von Seipel als Verteidiger der „wahren“ Demokratie bezeichnete Heimwehr lehnte die parlamentarische Demokratie strikt ab, hieß es doch im „Korneuburger Eid“ von 1930: „Wir verwerfen den westlichen demokratischen Parlamentarismus und den Parteienstaat! Wir wollen an seine Stelle die Selbstverwaltung der Stände setzen und eine starke Staatsführung, die nicht aus Parteienvertretern, sondern aus den führenden Personen der großen Stände und aus den fähigsten und bewährtesten Männern unserer Volksgemeinschaft gebildet wird.“95 Schon nach der Verfassungsnovelle 1929 hatte Walter Heinrich, einer der intellektuellen Führer der Heimwehr, das parlamentarische System mit „Riesenschritten […] seiner Auflösung entgegen[gehen]“ gesehen, und betont, es könne nicht mit „ein paar Verbesserungen hie und da den Fehlern abgeholfen werden“, sei es doch unmöglich, „einen zu innerst Erkrankten […] gesund [zu] machen, wenn man ihm frische Wäsche anzieht.“ Das Parlament sei daher „kein Ausdruck der Notwendigkeit des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens eines Volkes“, und es sei „keine einzige sachlich richtige Entscheidung“ mit dem „demokratischen Verfahren des Auszählens zu gewinnen, es wäre denn durch Zufall.“ Die „parlamentarischparteiische Demokratie“ war für Heinrich „eine Täuschung“, und ihre Ideale, „Gleichheit“ und „Führerlosigkeit“, seien „niemals zu verwirklichen“. Der „Versuch ihrer Verwirklichung“ stelle vielmehr „eine Erkrankung“ dar, „die Volk und Staat und Wirtschaft zerstört.“ Der Parteienstaat müsse dementsprechend durch den Ständestaat ersetzt werden, dessen Prinzipien die „organische Ungleichheit der Gruppen“ und die „Führung durch den Sachkundigen“ seien.96 „[A]utoritärer Ständestaat und politisches Parteiensystem“ standen nach Ansicht der Heimwehr „zueinander wie Feuer und Wasser; 95 Berchtold, Parteiprogramme, 402–403. 96 Reinald Dassel (= Walter Heinrich), Gegen Parteienstaat für Ständestaat, Wien/Graz/Klagenfurt 1929, 5, 9, 17–18, 23, 27.
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entweder das eine oder das andere, weil das eine das andere ausschließt.“97 Als weitere Erklärung für die Ablehnung des Parlamentarismus durch die Heimwehr kann die aus dem Kriegserleben herrührende positive Bewertung des Gehorsams herangezogen werden, der im Widerspruch zu dem zur modernen Demokratie gehörenden Konflikt und der daraus resultierenden Kompromissbildung steht. Dementsprechend sollte das „Führerprinzip“ aus dem „Trümmerhaufen“ des parlamentarischen Österreich herauswachsen.98 Für Rüdiger von Starhemberg, den Bundesführer der Heimwehr, war „der faschistische Ständestaat, der Autoritätsstaat“, überhaupt „im wahrsten Sinne des Wortes die allerdemokratischste Form, die man sich denken kann, weil ja das Volk darauf ein Recht hat, eine Regierung zu haben, die es davor schützt, falsch geführt zu werden.“99 Das Demokratieverständnis der Heimwehr näherte sich daher stark der sogenannten „Führerdemokratie“, in der die Wahrung des Besten für das Volk von diesem einem Führer übertragen erscheint.100 2.5. Landbund Der 1922 gegründete antimarxistisch-deutschnationale („völkische“), christlich-antisemitische Landbund, der sich als Standespartei des Bauerntums und Wirtschaftspartei verstand, strebte ebenfalls eine berufsständische Staatsstruktur anstelle des Parteienstaates an. Ähnlich den Christlichsozialen ������������������������������������������������������������� bezeichnete auch der Landbund das „Parteiwesen“ als das „größte Unglück des Volkes“, denn durch die Parteien werde „nicht nur das Volk, sondern jeder Stand in so viele Teile gesplittert, als es Parteien gibt.“101 Erst dann käme man zur „Einheit und 97 98 99 100 101
Der Heimatschützer (HS), 19.5.1934, 1, zit. n. Steiner, Demokratie, 179. HS, 6.1.1934, 1, zit. n. Steiner, Demokratie, 181. HS, 5.5.1934, 2, zit. n. Steiner, Demokratie, 177. Steiner, Demokratie, 177. Flugblatt „Der Reichs-Landbund“ (1922), in: Angela Feldmann, Landbund für Österreich. Ideologie – Organisation – Politik, phil. Diss. Univ. Wien 1967, 213.
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Einigkeit des Volkes und der einzelnen Berufe […], wenn den Parteien der Garaus gemacht“ werde. Eine „Berufsständevertretung“ sei daher „an Stelle des unglückseligen Parteienwesens anzustreben.“ Daraus ergab sich die Forderung: „[W]eg mit den Parteien, dem Unglück des deutschen Volkes! Weg mit dem Parlamentarismus, heraus die Berufsständevertretung und das Berufsständeparlament!“ Der Landbund bekannte sich zunächst auch dazu, „auf dem Boden der Heimatschutzbewegung“ zu stehen, „insoweit sie der Abwehr dient“102, ab 1929/30 bildete sich aber Walter Wiltschegg zufolge aus „einer entschieden demokratischen und anti-totalitären Grundhaltung“ des Landbunds eine „erbitterte Feindschaft“ zur Heimwehr heraus.103 In der Zeit vor dem 4. März 1933 war es Karl Renner zufolge von den parlamentarischen Parteien des Bürgertums „einzig und allein der Landbund“, der sich dafür aussprach, dem Beschluss des Nationalrates vom Mai 1932 entsprechend, Neuwahlen durchzuführen. „Ohne Zweifel“, so Renner, „hätte dieser demokratische Ausweg die später eingeschlagene Politik der Selbständigkeit Österreichs erfolgreicher gemacht“, wäre aus den Nationalratswahlen doch „noch immer eine Dreiviertelmehrheit gegen Hitler und für ein selbständiges Österreich“ hervorgegangen und „in seiner auf vier Jahre bemessenen Legislaturperiode hätte eine durch das Volk unzweideutig legitimierte Volksvertretung den nationalsozialistischen Stürmen sehr wohl standhalten können.“104 Allerdings wiesen auch die landbündlerischen Demokratievorstellungen durchaus antiparlamentarische Tendenzen auf: Dem Parteiobmann des Landbundes und damaligen Vizekanzler Franz Wink102 Landbund Stimmen, 11.01.1930, zit. n. Hanno Scheuch, Franz Winkler gegen den Austrofaschismus. Eine Studie zur politischen Situation der 1. Republik und des Ständestaates 1918–1938, phil. Diss. Univ. Wien 1987, 50. 103 Walter Wiltschegg, Die Heimwehr. Eine unwiderstehliche Volksbewegung? (= Studien und Quellen zur österreichischen Zeitgeschichte 7), Wien 1985, 29. 104 Karl Renner, Österreich. Von der Ersten zur Zweiten Republik, Wien 1953, 123.
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ler105 zufolge könne nämlich „die vernünftige demokratische Idee am besten in einer autoritären Demokratie erfüllt“ werden.106 Ende Februar 1933 verwehrte er sich explizit „gegen alle Pläne, das Parlament auszuschalten“, gäbe es doch „einen Mittelweg, denn es sei nicht einzusehen, warum alles auf parlamentarischem Weg gemacht werden müsse.“ Vielmehr bestehe die Möglichkeit, „den Weg der Notverordnung zu beschreiten und dies nachher dem Parlament vorzulegen.“107 In einem Aufruf vom 11. März 1933 hielt die Landbundführung fest, dass in „Zeitläufen schwerster Wirtschaftsnot […] die Demokratie, die man für diese Entwicklung zumeist mit Recht verantwortlich macht, dennoch populär sein“ könne. Das Parlament „in seiner heutigen Verfassung“ sei „jedoch zu schwerfällig und außerstande, die Bedürfnisse des Staats- und Wirtschaftslebens rechtzeitig zu meistern und zu entscheiden.“108 Die „Tätigkeit des Parlaments“ müsse daher „weit elastischer und anpassungsfähiger gestaltet werden.“ Darüber hinaus forderte der Landbund ein verstärktes Notverordnungsrecht des Bundespräsidenten und eine ständische Vertretung. Jedenfalls wünsche der Landbund „keine gewaltsame Austragung des hinsichtlich der Parlamentskrise ausgebrochenen Konfliktes zwischen den Regierungsparteien und der Opposition.“ Mit der Regierungsumbildung vom 21. September 1933 schied der Landbund dann allerdings aus der Regierung aus, während die 105 1934 emigrierte Franz Winkler nach Deutschland, trat der NSDAP bei und wurde 1935 aus Österreich ausgebürgert; vgl. Scheuch, Winkler. 106 Gertrude Enderle-Burcel/Rudolf Neck (Hg.), Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik: 1918–1938, Kabinett Dr. Engelbert Dollfuß: 20. Mai 1932 bis 25. Juli 1934 (= Veröffentlichung der Österreichischen Gesellschaft für Historische Quellenstudien, Abt. 8/Bd. 2, 26. Oktober 1932 bis 20. März 1933), Nr. 846, 24.2.1933, 305, auch das folgende Zitat. 107 Winkler bezeichnete es zwar als „erschütternd, […] dass die Volksvertretung – keine Partei ausgeschlossen – den Geist der Zeit die Bedürfnisse der Wirtschaft nicht verstehe“, aber auch die Bundesregierung könne „von Schuld nicht freigesprochen werden“, Protokolle Ministerrat, Abt. 8/Bd. 2, 305. 108 Neue Freie Presse, 12.4.1933, 6.
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Heimwehr ihre Stellung festigen konnte. Wie Anton Rintelen 1941 in seinen Erinnerungen festhielt, fielen die „Würfel […] gegen Winkler, weil Dollfuß sich sagen mußte, daß dieser als Demokrat und für den Ausgleich mit dem Reiche eingestellte Nationale den weiteren Weg doch nicht mit ihm gehen werde.“109 Mit dem Ausscheiden des Landbundes aus der Regierung war freilich, wie es Rudolf Neck formulierte, auch „die letzte Fiktion einer demokratischen Mehrheit der Regierung verlorengegangen.“110 2.6. Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Die NSDAP stellte von Beginn an eine antiparlamentarische Bewegung dar. So schrieb Adolf Hitler bereits in „Mein Kampf“, dass die „junge Bewegung […] ihrem Wesen und ihrer inneren Organisation nach antiparlamentarisch“ sei, d.������������������������������������� ������������������������������������ h. sie lehne „in ihrem eigenen inneren Aufbau ein Prinzip der Majoritätsbestimmungen ab, in dem der Führer nur zum Vollstrecker des Willens und der Meinung anderer degradiert wird.“ Vielmehr vertrete die Bewegung „im kleinsten wie im größten den Grundsatz der unbedingten Führerautorität, gepaart mit höchster Verantwortung.“111 Im Besonderen kritisierte Hitler am Parlamentarismus, dass für Beschlüsse des Parlaments, mögen deren „Folgen noch so verheerend sein“, niemand die Verantwortung trage: „Denn heißt etwa Verantwortung übernehmen, wenn nach einem Zusammenbruch sondergleichen die schuldige Regierung zurücktritt? Oder die Koalition sich ändert, ja das Parlament sich auflöst? 109 Anton Rintelen, Erinnerungen an Österreichs Weg, München 1941, 222; auch Alexander Haas, Die vergessene Bauernpartei. Der steirische Landbund und sein Einfluß auf die österreichische Politik 1918–1934, Graz/ Stuttgart 2000, 259. 110 Rudolf Neck, Thesen zum Februar. Ursprünge, Verlauf und Folgen in: Ludwig Jedlicka/Rudolf Neck (Hg.), Vom Justizpalast zum Heldenplatz. Studien und Dokumentationen 1927 bis 1938, Wien 1975, 151–156, 153. 111 Adolf Hitler, Mein Kampf, 578.–582. Auflage München 1940, 378, zit. n. Hartmut Wasser, Parlamentarismuskritik vom Kaiserreich zur Bundesrepublik. Analyse und Dokumentation, Stuttgart/Bad Cannstadt 1974, 96–97.
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Kann denn überhaupt eine schwankende Mehrheit von Menschen jemals verantwortlich gemacht werden?“ Man werde „doch nicht etwa glauben“, dass die ParlamentarierInnen, „die Auserwählten der Nation[,] auch ebenso Auserwählte des Geistes oder auch nur des Verstandes“ seien. Man könne „dem Unsinn gar nicht scharf genug entgegentreten, daß aus allgemeinen Wahlen Genies geboren würden.“112 Der Nationalsozialismus werde aber „von der Waffe des Parlamentarismus Gebrauch machen“, was jedoch nicht bedeute, dass „parlamentarische Parteien nur für parlamentarische Zwecke da sind.“ Für die Nationalsozialisten sei vielmehr „ein Parlament nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel zum Zweck.“ Die NSDAP sei „keine parlamentarische Partei“, denn damit stünde sie „im Widerspruch zu unserer ganzen Auffassung“. Vielmehr seien die NationalsozialistInnen „nur zwangsweise eine parlamentarische Partei“: „Die Verfassung zwingt uns, solche Mittel anzuwenden“.113 So stelle auch der gerade errungene „Sieg“, also die Steigerung der Reichstagsmandate von zwölf auf 107 bei den Septemberwahlen 1930, „nichts anderes“ dar als den „Gewinn einer neuen Waffe für unseren Kampf“, kämpfe die NSDAP doch nicht „um Parlamentssitze der Parlamentssitze willen, sondern um eines Tages das deutsche Volk befreien zu können.“ In diesem Sinne hatte Joseph Goebbels schon 1928 geschrieben: „Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen“, um die „Weimarer Gesinnung mit ihrer eigenen Unterstützung lahmzulegen.“ Den NationalsozialistInnen sei „jedes gesetzliche Mittel recht, den Zustand von heute zu revolutionieren“, sie kämen „als Feinde“.114
112 Hitler, Kampf, zit. n. Wasser, Parlamentarismuskritik, 97. 113 Hitler-Rede von 1930, zit. n. Wasser, Parlamentarismuskritik, 98, auch das folgende Zitat. 114 Joseph Goebbels, Joseph, Was wollen wir im Reichstag? zit. n. Wasser, Parlamentarismuskritik, 98-99.
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3. Resümee Die überraschende Gelegenheit zur Ausschaltung des Parlaments nahm die Regierung Dollfuß wahr, um dem Parlamentarismus den Garaus zu machen. Für sie galt es nun, den „geistigen und politischen Irrwahn“ von 150 Jahren demokratischen Denkens durch eine „wahre Demokratie“ gutzumachen.115 Aus verschiedenen autoritären und berufsständischen Vorstellungen schuf sie eine Verfassung für den erstrebten autoritären Staat auf berufsständischer Grundlage. Der von der Regierung 1934 oktroyierten Verfassung mangelte es dann allerdings sowohl an der demokratischen Legitimation selbst als auch an den anderen wesentlichen Kernelementen einer modernen Demokratie. Die propagierte „wahre Demokratie“ stellte bestenfalls eine ständische „Fassadendemokratie“116 dar, und nicht einmal diese wurde mangels Umsetzung des in den Berufsständen erblickten demokratischen Elements realisiert. Die „Todesursache“ der modernen österreichischen Demokratie und damit des Parlamentarismus der Ersten Republik lag, so Adolf Merkl, „letztlich darin, daß sie eine Demokratie ohne geschulte und überzeugte Demokraten, ja vielleicht überhaupt ohne Demokraten war.“ Ein „fundamentaler Konsens über Demokratie und Verfassung“ bestand nicht zwischen den Parteien. Diese erblickten in Demokratie und Parlamentarismus vielmehr nur die „rechtliche Plattform“, „von der aus man die Gefahr der Diktatur der anderen abwehren zu können glaubte.“117 Die Freiheit jedoch, die laut Hans Kelsen nur in der „demokratischen Staatsform“ und damit im Parlamentarismus gewährleistet sein kann, war damit „unrettbar verloren“.118
115 116 117 118
Engelbert Dollfuß, in: RP, 2.5.1934, 3. Steiner, Demokratie, 164. Adolf Merkl, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs, Wien 1935, 2. Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie (1932), in: Hans Kelsen, Demokratie und Sozialismus. Ausgewählte Aufsätze, hg. u. eingeleitet von Norbert Leser, Wien 1967, 60–68, 66.
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Ilse Reiter-Zatloukal
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Helmut Wohnout
Schritte auf dem Weg zur Diktatur Die Entwicklung nach dem Ende des demokratischen Parlamentarismus im Spannungsfeld der deutschen und italienischen Österreichpolitik
Bereits im Titel des vorliegenden Beitrags wird das Ergebnis jenes Prozesses, der mit dem 4. März 1933 angestoßen wurde, vorweggenommen. Er führte in eine autoritäre Regierungsdiktatur, vielleicht noch präziser formuliert, in eine „Kanzlerdiktatur“ aufgrund der enormen Kompetenzfülle, die der Bundeskanzler durch die Verfassung 1934 und ihre Übergangsbestimmungen in der politischen Wirklichkeit der Jahre 1934 bis 1938 in seiner Hand vereinigte.1 In den folgenden Ausführungen geht es darum, skizzenartig jener Entwicklung nachzugehen, die in den ersten Monaten nach dem Ende des Parlamentarismus den Weg in die Diktatur ebnete. Es gab dabei keinen „Masterplan“, nach dem die Regierung Zug um Zug vorgegangen wäre. Vielmehr verhielt es sich wie bei einem Schneeball, der von einer ursprünglich noch relativ begrenzten Verfassungsreform zu einer diktatorischen Lawine anschwoll. Wesentlich erscheint, die Entwicklung nicht innenpolitisch isoliert, sondern im Kontext der internationalen Konstellation zu betrachten, wobei sich die folgenden Ausführungen – auch aufgrund des begrenzt zur Verfügung stehenden Rahmens – auf einige Anmerkungen betreffend Deutschland und Italien beschränken müssen. 1
Helmut Wohnout, Anatomie einer Kanzlerdiktatur, in: Hedwig Kopetz/ Joseph Marko/Klaus Poier (Hg.), Soziokultureller Wandel im Verfassungsstaat. Phänomene politischer Transformation. Festschrift für Wolfgang Mantl zum 65. Geburtstag, Wien/Köln/Graz 2004, 961–974.
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Die Lähmung des Parlaments und die deutschen Wahlen vom 5. März 1933 Für die führenden Männer der Regierung, also die christlichsozialen Parteispitzen rund um Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, stand bereits unmittelbar nach den Ereignissen vom 4. März 1933 fest, nun eine Zeit lang ohne Parlament weiter zu regieren. Das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz von 19172 bot dafür die bekannt problematische Handhabe. Dieses war zu Beginn der Ersten Republik relativ häufig, dann aber rückläufig und ab den 1930er-Jahren nur mehr punktuell angewendet worden, bis es im Oktober 1932 von der Regierung Dollfuß „wiederentdeckt“ wurde.3 Der Entschluss, unter Preisgabe 2
3
Gesetz vom 24. Juli 1917, mit welchem die Regierung ermächtigt wird, aus Anlaß der durch den Kriegszustand verursachten außerordentlichen Verhältnisse die notwendigen Verfügungen auf wirtschaftlichem Gebiete zu treffen, RGBl Nr. 307/1917. Die erstmalige Anwendung des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes (KWEG) durch die Regierung Dollfuß erfolgte raffinierter Weise bei einem Gesetz, gegen dessen Inhalt die sozialdemokratische Opposition schwerlich Einwände erheben konnte, nämlich die Haftung der für den Zusammenbruch der Credit-Anstalt Verantwortlichen. Die Sozialdemokratie verurteilte zwar die Anwendung des KWEG mit den der Opposition zur Verfügung stehenden parlamentarischen Mitteln – im Konkreten einer Dringlichen Anfrage – scharf, zu außerparlamentarischen Mitteln konnte und wollte sie aber aufgrund des Inhalts der Verordnung nicht greifen. Gernot D. Hasiba, Das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz von 1917. Seine Entstehung und Anwendung vor 1933, in: Aus Österreichs Rechtsleben in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Ernst C. Helbling zum 80. Geburtstag, hg. von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg, Berlin 1981, 543–565; Peter Huemer, Sektionschef Robert Hecht und die Zerstörung der Demokratie in Österreich, Wien 1975, 138–156; zuletzt, basierend auf den Arbeiten von Huemer und Hasiba: Hannes Leidinger/Verena Moritz, Das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz (KWEG) vor dem Hintergrund der österreichischen Verfassungsentwicklung, in: Florian Wenninger/Lucile Dreidemy (Hg.), Das Dollfuß/Schuschnigg Regime 1933–1938. Vermessung eines Forschungsfeldes, Wien/Köln/Weimar 2013, 449–467.
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der demokratischen Institutionen einen kompletten Staatsumbau und eine neue Verfassung anzustreben, war Anfang März 1933 aber noch keineswegs gefasst. Die Regierung wollte vielmehr die Gelegenheit zu einer anfangs noch eingeschränkten Verfassungsnovelle sowie einer Geschäftsordnungsreform des Nationalrates nützen. Zu den Forderungen der Christlichsozialen zählten vor allem die Einrichtung eines Länder- und Ständerates sowie die Ausweitung des Notverordnungsrechts des Bundespräsidenten.4 Am 7. März veranschlagte Dollfuß für die Umsetzung des Verfassungsreformvorhabens einen Zeitrahmen von sechs bis acht Wochen. Die Regierung hatte den Zeitpunkt der Wiedereinberufung des Nationalrates als Druckmittel gegenüber der sozialdemokratischen Opposition in der Hand. Solcherart wollte sie zumindest jenen Forderungen zum Durchbruch verhelfen, mit denen man bei der Verfassungsreform 1929 nicht durchgekommen war.5 4
5
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass von christlichsozialer Seite, insbesondere seit dem Beginn der Kanzlerschaft Heinrich Brünings, eine Regierungsform nach dem Vorbild der deutschen Präsidialkabinette zunehmend als eine auch für Österreich wünschenswerte Option gesehen wurde. So hatte der einflussreiche Chefredakteur der „Reichspost“, Friedrich Funder, schon im Juni 1931 geschrieben: „Die deutsche Reichsverfassung hat in dieser Hinsicht vorgebaut und, wie gut sie daran getan hat, erfährt das deutsche Volk gerade jetzt in diesen Monaten, in denen das Notverordnungsrecht in der Hand eines so verantwortungsbewussten und zielsicheren Mannes wie Brüning geradezu einen Damm gegen die drohende Katastrophenüberflutung bildet. Die österreichische Bundesverfassung entbehrt dieser Einrichtung.“ Funder verlangte daher schon damals, das im Zuge des Verfassungskompromisses 1929 nicht durchsetzbar gewesene Notverordnungsrecht nach dem Vorbild der Weimarer Verfassung einzuführen. Barbara Haider, „Die Diktatur der Vernunft“. Die Präsidialkabinette Brüning und das christlichsoziale Lager in Österreich, in: Demokratie und Geschichte. Jahrbuch des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich, 2 (1998), 194–227, 196. Vgl. dazu im Detail: Helmut Wohnout, Regierungsdiktatur oder Ständeparlament? Gesetzgebung im autoritären Österreich, Wien/Graz/Köln 1993, 57–67.
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Auch wenn also die christlichsozialen Spitzen der Regierung Anfang März 1933 noch keinen kompletten Bruch mit der bestehenden Verfassungsordnung im Auge hatten, so waren sie sich darüber im Klaren, mit ihrer Vorgangsweise die Grenzen der verfassungsmäßigen Legalität überschritten zu haben. Wenn für das Vaterland Gefahr bestehe, erlaube die katholische Moral auch Gesetzesbrüche. Mit diesem Argument rechtfertigte Richard Schmitz das Vorgehen der Regierung in der Sitzung des christlichsozialen Klubvorstandes am 7. März.6 Seine Stellungnahme zeigt anschaulich, dass sich die Parteiführung darüber im Klaren war, ab dem 5. März 1933 den rechtsstaatlichen Boden verlassen zu haben, auch wenn vorerst daran gedacht war, dies nur für einen begrenzten Zeitraum zu tun. Auf jeden Fall wollte die Regierung Neuwahlen verhindern, die die Sozialdemokratie seit der Übernahme der Kanzlerschaft durch Dollfuß und dem damit verbundenen Eintritt der Heimwehr in das Kabinett vehement forderte. Dieses Kalkül war bei allen Entscheidungen nach dem 4. März 1933 evident. Es wurde durch die zeitgleich stattfindenden Ereignisse in Deutschland, von denen die Entwicklung in Österreich im Frühjahr 1933 nicht losgelöst betrachtet werden kann, noch verstärkt. Bei den am 5. März 1933, also nur einen Tag nach den turbulenten Ereignissen im österreichischen Nationalrat abgehaltenen, deutschen Reichstagswahlen erreichte die NSDAP 43,9 Prozent der Stimmen. Zusammen mit jenen Rechtsparteien, die am 30. Jänner 1933 Adolf Hitler gemeinsam mit Reichspräsident Paul von Hindenburg in den Sattel des Reichskanzlers gehoben hatten (und als Kampffront Schwarz-Weiß-Rot auf einer Liste kandidierten), erzielten die Fraktionen von Hitlers Regierungsbündnis mit 51,9 Prozent die absolute Mehrheit. 6
Walter Goldinger (Hg.), Protokolle des Klubvorstandes der Christlichsozialen Partei 1932–1934, Wien 1980, 153. Zur Rolle von Richard Schmitz im Rahmen der Entwicklung nach dem 4. März 1933 vgl: Helmut Wohnout, Richard Schmitz und die Etablierung des autoritären Staates 1933/34, in: Demokratie und Geschichte. Jahrbuch des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich, 13/14 (2009/2010), 173–205.
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Adolf Hitler hatte seinen tief sitzenden Hass gegenüber dem habsburgischen Vielvölkerstaat in wenig veränderter Form auf das Österreich nach 1918 übertragen. Er sprach Österreich jede Lebensfähigkeit ab und glaubte daher schon zu Beginn seiner Kanzlerschaft, die Österreich-Frage durch innenpolitischen Druck und Gewalt binnen Kurzem in seinem Sinn lösen zu können.7 Seit Herbst 1932 setzten die Nationalsozialisten massiv politischen Terror zur Destabilisierung des politischen Systems in Österreich ein.8 Die Attentate, Bombenanschläge, Brückensprengungen etc. führten das Land, wie es zuletzt der deutsche Historiker Heinrich August Winkler in seiner Geschichte der Zwischenkriegszeit formulierte, „an den Rand eines Bürgerkrieges“.9 Mit seiner Ernennung zum deutschen Reichskanzler agierte Adolf Hitler Österreich gegenüber in zwei unterschiedlichen Rollen: Zum einen war er der Führer einer, wenn auch am extremen deutschnationalen Rand der österreichischen Parteienlandschaft agierenden politischen Gruppierung, der NSDAP. Diese war deklarierter Weise Teil einer deutschen Partei in Österreich und Hitler somit, innenpolitisch betrachtet, der Kopf einer radikalen Oppositionspartei. Zugleich war er aber seit dem 30. Jänner 1933 deutscher Regierungschef und damit federführend in der Gestaltung der zwischenstaatlichen deutschen Außenpolitik gegenüber Österreich. 7
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Hans Mommsen, Österreich im Kalkül der Hitlerschen Außenpolitik, in: Heinrich Berger/Melanie Dejnega/Regina Fritz/Alexander Prenninger (Hg.), Politische Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert. Zeitgeschichte, Zeitgeschehen und Kontroversen. Festschrift für Gerhard Botz, Wien/Köln/Weimar 2011, 167–174, 168–169. Helmut Wohnout, Dreieck der Gewalt. Etappen des nationalsozialistischen Terrors in Österreich 1932–1934, in: Günther Schefbeck (Hg.), Österreich 1934. Vorgeschichte – Ereignisse – Wirkungen, Wien/München 2004, 78–90; Georg Kastner, Die Opfer des NS-Terrors in Österreich von 1933–1938. Forschungszwischenbericht, in: Demokratie und Geschichte. Jahrbuch des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich, 5 (2001), 161–187. Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Die Zeit der Weltkriege 1914–1945, München 2011, 705.
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Diese nahm unter seiner Führung nicht mehr, wie die Jahre zuvor, den Zusammenschluss zweier Staaten als Fernziel in Aussicht, sondern wollte binnen möglichst kurzer Frist den Anschluss an das Deutsche Reich erzwingen, gleichgültig welche Mittel zur Erreichung dieses Ziels angewandt werden mussten.10 Gerade dieses Nebeneinander von Staat und Partei führte in der ersten Zeit nach der Regierungsübernahme Hitlers auch Österreich gegenüber zu jener Politik, die in den Worten Hans Mommsens insgesamt der „Methode des trial and error“ folgte und sich „mit der Ablehnung jedweder institutionalisierter Konfliktlösungsmechanismen verband.“11 Hitler hatte es seit seinem Amtsantritt als Reichskanzler kategorisch abgelehnt, mit der österreichischen Regierung bilaterale Gespräche oder Verhandlungen zu führen. Vielmehr formulierte er drei ultimative Forderungen. Erstens, Rücktritt von Bundeskanzler Dollfuß und Bildung eines Übergangskabinetts, zweitens, Neuwahlen und drittens, die Beteiligung der Nationalsozialisten an der danach zustande kommenden Regierung.12 Der nationalsozialistische Terror der Straße, verbunden mit der von Berlin aus formulierten „maßlosen Politik“13 Österreich gegenüber, sollte nach den Erwartungen der NS-Machtelite zu einer raschen Implosion der österreichischen Unabhängigkeit führen, vergleichbar mit der 10 Dieter Anton Binder, „Austrofaschismus“ und Außenpolitik. Die zu kurz geratene Diskussion, in: Wenninger/Dreidemy, Dollfuß/Schuschnigg Regime, 579–595, 581. 11 Hans Mommsen, Die nationalsozialistische Machteroberung: Revolution oder Gegenrevolution, in: Hans Mommsen, Zur Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Demokratie, Diktatur, Widerstand, München 2010, 67–84, 75. 12 Dieter Anton Binder, Dollfuß und Hitler. Über die Außenpolitik des autoritären Ständestaates in den Jahren 1933/34, Graz 1976, 114–115; Dieter Anton Binder, Der grundlegende Wandel in der österreichischen Außenpolitik 1933, in: Geschichte und Gegenwart. Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte, Gesellschaftsanalyse und politische Bildung, 2/3 (1983), 226–242, 231. 13 Dieter Anton Binder, Die Römer Entrevue, in: Österreich in Geschichte und Literatur, 24/5 (1980), 281–299, 282.
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ab dem 5. März 1933 dominoartig erfolgten „Gleichschaltung“ der deutschen Länder. Diese war ein Resultat zweier ineinander greifender Maßnahmen: dem von Berlin aus zentral gelenkten Terror der regionalen NS-Organisationen, vor allem der Sturmkolonnen der SA, sowie den staatlichen Repressionsakten in Form der Einsetzung von nationalsozialistischen Reichskommissaren durch Reichsinnenminister Wilhelm Frick auf der Grundlage der nach dem Brand des Reichstags am 28. Februar 1933 von Hindenburg auf Antrag der Regierung unterzeichneten Notverordnung „zum Schutz von Volk und Staat“ („Reichstagsbrandverordnung“). Mit ihr waren die wichtigsten Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft gesetzt worden. Auf diese Weise gelang es nach der Reichstagswahl vom 5. März 1933 innerhalb nur weniger Tage, die rein bürgerlichen oder auch von Sozialdemokraten mitgetragenen deutschen Landesregierungen durch nationalsozialistisch geführte Kabinette zu ersetzen. Die Vorgangsweise der Nationalsozialisten, ihr totalitäres Herrschaftssystem in atemberaubender Geschwindigkeit durch die Ausschaltung der politischen Selbstständigkeit der Länder zu festigen, war gekennzeichnet durch ein „Ineinander einer gelenkten ‚Revolution von oben‘ und einer manipulierten ‚Revolution von unten‘, das für den Prozess der Machtergreifung und Gleichschaltung so charakteristisch gewesen ist.“14 Die Nationalsozialisten griffen auf „revolutionär putschistische Mittel zurück, eben auf den ‚Druck von unten’, während man gleichzeitig […] für die pseudolegale Absicherung der Aktionen von oben sorgte.“15 In einer ähnlichen Tonart hoffte das Deutsche Reich auch mit Österreich im Frühjahr 1933 verfahren zu können und das Land binnen kurzer Zeit zum von Berlin gelenkten Satelliten zu machen. Der Griff 14 Karl Dietrich Bracher, Stufen der Machtergreifung, in: Karl Dietrich Bracher/Wolfgang Sauer/Gerhard Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933/34, Köln/Opladen 1960, 31–368, 140. 15 Karl Dietrich Bracher, Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Berlin 1969, 226.
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nach Österreich wurde „als letztes Stadium der innenpolitischen Machtergreifung“ gesehen.16 Im Sinne ihrer Forderungen versuchten die österreichischen Nationalsozialisten, aus dem deutschen Wahlergebnis vom 5. März genauso wie in den deutschen Ländern unter Zuhilfenahme pseudorevolutionärer Methoden Kapital zu schlagen. Unmittelbar nach dem Einlangen der Resultate inszenierten sie in der Halle des Nordwestbahnhofes in Wien eine Siegesfeier, an der weit über 10.000 Menschen teilnahmen. Bei dieser Gelegenheit wurden neuerlich der Rücktritt der Regierung sowie die Bildung eines nationalen Kabinetts unter Einbindung der NSDAP und Neuwahlen gefordert.17 Die Taktik Hitlers in Österreich war ähnlich jener in den deutschen Ländern. Obzwar in Wahrheit von Berlin gesteuert, versuchte er den Eindruck zu erzeugen, die Dinge würden sich jeweils „von selbst“ entwickeln. Dies hätte der bereits in Deutschland erfolgreich angewandten Legalitätstaktik bestmöglich entsprochen. Der christlichsoziale Parteiobmann und Heeresminister Carl Vaugoin stand bei der bereits erwähnten Klubvorstandssitzung seiner Partei vom 7. März 1933 noch ganz unter dem Eindruck des deutschen Wahlergebnisses und der machtvollen Kundgebung der österreichischen NSDAP.18 Ihm war genauso wie den meisten anderen aus der Führungsgruppe seiner Partei klar, dass die Signalwirkung der deutschen Wahlen den bereits 1932 bei mehreren Regionalwahlen in Österreich sichtbar gewordenen Trend zu erdrutschartigen
16 Jens Petersen, Hitler-Mussolini. Die Entstehung der Achse Berlin-Rom 1933-1936, Tübingen 1973, 132–133. 17 Wohnout, Regierungsdiktatur, 60. 18 Wörtlich erklärte Vaugoin: „Die Rückwirkung des Sonntags auf uns. Aus Berichten, die ich bekommen habe, in der Nordwestbahnhalle. Ganz Wien ist närrisch geworden, Tausende haben keinen Eintritt bekommen. Es sind mindestens 20.000 Leute dort gewesen, wenn nicht mehr. […] Als vom Rücktritt der Regierung gesprochen wurde, Raserei.“ Goldinger, Protokolle, 134.
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Gewinnen der NSDAP weiter verstärken würde.19 Die Konsequenz lautete: Neuwahlen auf gar keinen Fall, weshalb nur mehr die Möglichkeit eines Zusammengehens mit der Sozialdemokratie oder der von Bundeskanzler Dollfuß vorgeschlagene autoritäre Weg blieb. Bei einem Zusammengehen mit der Linken glaubte Vaugoin zwar den Nationalsozialismus aufhalten zu können, damit aber als Partei politisch unterzugehen. Also blieb aus seiner Perspektive nur mehr das Einschlagen des von der christlichsozialen Parteispitze mehrheitlich getragenen autoritären Kurses.20 Die Öffentlichkeit ließ Vaugoin allerdings durch bewusst unpräzise Stellungnahmen noch im Unklaren. Unter Zuhilfenahme der Polizei verhinderte die Regierung den Versuch des Dritten Nationalratspräsidenten Sepp Straffner, den Nationalrat am 15. März wieder einzuberufen. Damit wurde erstmals auch öffentlich sichtbar, wohin die Reise ging. Das Vorhaben Straffners hatte innerhalb der Regierung größte Nervosität ausgelöst. Danach hatte Dollfuß jedes Interesse, eine parlamentarische Gesprächsbasis zumindest auf unterer Ebene, etwa durch eine Reaktivierung des Ständigen Unterausschusses des Hauptausschusses,
19 Das Resultat der Innsbrucker Gemeinderatsratswahlen vom 23. April 1933 stellte eine Bestätigung der von Vaugoin getroffenen Einschätzung dar. Die NSDAP stieg von 3,82 auf 41, 21 Prozent und hatte daher, wie Gerald Stourzh festhält, „sechs Wochen nach den deutschen Wahlen vom 5. März, nur knapp weniger als die ominösen 43,9% der Wahlen in Deutschland.“ Eine Woche später erzielte die NSDAP bei den Gemeinderatswahlen in Landeck 37, 6 Prozent und wurde wie in Innsbruck stimmenstärkste Partei, in einigen niederösterreichischen Städten fielen die Einbrüche zwar etwas geringer aus, waren aber immer noch beträchtlich. Die regionalen Wahlgänge vom 30. April 1933 waren die letzten demokratischen Wahlen in der Ersten Republik. Gerald Stourzh, Die Außenpolitik der österreichischen Bundesregierung gegenüber der nationalsozialistischen Bedrohung, in: Gerald Stourzh, Der Umfang der österreichischen Geschichte. Ausgewählte Studien 1990–2010, Wien/Köln/Graz 2011, 181–210, 184. 20 Goldinger, Protokolle, 134–135.
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aufrecht zu erhalten, verloren.21 Zugleich begann er erstmals mit einem umfassenden Verfassungsumbau zu liebäugeln. Dieser sollte weit über die ursprünglich angedachten, noch begrenzten Verfassungsänderungen hinausreichen. Das Agieren des ihm taktisch nicht gewachsenen Bundespräsidenten Wilhelm Miklas bestärkte ihn dabei genauso22 wie die passive und defensive Haltung der sozialdemokratischen Opposition, die in einem offenkundigen Gegensatz zum pseudo-revolutionären Attentismus in den Jahren zuvor stand.23 Italien als Verbündeter gegen Hitler Kehren wir nochmals zu den deutschen Reichstagswahlen vom 5. März 1933 zurück: Es ist bemerkenswert, dass Otto Bauer retrospektiv selbstkritisch einräumte, in der Hitze des innenpolitischen 21 Zu den Überlegungen, mittels des Ständigen Unterausschusses des Verfassungsausschusses den Parlamentarismus quasi auf kleiner Flamme aufrechtzuerhalten: Wohnout, Regierungsdiktatur, 64–67. 22 Indem Miklas den ihm am 7. März von Dollfuß angebotenen Rücktritt nicht annahm, wozu er nach der Verfassung (Art. 74 B-VG) eigentlich verpflichtet gewesen wäre, brachte er sich um die Möglichkeit einer späteren Entlassung. Das Gesetz des Handelns war vom Bundespräsidenten auf den Bundeskanzler übergegangen, wobei Manfried Welan die Frage offenlässt, ob – politisch gesprochen – das Rücktrittsangebot nicht vielmehr eine „Rücktrittsdrohung“ gewesen sei; die Konsequenz war jedenfalls eine „Selbstausschaltung“ des politisch isolierten Bundespräsidenten Miklas. In weiterer Folge wäre ihm nur mehr der Rücktritt geblieben, weshalb Welan resümiert: „Durch die Entlassung hätte Miklas einen politischen Akt für die Demokratie gesetzt; durch den Rücktritt die persönliche Geste eines Demokraten. Leider unterließ er beides.“ Manfried Welan, Die Verfassungsentwicklung in der Ersten Republik, in: Joseph F. Desput, Hg., Österreich 1934–1984. Erfahrungen, Erkenntnisse, Besinnung, Graz/ Wien/Köln 1984, 73–90, 84; Manfried Welan, Der Bundespräsident. Kein Kaiser in der Republik, Wien/Köln/Graz 1992, 70–71. 23 Everhard Holtmann, Zwischen Unterdrückung und Befriedung. Sozialistische Arbeiterbewegung und autoritäres Regime in Österreich 1933–1938, Wien 1978, 90.
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Gefechts am 4. März 1933 den Einfluss der deutschen Wahlen einen Tag später zu wenig beachtet zu haben.24 Wer hingegen den Schritt Dollfuß’, vorderhand ohne Parlament weiterzuregieren, sofort als direkte Konsequenz der deutschen Wahlen und der sich daran anschließenden nationalsozialistischen Massendemonstrationen wertete, war der italienische Gesandte in Wien, Gabriel Preziosi.25 Dies führt zum aus österreichischer Sicht, neben Hitler, zweiten außenpolitischen Protagonisten der Jahre 1933/34, dem italienischen Diktator Benito Mussolini. Die Versuche einer politischen Einflussnahme des „Duce“ auf die österreichische Politik reichen relativ lange zurück und waren von unterschiedlicher Intensität gekennzeichnet.26 Unter Bundeskanzler Johannes Schober hatten sie einen ersten Höhepunkt erreicht. Parallel dazu unterstützte Italien ab 1928 massiv die Heimwehr. Mussolini traute ihr aber seit Beginn der 1930er-Jahre nicht mehr die Kapazität zu, einen Umsturz im Alleingang herbeizuführen. Es waren mehrere Beweggründe, die der Politik Mussolinis zugrunde lagen. Einige davon seien explizit angeführt: •• die Erhaltung der österreichischen Selbstständigkeit als Schutz der italienischen nationalen Interessen, oder kurz gesagt: die Vermeidung einer unmittelbaren Nachbarschaft zur Großmacht Deutschland am Brenner durch die Weiterexistenz des Pufferstaats Österreich, •• die italienische Donauraumpolitik mit Stoßrichtung gegen die 24 Otto Bauer, Der Aufstand der österreichischen Arbeiter. Seine Ursachen und Wirkungen, Prag 1934, unveränderter Nachdruck mit einem Vorwort von Bundeskanzler Dr. Bruno Kreisky, Wien 1974, 25. 25 Soppressione di fatto da parte di Dollfuss del Parlamento austriaco, R. 1028/561, Preziosi a Mussolini, 9.3.1933, in: Ministerio degli Affari Esteri (Hg.), I Documenti Diplomatici Italiani (DDI), serie VII (1922–1935), volume 13, Nr. 189. 26 Für das Folgende vgl.: Helmut Wohnout, Bundeskanzler Dollfuß und die österreichisch-italienischen Beziehungen 1932–1934, in: Wenninger/ Dreidemy, Dollfuß/Schuschnigg Regime, 603–633.
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Kleine Entente entsprechend dem durchgehend angewandten Revisionsprinzip der italienischen Außenpolitik, •• Mussolinis absoluter Antimarxismus, seine unversöhnliche Gegnerschaft gerade zu der ihm bekannten österreichischen Sozialdemokratie, •• das daraus resultierende Bestreben zur Realisierung einer dauerhaften Rechtsregierung in Österreich, •• damit eng verbunden, das Interesse an einem Regierungs- und Verfassungssystem mit einem möglichst weitgehenden autoritären Charakter. Ab etwa Herbst 1932 begannen sich die Beziehungen zwischen Wien und Rom auf Regierungsebene, teils unter ungarischer Vermittlung, wieder zu verdichten. Dollfuß erlegte sich dabei anfangs eine gewisse Zurückhaltung auf. Er wusste um die geringe Popularität eines solchen Zusammengehens27 und wollte sich keinesfalls exklusiv an Italien binden. Im Frühjahr 1933 sah der italienische Diktator nun den Zeitpunkt für die Realisierung seiner Pläne als gekommen an. Die von Dollfuß bis Anfang April gesetzten Maßnahmen, etwa die am 31. März erfolgte Auflösung des Republikanischen Schutzbundes, bestärkten ihn in seiner Einschätzung. Angesichts der Zuspitzung der innen- und außenpolitischen Lage, in deren Verlauf in Wien fast täglich neue Putsch- und Umsturzgerüchte kursierten, entschied sich Dollfuß in den ersten Apriltagen zu jenem Schritt, von dem er bis diesem Zeitpunkt wohlweislich noch Abstand genommen hatte: dem persönlichen Kontakt mit Mussolini. Dieser war nach dem Zusammentreffen überzeugt, in Dollfuß das Werkzeug zur Umsetzung seiner Absichten im Hinblick auf Öster27 Es sei in diesem Zusammenhang nur an die rigide Südtirolpolitik des faschistischen Italien erinnert, die nur wenige Jahre zuvor, 1928, noch zu einer veritablen Verstimmung zwischen dem damaligen Bundeskanzler Seipel und Mussolini geführt hatte. Vgl. dazu: Klaus Weiss, Das SüdtirolProblem in der Ersten Republik. Dargestellt an Österreichs Innen- und Außenpolitik im Jahre 1928, Wien/München 1989.
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reich gefunden zu haben. Auch der österreichische Kanzler konnte Rom erleichtert verlassen: Er hatte sich mit seinem überraschenden Besuch nicht nur der Rückendeckung Mussolinis versichert, sondern auch den gleichzeitig in Rom anwesenden Hermann Göring und Franz von Papen einen Strich durch deren politische Rechnung gemacht. Ihr Versuch, Mussolini zu einer Änderung seiner Österreichpolitik zu bewegen, indem sie die österreichische Frage auf ein rein innenpolitisches Problem reduzieren wollten, scheiterte auf der ganzen Linie. Nach Berlin zurückgekehrt, resümierte Göring missmutig, dass die „unerwartete Ankunft dieses verfluchten Dollfuß“ die Dinge noch mehr verkompliziert hätte.28 Nachdem das ursprüngliche Kalkül der Nationalsozialisten, noch im Laufe des Frühjahrs 1933 die politische Situation in Österreich zu ihren Gunsten zu wenden, nicht aufgegangen war, versuchte das nationalsozialistische Deutschland – zusätzlich zu der Welle politischer Gewalt, mit der es das Nachbarland überzogen hatte – mittels der am 1. Juni 1933 in Kraft getretenen sogenannten „1000-Mark-Sperre“ Österreich wirtschaftlich in die Knie zu zwingen. Als Adolf Hitler in der Kabinettssitzung vom 26. Mai 1933 die Maßnahme ankündigte, prophezeite er, die Auseinandersetzung mit der österreichischen Regierung werde noch vor Ende des Sommers entschieden sein.29 Man solle, so Hitler, sich dabei der gleichen Methoden bedienen, die in Bayern zum „sofortigen Erfolg“ geführt hätten. Daher lehnte er neuerlich Verhandlungen kategorisch ab. Die 1000-Mark-Sperre würde 28 Renzo de Felice, Mussolini il duce. vol. 1. Gli anni del consenso 1929– 1936, Torino 1974, 472. Vgl. auch: Gianluca Falanga, Mussolinis Vorposten in Hitlers Reich. Italiens Politik in Berlin 1933–1945, Berlin 2008, 33. 29 Zu den Ausführungen Adolf Hitlers im Rahmen der Regierungssitzung vom 26. Mai 1933: Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945. Serie C: 1933–1937. Das Dritte Reich: Die ersten Jahre, Bd. I/2, 16. Mai bis 14. Oktober 1933, Göttingen 1971, Dok. Nr. 262 (Auszüge aus der Niederschrift über die Ministerbesprechung vom 26. Mai 1933, 4 Uhr 15 nachm.); Akten der Reichskanzlei. Die Regierung Hitler. Teil I: 1933/34, Bd. 1: 30. Jänner bis 31. August 1933, Boppard am Rhein 1983, Nr. 142 (Ministerbesprechung vom 26. Mai 1933, 16.15 Uhr).
