Spuren eines Dritten Kinos: Zu Ästhetik, Politik und Ökonomie des World Cinema [1. Aufl.] 9783839420614

Das aktuelle Filmschaffen aus Nigeria, Algerien/Frankreich, Brasilien, China und den Philippinen knüpft in je unterschie

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German Pages 282 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
I. PRODUKTION, DISTRIBUTION, ARCHIV
Das Dritte Kino im Archiv
»Deplatziertheit auf vielen Ebenen«. Jan Künemund im Gespräch
II. CHINA
Walking With. Eine Geschichtsschreibung der Gegenwart. Zu den Filmen von Wang Bing
Speaking bitterness im Kino.Zu Poetik und Historiographie des Wehklagens in DR. MA’S COUNTRY CLINIC von Cong Feng
Kontraintuitiver Möglichkeitssinn. Die Gründungsgeschichte des Distributionslabels dGenerate films
III. NOLLYWOOD
Afrikanisches Kino und Nollywood. Widersprüche
Die Wiederverzauberung der Welt. Zu Tunde Kelanis Dorffilmen
»Der nigerianische Filmemacher ist ein Realist«. Tunde Kelani im Gespräch
IV. PHILIPPINEN
Schichtungen defizitärer Bilder. Anmerkungen zu einigen Filmen von Khavn, Lav Diaz und Raya Martin
Auto-Depräsentation. Raya Martins Spiel mit der politique des auteurs
Licht- und Schattenspiele in der innertropischen Konvergenzzone
V. BRASILIEN
Krieg eines einzelnen Mannes. José Padilhas konzeptuelle Nationalkinematografie
Für eine Filmpoetik des Scheiterns. Eine Überblendung von Cinema Novo und Retomada
Mythos, Müll und Marginalia. José Mojica Marins, Prophet von Brasiliens Neuem Kino
Filmografie
Literatur
Autoren
Index
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Spuren eines Dritten Kinos: Zu Ästhetik, Politik und Ökonomie des World Cinema [1. Aufl.]
 9783839420614

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Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky, Fabian Tietke, Cecilia Valenti (Hg.) Spuren eines Dritten Kinos

Film

Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky, Fabian Tietke, Cecilia Valenti (Hg.)

Spuren eines Dritten Kinos Zu Ästhetik, Politik und Ökonomie des World Cinema

Dieser Band entstand im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« an der Freien Universität Berlin und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Still aus dem Film »Dernier Maquis« von Rabah Ameur-Zaïmeche, © Urban Distribution International Lektorat: die Herausgeber Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2061-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Spuren eines Dritten Kinos Einführung der Herausgeber Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky, Fabian Tietke, Cecilia Valenti | 9

I. P RODUK TION , D ISTRIBUTION , A RCHIV Das Dritte Kino im Archiv Fabian Tietke | 23

»Deplatziertheit auf vielen Ebenen« Jan Künemund im Gespräch | 41

II. C HINA Walking With. Eine Geschichtsschreibung der Gegenwart Zu den Filmen von Wang Bing Simon Rothöhler | 51

Speaking bitterness im Kino Zu Poetik und Historiographie des Wehklagens in D R . M A’S C OUNTRY C LINIC von Cong Feng Elena Meilicke | 69

Kontraintuitiver Möglichkeitssinn Die Gründungsgeschichte des Distributionslabels dGenerate films Kevin B. Lee | 79

III. N OLLYWOOD Afrikanisches Kino und Nollywood Widersprüche Jonathan Haynes | 89

Die Wiederverzauberung der Welt Zu Tunde Kelanis Dorffilmen Nikolaus Perneczky | 107

»Der nigerianische Filmemacher ist ein Realist« Tunde Kelani im Gespräch | 127

IV. P HILIPPINEN Schichtungen defizitärer Bilder Anmerkungen zu einigen Filmen von Khavn, Lav Diaz und Raya Martin Lukas Foerster | 137

Auto-Depräsentation Raya Martins Spiel mit der politique des auteurs Maximilian Linz | 159

Licht- und Schattenspiele in der innertropischen Konvergenzzone Axel Estein | 167

V. B RASILIEN Krieg eines einzelnen Mannes José Padilhas konzeptuelle Nationalkinematografie Bert Rebhandl | 205

Für eine Filmpoetik des Scheiterns Eine Überblendung von Cinema Novo und Retomada Cecilia Valenti | 215

Mythos, Müll und Marginalia José Mojica Marins, Prophet von Brasiliens Neuem Kino Christoph Huber | 235

Filmografie | 243 Literatur | 253 Autoren | 261 Index | 265

Spuren eines Dritten Kinos Einführung der Herausgeber Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky, Fabian Tietke, Cecilia Valenti

Obwohl zwischen Joaquim Pedro de Andrades Cat Skin (Couro de Gato, 1962)1 und Jia Zhang-kes La Condition Canine (⢫ⱘ⢊‫މ‬, 2001) geografisch und historisch Welten liegen, formulieren beide Filme denselben Universalanspruch auf Gerechtigkeit. In de Andrades Kurzspielfilm aus der ersten Phase des Cinema Novo sind es Katzen, in Jias dokumentarischer Miniatur von der Jahrtausendwende Hunde, deren Unterwerfung zur Allegorie der beherrschenden Verhältnisse gerät. Hier hören die Ähnlichkeiten aber auch schon wieder auf. Während Cat Skin seinen politischen Auftrag ans Medium des Erzählkinos und genauer an die quasi-neorealistische Figur eines kleinen Jungen bindet, dessen Mitgefühl den finalen Tod der Katze – sie wird ihrer Haut wegen gejagt und umgebracht – zur sozialkritischen Pathosformel erhebt, verschreibt sich Jia Zhang-kes Hundevideo einer gänzlich anderen Logik. Wir sind Zeuge, wie ein Wurf von Welpen in einen Sack gesteckt und der Sack zugeschnürt wird. Es folgt ein Panoramaschwenk längs des Straßenmarktes, wo Händler die Tiere zum Verkauf anbieten. Statt der Verkäufer sehen wir zunächst, da die Kamera sich in etwa auf Kniehöhe befindet, nur ihre ausgewachsenen Hunde. Deren lautes Bellen übertönt das kaum noch vernehmliche Winseln der abgepackten Welpen. Das Ende der Seitwärtsbewegung markiert ein abrupter Stopp, gefolgt von einem mechanisch anmutenden Aufwärtstilt, der uns von der erdnahen Welt der Köter zum erhabenen Reich ihrer Besitzer führt, gesellschaftliche Strukturen in eine strukturanalytische Bild- und Bewegungsfolge übersetzend, an der nichts Narratives mehr haftet. Zuletzt steht anstelle des pathetischen Märtyrertods, den die Katze des Dritten Kinos erlitt, der so beiläufige wie kontingente Triumph des Hundes der Gegenwart: Eine unbewegte, lang gehaltene Einstellung (die man unverändert auf You1 | Filme werden mit dem englischen Verleihtitel notiert (wenn vorhanden), gefolgt vom Produktionsjahr in runden Klammern. Bei Erstnennung steht im Klammerausdruck vor der Jahreszahl auch der Originaltitel.

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Tube einstellen könnte), worin einer der Welpen sich nach und nach durch den Sackstoff beißt, bis – immerhin – seine Schnauze aus der Gefangenschaft hervorragt, verspricht einen kleinen Sieg für den Hund, aber kein Ende für das hundegleiche Los der Menschheit. Der vorliegende Band ist im Anschluss an die von den Herausgebern kuratierte gleichnamige Filmreihe entstanden, die im Juni 2010, parallel zur Fußballweltmeisterschaft in Südafrika, im Berliner Zeughauskino zu sehen war – und die ihrerseits die Fortführung einer (am selben Ort, aber in etwas anderer personeller Konstellation kuratierten) älteren Filmreihe zum historischen Dritten Kino war (»Revolutionen aus dem Off«, April/Mai 2009). Vorgeführt wurden insgesamt 31 Produktionen aus Brasilien, China, Frankreich/Algerien, Nigeria und den Philippinen, die zwischen 1999 und 2009 entstanden sind und die – das war zumindest unsere Ausgangsidee – den gegenwärtigen Stand einer gewissen Idee von politischem Kino abbilden sollten. Der vorliegende Band greift zwar die nationalkinematografischen Schwerpunkte der damaligen Auswahl noch einmal auf, versteht sich jedoch nicht als nachgelieferter Katalog zur Filmreihe. Eher ist er entstanden als Reaktion auf die Reihe und auf unsere fortgesetzte Auseinandersetzung mit der Geschichte des historischen Dritten Kinos; als Reaktion auf die Wahrnehmung einer diskursiven Leerstelle. Die vielleicht schwerwiegendste Differenz, die man heute ausmachen kann zwischen dem historischen Dritten Kino und dem gegenwärtigen politischen Filmschaffen im Umfeld des so genannten »World Cinema« ist nicht in den Filmen selbst zu suchen, sondern in ihrer Rahmung: Das politische Kino der Gegenwart ist nicht mehr auf dieselbe Art und vielleicht auch nicht mehr im selben Maß wie das der Vergangenheit eingebettet in soziale und diskursive Praxis. Nun kann ein einzelnes Buch genauso wenig einen umfassenden Diskurs ersetzen, wie eine Filmreihe zum hinreichenden Substitut für soziale Praxis taugt. Wir glauben jedoch, dass Filmreihe wie Buch gerade in ihrer historiografischen Dimension in der Lage sind, einigen spezifischeren Fragen zum Politischen im Kino und in der Filmgeschichte wieder zu etwas mehr Sichtbarkeit zu verhelfen. Haben sich das historische Dritte Kino, in dessen Einzugsgebiet de Andrades politische Katzenfabel zu verorten wäre, und das World Cinema der Gegenwart noch etwas zu sagen? Sind die politischen Auseinandersetzungen und ästhetischen Horizonte, die sich an den Werken radikaler Filmemacher der Sechziger- und Siebzigerjahre schärften – an Glauber Rochas Entranced Earth (Terra em Transe, 1967), Ousmane Sembènes Black Girl (La noire de…, 1966) oder Lino Brockas Insiang (1978) –, noch irgend anschlussfähig an jene neuen Kinematografien aus Asien, Afrika und Südamerika, die parallel zur Verbreitung digitaler Technologie in den letzten zwei Jahrzehnten ein exponentielles, ja explosionsartiges Wachstum erlebt haben?

Spuren eines Dritten Kinos

B LICK ZURÜCK IM Z ORN 1969 unternahmen die argentinischen Filmemacher Fernando E. Solanas und Octavio Getino den Versuch, das Medium Film für den antikolonialen Kampf in Dienst zu nehmen, und forderten ein eigenständiges Kino der Dritten Welt. Jenseits von Hollywood sollte es verortet sein, aber auch jenseits des mit der europäischen Linken verbandelten Autorenfilms. Das Manifest, worin diese Forderungen laut wurden, trägt den Titel »Hacia un tercer cine«: für ein Drittes Kino. Für ein Kino, das in enger Verschränkung mit den sozialen Bewegungen Lateinamerikas, Afrikas und Asiens gegen die Herrschaft des Neokolonialismus und für eine Internationale der Peripherie eintreten sollte. Ermöglicht wurde der Aufstieg des Dritten Kinos von tief greifenden Veränderungen auf Seiten der Produktion. Der technologische Wandel hatte immer kleinere, einfacher handhabbare und zudem günstigere Bild- und Tonaufnahmegeräte hervorgebracht, wodurch der Umgang mit Film eine ungekannte Demokratisierung erfuhr. Was die Grundlegung eines Formenkanons und also die textuelle Ebene betrifft, hält sich Solanas und Getinos Manifest auffällig bedeckt – solange die Filme nur das unklare Kriterium der »Militanz« erfüllen. Das »Dritte Kino« war ein Kampf begriff, den es nötigenfalls der schlechten Wirklichkeit entgegenzustellen galt: »Unsere Zeit ist eine Zeit […] der prozessualen Werke – unfertige, unordentliche, gewalttätige Werke, angefertigt mit der Kamera in der einen Hand und mit einem Stein in der anderen.« Es liegt nahe, Solanas und Getinos episch angelegten Dokumentarfilm The Hour of the Furnaces (La hora de los hornos, 1968) als vorweggenommene Verwirklichung ihres ein Jahr später veröffentlichten Manifests zu verstehen. Der Film behandelt die politische Geschichte Argentiniens seit der Unabhängigkeit und gilt als Klassiker eines agitatorischen Kinos, das sein Publikum direkt adressiert und zu politischer Aktion drängt, bis zur Selbstauf hebung: In den Pausen zwischen den Kapiteln soll der Projektor heruntergefahren und das Saallicht eingeschaltet werden, um das Publikum aus dem Modus der Kontemplation in den der angeregten Debatte zu überführen. Eine Schrifttafel am Ende des Films spitzt dies noch einmal zu: Schaut nicht länger zu, fordert sie auf, verlasst den Saal, werdet endlich zu Handelnden. Der agitatorische Ansatz mochte den argentinischen Verhältnissen angemessen sein, beanspruchte aber keineswegs universelle Gültigkeit. So finden sich im Umfeld des Dritten Kinos, mit dem Filmemacher aus aller Welt sich ausdrücklich oder lose assoziierten, eine Fülle von Filmen, in denen sich das Politische nur indirekt vermittelt. Die Spannbreite des Dritten Kinos reicht von Agitprop zu zurückhaltender Beobachtung und reflexiver Selbstkritik, von dokumentarischen Formen zu generischen Spielfilmen, von Ästhetiken der Kargheit und des Mangels zu überschwänglicher Experimentierfreude, vom

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Streben nach kultureller Eigenständigkeit zur ironischen Anverwandlung USamerikanischer und europäischer Einflüsse. Was viele Filme des Dritten Kinos einte, war das Bewusstsein, mit überaus spärlichen, mangelhaften Mitteln zu operieren – buchstäblich wie bei Ousmane Sembène, der mit den übrig gebliebenen Filmresten kolonialer Filmeinheiten arbeitete und dies mit dem Namen der »mégotage« (frei übersetzt: Zigarettenstümmelei) bedachte, oder im übertragenen Sinn wie bei Glauber Rocha oder Julio García Espinosa, deren Manifeste zu einer »Ästhetik des Hungers« bzw. einem »Kino der Imperfektion« sich nicht am materialen Mangel, sondern am Fehlen kultureller Ressourcen entzündeten. Obschon das Dritten Kinos nie in einer einheitlichen Ästhetik kulminierte, so lässt es sich doch näherungsweise bestimmten als Fundus an Formen und Ideen zu einer politischen Bildpraxis im umfassenden Wortsinn: Nicht nur die Anmutung der Bilder selbst stand auf dem Spiel, sondern auch – und mitunter: vor allem – wie sie gemacht, verteilt und gezeigt wurden. »Junto al pueblo«, Seite an Seite mit Bergarbeitern und Indigenen erarbeitete der bolivianische Filmemacher Jorge Sanjinés seine Filme, in einem kollektiven Arbeitsprozess, der auf so etwas wie eine kollektive Autonarration der Unterdrückten abzielte, ein Stück weit aber auch Selbstzweck war: Es gibt kein richtiges Kino im falschen Produktionsmodus. Einen vergleichbaren, aber ungleich nuancierteren Ansatz findet man ungefähr zeitgleich bei der senegalesischen Dokumentaristin Safi Faye, die nach dem Abschluss ihres Pariser Studiums der Ethnologie in ihr Heimatdorf zurückkehrte, um das in Frankreich erworbene Wissen einem erkenntniskritischen Realitätstest zu unterziehen. Wiederum standen nicht die Bilder selbst, sondern Art und Umstände ihres Erwerbs im Vordergrund, mit der vielleicht aporetischen Absicht, ein gleichberechtiges Nebeneinander von Aufnehmender und Aufgenommenen durch die ethnografischen Anschauungsformen hindurch zu erwirken. Auch im Bereich der Distribution wurden neue Wege gesucht. Nicht zufällig ist die Geschichte des Dritten Kinos eng verwoben mit der Geschichte einer Gegen-Kinokultur. Es galt alternative Vertriebswege zu finden, um die Filme nicht einer konsumorientierten Kinoindustrie anheimfallen oder – wo nicht vorhanden – gleich in der Versenkung verschwinden zu lassen. Vor Ort stützten sich solche oppositionellen und bisweilen klandestinen Vertriebswege meist auf portable 16mm-Projektoren, mit denen die Filmemacher durch die Lande tingelten, von den städtischen Ballungsräumen bis ins rurale Hinterland, wo es davor (und danach) oft überhaupt keine etablierte Kinokultur gab. Vereinzelt, wie in dem oben erwähnten Schlussbild von Solanas und Getinos The Hour of the Furnaces, gab es Versuche, auch das klassische Kinodispositiv aufzubrechen oder zumindest in Richtung von Gesprächsrunden und anderen Formaten der Zuschaueraktivierung zu verlängern, wie es von Sanji-

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nés’ Ukamau-Gruppe überliefert ist, deren Filmvorführungen in eine Selbstkritik des Kollektivsubjekts münden sollten. Außerhalb der Produktionsländer, vor allem in Nordamerika und Europa, musste das Dritte Kino erst jenseits der dort dominanten Rezeptionskanäle »entdeckt« werden. Als »subversives Kino« wurde es einerseits für ein an-politisiertes Publikum verfügbar gemacht, andererseits jedoch auch einem allzu bereitwillig verallgemeinerten Kampf gegen (koloniale) Unterdrückung und Ausbeutung eingemeindet. Diese Lesart einer globalen Einheit im Kampf um Befreiung kreuzte sich mit einem Verständnis der Filme als authentischer Ausdruck der jeweiligen regionalen Kultur. Weil die Vermittlung dieser beiden Lesarten ausblieb, existiert heute nur noch die letztere; sie hat sich als der führende Gesichtspunkt durchgesetzt, unter dem Arthauskinos und internationale Filmfestivals sich den vielen Gestalten des Weltkinos annehmen.

