129 78 36MB
German Pages 320 Year 1978
ROLAND WEGENER
Staat und Verbände im Sachbereich W ohUahrtspHege
Staatskirchenrechtliche Abhandlungen Herausgegeben von Ernst Friesenhahn . Alexander Hollerbaeh . Josel Isensee Joseph Lisd . Hans Maier· Paul Mikat . Klaus Mörsdorf . Ulrieh Seheuner
Band 8
Staat und Verhände im Sachhereich Wohlfahrtspflege Eine Studie zum Verhältnis von Staat, Kirche und Gesellschaft im politischen Gemeinwesen
Von
Roland Wegener
DUNCKER&HUMBLOT/BERLIN
Schriftleitung der Reihe "Staatskirchenrechtliche Abhandlungen": Prof. Dr. Joseph List!, Lennestraße 25, 0-5300 Bonn 1
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Alle Rechte vorbehalten
C 1978 Duncker & Humblot, Berlln 41
Gedruckt 1978 bel Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlln 61 Prlnted In Germany ISBN S 428 04287 5
D5
Vorwort Ordnung und Gestaltung des Sachbereichs Wohlfahrtspflege ist seit einigen Jahren eine der drängenden Gesetzgebungs- und Verwaltungsaufgaben geworden. Der Verfassungslehre ist damit die Aufgabe gestellt, Wege aufzuzeigen, wie in einem der Kerngebiete der Sozialpolitik ein neuer Ausgleich zwischen Staat und Gesellschaft gefunden werden kann, der sich auch in Zukunft als tragfähig erweist. Die gegenwärtigen Streitfragen der Wohlfahrtspflege - Aufgabenverteilung, Förderung, Planung, Strukturregelung, Staatsaufsicht - werfen immer erneut die Frage auf, wie im zur Planung berufenen und auf Effizienz abzielenden Sozialstaat der Gegenwart der freiheitliche und pluralistische Anspruch des Grundgesetzes gewahrt werden kann. Die Arbeit, die als Beitrag zur Auseinandersetzung mit dieser Frage gedacht ist, wurde im Sommersemester 1977 von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität zu Bonn als Dissertation angenommen; spätere Abhandlungen und Entscheidungen wurrien noch bis zum 30.11. 1978 berücksichtigt. Für die Hilfe bei der Entstehung dieser Arbeit bin ich vielfach zu Dank verpflichtet. Ich möchte vor allem Herrn Prof. Dr. Schlaich danken, der diese Arbeit von Beginn an mit wacher Kritik und schöpferischen Anregungen begleitet und deren innere Formung mit bewirkt hat, ferner meinem Freund Dr. Detlef Stronk für die kritische Durchsicht des Manuskripts und meiner lieben Frau für ihre beständige Hilfe und Ermutigung in allen Phasen der Arbeit. Meinen Dank möchte ich auch aussprechen der Konrad-Adenauer-Stiftung für die Gewährung eines Stipendiums sowie den Herren des Herausgebergremiums der Staatskirchenrechtlichen Abhandlungen und Herrn Prof. Dr. Broermann für die Aufnahme der Arbeit in diese Schriftenreihe und der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses, die zur Entstehung und Veröffentlichung dieser Arbeit ebenfalls beigetragen haben. Gewidmet sei dieses Buch meinen Eltern, die meinen Werdegang begleitet und gefördert haben. Bonn, im November 1978
Roland Wegener
Inhaltsverzeichnis Einleitung
1'1
1. Teil
Die Grundfragen des Sachbereichs "Wohlfahrtspflege" - eine Problemanalyse der Gesetzgebung des Bundes und der Länder I. Vorrang oder Partnerschaft zwischen öffentlicher Sozial- und Jugendhilfe und "freier" Wohlfahrtspflege? ..........................
21 21
1. Rechtslage nach dem Bundessozialhilfe- und Jugendwohlfahrtsgesetz .......................................................... 22 a) Die Regelung im Bundessozialhilfegesetz (§§ 10 Abs. 4; 8 Abs.2 S. 2; 93 Abs.1 S.2 BSHG) .................................... 22 b) Die Regelung im Jugendwohlfahrtsgesetz (§ 5 Abs.3 S.2 JWG) 27 2. Konzeption der Jugendhilfereform .............................. a) Referentenentwurf von 1974 (§ 10 Abs. 2 RE JHG 1974) ...... b) Regierungsentwurf von 1978 (§ 102 Abs. 1 ESGB - JHG -) ..
28 28 30
H. Förderung, Planung und Strukturregelung - Gesetzgebung und Verwaltung im Widerstreit zwischen sozialstaatlicher Aufgabenverantwortung und "freier" Hilfe ........................................ 31 1. Anspruch auf staatliche Förderung "freier" Wohlfahrtspflege? ..
32 a) Rechtslage im Bundessozialhilfe- und Jugendwohlfahrtsgesetz 32 b) Maßstab staatlicher Förderung .............................. 34 c) Konzeption der Jugendhilfereform .......................... 35
2. Koppelung von Förderung, Planung und Strukturregelung ...... a) Förderung und Planung .................................... b) Probleme der Planung...................................... c) Probleme der Strukturregelung ..............................
36 38 39 40
3. Beteiligung "freier" Vereinigungen an der staatlichen Planung..
41
HI. Staatliche Aufsicht über Einrichtungen "freier" Vereinigungen ....
43
1. Aufsicht über Jugendheime nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz
und dessen Reform ............................................
43
Inhaltsverzeichnis
8
2. Aufsicht über Alten- und Pflegeheime nach dem Heimgesetz .. IV. Bilanz -
Aufgabe der Untersuchung..............................
45 47
2. Teil Der Sachbereich "Wohlfahrtspßege" im Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft
49
I. Der Verfassungsstreit über das Verhältnis zwischen öffentlichen Trägern und "freien" Vereinigungen in der Sozial- und Jugendhilfe 49 H. Von der Armenpflege zur Sozialhilfe - sozialgeschichtliche Entwicklungsphasen des Sachbereichs "Wohlfahrtspflege" im industriellen Zeitalter .......................................................... 53 1. Der sozialgeschichtliche Hintergrund - Pauperismus und "soziale Frage" in der Periode des übergangs (18. bis 19. Jahrhundert) .. 53 2. Staatliche Armengesetzgebung, kommunale Armenpflege und private Wohltätigkeit an der Wende zum industriellen Zeitalter (1842 bis 1914) .................................................. 55 a) Grundlagen und Entwicklung öffentlicher Armenpflege und privater Wohltätigkeit im 19. Jahrhundert .................. aa) Die Armengesetzgebung in Preußen und im Reich - der Eintritt des Staates in die soziale Verantwortung.. ... ... bb) Die Armenpflege der Gemeinden - Erfolg und Scheitern des Elberfelder Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. ce) Die private Wohltätigkeit - individuelles Engagement und gesellschaftliche Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Trennung und Annäherung - frühe Phasen der Zusammenarbeit zwischen den Trägern öffentlicher Armenpflege und Vereinigungen privater Wohltätigkeit ..........................
55 56 57 58 60
3. Die neue Ordnung des Sachbereichs "Wohlfahrtspflege" in der modernen Industriegesellschaft (1914 bis 1923) .................. 63 a) Die Krise der öffentlichen Armenpflege und privaten Wohltätigkeit ...................................................... 63 b) Wandel und Neuorientierung auf dem Weg zur Reform der Sozialfürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 IH. Die Zuordnung von Staat und Gesellschaft als Problem der Freiheitsgewährleistung im politischen Gemeinwesen ...................... 67 1. Das Theorem der Trennung von Staat und Gesellschaft im sozialund verfassungsgeschichtlichen Rahmen des 19. Jahrhunderts .... 69 2. Verschmelzung von Staat und Gesellschaft im industriellen Zeitalter - Alternativkonzeptionen des Gemeinwesens .............. 73 a) Identität von Staat und Gesellschaft oder pluralistische Demokratie - zum Demokratieverständnis des Grundgesetzes. ..... 73
Inhaltsverzeichnis
9
b) Die "öffentliche" Verfassungsordnung - Aufhebung von Staat und Gesellschaft als Bezugsrahmen des Gemeinwesens? ...... 77 3. Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Strukturprinzip des politischen Gemeinwesens .............................. a) Anthropologische Grundlegung. Bedeutung und Wandel individueller Freiheit im industriellen Zeitalter .................... b) Soziologische Erkenntnisse. Bedingungen einer freiheitlichen Verfassungsordnung in der modernen Industriegesellschaft .. c) Verfassungstheoretische Folgerungen. Organisatorische Unterscheidung und funktionale Bezogenheit von Staat und Gesellschaft als Grundlage der Freiheitsgewährleistung im politischen Gemeinwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verfassungsrechtliche Ausgestaltung. Das Grundgesetz als Ordnungsmodell und Gestaltungsentwurf der Bundesrepublik Deutschland ................................................ aa) Exkurs: Zum Grundrechtsverständnis des Grundgesetzes bb) Das Grundgesetz als Ordnungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . .. ce) Das Grundgesetz als Gestaltungsentwurf ................ dd) Grundgesetz und Unterscheidungskonzeption: das Leitbild des neutralen Staates und der pluralistischen Gesellschaft
89 91 94
96 104 104 109 110 113
3. Tefl
Die Grundordnung des Sadlberelm!l "Wohlfahrtspflege" im politisdten Gemeinwesen
118
Exkurs: Die Problematik der verfassungsrechtlichen Ordnung der Sachbereiche des politischen Gemeinwesens ............................ 119 I. Der "soziale ... Staat" im Sachbereich "Wohlfahrtspflege" ........ 123 1. Das Sozialstaatsprinzip als Ermächtigung und Auftrag zur Da-
seins-, Wachstums- und Fortschrittsvorsorge im Gemeinwesen .. 125 a) Alternative Sozialstaatskonzeptionen und Grundgesetz ...... 125 b) Soziale Aufgaben im industriellen Zeitalter .................. 126
2. Ziele sozialstaatlicher Ordnung und Gestaltung in der sozialen Sicherung und Wohlfahrtspflege ................................ 127 a) Das "Verfassungsprogramm" im System der sozialen Sicherung 128 b) Sozialstaatliche Gestaltungsaufgaben im Sachbereich Wohlfahrtspflege ................ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 128 3. Leitlinien und Grenzen sozialstaatlicher Ordnung und Gestaltung im Sachbereich "Wohlfahrtspflege" .............................. a) Der Gedanke des "Leistungsstaats" .......................... b) Das Subsidiaritätsprinzip .................................... c) Die Grundentscheidungen der Verfassung (Demokratie, Rechtsstaat, Bundesstaat) ..........................................
129 131 134 140
10
Inhaltsverzeichnis
II. "Freie Wohlfahrtspflege" - öffentliche Funktion und Grundrechte des Helfenden im Sachbereich Wohlfahrtspflege .................... 146 1. Die Gewährleistung sozial-caritativer Arbeit in "freien" Vereinigungen (Artikel 2 und 9 GG) .................................. 147
a) Grenzen und Maßstäbe staatlicher Regelung .................. b) Selbstverständnis "freier" Wohlfahrtspflege und staatliche Aufgabenexpansion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. c) Die "öffentliche Funktion" freier Wohlfahrtspflege im Gemeinwesen ...................................................... aa) Das Wirken der Verbände in der Öffentlichkeit .......... bb) Die öffentliche Bedeutung "freier" Wohlfahrtspflege .... ce) Die Erfüllung "öffentlicher Aufgaben" durch freie Vereinigungen ................................................
148 150 156 157 158 160
2. Der Sonderschutz der sozial-caritativen Arbeit in den religiösen Vereinigungen (Artikel 4, 140 GG, 137 Absatz 3, 138 Absatz 2 WV) 167
a) Inhalt und Dimensionen des "propriums" sozial-caritativen Handeins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Schutzbereich und Schutzwirkung des Artikel 4 GG (140 GG, 137 Absatz 3, 138 Absatz 2 WV) .............................. c) Sonderstatus der sozial-caritativen Dienste und Einrichtungen der Kirche nach Artikel 137 Absatz 3 WV? .................. aa) Artikel 140 GG, 138 Absatz 2 WV ........................ bb) Artikel 140 GG, 137 Absatz 3 WV ........................
169 175 182 183 183
III. Der Rechtsstatus des Hilfsbedürftigen im Sachbereich Wohlfahrtspflege ............................................................ 189 1. Grundrechtliche Wegweisungen für die Ordnung und Gestaltung der Wohlfahrtspflege .......................................... 190 2. Das Ordnungsproblem: "Wahlrecht" und Außenseiter im Netz sozialer Hilfen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 192
3. Das Gestaltungsproblem: die Stellung des Hilfsbedürftigen im Hilfevollzug .................................................... 197 IV. Bilanz: Der Sachbereich "Wohlfahrtspflege" als Feld differenzierter
Aufgabenverteilung zwischen dem neutralen Staat und der pluralistischen Gesellschaft .............................................. 201 1. Typik des Sozialstaats und funktionale Ordnung der Wohlfahrtspflege .......................................................... 202
2. Pluralismus als Problem neutraler Ordnungsgesetzgebung ...... 208 a) "Offene" Neutralität gegenüber dem Pluralismus freier Wohlfahrtspflege (Art. 4 GG) .................................... 208 b) Freiheit sozialer Gruppenbildung und "Säulentheorie" (Art. 9 GG) ........................................................ 212 3. Neutralität als Problem pluraler Gestaltungsgesetzgebung ...... 216 a) Öffentliche Funktion und Paritätsprinzip (Art. 9 GG) ........ 216 b) "Offene Neutralität" und Autonomie der Wohlfahrtspflege .. 218
Inhaltsverzeichnis
11
4. Zusammenarbeit als Verfassungsprogramm - Aufgabe eines Verbandsrechts des Grundgesetzes ................................ 221 4. Teil Der Sachbereich "Wohlfahrtspflege" als Aufgabe der Koordination und Kooperation
224
I. Grundlinien einer Zusammenarbeit von Staat und Verbänden im Sachbereich "Wohlfahrtspflege" .................................. 227 1. "Partnerschaft" zwischen Staat und Verbänden? ................ 227
2. Koordination und Kooperation - Arbeitsprinzipien einer funktionalen Ordnung .............................................. 228 a) Die Koordination des Vollzugs der sozialen Hilfe .............. 229 b) Die Kooperation der Träger der sozialen Hilfe .............. 231 H. Aufgabenfelder der Zusammenarbeit im Rahmen einer "funktionalen Ordnung" des Sachbereichs "Wohlfahrtspflege" .................... 239 1. Maßstäbe der Aufgabenverteilung zwischen öffentlichen Trägem
und "freien" Vereinigungen in der Sozial- und Jugendhilfe ...... 239 a) Falsche Frontstellungen der vergangenen Diskussion . . . . . . . . .. 240 b) Alternativen der Reform - Beispiel Jugendhilfegesetz ...... 242 c) Offenes Problem: Wahlrecht und Kapazitätsverteilung ........ 250
2. Sozialstaatliche Planung und bürgerliche Freiheit .............. a) Sozialplanung und "Wahlrechte" ............................ b) Beteiligung "freier" Verbände und Vereinigungen an der Planung öffentlicher Träger .................................... aal Partizipation - Gebot des Grundgesetzes? .............. bb) Ausschuß und Beirat - Möglichkeiten und Grenzen des Grundgesetzes für die Mitwirkung auf lokaler und regionaler Ebene .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
251 253 258 260 262
3. Legitimation und Grenzen staatlicher Strukturregelungen in "freien" Diensten und Einrichtungen ............................ 272 a) Grundsätze und Leitlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 273 b) Problemfälle der neueren Gesetzgebung ...................... 275 4. Die Förderung "freier Wohlfahrtspflege" im Sozialstaat ........ a) Legitimation und Grenzen staatlicher Förderung ............ aal Staatliche Neutralität und staatliche Förderung zur Wechselwirkung von Sachproblemen und Grundgesetzpostulaten ............. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. bb) Schulfall: Privatschulfinanzierung ...................... b) Staatliche Förderung, sozialpolitische Zielsetzung und Eigenständigkeit "freier" Wohlfahrtspflege ........................
279 280 280 283 285
12
Inhaltsverzeichnis aa) Förderung als Aufgabenerfüllung ...... . . . . . . . . . . . . . . . . .. 286 bb) Grundlinien staatlicher Förderung ...................... 287 5. Zusammenarbeit und Staatsaufsicht im Sachbereich "Wohlfahrtspflege" ........................................................ 289 a) Gestaltende und verantwortende Aufsicht .................... 289 b) Beratung als Kooperationslösung? .......................... 292 Literaturverzeichnis
294
Sachregister
315
Ahkürzungsverzeichnis Acta Apostollcae Sedis Amtsblatt Arbeitsförderungsgesetz Archiv für Kommunalwissenschaften Amtliche Begründung Archiv des öffentlichen Rechts Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten, 1794 Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts. Arbeitsrechtliche Praxis Archiv für Katholisches Kirchenrecht Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Arbeiterwohlfahrt
AAS ABI. AFG AfK AmtI. Begr. AöR ALR AP ArchKathKR ARSP AW BAnz BAFöG BAGE BayVGH BayVBl. BB BetrVG BGBI. BGHZ BHO BK (und Verfasser) BldW BPflVO BMJFG BPersVertrG BR-Drucks. BSHG BT-Drucks. BVerfGE BVerwGE DB DCV DEJHG DJT Die Grundrechte
Bundesanzeiger Bundesausbildungsförderungsgesetz Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes Bayerische Verwaltungsblätter Betriebsberater Betriebsverfassungsgesetz Bundesgesetzblatt = Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundeshaushaltsordnung Bonner Kommentar zum Grundgesetz Blätter der Wohlfahrtspflege Bundespflegesatzverordnung = Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit Bundespersonalvertretungsgesetz Drucksachen des Bundesrats (1949 ff.) Bundessozialhilfegesetz Drucksachen des Deutschen Bundestages (1949 ff.) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts
=
Der Betrieb Deutscher Caritasverband Diskussionsentwurf für ein Jugendhilfegesetz vom 8.3.1973 Deutscher Juristentag Die Grundrechte. Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, hrsgg. von Bettermann I Nipperdey / Scheuner
14
Diss. DÖV DPWV DRK DRZ DV DVBl. DW EKD
ESGB ESGB-JHGEssener Gespr. ESVGH EvSozL EvStL
Abkürzungsverzeichnis Dissertation Die öffentliche Verwaltung Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Deutsches Rotes Kreuz Deutsche Rechtszeitschrift Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (1880 -1919: Deutscher Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit) Deutsches Verwaltungsblatt Diakonisches Werk Evangelische Kirche in Deutschland Entwurf für ein Sozialgesetzbuch Entwurf der Bundesregierung für ein Sozialgesetzbuch (SGB) - Jugendhilfe Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, hrsgg. von J. Krautscheidt und H. Marre Entscheidungssammlung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg Evangelisches Soziallexikon, hrsgg. von F. Karrenberg, 4. Aufl. 1963 Evangelisches Staatslexikon, hrsgg. von H. Kunst und S. Grundmann in Verbindung mit W. Schneemeicher und R. Herzog, 1966, 2. Aufl. 1975
GBl. GMH GONW GS GVBl.
Gesetzblatt Gewerkschaftliche Monatshefte Gemeindeordnung Nordrhein-Westfalen Gesetzessammlung Gesetz- und Verordnungsblatt
HdbStKirchR
Hbd.
Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsgg. von Ernst Friesenhahn und Ulrich Scheuner in Verbindung mit Joseph Listl, Bd. I, 1974; Bd. II, 1975 Handwörterbuch der Kommunalwissenschaft, hrsgg. von J. Brix u. a., 1927 Handbuch der Sozialwissenschaften, hrsgg. von E. v. Beckerath u. a., 12 Bde., 1956 - 1965 Handbuch der Staatswissenschaften, hrsgg. von L. Elster, A. Weber und F. Wieser, 4. Aufl., 8 Bde., 1923 -1928 Halbband
IM
Innere Mission
JurJb JuWo JWG JZ
Juristen-Jahrbuch Jugendwohl Gesetz für Jugendwohlfahrt Juristenzeitung
KgG KHG
Kindergartengesetz Krankenhausgesetz
HdKW HdSW HdStW
Abkürzungsverzeichnis
15
KSchG KirchE
Kündigungsschutzgesetz Entscheidungssammlung in Kirchensachen
LexThK LKONW LV
Lexikon für Theologie und Kirche Landkreisordnung Nordrhein-Westfalen Landesverfassung
NDV
Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge Neue Juristische Wochenschrift
NJW Oesterr. Zeitschr. f. öff. Recht ORDO OVGE
österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht ORDO. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte für Nordrhein-Westfalen in Münster sowie für Niedersachsen und Schleswig-Holstein in Lüneburg
PVS
Politische Viertelj ahresschrift
RdA RdJ RdJB Reg. BI. RE JHG 1974
Recht der Arbeit Recht der Jugend Recht der Jugend und des Bildungswesens Regierungsblatt Gesetz für Jugendhilfe. Referentenentwurf (Stand: 1. 4. 1974) Jugendhilfegesetz (Referentenentwurf, Stand: 31. 10. 1977) Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht Reichsgesetzblatt Reichsj ugendwohlfahrtsgesetz Recht und Wirtschaft der Schule
RE JHG 1977 RFVO RGBl. RJWG RWS SArb Schriften DV Steno Ber. StGH StL
Soziale Arbeit Schriften des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (seit 1880) Stenographische Berichte Staatsgerichtshof Staatslexikon. Recht, Wirtschaft und Gesellschaft, hrsgg. von der Görres-Gesellschaft, 6. völlig neu bearb. Aufl., 8 Bde., 1957 - 1963
TuP
Theorie und Praxis der sozialen Arbeit
UWG
Unterstützungswohnsitzgesetz
VerwArch VG VGH VO VVDStRL
Verwaltungsarchiv Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof Verordnung Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
16
Abkürzungsverzeichnis Wissenschaftsrecht Wahlperiode Weimarer Reichsverfassung
WissR WP WV
= Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins
ZBJV ZEE ZevKR ZfdA ZfF ZfP ZfSH ZgesStW Zöfffi ZRG Kan. Abt.
=
ZRP ZSchwR ZSR
= = =
= =
Zeitschrift für evangelische Ethik Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht Zeitschrift für das Armenwesen (1900 - 1921) Zeitschrift für das Fürsorgewesen Zeitschrift für Politik Zeitschrift für Sozialhilfe Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft Zeitschrift für öffentliches Recht Zeitschrift der Savignystiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Schweizerisches Recht Zeitschrift für Sozialreform
Einleitung Das Verhältnis zwischen Staat und Verbänden in den verschiedenen Aufgabenfeldern der Wohlfahrtspflege ist seit einigen Jahren von einer latenten Unruhe befallen. An der Oberfläche sticht die eindrucksvolle Bilanz der Präsenz ,freier' Dienste und Einrichtungen in den Bereichen des Systems sozialer Sicherung (Sozialhilfe, Jugendhilfe, Altenhilfe, Gesundheitshilfe), die als Sachbereich ,Wohlfahrtspflege' umrissen werden können, in das Auge: Die in der ,Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V.' zusammengeschlossenen Verbände und die ihnen angehörenden ,freien' Vereinigungen! tragen die Verantwortung für ca. 40 0 /0 der Krankenhausplätze, 60 % der Altenheimplätze, 70 0J0 der Jugendheimplätze, 80 0J0 der Kindergartenplätze; ihr Anteil an den ,offenen' Hilfen (Beratungsstellen, Betreuungsdienste, Pflegestationen) dürfte eher noch darüber liegen2 • Die ,freien' Vereinigungen haben damit wesentlichen Anteil an der Gestaltung des Gemeinwesens; die Anerkennung dieses Wirkens durch Staat und Öffentlichkeit sei nur exemplarisch aufgezeigt an der Aussage, der Staat könne "nicht auf die tätige Selbsthilfe seiner Bürger, wie sie in den Organisationen der freien Wohlfahrtspflege zum Ausdruck komme, verzichten"3. Dieses Bild der Ruhe und Harmonie überdeckt jedoch tieferliege:ti~ Entwicklungen, die das Verhältnis zwischen Staat und Verbänden in eine langdauernde Vertrauenskrise zu stürzen drohen: zum einen die fortschreitende Expansion staatlicher Aufgaben im sozialen Bereich, das Drängen nach einer Gewichtsverschiebung zwischen den Diensten und Einrichtungen der ,freien' und der öffentlichen Träger 4 ; zum zwei1 Arbeiterwohlfahrt (AW), Deutscher Caritasverband (DCV), Diakonisches Werk der EKD (DW), Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband (DPWV), Deutsches Rotes Kreuz (DRK), Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland; ausführliche Darstellung der Tätigkeit und Organisationen unten S. 151 f. (AW, DPWV, DRK) und S. 171 ff. (DCV, DW). 2 Nähere statistische Angaben unten S. 158 f. 3 Helmut Schmidt, Regierungserklärung v. 17.5.1974, Steno Ber. d. Verh. d. Dt. Bundestages, 7. WP, 100. Sitzung, S. 6605; vgl. auch ders., Regierungserklärung V. 16. 12. 1976, Bulletin 1976, S. 1285 (1298); Willy Brandt, Regierungserklärung V. 18.1.1973, Steno Ber. d. Verh. d. Dt. Bundestages, 7. WP, 7. Sitzung, S. 121 (131, 1. Sp.); Scheel, Bulletin 1976, S. 1113 f.; Focke, Rede anläßlich der 50-Jahrfeier der Bank für Sozialwirtschaft, 18.9.1973, S. 2.
2 Wegener
18
Einleitung
ten der Trend zu einer immer umfassenderen Planung und Organisation des Netzes sozialer Leistungen, das Bedürfnis nach weitergehenden Regelungs- und Kontrollmöglichkeiten gegenüber den ,freien' Vereinigungen; zum dritten schließlich die Erosion der traditionellen Partnerschaft, das Auftreten von Grundsatzkonflikten über die sozialpolitischen und verfassungsrechtlichen Grundlinien des Sachbereichs ,Wohlfahrtspflege'5. All diese Entwicklungen haben in die Auseinandersetzung über die neuere sozialpolitische Gesetzgebung (Krankenhausgesetze, Heimgesetz, Kindergartengesetze, Jugendhilfegesetz) eine neue, prinzipielle Dimension hineingetragen: anders als in den vergangenen Jahrzehnten wächst die Besorgnis in den Reihen der Wohlfahrtsverbände, daß in dem System sozialer Sicherung ,freie Wohlfahrtspflege' keinen legitimen Platz mehr finden, vielmehr vor die Alternative gestellt sein könnte, entweder ihre innere Eigenständigkeit weitgehend aufgeben zu müssen oder in eine bloße Randexistenz abgedrängt zu werden6• Die Zwiespältigkeit der gegenwärtigen Situation ist, wie gerade Debatten über neuere Gesetze gezeigt haben7, vor allem begründet in der allgemeinen Unsicherheit über die Leitlinien und Grenzen, die der rechtlichen Durchformung des Sachbereichs Wohlfahrtspflege durch das Grundgesetz gesetzt sind. Trotz einer Reihe neuerer Untersuchungen8 4 Vgl. EHwein / Zoll, Zur Entwicklung der öffentlichen Aufgaben in Deutschland, 1973, S. 203 (258 f.); ferner unten S. 153 f. 5 so exemplarisch (auf sozialpolitischer Ebene) der Dialog zwischen Frau Focke (Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit) und Stauss (Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege), in: DPWV-Nachrichten 1973, S. 172 ff., sowie zwischen Kosmale (Unterabteilungsleiter im BM JFG) und Krämer (Vorsitzender des DPWV), in: DPWVNachrichten 1971, S. 3 ff.; (auf sozialwissenschaftlicher Ebene) die Kontroverse zwischen Peters, Moderne Fürsorge und ihre Legitimation, 1968, sowie NDV 1970, S. 8 ff. und Neises, NDV 1969, S.179 ff.; Dörrie, NDV 1970, S.151 ff.; ferner Böhnisch, Dickerhoff, Kuhlen, in: Zur Reform der Jugendhilfe, 1973, S. 17 (46); (auf verfassungsrechtlicher Ebene) die Kontroverse zwischen F. Klein, JuWo 1974, S. 129 ff. und Haar, TuP 25 (1974), S. 362 ff.; Jordan / Markmann / Oswald / Wagner, ebd., S. 442 ff. 6 Vgl. statt vieler Schober (Präsident des DW), FAZ v. 16.2.1974, S. 9 und: Bericht zur 3. Tagung der 5. Synode der EKD; Dörrie (Geschäftsführer des DPWV) , DPWV-Nachrichten 1972, S. 75 ff.; 1974, S. 107 ff.; F. Klein (Justitiar des DCV), Klerusblatt 52 (1972), S. 287 ff. und JuWo 1974, S. 129 ff.; Kessels (Vorsitzender des DCV, Diözese Essen), in: Zur Debatte 7/1975, S. 2; Leudesdorff (DW), DZ v. 22.3. 1974, S. 22 und: Diakonie 1 (1975), S. 228; 2 (1976), S. 165 ff. 7 Vgl. etwa die Debatte zum HeimG, Steno Ber. d. Verh. d. Dt. Bundestages, 7. WP, 106. Sitzung V. 11. 6.1974, S. 7224 ff. 8 Vgl. Rinken, Das öffentliche als verfassungstheoretisches Problem dargestellt am Rechtsstatus der Wohlfahrtsverbände, 1971; ders., Die karitative Betätigung der Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: HdbStKirchR H, 1975, S. 345 ff.; Scheuner, Die karitative Tätigkeit der Kirchen im Sozialstaat, Essener Gespr. 8 (1974), S. 43 ff.; StoHeis, Sozialstaat und karitative Tätigkeit der Kirchen, ZevKR 18 (1973), S. 376 ff.; Ehrlich, Die rechtliche Stellung der freien Wohlfahrtsverbände unter besonderer Berücksichtigung samm-
Einleitung
19
wird die gegenwärtige sozialpolitische Diskussion durch ein verfassungsrechtliches Ordnungsdefizit belastet, das bislang erst in wenigen Bereichen aufgearbeitet zu werden beginnt9 • Die aus diesem Befund resultierende verfassungsrechtliche Aufgabe stößt dabei auf eine doppelte Schwierigkeit: Das Grundgesetz beschreibt - im Gegensatz zu einigen Landesverfassungen10 - den Standort der Wohlfahrtspflege im Gemeinwesen nicht; der Sachbereich Wohlfahrtspflege liegt vielmehr auf der Grenze zwischen Staat, Kirchen und Gesellschaft, denen er gleichermaßen zuzuordnen ist. Damit ist der bloße Rekurs auf die Norm ebenso wie die schlichte Subsumtion unter den Verfassungstext verwehrt. Erforderlich ist vielmehr das Ausgreifen auf eine Reihe von Verfassungsprinzipien von hoher Allgemeinheit (Sozialstaatsprinzip, Gebot staatlicher Neutralität, Prinzip der pluralistischen Gesellschaft, Subsidiaritätsprinzip) sowie auf einige Grundrechtsbestimmungen (Artikel 2, 4, 140, 9 GG), deren Gesamtschau zugleich der rechtlichen und sachlichen Komplexität dieser Grenzlage gerecht zu werden vermag. Diese Grenzlage freilich ist es, die den Problemen des Sachbereichs ,Wohlfahrtspflege' den Charakter eines Lehrstücks für die Gestaltung der Beziehungen zwischen Staat, Kirchen und Gesellschaft gibt. Fragen der Abgrenzung und Verteilung der Aufgaben, der Einbeziehung in und der Beteiligung an der staatlichen Sozialplanung, der Legitimation und Leitlinien staatlicher Förderung, der Zulässigkeit und des Maßstabes staatlicher Strukturregelungen und Aufsichtsrnaßnahmen sind letztlich Kernstücke der gegenwärtigen ,Verbändeproblematik', deren Regelung durch ein umfassendes ,Verbandsrecht' eine noch ungelöste Aufgabe des Verfassungsrechts ist. Elemente dieses ,Verbandsrechts' sind bereits angelegt in der neueren Entwicklung des Staatskirchenrechts (Artikel 4, 140 GG), des Parteienrechts (Artikel 21 GG) und des ,Koalitionsrechts' (Artikel 9 GG) sowie in einem modernen Verständnis des Gebots staatlicher Neutralität und des Prinzips der pluralistischen Gesellschaft. Sie gilt es an den Sachproblemen der Wohlfahrtspflege zu erproben und in ihren Konturen herauszuarbeiten. lungsrechtlicher Vorschriften, Diss. Würzburg 1970; aus früheren Untersuchungen vor allem Lerche, Verfassungsfragen um Sozialhilfe und Jugendwohlfahrt, 1963; Ule, Das Bundessozialhilfegesetz, der Sozialstaatsgedanke und die gemeindliche Selbstverwaltung, ZSR 8 (1962), S. 632, 701; Zacher, Freiheit und Gleichheit in der Wohlfahrtspflege, 1964. 9 So etwa die Problematik der Regelung der Personal- und Organisationsstruktur der Krankenhäuser, vgl. die Gutachten Maunz, Die Verfassungsmäßigkeit von Krankenhausfinanzierungsgesetzen der Länder, 1973; ders., Krankenhausreform durch Ländergesetze, 1974; Mayer-Maly, Krankenhausstruktur, Betriebsverfassung und Kirchenautonomie, 1975. 10 z. B. Art. 6, 87 LV Baden-Württemberg; w. Nachw. unten S. 159.