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zum Sturz von Dollfuß und zu Neuwahlen führen, umso mehr als ihre Bekanntgabe von einer entsprechenden Propagandaoffensive der NSDAP begleitet würde. Das Ergebnis der dem erhofften Sturz von Dollfuß folgenden Wahlen sollte dann die „Gleichschaltung“ mit dem Deutschen Reich ermöglichen. Außenpolitische Rücksichten, insbesondere die Haltung Italiens, würden es allerdings erforderlich machen, so Hitler, mit dem Anschluss selbst im Moment noch zuzuwarten. Auch bei dieser Gelegenheit konnte Adolf Hitler gegenüber den in der Regierungssitzung anwesenden Ministern seine tiefsitzenden Ressentiments gegenüber Österreich nicht verbergen. Schon das vor 1914 geschlossene Bündnis mit der Donaumonarchie habe dem Reich nur geschadet, die Habsburger hätten mit ihrer Slawisierungspolitik das Deutschtum betrogen. Es dürfe daher deutscherseits nicht der gleiche Fehler in der Einschätzung Österreichs wie vor dem Ersten Weltkrieg gemacht werden. Die gegenwärtige Regierung stünde dem Deutschen Reich feindselig gegenüber. Österreich würde „im wesentlichen durch das Wiener Halbjudentum und die Legitimisten beeinflusst“. Es sei das Ziel der Regierung Dollfuß, „den deutschen Nationalgedanken aus Österreich auszutreiben und an seine Stelle den österreichischen Gedanken zu setzen.“ Durch diesen „Verschweizerungsprozess“ drohten aber dem Deutschen Reich sechs Millionen Menschen verloren zu gehen, so die von Hitler gehegte Befürchtung in seinen Ausführungen. In ihrer Authentizität können sie als geradezu beispielhaft für das gebrochene und hostile Verhältnis Adolf Hitlers seiner früheren Heimat gegenüber gelten. Die deutsche Seite ließ auch in weiterer Folge nichts unversucht, um Italien auf der politisch-diplomatischen Ebene von seiner proösterreichischen Linie abzubringen. So betonte Hermann Göring in einem Gespräch mit dem italienischen Botschafter in Berlin am 17. Juli 1933, weder er noch Hitler würden einen Anschluss ohne die Zustimmung Italiens wollen, doch wünsche man sich von Rom Neutralität in der Österreichfrage und keine Unterstützung für Dollfuß. Göring rechnete zu diesem Zeitpunkt zwar nicht mehr mit einem Sturz von
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Dollfuß noch vor Ende des Sommers, er erklärte aber seinem italienischen Gesprächspartner gegenüber offen, dass der österreichische Bundeskanzler spätestens im Frühjahr 1934 einer nationalsozialistischen Revolution würde weichen müssen und fügte – möglicherweise in Anspielung auf die Südtirolfrage – kryptisch hinzu, es werde nach dem Sturz von Dollfuß das eintreten, was die Italiener wollten und die Deutschen noch nicht öffentlich aussprechen könnten.30 Der autoritäre Kurs nimmt Gestalt an Im Laufe des Mai 1933 hatte sich bei Bundeskanzler Engelbert Dollfuß die Überzeugung verfestigt, nicht mehr zum Parlamentarismus in seiner bisherigen Form zurückzukehren. Neben dem Einfluss Italiens waren der Parteitag der Christlichsozialen in Salzburg und die damals so bezeichnete „Türkenbefreiungsfeier“ der Heimwehr in Schönbrunn Wegmarken auf dem Weg des Kanzlers zum Diktator. Beim Parteikonvent der Christlichsozialen trug man ihm entgegen seiner Erwartung nicht den Parteivorsitz an, was seine Entfremdung gegenüber der eigenen Partei, aber darüber hinaus auch gegenüber dem demokratischen Parteienwesen insgesamt, beschleunigte. Die Kundgebung der Heimwehr in Schönbrunn am 14. Mai 1933 mit zehntausenden aus ganz Österreich versammelten Heimwehrmännern bildete dann den Rahmen, in dessen Folge Dollfuß erstmals unmissverständlich klar machte: „Diese Form von Parlament und Parlamentarismus, die gestorben ist, wird nicht wiederkommen.“31 Kurze Zeit später sprach er schon ganz offen von einer völlig neuen Verfassung, ohne dass er allerdings schon über deren Inhalt klare Vorstellungen gehabt hätte. Nach dem Rücktritt der der Christlichsozi30 Lungo colloquio con Göring circa il disarmo, la situazione interna tedesca e la questione austriaca, Zl. 3174/498 R., Cerutti a Mussolini, 17.7.1933, DDI, serie VII, volume 14, Nr. 2. 31 Die Rede Dollfuß’ ist in ihrem vollem Umfang publiziert in: Edmund Weber (Hg.), Dollfuß an Österreich. Eines Mannes Wort und Ziel, Wien/ Leipzig 1935, 213–219, 216–217.
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alen Partei nahestehenden Verfassungsrichter erfolgte durch Verordnung der Bundesregierung vom 23. Mai 1933 die Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofs. Damit hatte Dollfuß eine weitere Zäsur im Prozess des schleichenden Staatsstreichs von oben gesetzt.32 Nur drei Tage später, am 26. Mai, erfolgte das Verbot der Kommunistischen Partei, dem im Juni das der NSDAP folgte. Die Einführung der dem Bundeskanzler unterstellten Sicherheitsdirektoren griff massiv in die Kompetenzen der Länder ein, noch dazu auf dem heiklen Gebiet der inneren Sicherheit.33 Die Ernennung des in hohem Ansehen stehenden und als Demokrat geltenden Vorarlberger Landeshauptmannes Otto Ender zum Verfassungsminister Mitte Juli war bloß ein geschickter Schachzug des Bundeskanzlers, der aber ohne faktische Auswirkungen blieb oder gar eine Kursänderung bewirkt hätte. Mussolini ermutigte Dollfuß bei dessen ersten beiden Besuchen in Rom, in seinem autoritären Kurs fortzufahren. Er präsentierte sich als konzilianter und verbindlicher Gesprächspartner, der Dollfuß mit viel Sympathie begegnete. Dies hatte seine Wirkung auf den österreichischen Kanzler nicht verfehlt.34 Ab dem Sommer 1933 begann sich die Stimmung zu drehen. Mussolini verknüpfte seine Bereitschaft zur weiteren Unterstützung mit dezidierten Forderungen im Hinblick auf die innerstaatliche Umgestaltung Österreichs, vor allem beim dritten Zusammentreffen der beiden Regierungschefs am 19. und 20. August in Riccione. Danach sollte es Schlag auf Schlag gehen. Zwar hatte Dollfuß bereits zahlreiche Schritte gesetzt, die Mussolini entgegen kamen, doch in der für den „Duce“ entscheidenden Frage, 32 Dieter A. Binder/Ernst Bruckmüller, Essay über Österreich. Grundfragen von Identität und Geschichte 1918–2000, Wien/München 2005, 25. 33 Martin Polaschek, Der Föderalismus in der Verfassung 1934, in: Geschichte und Gegenwart. Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Gesellschaftsanalyse und politische Bildung, 12/3 (1993), 141–178, 144. 34 Von seinem zweiten Rom-Besuch im Juni nach Wien zurückgekehrt, berichtete der österreichische Bundeskanzler gegenüber seinen Parteifreunden euphorisch, nunmehr „restlos auf die Freundschaft Italiens“ zählen zu können. Goldinger, Protokolle, 252.
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nämlich jener der Ausschaltung der Sozialdemokratie und damit eng verbunden, der Liquidierung des Roten Wien, blieb Dollfuß zögerlich. Auch die teilweise erfolgreichen Bemühungen des Kanzlers, den österreichisch-deutschen Konflikt zu internationalisieren, stießen in Rom nicht auf ungeteilte Zustimmung. „Nous avons donné une petite injection à Monsieur Dollfuß.“35 So umschrieb der italienische Unterstaatssekretär Fulvio Suvich den detaillierten Forderungskatalog, mit dem Mussolini beim Zusammentreffen in Riccione die weitere Unterstützung gegenüber Hitler-Deutschland junktimiert hatte: Verfassung, Regierungsumbildung, Einsetzung eines Regierungskommissärs in Wien etc. Zumindest partiell musste Dollfuß handeln. In der sogenannten „Trabrennplatzrede“ nahm die Vaterländische Front als neue Einheitspartei erstmals Konturen an und Dollfuß präsentierte sich als autoritärer Führer. Kurze Zeit später, am 21. September 1933, folgte eine Regierungsumbildung, im Zuge derer der Landbund, der noch am ehesten als demokratische Antipode zur Heimwehr in der Regierungskoalition fungiert hatte, aus dem Kabinett ausschied. Damit hätte die Regierung im ohnedies nur mehr fiktiven Fall der Rückkehr zum Parlamentarismus alter Schule eindeutig über keine Mehrheit mehr im Nationalrat verfügt. Nach der verfassungsmäßigen Zäsur im Juni waren nun auch die politischparlamentarischen Brücken einer Rückkehr zum demokratischen System abgebrochen. Spätestens mit dem 21. September 1933 regierte Dollfuß nicht nur verfassungsrechtlich gesehen, sondern auch politisch betrachtet, endgültig autoritär. Ab diesem Zeitpunkt war jener Weg vorgezeichnet, der in die blutigen Februarereignisse 1934 führte, auch wenn er damals noch nicht unumkehrbar gewesen wäre. Doch fand sich mit der sozialdemokratischen Opposition keine substantielle Verhandlungsebene mehr, oder präziser formuliert, wollte Dollfuß im Herbst 1933 keine solche mehr finden. Am Anfang der Regierungszeit von Dollfuß war 35 Lajos Kerekes, Abenddämmerung einer Demokratie. Mussolini, Gömbös und die Heimwehr, Wien/Frankfurt/Zürich 1966, 158.
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es Otto Bauer gewesen, der Verhandlungen abgelehnt, der Regierung das Misstrauen ausgesprochen und die Lausanner Völkerbundanleihe vehement bekämpft hatte. Im Oktober 1932 war es dann, wie Ernst Hanisch dargelegt hat, auch zum vollständigen menschlichen Zerwürfnis zwischen ihm und Dollfuß gekommen.36 Ab dem März 1933 hatte sich die Situation ins Gegenteil verkehrt. Die Sozialdemokratie agierte defensiv und abwartend. Sie sandte Signale an die Regierung aus und deutete Kompromissbereitschaft an, die, nachdem anfangs noch informelle Kommunikationskanäle aufrechterhalten worden waren, im weiteren Verlauf der Ereignisse nicht mehr erwidert wurde. Außenpolitisch versuchte Dollfuß so lange es ging nicht ausschließlich auf die italienische Option angewiesen zu sein. Mehrmals begann er im Laufe des Jahres 1933 unter der Hand Möglichkeiten einer direkten deutsch-österreichischen Verständigung zu sondieren. Zugleich war es Dollfuß ab dem Frühsommer 1933 gelungen, den deutsch-österreichischen Konflikt zumindest partiell zu internationalisieren. Gegen Ende 1933 versuchte er neuerlich, den ihm in Riccione aufgezwungenen Kurs abzuschwächen, indem er sich vermehrt um die Rückendeckung der Westmächte bemühte.37 Zu einer von Österreich immer wieder überlegten Befassung des Völkerbundes zwecks Multilateralisierung der österreichischen Unabhängigkeit kam es allerdings aus Rücksicht auf Italien nicht mehr. Eine vergebliche Warnung Es war einer der entscheidenden Denkfehler Mussolinis im Hinblick auf Österreich, dass er – vor 1914 selbst der Linken zugehörig und nun angetrieben durch den unversöhnlichen Hass des Renegaten – tatsächlich glaubte, er könne durch ein entschlossenes Vorgehen 36 Ernst Hanisch, Der große Illusionist. Otto Bauer (1881–1938), Wien/Köln/ Weimar 2011, 279–280. 37 Siegfried Beer, Der „unmoralische“ Anschluß. Britische Österreichpolitik zwischen Containment und Appeasement 1931–1934, Wien/Köln/Graz 1984, 265.
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gegenüber der Sozialdemokratie dem Nationalsozialismus den Wind aus den Segeln nehmen. Diese Sichtweise vertraten bekanntlich auch breite Teile der Heimwehr: Odo Neustädter-Stürmer, Klubobmann der Heimwehr-Fraktion im Nationalrat, später Staatssekretär, danach Sozialminister und sicher eines der problematischsten Mitglieder der Regierung Dollfuß, formulierte im März 1933 ebenso einprägsam wie aus heutiger Sicht beängstigend, man müsse den Nationalsozialismus „überhitlern“ und „den Vernichtungskampf gegen den Marxismus rücksichtslos führen.“38 Dollfuß war anderer Meinung und blieb lange zögerlich. Noch im Jänner 1934 äußerte er die Befürchtung, bei einer Zerschlagung von sozialdemokratischer Partei und Rotem Wien würde die NSDAP neuerlich Zulauf erhalten.39 Er sollte Recht behalten.40 38 Goldinger, Protokolle, 204. 39 Beim Besuch von Unterstaatssekretär Fulvio Suvich in Wien vom 18. bis 20. Jänner 1934 entgegnete Dollfuß auf dessen Vorhaltungen, wonach die Regierung bisher nicht entschlossen genug gegen die Linke vorgegangen sei, dass eine Auflösung der sozialdemokratischen Partei und der Wiener Gemeindeadministration zu einem Überlaufen von Teilen ihrer Anhängerschaft zur NSDAP führen würde. Fulvio Suvich, Memorie 1932–1936. A cura di Gianfranco Bianchi, Milano 1984, 268. 40 Nach dem 12. Februar 1934 liefen etliche enttäuschte Anhänger der SDAP zu den in der Illegalität operierenden Gruppierungen der NSDAP über, „in denen sie die konsequentesten Gegner des katholisch-autoritären Ständestaats erblickten. Im Anhaltelager Wöllersdorf in Niederösterreich saß man gemeinsam hinter Stacheldraht und verständigte sich über die gemeinsame Abneigung der Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur. Und auch die Flucht von Richard Bernaschek, dem Auslöser der Februarkämpfe, nach München […] war für viele Sozialdemokraten Anlass, teils direkt zu den illegalen Wehrverbänden des Nationalsozialismus überzuwechseln. Das war dann umso leichter, wenn es sich um Sozialdemokraten aus nichturbanen Milieus handelte, deren Hauptmotiv der politischen Orientierung die Ablehnung des Katholizismus war.“ Helmut Konrad, Der 12. Februar 1934 in Österreich, in: Schefbeck, Österreich, 91–98, 96. Evan Burr Bukey schätzt, dass von jenen Teilen der Arbeiterschaft, die sich nach dem Februar 1934 Widerstandsgruppen im Untergrund anschlossen, ungefähr ein Drittel zur NSDAP überlief. Evan Burr Bukey, Hitlers Österreich. „Eine Bewegung und ein Volk“, Hamburg/Wien 2001, 108.
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Die Fehleinschätzung Mussolinis, wonach die einzige erfolgversprechende Methode, die Dynamik des Nationalsozialismus in Österreich zu bremsen, der Versuch wäre, dem Konkurrenten die Waffe des Antimarxismus zu entwinden, hatte bekanntermaßen für Österreich fatale Folgen. An innerösterreichischen warnenden Stimmen hatte es nicht gefehlt. Eine davon, nämlich jene des Publizisten Ernst Karl Winter, sei abschließend zitiert. Der Legitimist, Linkskatholik und spätere zeitweilige Wiener Vizebürgermeister war mit Dollfuß befreundet, was ihn aber nicht hinderte, scharfe Kritik an der vom österreichischen Kanzler eingeschlagenen Politik zu üben. Im Dezember 1933 veröffentlichte Ernst Karl Winter einen mit Mai datierten Brief an Mussolini. Pointiert führte er dem „Duce“ die Widersprüchlichkeit seiner Österreichpolitik vor Augen: „Sie müssen sich wohl entscheiden, was Sie lieber von Österreich wollen: den Nicht-Anschluss oder den Faschismus. Beides zugleich kann man nicht wollen. Denn der Nicht-Anschluss setzt die Existenz des Föderalismus, der Demokratie und sogar des Sozialismus in Österreich voraus. Denn gerade die ,Linke‘ ist heute der Damm gegen den Anschluss. […] Sie werden also, Exzellenz, sich entscheiden müssen: Das Hakenkreuz am Brenner oder aber die Demokratie in Österreich.“41
Winter publizierte sein Schreiben in dem von ihm herausgegebenen Periodikum „Wiener Politische Blätter“. Die Ausgabe wurde sofort konfisziert.42 Ob sein Brief Mussolini je erreicht hat, darf bezweifelt werden und ist letztlich auch irrelevant. Das Schreiben ist vielmehr ein Dokument dafür, dass es auch im österreichischen Regierungslager, oder zumindest an seinen Rändern, Stimmen gab, die klarsichtig 41 Zit. n. Jens Petersen, Gesellschaftssystem, Ideologie und Interesse in der Außenpolitik des faschistischen Italien, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, 54 (1974), 428–470, 451. 42 Stourzh, Außenpolitik, 187.
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die Widersprüche der italienischen Politik in Bezug auf Österreich erkannt hatten. Resümee Wie bereits im Zuge des Beitrags dargelegt, kann und soll aus Sicht des Verfassers das Ende des demokratischen Parlamentarismus in Österreich nicht isoliert von den zeitnahen Entwicklungen im Ende Jänner 1933 nationalsozialistisch gewordenen Deutschland betrachtet werden. Um die staatliche Selbstständigkeit gegenüber den unverhohlenen Drohungen Hitlers zu erhalten, vor allem aber auch, um den eigenen politischen Machterhalt zu sichern, waren die Spitzenrepräsentanten der Regierung Dollfuß bereit, den Verfassungsbruch in Kauf zu nehmen und relativ leichten Herzens die Demokratie und ihre Institutionen zu opfern. Der Weg in die Diktatur gewann sehr rasch an Dynamik. Dies hatte auch damit zu tun, dass der von Dollfuß eingeschlagene „italienische Kurs“ innen- wie außenpolitisch gegebenenfalls denkbare Alternativen verengte und schließlich unmöglich machte. Die von Mussolini gehegte Illusion, wonach eine entschlossene Niederwerfung der Sozialdemokratie den Nationalsozialismus seiner Anziehungskraft beraube, sollte sich allerdings als dramatische Fehleinschätzung mit fatalen Folgen erweisen. In ihrer letzten tödlichen Konsequenz trafen diese auch Bundeskanzler Dollfuß selbst. Literatur Akten der Reichskanzlei. Die Regierung Hitler. Teil I: 1933/34, Bd. 1: 30. Jänner bis 31. August 1933, Boppard am Rhein 1983. Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945. Serie C: 1933–1937. Das Dritte Reich: Die ersten Jahre, Bd. I/2, 16. Mai bis 14. Oktober 1933, Göttingen 1971. Bauer, Otto, Der Aufstand der österreichischen Arbeiter. Seine Ursachen und Wirkungen, Prag 1934, unveränderter Nachdruck mit einem Vorwort von Bundeskanzler Dr. Bruno Kreisky, Wien 1974. Beer, Siegfried, Der „unmoralische“ Anschluß. Britische Österreichpoli-
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Die Rechtsstaatskonzeption der Verfassung 1934 Zugleich Mutmaßungen über die Gründe einer Begriffsrenaissance
Der Titel meines Beitrags mag eine Frage provozieren: Eine Rechtsstaatskonzeption der Verfassung 1934,1 gab es so etwas denn überhaupt? Um die Antwort sind wir verlegen, weil wir über den Inhalt dieser Verfassung wenig wissen.2 Wir hegen jedoch starke Zweifel, dass sie rechtsstaatliche Substanz haben kann, weil wir über ihre Entstehung gut informiert sind. 1933: Ausschaltung des Nationalrats und des Verfassungsgerichtshofs Der Rücktritt der drei Präsidenten des Nationalrates am 4. März 1933 bot der Bundesregierung Anlass, fortan ohne das lästige Parlament zu agieren: Sie verhinderte weitere Sitzungen des Nationalrates und 1
2
Nur von der verfassungsrechtlichen Rechtsstaatskonzeption ist im Folgenden die Rede, nicht davon, ob Österreich zwischen 1934 und 1938 als Rechtsstaat bezeichnet werden kann. Ein Urteil hierüber dürfte sich nicht mit einer Analyse der Verfassung begnügen, sondern müsste die Gesetzgebung ebenso einbeziehen wie die Praxis der Gerichte und Verwaltungsbehörden. Vgl. dazu Ilse Reiter-Zatloukal, Der Bundesgerichtshof 1934–1938. Wendeexperte oder Verteidiger des Rechtsstaates? in: Jabloner u. a. (Hg.), Gedenkschrift für Robert Walter, Wien 2013, 657–678; Klaus Axmann, Der österreichische Bundesgerichtshof, politikw. Diplomarbeit Wien 2012. Ewald Wiederin, Christliche Bundesstaatlichkeit auf ständischer Grundlage: Eine Strukturanalyse der Verfassung 1934, in: Ilse Reiter-Zatloukal/ Christiane Rothländer/Pia Schölnberger (Hg.), Österreich 1933–1938. Interdisziplinäre Annäherungen an das Dollfuß-/Schuschnigg-Regime, Wien/Köln/Weimar 2012, 31 (31 f.).
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übernahm dessen Aufgabe, die Gesetzgebung, der Sache nach selbst – durch Erlassung von Verordnungen, die sie auf das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz 1917 stützte. Dass diese Grundlage längst nicht alles deckte, was tatsächlich erlassen wurde, war auch der Regierung klar. Deshalb schaltete sie nach dem Nationalrat auch den Verfassungsgerichtshof aus, bevor er ihre Verordnungen überprüfen konnte. Das geschah auf dermaßen perfide Weise, dass uns noch heute der Atem stockt, wenn wir die Abfolge der Züge analysieren.3 Zunächst trat ein Mitglied des Gerichtshofes – der Regierung nahe stehend, aber vom Parlament für den Verfassungsgerichtshof vorgeschlagen – von seinem Amt zurück. Darauf reagierte die Regierung mit einer Verordnung, die fünf weitere Mitglieder in ihrer Funktion inhibierte, ebenso wie die drei Ersatzmitglieder, die auf Vorschlag des Parlaments ernannt worden waren. Das konnte man der Öffentlichkeit als Entpolitisierungsmaßnahme verkaufen, und es bedeutete, einem verbreiteten Vorurteil zuwider,4 noch keine Lähmung des Gerichtshofs, denn es blieben elf Personen übrig, genug also, um jeden Beschluss zu fassen und jedes Erkenntnis zu fällen. Ansonsten hätte man in der Bundesregierung die nötige Einstimmigkeit wohl gar nicht erzielt. Erst danach kam es zu weiteren Rücktritten, erst sie drückten das Plenum unter das Quorum. Aber die Lähmung war nicht irreversibel, die Regierung hätte durch Vorschlag neuer Mitglieder den Gerichtshof jederzeit wieder zum Gehen bringen können. 3
4
Dazu eingehend Peter Huemer, Sektionschef Robert Hecht und die Zerstörung der Demokratie in Österreich. Eine historisch-politische Studie, Wien 1975; Thomas Zavadil, Die Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofs 1933. Diplomarbeit an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Wien 1997. Gustav Kafka, Der gesetzgebende Richterspruch, Graz 1967, 14; Georg Graf, Reine Rechtslehre und schmutzige Verfassungstricks. Rechtstheoretische Überlegungen zu einigen Verordnungen des Jahres 1933, in: Kurt R. Fischer/Franz M. Wimmer (Hg.), Der geistige Anschluß. Philosophie und Politik an der Universität Wien 1930–1950, Wien 1993, 59 (61).
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Ähnlich subtil kalkuliert war die Maßnahme, die die Lähmung bewirkte.5 Die Verordnung richtete sich an den Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs, dem sie die Ladung bestimmter Mitglieder verbot, an eben diese Mitglieder, denen sie die Teilnahme an den Sitzungen untersagte, und schließlich an das Plenum des Gerichtshofs, das bei Beurteilung der Quoren den Ausschluss bestimmter Mitglieder zu beachten hatte. Wenn auch nur einer dieser Adressaten sich fügte, war vom Verfassungsgerichtshof nichts mehr zu befürchten. Deshalb hatte die Regierung ihr Spiel im Grunde schon gewonnen, als der Präsident zu den Sitzungen der Junisession nur die auf Vorschlag der Regierung ernannten Mitglieder einlud.6 Das Rumpfplenum konnte die Prüfung der Besetzungsverordnung noch beschließen, das eingeleitete Verfahren aber nicht mehr fortsetzen. Nach dem Nationalrat war also auch der Verfassungsgerichtshof ausgeschaltet, aber nicht mit brachialer Gewalt, sondern durch den Einsatz von Recht – von rechtswidrigem Recht zwar, das sich aber selbst immunisierte, indem es den Gerichtshof an seiner Prüfung hinderte. Unter der Dezemberverfassung 1867 hätte diese Taktik nicht funktioniert, denn unter ihr war jeder Richter zur Verordnungsprüfung befugt; jetzt aber war die Normenprüfung monopolisiert. Merkl hat das klar erkannt, wenn er schreibt:7 „Ein Bombenabwurf auf die Elektrizitätszentrale kann den ganzen Eisenbahnverkehr mit einem Schlag zum Stillstand bringen, was selbstverständlich beim Dampfbetrieb nicht möglich ist. In ähnlicher Weise hat der Schlag gegen den Verfassungsgerichtshof – als die zentrale Verordnungskontrollstelle – jede behördliche Verordnungskontrolle lahmgelegt.“ 5 6 7
Verordnung der Bundesregierung vom 23. Mai 1933, betreffend Abänderungen des Verfassungsgerichtshofgesetzes 1930, BGBl. 1933/191 (i. d. F.: Besetzungsverordnung). Zavadil, Ausschaltung (FN 3), 104 ff. Adolf Merkl, Selbstausschaltung des Verfassungsgerichtshofes, in: Der Österreichische Volkswirt 25/2 (1933), 949 (950).
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Kurzum: Die Regierung hatte auf die Achillesferse der Verfassungsgerichtsbarkeit gezielt und das Rechtssystem im Zentrum getroffen. Die Art und Weise, wie das erfolgt ist, beschäftigt uns wie ein Trauma bis heute.8 1927: Das brennende Recht Konnte die Verfassung 1934 nach dieser Vorgeschichte rechtsstaatlich sein? Ich meine, sie musste es sein, weil die neue Verfassung andernfalls nicht legitim erschienen wäre, nicht einmal im eigenen Lager. Das, was geschehen war, wurde nämlich auch dort nicht goutiert. Die Verfassungsbrüche taten den Christlichsozialen emotional sogar besonders weh, weil es zu ihrem Selbstverständnis gehörte, das eigene Lager als Burg der Rechtsstaatlichkeit zu betrachten. Das wiederum hat mit einem anderen Ereignis zu tun, das ähnlich schockierend wirkte. Nach dem Freispruch der Schützen von Schattendorf, den ein Geschworenengericht in Wien gefällt hatte,9 kam es am 15. Juli 1927 zu Streiks, zu Demonstrationen – und schließlich zum Sturm auf den Justizpalast, der von der Menge in Brand gesteckt wurde.10 Auch hier war das Recht im Zentrum getroffen: Das 8
Vgl. Ludwig K. Adamovich/Bernd-Christian Funk/Gerhart Holzinger/ Stefan L. Frank, Österreichisches Staatsrecht Bd. 1: Grundlagen, 2. Aufl. Wien/New York 2011, Rz. 08.002: „Die damals angewendete Technik eines Staatsstreiches mit legalem Anstrich hat im österreichischen Verfassungsverständnis ein tiefes Trauma hinterlassen.“ 9 Darstellung des Verfahrens bei Viktor Liebscher, Die österreichische Geschworenengerichtsbarkeit und die Juliereignisse 1927, in: Die Ereignisse des 15. Juli 1927. Protokoll des Symposiums in Wien am 15. Juni 1977, Wien 1979, 60 (75 ff.). 10 Zum Ablauf der Ereignisse vgl. Gerhard Botz, Ungerechtigkeit, die Demonstranten, der Zufall und die Polizei: der 15. Juli 1927, in: Bundesministerium für Justiz u. a. (Hg.), 80 Jahre Justizpalastbrand. Recht und gesellschaftliche Konflikte, Innsbruck/Wien/Bozen 2008, 21 (30 ff.); zu den Motiven Gerhard Botz, Die „Juli-Demonstranten“, ihre Motive und die quantifizierbaren Ursachen des „15. Juli 1927“, in: Die Ereignisse des 15. Juli 1927 (FN 9), 17 (29 ff.).
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oberste Gericht der Republik war obdachlos geworden,11 und, noch symbolkräftiger, Teile des Grundbuchs, Teile des Eisenbahnbuchs und unzählige Prozessakten brannten.12 Nicht nur das Gebäude hatte Feuer gefangen, die Rechtsordnung selbst stand in Flammen.13 Dieser Angriff machte eine tiefe Spaltung der Gesellschaft sichtbar. Am Tag danach war nicht nur die Stadt verändert, „auch die junge und noch ungefestigte Demokratie war nicht mehr dieselbe“.14 Von konservativer Seite, auf der auch die verstörte Richterschaft15 überwiegend stand, wurde für den Angriff bald versteckter, bald offener16 die Sozialdemokratie verantwortlich gemacht. Ein Wandel in der Bewertung des Parlamentarismus war die Folge: Um den Rechtsstaat zu bewahren, glaubte man die Demokratie eindämmen oder gar beseitigen zu müssen. 1934: Kontinuitäten Die neue Verfassung des Jahres 1934 hat den Rechtsstaat auf unspektakuläre Weise verankert, indem sie das Traditionsgut übernahm und 11 Gustav Ratzenhofer, Die Juli-Ereignisse und ihre Lehren, in: GerichtsZeitung 1927, 225 (225). 12 Ernst Bum, Der schwarze Freitag, in: Juristische Blätter 1927, 225 (226): „[M]an ist fast versucht, an die Zerstörung der berühmten Bibliothek von Alexandrien zu denken!“ 13 Eingehend Christoph Konrath, Das brennende Recht, in: Thomas Köhler/Christian Mertens (Hg.), Justizpalast in Flammen. Ein brennender Dornbusch, Wien/München 2006, 13 (13 ff.). 14 Heinz Fischer, Enthüllung der Gedenktafel zur Erinnerung an den Brand des Justizpalastes am 15. Juli 1927, in: 80 Jahre Justizpalastbrand (FN 10), 11 (11). 15 Vgl. Franz Klaus, Die Zerstörung des Justizpalastes am 15. Juli 1927, in: Österreichische Richterzeitung 1927, 91 (93): „Es wäre nur zu wünschen, daß sich der Zorn des Volkes mit der gleichen Zügellosigkeit auch einmal gegen sie richte.“ 16 Das wahre Gesicht der Wiener Schreckenstage: Wo sind die Schuldigen? Eine Darstellung der Wiener Juli-Revolte auf Grund der amtlichen Berichte, Wien 1927, 35 ff.
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einige neue Akzente setzte. Anders als bei der Demokratie, die der Sache wie dem Namen nach eliminiert wurde, und beim Bundesstaat, der nominell aufgewertet und substanziell ausgehöhlt wurde,17 blieben die großen Brüche aus. Wir können eine homogene Entwicklung beobachten, die sich nach 1945 fortsetzt. Zunächst fällt auf, dass – für eine autoritäre Verfassung ungewöhnlich18 – am Legalitätsprinzip festgehalten wird: Nach Art. 9 Abs. 1 darf die Verwaltung weiterhin nur aufgrund der Gesetze tätig werden. Die demokratische Funktion des Gesetzesvorbehalts blieb dabei allerdings auf der Strecke: Der Gesetzesvorbehalt diente nicht mehr dazu, dem Parlament die wesentlichen Entscheidungen zu sichern; seine Funktion erschöpfte sich darin, dass das staatliche Handeln für die Bürgerin vorhersehbar bleibt. Über die Einhaltung der rechtlichen Bindungen zu wachen, bildete weiterhin die Aufgabe der Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts. Organisatorisch brachte die neue Verfassung eine wesentliche Veränderung, der Verfassungsgerichtshof und der Verwaltungsgerichtshof waren im Bundesgerichtshof zusammengelegt.19 Sämtliche ihrer bisherigen Funktionen blieben jedoch erhalten, von der Bescheidkontrolle bis hin zur Gesetzesprüfung,20 die Änderungen hielten sich in Grenzen. Bei der Wahlgerichtsbarkeit bedeutete es einen Rück17 „Bundesstaat Österreich“ löste als Bezeichnung die „Republik Österreich“ ab: vgl. Art. 98 Abs. 2 und § 4 Verfassungsübergangsgesetz, BGBl. II 1934/75. 18 Zum Kontrast vgl. § 1 der Zweiten Verordnung zum Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich vom 18. März 1938, RGBl. 1938 I 262: „Der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Inneren kann die zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung notwendigen Maßnahmen auch außerhalb der sonst hierfür bestimmten gesetzlichen Grenzen treffen.“ 19 Vgl. das 12., mit „Der Bundesgerichtshof“ überschriebene Hauptstück. 20 Vgl. Art. 164 (Bescheidbeschwerde), 165 (Kausalgerichtsbarkeit), 168 (Zuständigkeitsstreite), 169 (Verordnungsprüfung), 170 (Gesetzesprüfung), 171 (Kompetenzfeststellung), 172 (Wahlgerichtsbarkeit), 173 und 174 (Staatsgerichtsbarkeit), 175 (Völkerrechtsgerichtsbarkeit).
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schritt, dass ihre Ausgestaltung zur Disposition der Gesetzgebung gestellt war.21 Diese Einbuße wurde jedoch durch Kompetenzerweiterungen an anderer Stelle kompensiert: Zum einen erhielt der Bundesgerichtshof die Befugnis zugewiesen, über die Auslegung von Verwaltungsvorschriften von grundlegender Bedeutung auf Antrag der exekutiven Spitze ein Gutachten zu erstatten, das die Verwaltung band.22 Zum anderen konnte man sich vor ihm auch gegen die pflichtwidrige Untätigkeit der Verwaltung beschweren.23 Diese Vorkehrung gegen Rechtsverweigerung, von den Zeitgenossen einhellig begrüßt,24 wurde nach dem Zweiten Weltkrieg alsbald in modifizierter Form ins B‑VG übernommen.25 In den Bestimmungen über die Notrechte der Verwaltung ist die Verfassung 1934 sogar um Vergangenheitsbewältigung bemüht: Die Verfassungsbrüche des Jahres 1933 waren implizit dadurch zugestanden, dass die Normenkontrollkompetenzen des Bundesgerichtshofes notverordnungsfest konzipiert wurden.26 Dass diese Kautel im Ernst21 22 23 24
Vgl. Art. 172: „nach Maßgabe der Gesetze“. Vgl. Art. 166. Art. 164 Abs. 3. „Eine weittragende Verbesserung des Rechtsschutzes“ sieht Alois Körner, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der neuen Verfassung, in: Österreichisches Verwaltungsblatt 1934, 108 (110), der zuvor eine effektive Rechtsschutzmöglichkeit eingemahnt hatte: vgl. denselben, Entscheidungspflicht, in: Österreichisches Verwaltungsblatt 1932, 252 (256 f.). Nach Felix Lanzer, Die Anrufung des Bundesgerichtshofes bei Untätigkeit der Behörde, in: Österreichisches Verwaltungsblatt 1936, 83 (92), bedeutet die neue Beschwerde „sicherlich einen sehr erfreulichen Ausbau des Gebäudes des Rechtsstaates.“ 25 Vgl. die Neufassung des Art. 132 B‑VG durch die Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 1946, BGBl. 1946/211. 26 Art. 148 Abs. 2 Satz 2: „Weiters dürfen diese Verordnungen weder die Staatsform betreffen noch Bestimmungen enthalten, die den Bestand des Bundesgerichtshofes und dessen Zuständigkeit zur Prüfung von Gesetzen und Verordnungen berühren oder ihn in dieser Prüfung behindern, noch Verfügungen treffen, die die Abänderung gerichtlicher Erkenntnisse zum Gegenstande haben.“
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fall vielleicht nicht hätte halten können, was sie zu sichern versprach, steht auf einem anderen Blatt.27 Die nächste Überraschung besteht darin, dass die Verfassung einen umfassenden Grundrechtskatalog enthält. Er bewahrt die Rechte, die schon das B‑VG 1920 gewährleistet hatte, und fügt einige neue dazu, wie etwa den Schutz vor Auslieferung ins Ausland, den Schutz vor rückwirkender Bestrafung sowie das Post-, Telegraphenund Fernsprechgeheimnis.28 Symbolisch ist dieser Katalog dadurch aufgewertet, dass er, den zeitgenössischen Gepflogenheiten zuwider,29 nicht an das Ende der Verfassung gestellt ist, sondern nach vorne gerückt ist, wo er auf die grundsätzlichen Bestimmungen folgt. Diese Umreihung war mit Bedacht erfolgt, sollte sie doch sinnfällig machen, dass die Grundrechte dem Staat vorausliegen und darum bei jeglichem staatlichen Handeln zu beachten sind.30
27 Kafka, Richterspruch (FN 4) 18 f; Zavadil, Ausschaltung (FN 3), 245 ff. Absolute Nichtigkeit eines Verstoßes gegen diese Klausel erwägt hingegen Adolf Merkl, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs. Ein kritisch-systematischer Grundriß, Wien 1935, 110. 28 Art. 20, 21 und 23. 29 Vgl. die Weimarer Reichsverfassung 1919, die Schweizerische Bundesverfassung 1874 sowie sämtliche Entwürfe zum B‑VG, die einen Grundrechtskatalog enthielten. 30 Dazu Adolf Merkl, Die individuelle Freiheit im autoritären und ständischen Staat, in: Juristische Blätter 1936, 265 (271): „Der Universalismus der katholischen Kirche begegnet sich immer wieder mit dem profanen politischen Individualismus in einem antitotalitären politischen Programm, das das Sonderleben des Individuums und der Gesellschaft gegen einen den ganzen Menschen und alle Menschen usurpierenden Staat verteidigen und sicherstellen will. Der Kern jener Verfassungseinrichtungen, die der individuellen Freiheit dienen, ist im 2. Hauptstück der Verf. 1934 enthalten. An dieser Regelung fällt vor allem auf, daß die Verfassung der Regelung der Staatsorganisation das Recht der individuellen Freiheit voranstellt, daß also das Verfassungssystem eine Reihung der Probleme vornimmt, wie sie der Bewertung des Rechtsinhaltes von Seite eines radikalen Individualismus entspricht.“
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1934: Rückschritte Man muss jedoch nicht um die Praxis wissen, es genügt, den Text zu lesen, um zu sehen, dass es inhaltlich enorme Rückschritte gibt. Es beginnt beim Gleichheitssatz: Religion und Geschlecht sind keine verpönten Differenzierungsmerkmale mehr,31 im Gegenteil, dass für Frauen andere Rechte und Pflichten vorgesehen werden dürfen als für Männer, wird offen gesagt.32 Ebenfalls explizit wird zum Ausdruck gebracht, dass ungleiche gesetzliche Behandlungen insoweit zulässig sind, „als es sachliche Gründe rechtfertigen“.33 Das Sachlichkeitsgebot, das heute die Judikatur zum Gleichheitssatz dominiert, hat hier seine Wurzel. Es setzt sich bei der Religionsfreiheit fort, bei der die katholische Kirche nunmehr offen privilegiert wird,34 und beim öffentlichen Dienst, zu dem nur die Vaterlandstreuen Zugang haben und der als neutrale Sphäre konzipiert ist, in dem politische Betätigung tabuisiert ist.35 Und es zeigt sich bei allen Grundrechten, die auch nur entfernt politischen Charakter haben: Wahlrecht gibt es keines mehr, und die Möglichkeiten, auf öffentliche Entscheidungen indirekten Einfluss zu nehmen, sind durch die Bank beschnitten. Vereins- und Versammlungsfreiheit können wieder beschränkt werden,36 Vorzensur ist wieder möglich und das Konzessionserfordernis für die Presse wieder erlaubt. 37 Auch sonst bleibt vom Artikel über die Meinungsfreiheit nur die umfassende Liste weiterer Gründe im Gedächtnis, 31 Art. 16. Abs. 1 Satz 2. 32 Art. 16 Abs. 2. 33 Art. 16 Abs. 1 Satz 1. Merkl, Verfassung (FN 27), 38, sieht darin eine Abkehr vom strikten Gleichheitssatz des Art. 7 B‑VG 1920. 34 Art. 30 mit Abs. 3 und 4. 35 Art. 16 Abs. 3, 4 und 5. Positive Bewertung bei Gustav Canaval, Der Schutz der persönlichen Freiheitsrechte in der neuen österreichischen Verfassung, in: Der christliche Ständestaat Juni 1934, 9 (10). 36 Art.24. 37 Art. 26 Abs. 2 lit. a.
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die Beschränkungen tragen.38 Bei verfassungsimmanenter Betrachtung sind diese Verschiebungen aber nachvollziehbar, um nicht zu sagen folgerichtig. Zum einen ist nicht verwunderlich, wenn eine Verfassung, die für Demokratie keinen Raum mehr lässt, sich auch von den Grundrechten mit demokratischem Gehalt verabschiedet. Zum anderen haben die Zeitgenossen mit Nachdruck betont, dass es falsch wäre, die Grundrechte der neuen Verfassung als liberale Rechte zu verstehen.39 Selbst dort, wo die Textierung gleich geblieben ist, hat sich Wesentliches geändert, weil Geltungsgrund und Zweckausrichtung der Grundrechte sich gewandelt haben. Nicht mehr Selbstbestimmung und Autonomie stehen im Zentrum, es geht im Kern nicht mehr um Freiheit, weder um politische Gestaltungsfreiheit noch um individuelle Freiheit. 40 Die Grundrechte werden gewährleistet, weil Gott sie in die Natur des Menschen gelegt hat,41 weil sie
38 Art. 26 Abs. 2 lit. b (Bekämpfung der Unsittlichkeit und grober Verstöße gegen den öffentlichen Anstand), lit. c (Jugendschutz), lit. d (sonstige Interessen des Volkes und des Staates). 39 Vgl. Erich Hula, Die autoritären Elemente in der neuen österreichischen Verfassung, in: Mitteilungen des Verbandes österreichischer Banken und Bankiers 1934, 123 (123): „Die Freiheit konstitutiert nichts.“ 40 Vgl. Hans Nawiaksy, Österreichische Verfassungsprobleme, in: Schweizerische Rundschau 1934, 710 (711): „Endlich entspricht die Anerkennung gewisser Grundrechte der Staatsbürger dem katholischen Naturrecht, das sich in dieser Beziehung, was nicht immer genügend beachtet wird, im Effekt mit der liberalen Staatstheorie trifft und mit dieser der Leugnung jedes Eigenrechts der Einzelperson durch den totalitären Staat entgegentritt.“ Ebenso Merkl, Freiheit (FN 30), 267 ff., 273: „Die Verfassungsgeschichte rechtfertigt unseren Freiheitsschutz als bescheidenes Erbe des mittelalterlich christlich-deutschen Staates.“ 41 Vgl. Otto Ender, Die neue Österreichische Verfassung mit dem Text des Konkordates, 3. Aufl. Wien/Leipzig 1934, 3; Hula, Elemente (FN 39), 125: „Der autoritäre Staat erkennt wie der liberale Staat individuelle, vorstaatliche Grundrechte an und begreift – was dem liberalen Staat nicht ganz so leicht gefallen ist – auch die Selbstverwaltung der Berufsstände als ein vorstaatliches Naturrecht“.
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Ausfluss der Menschenwürde sind;42 und diese Würde speist sich daraus, dass Gott den Menschen geschaffen hat nach seinem Ebenbild.43 Durch die Grundrechte geschützt ist deshalb nicht, was der Mensch will nach seinem eigenen Plan; gewährleistet ist das, was er ist, was ihn ausmacht nach dem Plan Gottes.44 Und dieser Schöpferplan sieht verschiedene Sphären vor, die nach dem Subsidiaritätsprinzip wohlgeordnet sind: Sphären wie Religion, Ehe und Familie, in die der Staat sich nicht einmischen darf, ebenso wie Sphären des Staates, die ständisch geordnet sind, die autoritär geführt werden – von Männern natürlich – und zu denen die Bürger keinen Zugang haben.45 1934: Neuorientierungen Die Frage, ob es sich bei der Verfassung 1934 um eine rechtsstaatliche Verfassung handelte, hat naturgemäß schon die Zeitgenossen beschäftigt. Allesamt haben sie diese Frage bejaht. In der „sorgfältige[n] Aufrechterhaltung des Rechtsstaatsgedankens“ erblickte Nawiasky eine „Lichtseite der neuen Verfassung, die nicht übersehen werden
42 Kurt Schuschnigg, Die Verfassung des Bundesstaates Österreich, Leipzig u. a. 1934, 32 f. 43 Enzyklika „Rerum Novarum“ Seiner Heiligkeit Papst Leo XIII. (1891), Z 32. 44 Enzyklika „Quadragesimo Anno“ Seiner Heiligkeit Papst Pius XI. (1931), Z 118. 45 Vgl. Otto Ender, Staatsautorität und ständische Selbstverwaltung, in: Der christliche Ständestaat November 1934, 3 (5): „Auf dem Gebiete der staatlichen Verwaltung gibt es kein Hineinreden außenstehender Kreise. Die Staatsverwaltung wird autoritativ geführt, wie es in einem starken Staate sein muß. Die Selbstverwaltung bei den wirtschaftlichen Berufsständen wird autonom geführt und der Staat beschränkt sich hier auf die notwendige Oberaufsicht. Hier ist das Gebiet, wo die Freiheit des Bürgers sich in erster Linie entfalten kann.“ Resümierend Hula, Elemente (FN 39), 143: „In der Tat, es wäre höchst seltsam, wenn ein katholischer Verfassungsgesetzgeber eine reine Demokratie hätte schaffen wollen. Denn das katholische Verfassungsideal ist seit jeher eine gemischte Verfassung.“
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darf“;46 Körner erklärte „die Besorgnis, es könnte […] zu einem Abbau von wertvollem Erbgut gekommen sein, […]“ als unbegründet;47 Schlesinger hielt fest, „[d]ie Bestimmungen über den Bundesgerichtshof, die Gerichtsbarkeit und die ‚allgemeinen Rechte der Staatsbürger‘ gewährleist[et]en nach wie vor den rechtsstaatlichen Charakter Oesterreichs“; 48 und selbst Fleischer schloss seine mitunter sehr kritischen Ausführungen mit dem Ausruf: „Die Idee des Rechtsstaates ist nicht tot: es lebe der Rechtsstaat!“49 So wenig diese einhellige Antwort angesichts der Kontinuität, in der die Verfassung 1934 steht, zu überraschen vermag, so leicht ist zu übersehen, dass das eigentlich Bemerkenswerte in der Neuheit der Fragestellung lag. Die österreichische Verfassungsrechtslehre hatte sich bis dato weder über den Rechtsstaat viele Gedanken gemacht, noch hatte sie den rechtsstaatlichen Charakter der seit 1848 erlassenen Verfassungen erörtert. In der Monarchie waren intensive Beschäftigungen mit dem Reichsgericht, mit dem Verwaltungsgerichtshof und mit dem Verfahren der Administrativbehörden an der Tagesordnung, aber keine Einlassungen zum rechtsstaatlichen Gehalt der Dezemberverfassung. „Rechtsstaat“ kommt in den Stichwortverzeichnissen der Verfassungsrechtslehrbücher nicht vor und wird als Begriff in rechtswissenschaftlichem Kontext regelmäßig vermieden. In der jungen Republik verschob sich das Interesse auf die neu eingerichtete Verfassungsgerichtsbarkeit und die 1925 verabschiedeten Verwaltungsverfahrensgesetze. Beiläufige Bezugnahmen auf den Rechtsstaat gibt es mitunter,50 auch bei Autoren, die Staat und Recht 46 Nawiasky, Verfassungsprobleme (FN 40), 718. 47 Körner, Verwaltungsgerichtsbarkeit (FN 24), 108. 48 Johann Schlesinger, Der rechtliche Gehalt der Verfassung 1934, in: Gerichtshalle 1934, 89, 116, 137, 153 (157). 49 G. F. [Georg Fleischer], Verfassung 1934, in: Wiener Politische Blätter 2 (1934), 48 (107). 50 Etwa bei Rudolf Herrmann Herrnritt, Grundlehren des Verwaltungsrechtes, Tübingen 1921, 48, wenn er eine „rechtsstaatliche Epoche“ der polizeistaatlichen gegenüber stellt.