D IE M ÜHEN DER E BENE Zurück zur Gegenwart, aus der Perspektive der utopiegeschwängerten Sechziger heißt das leider immer auch: zurück zu den Mühen der Ebene. Schon die Bezeichnung »World Cinema« für das neue »Kino aus der Peripherie« verweist auf ein Paradox. Denn einerseits ist dieses Filmschaffen auf allen Ebenen internationalisiert: Produktion, Distribution, Rezeption haben häufig keinen präzisen geografischen Ort mehr, die »Nationalkinematografie« erscheint immer weniger als eine sinnvolle Kategorie der Analyse. Andererseits jedoch spielt der Internationalismus als Emphase, als revolutionärer Slogan für die neuen Filmemacher keine Rolle mehr. Für den Agitprop-Großmeister Santiago Álvarez war es eine Selbstverständlichkeit, in seinen collageartigen Kurzfilmen nicht nur über das heimische Kuba, sondern auch über den Vietnamkrieg, über revolutionäre Bemühungen in Afrika, oder über die Bürgerrechtsbewegung in den USA zu sprechen. Heute dagegen erscheinen Filme, die allzu vehemente Aussagen über die globalisierte Wirklichkeit treffen, erst einmal suspekt. Alejandro González Iñárritus Babel (2006) ist zum Inbegriff eines globalisierten Arthauskinos geworden, dessen Begriff von Gleichheit eine kritische Auseinandersetzung mit den internationalisierten Strukturen des Kapitalismus nicht nur nicht leistet, sondern ihr sogar im Weg steht. Die interessanteren Strömungen des neuen politischen Kinos zeichnet dagegen ein Beharren auf der Textur partikularer Orte und Erfahrungen aus. In dem thailändischen Cannes-Gewinnerfilm Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives (Loong Boonmee raleuk chat, 2010), dessen Regisseur als vielleicht der paradigmatische Vertreter des zeitgenössischen World Cinema gelten darf, gibt es etwa eine Insistenz auf die kitschdurchsetzte thailändische

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Popkultur. Andere zentrale Arbeiten des neuen Weltkinos definieren sich über einen Blick auf die regional spezifischen Rückseiten der Globalisierung. So schuf der chinesische Dokumentarfilmer Wang Bing mit seinem achtstündigen magnum opus Tiexi District – West of the Tracks (䪕㽓ऎ, 2003) ein filmisches Mahnmal für die Opfer der Modernisierung Chinas. Mit seiner Digitalkamera durchquert er verlassene Anlagen der Schwerindustrie und hält ein Stück lokaler Geschichte im Moment ihres Verschwindens im Bild fest. In Evolution of a Filipino Family (Ebolusyon ng isang pamilyang Pilipino, 2004) entwickelt Lav Diaz in rauhen Digitalbildern ein alternatives philippinisches Nationalepos, das sich mit den düsteren Jahren der Marcos-Diktatur (1972-1986) beschäftigt. Oft schaut der Film lediglich der titelgebenden Familie beim Zubereiten einer Mahlzeit zu, hört sich mit ihr eskapistische Radiohörspiele an, liegt mit ihr in Hängematten, repliziert die tote Zeit im Dasein einer Landbevölkerung, die einerseits von Außen unterdrückt wird, andererseits diese Unterdrückung in den Strukturen des täglichen Lebens selbst reproduziert. Auf Materialebene lassen sich viele Verbindungslinien zum historischen Dritten Kino ziehen, zur Filiation im strengen Sinn taugen indes die wenigsten. Die historischen Mangelästhetiken – Espinosas Imperfektion, Rochas Hunger, Sembènes mégotage – korrespondieren auf den Philippinen, in China, aber auch in Nigeria mit prekären Materialständen und Produktionsweisen, die sich auf ein Minimum an zumeist digitaler Filmtechnik stützen und eben daraus ästhetisches Kapital schlagen. Die Türen, die das handlichere und billigere Filmequipment in den 1960ern aufgestoßen hat, nehmen sich aber winzig aus im Vergleich zur kreativen Explosion im Gefolge der globalen Digitalisierung. Auch die Idee eines partizipativen Filmschaffens zur Selbstdarstellung und -verständigung vor allem der Landbevölkerung hing damals wie heute an der gesteigerten Verfügbarkeit einfach zu handhabender Aufnahmegeräte und findet sich z.B. in den Filmen des chinesischen Village Documentary Project wieder. Spricht man über das politische Kino der Gegenwart, so muss man auch über dessen wahrscheinlich wichtigsten neuen Vertriebsweg sprechen: die internationalen Filmfestivals. Die Festivals sind die zwangsläufigen Orte eines Kinos, das vom oben erwähnten Paradox geprägt ist: Sie zielen auf ein internationalisiertes, durchaus auch im besten Sinne post-nationales Publikum und handeln doch lokal gedachte Authentizität als Ware, rufen Jahr für Jahr neue nationalkinematografische Wellen aus. Es gibt eine Spannung zwischen dem Event-Modus des Festivals, der eine zumindest etwas breitere Rezeption eines Werks wie Lav Diaz’ elfstündigem Evolution of a Filipino Family – die einzigen alternativen Vertriebskanäle für diesen speziellen Film sind file-sharing communities im Internet – natürlich erst ermöglicht, auf der einen Seite und der formalästhetischen Strenge, diskursiven Dichte und auch lokalen Spezifik solcher Filme auf der anderen.

Spuren eines Dritten Kinos

S PUREN EINES D RIT TEN K INOS Uns geht es nicht darum, den Begriff des Dritten Kinos ungefiltert wieder aufzugreifen, allem überzustülpen, was außerhalb Europas und der USA an politischem Filmschaffen existiert, und dann bei mangelnder Passung eine Anklageschrift gegen das feige Gegenwartskino zu verfassen. Schon, weil wir das Dritte Kino als eine historische Formation betrachten: Es war einmal. Wenn sich im Weltkino der Gegenwart überhaupt noch etwas davon auffinden lässt, dann in Form von, wie der Titel dieses Bandes vorschlägt, Spuren und Rückständen. Vor allem von der engen Auffassung des Politischen, wie sie die Selbstbeschreibungen des Dritten Kinos bestimmt, setzt sich das Gros der Filme, die in diesem Band auftauchen, dezidiert ab. Aber: Schon in den 1960er Jahren, als der Begriff des Dritten Kinos geprägt wurde, bezeichnete er weniger das tatsächliche Projekt als die regulative Idee einer, wie es damals hieß, »trikontinentalen« Filmbewegung. Unter seinem Mantel fand eine Vielzahl äußerst heterogener Praktiken Unterschlupf, die je besonderen Problemstellungen mit ebenso vielen Entwürfen zu einer politischen Ästhetik begegneten. Das Dritte Kino ist also nicht nur Geschichte, sondern auch Utopie, Idee eines Kinos, das fehlt. An beide, Geschichte und Fiktion, wollen wir anschließen, um Schneisen ins aktuelle Weltkino zu schlagen. Beide belehnen wir als Vorbild ebenso wie als Kontrastfolie: Wo gibt es Affinitäten, wo Unterschiede? In den Filmen, die uns interessieren, kommt diese Gemengelage nie zur Ruhe. Wir haben, zuerst mit unserer Filmreihe, jetzt mit diesem Buch, den Versuch unternommen, gegen diese offensichtlichen Brüche und Differenzen einen Zusammenhang zu behaupten zwischen dem historischen Dritten Kino und dem politischen Filmschaffen der Gegenwart. Geleitet hat uns dabei der Begriff der Spur, der sich in mindestens zwei Bedeutungsfelder teilt. Zum einen gibt es die Spur als Fährte, der der Jäger folgt auf der Suche nach dem Wild, oder als Abdrücke, die man hinterlässt, wenn man im Schnee die Straße überquert: eine Spur als linear verräumlichte Zeit. Eine Spur, die man zumindest theoretisch bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgen kann und die so Vergangenheit und Gegenwart in ein kausales Verhältnis setzt. Zum anderen gibt es die Spur als Rückstand, als Verunreinigung z.B. einer Substanz oder eines Körpers. Das sind Spuren, die zwar in einem Gegenwärtigen aufgefunden werden und darin ein Vergangenes sichtbar werden lassen, die man aber nicht eindeutig in der Zeit zurückverfolgen kann. Das Vergangene bleibt anwesend, aber es macht sich zunächst eher als Störung bemerkbar, anstatt auf einen Ursprung zu verweisen. Im Übergang der beiden Bedeutungsfelder verschiebt sich der Akzent: von der raumzeitlichen Kontinuität zur ungleichzeitigen Gegenwart der Spur. In unserer langjährigen Arbeit an dem Projekt haben wir uns von der ersten Bedeutung des Wortes zur zweiten bewegt. Zunächst hatten wir vor, die

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Spur des historischen Dritten Kinos als mehr oder weniger konkrete Fährte aufzunehmen, über Personalien, Produktionszusammenhänge, Orte und Motive. Tendenziell hat sich unser Blick schon bei der Arbeit an der Filmreihe verschoben, und erst recht später während der Arbeit an diesem Buch: Immer öfter sind wir auf Spuren gestoßen, die sich nur widerstrebend in einem kontinuierlichen Geschichtsmodell fassen lassen – keine Endpunkte von Genealogien, eher Verunreinigungen, im Sinne von Momenten der Ungleichzeitigkeit, der Irritation. Irritation etwa darüber, dass die postkolonialen Allegorien des frühen afrikanischen Kinos in den Filmen des Nollywood-Pioniers Tunde Kelani fröhliche Urstände feiern, allerdings unter den Bedingungen eines komplett durchkommerzialisierten Filmschaffens. Irritation auch darüber, wie die chinesischen Dokumentarfilme des Village Documentary Project die Utopie des Dritten Kinos von einer basisdemokratischen Filmpraxis von unten zwar verwirklichen – aber nur auf Kosten ihrer eigenen Sichtbarkeit. Die deutlichste Kontinuität betrifft uns selbst: Damals wie heute bevorzugt die europäische Rezeption solche Filme, die die eigenen Sehgewohnheiten zwar heraus-, aber nicht überfordern. Filme, die sich nicht an gewohnte Wahrnehmungsweisen zurückbinden lassen, werden zu Dokumenten eines irgendwie verfehlten Wollens gestempelt. Dies zeigt sich etwa in der Wahrnehmung der Erzählweise vieler Nollywood-Filme als defizitär (und nicht als narrative Chance), aber auch in fast vorschriftsartigen Forderungen, wie bestimmte Themen kritisch darzustellen seien.

Z U DEN S CHWERPUNK TEN Der vorliegende Band versucht sich nicht an einer vereinheitlichenden Kartografie des politischen Weltkinos der Gegenwart. Es geht uns nicht darum, einen erschöpfenden Katalog oder einen neuen Kanon zu erstellen. Stattdessen möchten wir unterschiedliche Perspektiven auf ein weit ausdifferenziertes Feld versammeln; idealerweise, um sie untereinander in Kommunikation treten zu lassen, was wir in unserer redaktionellen Arbeit allerdings dezidiert nicht durch stilistische und andere Nivellierungen forcieren und damit in vorgeprägte Gussformen umleiten wollten. Spuren eines Dritten Kinos versammelt unterschiedliche Textsorten: Autorenporträts, motiv- und genregeschichtliche Untersuchungen, Interviews; stellt wissenschaftlich orientiertes Schreiben neben filmkritische und cinephile Textpraxis, den analytischen Blick von außen neben Selbstberichte von Filmemachern, Produzenten und Distributoren. Praktische eher denn systematische Überlegungen haben uns dazu bewogen, die Architektur des Bandes entlang derselben geografischen Grenzverläufe zu strukturieren wie die Filmreihe. Man verstehe unsere Kapitelaufteilung also nicht als eine Insistenz auf dem Nationalstaat als welt- oder kulturpoliti-

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scher (oder gar: ästhetischer) Ordnungsinstanz, sondern als Entscheidung für ein naheliegendes, aber prinzipiell austauschbares formales Ordnungsprinzip. Am Beginn des Bandes stehen zwei Beiträge zu Produktion, Distribution und Archivierung von World Cinema und Drittem Kino. Außerdem stellen die Texte den Bezug zwischen dem außereuropäischen und nicht-nordamerikanischen Kino und der Film- und Kinosituation in Deutschland und Europa her. Fabian Tietkes Untersuchung der Überlieferung militanter Filmgeschichte im Archiv illustriert am Blick in die Vergangenheit ein zukünftiges Problem heutigen politischen Kinos: das der Archivierung. Unter anderem weil politisches Kino öfter als andere Formen unabhängig produziert wird, findet es seltener den Weg in Archive; weil es darüber hinaus stärker den Charakter einer Intervention in aktuelle Verhältnisse trägt, hat eine Archivierung den Nebeneffekt, die politische und filmische Intervention auf den Aspekt des Filmischen zu reduzieren. Fragen zum Verleih politischen Kinos, die in diesem Text bereits anklingen, werden in einem Interview mit Jan Künemund, dem Pressevertreter des auf queeres Weltkino spezialisierten Filmverleihs cum DVD-Label Edition Salzgeber, weiter vertieft. Dieser erste Abschnitt ist in thematischer Hinsicht selbstständig, Elemente aus ihm werden jedoch in vielen der weiteren Abschnitte wiederbegegnen. Die chinesische Filmgeschichtsschreibung ist geprägt von einem Generationenmodell, das eine Kontinuitätsbehauptung enthält, die sich in den Filmen nicht immer einlöst. Die Dokumentarfilmer, die in den letzten Jahren auf internationalen Filmfestivals für Aufsehen gesorgt haben, werden zwar im Allgemeinen der »Sechsten Generation« chinesischer Filmregisseure zugerechnet, ihre Bezugnahme auf Geschichte ist allerdings von ganz anderen Parametern bestimmt. Simon Rothöhler und Elena Meilicke untersuchen die Historizität des zeitgenössischen chinesischen Dokumentarfilmschaffens anhand des Ausnahmeregisseurs Wang Bing bzw. von Cong Fengs vielstündigem Porträtfilm Dr. Ma’s Country Clinic (偀໻໿ⱘ䆞᠔, 2008). Kevin B. Lee, Mitbegründer der Verleihfirma dGenerate Films, berichtet über die Gründungsgeschichte des Labels und beschreibt einige Bruchlinien innerhalb der unabhängigen chinesischen Filmszene. In Nigeria und anderen westafrikanischen Staaten hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten eine Videofilmkultur herausgebildet, die in ihrem explosionsartigen Wuchs alle früheren Versuche, ein subsistentes afrikanisches Kino zu schaffen, in den Schatten stellt. Zwei Aufsätze widmen sich dem Phänomen Nollywood: Jonathan Haynes nähert sich dem kaum zu überblickenden Feld als Ganzem und fragt nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Nigerias junger Videofilmkultur und der bis in die 1960er Jahre zurückreichenden Zelluloidtradition des westafrikanischen Kinos, während Nikolaus Perneczky derselben Fragestellung im Detail nachgeht – an der Hand des Yoruba-Auteurs Tunde Kelani, dessen Dorffilme eine Mittlerposition zwischen

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den beiden Bewegtbildparadigmen des subsaharischen Afrika einnehmen. Ein Interview mit Kelani, in dem dieser über seinen Werdegang, sein Verhältnis zum frühen afrikanischen Kino und seine Position zwischen den Stühlen der etablierten Lager Auskunft gibt, rundet den Themenschwerpunkt zu den westafrikanischen Videografien ab. Auf den Philippinen ist in den letzten Jahren eine der interessantesten und facettenreichsten Filmszenen des Gegenwartskinos entstanden – auf den ersten Blick fast aus dem Nichts, schließlich galt das Land, insbesondere in den 1990er Jahren, als eine terra incognita der Cinephilie. Ein zweiter Blick offenbart, dass die aktuelle Blütezeit des philippinischen Independentkinos auf vielfältige Art und Weise mit einer lokalen Filmgeschichte interagiert, die dem historischen Dritten Kino zumindest nahe steht. Der Text von Lukas Foerster untersucht diese – oft eher negativ bestimmte – Filiation entlang einiger herausragender Werke des neuen philippinischen Kinos. Maximilian Linz verengt seine Fallstudie noch weiter: auf den grandios betitelten Film The Great Cinema Party (2012) von Raya Martin. Axel Esteins Beitrag ist ein kaleidoskopartiger Überblick (nicht nur) über die neu entstandene Filmkultur des Archipelagos. Das brasilianische Kino zur Zeit der so genannten Retomada (»Wiederbelebung«), jener wirtschaftlichen und institutionellen Konjunktur, die seit Anfang der 1990er Jahre zu einem Aufschwung der inländischen Kinoproduktion geführt hat, lässt sich trotz seiner Heterogenität als populäres Kino bezeichnen. Während der Begriff des Populären im Cinema Novo auf eine »authentische« brasilianische Filmsprache abzielte, weist er im Fall des aktuellen brasilianischen Mainstream-Kinos eher auf die Ambivalenzen einer sich internationalisierenden Kinoindustrie. Bert Rebhandl untersucht in seinem Beitrag anhand des Oeuvres von José Padilha, wie das brasilianische Gegenwartskino das im Cinema Novo zentrale Favela-Motiv wiederaufnimmt. Cecilia Valentis Text untersucht die so genannten »Favela Franchising« Filme des Medienkolosses Globo, um Brüche und Kontinuitäten der Produktionsverhältnisse seit dem Cinema Novo aufzuzeigen. Christopher Hubers Beitrag ist ein cinephiler Tribut an Horror-Regisseur und Pop-Ikone José Mojica Marins, dessen außergewöhnliches Werk seit über vierzig Jahren Diskontinuitäten in der kanonischen Filmgeschichtsschreibung Brasiliens markiert. Wie schon bei der Arbeit an der Filmreihe wären andere oder weitere Themenfelder möglich gewesen. Was sich gerade in diesen speziellen geografischen und motivischen Beschränkungen jedoch erneut offenbart hat, ist, dass die Dichotomie von Entwicklung und Unterentwicklung, die im westlichen Gebrauch des Begriffs »Dritte Welt« immer schon mitschwang, nicht länger haltbar ist. Auch ist durch den Wegfall offen kolonialer oder nachkolonial-feudalistischer Zustände in vielen Ländern der ehemaligen Dritten Welt der Linken und dem politischen Kino das Feindbild abhanden gekommen. So eint viele der Filme und auch das Nachdenken über sie die Frage, wie nach dem

Spuren eines Dritten Kinos

Wegfall (vorschnell) hoffnungsstiftender Kollektivsubjekte und offen liegender Systemkonflikte politisches Kino noch möglich ist. Dem vorgestellten Kino sind die kollektiven Entitäten nicht nur ideell abhanden gekommen; oft geht es von Anfang an eher um individuelle Sinnsuchen – ein Motiv gewordenes Klischee, das zum Beispiel den französischen populär-postkolonialen Film der späten 1990er Jahre durchzog – und um Handlungsoptionen unter den Bedingungen der Vereinsamung. Dort, wo Kollektivität noch Raum hat, wie in den Szenen in einem stillgelegten Stahlwerk in Wang Bings Tiexi District – West of the Tracks, ist sie als Vergangenheit markiert. Es ist, als hätte das Kino nur unzureichend Schritt gehalten mit jener Vision, die Solanas und Getino in ihrem Manifest des Dritten Kinos beschwören: »Third cinema is, in our opinion, the cinema that recognises in that struggle the most gigantic cultural, scientific, and artistic manifestation of our time, the great possibility of constructing a liberated personality with each people as the starting point – in a word, the decolonisation of culture.«

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I. Produktion, Distribution, Archiv

Das Dritte Kino im Archiv Fabian Tietke Mehr noch als andere Filme sind Filme aus politischen Kontexten vom Verfall bedroht. Wurden sie nicht staatlich produziert, sind sie weiteren als nur den üblichen Gefahren, die für alle Filme gleichermaßen gelten (Kopienabnutzung, Brände in Archiven, Zerstörungen und Diebstähle), ausgesetzt. Filme aus politischen Kontexten sind sowohl ihrer Produktionsweise als auch ihrer Inhalte wegen unterdurchschnittlich in Archiven vertreten, unterdurchschnittlich gut erhalten und oft nur in unerfreulichen Kopienableitungen verfügbar (16mm schwarz-weiß statt 35mm Farbe oder gar Videoformate wie DigiBeta oder DVD anstatt einer Filmkopie). Hinsichtlich der Produktionsweise hängt diese Sonderstellung damit zusammen, dass sich politisches Kino in der Regel nur jenseits oder an den Rändern der klassischen Filmproduktion und der Filmfinanzierung realisieren lässt. Das hat einerseits mit menschlich-ideologischen Faktoren wie den Vorstellungen, Vorurteilen, Weltbildern des_der Produzent_in zu tun, andererseits mit der erstrebten Verwertbarkeit von Filmen, die eine Filmproduktion erst lukrativ machen, wenn ein hinreichend großes Zielpublikum zumindest denkbar erscheint. Die Inhalte werden dann zum Problem einer Überlieferung im Archiv, wenn sie in allzu offenem Widerspruch zum sie umgebenden politischen Kontext stehen. Die Filmgeschichte ist voll solcher Beispiele: So sind Filme beim Übergang von einem vergleichsweise liberalen System in Diktaturen vernichtet worden, in Argentinien beim Putsch Pinochets ebenso wie beim Übergang in den Nationalsozialismus in Deutschland. Aber auch die kleinen Tyrannen forderten immer wieder ihre Opfer: eines der berühmtesten Beispiele ist das vermutliche Kidnapping von Günter Peter Strascheks Ein Western für den SDS (1968) durch die dff b-Leitung unter Erwin Leiser und Heinz Rathsack.1

1 | Zu Straschek und der Episode um Ein Western für den SDS vgl. zeitgenössisch Werner Kließ: »Eine Berliner Lokalposse? Die Krise der Film- und Fernsehakademie Berlin«, in: Die Zeit, 50/1968, 13.12.1968 sowie rückblickend Johannes Beringer: »Fragmentarisches. Zu Günter Peter Straschek«, in: new filmkritik 4.12.2009. Online unter