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Einleitung
Probleme und Lösungen im Sachbereich ,Wohlfahrtspflege' haben daher exemplarischen Erkenntniswert für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Staat, Kirchen und Gesellschaft in einem Gemeinwesen, das die Bedingungen menschlichen Zusammenlebens in der Industriegesellschaft zu regeln berufen ist: in dem Widerstreit zwischen Individualität und Gemeinschaftsgebundenheit des Bürgers sind sie Varianten des beherrschenden Themas der Gegenwart, wie Freiheit im politischen Gemeinwesen des industriellen Zeitalters organisiert werden kann.
1. TEIL
Die Grundfragen des Sachbereichs ,Wohlfahrtspflege' - eine Problemanalyse der Gesetzgebung des Bundes und der Länder I. Vorrang oder Partnerschaft zwischen öffentlicher Sozial- und Jugendhilfe und ,freier' Wohlfahrtspflege? Die grundlegende Fragestellung bei jeder gesetzlichen Ordnung und Regelung des Sachbereichs ,Wohlfahrtspflege' im modernen Gemeinwesen ist bislang stets die Verhältnisbestimmung zwischen den öffentlichen Trägern sozialer Aufgaben und den ,freien' Vereinigungen der Wohlfahrtspflege gewesen; sie geht in ihren Wurzeln zurück bis in die Anfänge des industriellen Zeitalters, als Staat und Gesellschaft erstmals mit der ,sozialen Frage' konfrontiert waren, und hat seither in jeder Phase der Entwicklung der Wohlfahrtspflege im Zentrum der Diskussion gestanden!. Insbesondere seit der Gesetzgebung auf den Gebieten der Sozial- und Jugendhilfe im Jahr 1961 2 ist die Auseinandersetzung nicht mehr zum Stillstand gekommen: Der bis 1967 währende Verfassungsstreit zwischen Bund und Ländern beziehungsweise Gemeinden 3 und die seit 1969 laufenden Arbeiten an der Reform der Jugendhilfe4, teilweise auch die weitere Gesetzgebung auf den Gebieten der Gesundheitshilfe, Altenhilfe und Vorschulerziehung5 haben diese Fragen immer wieder aufgeworfen. 1 Zur geschichtlichen Entwicklung des Sachbereichs "Wohlfahrtspflege" ausführlich 2. Teil, 11. 2 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) v. 30. 6. 1961 (BGBl. I, S. 815), jetzt in der Fassung v. 18.9.1969 (BGBl. I, S. 1688); Gesetz zur Jugendwohlfahrt (JWG) v. 11.8. 1961 (BGBl. I, S. 1206), Neubekanntmachung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes v. 9.7.1922 (RGBl. I, S. 633) in der Fassung v. 6.8.1970 (BGBl. I, S. 1197). a Dazu i. e. 2. Teil, 11. 4 Dazu unten 1.2.; 11. 1. c). 5 Zur Krankenhaus-, Kindergarten- und Heimgesetzgebung i. e. siehe noch unten 11. 2.; 111. 2. 2.; 111. 2.
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1. Teil,!. Vorrang oder Partnerschaft?
Am Ausgangspunkt der Problemanalyse werden daher die Regelungen in der Sozial- und Jugendhilfe als ,klassische' Sachgebiete der Wohlfahrtspflege stehen. 1. Rechtslage nach dem Bundessozialhilfeund Jugendwohlfahrtsgesetz
Die Grundlinien des Verhältnisses zwischen Staat und Wohlfahrtsverbänden werden in den Sachgebieten der Sozial- und Jugendhilfe durch die §§ 8 Absatz 2, 10 Absatz 4 und 93 Absatz 1 Satz 2 BSHG, 5 Absatz 3 Satz 2 JWG gezogen, die die Aufgabenverteilung zwischen den (öffentlichen) Trägern der Sozial- und Jugendhilfe und den ,freien' Vereinigungen der Wohlfahrtspflege regeln'; sie können als ,magna charta' der Wohlfahrtsverbände gelten und haben für den Sachbereich ,Wohlfahrtspflege' einen Rang, der in seiner Bedeutung mit dem überragenden Stellenwert der in § 1 GewO normierten Gewerbefreiheit für die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland verglichen wird 7 • Die Deutung dieser Normen ist jedoch umstritten. a) Dies gilt vor allem für § 10 Absatz 4 BSHG (Hilfe im Einzelfall), wonach die Träger der Sozialhilfe "von der Durchführung eigener Maßnahmen absehen sollen, wenn die Hilfe durch die freie W ohlfahrtspflege gewährleistet ist". Diese Vorschrift wird zum Teil im Sinne eines generellen Vorranges der ,freien' Vereinigungen, der in der Praxis eine "Funktionssperre" gegenüber dem öffentlichen Träger bewirke, interpretiert8 : für den Fall des Einsatzes ,freier' Hilfe treffe diesen eine "gesetzlich relevante Leistungsverweigerungspflicht"9. Diese vor allem in den ersten Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes vertretene Ansicht, die entgegen dem o §§ 8 Abs. 2 S. 2, 10 Abs. 4, 93 Abs. 1 S. 2 BSHG, 5 Abs. 3 S. 2 JWG gelten nicht nur für die in den Wohlfahrtsverbänden zusammengeschlossenen Gliederungen, sondern auch für die den Kirchen und Religionsgesellschaften (§§ 10 Abs. 2 BSHG, 5 Abs. 4 JWG), für die den Jugendverbänden angeschlossenen und für sonstige in der Jugendhilfe tätigen Organisationen (§ 5 Abs. 4 JWG), die in dieser Arbeit zwar nicht behandelt werden, gleichwohl aber eine vergleichbare Rechtsstellung haben. 7 Kaiser, Festschrift Scheuner, S. 252 f. 8 Ridder, Rechtsgutachten zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) vom 30. Juni 1961 und des Gesetzes für Jugendwohlfahrt (JWG) vom 11. August 1961, 1963, S. 13; Zacher, Freiheit, S. 33; Desch, Subsidiarität und Sozialhilferecht, Diss., Würzburg 1965, S. 155. - Auf dieser Grundlage basiert auch die Verjassungsbeschwerde der Stadt Dortmund, NDV 1962, S. 120 (121). 8 Hoppe, ZfF 1960, S. 258; anders allerdings Ehrlich, Stellung, S. 129; UZe, ZSR 8, S. 658; Zacher, S. 34; Knopp I Fichtner, Bundessozialhilfegesetz, 1962 ff., § 10 Rdn. 15; Schellhorn I Jirasek I Seipp, Bundessozialhilfegesetz, 5. Aufl. 1968, § 10 Anm. 4 b - e.
1. Rechtslage nach dem BSHG und JWG
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Gesetzeswortlaut "soll" einen Ermessensspielraum der Behörde 10 leugnet, wird zumeist damit begründet, daß § 10 Absatz 4 BSHG die gesetzliche Ausformung eines (natur- oder verfassungsrechtlichen) allgemeinen Subsidiaritätsprinzips sei11 • Die inzwischen wohl vordringende Auffassung weist hingegen dem öffentlichen Träger eine Prüfungskompetenz zu, ob die Hilfe durch ,freie' Vereinigungen gewährleistet ist oder ob nicht besondere Umstände eine Pflicht des öffentlichen Trägers, tätig zu werden, begründen12. Diese Auslegung kann sich nicht nur auf den Wortlaut, sondern auch auf den systematischen Zusammenhang mit den §§ 4,9 und 10 Absatz 2 BSHG stützen: Nach § 4 BSHG hat nämlich der Bürger gegenüber den in § 9 BSHG normierten örtlichen und überörtlichen (öffentlichen) Trägern einen Anspruch auf Sozialhilfe, bei deren Gewährung jene mit den Vereinigungen der freien Wohlfahrtsverbände zusammenarbeiten "sollen". Ist den öffentlichen Trägern demnach also eine Gesamtverantwortung für die Gewährung von Sozialhilfe gegenüber dem Bürger übertragen, so wird man ihnen auch eine Entscheidungsbefugnis einräumen müssen und müßte daher, statt von einer generellen "Funktionssperre" zugunsten der ,freien' Vereinigungen, von einem durch die Ermessensentscheidung des (öffentlichen) Trägers der Sozialhilfe "bedingten Funktionsvorrang" sprechen. In der Tat konzentrieren sich die Auseinandersetzungen in neuerer Zeit vor allem auf die Frage, welche Gesichtspunkte von dem öffentlichen Träger bei der Prüfung, ob die Hilfe seitens der ,freien' Wohlfahrtspflege "gewährleistet" ist, herangezogen werden dürfen und müssen. Unbestritten ist, daß der öffentliche Träger die Leistungsbereitschaft, aber auch die Leistungsfähigkeit der ,freien' Vereinigung überprüfen muß13. Dieses objektive Kriterium wird aber mehr und mehr überlagert von einem subjektiven Kriterium, das vor allem von der Verbandsliteratur, aber auch seitens der Wissenschaft vorgetragen wird: das sogenannte "Wahlrecht" des Hilfesuchenden14 • Mit dieser Argumentationslinie erhält nicht nur die Deutung des § 10 Absatz 4 BSHG eine neue Wendung; es wird vielmehr für das gesamte Verhältnis zwischen 10 BVerfGE 16, S. 226; OVG Münster, OVGE 15, S. 84; Wolff, Verwaltungsrecht I, 8. Aufl. 1971, § 31 Abs. 2 b, S. 186 m. N. 11 F. Klein, ArchKathKR 130 (1961), S. 124 (130 f., 137); ders., NDV 1960, S. 378 (379 ff.); Verfassungsbeschwerde, S. 122. 12 Gottschick / Giese, Bundessozialhilfegesetz, 4. Aufl. 1970, § 10 Rdn. 5; Knopp / Fichtner, § 10 Rdn. 11; Luber, Bundessozialhilfegesetz, 1962, § 19 Anm. V, 2. 13 Ehrlich, S. 128 m. w. N.; Zacher, S. 33 m. w. N.; Wehlitz, BldW 1964, S. 323. 14 Statt vieler Fröhler, ZfSH 1963, S. 79, 97 (101); UZe, S. 664; Zacher, S. 33
m.w.N.
1. Teil, I. Vorrang oder Partnerschaft?
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öffentlichen Trägern und ,freien' Vereinigungen ein neues Kapitel aufgeschlagen. Denn die Verlagerung der Entscheidung über die Ausgestaltung und Durchführung der Sozialhilfe vom öffentlichen Träger weg zu dem Hilfesuchenden könnte exemplarisch wirken für ein Gemeinwesen, in dem die Entscheidung über die Aufgabenverteilung zwischen Staat und Gesellschaft nicht mehr, wie es eine traditionelle Souveränitätslehre tat, dem Staat, sondern dem Bürger zugewiesen ist. Aus diesem Grunde ist es von zentraler Bedeutung, die normative Basis dieser Argumentation zu untersuchen, wobei insbesondere auch die Einwände herangezogen werden müssen, die im Rahmen des Verfassungsstreits von Lerche vorgetragen worden sind. Das "Wahlrecht" wird von seinen Vorkämpfern aus dem Zusammenhang von § 10 Absatz 4 mit § 3 Absatz 2 BSHG begründet, wonach der öffentliche Träger den Wünschen des Hilfesuchenden Rechnung tragen muß, sofern diese "angemessen" sind und keine "unvertretbaren Mehrkosten" verursachen: diese Vorschrift müsse insbesondere im Lichte der in Art. 4 GG verankerten Glaubens- und Bekenntnisfreiheit gesehen werden; da die Leistung persönlicher Hilfe jedoch in aller Regel religiös oder weltanschaulich geprägt sei, sei die Hilfe durch eine ,freie' Vereinigung nur dann, aber auch schon dann "gewährleistet" im Sinne des § 10 Absatz 4 BSHG, wenn der Hilfesuchende damit einverstanden sei 15 • Lerche verweist demgegenüber auf die systematische Stellung des § 3 Absatz 2 BSHG im Rahmen der allgemeinen Vorschriften und auf den Zusammenhang von § 10 Absatz 2 und § 10 Absatz 4: § 3 Absatz 2 BSHG solle nur für die öffentliche Sozialhilfe gelten, von der das Gesetz allein handle; die Hilfe nach § 10 Absatz 4 BSHG sei hingegen unabhängig von der jeweiligen religiösen und weltanschaulichen Bindung stets "gewährleistet", da in der vorausgehenden Vorschrift des § 10 Absatz 2 BSHG die Kirchen und Religionsgemeinschaften ausdrücklich und ohne Einschränkung als Hilfeträger aufgeführt seien18• Diese Argumentation ist jedoch nicht zwingend. Als allgemeine Regelung der Gewährung von Sozialhilfe gilt § 3 Absatz 2 BSHG nicht nur für den Fall, daß der öffentliche Träger die Hilfe selbst durchführt, sondern auch, wenn er die Durchführung einer ,freien' Vereinigung überläßt; denn auch in diesem Fall trägt der öffentliche Träger gegenüber dem Hilfesuchenden die Verantwortung für seine Entscheidung. Diese Konsequenz wird auch deutlich, wenn man eine Parallele zu § 3 Absatz 2 JWG zieht, in dem das "Wahlrecht" des Personensorgeberechtigten ausdrücklich normiert wird. Entgegen Lerche, der aus dem schwächeren Wortlaut des § 3 Absatz 2 BSHG e contrario argumentiert, wird man aus der Beziehung zwischen §§ 3 Absatz 2, 5 Absatz 3 Satz 3 JWG einerseits und §§ 3 Absatz 2 BSHG und 10 Absatz 4 BSHG andererseits einen Analogieschluß ziehen müssen: § 3 Absatz 2 JWG hat nicht nur einen weitgehend gleichen Wortlaut, sondern auch eine dem § 3 Absatz 2 BSHG vergleichbare Funktion als Richtlinie für die Art und Weise der Durchführung der gesamten Jugendhilfe. § 5 Absatz 3 Satz 3 JWG konkretisiert diese Richtlinie für das Verhältnis von öffentlicher und ,freier' Jugendhilfe, allerdings nur zugunsten ersterer, da aufgrund der Regelung in § 5 Absatz 3 Satz 2 die Existenz von ,freien' Veranstaltungen und Einrichtungen vorausgesetzt wird. Geht man davon aus, 1$
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So etwa UZe, ebd.; FröhZer, ebd. Lerche, Verfassungsfragen, S. 51 ff., 132 f.
1. Rechtslage nach dem BSHG und JWG
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daß das ,Wahlrecht' in bei den Richtungen ausgeübt werden kann17, so liegt es nahe, § 5 Absatz 3 Satz 2 JWG im Lichte des § 5 Absatz 3 Satz 3 JWG dahingehend auszulegen, daß das Erfordernis der "Eignung" dem Wahlrecht des Personensorgeberechtigten Raum läßt. § 5 Absatz 3 Satz 2 JWG ist aber, insbesondere wenn man den engen Zusammenhang in Entstehung, Funktion und Struktur beider Gesetze bedenkt1 8, von der Gesetzessystematik her gesehen, als Gegenstück zu § 10 Absatz 4 BSHG anzusehen. Geht man daher vom Sinnzusammenhang beider Gesetze aus, wird man § 10 Absatz 4 BSHG im Lichte eines allgemeinen ,Wahlrechts' des Hilfesuchenden (§ 3 Absatz 2 BSHG) interpretieren müssen. Ein ,Wahlrecht' des Hilfesuchenden würde allerdings - entgegen der Auffassung von Zacher 19 - den Ermessensspielraum des öffentlichen Trägers faktisch auf Null reduzieren. Denn nachdem das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 15. Juni 1970 dem öffentlichen Träger den Ausweg versperrt hat, unter Hinweis auf sonst entstehende "unvertretbare Mehrkosten" (§ 3 Absatz 2 BSHG) den Hilfesuchenden auf eigene freie Kapazitäten zu verweisen20 , dürften die Einschränkungen in § 3 Absatz 2 BSHG angesichts des vergleichbaren Leistungs- und Preisniveaus öffentlicher und ,freier' Dienste und Einrichtungen kaum eine wirksame Begrenzung des Wahlrechts bewirken. Die entscheidende Weichenstellung liegt daher in der Frage, welcher Maßstab dem Ermessen des öffentlichen Trägers zugrunde gelegt wird: sieht man § 10 Absatz 4 BSHG vor dem Hintergrund des Subsidiaritätsprinzips, ist das Ermessen durch den Eintritt einer ,freien' Vereinigung weitgehend eingeschränkt; versteht man § 10 Absatz 4 BSHG als konkrete Ausformung eines in § 3 Absatz 2 BSHG normierten Wahlrechts, ist die Präferenz des Hilfesuchenden maßgebender Gesichtspunkt; betrachtet man § 10 Absatz 4 BSHG im Lichte einer staatlichen Gesamtverantwortung für die Sozialhilfe, so ist dem öffentlichen Träger ein weiter Entscheidungsspielraum zuzubilligen. In der Auslegung des § 10 Absatz 4 BSHG eröffnen sich damit Probleme, die weit über den Sachbereich ,Wohlfahrtspflege' hinaus in verfassungsrechtliche Fragestellungen wie Subsidiarität des Staates gegenüber einem Vorrang von Verbänden, Souveränität des Staates aufgrund sozialstaatlicher Verant17 _ was von Zacher, S. 48 f., 50 nicht berücksichtigt wird und daher zu einer weitgehenden Abschwächung des Wahlrechts im Rahmen des § 5 JWG führt; richtig dagegen Rinken, HdbStKirchR H, 1975, S. 345 (374 f.): § 5 Abs. 3 S. 3 JWG räumt dem Hilfeempfänger "ein als subjektiv-öffentliches Recht ausgestaltetes Wahlrecht zwischen den verschieden geprägten Institutionen ein". 18 Vgl. dazu insbesondere die Debatten im Deutschen Bundestag, Steno Ber. der Verh., 3. Wahlperiode, 157. Sitzung, 3.5.1961, S. 9026 ff.; 158. Sitzung, 4. 5. 1961, S. 9061 ff. sowie Matthes, Gesellschaftspolitische Konzeptionen im Sozialhilferecht, 1964, passim und Zacher, passim. 19 20
S.34.
BVerwGE 35, S. 287 (289 ff.).
1. Teil,!. Vorrang oder Partnerschaft?
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wortung, Beschränkung staatlicher Souveränität durch Grundrechte des Bürgers, Aufgabenverteilung zwischen Staat und Gesellschaft hineinreichen. Diese grundsätzlichen Fragen stellen sich auch bei dem Sonderfall der Beratung (§ 8 Absatz 2 Satz 2 BSHG) und bei dem Pendant zu § 10 Absatz 4 BSHG, der Hilfe in Einrichtungen (§ 92 Absatz 1 Satz 2 BSHG). Im Fall des § 8 Absatz 2 Satz 2 BSHG ist es die Formulierung, daß der öffentliche Träger zunächst auf die Hilfe durch ,freie' Vereinigungen "hinweisen" muß, die unterschiedlichen Auslegungen Raum läßt: von der Basis eines generellen Vorrangs aus wird man eher dafür plädieren, daß der öffentliche Träger den Hilfesuchenden an eine ,freie' Vereinigung verweisen muß, ohne selbst tätig zu werden; demgegenüber wird man im Lichte eines ,Wahlrechts' oder der sozialstaatlichen Gesamtverantwortung eine bloße Informationspflicht annehmen, ohne daß der öffentliche Träger deshalb von der Beratung Abstand nehmen müßte21 • In § 93 Absatz 1 Satz 2 BSHG ist die Deutung der Formulierung problematisch, daß der öffentliche Träger eigene Einrichtungen nicht schaffen soll, "soweit geeignete Einrichtungen ausgebaut oder geschaffen werden können". Angesichts der Schwierigkeiten, die im Gesetz geforderte Prognose, wie sie für eine langfristige Planung und Finanzierung von Einrichtungen unumgänglich ist, zu realisieren, wird von der Kommentarliteratur zumeist gefordert, daß der Ausbau oder die Neuschaffung von ,freien' Einrichtungen zumindest "greifbare Formen" angenommen haben müsse22 , wobei als maßgebendes Kriterium zumeist auf das Vorhandensein einer substantiellen Eigenkapitalbasis abgestellt wird23 ; diese Deutung dürfte zum al den Vertretern einer sozialstaatlichen Gesamtverantwortung entgegenkommen, da sie die Position der öffentlichen Träger stärkt. Demgegenüber läßt der Begriff "geeignet" auch die Möglichkeit offen, über eine entsprechende Prognose das ,Wahlrecht' ins Spiel zu bringen, auch wenn das entsprechende Instrumentarium der Sozialplanung noch in der Entwicklung begriffen ist24 • Schließlich ist auch der extreme Standpunkt auf der Grundlage des generellen Vorrangs denkbar, daß schon die rein abstrakte Möglichkeit der Errichtung einer ,freien' Einrichtung das Tätigwerden des öffentSo etwa Gottschick / Giese, § 8 Anm. 76 bb; Knopp / Fichtner, § 8 Rdn. 4; Rdn. 5; Schellhorn / Jirasek / Seipp, § 8 Anm. II, 2 d; Wehlitz, Leitende Tätigkeit, Zusammenarbeit und Recht in der öffentlichen und freien Sozialarbeit, 1972, S. 148 ff. 22 Knopp / Fichtner, § 93 Rdn. 3; Oestreicher, § 93 Rdn. 3; Weller, IM 52 21
Oestreicher,
(1962), S. 162 (172). !3
Gottschick / Giese, § 93
S. 164 f.
Anm. 6; Knopp / Fichtner, § 93 Rdn. 6; Wehlitz,
24 Insoweit überholt die pessimistische Betrachtung von Zacher, S. 36 f.; zu den Möglichkeiten der Sozialplanung i. e. 4. Teil, II. 2. a.
1. Rechtslage nach dem BSHG und JWG
27
lichen Trägers hemmt, auch wenn deren Realisierung gar nicht absehbar ist25 • Auch in diesen Fällen weisen die verschiedenen Grundpositionen demnach den Weg zu diametral verschiedenen Lösungen, wobei insbesondere der Dissens in der Auslegung von § 93 Absatz 1 Satz 2 BSHG für die zukünftige Entwicklung der ,freien' Einrichtungen im Sachbereich ,Wohlfahrtspflege' von weichenstellender Bedeutung ist: je nachdem, ob die Vorschrift im Sinne ihres vom Gesetzgeber angestrebten Schutzcharakters26 oder ob sie als bloßer Programms atz interpretiert wird, ist eine Gewichtsverschiebung im Sachbereich ,Wohlfahrtspflege' durch den Gesetzeswortlaut gehemmt oder vorgezeichnet. b) Diese Fragestellungen gelten gleichermaßen für die im Jugendwohlfahrtsgesetz getroffene Regelung. Nach § 5 Absatz 3 Satz 2 JWG "ist von eigenen Einrichtungen und Veranstaltungen des Jugendamtes abzusehen, soweit geeignete Einrichtungen und Veranstaltungen der Träger der freien Jugendhilfe vorhanden sind, erweitert oder geschaffen werden". Vertreter eines generellen Vorrangs der ,freien' Vereinigungen stützen ihre Auffassung vor allem auf die gegenüber § 10 Absatz 4 BSHG verschärfte Formulierung der Vorschrift als strikte Rechtsnorm, die keinen Raum für das Ermessen der Jugendämter eröffne; vielmehr könnten die ,freien' Vereinigungen sogar einen Anspruch auf Unterlassung jedes Tätigwerdens geltend machen27 • Diese Argumentation übersieht aber, daß der Kern des Streits - ebenso wie im Fall von § 10 Absatz 4 BSHG - nicht so sehr in der Frage der Formulierung als "Soll"oder "Muß"-Vorschrift, sondern - vor allem für die Wahlrechtskonzeption - in der Frage der Auslegung der "Eignung" wurzelt. Auch in dieser Frage kommt es daher auf die grundsätzlichen Positionen an: Sieht man § 5 Absatz 3 Satz 2 JWG vor dem Hintergrund eines allgemeinen Subsidiaritätsprinzips28, wird man einen Unterlassungsanspruch annehSo Zacher, S. 37. Dazu die Vielzahl von Nachweisen aus der Debatte bei Zacher, S. 23 f., 33; vgl. auch Matthes, Gesellschaftspolitische Konzeptionen, S. 5 ff., 38 ff. und passim. !7 Bachof, Rechtsgutachten über die Verfassungsmäßigkeit verschiedener Bestimmungen des Jugendwohlfahrtsgesetzes, 1962, S. 20 ff.; Bender, DVBl. 1963, S. 87 (94); Köttgen, Vorrang oder Subsidiarität der freien Jugendhilfe?, 1961, S. 13; Küchenhoff, Gemeinden und Verbände der freien Wohlfahrtspflege in der deutschen Gesetzgebung im Jahr 1961, 1962, S. 64; Zacher, S. 49. 28 So das verbandsfreundliche Schrifttum im Verfassungsstreit, Bachof, S. 7 ff.; Bender, S. 91; v. d. Heydte, Vorrang oder Subsidiarität der freien Jugendhilfe?, 1961, S. 53 (54, 60, 68); Küchenhoff, S. 65; F. Klein, JuWo 1963, S. 3 (11); Süsterhenn, Gutachten über die Vereinbarkeit der §§ 5 Abs. 3, 8 Abs. 3 des Jugendwohlfahrtsgesetzes vom 11.8. 1961 mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, o. J., S. 12 ff. 25 26
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1. Teil,!. Vorrang oder Partnerschaft?
men müssen, anders hingegen, wenn man auf dem Boden der "partnerschaftliehen" Konzeption steht, die die sozialstaatliche Gesamtverantwortung stärker in den Vordergrund rückt und daher dem öffentlichen Träger ein gewisses Maß an Entscheidungsfreiheit einräumen Will29• In allen relevanten Fragen sind es demnach stets dieselben grundsätzlichen Positionen, die zur Debatte stehen: Subsidiaritätsprinzip, "Wahlrechte" und sozialstaatliche Verantwortung. 2. Konzeption der Jugendhilfereform
Die in den Jahren 1974 und 1978 vorgelegten Reformentwürfe eines Jugendhilfegesetzes tragen zu den offenen Fragen im Verhältnis zwischen Staat und Wohlfahrtsverbänden einige bedeutsame KlarsteIlungen und Denkanstöße bei. a) In dem Referentenentwurf vorn 1. April 1974 (RE JHG 1974)30 werden nunmehr die Gesamtverantwortung des öffentlichen Trägers und das ,Wahlrecht' des Hilfesuchenden gesetzlich festgeschrieben; dem Konzept der "gleichwertigen Partnerschaft" wird der Vorzug gegenüber dem (generellen oder bedingten) Vorrang der ,freien' Vereinigungen gegeben (§§ 11 Absatz 3, 25 Absatz 2, 10 Absatz 1 Satz 1 RE JHG 1974). Diese Auflösung des bisherigen ,magischen Dreiecks' wird besonders in der BegründungS1 deutlich, die die "gleichrangige Partnerschaft" als 29 So vor allem die Kommentarliteratur und Vertreter der öffentlichen Träger, Flamm, BldW 1967, S. 401 (404); Jans / Happe, Jugendwohlfahrtsgesetz, 2. Auf!. 1971 ff.; § 5 Bem. 3 C; Potrykus, Jugendwohlfahrtsgesetz, 2. Auf!. 1972, § 5 Anm. 10; Riedel, Jugendwohlfahrtsgesetz, 4. Aufl. 1965, §§ 5 Anm. 18, 8 Anm. 5. 30 _ herausgegeben von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter und überörtlichen Erziehungsbehörden, Köln 1974. Aus den Vorarbeiten im Rahmen der Jugendhilfereform vgl. insbes.: Grundthesen zu einem neuen Jugendhilferecht (des DV), NDV 1971, S. 145 ff.; Einzelthesen zu einem neuen Jugendhilferecht (des DV), NDV 1972, S. 309 ff.; 1973, S. 201 ff.; Vorschläge für ein erweitertes Jugendhilferecht, hrsgg. von der A W, 1970; Diskussionsentwurf eines Jugendhilfegesetzes, hrsgg. v. BM JFG, 1973; Flamm, Synopse zur Neuordnung des Jugendhilferechts, 1970; Jugendbericht v. 22. 12. 1972, BT-Drucks. VI/3175. - Stellungnahmen der Wohlfahrtsverbände zur Jugendhilfereform: Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege e. v., Anmerkungen zu einem neuen Jugendhilfegesetz, März 1972; dieselbe, Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Jugendhilfegesetzes, 31. 5. 1974; Stellungnahme der EKD, des DW u. a. zum Referentenentwurf eines Gesetzes für Jugendhilfe vom 1. 4.1974, 4.6.1974; Stellungnahme des Kommissariats der Deutschen Bischöfe, des DCV u. a. zum Diskussionsentwurf eines Jugendhilfegesetzes, Oktober 1973; Vorschlag der AW für ein Gesetz zur Förderung der Jugend, TuP 1973, Beiheft 1, 11/1973. Zum Diskussionsstand nach dem DE JHG Fichtner, VSSR 1 (1973), S. 232 ff., insbes. S. 238 ff. 31 _ hrsgg. v. d. Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter und überörtlichen Erziehungsbehörden, Köln 1974.