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miteinander zur Deckung bringen.51 Ebenso wenig wie zuvor wurde jedoch ein Begriff des Rechtsstaats zu entwickeln, geschweige denn die Bundesverfassung oder auch nur die Gesetze daran zu messen versucht. Von einem „rechtsstaatlichen Prinzip“ des B‑VG 1920 ist, sofern ich keine frühere Stelle übersehen habe, erstmals zu einem Zeitpunkt die Rede, als der Untergang dieser Verfassung längst beschlossene Sache war.52 Was verhilft dem Begriff des Rechtsstaats wieder zu Konjunktur? Nur der Verdacht, dass Rechtsstaatlichkeit unter der neuen Verfassung wieder prekär geworden sein könnte, oder gibt es andere Erklärungen? Mit anderen Zentralbegriffen des Verfassungs- und Verwaltungsrechts, die gegenstandsprägenden Begriffe „Verfassung“ und „Verwaltung“ miteingeschlossen, hat das Wort „Rechtsstaat“ gemeinsam, dass es im 18. Jahrhundert noch nicht geläufig ist. Es taucht erstmals um 1800 auf, wird um 1830 von Robert von Mohl aufgegriffen und entwickelt sich nach 1848 zu einem Leitbild, wenn nicht zu einem politischen Kampfbegriff.53 51 Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, 91. 52 Adolf Merkl, Ursprung und Schicksal der Leitgedanken der Bundesverfassung, in: Juristische Blätter 1934, 157 (159): „Was jene Rechtsgedanken betrifft, die von der Verfassung der Republik nicht neu geprägt, sondern aus der Verfassung der Monarchie übernommen worden waren, so sind sie schlechterdings alle mit dem ständischen Gedanken vereinbar und liegen gerade für eine Staatspolitik nahe, die an die politischen Traditionen der österreichischen Monarchie anknüpfen will. Es handelt sich um das rechtsstaatliche Prinzip mit allen seinen rechtsinstitutionellen Folgerungen. Namentlich: Herrschaft der Gesetze in dem Sinne, daß alle Verwaltungshandlungen wie Justizakte einer allgemeinen, schon im voraus aufgestellten Maxime (und nicht, wie im Polizeistaat, einer Eingebung des Augenblicks) folgen; Trennung der Verwaltung von der Gesetzgebung und der Gerichtsbarkeit von der Verwaltung in der Rechtsform der richterlichen Unabhängigkeit; Verfassungsgerichtsbarkeit, Verwaltungsgerichtsbarkeit und unabhängige Rechnungskontrolle.“ 53 Zur Begriffsentwicklung vgl. Richard Thoma, Rechtsstaatsidee und Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 1910, 196 (197–199).
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Nochmals wesentlich jünger ist seine heutige demokratisch-freiheitliche Bedeutung. Diese geht auf Hermann Heller zurück, der sie 1930 durch die Prägung des Schlagworts „demokratischer Rechtsstaat“ andeutete, wenn auch nicht entwickelte.54 Zu diesem Zeitpunkt stand die Demokratie bereits massiv unter Druck. Ähnlich ist es um die 1931 erschienene Abhandlung von Kurt Strele zu „Rechtsstaat und Demokratie im neuen Österreich“ bestellt: Die Schrift zeigt auf, dass das B‑VG 1920 auch nach der Reform von 1929 eine demokratische Verfassung geblieben ist, und sie ist um den Nachweis bemüht, dass Demokratie mit Rechtsstaatlichkeit kompatibel ist.55 Das eine wie das andere erscheint mir vielsagend. So trivial uns heute erscheint, dass Rechtsstaat und Demokratie zusammengehören, so wenig selbstverständlich erschien dies den Zeitgenossen. Die Protagonisten des Rechtsstaats, die den Begriff im 19. Jahrhundert geprägt und popularisiert haben, verbanden mit ihm dermaßen unterschiedliche politische Programme, dass sich ihre Forderungen schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen ließen. Einig waren sie sich jedoch in der Ablehnung hier der absoluten Monarchie, dort der Demokratie. Während Robert von Mohl vor der Revolution 1848 den Rechtsstaat noch einigermaßen offen konzipiert hatte,56 stellten ihn seine Nachfolger in den Dienst bald der Monarchie, bald der Justizstaatlichkeit, bald der Selbstverwaltung. 54 Hermann Heller, Rechtsstaat oder Diktatur? Tübingen 1930, 15, wiederabgedruckt in: Christoph Müller u. a. (Hg.), Hermann Heller. Gesammelte Schriften. 2. Bd.: Recht, Staat, Macht, 2. Aufl. Tübingen 1992, 443 (454). 55 Kurt Strele, Rechtsstaat und Demokratie im neuen Österreich. Eine staatsrechtliche Studie über Entwicklungsprinzipien der österreichischen Bundesverfassung, Innsbruck 1931, insb. 119–126. Selbst Strele qualifiziert jedoch die Reform 1929 als Stärkung der Rechtsstaatlichkeit, weil sie die Herrschaft des Parlaments durch Einführung eines zweiten Machtzentrums in Form des Bundespräsidenten gebrochen hat (122 f., 126), und stimmt in die zeitgenössische Parlamentarismuskritik mit ein, die in den politischen Parteien die Wurzel allen Übels sieht (123–125). 56 Robert von Mohl, Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, 3 Bd, 1. Aufl. Freiburg i.Br. 1832–34, 3. Aufl. 1865–66.
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Bei Stahl, auf den die bekannteste Definition zurückgeht,57 ist Rechtsstaatlichkeit eine Legitimationsreserve, die er der Monarchie zu erschließen versucht. Die Staatsgewalt liegt unteilbar beim Souverän, mit der Ausübung sind jedoch verschiedene Subjekte betraut, und über dem Staat steht „als eine höhere Macht die sittliche und natürliche, tiefer aufgefaßt die göttliche Ordnung der Dinge“, derzufolge „sowohl der Mensch in seiner Persönlichkeit (angeborenem Rechte) und in seinen erworbenen Rechten, als die anderen Gemeinschaften und vor Allem die Kirche berechtigte Subjekte [sind], in deren Sphäre der Staat ohne Unrecht nicht eingreifen kann. Der Staat ist darum, wenn auch die souveräne, so doch nicht die absolute Macht auf Erden.“58 Denn auch er bleibt an die „Gesetze (Rechtsgrundsätze) als das Ethos des Staates“59 gebunden. Das bedeutet aber weder, dass die Administration nicht auch außerhalb gesetzlicher Ermächtigungen schalten und walten durfte, noch, dass dem Bürger gegen sie der Zugang zu Gericht offen stand.60 In diesem Punkt wurde Stahl von Otto Bähr scharf bekämpft: Auch die Verwaltung müsse sich dem Urteil des (ordentlichen) Richters unterwerfen.61 So für Mäßigung der Staatsmacht plädierend, wollte Bähr jedoch vom monarchischen Prinzip ebenfalls nicht lassen.62 Gneist wiederum trat für eine Verbindung zwischen Verwaltungsgerichtsbarkeit und Selbstverwaltung ein, durch deren Einführung der Staat wieder zur res publica werden könne.63 Diese 57 Friedrich Julius Stahl, Rechts- und Staatslehre auf der Grundlage christlicher Weltanschauung, 2. Abtheilung, 3. Aufl. Heidelberg 1856, 137 f. 58 Stahl, Rechts- und Staatslehre (FN 57) 155. 59 Stahl, Rechts- und Staatslehre (FN 57) 192. 60 Stahl, Rechts- und Staatslehre (FN 57) 256 ff. Eingehend Katharina Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat. Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Aspekte, Tübingen 1997, 334 ff., mwN. 61 Otto Bähr, Der Rechtsstaat. Eine publicistische Skizze, Kassel/Göttingen 1864, 57 ff. 62 Sobota, Rechtsstaat (FN 60) 346 ff. mwN. 63 Rudolf Gneist, Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutschland, 2. Aufl. Berlin 1879.
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Frontstellung gegen das Berufsbeamtentum bedeutete jedoch kein Plädoyer für Demokratisierung, und mit der Forderung nach Verwaltungsgerichtsbarkeit war nur die verwaltungsinterne Austragung öffentlich-rechtlicher Streitigkeiten gemeint.64 Einer Zeit, die sich von der Demokratie abwandte, erschienen diese Konzepte einer Nomokratie wieder attraktiv. Zum einen waren sie mit der wieder autoritär konzipierten Staatsgewalt ohne weiteres kompatibel, zum anderen boten sie die Chance, diese autoritäre Gewalt als rechtlich verfasste und begrenzte Macht zu präsentieren. Wohl deshalb ist von Rechtsstaatlichkeit in Österreich zwischen 1934 und 1938 öfter die Rede als in den fünfzehn Jahren davor,65 und wohl deshalb haben selbst nationalsozialistische Autoren versucht, den NS-Staat als völkischen Rechtsstaat zu charakterisieren und zu propagieren.66 So skurril uns heute die Debatte um die Rechtsstaatlichkeit eines Regimes erscheint, das uns als Schulbeispiel eines Unrechtsstaats gilt, eines ist nicht zu übersehen: Die Beiträge zu nationalsozialistischer Rechtsstaatlichkeit gehen in die Dutzende,67 64 Gneist, Rechtsstaat (FN 63) 253, 352 f. Eingehend Sobota, Rechtsstaat (FN 60) 363 ff., 369 ff. mwN. 65 Vgl. etwa Adolf Merkl, Die Wandlungen des Rechtsstaatsgedankens, in: Österreichisches Verwaltungsblatt 1937, 174–182. An dieser Abhandlung ist vielsagend, dass sie nach begrifflichen Klarstellungen den Rechtsstaat der Antike (2), der klassischen deutschen Philosophie (3), der konstitutionellen (4) sowie der autoritären und totalitären Staatsdoktrin (5) erörtert, einen demokratischen Rechtsstaat hingegen nicht kennt. 66 Übersicht bei Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland Bd. 3, München 1999, 330 ff. 67 Unter den wichtigeren vgl. etwa Otto Koellreutter, Der nationale Rechtsstaat, in: Deutsche Juristenzeitung 1933, Sp. 517–524; Bodo Dennewitz, Das neue Deutschland ein Rechtsstaat. Die Rechtsgrundlagen des neuen deutschen Staates, Berlin 1933; G. A. Walz, Autoritärer Staat, nationaler Rechtsstaat oder völkischer Führerstaat? in: Deutsche Juristen-Zeitung 1933, Sp. 1334–1340; Hans Helfritz, Rechtsstaat und nationalsozialistischer Staat, in: Deutsche Juristen-Zeitung 1934, Sp. 426–433; Carl Schmitt, Was bedeutet der Streit um den Rechtsstaat? in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1935, 189–201; Werner Best, Rechtsstaat? in: Deutsches Recht 1938, 413–416.
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während zum Abzählen der Schriften zum demokratischen Rechtsstaat die Finger einer Hand genügen.68 Die Diskussionen um die Rechtsstaatlichkeit sind insofern symptomatisch, als sie von einem Wandel des Verfassungsverständnisses im „Ständestaat“ zeugen. Der juristische Diskurs wurde prinzipienorientierter und abstrakter. Verwaltungsrechtliche Abhandlungen eröffneten mitunter damit, die rechtsphilosophischen Voraussetzungen des Themas vorzutragen.69 Die Verfassungsrechtslehre begann, die Baugesetze der neuen Verfassung zu analysieren,70 ihre Prinzipien herauszuarbeiten,71 ihre Leitideen nachzuzeichnen72 und sie mit den Prinzipien der alten Verfassung zu vergleichen.73 Das kontrastiert mit dem nüchternen Ton, in dem das B‑VG analysiert worden war, und es ist auch deshalb bemerkenswert, weil es dafür im neuen Text der neuen Verfassung, die auf ein Sonderverfahren für Gesamtänderungen der Verfassung verzichtete,74 keine normative Anknüpfung mehr gab. 68 Neben Hermann Heller und Kurt Strele ist noch Richard Thoma zu nennen, der in seiner Antrittsvorlesung 1909 das Thema wieder aufgegriffen hatte: vgl. denselben, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 1910, 196. – Die Verbindung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wurde erst nach 1945 vollzogen: vgl. Peter Pernthaler, Österreichisches Bundesstaatsrecht. Lehr- und Handbuch, Wien 2004, 555 f., mit Betonung der rule of law. 69 Rudolf Donath, Grundfragen des Tierschutzrechtes, in: Österreichisches Verwaltungsblatt 1937, 189 (189 ff.), der dieses Vorgehen mit folgender Bemerkung rechtfertigt (203): „Recht ist zuerst Weltanschauung und dann erst Satzung. Aber – spiritus fluat ubi vult – beherrschen läßt sich nur diese und nicht jene.“ 70 Ludwig Adamovich, Die Baugesetze der österreichischen Verfassung: Das föderalistische Prinzip (Vortragsbericht), in: Juristische Blätter 1935, 55. 71 Hans v. Frisch, Die Grundsätze der österreichischen Verfassung von 1934, in: Reichsverwaltungsblatt 1938, 499. 72 Merkl, Verfassung (FN 27), 9 ff. 73 Merkl, Leitgedanken (FN 52). 74 Der Begriff „Gesamtänderung“ wird in Art. 148 Abs. 2 zwar weiterhin verwendet. Er bedeutet jedoch nur mehr eine Schranke für Notverordnungen des Bundespräsidenten, und er hat seinen Inhalt geändert: Aus
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Nach 1945: Nachwirkungen Nach 1945 wurde diese Leitbilddiskussion unter dem wieder in Kraft gesetzten B‑VG 1920 in der Fassung von 1929 nahtlos weitergeführt – was nicht weiter verwundert, hatte sich der Kreis der Diskutanten doch kaum geändert. Deshalb gehen wir heute einhellig davon aus, dass unsere Bundesverfassung ein rechtsstaatliches Prinzip enthält, von dem man vor 1933 noch nichts wusste.75 Wie stark die Kontinuitäten sind, können wir ersehen, wenn wir in den gängigen Lehrbüchern lesen, dass der Rechtsstaat des B‑VG ein Gesetzesstaat, ein Verfassungsstaat und ein Rechtsschutzstaat ist.76 Dieses Leitbild, das die verfassungsgerichtliche Judikatur der Nachkriegszeit geprägt hat wie kein zweites, ist sichtlich dem Art. 163 der Verfassung 1934 entnommen, nach dem zur Sicherung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung der Bundesgerichtshof berufen ist. Das führt zu einer letzten Beobachtung, die der äußeren Form und dem Stil der Verfassung 1934 gilt. Sie ist anders als das B‑VG kein Torso, sondern eine Vollverfassung, die das gesamte Verfassungsrecht mit Ausnahme der Finanzverfassung und einiger Staatsvertrags-
der alternativen Aufzählung bestimmter notverordnungsfester Inhalte wird klar, dass „Gesamtänderung“ die Erlassung einer völlig neuen, die Verfassung 1934 ablösenden Konstitution meint: vgl. Kurt Strele, Der Begriff der Gesamtänderung der Verfassung, in: Juristische Blätter 1935, 465 (467 f.). 75 In die rechtswissenschaftliche Diskussion eingeführt wurde es von Ludwig Adamovich, Grundriß des österreichischen Verfassungsrechts, 4. Aufl. Wien 1947, 70 ff. 76 Robert Walter/Heinz Mayer/Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Grundriss des österreichischen Bundesverfassungsrechts, 10. Aufl. Wien 2007, RZ 165; Walter Berka, Verfassungsrecht. Grundzüge des österreichischen Verfassungsrechts für das juristische Studium, 4. Aufl. Wien/New York 2012, RZ 178, 179, 182; Theo Öhlinger/Harald Eberhard, Verfassungsrecht, 9. Aufl. Wien 2012, RZ 74.
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bestimmungen enthält.77 Ein Inkorporationsgebot, wie wir es im Bonner Grundgesetz finden, gibt es zwar noch nicht, der Kodifikationscharakter ist aber schon dadurch verfassungsrechtlich abgesichert, dass gemäß Art. 60 Abs. 2 neben der Stammurkunde nur noch Bundesverfassungsgesetze möglich sind, aber keine Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen mehr.78 Schließlich und endlich ist die Verfassung 1934 legistisch ausgezeichnet gemacht:79 Sie ist nüchtern im Ton, prägnant im Ausdruck und in der Systematik besser durchdacht als das B‑VG. Damit hat sie unsere Idealvorstellung von einer Verfassung unterschwellig stärker geprägt, als uns bewusst ist. Wer diesen Gedanken für überzogen hält, dem schlage ich vor, in einer ruhigen Minute doch einmal den Verfassungsentwurf aus dem Österreich-Konvent80 zur Hand zu nehmen und zu prüfen, welche Verfassung ihm im Aufbau, in der Sprache und im Duktus der Detailverliebtheit am nächsten kommt. Ich vermute, es wird sich weit und breit kein Text finden, der ihm näher verwandt wäre als die Verfassung 1934, die wir für überwunden halten, ohne sie zu kennen. Literatur: Adamovich, Ludwig, Die Baugesetze der österreichischen Verfassung: Das föderalistische Prinzip (Vortragsbericht), in: Juristische Blätter 1935, 55–57.
77 Auf sie wird in Art. 30 Abs. 4, 38 und 181 verwiesen. Im Österreich-Konvent hat man dieses Konzept als „relatives Inkorporationsgebot“ bezeichnet und vorrangig verfolgt. 78 Art. 60 Abs. 2. Die Tragweite dieser Bestimmung wurde in der Lehre übersehen: vgl. Hans Spanner, Die Abänderung von Bundesverfassungsgesetzen durch einfache Bundesgesetze und Verordnungen, in: Österreichisches Verwaltungsblatt 1937, 273 (282 ff.). 79 Merkl, Verfassung (FN 27), 12: „Gesetzgebungstechnisch ist die Verfassungsurkunde eine respektgebietende Leistung.“ 80 Österreich-Konvent (Hg.), Bericht des Österreich-Konvents Bd. 3, Teil 4B: Entwurf des Vorsitzenden für eine Bundesverfassung, Wien 2005.
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Wenigstens formale Kontinuität? Gescheiterte Bemühungen nach dem 4. März 1933
Verfassungspolitik in den 1920er und 1930er Jahren Mit der Bundesverfassung (B-VG) von 1920 wurde die Republik Österreich als eine – ziemlich radikale – parlamentarische Demokratie eingerichtet.1 Die Prärogative des Nationalrates kam besonders im Fehlen eines präsidialen Gegengewichts, in der Abhängigkeit der Bundesregierung vom Nationalrat und schließlich im Legalitätsprinzip zum Ausdruck, das die gesamte Verwaltung strikt an den im parlamentarischen Gesetz zum Ausdruck kommenden Volkswillen band. Die Einigung von 1920 entsprach der relativen Stärke der Sozialdemokratie. In den späten 1920er Jahren und in einem Klima, in dem oft im Namen einer „echten“ Demokratie gegen die parlamentarische Demokratie agitiert wurde, wuchs der Druck auf das B-VG. Obwohl die Heimwehr mit dem Staatsstreich drohte2, sollte der Verfassungsumbau doch auf verfassungsmäßigem Weg erfolgen, was zur Verfassungsnovelle 1929 führte.3 Sie zielte auf eine Schwächung des Nationalrates zugunsten eines starken Bundespräsidenten und auf eine 1
Vgl. nur Adolf Merkl, Der rechtliche Gehalt der österreichischen Verfassungsreform vom 7. Dezember 1929, ZÖR 1931, 161 (161), der von einem „radikal-parlamentarischen System“ spricht. 2 Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates (1994) 285. 3 Gernot D. Hasiba, Die zweite Bundes-Verfassungsnovelle von 1929 (1976); Klaus Berchtold, Verfassungsgeschichte der Republik Österreich, Bd I: 1918–1933 (1998) 463 ff.
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Zentralisierung zu Lasten des „Roten Wien“ ab, mit einer „Entpolitisierung“ des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) als weiteren Effekt. Die Verfassungsnovelle von 1929 brachte aber keinen Paradigmenwechsel. Sie wurde auch nicht im Wege einer „Gesamtänderung der Bundesverfassung“ nach Art. 44 Abs. 2 B-VG erzeugt. Sie wäre aber zweifellos gesamtändernd gewesen, wäre es der Bundesregierung gelungen, eine ganz wesentliche Änderung durchzusetzen: Diese bestand in einer „Ergänzung“ des Art. 44 Abs. 2 dergestalt, dass Gesetzesvorschläge auf Änderung der Bundesverfassung, die keine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat erlangen, einer Volksabstimmung zuzuführen wären.4 Falls diese eine einfache Mehrheit ergäbe, solle der Gesetzesvorschlag als Bundesverfassungsgesetz kundgemacht werden. Da die Sozialdemokratische Partei im Nationalrat jedenfalls mehr als ein Drittel der Mandate halten würden, lief das auf eine plebiszitäre Verfassungsänderung (mit einfacher Mehrheit) hinaus, gegen die auch das – ja wiederum plebiszitäre – Element der obligatorischen Volksabstimmung bei einer Gesamtänderung keine wirksame Schranke bedeutet hätte. Es wurde sogar „von verschiedener Seite erwogen“ – das sind die Worte von Kelsen - die Verfassungsnovelle selbst, erhielte sie keine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat, zum Gegenstand einer Volksabstimmung zu machen, was einen offensichtlichen Verfassungsbruch bedeutet hätte.5 Durch die Kombination eines machtvollen Bundespräsidenten nach dem Vorbild des deutschen Reichspräsidenten mit einer plebiszitären Verfassungserzeugung sollte der Nationalrat in die Zange genommen werden. Es war klar, dass gerade Letzteres auf den massiven Widerstand der Sozialdemokratie stoßen musste und daher auch nicht zustande kam. Erwähnenswert ist diese Episode aber deshalb, weil sie uns heute darauf aufmerksam machen soll, dass man den Ausbau plebiszitärer Elemente der Rechtserzeugung nicht ohne Rücksicht auf die Stellung des Bundespräsidenten/der Bundesprä4 5
Berchtold, Verfassungsgeschichte (FN 3) 537 f. Hans Kelsen, Die Verfassungsreform, JBl 1929, 445 (448).
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sidentin sehen darf. Wer dieses Amt ausübt, muss nicht der josephinische Typ sein, den wir gewohnt sind; ein entsprechend „bonapartistisches“ Amtsverständnis könnte diese nach der B-VG Novelle 1929 bis heute aufrechten und mitnichten „totes Recht“ darstellenden massiven Kompetenzen auch eines Tages tatsächlich zur Geltung bringen. Im Verein mit plebiszitären Instrumenten, mit denen der Nationalrat überspielt werden kann, würde dies die parlamentarische Demokratie ersticken. Aktuell ist diese Frage bis heute, wie das im ersten Halbjahr 2013 vorgelegte „Demokratiepaket“6 beweist. Nach dem vom Verfasungsausschuss des Nationalrates am 26. Juni 2013 der Begutachtung zugeleiteteten Vorschlag soll ein neues Instrument der unmittelbaren Demokratie eingeführt werden: Über „besonders qualifizierte Volksbegehren“ soll zwingend eine Volksbefragung stattfinden, deren Ergebnis den Nationalrat nicht bindet. Zwar sind für derartige Volksbegehren gewissen Schranken vorgesehen, es fällt aber schwer ins Gewicht, dass – mit einem nur geringfügig erhöhten Quorum von 15 Prozent – auch das Verfassungsrecht und selbst eine Gesamtänderung der Bundesverfassung zur Disposition stehen. Damit könnten auch vorhandene Schranken überspielt und ein weitgehender Staatsumbau erreicht werden. Eine solche Entwicklung ist deshalb nicht auszuschließen, weil sich der plebiszitäre Volkswille möglicherweise gerade in den verpönten Politikfeldern bilden wird, also etwa in bezug auf die Rechtsstellung von Minderheiten und AußenseiterInnen/ 6
Antrag gemäß § 26 GOG-NR der Abgeordneten Dr. Josef Cap, Karlheinz Kopf, Kolleginnen und Kollegen betreffend ein Bundesgesetz, mit dem das Bundes-Verfassungsgesetz, das Bundesgesetz über die Geschäftsordnung des Nationalrates, die Nationalrats-Wahlordnung 1992, das Bundespräsidentenwahlgesetz 1971, die Europawahlordnung, das Europa-Wählerevidenzgesetz, das Volksabstimmungsgesetz 1972 und das Volksbefragungsgesetz 1989 geändert, das Volksbegehrengesetz 2013 und das Wählerevidenzgesetz 2013 erlassen sowie das Volksbegehrengesetz 1973 und das Wählerevidenzgesetz 1973 aufgehoben werden (2177/A, XXIV. GP).
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Außenseitern oder gegen supranationale Verpflichtungen. Können solche Volksbegehren dann nicht weiter verfolgt werden, könnten sich die nächsten Aktionen eben gegen diese Schranken und die sie wahrenden verfassungsrechtlichen Institutionen richten. Zwar ist der Nationalrat an das Ergebnis der Volksbefragung nicht gebunden, aber hier könnte die Bundespräsidentin/der Bundespräsident ins Spiel kommen, indem sie/er sich an die Spitze dieser Volksbewegung setzt und den Nationalrat, so er dem Ergebnis der Volksbefragung nicht Rechnung tragen will, unter den Druck seiner Auflösung stellt (Art. 29 Abs. 1 B-VG).7 Im Ergebnis brachte die B-VG Novelle 1929 zwar, um mit Merkl zu sprechen, eine Änderung „in der Richtung der Präsidentschaftsrepublik und eine Abschleifung radikal-demokratischer Spitzen der früheren Verfassung“,8 aber keinen grundsätzlichen Systemwandel. Dies lag zum einen daran, dass der Regierungsvorlage einige besonders giftige Zähne gezogen wurden, und zum andern daran, dass es zur direkt-demokratischen Legitimation eines durchsetzungskräftigen Bundespräsidenten dann auch nicht kam. Die radikalen Kräfte innerhalb des bürgerlichen Regierungslagers konnten auf verfassungsmäßigem Weg ihre Vorstellungen nicht realisieren. Im Mai 1933 erfolgte der zweite gegen ein Verfassungsorgan gerichtete Streich – die Ausschaltung des VfGH. Das rechtstechnische Instrument dafür war eine Verordnung der Bundesregierung vom 23. Mai 1933.9 In diesen Monaten einer von Gerhard Botz so bezeich7
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Vgl. Präsidium des Verwaltungsgerichtshofes, Stellungnahme vom 12.8. 2013 zum gesamtändernden Ausschussabänderungsantrag und zum Ausschussantrag über einen Selbständigen Antrag gem. GOG-NR betreffend den Antrag 2177/A (636/SN, XXIV. GP). Adolf Merkl, ZÖR 1931 (FN 1), 161. Die beste Darstellung der rechtshistorischen Ereignisse und ihre verfassungsdogmatische Beurteilung findet sich bei Robert Walter, Die Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofes im Jahre 1933, in: Verfassungsgerichtshof der Republik Österreich (Hg.), Verfassungstag 1997 (1998) 17. Weiters Thomas Zavadil, Die Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofs 1933, Diplomarbeit an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Univer-
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neten „autoritären Halbdiktatur“10 war die Absicht der Regierung Dollfuß zunächst wohl nicht darauf gerichtet, die verfassungsrechtlichen Fesseln endgültig zu sprengen, vielmehr sah man die Chance, jene Maßnahmen zur Stärkung der Exekutive, die 1929 nicht durchgesetzt werden konnten, jetzt nachzuholen.11 Die Perspektive war daher jene der „gescheiterten“ Novelle 1929 und naturgemäß keine Retrospektion aus der Sicht des zukünftig – autoritären – Staates von 1934. Auch schien sich Dollfuß auf Verhandlungen mit der Sozialdemokratie einzulassen.12 Spätestens jedoch mit der „Trabrennplatzrede“ von Dollfuß am 11. September 1933 wurde deutlich, dass sich die Regierung von der parlamentarischen Demokratie verabschieden wollte.13 Bis zum Sommer 1933 bestanden aber noch alternative Szenarien und Personen, die sich für eine verfassungsrechtliche Kontinuität einsetzten, namentlich Ernst Karl Winter und Georg Fleischer, über dessen Pläne hier berichtet werden soll. Aber selbst nach der Rede von Dollfuß suchte Karl Renner, zunächst inspiriert durch Überlegungen Fleischers, zweimal alternative Wege, zuletzt freilich schon weitab vom B-VG.
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sität Wien (1997) passim, und zum Ganzen Peter Huemer, Sektionschef Robert Hecht und die Zerstörung der Demokratie in Österreich (1975) 181. Gerhard Botz, Faschismus und „Ständestaat“ vor und nach dem „12. Februar 1934“, in: Erich Fröschl/Helge Zoitl (Hg.), Februar 1934 (1984) 311 (321). Berchtold, Verfassungsgeschichte (FN 3), 735. Anson Rabinbach, The Crisis of Austrian Socialism. From Red Vienna to Civil War 1927–1934 (1983) 97. Huemer, Robert Hecht (FN 9), 202; weiters: Berchtold, Verfassungsgeschichte (FN 3), 749 f. Zur gesamten Entwicklung Helmut Wohnout, Regierungsdiktatur oder Ständeparlament? (1993) 57 ff.
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Georg Fleischer: „Staatsräson der Demokratie“ Einer der Akteure dieser Zeit war ein Jurist der zweiten Reihe namens Georg Fleischer.14 1904 in Wien geboren, promovierte er 1927 und bewegte sich von 1927 bis 1929 im Kreis von Kelsen. Fleischer war „Privatgelehrter“ und lebte neben seiner Lehrtätigkeit in der Wiener Volksbildung hauptsächlich von Einkünften einer Teilhaberschaft an der Firma seines wohlhaben Vaters. Seine spätere wissenschaftshistorische Bedeutung liegt darin, dass er zwischen 1934 und 1938 als Veranstalter eines „wissenschaftlichen Salons“ auftrat, der die Tradition des Wiener Kreises fortsetzte. 1938 emigrierte er. Als Wissenschaftler hatte sich Fleischer 1926 mit einer Monographie zum Wahlrecht profiliert; er trat für ein stärkeres Persönlichkeitswahlrecht ein, um einer zu ausgeprägten Parteiendemokratie entgegenzuwirken. Fleischer kommentierte 1930 die B-VG Novelle 1929, wollte gerade noch darin zustimmen, „dass die Novelle alle nötigen Sicherungen der parlamentarischen Demokratie“ enthalte, kritisierte aber eine Reihe von aus demokratischer Sicht gefährlichen Schwachstellen, namentlich im Zusammenhang mit dem Notverordnungsrecht der Bundespräsidentin/des Bundespräsidenten. Im Juni 1933 behandelte Georg Fleischer die verfassungspolitische Lage in einem Beitrag im Juni-Heft der von Ernst Karl Winter herausgegebenen „Wiener Politischen Blätter“.15 Ernst Karl Winter16 – freilich viel bekannter als Georg Fleischer – war ein österreichtreuer Legitimist, der zur Abwehr des Nationalsozialismus auf die Versöhnung zwischen der christlichsozialen und der sozialde14 Näher Clemens Jabloner, Georg Fleischer, in: Robert Walter/Clemens Jabloner/Klaus Zeleny (Hg.), Der Kreis um Hans Kelsen (2008) 99. 15 Georg Fleischer, Probleme der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Wiener Politische Blätter, 1. Jg., Nr. 2 vom 18.6.1933, 81. 16 Ernst Karl Winter hatte u. a. bei Kelsen studiert. Dieser war auch der einzige Professor, der seine Absicht, sich für Soziologie zu habilitieren, unterstützte (Robert Holzbauer, Ernst Karl Winter [1895–1959], Dissertation an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien [1992] 170).
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mokratischen Partei hinarbeitete. Später im Ständestaat war er bis 1936 Vizebürgermeister in Wien. Über seine Zeitschrift, die „Wiener Politischen Blätter“, schreibt er später wie folgt: „Unter dem Häuflein katholischer Intellektueller, die sich dem autoritären Experiment widersetzten und ihm ein Ende mit Schrecken voraussagten, war ich selbst der Unnachgiebigste und Zäheste. Während der elfmonatigen Verfassungskämpfe 1933/34 führte ich in meinen ‚Wiener Politischen Blättern‘ einen entschlossenen Kampf gegen Dollfuß […].“17 Zurück zu Fleischer: Er stellt an den Anfang, dass der VfGH bis auf Weiteres als Plenarversammlung nicht beschlussfähig sei, dieser konkrete Tatbestand sei verfassungstheoretisch zu begreifen. Der Fehlerkalkül, also die vorläufige Geltung später als verfassungswidrig aufgehobener Gesetze, schaffe einen „doppelten Rechtsboden“, eine „Hauptrechtsordnung vollgültig-fehlerfreier und eine Nebenrechtsordnung fehlerhaft-provisorischer“ Rechtsakte. Das Prinzip der provisorischen Geltung verfassungswidriger Normen könne aber auch den VfGH selbst mit seiner vollen Wucht treffen. Eine Norm, die dem VfGH, wenn auch verfassungswidrigerweise, seine Funktion abspräche, träte zunächst in Wirksamkeit. Dies habe aber zur Folge, dass der Garant der Verfassungsmäßigkeit dieser wie aller Normen außer Gefecht gesetzt und – wenigstens für die Dauer seiner Aktionsunfähigkeit – aus dem Provisorium der Geltung ein Definitivum werde.18 An diese Überlegungen knüpft Fleischer dann rechtspoli17 Ernst Karl Winter, Christentum und Zivilisation (1956) 381. Über Winter siehe auch: Erwin Bader, Ernst Karl Winter und die Versöhnung der politischen Lager, in: Ulrich E. Zellenberg (Hg.), Konservative Profile (2003) 363; Joseph Marko, Ernst Karl Winter. Wissenschaft und Politik als Beruf(ung) 1918–1938, in: Wissenschaftliche Kommission zur Erforschung der Geschichte der Republik Österreich (Hg.), Geistiges Leben im Österreich der Ersten Republik (1986) 199; Reinhard Müller, Für Österreich! Ernst Karl Winters Verlag Gsur & Co, Wien, 1930–1939, in: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Newsletter Nr. 17, 1998, 11. 18 Verfassungsdogmatisch gesehen war die Schlussfolgerung Fleischers nicht zutreffend: Durch die rechtlich wirksame Ausschaltung der Normenkontrolle des VfGH brach auch der Fehlerkalkül für generelle Rechtsakte nach
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tische Überlegungen und schlägt für eine solche Konstellation die Prüfung der Verfassungskonformität a priori vor.19 Zu den Bemühungen Winters, Kontakte zwischen Konsenswilligen auf beiden Seiten zu knüpfen20, gehörte das Projekt eines besonderen verfassungsrechtlichen Ermächtigungsgesetzes, das Bundes präsident Wilhelm Miklas für eine Übergangszeit weitreichende Befugnisse übertragen sollte. Georg Fleischer erstellte und kommentierte einen solchen Entwurf in seinem nächsten Beitrag für Winters Zeitschrift unter dem Titel „Demokratie und Ermächtigung“.21 Im Sinne eines – die Demokratie ergänzenden (!) – Prinzips der „Staatsräson der Demokratie“ will Fleischer hier nicht „der Theoretiker einer Richtung werden, die unter dem Vorwande der Staatsnotwendigkeiten und unter dem Beifall der Faschisten sich weit von der Demokratie entfernt“. Vielmehr soll „die definitionsgemäße Schwäche der Demokratie überwunden werden und gefragt werden, welche Chancen sich in Österreich einem an der Staatsräson der Demokratie orientierten Handeln“ böten.22 In der Folge analysiert Fleischer sehr pointiert die Positionen der beiden politischen Parteien zum Staat und zueinander: „Von seinen beiden großen Parteien bejaht die eine den Staat theoretisch und verneint ihn praktisch und die andere be-
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Art. 139 und 140 B-VG zusammen. Die danach gesetzten – fehlerhaften – Rechtsakte waren somit, aus dem Blickpunkt des B-VG betrachtet, absolut nichtig. Mit der Ausschaltung des VfGH war der Verfassungsbruch endgültig besiegelt. Hätten die im Folgenden zu berichtenden Versuche, die verfassungsrechtliche Kontinuität wiederherzustellen, Erfolg gehabt, so hätte eine rückwirkende Konvalidation dieser Scheinrechtsakte erfolgen müssen. Walter, Ausschaltung (FN 9), 25 und zur Diskussion vgl. Zavadil, Ausschaltung (FN 9), insbes. 249. Hilde Verena Lang, Bundespräsident Miklas und das autoritäre Regime 1933–1938, Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien (1972), 114. Georg, Demokratie und Ermächtigung, in: Wiener Politische Blätter, 1. Jg., Nr. 3 vom 27. 8.1933, 123. Fleischer, Ermächtigung (FN 21), 127.
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jaht ihn praktisch, verneint ihn aber theoretisch“ und weiter: „Die sozialdemokratische Partei bejaht den Klassenkampf theoretisch, aber sie kommt praktisch dadurch eher zu einer vergeistigten Formel der Gegnerschaft: Sie hält den Klassengegner nicht für schuldhaft und glaubt an seine Überwindung. Die Christlich-Soziale Partei dagegen leugnet unzweifelhaft theoretisch den Klassenkampf, aber führt sie ihn nicht praktisch erst als bürgerliche Einheitsfront, dann als Antimarxismus und jetzt am Ende auch in der Vaterländischen Front, die für ‚Marxisten‘ gesperrt ist?“ Nun käme es auf ein „Zusammenwirken der beiden großen Parteien“ zum Zweck des Rückwegs zu verfassungsmäßigen, rechtsstaatlichen Verhältnissen an. Dafür – und dies ist nun Fleischers Grundidee – „schaffe man ein vereinfachtes Verfahren der Gesetzgebung, ermächtige man für die Dauer der Staats- und Wirtschaftskrise ein vom Vertrauen des Volkes und seiner Vertreter getragenes Organ zur Ausübung der Funktionen, die sonst dem Parlamente zustehen“. Fleischer entwarf in diesem Aufsatz einen ausgefeilten Entwurf für ein Ermächtigungsgesetz - wörtlich: „Bundesverfassungsgesetz vom … 1933, womit einige Bestimmungen des Bundesverfassungsgesetzes abgeändert und ergänzt werden (Ermächtigungsgesetz für Bundespräsident Wilhelm Miklas)“. Es sollte die Gesetzgebung einem Organ übertragen, das aus dem Bundespräsidenten, der Bundesregierung und einem Parlamentsausschusse, dem Staatsrat, zusammengesetzt ist. Dieses Organ sollte Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen können.23 Die ganze Ermächtigungsperiode sei für zwei Jahre veranschlagt, ein Widerruf der Ermächtigung könne vom Nationalrat jederzeit mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden. Die übrigen Staatsorgane, der Nationalrat, der VfGH und die Landtage sowie Gemeindevertretungen sollten ungehindert weiter ihre Funktion 23 Fleischer, Ermächtigung (FN 21), 136. Die Idee eines „Staatsrates“ als Organ für den behaupteten Staatsnotstand spielte schon im Entwurf der Heimwehr für eine „Übergangsdiktaturverfassung“ 1929 eine Rolle, vgl. Berchtold, Verfassungsgeschichte (FN 3), 531.
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ausüben können. Dem VfGH würde sogar eine besonders wichtige Aufgabe zukommen:24 Es ginge also um die parlamentarische Ermächtigung zu einer „kontrollierten Diktatur“.25 Anzumerken ist, dass sich Ernst Karl Winter selbst damit nicht gänzlich identifizieren konnte, obzwar wohl Winter die Ausarbeitung angeregt hatte.26 Einleitend heißt es nämlich, der Entwurf eines Ermächtigungsgesetzes solle eine Anregung an beide Parteien sein. Und weiter: „Wie weit die Opposition in der Ermächtigung des Bundespräsidenten und der Bundesregierung geht, hängt davon ab, wie weit sie es sich zutraut, die politische Situation zu meistern. Vor dem Konflikt zwischen Regierung und NSDAP, seit Mitte Mai war die Lage der linken Opposition prekärer, als sie heute ist. Dies kommt schon darin zum Ausdruck, daß heute nur mehr von einem Ermächtigungsgesetz und nicht mehr von der Verfassungsreform die Rede ist. Man kann daher berechtigte Zweifel hegen, ob die Konstruktion des ‚Staatsrates‘, die der Verfasser gibt, der politischen Situation noch entspricht, insbesondere ob es angeht, die positive Gesetzgebung des Nationalrates in diesem Staatsrat, auch in den außerpolizeilichen Bereichen, zu einem bloßen ‚Einspruchsrecht‘ […] zu denaturieren.“ An dieser Stelle ist festzuhalten, dass es sich bei einer solchen Verfassung inhaltlich nicht mehr um jene von 1920/29 gehandelt hätte. Fleischer, und dann auch Renner, hatten aber offensichtlich vor Augen, diese Änderungen auf dem verfassungskonformen Weg des Art. 44 Abs. 2 B-VG einzuführen. Wenn hier also von „Kontinuität“ die Rede ist, so stets im Sinne einer „formellen“ Kontinuität.27
24 Fleischer, Ermächtigung (FN 21), 166. Fleischer will auch hier seine Vorkehrung gegen die Ausschaltung des VfGH einbauen. 25 Fleischer, Ermächtigung (FN 21), 136. 26 Vgl. Lang, Miklas (FN 20), 119. 27 Zu den Begriffen vgl. Walter, Österreichisches Bundesverfassungsrecht (1972), 19.
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Karl Renner: „Notstands-Verfassungsnovelle“ Fleischers Abhandlung beeinflusste dann eine wohl gewichtigere verfassungspolitische Initiative, die indessen in die gleiche Richtung zielte. Am 26. Oktober 1933 übermittelte Karl Renner, zu dieser Zeit noch formell Präsident des Nationalrates, an den Kabinettsdirektor des Bundespräsidenten, Joseph Loewenthal, in vertraulicher Weise den Entwurf einer „Notstands-Verfassungsnovelle“. „Res venit ad triarios“28 schrieb der stets auch literarische Renner. Zu den Grundgedanken bemerkte Renner Folgendes: Leitsatz sei es, bestehende Kompetenzen auf andere Organe zu übertragen, die rascher handeln könnten. Diese Übertragung solle aber die Grundlagen der Gewaltenteilung nicht verschieben. Die Gesetzgebung bleibe bei den Volksbeauftragten, nur gehe sie von National- und Bundesrat auf Staatsrat und Bundespräsident über. Die Exekutive bleibe dem Ministerium, jedoch nehme der Bundespräsident unmittelbarer an der Exekutive teil, indem er im Ministerrat einen Kabinettssekretär sitzen habe und mit der Heeresleitung durch einen Kabinettsadjutanten als Verbindungsoffizier in ständiger Verbindung stehe. Damit werde zum ersten Mal eine Lücke der Verfassung ausgefüllt. Renner hält dann noch fest, dass sich sein Entwurf in vielen Punkten mit dem Entwurf der „Wiener Politischen Blätter“ decke, von dem er manche Einzelheit wörtlich übernehme.29 Festzuhalten bleibt, dass der hier in Rede stehende Entwurf von einem weiteren Entwurf Renners zu unterscheiden ist, den er im Ge28 „Res venit ad triarios = die Sache kommt an die Triarier“ – Redewendung aus dem antiken Rom, die besagt, dass die Schlacht in die entscheidende Phase eintritt. Renner meinte damit wohl nicht zuletzt, dass es nun auf erfahrene „gestandene“ Persönlichkeiten ankäme, der fatalen Entwicklung noch eine positive Wendung zu geben. 29 Die nähere Darstellung dieses Entwurfes sowie ein Vergleich zwischen den Entwürfen Fleischers und Renners müssen einer gesonderten Darstellung überlassen bleiben. Zu Renners Entwurf vgl. auch: Walter Rauscher, Karl Renner. Ein – österreichischer – Mythos (1995) 589.
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folge des Parteitags der Sozialdemokraten vom 14. bis 17. Oktober 1933 erstellte und der wesentlich stärker auf berufsständische Elemente baute, das Grundgefüge des B-VG endgültig verlassend.30 Im Zusammenhang mit diesem zweiten Entwurf wird Renner wohl nicht zu Unrecht „grenzenloser Opportunismus“ vorgeworfen, sei er doch bereit gewesen, „die Ergebnisse eines jahrzehntelangen Kampfes der Sozialisten um Demokratie und allgemeines Wahlrecht für einen Kompromiss mit der Regierung zu opfern“.31 Schlussbemerkung Aus dem Gang der Ereignisse wissen wir, dass Georg Fleischer eine Figur am Rande blieb, Ernst Karl Winters Stellung innerhalb des bürgerlichen Lagers viel zu schwach war, dass Bundespräsident Miklas weder 1933 noch 1938 der Mann der Stunde war, und dass Renners Versuche die Sozialdemokratie nur schwächten. Die Vorgänge, über die hier berichtet wurde, sind in den Details gut erforscht, hinzuweisen ist auf die Dissertation von Hilde Verena Lang über Bundespräsident Miklas und das autoritäre Regime32 und auf die rechtshistorische Diplomarbeit von Thomas Zavadil über die Ausschaltung des VfGH.33 Diese lesenswerten Arbeiten sind in wissenschaftlichen Bibliotheken zugänglich. Die Staats- und Verfassungskrise dieser Monate führte zu eigenartigen verfassungspolitischen Phantasien, die – und das macht sie für den Verfassungsrechtler so interessant – in den rechtstechnischen Details ziemlich ausgefeilt waren. Ernst Hanisch schreibt relativierend, dass sich „die Regierung Dollfuß, als sie die Reise in Richtung ‚Notstandsdiktatur‘ antrat […] langsam, den Weg suchend, vorwärts“ 30 Vgl. dazu Huemer, Robert Hecht (FN 9), 264; Rauscher, Karl Renner (FN 27), 287; Michael Siegert, Bürgerblock 1933, Neues Forum, März/ April1978, 82–88, 84. 31 Rauscher, Karl Renner (FN 29), 287. 32 Lang, Bundespräsident Miklas (FN 20). 33 Vgl. FN 9.
Wenigstens formale Kontinuität?
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getastet habe.34 Nach hier vertretener Ansicht war die Rückkehr zur Bundesverfassung von 1920 wohl keine wirkliche Möglichkeit, sondern eher nur eine mögliche Wirklichkeit, eine Phantasmagorie. Literatur Bader, Erwin, Ernst Karl Winter und die Versöhnung der politischen Lager, in: Ulrich E. Zellenberg (Hg.), Konservative Profile, Graz 2003, 363–378. Berchtold, Klaus, Verfassungsgeschichte der Republik Österreich, Bd I: 1918–1933, Wien 1998. Botz, Gerhard, Faschismus und „Ständestaat“ vor und nach dem „12. Februar 1934“, in: Erich Fröschl/Helge Zoitl (Hg.), Februar 1934. Ursachen, Fakten, Folgen. Beiträge zum wissenschaftlichen Symposion des Renner-Instituts, 13. bis 15. Februar 1984 in Wien, Wien 1984, 311–332. Fleischer, Georg, Probleme der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Wiener Politische Blätter, 1. .Jg., Nr. 2 vom 18.06.1933, 81. Fleischer, Georg, Demokratie und Ermächtigung, in: Wiener Politische Blätter, 1. .Jg., Nr. 3 vom 27.08.1933, 123. Hanisch, Ernst, 1890–1990: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994. Hasiba, Gernot D., Die Zweite Bundes-Verfassungs-Novelle von 1929. Ihr Werdegang und wesentliche verfassungspolitische Ereignisse seit 1918 (= Forschungen zur Europäischen und vergleichenden Rechtsgeschichte 1), Wien/Köln/Graz 1976. Holzbauer, Robert, Ernst Karl Winter (1895–1959), Dissertation an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien 1992. Huemer, Peter, Sektionschef Robert Hecht und die Zerstörung der Demokratie in Österreich, Wien 1975. Jabloner, Clemens, Georg Fleischer, in: Robert Walter/Clemens Jabloner/Klaus Zeleny (Hg.), Der Kreis um Hans Kelsen. Die Anfangsjahre der Reinen Rechtslehre, Wien 2008, 99–113. Kelsen, Hans, Die Verfassungsreform, in: Juristische Blätter, 58. Jg., Nr. 21 vom 09.11.1929, 445–457. Lang, Hilde Verena, Bundespräsident Miklas und das autoritäre Regime 1933– 34 Hanisch, Schatten (FN 2), 303.
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Clemens Jabloner
1938, Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien 1972. Marko, Joseph, Ernst Karl Winter. Wissenschaft und Politik als Beruf(ung) 1918–1938, in: Wissenschaftliche Kommission zur Erforschung der Geschichte der Republik Österreich (Hg.), Geistiges Leben im Österreich der Ersten Republik, Wien 1986, 199–219. Merkl, Adolf, Der rechtliche Gehalt der österreichischen Verfassungsreform vom 7. Dezember 1929, in: Zeitschrift für öffentliches Recht 1931, 161–212. Müller, Reinhard, Für Österreich! Ernst Karl Winters Verlag Gsur & Co, Wien, 1930–1939, in: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Newsletter Nr. 17, 1998, 11–23. Rabinbach, Anson, The Crisis of Austrian Socialism. From Red Vienna to Civil War 1927–1934, Chicago 1983. Rauscher, Walter, Karl Renner. Ein - österreichischer – Mythos, Wien 1995. Siegert, Michael, Bürgerblock 1933, in: Neues Forum, März/April 1978, 82–88. Walter, Robert, Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Wien 1972. Walter, Robert, Die Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofes im Jahre 1933, in: Verfassungsgerichtshof der Republik Österreich (Hg.), Verfassungstag 1997, Wien 1998, 17–34. Winter, Ernst Karl, Christentum und Zivilisation, Wien 1956. Wohnout, Helmut, Regierungsdiktatur oder Ständeparlament?, Wien 1993. Zavadil, Thomas, Die Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofs 1933, Diplomarbeit an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien 1997.