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Konflikte wie diese führen sowohl direkt als auch indirekt dazu, dass Filme mit politischen Inhalten seltener ihren Weg in Archive finden und fanden: Direkt weil die Materiallage oft besonders ist: gerade in den 1960er/1970er Jahren wurden Filme, die zum schnellen agitativen Einsatz vorgesehen waren, oft auf Umkehrfilm gedreht – das Negativ war zugleich oft die einzige Positivkopie. Der folgende Einsatz etwa in portablen 16mm-Projektoren stellte das Material dann auch im Einsatz auf die Probe. Aber auch im Falle des klassischen Negativfilms ergaben sich besondere Probleme. In Ländern mit Zensur wurde die Kopie auf Positivfilm durch fehlende Freigaben erschwert (was in der Regel mehr mit der Selbstzensur der Kopierwerke als rechtlichen Regelungen zu tun hatte) und – wie oben angedeutet – selbst wenn es Negativ und Positivkopie gab, waren die Bedingungen der Erhaltung oft besonders schwierig und nicht immer wünschenswert. Filmaufnahmen von Kundgebungen etwa konnten nach politischen Umbrüchen zu belastendem Beweismaterial werden. Oder aber – wie im Falle des Filmlagers von René Vautier – die Filme wurden das Opfer von Anschlägen.2 Indirekt weil Erfahrungen wie die oben skizzierten Filmemacher_innen zweifeln lassen, ob sie ihre Filme in oft staatsnahe oder zumindest öffentlich finanzierte Archive geben möchten. Auch solche Zweifel werden bei Filmen, die Aufnahmen enthalten, die unter Umständen zu einer Verfolgung der Gefilmten führen können (Aufnahmen von Demonstrationen, direkten Aktionen u.ä.) verstärkt eine Rolle spielen. Neben all diesen Gründen gibt es auch pragmatische: da politische Filme oft von kleinen Produktionszusammenhängen oder Individuen produziert werden, gibt es in der Regel keinen work-flow für die Übergabe von Materialien an Archive.3

http://newfilmkritik.de/archiv/2009-12/fragmentarisches-zu-gunter-peter-straschek/ (zuletzt 27.9.2012). 2 | 1985 verhandelte ein französisches Gericht über eine Diffamierungsklage des rechten Politikers Jean-Marie Le Pen gegen die Satirezeitschrift Le Canard enchaîné. Das Blatt hatte die persönliche Beteiligung Le Pens an Folterungen und Hinrichtungen während des Algerienkriegs behauptet. Während des Prozesses wurden vom Gericht Aufzeichnungen von René Vautier herangezogen, in denen Folteropfer Zeugnis gegen Le Pen ablegen. 10 Tage nach Prozessende verwüsteten Unbekannte das Filmarchiv René Vautiers. Vautier hat die Folgen des Anschlags in D ÉSTRUCTION DES A RCHIVES AU FORT DU C ONQUET (1985) dokumentiert. Der Film zeigt Vautier bei einer Begehung des Tatorts, knietief in verlorenen Filmstreifen. 3 | Einen seltenen Eindruck von der Überlieferungsdichte liefert die »Studie zu Stand und Aufgaben der Filmarchivierung und zur Verbreitung des nationalen Filmerbes in Deutschland« des deutschen Kinematheksverbundes von 2005. Online unter http://www.bundesarchiv.de/imperia/md/content/abteilungen/abtfa/kinematheks verbund_studie_zum_stand_der_filmarchivierung.pdf (zuletzt 11.12.2012).

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Auch auf der Seite vieler Archive gibt es Bedingungen, die die Überlieferung von Teilen des Filmerbes erschweren: Zahlreiche Archive wurden mit dem Ziel gegründet, das nationale Filmerbe zu sichern und zu erhalten. Das heißt üblicherweise nicht, dass diese Archive Material, das sie grundsätzlich für archivwürdig befunden haben, mit dem Verweis auf den Sammelauftrag ablehnen. Vielmehr nehmen sie es provisorisch auf, etwa um es Archiven der Produktionsländer zur Übernahme oder zum Tausch anzubieten. Das eigentliche Problem beginnt in dem Moment, in dem es jenseits der Bewahrung durch das Lagern und Erschließen eines Filmes um die Sicherung bzw. Restaurierung geht: Denn der damit verbundene finanzielle Aufwand lässt sich nur noch in den seltensten Fällen durch kreativen Umgang mit dem Sammelauftrag, der die Sammlung eigentlich auf die je eigene nationale Kinematographie beschränkt, rechtfertigen. Gerade vor diesem Hintergrund der am umkämpften Paradigma der Nationalkinematographie orientierten Sammelpraxis bildet die Filmsammlung des Arsenal eine Ausnahme. Schon die Sammlungsgeschichte und der Umgang mit den archivierten Materialien unterscheiden das Arsenal grundlegend von den anderen Archiven in Deutschland. Das Archiv des Arsenal verbindet in begeisternder Weise Archivierung mit der Kinopraxis im Geiste eines Filmklubs. Nicht zuletzt die Verbindung mit dem Internationalen Forum des Jungen Films haben dem Arsenal zudem über die Jahre Kontakte ermöglicht, die eine einzigartige Sammlung zur Folge hatten. Die Datenbank zur Sammlung dokumentiert 40 Jahre Film- und Kinogeschichte.4

F ILME ANDERS ZEIGEN 1963 gründeten Gero Gandert, Ulrich Gregor, Helmut Käutner, Friedrich Luft, Karena Niehoff, Hansjürgen Pohland, Reinhold E. Thiel und Carl Wegner den Verein Freunde der deutschen Kinemathek. Die Vereinsarbeit von Gero Gandert, Erika und Ulrich Gregor, Heiner Roß, Hubert Liepe, Manfred Salzgeber und Reinhold E. Thiel gipfelte im Januar 1970 in der Eröffnung des Arsenal

Für die Jahre zwischen 1960 und 1980 ergeben sich ernüchternde Zahlen: bei den Spielfilmen fällt die Überlieferungsdichte ab 1965 steil ab und bei den Dokumentarfilmen liegt sie in Westdeutschland, wo es keine Archivpflicht gab, ohnehin nie wesentlich höher als 60 %. Bedenkt man, dass die Kategorie Dokumentarfilm in der Regel alle Filme umfasst, die nicht klar als Spielfilm erkennbar sind, und daher die meisten der im Folgenden behandelten Filme darunter fielen, wären sie in Deutschland produziert, wird der prekäre Status der Überlieferung deutlich. 4 | Die Datenbank findet sich unter: http://films.arsenal-berlin.de/.

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in der Berliner Welserstraße.5 Im folgenden Jahr wurde das Internationale Forum des Jungen Films als neue Sektion der Berlinale eingeführt. Sprecher des Forums wurde Ulrich Gregor, damals neben der Arbeit im Arsenal Lehrender an der dff b und der Hochschule der Künste. Das Forum wurde schnell zum Labor der Berlinale, mit vielen Beiträgen von jungen Filmemacher_innen, vor allem in den ersten Jahren, aber auch ein Ort für unkonventionelle, politisch relevante Wiederentdeckungen aus der Filmgeschichte.6 Für das Arsenal war das Forum von immenser Wichtigkeit wegen der internationalen Anbindung und nicht zuletzt sind Kopien zahlreicher Filme nach der Aufführung im Forum in die Sammlung bzw. den Verleih übernommen worden. Und mehr: das Forum wurde auch in programmatischer Hinsicht Ausgangspunkt des Filmverleihs des Arsenal. Im Vorwort zum ersten publizierten Verleihprogramm schreibt Ulrich Gregor: »Damit [mit der Übernahme von Titeln aus dem Forumsprogramm in den Verleih; F.T.] ist es endlich möglich geworden, Filmfestspiele nicht nur an einem Ort und zu einer Zeit stattfinden zu lassen, sondern die neuen Filme eines Festivals auch allen anderen Institutionen zur Verfügung zu stellen, die eine Arbeit mit dem Medium Film leisten, welche nicht am Kommerz orientiert ist. Das ›Festival‹ wird seiner kulturellen Mythologie entkleidet, es ist nicht länger nur Ritual, Selbstbestätigung und Selbstzweck, sondern es wird zum Motor einer permanenten sinnvollen Arbeit. Einen Filmverleih aufzubauen, war von den ›Freunden der Deutschen Kinemathek eV.‹ zunächst keineswegs intendiert; vielmehr hat sich dies als natürliche Folgeerscheinung der Programmarbeit für die Veranstaltungen der ›Freunde‹ und für das seit 1970 bestehende Kino ›Arsenal‹ in West-Berlin ergeben. Nicht nur kamen immer wieder ausländische Filmemacher zu uns, die Kopien zurückließen, im Vertrauen darauf, daß diese bei den ›Freunden‹ eine sinnvolle Auswertung finden würden; sondern bei der Arbeit für das ›Arsenal‹ machten wir immer wieder die Erfahrung, daß es sich nicht lohnte, Filme für einzelne Aufführungen von weither herbeizuholen, daß auch Produzenten und Filmemacher nicht nur an einer vereinzelten Vorführung ihrer Filme interessiert waren, sondern vielmehr wünschten, eine weitere Zirkulation dieser Filme im nichtkommerziellen Bereich sicherzustellen. Diese Aufgabe haben die ›Freunde‹ gern übernommen, weil ihnen nicht allein daran liegt, in Berlin ein Filmprogramm zu realisieren, das ein Maxi5 | Zur Geschichte des Arsenal vgl. die Selbstdarstellung auf http://www.arsenalberlin.de/ueber-uns/geschichte/verein.html (zuletzt 27.9.2012) und Ulrich Gregor: »Das Berliner Arsenal«, in: Karsten Witte (Hg.): Theorie des Kinos. Ideologiekritik der Traumfabrik, Frankfurt a.M. 1972, S. 256-264. 6 | Zur Geschichte des Internationalen Forums des Jungen Films vgl. Wolfgang Jacobsen: Berlinale. Internationale Filmfestspiele Berlin, Berlin 1990, S. 185-194 sowie ein Interview, das Bert Rebhandl 2009 mit Ulrich Gregor aus Anlaß des 40. Jubiläums des Forums führte: http://www.cargo-film.de/festival/40-jahre-forum/(zuletzt 27.9.2012).

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mum von Informationsmöglichkeiten bietet, sondern gleichzeitig die Arbeit mit und am Medium Film in der ganzen Bundesrepublik zu fördern. Die Arbeit für ein neues Kinomodell (das ›Arsenal‹), das sich als Alternative zum bestehenden Kinobetrieb versteht, und die Errichtung eines eigenen Verleihs bedingen sich wechselseitig; das eine ist ohne das andere nicht möglich.« 7

Die Feststellung, dass sich Kinobetrieb und Verleiharbeit gegenseitig bedingen, verdient besondere Beachtung: Die Kritik des Filmbetriebs galt in den 1950er und frühen 1960er Jahren vor allem den Produktionsbedingungen. Dafür steht in Deutschland das Oberhausener Manifest. Die Kritik des bornierten Provinzialismus der europäischen und insbesondere der deutschen Filmverleihe geriet demgegenüber ins Hintertreffen. Zwar hatten Herbert Vesely, Heiner Braun und Haro Senft in ihrem Manifest »filmform – das dritte programm« die »Errichtung einer eigenen Vertriebsorganisation oder […] Zusammenarbeit mit einer bereits eingeführten, leistungsfähigen Vertriebsfirma« gefordert, Folgen waren jedoch ausgeblieben.8 Die europäischen Filmklubs der 1950er Jahre bestritten ihr Programm vor allem aus dem Austausch untereinander und aus Kooperationsprogrammen mit den europäischen Filmarchiven. Möglich geworden war dies durch die Sondervereinbarungen, die die Filmklubs mit den Archiven der FIAF (Fédération Internationale des Archives du Film) geschlossen hatten. Die gesellschaftliche Rolle der Filmklubs hing nicht zuletzt damit zusammen, dass diese in den meisten westeuropäischen Ländern mit Zensurbehörden (Frankreich, Italien, Deutschland) auch Filme ohne Zensurzulassung (in Deutschland FSK-Begutachtung) zeigen durften. Die Kooperation mit den Archiven der FIAF, die bis dahin vor allem eine Vereinigung der europäischen und nordamerikanischen Archive war, führte dazu, dass in Berichten aus dieser Zeit der außereuropäi-

7 | Ulrich Gregor: »Plädoyer für ein neues Verleihprogramm«, in: Freunde der Deutschen Kinemathek e.V. (im Folgenden FdK) (Hg.): Verleihprogramm 72/73, Berlin 1972, S. 1-3 (im Druck unnummeriert). Online unter: http://aufsmaulsuppe.blogsport. eu/2010/04/27/fundstuck/(zuletzt 27.9.2012). 8 | Herbert Vesely, Heiner Braun, Haro Senft: »filmform – das dritte programm«, in: Lars Henrik Gass, Ralph Eue (Hg.): Provokation der Wirklichkeit. Das Oberhausener Manifest und die Folgen, München 2012, S. 3-14, hier S. 9. NB: Die Filmliste des Manifestes umfasst keinen einzigen Film, der nicht in Westeuropa oder den USA entstanden wäre. Eine Geschichte des europäischen und mithin auch des deutschen Filmverleihs wäre noch zu schreiben. Elemente dazu finden sich im allgemeinen Teil von Anke Hahn, Anna Schierse: Filmverleih: Zwischen Filmproduktion und Kinoerlebnis, Konstanz 2004.

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sche Film nahezu nicht existent ist.9 Erst Ende der 1960er Jahre war der Drang andere Film zu sehen stark genug, um Folgen zu haben. 1971 erschien in der französischen Filmzeitschrift Cinéthique ein Text des Redaktionskollektivs über die »Praxis der Filmvorführung«. Die Besonderheit dieses Textes liegt darin, dass er so deutlich wie selten die Wurzeln für eine neue Verleiharbeit in der »Entdeckung« der Dritten Welt durch die französische Linke sieht und die Distribution des brasilianischen Cinema Novo sogar als direktes Vorbild nennt: »Diese Idee – ein neuer Verleih für neue Filme – war nicht plötzlich aufgetaucht; sie war das Ergebnis einer langjährigen Entwicklung: des Aufstiegs des ›jungen Films‹ [›jeune cinéma‹]. Dieser Aufstieg hatte seine Mythen […] und seine Wirklichkeit (den ›jungen Film‹ in bestimmten Volksdemokratien; […] den Erfolg des cinema novo Brasiliens, in der Produktion und der Distribution, von diesem Erfolg weiß man nur so viel, daß er ohne Unterstützung der nationalen Banken nicht möglich gewesen wäre, die auf diese Weise ihren Kampf gegen die US-Banken, die den brasilianischen Filmmarkt kontrollieren, führten«.10 Das Zitat verdeutlicht einerseits, wie eng verschränkt Filmarbeit und politische Arbeit für Cinéthique waren, andererseits wie sehr der antiamerikanische Antiimperialismus der französischen Linken die Rezeption nicht nur der Befreiungsbewegungen, sondern auch des Kinos beeinflusste. Jenseits davon markiert es jedoch einen neuerlichen Umbruch: 9 | Vgl. exemplarisch: Chris Marker: »Deutscher Film adieu?« (übersetzt von Annemarie Czaschke), in: Theodor Kotulla (Hg.): Der Film. Manifeste, Gespräche, Dokumente. Band 2: 1945 bis heute, München 1964, S. 132-138, sowie Johannes Beringer: ohne Titel, 2000. Online unter http://www.filmsamstag.de/downloads/jberinger.pdf (zuletzt 27.9.2012). Wie hartnäckig der Eurozentrismus aus dieser zweiten goldenen Zeit der Cinephilie ist, lässt sich etwa daran erkennen, dass der Filmkanon Alain Bergalas, den dieser für die Filmpädagogik der Cinémathèque française entwickelte und der in diverse Länder exportiert wurde, unter 35 Titeln ganze zwei Filme (Akira Kurosawas Rashomon (1950) und Abbas Kiarostamis Where Is the Friend’s Home? (Khane-ye doust kodjast?, 1987)) aufgenommen hat, die nicht aus Europa oder Nordamerika stammen. In Deutschland wird der Kanon von der Bundeszentrale für politische Bildung vertrieben; vgl. http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/filmbildung/43639/filmkanon (zuletzt am 10.12.2012). 10 | Gruppe Cinéthique: »Praxis der Filmvorführung«, in: dies.: Filmische Avantgarde und politische Praxis (herausgegeben und übersetzt von Beatrix Schumacher, Gloria Behrens, Leo Borchard und Rainer Gansera), Hamburg 1973, S. 99-128, hier S. 103 (Kursive im Original). Mehr zur erwähnten Episode der brasilianischen Filmgeschichte vgl. Cecilia Valentis Beitrag in diesem Band. Zur Bedeutung der Dritten Welt für die Entstehung der Neuen Linken siehe: Christoph Kalter: Die Entdeckung der Dritten Welt. Dekolonisierung und neue radikale Linke in Frankreich, Frankfurt a.M./New York 2011.

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von nun an sollte es nicht länger nur darum gehen, andere Filme zu zeigen, sondern auch, Filme anders zu zeigen. Mit diesen Diskussionen haben auch die Freunde der deutschen Kinemathek e.V. noch bevor es das Arsenal gab schlechte Erfahrungen gemacht: Ende 1968, Anfang 1969 tobte ein Kampf um die Aufführungen. Hintergrund waren der Vietnamkongress im Februar 1968, Kampagnen zur Vietnam-Solidarität und die Relegation von 18 Studenten der deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dff b) nach der Besetzung der Hochschule (in deren Zuge die Studenten auch das Büro der Akademieleitung besetzt und den eingangs erwähnten Straschek-Film wiedergefunden hatten). In diesem Kontext bekam die Frage, ob die Vorführung von politischen Filmen nur als Mittel der Solidarität legitim sei, neue Bedeutung. Den Freunden der deutschen Kinemathek e.V. wurde in einem undatierten Flugblatt – unterzeichnet »freunde der kinemathek« – der Vorwurf des Kinokonsumismus gemacht: »was bewirkt das zeigen von linken filmen bei den ›freunden der kinemathek‹? ihr zahlt zwei mark. ihr seht filme, die sich als teil des politischen kampfes verstehen, ihr versteht euch als teil des politischen kampfes. ihr versteht die filme als anleitung zum politischen handeln. Aber: UM REVOLUTIONÄRE ZU WERDEN, WERDET IHR KONSUMENTEN. […] warum brauchen die sozialistische filme? UM EUCH KULTURELL AN DIE LEINE ZU LEGEN, WO IHR POLITISCH NICHT MEHR ZU FASSEN SEID: mit diesem kulturpluralismus werden genau die verhältnisse stabilisiert, die ihr abschaffen wollt, so ermöglicht die selbstkastration der eigenen praxis durch kulturkonsum die reaktionäre praxis der rädelsführer […]«11

Eine ähnliche Kritik wiederholte Günter-Peter Straschek in seinem Handbuch wider das Kino.12 Die Kritik im Handbuch richtet sich vor allem gegen die Entpolitisierung durch Historisierung. Das Flugblatt ebenso wie Straschek kritisieren vor dem Hintergrund eines aktivistischen Politikverständnisses eine Kinopraxis, die auch politisches Kino als Kino behandelte (und Eintritt verlangte, um diese Arbeit fortführen zu können). Auch die Filme des Dritten Kinos wurden vom Internationalismus nach 1968 eingemeindet: aus »zwei, drei viele Vietnam« wurde »ihr Kampf ist unser Kampf«. In dieser Wahrnehmung politischer Kämpfe schienen die verbinden11 | »FREUNDE DER KINEMATHEK, HÖRT AUF, weiterhin sinnlos FILME zu KONSUMIEREN, hört erst recht auf, LINKE FILME zu konsumieren!« (Flugblatt, nach November 1968) (Sammlung Fabian Tietke). 12 | Günter-Peter Straschek: Handbuch wider das Kino, Frankfurt a.M. 1975.