2. Konzeption der Jugendhilfereform (RE JHG 1974/1977)
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Ziel des Entwurfs nennt32, zugleich aber auf die staatliche Gesamtverantwortung für die Durchführung der Aufgaben und die Zielsetzung der Jugendhilfe abhebt33 , auch "soweit die Hilfesuchenden oder Personensorgeberechtigten von ihrem Wahlrecht nach § 25 Absatz 2 in Verbindung mit § 2 Absatz 2 Gebrauch gemacht haben"34. Zum anderen wird versucht, einen potentiellen Konflikt zwischen ,Wahlrecht' und Gesamtverantwortung durch eine ,salomonische' Regelung auszuräumen, die die "Verpflichtung zur partnerschaftlichen Zusammenarbeit ... im Hinblick auf die Schaffung von Einrichtungen, Diensten und Veranstaltungen ... konkretisieren soll"35: "Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen sollten unter Wahrung einer angemessenen Vielfalt des Angebots jeweils von dem Träger der Jugendhilfe oder der Vereinigung für Jugendhilfe geschaffen werden, der oder die in Anbetracht des Zwecks der Einrichtung, des Dienstes oder der Veranstaltung die dafür günstigsten Voraussetzungen erfüllt" (§ 10 Absatz 2 RE JHG 1974).
Entscheidender Gesichtspunkt für die Aufgabenverteilung soll hier nicht mehr ein theoretisches Prinzip sein, sondern die pragmatische Klärung, "ob in Anbetracht des Zwecks der Einrichtung, des Dienstes oder der Veranstaltung der eine oder der andere die günstigsten Voraussetzungen in Bezug auf Klientel, Personal, besondere Erfahrung und Sachkunde, Spezialisierung erfüllt"38. Die Entstehungsgeschichte dieses Referentenentwurfs zeigt freilich, daß das Bild der Harmonie, das in Entwurf und Begründung gezeichnet wird, trügt. In der zur Vorbereitung der Jugendhilfereform berufenen Sachverständigenkommission bestanden zum Verhältnis zwischen öffentlichen Trägern und ,freien' Vereinigungen so tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten, daß ein Diskussionsentwurf eines Jugendhilfegesetzes nur in zwei Alternativfassungen vorgelegt werden konnte37• Dem Bestreben der Vertreter der Wohlfahrtsverbände, "die geltende gesetzliche (Vorrang-)Regelung über die Aufgabenverteilung zwischen öffentlicher und freier Jugendhilfe (§ 5 Absatz 3 Satz 2 JWG) ... in Anpassung an die Regelung im BSHG (§§ 10 Absatz 4, 93 Absatz 1 Satz 2 BSHG) ... fort(zu)entwickeln"38, um damit ein "plurales Angebot der Leistungen der Jugendhilfe zu sichern38, stand die Auffassung der KommisEbd. zu § 10 Abs. 1, S. 20. Ebd., zu § 11 Abs. 3, S. 21. 34 Ebd.; das "Wahlrecht" wird ferner auch erwähnt bei Begr. zu § 11 Abs. 1, S.21. 35 Begr. zu § 10 Abs. 2, S. 20. 38 Ebd. 37 Diskussionsentwurf, Vorwort S. 6 und §§ 14, 14 a, Begr. S. 87; vgl. dazu auch Bott, BldW 1973, S. 236 (237). 38 Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, Grundthesen Nr. 33, NDV 1972, S. 201 ff. und Einzelthesen Nr. 17, NDV 1973, S. 309 ff. 38 Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege, Anmerkungen zu einem neuen Jugendhilfegesetz, Nr. 33. 32
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1. Teil, I. Vorrang oder Partnerschaft?
sionsmehrheit gegenüber, die das Verhältnis, statt "den alten und in der Praxis längst überholten Subsidiaritätsstreit wieder zu beleben"40, auf der Ebene der Partnerschaft gelöst sehen wollte. Im Lichte dieser zugrunde liegenden Meinungsverschiedenheit erweist sich § 10 Absatz 2 RE JHG 1974 als ein Formelkompromiß, der zu Generalklauseln seine Zuflucht nehmen muß, die dem Prinzip rechtsstaatlicher Normenklarheit kaum mehr entsprechen. Die Ausgestaltung als bloße Sollvorschrift und die Häufung unbestimmter Rechtsbegriffe ("in Anbetracht des Zwe1!ks " , "günstigste Voraussetzungen", "unter Wahrung einer angemessenen Vielfalt des Angebots") legen letztlich die Entscheidung in das gesetzlich nicht konkretisierte und daher gerichtlich kaum überprüfbare Ermessen des öffentlichen Trägers. Die Vieldeutigkeit der Vorschrift geht in der Praxis zu Lasten der ,freien' Vereinigungen, die der auf einer überlegenen Organisation und Finanzkraft beruhenden, durch eine umfassende Planungskompetenz (§ 16 RE JHG 1974) und eine weitgespannte Aufgabenverantwortung (§ 17 RE JHG 1974) abgesicherten tatsächlichen und rechtlichen Übermacht des öffentlichen Trägers keine gesetzlich klar umrissenen Rechtspositionen entgegenzusetzen haben. b) Die rechtsdogmatischen - und zugleich auch rechtsstaatlichen Schwächen des Entwurfs von 1974 werden in der Neufassung von 197841 (ESGB - JHG -) teilweise korrigiert: "Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen, die im Jugendhilfeplan (§ 101) ausgewiesen sind, sollen jeweils von dem öffentlichen Träger oder den anerkannten freien Trägern der Jugendhilfe geschaffen und betrieben werden, die die fachlichen Voraussetzungen für die Leistung wirksamer Jugendhilfe entsprechend der jeweiligen Aufgabe, vor allem in bezug auf ihre Durchführung durch Fachkräfte sowie auf Sachkunde und Erfahrung für den Betrieb solcher Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen erfüllen. Dabei sind zu berücksichtigen 1. die Wünsche, Bedürfnisse und Interessen der jungen Menschen und der Erziehungsberechtigten sowie ihr Wahlrecht nach § 10 Abs. 2 Satz 4 und 2. eine genügende Vielfalt des Angebots. Der öffentliche Träger der Jugendhilfe hat darauf hinzuwirken, daß Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen von anerkannten freien Trägern der Jugendhilfe geschaffen und betrieben werden, soweit dies den Grundsätzen des Satzes 2 entspricht." (§ 102 Abs. 1) Die Normierung klarerer Kriterien zur Bestimmung der Frage, wer die Voraussetzungen für die Leistung wirksamer Jugendhilfe am be40 Diskussionsentwurf, Begr. zu § 14 a und b, S. 87. Entwurf der Bundesregierung für ein Sozialgesetzbuch (SGB) - Jugendhilfe - v. 8.11.1978, BR-DrS 517/78. - Auf eine Besprechung des hiermit weitgehend übereinstimmenden Referentenentwurfs vom 31. 10. 1977 (RE JHG 1977) wird verzichtet, da dieser überholt sein dürfte. 41
1. Teil, H. Förderung, Planung, Strukturregelung
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sten erfüllt, ist ein deutlicher Fortschritt gegenüber den vagen Formulierungen von 1974; dies gilt ebenso für die Begründung der Neufassung, die nunmehr auch das Prinzip der ,gleichrangigen und gleichwertigen Partnerschaft' (RE JHG 1974) schärfer zu konkretisieren sucht, wobei auch "die Möglichkeiten freier Träger der Jugendhilfe zum Einsatz ehrenamtlicher Kräfte, ihre Flexibilität und Nähe zum Bürger, zu den Familien und zu den jungen Menschen" als Wertungskriterien herangezogen werden42 • Auch in dieser Fassung stehen allerdings politische (Satz 1) und fachliche (Satz 2) Kriterien nebeneinander, deren rechtlicher und sachlicher Maßstab und deren Beziehung zueinander nicht deutlich geklärt sind; diese Offenheit vermag sich unschwer zu einem Ordnungs defizit auszuwachsen, wenn die gesetzliche Regelung in einer regional und lokal unterschiedlichen Verwaltungspraxis umgesetzt werden soll. Will man verhindern, daß bereits in dem Gesetzeswortlaut Zündstoff für zukünftige Auslegungsstreitigkeiten eingebaut ist, wird man die Grundkonzeption in dem Rahmen diskutieren müssen, dem sie entspringen: im Rahmen des Verfassungsrechts. Subsidiaritätsprinzip, Wahlrechte des Hilfesuchenden, sozialstaatliche Gesamtverantwortung, staatliche Neutralität und gesellschaftlicher Pluralismus, grundrechtlicher Freiraum des Helfenden - diese Schlüsselbegriffe der gesamten Diskussion müssen in einer verfassungsrechtlichen Untersuchung problematisiert und erschlossen werden. Gelingt es auf dieser Ebene, übergreifende Ordnungsprinzipien des Sachbereichs ,Wohlfahrtspflege' herauszuarbeiten, könnte man auch in der Auslegung der gesetzlichen Regelungen über die Beliebigkeit vorgefaßter Meinungen hinausgelangen. D. Förderung, Planung und Strukturregelung Gesetzgebung und Verwaltung im Widerstreit zwischen sozialstaatlicher Aufgabenverantwortung und ,freier' Hilfe Gegenüber der klassischen Fragestellung der Aufgabenverteilung gewinnen die Probleme der Förderung, Planung und Strukturregelung in neuerer Zeit zunehmend Raum. Diese Gewichtsverschiebung wird gerade auch an neueren Gesetzgebungsmaßnahmen deutlich, die im Gegensatz zur früheren Rechtslage ein dichtes Netz von Regelungen des Verfahrens, des Maßstabs und der Grenzen von Förderungs-, Planungs- und Strukturregelungsmaßnahmen entwerfen. Freilich kommt diese Entwicklung nicht von ungefähr: im Gegensatz zu der Zeit bis in die erste Hälfte dieses Jahrhunderts ist es nicht mehr die Abgrenzung von Kompetenzbereichen, 42
Begründung zu § 99 ESGB - JHG -, ebd. S. 140, 1. Sp.
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1.
Teil, II. Förderung, Planung, Strukturregelung
sondern die Verflechtung der Aufgabenstellungen, die den Schwerpunkt der Probleme bildet. Förderung, Planung und Strukturregelung konstituieren ein dynamisches Ordnungssystem, das das statische Abgrenzungsmodell nicht nur ergänzt, sondern zunehmend in den Hintergrund treten läßt. Dieser Prozeß des Wandels wird exemplarisch deutlich an der Frage der Förderung ,freier' Wohlfahrtspflege: stand die Förderung noch in den Wohlfahrtsgesetzen von 1961 im Zusammenhang mit den Regelungen der Aufgabenverteilung, so ist sie in den seit 1969 verabschiedeten Gesetzen (Krankenhaus-, Kindergartengesetze, Heimgesetz) untrennbar mit Planungs- und Strukturregelungsmaßnahmen gekoppelt. Die Frage nach dem "Ob" staatlicher Förderung wird ergänzt und überlagert von dem "Wie"; neben das Problem des Anspruchs auf staatliche Förderung treten die Fragen der Koppelung mit Planungs- und Strukturregelungsmaßnahmen und der Beteiligung an der staatlichen Sozialplanung. 1. Anspruch auf staatliche Förderung ,freier' Wohlfahrtspflege?
Die Regelung der staatlichen Förderung auf dem Gebiet der Sozialund Jugendhilfe (§§ 10 Absatz 3 Satz 2 BSHG, 5 Absatz 1, 7, 8 Absatz 3 JWG) gewinnt ihre besondere Bedeutung aus dem Zusammenhang mit der Regelung der Aufgabenverteilung: gegenüber dieser hat sie flankierende Bedeutung insofern, als sie den ,freien' Vereinigungen ermöglichen soll, die ihnen vom Gesetzgeber überlassene Aufgabe auch wahrzunehmen; denn jene vermögen dieser Aufgabe nur nachzukommen, wenn der öffentliche Träger sie in dem Maße ideell und materiell unterstützen muß, als er nicht selbst tätig werden muß und darf43 • Da umgekehrt aber eine Förderungspflicht die Handlungsfreiheit der öffentlichen Träger angesichts ihrer finanziellen Konsequenzen erheblich beschränken würde, nimmt es nicht wunder, daß die Auslegung dieser Vorschriften zu den ungelösten Problemen der Wohlfahrtsgesetze von 1961 zu zählen ist. a) Dabei geht es zunächst um die Frage, ob aus dem Gesetz überhaupt eine staatliche Förderungspflicht hergeleitet werden kann. Insbesondere die generalklauselartige Formulierung in § 10 Absatz 3 Satz 2 BSHG, "die Träger der Sozialhilfe soll(t)en die Verbände der freien Wohlfahrtspflege in ihrer Tätigkeit auf dem Gebiet der Sozialhilfe angemessen unterstützen", hat im Schrifttum zu einer breiten 43 So vor allem die Amtl. Begr. zu § 10, BT-Drucks. III/1799, S. 39; vgl. ferner statt vieler (mit unterschiedlichen Konsequenzen je nach theoretischem Ausgangspunkt) Gottschick / Giese, § 10 Anm. 4; Luber, § 10 Anm. VII, 1; Riedel, § 7 Anm. 5; Schellhorn / Jirasek / Seipp, § 10 Anm. 3 b; Ridder, S. 22; Zacher, S. 29 f., 46, 137 und passim.
1. Anspruch auf staatliche Förderung
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Skala von Meinungen geführt, die das Unterstützungsgebot von der unbedingten Pflicht bis zum freien Ermessen des Trägers der Sozialhilfe variieren. Eine Mindenneinung deutet das Zusammenspiel von SollVorschrift und unbestimmtem Rechtsbegriff ("angemessen") im Sinne einer weitgehenden Entscheidungsfreiheit des öffentlichen Trägers44 • Demgegenüber schränkt die überwiegende Kommentarliteratur den Ermessensspielraum des öffentlichen Trägers auf klare Ausnahmefälle ein4!>, wobei allerdings über den Maßstab des Begriffes "angemessen" keine ausreichende Klarheit besteht48 • Auch diese verbandsfreundliche Auslegung erweist sich aber in der Praxis als weitgehend folgenlos, da die Herleitung eines entsprechenden Förderungsanspruchs der ,freien' Vereinigungen überwiegend abgelehnt wird41 • Jedoch dürfte der Streit, der um die Auslegung der §§ 5 Absatz 1 und 2 und 7 JWG ausgetragen worden ist, gezeigt haben, daß diese brüske Trennung zwischen Ermessen der Behörde und Anspruch des Bürgers auf dem Boden einer überholten Dogmatik steht. Zwar hat das Oberverwaltungsgericht Lüneburg in dem bislang einzigen am 13. Oktober 1965 entschiedenen Rechtsstreit die Klage einer ,freien' Vereinigung auf Gewährung einer finanziellen Unterstützung unter Berufung auf die frühere Rechtslage, die Entstehungsgeschichte und den Programmsatzcharakter dieser Vorschriften zurückgewiesen48• Doch zeigt diese Argumentation geradezu beispielhaft, daß die Tragweite des Grundgesetzes in dieser Frage bislang nicht voll erkannt worden ist. Die Aufnahme einer umfassenden Rechtsschutzgarantie in Artikel 19 Absatz 4 GG hat die traditionelle Lehre zum subjektiv-öffentlichen Recht gerade in der These, daß objektiv-rechtlichen Begünstigungen nicht notwendig subjektive Rechte entsprechen müssen49, überwunden50 • Artikel 19 Absatz 4 GG Zacher, S. 31 f.; Amtl. Begr., ebd. Knopp I Fichtner, § 10 Rdn. 10; Mergler I Zink, Bundessozialhilfegesetz, § 10 Rdn. 5; Oestreicher, § 10 Rdn. 13; ScheUhorn I Jirasek I Seipp, § 10 Anm. 44
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3 c; me, S. 659. 46 _ richtig nur me, S. 659 f. und Ehrlich, S. 121; schief hingegen Mergler, ebd. (strikte Bindung); Keese, Sozialhilferecht, 1974, § 10 Anm. 6; Knopp I Fichtner, ebd.; ScheUhorn I Jirasek I Seipp, ebd. (Ermessensbegriff). 47 So etwa die Amtl. Begr., ebd.; ihr folgend Oestreicher, § 10 Rdn. 12; Luber, BSHG, § 10 Anm. VII; Küchenhoff, Gemeinden und Verbände, S. 56; me, ebd.j Ehrlich, S. 120 f., m. w. N. in Fn. 234 (unklar allerdings S. 122). 48 NDV 1966, S. 123j ebenso Bender, DVBl. 1963, S. 94 f.j ders., Rechtsgutachten über die Frage der Vereinbarkeit verschiedener Vorschriften des Gesetzes für Jugendwohlfahrt vom 11. August 1961 mit dem Grundgesetz, 1962, S. 29 ff.; Ehrlich, S. 124; Riedel, § 8 Anm. 4j Jans I Happe, § 5 Anm. 3 A, § 8 Anm. 5j Potrykus, § 5 Anm. 11j Friedeberg I PoHigkeit I Giese, Jugendwohlfahrtsgesetz, 3. Aufl. 1972, § 5 Anm. 12. 48 Statt vieler Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte, 1914, S. 42 ff. 50 Aus der neueren Lehre vor allem Bachof, in: Gedächtnisschrift Jellinek, 1955, S. 287 (301 f.)j Henke, Das subjektive öffentliche Recht, 1968, S. 54 ff.; Lorenz, Der Rechtsschutz des Bürgers und die Rechtsweggarantie, 1973, S. 54 ff.; Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, 1965, S. 146 ff.; w. N. bei Zacher, S. 32 Fn. 42. 3 Wegener
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1. Teil, H. Förderung, Planung, Strukturregelung
als verfassungsrechtliches Pendant zum Rechtsstaatsprinzip stellt es nicht mehr ins Belieben des Gesetzgebers, "ob er objektive Regelungen, die die Stellung eines Rechtssubjektes unmittelbar berühren, mit einem subjektiven Recht ausstattet oder nicht; vielmehr ist davon auszugehen, daß, soweit ein Gesetz greifbar begünstigt oder belastet, ihm ein subjektives Recht des Betroffenen auf Einhaltung des Gesetzes - anders gesagt: auf Abwesenheit gesetzwidriger Belastungen und Vorenthaltungen - entspricht"51. Nach dem heutigen Stand des Verfassungs- und Verwaltungsrechts läßt sich daher ein Förderungsanspruch der ,freien' Vereinigungen nicht mehr bestreiten52 .
b) Damit stellt sich die in der Praxis zumeist wichtigere Frage, an welchem Maßstab sich die staatliche Förderung orientieren muß. Das BSHG gibt insofern keinen Aufschluß; allgemeine Formeln der Kommentarliteratur, wie etwa "Wahl des Hilfesuchenden"63, "Höhe der Eigenleistung"M oder "Ziele des BSHG"65 haben dem Begriff der "angemessenen Unterstützung" keine schärferen Konturen verliehen. Nützliche Kriterien finden sich demgegenüber in § 8 Absatz 3 JWG, der die Gleichbehandlung mit den Diensten und Einrichtungen des öffentlichen Trägers sowie eine Berücksichtigung der Eigenleistung vorschreibt. Allerdings ist auch das Kriterium ,Eigenleistung' nicht genügend präzise, da die Deutung naheliegt, ,freie' Verbände müßten ihre Dienste und Einrichtungen überwiegend aus eigener Kraft schaffen, um eine staatliche Förderung in Anspruch nehmen zu können56 • Hält man sich aber vor Augen, daß aus der gesetzgeberischen OrdnungsvorsteIlung, ein "planvolles Ineinandergreifen aller Organe und Einrichtungen der öffentlichen und freien Jugendhilfe" zu bewirken (§§ 5 Absatz 3 Satz 1, 7 JWG), für § 8 JWG die Zweckbestimmung folgt, einem durch die unterschiedliche Finanzkraft der Träger bewirkten Qualitätsgefälle zwischen öffentlichen und ,freien' Diensten und Einrichtungen entgegenzuwirken57 , so muß man entgegen dieser Deutung annehmen, daß der Träger der Jugendhilfe gerade umgekehrt seine Förderung nicht so sehr nach den Eigenmitteln als vielmehr nach dem Zuschußbedarf bemessen muß58. 51 Zacher, S. 31 f. 52 So auch Zacher, S. 31 f.; Bachof, Rechtsgutachten, S. 20 ff.; Köttgen, S. 28; v. d. Heydte, Vorrang oder Subsidiarität der freien Jugendhilfe?, 1961, S. 53 ff. (68). 53 Gottschick I Giese, § 10 Anm. 4. 54 Knopp I Fichtner, § 10 Rdn. 10; MergZer I Zink, § 10 Anm. 5; Oestreicher, § 10 Anm. 4. 55 UZe, S. 661. 56 So etwa Potrykus, § 8 Anm. 4; vgl. auch die Stellungnahme der Bundesregierung zu § 93 Abs. 1 S. 2 BSHG, Steno Ber. der Verh. des Bundesrates, 216. Sitzung v. 18.3.1960, S. 338; Gottschick I Giese, § 93 Anm. 6; Wehlitz, in: Collmer, Beiträge zum Verfassungsstreit über das Bundessozialhilfegesetz und das Jugendwohlfahrtsgesetz, 1963, S. 139 (146).
1.
Anspruch auf staatliche Förderung
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c) Gegenüber der gegenwärtigen Gesetzeslage, die demnach durch mancherlei Schwächen belastet ist, stellt die Konzeption der Jugendhilfereform einen Schritt zu mehr Klarheit und Praktikabilität dar:
"Anerkannte und nach § 12 förderungswürdige Vereinigungen für Jugendhilfe haben einen Rechtsanspruch auf Förderung durch den Träger der Jugendhilfe, soweit sie die Rechte des jungen Menschen, der Eltern und anderer Erziehungsberechtigter nach den §§ 1 und 2 erfüllen, ein Bedarf besteht und sie im Rahmen der Planung nach § 16 entsprechende Einrichtungen, Dienste, Veranstaltungen und Fachkräfte zur Verfügung stellen. Die Förderung setzt eine angemessene Eigenleistung voraus. Die unterschiedliche Finanzkraft der Vereinigungen für Jugendhilfe ist dabei zu berücksichtigen" (§ 13 RE JHG 1974). Der Referentenentwurf von 1974 stellt demnach den Grundsatz des Förderungsanspruchs eindeutig klar. Die Regierung trägt damit einerseits der Tatsache Rechnung, daß die ,freien' Vereinigungen die öffentlichen Träger erheblich entlasten59, andererseits zieht sie auch die notwendige Folgerung aus der Erkenntnis, daß die grundlegenden Ordnungsvorstellungen der Jugendhilfe, die Eigenständigkeit ,freier' Jugendhilfe (§§ 7 JWG, 10 Absatz 1 RE JHG 1974) und die Zusammenarbeit öffentlicher Träger und ,freier' Vereinigungen (§§ 7 JWG, 10 Absatz 1 RE JHG 1974) ohne eine umfassende staatliche Förderung im Sozialstaat weder organisatorisch noch finanziell mehr zu verwirklichen sind60 • Zwar führt der Regierungsentwurf von 1978 (§ 102 Abs. 2 ESGB - JHG -) diese weitausgreifende Regelung durch den Verzicht auf die ausdrückliche Statuierung eines "Rechtsanspruchs auf Förderung" zugunsten der neutraleren Formulierung "Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen ... werden nach Maßgabe der im Haushaltsplan zur Verfügung stehenden Mittel gefördert ... " wieder etwas in traditionellere Bahnen des Verwaltungsrechts zurück. Doch wird die politische und rechtliche Position der ,freien' Vereinigungen gegenüber dem zur Förderung verpflichteten öffentlichen Träger hierdurch in der Sache nicht verschlechtert. Dieser Ausblick zeigt, daß neue Problemlösungen möglich sind. Allerdings bleiben auch hier Fragen offen: so sind etwa die Voraussetzungen der Förderung mit den Antworten "Wahlrecht" und "Jugendhilfeplan" nur angedeutet; die Maßstäbe der Forderung "Eigenleistung" und "Finanzkraft" bedürften der Verdeutlichung. Um diese Fragen zu beantworten, wird es vor allem einer Klärung der Sozialstaats- und Grundrechtsproblematik bedürfen. 57 So etwa auch die Amtl. Begr. zu § 4 a, BT-Drucks. III/2226, S. 30; ferner Bender, DVBl. 1963, S. 94. 58 So auch Bachoj, Gutachten, S. 19; Bender, ebd.; Ehrlich, S. 125 f.; Riedel, § 8 Rdn. 4. 58 Begr. zu § 13 Abs. 1, S. 22 RE JHG 1974. 60 Diskussionsentwurf, Begr. zu § 15 Abs. 1, S. 88; Deutscher Verein, Grundthesen, Nr. 33, Einzelthesen, Nr. 18; Flamm, Neuordnung, Teil C,
Z.533. 3·
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1. Teil, 11. Förderung, Planung, Strukturregelung
2. Koppelung von Förderung, Planung und Strukturregelung
Die Koppelung von Förderung, Planung und Strukturregelung ist als das kennzeichnende Merkmal der neueren Gesetze und Gesetzesvorhaben bezeichnet worden. Die Problematik dieser gesetzgeberischen Konzeption liegt in der Gefahr, daß staatliche Förderung auf diese Weise eine qualitative Veränderung von der beabsichtigten Aufgabe der Sicherung der Eigenständigkeit ,freier Wohlfahrtspflege' zu der ungewollten Funktion eines indirekten Transmissionsriemens der Einbindung der ,freien' Vereinigungen in ein übergreifendes System der öffentlichen Hilfe erfahren könnte. Auch wenn eine Harmonisierung und Konzertierung der staatlichen Maßnahmen notwendig ist, sollte doch diese Gefahr der gesetzgeberischen Lösung nicht unterschätzt werden. Denn auch wenn den ,freien' Vereinigungen - wie etwa im Jugendhilfegesetzentwurf - die "eigenständige" Betätigung ausdrücklich gewährleistet ist (§ 8 Absatz 1 RE JHG 1974; § 97 Abs. 2 RE JHG 1977), fragt es sich doch, wie dieses Recht noch faktisch verwirklicht werden soll, wenn die ,freien' Vereinigungen über den ,goldenden Zügel' staatlicher Förderung an die feste Kandare der allgemeinen Gewährleistungspflicht (§ 17 RE JHG 1974; § 101 Abs. 2 ESGB - JHG -), der Planungsaufgabe (§ 16 RE JHG 1974; §§ 99, 101 ESGB - JHG -) und der Gesamtverantwortung (§ 11 Absatz 2 RE JHG 1974; § 101 Abs. 1 ESGB - JHG -) des öffentlichen Trägers genommen werden könnens1 • Dieses Problem stellt sich gegenwärtig vor allem im Sachgebiet ,Gesundheitshilfe', in deren Gesetzgebung durch Bund82 und Länder8 3 die 61 VgI. dazu auch Bott, BldW 1973, S. 236; Bedenken seitens der Wohlfahrtsverbände vor allem in der Stellungnahme von EKD und DW, S. 3. 62 Gesetz zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser und zur Regelung der Krankenhauspflegesätze vom 29. 6. 1972 - KHG - (BGBI. I S. 1009); BundespflegesatzVO vom 25.4.1973 (BGBl. I S. 333, ber. durch BGBI. I S. 419); dazu auch aus den Reihen der freien Wohlfahrtspflege: Gemeinsame Stellungnahme von DCV, DW, DPWV, DRK zum Regierungsentwurf eines Krankenhausfinanzierungsgesetzes v. 2.4.1971, ZfSH 1971, S. 162; F. Klein, Das Recht auf Krankenhilfe. Ein gesellschaftspolitisches, verfassungsrechtliches und kirchliches Problem, Caritas 73 (1972), S. 185 ff.; Spiegelhalter, Das Krankenhausfinanzierungsgesetz und die freigemeinnützigen Krankenhäuser, Caritas '71, S. 115 ff.; Rüther, Das Gesetzeswerk zur Krankenhausreform, VSSR 1 (1973), S. 218 ff.; Thermann, Perspektiven des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, IM 62 (1972), S. 305 ff. - Zu den Rechtsproblemen vor allem Bachof / Scheuing, Krankenhausfinanzierung und Grundgesetz. Rechtsgutachten, 1971; Schilling, Rechtsfragen einer Reform der inneren Struktur der Krankenhäuser, Festschrift G. Küchenhoff 11, 1972, S. 389 ff. 63 Bad.-Württ. KHG v. 16.12.1975 (GBI. S. 838); Bayer. KHG v. 21. 6. 1974 (GVBI. S. 256); LKG Berlin v. 13.12.1974 (GVBI. I, S. 2810); Hess. KHG v. 4.4.1973 (GVBI. S. 145); Nds. KHG v. 12.7.1973 (GVBl. S. 231); KHG NW v. 25.2.1975 (GVBI. S. 210); KRG Rh.-Pf. v. 29.6.1973 (GVBI. S. 199); SaarI. Ausführungsgesetz zum KHG v. 21. 12. 1972 (ABI. S. 42); Schl.-Holst. Kran-
2. Koppelung von Förderung, Planung und Strukturregelung
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staatliche Förderung als Ansatzpunkt für die detaillierte Regelung von Planungs- und Strukturregelungen dient. Das Krankenhausgesetz des Bundes vom 29. Juni 1972 legt grundsätzlich fest, daß Krankenhäuser künftig nur noch gefördert werden, soweit sie in den durch das Land aufzustellenden Krankenhausbedarfsplan und in das Jahreskrankenhausbauprogramm aufgenommen sind und die übrigen landesrechtlichen Förderungsvoraussetzungen vorliegen (§§ 8 Absatz 1 Satz I, 9 KHG). Zu § 9 KHG sind in einigen Ländern umfassende Regelungen ergangen, die nicht nur die zur Ausführung erforderlichen Planungs- und Förderungsbestimmungen, sondern darüber hinaus auch weitgehende Regelungen der Personal- und Organisationsstruktur enthalten; so sind etwa eine kollegiale Krankenhausleitung84 , die Auflösung der Privatstation8S , die Beteiligung aller Ärzte an der Privatliquidation88 und eine abgestufte Mitbestimmung des Personals an der Krankenhausleitung17 vorgesehen. Die Tendenz der Koppelung von staatlicher Förderung mit Planungsund Strukturregelungen ist ferner auch in verwandten Formen bei der Kindergartengesetzgebung der Länder zu beobachten, die in den vergangenen Jahren aufgrund von § 5 Absatz 1 Satz 3, Absatz 5 JWG erfolgt ist88 • In diesen Gesetzen wird die Förderung zum Teil an die Voraussetzung gebunden, daß ,freie' Träger "bereit und in der Lage" sind, einen "bedarfsgerechten" und "geeigneten" Kindergarten zu schaffen (§§ 8 Absatz 2 KgG NW, 6 Absatz 2 KgG Rh.-Pf.); zum Teil wird sie von einer "öffentlichen Anerkennung" abhängig gemacht, die durch die Träger der Jugendhilfe erfolgen soll (Art. 23, 24 Bayer.KgG, § 6 Bad.-Württ. KgG). Diese Regelungen bedeuten im Ergebnis die Einordnung in die Bedarfsplanung des öffentlichen Trägers89 sowie die Unterwerfung unter eine auskenhausinvestionskostenG v. 16. 1. 1973 (GVBl. S. 2); überblick bei van Nispen, TuP 26 (1975), S. 417 ff. - Zu den Rechtsproblemen Maunz, Verfassungsmäßigkeit, insbes. S. 10 ff.; ders., Krankenhausreform, S. 9 ff.; Horn, Auf dem Weg zu einer funktionsgerechten Krankenhausverfassung, VSSR 1 (1973), S. 86 ff.; Rüther, Das Gesetzeswerk der Krankenhausreform, ebd. S. 218 (223 ff.); Schilling, Rechtsfragen einer Reform der inneren Struktur der Krankenhäuser, Festschrift Küchenhoff H, 1972, S. 389 ff. 84 § 8 KRG Rh.-Pf.; § 17 KHG NW; § 16 Abs. 1 S. 2 KHG BW. 15 § 18 Hess. KHG, § 16 Abs. 1 KRG Rh.-Pf.; § 3 Abs. 2 KHG NW; § 15 KHG BW. 88 §§ 17 Abs. 1 Hess. KHG; 20 KRG Rh.-Pf.; 25 KHG NW; 19 KHG BW. 87 §§ 13 KRG Rh.-Pf.; 18 KHG NW; 17 KHG BW. 88 Bad.-Württ. Kindergartengesetz KgG - v. 29.2.1972 (GBI. S. 61); Bayer. KgG v. 25.7.1972 (GVBl. S. 297); KgG NW v. 21.12.1971 (GVBl. S. 534); KgG Rh.-Pf. (GVBl. S. 237); Saarl. VorschulG v. 9.6.1973 (GBl. S. 373). Stellungnahmen seitens der Wohlfahrtsverbände: Denkschrift des DCV zur vorschulischen Erziehung, 1969; Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege zur vorschulischen Erziehung, Juli 1969; dies., Forderungen zur Kindergartengesetzgebung der Länder, JuWo 1972, S. 249 f. - überblick über die Kindergartengesetzgebung bei Simon, Fünf Kindergartengesetze - Rechte und Pflichten der Partner, TuP 25 (1974), S. 139 ff.; Schmitt- Wenkebach / Ulshöfer, Kindergartenrecht, 1974, insbes. S. 34 ff.