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Anton Pelinka
Kommentar zum Panel „Demokratiekrise und Staatsentwürfe“
Ich wurde eingeladen, die vier interessanten und in Teilen auch provokanten Vorträge des Panels „Demokratiekrise und Staatsentwürfe“ zu kommentieren. Dies kann natürlich nur persönlich und auch nur kursorisch gehalten sein. Zu: Ilse Reiter-Zatloukal, „Parlamentarismus im Fadenkreuz. Demokratiekonzepte und (Anti-) Parlamentarismus in Österreich 1918 bis 1933/34“ Die von in diesem ersten Beitrag diskutierten grundsätzlichen Alternativen zu den durch das Bundes-Verfassungsgesetz 1920 festgelegten Konzeptionen von Demokratie und Rechtsstaat sind gescheitert. Dieses Scheitern ist nicht nur ein Scheitern in Österreich, es ist auch ein europäisches, ja globales Scheitern. Und dieses Scheitern ist kein Zufall. Es spricht für die Robustheit und für die Qualität der pluralistischen liberalen Demokratie, dass – 80 Jahre nach der von der Regierung Engelbert Dollfuß vorgenommenen Weichenstellung hin zu einem nichtdemokratischen Regime – der liberalen, der pluralistischen Demokratie keine konsistente, von ihrem Anspruch her geschlossene Alternative gegenübersteht. Das gilt auch für die von Ignaz Seipel schon Jahre davor versuchte Skizze einer „wahren“ Demokratie – eine Konzeption, die durch das Attribut „wahr“ die liberale und pluralistische Demokratie in ihr Gegenteil verkehrt.1
1
Ernst Karl Winter, Ignaz Seipel als dialektisches Problem, Wien 1966.
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Anton Pelinka
Dieses Scheitern gilt für die „Führerdemokratie“, die, wenn wir über Österreich hinaus denken, zuerst an Carl Schmitt und an den Nationalsozialismus erinnert und erst sekundär an Rüdiger Starhemberg, obwohl er den gleichen Gedankengang vertreten hat. Dieses Scheitern gilt auch für die Rätedemokratie, die in der Realität des Marxismus-Leninismus rasch ins Gegenteil verkehrt wurde. Eine Anmerkung zu Otto Bauers Position im Rahmen des BundesVerfassungsgesetzes von 1920: Sicherlich war sowohl Max Adlers als auch Otto Bauers Position eher ein Schreckgespenst, das gegen die Sozialdemokratie instrumentalisiert wurde, aber Otto Bauers Reflexion nach 1934 über den „integralen Sozialismus“ war schon so etwas wie eine Grenzüberschreitung in Richtung kommunistisches System, aber eben nach dem Ende der demokratischen Republik Österreich.2 Die Alternativen sind gescheitert – und nichts ist so deutlich wie die Selbstverständlichkeit, mit der im April 1945 die Unabhängigkeitserklärung der Republik Österreich ausdrücklich die Rückkehr zum Bundes-Verfassungsgesetz von 1920 in der Form von 1929 erklärt. So selbstverständlich negativ war die Erfahrung mit den verschiedenen Alternativen zu diesem Demokratie-Modell. Aber das ist ja keine österreichische Besonderheit, sondern die Wellen der Demokratisierung, die, nach Samuel Huntington, im 20. Jahrhundert die Welt bestimmt haben, waren ja alle Wellen der Demokratisierung im Sinne der liberalen pluralistischen Demokratie: 1918, 1945, dann in den 1970er Jahren, etwa im mediterranen Raum, in den 1980er Jahren in weiten Bereichen Asiens und 1990 vor allem auch in Osteuropa.3 Die europäische Transformation, die eben den europäischen Kontinent fast geschlossen zu einem Kontinent der liberalen Demokratie gemacht hat, ist vielleicht die größte Erfolgsbilanz des Modells, ge2 3
Norbert Leser, Zwischen Reformismus und Bolschewismus. Der Austromarxismus als Theorie und Praxis, Wien 1968. Ernst Hanisch, Der große Illusionist. Otto Bauer (1881–1938), Wien 2011, insbes. 143–200 sowie 344–360. Samuel Huntington, The Third Wave of Democratization in the Late 20th Century, Oklahoma 1991.
Kommentar zum Panel „Demokratiekrise und Staatsentwürfe“
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gen das in der Ersten Republik von verschiedener Seite Alternativen angeboten wurden. Sowohl die Demokratisierung Portugals, Griechenlands und Spaniens in den 1970er Jahren als auch die Demokratisierung der kommunistischen Staaten Europas um 1990 markieren den Siegeszug einer Demokratie, wie sie auch im Zentrum des Bundes-Verfassungsgesetzes 1920 steht. Eine Anmerkung noch zum Bundes-Verfassungsgesetz 1920: Zum einen: Ist das die Verfassung einer Formaldemokratie – ein Begriff, der zumeist mit einem abwertenden Unterton verwendet wird? Ja, weil natürlich jede demokratische Verfassung formal sein muss, weil die Demokratie als ein Prozess beginnt. Aber nein, weil diese Demokratie, wie jede Demokratie, auch Substanz hat, die sich vor allem in den Grund- und Menschenrechten, und konkret im allgemeinen und gleichen und freien Wahlrecht, manifestiert. Zum anderen: War diese 1920 beschlossene Verfassung wirklich die „Kelsen-Verfassung“? Da habe ich meine Zweifel. Hans Kelsen hat der Verfassung ein System gegeben, aber der Inhalt der Verfassung war bestimmt von Karl Renner und Otto Bauer, von Ignaz Seipel und Jodok Fink. Der Kompromiss der Sozialdemokratinnen/ Sozialdemokraten und der Christlichsozialen in der verfassungsgebenden Nationalversammlung, das war die Verfassung. Kelsen wird man, glaube ich, dennoch gerecht, wenn man ihn als den formalen Verfassungsgeber, oder, noch besser, als den Redakteur der Verfassung bezeichnet, aber nicht als den politischen Verfassungsgeber.4 Dass die sogenannte Kelsen-Verfassung in der Ersten Republik politisch gescheitert, aber in der Zweiten Republik dann umso erfolgreicher war, das ist wiederum primär das Ergebnis des Wirkens politischer Kräfte, insbesondere der Repräsentantinnen/Repräsentanten sowohl des sozialistischen als auch des katholisch-konservativen Lagers. Das Bundes-Verfassungsgesetz bildete in der Zweiten Repu4
Manfried Welan, Die österreichische Bundesverfassung als Spiegelbild der österreichischen Demokratie, in: Anton Pelinka/Manfried Welan, Demokratie und Verfassung in Österreich, Wien 1971, 21–58., insbes. 21–38.
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Anton Pelinka
blik unter nunmehr geänderten, den Konsens statt des Konfliktes betonenden Voraussetzungen einen soliden Rahmen für die österreichische Demokratie: Die politisch-weltanschaulichen Lager, deren Kooperation das Verfassungswerk 1920 ermöglicht hatte und deren zum Bürgerkrieg führender Konflikt eben diese Verfassung zerstört hatte, fanden 1945 zum Konsens zurück und sicherten die auch und gerade im internationalen Vergleich erstaunliche Langlebigkeit des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes. Zu: Helmut Wohnout, „Schritte auf dem Weg zur Diktatur. Die Entwicklung nach dem Ende des demokratischen Parlamentarismus im Spannungsfeld der deutschen und italienischen Österreichpolitik“ Dieser Weg war Teil eines allgemeinen, eines europäischen Trends. Am 4. März 1933 waren in Ost- und Mitteleuropa nur noch die Schweiz und die Tschechoslowakei Demokratien. Österreich war umgeben von Diktaturen unterschiedlicher Form: von der jugoslawischen Königsdiktatur, dem ungarischen Halbfaschismus und dem italienischen Voll-Faschismus, dem deutschen Nationalsozialismus, dem polnischen halbautoritären Staat, den autoritären Systemen des europäischen Südostens und – im Osten – von der schon stalinistische Züge aufweisenden Sowjetunion. Das heißt, aus der punktuellen Wahrnehmung eines Akteurs des März 1933 wäre die Aussage, dass die Zukunft der liberalen Demokratie gehöre, angesichts dieser Realität kaum begründbar gewesen. Das erklärt wohl auch den Hintergrund des Jahres 1933, vielleicht auch Otto Bauers eigentlich resignierenden Entwurf eines „integralen Sozialismus“: Der Glaube an die Zukunft der liberalen Demokratie hatte offenkundig viel an Substanz verloren. Der Zeitgeist arbeitete – scheinbar – gegen die Demokratie, wie sie in Österreich 1920 ausgehandelt worden war. Als Joseph Schumpeter – vormals Professor an den österreichischen Universitäten Czernowitz und Graz und Finanzminister der
Kommentar zum Panel „Demokratiekrise und Staatsentwürfe“
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Republik – 1942 in Harvard „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ verfasste, da war seine Demokratietheorie ein Minderheitenprogramm.5 In Europa musste damals – neben den Demokratien auf den britischen Inseln noch: Demokratien in der Schweiz und in Schweden – die Vorstellung, dass Schumpeters Demokratiekonzept die Zukunft haben würde, sehr unrealistisch erscheinen. Wie rasch hat sich das geändert und wie wenig zufällig war – rückblickend, von heute aus – dieser rasche Paradigmenwechsel von einer absteigenden zu einer aufsteigenden Demokratie. Dieser Demokratie, verstanden im Sinne Schumpeters als liberale und pluralistische Demokratie, ist das einzig wirklich geschlossene, theoretisch konsistente, rational nachvollziehbare Gegenmodell abhanden gekommen: die politischen Systeme des sowjetischen Typs. Das Ende der „Zweiten Welt“ unterstreicht erst recht die Alternativlosigkeit der im Bundes-Verfassungsgesetz 1929 verankerten Demokratie. Francis Fukuyamas Paradigma vom „Ende der Geschichte“ ist oft missverstanden worden: zumeist von Personen, die das Buch nicht gelesen haben. „Ende der Geschichte“ heißt auch und vor allem, dass die Demokratie die Position der Alternativlosigkeit erreicht hat. Diesbezüglich ist die Geschichte der Demokratie, ja der politischen Systeme schlechthin an einem Endpunkt angelangt, nämlich in der Phase der Geschichte, in der es ganz offenkundig kein Alternativangebot mehr zu der Demokratie gibt, die wir die westliche nennen.6 Das heißt natürlich nicht, dass alle Staaten der Welt demokratisch regiert werden, dass die real existierenden Demokratien nicht viele Schwachstellen aufweisen; das bedeutet auch nicht, dass es einen selbstverständlich akzeptierten Konsens über das gibt, was Demokratie ausmacht; auch nicht, dass der nach dem Ende der Systeme sowjetischen Typs festzustellende globale Erfolg der westlichen De5 6
Joseph Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, München 1972. Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York 1992.
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mokratie sich nicht ins Gegenteil verkehren kann – nur derzeit ist ganz einfach nicht erkennbar, was dieses Gegenteil sein könnte. Was macht den Unterschied zwischen der Erfolglosigkeit der Ersten und dem Erfolg der Zweiten Republik aus? Warum verhinderte die Verfassung der Ersten Republik nicht die Katastrophe, die am 4. März 1933 ihren entscheidenden Anfang machte? Und warum ist die Zweite Republik, ausgestattet mit ein- und derselben Verfassung, insgesamt wohl unbestritten als großer Erfolg zu sehen? Die Ursachen können folgerichtig nicht in der Verfassung gefunden werden. Andere Faktoren sind hier in Rechnung zu stellen – zuallererst der Wandel der politischen Kultur in Österreich und der dramatische Wandel der internationalen Rahmenbedingungen. Die Erfahrungen der Jahre nach 1933, vor allem auch die der sieben Jahre nationalsozialistischer Herrschaft, bewirkten eine Ernüchterung der politischen Erwartungen. Die hochgespannten, aber Kompromisse extrem erschwerenden „politischen Religionen“ – allen voran der Austromarxismus und der Politische Katholizismus – wurden relativiert, abgeschwächt, glatt geschliffen durch die Erfahrungen des autoritären Staates und der darauf folgenden totalitären Diktatur. An die Stelle des Vorrangs des Konflikts trat die Bemühung um den Konsens. Überdies kam Österreich durch die geopolitische Situation des Jahres 1945 und der folgenden Jahre in den Sog westlicher Demokratieentwicklung, aber auch westlicher Wirtschaftsentwicklung. Österreich war Teil einer („Ersten“) Welt, in der eine demokratische, liberale und pluralistische Ordnung weitgehend selbstverständlich war. Zu: Ewald Wiederin, „Die Rechtsstaatskonzeption der Verfassung 1934“ Mein erster Kommentar bezieht sich nicht auf die damals (1933 und 1934), sondern auf die heute herrschenden Paradigmen, etwa auf die 1993 vom Europäischen Rat beschlossenen Kopenhagen-Kriterien: Um Mitglied der Europäischen Union zu werden, muss der beitritts-
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werbende Staat ein demokratisches und ein rechtsstaatliches System haben. Das heißt, Europa geht heute davon aus, dass Demokratie und Rechtsstaat einander bedingend zusammengehören. Sicherlich ist es so – und das war ja auch das Provokante an den Ausführungen Wiederins – dass die Verfassung vom 1. Mai gleichsam die Quadratur des Kreises versucht hat; eben den Rechtsstaat ohne Demokratie zu konzipieren. Es ist letztlich eine semantische Frage, wie man den Rechtsstaat definiert: als Selbstbindung der Politik oder auch als ein System, das vor allem individuelle Grundrechte, einschließlich der zentralen liberalen politischen Grundrechte garantiert. Wenn man den Rechtsstaat auch unter dem Gesichtspunkt der liberalen und individuellen Grundrechte sieht, so kann es keinen nicht-demokratischen Rechtsstaat geben. Insofern ist die Quadratur des Kreises in der Verfassung des Mai 1934 politisch gescheitert, wenn auch ein interessantes und provokantes Dokument. Ein Rechtsstaat ohne politische Grundrechte, ohne Meinungs- und Pressefreiheit, ein Rechtsstaat, der die Gründung der Parteien nicht erlaubt, ein Rechtsstaat, der Opposition in keiner Weise auch nur vorsieht oder Kritik von Seiten der Opposition, ein solcher „Rechtsstaat“ ist nach heutigem Rechtsstaatsverständnis nicht mehr möglich. Aber es war der Versuch der Verfassung vom 1. Mai 1934, der zu analysieren war.7 Noch eine Anmerkung zu den Parteien: Was Alternativkonzeptionen zur Verfassung von 1920 in der Ersten Republik betrifft: Allen war eine tiefe Skepsis gegenüber oder eine prinzipielle Ablehnung der politischen Parteien gemeinsam. Parteienfeindlichkeit war der gemeinsame Nenner des Antiparteienaffekts der Gegner des BundesVerfassungsgesetzes. Hier fällt doch einiges auf, wenn wir an aktuelle Diskurse denken. Die Parteienfeindlichkeit der gescheiterten Alternativmodelle und die Parteienfeindlichkeit, die im gelegentlichen Diskursbeiträgen heute auch aufscheint, haben Vieles gemeinsam. 7
Vgl. dazu Helmut Wohnout, Regierungsdiktatur und Ständeparlament. Gesetzgebung im autoritären Österreich. Wien 1993.
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Zu: Clemens Jabloner, „Wenigstens formale Kontinuität? Gescheiterte Bemühungen nach dem 4. März 1933“ Die Erwähnung von Ernst Karl Winter als Brückenbauer zwischen links und rechts ist wichtig, betrifft sie doch eine Aktion (die „Aktion Winter“), deren Ziel die Herstellung einer gemeinsamen Abwehrfront gegen den Nationalsozialismus war. Winter wollte nach dem 4. März 1933 noch ein Einlenken der Regierung erreichen – vergeblich.8 Die entscheidende Frage in diesem Zusammenhang ist freilich die des Zeitpunkts. Ernst Karl Winter, Georg Fleischer und Karl Renner waren Brückenbauer zwischen dem März 1933 und dem Februar 1934, Winter dann noch darüber hinaus. In dieser Phase war der Wille der Regierung und insbesondere der Engelbert Dollfuß’, sich auf Kompromisse einzulassen, wie sie von den Brückenbauern anvisiert wurden, ganz eindeutig nicht oder jedenfalls nicht mehr gegeben. Rückblickend können wir sagen, dass die Regierung Dollfuß am 4. März 1933 einen „point of no return“ überschritten hatte. Deshalb kam die Suche nach Kompromissen – von Fleischer, Winter, Renner – zu spät. Dollfuß, die christlichsoziale Partei und die Heimwehren, hatten bereits die Schiffe hinter sich verbrannt. Eine Abkehr vom eingeschlagenen Weg konnte von Dollfuß nach dem 4. März nicht mehr erwartet werden. Anders freilich, wenn diese Kompromissstrategien vor dem 4. März versucht worden wären – bevor Adolf Hitler deutscher Reichskanzler wurde, bevor der Druck Benito Mussolinis auf Dollfuß sich verstärkt hatte, bevor sich Dollfuß unter dem Eindruck der gesamten Entwicklung zum entscheidenden Schritt in Richtung Diktatur entschlossen hatte. Wenn man diese Versuche vordatieren könnte: Was wäre gewesen, wenn Fleischer, wenn Winter, wenn Renner ihre als Kompromisse gedachten Vorschläge nicht nach, sondern vor dem 4. März 1933 gemacht hätten? Wir wissen es nicht. Eine solche kontrafaktische Frage8
Anton Pelinka, Stand oder Klasse? Die Christliche Arbeiterbewegung Österreichs 1933–1938, Wien 1972, insbes. 51 f. und 129–141.
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stellung kann eine interessante Diskussion, aber keine seriöse Antwort provozieren. Aber die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass diese Versuche nicht so aussichtslos gewesen wären, wären sie gegenüber der Regierung Dollfuß einige Monate früher gemacht worden. Die politische Wirklichkeit hatte die Chancen der Realisierung eines solchen verfassungspolitischen Angebotes zerstört. Die Verfassungswirklichkeit, und nicht der Verfassungstext, ist die entscheidende Rahmenbedingung. Die Verfassungswirklichkeit hatte sich gegenüber 1920 entscheidend gewandelt. Damit war die Funktionsfähigkeit der Verfassung am Ende. Der Weg von der autoritären Halbdiktatur zum unvollendeten Faschismus, vom März 1933 bis zum Februar 1934, und weiter bis zum Mai 1934, zum unvollendeten Ständestaat, einem politischen System, eingeklemmt zwischen dem vollendeten Faschismus Italiens, dem totalitären Nationalsozialismus Deutschlands und den ebenfalls unscharfen, vagen Halbfaschismen anderer Nachbarstaaten: Dieser Weg war ein Weg, der nicht zufällig, unschlüssig, ohne Konklusion und inkonsistent geblieben ist. Der Weg führte in jeder nur denkbaren Hinsicht in die Erfolglosigkeit: Am 11. März 1938 war die Architektur des Ständestaates Stückwerk – und die Unabhängigkeit Österreichs am Ende. Der Semifaschismus hat nicht zum Faschismus à la Mussolini geführt, der unfertige Ständestaat nicht zum fertigen Ständestaat. Die Programme der Regierungen Dollfuß und Schuschnigg sind unvollendet geblieben.9 Und das ist ja auch ein zentraler Aspekt, der unterstreicht, wie wenig überzeugend die Alternativen zum Demokratiekonzept der liberalen Demokratie waren, wie sie in der Bundesverfassung von 1920 formuliert ist, wie wenig überzeugend, wie wenig realistisch diese Angebote waren oder auch noch sind. Das 9
Ilse Reiter-Zatloukal/Christian Rothländer/Pia Schönberger (Hg.), Österreich 1933–1938. Interdisziplinäre Annäherungen an das Dollfuß-Schuschnigg-Regime, Wien 2013; Florian Wenninger/Lucile Dreidemy (Hg.), Das Dollfuß-Schuschnigg-Regime 1933–1938: Vermessung eines Forschungsfeldes, Wien 2013; Emmerich Tálos, Das austrofaschistische Herrschaftssystem, Wien 2013.
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Anton Pelinka
politische Regime, dessen Geburtsstunde mit dem 4. März 1933 benannt werden kann, hat auch und gerade die eigenen Vorgaben nicht erfüllt – nicht erfüllen können. War der Weg Österreichs in die Diktatur ab dem 4. März 1933 unvermeidlich? Ich würde hypothetisch antworten: vermutlich ja. War der Weg zum 4. März 1933 unvermeidlich? Ich würde – wiederum als Hypothese – sagen: vermutlich nein. Der 4. März 1933 hat Rahmenbedingungen hergestellt, die intern, in Österreich selbst, nicht mehr revidiert werden konnten; Rahmenbedingungen, die den Untergang der demokratischen Republik, aber auch den Untergang der österreichischen Selbstständigkeit besiegelt haben. Literatur Fukuyama, Francis, The End of History and the Last Man, New York 1992. Hanisch, Ernst, Der große Illusionist. Otto Bauer (1881–1938), Wien 2011. Huntington Samuel, The Third Wave of Democratization in the Late 20th Century, Oklahoma 1991. Leser, Norbert, Zwischen Reformismus und Bolschewismus. Der Austromarxismus als Theorie und Praxis, Wien 1968. Pelinka, Anton, Stand oder Klasse? Die Christliche Arbeiterbewegung Österreichs 1933–1938, Wien 1972. Reiter-Zatloukal, Ilse/Rothländer, Christian/Schönberger, Pia (Hg.), Österreich 1933–1938. Interdisziplinäre Annäherungen an das DollfußSchuschnigg-Regime. Wien 2013. Schumpeter, Joseph, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. München 1972. Tálos, Emmerich, Das austrofaschistische Herrschaftssystem, Wien 2013. Welan, Manfried, Die österreichische Bundesverfassung als Spiegelbild der österreichischen Demokratie, In: Anton Pelinka/Manfried Welan, Demokratie und Verfassung in Österreich, 21–58, Wien 1971. Wenninger, Florian/Dreidemy, Lucile (Hg.), Das Dollfuß-SchuschniggRegime 1933–1938: Vermessung eines Forschungsfeldes, Wien 2013. Winter, Ernst Karl, Ignaz Seipel als dialektisches Problem, Wien 1966. Wohnout, Helmut, Regierungsdiktatur und Ständeparlament. Gesetzgebung im autoritären Österreich, Wien 1993.
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Dieter Stiefel
Der Ruf nach autoritären Strukturen: Wirtschaft und Ständestaat
Es mag auf den ersten Blick erstaunlich sein, dass selbst Vertreter der heute weltweit berühmten wirtschaftsliberalen „Austrian Economics“ in der Zwischenkriegszeit autoritäre politische Strukuren nicht unbedingt ablehnten. So stellte ihr prominentester Exponent, Ludwig von Mises, 1931 fest, dass der moderne Staat vor den Gewerkschaften kapituliert habe: Kollektivvertrag, Arbeitslosenunterstützung, Streikrecht wären nicht die Lösung der gegenwärtigen Krise, sondern das eigentliche Problem. Der Staat müsse daher raus aus der Wirtschaft.1 Und 1934 schrieb der damalige Leiter des Instituts für Konjunkturforschung, Oskar Morgenstern, dass eine autoritäre Regierung der liberalen Wirtschaftspolitik nicht widerspreche, sondern ihr im Gegenteil größere Möglichkeiten einräume. Denn in der Wirtschaft komme es weniger darauf an, positive Maßnahmen zu setzen, als diese zu unterlassen. Wirtschaftspolitik sei immer darauf gerichtet, jemandem einen größeren Happen am Nationalprodukt zu sichern, auch um den Preis, dass der ganze Kuchen kleiner werde. Der autoritäre Staat könne demgegenüber „Nein“ sagen. „Er kann auch, was ganz besonders wichtig ist, Wirtschaftspolitik wie alle Politik, auf lange Sicht betreiben, wogegen eine parlamentarische Regierung die Früchte ihres Tuns während ihrer Funktionsdauer reifen sehen möchte. In diesem Sinne ist die Staatsform von ganz entscheidendem Einfluß auf den allgemeinen Trend in der Wirtschaftspoltik.“2 Hat die autoritäre Wirtschaftspolitik des Ständestaats diesen in sie 1 2
Ludwig von Mises, Die Ursachen der Wirtschaftskrise, Wien 1931, 20. Oskar Morgenstern, Die Grenzen der Wirtschaftspolitik, Wien 1934, 130.
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Dieter Stiefel
gesetzten Erwartungen entsprochen?3 Die Ausgangslage war an sich nicht so schlecht. Der Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise lag im Jahr 1933, die Diktatur in Österreich fiel daher in eine Zeit, in der es wirtschaftlich bereits wieder leicht aufwärts ging. Ein dritter Weg? Die ständestaatliche Utopie stellte kein logisch geschlossenes System dar. Eine gewisse Widersprüchlichkeit war systemimmanent, musste aber in der politischen Praxis nicht als Mangel empfunden werden, da die Übernahme dieser Ideologie aufgrund von Gefühlen und moralischen Wertvorstellungen erfolgte. Auch die Wirtschaftspolitik war daher nicht allein der Logik verpflichtet, sondern konnte Gegensätzliches in sich vereinen. So stellte der österreichische Philosoph Aurel Kolnai im Jänner 1934 die Widersprüchlichkeit der vor der Tür stehenden neuen Staatsideologie fest: „Die ständischen Ideologien leiden an einer scheinbar unbehebbaren Unklarheit. Es haftet ihnen scheinbar etwas Nebuloses, Vieldeutiges, Qualliges an. Sie stehen weit mehr zu Stimmungswerten in Bezug, als zu einsichtigen, fassbaren Gedankengängen. [...] Die Unklarheit ist somit kein 3
Siehe dazu: Gerhard Senft, Im Vorfeld der Katastrophe. Die Wirtschaftspolitik des Ständestaates. Österreich 1934–1938. Vergleichende Gesellschaftsgeschichte und politische Ideengeschichte der Neuzeit. Band 15, Wien 2002; Emmerich Tálos/Wolfgang Neugebauer (Hg.), Austrofaschismus. Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur 1934–1938, Wien 1984; Dieter Stiefel, Wirtschaftspolitik im Ständestaat und ihre Reflexion in der Österreich in Bild und Ton, in: Michael Achenbach/Karin Moser (Hg.), Österreich in Bild und Ton. Die Filmwochenschau des austrofaschistischen Ständestaats, Filmarchiv Austria, Wien 2002; Dieter Stiefel, Utopie und Realität: Die Wirtschaftspolitik des Ständestaates, in: Thomas Albrich/Klaus Eisterer/Rolf Steininger (Hg.), Tirol und der Anschluß. Voraussetzungen, Entwicklungen und Rahmenbedingungen 1918–1938, Innsbruck 1988; Dieter Stiefel, Aber Krise ist auch nicht so schlecht. Zur Interdependenz sozio-ökonomischer Prozesse und der Genese des autoritären Regimes in Österreich, in: 1934: Erfahrungen + Lehren (=Schriften des Dr. Karl Kummer Instituts, hg. Herwig Hösele), Graz 1984.
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bloßes zufälliges Gebrechen, sondern sie hat eine eigene Bedingtheit und Funktion. Sie ist die Unklarheit gegenrevolutionärer Ideologien überhaupt. [...] Die Unklarheit vermehrt sich freilich dadurch, dass es sich hier um kein rein gegenrevolutionäres Streben, sondern ein solches in Verbindung mit spezifischen faschistischen Elementen, darüber hinaus aber mit einem zweifellos ernst gemeinten sozialen Ordnungs- und Befriedungswillen handelt. Das katholisch-konservative Ständeideal geht vorerst von feudalen Reminiszenzen und vom antimarxistischen Affekt aus. Aber dabei bleibt es nicht, sondern es kommt noch der moderne faschistische Gedanke einer Reform und Rettung des Kapitalismus durch Einzwängung der Klassen in eine die Vorherrschaft der Besitzerklasse verbürgenden korporativen Ordnung unter der Gewalt des starken Staates hinzu.“4 Diese Widersprüchlichkeit war in der christlichsozialen Politik der Zwischenkriegszeit angelegt, in ihrer Reaktion auf die politischen Ereignisse nach dem Ersten Weltkrieg und im Zusammengehen der an sich antikapitalistischen Partei mit Wirtschafts- und Finanzkreisen im Sinne eines gegenrevolutionären Blocks. Die Utopie des Ständestaates kann daher als Versuch angesehen werden, eine in der Praxis bereits vollzogene politische Konstellation ideologisch zu verarbeiten und das christlichsoziale Denken mit wirtschaftsliberalen Prinzipien in Einklang zu bringen: Christlichsozial und Liberalismus, die Vereinbarkeit des Unvereinbaren unter autoritärer Klammer! Die Theoretiker des Ständestaats nahmen für sich in Anspruch, den Dritten Weg zwischen Sozialismus und Faschismus gefunden zu haben, die Wiederherstellung einer „wahren Ordnung“ in der Wirtschaft. Das Primat der Wirtschaft sollte gebrochen, der Staat aus den Verstrickungen mit privatwirtschaftlichen Interessen befreit und die Wirtschaft entstaatlicht werden. Durch die berufsständische Ordnung sollten die wesenseigenen Antriebskräfte der Wirtschaft wieder frei gemacht werden. Damit ging es dem Ständestaat 4
Aurel Kolnai, Die Ideologie des Ständestaates, in: Der Kampf. Sozialdemokratische Monatsschrift, 27/1 (1934), 13–23, 13.
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Dieter Stiefel
zwar um Modifizierung, grundsätzlich aber um die Erhaltung der bestehenden sozio-ökonomischen Verhältnisse: „In den Grundlagen gründet sich unsere Wirtschaftsordnung auf dieselben Voraussetzungen wie die liberalistische, nämlich auf Privateigentum und private Initiative“, erklärte Handelsminister Guido Jakoncig in einem Vortrag. „Der Grundsatz, dass unsere Wirtschaftsordnung auf Anerkennung des Privateigentums fußt, ist zu selbstverständlich, als daß er eine besondere Hervorhebung benötigen würde.“5 Und auch der Grazer Ökonom Josef Dobretsberger stellte fest: „Ziel ist die Wiedererstarkung des echten Unternehmergeistes, der unter dem Druck des Monopolismus verdrängt wird oder entartet.“ Um der privaten Initiative den Weg freizugeben, müssten diese Hemmnisse beseitigt werden.6 Der Ständestaat war daher seiner Ideologie nach ein Staat des Privateigentums, der Selbständigen und der Unternehmer. Das begründete nicht nur die Wirtschaftsauffassung, sondern wurde auch durch das Autoritätsprinzip bestärkt: „Die Schaffung des Autoritätsstaates auf ständischer Grundlage, der Grundsatz der Förderung der Persönlichkeit führt notwendigerweise zur Förderung des selbständigen Unternehmers, gleichgültig, ob es sich um einen kleinen Gewerbetreibenden oder um einen Großindustriellen handelt. In jedem Staate sind die Kreise der selbständigen Erwerbstätigen diejenigen, die wie der Bauer auf seiner Scholle in ihren eigenen Betriebsstätten nach freier Entschließung und unter eigener Verantwortung tätig sind, die wertvollsten Stützen des Staates und der Wirtschaft.“7
5 6 7
Guido Jakoncig, Grundsätzliche Gedanken zur Wirtschaftskrise und deren Bekämpfung, Vortrag gehalten am 27. November 1934 im Österreichischen Ingenieur- und Architekten Verein, Wien 1934. Josef Dobretsberger, Die wirtschaftlichen Aufgaben des neuen Staates, Wien 1937, 17. Jakoncig, Gedanken, 7.
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Löhne und Preise Wirtschaftspolitik im ständischen Denken war demnach „Wettbewerbsfreiheit im Rahmen einer Gemeinwohlordnung“. Damit war die christliche Soziallehre mit dem Wirtschaftsliberalismus versöhnt: „Die naturgemäße Verfassung der auf das Privateigentum begründeten arbeitsteiligen Volkswirtschaft ist der Wettbewerb“8, nur habe er eine Ordnung zu erfahren, um die wirtschaftliche Dynamik zu beruhigen, die Preise zu stabilisieren und zu einer erhöhten Sicherheit der Wirtschaftsführung zu gelangen. Dabei stand auch der Leistungsgedanke im Mittelpunkt, verstanden als Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft: „Nur sie begründet ein Recht auf Einkommen.“9 Die politische Lohngestaltung der zwanziger Jahre sei dagegen ein Ausfluss des Klassenkampfes und eine wirtschaftliche Fehlentwicklung gewesen, da trotz sinkenden Volksvermögens steigende Löhne gezahlt worden waren. „Auch in der Lohnfrage besteht in der berufsständischen Ordnung keine andere Aufgabe, als den volkswirtschaftlich richtigen Lohn zu Geltung zu bringen. [...] Deshalb muß auch der Lohn den Preisgesetzen folgen.“10 Demnach war der „gerechte“ Lohn nichts anderes als der volkswirtschaftlich richtige Lohn. Zur Lohnentwicklung muss man einen Blick auf die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung werfen. 1933 war auch in Österreich der Tiefpunkt der Weltwirtschaftskrise erreicht, das Bruttonationalprodukt (BNP) stieg wieder an. Das Pro-Kopf-Einkommen je Arbeitnehmerin/Arbeitnehmer ging aber von 1933 bis 1937 weiter zurück. Das lässt darauf schließen, dass die Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmer von der wirtschaftlichen Erholung nicht profitierten. Die Lohnentwicklung muss allerdings im Gesamtkontext der Zwischenkriegszeit gesehen werden. Nimmt man das Jahr 1928 als Normaljahr – das BNP erreichte das erste Mal wieder das Vorkriegsniveau von 1913 – so 8 Johannes Messner, Die berufständische Ordnung, Wien 1938, 102. 9 Messner, Ordnung, 101. 10 Messner, Ordnung 177.
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zeigten sich vorerst deutlich Verschiebungen zugunsten der unselbstständigen Einkommen. Anteil am Volkseinkommen Löhne und Gehälter Besitz und Unternehmung
1913 51,0 % 47,7 %
1924 57,2 % 39,8 %
Diese Verschiebungen waren bis 1924 bereits vollzogen und ergaben sich somit aus der Kriegs- und Inflationszeit. Kriegswirtschaft und Spekulation mögen den Selbstständigen zeitweise große Gewinnchancen gebracht haben, aber als alles vorüber war, standen die unselbstständigen Einkommen weitaus besser da als die Einkommen aus Besitz und Unternehmung. Diese Entwicklung war nicht allein auf wirtschaftliche Ursachen zurückzuführen, sondern vor allem auf die politische Erstarkung der Arbeitnehmervertretungen nach dem Ersten Weltkrieg, insbesondere auf das Kollektivvertragsrecht. Die Unternehmerseite hatte sich mit dieser Entwicklung nie wirklich abgefunden. Das war der Hintergrund für die ständige Diskussion über „zu hohe Löhne und soziale Lasten“ in der Zwischenkriegszeit. Überhöhte Löhne würden die Gestehungskosten steigern, wodurch sich die Absatzchancen, vor allem im Export, verringerten und dadurch käme es zu schlechtem Geschäftsgang und hoher Arbeits losigkeit. Bei einem freien Arbeitsmarkt wäre der Lohn auf das den wirtschaftlichen Verhältnissen angemessene - um nicht zu sagen natürliche - Niveau gesunken, wodurch sich die österreichischen Wirtschaftsprobleme von selbst gelöst hätten und die Arbeitslosigkeit aufgesaugt worden wäre.11 Der bis 1924 gewonnene relative Einkommensvorsprung der Arbeitnehmerseite konnte in der parlamentarischen Zeit nicht mehr aufgeholt werden. Bis 1929 verlief die Entwicklung der selbstständigen und unselbstständigen Einkommen ziemlich parallel. Während der Weltwirtschaftskrise kam es zu einem typischen Verlauf 11 Mises, 1931, 21.
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der beiden Einkommenskurven. Die Löhne und Gehälter erwiesen sich am Beginn als weit weniger flexibel nach unten als die Gewinne. Das Ansteigen des relativen Anteils der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen nach 1929 war daher ein typisches Krisenzeichen. 1931 hatte diese Entwicklung den Höhepunkt erreicht, ab dann fiel der Anteil der unselbstständigen und stieg jener der selbstständigen Einkommen. Soweit kann diese Entwicklung mit wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten erklärt werden, mit voraneilenden und nachhinkenden Indikatoren, wie sie der Konjunkturforschung bereits in der Zwischenkriegszeit bekannt waren. Aber die massivsten Veränderungen erfolgten erst nach der Weltwirtschaftskrise, in der Zeit des Ständestaats. Die Verschiebung der Einkommen verstärkte sich bis 1937, was den Eindruck der Einkommensumverteilung als wirtschaftspolitischem Ziel des Ständestaats nahelegt. Bruttoentgelte für unselbstständige Arbeit in Prozent des Volkseinkommens nominell12 1930 59,4 1931 61,6 1932 60,6 1933 58,7 1934 57,0 1935 57,0 1936 56,3 1937 54,6
Josef Dobretsberger, selbst Regierungsmitglied im Kabinett Kurt Schuschnigg I, und daher dem damaligen Regime gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt, schrieb 1937: „In einigen Ländern hat 12 Felix Butschek, Statistische Reihen zur österreichischen Wirtschaftsgeschichte: die österreichische Wirtschaft seit der industriellen Revolution, Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung, Wien Juni 1996, Tabelle 5.1.
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man die Preise, Löhne, Lebenshaltungskosten und Zinssätze auf gesetzlichem Wege gesenkt. In Österreich hat sich dieses Bestreben vorwiegend in den Lohnkosten ausgewirkt. Nach Auflösung der freien Gewerkschaften erschien die Festung der starren Lohnsätze einnehmbar. Während die übrigen Kostensätze z. T. gebunden blieben, hat sich der Druck des zu hohen Kostenniveaus besonders nach der offenen Stelle der Löhne hin konzentriert. Noch heute ist die Lohntendenz fallend, obgleich nach dem Stand der Konjunktur und nach den Beispielen anderer Länder der Tiefpunkt längst überwunden sein müsste. Kollektivverträge werden aufgelöst, neue nur zu wesentlich schlechteren Bedingungen abgeschlossen, vielfach wird der individuelle Arbeitsvertrag bevorzugt, werden Urlaubs- und Überstundenansprüche nicht honoriert und mehrmals bestehende Arbeitsvertragsverhältnisse gesetzlich aufgelöst. Die konjunkturbedingten Lohnbewegungen werden durch die Vormachtstellung der Unternehmerverbände und durch die geschwächte Stellung des neu gegründeten Gewerkschaftsbundes zurückgedrängt. Die veränderten Machtverhältnisse sind durch den Grundsatz gekennzeichnet, den in den Tagesblättern zu veröffentlichen sich der Industriellenbund im Vorjahre nicht scheute: zuerst müssen wieder ausreichende Dividenden ausgeschüttet werden, bevor man an Lohnerhöhungen denken könne.“13 Die Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmer standen dieser Politik fast machtlos gegenüber. Die neue Arbeitnehmervertretung ab 1934 war praktisch ohne jede Kompetenz. Der Arbeitskampf war verboten, der Gewerkschaftsbund hatte weder ein Streikrecht noch ein Rechtsmittel, um seine Ansprüche durchzusetzen, während den Unternehmerinnen/Unternehmern zahlreiche Druckmittel zur Verfügung standen. Josef Dobretsberger fand es daher erstaunlich, wie lange sich die Bünde der Einsicht verschlossen hatten, dass eine Regelung der Arbeitsstreitigkeiten notwendig sei. „Sehr häufig wird von Unternehmern, bevor der Urlaubsanspruch anfällt, das Arbeits- oder 13 Josef Dobretsberger, Die wirtschaftlichen Aufgaben des neuen Staates, Wien 1937, 48.
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Angestelltenverhältnis gekündigt und nach drei Tagen wieder erneuert. Auch die Staatsverwaltung hat sich gegenüber ihren Vertragsangestellten mehrfach dieser Praxis angeschlossen“, und er stellte offen fest, dies sei „eine Unehrlichkeit.“14 Man kann davon ausgehen, dass diese Einkommensverschiebungen eine Konsequenz der Machtverschiebungen nach 1934 und Teil der Wirtschaftspolitik des Ständestaates waren. Die politische Lohnbewegung nach dem Ersten Weltkrieg sollte nun ebenfalls mit politischen Mitteln revidiert werden. Die Möglichkeit, am Arbeitsmarkt wieder „ordentliche“ Verhältnisse zu schaffen – mit gesetzlichen wie auch nur tolerierten Mitteln – mag dem autoritären Regime die Zustimmung der Selbstständigen gesichert haben. Diese keineswegs auf Harmonie oder Ausgleich, sondern auf Verschärfung der Gegensätze ausgerichtete Politik war, trotz ihres Widerspruchs zur ständischen oder gar christlichsozialen Ideologie, konstitutiv für den Ständestaat und machte einen wesentlichen Teil seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik aus. Interessensausgleich? Wenn sich nun schon die Gegensätze zwischen Arbeitgeberinnen/ Arbeitgebern und Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmern verschärft hatten, war dann die Wirtschaftspolitik des Ständestaats wenigstens darauf ausgerichtet, die Interessen zwischen den einzelnen Wirtschaftsbereichen auszugleichen? Dies im Sinne eines Strebens nach „Gemeinschaft“ und „Gesamtverantwortung“, welches in der ständischen Ideologie so hervorgehoben wurde: „Sie gebietet den Berufsständen, ihr Sonderwohl dem Gemeinwohl unterzuordnen, genauso wie der Einzelne seine Interessen dem Ganzen unterstellen muss. Dies ist eines der wichtigsten Lebensgesetze der ganzen berufsständischen Ordnung.“15
14 15
Dobretsberger, Aufgaben, 57. Dobretsberger, Aufgaben, 57.
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Tatsächlich wurden ab 1934 zahllose autoritäre Verordnungen und Gesetze auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik erlassen, die scheinbar jedem Berufsstand seine Förderungsmaßnahmen zukommen ließen. Ganz abgesehen vom Bankwesen, wo man ab 1934 geradezu routi nemäßig mit öffentlichen Mitteln sanierte, bekam der Fremdenverkehr Krediterleichterungen, das Bauwesen eine Siedlungsaktion, das Gewerbe erhielt endlich die lang geforderten Beschränkungsmaßnahmen, der Handel die Einschränkung von Konsumläden, Filialgeschäften und des Hausierer-Wesens, die Industrie ihre Schutzzölle, der Agrarsektor seine Marktordnung und so weiter und so fort. Die meisten Maßnahmen waren aber ad-hoc Reaktionen ohne wirkliches System. Die restriktiven Regelungen, wie etwa die Gewerbesperre, wurden sogar im Ständestaat nur als Notmaßnahmen betrachtet, offiziell immer wieder kritisiert und schließlich auch gemildert. Die Außenhandelspolitik war über weite Strecken eine Reaktion auf Maßnahmen anderer Länder, und selbst eine der typischsten wirtschaftspolitischen Aktivitäten der 1930er-Jahre, die Arbeitsbeschaffung, war trotz aller Propaganda durch ihre Finanzierung eng begrenzt. Sie wurde auf einen geschwächten Kapitalmarkt verwiesen. Bei den sogenannten „Arbeitsanleihen“ kam nur etwa die Hälfte tatsächlich der Arbeitsbeschaffung zugute. Es gab nur zwei Bereiche, denen sowohl von der Systematik als auch vom Umfang her eine Bedeutung in der Wirtschaftspolitik des Ständestaats zukam: dem Finanzbereich und dem Agrarsektor. Die Dominanz des Finanzbereichs war bei der allgemeinen Wirtschaftspolitik deutlich sichtbar. Ihm wurden alle anderen Wirtschaftsbereiche nachgeordnet, und seinem Vorrang war es zuzuschreiben, dass sich Österreich von der Weltwirtschaftskrise nicht mehr wirklich erholte. In Österreich wurden weit mehr Mittel für die Sanierung der Banken aufgebracht, als für die Sanierung des Arbeitsmarktes. Dabei war es dem Finanzbereich auch noch gelungen, sich trotz aller öffentlichen Unterstützung von politischem Einfluss weitgehend frei zu halten.16 Das Finanzwesen ragte daher „wie ein erratischer Block 16 Dazu: Dieter Stiefel, Finanzdiplomatie und Weltwirtschaftskrise. Die Kri-
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rein liberalistischer Wirtschaftsauffassung“ in die ständische Zeit hinein.17 Der zweite Wirtschaftsbereich, der es verstand, ebenso mit der Demokratie wie mit der Diktatur zu leben, war der Agrarsektor. Mit einem Anteil von mehr als einem Drittel der erwerbstätigen Bevölkerung war er nicht nur ein bedeutender wirtschaftlicher Faktor, sondern auch die verlässlichste politische Basis des Konservativismus in Österreich. Angesicht der größten Agrarkrise des 20. Jahrhunderts ging die österreichische Landwirtschaft zu weitreichenden Marktregulierungen über und koppelte sich vom Weltmarkt praktisch ab. Die Maßnahmen wirkten sich vor allem zugunsten der Getreide-, Milch- und Zuckerrübenproduktion aus, während Holz- und Viehwirtschaft – also die alpinen Wirtschaftsformen – in der Krise blieben. Diese Agrarpolitik verstieß gegen einen der wichtigsten Grundsätze der ständischen Ideologie: Sie erfolgte nicht im Interesse des Gemeinwohls, sondern zugunsten eines Berufsstands. Die Agrarpoli tik war nichts anderes als ein Abschieben der Krisenfolgen auf andere Wirtschaftsbereiche mit Hilfe von Mengen- und Preisregulierungen. Der Index der landwirtschaftlichen Kaufkraft (Verhältnis Agrargüterpreise/Industriegüterpreise) verlief daher bis 1936 – entgegen dem Weltmarkttrend – stets zugunsten der heimischen Landwirtschaft. Und während in der Weltwirtschaftskrise bei allen Budgetposten drastische Kürzungen erfolgten, wurden für den Getreidebau 1930/31 an die 96 Millionen Schilling zur Verfügung gestellt und bei Agrarexporten umfangreiche staatliche Stützungen gewährt. Während der Lebensmittelumsatz von 1929 bis 1936 um etwa ein Viertel zurückging, konnten die Agrarpreise auf einem Niveau gehalten werden, das zum Teil das Doppelte des Weltmarkts ausmachte. Die Industriellenvereinigung beschwerte sich schon seit Anfang der 1930er-Jahre über den „rein agrarischen Kurs der Wirt se der Credit-Ansalt für Handel und Gewerbe 1931 (= Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung e.V., Band 12), Frankfurt 1989. 17 Odo Neustädter-Stürmer, Die berufständische Gesetzgebung in Österreich, Wien 1936, 22.