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den Elemente zu überwiegen. Für diese Wahrnehmung wirkte die Art, wie die Filme des Dritten Kinos Ausbeutungsverhältnisse ins Zentrum der Kritik rückt, anknüpfungsfähig: Die Allgegenwart von Ausbeutung im Kapitalismus schien das Globale des einen Kampfes zu belegen. Die bildgewaltigen Filme über die Ausbeutungsverhältnisse geronnen in den Köpfen der Zuschauer_innen zur Vorstellung von »der Ausbeutung« im Kapitalismus durch »den Imperialismus«. Aus diesem Denken, das den Kontext der Ausbeutungsverhältnisse nur noch als Kolorit gelten ließ, folgte die Lateinamerikafolkore der (west-) deutschen Linken in den 1970er und 1980er Jahren.

A NDERE F ILME ZEIGEN Drittes Kino heißt im Verleihprogramm des Arsenal von 1972 Kino aus Lateinamerika. Zwar finden sich auch je ein Film aus Marokko und Algerien im Programm, diese treten jedoch deutlich in den Hintergrund gegenüber insgesamt 47 Filmen aus Lateinamerika. Am breitesten vertreten sind Chile (mit 17 Filmen) und Argentinien (mit 9 Filmen). Nicht vertreten sind zu diesem Zeitpunkt interessanterweise die Filme der 1960er Jahre aus Brasilien, die sich heute in der Archivdatenbank finden. Damals wie heute nicht vertrieben werden die Filme aus dem Kontext des Dritten Kinos aus den Philippinen oder Thailand, auch afrikanische Vertreter_innen des Dritten Kinos sind eher rar.13 Es liegt nahe, diesen deutlichen geographischen Schwerpunkt mit der zeitgenössischen Politik in Verbindung zu bringen: für Argentinien sind dies die Proteste gegen die Militärdiktatur von Juan Carlos Onganía und die folgende zweite Amtszeit von Juan Perón ab 1973, für Chile die dramatischen Ereignisse, die dem Militärputsch gegen Salvador Allende am 11.9.1973 vorausgingen. Auch in der bereits zitierten Einleitung zum Verleihprogramm findet sich der Verweis auf die politische Situation: »Ein großer Teil der Filme kommt aus den Ländern Lateinamerikas und spiegelt die extrem konfliktgeladene Situation dieses Kontinents in aller Schärfe […]«.14 Die filmischen Qualitäten der Filme scheinen dabei gegenüber dem politischen Wert in den Hintergrund getreten zu sein. Anders ist kaum zu erklären, warum das Programm im Begleitmaterial zu den Filmen ausgerechnet eine wenig schmeichelhafte Passage aus dem Katalog der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen zitiert:

13 | Dafür ist — nach derzeitigem Kenntnisstand — die im Arsenal überlieferte Kopie von Sarah Maldorors M ONANGAMBEE (Algerien 1969) die einzige weltweit erhaltene Kopie des Films. 14 | Ulrich Gregor: »Plädoyer«, S. 2.

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»Ganz sicher ein Indiz für dieses erwachende Selbstverständnis ist das Entstehen eines kritischen und engagierten Film-Untergrundes. Überall in Lateinamerika haben sich Gruppen unabhängiger Polit-Filmer zusammengeschlossen, die mit dem erklärten Ziel der Agitation Dokumente des Kampfes lateinamerikanischer Arbeiter und Studenten gegen Vorherrschaft und Terror, gegen Unterdrückung und Not produzieren. […] Während jedoch Kubas Film in den zehn Jahren seines Bestehens die Chance hatte, sich zu einer hochartifiziell gehandhabten, dabei aber todbringenden Verteidigungs- und Angriffswaffe zu entwickeln, befindet sich Argentiniens im Untergrund versteckter Film noch in einer vorrevolutionären Phase, hat er ausnahmslos die Qualität eines gequälten, animalischen Aufschreis.«15

Formulierungen wie der »gequälte, animalische Aufschrei« mögen mit heutigen Augen in ihrem Paternalismus nahezu unerträglich sein, den Zeitgeist schienen sie zu treffen. Es blieb weitgehend die Ausnahme, diese Filme nicht nach ihren politischen Intentionen, sondern nach visuellen Kriterien zu würdigen. Anstatt diese Filme, wie bei europäischen und nordamerikanischen üblich, auf ihre Machart, ihre Originalität, ihren künstlerischen Wert u.ä. zu befragen, wurden die Filme des Dritten Kinos in Begriffen der Unmittelbarkeit und des Authentischen behandelt. Der Verleihkatalog 1972/73 ist nicht zuletzt deshalb ein so aufschlussreiches Dokument, weil in ihm der Wille zu einer Internationalisierung des Kinoprogramms auf ein Denken trifft, in dem der Adelsschlag für Filme aus nicht-europäischen Ländern darin besteht, mit europäischer Filmkunst verglichen zu werden. Diese Beobachtung soll keine rückblickende Besserwisserei sein: Das Interesse war offensichtlich groß genug, um sich die Mühe zu machen, diese Filme in den Verleih zu nehmen. Vielmehr geht es darum, die Irritation der Sehgewohnheiten sichtbar zu machen, die in den fortwährend das eigene Urteil absichernden Vergleichen des Gesehenen mit dem Gewussten, den Stilelementen der europäischen Filmgeschichte, enthalten ist.

I N DER S PUR DER C AHIERS Eine zentrale Rolle bei der Rezeption des Dritten Kinos kommt Fernando Solanas’ The Hour of The Furnaces (La hora de los hornos, 1968) zu. Die Sonderstellung von Solanas’ Film wird auch im Verleihprogramm deutlich: während die meisten Filme mit einer halben bis einer Seite Beschreibung auskommen müssen, wird Solanas Film auf dreieinhalb Seiten mit Material unterfüttert. Das Programm greift dabei vor allem auf Texte aus den Cahiers 15 | Peter Kress, in: Wege zum Nachbarn XVI. Westdeutsche Kurzfilmtage Oberhausen, hier zitiert nach: FdK: Verleihprogramm.

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du cinéma zurück.16 Die Vermittlung durch die Cahiers du cinéma weist auf die richtige Fährte hinsichtlich der Rezeption des Dritten Kinos in Deutschland, für die das Arsenal schon in Bezug auf die Kinoarbeit zentral war und durch den Verleih noch zusätzlich an Bedeutung gewann: waren die beiden einzigen überregional bedeutenden Filmzeitschriften in Deutschland, die Filmkritik und Film, doch noch weit stärker auf das europäische Kino ausgerichtet als die Cahiers. Die Cahiers du cinéma unternahmen in den frühen 1960er Jahren autorentheoretisch inspirierte Streifzüge durch die außereuropäische Filmgeschichte, Ausgabe 210 brachte ein Dossier zu Solanas, Nummer 208 eines zu Satyajit Ray, Nummer 214 eines zu Glauber Rocha, Nummer 218 eines zu Oshima Nagisa. Bevor der Cinema 16 Aktivist Amos Vogel 1974 Film as a Subversive Art publizierte, waren die Cahiers unangefochten die wichtigste Quelle für die Internationalisierung der Filmkenntnisse. Die Kehrseite der Medaille war, dass ausgerechnet die oft kollektiv hergestellten Filme des Dritten Kinos in die Fänge der Autorentheorie kamen und als Produktionen von Individuen dargestellt wurden. Während die Autorentheorie nahezulegen schien, dass bürgerliche Individualgenies Filme vom Himmel fallen lassen, zeigten die unzähligen Grupo cine, Colletivos usw. andere Produktionsweisen auf. Solche Re-individualisierungen finden sich auch im Verleihprogramm der Freunde der deutschen Kinemathek: So tauchen die Kollektive, die Viejo Reales’ Long Way Journey to Death [sic!] (El camino hacia la muerte del viejo Reales, 1971) und Blood of the Condor (Yawar Mallku, 1969) herstellten, jeweils nur als Produzenten auf, während die Regie Gerardo Vallejo bzw. Jorge Sanjinés zugeschrieben wird.17 In einigen Fällen mag dies mit verschiedenen Rezeptionskontexten zu tun gehabt haben – während es in den Herstellungsländern bisweilen galt, die eigene Identität hinter einem Kollektiv zu verstecken, um Repressionen zu entgehen, gab es im Ausland, z.B. in Europa das Interesse an einer Person, mit der der Film in Verbindung zu bringen wäre. Dennoch: die Praxis verdeckte gerade bei Filmen, in denen die Herstellungsbedingungen den Film bis ins Material hinein durchdrangen, deren kollektive Herstellung. Die technische Seite fand durchaus Aufmerksamkeit. So betont Louis Marcorelle die Bedeutung der leichten (16mm-)Synchronkamera.18 Man sollte diese rein technischen Überlegungen ergänzen um Christian Ziewers Rückblick auf seine Arbeit mit 16mm: 16 | FdK: Verleihprogramm, S. A5-A8. Die Texte entstammen vor allem dem Dossier von Louis Marcorelles in: Cahiers du cinéma 210, März 1969, S. 36-44. 17 | Zu Viejo Reales’ Long Way Journey to Death vgl. FdK-Verleihprogramm, S. A11-12, zu Blood of the Condor vgl. S. A15-16. 18 | Louis Marcorelles: »L’epreuve du direct«, in: Cahiers du cinéma 210, März 1969, S. 37-39.

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Gefragt, ob er mit mehr Geld von 16mm auf 35mm umgestiegen wäre, antwortete er: »Nein. Wir wären bei 16mm geblieben, weil das technische Verfahren bei Dreharbeiten mit 35mm viel aufwendiger ist, der Stab wird größer, es wird komplizierter, und das konnten wir uns […] auch bei der Arbeit mit den Laien nicht leisten, die zum Beispiel lange Wartezeiten nicht gewohnt sind wie Schauspieler. Mit denen muß man immer produktiv arbeiten, die müssen sehen: da kommt was heraus. Aber wenn ich zwei Stunden eine Kamera umbaue […] und eine Stunde das richtige Licht setze […], dann bekomme ich nicht mehr das Ergebnis der Arbeit mit den Darstellern, dann hab‹ ich vielleicht ein schönes Bild, aber das hat dann eine falsche Schönheit.« 19

Ziewers Zielgruppenfilme entstanden unter Drehbedingungen, die denen der von der Gruppe Ukamau realisierten Filme in etwa entsprechen dürften (Laienschauspieler_innen, oft nur aufgehelltes natürliches Licht usw.). Wie sehr sich die Vorführbedingungen der Filme des Dritten Kinos – wie aller nicht-deutschsprachigen Filme in den 1970er Jahren – von heute Üblichem unterschieden, wird ebenfalls aus dem Verleihkatalog deutlich: die Dialoglisten, die der Katalog auflistet und die zuvor zwischen Verleih und Filmfestivals wie Oberhausen oder Leipzig ausgetauscht wurden, waren kostbare Hilfsmittel der Vermittlung. In vielen Fällen wären die Originalfassungen für das Publikum sonst unverständlich geblieben. Ausgeteilte Dialoglisten ersetzten vor allem bei Kurzfilmen die heute übliche elektronische Untertitelung (die für diese Filme oft genug auf genau diesen Dialoglisten basiert). Durch die Filmpropaganda des Zweiten Weltkrieges hatte sich der 16mmFilm als semi-professionelles Vorführformat weitgehend durchgesetzt. Ob für Experimentalfilmer, independent Pornos oder politische Agitation: 16mm-Film war ein ideales Format für Filme, die auch jenseits klassischer Kinos vorgeführt werden sollten.20 Zahlreiche Institutionen, Gewerkschaftshäuser, Uni19 | Christian Ziewer/Klaus Wiese (Interview), in: Barbara Bronnen, Corinna Brocher (Hg.): Die Filmemacher. Der neue deutsche Film nach Oberhausen, München, Gütersloh, Wien 1973, S. 221-232, hier S. 230f. Man bemerke, dass auch Ziewer hier eine Unmittelbarkeit der Arbeit mit 16mm suggeriert und diese dem ›großen Film‹ (auf 35mm) gegenüberstellt. 20 | Vgl. Eric Schaefer: »Gauging a Revolution: 16 mm Film and the Rise of the Pornographic Feature«, in: Linda Williams (Hg.): porn studies, Durham, NC 2004, S. 370-400, hier v.a. S. 375-385. Die Formatverwandtschaft zwischen Politfilmen und Pornos half bisweilen durchaus. So berichtet René Vautier in seiner Autobiographie, dass einige Kopien von Afrique 50 entstanden, indem das Negativ für das Kopierwerk an das Ende von Pornos montiert und dann mitkopiert wurde (René Vautier: Camera citoyenne, Rennes cedex 1998, S. 41).

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versitäten u.ä. verfügten über portable oder fest installierte 16mm-Projektoren. Nichtkommerzielle Filmvorführungen in den 1960er bis 1980er Jahren unterschieden sich von heutigen dadurch, dass sie viele Filme im Produktionsformat vorführten, nicht als 35mm blow-up und nicht von digitalen oder analogen Videoformaten. Dies hatte jedoch auch zur Folge, dass die Kopienabnutzung in vielen Fällen deutlich stärker war. Auch die eingesetzte Technik schlug sich im Filmmaterial nieder: Portable Filmprojektoren beanspruchen das Filmmaterial deutlich stärker: neben dem Mehr an Staub, dass ein Projektor, der offen aufgestellt wird, abbekommt, haben portable Projektoren unter anderem einen weniger präzisen Filmtransport, die Perforation wird stärker beansprucht als bei der Projektion auf einem fest installierten Kinoprojektor. Zudem ist der Effekt von Bildschäden bei 16mm-Film größer, das Bildfeld bei 16mm-Film beträgt im Vollbildformat nur 10,3 mal 7,5 mm (statt 24 mal 18mm bei 35mm-Film), ein Laufstreifen von einem Millimeter Breite bedeckt also bei einem 16mm-Film prozentual mehr Bildfläche. Überdies sind gerade die Filme aus dem Umfeld des Dritten Kinos zu einer in materialtechnischer Hinsicht kritischen Zeit entstanden: ein Aspekt der Popularität von 16mm-Film für die Filmpropaganda während des Zweiten Weltkrieges war gewesen, dass 16mm schon Cellulose Di- bzw. Triacetat (üblicherweise als Acetat abgekürzt) als Trägermaterial nutzte. Gegenüber dem für 35mm damals noch üblichen Nitrat hatte Acetatfilm den Vorteil, nicht brennbar zu sein. Leider jedoch stellte sich in den 1980er Jahren heraus, dass Cellulose Triacetat unter nicht perfekten Lagerbedingungen über lange Zeiträume nicht chemisch stabil ist. Wenn es z.B. zu warm gelagert wird, zersetzt sich Cellulose Triacetat. Nach dem Essiggeruch, der dabei frei wird, wird dieses Phänomen »Essig-Syndrom« genannt (gemeinerweise ist dieser Prozess »ansteckend«: ist ein Film befallen und wir dieser mit anderen zusammen gelagert, überträgt sich das »Essig-Syndrom«). Der Zerfallsprozess macht sich bei Farbfilmen deutlicher bemerkbar in einem zunehmenden Rotstich des projizierten Bildes. Die Entdeckung des Essig-Syndroms hatte eine neuerliche Änderung des Filmträgermaterials zur Folge – von dem bis heute genutzten Polyester.21

21 | Für eine grundlegende Darstellung der verschiedenen Trägermaterialien von Film (Nitrat, Acetat, Polyester) vgl. Annette Melville and Scott Simmon (Hg.): Film Preservation 1993: A Study of the Current State of American Film Preservation: Report of the Librarian Of Congress, Washington, DC 1993 Online unter: http://www.loc.gov/film/ study.html (zuletzt 2.10.2012) sowie National Film Preservation Foundation (Hg.): The Film Preservation Guide. The Basics for Archives, Libraries, and Museums, San Francisco 2004, S. 9f. Online unter www.filmpreservation.org/dvds-and-books/the-filmpreservation-guide (zuletzt 2.10.2012).

Das Dritte Kino im Archiv

Angesichts solcher Vorführ- und Materialbedingungen ist die Erhaltung des Dritten Kino-Korpus im Arsenal erstaunlich vollständig: Von den 49 Filmen aus dem Verleihprogramm von vor 40 Jahren sind noch heute 42 als Archivkopie im Verleih (siehe Tabelle im Anhang). Mit Blick auf das Material dürfte es geholfen haben, dass viele der Filme schwarz/weiß und also unempfindlicher gegenüber den Alterungserscheinungen des Filmmaterials sind. Zwei andere Faktoren aber dürften wichtiger gewesen sein: Erstens hat sich bei einigen Titeln wie dem oben bereits erwähnten Monangambee das Arsenal und eine Archivierung in Deutschland als Glücksfall erwiesen. Ähnliches gilt auch für eine ganze Reihe von chilenischen Filmen, die in deutschen Archiven überlebten, während sie in Chile nach dem Putsch von Pinochet gegen Allende stark gefährdet gewesen wären.22 Bisweilen erweist sich die Lagerung außerhalb des politischen Entstehungs- und primären Wirkungskontextes eines Films als archivalischer Vorteil. Zweitens hat sich eben jener Umgang, den die Kritiker_innen des Arsenal Ende der 1960er Jahre beklagten, mit Blick auf die Archivierung bewährt: Film als Film zu behandeln, unabhängig vom politischen Gehalt, scheint rückblickend die Sicherung für den Erhalt vieler Filme gewesen zu sein. Denn: sie zu archivieren heißt politische/militante Filme als Film ernst zu nehmen. Die erfolgreiche Erhaltung der Filme des Dritten Kinos dürfte zudem die Praxis des Arsenal im Umgang mit der Sammlung bestätigen: Über all die Jahre hat sich das Arsenal mit großer Beharrlichkeit gegen ein Wegschließen im Archiv und für einen Vorrang der Sichtbarkeit der Filme entschieden. Ganz im Geiste einer Kinemathek, die an die seit den 1930er Jahren vom späteren Gründer der Cinémathèque française Henri Langlois vertretenen Vorstellungen anschließt.23 Anders als andere Archivaktivisten trat Langlois dafür ein, Filme zu zeigen, um sie präsent zu halten. 40 Jahre Sammlungspraxis des living archive des Arsenal sind ein gutes Argument für eine solche Haltung. 22 | Zur Erhaltung und Rückführung von chilenischen Filmen in deutschen Archiven (außer dem Arsenal v.a. das Bundesarchiv-Filmarchiv) vgl. Mónica Villarroel/Isabel Mardones: Señales contra el olvido. Cine chileno recobrado, Providencia, Santiago 2012. 23 | Diese Forderung macht den Kern einer großen Debatte aus, die mit Henri Langlois als dem einen und Ernest Lindgren als dem anderen Pol assoziiert wird. Vgl. Giovanna Fossati: From Grain to Pixel. The Archival Life of Film in Transition, Amsterdam 2009, S. 97, Penelope Huston: The Keepers of the Frame. The Film Archives, London 1994 sowie Sam Kula: »Film Archives at the Centenary of Film«, in: Archivaria Nr. 40 (1995). Online verfügbar http://journals.sfu.ca/archivar/index.php/archivaria/issue/view/399/ showToc (zuletzt 11.12.2012). Zur neuerlichen Debatte unter digitalen Vorzeichen vgl. Leo Enticknap: »Have Digital Technologies Reopened the Lindgren/Langlois Debate?«, in: spectator 27. Jg. (2007), Nr. 1, S. 10-20. Online unter: http://www.enticknap.net/leo/ research/spectator_access.pdf (zuletzt 11.12.2012).

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Fabian Tietke

A NHANG Filme aus dem Kontext des Dritten Kinos im Verleihprogramm der Freunde der deutschen Kinemathek 1972/3 und des Arsenal – Institut für Film und Videokunst heute (Stand 27.9.2012).