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1. Teil, II. Förderung, Planung, Strukturregelung
gedehnte Strukturregelung70 • Diese Strukturregelung erfolgt etwa in Bayern durch einen Rahmenplan für die Erziehungs- und Bildungsarbeit11 und durch Verordnungen betreffend die personelle, räumliche, sachliche und organisatorische Ausstattung des Kindergartens72 • Diese Koppelung von staatlicher Planung, Förderung und Strukturregelung wirft eine Reihe von Problemen auf. a) Im Vordergrund steht die Frage, ob und inwieweit ein Anspruch auf staatliche Förderung von der Einordnung in die staatliche Planung und der Unterwerfung unter staatliche Strukturregelungen abhängig gemacht werden darf, ohne daß die Freiheit der ,freien' Wohlfahrtspflege in ihrem Kern getroffen wird. Die finanzielle Förderung privaten Handeins durch die Gewährung von Subventionen73 wird als Mittel staatlicher Wirtschafts- und Sozialpolitik zur Verwirklichung des Sozialstaatspostulats allgemein für verfassungsrechtlich unbedenklich gehalten, soweit sie unter Beachtung der Grundrechte, des Gleichheitssatzes und des Verhältnismäßigkeitsprinzips erfolgt und mit einem Mindestmaß staatlicher Verwendungskontrolle verbunden ist74 • Im Falle der Förderung von Diensten und Einrichtungen der ,freien' Wohlfahrtspflege, könnte man nun meinen, seien eben diese verfassungsrechtlichen Bindungen durch die Koppelung an das Rationalität, Objektivität und Erfolgskontrolle verbürgende Moment des Plans in besonders hohem Maße gewährleistet. Diese Sicht verkennt jedoch die jeglicher Subvention innewohnende Eigenmotorik, die den Empfänger leicht in eine tiefergreifende reale Abhängigkeit führen kann, als dies einer rechtlichen Regelung möglich wäre 75 • Diese Sogwirkung staatlicher Subventionierung dürfte wohl "stärker als jeder Zwang"76 in die Freiheit des Empfängers hineinwir88 _ dies folgt im NW und Rh.-Pf. KgG aus dem Begriff "bedarfsgerecht"; vgl. (für § 8 Abs. 2 KgG NW) Mombaur I Siebenmorgen, Kindergartengesetz Nordrhein-Westfalen, 3. Aufl. 1973, § 8 Anm. 2; Pant, Kindergartengesetz Nordrhein-Westfalen, 1972, § 8 Anm. 2; (für § 6 Abs. 2 KgG Rh.-Pf.) Tumbrägel, Kindergartengesetz für Rheinland-Pfalz, 1972, § 6 Anm. 2, 2; in Bayern aus Art. 23 Abs. 4 S. 1 KgG. 70 dies folgt in NW und Rh.-Pf. aus dem Begriff "geeignet" (vgl. Pant, ebd.; Tumbrägel, ebd.) in Verbindung mit § 20 Abs. 1 S. 2 KgG NW bzw. §§ 5, 12 b KgG Rh.-Pf.; in Bayern aus Art. 8 Abs. 1 KgG. 71 Art. 8 Abs. 1 c, 9 Abs. 2 KgG. 72 Art. 8 Abs. 1 d KgG. 73 Zum Begriff der Subvention vgl. Rinck, Wirtschaftsrecht, 3. Aufl. 1971, Rdn. 300; Rüfner, Formen öffentlicher Verwaltung im Bereich der Wirtschaft, 1967, S. 194 ff.; Wolff, Verwaltungsrecht III, 3. Aufl. 1973, § 154 Abs. 1, S. 256 ff. - Zu den grundlegenden Rechtsproblemen zusammenfassend Ipsen und Zacher, Verwaltung durch Subventionen, VVDStRL 25 (1967), S. 257 ff., 308 ff. 14 Vgl. statt vieler Wolff, § 154 Abs. 5 b - d, S. 262 f. 75 Friauf, DVBl. 1971, S. 674 (679 f.) m. w. N. 76 Scheuner, VVDStRL 11 (1954), S. 1 (41).
2. Koppelung von Förderung, Planung und Strukturregelung
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ken, da der Staat über die Gestaltung der Förderungsvoraussetzungen und -bedingungen ein Lenkungs- und Kontrollmittel in die Hand bekommt, das nicht nur über die Reichweite des unmittelbaren staatlichen Zugriffs weit hinausgeht, sondern auch die grundrechtlichen Barrieren zu unterlaufen scheint. Die Warnung Köttgens vor der "publizistischen Unterwanderung rein gesellschaftlicher Gebilde" als Konsequenz staatlicher Subventionspolitik77 gewinnt demnach in den Sachgebieten der ,Wohlfahrtspflege' reale Dimensionen. Im Gesundheitswesen wird dies exemplarisch deutlich, da die gesetzliche Regelung selbst den ,freien' Vereinigungen gar keine andere Wahl als die Annahme der staatlichen Finanzzuweisungen läßt: Krankenhäuser, die auf die staatlichen Gelder verzichten, sind langfristig zu einer "tödlichen wirtschaftlichen Auszehrung"78 verurteilt, da ihnen § 17 Absatz 5 KHG den Ausweg der Finanzierung ihrer Investitionskosten über kostendeckende Pflegesätze versperrt. b) Bei der Regelung der staatlichen Planung liegen die Probleme im allgemeinen nicht in den grundsätzlichen Zielsetzungen der Planung, die zumeist sehr global und daher wenig kontrovers sind. So umfaßt der Zielkatalog in der Krankenhausgesetzgebung die folgenden Punkte: Die Festlegung von Versorgungsgebieten (§§ 8 Absatz 4 KHG NW, 3 Absatz 2 Hess. KHG, 5 KHG BW) und Versorgungsstufen (§§ 8 Absatz 3 KHG NW, 3 Absatz 2 und 3 Nds. KHG, Art. 7 Absatz 2 bis 4 Bayer.KHG); die Bezeichnung von unangefochtenen Planungszielen wie z. B. "Entwicklung eines bedarfsgerecht gegliederten Systems leistungsfähiger Krankenhäuser" (§§ 3 Absatz 1 Hess.KHG, 1 Absatz 2 KRG Rh.-Pf.); die Normierung allgemein anerkannter Planungsgesichtspunkte wie "Ziele und Erfordernisse der Raumordnung und Landesplanung" (§ 8 Absatz 4 Satz 2 KHG NW; vgl. auch § 3 Absatz 2 Satz 2 KRG Rh.-Pf.), "Siedlungs-, Bevölkerungs- und Erwerbsstruktur" (§ 8 Absatz 4 KHG NW; vgl. auch § 5 Absatz 1 Satz 2 Hess. KHG) und "Krankenhaushäufigkeit, Verweildauer, Bettenausnutzung und Morbidität" (§ 5 Absatz 1 Satz 2 Hess. KHG). Von großer Bedeutung sind demgegenüber die Fragen, wie eine Berücksichtigung der Interessen der ,freien' Träger von Diensten und Einrichtungen im Planungsstadium erfolgen kann und wie die Aufnahme in den Jugendhilfe-, Krankenhaus-, Kindergartenplan rechtlich ausgestaltet sein muß, um den Schutz der ,freien' Vereinigungen sicherzustellen. Im Gegensatz zu ersterer Frage, die im folgenden Kapitel gesondert behandelt werden wird, ist die letztere Frage in den Gesetzen DÖV 1961, S. 1 (7). So die Gemeinsame Stellungnahme des Deutschen Caritasverbandes, Diakonischen Werkes, Deutschen Paritätischen Wohljahrtsverbandes, Deutschen Roten Kreuzes zum EKHG vom 2.4.1971, ZfSH 1971, S. 162; dazu auch i. e. Spiegelhalter, insbes. S. 117 ff.; Thermann, S. 306. 77
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1. Teil, H. Förderung, Planung, Strukturregelung
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nur sporadisch geregelt; nur die Krankenhausgesetze sehen den Erlaß eines Feststellungsbescheids (§§ 7 Absatz 1 Satz 1 Hess. KHG, 3 Absatz 3 KRG Rh.-Pf., 14 KHG NW) sowie dessen Verknüpfung mit Auflagen und Bedingungen (§ 8 Absatz 1 Satz 3 KHG) für den Fall der Aufnahme, die Anhörung (§ 7 Absatz 2 Hess. KHG) und die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs (§ 8 Absatz 1 Absatz 1 Satz 4 KHG) bei Nichtaufnahme in den Bedarfsplan vor. c) In der staatlichen Strukturregelung sind offene Fragen vor allem da zu vermerken, wo es um die Zielsetzung und Gestaltung der sozialen Arbeit geht. Als Beispiel sei hier die Kindergartengesetzgebung genannt, wo insbesondere die Kriterien der "Eignung" eines Kindergartens sowie die Mitwirkung von Eltern und Erziehern grundsätzliche Probleme aufwerfen.
Bei der Frage der "Eignung" ist unumstritten, daß der Gesetzgeber bau- und gesundheitspolizeiliche Regelungen treffen darf. Ebensowenig dürften Bedenken gegen allgemeine an der Verfassung orientierte und von einem breiten Konsens getragene pädagogische Leitlinien bestehen (zum Beispiel §§ 2 KgG NW, 2 KgG Rh.-Pf.); soweit sie Regelungen betreffend die Größe und Ausstattung der Kindergärten und Gruppen vorsehen, erfolgt dies im allgemeinen im Verordnungswege (§§ 20 Absatz 2 KgG NW, 12 b KgG Rh.-Pf.)19. Problematisch wird staatliche Gestaltung aber, wenn sie Einrichtungen ,freier' Träger einem so dichten Netz von Regelungen unterwirft, daß der Freiheitsraum des Trägers faktisch zur Illusion wird. Diese Gefahr erscheint insbesondere dann gegeben, wenn der sozialen Arbeit der ,freien' Vereinigungen Ziele vorgegeben werden, mit denen sie sich aufgrund ihrer weltanschaulichen Ausrichtung nicht identifizieren können. Dieser Grenze kommen etwa Regelungen nahe, die die öffentliche Anerkennung des Kindergartens an die Beachtung eines Rahmenplanes knüpfen, in dem die Erziehungs- und Bildungsziele, die personelle Ausstattung, der organisatorische Aufbau und die Gesundheitsfürsorge im einzelnen festgelegt werden (Art. 8 Absatz 2 c, 9 Absatz 2 Bayer. KgG). Die Mitwirkung von Eltern wirft keine Probleme auf, soweit die Kindergartengesetze lediglich die Schaffung von Elternbeiräten mit beratender Funktion vorsehen (§ 5 Bad.-Württ. KgG, Art. 12 Bayer. KgG, § 3 KgG Rh.-Pf.); diese Vorschriften können als Verwirklichung des sogenannten "Elternrechts" gemäß Artikel 6 Absatz 2 GG angesehen werden. Hingegen ist zu fragen, ob nicht die grundrechtlich verankerte und in § 7 JWG normierte Eigenständigkeit der ,freien' Träger angetastet ist, wenn Elternrat und Erzieher im Rahmen eines Kindergartenrates auf die Gestaltung des Kindergartens so weitgehenden 79 _
z. B. in Rh.-Pf. VO v. 1. 12. 1970 (GVBl. S. 458).
3. Beteiligung freier Vereinigungen an der staatlichen Planung
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Einfluß nehmen können, daß der ,freie' Träger seine grundsätzlichen Vorstellungen nicht mehr durchsetzen kann80 • Letztlich stellen sich hier schwierige Abgrenzungsprobleme zwischen sozialstaatlicher Gesamtverantwortung und grundrechtlichen Freiheitsräumen. Die besprochenen Bestimmungen lassen deutlich werden, daß das traditionelle Verständnis des Grundrechts als Abwehrrecht gegenüber dem stetig weiter ausgreifenden sozialstaatlichen Gesetzgeber keine klaren Schranken mehr aufrichtet. In der folgenden Behandlung der Beteiligung der ,freien' Vereinigungen an der Planung von Staat und Gemeinden wird dies offen zutage treten. 3. Beteiligung ,freier' Vereinigungen an der staatliclten Planung
Wir haben bereits den Prozeß verfolgt, der zu einer Ablösung der (statischen) Aufgabenverteilung durch die (dynamische) Planung als Schlüsselregelungen der neueren Gesetzgebung geführt hat. Die Wohlfahrtsverbände haben daher - in der Konsequenz dieses Wandels in den vergangenen Jahren in steigendem Maße eine Beteiligung an der staatlichen Planung gefordert, um den zu befürchtenden ,Rangverlust' der Regelungen der Aufgabenverteilung aufzufangen81 • Regierung und Parlament sind diesen Forderungen bislang in unterschiedlichem Umfange gefolgt: Als Grundsatzvorschrift für das Verhältnis zwischen öffentlichen Trägern und ,freien' Vereinigungen der Jugendhilfe sieht § 96 Satz 3 ESGB - JHG (§ 10 Absatz 1 RE JHG 1974) zwar die Beteiligung der ,freien' Vereinigungen an der Planung vor. Der (öffentliche) Träger der Jugendhilfe braucht jedoch nur "im Benehmen" mit den ,freien' Vereinigungen zu handeln und ist in der Plangestaltung nur mit vagen Formulierungen auf eine Zusammenarbeit verpflichtet (§§ 17 Absatz 1, 16 Absatz 3 RE JHG 1974; § 99 Absatz 1 ESGB - JHG -). Die Beteiligung der ,freien' Vereinigungen an der Planung reduziert sich damit, wenn man von ihrer Mitwirkung im Rahmen des Jugendhilfeausschusses (§§ 107, 108 RE JHG 1974; §§ 91, 92 ESGB - JHG -) einmal absieht, faktisch auf ein Recht zur (unverbindlichen) Stellungnahme (§ 17 Absatz 1 RE JHG 1974)81; im übrigen bleibt die Berücksichtigung von Ein80 _ z. B. §§ 3, 4 KgG NW in Verbindung mit VO v. 20.4.1972: nach § 6 VO darf "die Zahl der vom Träger bestellten Mitglieder die Zahl der Mitglieder des Elternrats nicht übersteigen", so daß jene zusammen mit den Erziehern die Mehrheit haben. 81 Im Rahmen der Diskussion zum JHG: Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, Anmerkungen, S. 3; Stellungnahme des Kommissariats der Deutschen Bischöfe, des DCV u. a. S. 6; Einzelthesen des DV, Nr. 17 ebd.; - zum KHG: Gemeinsame Stellungnahme des DCV, DW, DRK, DPWV, 111, 1; Spiegelhalter (DCV), S. 118, 124; - zu den KgG der Länder: Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, Forderungen, S. 4. 81 Zur verwaltungsrechtlichen Tragweite des Benehmens vgl. Wolff, Verwaltungsrecht 11, § 77 V, e 2, S. 116; - im vorliegenden Fall dürfte daher die Stellungnahme der EKD zutreffen, § 17 garantiere zwar einen Informations-
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1. Teil, II. Förderung, Planung, Strukturregelung
richtungen ,freier' Vereinigungen im Ermessen des (öffentlichen) Trägers der Jugendhilfe. Diesem Maß an Beteiligung entspricht die Regelung im Krankenhausgesetz, das lediglich eine Anhörung der ,freien' Träger vor der Aufstellung der Krankenhausbedarfspläne auf Landesebene vorsieht (§ 6 Absatz 3 KHG) und auch auf Bundesebene ihre Vertretung nicht in den maßgebenden Ausschuß für Fragen der wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser einbezieht, sondern auf einen untergeordneten Beirat verweist (§ 7 Absatz 4 KHG). Vergleichbare Regelungen in der Kindergartengesetzgebung werden in § 6 Absatz 1 KgG NW und Artikel 4 Absatz 1, 9 Absatz 2 Satz 2 Bayer. KgG getroffen, wo eine Beteiligung (Artikel 4 Bayer. KgG) beziehungsweise das Benehmen mit den ,freien' Trägern (§ 6 Absatz 1 KgG NW) bei der Aufstellung des Bedarfsplans vorgesehen ist, und deren Spitzenverbände vor Erlaß von Rahmenplänen für die Erziehungs- und Bildungsziele gehört werden müssen (Artikel 9 Absatz 2 Satz 1 Bayer. KgG). Generell läßt sich damit sagen, daß die Mitwirkung der ,freien' Träger von Diensten und Einrichtungen an der Planung erst in Ansätzen entwickelt ist. Ob diese Ansätze ausreichen, um in einem durch den Staat koordinierten System VOn Planung, Förderung und Strukturregelung ,freie' Wohlfahrtspflege noch zu gewährleisten, oder ob der Gesetzgeber nicht weitergehende Beteiligungsformen entwickeln muß, ist nicht allein aus praktischen überlegungen heraus, sondern ebensosehr mit Rücksicht auf den grundrechtlichen Status ,freier' Wohlfahrtspflege zu fragen. Gerade die Planung zeigt, daß die Abkehr von den Bahnen des "negativen Kompetenzdenkens" zugunsten einer "kontinuierlichen, planmäßigen und zielgerichteten Zusammenarbeit ... zum Zwecke der Herstellung eines Wirkungszusammenhangs" in der Jugendhilfereform83 von einem gewandelten Sozialstaats- und Grundrechtsverständnis ausgeht, das den Freiheitsraum der ,freien' Wohlfahrtspflege nicht mehr durch Ausgrenzung aus der staatlichen Gesetzgebung und Verwaltung, sondern durch eine freiheitliche Hineinnahme in die Gesamtordnung des Gemeinwesens gewährleisten und sichern will 84 • Eine Untersuchung der verfassungsrechtlichen Grundlagen des Sachbereichs ,Wohlfahrtspflege' wird diese Aspekte einer neuen Konzeption von Staat und Gesellschaft in ihre überlegungen einbeziehen müssen.
kontakt, verpflichte den öffentlichen Träger aber zu nichts, S. 4. Unklar und unverständlich demgegenüber die Begr. zu § 17, S. 26, die behauptet, eine bloße Anhörung genüge nicht, "denn Benehmen setzt eine Abstimmung oder einen Meinungsaustausch voraus". 83 So Flamm in der grundlegenden Vorarbeit zur Jugendhilfereform, Synopse, Z. 528, 682 f. 84 Zu dieser Konzeption von seiten der Wohlfahrtsverbände Steinmeyer (DW), IM 64 (1974), S. 91 ff.
1. Aufsicht über Jugendheime
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ID. Staatliche Aufsicht über Einrichtungen ,freier' Vereinigungen Die Rechtsprobleme der Staatsaufsicht sind erst im Zusammenhang mit der Vorbereitung des Heimgesetzes im Sachbereich ,Wohlfahrtspflege' zur Sprache gekommen; dies, obwohl bereits im Jugendwohlfahrtsgesetz die Aufsicht über Jugendheime weitgehend geregelt ist. Nichtsdestoweniger dürften diese Fragen in Zukunft härter umkämpft sein, da zu erwarten ist, daß der Träger der Sozial- und Jugendhilfe aufgrund seiner Gesamtverantwortung seine Aufsichtsaufgaben verstärkt wahrnehmen wird. Diese Erwartung dürfte sich vor allem dann bestätigen, wenn Gesetzgeber und Verwaltung die Marschroute der neueren Gesetze weiterverfolgen, die ,freien' Vereinigungen zwar in ihren Aufgaben im Sachbereich ,Wohlfahrtspflege' zu bestätigen, deren Wahrnehmung jedoch gleichzeitig einem immer dichteren Netz von Regelungen zu unterwerfen. In den Regelungen der Referentenentwürfe des JHG und des Heimgesetzes ist diese gegenläufige Tendenz exemplarisch angelegt. 1. Aufsicht über Jugendheime nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz und dessen Reform
Die Aufsicht der Jugendheime ist in § 78 JWG geregelt. Nach § 78 JWG verfolgt die Aufsicht als Zweck die Gewährleistung des "leiblichen, geistigen und seelischen Wohls" des Minderjährigen, wobei allerdings die Selbständigkeit der Heimträger "in Zielsetzung und Durchführung ihrer erzieherischen Aufgaben" unberührt bleiben soll (§ 78 Absatz 2 JWG). Zur Verwirklichung dieser Zielsetzung statuiert das Gesetz Anzeigepflichten sowie Kontroll- und Untersagungsrechte, die im einzelnen landesrechtlich geregelt werden können und für Minderjährige unter sechzehn Jahren noch durch die Erlaubnispflicht ergänzt werden (§§ 78 Absatz 3 bis 8; 79 in Verbindung mit 28 ff.). Die Problematik dieser Bestimmung liegt nicht so sehr in der Frage der Zulässigkeit - als verfassungsrechtliche Legitimationsgrundlage ist hier das staatliche Wächteramt über die Kindeserziehung gemäß Artikel 6 Absatz 1, 2 Satz 2 GG ohne weiteres heranzuziehen - als vielmehr in dem Problem der Grenzen staatlicher Aufsicht. Die in § 78 JWG getroffene Regelung ist insofern nicht unzweideutig. Die begrenzte Reichweite der Kontrollrechte in § 78 Absatz 5 in Verbindung mit Absatz 3 und 4 spricht für eine restriktive Auslegung der Vorschrift im Sinne einer bloßen Gefahrenabwehr85 • Dem steht allerdings der 85 So auch die wohl h. M., BVerwG DVBl. 1970, S. 180 (181); Krug, Jugendwohlfahrtsgesetz, 1961 ff., § 78 Anm. 5; Rebscher, Die Heimaufsicht des Landesjugendamtes nach § 78 JWG, Diss. Marburg 1968, S. 80 ff. m. w. N.; Jans I Rappe, Jugendwohlfahrtsgesetz, § 78 Anm. 10.
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1. Teil, III. Staatliche Aufsicht über freie Einrichtungen
Wortlaut des § 78 Absatz 2 entgegen, der eine Ausweitung der Aufsicht auf die Setzung umfassender und detaillierter Richtlinien für die Heimgestaltung nahezulegen scheint, da nur eine intensive gestaltende Einwirkung das "leibliche, geistige und seelische Wohl" zu gewährleisten vermag88 • Diese nicht ganz unproblematische Gesetzeslage hat in den Arbeiten an der Reform der Jugendhilfe eine zwiespältige Behandlung erfahren: einerseits werden in den §§ 94 ff. RE JHG 1974; 63 ff. ESGB - JHGder Raum und die Mittel staatlicher Aufsicht durch die Einführung von generellen Erlaubnis- und Anzeigepflichten sowie Kontroll- und Beratungsrechten erheblich erweitert; andererseits scheint durch die Vorschaltung der Beratung anstelle der traditionellen Zwangsmittel der Auflage und des Widerrufs der Erlaubnis der Versuch gemacht zu werden, ,administrative' Steuerungsmittel mit ,kooperativen' Verfahrensweisen zu koppeln87• Ob die Absicht der Jugendhilferechtskommission, durch die Einführung der Beratung eine "Verschiebung von der obligatorischen Eingriffs- und Aufsichtsfunktion zur Hilfefunktion" zu bewirken88, durch die tatsächliche Entwicklung bestätigt werden wird, mag hier offenbleiben. Nicht zu bestreiten ist jedoch, daß die Ausdehnung der Beratung auf "alle den Betrieb der Einrichtung betreffenden pädagogischen, therapeutischen, wirtschaftlichen und organisatorischen Fragen" (§ 62, S. 2 ESGB - JHG -) über den status quo weit hinausgeht. Die Beratung mag zwar freiwillig sein; doch besitzt der Träger der Jugendhilfe in der Erteilung von Auflagen und dem Widerruf der Erlaubnis ausreichende Mittel, um seine Vorstellung auch gegenüber einem widerstrebenden ,freien' Träger durchzusetzen (§ 65 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 ESGB - JHG -). Die weitgespannte Intention der Jugendhilfereform und die neuartige Verknüpfung von Elementen der Freiwilligkeit und des Zwangs in den Regelungen zur "Beratung" erschweren eine klare Bestandsaufnahme. Eine Besinnung über die Grenzen staatlicher Aufsicht wird zu überlegen haben, in welchem Rahmen und, vor allem, in welchen Formen der öffentliche Träger diese Aufgaben wahrnehmen darf. Dabei wird zu bedenken sein, inwieweit Formen ,freiwilligen Zwangs' 88
Daher halten
Happe,
Heimaufsicht nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz,
1965, S. 68 f. und Potrykus, JWG, § 78 Anm. 12 auch eine über die Grenzen
der Abs. 3 und 4 hinausgehende Kontrolle der Aufsichtsbehörde für zulässig. 87 Begr. zum RE JHG 1974, S. 82: "Es ist bestrebt, Aufsicht und 'überprüfung im überkommenen Sinn möglichst entbehrlich zu machen ... Abs. 2 will erreichen, daß obrigkeitlichen Eingriffsmaßnahmen entsprechend dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel nur nachrangige Bedeutung zukommt." 88 Diskussionsentwurf, Begr. zu § 99, S. 177.
2. Aufsicht über Alten- und Pflegeheime
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noch rechtsstaatlich abgesichert sind beziehungsweise, ob nicht Freiheitsrechte der ,freien' Vereinigungen dadurch unverhältnismäßig eingeschränkt werden. Eine tiefergehende Analyse müßte auf dieser Grundlage zu einer Aufhellung der Grauzonen des Begriffs der "Beratung" gelangen. 2. Aufsicht über Alten- und Pflegeheime nach dem Beimgesetz
Das Gesetz über Altenheime, Altenwohnheime und Pflegeheime für Volljährige vom 7. August 197489 baut in seinen Grundzügen auf den Regelungen des JWG und RE JHG 1974 auf: In den Absätzen 1 und 2 des § 2 sind in Anlehnung an § 78 Absatz 2 JWG Inhalt und Grenzen durch die Zielsetzung, die "Interessen und Bedürfnisse der Bewohner zu schützen", einerseits, durch die Betonung der "Selbständigkeit der Träger und Einrichtungen in Zielsetzung und Durchführung ihrer Aufgaben" andererseits festgelegt. Zur Durchsetzung dieser Ziele sieht das Gesetz im einzelnen eine Erlaubnis-, Anzeige-, Buchführungs- und Meldepflicht der Heimträger (§§ 6 bis 8 HeimG) sowie Auskunfts-, Nachschau-, Informations- und Beratungsrechte der Aufsichtsbehörden, die durch Auflagen, Anordnungen, Beschäftigungsverbote, den Widerruf der Erlaubnis beziehungsweise die Untersagung des Betriebs durchgesetzt werden können (§§ 9, 11 bis 13, 16 HeimG), vor. Diese weitgehende Regelung und Kontrolle der Unterhaltung von Heimen ist für die Wohlfahrtsverbände insofern abgemildert, als ihre Träger nur anzeige-, nicht aber erlaubnispflichtig sind (§ 6 Absatz 1 Satz 2 HeimG) und ihre Landesverbände an der überwachung beteiligt werden können (§ 10 Absatz 2 HeimG).
Diese erhebliche Einschränkung der Gestaltungsfreiheit des Heimträgers ist bereits im Entwurfstadium des Gesetzes auf Kritik seitens der WohlfahrtsverbändeDo und des Schrifttums91 gestoßen: Der Gesetzesentwurf sei geprägt von einer "im Prinzip wohlfahrtsstaatlich autoritären Zielsetzung, die auf Kollisionskurs mit dem im Grundgesetz verankerten Bild des geistig und seelisch mündigen Bürgers und einer dem weltanschaulich neutralen Staat entsprechenden pluralistischen Gesellschaft" gehe 92 und die ,freien' Vereinigungen in die Rolle von "Erfüllungsgehilfen der Obrigkeit" dränge 93 • Diese Befürchtungen 89
BGBl. 1974, I S. 1873.
Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, Stellungnahme zum Entwurf eines HeimG vom 15.5.1972; Diakonisches Werk, Deutscher Caritasverband, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband, Memorandum 90
zum Entwurf eines HeimG vom 21. 2. 1973, Caritas 74 (1973), S. 218. - Vgl. ferner auch den Bericht über die Anhörungen vor dem Bundestag in: NDV 1975, S. 277. 81 CoZZmer, IM 62 (1972), S. 327 ff.; Giese, ZfF 1973, S. 26; o. V., Das Altenheim 1973, S. 25; Klein, JuWo 1974, S. 129 (133 f.). 92 Giese, S. 28. 83 CoZZmer, S. 351.
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1.