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schaftspolitik“18 und mit den Kammern kam es 1932, beim zehnten Handelskammertag, zu einer offenen Auseinandersetzung. „Der rücksichtslose Agrarkurs“, sagte der Hauptreferent in Anwesenheit von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, „und die zahlreichen direkten und indirekten Eingriffe in den Wirtschaftsmechanismus zum Zwecke einer einseitigen Begünstigung irgendeiner landwirtschaftlichen Produktion“ sei mit dem Fortschreiten planwirtschaftlicher Gedanken nicht vereinbar. Agrarische Ziele würden auf Kosten der Wirtschaftsbereiche angestrebt, und der Referent schloss: „Handel, Gewerbe und Industrie rufen ein lautes ‚Bis-hierher-und-nichtWeiter‘ und müssen die Verantwortung für alle wirtschaftlichen und politischen Folgen, die ein Andauern des unerträglich gewordenen Agrarkurses auslösen müsste, jenen überlassen, die da zu meinen scheinen, dass Österreich wirklich ein Agrarstaat ist.“19 So war gerade das eingetreten, was der Rechtswissenschafter Johannes Messner am meisten befürchtet hatte, „daß an die Stelle der Interessengegensätze der Klassen, die sich im offenen Kampf nicht mehr auswirken können, die Interessengegensätze der Berufsstände treten, deren offener oder schleichender Machtkampf nicht nur die gesellschaftliche Ordnungsfunktion der berufsständischen Ordnung beeinträchtigen, sondern unmittelbar das Gemeinwesen und sein Gedeihen schädigen muß.“20 Dieser Misserfolg des ständischen Interessenausgleichs sollte nicht verwundern: Denn die Bünde, also die Organisationen, die den neuen Staat aufbauen sollten, waren überwiegend mit Vertretern des „alten“ Staats besetzt. Die politischen Systeme gingen, die Funktionäre blieben. Zwar gab es ab 1934 eine Strukturbereinigung im österreichischen Verbandswesen – vor allem zahlreiche privatrechtlich organisierte Interessenvertretungen auf Vereinsbasis, von denen es eine bunte Vielfalt gegeben hatte, wurden aufgelöst und in die 18 Franz Geißler, Österreichs Handelskammerorganisation in der Zwischenkriegszeit. Eine Idee am Prüfstand, Wien 1977, Band 2, 255. 19 Geißler, Handelskammerorganisation, 236. 20 Messner, Ordnung, 57.
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Verbände überführt – die leitenden Funktionäre blieben aber vielfach dieselben. Das konnte so weit gehen, dass man den Eindruck hatte, es sei überhaupt nichts geschehen. Bei der Wiener Kaufmannschaft, der mächtigsten Interessenvertretung des österreichischen Handels in der Zwischenkriegszeit, wurden nicht nur die Spitzenfunktionäre übernommen, sondern auch das Gebäude am Schwarzenbergplatz, so dass mit der Errichtung des Handelsbundes dieselben Leute in dieselben Büros gingen und dort unter neuem Namen wohl auch dasselbe taten wie zuvor.21 Über die Beharrungskraft des alten politischen Systems beklagte sich Odo Neustädter-Stürmer noch 1936: „Daneben kämpften die unentwegten und unbelehrbaren Anhänger des Parlamentarismus um ihre letzten Positionen, die ihnen im geeigneten Moment als Stützpunkt für eine Restauration des parlamentarisch-demokratischen Systems dienen sollen. Die Handhabung der Bestimmungen zur Wahrung der Ausschließlichkeit der Bünde beschränkt sich in der Praxis oft nur auf die Wahrung der äußeren Form, sodass die Bemühungen privater Vereinigungen, Agenden der öffentlich-rechtlichen Berufsverbände an sich zu ziehen, fortdauern. [...] Dabei darf nicht übersehen werden, dass zu Funktionären der Bünde größtenteils solche Personen bestellt wurden, die führende Stellungen in den früheren Richtungsgewerkschaften und Parteiverbänden innehatten. Wenn sich nun solche Funktionäre in einzelnen Fällen stärker zu ihrer früheren Parteiorganisation als zur neuen berufsständischen Organisation hingezogen fühlen, werden die inneren Hemmungen verständlich, die sich bei der berufsständischen Arbeit mancherorts gezeigt haben.“22
21 Dieter Stiefel, Im Interesse des Handels: Gremien, Verbände und Vereine der österreichischen Kaufmannschaft in der Zwischenkriegszeit, in: Geschichte der Handelskammerorganisation. Spitzenkörperschaften der gewerblichen Wirtschaft vor ihrer Eingliederung in die Handelskammerorganisation (= Schriftenreihe der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft 37), Wien 1978, 55. 22 Neustädter-Stürmer, Gesetzgebung, 23.
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Und auch Josef Dobretsberger kritisierte, dass sich unter neuem Namen die alte Interessenpolitik wieder breit gemacht hätte, ein neuer „Stellungskrieg, nicht mehr der Parteien, sondern der Stände und Interessenvertretungen [...] Endlich finden wir auch verschiedene Auffassungen der Interessenverbände über Wesen und Aufgabe der Berufsstände, die dort und da ähnlich wie die Interessenverbände und Kartelle einen Berufsegoismus entwickeln, der umso gefährlicher ist, als er sich den Mantel öffentlich-rechtlicher Aufgaben umhängt.“ Diese Machtfülle der Interessenverbände wäre dazu geeignet, die staatliche Wirtschaftspolitik zu durchkreuzen. „In den Ständeorganisationen ist ein zusätzlicher Verwaltungsapparat entstanden, der die Aufgabe hätte, den Staat von einem Teil der Wirtschaftsverwaltung zu entlasten. Bis jetzt kann man jedoch nur das Gegenteil beobachten. Die Agenden der Hoheitsverwaltung haben sich durch die Ständeeinrichtungen eher vermehrt; anstatt die zahllosen Interventionen von den Zentralämtern abzulenken, haben sich die neuen Organisationen den Intervenienten hinzugesellt.“23 Das Scheitern des Ständestaates Den starken, über allen wirtschaftlichen Interessen stehenden Staat im Sinne der liberalen Wirtschaftstheoretiker gab es in Österreich nie, auch nicht nach 1934. Die autoritären Regierungen beruhten noch nicht einmal auf einer Massenbasis irgendeiner Bewegung, sondern waren machtpolitisch wesentlich in bestimmten wirtschaftlichen Interessen verankert, die ihre krisengefährdete Stellung auf Kosten anderer Wirtschaftsbereiche absicherten. Es mag daher nicht verwundern, dass der Widerstand gegen den „neuen Staat“ schließlich aus dem System der Interessenvertretungen selbst gekommen war und der Ständestaat in der Zeit des autoritären Regimes eigentlich bereits überwunden wurde. Dabei ging dieser Überwindungsprozess vom alten Schema des „Klassenkampfs“ aus. Nachdem im Februar 23
Dobretsberger, Aufgaben, 15.
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1934 die alten Freien Gewerkschaften aufgelöst worden waren, sah sich die Regierung bereits im März genötigt, selbst einen Gewerkschaftsbund zu errichten, „um im Geist des Christentums, der sozialen Gerechtigkeit und der Liebe zum Vaterlande den Arbeitern und Angestellten eine wirksame Interessenvertretung zu sichern.“24 Zwar wurde eingeschränkt, dass es sich hier nicht um eine ständische Organisation, sondern nur um eine zur Vorbereitung des ständischen Aufbaus handelte, aber so ganz wohl war den Architekten des Ständestaates dabei auch nicht: „Es wäre systematisch zweifellos richtiger gewesen, die Arbeitnehmer von Anfang an in fünf verschiedene Bünde einzureihen. [...] Die Praxis verbot diesen Weg. Denn die bestehenden staatstreuen Richtungsgewerkschaften, die den Kern der neuen Organisation bilden sollten, waren nicht nach den in der neuen Verfassung vorgesehenen Berufsständen abgegrenzt.“25 Damit bekamen aber auch die Interessenvertretungen der ArbeitgeberInnen wieder Aufwind, wie die Handelskammern, denen im neuen Staat ja das Schicksal der Auflösung zugedacht war. „Mit dem letzten Hindernis zur Beseitigung der parlamentarischen Demokratie und damit zur Schaffung des berufsständischen Staates waren auch die letzten Schranken gegen eine Aufspaltung und Zerstörung der Handelskammern weggefallen. Mit Ablauf ihrer letzten WahlAmtsperiode Ende 1935 hätten sie automatisch zu bestehen aufgehört. Die Gründung des Gewerkschaftsbundes als eines Instrumentes zur Erfassung der Arbeitnehmerschaft nahm jedoch der Beseitigung der Kammern als einer Gesamtvertretung der Unternehmer der gewerblichen Wirtschaft am Ende die Rechtfertigung und hätte diese Maßnahme zu einer Verletzung des auch für das autoritäre Regime gültigen Gleichheitsprinzipes gemacht, zumindest für die Dauer der Trennung zwischen Arbeitern und Unternehmern.“26 24 Verordnung der Bundesregierung vom 2. März 1934 über die Errichtung des Gwerkschaftsbundes der österreichischen Arbeiter und Angestellten, BGBl. Nr. 132/1934. 25 Neustädter-Stürmer, Gesetzgebung, 13. 26 Geißler, Handelskammerorganisation, 13.
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Nach anfänglichen schweren Rückschlägen konnten sich die bereits seit vielen Jahrzehnten bestehenden Kammern gegen den Traum vom ständischen Staat durchsetzen. 1936/37 gingen diese mit einem neuen Handelskammergesetz – das mit der Bundeskammer auch zum ersten Mal eine Dachorganisation vorsah – gestärkt aus diesem Kampf hervor. Franz Geißler stellte wohl zu Recht fest, dass das Handelskammergesetz 1937 das Scheitern des ständischen Staats bedeutete.27 Und die Pressestimmen, wie etwa die des „Österreichischen Volkswirt“, klatschten dazu Beifall: „Der Kampf um die Handelskammern hat nach fast zweijähriger Dauer dahin geführt, dass nicht nur ihre Erhaltung, sondern ihre Festigung zur Tagesordnung steht. Längst hat die öffentliche Meinung gegen jene entschieden, die diesen Kampf angezettelt haben. Eher noch ist man bereit, auf alle Neukonstruktionen zu verzichten, als die altbewährte Einrichtung der Kammern preiszugeben.“28 Die Kammern hatten es zwar nicht mehr vermocht, die spezifische Wirtschaftspolitik des Ständestaats in ihrem Sinne zu modifizieren, sie konnten sich aber doch in der Realität einer kapitalistischen Gesellschaft gegen die Utopie des Ständestaats durchsetzen. Resümee Die Wirtschaftspolitik des Ständestaats kann nicht für sich in Anspruch nehmen, in irgendeinem Bereich ihren ideologischen Forderungen entsprochen zu haben. In der Wirtschaftspolitik drückten sich diese Auseinandersetzungen in folgenden Bereichen aus: 1. In einer Dominanz der Finanzpolitik, d. h. einer Fortsetzung der liberalen Wirtschaftspolitik der 1920er-Jahre mit autoritären Mitteln und unter Bedingungen, in denen sie in den meisten anderen Ländern bereits aufgegeben worden war. 27 Geißler, Handelskammerorganisation, 203. 28 Der Ruf nach den Handelskammern, in: Der Österreichische Volkswirt, Wien, 08.05.1937.
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2. In einer nur machtpolitisch zu begründenden Durchsetzung agrarischer Monopolisierungstendenzen auf Kosten der anderen Wirtschaftsbereiche und des Massenkonsums. 3. In einer Einkommensumverteilung, einer Revision der Lohnpolitik nach dem Ersten Weltkrieg und einer Einschränkung bzw. offenen Tolerierung der Missachtung sozialpolitischer Er rungenschaften sowie schließlich einer Verlagerung der Einkom mensströme von den Unselbstständigen zu den Selbstständigen und von den Konsumentinnen/Konsumenten zu den Produzentinnen/Produzenten: der Ständestaat als Staat im Interesse der Selbstständigen Das vorrangige Ziel dieser Wirtschaftspolitik war nicht der Wieder aufschwung nach der Weltwirtschaftskrise, sondern die Stabilisierung des politischen Status quo angesichts der politischen Bedrohung von rechts und links. In diesem Zusammenhang wurde die Unterstützung aus dem Ausland – Kapitalinteressen und Finanzkomitee des Völkerbunds – und die materielle Stabilisierung der politischen Kerngruppen des Regimes angestrebt. Die Verbindung des „christlichen“ Ständestaats mit dem Liberalismus war daher systemimmanent. Der ständische Aufbau scheiterte nicht, weil er sich gegen liberalistische Kräfte nicht durchsetzen konnte, sondern er scheiterte an den gesellschaftlichen Realitäten eines industriell fortgeschrittenen Landes, in dem es nicht gelingen konnte, die vorhandenen Interessengegensätze durch eine autoritär erzwungene Gemeinschaft zu überdecken. Bei allen Vorteilen, die der Ständestaat den Selbstständigen kurzfristig gebracht hatte, kam daher dessen Überwindung von diesen selbst bzw. von deren Interessenorganisationen, die sich gerade in dieser Phase ihrer existentiellen Krise neu strukturierten. Damit erzwang der autoritäre Staat eine Strukturbereinigung des Systems der Interessenvertretungen mit der Errichtung der Zentralorganisationen Gewerkschaftsbund und Bundeswirtschaftskammer, die nach 1945 eine der Grundlagen der Sozialpartnerschaft wurden.
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Literatur Butschek, Felix, Statistische Reihen zur österreichischen Wirtschaftsgeschichte: die österreichische Wirtschaft seit der industriellen Revolution, Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung, Wien Juni 1996. Der Ruf nach den Handelskammern, in: Der Österreichische Volkswirt, Wien, 08.05.1937. Dobretsberger, Josef, Die wirtschaftlichen Aufgaben des neuen Staates, Wien 1937. Geißler, Franz, Österreichs Handelskammerorganisation in der Zwischenkriegszeit. Eine Idee am Prüfstand, Wien 1977, Band 2. Jakoncig, Guido, Grundsätzliche Gedanken zur Wirtschaftskrise und deren Bekämpfung, Vortrag gehalten am 27. November 1934 im Österreichischen Ingenieur- und Architekten Verein, Wien 1934. Kolnai, Aurel, Die Ideologie des Ständestaates, in: Der Kampf. Sozialdemokratische Monatsschrift, 27/1 (1934), 13–23. Messner, Johannes, Die berufständische Ordnung, Wien 1938. Mises, Ludwig von, Die Ursachen der Wirtschaftskrise, Wien 1931. Morgenstern, Oskar, Die Grenzen der Wirtschaftspolitik, Wien 1934. Neustädter-Stürmer, Odo, Die berufständische Gesetzgebung in Österreich, Wien 1936. Senft, Gerhard, Im Vorfeld der Katastrophe. Die Wirtschaftspolitik des Ständestaates. Österreich 1934–1938. Vergleichende Gesellschaftsgeschichte und politische Ideengeschichte der Neuzeit. Band 15, Wien 2002. Stiefel, Dieter, Aber Krise ist auch nicht so schlecht. Zur Interdependenz sozio-ökonomischer Prozesse und der Genese des autoritären Regimes in Österreich, in: 1934: Erfahrungen + Lehren (=Schriften des Dr. Karl Kummer Instituts, hg. Herwig Hösele), Graz 1984. Stiefel, Dieter, Finanzdiplomatie und Weltwirtschaftskrise. Die Krise der Credit-Ansalt für Handel und Gewerbe 1931 (= Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung e.V., Band 12), Frankfurt 1989. Stiefel, Dieter, Im Interesse des Handels: Gremien, Verbände und Vereine der österreichischen Kaufmannschaft in der Zwischenkriegszeit, in: Geschichte der Handelskammerorganisation. Spitzenkörperschaften der gewerblichen Wirtschaft vor ihrer Eingliederung in die Handelskammerorganisation (= Schriftenreihe der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft 37), Wien 1978.
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Stiefel, Dieter, Utopie und Realität: Die Wirtschaftspolitik des Ständestaates, in: Thomas Albrich/Klaus Eisterer/Rolf Steininger (Hg.), Tirol und der Anschluß. Voraussetzungen, Entwicklungen und Rahmenbedingungen 1918–1938, Innsbruck 1988. Stiefel, Dieter, Wirtschaftspolitik im Ständestaat und ihre Reflexion in der Österreich in Bild und Ton, in: Michael Achenbach/Karin Moser (Hg.), Österreich in Bild und Ton. Die Filmwochenschau des austrofaschistischen Ständestaats, Filmarchiv Austria, Wien 2002. Tálos, Emmerich/Wolfgang Neugebauer (Hg.), Austrofaschismus. Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur 1934–1938, Wien 1984.
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Aktuelle Krisenbewältigung im Vergleich mit den Strategien der 1930er-Jahre1
1. Einleitung Wer nichts aus der Geschichte lernt, heißt es, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen. Das ist nicht ganz richtig, denn jede geschichtliche Periode hat ihre Eigenheiten. Aber wir können die Momente erkennen, in denen die Geschichte möglicherweise in eine andere Richtung gegangen wäre, wenn sich die Protagonistinnen/Protagonisten anders verhalten hätten. Was wir aber auf alle Fälle aus der Geschichte gelernt haben sollten, ist, dass Fehlentwicklungen oder gar Katastrophen meist als Folge von falschen Grundannahmen, fehlerhaften Einschätzungen und Realitätsverleugnung entstanden sind. Oder aber sinnvoll scheinende Einzelentscheidungen führten zu nicht mehr kontrollierbaren Kettenreaktionen, weil die Wirkung auf das Ganze nicht oder zu wenig berücksichtigt wurde. Der Weg, der in die Große Depression der 1930er-Jahre führte, und die Reaktionen darauf bieten reichlich Anschauungsmaterial für die viel diskutierte Hypothese, dass alternatives wirtschaftspolitisches Handeln nachfolgende politische Entwicklungen möglicherweise hätte verhindern können. Dies wird oft für Deutschland und Österreich konstatiert. Die Wirtschaftspolitik habe den Aufstieg des Faschismus begünstigt. In den Vereinigten Staaten hingegen wurde die Krise für weitreichende Reformen und eine Stärkung der Demo1
Ein spezieller Dank geht an Johann Kernbauer für wertvolle Kommentare.
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kratie genützt. Neben unterschiedlichen demokratischen Traditionen spielen ökonomische Faktoren für die Erklärung dieser Unterschiede zwischen Europa und den USA eine bedeutende Rolle. Es waren die tief ins Bewusstsein eingebrannten, traumatischen Erfahrungen der Großen Depression, die die internationale Staatengemeinschaft in den Jahren nach dem Ausbruch der Krise im August 2007 zu international konzertierten Aktivitäten der Krisenbekämpfung veranlassten, die sicherlich als weitreichend und historisch beispiellos interpretiert werden können. Dennoch stellt sich heute die Frage, inwieweit tatsächlich in der nun schon seit sechs Jahren andauernden Krise die richtigen Lehren aus den Verwerfungen der 1930er-Jahre gezogen wurden. Da die Krise bislang verschiedene wirtschaftspolitische Reaktionen auf die bei Finanzkrisen typischen drei Phasen – die Banken- und Finanzkrise (2007/08), die Wirtschaftskrise (ab 2008) und schließlich die sogenannte Staatsschuldenkrise, insbesondere in Europa (ab 2010) – ausgelöst hat, ist die Antwort darauf nicht eindeutig. Ebenso ist die Frage für die Länder bzw. Regionen unterschiedlich zu beantworten. In Kapitel 2 wird die Große Depression (1929/32) mit der Großen Rezession (2008/09) in Hinblick auf verschiedene wirtschaftspolitische Bereiche verglichen. Zunächst wird diskutiert, inwieweit die beiden Weltwirtschaftskrisen in Hinblick auf Ursachen und Sequenz der Krisenereignisse überhaupt vergleichbar sind (Kap. 2.1.). Schließlich werden Parallelen und Unterschiede der geld- und fiskalpolitischen Reaktion beschrieben (Kap. 2.2. und 2.3.) sowie die Maßnahmen in der Finanz- und Bankenregulierung verglichen (Kap. 2.4.). Der in den ersten beiden Krisenphasen – der Finanzkrise sowie der nachfolgenden Wirtschaftskrise – erfolgte Einsatz von konventionellen und nichtkonventionellen geldpolitischen Instrumenten sowie die Maßnahmen der Konjunkturstabilisierung standen konträr zu jenen der 1930er-Jahre. Allerdings wird die seit der dritten Phase (der sogenannten Staatsschuldenkrise) insbesondere in den europäischen Krisenländern verfolgte Austeritätspolitik oft mit der Deflationspolitik von Reichskanzler Heinrich Brüning in der Weimarer Republik in
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den Jahren 1930 bis 1932 oder aber mit der vom Völkerbund oktroyierten rigiden Sparpolitik in Österreich im Zusammenhang mit den Genfer Protokollen 1922 sowie der Lausanner Anleihe 1932 verglichen. Damals wie heute stellt sich die Frage nach Alternativen, die zum Beispiel in der Bewertung der Anfang der 1930er-Jahre gesetzten wirtschaftspolitischen Maßnahmen Deutschlands zu der Kontroverse über die „Borchardt-Hypothese“2 führte, die angesichts der hohen Auslandsverschuldung Deutschlands und der Beschränkungen des Goldstandards die gängige Sichtweise, eine expansive keynesianische Politik hätte die Weltwirtschaftskrise früher beenden können, in Frage stellte.3 Eine in diesem Zusammenhang bislang wenig beachtete und interessante Parallele findet sich zwischen der Rolle Deutschlands und Österreichs im Goldstandardsystem der Zwischenkriegszeit und jener der Krisenstaaten der Währungsunion heute; aber es gibt auch bedeutende Unterschiede, die gerade für die Diskussion um die Perspektiven des Euro wichtig sind. Die Europäische Währungsunion kann als strikte Variante des Goldstandards gesehen werden4, wobei die Fixierung der Wechselkurse in beiden Währungsregimen die Autonomie der Wirtschaftspolitik erheblich einschränkt. Kapitel 3 diskutiert mögliche Schlussfolgerungen, die sich aus den Erfahrungen Deutschlands und Österreichs mit dem Goldstandard für die heutigen Probleme in den Krisenstaaten ergeben. Kapitel 4 zieht ein Resümee.
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Knut Borchardt, Zwangslagen und Handlungsspielräume in der großen Weltwirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre: Zur Revision des überlieferten Geschichtsbildes, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1979, 83–132. Hansjörg Klausinger, Die Alternativen zur Deflationspolitik Brünings im Lichte der zeitgenössischen Kritik: zugleich ein neuer Blick auf die Borchardt-These, Wien 1997. Barry Eichengreen/Peter Temin, Fetters of Gold and Paper, in: Oxford Review of Economic Policy 26 (2010) 3, 370–384.
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2. Große Depression versus Große Rezession 2.1. Krisenursachen und Krisenverlauf im Vergleich Sowohl die Große Depression der 1930er-Jahre als auch die Große Rezession ab 2008 begannen als Finanzkrisen. Auslöser der Großen Depression war ein „Börsencrash“ im Oktober 1929 in den USA, dem eine Boomphase vorangegangen war, die durch kreditfinanzierten Konsum, eine Immobilien- und Aktienkursblase, steigende Vermögens- und Einkommensungleichheit sowie fremdfinanzierte Aktienkäufe gekennzeichnet war. Der außergewöhnlich starke Aktienkurseinbruch trieb viele Unternehmen in den Konkurs und die Wirtschaft in eine schwere Rezession, die durch die Maßnahmen der Wirtschaftspolitik noch verstärkt wurde. Liquiditäts- und Solvenzprobleme des Bankensektors und schließlich ein Run auf einige Banken traten erst auf, als das Bruttosozialprodukt bereits um zehn Prozent gefallen war.5 In der Folge musste ein Drittel der Banken liquidiert werden.6 Der Börsenkrach in New York verbreitete Schockwellen in der ganzen Welt, wobei die unmittelbarste Wirkung auf die europäischen Länder, und insbesondere Deutschland, darin bestand, dass es zu einem ‚sudden stop‘ kam: US-amerikanische Banken und Eigentümerinnen/Eigentümer von in Deutschland emittierten Anleihen verweigerten die weitere Finanzierung der deutschen Zahlungsbilanzdefizite, auch um ihre eigenen durch die Krise in Mitleidenschaft gezogenen Bilanzen zu stärken. Zur Finanzierung der Reparationszahlungen, des Zinsendienstes und schließlich der Leistungsbilanzdefizite verschuldete sich Deutschland in den 1920er-Jahren überwiegend in den USA und Großbritannien. Das Ausbleiben der Finanzierung führte zwischen 1929 und 1933 zu einem starken Wirtschaftseinbruch, der durch das Festhalten am Goldstandard und die eingeschlagene deflatorische Politik noch verstärkt wurde. Hier ist allerdings zu erwähnen, 5 6
Albrecht Ritschl, War 2008 das neue 1929? Richtige und falsche Vergleiche zwischen der Großen Depression der 1930er-Jahre und der Großen Rezession von 2008, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 13 (2012), 36–57. Randall E. Parker, Reflexions on the Great Depression, Cheltenham 2002.
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dass sich Deutschland und insbesondere Österreich bereits in den 1920er-Jahren, bedingt durch die Nachwirkungen des Krieges, der politischen Instabilität, der Hyperinflation, der Bankenkrisen und der hohen Auslandsverschuldung in einer schwierigen wirtschaftlichen Phase befanden. 1929 lag in Deutschland das Bruttosozialprodukt pro Kopf unter dem Niveau von 19137, in Österreich knapp darüber. Eine weitere Eskalationsstufe im Krisenverlauf wurde durch den Zusammenbruch der Österreichischen Creditanstalt im Mai 1931 ausgelöst, der in Deutschland die dortige Bankenkrise verstärkte und zu einem Run auf Banken und zu weiterer Kapitalflucht führte. Im September 1931 suspendierte schließlich Großbritannien die Goldkonvertibilität des Pfund Sterling. Dies markierte den Beginn des Zerfalls des internationalen Goldstandards, dem eine Phase nationaler Alleingänge mit kompetitiven Abwertungen, Kapitalverkehrskontrollen und Handelsprotektionismen folgte. Auch die Große Rezession 2009 war die Folge einer Finanzkrise. Allerdings wurde sie durch eine Krise des Banken- und Finanzsystems im Sommer 2007 ausgelöst, die direkte Folge des Zusammenbruchs eines kleinen Segments des Immobilienmarktes in den USA war, und nicht durch einen Börsenkrach wie 1929. Sie ist daher eher mit der Bankenkrise 1931 vergleichbar. Damals wie 2007 ist das Bankensystem mit zu wenig Eigenkapital in die Krise geschlittert. Die in den Jahren vor 2007 entwickelten komplexen Techniken der Verbriefung von Krediten und des Kreditrisikotransfers, die den weltweiten Handel mit Hypothekenkrediten in großem Maßstab möglich machten, waren wesentlich dafür verantwortlich, dass sich die Krise rasch global ausweitete. Hedgefonds, Zweckgesellschaften und einige Banken, die diese von den Ratingagenturen mit Bestnoten ausgezeichneten, nun zum Teil uneinbringlich gewordenen verbrieften Kredite gekauft hatten, gerieten rasch zunächst in Illiquidität oder sogar in Insolvenz (z. B. Northern Rock, Bear Stearns). Mit der Dauer der Krise, die zu Beginn als ein auf 7
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das US-Bankensystem isolierbares Phänomen begriffen wurde, offenbarten sich nicht nur laufend neue, bislang unbeachtete Schwachstellen in der Finanzmarktregulierung, es zeigte sich auch die Fragilität des globalen Finanzsystems, die die Forderung nach einer umfassenden Regulierung verstärkte. Es folgte die Teilverstaatlichung von Banken – sowohl in den USA als auch in Europa. Die Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 löste schließlich eine Kettenreaktion aus, mit der nahezu das gesamte Kreditgeschäft zwischen den Banken (Zwischenbankmarkt) – das ohnehin bereits seit Mitte 2007 erheblichen Störungen unterlag – zum Erliegen kam. An den Börsen kam es 2008 zu noch größeren Einbrüchen als im Jahr zuvor. Im Verlauf des Jahres 2008 und schließlich 2009 führte die Finanzkrise über Finanzierungsbeschränkungen und den Einbruch des Welthandels weltweit zu einem massiven Rückgang der Wirtschaftsleistung, wie er in den Jahrzehnten zuvor nicht beobachtet worden war. Die hier kurz chronologisch dargestellten, höchst unterschiedlichen Verläufe und Übertragungsmechanismen der beiden Krisen sind keineswegs mit den tieferen Krisenursachen zu verwechseln, die merkbare Parallelen zeigen. Ein weitgehend unreguliertes oder zu wenig reguliertes Banken- und Finanzsystem, spekulative Exzesse unproduktiver Rentiers, steigende Ungleichheit der Einkommen und Vermögen8, steigende Verschuldung und der Aufbau makroökonomischer Ungleichgewichte spielten im Vorfeld beider Krisen eine gewisse Rolle, ebenso die Hegemonie wirtschaftsliberaler volkswirtschaftlicher Paradigmen, die staatlichen Eingriffen skeptisch gegenüber standen. 2.2. Wirtschaftspolitische Reaktionen Der in der Anfangsphase der Großen Rezession beobachtbare Gleichklang beim Einbruch der Industrieproduktion und der noch stärkere Rückgang des Außenhandelsvolumens und der Börsenkurse im 8
Michael Kumhof/Romain Rancière, Inequality, Leverage and Crisis, International Monetary Fund Working Paper 10/286, Washington 2010.
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Vergleich mit dem Verlauf dieser Daten in der Großen Depression nährte zunächst Befürchtungen, die Wirtschaft würde sich ähnlich dramatisch wie damals entwickeln.9 Ein Zusammenbruch des Weltfinanzsystems, der Kollaps von Banken, Versicherungen und anderen Finanzinstitutionen, mit unabsehbaren realwirtschaftlichen Folgen konnte letztlich nur durch eine historisch einzigartige, international koordinierte Vorgehensweise von Notenbanken ab dem Sommer 2007 und der Regierungen im Rahmen von Banken- und Konjunkturstabilisierungsmaßnahmen ab Herbst 2008 verhindert werden. Während die Große Depression in den meisten Ländern etwa drei Jahre lang dauerte, in deren Verlauf das Bruttoinlandsprodukt in den USA um 27 Prozent, in Deutschland um 16 Prozent und in Österreich um 20 Prozent einbrach und die Arbeitslosenquote 1932 auf 24 Prozent in den USA, 30 Prozent in Deutschland und 26 Prozent in Österreich anstieg, endete die Große Rezession nach ein bis zwei Jahren. Der Wirtschaftseinbruch war mit 2,9 Prozent in den USA, 5,4 Prozent in Deutschland und 3,4 Prozent in Österreich deutlich schwächer, ebenso der Anstieg der Arbeitslosigkeit.10 Auch ist es gelungen, die in den 1930er-Jahren ausgeprägte Deflation – so fiel das Preisniveau in Deutschland und den USA zwischen 1929 und 1932 um die 20 Prozent – zu verhindern. Trotz bereits in den Jahren 2010 und 2011 erfolgter rascher Rückkehr zu positivem, aber moderatem Wachstum in den Industrie- und aufstrebenden Volkswirtschaften dauern die Wirkungen der jüngsten Finanzkrise fort. Die Arbeitslosigkeit ist höher als vor der Krise und steigt in vielen Ländern an, Konjunktur- und Bankenrettungspakete sowie der starke Wirtschaftseinbruch hinterließen tiefe Spuren in den Staatshaushalten, die Reform des Banken- und Finanzsystems ist noch lange nicht abgeschlossen. Der Euroraum befindet sich seit 9
Barry Eichengreen/Kevin H. O’Rourke, A tale of two depressions. What do the new data tell us? VoxEU.org, March 8, 2010. 10 Karl Aiginger, The Great Recession versus the Great Depression: Stylized Facts on Siblings That Were Given Different Foster Parents, in: Economics: The Open-Access, Open-Assessment E-Journal, Vol. 4, 2010–18.
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Ende 2011 wieder in der Rezession und die Krise hat die Schwächen der wirtschaftspolitischen Koordinierungsarchitektur der Europäischen Währungsunion, an deren Beseitigung in mühevollen Schritten gearbeitet wird, offen zu Tage treten lassen. 2.2.1. Geldpolitik Dass die Geldpolitik den zentralen Beitrag dazu leistete, dass sich die Erfahrungen der Großen Depression nicht wiederholten, gilt heute als unbestritten.11 Sowohl die US-amerikanische Notenbank als auch die Europäische Zentralbank (EZB) setzten über Zinssenkungen traditionell konventionelle, aber auch nicht-konventionelle Maßnahmen der Geldpolitik.12 Letztere haben – in einer Situation, in der sich der Nominalzinssatz nahe Null bewegt und nicht weiter gesenkt werden kann – zum Ziel, dem Deflationsrisiko dennoch vorzubeugen und die Finanzierungsbedingungen in bestimmten Marktsegmenten zu verbessern. Im Unterschied zur konventionellen Geldpolitik, bei der Notenbanken den Banken temporär gegen Wertpapiere als Sicherheit Geld leihen, erwerben sie nun Wertpapiere (z. B. Staatsanleihen) auf direktem Weg13, um spezifische, etwa von Illiquidität betroffene Finanzmarktsegmente zu unterstützen. Während die US-amerikanische Notenbank Maßnahmen der Liquiditätsbereitstellung für das Bankensystem unmittelbar nach Krisenausbruch mit einer forcierten Zinssenkungsstrategie sowie mit dem Einsatz unkonventioneller Maßnahmen der Geldpolitik kombinierte, wählte die EZB zunächst eine andere Vorgehensweise. Sie reagierte 11
Christiane Baumeister/Luca Benati, Unconventional Monetary Policy and the Great Recession: Estimating the Impact of a Compression in the Yield Spread at the Zero Lower Bound, European Central Bank, Working Paper Series No 1258, October 11, 2010. 12 Helene Schuberth, Geldpolitik und Finanzkrise. Die Bedeutung nicht konventioneller geldpolitischer Maßnahmen, in: WSI Mitteilungen 09/2009, 489–496. 13 Ben Bernanke, The Crisis an the Policy Response, Stamp Lecture, London School of Economics, London, January 13, 2009.
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rasch und effektiv mit großzügiger Bereitstellung von Liquidität an das Bankensystem, um speziell der Anspannung am Geldmarkt (Interbankenmarkt) entgegenzuwirken. Ab Anfang Oktober 2008 entschloss sie sich dann auch, entsprechend dem schon zuvor eingesetzten globalen Zinssenkungszyklus den Refinanzierungszinssatz für den Euroraum rasch bis auf ein Prozent zu senken; im November 2013 senkte sie ihn schließlich auf 0,25 Prozent. Im Vergleich dazu hat die US-amerikanische Notenbank bereits in der zweiten Hälfte 2007 begonnen, die Leitzinsen zügig um insgesamt fünf Prozentpunkte auf das Niveau von 0,25 Prozent zu senken, auf dem sie seither verharren. Ab Anfang Mai 2009 beschloss der EZB-Rat, zusätzlich auch nicht-konventionelle Maßnahmen der Geldpolitik einzusetzen. Es wurde vereinbart, direkt besicherte Wertpapiere (= covered bonds) im Ausmaß von circa 60 Milliarden Euro zu erwerben, um einer drohenden Kreditverknappung entgegenzusteuern und insbesondere im Marktsegment der Immobilienfinanzierung expansiv zu wirken. Mit dem Ausbruch der sogenannten Staatsschuldenkrise in Europa wurde im Mai 2010 schließlich ein Aufkaufprogramm von Staatsanleihen und privaten Anleihen gestartet, um insbesondere dem Zinsanstieg von Staatsanleihen in einigen Krisenländen entgegenzuwirken und damit den Transmissionsmechanismus der Geldpolitik zu verbessern. Diesem Schritt folgte zwei Jahre später die Ankündigung der EZB, unter strengen Auflagen für die betroffen Staaten, am Sekundärmarkt unlimitiert Staatsanleihen zu kaufen. Insgesamt konnten die international akkordierten expansiven Maßnahmen von Notenbanken, die bis heute fortgesetzt und in manchen Ländern ausgebaut wurden, einen Zusammenbruch des Weltfinanzsystems verhindern und mit dazu beitragen, dass unmittelbar nach dem Krisenjahr 2009 die Volkswirtschaften wieder zu einem – allerdings moderaten – Wachstum zurückkehren konnten. Die seit 2007 gesetzten geldpolitischen Maßnahmen stehen konträr zu denen, die in den 1930er-Jahren getroffen wurden. Die restriktive Geldpolitik der US-amerikanischen Notenbank, die der Wirtschaft damals Liquidität entzog, hat wesentlich dazu beigetra-
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gen, dass die Rezession zur Depression wurde.14 Oberstes Ziel war zunächst, den Goldstandard, eine fixe Parität des Dollar zum Preis des Goldes, aufrecht zu erhalten. Die Länder, die sich in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg dieser internationalen monetären Ordnung unterwarfen, hatten damit die Wechselkurse de facto zueinander fixiert. Die zu Beginn der 1920er-Jahre von Hyperinflation und Bankenkrisen geplagten Staaten Zentraleuropas versprachen sich dadurch die Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit und Preisstabilität. Die Beibehaltung des geltenden Währungssystems war aber auch die Bedingung der Gläubiger (z. B. USA und Frankreich) für weitere Kredite an die europäischen Schuldnerländer, deren Rückzahlung sie, die Kreditgeber, durch eine mögliche Abwertung der Währungen der betroffenen Staaten gefährdet sahen. Das bedeutete letztlich, dass die nationalen wirtschaftspolitischen Handlungsspielräume in diesem quasi fixen Wechselkurssystem stark eingeschränkt waren. Als sich Anfang der 1930er-Jahre nach und nach die europäischen Staaten vom Goldstandard lösten, um den rezessionsbedingten Preisverfall entgegenzuwirken oder infolge spekulativer Attacken, wie gegen das Pfund Sterling, lösen mussten, erhöhte die US-amerikanische Notenbank im Oktober 1931 den Zinssatz, der bereits ab 1928 angehoben worden war, nochmals signifikant, um die Goldparität des Dollar aufrecht zu erhalten und letztlich den Goldabfluss zu stoppen. Gleichzeitig wurde der Wirtschaft Liquidität entzogen. Andere Länder folgten mit dieser monetären Restriktion und verschärften damit die Rezession weiter. Einseitige Abwertungen, allen voran Großbritanniens, verlagerten den Deflations- und Rezessionsdruck zu den nicht abwertenden Ländern: Die USA werteten ihre Währung erst 1933 ab und setzten unmittelbar danach expansive geldpolitische 14 Price V. Fishback, US Monetary and Fiscal Policy in the 1930s, in: Oxford Review of Economic Policy 26 (2010) 3, 385–413; Milton Friedman/ Anna J. Schwartz, A Monetary History of the United States, 1867-1960, Princeton 1963; Gauti B. Eggertsson/Michael Woodford, The Zero Bound on Interest Rates and Optimal Monetary Policy, in: Brookings Papers on Economic Activity 34 (2003) 1, 139–235.
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Schritte, die zusammen mit anderen Maßnahmen des New Deal einen beeindruckenden Aufschwung mit jährlichen Wachstumsraten von über acht Prozent einleitete. Dieser dauerte bis 1937 an15 und ermöglichte letztlich eine allmähliche Erholung der Weltwirtschaft. Frankreich folgte 1936 mit der Abkehr vom Goldstandard, ohne sich von der Rezession befreien zu können. Deutschland stellte 1931 die Goldkonvertibilität ein, wertete aber nicht ab, sondern erzielte Vorteile für den Export über den Weg von Prämien und Subventionen. Bis 1933 vertiefte sich die Depression mit zerstörerischen innenpolitischen Konsequenzen. Eine ähnliche Entwicklung nahm Österreich, das den Goldstandard erst im April 1933 suspendierte. Deutschland und Österreich führten 1931 im Zuge der Banken- und Währungskrise Kapitalverkehrskontrollen und Devisenbeschränkungen ein. Die restriktive Geldpolitik der Deutschen Reichsbank unmittelbar vor und während der Weltwirtschaftskrise ist Teil der Deflationspolitik von Reichskanzler Heinrich Brüning. Sie ergab sich unmittelbar aus den Erfordernissen des Goldstandards und internationaler Vereinbarungen im Zusammenhang mit Reparationszahlungen sowie Konditionen von Gläubigerstaaten. Die Befürchtung war, eine z. B. von John Maynard Keynes 1932 vorgeschlagene Abkehr Deutschlands vom Goldstandard könne angesichts des 1929 in Kraft getretenen YoungPlans, der die Modalitäten der Reparationszahlungen neu regelte, von den Gläubigern möglicherweise als Versuch einer einseitigen Änderung der Spielregeln aufgefasst und mit Kapitalflucht beantwortet werden.16 International abgesicherte Bestimmungen des Reichsbankgesetzes in Bezug auf Goldparität und das Verbot des Ankaufs von Staatspapieren durch die Reichsbank machten expansive geldpolitische Impulse im Rahmen der gültigen Rechtslage schwierig und die Notenbankfinanzierung von Beschäftigungsprogrammen unmöglich. Darüber hinaus 15 Christina D. Romer, What Ended the Great Depression?, in: Journal of Economic History 52 (1992) 4, 757–784. 16 William L. Patch, Jr/William L. Patch, Heinrich Brüning and the Dissolution of the Weimar Republic, Cambridge 2006.
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hatte die Währungs- und Bankenkrise 1931 die Zahlungsbilanzsituation Deutschlands dramatisch verschärft und trotz Devisenbewirtschaftung den Spielraum für eine expansive Geldpolitik über das im Goldstandard ohnehin eingeschränkte Maß hinaus eingeengt. Allerdings muss erwähnt werden, dass eine Abkehr vom Goldstandard und eine expansive Geldpolitik weder von den damals einflussreichen Ökonomen, noch von der deutschen Regierung in Erwägung gezogen wurden – selbst die zahlreichen Programme, die angesichts des drohenden Aufstiegs der NSDAP zur Ankurbelung der Wirtschaft vorgelegt wurden, waren bezüglich der Forderung nach einer Abwertung zögerlich. Zu sehr war auch die Mehrzahl der Proponenten von Konjunkturprogrammen von der Inflationsgefahr einer expansiven Geldpolitik und einer möglichen Wiederholung der traumatischen Erfahrungen der Hyperinflation der 1920er-Jahre überzeugt. Dies ist angesichts der Schulden-Deflations-Spirale und einer Produktionslücke, die auf annähernd 20 Prozent geschätzt wird, heute schwer nachvollziehbar.17 Auch Österreichs geldpolitischer Handlungsspielraum zur Krisenbekämpfung war gering. Es war die Pfadabhängigkeit von Fehlern und Versäumnissen der Vergangenheit, die dazu führte, dass Österreich einen guten Teil seiner wirtschaftspolitischen Souveränität schon früh an ausländische Gläubiger abgeben musste, zuerst im Zuge der Genfer Sanierung 1922 und später im Rahmen der Lausanner Anleihe 1932. Zu den Fehlern zählten beispielsweise, dass die Notenbankfinanzierung der Budgetdefizite unmittelbar nach Kriegsende fortgeführt wurde, was zur galoppierenden Inflation führte und zur Notwendigkeit einer Währungsstabilisierung mithilfe einer an strenge Konditionen geknüpften Anleihe einiger Völkerbundstaaten. Ein großes Versäumnis war, dass die strukturellen Probleme des auf die Monarchie ausgerichteten hypertrophen Bankensektors nicht durch dessen geordnete Redimensionierung gelöst wurden. Stattdessen schwächten zahlreiche Liquidationen und Bankzusam17 Klausinger, Alternativen.
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menbrüche, die 1931 in jenem der Creditanstalt ihren Kulminationspunkt fanden, die reale Wirtschaft und führten zur weiteren Flucht aus der Währung. Die Creditanstalt, die sich mit der Übernahme der Bodenkreditanstalt übernommen hatte, wurde zwar aufgrund ihrer systemischen Bedeutung unter Beteiligung der Bank of England aufgefangen. Dennoch griff die Krise auf Deutschland über, dessen Bankensystem ohnehin schon angeschlagen war, und weitere Schockwellen erfassten die Weltwirtschaft, sodass sich letztlich die Krise weiter vertiefte. Auf die Kapitalflucht, die viel zu spät durch Devisenkontrollen begrenzt wurde, reagierte die Notenbank mit einer Hochzinspolitik, die die Krise verschärfte. Auch in Österreich verhinderten das Trauma der Inflation der frühen 1920er-Jahre und die Orthodoxie der Wirtschaftswissenschaften eine Diskussion über eine Abkehr vom Goldstandard.18 Damals wie heute gab es Bemühungen zur internationalen Kooperation, wie zum Beispiel die Einberufung der „London World Economic Conference“ von 1933, um in dieser Situation währungs-, geld- und wirtschaftspolitische Alleingänge mit desaströsen Wirkungen zu verhindern und international koordinierte Maßnahmen zur Beendigung der Großen Depression zu ergreifen.19 Im Unterschied zu heute scheiterten diese Bemühungen an widerstreitenden nationalen Interessen, aber auch an ökonomischen Fehleinschätzungen über die Ursachen der Krise, die letztlich kontraproduktive Rezepte der Krisenbewältigung begründeten. 2.2.2. Fiskalpolitik und Bankenrettungspakete So blieben in der Großen Depression die Budgetdefizite weitgehend ausgeglichen. Mit Schützenhilfe der damals dominierenden Wirt18 Hans Kernbauer/Fritz Weber, Von der Inflation zur Depression. Österreichs Wirtschaft 1914–1938, in: Emmerich Tálos/Wolfgang Neugebauer (Hg.), „Austrofaschismus“. Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur 1934–1938 (= Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik, Bd. 18, hg. vom Verein kritische Sozialwissenschaften und politische Bildung), Wien 1984, 1–30. 19 Eichengreen/Temin, Fetters.
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schaftswissenschaften wurden in den europäischen Schuldnerländern die Forderungen nach Konjunkturprogrammen mit dem Hinweis auf die fehlenden Finanzierungsmöglichkeiten und die Notwendigkeit der internen Abwertung über Lohnsenkungen (z. B. Kündigung von Kollektivverträgen) und Sparmaßnahmen (Kürzung von Arbeitslosen- und Krankengeld, Pensionskürzungen) zur Erlangung der Wettbewerbsfähigkeit abgelehnt. Aus der zumindest in Deutschland und Österreich dominierenden, aber auch in den USA einflussreichen, auf der monetären Überinvestitionstheorie beruhenden Konjunkturerklärung, deren prominentester Vertreter August Friedrich von Hayek war, folgte die Ablehnung expansiver Maßnahmen in der Geld- und Fiskalpolitik, weil diese der notwendigen „Reinigungsfunktion“ jeder Krise entgegenstünden und die Funktionsfähigkeit freier Märkte beeinträchtigen würden. Die Krise wurde als Mittel gesehen, Lohnstarrheiten, Staatseingriffe in den Preismechanismus und den Arbeitsmarkt zu beseitigen. Auch Joseph Schumpeter forderte Lohn- und Preissenkungen, den Abbau des Sozialstaates und Budgetkürzungen20, eine Strategie, die wenig später als Heinrich Bünings Deflationspolitik bekannt wurde. Die Forderung nach einem ausgeglichenen Budget war Teil der Antikrisenmaßnahmen, die auch von den internationalen Gläubigerstaaten eingefordert wurden. Reichskanzler Brüning operierte bei der Umsetzung der krisenverschärfenden Spar- und Deflationspolitik 1930/32 mit Notverordnungen, deren von der Opposition geforderte Aufhebung im Reichstag keine Mehrheit fand. Auch in Österreich wurde vor der Ausschaltung des Nationalrates im März 1933 im Parlamentarismus ein Hindernis für notwendige Sanierungsmaßnahmen gesehen. Rost van Tonningen, Vertreter des Finanzkomitees des Völkerbundes in Österreich, notierte in seinem Tagebuch, er habe gemeinsam mit Bundekanzler Engelbert Dollfuss und dem Notenbankpräsidenten Viktor Kienböck „die Ausschaltung des Parlaments für notwendig gehalten, da 20 Joseph A. Schumpeter, Grenzen der Lohnpolitik, in: Der deutsche Volkswirt 3 (1929) 26, 847–851.
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dieses Parlament die Rekonstruktionsarbeit sabotierte“.21 Im Zuge der sich vertiefenden Wirtschafts- und Währungskrise und der Sanierung der Creditanstalt geriet der Staatshaushalt weiter unter Druck. Das Budgetsanierungsgesetz 1931 sah den Stopp der öffentlichen Investitionen, den Abbau von Beamtengehältern und Steuererhöhungen vor, die Auflagen der Lausanner Anleihe 1932 Steuererhöhungen sowie Einsparungen des Bundes und der ÖBB. 1933 waren schließlich 45 Prozent aller Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmer in der Industrie arbeitslos.22 Auch die USA strebten während der Weltwirtschaftskrise einen ausgeglichenen Haushalt an, allerdings wurden bereits vor der im Jahr 1933 beginnenden Amtszeit von Präsident Franklin D. Roosevelt die konjunkturbedingten Einnahmeausfälle nicht vorwiegend durch Ausgabensenkungen, sondern teilweise durch Steuererhöhungen kompensiert.23 Die ab 1933 eingeleiteten expansiven fiskalpolitischen Maßnahmen und Programme des New Deal waren – gemessen am dramatischen Einbruch der Einkommen – von der Größenordnung her nicht so bedeutend, hatten aber vermutlich, in Kombination mit der expansiven Geldpolitik, eine signifikante positive Wirkung auf die Beschäftigungssituation und die soziale Lage.24 Dass ab 1932 die Budgetdefizite gering gehalten werden konnten, hängt damit zusammen, dass die steigenden Staatsausgaben zum Teil mit höheren Steuern finanziert wurden. So wurde der Spitzensteuersatz in der ersten Amtszeit Roosevelts auf 63 Prozent und in der zweiten auf 79 Prozent angehoben. Der Spitzenerbschaftssteuersatz stieg von 20 auf 45, dann auf 60, später auf 70 und schließlich auf 77 Prozent.25 Dennoch stieg die Staatsschuldenquote in den zehn Jahren nach 1929 um fast 30 Prozentpunkte auf 44 Prozent des Bruttoin-
21 Karl Bachinger/Herbert Matis, Der österreichische Schilling. Geschichte einer Währung, Graz 1974, 149. 22 Kernbauer/Weber, Österreichs Wirtschaft. 23 Fishback, Fiscal Policy. 24 Romer, Great Depression. 25 Paul Krugman, The Conscience of a Liberal, Frankfurt/New York 2008.