Occurido en hualfin (Es geschah in Hualfin) Argentinien 1966 Teil I; Cuando quede en silencio el viento 35mm OF Teil II: Greda 35mm OF Teil III: Elinda del Valle 16mm OF, R, P, K, B: Raymundo Gleyzer, Jorge Preloran

1972

heute

x

x (35mm und 16mm OF)

Ollas populares (Volksküche), Argentinien 1968, R: Grupo eine Liberacion, 6’

x (16mm Lichtton, x OF) (2 Kopien 16mm OF)

La paz (Der Frieden), Argentinien 1968, R: Grupo cine Liberacion, 5’

x (16mm Lichtton, OF)

x (16mm Lichtton, OF)

La hora de los hornos (Die Stunde der Hochöfen), Argentinien 1968, R: Fernando Ezequiel Solanas Teil I; Neokolonialismus und Gewalt Teil II: Akt für die Befreiung Teil III: Gewalt und Befreiung

35mm OmeU und 16mm Lichtton OF

x Teil 1: 16mm OmeU Teil 2: 35mm OmeU Teil 3: 35mm OmeU

Muerte y pueblo (Tod im Dorf), Argentinien 1969, R: Nemesio Juarez, 16’

x (16mm Lichtton, OF)

x (16mm Lichtton, OF)

El camino hacia la muerte del viejo Reales (Der Weg zum Tod des alten Reales), Argentinien 1971, R: Gerardo Vallejo

x (35mm OmeU)

-------------------------------------

Yawar Mallku (Das Blut des Kondors), Bolivien 1969, R: Jorge Sanjinés

x (35mm OmeU)

x (35mm OmU)

Testimonio (Zeugnis), Chile 1968, R: Pedro Chaskel, 10’’

x (16mm Lichtton, OF)

x (16mm Lichtton, OF)

Desnutricion infantil (Unterernährung bei Kindern), Chile 1969, R: Alvaro Ramirez

x (16mm Lichtton, OF)

x (16mm OF)

Das Dritte Kino im Archiv Herminda de la victoria (Herminda des Sieges), Chile 1969, R: Douglas Hübner

x (16mm Lichtton, OF)

x (2 Kopien 16mm, Lichtton, OF)

B.R.P., Chile 1970, R: Alvaro Ramirez, Samuel Carvajal, Leonardo Cespedes, 15’

x (16mm Lichtton, OF)

-------------------------------------

Casa o mierda (Wohnung oder Scheisse), Chile 1970, R: Gulliermo Cahn, Carlos Flores und Bewohner der Siedlung »La Union«, 10’

x (16mm, Lichtton, OF) geänderte Regiecredits: x (16mm Lichtton, Guillermo Cahn, OF) Carlos Flores Delpino, Samuel Carvajal

Miguel Angel Aguilera, presente (Chile 1970, R: Alvaro Ramírez, x (16mm Lichtton, Samuel Carvajal, Leonardo OF) Céspedes, 7’

x (16mm Lichtton, OF)

x (16mm Lichtton, Mijita (Fräulein), Chile 1970, OF) R: Sergio Castilla, Patricio Castilla, 18’

x (16mm Lichtton, OF)

Reportaje a Lota (Reportage über Lota), Chile 1970, R: Abteilung Filmkunst der Universität Chile, Valparaiso und der zentralen, vereinigten Arbeitergewerkschaft x (16mm Lichtton, Chiles; teilgenommen haben OF) die Studenten der Schule für Film, Vina del Mar: Jose de la Vega, Oscar Molina, Jorge Müller, Alvaro Pantoja, Alfonso Pérez, Leonel Torres, Daniel Vega, 17’ Venceremos (Wir werden siegen). x (16mm Lichtton, Chile 1970, R: Pedro Chaskel, sw, OF) Hector Rios, 15’

x (16mm, Lichtton, OF) geänderte Regiecredits: Diego Bonacina, José Román

x (16mm Lichtton, sw, OF)

Now! (Jetzt), Cuba 1965, R: Santiago Alvarez, 35mm 6’ OF

X x (35mm, Lichtton, (2 Kopien 35mm, OF) Lichtton, OF, 1 Kopie: 16mm, Lichtton, OF)

La guerra olvidada (Der vergessene Krieg), Kuba 1967, R: Santiago Alvarez, 19’

x (35mm, Lichtton, OF)

x (35mm, Lichtton, OmU und 16mm Lichtton, sw, OmU)

Hanoi, Martes 13 (Hanoi, Dienstag der 13.), Kuba 1967, R: Santiago Alvarez, 38’

x (35mm, Lichtton, sw/Farbe, eng. Fassung)

x (35mm, Lichtton, sw/Farbe, OmeU)

Por primera vez (Zum ersten Mal), Kuba 1967, Octavia Cortazar, 15’

x (35mm, Lichtton, OF)

x (35mm, Lichtton, OmU)

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Fabian Tietke La hora de los hornos (Die Stunde des Feuers). Kuba 1968, R: Santiago Alvarez, 15’

x (35mm, Lichtton, OmeU)

-------------------------------------

Colombia 70 (Kolumbien 70), Kolumbien 1970, R: Carlos Álvarez, 5’

x (16mm Lichtton, sw, OF)

x (16mm Lichtton, sw, OF)

¿Que es la democracia? (Was ist Demokratie?), Kolumbien 1970, R: Carlos Álvarez, 42’

x (16mm Lichtton, sw, OF)

x (16mm Lichtton, sw, OF)

Un dia yo pregunte (Und eines Tages fragte ich), Kolumbien 1970, R: Julia de Alvarez, 8’

x (16mm Lichtton, OF)

-------------------------------------

Elecciones (Wahlen), Uruguay 1967, R: Mario Handler, Ugo Ulive, 39’

x (35mm OF)

x (35mm OF)

Me gustan los estudiantes (Mir x (16mm, Lichtton, gefallen die Studenten), Uruguay OF) 1968, R: Mario Handler, 6’

x (16mm, Lichtton, OF)

Liber Arce – Liberarse, Uruguay 1969, R: Mario Handler, Mario Jacob Banchero, 10’

x (16mm stumm, sw, OF (Zwischentitel))

x (16mm stumm, sw, OF (Zwischentitel))

El problema de la carne (Das Problem des Fleisches), Uruguay 1969, R: Mario Handler, 21’

x (16mm, Lichtton, sw, OF)

x (16mm, Lichtton, sw, OF)

Santa Teresa, Venezuela 1970, R: Alfredo J. Anzola, 8’

x (16mm Lichtton, sw, OF)

x (16mm Lichtton, sw, OF)

TVenezuela (TV Venezuela), Venezuela 1969; R: Jorge Sole zusammen mit: Juan Santana, Roberto Siso, Gastone Vinsi, Iván Croce, Elizabeth Soureeau, Américo Dendarién, Manuel Marquina, Jenaro Sanjinés, Jairo Gómez, 30’

x (16mm Lichtton, sw, OF)

x (16mm Lichtton, sw, OF) geänderte Regiecredits: Jorge Sole

Contrainformacion (Gegeninformation), Venezuela 1970, R: anonym, 48’

x (16mm Lichtton, sw, OF)

x (16mm Lichtton, sw, OF)

x (16mm Lichtton OF)

x (16mm Lichtton OF) geänderte Regiecredits: Maria Luisa Mallet

Filme des Nachtrags 1972/73 Amuhuelai – mi (Du wirst nicht mehr auszuwandern brauchen) Chile 1971, R: Maria Luisa Mallet und einem Kollektiv von weiteren Filmschaffenden, 11’

Das Dritte Kino im Archiv El chacal de Nahueltoro (Der Schakal von Nahueltoro) Chile 1969, R: Miguel Littin, 85’

x (35mm Lichtton, OmU)

x (35mm Lichtton, OmU)

No es hora de llorar (Es ist nicht x (16mm, Lichtton, die Stunde zu weinen) Chile 1971, sw, OF) R: Pedro Chaskel, Alberto Sanz, 35’

-------------------------------------

Pintando con el pueblo (Mit dem Volke malen) Chile 1971, R: Lermarlo Céspedes, 8’

x (16mm, Lichtton, sw, OF)

x (16mm, Lichtton, sw, OF)

x (35mm, Lichtton, El sueldo de Chile (Der Freis, Farbe, OF) den Chile zahlen musste) x (16mm, Lichtton, geänderte Chile 1971, R: Fernando Balmaceda Farbe, OF) Regiecredits: und einem Kollektiv von 9 weiteren Fernando Balmaceda Filmschaffenden, 14’ Brigada venceremos, Kuba 1970, Sergio Nuñez Martinez, 14’

x (16mm, Lichtton, sw, OF)

x (16mm, Lichtton, sw, OF mit eng. Voiceover)

La rosca (Die Clique) Uruguay 1971, R: Grupo America Nueva, 14’

x (16mm, Lichtton, sw, OF)

-------------------------------------

Kino in Opposition (Der unabhängige Spielfilm in Lateinamerika), BRD 1970. R: Peter B. Schumann, 49‹

x (16mm, Magnetton, sw)

x (16mm, Magnetton, sw)

Kino im Untergrund (Der politische Dokumentarfilm in Lateinamerika), BRD 1970. R: Peter B. Schumann, 43’

x (16mm, Magnetton, sw)

x (16mm, Magnetton, sw)

x

-------------------------------------

Nutuayin mapu (Wir erobern unser Land) Chile 1971, R: Carlo Flores Delpino, Guillermo Cahn, 8’

x (16mm, Lichtton, sw, OF)

x (16mm, Lichtton, sw, OF)

Mexico – La revolution congelada (Mexiko – die eingefrorene Revolution) Argentinien 1970, R: Raymundo Gleyzer, 60’

x (16mm, Lichtton, OmeU)

-------------------------------------

Außerdem

Brazil – A Report on Torture (Brasilien – Ein Bericht über die Folter), USA/Chile 1971, R: Saul Landau, Haskell Wexler, Bob Estrin, Chris Burrill Filme des INTERNATIONALEN FORUMS DES JUNGEN FILMS 1971

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Fabian Tietke Wechma (Spuren) Marokko 1970, R: Hamid Benani, 105’

x (35mm, Lichtton, sw, OmU)

x (35mm, Lichtton, sw, OmU)

Voto mas fusil (Stimmzettel und Gewehr) Chile 1970, R: Helvio Soto, 83’

x (35mm, Lichtton, Farbe, OmU)

x (35mm, Lichtton, Farbe, OmU)

Argentina, mayo de 1969: Los caminos de la liberación (Argentinien, Mai 1969), Argentinien 1969, R: Arbeitskollektiv Realizadores de Mayo

x (16mm, DigiBeta) neue Regiecredits: Nemesio Juárez, Enrique Juárez, Humberto Ríos, x (16mm, Quelle: Octavio Getino, Pino Forumsblatt) Solanas, Jorge Martín, Eliseo Subiela, Pablo Szir, Rodolfo Kuhn, Jorge Cedrón, Realizadores de Mayo

La bandera que le vantamos (Die Fahne, die wir erheben), Uruguay 1971, R: Mario Jacob, Eduardo Terra, 14’

x (16mm Lichtton x (16mm Lichtton OF) OF)

Santa Maria de Iquique, Chile 1971, R: Claudio Sapiain, 24’

x (16mm Lichtton sw OF)

x (16mm Lichtton sw OF)

Monangambee, Algerien 1969, R: Sarah Maldoror, 15’

x (16mm, Lichtton, sw, OF)

x (16mm, Lichtton, sw, OF. Auch: DigiBeta)

Forum 1971: 35 mm, gedreht auf 16 mmNegativ, schwarzweiß, kopiert auf Positiv, Eastmancolor, viragiert in sepia, blow-up (Quelle: Forumsblatt)

x (16mm, Lichtton, viragiert sepia, OF)

Filme des INTERNATIONALEN FORUMS DES JUNGEN FILMS 1972

Reed – Mexico insurgente (ReedMexiko im Aufruhr), Mexiko 1972, Paul Leduc, 124’

x (16mm, Lichtton, Al grito de este pueblo (Der Schrei dieses Volkes), Argentinien sw, OF), gedreht in Ektachrome 1972, R: Humberto Rios, 61’

x (16mm, Lichtton, sw, OF)

Planas – Testimonio de un x (16mm, Lichtton, etnocidio (Planas – Zeugnis sw, OmU) einer Ausrottung) Kolumbien 1971, R: Jorge Silva, Marta Rodrigues

x (16mm, Lichtton, sw, OmU)

»Deplatziertheit auf vielen Ebenen« Jan Künemund im Gespräch

Die Gegenwart des Autorenkinos in fast allen seinen Spielarten ist geprägt von der Interaktion verschiedener Akteure, sowohl auf Seiten der Finanzierung und der Produktion als auch auf Seiten der Distribution. Dem Kinozuschauer vermittelt sich das höchstens über die Vielzahl an Logos und Signaturen am Ende des Abspanns. Können Sie, vielleicht am Beispiel eines einzelnen Films, aufschlüsseln, wie derartige Kooperationen – insbesondere im Fall von Filmen, die auf ein internationales Publikum zielen – konkreter entstehen? Wo beginnt das Projekt, welche Partner müssen von Anfang an dabei sein, wer stößt erst später dazu? Das ist von Film zu Film völlig unterschiedlich. Grundsätzlich taucht im Abspann jeder auf, der in den Film investiert hat – in den Phasen der Entwicklung, der Produktion oder der Distribution. Am Anfang wird ein Projekt meistens bei jeder möglichen Gelegenheit »gepitched«, also vorgestellt und in seinen möglichen Dimensionen angepriesen, um Produzenten und Koproduzenten zu finden. Am besten auch einen Sender. Dann wird versucht, europäische, Bundes- oder regionale Förderung zu finden. Einige Festivals haben auch Töpfe, um kommende Beiträge direkt anzukurbeln und an sich zu binden (der Hubert Bals Fund in Rotterdam, die Ateliers von Cannes, der World Cinema Fund in Berlin z.B.). Das Bundeskulturministerium vergibt Drehbuchförderung, stellt Dramaturgen zur Seite usw. Die DFFF-Förderung kann greifen, wenn der Produzent die Kinoauswertung garantieren kann – d.h., da ist ein Verleih schon im Projektstatus dabei. Bei der tatsächlichen Produktion kann es dann ganz unübersichtlich werden, internationale Koproduzenten bündeln (teilweise über Agenturen) alle möglichen Geldgeber in ihren Ländern, da können noch Stiftungen dazukommen, Galerien, Privatleute, eine »Crowd« etc. Dann kommen die Zwischenhändler, also der Weltvertrieb, der manchmal einfach nur ein- und weiterverkauft, manchmal aber schon an den kreativen Prozessen beteiligt ist, die Festivals auswählt etc. Am Ende stehen Verleih und Verleihförderung, viel-

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»Deplat zier theit auf vielen Ebenen«

leicht noch DVD-Förderung. Und Teillizensierungen für Goethe-Institute oder Schulfilm-Programme. Natürlich geht das auch anders. Sleepless Knights ist zum Beispiel ein Film, der komplett ohne Förderung entstand und den es nur gibt, weil ihn das Regieteam (Cristina Diz, Stefan Butzmühlen) und der Produzent (Björn Koll) so haben wollten. Zwangsläufig hat er ein kleines Budget – und einen kurzen Abspann. Das historische Dritte Kino war von der Vorstellung geleitet, dass eine Erneuerung der filmischen Ästhetik zwingend begleitet werden muss von der Schaffung alternativer Strukturen im Bereich der Produktion und der Distribution. Ist von dieser Idee, Ihren Erfahrungen nach, noch etwas übrig geblieben in dem Feld, das man heute unter »Independentkino«, oder spezieller, »World/Queer etc. Cinema« fasst? Oder sieht man sich dort lediglich als ein Nischensegment innerhalb eines zwar ausdifferenzierten, aber im Großen und Ganzen alternativlosen Marktes? Da müsste man dieses Feld wohl erst mal ausdifferenzieren. Da gab es historisch ja einerseits Integrationsprozesse (z.B. die verschiedenen IndependentFilm-Bewegungen in den USA) und andererseits Nischenbildungen. Letzteres trifft besonders stark auf das Queer Cinema zu: Es gibt spezialisierte Sender, Festivals, Verleiher, Kinoreihen; in den USA gibt es sogar Schauspieler, die ausschließlich in Queerfilmen arbeiten. Innerhalb dieser Nische ist dann aber ziemlich viel möglich: So lange ein Film eine nicht-heterosexuelle Geschichte oder Konstellation erzählt, kann sich auch eine Produktion aus den Philippinen, dem Baskenland oder Guinea Hoffnung auf eine kommerzielle internationale Auswertung machen. Trotzdem ist die Integrationskraft dieser Nische begrenzt und sorgt nach wie vor dafür, dass neue Vertriebs- und Präsentationsformen entwickelt werden – die Zusammenarbeit von Travis Matthews mit Pornoproduktionsfilmen oder der queeren Hipster-Zeitschrift BUTT, für die er virale Clips entwickelt hat, mal als Beispiel; oder die Flirts von Apichatpong Weerasethakul oder Isaac Julien mit dem Kunstmarkt. Um zur Frage zurück zu kommen: ja, eine alternative Filmkultur gibt es, nicht alles wird für die Nischen oder Subsysteme des Marktes produziert. Es gibt Filmförderungen, die sich nicht als Wirtschaftsförderungen verstehen, es gibt das Internet, in dem man relativ unreguliert publizieren kann, es gibt einen Kunstmarkt, der m.E. innovative Ästhetiken fördert und es gibt Festivals, die ständig Input brauchen. Die Herstellung eines Films ist billiger denn je. Wenn ein entsprechender Spirit da ist, kann leicht etwas möglich gemacht werden. Wie man aber unabhängig vom Markt Kontinuitäten und finanzielle Perspektiven schaffen will, ist eine andere Frage. Aber das war ja schon immer so.