Teil, 111. Staatliche Aufsicht über freie Einrichtungen
wurden aus verfassungs rechtlicher Sicht geteilt in einem Rechtsgutachten von Bullinger zum Entwurf des Heimgesetzes94 . Die Kritik Bullingers richtete sich vor allem gegen die in § 2 EHeimG normierte Zielsetzung, daß durch die Heimaufsicht "das leibliche, geistige und seelische Wohl der Bewohner gewährleistet" werden solle. Eine staatliche Aufsicht über frei-gemeinnützige Heime sei zwar nicht grundsätzlich verfassungswidrig; sie müsse jedoch "die Verfassungsgarantie für den traditionellen Typus freier und mit der staatlichen Fürsorge kooperierender Wohl ... fahrtspflege beachten, die sich aus dem Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit Artikel 2 GG für die Altenheimpflege spezifisch religiösen oder weltanschaulichen Charakters aus Artikel 4 und 140 GG ergibt"95. Im Lichte dieser Leitlinie sei eine Beschränkung der Zielsetzung des § 2 E HeimG auf eine bloße Gefahrenabwehr und - in dessen Folge - eine Abmilderung der in den §§ 7 bis 9, 12 bis 13 normierten Eingriffsermächtigungen zugunsten der in § 10 Absatz 1 und 2 vorgesehenen kooperativen Lösungen geboten96. Ob diese Einwände durch die Umformulierung des Wortlauts von § 2 Absatz 1 HeimG ausgeräumt sind, ist zweifelhaft. Der weit gefaßte Wortlaut "Interessen und Bedürfnisse" läßt jedenfalls dann, wenn man ihn nicht als bloßen Programms atz, sondern als ,ratio' der nachfolgenden Eingriffsermächtigung auffaßt 97, eine Deutung zu, die der Aufsichtsbehörde eine gestaltende Einwirkung auf den inneren Heimbetrieb eröffnet, welche - entgegen der in § 2 Absatz 2 HeimG ausgesprochenen Garantie - die Selbständigkeit des Heimträgers in der Praxis kaum unberührt ließe. Umgekehrt lassen sich aber aus der Gewährleistung der Selbständigkeit des Trägers in § 2 Absatz 2, sieht man darin eine "Grundsatzregel für die Auslegung des Heimgesetzes"98, auch - wie dies die herrschende Meinung zu § 78 JWG tut99 Schranken für die Tragweite der §§ 2 Absatz 1, 7 bis 9 HeimG herleiten, die die Eingriffsermächtigung der Aufsichtsbehörde auf den Zweck der Gefahrenabwehr reduzieren. Gesteigert wird die Problematik dieser Frage noch durch die Tatsache, daß die Aufsicht über Alten- und Behindertenheime nicht, wie bei Jugendheimen, ohne weiteres auf die Verfassung gestützt werden kann; ob die Gesetzgebungsbefugnis des Bundes aus Artikel 72 Absatz 1 und 2 Satz 3 in Verbindung mit Art. 74 Ziffer 7 und 11 ff. eine ausreichende Basis darstellt, ist fraglich, wird jedenfalls seitens der freien Wohlfahrtspflege kategorisch bestritten100 • 94 Verfassungsrechtliche überlegungen zum Entwurf eines Bundesgesetzes über Altenheime, Caritas 74 (1973), S. 11 (34). 95 Ebd. 9&
S. 14 ,29; 22 f.
91 So die Amtl. Begr. zu § 2, BT-Drucks. 7/180, S. 8. 98 So Giese, S. 26. 99 Oben Fn. 85. 100 Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, S. 2; Memorandum des DW u. a., S. 2 f.
1. Teil, IV. Bilanz -
Aufgabe der Untersuchung
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Die Untersuchung der Aufsichtsbestimmungen im Sachbereich Wohlfahrtspflege stößt damit wiederum auf tiefer liegende verfassungsrechtliche Dimensionen: Je nachdem, ob man den Akzent auf die sozialstaatliche Verantwortung von Gesetzgeber und Verwaltung oder auf die Freiheitsrechte der Wohlfahrtsverbände setzt, fällt die Entscheidung zugunsten eines ,gestaltenden'lol oder ,kooperativen'lo2 Verständnisses der strittigen Normen, wird die ,öffentliche' Bedeutung ,freier' Wohlfahrtspflege zur Begründung umfassender staatlicher Aufsicht l03 oder zur Rechtfertigung einer weitgehenden Freistellung von staatlicher Aufsichtl°4 herangezogen. Die verfassungsrechtliche Untersuchung der Grundlagen des Sachbereichs ,Wohlfahrtspflege' wird die Argumente beider Seiten abzuwägen und einzuordnen haben, um zu einer überzeugenden Entscheidung dieses Konflikts zu gelangen.
IV. Bilanz - Aufgabe der Untersuchung Die Bestandsaufnahme der Gesetzgebung im Sachbereich ,Wohlfahrtspflege' macht deutlich, daß die bestehenden Normen in vielfacher Weise verknüpft und gleichgelagert sind, ohne daß die zugrundeliegende Sachproblematik in ihren komplexen Zusammenhängen und Beziehungen ausreichend überdacht ist. Es liegt der Vergleich mit einem Mosaik nahe, dessen zugrundeliegende Ordnung zwar in Teilbereichen durchscheint, ohne aber im Gesamtzusammenhang deutlich zu werden. Diese Grundordnung des Sachbereichs ,Wohlfahrtspflege' herauszuarbeiten, erweist sich aber als vordringliche Aufgabe, wenn man nicht Gefahr laufen will, durch die Konzentration auf Detailprobleme den Blick für die grundsätzlichen Fragestellungen zu verlieren, die, wenn auch in unterschiedlichem Gewand, letztlich zur Entscheidung stehen. Formeln wie ,sozialstaatliche Gesamtverantwortung', ,Gebot staatlicher Neutralität', ,pluralistische Gesellschaftsordnung', ,Subsidiaritätsprinzip', ,öffentliche Bedeutung freier Wohlfahrtspflege', ,grundrechtliche Freiheit der Helfenden wie des Hilfsbedürftigen', die im Laufe der Gesetzgebungsanalyse an den zentralen Punkten der Kontroverse immer wieder aufgetaucht sind, lenken den Blick auf den verfassungsrechtlichen Hintergrund dieser grundsätzlichen Fragestellungen; sie Amtl. Begr. zu §§ 6 bis 8 E HeimG (jetzt §§ 7 bis 9 HeimG), S. 10 f. AW, Stellungnahme zum E HeimG v. 7.5.1973, zu § 10; BuHinger, S. 22 f. 103 DPWV, Leitsätze zur Legitimation, Finanzierung und Bedeutung freier Wohlfahrtspflege, DPWV-Nachrichten 1971, S. 144 f., LS V, 1. 104 Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, S. 4 f. 101
102
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1. Teil, IV. Bilanz -
Aufgabe der Untersuchung
scheinen zugleich auch bereits einiges Material für deren verfassungsrechtliche Aufarbeitung zu bieten. Angriffspunkt der weiteren überlegungen muß freilich die Erkenntnis sein, daß diese Formeln in ihrem Stellenwert und ihrer Funktion erst abgeklärt werden müssen, bevor sie die Qualität von Begriffen erlangen können, die für einzelne Fragen fruchtbar zu machen sind. Die Rechts- und Sachproblematik dieser Aufgabe ergibt sich aus der Lage des Sachbereichs, Wohlfahrtspflege' an einer Nahtstelle zwischen Staat und Gesellschaft, an der konkrete Entscheidungen aufgrund fachlicher überlegungen und abstrakte Verständnisse aufgrund politischer Präferenzen in einer sehr dichten Gemengelage ineinander verschränkt sind. Wenn daher konkrete Entscheidungen über die Zuordnung der öffentlichen Träger und ,freien' Vereinigungen in Fragen der Aufgabenverteilung, Planung, Förderung, Strukturregelung klaren Gehalt und innere Geschlossenheit bekommen sollen, muß diese Untersuchung auf das abstrakte Verständnis der Wohlfahrtspflege im Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft Licht zu werfen suchen. Demnach ist auch der weitere Gang der Untersuchung vorgegeben: Zunächst werden - in der Vertiefung des Verfassungsstreits der Jahre 1962 bis 1967 - die sozialgeschichtlichen Grundlagen des Verhältnisses zwischen öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege und die verfassungsrechtlichen Grundlinien der Zuordnung von Staat und Gesellschaft herausgearbeitet werden. Im Anschluß ist auf dieser Basis eine Grundordnung des Sachbereichs ,Wohlfahrtspflege' im politischen Gemeinwesen zu entwerfen, die die Gehalte der Sozialstaatlichkeit, des öffentlichen Status der Wohlfahrtsverbände, der Verfassungsprinzipien des neutralen Staates und der pluralistischen Gesellschaft sowie der Grundrechtsposition des Hilfesuchenden zu einem Verhältnis ,praktischer Konkordanz' (Hesse) zusammenführt, welches Legitimation und Grundlage einer Zusammenarbeit zwischen Staat und Verbänden darzustellen vermag. Abschließend soll versucht werden, Grundlinien eines Verfassungsprogramms der Zusammenarbeit in einzelnen Sachproblemen (Aufgabenverteilung, Planung, Förderung, Strukturregelung, Aufsicht) zu entwickeln und damit exemplarisch zu der Erarbeitung eines ,Verbandsrechts' des Grundgesetzes beizutragen.
2. TEIL
Der Sachbereich ,Wohlfahrtspflege' im Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft Die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Verbänden im Sachbereich Wohlfahrtspflege ist als Problem der Zuordnung von Staat und Gesellschaft erst vor wenig mehr als einem Jahrzehnt in dem Streit um die Verfassungsmäßigkeit der Regelungen zur Aufgabenverteilung und zur Förderung im Bundessozialhilfegesetz und im Jugendwohlfahrtsgesetz, der in den Jahren von 1962 bis 1967 vor den Schranken des Bundesverfassungsgerichts ausgetragen worden ist!, zu Tage getreten. Die Untersuchung des Problemgehalts des Sachbereichs ,Wohlfahrtspflege' wird daher die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 18. Juli 1967 - BVerfGE 22, S. 180 -, das der heutigen Diskussion den Weg gewiesen und die Maßstäbe gesetzt hat, als Ansatz für Fragestellungen und Diskussionspunkte wählen.
I. Der Verfassungsstreit über das Verhältnis zwischen öffentlichen Trägern und ,freien' Vereinigungen in der Sozial- und Jugendhilfe Gegenstand des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht war die Verfassungsmäßigkeit der §§ 10 Absatz 3 und 4, 93 Absatz 1 Satz 2 BSHG und 5 Absatz 3, 8 Absatz 3 JWG, die die Aufgabenverteilung zwischen öffentlichen Trägern und ,freien' Vereinigungen sowie die Förderung ,freier' Vereinigungen durch die öffentlichen Träger in der Sozial- und Jugendhilfe regeln2• Die Antragsteller, das Land Hessen und die Stadt Dortmund, hatten vorgetragen, der Gesetzgeber wolle "eine Rangordnung zwischen den Gemeinden und anderen Kräften der freien Gesellschaft aufrichten"3, die auf der 1 Erschöpfende Angaben zum Schrifttum des Verfassungsstreits bei Rinken, Das Öffentliche als verfassungstheoretisches Problem dargestellt am Rechtsstatus der Wohlfahrtsverbände, 1971, S. 39 Fn. I, und in: Die karitative Betätigung der Kirchen und Religionsgemeinschaften, HdbStKirchR 11, 1975, S. 345 (370 Fn. 106). 2 Dazu oben 1. Teil 1. 1.
4 Wegener
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2. Teil, I. Der Verfassungsstreit über das BSHG und JWG 1962 - 67
Funktionsbeschränkung und Subventionspflicht der öffentlichen Träger gegründet sei, und so eine "Vorrangstellung der freien Wohlfahrtspflege'" schaffen; durch die getroffenen Regelungen sahen sie die Zuständigkeitsordnung zwischen Bund und Ländern in Art. 74 Ziffer 7, 83 GG5, das Sozialstaatsprinzip, Artikel 20 GG8, die Selbstverwaltungsgarantie, Artikel 28 Absatz 2 GG7 und die religiös-weltanschauliche Neutralität gemäß Artikel 4 GGs verletzt. Das Bundesverfassungsgericht hat die Normenkontrollanträge und Verfassungsbeschwerden aus den folgenden Gründen zurückgewiesen': Der Bundesgesetzgeber habe weder seine Kompetenz überschritten noch die Verwaltungshoheit der Länder angetastet, da er nur eine Abgrenzung des Bereiches öffentlicher Sozial- und Jugendhilfe getroffen und die Ausführung und Letztverantwortung den Gemeinden und Gemeindeverbänden überlassen habe; das Sozialstaatsprinzip sei nicht angetastet, denn dem Gesetzgeber stehe es frei, zur Erreichung einer gerechten Sozialordnung auch die Mithilfe privater Wohlfahrtsorganisationen vorzusehen; die Regelung sei mit der Selbstverwaltungsgarantie vereinbar, da die Verhältnisbestimmung zwischen öffentlicher und freier Hilfe nur eine vernünftige Aufgabenverteilung sicherstellen solle, ohne die Entscheidungsfreiheit der Gemeinden anzutasten; eine Verletzung von Grundrechten sei schon wegen der Rechte gemäß §§ 3 JWG, 3 Absatz 2 BSHG nicht gegeben. Aber nicht in den konkreten Stellungnahmen zu den Anträgen der beschwerdeführenden Länder und Städte, sondern in den grundsätzlichen Ausführungen zum Verhältnis von Staat und Wohlfahrtsverbänden, die die Auslegung der streitigen Vorschriften in der Folge maßgeblich bestimmt haben, liegt der wegweisende Charakter dieser Entscheidung. Das Gericht legt - gleichsam als Grundakkord seiner Ausführungen dar, daß Jugendhilfe und Sozialhilfe zwar Aufgaben des modernen Staates seien, der Staat diese Hilfe aber weder organisatorisch noch finanziell allein leisten könne, vielmehr gemeinsame Bemühungen des Staates und ,freier' Jugend- und Wohlfahrtsorganisationen erforderlich seien; diese hergebrachte und durch Jahrzehnte bewährte Zusammenarbeit von Staat und Verbän3 Verfassungsbeschwerde Dortmund zum BSHG, NDV 1962, S. 121; vgI. auch Normenkontrollantrag Hessen zum BSHG, NDV 1962, S. 326. 4 Normenkontrollantrag Hessen, ebd. 5 Normenkontrollantrag Hessen zum BSHG, S. 326 ff.; zum JWG, NDV 1962, S. 333 f.; Verfassungsbeschwerde Dortmund zum JWG, JuWo 1962, S. 224; vgI. auch Köttgen, Vorrang, S. 29 ff.; Lerche, Verfassungsfragen, S. 12 ff., 37 ff., 53 ff., 60 ff. 8 Normenkontrollantrag Hessen zum BSHG, S. 327 f. und zum JWG, S. 334; vgI. auch die Gutachten von Ridder, S. 10 ff. und Zacher, Freiheit, S. 124. 7 Normenkontrollantrag Hessen zum BSHG, S. 328 ff. und zum JWG, S. 335 ff.; Verfassungsbeschwerde zum BSHG, S. 121 ff. und zum JWG, ebd.; vgI. auch Köttgen, S. 32 ff., 39 ff.; Lerche, S. 94 ff., 109 ff., 118 ff. S Verfassungsbeschwerde zum BSHG, S. 122 und zum JWG, S. 125. D S. 199 ff.
2. Teil,!. Der Verfassungsstreit über das BSHG und JWG 1962 - 67
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den solle durch die in Frage stehenden Vorschriften lediglich gefördert und gefestigt werden10 . Das Gericht betont ferner gleichermaßen die Gesamtverantwortung des öffentlichen Trägers11 und die Eigenständigkeit der ,freien' Vereinigungen l2 ; es knüpft an diese Feststellungen die Folgerung - und hier scheint das Leitmotiv aller weiteren Ausführungen zu Detailproblemen auf -, beide Seiten seien zu einer engen Kooperation aufgerufen, "um mit dem koordinierten Einsatz öffentlicher und privater Mittel den größtmöglichen Erfolg zu erreichen"la. Diesen Appell an Vernunft, Rationalität und Effizienz, der die beiden fundamentalen Ausführungen des Gerichts kennzeichnet, sucht das Gericht in seinen nachfolgenden Darlegungen stetig zu vertiefen; wie ein roter Faden durchziehen Formulierungen wie "sinnvoller Einsatz finanzieller Mittel"14, ... "wirtschaftliche Verwendung ... öffentlicher und privater Mittel"16, ... "sachgerechte, zweckentsprechende und wirtschaftliche Verwendung der Mittel"18 als zentrale Argumentationsgesichtspunkte die Stellungnahme zu den einzelnen Streitfragen. Mit diesem pragmatischen Konzept gelingen dem Gericht in einer Reihe konkreter Einzelfälle überzeugende Lösungen. Es stellt klar, daß vorhandene Einrichtungen öffentlicher Träger nicht geschlossen werden müssen, um neu zu errichtenden Einrichtungen ,freier' Vereinigungen Platz zu machen17• Es arbeitet die Bedeutung von Kapazitätsund Bedarfsermittlungen als Maßstab der Förderung ,freier' Einrichtungen heraus l8. Es klärt, daß nicht die Höhe der Eigenmittel, sondern die Finanzkraft des ,freien' Trägers für die Höhe der Förderung maßgebend ist u . Demgegenüber bleibt das Begriffsinstrumentarium ,Zusammenarbeit', ,Rationalität', ,Effizienz', ,Koordination' blaß, soweit es darum geht, abstrakte Leitlinien für die zukünftige Gesetzesanwendung zu ziehen. Die Ausführungen des Gerichts tragen hier streckenweise ,salomonischen' Charakter. Damit hat das Gericht zwar bei allen Beteiligten Beifall gefunden20 • Doch hat es, wie im verfassungsrechtlichen Schrifttum mehrfach kritisiert wurde21 , in einem Ausmaß auf dogmatische Präzision und gedankliche Geschlossenheit verzichtet, das klare Folgerungen erschwert und damit der Praxis keine Wegweisungen gibt. 10 S.200. S. 200, 206. 12 S.203. 13 S.202. 14 S.201. 15 S.206. 18 S.207. 17 S.200ff. 18 S. 206 f. 18 S.208. 20 Vgl. die Beiträge von Duntze, Fichtner, Wehlitz, Flamm, Collmer, BldW 1967, S. 387 ff.; Giese und Petersen, NDV 1968, S. 123 ff.; Klein, Caritas 69 (1968), S. 21; JuWo 1967, S. 333. 21 Vgl. Ehrlich, S. 110 f.; Küchenhojf, NJW 1968, S. 433 f.; Rinken, Das Öffentliche, S. 35 f . 11
•e
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2. Teil,!. Der Verfassungsstreit über das BSHG und JWG 1962 - 67
Diese verfassungsrechtliche Unschärfe der Ausführungen schlägt sich vor allem in der ambivalenten Stellungnahme zu den §§ 10 Absatz 4, 93 Absatz 1 Satz 2 BSHG nieder, wo sich das Gericht, statt zu dem Problem des Sub sidiaritätsprinzips Stellung zu nehmen, in schwammige Formulierungen flüchtet: Während es mehrfach stark einschränkend von einem "sogenannten Vorrang" spricht, führt es schließlich an zentraler Stelle aus, die Vorschriften des BSHG wollten der freien Wohlfahrtspflege nicht "schlechthin einen Vorrang vor der öffentlichen Sozialhilfe" einräumenZ2 , und läßt damit den Schluß zu, es habe die §§ 10 Absatz 4, 93 Absatz 1 Satz 2 BSHG, 5 Absatz 3 JWG doch im Sinne eines, wenn auch abgemilderten Vorrangs der ,freien' Vereinigungen verstanden23 • Diese Auslegung ist aber andererseits nur schwer mit der starken Betonung der Gesamtverantwortung, die in der Zuweisung umfassender Prüfungs- und Planungskompetenzen mit weiten Ermessungsspielräumen ihren Ausdruck findet 24 , zu vereinbaren. Die Gefahr dieses Vorgehens liegt in der Anfälligkeit für spätere Fehldeutungen: verfassungsrechtlich ungenügend abgesichert und sachlich nicht präzisiert, gewinnen Begriffe wie ,Zusammenarbeit' und ,Koordination' desto leichter einen beschwörenden Akzent, als sie mangels innerer Substanz zu Leerformeln herabsinken; sie verschleiern damit nurmehr durch Gesetzgeber und Verwaltung vorgenommene Gewichtsverschiebungen, statt sie noch zu hemmen. Daraus ist die Folgerung zu ziehen, daß es Aufgabe der Wissenschaft sein muß, das Problemfeld und die Dimensionen der ,Zusammenarbeit' sozialgeschichtlich abzustecken und verfassungsrechtlich auszuloten, damit dieses Postulat in der zentralen Bedeutung, die ihm das Bundesverfassungsgericht beigemessen hat, in klare Leitlinien für Gesetzgeber und Verwaltung umgesetzt werden kann. Diese Aufgabe kann auf einige Ansätze im Rahmen des Verfassungsstreits zurückgreifen: (1) Das Gericht hat seine Ausführungen im Schwerpunkt auf "die hergebrachte und durch Jahrzehnte bewährte Zusammenarbeit von Staat und freien Verbänden" gestützt25 • (2) Die Auslegung des Sozialstaatsgrundsatzes war insbesondere insofern umstritten, ob es eher als Sozialstaatspostulat im Sinne eines umfassenden Sozialgestaltungsauftrags an den Staat26 oder als Sozialstaatsentscheidung im Sinne eines Prinzips der Zuordnung von Staat und Gesellschaft im politischen Gemeinwesen27 aufzufassen sei. (3) Der Schutz des Freiraums "freier Wohlfahrtspflege" wurde von Lerche in Zweifel gezogen, da sich Verbände bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben in einem Verfassungsleerraum bewegten, der weder durch Artikel 4 noch durch Artikel 9 GG gedeckt sei28 • (4) Krüger hat schließlich in S.202. So etwa Ehrlich, S. 111; Küchenhoff, S. 434. 24 S. 205 f. 25 S.200. 26 So Normenkontrollantrag Hessen zum BSHG, S. 179; Ridder, S. 11. 27 So Collmer, BldW 1967, S. 408; Klein, Christ und Kirche in der sozialen Welt, 1956, S. 125. 28 Verfassungsfragen, S. 31 ff. 22
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1. Die Periode des übergangs (18. - 19. Jahrhundert)
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der Regelung von BSHG und JWG Anzeichen für eine "Wandlung vom monistischen Einheitsstaat zum Ständestaat und Weltanschauungsstaat" gesehen 29 und davor gewarnt, den Staat zu einem "Hilfsorgan der Verbände" herabsinken zu lassen3o • (5) Dementgegen hat Köttgen auf die "potentielle Nähe zum Staate" hingewiesen, in die die Verbände durch die Gesetzgebung von 1961 geraten seien31 • Die weitere Untersuchung wird diesen engen Zusammenhang zwischen dem Sachproblem ,Wohlfahrtspflege' und dem Grundproblem ,Staat und Gesellschaft' in seinen Wechselbeziehungen herausarbeiten müssen, wenn sie bislang zumeist als Schlagworte gebrauchte Formeln wie ,sozialstaatliche Verantwortung', ,staatliche Neutralität', ,pluralistische Gesellschaftsordnung', ,Subsidiaritätsprinzip', ,öffentliche Bedeutung', ,grundrechtliche Freiräume' in ihrer Prägekraft als Bausteine eines verfassungsrechtlichen Programms der ,Zusammenarbeit' im Sachbereich ,Wohlfahrtspflege' entfalten will.
11. Von der Armenpflege zur Sozialhilfe sozialgeschichtliche Entwicklungsphasen des Sachbereichs ,Wohlfahrtspflege' im industriellen Zeitalter Die Ursprünge des Sachbereichs ,Wohlfahrtspflege' in seiner gegenwärtigen Struktur und Organisation liegen um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts: 1842 eröffnet die Armengesetzgebung Preußens die Entwicklung zu einer umfassenden staatlichen Verantwortung für die Sozialfürsorge; 1849 weist die Initiative Johann Hinrich Wicherns zu dem "Central-Ausschuß für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche" den Weg zur Zusammenfassung der zersplitterten und ungeregelten Arbeit zahlloser Vereine in umfassenden und leistungsfähigen Verbänden; 1853 gibt sich die Stadt Elberfeld eine Armenordnung, deren Grundzüge als "Elberfelder Modell" der öffentlichen Fürsorge bis in die Gegenwart weiterwirkende Impulse geben32• 1. Der sozialgeschichtliche Hintergrund Pauperismus und ,soziale Frage' In der Periode des Ubergangs (18. bis 19. Jahrhundert)
Die Wende des 19. Jahrhunderts ist geprägt durch zwei Entwicklungslinien, die die Metamorphose des seit Jahrhunderten bekannten 29 80
81 32
Rede vor dem BVerfG, zit. bei Klein, JuWo 1967, S. 400 (403 f.). Ebd., zit. in DPWV-Nachrichten 1967, S. 77 (78). DÖV 1961, S. 1 (7). Vgl. auch Rinken, S. 39.
2. Teil, H. Von der Armenpflege zur Sozialhilfe
"Pauperismus" vom gesellschaftlichen Dauerzustand zur "sozialen Frage" des beginnenden Industriezeitalters33 bewirken: durch den Wandel vom aufgeklärten Polizeistaat zum konstitutionellen RechtsstaatS4 und durch die Transformation der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft35 . Noch bis in die Neuzeit hinein hatte das Problem der Armut dieses sozialen Sprengstoffes entbehrt: zum einen hatte die Einbindung von Bürger und Bauer in die Familien- und Ständeordnung einen gewissen Schutz vor existenzieller Not gewährleistet36, zum anderen hatte die Kongruenz von christlicher Lehre und hierarchischer Gesellschaftsordnung der gesellschaftlichen Ungleichheit über Jahrhunderte hinweg eine in der Transzendenz wurzelnde Legitimation vermittelt37. Dieser jahrhundertelange Stillstand geriet unter dem Druck der Ideen von Aufklärung und Revolution in Bewegung. Insbesondere die in Preußen im Zuge der Reformen von 1808 bis 1821 eingeleitete Befreiungsgesetzgebung 38 bewirkte einen "tiefgreifenden Umbau der Sozial- und Wirtschaftsordnung"39: die freigesetzten Bauern strömten in die Städte, da sie angesichts von Bevölkerungsvermehrung und Agrarkrisen auf dem Land nicht mehr existieren konnten40 ; dort bildeten sie mit den infolge der Industrialisierung brotlos gemachten Handwerkern41 eine ,industrielle Reservearmee', die alle Größenordnungen weit überschritt. Staat und Gesellschaft waren auf das Phänomen der Massenarmut in keiner Weise vorbereitet. Nach den Reformbemühungen der Aufklärung(2 war die bürgerliche Armen38 Vgl. dazu Kröll, Das Phänomen Armut, Diss. rer. pol. Köln 1973, S. 34 ff.; Stein, Pauperismus und Assoziation, 1936, S. 14 ff. und passim; F. Kaufmann in: Otto I Schneider, Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit, Bd. 1,
1973, S. 87 (90 f.).
84 Dazu E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte bis 1789, Bd. I, 2. Aufl. 1957, S. 95 ff., 314 ff. 85 Vgl. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 5. Aufl. 1971, S. 94 ff.; Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (polizeiwissenschaft), 1966, S. 50 ff. 38 Maier, S. 53; Scherpner, Theorie der Fürsorge, 1962, S. 24. 87 Kröll, S. 55 f., 168 f.; Scherpner, S. 53. 88 Vgl. dazu Huber, S. 183 ff.; Koselleck, in: Conze (Hrsg.), Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815 -1848, 1962, S. 79 (93 ff.); Lütge, Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 3. Aufl. 1966, S. 431 ff. 81 Lütge, S. 439. 40 V~l. Böhme, Prolegomena zu einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, 1968, S. 31; Lütge, Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 1963, S. 215; Koselleck, S. 99. 41 Vgl. Koselleck, S. 110 f. 4! Vgl. dazu Koch, Wandlungen der Wohlfahrtspflege im Zeitalter der Aufklärung, 1933, S. 133 ff., 147 ff., 173 ff.; Scherpner, Die Kinderfürsorge in der Hamburgischen Armenfürsorge vom Jahre 1788, 1927.
2. Die Wende zum industriellen Zeitalter (1842 - 1914)
55
pflege in einen Jahrzehnte währenden Zustand der Erstarrung und Erschlaffung versunken43, von dem sie sich nur langsam wieder erholen sollte. Der Staat hatte zwar bereits im 18. Jahrhundert die Verantwortung für die Armenpflege übernommen, so etwa in Preußen 1794 mit dem Erlaß des Allgemeinen Landrechts (§ 1 Absatz 2, 19 ALR). Doch hatte er deren tatsächliche Durchführung auch weiterhin den "privilegierten Korporationen" und den "Stadt- und Dorfgemeinden" überlassen (§ 9 f. Absatz 2, 19 ALR), obwohl diese wegen der Erosion ihrer ständischen Basis dieser Aufgabe immer weniger gewachsen waren44 . Die staatliche Verwaltung bemühte sich zwar, die durch die Befreiungsgesetzgebung bewirkte gegenseitige Verstrickung liberaler Wirtschaftsgesetzgebung, politischer Ständeverfassung und sozialer Auflösungstendenzen, die gleichzeitig die Massenarmut förderte und ihre Bekämpfung erschwerte, durch ein "System der Aushilfen, das die liberale Zielsetzung nicht berührte", zu bewältigen45 . Doch zogen weder der Staat noch die Stände Konsequenzen aus der Einsicht, daß die "soziale Ortlosigkeit als Grenzfall einer ständischen Ordnung durch die moderne Dekorporierung zum allgemeinen Zustand geworden war"46. Noch über Jahrzehnte hinweg blieb der Staat liberaler als den Ständen lieb war, während die Stände doch weniger sozial waren, als ihnen der Staat zu sein zumutete47 • In dieser verfahrenen Situation leiten preußische Armengesetzgebung, Innere Mission und Elberfelder Modell eine neue Epoche ein. 2. Staatliche Armengesetzgebung, kommunale Armenpßege und private Wohltätigkeit an der Wende zum industriellen Zeitalter (1842 bis 1914) a) Grundlagen und Entwicklung öffentlicher Armenpflege und privater Wohltätigkeit im 19. Jahrhundert
Staatliche Armengesetzgebung, kommunale Armenpflege und private Wohltätigkeit durchlaufen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Periode des Wandels, der die wesentlichen Grundlagen für das Verhältnis zwischen öffentlichen Trägern und ,freien' Vereinigungen bis in die Gegenwart legt. 43 Vgl. Laum, Art. "Armenwesen", HdStw. I (1923), S. 952; Wolfram, Vom Armenwesen zum heutigen Fürsorgewesen, 1930,S. 2 f. 44 Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, 1967, S. 630. 45 Pankoke, Sociale Bewegung Sociale Frage - Sociale Politik, 1969, S.58. 48 Koselleck, S. 631. 47 Vgl. etwa die Schilderung des Standes der Armenpflege bei Wolfram, S.6ff.