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landprodukts.26 Ein ähnlich hoher Anstieg ist in den USA nach 2007 zu verzeichnen, allerdings bereits nach fünf Jahren. Auch unmittelbar vor der Großen Rezession 2009 war die Skepsis mancher Ökonominnen/Ökonomen gegenüber diskretionären fiskalischen Impulsen, deren Wirkungen zur Ankurbelung der Wirtschaft als begrenzt gesehen wurden, groß. Die Industrie- und Schwellenländer einigten sich aber angesichts der erwarteten Tiefe der Krise unmittelbar nach der Lehman-Pleite rasch auf Konjunkturprogramme, die in einzelnen Ländern ein quantitativ signifikantes Ausmaß annahmen. Allein zwischen 2008 und 2010 gaben die USA kumulativ 5,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Stimulierungsmaßnahmen (Steuersenkungen, Infrastruktur- und Beschäftigungsprogramme) aus, in Deutschland drei Prozent27, in Österreich an die zwei Prozent. Es ist auch den stark expansiven Maßnahmen einiger Schwellenländer (z. B. China) zu verdanken, dass die weltwirtschaftliche Erholung unerwartet rasch im Jahr 2010 erfolgte. Kritisiert wurde oft der geringe Anteil von Zukunftsinvestitionen, wie etwa in Bildung, Forschung und Klimaschutz in den US-amerikanischen und europäischen Konjunkturprogrammen. Die Maßnahmen waren zwar strukturkonservierend, schwächten aber effektiv die Kontraktion ab. Mit dazu beigetragen hat, dass sie mit wenigen Ausnahmen in sämtlichen OECD-Ländern im Rahmen einer international akkordierten Aktion getroffen wurden, wodurch sich die Fiskalmultiplikatoren im Vergleich zu einem nationalen Alleingang erhöhten.28 Zentral für die Stabilisierung des Finanzsektors waren und sind die staatlichen Garantien für die Ausgabe von Bankenanleihen und Rekapitalisierungen für den Bankensektor, auf die sich die Europäische Union in einer konzertierten Aktion im Herbst 2008 verständigte. Die USA legten das „Troubled Asset Relief Program“ auf, ähnliche Maß26 Fishback, Fiscal Policy. 27 OECD (Hg.), The Effectiveness and Scope of Fiscal Stimulus, in: OECD Economic Outlook, Chapter 3, 2010. 28 OECD, Effectiveness.
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nahmen hatten sie bereits Monate zuvor eingeleitet. Zwischen Oktober 2008 und Dezember 2011 stellten die Länder der Europäischen Union (EU) insgesamt 13 Prozent des Bruttoinlandprodukts dem Bankensektor zur Verfügung. Zwei Drittel davon entfielen auf Garantien, ein kleinerer Teil auf Maßnahmen zur Kapitalisierung von Banken.29 Auch während der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre kam es vereinzelt zu Stützungsaktionen, staatlichen Rekapitalisierungen und orchestrierten Fusionierungen von systemisch relevanten Banken, wie beispielsweise im Zuge der Bankenkrise 1931, als die Creditanstalt und große deutsche Banken vor dem Kollaps bewahrt wurden. Nach Jahren der Nichteinmischung wurden 1932 in den USA Maßnahmen zur Unterstützung von Banken eingeleitet, die unter Franklin D. Roosevelt ausgeweitet wurden. Diese Initiativen kamen entweder zu spät oder konnten, wie im Falle der Krise der Creditanstalt, globale Übertragungswirkungen nicht verhindern. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen sind die seit 2007 erfolgten Maßnahmen der Finanzmarkt- und Bankenstabilisierung als überaus erfolgreich zu bezeichnen. Die Kritik, Aktionäre würden geschont und die Allgemeinheit belastet, gab es damals wie heute. Die Bankenrettungsmaßnahmen, aber auch die Konjunkturpakete und vor allem die Wirkungen des starken Wirtschaftseinbruchs im Jahr 2009 über rückläufige Steuereinnahmen und automatische Erhöhungen der Staatsausgaben (automatische Stabilisatoren), ließen die Bruttoverschuldungsquoten stark ansteigen: Zwischen 2007 und 2011 erhöhte sich die Schuldenquote im Euroraum um 20 Prozentpunkte auf 87 Prozent, in Deutschland um 15 auf 80 Prozent, in Österreich um zehn Prozentpunkte auf 72 Prozent und in den USA um 35 Prozentpunkte auf 103 Prozent. Die notwendig gewordene Konsolidierung bremste den Aufschwung und manövrierte – neben vielen anderen Einflussfaktoren – manche europäische Länder wieder in rezessive Phasen, wobei die Arbeitslosenquoten im europäischen Süden 29 Europäische Kommission (Hg.), Bericht über staatliche Beihilfen der EUMitgliedstaaten, KOM (2012) 778.
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auf Niveaus der 1930er-Jahre stiegen. Auch der in den USA nach 1933 einsetzende Aufschwung war nicht von langer Dauer. 1937 schlitterten die USA in eine schwere Rezession. Es war die aus heutiger Sicht zu frühe Rücknahme der expansiven fiskal- und vor allem geldpolitischen Maßnahmen, die damals eine Abwärtsspirale auslöste.30 2.2.3. Finanzmarktregulierung Die im New Deal erfolgte rasche Stabilisierung und strenge Regulierung des Bankensystems, die über einige Jahrzehnte das Ausbrechen großer Finanzkrisen verhinderte und für die Banken selbst eine noch nie da gewesene Stabilität bedeutete, wird oft als Beispiel einer gelungenen Krisenbewältigung genannt. Mit dem Glass-Steagall Act 1933 wurde das Trennbankensystem eingeführt, welches das für die reale Wirtschaft wichtige Kredit- und Einlagengeschäft vom risikobehafteten Wertpapierhandel abtrennen sollte. Die Aufhebung des GlassSteagall Act im Jahr 1999, der bereits in den Jahren zuvor über die Einschaltung von Zweckgesellschaften umgangen wurde, war eine der Voraussetzungen für die der Krise 2008 vorausgehende Spekulationsblase. Mit der 1933 eingerichteten Federal Deposit Insurance Corporation wurde ein Einlagensicherungsfonds geschaffen, der das Vertrauen in das Bankensystem wiederherstellte. Schließlich wurde 1934 die Securities and Exchange Commission gegründet, welche die bis dahin unbeaufsichtigten Wertpapiergeschäfte kontrollieren sollte. Im Unterschied zur Bankenregulierung im New Deal war nach der Lehman-Pleite 2008 das Ziel einer umfassenden Regulierung ein international akkordiertes Anliegen. Im Herbst 2008 wurde auf Ebene der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G-20) ein Prozess initiiert, der ohne Zweifel die weitaus größte Reform der Finanzmarktregulierung seit Jahrzehnten darstellt.31 Allerdings konnte das 30 Charles W. Calomiris/Joseph Mason/David Wheelock, Did Doubling Reserve Requirements Cause the Recession of 1937–1938? A Microeconomic Approach, in: NBER Working Paper No 16688, January 2011. 31 Helene Schuberth, Finanzmarktregulierung in der EU – Fünf Jahre nach Lehman, in: Wirtschaft und Gesellschaft 1/2014.
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ursprünglich angepeilte Ziel der umfassenden, lückenlosen Regulierung sämtlicher Finanzinstrumente, sämtlicher Segmente des Finanzmarktes sowie sämtlicher Weltregionen nicht erfüllt werden. Dazu kommt, dass viele Reformen zunächst zu moderat angelegt waren und letztlich nachgebessert werden musste. So wurde, um ein Beispiel von vielen zu nennen, die Dringlichkeit der Schaffung eines harmonisierten, grenzüberschreitenden Bankeninsolvenzrechts erst im Krisenverlauf erkannt. Derzeit werden in der EU Rechtsakte vorbereitet, damit systemrelevante Banken geordnet abgewickelt werden können, ohne eine systemische Krise zu verursachen. Schließlich sollten damit auch die fiskalischen Kosten von Finanzkrisen gering gehalten werden, z. B. durch eine verpflichtende Beteiligung von Anleihegläubigern und Eigentümern von Banken an einer allfällig notwendigen Kapitalisierung einer Bank im Rahmen von „Bail-In“-Instrumenten. Die geordnete Bankenabwicklung stellt dabei ein Element der geplanten Europäischen Bankenunion dar, die die wichtigsten Banken zentral beaufsichtigen wird. Wären ähnliche Instrumente der Bankenabwicklung Teil des im Herbst 2008 gespannten Schutzschirms mit den Bankenrettungspaketen gewesen, so wäre letztlich der Anstieg der Staatsschulden moderater ausgefallen. Eine Parallele zu den Maßnahmen des New Deal stellen die geplanten Eingriffe in die Marktstruktur dar. Der 2010 verabschiedete Dodd-Frank Act, das Herzstück der Regulierungsreform der USA, sieht unter anderem mit der Beschränkung des Wertpapierhandels eine Rückkehr zu den Intentionen des Glass-Steagall Act vor, allerdings in abgeschwächter Form. Ein moderates Modell der Idee des Trennbankensystems wird derzeit in der EU diskutiert32, wonach rechtlich, wirtschaftlich und betrieblich voneinander getrennte Tochterbanken in einer Holdingkonstruktion zusammengefasst werden. Erleidet ein auf den Wertpapierhandel spezialisiertes Tochterunter32 Europäische Kommission (Hg.), „Liikanen Report“. The Final Report of The High-Level Expert Group on Reforming the Structure of the EU Banking Sector, October 2, 2012.
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nehmen Verluste, sollen diese nicht auf die anderen Geschäftsfelder der Bank übergreifen können. Wenngleich eine abschließende Bewertung der Regulierungsreform nicht möglich ist, da diese noch nicht zu Ende geführt ist, so stellt allein der Umstand, dass sie international koordiniert und – zumindest was die Intentionen der Reform betrifft – relativ uniform implementiert wird, eine beachtliche Leistung internationaler Politikkoordination dar. 3. Europäische Währungsunion und Goldstandard im Vergleich Die Auflösung des Goldstandards ab 1931 machte den Weg frei für expansive Maßnahmen und zuvor abgelehnte Alternativen. Die damit wieder gewonnene Souveränität in der Wirtschaftspolitik wurde höchst unterschiedlich genutzt: Aufbau des Sozialstaats im Rahmen des New Deal einerseits und Zerstörung der Demokratie und Errichtung faschistischer Regime andererseits, wobei der Boden dafür durch die deflationäre Wirtschaftspolitik im Goldstandardsystem aufbereitet worden war. Auch mit dem Verweis auf das strenge Korsett des Goldstandard der 1920er-Jahre, dessen Funktionsmechanismen als eine der Ursachen der Großen Depression gesehen werden33, wird heute der Euroaustritt der europäischen Krisenstaaten als Option diskutiert. Solange die Peripheriestaaten in der Währungsunion verbleiben, so die Argumentation, verlieren sie weiter an Wettbewerbsfähigkeit. Die von der Troika34 verordnete „interne Abwertung“ über Einkommenssenkungen und Kürzungen der Staatsausgaben seien mit der von internationalen Gläubigern in der Zwischenkriegszeit oktroyierten Deflationspolitik Deutschlands und Österreichs vergleichbar. Erst die Abkehr vom Goldstand habe eine Erholung ermöglicht. 33 Barry Eichengreen, Golden Fetters: The Gold Standard and the Great Depression, 1919–1939, New York 1992. 34 Gremium aus Vertreterinnen/Vertretern der EZB, des Internationalen Währungsfonds und der EU-Kommission, das die Verhandlungen über Staatshaushalte von in Finanznot geratenen Mitgliedstaaten der EuroGruppe führt.
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Tatsächlich gibt es einige Parallelen zwischen der Rolle der europäischen Krisenstaaten heute und jener Deutschlands und Österreich damals.35 Beide Staaten waren im Ausland verschuldet und dann, nach dem Börsenkrach 1929, mit einer plötzlichen Umkehr der Kapitalströme konfrontiert. Auch die Kapitalzuflüsse in die europäischen Krisenstaaten, die ab dem Beginn der Währungsunion einen kreditfinanzierten Boom ausgelöst hatten, kehrten sich ab 2010 um. Die Folge war eine Abwärtsspirale von Kapitalflucht, steigenden Zinsen und Staatsschulden, Rezession und Problemen des Bankensektors, die einerseits mit dem Wirtschaftseinbruch zusammenhingen, andererseits waren die Banken auch durch den Kapitalabfluss geschwächt. Ähnliche Probleme stellten sich auch für die Schuldnerstaaten in der Zwischenkriegszeit. Die Europäische Union setzte seit 2010 eine Reihe von Maßnahmen, um die Abwärtsspirale, in denen die Länder gefangen waren, zu durchbrechen. Dazu zählen die sukzessiv aufgebauten Schutzschirme, die die Krisenstaaten mit Krediten unterstützen: zunächst die bilaterale Kredite, später die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) und schließlich der ab 2012 dauerhaft eingerichtete Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM). Allein mit der Ankündigung der EZB im Sommer 2012, Staatsanleihen in unlimitierter Höhe unter strenger Konditionalität am Sekundärmarkt zu kaufen, ist es gelungen, die Zinsen auf Staatsanleihen der Krisenländer signifikant zu senken. Im Rahmen der geplanten Errichtung der Europäischen Bankenunion, die eine zentrale Beaufsichtigung der wichtigsten Kreditinstitute durch die EZB vorsieht und einen Meilenstein in der Antikrisenpolitik darstellt, sollen Banken rekapitalisiert und im Endausbau geordnet abgewickelt werden können. Als 1931 eine deutsche Großbank im Sog der Krise der Creditanstalt in Liquiditätsschwierigkeiten geriet und ein Run auf die Banken einsetzte, war es für die Deutsche Reichsbank nicht möglich, bei den Partnerzentralbanken eine über die erste Tranche hinausgehende weitere Liquiditätsunterstützung zu erhalten. Die Argumente, die 35 Ritschl, War 2008 das neue 1929?
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gegen den Kredit ins Treffen geführt wurden, ähnelten denen, die auch heute im Zusammenhang mit den Schutzschirmen zu hören sind: Dies sei zu riskant, inflationär, Deutschland habe über seine Verhältnisse gelebt und solle seine Hausaufgaben machen.36 Die Ereignisse nahmen ihren Lauf und der Bank Run war einer der vielen Bausteine, der die Rezession in eine Depression verwandelte. Eine Triebkraft der Abwärtsspirale war damals auch die restriktive Geldpolitik. Die fehlende bzw. stark eingeschränkte geldpolitische Autonomie der Staaten im Goldstandardsystem ist eine weitere Parallele zur Währungsunion. Während der Weltwirtschaftskrise 1929/32 war aber nicht der Goldstandard das eigentliche Problem, sondern der Umstand, dass die Notenbanken nicht kooperierten, um die Krise gemeinsam zu bekämpfen. Schließlich verfolgten die USA als größter Nettokapitalexporteur und Leitwährungsland ab 1928 eine restriktive Geldpolitik, die anderen Staaten mussten nachziehen, um Kapitalflucht zu verhindern.37 Im Unterschied dazu setzte die EZB im Rahmen ihres Mandats sehr weitreichende, über Zinssenkungen hinausgehende, expansive Maßnahmen, die letztlich auch den Krisenstaaten zugute kommen. Die Deflationspolitik Heinrich Brünings wurde damals weitgehend als alternativlos gesehen. Auch heute wird von der Alternativlosigkeit der Austeritätspolitik in den Schuldnerstaaten gesprochen solange die Länder in der Währungsunion verbleiben. Die Anpassungsprogramme der Troika ziehen zweifelsohne rezessive Wirkungen nach sich und erschweren damit die Senkung der Staatsschuldenziele. Es sind eine Reihe von weniger schmerzhaften Strategien zum Abbau der Leistungsbilanzdefizite und sonstiger Ungleichgewichte denkbar, die mit der Dauer der Krise und dem dramatischen Anstieg 36 Adalbert Winkler, 1931 darf sich nicht wiederholen, in: Financial Times Deutschland, 08.08.2012. 37 Michael D. Bordo/Ehsan U. Choudhri/Anna J. Schwartz, Was Expansionary Monetary Policy Feasible During the Great Contraction? An Examination of the Gold Standard Constraint, in: NBER Working Paper No. 7125, May 1999.
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der Arbeitslosigkeit im europäischen Süden verstärkt ins Blickfeld geraten. Ein Weg, die Anpassung zu erleichtern, wäre, diese symmetrischer zu gestalten, indem die Kernwährungsländer über expansive Impulse die Rolle eines Konjunkturmotors im Euroraum einnehmen oder aber die Errichtung von Elementen einer Fiskalunion. Diese Strategien bedürften allerdings einer weiteren Verbesserung der Koordinierung und letztlich einer politischen Vertiefung der Währungsunion. Schließlich ist es nicht die gemeinsame Währung, die für die Probleme im Euroraum verantwortlich ist, sondern der Umstand, dass sie geschaffen wurde, ohne die lohn-, fiskal- und sozialpolitische Koordinierung entscheidend zu vertiefen und das Banken- und Finanzsystem zentral und streng zu beaufsichtigen. Wäre die 2012 verabschiedete Bankenunion, in Verbindung mit einem europaweiten Insolvenzrecht für Banken, schon viel früher eingerichtet worden, wie dies in den ursprünglichen Konzepten für den Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion vorgesehen war38, so wären die Triebkräfte der Abwärtsspirale in den Krisenländern nie so stark wirksam geworden. Möglicherweise wäre die Krise in dieser Schärfe gar nicht ausgebrochen. 4. Resümee Es ist vor allem einer historisch einzigartigen internationalen Kooperationsbereitschaft, der Absage an nationalstaatliche Egoismen, zu verdanken, dass letztendlich die negativen Wirkungen der Krise seit 2007 begrenzt werden konnten – Voraussetzungen, die in der Zwischenkriegszeit angesichts zerrütteter internationaler Finanzbeziehungen nicht gegeben waren. Dass heute die erzielten Fortschritte bei der Weiterentwicklung der europäischen Institutionen und Koordinierungsmechanismen manchmal nur in mühevoller Kleinarbeit erzielt werden können, ver38 Harold James, Making the European Monetary Union, Cambridge Mass. 2012.
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stellt den Blick darauf, in welch beeindruckender Weise auch bei der Krisenbewältigung im Euroraum bislang der Gedanke des Zusammenhalts und durchaus auch die Macht des ökonomisch Faktischen gegenüber den Fliehkräften von Renationalisierung, Abschottung und Kleinstaaterei obsiegten. Auch die Wirtschaftswissenschaften leisteten, anders als vor und während der Großen Depression, einen positiven Beitrag. Artikel und Bücher über ökonomische Theorien, die aus der Erfahrung der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre heraus entwickelt wurden und in den Bibliotheken verstaubten, verloren rasch das Stigma der Unwissenschaftlichkeit, mit dem sie in den Jahrzehnten zuvor versehen worden waren. Aus den Fehlern, die vor und während der Großen Depression gemacht wurden, hat man gelernt. Trifft dies aber auch auf Erfahrungen positiver Krisenbewältigung zu? In den USA wurde mit dem New Deal die Depression nicht nur mit öffentlichen Infrastrukturinvestitionen und einer expansiven Geldpolitik bekämpft, es wurden auch substantielle und anhaltende soziale Veränderungen eingeleitet, die zu einer breiten Aufbruchsstimmung geführt und mitreißenden Optimismus auslösten. Zudem kam es zunächst zu keinem dramatischen Anstieg der Staatsschuldenquoten, auch weil das Steuersystem progressiver gestaltet worden war. Im Unterschied zu Kontinentaleuropa ging die Demokratie gestärkt aus der Großen Depression her. Die zahlreichen Maßnahmen zeichneten sich dadurch aus, dass mehrere Dimensionen der Krise verknüpft und die Stärkung der Wirtschaft mit der Durchsetzung sozialer Reformen sowie der strikten Regulierung des Finanzsystems, das über Jahrzehnte Stabilität gewährleistete, verbunden wurde. Langfristig erfolgreich wird Krisenbewältigung sicherlich nur dann sein, wenn parallel zu den kurzfristigen Stabilisierungsmaßnahmen, inklusive der Liquiditätsunterstützung durch Notenbanken, das Banken- und Finanzsystem strikt und effektiv reguliert wird. Hier bleibt noch einiges zu tun.
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Der europäische Kontext: Von der Krise der Zwischenkriegszeit zur Verfassungsregelung nach dem Krieg und darüber hinaus
Die politischen Umwälzungen der Zwischenkriegszeit sind untrennbar mit den Folgen des Krieges und der wirtschaftlichen sowie sozialen Krise verbunden. Die Opfer, die im Ersten Weltkrieg erbracht wurden, wären nach Alan Milward gar nicht möglich gewesen „ohne die Ausweitung der Verpflichtungen des Staates gegenüber [seinen BürgerInnen] und ohne die dadurch hervorgerufenen Veränderungen des politischen Systems“. Da nur „wenige europäische Staaten in der Lage waren […] eine neue Form des Regierens zu entwickeln, die diesen massiv ausgeweiteten Verpflichtungen tatsächlich entsprach“2, führte dies zu der politischen Instabilität, von der die Zwischenkriegszeit gekennzeichnet war. „Neue Form des Regierens“ Welche Rolle den Volksvertretungen, und insbesondere den Parlamenten, nach dieser „neuen Form des Regierens“ zukommen würde, war die zentrale verfassungsrechtliche Frage der Zwischenkriegszeit. Viele Beobachter erkannten, dass eine Machtverschiebung von den Parlamenten hin zur staatlichen Exekutive notwendig sein würde. 1
2
Dieser Beitrag stützt sich insbesondere auf Lindseth (2010), 2. Kapitel, und Lindseth (2004). Für die umfassende Recherchearbeit zu den deutschen Originalquellen geht mein Dank an Dr. Christoph Konrath. Die Übersetzung meines Beitrags ins Deutsche übernahm Mag.a Petra Rösler mit Unterstützung von MMag.a Angelina Reif. Milward (2000 [1992]), 4.
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Die Ironie bestand freilich darin, „dass mit der Pariser Friedensregelung [unter anderem] die parlamentarische Demokratie in weiten Teilen Europas etabliert wurde“, und zwar errichtet auf „einem überwiegenden Misstrauen gegenüber der Exekutive“, die als das Bollwerk jener autokratischen Regime galt, die soeben zusammengebrochen waren.3 Dennoch sahen sich, wie Carl Schmitt später bemerkte, „fast alle Staaten“ mehr und mehr dazu gezwungen, „politische, wirtschaftliche und finanzielle Anforderungen und Maßnahmen in ‚vereinfachten Verfahren‘ zu treffen“, um eine „schnelle Anpassung an die besonderen Schwierigkeiten der wechselnden Lage“4 zu ermöglichen. Die Verschiebung umfangreicher gesetzgeberischer Kompetenzen hin zur Exekutive war nach Schmitts Einschätzung das Hauptinstrument dieser „Vereinfachung“5. Stärkung der Exekutivgewalt mittels Ermächtigung („Delegation“) Die ständig zunehmende Konzentration von gesetzgebenden und richterlichen Befugnissen bei der Exekutive war aber gemäß Schmitt nicht nur in der Weimarer Republik zu beobachten, sondern auch bei den Siegermächten wie Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Tatsächlich diente die im ersten Weltkrieg verabschiedete Notstandsgesetzgebung als verfassungsrechtliche Vorlage. In Anlehnung an diese Vorlage wurden mit jedem nachfolgenden Ermächtigungsgesetz (enabling act, loi d’habilitation) der Exekutive in mehr oder weniger großem Umfang die nötigen Befugnisse zur Bekämpfung der aktuell wahrgenommenen Krise (Inflation, Währungsstabilisierung, Wirtschaftskrise) übertragen. In Deutschland 3 4 5
Mazower (2000 [1998]), 4, 8. Schmitt (1936), 252. Schmitt (1936), 252. Siehe auch Mazower (2000 [1998]), 20. Er beschreibt dort „Verfassungsänderungen zur Stärkung der Exekutive“ mithilfe zulässiger Delegationen in Polen 1926, Österreich 1929, Spanien 1931, Estland 1933 und 1937 und Litauen 1935.
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wurde dieser Prozess zudem durch den Rückgriff auf das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung verstärkt. Obwohl Art. 48 ursprünglich nur für die Übertragung von Befugnissen an den Reichspräsidenten im Fall von inneren Unruhen gedacht war, entwickelte sich daraus ein Vorwand für die Exekutive, weitreichende gesetzgebende Gewalt auszuüben.6 Bereits in den 1920er Jahren begann ein kleiner Kreis deutscher Verfassungsrechtler, insbesondere Heinrich Triepel und Fritz Poetzsch, sowohl den außergewöhnlichen Umfang als auch die materiell-rechtliche Unbestimmtheit dieser normativen Kompetenzübertragung an die Exekutive zu kritisieren – lange vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933.7 Allerdings fand diese kritische Sicht der Praxis umfassender Übertragung gesetzgeberischer Kompetenzen nur wenig Widerhall. Vielmehr sah man in der Ermächtigung bzw. der Kompetenzübertragung („Delegation“) einen Grundpfeiler des Regierens im modernen Verwaltungsstaat.8 Dennoch gelang es der Weimarer Republik trotz dieser Machtverschiebung nicht, ausreichend politische Stabilität zu erzielen. Es ist daher wenig überraschend, dass den Notverordnungsrechten des Reichspräsidenten nach Art. 48 im Laufe der 1920er-Jahre eine immer größere Bedeutung zukam.9 Anfang der 1930er-Jahre wurde Art. 48 der Reichsverfassung (durch maßgebliche 6 7
Lindseth (2004), 1360. Siehe z. B. Poetzsch (1921). In den Berichten von Triepel und Poetzsch am Deutschen Juristentag 1922 stand die Frage der Tagesordnung im Mittelpunkt: „Empfiehlt es sich, in die Reichsverfassung neue Vorschriften über die Grenzen zwischen Gesetz und Rechtsverordnung aufzunehmen?“ Siehe Triepel (1922) und Poetzsch (1922). Siehe auch Mößle (1990), 25, der die Beiträge von Triepel und Poetzsch behandelt. 8 Im Einzelnen siehe Lindseth (2004), 1361-81 zu den Entwicklungen in Deutschland und Frankreich, sowie Lindseth (2005), 663–76 zu Großbritannien. 9 Siehe dazu etwa die Steuerverordnung des Reichspräsidenten vom 07.12.1993 (RGBl. I S. 1177). Dazu auch Scheuner (1967), 257–66. Eine Auflistung der Notverordnungen des Reichspräsidenten in der frühen Weimarer Republik bei Poetzsch (1925), 141–47.
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Unterstützung von Carl Schmitts Theorien) zur angeblichen verfassungsrechtlichen Grundlage für außerparlamentarische und schließlich für reine antiparlamentarische Präsidialkabinette in Deutschland. Die Regierung Brüning (1930–32) war aufgrund der politischen Umstände – sie hatte im Reichstag keine kohärente Mehrheit – dazu gezwungen, mit Notverordnungen nach Art. 48 zu regieren. Aber anders als die unmittelbar nachfolgenden diktatorischen Regierungen (unter von Papen, von Schleicher und dann katastrophalerweise unter Hitler) achtete das „semiparlamentarische“ Kabinett Brüning sorgfältig darauf, seine Verordnungen dem Reichstag zur, von der Verfassung geforderten, nachträglichen Kontrolle vorzulegen. Daher konnte Brüning sich darauf berufen, zumindest über die „Tolerierung“, ja sogar über die stillschweigende Unterstützung einer negativen parlamentarischen Mehrheit zu verfügen. Diese Mehrheit schloss auch die Sozialdemokraten ein, die es wiederholt ablehnten, die vorgelegten Verordnungen aufzuheben.10 In späteren Jahren behauptete Brüning, „dass sein Rückgriff auf die Regierung durch Notverordnung die parlamentarische Kontrolle nicht etwa aufgehoben, sondern lediglich deren Form verändert habe“.11 Diese Auffassung ist weniger weit hergeholt, als es zunächst den Anschein hat. Denn diese Vorgehensweise gleicht Ansätzen, die damals zeitgleich auch in anderen Ländern erprobt wurden,12 und nimmt Formen der nachträglichen parlamentarischen Kontrolle vorweg, die sich nach 1945 in ganz Westeuropa entwickelt haben (etwa parlamentarische Veto-Rechte oder das parlamentarische Übersichts- oder Kontrollverfahren zu Verordnungen)13. 10 Siehe Patch (1998), 72–117. 11 Patch (1998), 115. 12 In Frankreich etwa wurde mit Art. 1 des Gesetzes vom 3. August 1926 (Journal Officiel de la République Française [J.O.], Lois et Décrets, 4. August 1926, 8786, der Regierung bis zum Jahresende das Recht übertragen, Verordnungen betreffend die Verwaltungsreform zur Stützung der Staatsfinanzen zu erlassen. Diese Verordnungen waren drei Monate nach Erlass dem Parlament vorzulegen. 13 Siehe Lindseth (2010), 80-81.
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Man mag Brüning vorhalten, dass er von der Praxis des „normalen“ Parlamentarismus abgewichen ist,14 aber diese Kritik übersieht, dass der „normale“ Parlamentarismus im gesamten Zwischenkriegseuropa schwersten Belastungen ausgesetzt war. Angesichts dieser Umstände ist selbst eine eindeutige Aussage darüber, was damals als „normaler“ Parlamentarismus gelten konnte, problematisch. Léon Blum und Gordon Hewart – zwei kritische Stimmen In der verfassungsrechtlichen Debatte der Zwischenkriegszeit wurde gegen eine Verschiebung der Machtbalance hin zur Regierung unter anderem das Argument vorgebracht, dass diese dem traditionellen, auf John Locke zurückgehenden Begriff von parlamentarischer Demokratie widerspreche15. Der französische Sozialist Léon Blum vertrat 1926 die Auffassung, dass die aufkommende Praxis von „Vollmachten“ (pleins pouvoirs) und „Rechtsverordnungen“ (décrets-lois) „nicht nur gegen die Verfassung verstößt, sondern auch gegen die nationale Souveränität, deren Vertreter, aber nicht deren Herren Sie [die Abgeordneten] sind und deren Rechte sich nicht auf andere übertragen lassen, sondern nur durch Sie selbst ausgeübt werden können.“16 Unter dem provozierenden Titel „The New Despotism“ erschien 1929 ein weithin beachtetes Buch von Lord Gordon Hewart, damals Lord Chief Justice von England und Wales. Aus einer Position am entgegengesetzten Ende des politischen Spektrums stammend, argumentierte er, dass die Übertragung von Kompetenzen zur Gesetzgebung und Rechtsprechung an die Exekutive in einem modernen Verwaltungsstaats die „beiden wichtigsten Elemente“ der britischen Verfassung bedrohe: „die Souveränität des Parlaments und die Rechtsstaatlichkeit (Rule of Law)“.17 14 15 16 17
Siehe etwa Gusy (1994), 274. Siehe Lindseth (2010), 20. J.O, Chambre des députés, débats, 07.07.1926, 2773. Hewart of Bury (1929), 17.
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Allerdings relativierten sowohl Blum als auch Hewart angesichts der funktionalen Realitäten schließlich ihren Standpunkt. Blum selbst forderte für seine Volksfrontregierung im Juni 1937 und im April 1938 Notverordnungsrechte. In der Debatte darüber räumte er 1937 ein, dass sich die Verfassungspraxis weiterentwickelt habe: „Die Frage nach pleins pouvoirs ist eigentlich eine Verfassungsfrage. Aber sie ist, wie Sie alle sehr genau wissen, vor allem eine Frage des Vertrauens“ in die Exekutive.18 Hewarts Position hingegen wurde angeblich abgeklärter, nachdem das Committee on Ministers‘ Powers 1932 einen Bericht zu dieser Frage veröffentlicht hatte.19 Dieser Ausschuss war 1929 als direkte Reaktion auf Hewarts Kritik eingesetzt worden und war einer der renommierteren in der geschichtlichen Entwicklung des englischen Verwaltungsrechts. Durchsetzung des Funktionalismus In seinem Bericht kam das Committee on Ministers’ Powers zu der umfassenden Schlussfolgerung, „dass das System delegierter Gesetzgebung sowohl legitim als auch aufgrund bestimmter Sachzwänge verfassungsrechtlich wünschenswert“ sei. Zur Begründung führte der Ausschuss an: den Zeitdruck, unter dem das Parlament steht, fachliche Fragen der zu regelnden Angelegenheiten, den Bedarf nach Flexibilität angesichts unvorhergesehener Notfälle und nicht zuletzt die Notwendigkeit, Erfahrungen mit neuen Verfahren der Rechtsetzung zu sammeln.20 Der Ausschuss wies daher die Pauschalkritik in „The New Despotism“ zurück und stellte sich auf den Standpunkt, dass diese Kritik die Argumente, die für die delegierte Gesetzgebung sprachen, keinesfalls entkräfte. Vielmehr mache sie lediglich deutlich, „dass diese Praxis Gefahren in sich birgt, dass sie missbrauchs18 J.O., Chambre des députés, débats, 15.06.1937, 1979. 19 Committee on Ministers’ Powers (1932). Ich danke David Dyzenhaus für den Hinweis auf die geänderte Haltung Hewarts nach der Veröffentlichung des Berichts. 20 Committee on Minsters’‘ Powers (1932), 51–52.
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anfällig ist und dass daher Sicherheitsvorkehrungen erforderlich sind“.21 Ermächtigungen im Bereich Gesetzgebung und Rechtsprechung könnten, so der Ausschuss, auch in Zukunft rechtlich und politisch legitimiert werden. Das sei aber nur dann möglich, wenn eine direkte Kontrolle der Verwaltung durch den Gesetzgeber, Ministerverantwortung und die korporative Mitwirkung an behördlicher Beschlussfassung zusammenkämen und das Regierungs- und Verwaltungshandeln, soweit es auf delegierten Kompetenzen basiert, der Nachprüfung durch Gerichte unterliege. Angesichts des zunehmenden Unbehagens im Parlament über angebliche Exzesse von „Bürokratie“ 22 umfasste der Ausschuss Vertreter aller Parlamentsparteien um dem Bericht Glaubwürdigkeit zu verleihen. Unter den Ausschussmitgliedern befand sich Harold Laski, Professor für Politikwissenschaft an der London School of Economics und damals einer der führenden Vertreter einer „funktionalistischen“ Sicht des entstehenden Verwaltungsstaates. Der Funktionalismus entwickelte sich in der Zwischenkriegszeit, insbesondere im englischsprachigen Raum, zur „idée-force“ einer Gruppe von Wissenschaftern.23 Für diese war die Verteilung der Macht im modernen Staat angesichts funktionaler Anforderungen „weder eine Frage des Rechts noch der formalen Logik, sondern eine Frage der Zweckmäßigkeit“.24 Zu diesen Vordenkern zählten Briten wie Laski, Ivor Jennings und William Robson und Amerikaner wie James Landis und Felix Frankfurter, was diese Gruppe zu einer transatlantischen Forschungsbewegung machte. Ihr funktionalistischer Ansatz war zutiefst pragmatisch geprägt und basierte auf der Prämisse, dass überkommene verfassungsrechtliche Kategorien, wie etwa die „Gewaltenteilung“, neu definiert werden müssten, wenn sie weiterhin den gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprechen sollten. Der Einfluss dieses funktionalistischen Denkens 21 22 23 24
Committee on Minsters’ Powers (1932), 54. Beispiele dafür etwa in Willis (1933), 39. Siehe Willis (1935), 75. Umfassender dazu Loughlin (2005).
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zeigte sich auch im Bericht des Committee on Ministers’ Powers selbst, der feststellte: „Tatsache ist: Wenn das Parlament nicht bereit wäre, Gesetzgebungskompetenzen zu delegieren, dann könnte es die Anzahl und Arten der Regelungen überhaupt nicht mehr bewältigen, die sich die Öffentlichkeit heute erwartet“.25 Ähnlichem Druck sahen sich alle Parlamente der Zwischenkriegszeit ausgesetzt. Vor allem wurde intensiv versucht, die Zahl der „Vetospieler“ (um es modern auszudrücken),26 zu begrenzen, weil damit das Formulieren einer wirksamen Politik überhaupt untergraben worden wäre. In Frankreich vertrat der Konservative Raymond Poincaré 1924 in einer der zahlreichen Finanzkrisen nach dem Ersten Weltkrieg die Auffassung, dass Delegation nötig sei, um jene Interessengruppen auszuhebeln, die sonst unvermeidlich die Entscheidungsfindung des Parlaments blockieren würden: „Sprechen wir es doch offen aus – jede Vereinfachung der Gesetzgebung wäre für gewisse Interessengruppen eine Bedrohung“.27 Diese Gruppierungen wurden umgehend aktiv, wenn es darum ging, für sie nachteilige Maßnahmen im Parlament zu unterbinden. Wenn also die Krise nur dadurch zu lösen sei, „dass wir eine groß angelegte Gesetzgebungsdebatte führen, dann werden wir keinen Erfolg haben. Ich will aber Erfolg haben“.28 Daher seine Forderung nach Delegation. Nur wenig mehr als ein Jahrzehnt später strich der Amerikaner James Landis, ein überzeugter „New Dealer“ und späterer Dekan der Harvard Law School, einen anderen Aspekt funktionalistischen Denkens heraus: den pragmatischen Impuls zur Problemlösung. „Eine Regierung nach dem einfachen Schema der dreigliedrigen Gewaltenteilung wird den Aufgaben unserer Zeit nicht mehr gerecht“,29 begründete Landis in einer bekannten Formulierung die Notwendigkeit, die Struktur des Regierens neu zu bestellen. 25 26 27 28 29
Committee on Ministers’ Powers (1932), 33. Siehe Tsebelis (2002). J.O., Chambre des députés, débats, 06.02.1924, 511. J.O., Chambre des députés, débats, 26.01.1924, 287. Landis (1938), 1.
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Landis war der Ansicht, dass bei allen funktionalen Veränderungen „jene Elemente der Verantwortung und Bedingungen des Gleichgewichts erhalten werden müssen, die die angloamerikanische Regierungsform auszeichnen“.30 Aber nicht alle, die nach einer funktionalen Neuordnung des Staates riefen, teilten diese Auffassung. Ganz im Gegenteil: Der portugiesische Diktator Antonio Salazar, vormals Professor für Wirtschaftswissenschaften, beschrieb die Welt 1934 als „ein großes Forschungslabor“, in dem „die politischen Systeme des 19. Jahrhunderts“ weitgehend zusammenbrachen. Auslöser dafür war die Notwendigkeit, „die Institutionen an die Anforderungen der neuen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen“ anzupassen.31 Salazar war angesichts dieses funktionalen Drucks davon überzeugt: „[...] wenn es nicht zu irgendeiner Rückwärtsbewegung in der politischen Entwicklung kommt, wird es in 20 Jahren in Europa keine gesetzgebenden Versammlungen mehr geben“32. Aber selbst in den diktatorischen Regimen, die in den 1920er und 1930er-Jahren entstanden – faschistisch in Italien, autoritär in Österreich oder Portugal und nationalsozialistisch in Deutschland – kämpften gesetzgebende Versammlungen ums Überleben, wenn nicht um Macht. Aber unter den Bedingungen der Diktatur existierten sie lediglich als leere Hüllen weiter, ohne irgendeine reale Aufgabe und gewiss nicht als Instrument der Legitimation (diese Funktion war letztlich dem nationalen Führer übertragen worden). Überall, wo sich in der Zwischenkriegszeit Diktaturen etabliert hatten, bestanden gesetzgebende Versammlungen somit nur als Staffage weiter, oder, um es in den Worten eines zeitgenössischen amerikanischen Historikers zu sagen, „als Anerkennung, die das Laster der Tugend aus reiner Gewohnheit zollt“.33
30 31 32 33
Landis (1938), 1. Nach Mazower (2000 [1998]), 28. Mazower (2000 [1998]), 28. Becker (1943 [1940]), 203.
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Carl Schmitt: Plädoyer für eine Regierungsgesetzgebung Der wortgewaltigste Vertreter jener extremen Rechten, die der Legislative jede Bedeutung absprachen, war sicherlich Carl Schmitt selbst. Für ihn konnte es, wie oben ausgeführt, keinen Zweifel daran geben, was der funktionale Druck für die Regierungen der Zwischenkriegszeit in ganz Europa innenpolitisch bedeutete. Gleichgültig, ob es sich nach herkömmlichem Verständnis um parlamentarische Demokratien oder um Diktaturen handelte, sie alle waren bestrebt, „politische, wirtschaftliche und finanzielle Anordnungen und Maßnahmen in ‚vereinfachten‘ Verfahren zu treffen, die eine schnelle Anpassung an die besonderen Schwierigkeiten der wechselnden Lagen ermöglichen“,34 so Schmitt 1936 in einem Beitrag über die „neueste Entwicklung des Problems der gesetzgeberischen Ermächtigung (legislative Delegationen)“.35 Im Kern argumentierte er, dass die Entwicklungen in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und in den Vereinigten Staaten nach dem Ersten Weltkrieg alle auf einen ähnlichen Prozess der Auflösung der verfassungsrechtlichen Trennung zwischen legislativer und exekutiver Gewalt zurückzuführen seien. Dabei hätten sich die Gewichte offensichtlich zugunsten letzterer verschoben. Allerdings war nur in Deutschland in letzter Konsequenz jeder Anschein einer „Gewaltenteilung“ ausgemerzt und stattdessen ein System echter „Regierungsgesetzgebung“ geschaffen worden.36 Anscheinend war Schmitt bewusst, dass sich ohne beschönigende Formulierungen kein akzeptables Bild vom Naziregime zeichnen lassen würde. Er vermeinte das „irreführende Schlagwort“ Diktatur sei nicht geeignet, um das neue Regime zu beschreiben. Dieses System habe vielmehr Vorstellungen von Aristoteles und Thomas von Aquin bestätigt, wonach die Gesetzgebung dem Wesen nach in die Hand des Fürsten (also der Exekutive) gehöre. Mit solchen überlegenen 34 Schmitt (1936), 252; siehe Lindseth (2010), 63. 35 So der Titel seines Artikels, Schmitt (1936). 36 Schmitt (1936), 257.
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aristotelischen und thomistischen Vorstellungen sei „die spezifische Problematik des gewaltenteilenden Verfassungs- und Gesetzesbegriffs […] überwunden.“37 Damit legte Schmitt nahe, dass eine solche Rückkehr zu angeblich traditionellen Formen des Regierens in Europa in sämtlichen Industriestaaten unvermeidlich sei. Nach seiner Vorstellung gab es einen „unüberbrückbare[n] Gegensatz zwischen dem Gesetzesbegriff eines parlamentarischen Gesetzgebungsstaates und der durch die Entwicklung der letzten Jahrzehnte notwendig gewordenen […] Regierungsgesetzgebung“. Diese erfordere nicht Beratungen der Legislative über allgemeine Normen, sondern entschiedenes Handeln der Regierung angesichts konkreter Tatsachen.38 Erst die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs konnte einen so rückwärtsgewandten Denker wie Schmitt zu der Einsicht bewegen, dass es zwingend notwendig ist, die parlamentarische Demokratie mit den modernen Anforderungen an die Regierung zu versöhnen. Gegen Ende des Jahres 1944 verfasste Schmitt einen weiteren Artikel über „Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft“,39 der in gewisser Hinsicht als Gegenstück zu seinem Beitrag aus 1936 über Delegationen zu sehen ist. Was im späteren Beitrag allerdings fehlte, war die Selbstgefälligkeit, mit der er 1936 darauf vertraut hatte, dass in Deutschland dieses Problem gelöst sei. Nachvollziehbar mag das eventuell in Anbetracht des Unheils sein, das Deutschland aufgrund der 1933 getroffenen Entscheidungen über sich und viele Millionen Menschen in Europa und weit darüber hinaus gebracht hatte. Als auch Schmitt 1944 die Beweise für die von Deutschland verursachte Katastrophe nicht mehr übersehen konnte, zitierte er – diesmal zustimmend – Heinrich Triepel, der bereits Anfang der 1920er Jahre nachdrücklich auf die Risiken uneingeschränkter Delegationen hingewiesen hatte.40 Er zitierte auch Lord Hewarts „Warnung“ aus 37 38 39 40
Schmitt (1936), 268. Schmitt (1936), 257. Schmitt (1973 [1944]). Schmitt (1973 [1944]), 404; zu Triepels Argumentation Anfang der 1920er Jahre siehe Lindseth (2010), 64.
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„The New Despotism“ (wenn er auch behauptete, diese sei selbst in Großbritannien ohne Beachtung geblieben) und schrieb über die Notwendigkeit eines „Sinn[es] für Logik und Folgerichtigkeit der Begriffe und Institutionen [und] für das Minimum eines geordneten Verfahrens, einen due process of law, ohne den es kein Recht gibt.“ Schmitt beteuerte sogar, wie notwendig die „auf gegenseitiger Achtung beruhende Anerkennung der Person“ sei.41 Streben nach „Gleichgewicht“ und „Verantwortlichkeit“ nach 1945 Europa stand 1945 in der Tat vor der Herausforderung, Lehren aus der Zwischenkriegszeit zu ziehen, wenngleich die Skepsis gegenüber Schmitts angeblicher Kehrtwende von 1944 berechtigt ist angesichts der großen Hoffnungen, die er in den 1930er Jahren in die verfassungsrechtlichen Prinzipien des Dritten Reichs gesetzt hatte. Die Herausforderung lag darin, Wege zu finden, wie Delegationen im Kontext liberal-demokratischer Institutionen funktionieren könnten, um zu überbrücken, was Schmitt 1936 als „unüberbrückbar“ bezeichnet hatte. Die Machtkonzentration von Gesetzgebung und Rechtsprechung im Bereich von Regierung und Verwaltung stellte auch noch nach 1945 ein definierendes Merkmal des Regierens in ganz Europa sowie in den Vereinigten Staaten dar. Allerdings waren die verfassungsrechtlichen Regelungen in der Nachkriegszeit nicht mehr ausschließlich durch funktionale Anforderungen bestimmt. Vielmehr wurde versucht zu einem gewissen Maß an „Gleichgewicht“ und „Verantwortlichkeit“ zu kommen, 42 zwei Elemente, die Landis schon 1938 gefordert hatte und die in Schmitts Entwürfen aus den 1930er Jahren bedauerlicherweise gefehlt hatten. Eine verfassungsrechtliche Neuregelung des verwaltungsrechtlichen Regierens in der Nachkriegszeit erforderte in erster Linie erheb41 Schmitt (1973 [1944]), 406, 423. 42 Siehe Lindseth (2010), 69.