Jan Künemund im Gespräch

Geht mit der anteiligen Förderung durch Filmfestivals, Verleiher und andere Parteien, die alle bestimmte Erwartungen, Profit- und Prestigeinteressen an das Endergebnis knüpfen, nicht die Gefahr einer gewissen Zirkularität der unter solchen Bedingungen produzierten Filme einher? Dass der Hubert Bals Fund seine Unterstützung nicht von Profitaussichten abhängig macht ist schön und gut – statt einer Subsumption unters Kapital erleben wir in diesem Bereich aber so etwas wie eine filmästhetische Einengung. Oder ist der Eindruck falsch, dass sich das Weltkino immer ähnlicher wird? Dazu kann ich wenig sagen, weil ich mir unter normalen Umständen nur einen punktuellen, keinen repräsentativen Eindruck von Festivals verschaffen kann. Aber ich lese das in Berichten immer wieder. Mir kommt das einerseits sehr plausibel vor, weil es immer Trends gibt, einen Austausch, eine Konjunktur bestimmter Formen, für die es gerade Aufmerksamkeit gibt. Andererseits mag ich das nicht kritisieren, weil mir die Sehnsucht nach dem radikal-autonomen Einzelwerk eher fremd ist und das in meinen Augen einem Geniegedanken entspringt, den man vor allem auf das World Cinema anzuwenden scheint. Naheliegend finde ich die Vorstellung schon, dass ein Kunstwerk das Medium und die Praxis seiner Aufführung mitreflektiert – wie sehr bspw. der Loop aus dem installativen Kontext, der dem lukrativen Akteur des Kunstmarkts geschuldet ist, sich bereits in heutigen Kino-Erzählformen manifestiert, ist ja schon verschiedentlich als Trend aufgefallen. Gleiches mag auch für Filme gelten, die aus Festivalinitiativen heraus entstehen. Peter Sellars’ Wiener New Crowned Hope Festival z.B. hat trotzdem als Mäzen großartiger Beiträge sehr gut funktioniert. Aber inwieweit eine globale Festivalkultur, die kaum noch Verbindungen zu lokalen Film-Infrastrukturen unterhält, einen ästhetischen Einheitsbrei produziert, ist eine interessante Frage. Mehr als in anderen Bereichen des Kinos kann man für Filme, die dem »World Cinema« zugeordnet werden, eine Diskrepanz ausmachen zwischen der Aufmerksamkeit bei Kritik und – spezialisierter – Öffentlichkeit anlässlich von Festivalstarts und ihrer fast völligen Abwesenheit im Alltagsbetrieb des deutschen Kinos. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen? Sehen Sie Möglichkeiten, dieser Entwicklung etwas entgegen zu setzen? Die Beobachtung stimmt natürlich. Da kann man – wie es meistens geschieht – mit fehlender deutscher Cinephilie, medienpädagogischem Versagen, Leerstellen der Filmvermittlung u.ä. argumentieren. Oder vielleicht mit einer allgemeinen Neugierdelosigkeit oder einem aktuellen Konservatismus. Vor zehn, fünfzehn Jahren gab es noch ein großes Interesse für asiatisches Kino (Kim Kiduk, Wong Kar-Wai usw.), und ein Film wie City of God war ja ein regelrechtes Pop-Phänomen. Als im letzten Jahr Bal so erfolgreich lief, hatte man schon

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»Deplat zier theit auf vielen Ebenen«

gehofft, dass sich das Zuschauerverhalten wieder ändert, dass es wieder eine Neugier gibt auf andere Geschichten, andere Kulturen, andere Ästhetiken. Auch die deutschen Arthouse-Verleiher hatten da kurz aufgeatmet, glaube ich. Doch kurz danach startete und floppte der Cannes-Gewinner Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives und die Illusion löste sich in Luft auf. Man muss sich wohl mit diesem Phänomen arrangieren: Das immer älter werdende Kinopublikum möchte nicht verstört, deprimiert oder infrage gestellt werden, während die Festivals auf ein offenes, risikofreudiges und leicht erregbares Event-Publikum hoffen dürfen. Wenn man auf breiterer Ebene den deutschen Kino-Alltagsbetrieb verändern will, müsste man Vermittler installieren. Jede Ausstellung bietet erfolgreich Führungen an, vor klassischen Konzerten gibt es Einführungen, im Kino muss das Publikum immer selbst entscheiden, was es sich an diesem Tag gerade zumuten will. Diese Schwellenängste könnte man abbauen, schon in der Schule. In diesem Zusammenhang: Hat das System der mehr oder weniger flächendeckenden »Deutschlandstarts« für einen Verleih wie Salzgeber eine Zukunft? Wie sähen mögliche Alternativen aus? Das kommt darauf an. Für manche unserer Filme wird das weiterhin funktionieren, aber das, was wir häufig machen, Metropolenstarts (also 5-15 Kopien in den Großstädten) mit kleinen Filmen innerhalb des regulären Kinosystems, wird allein schon durch die neue »Virtual Print Fee« (der Verleiher-Zwangsabgabe für jeden Kinoeinsatz zur Finanzierung der Kino-Digitalisierung) bald unmöglich gemacht werden. Die Alternativen gehen natürlich in den Event-Bereich: einzelne Vorstellungen, je nach Film und erwartbarem Publikum Matineen oder Filmnächte – vergleichbar einem Festivalscreening. Ist das Festivalprinzip im Begriff, dem regulären Kinobetrieb – zumindest was die Präsenz des »World Cinema« betrifft – den Rang abzulaufen? Oder ist das eine Wahrnehmung, die sich so nur in Deutschland einstellt? Das scheint mir aus den genannten Gründen durchaus plausibel, wird aber als Fanal vor allem von Festivalleitern behauptet, die keine kommerzielle Auswertung von Filmen über ihre Leinwände hinaus anbieten können. Andere Festivals sind dagegen vor allem auf ihren Markt stolz. Traditionell stehen Festivals und Kinoverleiher in einem Spannungsverhältnis zueinander und kooperieren selten. Wobei sich Festivals ja nach wie vor an Kinos als Abspielorte binden. Man könnte sie ja auch verlassen – die Projektionstechnik ist durchaus flexibel geworden.

Jan Künemund im Gespräch

Apropos Flexibiliät: Wie verhält sich denn Salzgeber zur Digitalisierung? Werden Filme – das betrifft vermutlich vor allem den Bestand an älteren Filmen – weiter auf Filmkopien vorrätig gehalten? Ja. Die meisten unserer Filmkopien, darunter sehr seltenes 16mm-Material, haben wir noch im eigenen Keller. Langfristig wird es dafür wohl eine physische Heimat in Kinematheken geben, wobei wir aber einen Zugriff auf unsere Kopien behalten. 35mm-Kopien von digitalem Ausgangsmaterial aufzubewahren, erscheint uns dagegen wenig sinnvoll. Damit zusammenhängend: Wie steht es um die Archivlage im Bereich des Queer Cinema allgemein? Gibt es Institutionen – oder auch nur Individuen – die sich in diesem Bereich spezialisiert haben? Und: Da es in Deutschland keine Archivpflicht gibt, drohen gerade randständigere Filme, die in halb- oder nichtprofessionellem Zusammenhang entstehen, komplett verloren zu gehen. Wie schätzen Sie die Zukunft Ihres eigenen Katalogs (über den hoffentlich langfristigen Bestand des Labels Salzgeber hinaus) ein? Soweit ich weiß, gibt es nirgendwo ein Queer-Cinema-Archiv. Kürzlich erhielten wir eine Anfrage von Gus van Sant, der keine einzige 16mm-Kopie seines Kurzfilms Five Ways To Kill Yourself mehr hatte – wir konnten ihm eine schicken. Tatsächlich gibt es Überlegungen und Angebote, unsere Kopien im Kontext eines Sammelschwerpunkts »Queer Cinema« zu lagern. Das hat aber bisher wenig mit unseren eigenen Vorstellungen eines »lebenden Archivs« zu tun, wo Filme nicht nur abgestellt (bei der Lagerung digitaler Formate hängen viele Kinematheken ja auch der Entwicklung hinterher), sondern auch abgetastet, restauriert, mit Materialien kontextualisiert und zur Verfügung gestellt werden. Da läge das Modell einer Stiftung näher, die aktiv Fremdmittel einholen kann – Juliane Lorenz macht das mit ihrer Fassbinder Foundation ja ganz erfolgreich (aber um das Erbe von Fassbinder und Murnau muss man sich ja keine Sorgen machen). Nicht-kommerzielle Queer-Filme zur Verfügung zu stellen, am besten noch in ihrem nativen Format, eine digitale Sicherungskopie herzustellen, die verschiedenen Sprachfassungen zu sammeln – dafür gibt es gerade keine Grundlage, außer man macht es selbst. Deshalb behalten wir unser eigenes Lager wahrscheinlich noch eine Weile.

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»Deplat zier theit auf vielen Ebenen«

Dakan

Es fällt auf, dass viele Regisseure, die gemeinhin unter »World Cinema« geführt werden, auch genauso gut mit »Queer Cinema« in Verbindung gebracht werden könnten: z.B. Apichatpong Weerasethakul, Tsai Ming-liang, Raya Martin, Brillante Mendoza. Wie verhalten sich diese Begriffe für Sie zueinander? Und wie geht ein Label wie Salzgeber mit solchen Zuschreibungen um? Das ist richtig und fällt gar nicht so häufig auf (Filmkritiker z.B. tilgen ja gerne einen Film wie The Adventure of Iron Pussy aus der Filmografie von Weerasethakul – erklärtermaßen gegen den Willen des Autors…). Tatsächlich gibt es vernetzte queere Künstler-Szenen im World Cinema, in Thailand, auf den Philippinen, in Argentinien etwa. Wenn man das sehr allgemeingültig erklären will, kann man behaupten, dass sich die Geschichten der strukturell Vernachlässigten nicht so ohne Weiteres in den international erfolgreichen US-amerikanischen und europäischen Filmnarrativen erzählen lassen (auch wenn das natürlich immer wieder versucht wird). Dass man deren Formen zwar kennt, ihnen aber nicht komplett vertraut. Dass man statt dessen mit ihnen spielt. Dieser Austausch wird in mehrerer Hinsicht durch die schon angesprochenen Nischenstrukturen erschwert, da ein Film, der innerhalb dieser QueerNische vermarktet wird, implizit oft so verstanden wird, als hätte er kein Interesse daran, außerhalb von ihr wahrgenommen zu werden. Viele Filmemacher haben deshalb Angst vor ihr – zurecht. Andererseits stellt sie eben auch eine

Jan Künemund im Gespräch

Chance dar: relativ stabile Auswertungsperspektiven dank einer chronisch unterversorgten Zielgruppe, die sich eben auch auf einen Film über ein Männerpaar in Guinea (wie in Dakan) einlässt, der völlig anders erzählt ist als das, was normalerweise als »westlicher« Erzählstandard in Kinofilmen gilt. Für uns ist die Situation allerdings manchmal schon absurd: unsere Zielgruppe erwartet von uns eigentlich den neuen Brokeback Mountain und stolpert dann über einen großartigen João-Pedro-Rodrigues-Film, während die an innovativen Ästhetiken geschulte Filmkritik unsere Veröffentlichungen oft ignoriert, weil sie sie als Nischenfutter abtut. Ich bin allerdings fest davon überzeugt, dass überall dort, wo für »andere Geschichten« notwendigerweise auch »andere« Erzählweisen entwickelt werden, immer auch queere Aspekte eine Rolle spielen. Deshalb meint der Begriff eines »Queer Cinema«, der mir am plausibelsten vorkommt, immer auch die Form, nicht nur den Inhalt. Wie verhält sich zum Beispiel ein Film wie der von Ihnen mitproduzierte Sleepless Knights zu solchen Kategorien? Sleepless Knights ist – wie die meistens von uns vertriebenen oder produzierten Filme – von der Anlage her kein Nischenfilm, könnte darüber aber sein Publikum finden. Er handelt, was seinen »World-Cinema«-Ansatz angeht, auch eher vom Austausch und nicht von kulturellen Essenzen. Es ist kein Film über die traditionellen Lebenswelten in der Extremadura (das wäre ohnehin merkwürdig angesichts der in der Franco-Zeit massiv veränderten Dorfstrukturen), sondern handelt von queeren Befragungen des Sozialen unter sehr heutigen Bedingungen ökonomischer Veränderungen. Fremdheiten, die in den historischen Begegnungen mit den Mauren ritualisiert wurden, werden mit heutiger Jugendarbeitslosigkeit, neuen Konzepten von Männlichkeit, Familie etc. gespiegelt. Aber das Ganze ist ein Film: Diese Schichten werden ihm zum Material, dem er sich in seiner langen Vorbereitungszeit angenähert hat, für dessen Aufeinander-Reagieren er eine Sprache findet bzw. konstruiert. In solchen Fällen mag ich die Rhetorik der Queer-Film-Festivals nicht – für die wäre Sleepless Knights ein Film über Homosexualität in entlegenen Kulturen oder rückständigen Gebieten. Um beides geht es dem Film aber nicht. Er erzählt auf ganz vielen Ebenen von einer Deplatziertheit: von mittelalterlichen Ritualen und Moderne, von Jugendlichen auf dem Land, von Schwulen innerhalb traditionell organisierter Familien. Die Perspektive, die der Film darauf wirft, ist queer: Nichts von dem, was er zeigt, ist für ihn selbstverständlich, alles ist eine Frage. Auch seine Form. Ob es einen Weg gibt, Sleepless Knights gewinnbringend auszuwerten, jenseits seiner Festivalpräsentationen (Internationales Forum des jungen Films, BAFICI, San Sebastian International Film Festival, Göteborg International Film Festival), ist die Frage. Aber er ist bewusst so frei und gering budgetiert produziert

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»Deplat zier theit auf vielen Ebenen«

worden, dass er entspannt und ohne Investorendruck auf seine Entdeckung warten kann. Die Fragen stellte The Canine Condition

II. China

Walking With. Eine Geschichtsschreibung der Gegenwart Zu den Filmen von Wang Bing Simon Rothöhler

»Man with no name« lautet der programmatische Titel einer jüngeren, beiläufig entstandenen Arbeit des chinesischen Dokumentaristen Wang Bing, die im Jahr 2009 fertiggestellt wurde. Die Titelfigur, der dieser Film gewidmet ist, lebt im fundamentalsten Sinn außerhalb der chinesischen, außerhalb jeder Gesellschaft: in einer Art Höhle, irgendwo am Rand eines kleines Dorfes. Eine denkbar karge Behausung, deren Eingang nachts mit Plastiksäcken und Stoffresten verstellt wird. Über zwei Jahre hat Wang Bing einen Alltag beobachtet, der vollständig aus Überlebenshandlungen, aus elementarster Subsistenz zu bestehen scheint. Ein halb ausgetrocknetes Feld wird gejätet, Reisig gesammelt, Gemüse grob geschält und einfach zubereitet. Immer wenn sich dieser Mann, dessen Name genauso unerwähnt bleibt wie der Ort, an dem sich dieses Leben abspielt, in seine Höhle zurückzieht, hält Wang Bings digitale Handkamera kurz inne, filmt das schwarze Loch, zu dem der Höhleneingang in diesen Bildern wird – und entscheidet sich dann doch, auch diesen Rückzugsort im Erdreich zu betreten, filmisch zu erkunden, festzuhalten. 90 Minuten dauert dieser dialoglose Film, der den Betrachter in verstörender Unvermitteltheit mit einem völlig marginalisierten Leben und Lebensraum konfrontiert, ohne daraus ein Sujet zu formen. Von äußerster Schroff heit und doch voller Empathie ist Man with no Name (᮴ৡ㗙, 2010); ein Projekt, in dem sich der Dokumentarist als Protokollant mit historiografischer Ambition versteht, in dem filmisch vermittelte Praktiken des Aufschreibens auf Herstellung von Sichtbarkeit abzielen. *** Im Spektrum des zeitgenössischen Dokumentarfilmschaffens stehen die digital (und in Distanz zur chinesischen Fernseh- und Filmindustrie) produzier-

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ten Arbeiten von Wang Bing geradezu modellhaft für eine audiovisuelle Form einer Geschichtsschreibung der Gegenwart. Wangs Kino wartet nicht auf Geschichte, auf das Historischwerden von Ereignisketten; es untersucht einen komplexen, widersprüchlichen, epochalen Transformationsprozess, während er noch im Gang ist. Die beschleunigte Modernisierung der Volksrepublik China ist das makrogeschichtliche Sujet dieser Filme; der unter Deng Xiaoping noch staatspropagandistisch heroisierten, während des forcierten Eintritts des Landes in den Weltmarkt rücksichtslos der Pauperisierung ausgelieferten Arbeiterklasse – ihrem Niedergang und ihrer gegenwärtigen Reorganisation unter staatskapitalistischen Vorzeichen – gilt auf Akteursebene das Hauptinteresse. Nicht nur deshalb sind Wangs Filme als Beitrag einer Geschichte der chinesischen Gegenwart »von unten« zu verstehen, was in der begriffsprägenden Definition des englischen Sozialhistorikers E. P. Thompson sowohl eine historiografische Perspektive als auch einen geschichtspolitischen Horizont benennt: »Only the successful (in the sense of those whose aspirations anticipated subsequent evolution) are remembered. The blind alleys, the lost causes, and the losers themselves are forgotten. I am seeking to rescue the poor stockinger, the Luddite cropper, the ›obsolete‹ hand-loom weaver, the ›utopian‹ artisan, and even the deluded follower of Joanna Southcott, from the enormous condescension of posterity. Their crafts and traditions may have been dying. Their hostility to the new industrialism may have been backward-looking. Their communitarian ideals may have been fantasies. Their insurrectionary conspiracies may have been foolhardy. But they lived through theses times of acute social disturbance, and we did not. Their aspirations were valid in terms of their own experience; and, if they were casualties of history, they remain, condemned in their own lives, as casualties.« 1

Die »enormous condescension of posterity« artikuliert sich vor allem im Vergessen und Unsichtbarmachen geschichtlicher Tatsachen, die weder archiviert noch aufgeschrieben werden. Die Verlierer der Geschichte werden zweifach besiegt: zuerst von realgeschichtlichen Siegern, Machthabern, Hegemonialakteuren, dann von einer Historiografie, die primär das Handeln großer Persönlichkeiten festhält, die »Geschichte der Verträge und Kriege«2 (Paul Veyne) schreibt und die Besiegten, wenn überhaupt, nur als anonyme, passive, viktimisierte Verfügungsmasse langfristiger Strukturentwicklungen in den Blick nimmt. 1 | Edward Palmer Thompson: The Making of the English Working Class, London 1980, S. 13. 2 | Paul Veyne: Geschichtsschreibung – Und was sie nicht ist, Frankfurt a.M. 1990, S. 25.

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Im Modell der Gegengeschichte ist der Wunsch enthalten, den Siegeszug der historischen Akteure nicht im Medium der Historiografie zu wiederholen – und somit festzuschreiben –, sondern eine andere Perspektive und Praxis des Aufschreibens, der Tradierung zu etablieren. Dass sich in dem, was aufgezeichnet, überliefert und erforscht wird, Machtverhältnisse nicht nur manifestieren, sondern auch perpetuieren, ist vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert als Diskussionsgegenstand der Geschichtstheorie kanonisiert worden – nicht zuletzt im Umfeld postkolonialer Theoriebildung. Ein wichtiger Grund hierfür liegt in einem generellen Quellenproblem jeder Geschichte von unten: Die Archive gehören den Siegern; das Besiegtwerden geht mit Archiv-Exklusion bzw. Unterdrückung autonomer Überlieferung, also epistemischer Gewalt einher. Auch die kritische Historiografie ist deshalb immer wieder darauf verwiesen, ihr »writing in reverse«3 (Ranajit Guha) weitestgehend aus vermachteten Hegemonial-Quellen zu destillieren – indem beispielsweise deren Leerstellen, Auslassungen etc. einer alternativen, z.B. dekonstruktivistischen Lektüre unterzogen werden. Freilich nicht aufgelöst ist damit jener angeschlossene Problemkreislauf, auf den insbesondere Gayatri Spivak hingewiesen hat:4 die Anmaßung des Für-andere-sprechens, die Gefahr einer romantisierenden Repräsentation unterdrückter Gegenhelden, die Ersetzung ihres erzwungenen Schweigens durch Fragmente einer nachträglich konstruierten Sprache des Widerstands. *** Wang Bings Filme gehören zwar nicht in den nachkolonialen Problemzusammenhang revisionistischer Historiografie, werfen aber ähnliche geschichtspolitische Fragen auf: nach Möglichkeiten und Grenzen einer »von außen« gestifteten Repräsentation marginalisierter Gruppen und nach der Etablierung alternativer Archive. In den drei zusammengenommen rund 24 Stunden langen Filmen Tiexi District – West of the tracks (䪕㽓ऎ, 2003), Crude Oil (䞛⊍᮹䆄, 2008) und dem Nebenwerk Coal Money (✸⚁, 2008) dokumentiert Wang mit mikrogeschichtlicher Affinität zu den alltäglichen (Überlebens-) Praktiken und gewöhnlich kaum medial aufgezeichneten Details, also zum »Wald des Nicht-Ereignishaften«5 (Veyne), die Lebensumstände von Arbeitern, die entweder aus dem Prozess der Modernisierung Chinas ausgeschlossen 3 | Ranajit Guha: Elementary Aspects of Peasant Insurgency in Colonial India, New Dehli, Oxford 1999, S. 193. 4 | Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak: »Can the Subaltern Speak?«, in: Patrick Williams, Laura Chrisman (Hg.): Colonial Discourse and Post-Colonial Theory, Hemel Hemstead 1994, S. 66-111. 5 | Veyne: Geschichtsschreibung, S. 28.