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2. Teil, H. Von der Armenpflege zur Sozialhilfe
aa) Das preußische Gesetz über die Verpflichtung zur Armenpflege vom 31. Dezember 184248 ist geprägt von zwei grundlegenden Neuerungen: in Abkehr von der fakultativen Armenpflege des Mittelalters 49 legt es die Fürsorgepflicht der Gemeinde fest; im Gegensatz zu dem in den übrigen deutschen Staaten geltenden Heimatprinzip 50 macht es die Gemeinde verantwortlich, in der der Arme seinen Wohnsitz hat. Zwar muß das Gesetz durch weitere staatliche Vorschriften Einschränkungen insbesondere hinsichtlich des Wohnsitz- und Aufenthaltsprinzips hinnehmen51 • Dennoch setzen sich seine Grundprinzipien in dem nachfolgenden Gesetz des Norddeutschen Bundes über die Freizügigkeit vom 1. November 186752 und dem Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz vom 6. Juni 187053 (UWG) gegen die dem l':I:eimatprinzip anhängenden Vorstellungen der kleineren Staaten54 durch: in den §§ 9 bis 21 UWG werden Erwerb und Verlust des Unterstützungswohnsitzes an das Erfordernis eines zweijährigen Aufenthalts geknüpft; in den §§ 2 bis 5 UWG werden Orts- und Landarmenverbände als Träger der Armenpflege festgelegt; in den §§ 7, 36, 61 UWG wird die Erstattungspflicht der Armenverbände untereinander geklärt. Allerdings hält die Regelung der Fürsorgeaufgaben im einzelnen mit diesen zukunftsweisenden Grundsatzentscheidungen nicht Schritt: die Bestimmung der Voraussetzungen und Höhe der Unterstützung bleibt den Ländern überlassen, deren Armengesetzgebung noch auf Jahrzehnte in den traditionellen Rahmen verharrt. Diese Zurückhaltung des Staates in Fragen des materiellen Armenrechts kommt nicht von ungefähr. Zwar ist das allein an Sicherheit und Ordnung orientierte Denken des älteren Polizeistaates55 , das sich in negativen Maßnahmen wie Bettelverboten, Arbeitshäusern und Abschiebung erschöpft hatte58 , im Zuge der Erkenntnis der ,sozialen Frage' von volkswirtschaftlich motivierten Gedankengängen überlagert worden57• Doch auch diese wirt48 Preuß. GS 1843, S. 8; vgl. dazu Münsterberg, Die deutsche Armengesetzgebung und das Material zu ihrer Reform, 1887, S. 101 ff.; Breithaupt, öffentliches Armenrecht und persönliche Freiheit, 1915, S. 91 ff.; Diejenbach, Ein Reichsarmengesetz, 1920, S. 99 ff.; Silberschlag, Die soziale Gesetzgebung und Armenpflege, deren Geschichte und Reformbedürfnis, 1882, S. 44 ff. 49 Vgl. Breithaupt, S. 60 ff.; Münsterberg, S. 105 ff. 50 Vgl. Krön, S. 134 ff.; Uhlhorn, Die christliche Liebestätigkeit, 2. Aufl. 1895 (1959), S. 474 ff. 51 § 5 Gesetz über die Aufnahme neu anziehender Personen (Preuß. GS 1843, S. 5): Abschiebung zulässig innerhalb eines Jahres; Gesetz zur Ergänzung des Armenpflegegesetzes vom 21. 5. 1855 (preuß. GS, S. 311): Begründung des Wohnsitzes erst nach einjährigem Aufenthalt; § 2 Armenpflegegesetz (preuß. GS 1843, S. 8). Kein Wohnsitz für Dienstboten, Handwerksgesellen und Arbeiter. 5! BGBl. 1867, S. 55. 53 BGBl. 1870, S. 360. 51 Vgl. Breithaupt, S. 116 ff.; Münsterberg, S. 140 ff. 55 Vgl. Diejenbach, S. 41. 58 Vgl. Uhlhorn, S. 633 ff.
2. Die Wende zum industriellen Zeitalter (1842 - 1914)
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schaftliche Betrachtungsweise ist nicht auf den einzelnen ausgerichtet, sondern denkt noch in staatspolitischen und verwaltungstechnischen Kategorien; die Verteilung der Armenlast wird nach dem Prinzip des "Äquivalents für die genossenen wirtschaftlichen Vorteile" vorgenommen58 ; ein Recht auf Unterstützung wird - in Abkehr von der fortschrittlichen Konzeption der Paulskirchengesetzgebung von 184859 - allgemein abgelehnt 80 ; die Höhe der Armenunterstützung soll auf das "äußerste Bedürfnis" beschränkt bleiben 81 • Damit ist der Aufbruch der Armengesetzgebung in das Industriezeitalter zwar gemacht, doch vorerst auf halben Wege steckengeblieben: Die staatliche Gesetzgebung verharrt bei den notwendigsten Zuständigkeitsregelungen; die Bewältigung der materiellen Probleme bleibt den Gemeinden überlassen, während sich der Staat auf eine nur selten effektiv werdende Aufsicht zurückzieht62 • bb) Die Befreiungsgesetzgebung Preußens bewirkt auch in der Armenpflege der Gemeinden durchgreifende Wandlungen. Nachdem die Armenpflege auch nach dem Übergang aus der Verantwortung der Kirche und der Stände63 in den Aufgabenbereich der Gemeinden84 noch bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts ein weitgehendes Eigenleben in der Form einer ehrenamtlich geleiteten und aus frommen Stiftungen finanzierten ,öffentlichen Anstalt' geführt hatte 65 , erzwingt der Zerfall der ständischen Selbsthilfe und das Ansteigen der sozialen Not nunmehr ihre zunehmende Eingliederung in Aufgaben und Organisation der kommunalen Verwaltung: als öffentlich-rechtliche Verpflichtung gegenüber dem Staat66 wird sie Teil der Selbstverwaltungsaufgaben, die im Rahmen der kommunalen Verwaltung von Berufsbeamten geführt, aus den allgemeinen Steuern finanziert und nach Art und Ausmaß rechtlich geregelt werden. Zwar fehlt es nicht an Versuchen, diese ,Bürokratisierung' der Armenpflege zu verhindern. Insbesondere ist hier zu nennen die Elberfelder Armenordnung vom 1. Oktober 185387 , die durch Übertragung der Armenpflege 67 Vgl. Böhmert, Armenpflege und Armengesetzgebung, 1869, S. 6 und passim; Scherpner, S. 111 ff. 68 Vgl. Diefenbach, S. 104; Münsterberg, S. 147 f. 69 § 8 des Entwurfs des Heimatgesetzes, Beilage zum Protokoll der 127. Sitzung vom 2. 12. 1848 (zit. bei Breithaupt, S. 106, Fn. 3). GO Vgl. Preuß. Obertribunal, Plenarbeschluß vom 21. 2. 1853, E 24, S. 251; Münsterberg, S. 270 f.; v. Riedel, Bayerisches Gesetz über öffentliche Armenund Krankenpflege, 1883, Art. 6 Anm. 3, S. 73. 81 Flottwell, Armenrecht und Armenpolizei, 1866, S. 1 f.; vgl. auch Preuß. Obertribunal. 82 Vgl. Diefenbach, S. 337 f. 8S Vgl. Uhlhorn, S. 474 ff. U Dazu Scherpner, S. 169 f.; Uhlhorn, S. 365 ff., 543 ff., 555 ff. 8S Uhlhorn, S. 474 ff. ee § 1 Preuß. Armenpflegegesetz von 1842, GS 1843, S. 8. 87 Abgedruckt bei Böhmert, Das Armenwesen in 77 deutschen Städten und einigen Landarmenverbänden, 1886, S. 71.
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2. Teil, 11. Von der Armenpflege zur Sozialhilfe
an ehrenamtliche Helfer und Einführung individueller Betreuung die freiwillige Hilfe der Bürger in die öffentliche Verwaltung einzubauen sucht. Das ,Elberfelder Modell' verzeichnet auch in den folgenden Jahrzehnten große Erfolge und gelangt zu einer weiten Verbreitung 88 • Dennoch ist es in seinem Kerngedanken, der Führung der Armenpflege durch ehrenamtliche Bürger, auf die Dauer den steigenden Anforderungen der modernen Fürsorge nicht gewachsen. Als spätes Erbe der Aufklärung 08 ist es mit dem Aufschwung des Bürgertums untrennbar verbunden; da es nicht gelingt, auch in der Arbeiterschaft Helfer zu gewinnen, ist die Zahl der ehrenamtlichen Helfer nicht ausreichend zu steigern7o • Zugleich vermögen die ehrenamtlichen Pfleger die steigenden sozialpädagogischen und rechtlichen Schwierigkeiten sachgemäßer Hilfe nicht mehr zu bewältigen, so daß sie in zunehmendem Maße auf die Lenkung und Leitung der Verwaltung angewiesen sind71 • In der Folge trennen sich daher öffentliche Armenpflege und freie Liebestätigkeit: während die öffentliche Armenpflege in steigendem Maße in die kommunale Verwaltung eingegliedert wird, organisierte sich die freie Liebestätigkeit der Bürger in privaten ,Assoziationen', um eigenständige Hilfe im Rahmen der Gesellschaft zu leisten. cc) Das vielfältige Spektrum privater Wohltätigkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kann und braucht an diesem Ort nicht beschrieben zu werden; diese Aufgabe würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen72 • Ziel der folgenden Ausführungen ist es vielmehr, die Entwicklung der privaten Wohltätigkeit als eigenständiger Kraft aus der Zersplitterung in zahllosen Gruppen zur organisierten ,freien Wohlfahrtspflege' in Vereinen und Verbänden in ihren Ursprüngen nachzuzeichnen. Der Aufruf Johann Hinrich Wicherns zur Bildung eines "Centralausschusses für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche" auf dem Kirchentag von 1848, der am Anfang dieser Entwicklung steht, setzt ein Schlaglicht auf das Spektrum einer seit mehreren Jahrzehnten sich bildenden, reich gegliederten und vielfältig wirkenden privaten Wohltätigkeit in allen Teilen Deutschlands, die im Gefolge der Auflösung der ständischen Ordnung entstanden ist, nachdem die Befreiungsgesetzgebung der Initiative des Bürgers auch im sozialen Bereich im Prinzip unbegrenzte Aktionsräume eröffnet hat73 • OB SO sank die Armenlast in Elberfeld um 50 Prozent, die Zahl der Armen ging von 4000 auf 1460 zurück; vgl. dazu Böhmert, S. 561 f.; Roscher, S. 52 f.; Krug von Nidda, in: Beiträge zur Entwicklung der Deutschen Fürsorge, 1955, S. 133 ff. (155); Münsterberg, S. 40 ff. 09 70
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Roscher, S. 53, Scherpner, S. 174. Roscher, S. 53 f. Vgl. Roscher, S. 54 f.; Scherpner, S. 175 f.
Erschöpfende Darstellungen dieser Periode fehlen bislang noch. Einiges Material läßt sich finden in: Böhmert, Das Armenwesen in 77 deutschen Städten und einigen Landarmenverbänden, Bd. 1 - 2, 1886; ferner (zu der Arbeit christlicher Organisationen) in: Liese, Geschichte der Caritas, Bd. 1, 1922; Gerhardt, Ein Jahrhundert Innere Mission, Bd. 1, 1948; Beyreuther, Geschichte der Diakonie und der Inneren Mission in der Neuzeit, 2. Aufl. 1963. 7Z
2. Die Wende zum industriellen Zeitalter (1842 - 1914)
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Die typische Organisationsform privater Wohlfahrtstätigkeit ist der Verein, der freie Zusammenschluß unabhängiger und selbständiger Bürger in einer aus der ständischen Ordnung freigesetzten Gesellschaft, der dem 19. Jahrhundert sein soziales Gepräge gibt7 4 • Insbesondere auf protestantischer Seite entstehen seit 1820 zahlreiche Vereine, die sich der Linderung der steigenden sozialen Not widmen; ihnen folgen nach 1840 auch katholische Vereine mannigfaltiger Art75 • Auch über die konfessionellen Grenzen hinaus bildet sich eine Vielzahl von Vereinen, die sich den verschiedensten Zwecken widmen und ebenso vielgestaltig organisiert sind. In Berlin sind alle 57 Vereine in der offenen Fürsorge tätig; ihr Mitgliedsbestand reicht bis zu 12015 Mitgliedern, ihr Spendenaufkommen beläuft sich 1884 auf bis zu 213 858 Mark, ihr Vermögen beträgt bis zu 350000 Mark76. Der Katalog ihrer Aufgaben reicht von der Verteilung von Brennholz über die Verpflegung von Wöchnerinnen und die Unterstützung "verschämter Armer" bis zur Errichtung "christlicher Kaffeehäuser"77. Diese Vielgestaltigkeit privater Wohltätigkeit wird aber zugleich als Moment ihrer Schwäche empfunden. Schon 1869 erhebt sich der Ruf nach einer fest organisierten freiwilligen Armenpflege78 ; immer wieder wird die Planlosigkeit und Regellosigkeit der privaten Wohltätigkeit beklagt79 • Aber erst nach mehreren Jahrzehnten setzt ein unaufhaltsamer Prozeß der Kooperation und Konzentration ein, der vor allem bei den konfessionell gebundenen Vereinen zu einer festen Verbandsorganisation führt: Im Rahmen der Inneren Mission werden seit 1886 mit dem Ziel einer Straffung des bisherigen losen Zusammenschlusses die ersten Fachverbände gegründet 80 ; die katholischen Vereine schließen sich 1897 zum "Caritasverband für das katholische Deutschland" zusam73 Vgl. zu den Rückwirkungen dieses Prozesses auch Conze, in: Wehler (Hrsg.), Moderne Deutsche Sozialgeschichte, 3. Aufl. 1970, S. 111 (128); Neises, Art. ,Fürsorge', HdSW IV, 1965, S. 170; Scherpner, S. 177. 74 Vgl. dazu Conze, Beyreuther, Kupisch, Heyne, IM 50 (1960), S. 225 ff., 234 ff., 242 ff., 253 ff.; allg. F. Müller, Korporation und Assoziation, 1965, S.338; Baron, Das deutsche Vereinswesen und der Staat im 19. Jahrhundert, Diss. Göttingen 1961, S. 9 ff.; Wurzbacher, in: Rüegg I Neuloh, Zur soziologischen Theorie und Analyse des 19. Jahrhunderts, 1971, S. 103 (107 ff.). 75 Vgl. dazu die Darstellung in: Die freie Wohlfahrtspflege, Beiträge und Studien zu einem Sozialatlas, Bd. 2, S. 26 ff.; i. e. auch Liese, Bd. 1, S. 116 ff., 129 ff. 78 Vgl. dazu die umfassende Darstellung bei Böhmert, Bd. 2, S. 24 ff. 77 Böhmert, ebd.; typisches Beispiel beschrieben bei Strigl, in: Festgabe Flatten, 1973, S. 253 ff. 78 Böhmert, Armenpflege, S. 6. 70 Böhmert, Armenwesen, Bd. 2, S. 203; Döll, Die Reform der Armenpflege, 1880 (zit. bei Krug von Nidda, S. 146); Lohse, Die Privatwohltätigkeit und ihre Organisation, 1914, S. 5 f. 80 Vgl. dazu Gerhardt, ebd.
2. Teil, H. Von der Armenpflege zur Sozialhilfe
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men, der in den folgenden Jahren Diözesan- und Fachverbände als regionale und fachliche Gliederung bildet8t • Dieser Organisationsprozeß privater Wohltätigkeit in über das gesamte Reichsgebiet verbreiteten und auf allen Verwaltungsebenen arbeitenden Verbänden führt die ,freie' Wohlfahrtspflege, wie sie zusehends genannt wird, immer mehr aus der privaten Sphäre heraus und erhebt sie zu einem Faktor ,öffentlicher' Bedeutung. In dem Maße, als diese öffentliche Bedeutung dem Staat und der ,freien' Wohlfahrtspflege bewußt wird, stellt sich daher mehr und mehr die Frage nach dem Beziehungsverhältnis zwischen beiden Trägern sozialer Aufgaben.
b) Trennung und Annäherung - frühe Phasen der Zusammenarbeit zwischen Trägern öffentlicher Armenpflege und Vereinigungen privater Wohltätigkeit Die Anfänge der Zusammenarbeit zwischen öffentlicher Armenpflege und privater Wohltätigkeit sind durch zwei Daten geprägt, die nicht zufällig in denselben Zeitraum fallen: die Verkündung der ,Kaiserlichen Botschaft' im Jahre 1881 und die Gründung des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit in den Jahren 1880 bis 1881. Seit der ,Gründerzeit' und den folgenden Elendsjahren war die Einsicht unabwendbar geworden, daß die staatliche Sozialpolitik vor einem Kurswechsel stand. Die jahrzehntelange Zurückhaltung der in den Bahnen von Manchestertum und Malthus denkenden staatlichen Instanzen hatte sich als verfehlt erwiesen; auch eine Unterstützung der privaten Wohltätigkeit8! hatte der sozialen Not nicht zu steuern vermocht. Die übernahme der staatlichen Verantwortung und die Inpflichtnahme der Gemeinden für die Bekämpfung der Armut in den Jahren 1867 bis 1870 stellte sich als bloßer Auftakt für den umfassenden Ausbau der öffentlichen Armenpflege heraus, der insbesondere durch die Einführung der Sozialversicherung seit 1881 83 verstärkt und beschleunigt wurde84 • Angesichts dieser durch die allgemeine Not bedingten Entwicklung ist die Forderung nach einer Einschränkung der öffentlichen Armenpflege85 überholt. Sie macht nunmehr überlegungen Platz, wie öffentVgl. dazu Liese, S. 381 ff. Vgl. Conze, S. 125, insbesondere die dort zitierte Kabinettsorder vom 13.11.1843, Vereinsbildungen anzuregen zur "Minderung oder Abwehr des aus dem Pauperismus hervorgehenden physischen, sozialen und sittlichen Verderbens"; ausführlich dazu Schüttpelz, Staat und Kinderfürsorge in Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 1936. 83 Krankenversicherung 1883, Unfallversicherung 1884/85, Invaliditätsund Altersversicherung 1885/90. 84 Wolfram, S. 35 ff. 85 Ratzinger, Geschichte der kirchlichen Armenpflege, 2. Aufl. 1884, S. 566; vgl. auch die Kontroverse zwischen Böhmert und v. Gneist auf dem 11. Volkswirtschaftlichen Kongreß in Mainz (zit. bei Krug von Nidda, S. 149 ff. und Böhmert, Armenpflege, S. 6 f.). 81
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2. Die Wende zum industriellen Zeitalter (1842 :"1914)
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liche Armenpflege und private Wohltätigkeit zu einem planvollen Zusammenwirken geführt werden können86 . Träger dieser Bewegung ist der Deutsche Verein, der sich die "Zusammenfassung der zerstreuten Reformbestrebungen, welche auf dem Gebiet der Armenpflege und Wohltätigkeit hervortreten, und die fortgesetzte gegenseitige Aufklärung der auf diesem Gebiet tätigen Personen" zum Ziel gemacht hat87 ; seine alljährlichen Tagungen spiegeln die weitere Entwicklung des Verhältnisses zwischen öffentlicher Armenpflege und privater Wohltätigkeit wider. In den Jahren 1880 bis 1890 werden - unter Aufnahme von zahlreichen auf dem Armenpflegekongreß von 1880 erhobenen Forderungen nach einer verstärkten ,Anlehnung' der freien Wohltätigkeit an die gesetzliche Armenpflege88 - in vielen Städten Bemühungen unternommen, "das planlose Nebeneinanderstehen der offiziellen und der Privat-Armenpflege"8D zu überwinden. Insbesondere das Verfahren des Elberfelder Frauenvereins, einzelne Unterstützungsfälle gegen die Zahlung von Zuschüssen von der öffentlichen Armenpflege zu übernehmen, findet an vielen Orten Nachahmung Do. Darüber hinaus sind Bemühungen um eine Zusammenfassung der lokalen WohltätigkeitsvereineD1 und Schaffung von gemeinsamen Auskunftsstellen und Armenstatistiken92 im Gange. Ihren Höhepunkt finden diese Bestrebungen auf dem Armenpflegekongreß von 1891, wo aber zugleich auch die Grenzen möglicher Zusammenarbeit deutlich werden. Die mögliche Alternative ist bereits in den Referaten von Rothfels und Münsterberg über die ,Verbindung öffentlicher und privater Armenpflege' vorgezeichnet: Während Rothfels die Anlehnung und notfalls Unterordnung der privaten Wohltätigkeit fordert, "um eine gewisse Centralisation zu ermöglichen"93, neigt Münsterberg einer freiwilligen Koordination zu, da ihm von vorneherein "jede Bestrebung, welche auf Zwang abzielt, nutzlos erscheint94 . Nach einer ausgedehnten Debatte, in der auch weitergehende KoB6 Vgl. von Mohl, Die Polizeiwissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaats, Bd. I, 3. Aufl. 1886, S. 356 ff.; Uhlhorn, s. 786, 799. B7 § 1 der Satzung; vgl. zur Entstehungsgeschichte Münsterberg, Generalbericht über die Tätigkeit des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit, 1905, S. 1 ff. BB Münsterberg, S. 105; Krug von Nidda, S. 157. B9 Böhmert, Armenpflege, S. 28. 90 Vgl. Böhmert, Armenwesen, Bd. 1, S. 55 ff., 63 ff. 91 Vgl. Böhmert, Armenwesen, Bd. 2, S. 20 ff.; Münsterberg, in: Steno Ber. über die Verhandlungen der zwölften Jahresversammlung des Deutschen Vereins, 1891, S. 83 f.; Stähle, ebd., S. 117 ff. 92 Böhmert, Bd. 2, S. 27 ff., 67 ff.; Münsterberg, Die Verbindung der öffentlichen und der privaten Armenpflege, 1891, S. 27 ff., 31 ff., 36 ff. 93 Rothfels, Die Verbindung der öffentlichen und der privaten Armenpflege, 1891, S. 69. 94
S.45.
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2. Teil, H. Von der Armenpflege zur Sozialhilfe
operationskonzepte diskutiert werden's, entscheidet sich der Kongreß übereinstimmend zugunsten der Konzepte freiwilliger Koordination88 ; die Forderung nach einer "Centralisation der gesamten öffentlichen und privaten Armenpflege" verfällt der AblehnungV7 • In den folgenden Jahren konzentriert sich die Diskussion auf Fragen der Aufgabenverteilung zwischen öffentlicher Armenpflege und privater Wohltätigkeit. Die frühere Beschränkung der öffentlichen Armenpflege auf den "notdürftigen Unterhalt"98, die der privaten Wohltätigkeit die vorbeugende und ergänzende Hilfeleistung überlassen hatte 99 , ist angesichts des steigenden sozialpolitischen Engagements des Staates überholt. Gegenüber dieser schematischen Abgrenzung steht nunmehr ein an dem von den Geschwistern Webb in England entwickelten ,Stufenleiter'-Modell 1oo orientiertes Denken im Vordergrund, das die Hilfeleistung nach ihrer fachlichen und organisatorischen Eignung den öffentlichen Trägern der Armenpflege oder den privaten Wohltätigkeitsvereinen zuweist. Als Vorteil privater Wohltätigkeit wird dabei die raschere Initiative, höhere Flexibilität und stärkeres Engagement gesehen101 ; dem wird der Nachteil ungenügender Organisation, mangelhafter Finanzkraft und fehlender Zwangsgewalt gegenübergestellt102 • Diese Gegenüberstellung, die ihre Heimat in dem traditionellen Gegensatz von Gesetzlichkeit und Freiheit nicht verleugnen kann 103, gerät freilich zunehmend in den Sog des gleichzeitigen Wandels der privaten Wohltätigkeit und der öffentlichen Armenpflege in Organisation und Zielsetzung, der den Graben zwischen beiden Seiten einzuebnen scheint: Während sich die einfach organisierten und nur beschränkt leistungsfähigen Vereine zu hoch differenzierten und spezialisierten Verbänden entwickeln, dehnt sich die öffentliche Armenpflege unter dem Einfluß des Individualisierungspnnzips zu einem umfassenden System sozialer Fürsorge aus. Im Schrifttum bleibt dieser Wandel nicht verborgen: Roscher weist angesichts der expandierenden staatlichen Verantwortung den Verbänden nurmehr eine "Pionierfunktion" zu bei der Aufspürung neuer Aufgaben, die späterhin zur "allgemeinen Ausbreitung und dauernden Sicherung" an den Staat übergehen sollen104 ; Stein hält aufgrund ihrer "eminent sozialen Wirkungen" die Wohlfahrtspflege für eine "öffentliche ... Angelegenheit" und leitet daraus die Aufgabe "der Vgl. etwa von Reitzenstein, ebd., S. 107 (gemeinsamer Armenpflegeplan). Vgl. insbesondere die Diskussionsbeiträge von Reitzenstein, ebd. S. 105 und Flesch, ebd. S. 113. 97 Bericht, S. 156. 98 So etwa § 1 Preuß. AG zum UWG vom 8. 3. 1871; vgl. dazu Diejenbach, S.199. 99 Vgl. BöhmeTt, Armenwesen, Bd. 2, S. 109. 100 Vgl. dazu Webb, Das Problem der Armut, 1912, S. 150 ff. 101 RoscheT, S. 176ff.; Lohse, S. 1; Stein, ZfdA 1911, S. 129; Webb, S. 142ff. 101 Stein, S. 135; Webb, S. 146 ff. 103 Grundlegend BöhmeTt, Armenpflege, S. 15 f. Umfassende Darstellung der Diskussion im Deutschen Verein bei Rinken, Das Öffentliche, S. 74 ff. 104 S. 176 f. 95 96
3. Die neue Ordnung in der Industriegesellschaft (1914 - 1923)
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Einordnung der freiwilligen Wohlfahrtsorganisationen in den Kreis der öffentlichen Wohlfahrtspflege" ablOS. Der Staat, der die Aufgabe der sozialen Sicherung in die Hand zu nehmen beginnt, und die Wohlfahrtsverbände, die im Gemeinwesen eine ,öffentliche Bedeutung' zu erlangen scheinen, geraten damit tendenziell zunehmend in Konflikt. Am Abschluß der Entstehungsphase moderner Wohlfahrtspflege steht die Aufgabe, zu einer Zusammenarbeit zu gelangen, die dem staatlichen Auftrag zu sozialer Gestaltung und dem Verlangen der Verbände nach freier Tätigkeit Rechnung trägt. 3. Die neue Ordnung des Sachbereichs ,Wohlfahrtspflege' in der modernen Industriegesellschaft (1914 bis 1923) a) Die Krise der öffentlichen Armenpflege und privaten Wohltätigkeit
Die Erfahrung der Massennotstände des ersten Weltkrieges erschüttert das überkommene System der öffentlichen Armenpflege, das trotz mancher Verbesserung immer noch durch ,polizeiliches' Gedankengut geprägt ist, und die private Wohltätigkeit, deren Zersplitterung und Planlosigkeit auch durch die Reformen im Rahmen des Deutschen Vereins nicht durchgreifend gelöst worden sind, gleichermaßen. Da die gesetzliche Armenpflege in ihrer überkommenen Form bloßer Existenzsicherung wegen ihrer diskriminierenden Folgenl06 ungeeignet ist, die Versorgung der in Not geratenen Angehörigen der Hinterbliebenen von Soldaten zu übernehmen, wird sie durch ein System der "Kriegswohlfahrtspflege" ergänzt und schließlich ersetzt 107, dessen fortschrittliche Grundkonzeption (Gedanke des ,sozialen Existenzminimums', Individualisierungsprinzip, Aufenthaltsprinzip) den Anstoß zu einer weiteren sozialen Ausgestaltung der Fürsorge, wie die Armenpflege zukünftig genannt werden wird, gibt, deren Maßstäbe bis in die Gegenwart wirksam geblieben sind. Die privaten Wohltätigkeitsvereine gründen, um die allgemeine Not zu bewältigen, auf lokaler Ebene Zentralen der Kriegsfürsorge, die Lenkungs- und Koordinierungsbefugnisse gegenüber allen privaten Diensten und Einrichtungen habenlo8 ; auf überregionaler Ebene bildet 105
S. 133 f.
Verlust des Wahlrechts gern. § 3 Ziff. 3 des Wahlgesetzes vom 31. 5. 1869 (BGBl. S. 145); landesgesetzliche Rückerstattungsvorschriften, vgl. dazu Münsterberg, Erstattung von Unterstützungen, 1899. 107 Preuß. Ministerialerlasse vom 28.8. 1910, 28.4.1915, 19.11. 1915; BundesratsVO über die Regelung der Kriegswohlfahrtspflege vom 22. 7. 1915, 15. 2. 108
1917. 108
Vgl. Krug von Nidda, S. 211 ff.
64
2. Teil, II. Von der Armenpflege zur Sozialhilfe
sich die ,Freie Vereinigung für Kriegswohlfahrt', die den Erfahrungsaustausch gewährleisten SOll109. Diese Entwicklung führt trotz einer über weite Strecken erfolgreichen Zusammenarbeit110 zu einem scharfen Konflikt, als sich die Frage stellt, ob die durch die Bundesrats-Verordnung vom 21. Juli 1915 111 begründete Staatsaufsicht über die freie Wohlfahrtspflege auch nach Kriegsende fortgeführt werden soll. Auf der 35. Jahresversammlung des Deutschen Vereins am 21.122. September 1917 prallen beide Auffassungen zusammen: Die Notwendigkeit staatlicher Aufsicht wird mit der öffentlichen Bedeutung einerseits, der mangelnden Selbstkontrolle andererseits begründet; die staatliche Aufsicht sei das "notwendige Korrelat" zur völligen Selbständigkeit freier Liebestätigkeit112• Gegenüber dieser Ansicht wird besonders von seiten der christlichen Wohlfahrtsverbände vorgetragen, daß nicht staatliche Aufsicht, sondern ein freiwilliger Zusammenschluß vonnöten sei, um die erforderlichen Koordinations-, Kontroll- und Interessenvertretungsaufgaben wahrzunehmen113 ; in der geplanten Aufsichtsregelung sehen sie eine "schwere Gefahr für die Selbständigkeit, Innerlichkeit und den Erfolg" ihres Wirkens 114• Diesen Argumenten schließen sich in der Folge auch die Vertreter der kommunalen Fürsorge an115, so daß die überwiegende Mehrheit für die organisatorische Trennung zwischen staatlicher Fürsorge und freier Wohlfahrtspflege optiert11l•
Damit ist die bislang schwerste Krise des Verhältnisses zwischen öffentlichen und privaten Trägern der Fürsorge durch das Bekenntnis zu dem gewachsenen System der Zusammenarbeit überwunden; die Einsicht, daß "die ständige Kontrolle und die äußere Abhängigkeit von den Behörden ein wesentlicher und daher zerstörender Widerspruch gegen die freie Wohlfahrtspflege" ist1 17, legt den Grundstein für die gesetzliche Regelung des Sachbereichs ,Wohlfahrtspflege'.