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liche Änderungen der verfassungsmäßigen Kompetenzen der Legislative um normative Macht zu delegieren, wie dies etwa in Art. 80 (1) des deutschen Grundgesetzes zum Ausdruck kam.43 Gewählte Körperschaften verloren in der Nachkriegszeit ihre Vorrangstellung als Institutionen der Normensetzung, während die Exekutive ihre Rolle auf der Basis von „Rahmengesetzen“ (framework laws, lois-cadres) und anderen Formen der gesetzgeberischen Ermächtigung durch die Legislative bedeutend erweitern konnte. Kontrolle durch das Parlament wurde zwar nicht unwichtig, zunehmend aber zu einer zweitrangigen Quelle der demokratischen Legitimation. An die erste Stelle trat die führende Rolle der Regierungschefs – ein Vorgang, der in Westdeutschland nach dem Krieg so treffend als „Kanzlerdemokratie“ bezeichnet wurde. Die neuen Aufgaben der Parlamente wurden eher instrumental – sie bestanden jetzt vor allem darin, einer stabilen Regierung Platz zu machen und diese mit allen zum Regieren notwendigen Mitteln auszustatten – und erst danach, sozusagen in zweiter Linie, das Regierungs- und Verwaltungshandeln zu überwachen. In Westdeutschland war die wichtigste Neuerung in dieser Hinsicht das sogenannte „konstruktive Misstrauensvotum“ nach Art. 67 Grundgesetz. Demnach kann der Bundestag einen Kanzler oder eine Kanzlerin nur dadurch stürzen, dass er mit absoluter Stimmenmehrheit eine neue Regierung wählt. Einzelne MinisterInnen können nicht gestürzt werden. In Frankreich wurden erst nach 1958, also mit dem Beginn der semipräsidentiellen Fünften Republik, entsprechende Bestimmungen in die Verfassung aufgenommen und damit die Befugnisse der Exekutive gegenüber dem von Fraktionsdenken geprägten Parlament gestärkt.44 Wie sich die verfassungsmäßige Rolle der Legislative gegenüber der Exekutive verändern sollte, war jedoch schon 1958 in den Verhandlungen über die neue französische Verfassung deutlich geworden: „Im gegenwärtigen politischen Umfeld gehört zu den Aufgaben der Regierung zwingend auch die Befugnis, 43 Ausführlich dazu Mößle (1990). 44 Lindseth (2004), 1407–08.
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Bestimmungen von allgemeiner Bedeutung“ – d. h. gesetzgeberische Bestimmungen – „zu erlassen“. Dagegen sei es die „wahre Aufgabe des Parlaments, die Politik der Regierung zu überwachen“. Seine Aufgabe war es also nicht, wie sich daraus implizit ergibt, diese Politik im Einzelnen selbst festzulegen.45 Mit der Verfassung von 1958 erfolgte die „De-jure-Anerkennung der gesetzgeberischen Rolle der Regierung“.46 Politik, Expertentum und Rechtsprechung Dieser Verschiebung der gesetzgeberischen Befugnisse von der Legislative hin zur Exekutive lag ein untergeordneter, aber dennoch wichtiger Wandel der politischen Kultur zugrunde. Das Verständnis davon, was zum Kernbereich von Politik gehört, begann sich zu verändern: Politik wurde im Bereich des repräsentativen Gesetzgebers gesehen, während ein vermeintlich „unpolitisches“ Expertentum (in den Bereichen Wissenschaft, Wirtschaft, Finanzen und Organisation) einer gesonderten technokratischen Sphäre zugerechnet wurde, die der Aufsicht oder Kontrolle der Exekutive unterlag. Den Parlamenten kam selbstverständlich weiterhin eine wichtige Rolle in der demokratischen Legitimation zu, da das Oberhaupt einer Regierung ohne funktionierende parlamentarische Mehrheit nicht regieren konnte. In diesem Sinne trugen Parlament und Regierungschef im Nachkriegseuropa zunehmend gemeinsam die Verantwortung für die demokratische Legitimation der Regierungsmacht im modernen Wohlfahrtsstaat: Das Parlament war zuständig für Regierungsbildung und Gesetzgebung, das Regierungsoberhaupt und das Kabinett für die Oberaufsicht über die administrativ-technokratische Sphäre. In der verfassungsrechtlichen Neuregelung der Nachkriegszeit 45 Jérôme Solal-Céligny, „Projet d‘exposé des motifs de l’avant-projet de Constitution sournis au Comité consultative constitutionnel le 29 juin 1958”, in: “Documents pour server à l’histoire de l’élaboration de �������� la constitution du 4 octobre 1958 ” (1987) 1: 524. 46 Chapus (1953) 1003.
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sollte jedoch auch die Rechtsprechung eine zentrale Rolle spielen. Da der Wohlfahrtsstaat immer mehr regulatorische und administrative Kompetenzen an sich zog, erlangten die Verwaltungsstellen infolge der zunehmenden organisatorischen Komplexität ein erhebliches Maß an tatsächlicher (wenn nicht auch formalrechtlicher) Unabhängigkeit von der politischen Kontrolle.47 Daher wurde die gerichtliche Kontrolle immer wichtiger. Dem lag eine „RationalChoice“-Logik zugrunde, weil die zunehmende Autonomie von Verwaltung(seinrichtungen) die Möglichkeiten für eine politische Oberaufsicht aushöhlte. Damit wurde aber eine alternative Form von „Verpflichtungsmechanismus“ (Kontrolle) notwendig, wenn die Anforderungen des Gesetzgebers und der Verfassung weiterhin eingehalten werden sollten.48 Diesem Zweck diente die gerichtliche Kontrolle, ganz im Einklang mit dem Verfassungsethos der Nachkriegszeit, auch wenn die Aufgabe von Gerichten meist mit dem Schutz der Gewaltenteilung und der Individualrechte begründet wurde. Allerdings überschnitt sich die Frage der Gewaltenteilung in der Nachkriegszeit auf interessante Weise mit jener der Individualrechte. Das deutsche Bundesverfassungsgericht entwickelte in diesem Zusammenhang die sogenannte „Wesentlichkeitstheorie“, um die nach seiner Auffassung „wesentlichen“ Funktionen des Parlaments zu schützen: Nur das Parlament kann demnach Rechtsnormen setzen, die die verfassungsmäßig verbrieften Rechte oder andere grundlegende Aspekte der staatlichen Ordnung berühren. Ab den späten 1950er Jahren stellte das Gericht in einer Reihe von Erkenntnissen klar, dass das Grundgesetz, anstatt Rechtsetzung in diesen Bereichen an die Exekutive zu delegieren, dem Gesetzgeber in seiner Funktion als oberste Volksvertretung vorschreibt, Kontrollregeln in den Durchführungsvorschriften zu formulieren („Vorbehalt des Gesetzes“).49 Dahinter 47 Ausführlich dazu Braibant (1993). 48 Siehe Lindseth (2005), 683–85. 49 Die richtungsweisende Entscheidung hierzu BVerfGE 7 282 (302, 304),
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stand das Ziel, jenen Bereich der normativen Verantwortlichkeit klar zu definieren, den der Gesetzgeber nicht an die Exekutive übertragen kann. Damit sollte die Stellung der Legislative im System der Gewaltenteilung, wie es nach dem Krieg entstanden war, gewährleistet werden. Auch in der italienischen Nachkriegsverfassung wurden verschiedene Bestimmungen (insbesondere jene mit Bezug auf das Strafrecht) auf ähnliche Weise ausgelegt und damit eine sogenannte riserva di legge geschaffen50. Und der französische Conseil d’Etat, das oberste Verwaltungsgericht des Landes, entschied 1953 – fünf Jahre, bevor mit dem Conseil Constitutionnel ein Verfassungsgericht geschaffen wurde – „dass bestimmte Themen ausschließlich dem Gesetzgeber vorbehalten sind“. Das betraf insbesondere die Grund- und Freiheitsrechte, die in der Präambel der Verfassung von 1946 formuliert worden waren und auf die sich die neue Verfassung ausdrücklich bezog.51 Dieser Rechtsgrundsatz galt auch nach der Errichtung der Fünften Republik, also nach 1958, weiter52. Gestärkter Schutz der Menschenrechte Es wird kaum überraschen, dass sowohl im deutschen, im französischen als auch im italienischen öffentlichen Recht die Erhaltung des ausführlicher dazu Currie (1993) 219; siehe auch Lindseth (2004) 1395–96. 50 Siehe dazu u. a. C. Cost., sent. n. 26/1966. Einige Bereiche, wie etwa das Strafrecht, unterlagen einer „absoluten” riserva di legge, andere Bereiche dagegen einer „relativen” Einschränkung. Diese ähnelt der amerikanischen nondelegation doctrine, in der lediglich vorgegeben wird, dass ein Bundesgesetz „mit hinreichender Genauigkeit Voraussetzungen, Bedeutung, Inhalt und Grenzen“ von Befugnissen bezeichnen muss, wenn die Legislative damit Kompetenzen delegiert, ebda. Eingehender dazu Pittaro (1980) 479. 51 Commission de la fonction publique, avis no. 60.497, 6 février 1953, in: Les grands avis du Conseil d’Etat (1997), 64. Vgl. dazu auch Lindseth (2004), 1402. 52 Die Art. 34 und 37 der Verfassung von 1958 sind ausführlich behandelt in Lindseth (2004), 1405–06.
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demokratischen Systems und der Schutz der Individualrechte eng verknüpft waren: Jedes dieser Länder hatte vor 1945 Erfahrungen mit Diktatur und daraus resultierenden Menschenrechtsverletzungen ungeahnten Ausmaßes gemacht.53 Dabei weist die deutsche Verfassung – auch das ist wenig überraschend – die präzisesten und anspruchsvollsten Bestimmungen auf: Die in Art. 79 Abs. 3 enthaltene sogenannte „Ewigkeitsklausel“ stellt ganz ausdrücklich eine Verbindung zwischen dem Schutz der „Würde des Menschen“ und der demokratischen Gewaltenteilung her. Dieser Artikel verbietet jede Änderung der Art. 1 und 20 des Grundgesetzes. Art. 1 erklärt die „Würde des Menschen“ für unantastbar und stipuliert die Durchsetzbarkeit von aufgelisteten Grundrechten als positives Recht für alle Bereiche der Regierung. Art. 20 bestimmt, dass Westdeutschland und nunmehr auch das vereinigte Deutschland ein „demokratischer und sozialer Bundestaat“ ist, in dem „alle Staatsgewalt vom Volk [ausgeht]“, die es durch Wahlen ausübt. Außerdem wird in diesem Artikel das Prinzip der Gewaltenteilung zwischen gesetzgebender und vollziehender Gewalt und Rechtsprechung festgelegt.54 Darüber hinaus regelt das Grundgesetz die Errichtung eines Bundesverfassungsgerichts, das als oberste Instanz diese demokratischen Strukturen und Individualrechte garantiert. Aber auch in Großbritannien, dem hier eine Sonderrolle zukommt, übernahmen es zunehmend die Gerichte, die Rechte des Einzelnen, insbesondere im Bereich des Verwaltungsrechts, zu schützen. Darin zeigt sich, wie dieser verfassungsrechtliche Ethos sich in den Jahrzehnten nach dem Krieg in ganz Westeuropa durchsetzte.55 Diese Kontrollfunktion zielte nicht nur auf Rechte, sondern diente auch der Legitimierung und ebnete den Weg für die dramatische Zunahme der staatlichen Eingriffe in die Gesellschaft. Funktionalisten 53 Vgl. Moravcsik (2000). 54 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Art. 73(3). Ausführlicher dazu Lindseth (2004) 1388. 55 Lindseth (2005), 683-84, Lindseth (2004), 1350 u. 1410-11.
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wie Harold Laski hatten in der Zwischenkriegszeit die britischen Gerichte massiv dafür kritisiert, dass diese sich hinter Formalbegriffen des englischen Rechtssystems, des Common Law, versteckten und damit die Privilegien des Privateigentums schützten. Sie kritisierten auch, dass die Gerichte nur unzureichend den Zielsetzungen einer interventionistischen, dem Allgemeinwohl verpflichteten Gesetzgebung folgten. Laski hatte eine Auslegungsmethode gefordert, „die weniger analytisch und stärker funktional ausgerichtet ist. Sie sollte erheben, wie der Grundgedanke hinter unserer Gesetzgebung in der Praxis umgesetzt wird, damit die sozialen Werte, denen dieses Prinzip verpflichtet ist, voll und ganz zum Tragen kommen.“56 In den Jahrzehnten nach dem Krieg wurde im britischen Verwaltungsrecht schließlich anerkannt, dass ein Ausgleich notwendig ist zwischen „dem Recht des Einzelnen und dem Allgemeinwohl“, aber auch zwischen „einer fairen Behandlung des Einzelnen und einer gut funktionierenden Verwaltung“. So formulierte 1957 ein parlamentarischer Ausschuss57 und zeigte sich damit in weitgehender Übereinstimmung mit früheren funktionalistischen Forderungen. Kontinuitäten zwischen den Nachkriegsperioden Der Prozess, in dem sich zwischen den 1920er- und den 1950er-Jahren eine verfassungsrechtliche Neuregelung für den Verwaltungsstaat entwickelte, verlief weitgehend parallel mit der allgemeinen sozioökonomischen und sozialpolitischen Stabilisierung, die in dieser Zeit in ganz Westeuropa stattfand. Der amerikanische Historiker Charles Maier hat dies in seinem grundlegenden Aufsatz „The Two Postwar Eras and the Conditions for Stability in Twentieth-Century Western Europe“58 beschrieben. In diesem zu Recht berühmten Artikel stellt Maier fest, dass „beide Nachkriegsperioden Teil von anhaltenden Sta56 Committee on Ministers’ Powers (1932), Annex V, 137. 57 Committee on Administrative Tribunals and Enquiries (1957), 2. 58 Maier (1987).
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bilisierungsbemühungen waren, eines Bestrebens das so intensiv und nachhaltig war (und schließlich durch hinlänglichen Erfolg bestätigt wurde), dass es zu einem zentralen Thema der Geschichte Westeuropas im zwanzigsten Jahrhundert wurde“.59 Die Nachkriegsregelungen sahen vor, dass alle drei verfassungsmäßigen Gewalten – das Parlament, die Regierung und die Gerichte – gemeinsam die Verantwortung für die demokratische Legitimation der vollziehenden Gewalt in Westeuropa übernahmen. Die Westeuropäer rangen um eine neue Form des Regierens („a new form of governance“, in den Worten Alan Milwards), die den Anforderungen des modernen Wohlfahrtsstaates gerecht werden konnte.60 Aus den vorangegangenen Jahrzehnten hatten sie in Hinsicht auf Recht und Verfassung zwei Lehren gezogen: zum einen, dass der Wohlfahrtsstaat nur erfolgreich sein kann, wenn er in Politik und Verwaltung über entsprechende Durchsetzungsmacht verfügt, und zweitens, dass dieser Macht eine Kontrolle durch Parlamente und Gerichte gegenüberstehen muss. Die drei Gewalten der traditionellen Verfassungslehre – Legislative, Exekutive und Judikative – blieben als gesonderte „Legitimationsmechanismen“ bestehen, wodurch es dem Nachkriegsstaat gelang zu überbrücken, was Carl Schmitt in der Zwischenkriegszeit als „unüberbrückbar“ bezeichnet hatte. Dadurch wiederum konnte die Ausweitung und Fragmentierung der normativen Befugnisse im Verwaltungsstaat der Nachkriegszeit eine demokratische und verfassungsrechtliche Legitimierung für sich beanspruchen, die in einem historischen und kulturellen Sinn wiedererkennbar war. Gerade als die Rechtssetzungsbefugnisse ausgeweitet und fragmentiert wurden, wurden jene Bereiche der Regierung, die eine tradierte verfassungsrechtliche Legitimierung genossen – sei es als demokratische (d. h. ausführende und gesetzgebende) oder als rechtsprechende Gewalt – zu Verbindungsstellen durch die diese Macht legitimiert wurde. Auf Grundlage dieser vermittelten Legi59 Maier (1987), 161. 60 Siehe FN 2 und Text dort.
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timierung war es dann möglich, die historische Auffassung von repräsentativer Regierung (nach der die gewählte gesetzgebende Versammlung weiterhin als Eckpfeiler der Selbstregierung galt) mit der exekutiven, technokratischen Realität im Verwaltungsstaat nach 1945 in Einklang zu bringen. Verfassungsrechtliche Neuregelung und Europäische Integration Die Organisatoren dieser Konferenz haben mich gebeten, mit einigen kurzen Überlegungen darüber zu schließen, was die verfassungsrechtliche Neuregelung der Nachkriegszeit für den Prozess der europäischen Integration bedeutet. Das ist das zentrale Thema meines Buches „Power and Legitimacy: Reconciling Europe and the NationState“ (2010). Meine These darin lautet: Wenn man die grundlegende „Grammatik“ des europäischen öffentlichen Rechts genauer betrachtet, dann zeigt sich, dass sich europäisches Regieren in den vergangenen fünfzig Jahren an zwei zusammenhängende Erscheinungen angepasst hat: An die Strukturen der Legitimation und an die normativen Prinzipien der verfassungsrechtlichen Neuregelung des verwaltungsrechtlichen Regierens, wie ich sie soeben beschrieben habe. Dieser Prozess fand allerdings unter Berücksichtigung der Integrationsanforderungen statt. Diese Konvergenz zeigt sich in der Abhängigkeit der Integration von Überwachungsmechanismen, welche von national „konstituierten“ Institutionen ausgeübt werden, insbesondere von Regierungen der Mitgliedstaaten, aber auch von deren Höchstgerichten und Parlamenten. Zusammen bilden sie den umfassenden legitimierenden Rahmen, innerhalb dessen sich die komplexen Formen des „europäisierten“ technokratischen Regierens frei bewegen können. Diese legitimierenden Strukturen wiederum reflektieren, dass die Integration auf dem normativ-rechtlichen Grundprinzip der in der Nachkriegszeit entstandenen Verfassungsregelungen aufbaut, nämlich der „Delegation“ (in der Terminologie der europäischen Verträge „begrenzte
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Einzelermächtigung“).61 Die europäische Rechtsordnung entspricht damit den normativen Anforderungen der Delegation, insbesondere der „vermittelten Legitimierung“, und versucht so, wie unvollkommen auch immer, die funktionalen Realitäten der Integration in Einklang zu bringen mit der Rolle des Nationalstaats, der die primäre Quelle für die demokratische und verfassungsmäßige Legitimation im europäischen System ist. Diese grundlegende „Grammatik“ des europäischen öffentlichen Rechts stellt eine Meinung in Frage, die unter vielen RechtswissenschafterInnen, die sich mit Integration beschäftigen, verbreitetet ist: Nach deren Vorstellung basiert die europäische Rechtsetzung auf „Institutionen, die verfassungsrechtlich losgelöst sind von nationalstaatlichen Legitimationsprozessen“.62 Die nationalstaatlichen Kontrollmechanismen wurden aber, wie in „Power and Legitimacy“ untersucht wurde, gerade dazu entwickelt, um zwei Bereiche zusammenzubringen, die für die europäische Integration zentral sind: auf der einen Seite die an sich autonome Befugnis zu supranationaler Rechtsetzung, auf der anderen Seite die nationalstaatliche Quelle der demokratischen und verfassungsrechtlichen Legitimation dieser Befugnis. Es kann natürlich kaum ein Zweifel daran bestehen, dass sich das „europäisierte“, technokratische Regieren heute weitaus verschachtelter und komplexer darstellt als man sich das in den ersten Jahrzehnten der Integration hätte vorstellen können. In der EU (und in der Eurozone) werden heute Vorschriften und Richtlinien in einem Verfahren erlassen, das de facto einen Grad an Autonomie genießt, der mit ziemlicher Sicherheit sogar höher ist als die De-jureAutonomie nach den ursprünglichen Vorstellungen der europäischen Verträge. (Die heutige Autonomie auf europäischer Ebene geht sogar über jenen Freiraum hinaus, den Regierungen und Verwaltungen auf nationalstaatlicher und subnationaler Ebene im Verwaltungsstaat der Nachkriegszeit entwickelten.) 61 Artikel 5 EUV und Artikel 7 AEUV. 62 Mennon and Weatherill (2002), 118.
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Und darin liegt die wahre Herausforderung, der die Legitimation in der EU heute gegenübersteht: Obwohl umfangreiche autonome Regelungsbefugnisse auf die supranationale Ebene übertragen wurden, bleibt diese Autonomie im Grunde funktional und daher durch die Verwaltung geprägt. Ihr fehlt aber die demokratische und verfassungsrechtliche Selbstlegitimation, zu der die repräsentative Regierung im Nationalstaat in der Lage ist. Unabhängig davon, mit welchem Etikett man den Integrationsprozess versieht – man muss verstehen, dass die europäischen Befugnisse zur Rechtsetzung historisch grundlegend von der vorhergehenden Entwicklung abhängt, nämlich von der Legitimation der verfassungsrechtlichen Neuregelung des verwaltungsrechtlichen Regierens auf nationalstaatlicher Ebene. Es ist daher kein Zufall, dass die europäische Integration als Projekt genau zu dem Zeitpunkt der westlichen Geschichte (in den 1950er-Jahren) realisierbar erschien, als auch auf nationalstaatlicher Ebene die Grundlagen des verwaltungsrechtlichen Regierens gesichert und diese hinlänglich mit den überkommenen Anforderungen einer repräsentativen Regierung versöhnt waren. Zukünftig wird die Herausforderung darin bestehen, diese funktionale Realität in Einklang zu bringen mit der politisch-kulturellen Bindung an den Nationalstaat als dem Ort der demokratischen und verfassungsmäßigen Legitimation in Europa. Dabei wird es zweifellos zu Formen stärkerer Verantwortung überstaatlicher Organe gegenüber demokratischen Institutionen auf der nationalstaatlichen Ebene kommen (siehe etwa das sogenannte „subsidiäre Frühwarnsystem“). Im Extremfall könnte es aber auch dazu kommen, dass Befugnisse zur Rechtsetzung, die verfassungsrechtlich an die supranationale Ebene delegiert werden dürfen, erheblich begrenzt werden. Das würde dann im Bereich der Integration der italienischen riserva di legge oder dem deutschen Gesetzesvorbehalt63 entsprechen. Der italienische Politologe Stefano Bartolini hat 2005 auf die Gefahr hingewiesen, dass „wir den Umfang, in dem die europäischen Institu63 Siehe oben, FN 50–51 und Text dort.
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tionen und ihre Entscheidungen von echter Legitimation getragen werden, falsch einschätzen“. Das könne dann dazu führen, „ dass die Fähigkeit der EU, gravierende Wirtschafts- und Sicherheitskrisen zu bewältigen, überschätzt wird“.64 Oder anders gesagt: Das Ungleichgewicht zwischen Rechtssetzungsbefugnis und Legitimität des Regierens führt mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Druck auf die Kompetenzbereiche, welche in weiterer Folge von den Europäischen Institutionen nicht mehr glaubhaft ausgeübt werden können – gerade weil man die Demokratie auf nationalstaatlicher Ebene in einem historisch wiedererkennbaren Sinne erhalten will. Die sich widersprechenden Forderungen nach „mehr“ und zugleich „weniger“ Europa sind in der aktuellen Krise der Eurozone deutlich spürbar. Die Krise wird, unabhängig vom endgültigen Ergebnis, die EU dazu zwingen, zwei zentrale, aber gegenläufige Tendenzen der Integration in Einklang zu bringen, wie sie das schon immer getan hat: Zum einen setzt sich die im Nationalstaat begründete demokratische und verfassungsrechtliche Legitimierung von Regierungskompetenzen und Entscheidungsstrukturen auch auf europäischer Ebene fort. Zum anderen verlangt die Integration aus funktionalen und politischen Gründen nach mehr denationalisierten regulatorischen Kompetenzen. Wie „Power and Legitimacy“ darlegt, hat das Spannungsverhältnis dieser beiden Elemente das Integrationsprojekt seit seinen Anfängen geprägt, ein Umstand, der sich aus der verfassungsrechtlichen Neuordnung nach dem Krieg ableitet. Das wird die EU wohl nicht zerreißen – ich jedenfalls rechne nicht damit – aber irgendeine Art von Veränderung scheint zusehends unvermeidbar. Ich gehe davon aus, dass das hier beschriebene Spannungsverhältnis das europäische System des Regierens auch weiterhin prägen wird, während die europäische Integration einer ungewissen Zukunft entgegensteuert.
64 Siehe Bartolini (2005), 175.
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Legitimität und Repräsentation in der EU in zeitgeschichtlicher Perspektive
Der europäische Einigungsprozess ist die Antwort auf die große Zerstörung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: die Zerstörungen durch zwei Weltkriege mit 50 Millionen Toten und die Shoah, die Zerstörung von Rechtsstaat, Demokratie und republikanischer Ordnung durch Autoritarismus, Faschismus und schließlich Totalitarismus des Dritten Reiches. Die Festigung des stalinistischen totalitären Sowjetkommunismus und die Etablierung der Sowjethegemonie im Osten der Nachkriegszeit sind weitere Folgen dieser Entwicklung und sollten Europa bis 1989 spalten. Der Europäische Einigungsprozess als Projekt der Vorkehrung Die Ausschaltung der Parlamente markierte den Auftakt zu diesem Zivilisationsbruch. Die Institutionenordnung der Europäischen Gemeinschaft sollte eine Wiederholung dieser Katastrophe verhindern, sie ist ein Projekt der Vorkehrung.1 Schon die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl hatte neben dem Rat, der Hohen Behörde und dem Gericht auch eine parlamentarische Versammlung vorgesehen, wenngleich diese weitgehend auf konsultative Funktionen beschränkt war. Doch mit dem Vertrag für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft beginnt auch die Diskussion um eine Direktwahl der supranationalen Parlamentarischen Versammlung, die sich bald selbst Parlament nennt, auch wenn es erst 1976 zu einem ein1
Vgl. Mette Eilstrup-Sangiovanni/Daniel Verdier, European Integration as a Solution to War, in: European Journal of International Relations (2005) 11, 99–135; Tony Judt, Post-War: A History of Europe since 1945, London 2005.
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Sonja Puntscher Riekmann
schlägigen Beschluss und 1979 tatsächlich zur ersten direkten Wahl dieses Organs kommt. Seither hat das Europäische Parlament von Vertragsänderung zu Vertragsänderung an Kompetenzen gewonnen und ist nun im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren des Vertrags von Lissabon gleichberechtigter Gesetzgeber neben dem Rat. Zugleich hat es selbst über den Hebel seiner Budgetrechte und durch interinstitutionelle Abkommen mit dem Rat und der Kommission die Erweiterung seiner Rechte betrieben, selbstbewusst konstitutionelle Initiativen ergriffen (siehe z. B. die Spinelli-Initiative zum Vertragsentwurf für eine Europäischen Union von 1984), deren Wirkung in der Einheitlichen Europäischen Akte und im Vertrag von Maastricht deutlich zu erkennen sind, und die Kandidaten für die Europäische Kommission zu Hearings vor den jeweiligen, aber allen Abgeordneten des Europäischen Parlaments offen stehenden, Fachausschüssen „gezwungen“. So folgt auch die Union dem Prinzip, dass eine Demokratie unabdingbar an die Existenz eines Parlaments gebunden ist, wenngleich es nach wie vor über kein Initiativrecht verfügt und in manchen Politikbereichen nur Anhörungsrechte genießt. Es kontrolliert die Kommission und ist durch das ordentliche Gesetzgebungsverfahren mit dem Rat gleichberechtigtes Gesetzgebungsorgan. Auch die unabhängige Europäische Zentralbank diskutiert regelmäßig zumindest die großen Linien der Geldpolitik mit dem Wirtschafts- und Währungsausschuss des Europäischen Parlaments, um die eigene Legitimität zu erhöhen. Der Vertrag von Lissabon bekräftigt durch einen neuen Titel mit Bestimmungen zu den demokratischen Grundsätzen der Union das Prinzip der repräsentativen Demokratie (Art. 10 EUV). Die Bürgerinnen/Bürger sind direkt im Europäischen Parlament und die Staaten im Rat und Europäischen Rat vertreten. Darin finden wir auch Bekenntnisse zur Relevanz europäischer Parteien (Art. 10, Abs. 4 EUV), zur Einbindung zivilgesellschaftlicher Kräfte und der Sozialpartner (Art. 11, Abs. 1 EUV) und ein direktdemokratisches Element mit der Europäischen Bürgerinitiative (Art. 11, Abs. 4 EUV). Bemerkenswert ist schließlich Art. 12 EUV zu den nationalen Parlamenten,
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die „aktiv zur guten Arbeitsweise der Union“ beitragen sollen. Die beiden Protokolle „Über die Rechte der Nationalen Parlamente in der Europäischen Union“ (1) und „Über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit“ (2) spezifizieren diese Rechte. Diese Aufwertung des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente veranlassten die Autoren Elmar Brok und Martin Selmayr, den Vertrag von Lissabon als „Vertrag der Parlamente“ zu feiern.2 Doch ist diese Euphorie auch gerechtfertigt? Sind die Parlamente tatsächlich in das Zentrum der europäischen Politik zurückgekehrt3, nachdem der Integrationsprozess jahrzehntelang als Siegeszug der Exekutiven, der Staatskanzleien und der Mehrebenenbürokratie, ja der Technokratie, beschrieben worden war?4 Und erhöht die explizite Repräsentationsfunktion des Europäischen Parlaments und subsidiär der nationalen Parlamente die Legitimität der europäischen Politik? Ist dies das Ende des vielbeklagten europäischen Demokratiedefizits?5 Man hätte die neuen Bestimmungen in diesem Sinne lesen können, doch auch für die europäischen Institutionen gilt der Grundsatz: Der Lackmustest findet stets in Krisen statt und das Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1. Dezember 2009 fiel mit der größten Krise des Einigungsprozesses zusammen. 2
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Elmar Brok/Martin Selmayr, Der „Vertrag der Parlamente“ als Gefahr für die Demokratie? Zu den offensichtlich unbegründeten Verfassungsklagen gegen den Vertrag von Lissabon, in: integration (2008) 3, 217–234; zu den neuen Bestimmungen des Vertrages von Lissabon vgl. auch Sonja Puntscher Riekmann, Constitutionalism and Representation. European Parliamentarism in the Treaty of Lisbon, in: Petra Dobner/Martin Loughlin (Hg.), The Twilight of Constitutionalism?, Oxford 2010, 120–137. Vgl. kritisch Andreas Maurer/Wolfgang Wessels (Hg.), National parliaments on their ways to Europe: losers or latecomers? Baden-Baden 2001. Vgl. Alison Harcourt/Claudio Radaelli, Limits to EU technocratic regulation? in: European Journal of Political Research (1999) 35, 1, 107–122. Vgl. stellvertretend für viele Andreas Follesdal/Simon Hix, Why there is a democratic deficit in the EU: a response to Majone and Moravcsik, in: Journal of Common Market Studies (2006) 44, 3, 533–62.
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Der Ausbruch der Finanzkrise im Herbst 2008 und die daraus folgende Schuldenkrise der EU-Mitgliedstaaten mit ihren ersten Höhepunkten in Irland und Griechenland (2009-2010) hat einen Ausnahmezustand heraufbeschworen, der die vertraglichen Errungenschaften infrage stellt. Das Europäische Parlament gehörte in der Krisenbekämpfung nicht zu den zentralen Akteuren, während die nationalen Parlamente, denen unerwartet eine neue Macht in den Ratifikationsprozessen der intergouvernementalen Abkommen zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und zum Fiskalpakt (Vertrag über die Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion) zugewachsen ist, mit Argumenten der Alternativlosigkeit und der Gefahr für den Euro, und damit für die ganze EU, zur Zustimmung genötigt werden. Legendär ist in diesem Zusammenhang der Satz Angela Merkels, zu diesen Abkommen gäbe es keine Alternative, während Mario Monti in einem SpiegelInterview nicht davor zurückscheute, die Notwendigkeit einer Regierung, „ihr Parlament im Griff zu haben“, zu betonen: „Wenn sich Regierungen vollständig durch die Entscheidungen ihrer Parlamente binden ließen, ohne einen eigenen Verhandlungsspielraum zu bewahren, wäre das Auseinanderbrechen Europas wahrscheinlicher als eine engere Integration.“6 Doch Monti sah sich nach 34 Vertrauensabstimmungen im Parlament mit dem Ende seiner Regierung und einem bescheidenen Wahlergebnis von zehn Prozent am 25. Februar 2013 konfrontiert, während der deutsche Bundesrat angesichts neuer Mehrheiten ebenfalls im Februar 2013 das Merkel‘sche Prestigeprojekt, den Fiskalpakt, abgelehnt hat.7 Während die Verhandlungen darüber zur Zeit im Gange sind, erwartet die Öffentlichkeit für den Herbst 2013 mit Spannung das endgültige Urteil des Deutschen Bun6 Der Spiegel 05.08.2012. 7 Zur Debatte über die Krisenpakete in den nationalen Parlamenten Deutschlands, Österreichs und Italiens vgl. Sonja Puntscher Riekmann/ Doris Wydra, Representation in the European State of Emergency: Parliaments against Governments?, in: Journal of European Integration (2013) (i. E.)
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desverfassungsgerichts über den ESM, den er allerdings im einstweiligen Verfahren vom September 2012 befürwortet und auch die deutsche Beteiligung am Euro-Rettungsschirm ESM sowie am Fiskalpakt unter Vorbehalten im Juni 2013 genehmigt hat. In allen Verfahren zur Verfassungsmäßigkeit europäischer Verträge seit Maastricht hat Karlsruhe stets die Rolle des Deutschen Bundestages gestärkt.8 Zugleich hat Karlsruhe die umfassende Repräsentationsfunktion des Europäischen Parlaments abgelehnt, und dies mit Argumenten, die jede Möglichkeit einer vollen Demokratie jenseits des Nationalstaates infrage stellen, worauf ich noch zurückkomme.9 Nationale Parlamente und ihre europäische Herausforderung Demokratische Politik steht und fällt mit funktionierenden Parlamenten auf allen Ebenen. Ein Parlament ist das wichtigste Organ der Repräsentation der Bürginnen/Bürger, die zentrale Arena der Auseinandersetzung über die politische Ordnung und das „gute Leben“ einer politischen Gemeinschaft; es ist vor allem der Ort der Rechtfertigung von Entscheidungen: Demokratie beruht auf dem Recht auf Rechtfertigung, wie Rainer Forst das moralische Minimum von Demokratie definiert hat.10 Dies ist auch die nobelste Aufgabe des Europäischen Parlaments und daher seine Existenz unhintergehbar. Überall wo Macht durch Exekutiven ausgeübt wird, bedarf es dieser Einrichtung, daher ist auch die österreichische Diskussion um die Abschaffung der Landesparlamente solange antidemokratisch, solange es Landesregierungen gibt. Das Europäische Parlament (EP) ist aber noch aus einem anderen Grund wichtig: Es repräsentiert europäische Bürgerinnen/Bürger. Auch wenn die Wahlen nach nationalen (allerdings überall nach 8 Siehe zuletzt 2BvR 1390/12. 9 BvR 182/09. 10 Rainer Forst, Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 2007.
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proportionalen) Wahlrechten und unter nationalen politischen wie sozio-ökonomischen Bedingungen stattfinden, erfolgt die Organisation der politischen Willensbildung im EP in nach Parteienfamilien und nicht nach Nationalitäten konstituierten Fraktionen. Es repräsentiert gemeinsam mit der Kommission europäische Interessen. Die Sorge der europäischen Abgeordneten sind europäische Lösungen von europäischen Problemen, während nationale Präferenzen im Rat und Europäischen Rat zur Sprache kommen. Nationale Parlamente in den europäischen Politikprozess einzubinden, kann nur der Legitimation der Positionen nationaler Regierungen und deren Kontrolle dienen. Sie können nur schwer die gesamteuropäischen Interessen im Auge haben, denn die im ersten Protokoll „Über die Rolle der Nationalen Parlamente in der Europäischen Union“ anvisierte Zusammenarbeit zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten (Art 9 und 10) kann zwar deren Austausch und gegenseitiges Verständnis fördern, aber nicht per se Entscheidungen nationaler Parlamente auf ihre Wirkung auf Dritte ausrichten. Im zweiten Protokoll zum Vertrag von Lissabon „Über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“ sind die Rechte der nationalen Parlamente im wesentlichen „Abwehrrechte“ gegen national unerwünschte europäische Lösungen. Eine wirksame Ausübung dieser Rechte hätte die Fähigkeit der nationalen Parlamente zu multinationalen interparlamentarischen Allianzen zur Voraussetzung, für die es bisher kaum Evidenzen gibt. Auch die im Fiskalpakt verankerte gemeinsame Konferenz des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente zur Behandlung geldpolitischer Fragen harrt einer Konkretisierung. Zugleich ist die Kontrolle des Europäischen Rates, des ECOFIN-Rates, der Eurogruppe, aber vor allem der Troika aus Kommission, EZB und IWF höchst prekär, wenn nicht unmöglich. Rolle der Parlamente in der Finanz- und Fiskalkrise Die europäische Finanz- und Fiskalkrise hat dennoch die nationalen Parlamente aufgerufen, eine neue Verantwortung zu übernehmen,
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die sie verpflichtet, die Externalitäten ihrer Entscheidungen, d. h. deren Wirkungen auf Dritte, zu berücksichtigen. Das haben sie zunächst, wenn auch zähneknirschend, getan. Die Abstimmungen über Rettungsschirme und die damit einhergehenden Konditionalitäten fanden Mehrheiten, immer wieder auch mit den Stimmen der Opposition, trotz oft tief gespaltener Parteien und Öffentlichkeiten in Geber- wie in Nehmerländern. Das Dilemma der nationalen Parlamente liegt in der Aufgabe, die auf europäischer Ebene intergouvernemental getroffenen Entscheidungen zu legitimieren und zugleich die damit verbundenen Opfer den eigenen Wählerinnen/Wählern gegenüber rechtfertigen zu müssen. Das Europäische Parlament bleibt in der Krise zunächst weitgehend auf der Zuschauerbank. War seine Zustimmung zu vier der sechs Gesetzesvorhaben im sogenannten Six-Pack und später zum Two-Pack – sie dienen allesamt einer stärkeren Überwachung und Sanktionierung der nationalen Fiskaldisziplin – noch notwendig, so kommen die einschneidenden Verträge zum ESM und zum Fiskalpakt ohne es zustande, was die Abgeordneten aller Fraktionen heftig kritisierten. EP-Präsident Martin Schulz wurde im Unterschied zu seinen Vorgängerinnen/Vorgängern zu einem lautstarken Anwalt des Parlaments. Dass der Fiskalpakt Informationsrechte des Europäischen Parlaments und eine gemeinsame Versammlung des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente zur Erörterung fiskal- und wirtschaftspolitischer Themen in Aussicht stellt (Artikel 13), empfindet man wohl zu Recht als Feigenblatt und das Versprechen, den Fiskalpakt zu gegebener Zeit in EU-Recht zu überführen, als vage. Das Europäische Parlament ist aber auch in den Verhandlungen zum siebenjährigen Finanzrahmen (2013 bis 2019) in eine Zwickmühle geraten: zum einen sind die Verhandlungen der Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat zum erwarteten Bazar über Rabatte und Ausnahmen (40 an der Zahl) und zum anderen über das Sichern von Beständen wie in der Agrarpolitik geraten. Der äußerst geringe Finanzrahmen von knapp einem Prozent des EU-BIPs ist
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trotz Erweiterung auf 28 Staaten und gewachsener Aufgaben und vor allem Erwartungen an die Union zum ersten Mal in der Geschichte der Union kleiner als zuvor, enthält aber darüber hinaus eine vorhersehbare Kluft von programmierten Ausgaben und tatsächlicher finanzieller Abdeckung von 60 Milliarden Euro. Das EP kalkuliert angesichts bereits in der Vergangenheit akkumulierter und den potentiell neu entstehenden Defiziten mögliche Schulden von 300 Milliarden Euro. Da es der Union verboten ist, Schulden zu machen, bleibt unklar, wie diese Lücke zu schließen ist. Im März 2013 hat das Europäische Parlament im Sinne der Vertragstreue und „good governance“ den Finanzrahmen abgelehnt und kann dennoch in Zeiten der Austeritätspolitik diese Haltung nur mit größten Schwierigkeiten erklären. Da 2014 die nächsten EP-Wahlen stattfinden, wird man sich wohl mit einigen Kompromissen, vor allem zur Flexibilisierung innerhalb des vorgegebenen Rahmens, zufrieden geben. Europäisches Parlament – ein „Organ mit Fragezeichen“ Das Europäische Parlament ist trotz aller Machtzuwächse bis heute ein Organ mit Fragezeichen. EP-Wahlen sind weitgehend nationale Wahlen mit immer geringerer Wahlbeteiligung, die seit der ersten Direktwahl im Jahr 1979 von einer durchschnittlichen Beteiligung von 63 Prozent auf 43 Prozent im Jahr 2009 gesunken ist. Dies gilt mit wenigen Ausnahmen für alle Mitglieder, auch in Österreich ist seit der ersten Wahl 1996 ein Verlust von mehr als 20 Prozentpunkten im Jahr 2009 zu verzeichnen. Die postkommunistischen Demokratien liegen allesamt weit unter dem gesamteuropäischen Durchschnitt. Das mit 1. Juli 2013 beigetretene Kroatien konnte im Mai 2013 ganze 20 Prozent der Wahlberechtigten zur Europawahl bewegen. Europawahlen sind sogenannte „second-order-elections“ zur Sanktionierung nationaler Regierungen über nationale Themen, die Union figuriert darin meist als Subventionstopf, aus dem wahlkämpfende Parteien versprechen, ein Maximum für das eigene Land oder die eigene Region heimzuholen. Dies ist umso verblüffender als die europäi-
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schen Bürgerinnen/Bürger diesem und anderen EU-Organen mehr Vertrauen schenken als nationalen Parlamenten und Regierungen, auch wenn die Klage über die Distanziertheit des Europäischen Parlaments und der eigenen Abgeordneten groß ist.11 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Rivalität zwischen nationalen Organen und dem Europäischen Parlament, wobei die Position des deutschen Bundesverfassungsgerichts einen prominenten Platz einnimmt. Wie schon erwähnt, wird das Gericht in seinem Lissabon-Urteil nicht müde, die Unmöglichkeit eines echten Parlaments auf europäischer Ebene zu betonen. Zum einen sei durch die degressive Proportionalität das „one man, one vote“Prinzip verletzt, zum anderen aber die Inexistenz eines europäischen Volkes ein unaufhebbarer Mangel. Dies ist ein Diskurs des 19. Jahrhunderts, in dem ein kulturell homogenes Volk Voraussetzung von Repräsentation im Nationalstaat war. Es ist hier nicht der Ort, auf dieses Konstrukt im Detail einzugehen, doch sei so viel hervorgehoben: Kulturelle Homogenität ist in keinem Nationalstaat gegeben, auch die Nation ist eine „imaginierte Gemeinschaft“, die über Jahrhunderte und durch eine Vielzahl sozio-politischer und kultureller Praktiken hervorgebracht wird. Die gemeinsame Sprache hat die Österreicherinnen/Österreicher nicht davon abgehalten, nach dem Zusammenbruch der Habsburgerreiches an der Nation Österreich zu zweifeln, mit allen Konsequenzen, die im Rahmen dieses Symposions besprochen wurden. Noch bemerkenswerter ist, dass Italien und Deutschland trotz einheitlicher Sprache und Kultur späte Nationalstaaten im europäischen Verbund sind. Beide Einheiten wurden durch Zwang und Gewalt hergestellt, bevor die Konstruktion einer nationalen Identität beginnen konnte. In Italien – wie im übrigen auch in Spanien, Belgien und dem Vereinigten Königreich – wird die Legitimität der Einheit immer wieder hinterfragt. Der vielzitierte und dem Einheitspolitiker Massimo d’Azeglio zugeschriebene Satz 11 Eurobarometer 78 (2012); siehe dazu auch Matthias Krupa, Völker hören keine Signale, in: Die Zeit, 23.05.2013.
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„abbiamo fatto l’Italia, ora dobbiamo fare gli italiani“ (wir haben Italien gemacht, jetzt müssen wir die Italiener machen) charakterisiert bis heute ein Projekt mit offenem Ausgang. Konstruktion eines europäischen Demos? Bliebe also die Frage, ob und wie man ein europäisches Volk konstruieren kann. Wenn wir dieses sehr deutsche Wort mit all seinen ethnizistischen Belastungen durch den Begriff Demos ersetzen, gewinnen wir einen festeren Boden. Der moderne Demos entsteht weder aus einer gemeinsamen Sprache noch aus einer wie immer definierten gemeinsamen Kultur, sondern zunächst im gemeinsamen Wahlakt von Repräsentationsorganen. Das ist das Minimum, aus dem ein politisches System erwächst, das in der Tat unterschiedliche Ausprägungen von Repräsentations- und Rechtfertigungsinstitutionen hervorbringen kann. Seit dem 18. Jahrhundert ist die Montesquieu‘sche Idee der Gewaltenteilung zu einem ebenso zentralen Prinzip erhoben worden wie die allgemeine und geheime Wahl eines Parlaments, aus dem eine Exekutive hervorgeht, die nicht unbedingt der direkten Wahl, wohl aber einer parlamentarischen Mehrheit und Kontrolle bedarf. Der Demos kann auch aus einem gemeinsamen konstitutionellen Akt, als pouvoir constituant, entstehen. Dies war die Geburt des amerikanischen und des französischen Demos in den Revolutionen des 18. Jahrhunderts, die jenen „constitutional moment“ erzeugten, der bis in unsere Zeit vor allem in Krisenzeiten immer wieder erneuert wurde und die Verfassung festigte, auch wenn er sie erneuerte. Insofern wäre eine in allen EU-Mitgliedstaaten zeitgleich stattfindende Ratifikation der Verträge ein wichtiges Moment zur Erzeugung eines europäischen Demos, das seinen „constitutional moment“ intellektuell und emotional lebt. Vertragsratifikationen sind ein Akt ex post, indem nur ein Ja oder ein Nein möglich ist, und Bejahung oder Verneinung haben im Laufe der Ratifikationsprozesse stets sehr unterschiedliche Gründe gehabt, die oft wenig mit dem vorgelegten Text zu tun hatten. Das zeigen viele Untersuchungen zur Ablehnung des
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Verfassungsvertrages in Frankreich und den Niederlanden im Jahre 2005. In beiden Staaten stand der Denkzettel für die respektiven Regierungen im Vordergrund; in Frankreich diente das Nein der linken Parteien mehr der eigenen Konsolidierung – über die Dämonisierung der Union als neoliberales Projekt – als der Frage von Kompetenzen, die just in diesem Vertrag kaum erweitert wurden. Gerade die Vergemeinschaftung der Wirtschaftspolitik war nicht erfolgt, eine fatale Entscheidung für die Finanz- und Fiskalkrise. Ähnliches gilt für das wiederholte Nein in irischen Abstimmungen, die nach der Modifikation einzelner Bestimmungen wiederum positiv verliefen. Dabei ist zu erwähnen, dass in allen Staaten mit negativen Volksabstimmungen stets die Zustimmung des nationalen Parlaments vorausgegangen war. Die Diskrepanz zwischen parlamentarischer Zustimmung und plebiszitärer Ablehnung bedarf einer eigenen Analyse, die hier nicht geleistet werden kann. Unübersehbar ist darin allerdings das Zerwürfnis von Repäsentantinnen/Repräsentanten und Repräsentierten, das mit einer Eliten-Skepsis gegenüber Volksabstimmungen, ja mit einer veritablen Volksphobie der Regierenden in Europa, quittiert wird. Das Recht der Bürgerschaft auf Mitwirkung Doch gerade die irischen Abstimmungen zeigen, wie wichtig eine ex ante-Debatte über Vertragsänderungen wäre. Angesichts der in der Krise notwendig gewordenen nächsten Vertragsänderung durch einen Konvent (ventiliert durch eine Reihe politischer Akteurinnen/Akteure sogar in Deutschland und in der Mitteilung der Kommission „Konzept für eine vertiefte, echte Wirtschafts- und Währungsunion“12) schließe ich mit meinem cetero censeo: Ein solcher Konvent sollte in einer allgemeinen europäischen Wahl zustande kommen, in der Kandidatinnen/Kandidaten ihre konstitutionelle Vision der Union darlegen. Artikel 48 EUV legt nur fest, aus welchen nationalen und 12 KOM (2012) 777 final (Brüssel 28.11.2012)
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europäischen Organen die Konventsmitglieder zu entsenden sind, nicht, wie erstere die Auswahl der Delegierten treffen. Die ebenso europaweite Ratifikation wäre der zweite notwendige Schritt. Nichts dient der Konstruktion eines Demos besser als der Respekt vor dem Recht einer Bürgerschaft, einen gestaltenden Beitrag zur Verfassung leisten zu können, mit und unter der sie in der Folge zu leben hat. Dann könnte der Streit um die Neuverteilung der Macht zwischen europäischer, nationaler und subnationaler Ebene, um Delegation von Aufgaben und Kontrolle der delegierten Macht, um Rechte und Pflichten der Bürgerinnen/Bürger beginnen. Damit, und nicht durch weitere heimliche Zentralisierungsschritte zur Gestaltung einer Fiskalpolitik des Überwachens und Strafens, könnte die Aneignung der Union durch die Bürgerschaft gelingen, deren diffuse Skepsis und nationalistischen Reflexe durchbrochen werden. „Pooling of sovereignty“ – die Bildung einer Souveränitätsgemeinschaft – heißt nicht nur, dass die Glieder Souveränität auf eine neue Ebene übertragen, sondern auch, dass sie einen neuen Souverän hervorbringen. Der Souverän ist unter demokratischen Bedingungen kein anderer als der Demos. Dieser wird noch lange, vielleicht immer, ein Mixtum aus nationalen Demoi bleiben, die zwischen ihren nationalen Kontexten und dem europäischen Kontext hin- und herpendeln werden. Das ist in allen Föderationen der Fall. Im Unterschied zu diesen ist aber der europäische Kontext als supranationale Klammer noch nicht außer Streit gestellt und jeder Vertiefungsschritt ein Vabanquespiel. Literatur Brok, Elmar/Selmayr, Martin, Der „Vertrag der Parlamente“ als Gefahr für die Demokratie? Zu den offensichtlich unbegründeten Verfassungsklagen gegen den Vertrag von Lissabon, in: integration (2008) 3, 217–234. Eilstrup-Sangiovanni, Mette/Verdier, Daniel, European Integration as a Solution to War, in: European Journal of International Relations (2005) 11, 99–135. Follesdal, Andreas /Hix, Simon, Why there is a democratic deficit in the
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EU: a response to Majone and Moravcsik, in: Journal of Common Market Studies (2006) 44, 3, 533–562. Forst, Rainer, Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 2007. Harcourt, Alison/Radaelli, Claudio, Limits to EU technocratic regulation? in: European Journal of Political Research (1999) 35, 1, 107–122. Judt, Tony, Post-War: A History of Europe since 1945, London 2005. Krupa, Matthias, Völker hören keine Signale, in: Die Zeit, 23. Mai 2013. Maurer, Andreas/Wessels, Wolfgang (Hg.), National parliaments on their ways to Europe: losers or latecomers? Baden-Baden 2001. Puntscher Riekmann, Sonja, Constitutionalism and Representation. European Parliamentarism in the Treaty of Lisbon, in: Petra Dobner/ Martin Loughlin (Hg.), The Twilight of Constitutionalism?, Oxford 2010, 120–137. Puntscher Riekmann, Sonja/Wydra, Doris, Representation in the European State of Emergency: Parliaments against Governments?, in: Journal of European Integration (2013) (i. E.)