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wurden (West of the tracks), am untersten Ende der Produktionsverhältnisse dem gewaltigen Rohstoff bedarf der gegenwärtigen Transformationsprozesse nachkommen (Crude Oil) oder in undefinierten sozio-ökonomischen Binnenräumen des »chinesischen Kapitalismus« als unfreiwillige Entrepreneure nach neuen Existenzmöglichkeiten suchen (Coal Money). Als Historiker ist Wang einerseits Chronist im Off der offiziellen chinesischen Geschichtsschreibung. Er widmet sich Räumen und Lebensformen, die außerhalb seiner Filme niemals zum Gegenstand von Dokumentation und Überlieferung werden. Zugleich bewegt er sich vor allem in seiner monumentalen Arbeit West of the tracks wie ein Archäologe durch die Gegenwart, der in materiellen Ruinen und nutzlos gewordenen Praktiken Vergangenheitsschichten sichtbar macht. Der Ist-Zustand wird als Momentaufnahme eines historischen Umwälzungsprozesses perspektiviert, der Kollaps der Schwerindustrie als Fanal einer aufgegebenen sozialistischen Utopie, die in Maos China noch ganz explizit an die Formierung einer Arbeiterklasse gekoppelt war, wie Lu Xinyu ausführt: »W EST OF THE TRACKS is quite unlike Soviet films of the 1930s that celebrated the mills and furnaces of the Five-Year-Plans. Its tone is not heroic. Not even elegiac. Today the factories have become ruins of an ideal. But the memory of that ideal is not extinguished in the film; it lives on in the majesty of these images, because it is rooted in the peculiarities of this industry and those who laboured in it. […] By the early 20th century, not just Marxists but liberals like Hu Shi – in fact virtually all Chinese intellectuals – agreed not only that industrialization was a prerequisite of modernity, but that it could not be successfully accomplished without true sovereignty. Prior to the People’s Republic, no government was equal to either task. But under Mao’s leadership, an advanced industrial base was created, bringing into being a working class that was hailed as, and in a real measure felt itself to be, the master of modernization and the builders of independence. This sense formed the subjectvity of the class […].« 6

Insofern handelt West of the tracks von einem unmaking der chinesischen Arbeiterklasse, die als mobilisierbares Kollektivsubjekt genauso ausgedient hat wie als Adressat für planwirtschaftliche Zielvorgaben. Dem Auslaufen und Anachronistischwerden einer bestimmten Produktionsweise entspricht der Verlust einer offiziell geteilten »Klassen-Subjektivität«, die dem Einzelnen einen Ort innerhalb eines historischen Prozesses wie dem der Modernisierung zuweist. Der in diesem Sinn postideologischen Vereinzelung, der materiellen und ideellen Verarmung geht Wang auch in seinem bislang nur installativ aufge6 | Lu Xinyu: »Ruins of the Future. Class and History in Wang Bing’s Tiexi District«, in: New Left Review, 31, 2005, S. 125-136.

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führten, 14-stündigen Film Crude Oil nach, dessen Kernstück ein langes, ungeschützt systemkritisches Gespräch der Arbeiter einer Hochplateau-Erdölförderanlage über vorenthaltenen Lohn, Korruption und den allgemeinen moralisch-politischen Bankrott der kommunistischen Partei bildet. Über Stunden hinweg hält Wang in langen, ungeschnittenen Einstellungen, quasi in Echtzeit, das Vergehen der (Alltags-)Zeit in einem engen, halbdunklen Pausenraum fest. Geduldig wartet der Film darauf, dass die Arbeiter sich mitteilen; ungerührt wird die Erschöpfung, die diese Tätigkeit hervorruft, aufgezeichnet. Die Arbeitsvorgänge selbst, denen etwa ein Drittel der Spielzeit gewidmet ist, filmt Wang in der gleichen minimalistisch-registrierenden Ästhetik – abgesehen von einigen wenigen James-Benning-artigen Einstellungen, die die gesamte Förderanlage aus großer Distanz kadrieren oder die »Naturzeichen« vergehender Zeit fixieren. Crude Oil richtet sich nach keiner auch nur ansatzweise konventionellen Informationsökonomie des Dokumentarfilmgenres: ein Film der unbeirrt der Ereignislosigkeit, der Wiederholung, der toten, zwischen schwerer körperlicher Arbeit und Erholungsroutinen pendelnden Alltagszeit folgt, sie nachvollzieht und nachvollziehbar macht. Die installative Aufführungsform ist in gewisser Hinsicht von rezeptionästhetischer Konsequenz, weil sie dem Betrachter in einem stärkeren Sinn als innerhalb des Kino-Dispositivs die Entscheidung überlässt, wie viel Zeit er selbst in die Echtzeit-Ästhetik von Crude Oil zu investieren bereit ist, wie lange er dazu in der Lage ist, die filmisch vermittelte Zeit der Arbeiter zu teilen. Gerade weil der Film keine äußerliche Dramaturgie appliziert, sondern vor allem Zeit-Dokument ist, gibt es auch keine nachträgliche Hierarchisierung der im engeren Sinn zeitgeschichtlich relevanten Passagen (vorstellbar wäre eine dichte Montage der Arbeitergespräche, die sich vernichtender über die Nomenklatura ihres Landes äußern als die meisten im Westen gewöhnlich vernehmbaren innerchinesischen Oppositionsstimmen). Die minimalistische Form von Crude Oil erzeugt einen radikal geringen Grad an ästhetischer Aufbereitung eines rauen, monotonen Arbeitsalltags – »where the droning machinery never seems to stop« (Doug Jones). Auch West of the Tracks – in formaler Hinsicht ein vollkommen anderer Film als Crude Oil – reagiert mit einer weit ausholenden Form auf einen vorgefunden Zeit-Raum, der jedoch nicht von endlosen Wiederholungen strukturiert ist, sondern durch einen staatlich definierten und insofern zielgerichteten Transformationsprozess. Crude Oil hebt in seiner formalen Anlage geschichtliche Zeit tendenziell auf: Diese Arbeitsrhythmen scheinen keinen Anfang, kein Ende, keinen Vektor zu haben, sondern sich immerzu zu wiederholen. West of the Tracks hingegen befasst sich mit dem irreversiblen Ablaufen der Zeit, einem historischen Prozess, der über seine Bewegungsrichtung erzählt wird. Die Arbeiter, die West of the tracks porträtiert, sind aus allen Produktionszusammenhängen – auch solchen der Ausbeutung – fast völlig heraus-

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gefallen; wie in Schockstarre verharren sie in den Ruinen längst stillgelegter Produktionsstätten, ohne Orientierung, wie und wo ein Neuanfang möglich sein könnte. Ihre Geschichte zu schreiben bedeutet deshalb nicht zuletzt, das Stumpf- und Passivwerden, die Ereignislosigkeit und Handlungsohnmacht als Folgen einer brutalen gesellschaftlichen Exklusion festzuhalten – auch wenn Wangs Kino die kreativen und solidarischen Mikro-Taktiken des Überlebens gleichfalls genau registriert. Welche ökonomischen Taktiken der »sozialistische Kapitalismus« hervorbringt, wird in Wangs jüngster Arbeit Coal Money anschaulich; ein rund einstündiger Film, der Fernfahrer begleitet, die zwischen den Kohle-Minen der Nordprovinzen Shanxi und Hebei und der Hafenstadt Tianjin verkehren. Die regionale Rückführung planwirtschaftlicher Kontrollen und die Wiederbelebung eines rudimentären Privatsektors mit Eigentumsrechten und Eigeninitiative, haben nicht nur zu enormen Ungleichzeitigkeiten in der Überwindung des chinesischen Industriezeitalters geführt, sondern auf der lokalen Ebene auch zu fast regellosen Marktpraktiken. In Coal Money ist der Staat nicht nur als dirigistischer, sondern auch als ordnungspolitischer Faktor fast völlig abwesend. Die LKW-Fahrer sind zugleich Händler, auf sich gestellte, übermüdete Entrepreneure, die nach langen nächtlichen Fahrten auf staubigen Straßen in endlosen Preisverhandlungen landen. Deals finden auf Zuruf statt, nie fällt ein privates Wort; jeder beutet jeden aus, so gut es geht. Das titelgebende Kohlegeld zirkuliert durch alle Bilder dieses Films und es scheint, als komme es nie zu einem Stillstand, zu einem gesicherten Moment des Profits. In der mikrogeschichtlichen Nahaufnahme erscheint der Transformationsprozess, die Vermarktlichung und Globalisierung Chinas, als sozialdarwinistische Fragmentierung der Gesellschaft. Die Privatisierung setzt alle Transaktionen unter einen neuartigen Druck, produziert einen Verteilungskonflikt, der Gewinner hat, die hier nie ins Bild finden; Profiteure eines auf unterster Ebene halb installierten Kapitalismus, die man nicht sieht. In diesem Sinn untersucht Coal Money exemplarisch Koordinaten einer ökonomischen Realität, die auf jene, die West of the tracks dokumentiert, folgt. Letzterer handelt vom Ende eines Zeitalters, ersterer beobachtet den unübersichtlichen Beginn eines neuen. *** Für sein Hauptwerk West of the tracks hielt sich Wang vom Winter 1999 bis zum Frühjahr 2001 im Tiexi-Viertel der Provinzhauptstadt Shenyang auf, einem fast unüberschaubaren Areal, in dem Ende der 1980er Jahre noch rund eine Million Arbeiter beschäftigt waren. Mit einer geliehenen Consumer Digitalkamera erkundete der Regisseur in einsamen Gängen und langen Zugfahrten das heruntergewirtschaftete Revier – zu einem Zeitpunkt, als gerade

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die letzten Fabriken, Stahlhütten und Gießereien geschlossen wurden. Aus den dabei produzierten 300 Stunden Material entstand ein neunstündiger Film, der sich in drei Teile gliedert, die lakonisch mit »Rust«, »Remnants« und »Rails« überschrieben sind.

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»Rust«, das längste Segment, bewegt sich in einer zweifachen Bewegung vorwiegend durch drei Gebäudekomplexe: die Shengyang Gießerei (eine Art Wahrzeichen von Tiexi), eine Fabrik, die Elektrokabel herstellt und das Shengyang Stahlwalzwerk. In der ersten Bewegung werden zu diesem Zeitpunkt noch intakte Produktionsprozesse ausführlich dokumentiert: die Gewinnung und Raffination von Kupfer und Blei durch Elektrolyseverfahren und die Weiterverarbeitung im Kabelwerk; Abläufe, die den Arbeitern körperlich alles abverlangen. Immer wieder filmt Wang sie in den heruntergekommenen Waschräumen: nackte, ausgezehrte Körper, die der Fabrik ihre Gesundheit geopfert haben. Statt adäquate Schutzkleidung bereit zu stellen, werden die Arbeiter einmal im Monat routinemäßig in eine spezielle Klinik des Tiexi-Viertels gebracht – nicht, um sie zu heilen, sondern um das Niveau der Vergiftung zu stabilisieren. Die zweite Bewegung beginnt erneut in der Gießerei, verlegt den Fokus dann aber von den Mikroabläufen der Produktion auf die sukzessive Stilllegung und Demolierung einzelner Einheiten (des Walzwerks etwa) und beobachtet auf verschiedenen Ebenen die Konsequenzen für die Arbeiter:

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»Step by step, the film thus completes two interwoven narrative cycles – the cycle of production within the factories, and the life-cycle of the factories themselves, closing in icy silence and stillness. […] The factory has its own rhythm of life. The steel and iron machinery, the smelting furnace, the conveyor belt, they crane, move and roar like so many automatic giants, their huge mass making the human beings beneath them seem tiny and insignificant. The workers appear mere appendages of this vast complex. This is what the film then explores: the relationship between the individual lives of the workers and the precarious industrial routines they face, the inner truths laid bare in the most exterior textures of daily existence.« 7

Mit der Stilllegung der Produktion endet zugleich auch ein weitergehender »Lebenszyklus«, der die Produktionsstätten materiell mit anderen Orten und Phasen der Industriehistorie verband. Wie ein Insert zu Beginn des Films mitteilt, wurden etliche Anlagen des Viertels 1934 von den Japanern zur Versorgung ihrer Imperialarmee gegründet (darunter auch die Shengyang Gießerei und das Kabelwerk), dann 1949 massiv erweitert durch deinstallierte deutsche Anlagen, die nach dem Zweiten Weltkrieg über die Sowjetunion ihren Weg in die neu geschaffene Volksrepublik fanden. In der Gegenwart des Films löst sich die Physis der Staatsunternehmen auf. Die »Palimpseste der Weltgeschichte« (Jie Li) verfallen zu Industrieruinen ohne weiteren Verwendungszweck oder werden zum eingeschmolzenen Rohmaterial eines staatskapitalistisch gesteuerten Privatisierungsprozesses, der den vormaligen rust belt Chinas, in dem sich ganz materiell noch Spuren des Ruhrgebiets befanden, in eine »prioritäre Entwicklungszone« verwandeln soll. So gesehen endet mit dem finalen Recycling der Produktionsstätten ein globaler Industrialisierungsprozess, der in Chinas nachholender Modernisierung in den späten 1980er Jahren zu seinem vorläufigen Ende kommt. In den Wohnvierteln der Arbeiter setzt sich der Niedergang der Produktion fort; den Massenentlassungen folgen Enteignung und Relokalisierung. Im Januar 2000 begann Wang in »Rainbow Row« zu filmen. Am Ende des gleichen Jahres ist das Arbeiterviertel dem Erdboden gleichgemacht, in spekulatives Bauland umgewandelt, vorbereitet für die Dienstleistungslandschaft, die an gleicher Stelle entstehen soll. In den Segmenten »Remnants« und »Rails« entfernt sich Wang Bing von den Orten der Produktion und weitet seine Industriegeschichte des Tiexi-Viertels dabei zum Porträt der Existenzweisen und Lebensformen, die die Produktionsweisen hervorgebracht haben. West of the tracks übersetzt den Auflösungsprozess industrieller Produktion in ein historiografisches Ordnungsprinzip, in dem die Chronologie der Ereignisse in den Hintergrund tritt. Stattdessen vollzieht der Film eine Bewegung der Diffusion nach: Zuerst dokumentiert Wang die materielle Zersetzung der Produktions7 | Ebd.

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stätten, dann die parallel stattfindende Demolierung eines angeschlossenen Wohnviertels, um schließlich dem ortlosen Leben einiger Vagabunden zu folgen, die illegal zwischen den Gleisen in ständiger Bewegung dem Zugriff staatlicher Autorität zu entgehen versuchen. Vor allem im zweiten Teil kommen zahllose Arbeiter und deren Familien zu Wort, deuten in kurzen Sätzen weite lebensgeschichtliche Zusammenhänge an, erzählen von der ersten Migrationsbewegung in den 1930er und -40er Jahren, als viele Flüchtlinge aus dem Süden in die Region kamen und von der nicht weniger massiven zweiten Welle, die von Maos Kollektivierungsprogrammen ausgelöst wurde. Als mittellose Rentner sind sie nun einer erneuten großangelegten Umverteilung von Menschen im Raum ausgesetzt; die post-industrielle Zukunft braucht sie nicht mehr. West of the tracks entwickelt sich mit zunehmender Dauer zu einer vielstimmigen oral history der Modernisierung Chinas. In diesem unzensierten, ungefilterten, dichten Gewebe aus subalternen Sichtweisen – kein Funktionär, kein höherrangiges Parteimitglied, kein offizieller Historiker der Volksrepublik kommt zu Wort – artikuliert sich die historische Erfahrung einer ganzen Generation, deren Wahrnehmungen und Erinnerungen Wang zum letztmöglichen Zeitpunkt, kurz vor der Demolierung des Viertels und der Zerstreuung seiner Bewohner, aufzeichnet – buchstäblich während ihnen der Strom abgestellt wird: »Die Veränderung des ›Archivierens‹ ist Ausgangspunkt und Bedingung einer neuen Geschichte«,8 heißt es bei Michel de Certeau. Die ästhetische Signatur, die Wangs Kino durch seine mobile, kunstlose Kamera erzeugt, erscheint in West of the tracks als das Produkt eines unmittelbar historiografischen Impulses: dass die vielen fragmentarischen und doch untereinander verbundenen Geschichten jetzt und hier aufgeschrieben werden müssen, weil es keine Archive geben wird, in die nachfolgende Historikergenerationen gehen könnten, um herauszufinden, wie die Arbeiter des Tiexi-Viertels gelebt haben, zwangsenteignet und umgesiedelt wurden. Oder wie sich die jungen Leute in dieser Übergangsphase eine eigene Normalität des Erwachsenwerdens einzurichten versuchten und im abrissbedrohten »Lucky Swan Market« ihre romantischen Chancen ausloteten. Die staatlichen Akteure, die diesen Prozess initiieren und steuern, kommen in dieser Geschichte von unten nur mittelbar vor, gespiegelt in den Konsequenzen, die ihr Handeln zeitigt, einmal aber auch metaphorisch verdichtet: »Remnants« beginnt mit einer Sequenz, die eine staatliche Lotterieveranstaltung (»China Charity Lottery«) zeigt, in der sich ideologische Durchsagen mit der Verlosung von Minibussen abwechseln. Auch hier geht Wang schnell dazu über, sich für die Ränder des Spektakels zu interessieren, das Publikum in Individuen aufzulösen, Einzelne in Großauf-

8 | Veyne: Geschichtsschreibung, S. 97.

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nahmen zu kadrieren, wie sie den Boden nach weggeworfenen aber vielleicht noch gültigen, potenziell gewinnträchtigen Lotterielosen absuchen. »Rails« ist dann einem Raum nochmals gesteigerter Unsichtbarkeit gewidmet: dem Zwischenreich der Vagabunden, die am Rand der Gleise in Bretterverschlägen und von Weggeworfenem leben; geduldet von den relativ besser gestellten Arbeitern, als Illegale unnachgiebig verfolgt von den Behörden. In der Figur des einäugigen Old Du findet Wang Bing einen aus allen historischen Narrativen üblicherweise ausgeschlossenen »infamen Menschen« (Foucault), der hier weniger als Opfer der Geschichte, sondern als Archetypus des Überlebenden aufzufassen ist: »Mon souci était de montrer un personnage représentatif de la société, plus humain. Il est représentatif des gens qui travaillent à l’usine, de ce que je voulais montrer. C’est ›le Chinois typique‹: niveau social bas, mais respect de lui-même il peut survivre dans n’importe quelle situation.«9 Die letzten zwei Stunden folgt West of the tracks diesem exemplarischen Individuum in den Untergrund des Viertels, begibt sich mit Old Du in provisorische Wohnstätten, begleitet ihn in die Kabinen der verbliebenen Züge, die phantomgleich und meist ohne Fracht zwischen den leeren Fabriken zirkulieren. Die raumgreifende Dynamik der Eisenbahn in Filmen wie Vertovs Entuziazm: Sinfoniya Donbassa (1931) ist hier ziellosen Kreisfahrten gewichen; agonische Bewegungen durch die Ruinen der chinesischen Modernisierung. Die kommunistische Geschichtsteleologie hat sich auch als Pathosformel filmischer Kinetik erschöpft. Vertovs sinfonische Montage des Donezbeckens der 1920er Jahre und das Tiexi-Viertel des ausgehenden Jahrhunderts in der Plansequenzästhetik Wang Bings markieren so gesehen die jeweiligen Endpunkte eines ästhetischen wie realhistorischen Fortschritts-Spektrums. Wang, der Avantgardist unter den DV-Dokumentaristen der Gegenwart, inszeniert die Lokomotiven nicht als stolze Motoren der Modernisierung, sondern macht sie zum Standpunkt eines wie erstarrt wirkenden filmischen Blicks, dem sich gewaltige Landschaften aus rostigen Stahlgebirgen öffnen, aber keine Zukunft, die den Optimismus der Fünfjahrespläne atmen würde. Die wiederholten Fahrten führen als »rites of passage into history« (Lu Xinyu) in eine Vergangenheit, deren Gegenwart nur noch aus dystopischen Ansichten besteht. Keine ästhetische Option ist Wangs Kino ferner als eine Montagepraxis, die Produktionsabläufe in ein rearrangiertes Maschinenballett verwandelt. Gleichwohl ist West of the tracks auch ein Montagekunstwerk von eigentümlicher Schönheit, strukturiert, rhythmisiert durch die insistierenden travelling shots, 9 | »Plutôt agréable«, Wang Bing im Gespräch mit den Cahiers du Cinéma, Nr. 591, Juni 2004, S. 34-35, hier: S. 34. »Ich wollte eine Figur zeigen, die repräsentativ ist für die Gesellschaft. Er steht für die Leute, die in der Fabrik arbeiten, für das, was ich zeigen wollte. Das ist der ›typische Chinese‹: niedriges soziales Niveau, aber in der Lage, in allen möglichen Situationen zu überleben.«

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die den filmisch vor- und nachgestellten Blick unproduktiv gewordener Geisterzüge teilen. Neben diesen Einstellungen sind es vor allem instabile, reagierend-registrierende in-actu-Handkamera-Bilder, die den depravierten Verhältnissen eine filmische Form geben. Jie Li führt zu Recht aus, dass Wangs eigene Produktionsmittelrealität – kein Team, eine billige (und zudem nur geliehene) Consumer Kamera, der Schnitt erfolgte in heimlichen Nachtschichten ohne offizielle Genehmigung in einem lokalen TV-Studio – zu Einstellungen führt, die auch mit subjektiven Erfahrungsspuren imprägniert sind: »Snowflakes stick to the lens as if to one’s eyelashes, and this snow sticking, along with the ocassional small jerk given to the camera by the old railroad tracks, serves to make this cinematography tangible, vulnerable, almost human. Thus the camera […] stares, it braves, it searches, and it salvages. […] the images invite us to explore and excavate along with the filmmaker, whose presence, though never directly on camera, is always unmistakably felt. In this work the camera does not just objectively record what stands in front of its lens, but it also traces the imprint of its own experience. […] As one-man documentarist who cannot be in several places at once, Wang Bing chooses to stay with the last residents as the neighborhood empties itself out […] Such a cinematicbeing with, in Wang Bing’s case, is also a walking with. […]. Walking with the inhabitants through their dispossed neighborhood, Wang Bing adopts their tactic of moving spontaneously, as opposed to a common filmmaking strategy of planned shots with careful framing and smooth movements.« 10

Der point of view der Kamera fällt mit dem Blick des Filmemachers als Chronist eines Epochenwechsels zusammen und erzeugt in der Distanzlosigkeit eine solidarische Praxis der Geschichtsschreibung. Die Subjektivität dieser Perspektive, deren Bilder zugleich auch als Dokumente einer vermittelten Erfahrung subalterner Lebenswirklichkeit lesbar sind, ersetzt orthodoxe Vorstellungen historiografischer Objektivität, ohne auf damit verbundene Geltungsansprüche zu verzichten. West of the Tracks ist gerade deshalb wahr in seiner historischen Aussage, weil der Film bis zu einem gewissen Grad auf Empathie beruht, weil er Produkt einer Haltung ist, die den Abstand zwischen Subjekt und Objekt der Geschichtsschreibung ästhetisch reduziert. West of the Tracks enthält zugleich die Utopie einer Praxis der Tradierung, die sich zwar keiner autonomen Sprechweise von unten, keiner unmittelbaren Selbstrepräsentation verdankt, dennoch aber nicht nachträglich einem revisionistischen »writing in reverse« unterzogen werden muss. Foucault ver-

10 | Jie Lie: »Wang Bing’s West of the Tracks salvaging the rubble of utopia«, in: Jump Cut. A Review of Contemporary Media, Nr. 50, Frühjahr 2008.