Vgl. Krug von Nidda, Wilhelm Polligkeit, 1961, S. 45 f. Vgl. dazu Krug von Nidda, in: Beiträge, S. 210 ff.; PoHigkeit, Concordia 1917, S. 17. 111 RGBl. S. 449. 112 Levy, in: Steno Bericht über die Verhandlungen der 35. Jahresversammlung des Deutschen Vereins 1917, S. 114 ff. 113 Zahn und Werthmann, ebd., S. 151 ff., 161. 114 Centralausschuß der Inneren Mission ebd., S. 163. 116 Luppe, ebd., S. 175. 118 Vgl. zum ganzen auch Werthmann, Caritas 1918, S. 3 ff., 7. 117 Soll die Staatsaufsicht über die freie Wohlfahrtspflege in die Friedenszeit hinübergenommen werden? Denkschrift des Caritasverbandes für das katholische Deutschland, 1917; vgl. auch Diejenbach, S. 345. 109
110
3. Die neue Ordnung in der Industriegesellschaft (1914 - 1923)
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b) Wandel und Neuorientierung auf dem Weg zur Reform der Sozialfürsorge
Der Ausgang des Krieges und die Umwälzung des Staatswesens gibt auch den Anstoß für die Verwirklichung der Reform der staatlichen Gesetzgebung und der Reorganisation der freien Wohlfahrtspflege. Die Weimarer Reichsverfassung vom 11.8.1919118 überträgt dem Reich in einer Reihe von Kompetenzbestimmungen den Auftrag zur sozialen Ausgestaltung der gesamten Wohlfahrtspflege (Artikel 7 Ziffer 5, 7, 11; 9 Ziffer 1). Damit ist der Grundstein für eine umfassende Neuordnung der völlig zersplitterten Fürsorgegesetzgebung der Kriegsund Nachkriegszeitl1U unter Zugrundelegung einer modernen sozialfürsorgerischen Konzeption120 gelegt. In der freien Wohlfahrtspflege tritt der Wandel vom Verein zum Verband in eine neue Phase. Angesichts steigender sozialer Aufgaben und zugleich wachsender finanzieller Nott 21 schließen sich nun auch die nicht konfessionell gebundenen Vereine zusammen. Nachdem schon 1917 von den jüdischen Vereinen die "Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden e. V." gegründet worden ist122, bildet sich 1919 aus den Reihen der Sozialdemokratie der "Hauptausschuß der Arbeiterwohlfahrt e. V.", um die in und nach dem Kriege entstandenen Selbsthilfeorganisationen der Arbeiterschaft zu koordinieren123• 1920 finden sich auch Vertreter der humanitär ausgerichteten Krankenhäuser zusammen; nachdem ihre Organisation in kurzer Zeit Auffangbecken für eine Vielzahl anderer Vereine geworden ist, wird sie 1924 zu einem Verband der freien Wohlfahrtspflege ausgebaut, der zunächst als "V. Wohlfahrtsverband" bekannt wird, bis er 1932 den Namen ,Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband' annimmt124• Als letzter Spitzenverband der Wohlfahrtspflege organisiert sich 1921 das ,Deutsche Rote Kreuz', das über seine internationalen Aufgaben hinaus auch auf nationaler Ebene in der Krankenpflege tätig ist1z5• 118 11U
(459).
RGBI. S. 1383. Vgl. dazu Maier, Art. ,Fürsorgewesen', HdKW, Erg.Bd. 1 (1927), S. 457
120 Vgl. die im Auftrag des Deutschen Vereins verfaßte Studie von Diefenbach, Ein Reichsarmengesetz. Vorschläge zur Reform der deutschen Reichsarmengesetzgebung, 1920, insbes. S. 157, 203, 213, 234, 26l. 121 Polligkeit, Concordia 1920, S. 20l. 122 Vgl. dazu: Die freie Wohlfahrtspflege, 1956, S. 148 ff.; Lamm, Art. ,Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland', StL. VIII (1963), Sp. 964 ff. 123 Vgl. Die freie Wohlfahrtspflege, S. 13 ff.; Juchacz und Heymann, Die Arbeiterwohlfahrt. Voraussetzungen und Entwicklung, 1924; Monat, Sozialdemokratie und Wohlfahrtspflege, 1961. m Vgl. Die freie Wohlfahrtspflege, S. 105 ff.; Rolfes, Art. ,Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband', StL. II (1958), Sp. 662 f. 125 Vgl. Die freie Wohlfahrtspflege, S. 116 f.; Horst, Art. ,Rotes Kreuz', StL. VI (1961), Sp. 967 ff.
5 Wegener
2. Teil, II. Von der Armenpflege zur Sozialhilfe
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Dieser Organisationsprozeß kommt zu einem vorläufigen Abschluß, als sich diese neugegründeten Verbände mit den bereits seit längerem bestehenden Zusammenschlüssen der katholischen und evangelischen Vereine126 in der ,Reichsgemeinschaft von Hauptverbänden der freien Wohlfahrtspflege' zusaumenschließen, deren Nachfolgeorganisation, die ,Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege' (1925), auf Reichs- und Landesebene als Interessenvertretung der ,freien Wohlfahrtspflege' anerkannt wirdl27 • Vor dem Hintergrund dieser Neuorientierung öffentlicher Fürsorge und freier Wohlfahrtspflege steht das Bemühen, das Verhältnis zwischen öffentlicher Fürsorge und freier Wohlfahrtspflege gesetzlich zu fixieren, nachdem erneute kurzfristige Kommunalisierungs- und Sozialisierungstendenzen128 an dem Widerstand der freien Wohlfahrtsverbände 129, aber auch an der Einsicht der kommunalen Behörden130 gescheitert sind. Eine Denkschrift des Reichsarbeitsministeriums vom 14. Februar 1923 zeichnet die Grundlinien der Regelung in der bevorstehenden Fürsorgegesetzgebung : "Staat und Gemeinde bleiben ... auf die unterstützende und ergänzende Hilfe der freiwilligen Wohlfahrtspflege angewiesen ... Das Gesetz muß versuchen, diese Beziehungen in einer Weise zu regeln, die den beiderseitigen Werten gerecht wird ... (Die freie Wohlfahrtspflege) kann ihre Aufgaben nur dann erfolgreich weiter erfüllen, wenn ihr das Recht gewahrt bleibt, innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes ihre Angelegenheiten selbständig zu ordnen und zu verwalten und ihren Wirkungskreis selbst zu bestimmen. Das Gesetz muß sich daher darauf beschränken, ein sich zweckmäßig ergänzendes Zusammenwirken der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege zu fördern ...131" Diese Gedanken werden in der Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht (FVO) vom 13. Februar 1923132, die statt eines Wohlfahrtsgesetzes erlassen wird, verwirklicht: Zwar liegt die Letztverantwortung bei den (öffentlichen) Landes- und Bezirksfürsorgeverbänden (§ 2 FVO); doch sollen diese nach § 5 Absatz 4 FVO "darauf hinwirken, daß öffentliche und freie Wohlfahrtspflege sich Oben S. 59 f. Vgl. etwa § 8 der Dritten VO zur Durchführung des Gesetzes über die Ablösung öffentlicher Anleihen v. 4. 12. 1926, RGBl. S. 494. 128 Vgl. Krug von Nidda, S. 222 ff.; PolHgkeit, ebd. 129 Vgl. insbes. die Kundgebung des Fachausschusses für private Fürsorge im Deutschen Verein, Die Stellung der privaten Fürsorge im neuen Staat, ZfdA 1920, S. 523. 130 Vgl. den Bericht über die Sitzung des Fachausschusses für private Fürsorge, ZfdA 1920, S. 304. 131 Denkschrift über die Vorarbeiten zu einem Reichswohlfahrtsgesetz, 1923 (abgedruckt bei Dünner, Reichsfürsorgerecht, 1925, S. 74). 132 RGBl. I, S. 100. 126 127
3. Die neue Ordnung in der Industriegesellschaft (1914 - 1923)
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zweckmäßig ergänzen und in Formen zusammenarbeiten, die der Selbständigkeit beider gerecht werden". Dieses Zusammenarbeitsgebot wird in § 5 Absatz 3 FVO dahingehend konkretisiert, daß die Fürsorgeverbände "eigene Einrichtungen nicht neu schaffen sollen, soweit geeignete Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege ausreichend vorhanden sind". In vergleichbarer Weise bestimmt das neue Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, daß die Jugendwohlfahrtsbehörden "die freiwillige Tätigkeit zur Förderung der Jugendwohlfahrt unter Wahrung ihrer Selbständigkeit und ihres satzungsmäßigen Charakters zu unterstützen, anzuregen und zur Mitarbeit heranzuziehen (haben), um mit ihr zum Zwecke eines planvollen Ineinandergreifens aller Organe und Einrichtungen der öffentlichen und privaten Jugendhilfe und der Jugendbewegung zusammenzuwirken"133. Diese abgewogene Regelung, die bei der kommunalen Fürsorge wie bei der - nunmehr so genannten - ,freien' Wohlfahrtspflege gleichermaßen als sachgerechte Lösung gebilligt wird134, setzt den Rahmen für die weitere Entwicklung; die Regelungen in den Gesetzesreformen von 1961 begnügen sich, soweit sie die Formulierungen nicht wörtlich übernehmen (zum Beispiel §§ 93 Absatz 1 Satz 2 BSHG, 5 Absatz 3 Satz 2 JWG), damit, ihre Grundsätze für einzelne Sachprobleme zu konkretisieren135• Der Aufriß der sozialgeschichtlichen Grundlagen des Verhältnisses zwischen öffentlichen Trägern und ,freien' Vereinigungen im Sachbereich ,Wohlfahrtspflege' kommt damit zu seinem Abschluß: Die Pole Letztverantwortung des öffentlichen Trägers - bedingter Vorrang der ,freien' Vereinigungen, Zusammenarbeitsgebot zwischen öffentlichen Trägern und ,freien' Vereinigungen, die sich nach nahezu einem Jahrhundert herauskristallisiert haben, bestimmen die weitere Entwicklung des Sachbereichs ,Wohlfahrtspflege' bis in die Gegenwart.
111. Die Zuordnung von Staat und Gesellschaft als Problem der Freiheitsgewährleistung im politischen Gemeinwesen Vor dem Hintergrund der sozialgeschichtlichen Entwicldung des Sachbereichs ,Wohlfahrtspflege', dem Bild des Wandels von der ursprünglichen Trennung zu einer wachsenden Annäherung und einer allmählich dichter werdenden Zusammenarbeit, ist nunmehr als verfassungsrecht133 § 6 Reichsjugendwohlfahrtsgesetz vom 9.7.1922 (RGBl. I, S. 633); vgl. auch § 1 Abs. 3 RJWG. 134 Vgl. Krug von Nidda, S. 306; ders., Wilhelm Polligkeit, S. 114; Polligkeit, in :Werk und Weg, Festschrift für Ohl, 1952, S. 125. 185 Dazu 1. Teil, 1.1.; a. A. allerdings Lerche, Verfassungsfragen, S. 38 ff., wie hier dagegen Bachof, Gutachten, S. 5, 10 und Bender, Gutachten, S. 10 H.
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2. Teil, !II. Staat und Gesellschaft - ein Freiheitsproblem
liches Gegenstück das Problem der Zuordnung von Staat und Gesellschaft zu behandeln, das ja nicht nur in der Wohlfahrtspflege, sondern auch in einer Reihe anderer Sachbereiche für die Staats- und Verfassungslehre - und zwar gerade in politischen Auseinandersetzungen bis in Detailfragen hinein "seit Hegel und Lorenz von Stein zur Schicksalsfrage nach einem liberalen und freiheitlichen Gemeinwesen"136 geworden ist. Gegenüber dieser verfassungstheoretischen und verfassungsrechtlichen Tiefendimension des Problems ,Staat und Gesellschaft' sind allerdings in neuerer Zeit Einwände vorgetragen worden. Aus einer eher pragmatischen Sicht wird zum einen die praktische Ergiebigkeit dieser Problemstellung geleugnet und vorgeschlagen, über dieses oktroyierte Thema hinwegzugehen und die "konkreten Sachfragen konkret zu beantworten"137; mit sehr viel prinzipiellerem Anspruch wird zum anderen darüber hinaus auch die wissenschaftliche Fruchtbarkeit - insbesondere für das Ziel der Freiheitsgewährleistung - dieser Fragestellung überhaupt bestritten, ihr sogar die "Gefahr einer Verkürzung und Fehlleitung" angelasteV18• Diese Einwände sind sicherlich insofern berechtigt, als der Diskussion in der Vergangenheit vielfach der sachliche und der verfassungsrechtliche Bezug ermangelte, so daß tatsächlich "weithin die sinnvolle Fragestellung"131 zu fehlen schien. Andererseits wird aber die Unterschiedlichkeit der Grenzziehungen in den Gebieten der Wirtschaft, Kultur, Weltanschauung, Meinungsbildung etc., die "ein leitendes Prinzip über den Zufälligkeiten ihrer historisch-politischen Entstehung oft vermissen lassen"14o, durch die Flucht in das Detailproblem gerade bewirkt. Das vielfach registrierte Problem der 138 Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1971, S. 247. Die Literatur zu diesem Problem ist unübersehbar. Vgl. an wesentlichen Beiträgen aus neuerer Zeit Böckenförde, Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, 1973; ders., in: Rechtsfragen der Gegenwart, Festschrift Hefermehl, 1971, S. 11 ff.; Ehmke, in: Staatsverfassung und Kirchenordnung, (2.) Festgabe Smend, 1962, S. 23 ff.; Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, 2. Aufl. 1971, S. 21 ff.; H. H. Klein, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 50/1974, S. 8 f.; Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 149 ff.; Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 38 ff., 145 f.; Hesse, DÖV 1975, S. 437; Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1968, S. 341 ff., 526 ff.; v. Krockow, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 7/1972, S. 3 ff.; Preuß, Zum staatsrechtlichen Begriff des öffentlichen, 1969, S. 81 ff.; Sontheimer, in: Pluralismus. Konzeptionen und Kontroversen, 2. Aufl. 1973, S. 199 ff.; Schlaich, Neutralität, S. 81 ff., 104 ff., 244 ff. und passim; W. Schmidt, AöR 101 (1976), S. 24; Roos, Demokratie als Lebensform, 1969, S. 84 ff.; Ossenbühl, Rundfunk zwischen Staat und Gesellschaft, 1975, S. 17 ff. - Überblick über die Problemstellung bei Lorenz, Der Rechtsschutz des Bürgers und die Rechtsweggarantie, 1973, S. 94 ff.; Mronz, Körperschaften und Zwangsmitgliedschaft, 1973, S. 76 ff. 137 So etwa BuH, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 1973, S. 65, 69. 138 Hesse, S. 443. 131 _ mit dieser Einschränkung ist die entsprechende Zweifelsfrage von Schlaich, ebd. ohne Zweifel berechtigt; demgegenüber steht (nunmehr) allerdings die verfassungsrechtliche Präzisierung und Konkretisierung des Problems durch die neueren Arbeiten von Böckenförde, Klein und Herzog (Fn.136). 140 Schlaich, S. 81, 250, dazu i. e. S. 83 ff., 91 ff., 105, 112 ff.
1. Die Trennung von Staat und Gesellschaft
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Verwaltungsrechtslehre, den Wildwuchs von Organisations- und Handlungsformen der öffentlichen Verwaltung mit seinen durch das dualistische Staatsund Verfassungsverständnis des 19. Jahrhunderts geprägten und geformten Begriffen und Instituten in den Griff zu bekommenl41 , ist daher weniger durch den Ruf nach einem (vorgeblich) unvoreingenommenen pragmatischen, gleichsam voraussetzungslosen und allein an den spezifischen Rahmenbedingungen interessierten Vorgehen zu überwinden als vielmehr durch ein erneutes Durchdenken der prinzipiellen Grundsatzfragen mit dem Ziel, diese gleichsam in die konkreten Sachprobleme ,hineinzuprojizieren'. Dabei wird sich zeigen, daß eine Aufarbeitung des Problems ,Staat und Gesellschaft' gerade auch zu einer neuen Dogmatik des Verwaltungsrechts eine Reihe von Leitlinien und Gesichtspunkten beitragen kannl 4!. Die Auseinandersetzung mit dem Problem Staat - Gesellschaft wird erst seit einigen Jahren unter dem grundsätzlichen Aspekt der Freiheitsgewährleistung geführt1 43, nachdem der Fundamentalkonsens des Parlamentarischen Rates, der in der Verschmelzung der deutschen Staats- und Verfassungstradition mit angelsächsischem Gedankengut bestanden hatte 144, seit den Jahren 1968/69 in der Folge der Studentenunruhen und des ,Machtwechsels' zerbrochen ist, so daß die Kennzeichnung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als "Einsicht von bleibender Bedeutung für die Freiheit"145 keine Allgemeingültigkeit mehr beanspruchen kann. Daher wird es darauf ankommen, diese Frage in ihren historischen wie in ihren theoretischen Implikationen aufzugreifen, um zu einem neuen Staats-, Verfassungs- und Freiheitsverständnis beizutragen, das die zukünftigen Gewichtungs- und Verteilungsprobleme in einer Industriegesellschaft, die an die ,Grenzen des Wachstums' stößt, zu bewältigen vermag. Ziel der Untersuchung muß dabei der Entwurf eines Modells sein, das zugleich die Aufgabe der Freiheitsgewährleistung zu verwirklichen und den Rahmenbedingungen der politischen und sozialen Wirklichkeit zu entsprechen vermag. 1. Das Theorem der Trennung von staat und Gesellscllaft im sozial- und verfassungsgesclliclltlicllen Rahmen des 19. Jahrhunderts
Die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Staat und Gesellschaft im neueren staatsrechtlichen und politikwissenschaftlichen 141 Vgl. (statt vieler) Ossenbühl, Rundfunk, S. 18; Brohm, Strukturen der Wirtschaftsverwaltung, 1969, S. 28 ff. und passim. 142 Dazu 4. Teil, II. 2. 143 Vgl. vor allem die wegweisenden Schriften von Isensee, Böckenförde, Herzog und Klein; dagegen allerdings Hesse, insbes. S. 439 f., 442, und W. Schmidt, S. 27 f., 44 f. und von Krockow, ebd. 144 Dazu umfassend Sörgel, Konsens und Interessen, 1969, S. 55 ff. 145 So treffend Henke, VVDStRL 28 (1970), S. 149 (166).
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2. Teil, III. Staat und Gesellschaft - ein Freiheitsproblem
Schrifttum ist nicht verständlich ohne eine kurze Aufhellung der sozialund verfassungsgeschichtlichen Hintergründe des Theorems der Trennung von Staat und Gesellschaft, das die Staatslehre des 19. Jahrhunderts beherrscht hat. Das Europa des 17. und 18. Jahrhunderts war Schauplatz jenes stürmischen Aufbruchs aus dem Mittelalter gewesen, der als "Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft" in die Verfassungs- und Sozialgeschichte eingegangen ist: (1) Auf politischer Ebene hatte sich aus der durch die Leiden der Bürgerkriege zertrümmerten altständischen Ordnung die souveräne Staatsgewalt über den in die ,bürgerliche Gesellschaft' eingeschmolzenen Restbeständen ständischer Formen erhoben148• (2) Im Sozial- und Wirtschaftsleben hatten die Phänomene ,Kapital' und ,Markt' mit der revolutionären Umgestaltung der Handels- und Produktionsverhältnisse zugleich die Einheit von politischer und sozialer Basis der mittelalterlichen Stände in eine ,öffentliche' (politische) und eine ,private' (wirtschaftliche) Sphäre zerschlagenl47 • (3) In der Staatsphilosophie hatte die Unterwerfungslehre von Hobbes einen Prozeß der Trennung von Politik und Moral eingeleitet, der für ein Jahrhundert den absolutistischen Fürstenstaat zu legitimieren verstandl48• Mit dem Zusammenbruch des Absolutismus im späten 18. Jahrhundert begann nun eine deutsche Sonderentwicklung, die Deutschland für mehr als ein Jahrhundert aus dem Lauf der westeuropäischen Verfassungsgeschichte ausscheren ließ: Während der Trennungsprozeß in Westeuropa, sei es durch eine fortschreitende Parlamentarisierung wie in England seit 1689, sei es durch eine Reihe revolutionärer Umbrüche wie in Frankreich 1789, 1815, 1830, 1848 und 1871, seit dem frühen 19. Jahrhundert in eine sich ständig verstärkende Gegenbewegung der Wiederannäherung von Staat und Gesellschaft umgeschlagen war, wurde er in Deutschland durch eine ,Befreiungsgesetzgebung', die, wiewohl unter dem Eindruck der französischen Revolution stehend, in den Jahren 1808 bis 1821 doch nur wirtschaftliche, nicht aber auch politische Freiheit149 gewährte, eher noch vertieft. Denn mit dem Rückzug des Staates aus dem Wirtschaftsleben ging die Zerstörung noch verbliebener ständischer Strukturen (Gilden, Zünfte, Patrimonialherrschaften) einher, die bislang noch in den Städten und auf dem Lande die Brücke zwischen monarchischem Staat und bürgerlicher Gesellschaft geschlagen hatte. Diese Zerschlagung der überkommenen hierarchischen Struktur 148 Vgl. Angermann, ZfP 10 (1963), S. 89 ff.; Brunner, in: Neue Verfassungsund Sozialgeschichte, 2. Aufl. 1968, S. 187 ff.; Bieback, Die öffentliche Körperschaft, 1975, S. 26 ff. 147 Vgl. Briefs, Staat und Wirtschaft im Zeitalter der Interessenverbände, in: Laissez-faire-Pluralismus, 1966, S. 1 (15 ff.); Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 5. Aufl. 1971, S. 28 ff. 148 Vgl. dazu Koselleck, Kritik und Krise, 1973 (1959), S. 18 ff. 14V Vgl. dazu E. R. Huber, Deutsche Verlassungsgeschichte Bd. I, S. 161 ff., insbes. S. 183 ff., 200 ff.
1. Die Trennung von Staat und Gesellschaft
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des Mittelalters, die auch noch das absolutistische Herrschaftssystem getragen hatte, legte erst den Grund für eine reale Trennung zwischen dem vom Monarchen repräsentierten Staat und der durch das Bürgertum konstituierten Gesellschaft, die bis zum Äußersten vorangetrieben war: "Der Staat als Herrschaftsorganisation stand gewissermaßen in sich selbst, d. h. getragen von Königtum, Beamtentum und Heer, teilweise auch dem Adel, und war als solche von der durch das Bürgertum repräsentierten Gesellschaft organisatorisch und institutionell getrennt150 • " Zwei Konsequenzen, die die deutsche Staats- und Verfassungstheorie aus dieser Konstellation zieht, machen die Bedeutung dieser Sonderentwicklung für die folgenden Jahrzehnte bis in die Gegenwart aus. Zum einen kanonisiert die Lehre von der konstitutionellen Monarchie, wie sie die Staatslehre des 19. Jahrhunderts beherrscht, diese soziaIgeschichtliche Entwicklung zu einer verfassungsrechtlichen Ewigkeitsentscheidung: staatstheoretisch abgesichert durch den Gegensatz von monarchischem und parlamentarischem Prinzip, wird das Trennugstheorem zur magischen Formel eines historischen Kompromisses zwischen Königtum und Bürgertum überhöht, der die Grundlage der Verfassungsgebung im 19. Jahrhundert darstellt l51 und die Organisation des Gemeinwesens noch sehr viel länger, nämlich bis in die Gegenwart, strukturell und inhaltlich bis in einzelne Institute des Verwaltungsrechts hinein152 prägt. Zum anderen gewinnt der epochale Prozeß der Emanzipation des Individuums, der seit der Forderung nach Religionsfreiheit durch das Zeitalter der Aufklärung hindurch nunmehr zum allgemeinen Durchbruch gelangt war, in Deutschland eine spezifische Bedeutung: Die Staatszwecklehre der Aufklärung, die Proklamation der Freiheitsrechte in der Revolution von 1789 und die Befreiungsgesetzgebung von 1808 bis 1821 erscheinen für die Staatslehre der konstitutionellen Monarchie gleichsam als Vorläufer einer Lehre, die die Trennung von Staat und Gesellschaft als elementare Bedingung individueller und gesellschaftlicher Freiheit auffaßtt 53 • Notwendige Folge dieser Sicht ist eine enge Kopplung zwischen den Axiomen der Individualfreiheit und der Trennung von Staat und Gesellschaft, die schließlich gerade die Theoretiker 150 Böckenförde, Festschrift Hefermehl, S. 15; vgl. auch Angermann, S. 99 ff.; Preuß, Begriff, S. 84 f.; Bieback, S. 207 ff. 151 Vgl. dazu auch EUwein, Erbe der Monarchie, 1954, S. 101 ff., 228 ff., 260 ff.; v. Oertzen, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus, 1974, S. 72 ff. und passim. 152 Ossenbühl, Rundfunk, S. 18; vgl. etwa die Unterscheidung von Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften, dazu Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968, S. 53 und passim. 153 Vgl. Böckenförde, S. 13 f.
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2. Teil, III. Staat und Gesellschaft - ein Freiheitsproblem
des liberalen Rechtsstaates am entschiedensten veraniaßt, den Dualismus von Staat und Gesellschaft wegen seiner freiheitsgewährleistenden Bedeutung zum legitimierenden Prinzip der konstitutionellen Monarchie zu erheben164• Die Zusammenschau dieser sozial- und verfassungsgeschichtlichen Bedingtheit des Theorems der Trennung von Staat und Gesellschaft macht daher die Prämissen klar, unter denen die Behandlung des Problems von Staat und Gesellschaft zu sehen ist: ,Staat' und ,Gesellschaft' sind Organisationsformen des 17. und 18. Jahrhunderts, die sich durch die Jahrhunderte ständig weiter geformt und verändert haben i55 ; die Trennung von Staat und Gesellschaft stellt in diesem Ablauf nur eine, wenngleich bedeutende, Phase der gegenseitigen Zuordnung beider Sphären dar, Der sozial- und verfassungsgeschichtliche Rahmen, in dem das Trennungstheorem als gültiges Organisationsmodell angesehen werden konnte, hat sich durch den übergang in die moderne Industriegesellschaft und die Entwicklung des demokratischen und sozialen Rechtsstaats in so entscheidender Weise verändert, daß ,Staat' und ,Gesellschaft' als Begriffe wie auch als Relation problematisch geworden sind. Die Aufgabe der überprüfung und Neuformulierung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft wird sich daher die doppelte Frage stellen müssen, ob die Begriffe als solche noch aus soziologischer und verfassungsrechtlicher Sicht gleichermaßen als notwendig und fruchtbar angesehen werden können, und wie das Problem einer wechselseitigen Zuordnung beider Begriffe verfassungskonform und wirklichkeitsnah zugleich bewältigt werden kann.
164 Vgl. vor allem v. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, Bd. 1, 1921 (1959), S. 11 ff., insbes. S. 66 ff.; zur Lehre vom liberalen Rechtsstaat (v. Stein, v. Gneist, v. Mohl, Welcker, Bluntschli) Böcken!örde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1958, S. 145 ff., 178 ff. und (Hegel, v. Stein, v. Gneist, v. Mohl, Stahl, Schulze, Held, Bluntschli) Bieback, S. 231 ff., 288 ff. 155 Dazu auch Brunner, Land und Herrschaft, 4. Aufl. 1959, S. 111 ff. Vgl. ferner insbesondere zur Entwicklung des Begriffes ,Staat' Quaritsch, Staat und Souveränität, 1970, S. 26 ff.: Weynacht, Staat, 1968, passim, insbes. S. 216 ff., 242; - zur Entwicklung des Begriffes ,Gesellschaft' Brunner, in: Neue Wege der Sozialgeschichte, S. 80 (87 ff.); Riedel, ARSP 51 (1965), S. 291 ff. - Besonders deutlich die neueste Entwicklung im industriellen Zeitalter bei Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 14 ff.; daß und in welchem Umfang sich diese Konstellation der Trennung bereits im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, als das Trennungstheorem durch den Positivismus versteinert wurde, zu einer wachsenden Verschränkung fortentwickelt hatte, zeigt umfassend Bieback, S. 315 ff.