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Kommentar zum Panel „Wirtschafts- und europapolitische Verortung der Ereignisse“
Die Bearbeitung des Themenblocks „Wirtschafts- und europapolitische Verortung der Ereignisse“, nämlich jener des 4. März 1933, stand vor einigen Schwierigkeiten. Diese resultieren aus der Sicht der Ereignisse von 1933 aus dem Blickwinkel der Gegenwart: Denn 2013 ist jede Wirtschaftspolitik aufgrund der EU-Verträge im Wesentlichen Europapolitik, die Wirtschaftskompetenz der Einzelstaaten erscheint zugunsten der europäischen Institutionen reduziert. 1933 existierte nichts davon. Nun spielte der österreichische Verfassungsbruch von 1933 zwar in Europa und hatte daher notwendigerweise auch eine europapolitische Dimension, es existierten aber keine europapolitischen Institutionen, auch wenn man zugestehen muss, dass der Völkerbund damals noch viel stärker europazentrisch ausgerichtet war als die United Nations Organisation (UNO) nach 1945: Ich erinnere hier nur an die über den Völkerbund organisierten Lösungen der österreichischen Krisen von 1922 und 1932, die Genfer und Lausanner Anleihen. Aber als Ebene, auf der wirtschaftliche und politische Krisen mit Aussicht auf Erfolg diskutiert werden könnten, war der Völkerbund wohl auch nicht vorgesehen. Immerhin wäre eine genauere Befassung mit den Aktivitäten des Völkerbundes rund um die große Krise von 1929 bis 1933, aber auch im Zusammenhang mit dem Vordringen diktatorischer Regierungssysteme, vielleicht von Interesse. Dass die Referentinnen/Referenten dieses Themenblocks den Völkerbund kaum ansatzweise thematisiert haben, ist zweifellos als Hinweis auf dessen geringe Relevanz für unsere Thematik zu werten. Immerhin gab es „europäische“ Privatinitiativen, wie die Paneuropa-Union Richard N. Coudenhove-Kalergis oder die Europäische Minderheitenkonfe-
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renz unter dem Vorsitz des Slowenen Josip Vilfan, aber das waren europapolitisch ebenfalls ziemlich wirkungslose Instrumente. Ganz im Gegenteil: Das Fehlen irgendeiner zentralen europäischen Instanz verschärfte die ökonomische Krise und ließ die einzelnen Staaten nach ausschließlich „nationalen“ Lösungen suchen, die sich in der Regel als krisenverschärfend erwiesen. Anders als in den europäischen Institutionen nach 1945 gab es auch keinen Konsens im Hinblick auf ein verpflichtendes Modell von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, wie er doch, mit allen diesem Modell anhaftenden Schwächen, in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der Europäischen Gemeinschaft (EG) und der Europäischen Union (EU) zur Regel wurde. Zwar zeigt insbesondere das österreichische Beispiel mit der zweimaligen Anrufung des Völkerbundes, 1922 und 1932, dass einzelne Staaten mit der Bewältigung von Krisen großen Ausmaßes überfordert waren und doch im Völkerbund eine zumindest vermittelnde Instanz sahen. Aber die Völkerbundgarantien für die Österreich-Kredite von 1922 und 1932 resultierten aus der ganz besonderen Problemlage Österreichs: Dessen Hauptstadt war bis 1918 die Hauptstadt eines europäischen Großstaats und dessen Finanzsystem betreute große Teile Ostmittel- und Südosteuropas, war aber nach 1918 nicht gewillt, seine Rolle auf die klein gewordene Republik Österreich zu beschränken. Diese europapolitische Komponente des Problems stand freilich in diesem Panel nicht zur Debatte, denn die Verträge von Genf und Lausanne waren den März-Ereignissen vorgelagert – wobei insbesondere der mühsame parlamentarische Kampf um die Lausanner Anleihe die Neigung der Christlichsozialen als erster Regierungspartei zu nichtparlamentarischen Regierungsformen vermutlich nicht unbeträchtlich gesteigert hat.1 Die durch die Aus1
Dass nicht nur die Großdeutschen, sondern auch die Sozialdemokratie den Vertrag vor allem als „nationalen Verrat“ – wegen der neuerlichen Bekräftigung des Anschlussverbots an Deutschland – bekämpften, wird heutzutage nur selten erinnert.
Kommentar zum Panel: Wirtschafts- und europapolitische Verortung
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schaltung des Parlaments und den folgenden Staatsstreich auf Raten (Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofes!) etablierte Regierungsdiktatur hatte gerade wegen Lausanne auch einen ziemlich beengten wirtschaftspolitischen Gestaltungsspielraum. Doch zurück zu Europa. Zwischen 1918 und 1938 scheiterten alle Ansätze für eine weitergehende wirtschaftliche Koordination über die traditionellen bilateralen Handelsverträge hinaus. Für den Bereich der ehemaligen Habsburgermonarchie ist auf einige nicht umgesetzte Paragraphen der Friedensverträge von 1919 zu verweisen, ferner auf den sogenannten Tardieu-Plan von 1931/32. Zwar tagte 1933 in London eine „London World Economic Conference“, aber auch hier standen sich unterschiedliche Rezepte der Krisenbewältigung gegenüber, eine koordinierte europäische Aktion kam nicht zustande. Dagegen haben nach 1945 insbesondere Franzosen und Deutsche aus Wirtschaftskrise, Krise, Zweitem Weltkrieg und der Erfahrung mit den faschistischen und nationalsozialistischen Herrschaftssystemen soviel gelernt, dass sie mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) und der EWG übernationale Institutionen entwickelten, die den Kern für ein Vereinigtes Europa abgeben und gleichzeitig durch die übernationale Organisation zentraler Wirtschaftsbereiche Kriege zwischen den Vertragspartnern unmöglich machen sollten. Gleichzeitig sollte das neue Europa ein Europa der Demokratien sein. Wegen dieser grundlegenden Schwierigkeiten eines Vergleichs zwischen den 1930er-Jahren und der Zeit nach 1945 waren auch nur zwei der vier Beiträge dieses Panels zeitlich so übergreifend angelegt, wie das dessen Titel suggerieren könnte. Dagegen beschränkten sich Dieter Stiefel und Sonja Puntscher Riekmann auf jeweils nur eine Zeitspanne, Stiefel auf die Zeit von 1934 bis 1938, unter dem Aspekt der Wirtschaftspolitik des sogenannten „Ständestaats“, Puntscher Riekmann auf die Europäische Union (EU) und deren Parlament. Hingegen haben sowohl Helene Schubert als auch Peter L. Lindseth Vergleiche der Zeit zwischen den Weltkriegen mit der Zeit nach 1945 angestellt.
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Zu: Dieter Stiefel, „Der Ruf nach autoritären Strukturen: Wirtschaft und Ständestaat“ Die Weltwirtschaftskrise von 1929 bis1932/33 wurde, im Hinblick auf Österreich, ausführlich von Dieter Stiefel analysiert, in dessen Beitrag die Sehnsucht einiger, auch liberaler, Wirtschaftspolitiker – wie Oskar Morgenstern – nach autoritären Durchgriffsmöglichkeiten der Regierung ebenso thematisiert wird wie die Tatsache, dass die Regierungsdiktatur genau diesen liberalen Erwartungen nicht gerecht wurde und wohl auch nicht gerecht werden konnte. Der grundsätzliche Fehler dieser Erwartungen lag wohl darin, dass Morgenstern, aber auch Ludwig von Mises, die Krise nicht als Folge von Marktversagen interpretierten, sondern als Folge der massiven Beeinflussung bzw. Ausschaltung der Märkte durch Gewerkschaftsmacht einerseits, intensive Unterstützung bestimmter Sektoren durch hohe Zölle und Subventionen (Landwirtschaft!) bzw. Rettung insolventer Banken durch die öffentliche Hand andererseits. All das habe zu massiven Fehlallokationen von Ressourcen führen müssen. Dagegen hätte eine ausschließlich von den Möglichkeiten und Erwartungen möglichst freier Märkte geprägte Wirtschaftsordnung niemals eine so tiefe und schwere Krise hervorgebracht. Der autoritäre Staat aber, nicht abhängig von Wahlen und parlamentarischen Mehrheiten, könne, so Morgenstern, auch Nein sagen gegenüber den verschiedenen Ansprüchen. Dem war aber nicht so. Dieter Stiefel verweist darauf, dass es, im Gegenteil, zahlreiche wirtschaftspolitische Maßnahmen zugunsten einzelner Wirtschaftssparten, auch einzelner Branchen, gegeben habe. Auch die Rettung maroder Banken und Versicherungsanstalten durch die öffentliche Hand ging nach 1933 munter weiter.2 Damit nicht genug: Das Modell des Ständestaats, das die Regelung wirtschaftlicher Angelegenheiten in die Selbstverwaltung der Be2
Wiener Bankverein – Fusionierung mit der mit öffentlichem Geld wiederhergestellten Creditanstalt 1935.
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rufsstände legen wollte, in denen Unternehmerschaft und Arbeitnehmerschaft zusammenarbeiten sollten, scheiterte eigentlich schon 1934, als es nach Auflösung der Freien Gewerkschaften zur Gründung eines Einheitsgewerkschaftsbundes kam. Das widersprach den Grundsätzen ständischer Selbstverwaltung ebenso wie das Handelskammergesetz 1937, mit dem die Handels- und Gewerbekammern nicht nur bestätigt wurden, sondern erstmals auch eine bundesweite Dachorganisation (Bundeskammer) erhielten. Tatsächlich setzte sich in der Praxis daher wieder ein Organisationsprinzip entlang der Klassenlinie (Unternehmerschaft – Arbeitnehmerschaft) durch. Dass genau dieses Organisationsprinzip 1945 wieder aufgegriffen wurde, um letztlich die Basis für eine korporatistische (aber eben nicht ständische!) Wirtschaftsverfassung abzugeben, in deren Rahmen bis heute zahlreiche wirtschaftpolitische Entscheidungen fallen, ist wohl einer der berüchtigten Treppenwitze der Geschichte. Was der „Ständestaat“ tatsächlich leistete, war hingegen eine Stärkung der Unternehmerseite und eine Schwächung der Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmer im Verteilungskampf: Der Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen sank vom Höchststand 61,6 Prozent 1931 auf 54,6 Prozent 1937, was nicht nur – erwartbar – von Vertreterinnen/Vertretern der Linken, sondern auch von dem der Regierung nahestehenden Grazer Nationalökonomen Josef Dobretsberger kritisiert wurde. Dabei wurden nicht selten ungesetzliche Mittel eingesetzt, was die durch die Ausschaltung der Sozialdemokratie stark geschwächte Vertretung der Arbeitnehmerschaft (Einheitsgewerkschaftsbund, Arbeiterkammern) nicht verhindern konnte. Zusammengefasst lautet Stiefels Analyse der wirtschaftspolitischen Ergebnisse von Staatsstreich und Diktatur: •• Dominanz der Finanzpolitik als Fortsetzung der liberalen Wirtschaftspolitik der 1920er-Jahre mit autoritären Mitteln und unter Bedingungen, die in anderen Ländern bereits aufgegeben worden waren; •• Durchsetzung agrarischer Monopolisierungstendenzen auf Kosten anderer Wirtschaftsbereiche und des Massenkonsums;
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••
Verlagerung in der Einkommensverteilung von den Unselbständigen zu den Selbständigen und von den konsumierenden zu den produzierenden Klassen. Dieter Stiefels zentrale These lautet: Die Wirtschaftspolitik des sogenannten „Ständestaats“ ist nicht aus wirtschaftlichen Entwicklungen oder aus der Überzeugung von der Durchsetzung bestimmter volkswirtschaftlicher Theorien zu erklären, sondern nur aus ihren machtpolitischen Notwendigkeiten. Es ging um die Stabilisierung des Status quo, die umso weniger gelingen konnte, je weniger sie die Unterfütterung dieser Stabilisierung mit wirtschaftlichem Wohlergehen ins Auge fasste. Die äußerst bescheidenen Mittel zur Belebung der Wirtschaft wirkten kaum. Auch Budgetüberschüsse wurden nicht aktiviert, sondern zur vorzeitigen Tilgung von Verbindlichkeiten verwendet. Aber die Vorstellung, eine autoritäre, nichtparlamentarische Regierung stünde über den verschiedenen Interessen, erwies sich im Augenblick ihrer Verwirklichung als illusionär: Die Realität einer komplexen industrialisierten Gesellschaft war mit dem schlichten Modell einer Harmonie autonom organisierter Berufsstände in keiner Weise zu bewältigen. Anstatt keiner Wirtschaftspolitik, wie sich das die liberalen Theoretiker wünschten, gab es eine Menge davon, und zwar eine durchaus widersprüchliche. Die „ständische Sehnsucht“ äußerte sich nicht nur in einer forcierten Förderung der Landwirtschaft, sondern auch im Bemühen, auf dem Sektor der Produktion das Handwerk zu fördern. Insbesondere bei öffentlichen Aufträgen sollten handwerkliche und gewerbliche Kleinbetriebe gegenüber industriellen Unternehmungen bevorzugt werden. Ergänzend zu diesem zweifellos zutreffenden systemischen Befund wäre wohl auch auf den Einfluss einzelner Persönlichkeiten hinzuweisen, vor allem doch auf den Einfluss von Viktor Kienböck, den auch Kritik, wie sie etwa Gottfried Kunwald, der Finanzberater des bereits verstorbenen früheren Bundeskanzlers Ignaz Seipel, äußerte3, nicht ins Wanken bringen konnte. Eine europapolitische 3
Vgl. Friedrich Weissensteiner, Dr. Gottfried Kunwald: Bundeskanzler
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Komponente des Regimes konnte Dieter Stiefel offensichtlich nicht ausmachen – sieht man von der Finanzdiktatur des Völkerbundes über Österreich unter Meinoud Rost van Tonningen ab, die zweifellos mittelfristig zur Delegitimierung des „Ständestaats“ beitrug. Zu: Helene Schuberth, „Aktuelle Krisenbewältigung im Vergleich mit den Strategien der 1930er-Jahre“ Während Dieter Stiefels Analyse ausschließlich den wirtschaftspolitischen Folgen von 1933/34 galt, stellt Helene Schuberth in ihrem weit ausgreifenden Beitrag die naheliegende Frage nach der Leistungsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie in Krisensituationen. Sie vergleicht die Lösungsansätze in der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1932/33 mit denen der Krise von 2007/09. Als Ursachen der beiden Krisen sieht sie Deregulierungen des Finanzsystems, steigende Verschuldung, Ungleichgewichte und Ungleichheit. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1932 („Große Depression“) wurde freilich noch verschärft durch das Problem der gigantischen Verschuldung der europäischen Staaten gegenüber den USA, die nur durch Kapitalflüsse von den USA nach Europa zu bewältigen war. Als auf Grund der US-amerikanischen Börsenkrise vom Oktober 1929 diese Kredite gekündigt wurden, traf das insbesondere das durch Krieg und Inflation bereits stark geschwächte österreichische Bankensystem besonders hart. Schuberth betont dabei vor allem die Rolle des Goldstandards, der nach den diversen Währungsstabilisierungen der Zwischenkriegszeit – wieder – zur Leitlinie der Währungspolitiken wurde, und vergleicht die dadurch verursachte Inflexibilität der Währungssysteme mit der Fixierung der Wechselkurse in den Euro-Ländern: In beiden Fällen kann nur das Abgehen von der Goldfixierung bzw. das Ausscheiden aus dem Euro-Raum Abwertungen ermöglichen, die offensichtlich einige Strömungen der Wirtschaftswissenschaft als ZauberSeipels Finanzberater und Freund, in: Österreich in Geschichte und Literatur, 48 (2004) 3–4, 208–226, die Kritik an Kienböck insbes. 223–224.
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mittel einer autonomen Wirtschaftspolitik ansehen. Das passierte dann auch ab 1931/32 in zahlreichen europäischen Ländern – aber da es ein weit verbreitetes Mittel war, konnte die Konkurrenzfähigkeit damit wohl auch nur in Grenzen gesteigert werden. Schuberth konzediert allerdings, dass vor dem Hintergrund der Hyperinflation (Österreich 1922, Deutschland – noch erheblich schlimmer – 1923) die allermeisten Theoretiker und Wirtschaftspolitiker den Gedanken an eine expansive Geld- und Ausgabenpolitik auf Kreditbasis perhorreszierten. Im Vergleich mit 1929 erscheint die Krise von 2009 ebenfalls als Folge einer Banken- und Kreditkrise, ausgelöst durch die Immobilienspekulation in den USA. Nach dem Krach der LehmanBank im September 2008 hörten die Banken auf, einander Kredite zu gewähren, was nun auch auf die Realwirtschaft durchschlug, die 2009 einen enormen Einbruch erlebte. Die Probleme des Bankensektors sind noch keineswegs behoben, neuerlich verschärft wurde die Situation in Europa durch hohe Staatsverschuldungen, die ohne Intervention der Europäischen Union in Griechenland, Portugal, Irland und vielleicht auch in anderen Ländern zum Staatsbankrott geführt hätten. Im Vergleich zu 1929/32 erscheinen die Krisenfolgen von 2007/09 freilich erheblich schwächer. Während zu Anfang der 1930er-Jahre das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den USA um 27 Prozent, in Österreich um 20 Prozent einbrach und die Arbeitslosenquote auf 30 Prozent in Deutschland und 26 Prozent in Österreich anstieg, lag der Konjunktureinbruch von 2009 bei 2,9 Prozent in den USA, 5,4 Prozent in Deutschland und 2,4 Prozent in Österreich. Es wird diese erheblich positivere Krisenbewältigung auf Liquiditätssteigerungen durch die US-Notenbank und die Europäische Zentralbank zurückgeführt, deren Politik jener der 1930er-Jahre völlig entgegengesetzt war: Damals war das oberste Ziel der Währungshüter, mit allen Mitteln den Goldstandard zu halten, was zur Erhöhung der Zinssätze und damit Kreditverteuerungen führte. Ähnliches war auch in Europa der Fall. Kapitalverkehrskontrollen und Devisenbeschränkungen erschwerten den Wirtschaftsprozess.
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Da Krisenbewältigungsmaßnahmen häufig sehr rasch und möglichst ohne Aufsehen getroffen werden sollten, stehen demokratisch legitimierte Regierungen nicht selten vor dem Problem, komplexe Überlegungen und Verhandlungen sozusagen im Eilverfahren umzusetzen – eine Schwierigkeit, die insbesondere in Österreich bei den seit 1932 (Ausscheiden der Großdeutschen aus der bürgerlichen Regierungskoalition) sehr labilen Mehrheitsverhältnissen die Sehnsucht zumindest nach Präsidialregierungen nach dem deutschen Vorbild der Regierung Heinrich Brüning enorm steigerte. Die Anfälligkeit für autoritäre und/oder faschistische Lösungen war aber eine (kontinental)europäische Besonderheit, während in den USA die Demokratie aus der Weltwirtschaftskrise gestärkt hervorging. Freilich darf nicht übersehen werden, dass auch Franklin D. Roosevelts berühmter „New Deal“ ein zeitlich begrenzter Versuch von Arbeitsplatzbeschaffung durch staatliche Investitionen (bei gleichzeitigen Steuererhöhungen) war, der nach dem Zurückfahren der staatlichen Ausgaben ab 1937 wieder in eine neue Rezession mündete. Die Autorin wendet ihr Augenmerk immer wieder dem Bankenwesen und dem Finanzmarkt zu. So verweist sie auf den Glass-Steagall Act von 1933 in den USA, durch den Kredit- und Einlagengeschäfte vom Wertpapierhandel getrennt wurden. Das Gesetz wurde 1999 aufgehoben – ein wichtiges Datum im Prozess der Deregulierung. Der 2010 verabschiedete Dodd-Frank Act bedeutet in gewissem Sinn eine moderate Rückkehr zu den Regelungen von 1933. Der entscheidende Unterschied zwischen den 1930er-Jahren und den Jahren ab 2007 ist jedoch, dass es heute eine starke internationale Kooperation gibt, sowohl weltweit wie auch auf europäischer Ebene. Damit sind Alleingänge einer einzigen Regierung sehr erschwert. Abschließend vergleicht Schuberth nochmals den Goldstandard von 1930 mit dem Euro: Wer dem Euroraum beitritt, verliert die Souveränität über den Wechselkurs der Währung, ähnlich wie in der Zwischenkriegszeit im Falle der Bindung an das Gold. Und ähnlich wie der Stabilität des Euro erhebliche Opfer gebracht wurden und werden, war dies beim Goldstandard der Fall: Man glaubte, Währungsstabilität sei die Vo-
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raussetzung für einen neuen Aufschwung nach dem Durchschreiten der krisenbedingten Talsohle. Freilich darf man nicht übersehen, dass Deutschland, insbesondere aber auch Österreich, nach der Bankenkrise und den internationalen Hilfskrediten einen außerordentlich engen autonomen Entscheidungsspielraum besaßen. Natürlich kann in einem knappen Beitrag von so großer Spannweite nicht jedes Problem diskutiert werden, das vielleicht von Relevanz ist. So hat die Autorin zwar mehrfach das Außenhandelsproblem angeschnitten. Dieses könnte aber ausführlicher diskutiert werden, denn der weitgehende Zusammenbruch, etwa der österreichischen Industrieexporte als Folge der restriktiven Handelspolitik der Nachbarländer, verschärfte die Krise enorm. Eine andere Frage drängt sich ebenfalls auf: War vielleicht die Krise von 2007/09 auch deshalb nicht so schlimm, weil sie auf einem erheblich höheren materiellen Niveau als 1929/32 stattfand? Ist nicht die Ausstattung der europäischen und US-amerikanischen Volkswirtschaften mit kurzund langlebigen Gütern aller Art heute um so vieles höher als damals, als dass ähnliche Phänomene der Massenverelendung ebenso schnell um sich greifen könnten wie um 1930? Im Beitrag von Helene Schuberth wird kurz darauf verwiesen, dass auch der Völkerbundbeauftragte Meinoud Rost van Tonningen Bundeskanzler Engelbert Dollfuss gedrängt habe, ohne Parlament zu regieren. Diese autoritäre Versuchung wurde unterstützt •• durch den Druck der Heimwehr, die ein unentbehrlicher Koalitionspartner Dollfuss’ war (neben dem demokratisch orientierten deutschnationalen Landbund), •• durch die Tradition des bis 1918 praktizierten Regierens mithilfe des Notverordnungsrechts nach Artikel 14 der Verfassung, die Regierungen und Beamten ja noch in „bester“ Erinnerung war, •• die Existenz des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes von 1917, das gerade während der Creditanstalt-Krise benützt wurde, um rasch Entscheidungen zu treffen (zu Ungunsten der Direktoren!).
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Zu: Peter L. Lindseth, „Der europäische Kontext: Von der Krise der Zwischenkriegszeit zur Verfassungsregelung nach dem Krieg und darüber hinaus“ Freilich sieht Peter L. Lindseth in seinem Beitrag einen gewissen Trend zum Autoritarismus nicht nur in Italien, Deutschland, Österreich, Ungarn usw., sondern auch in den „klassischen“ Demokratien, so in Frankreich. Mit einem Zitat von Carl Schmitt, der einen „unüberwindbaren“ Gegensatz zwischen parlamentarischer Demokratie und den Anforderungen effizienter Regierungsgewalt konstatierte, verweist er auf das Problem rascher Entscheidungsfindung, besonders in wirtschaftlichen Problemsituationen wie Bankzusammenbrüchen. Die Parlamente Frankreichs und Deutschlands hätten in der Zwischenkriegszeit ihre souveränen Vollmachten dazu benützt, Befugnisse an die Exekutive abzutreten. Er führt das zum Teil auf Erfordernisse der Kriegswirtschaft zurück, die eben zu Ermächtigungsgesetzen (in Frankreich: loi d’habitation) geführt hätten. In der Weimarer Verfassung des Deutschen Reichs wurde dies durch Artikel 48, der dem Reichspräsidenten weitreichende Möglichkeiten einräumte, auch Verfassungsrecht der Republik. Das autoritäre Präsidialkabinett Brüning ist nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Auch in England wurden kritische Stimmen über die Konzentration von Macht bei der Regierung laut. Diese Kritik führte zur Gründung einer Kommission, die den „new despotism“ der Regierungen untersuchen sollte. Bedeutende Wissenschaftler, wie Harold Laski, gehörten ihr an. Die Kommission stellte schließlich fest, dass das Parlament einen Teil seiner Gesetzgebungsmacht abtreten müsse – eine moderne öffentliche Meinung erfordere dies eben. Auch in den USA gab es Diskussionen, dass das klassische Modell der Gewaltenteilung den Problemen der modernen Gesellschaft nicht mehr genüge. Antonio Salazar, Wirtschaftsprofessor und portugiesischer Diktator, erwartete gar, dass es in zwanzig Jahren keine gesetzgebenden Versammlungen in Europa mehr geben werde. Der eigentliche wissenschaftliche „Vater“ des modernen Antiparlamentarismus war Carl Schmitt, der
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allerdings für Adolf Hitlers Deutschland das Wort „Diktatur“ vermieden haben wollte – er sprach lieber davon, dass hier, wie Aristoteles und Thomas von Aquin dies gefordert hatten, die Regierung eben der richtige Ort der Gesetzgebung sei. Er argumentierte, die Erfordernisse der Zeit gingen in Richtung von Regierungsentscheidungen in konkreten Fällen, nicht in die Richtung der Debatte über generelle Normen. Hingegen sah Schmitt 1944 – wieder – die Notwendigkeit ordnungsgemäßer Verfahrensweisen, ohne die es kein Recht geben könne. Damit reagierte er auf die tatsächliche Rechtlosigkeit im Nationalsozialismus, in die die Gesetzgebungsmacht einer allmächtigen Führung schließlich mündete. Nach 1945 versuchte Europa, aus den Lektionen der Zwischenkriegszeit und des Kriegs zu lernen. Die große Zeit der Parlamente kehrte aber nicht zurück. Vielmehr wurden die Repräsentativversammlungen zunehmend zur stabilen Stütze einer ebensolchen Regierung, eventuell auch zum Kontrollorgan. Das deutsche Grundgesetz legte daher auch fest, eine Kanzlerin/ein Kanzler könne nur durch ein positives Misstrauensvotum (Nachfolgerin/Nachfolger wird gleichzeitig gewählt) gestürzt werden, um die Instabilität der Weimarer Regierungskoalitionen zu verhindern. Noch weiter ging die französische Verfassung der V. Republik (1958), die der Regierung eine weitgehende Freiheit im täglichen politischen Geschäft einräumte, während die Legislative die Regierung beobachten und kontrollieren sollte, ohne sich um Details der Politik zu kümmern. Diese Reduktion der Rolle der Parlamente verlief gegenläufig zum Bedeutungsgewinn der Gerichte, die als Kontrollorgane von Regierungen und Bürokratie immer wichtiger wurden. Gerade Höchstgerichte wie das Deutsche Bundesverfassungsgericht verwiesen die Parlamente wiederum auf ihre Rolle als Repräsentanten der Nation, als welche sie insbesondere die Grundwerte der Verfassungen zu bewahren hatten. Charles S. Maier beschrieb diese Prozesse als Suche nach einer neuen Stabilität, die zumindest für einige Jahrzehnte auch
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erreicht wurde.4 Lindseth schließt den Beitrag mit einem Verweis auf sein Buch „Power and Legitimacy: Reconciling Europe and the Nation-State“ (2010), in dem er auf die legitimierenden Rahmen von Regierungen, Parlamenten und Höchstgerichten hinweist, die ihrerseits seit etwa fünfzig Jahren die Nationalstaaten konstituieren. Bei der Entstehung des europäischen Institutionengefüges seit den 1950er-Jahren sei darauf prinzipiell Rücksicht genommen und die europäischen Institutionen von nationalstaatlichen getrennt worden. Der Autor sieht es nicht als Zufall an, dass die europäischen Institutionen geschaffen wurden, als die Macht der Regierungen sich systemisch stabilisiert hatte. Andererseits entstünden in Europa neue Bedürfnisse nach Legitimität der europäischen Entscheidungen. So entwickle sich eine neue Konfliktsituation zwischen dem Bedarf nach „mehr“ und nach „weniger“ Europa. Diese Situation begleite Europa in die Zukunft. Zu: Sonja Puntscher Riekmann, „Legitimität und Repräsentation in der Europäischen Union in zeitgeschichtlicher Perspektive“ Es ist höchst interessant, dass Linseth in seinem Beitrag dem europäischen Parlament kaum größere Bedeutung beimisst. Dieses steht hingegen im Mittelpunkt der Betrachtungen von Sonja Puntscher Riekmann. Die Autorin sieht die Europäische Union als Antwort auf den Zivilisationsbruch der autoritären und totalitären Regime der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es begann mit einer parlamentarischen Versammlung der EGKS, die freilich fast nur konsultative Funktionen hatte. Mit dem EWG-Vertrag begann die Diskussion um ein „wirkliches“ europäisches Parlament. 1976 wurde es beschlossen, 1979 erfolgten die ersten Wahlen. Dieses Parlament konnte inzwischen sei4
Charles S. Maier, Recasting Bourgeois Europe. Stabilization in France, Germany, and Italy in the decade after World War II., Princeton N. J., University Press, 1975.
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ne Kompetenzen erweitern, hat aber noch immer kein Initiativrecht. So ist die Union zweifach demokratisch legitimiert: Im Rat sind auf demokratische Wahlen folgende Regierungen vertreten, also die Mehrheiten der nationalen Parlamente. Das Europäische Parlament wird direkt gewählt. Doch spielte das Parlament in der Wirtschaftskrise seit 2009 praktisch keine Rolle, hingegen gewannen die nationalen Parlamente über die Notwendigkeit der Zustimmung zu Stabilitätsmechanismus und Fiskalpakt an Bedeutung. Zusätzlich wurde das deutsche Bundesparlament vom deutschen Bundesverfassungsgericht gegenüber dem Europäischen Parlament aufgewertet, das letzterem die Qualität eines umfassend repräsentativen Organs abspricht. Die Kritik an der Repräsentativität des Parlaments entzündet sich an der degressiven Proportionalität, die das „one man, one vote“Prinzip verletze. Es gebe keinen Demos, die Distanz zum Wähler/zur Wählerin sei zu gering. Europäischer Rat und Rat reklamieren eigene Repräsentationsfunktionen (legitimiert über die demokratisch legitimierten Mitgliederregierungen). In der Krise beanspruchen nationale Parlamente neue Funktionen. Das Europäische Parlament wurde zur Zuschauerin degradiert. Nationale Parlamente können aber nur ihre jeweilige Nation repräsentieren, niemals die Europäische Union. Das Europäische Parlament repräsentiert hingegen die europäischen Bürgerinnen/Bürger. Auch die Fraktionen formieren sich hier nicht nach nationalen Grenzen, sondern bilden staatenübergreifende Parteien. Als Ergebnis ihrer Überlegungen fordert die Autorin die umfassende Parlamentarisierung unionalen Handelns sowie die Fokussierung von Wahlen zum Europäischen Parlament auf Integrationsfragen. Ja, das wird wohl nicht ganz einfach umzusetzen sein … Resümee Die autoritäre Versuchung nähert sich in der Krise in Gestalt der Versprechung, ohne mühsame parlamentarische Verhandlungen und Gesetzgebungsakte rasch auf wirtschaftliche Probleme reagieren zu können – da eine Verordnung und dort ein Gesetz aus Regierungshand
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– und schon sei die Krise gelöst. Nun scheint es in der Tat Fälle zu geben, wie jenen des Deutschen Reichs, in dem die nationalsozialistische Regierung durch eine forcierte Rüstungspolitik im Verein mit anderen wirtschaftlichen und finanzpolitischen Maßnahmen die Krise rasch überwinden konnte – freilich um den Preis des kommenden Kriegs. In Österreich kann man hingegen mit einiger Sicherheit feststellen, dass die mit dem 4. März 1933 erreichte Handlungsfreiheit der Regierung zur Krisenbewältigung so gut wie nichts beitrug. Ökonomisch hat sich die Ausschaltung des Parlaments also nicht ausgezahlt (Stiefel). Die anderen drei Referate versuchen, über den Vergleich der Zwischenkriegs- mit der Nachkriegszeit gewisse Lerneffekte nachzuzeichnen (Schubert, Lindseth) bzw. bestimmte Forderungen an die Europapolitik der Gegenwart zu richten (Puntscher Riekmann). Als spezielle Anmerkung sei hier die Frage gestattet, ob das, was Peter L. Lindseth als neue Entwicklung nach 1918 analysiert, nämlich die Verschiebung der Entscheidungsmacht von den Parlamenten auf die Regierungen, tatsächlich eine so neue Entwicklung war. Im Falle des Deutschen Reichs, dessen Verfassung bis 1918 die Regierung ausschließlich auf das Vertrauen des Kaisers als preußischem König (Reichskanzler war der preußische Ministerpräsident) basierte, ist das wohl zu verneinen: Hier hatte der Reichstag nur eine durchaus begrenzte Funktion, eine Überlegenheit über die preußische und die Reichsregierung in Belangen der Gesetzgebung konnte er nie erlangen (auch wenn gewisse Parlamentarisierungstendenzen im Laufe der Jahre zu beobachten sind). Ähnlich in Österreich („Zisleithanien“): Die Regierung des Kaisers stand einem Parlament gegenüber, das im Bereich der Gesetzgebung fast ausschließlich den Initiativen der Regierung folgte (oder auch nicht) und das außerdem noch der Zustimmung des Kaisers zu seinen Beschlüssen bedurfte. Dass auch dieses Parlament – dennoch – versuchte, sich in bestimmten Fragen (Frauen- und Kinderarbeit etwa) durch parlamentarische Enqueten spezielle Fachkenntnisse anzueignen, ist festzuhalten. Aber dass hier nach 1918 eine Verschiebung vom Parlament zur Exekutive stattgefunden habe, ist eher nicht zu vermuten.
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Parlamente sind mühsam, die Prozeduren langwierig, die Debatten nicht selten niveaulos. Ihr Fehlen wird erst bemerkt, wenn sie nicht mehr da sind. Denn dann fehlt der Politik jene Legitimationsbasis, die dem politischen System doch erst durch allgemeine Wahlen verliehen wird. Das war ja auch in Österreich nach 1933 der Fall. Und noch etwas: Wenn der politische Gegner, im Parlament stets hinderlich und unangenehm, einmal ausgeschaltet ist, dann entstehen im „siegreichen“ Lager ausreichend neue Konfliktsituationen, um das Regieren neuerlich unerfreulich zu gestalten. Auch das kann man am Falle Österreichs von 1933 bis 1938 lernen. Die vier Beiträge dieses Panels behandelten, jeder in seiner Art, wichtige Themen zum Fragenkomplex Wirtschaftskrise und Demokratie (bzw. Diktatur). Natürlich konnte vieles nicht ausreichend berücksichtigt werden, war vielfach auch nicht Thema des Panels, wie etwa die Frage nach persönlichen Konstellationen in der österreichischen Politik der Jahre 1932/33 oder die Frage nach dem Einfluss bestimmter Persönlichkeiten auf die Wirtschaftspolitik 1933 bis 1938. Wie auch immer: Die Erfahrungen, zum Teil auch die Institutionen, die damals geschaffen wurden, wirkten als Lernmaterial nach, in der Zweiten Republik. Der Lernprozess begann wohl mit dem so genannten Anschluss 1938. Literatur Maier, Charles S., Recasting Bourgeois Europe. Stabilization in France, Germany, and Italy in the decade after World War II., Princeton N. J., University Press, 1975. Weissensteiner, Friedrich, Dr. Gottfried Kunwald: Bundeskanzler Seipels Finanzberater und Freund, in: Österreich in Geschichte und Literatur, 48 (2004) 3–4, 208–226.
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Autorinnen/Autoren
em. Univ.-Prof. Dr. Ernst Bruckmüller Geb. 1945, Studium der Geschichte und Germanistik in Wien, Promotion 1969, Habilitation für das Fach Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 1976; wissenschaftliche Laufbahn: 1969–1977 Univ.-Assistent am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, 1977 ao. Univ.-Prof. für Wirtschafts- und Sozialgeschichte am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, 2000 Univ.-Prof. ebenda, seit 1991 Vorsitzender des Instituts für Österreichkunde, 2003 Korr. Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2006 Wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Mitbegründer der „Beiträge zur historischen Sozialkunde“ (1971, in der Redaktion bis 2001), seit 2005 Vorsitzender des Instituts für Geschichte des ländlichen Raumes in St. Pölten. Univ.-Prof. Dr. Clemens Jabloner Geb. 1948, Studium der Rechtswissenschaften in Wien, Promotion 1972; ab 1975 Assistent von Robert Walter an der Universität Wien, 1978–1991 Beamter im Bundeskanzleramt, 1988 Habilitation an der Universität Wien, 1991 Vizepräsident, 1993–2013 Präsident des Verwaltungsgerichtshofes, seit 1993 Geschäftsführer des Hans Kelsen-Instituts, 1998–2003 Vorsitzender der Österreichischen Historikerkommission, 2006 Dr. h.c. der Universität Salzburg; Publikationen auf den Gebieten der Rechtstheorie, des öffentlichen Rechts und der Rechtsgeschichte. Dr.in Susanne Janistyn-Novák Geb. 1961, Studium der Rechtswissenschaften in Wien; zunächst Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Verwaltungsgerichtshofs, ab 1989 in verschiedenen Positionen in der Parlamentsdirektion tätig, seit 2008 Parlamentsvizedirektorin für den Bereich Legislative, seit 2002 Geschäftsführerin der Margaretha Lupac-Stiftung für Parlamentarismus und Demokratie (gemeinnützige Stiftung des Parlaments).
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Autorinnen/Autoren
Univ.-Prof. Peter Lindseth, JD, PhD Geb. 1962, Cornell University (B.A. 1984, J.D. 1987), Columbia University (Ph.D. 2002), 1988 Zulassung als Anwalt; wissenschaftliche Laufbahn (Auswahl): ab 1995 diverse Positionen an der Columbia Law School bis hin zum stv. Direktor des European Legal Studies Center von 1998–2000, ab 2000 Univ.-Prof. an der Law School der University of Connecticut, Gastprofessuren an den Universitäten Aix-Marseille, Princeton, Yale und Paris II; Jean Monnet Fellow am European University Institute in Florenz, Stipendiat am Max Planck Institut für Europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt sowie Daimler Fellow an der American Academy in Berlin, seit 2010 Olimpiad S. Ioffe Professor für Völkerrecht und vergleichende Rechtswissenschaft an der Law School der University of Connecticut und seit 2012 Direktor des internationalen (Austausch-) Programms ebenda. Univ.-Prof. Dr. Anton Pelinka Geb. 1941, Studium der Rechtswissenschaften in Wien (Promotion 1964) und der Politikwissenschaft am Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien, 1972 Habilitation für Politikwissenschaft an der Universität Salzburg; wissenschaftliche Laufbahn: 1968–1971 Forschungsassistent am IHS, 1971–1973 Ass. Professor für Politikwissenschaft an der Universität Salzburg, 1973–1974 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Essen, 1975 Berufung als o. Univ.-Prof. für Politikwissenschaft an die Universität Innsbruck, diverse Gastprofessuren in Europa, den USA und in Indien, 1994/97 österreichischer Repräsentant bei der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (Beobachtungsstelle EUMC), bis 2012 Direktor des Instituts für Konfliktforschung, Wien, derzeit: Professor of Political Science and Nationalism Studies, Central European University, Budapest. Univ.-Prof.in Dr.in Sonja Puntscher Riekmann Geb. 1954, Studium der Germanistik und Romanistik an der Universität Wien, 1980 Promotion, 1982–1984 Post-Graduate Studium der Politologie am Institut für höhere Studien in Wien, 1997 Habilitierung an der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck zur Dozentin für Politikwissenschaft; wissenschaftliche Laufbahn (Auswahl): 1984–1987 Freie Sozialwissenschaftlerin und Übersetzerin, wiss. Mitarbeiterin des European Centre for Coordination and Research in Social Sciences (Vienna Centre) und des Europäischen Zentrums für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung, 1998 –2008 Direktorin des EIF, Institut für europäische Integrationsforschung der
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Österreichischen Akademie der Wissenschaften (zuvor Forschungsstelle für institutionellen Wandel und europäische Integration), seit 2002 Universitätsprofessorin für Politische Theorie unter Berücksichtigung der Europäischen Politik an der Universität Salzburg, seit 2011 Leiterin und Professorin, Salzburg Centre of European Union Studies, Universität Salzburg. ao. Univ.-Prof.in Dr.in Ilse Reiter-Zatloukal Geb. 1960, Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Wien 1978 – 1982, Promotion 1982, Habilitation für Österreichische und Deutsche Rechtsgeschichte 1997; wissenschaftliche Laufbahn: 1982–1996 Univ.-Ass. am Institut für Österreichische und Deutsche Rechtsgeschichte bzw. Österreichische und Europäische Rechtsgeschichte an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, seit 1997 ao. Univ. Prof.in am Institut für Österreichische und Europäische Rechtsgeschichte bzw. Rechts- und Verfassungsgeschichte an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Mag.a Dr.in Helene Schuberth, MPA Geb. 1962, Studium der Ökonomie und Geschichte an der Universität Wien, Promotion 2000, Master of Public Administration an der University of Harvard 2001; Werdegang: 1991 Finanzanalystin in der Raiffeisen Zentralbank AG, 1991–1993 Vertragsassistentin an der Wirtschaftsuniversität Wien, seit 1993 in der Oesterreichischen Nationalbank, u. a. in verschiedenen Führungspositionen tätig, seit August 2013 als Leiterin der Abteilung für die Analyse wirtschaftlicher Entwicklungen im Ausland; sie war zwei Jahrzehnte Lektorin an der Wirtschaftsuniversität Wien. em. Univ.-Prof. DDr. Dieter Stiefel Geb. 1946, Studium an der Wirtschaftsuniversität Wien und an der Universität Wien (Geschichte), Promotion 1974 (Dr. rer. soc. oec.) und 1978 (Dr. phil.), Habilitation 1986; beruflicher Werdegang: 1973–1988 Ass.-Prof. an der Wirtschaftsuniversität Wien, diverse Forschungsaufenthalte in Cambridge, Harvard und Berkeley, 1993–2011 Univ.-Prof. am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, Leiter der Schumpeter Gesellschaft Wien und des Schumpeter Programms an der Universität Harvard/USA; Bücher zur österreichischen Wirtschafts- und Politikgeschichte. Univ.-Prof. Dr. Ewald Wiederin Geb. 1961, 1979–1983 Studium der Rechtswissenschaften in Wien, 1984 Promo-
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Autorinnen/Autoren
tion, 1995 Habilitation für Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht und öffentlichrechtliche Rechtsvergleichung an der Universität Wien, 1995 – 1996 Referent im Verfassungsdienst des Bundeskanzleramts, 2000 Berufung an die Universität Salzburg, 2003 – 2005 Mitglied des Österreich-Konvents, 2007 – 2008 Mitarbeit in der Expertengruppe Staats- und Verwaltungsreform, 2009 Berufung an die Universität Wien, Institut für Staats- und Verwaltungsrecht. Priv.-Doz. Dr. Helmut Wohnout Geb. 1964, Studium der Geschichte an der Universität Wien und der George town University, Washington D. C., Promotion 1991, Habilitation für das Fach „Österreichische Geschichte“ an der Karl-Franzens-Universität Graz 2011; beruflicher Werdegang: seit 1992 öffentlich Bediensteter im Parlament und im Bundeskanzleramt, 2000 Ministerialrat, derzeit Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt/Bundespressedienst, seit 1993 Geschäftsführer des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich, Herausgeber des Jahrbuchs „Demokratie und Geschichte“, Publikationen zur österreichischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere zur Rechts- und Verfassungsgeschichte sowie zur Parteien- und Institutionengeschichte.
FLORIAN WENNINGER, LUCILE DREIDEMY (HG.)
DAS DOLLFUSS/SCHUSCHNIGGREGIME 1933–1938 VERMESSUNG EINES FORSCHUNGS FELDES
Die Diktatur Dollfuß / Schuschnigg 1933–1938 ist bis heute eine der umstrittensten Phasen der österreichischen Geschichte. Dieser Band unternimmt den Versuch , eine Bilanz der bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu ziehen und Perspektiven künftiger Forschungsarbeit zu entwickeln. Behandelt werden neben politischen und sozialen Aspekten auch ökonomische , militärische und regionale Themen. Die AutorInnen fassen den Forschungsstand zusammen und benennen offene Fragestellungen sowie unbearbeitete Quellenbestände. Alle Beiträge wurden einem internationalen Begutachtungsverfahren unterzogen und bilden in ihrer Gesamtheit eine profunde Grundlage für künftige Forschungsarbeiten. Als Überblickswerk leistet der Band darüber hinaus einen Beitrag zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Ende der Ersten Republik in Österreich und der daran anschließenden Diktaturerfahrung. 2013. 648 S. 3 S/W-ABB. GB. 170 × 240 MM | ISBN 978-3-205-78770-9
böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
ILSE REITER-ZATLOUKAL, CHRISTIANE ROTHLÄNDER, PIA SCHÖLNBERGER (HG.)
ÖSTERREICH 1933–1938 INTERDISZIPLINÄRE ANNÄHERUNGEN AN DAS DOLLFUSS-/SCHUSCHNIGG-REGIME
Die Publikation bietet den aktuellen Forschungsstand sowie neue Perspektiven der wissenschaftlichen Auseinandersetzung über das politische System der Jahre 1933 bis 1938 in Österreich. Für eine breite Diskussion dieser bis heute umstrittenen Epoche innerhalb der österreichischen Zeitgeschichte werden unterschiedliche Themenbereiche interdisziplinär – geschichtswissenschaftlich , rechtshistorisch , politologisch – beleuchtet. Die Themenschwerpunkte umfassen die Etablierung des austrofaschistischen Systems , politische Gewalt und Justiz , unterschiedliche Arten der Verfolgung von RegimegegnerInnen , eine eingehende Diskussion der Maiverfassung 1934 , wirtschaftliche / soziale sowie Genderaspekte des Dollfuß-SchuschniggRegimes sowie die Frage der Rückgabe in dieser Zeit entzogenen Vermögens nach 1945. 2012. 400 S. GB. 240 X 170 MM | ISBN 978-3-205-78787-7
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