2. Die Verschmelzung von Staat und Gesellschaft - Alternativkonzeptionen 73
2. Versdunelzung von staat und Gesellschaft im industriellen Zeitalter - AIternativkonzeptionen des Gemeinwesens
Der politische und soziale Wandel, den der Prozeß der Industrialisierung und die Durchsetzung der Demokratie in Gang gebracht haben, hat in weiten Kreisen der Staatslehre und Politikwissenschaft zu einer entschiedenen Frontstellung gegen die ,Dualismustheorie' geführt: Staat und Gesellschaft seien in der als Demokratie organisierten Industriegesellschaft in doppelter Weise ,ineinandergefallen'; durch die gleichzeitige ,Vergesellschaftung des Staates' und ,Verstaatlichung der Gesellschaft' sei der Staat zur "Selbstorganisation der Gesellschaft"168 geworden157. a) Identität von Staat und Gesellschaft oder pluralistische Demokratie - zum Demokratieverständnis des Grundgesetzes
In der Politikwissenschaft wird insbesondere unter Berufung auf die demokratische und sozialstaatliche Durchformung des Grundgesetzes eine ,fundamentaldemokratische' Konzeption vertreten, die - von der gedanklichen Basis der Identität von Staat und Gesellschaft ausgehend - das gesamte Gemeinwesen nach einheitlichen Prinzipien ordnen und gestalten würde158. Diese Konzeption steht in ihrem Staats-, Gesellschafts- und Demokratieverständnis in der von Rousseau und den Jakobinern begründeten Tradition, die das kontinentaleuropäische politische Denken bis in die Gegenwart159 maßgeblich geprägt hat: der totale Staat als homogene und harmonische Gemeinschaft freier Bürger, in dem Regierende und Regierte identisch sind160. Sie ist daher durch den dreifachen Negativ158 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 5. Aufl. 1972, S. 8. 1&7 Vgl. etwa die im einzelnen unterschiedlichen, in der grundsätzlichen Aussage jedoch übereinstimmenden Positionen von Hesse, DÖV 1975, S. 437 ff.; Häberle, JuS 1967, S. 64 (66 f.); Ehmke, (2.) Festgabe Smend, 1962, S. 23 (25); Rinken, Das Öffentliche, S. 214 ff.; Lipphardt, Die Gleichheit der politischen Parteien vor der öffentlichen Gewalt, 1975, S. 526 ff., 530 ff., 551 ff.; Rüthers, Streik und Verfassung, 1960, S. 59 ff. - Aus der unübersehbaren politikwissenschaftlichen Lit. repräsentativ Bracher, PVS 9 (1968), S. 19 ff.; v. Krockow, ebd.; Preuß, S. 81 ff.; w. Nachw. bei Grebing, Konservative gegen die Demokratie, 1971, S. 116 Fn. 89; Böckenjörde, Unterscheidung, S. 7 Fn. 1. 158 Repräsentativ Abendroth, in: Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968, S. 114 (126 ff., 138 f.); Hartwich, Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher status quo, 1970, S. 348 ff.; v. Krockow, ebd.; w. Nachw. bei Grebing, ebd. und Böckenjörde, ebd. 151 Vgl. zu ,rechten' und ,linken' Demokratiekonzeptionen und ihrem gemeinsamen historischen Erbe Ritter, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1969, B 34, S. 3 ff.; Lenk, Wie demokratisch ist der Parlamentarismus?, 1972,
&K
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2. Teil, III. Staat und Gesellschaft - ein Freiheitsproblem
katalog der Ablehnung des parlamentarischen Regierungssystems, der pluralistischen Gesellschaftskonzeption und des individualistischen Menschenbildes, die diese Denktradition von den angelsächsischen Lehren trennen, beeinflußt: ausgerichtet am Leitbild der "nation une et indivisible" (Rousseau) leugnet sie die Legitimität widerstreitender Interessen und negiert die Bedeutung von Parteien und Verbänden im Prozeß der Interessenabgleichung durch Konflikt, Komprorniß und Konsens; vielmehr fordert sie den qualitativen Sprung von der ,volonte de tous' zur ,volonte generale', durch den der ,bourgeois', der noch den Partikularinteressen verhaftet ist, sich zu dem gemeinverpflichteten ,citoyen' wandeln SOll161. Das Staats- und Demokratieverständnis des Grundgesetzes ist demgegenüber eher von dem angelsächsischen Gedankengut geformt und geprägt162 ; nicht von ungefähr steht das demokratische Prinzip niemals isoliert als oberster Wert, sondern wird stets in den Zusammenhang der anderen Konstitutionsprinzipien des Grundgesetzes eingereiht ("demokratischer und sozialer Bundesstaat", Artikel 20 Absatz 1 GG; "republikanischer, demokratischer und sozialer Rechtsstaat", Artikel 28 Absatz 1 GG; "freiheitlich-demokratische Grundordnung", Artikel 10 Absatz 2, 11 Absatz 2, 18, 21 Absatz 2, 87 a Absatz 4, 91 GG). Der parlamentarisch-repräsentative und mehr noch der pluralistische Gedanke geben Staat und Demokratie des Grundgesetzes erst ihren spezifischen Gehalt1 63 • Nicht die Identität von Regierenden und Regierten, sondern Regierung durch vom Volk legitimierte Vertreter in der Bindung an die Verfassung und die eigene Verantwortung (Artikel 38 GG), nicht der qualitative Sprung von der ,volonte de tous' zur ,volonte generale', sondern die Dialektik von Differenzierung und Integration der Vielfalt von Interessen164 im freien und offenen Prozeß der Information und Kommunikation in Parteien und Verbänden165 sind deren typische Merk180 Dazu grundlegend Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, 3. Auf!. 1968, S. 165. 181 So repräsentativ für die beiden Strömungen earl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 82 ff.; ders., Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 3. Auf!. 1961, S. 30 ff., 62 f.; Agnoli, Die Transformation der Demokratie, 1967, S. 31 ff., 55 ff., 73 ff. - Dazu vor allem Fraenkel, Deutschland, S. 48 (60 ff.); 173 ff.; Ritter, S. 12 ff.; 1mb oden, Rousseau und die Demokratie, 1963, S. 24 f. 181 Vgl. etwa Kriele, VVDStRL 29 (1971), S. 46 (47 ff.). 183 Statt vieler Hesse, Grundzüge, S. 52 ff.; Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Auf!. 1967, S. 78 (93 ff.); Maunz / (Dürig / Herzog), GG, Art. 20 Rdnr. 29 ff.; v. Simson und Kriele, VVDStRL 29 (1971), S. 4 ff., 46ff. 1114 Fraenkel, S. 68. 1811 Vg!. auch Hesse, S. 55 ff., 65 ff.; Hollerbach, in: Ideologie und Recht, 1969, S. 37 (52); Leib holz, S. 137 ff.; Loewenstein, Verfassungslehre, 2. Auf!. 1969, S. 367 ff.
2. Die Verschmelzung von Staat und Gesellschaft - Alternativkonzeptionen 75
male. Im Spannungsbogen zwischen der sozialen Vielgestaltigkeit der Gesellschaft und der politischen Einheit des Staates166 lebt die Willensbildung und Willensdurchführung des Gemeinwesens von dem ständigen Gegensatz und der ständigen Auseinandersetzung der Interessen. Partikularinteresse und Gemeinwohl stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern werden durch den Kreislauf von Konflikt, Komprorniß und Konsens 167 ständig vermittelt; Konflikt, Komprorniß und Konsens sind nicht Schwächesymptome, sondern Organisationsprinzipien einer demokratischen Ordnung, die das Gemeinwohl nicht inhaltlich apriori den Partikularinteressen gegenüberstellt, sondern prozessual aus diesen aposteriori ermitteW 68 • Die Dynamik des demokratischen Prinzips ist allerdings eingebunden in rechtsstaatliche und grundrechtliche Sicherungen, die durch die Unabänderlichkeitsklausel (Artikel 79 Absatz 3 GG) besonders geschützt sind. Das Rechtsstaatsprinzip gewährleistet in der Gewaltenteilung eine strukturelle und funktionale Ordnung des Staates, die nicht durch die uneingeschränkte Volkssouveränität, sondern durch ein sorgfältig ausgewogenes System von ,checks and balances' charakterisiert ist, welches zwar einem Wandel unterworfen ist, wobei jedoch das Gleichgewicht jeweils neu austariert werden muß, wie neue re Machtverschiebungen zwischen Exekutive, Legislative und Judikative durch die Entwicklung der Kanzlerdemokratie und die Schaffung des Bundesverfassungsgerichts gezeigt haben169 • Die Grundrechte sichern gegenüber dem staatlichen Zugriff Räume individueller Freiheit; insbesondere Artikel 1 Absatz 3 GG verhindert jede Uminterpretation aus ihrer gegenwärtigen Abwehrfunktion in bloße, unter einem Gemeinwohlvorbehalt stehende Mitgliedschaftsrechte 170, wie sie der mit der Gesellschaft identische Staat allein anerkennen kann, da diese Grundnorm des gesamten Grundrechtsteils die Unterscheidung des Bereichs ,öffentlicher Gewalt' von dem Bereich individueller Freiheit gerade voraussetztl7l •
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1972.
Vgl. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 1968, S. 150 ff. Dazu vor allem Narr, Pluralistische Gesellschaft, 1969, S. 27 ff. Vgl. auch Fraenkel, S. 165 ff.; ferner Dahrendorj, Konflikt und Freiheit,
189 Zu den Gewichtsverschiebungen zwischen Legislative und Exekutive umfassend H. P. Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1973, S. 5 ff. und passim; Kewenig, Staatsrechtliche Probleme parlamentarischer Mitregierung am Beispiel der Arbeit der Bundestagsausschüsse, 1970, S. 16 ff. 170 _ wie etwa bei der demokratisch-funktionalen Grundrechtsinterpretation, überblick bei H. H. Klein, Grundrechte im demokratischen Staat, 1972, S. 12 ff., 18 ff., 29 ff.; Böckenjörde, NJW 1974, S. 1529 (1534 f.); vgl. auch unten S. 107 f. 171 So auch Isensee, S. 153, 155.
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2. Teil, II!. Staat und Gesellschaft - ein Freiheitsproblem
Diese Grenzen des demokratischen Prinzips werden vor allem deutlich in der ,Demokratisierungs'-Debatte, die über die These, daß aus dem Demokratie- und Sozialstaatsprinzip das Gebot der demokratischen Gestaltung aller gesellschaftlichen Lebensbereiche herzuleiten seim, in Gang gekommen ist173• Die Analyse des Grundgesetzes ergibt hier lediglich die Geltung des Demokratieprinzips im staatlichen Bereich; nur soweit gesellschaftliche Bereiche eine besondere Bedeutung für die staatliche Willensbildung haben, wie zum Beispiel die Parteien, sind auch sie demokratischen Regeln besonders unterworfen (Artikel 21 Absatz 1 Satz 3 GG). Hingegen gilt für gesellschaftliche Bereiche, handle es sich um die Familie, um den Verein, um den Betrieb oder die Schule, in erster Linie die jeweilige Sachgesetzlichkeit, die durch die Grundrechte verfassungsrechtlich verbürgt und gesichert ist: ebenso wie die Willensbildung im staatlichen Bereich demokratisch erfolgen muß, können im gesellschaftlichen Bereich andere Gesichtspunkte, die sich aus der Autonomie der jeweiligen Sachaufgabe herleiten, wie etwa das Leistungsprinzip, maßgebend sein174• Die Instrumentalisierung des Sozialstaatsprinzips als Verweisungsnorm auf die gesellschaftlichen Lebensbereiche175 kann diese Lücke des Grundgesetzes nicht schließen. Zwar ist der Sozialstaatsgedanke gewiß Ausdruck der Abkehr des Grundgesetzes von der Trennung von Staat und Gesellschaft178• Doch ergibt sich dies bereits aus seinem Charakter als Zielbestimmung staatlichen Handeins, die ein weitgehendes staatliches Engagement in der Daseinsvorsorge fordert. über den dabei einzuschlagenden Weg enthält das Prinzip keine Aussagen177 ; entsprechende Kompetenzbestimmungen oder andere Konkretisierungen, wie sie etwa dem Rechtsstaatsprinzip zugeordnet sind, sind aus dem Grundgesetz nicht zu ersehen. Daher liegt die Folgerung nahe, das Sozialstaatsprinzip nicht aus dem weiteren Wortsinn ,gesellschaftlich', sondern aus der engeren, der deutschen Gesetzgebungstradition entsprechenden Bedeutung ,wohlfahrtsfördernd' heraus zu verstehen l78 • Zudem würde eine so weitgehende Ausdehnung des Demokratie- und des Sozialstaatsprinzips nicht nur das Rechtsstaatsprinzip und die Grundrechte zu bloßen Formvorschriften reduzieren, sondern würde auch das Demokratieprinzip selbst zerstören. Denn es wäre abzusehen, daß alsbald das Argument der ,demokratischen' Entscheidung des einzelnen Lebensbereichs 17! Dazu grundlegend Abendroth, ebd.; Hartwich, ebd.; Habermas, Strukturwandel, S. 242 ff.; Nitsch / Gerhardt / Qffe / Preuß, Hochschule in der Demokratie, 1965, S. 189 ff.; w. Nachw. bei Böckenförde, Festschrift Hefermehl, S. 21 Fn. 35. 173 überblick in der Sammlung: Demokratisierung in Staat und Gesellschaft, 1973; grundlegende Gegenpositionen hier die Beiträge von W. Brandt (S. 45 f.) und W. Hennis (S. 47 ff.). 174 Vgl. auch Rupp, NJW 1972, S. 1537 (1542). 175 So Abendroth, ebd.; Hartwich, ebd.; Ridder, Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften im Sozialstaat nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1960, S. 3 ff., 16 ff. ("Sozialstaatsgebot in einer dritten Dimension"). 178 Statt vieler Böckenförde, Festschrift Hefermehl, S. 24 ff. 177 So auch BVerfGE 22, S. 180 (204): "Art. 20 Abs. 1 GG bestimmt nur das ,Was', das Ziel, die gerechte Sozialordnung; er läßt aber für das ,Wie', d. h. für die Erreichung des Ziels, alle Wege offen." 178 Zum Bedeutungsgehalt des Begriffes ,sozial' auch unten S. 124.
2. Die Verschmelzung von Staat und Gesellschaft -
Alternativkonzeptionen 77
benutzt würde, um - wie das Beispiel der ,demokratisierten' Universität zeigt - die Geltung der staatlichen Gesetzgebung und ihre Durchführung durch die staatlichen Organe selbst zu verhindern. Die Parzellierung des Demokratieprinzips bereitet damit der Auflösung der Demokratie den Weg179 •
b) Die ,öffentliche' Verfassungsordnung Aufhebung von Staat und Gesellschaft als Bezugsrahmen des Gemeinwesens?
In der Staatsrechtslehre gewinnt gegenwärtig eine Theorie des Gemeinwesens zunehmend Anklang, die das ,Öffentliche' zum Zentralbegriff der politischen Ordnung erhebt. Das Ziel dieser Theorie ist es, durch ein normatives Verständnis des ,Öffentlichen' über die bisherige Alternative der dualistischen FrontsteIlung oder der monistischen Verschmelzung von Staat und Gesellschaft hinauszugelangen zu einem System "gestufter Bereiche, die zwischen den Polen des Staatlich-Hoheitlichen und des Privat-Intimen sich erstrecken mit einer ausgedehnten Mittelzone öffentlich-privater Koordination und Kooperation"18o. Dieser Rückgriff auf das ,Öffentliche' kommt nicht ganz unvermittelt. Noch
1960 als "juristische Entdeckung"181 gefeiert, hat das Öffentliche inzwischen
im Problemkreis Staat - Gesellschaft eine wachsende Bedeutung gewonnen, die durch die Schlagworte ,öffentlicher Status' und ,öffentliche Aufgabe', welche den Prozeß des Vordringens der Verbände aus der einstigen Sphäre privater Unbeachtlichkeit182 und der Expansion der Aufgaben des Gemeinwesens über die klassischen Ressorts hinaus l83 zugleich beschrieben, qualifiziert und legitimiert haben, nur grob umrissen ist. Die vielfältigen Wurzeln dieser Entwicklung werden gerade am Standort der Wohlfahrtsverbände gegenüber dem Sozialstaat deutlich, wo die Lage im Ausstrahlungsfeld der Problemkreise des öffentlich-rechtlichen Status und ,Öffentlichkeitsauftrages' der Kirchen, der ,öffentlichen Bedeutung' der Verbände und der Erfüllung ,öffentlicher Aufgaben' durch Private l84 bereits seit dem Verfassungsstreit 178 Vgl. auch Böckenförde, Festschrift Hefermehl, S. 24 ff.; Hennis, Demokratisierung, 1970, S. 22 ff.; H. H. KLein, (2.) Festschrift Forsthoff, 1972, S. 165 (170 ff.); Hättich, Demokratie als Herrschaftsordnung, S. 49 ff. 180 Rinken, Das Öffentliche, S. 294. 181 Arndt, NJW 1960, S. 423. 182 Aus der Lit. insbes. Kaiser, Repräsentation organisierter Interessen, 1956; LeibhoLz und WinkLer, VVDStRL 24 (1966), S. 5 ff., 34 ff.; Wittkämper, Grundgesetz und Interessenverbände, 1963; Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, 1969, S. 118 ff.; DagtogLou, Der Private in der Verwaltung als Fachmann und Interessenvertreter, 1964; Hirsch, Die öffentlichen Funktionen der Gewerkschaften, 1966; umfassende Literaturübersicht bei v. Beyme, Interessengruppen in der Demokratie, 1969. 183 Vgl. statt vieler EHwein / ZoH, Zur Entwicklung der öffentlichen Aufgaben in der Bundesrepublik Deutschland, 1973, S. 203 ff.; zu den Problemen auch die Vorträge (Schmölders, Wagener) und die Diskussion, in: ÖffentLiche Aufgaben in der parlamentarischen Demokratie, 11. Cappenberger Gespräch, 1975.
184 Dazu eingehend Rinken, S. 98 ff.
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2. Teil, IH. Staat und Gesellschaft - ein Freiheitsproblem
um die Sozialgesetze von 1961185 zu einer breiten Skala von Meinungen Anlaß gegeben hat1 8o. Allerdings ist die Rezeption des ,Öffentlichen' in dieser neuen Lehre durch eine bedeutsame Wende geprägt: War der ,öffentliche Bereich' ursprünglich als soziologische Beschreibung187 angesehen worden, die zwar als Leitlinie der gesetzgeberischen Gestaltung und der richterlichen Auslegung zu dienen vermoehte, nicht jedoch aus sich heraus zwingende und allgemeine Rechtsfolgen begründen konnte188, so hat das ,Öffentliche' nunmehr auch eine materiale Qualität, die durch die Aufhebung der Dichotomie von öffentlichem und privatem Recht in ein ,Gemeinrecht'18t, welches die Rechtsbeziehungen in dem modernen, aus der überwindung der Dualität Staat - Gesellschaft entstandenen ,Gemeinwesen' regeln soll190, normative Geltung gewinntltl. Die praktische Konsequenz dieses materialen Verständnisses für das gegenwärtige Ordnungssystem folgt aus dessen normativer Zielsetzung: 185 Vgl. dazu (seitens der Wissenschaft) Bender, DVBl. 1963, S. 87 (88); Köttgen, DOV 1961, S. 1 (3); ders., ZevKR 11 (1964/65), S. 225 ff. (240 ff.); Lerche, Verfassungsfragen, S. 30 f., 34; Ridder, Rechtsgutachten, S. 25; Zacher, Freiheit, S. 57; Flamm, BldW 1967, S. 401 (403 r. Sp.); (seitens der Verbände) Kessels / Klein / Kröner / Reisch, Caritas und kommunale Wohlfahrtspflege, S. 32, 62; Klein / Kessels, JuWo 1964, S. 43 ff. (50); Collmer, Beiträge zum Verfassungsstreit, 1963, S. 7 (16, 27). 186 überblick über den Diskussionsstand, in: Essener Gespr. 8 (1974), insbes. Vortrag von Scheuner (S. 55 f., 65). 187 So etwa Scheuner, Art. ,Staat', HDW 12 (1965), S. 653 (660); ders., Lutherische Monatshefte 12 (1973), S. 76 (77 f.); Mikat, in: Staatsbürger und Staatsgewalt, Bd. H, 1963, S. 315 (322 ff.); H. Weber, Religionsgemeinschaften, S. 73 ff.; W. Weber, DVBl. 1969, S. 413 (417); Krüger, Staatslehre, S. 346 ff.; überblick bei Martens, Öffentlich, S. 19; Brohm, Strukturen, S. 150 ff.; Lorenz, Rechtsschutz, S. 93 ff.; Mronz, Körperschaften und Zwangsmitgliedschaft, 1973, S. 80 f. 188 Vgl. vor allem Forsthoff, Der Verfassungsschutz der Zeitungspresse, 1969, S. 20 f.; DÖV 1963, S. 633 ff.; ferner auch Kaiser, Repräsentation, S. 353 ff., 355; H. H. Klein, DÖV 1965, S. 755 ff.; Peters, Festschrift Nipperdey, Bd. H, 1965, insbes. S. 878; H. Weber, Religionsgemeinschaften, S. 63 ff., 73 ff.; Dagtoglou, Der Private, S. 27 ff. - Auch in neuerer Zeit ist diese Auffassung noch herrschend, vgl. etwa Martens, S. 42 ff., 123 ff.; Schotz, Koalitionsfreiheit, S. 205 ff., 210 ff.; Lorenz, ebd.; Brohm, S. 151 ff.; Scheuner, Essener Gespr. 8, S. 55 f., 65; Böckenförde, Festschrift Hefermehl, S. 22 ff. 189 Dazu erstmals Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht, 1968, insbes. S. 73 f., 75 ff.; nunmehr auch Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 27, 718; Rinken, S. 282 ff. 190 Dazu insbes. Preuß, S. 81 ff., 161 ff.; Rinken, S. 226 ff. 191 Vgl. vor allem die Arbeiten von Häberle, Interesse, S. 708 ff.; ders., ZfP 16 (1969), S. 273; ders., Politische Bildung, 1970 H. 3, S. 3; Rinken, S. 214 ff.; Preuß, Begriff, S. 73 ff., 161 ff.; Lipphardt, Gleichheit, S. 556 ff.; Scheffler, Staat und Kirche, 2. Aufl. 1973, S. 195 ff., 204 ff. - Für das normative Verständnis des ,Öffentlichen' sind darüber hinaus von Bedeutung die früheren Arbeiten von H. Weber, Die Religionsgemeinschaften des öffentlichen Rechts im System des Grundgesetzes, 1966, S. 63 ff.; Conrad, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, 1964, S. 77 ff.; Scholler, Person und Öffentlichkeit, 1967, S. 74 f., 125 ff., 337 ff.; Altmann, Das Problem des Öffentlichen und seine Bedeutung für die moderne Demokratie, Diss. phil. Marburg 1954; Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 5. Aufl. 1971.
2. Die Verschmelzung von Staat und Gesellschaft - Alternativkonzeptionen 79 Da nach der Aufhebung der Schranke zwischen Staat und Gesellschaft die dogmatische Basis der Grundrechte und des Gesetzesvorbehalts aus den Angeln gehoben ist, ist nunmehr jedes soziale Verhalten ein ,öffentlicher' Vorgang, der per se einerseits eine besondere Legitimation im Gemeinwesen beansprucht, andererseits aber auch der Regelungsgewalt des Gemeinwesens in erhöhtem Maße unterliegt. Damit steht zu befürchten, daß das ,Öffentliche' Legitimationsbasis eines modernen Systems von Privilegien und Sonderbindungen wird, aus dem Förderungsund Anerkennungsansprüche ebenso wie Regelungs- und Kontrollrechte abgeleitet werden können. Diese Argumentationskette, deren Problematik an anderer Stelle - am Beispiel der ,öffentlichen Aufgabe' der Presse - noch zu besprechen sein wird192 , läßt sich in ihren Ansätzen auch im Sachbereich ,Wohlfahrtspflege' deutlich verfolgen: Im Gegensatz zu der Auffassung von Kaiser und Klein, die den ,öffentlichen Status' und die Erfüllung ,öffentlicher Aufgaben' allenfalls als Hilfsargument heranziehen wollenl93 , erhebt Rinken in seiner umfassenden Untersuchung die ,öffentliche' Funktion der Wohlfahrtspflege zum Schlüsselbegriff der gesamten Problemdiskussionl94 • Der Begriff des .Öffentlichen' wird von ihm, aber auch von einer insbesondere in den Verbänden verbreiteten Auffassung, herangezogen, um einerseits die Privilegierung der Wohlfahrtsverbände im Sammlungs- und Steuerrecht195 und den Anspruch auf staatliche Förderung196 sowie ein Gebot planvoller Zusammeuarbeit zwischen Staat und Wohlfahrtsverbänden197 zu rechtfertigen; andererseits soll die Erfüllung ,öffentlicher Aufgaben' auch die Einbeziehung in die staatliche Planungl98 , die Unterwerfung unter gesetzliche Strukturregelungen199 und die Unterstellung unter die staatliche Aufsicht200 legitimieren. Das ,Öffentliche' kann verfassungsrechtliche Legitimität aber nur beanspruchen, soweit es eine Verfassungsdogmatik zu begründen vermag, die zugleich den Anforderungen der sozialen Wirklichkeit und des Grundgesetzes entspricht. Das staatstheoretische Problemfeld, das einst Rudolf Smend abgesteckt hat, (1) Öffentlichkeit als "faktische Öffentlichkeit im Sinne des Offenbarseins, der Zugänglichkeit zu den Bereichen von allgemeinem Interesse", (2) Öffentlichkeit als "Träger dieses öffentlichen Lebens, das Publikum, die personifizierte Öffentlichkeit", 192 Unten S. 165 f.; vgl. auch Böckenförde, Festschrift Hefermehl, S. 22 f.; Schlaich, Neutralität, S. 224 m. w. N. 193 Kaiser, Festschrift Scheuner, S. 247; H. H. Klein, DV 6 (1973), S. 239 ff. 194
S. 298 ff.
Ehrlich, S. 106 f., 210; Dörrie, DPWV-Nachrichten 1974, S. 107 (109). Flamm, Neuordnung, Nr. 72; Stauss, DPWV-Nachrichten 1973, S. 172; Bischof, IM 62 (1972), S. 547 (556); Collmer, NDV 1960, S. 372 (376). 197 Scheuner, Essener Gespr. 8 (1974), S. 43 (56); Dörrie, ebd.; Bischof, ebd. 198 Rinken, Das Öffentliche, S. 306; Schlaich, Essener Gespr. 8 (1974), S. 75. 199 Rinken, in: HdbStKirchR 11, 1975, S. 345 (348). 195
196
200 Leitsätze zur Legitimation, Finanzierung und Bedeutung freier Wohlfahrtspflege, DPWV-Nachrichten 1971, S. 145.
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2. Teil, III. Staat und Gesellschaft - ein Freiheitsproblem
(3) Öffentlichkeit als "eigentlichstes aufgegebenes Wesen moderner Staatlichkeit"201, bedarf der verfassungsrechtlichen Aufarbeitung; das Öffentliche muß seinem Anspruch gerecht werden, das Verhältnis zu beschreiben, das "nach der Rechtsverfassung des Bonner Grundgesetzes, die auch Gesellschaftsverfassung werden will, zwischen Staat und Gesellschaft entsteht"202. Dieses Bemühen, die Verfassung selbst zur Legitimationsquelle des ,Öffentlichen' zu erheben, sie auf ihre Öffentlichkeitsgehalte zu befragen, um sie in ihren "organisatorischen, prozessualen, funktionellen und sachlichen Öffentlichkeitsaussagen effektiv zu machen"203, ist vor allem mit den Namen Häberle und Rinken verknüpft. Häberle sieht in den ,Öffentlichen' das "demokratische Rechtsprinzip der Verfassung", das "bis in juristische Auslegungsfragen im einzelnen hinein" zur Geltung kommen müsse2°'. Unter dem Postulat, die Institute des Verfassungsstaates seien der Idee nach immer neue Versuche, Öffentlichkeit juristisch wirklich zu machen206, sucht er das "verfassungstheoretische Öffentlichkeitsdefizit"2oe in allen Bereichen des Gemeinwesens auszuloten, um dem Anspruch einer "öffentlichen Verfassung"207 gerecht zu werden. Das ,Öffentliche' ist daher für Häberle trotz aller Konkretisierung im Detail ein vielschichtiger Begriff, der einerseits als formales Prinzip - "Publizität als Rechtsgebot"20B -, zum anderen als materiale Zielsetzung - "staatliche Funktionen als Gemeinwohl-Funktionen"2oD, schließlich aber auch als normativer Wertbegriff - "eigentlichstes aufgegebenes Wesen moderner Staatlichkeit"210 - verstanden wird. Rinken setzt an bei einer Gesamtschau des Grundgesetzes als der normativen, spezifisch öffentlichen Grundordnung des politischen Gemeinwesens, in dem sich die "Antinomien des Verfassungsauftrages - Rechtsstaat - Demokratie ... zu einer zwar nicht logisch-systematischen, aber praktisch-dynamischen Einheit fügen"211. Von dieser These ausgehend ordnet er die - von ihm im Anschluß an Smend aufgezeigten - Aspekte ,Öffentlichkeit', das ,Öffentliche', ,Publizität', ein in den "öffentlichen, von der freiheitlichen Verfassung grundgelegten Prozeß". Im Ergebnis gelangt er so zu einer "dynamischen Trias des Öffentlichen"212, dessen Träger die Öffentlichkeit als "normativer Anspruch, plurale Struktur, geschichtliche Dimension 201 Gedächtnisschrift W. Jellinek, 1955, S. 11 (14, 16 f.); vgl. ferner ZevKR 1 (1951), S. 4 (13). 202 Arndt, NJW 1960, S. 423. Ihm folgend Conrad, S. 77; Preuß, S. 80; vgl. auch Häberte, S. 718 ff. und passim; ders., Politische Bildung 1970, H. 3, S. 7 ff.; Rinken, S. 214 ff., 248 ff. 203 Häberte, ZfP 16, S. 276. 204 S. 275; ders., Politische Bildung 1970, H. 3, S. 9. 206 S.282. Z06 S. 274; Politische Bildung 1970, H. 3, S. 6. 107 S.276. 20B Politische Bildung 1970, H. 3, S. 11. 208 Ebd. 210 S. 9. 111 Das Öffentliche, S. 224 f. 111 S.267.
2. Die Verschmelzung von Staat und Gesellschaft - Alternativkonzeptionen 81 und konkrete Verfaßtheit" des Volkes213, dessen Ziel das Gemeinwohl als konkrete gute Ordnung sowie als Reflexionsgebot21 4, dessen Ordnungsmaxime der "öffentliche Verfassungsprozeß" sein sollen215 •
Die relativ abstrakten Aussagen von Häberle und Rinken machen die Schwierigkeiten deutlich, die die normative Aufwertung des verfassungsrechtlichen Arbeitsbegriffs (Ossenbühl) zu einem auf der Ebene der Verfassung angesiedelten Rechtsbegriff aufwirft. Die semantische Vielschichtigkeit des Wortes ,öffentlich', die in der sprachgeschichtlichen Herkunft und Entwicklung aus der Verwobenheit des germanischen ,gemein', des lateinischen ,publicus' und des griechischen ,koinos' ihre Wurzel hat216, hat eine Vieldimensionalität des Begriffs des ,Öffentlichen' in der Staatslehre bewirkt, dessen Rezeption in verschiedenen Epochen jeweils von dem herrschenden Staatsverständnis beeinflußt gewesen ist. War dereinst das Theorem der Trennung von Staat und Gesellschaft von dem Prozeß einer ,Verstaatlichung' des Öffentlichen begleitet, ist daher nunmehr die Auflösung des Dualismus durch den Versuch geprägt, alle Bedeutungsschichten gleichermaßen zurückzugewinnen mit dem Ziel, das Öffentliche nunmehr als einen auf das Gemeinwesen in seiner Gesamtheit gemünzten Begriff zu interpretieren und zu konkretisieren217 • Das Öffentliche gewinnt durch dieses Zusammenwirken seiner verschiedenen Bedeutungsgehalte (sozialempirische Beschreibung, soziologischer Befund, materialer Wertmaßstab) in der Trias Publizität - öffentliche Bedeutung - Gemeinwohl im modernen Gemeinwesen eine hohe verfassungstheoretische Relevanz: es "sprengt das räumliche, segmentierende, statische Denken"218 des Trennungstheorems und formt das Bezugssystem der mannigfaltigen Wechselwirkungen zwischen ,Staat' und ,Gesellschaft'. Staat und Gesellschaft stehen nicht mehr beziehungslos nebeneinander, sondern werden durch das ,Öffentliche' gleichsam einander vermittelt219 und zugleich in die Einheit des Gemeinwesens integriert22o . Die Vieldeutigkeit des ÖffentS. 249 ff. S. 257 ff. 215 S. 261 ff. 216 Vgl. dazu Kirchner, Beiträge zur Geschichte der Entstehung der Begriffe ,Öffentlich' und ,öffentliches Recht', Diss. Göttingen 1949, S. 25 ff.; Martens, S. 22 ff.; Marcic, in: Richter und Journalisten, 1965, S. 153 ff.; ders., Festschrift Arndt, 1969, S. 267 ff. 217 Vgl. etwa Smend, ZevKR 1 (1951), S. 13 f.; ders., Gedächtnisschrift J ellinek, insbes. S. 17 f.; Marcic, insbes. Festschrift Arndt, S. 281 ff.; Scholler, S. 74 ff.; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 195 ff., 202 ff.; Altmann, Problem, passim; Habermas, Strukturwandel, insbes. S. 263 ff.; Häberle, Politische Bildung 1970, H. 3, S. 3 ff.; Rinken, S. 214 ff. tlS Schlaich, HdbStKirchR II, 1975, S. 231 (238). 219 Vgl. auch Schlaich, ebd. tZO Dazu auch Scholz, S. 198 f.