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stand seine »Anthologie von Existenzen«,11 die auch eine Geschichte der unsichtbaren Verlierer und Verstoßenen werden sollte, noch dezidiert als Sammlung hegemonialer Archivquellen: »intensive« Zeugnisse einer »Begegnung mit der Macht«, die von Leben handeln, die »tatsächlich riskiert und verloren worden [sind] in diesen Wörtern«.12 Zwischen den beiden Optionen einer subalternen Hermeneutik der Leerstelle und einer Positivierung der Macht im Innersten der Quelle muss Wang Bings Geschichte des Tiexi-Viertels nicht wählen, weil sie ihr Material ganz der sichtbaren Gegenwart des Aufschreibens entnimmt. Nur im filmisch vermittelten walking with, bei dem zugleich eine historische Konstellation der Umwälzung und eine inoffizielle Bewegung der Teilnahme aufgezeichnet wird, lässt sich erfassen, wie ein großer Transformationsprozess unten ankommt. *** Demgegenüber sucht Wang Bings Zeugenfilm He Fengming, a Chinese Memoir (੠޸号, 2007) seinen Zugang zum Historischen nicht über filmische Gegenwartsprotokolle, auch nicht über recherchierte und in erkenntnisstiftende Konstellationen gebrachte, also historiografisch gedeutete Archivdokumente, sondern praktisch ausschließlich über einen aufgezeichneten Akt des Bezeugens. Carlo Ginzburgs – gegen Hayden Whites relativistische Koppelung von historischer Wahrheit und diskursiver »Effektivität« gemünzte – Formel »Just One Witness«13 kann einem hier in den Sinn kommen: »Even the voice of one single witness gives us some access to the domain of historical reality, allows us to get nearer to some historical truth«14, wie Saul Friedländer Ginzburgs Position pointiert zusammengefasst hat. Aus geschichtstheoretischer Perspektive ist an dieser Stelle zu sagen, dass es sich bei der Zeugenaussage um ein epistemisches Verfahren handelt, das ohne (zumindest vorgestelltes) Gegenüber nicht vorstellbar ist. In diesem Sinn wird das Zeugnis in Paul Ricœurs Erkenntnistheorie der Geschichte im entsprechenden Spannungsfeld zwischen Selbstdesignation15 und Dialogizität situiert. Gemeinsam konstitu11 | Michel Foucault: Das Leben der infamen Menschen, Berlin 2001, S. 7. 12 | Ebd., S. 16, 14f. 13 | Carlo Ginzburg: »Just One Witness«, in: Saul Friedländer (Hg.): Probing the Limits of Representation. Nazism and the ›Final Solution‹, Cambridge/Massachusetts, London 1992, S. 82-96, hier: S. 93. 14 | Saul Friedländer: »Introduction«, in: ders. (Hg.): Probing the Limits of Representation. Nazism and the ›Final Solution‹, Cambridge/Massachusetts, London 1992, S. 1-21, hier: S. 9. 15 | »Das Spezifische des Zeugnisses besteht darin, dass die Selbstbehauptung untrennbar an die Selbstdesignation des bezeugenden Subjekts gebunden ist. In dieser

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ieren beide Momente den Rahmen eines bezeugenden Sprechaktes und kanalisieren den Prozess des Äußerlichwerdens der Erinnerung als Formatierung speicherungsfähigen Archivmaterials. Entscheidend ist dabei ein Prozess der »Akkreditierung«: »Der Zeuge bezeugt die Wirklichkeit einer Szene, der er, vielleicht als Akteur oder als Opfer beigewohnt haben will, vor jemandem, und zwar im Augenblick des Bezeugens in der Position eines Dritten gegenüber allen Protagonisten der Handlung. […]. Die Beglaubigung wird erst komplett durch das Echo, das es bei dem findet, der es empfängt und annimmt; das Zeugnis ist dann nicht nur beglaubigt, sondern akkreditiert.«16

Die Aufnahmeseite ist für Ricœur eingebunden in jene reziproken Prozesse, über die die Mitglieder einer Gemeinschaft – im consensus und dissensus – die prinzipielle Anerkennbarkeit des Zeugnisses kommunikativ hervorbringen. Archive gelten in diesem Modell als institutionell verstetigte Formen der Akkreditierung; sie organisieren nicht nur den Transfer des konkreten, mündlichen Zeugnisaktes in die Schriftform des hinterlegten Dokuments, bewerkstelligen also dessen Speicherung, sondern garantieren zugleich die Stabilität des Zeugnisses, das durch seine Archivierung für spätere Konsultationen verfügbar wird. Der Zeugnisakt wird festgehalten, um seinen verpflichtenden Charakter zu konstituieren: »Der glaubwürdige Zeuge ist der, der sein Zeugnis in der Zeit festhalten kann. Dieses Festhalten nähert das Zeugnis dem Versprechen an, genauer gesagt, dem Versprechen vor jedem Versprechen, nämlich dem, sein Versprechen zu halten, Wort zu halten.«17 Ein Zeuge, der zu dieser Fixierung, zu diesem Eintritt seines Zeugnisses in das (historische, juridische) Archiv nicht bereit ist, liefert sich dem Verdacht aus, seinen Erlebnisbericht unter den Vorbehalt begrenzter zeitlicher Gültigkeit stellen zu wollen. Als Archivdokument existiert das Zeugnis fortan in Abwesenheit des Zeugen, es ist nun gültig akkreditiert und gespeichert, aber auch »verwaist«, wie Ricœur schreibt: »[…] die Zeugnisse, die das Archiv enthält, sind von den Urhebern, die sie ›gezeugt‹ haben, abgelöst und statt dessen der Sorge derer anheimgegeben, die kompetent sind, sie zu befragen und sie so zu verteidigen und ihnen zu Hilfe zu kommen.«18 Genau an dieser Stelle ist die mediale Spezifik des archiKoppelung hat die typische Formel des Zeugnisses ihren Ursprung: Ich war dabei. Was bezeugt wird ist unterschiedslos die Wirklichkeit der vergangenen Sache und die Präsenz des Narrators am Ort des Geschehens. Und der Zeuge ist es, der sich zuerst zum Zeugen erklärt. Er ernennt sich selbst.« (Paul Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004, S. 250). 16 | Ebd., S. 254. 17 | Ebd., S. 252. 18 | Ebd., S. 260.

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vierten Zeugnisdokuments von Bedeutung, weil es einen Unterschied mit sich bringt, ob der orale Zeugnisakt schriftlich transkribiert oder filmisch aufgezeichnet wird. Im zweiten Fall ist die ästhetische Form des Zeugnisberichts von größerer Signifikanz; zudem enthält das entstehende Zeugnisdokument – der Film – indexikalische (Bild-)Informationen, die die Äußerungssituation betreffen. Aufgezeichnet werden hier Zeugnisbericht, Zeugnisakt (also der historische Moment des Bezeugens) sowie Subjekt des Zeugnisses.

West of the Tracks

*** In He Fengming, a Chinese Memoir geht es um eine weit ausgreifende (auto)biografische Darstellung: Das Leben der politisch verfolgten Journalistin He Fengming – und wie ihre Biografie in der chinesischen Geschichte des 20. Jahrhunderts steht, mit ihr verflochten ist. Die Protagonistin ist eine Intellektuelle, die in einer geübten, nie stockenden, nie durch Fragen unterbrochenen Rede davon erzählt, wie sich gleichsam ein ganzes Jahrhundert in einer einzigen Lebensgeschichte reflektiert, wie die große Geschichte individuell erfahren wird und wie von ihr Zeugnis gegeben werden kann. He Fengmings Bericht kreist um die Vermessung einer maximalen lebensgeschichtlichen Spannweite und wie diese im Sprechen in ein Narrativ transformiert, also syn-

Walking With

thetisiert werden kann. He Fengming dokumentiert, wie sich in drei Stunden ein Leben erzählen lässt. Aus Sicht der Historiker sind Zeugnisdokumente eine spezifische Quellensorte, weil sie nicht nur dazu beitragen, eine vergangene Ereigniskette zu rekonstruieren, sondern vor allem einen privilegierten Zugang zur subjektiven Erfahrung von Geschichte bereithalten. He Fengmings autobiografisches Narrativ bietet Material für eine solche Lektüre, ist aber selbst schon historiografisch vorformatiert, d.h. in der reflektierten Erzählung der Zeugin bezogen auf die Begriffe der Geschichtsschreibung. He Fengming erzählt ihr Leben anschaulich (etwa: das Gefühl beim ersten Tragen der grauen Revolutionsuniform), voller Details, zugleich aber auch genau strukturiert (etwa: chronologisch), nicht der spontanen Erinnerungseingebung folgend, sondern zwischen Erlebnispartikeln und den großen Parametern der Ereignisgeschichte, zwischen privaten Momenten und politischen Eckdaten hin und her wechselnd. Die Zeugin tritt als Historikerin ihrer eigenen Biografie auf; sie selbst ist es, nicht der Film, die ihr Leben explizit in die weiteren historischen Kontexte einbettet, es in der Erzählung exemplarisch werden lässt. He Fengmings Lebensgeschichte ist geprägt von den beiden großen staatsterroristischen Kampagnen, die Mao gegen »Rechtsabweichler« führen ließ: die erste Ende der 1950er Jahre, als Intellektuelle wie He Fengming und ihr Mann Wang Jingchao, die beide für die Zeitung Gansu Daily arbeiteten, die Hundert-Blumen-Bewegung noch im Glauben an den Realitätsgehalt der Revolutionsideale zu kritischen Publikationen nutzten und dafür interniert wurden (»A brief critique of bureaucracy« lautet der Titel von Wang Jingchaos verhängnisvollem Essay). Das Ehepaar wurde wie erhebliche Teile der kritischen Intelligenz Chinas zur »Umerziehung« in Arbeitslager verschleppt – ein Schicksal, das nicht nur zu Wang Jingchaos Tod führte, sondern sich für He Fengming im März 1969, im Rahmen der »Großen Proletarischen Kulturrevolution«, wiederholen sollte. Der »Große Sprung« und der »Großer Hunger« sind dieser Lebensgeschichte eingeschrieben; eindrücklich schildert He Fengming wie die makrogeschichtlichen Bewegungen ein individuelles Schicksal hervorbringen, was die große Geschichte für den Einzelnen bedeutet, wie sie ihm unversehens zustößt. He Fengming, auch sie eine Überlebende (es ließen sich Bezüge zu Alexander Solschenizyns Der Archipel Gulag herstellen), legt den Schwerpunkt ihrer Erzählung auf das, was an ihrer Geschichte als historische Erfahrung einer ganzen Generation verallgemeinerbar ist. Eher in den Nebensätzen entfaltet sie aber auch eine außergewöhnliche Liebesgeschichte, die in einem entsetzlich tragischen Wettlauf mit der Zeit mündet, den die Ehefrau nicht gewinnt. He Fengming ist ein Echtzeit-Film, die Realzeit des Zeugnisaktes ist primäres Konstruktionsprinzip. Der Film entstand im Wesentlichen an zwei Drehtagen, die den beiden historischen Blöcken – 1949-1978 und Post-1991 – entsprechen. Er besteht aus nur wenigen, vorwiegend halbnahen Einstellun-

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Simon Rothöhler

gen. Die Kontinuität der Zeugenaussage, der Fluss der mündlichen Überlieferung wird nicht unterbrochen. Es handelt sich um einen ganze Jahrzehnte umspannenden Monolog. Wang Bing stellt im gesamten Film nur eine einzige Frage: Nach gut einer Stunde Gesprächszeit bittet er He, das Licht anzudrehen. Der Film überlässt ihr die Bühne, um sie ihr Leben erzählen zu lassen, zeichnet auf, was sie sich zurechtgelegt hat: ihre Memoiren, die Anfang der 1990er Jahre auch als Buch publiziert wurden, unter dem Titel My Life in 1957. »The fact that I’d lived through it personally was all the more reason to write it. After all, it was my own story. Who better to tell it than me? And if I didn’t write it, who else would?,« lauten die letzten Worte ihres Zeugnisses. Dass der Film die Dramaturgie der Protagonistin völlig überlässt, ihr bedingungslos folgt, wird im Prolog mit einem fast dreiminütigen, an West of the Tracks erinnernden cinematic walking with programmatisch ins Bild gesetzt: In gemessenem Abstand folgt Wangs Kamera He Fengming auf dem Weg in ihre bescheidene Wohnung, die mit zwei weiteren Einstellungen als Schauplatz etabliert wird. Dann lässt sich die Zeugin nieder und sagt: »Well, I guess I’ll start from the beginning« und Wang Bing (die Kamera, der Zuschauer) setzt sich ihr frontal gegenüber; eine Position, die der Film bis zum Schluss nicht mehr verlassen wird. Er wird sich die Zeit nehmen, die He Fengming veranschlagt: ihr Leben, ihre Zeit. Der Film wird sie nicht unterbrechen, nicht in Großaufnahme zeigen, nicht lenken, keine Montagen herstellen. Einmal nimmt He während ihres Monologs einen Telefonanruf entgegen, ein anderes Mal bittet sie um eine Pause, um das WC benutzen zu können. Auch in diesen Momenten wird nicht geschnitten, der Film wartet, zeigt in ihrer Abwesenheit den leeren Sessel, den Zeugenstand, den He Fengming kurz verlassen hat. An einer Stelle wird von diesem minimalistischen Konzept mit einem unvermittelten leeren Gegenschuss abgewichen. Während He weiter spricht, wechselt die Kamera plötzlich die Position, baut sich dort auf, wo eigentlich He Fengmings Sessel steht (zuvor stand, danach stehen wird), also genau an dem Ort, an dem sich die weiterhin hörbare Zeugin nach der bisherigen Raumlogik auch in diesem Moment befinden müsste – zumal der Tonschnitt kaum zu hören ist, die Rede also einfach weiterzugehen scheint. Hes Stimme wird zur Geisterstimme, der kein visualisierter Körper mehr entspricht. Man kann den Aufbau dieser Szene als Point-of-View-Konstruktion lesen, als subjektive Einstellung, die Hes Perspektive einnimmt. Paradox an diesem Auf bau ist zum einen, dass die zeitliche Kontinuität gewahrt scheint, der Raum aber zu einer anderen temporalen Ordnung gehört (vor oder nach dem Zeugnisakt). Zum anderen zeigt der Film in diesem Moment keinen Gegenschuss, der der realen Aufnahmesituation zuzuordnen wäre (denn dann wäre Wang Bing zu sehen, neben ihm eine Kamera), sondern einen leeren Sessel vor einem vergitterten Fenster, durch das in der schon weit fortgeschrittenen Abenddämmerung schemenhaft Wohnhäuser zu sehen sind. Die Zeugin ist also aus dem Bild

Walking With

verschwunden, ohne dass der Film ein aufnehmendes Subjekt oder eine Aufnahmeapparatur zeigen würde. Was Wang Bing hier figuriert, ist die Zeitenthobenheit eines einmal archivierten, »verwaisten« (Ricœur) Zeugnisses, das im Prozess der »Akkreditierung« den Zeugen verlässt, weil die Geschichte, die er erzählt, künftig auch ohne seine Anwesenheit aktualisierbar sein wird. Im filmischen Medium wird die Abwesenheit des Zeugen mit seiner Vergegenwärtigung gekoppelt, also mit einer ästhetisch vermittelten Form der Anwesenheit. Der konkrete Akt des Zeugnisgebens insistiert hierbei, verschwindet nicht im Text des Zeugnisses; Subjekt und Aussage bleiben aufeinander bezogen – was gerade in einem Moment, der diese Konfiguration suspendiert, indem eine Zeugin, während sie spricht, aus dem Bild verschwindet, besonders deutlich wird. Wie eine Person, die nur noch in der Vergangenheit lebt, wie ein Geist sei ihm He Fengming zuweilen vorgekommen, hat Wang Bing in einem Interview geäußert.19 Im leeren Gegenschuss wird diese geisterhafte Präsenz betont und zugleich im Zeugnisakt überwunden. Die Zeugin ist nicht mehr da, aber das Zeugnis, ihre filmisch aufgezeichnete Rede, kann immer wieder aktualisiert und konsultiert werden. Das filmische Medium speichert beides: die Realzeit des Zeugnisaktes und eine Perspektive auf jene Zeit, die in der subjektiven Rede bezeugt wird. (Eine weiterführende Version dieses Textes findet sich in: Simon Rothöhler: Amateur der Weltgeschichte. Historiographische Praktiken im Kino der Gegenwart, Berlin 2011.)

19 | »Ghost Stories: Wang Bing’s Startling New Cinema«, ein Gespräch mit Robert Koehler, in: Cinema Scope (http://www.cinema-scope.com/cs31/int_koehler_wang bing.html).

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Speaking bitterness im Kino Zu Poetik und Historiographie des Wehklagens in D R . M A’S C OUNTRY C LINIC von Cong Feng Elena Meilicke

K L AGEN UND J AMMERN Im Jahr 2009 zeigte das Internationale Forum des Jungen Films einen chinesischen Dokumentarfilm, der die Geduld seiner Zuschauerinnen auf besondere Weise zu beanspruchen schien. Bei einer Länge von über dreieinhalb Stunden spielte Dr. Ma’s Country Clinic (偀໻໿ⱘ䆞᠔, 2008) fast ausschließlich in einem einzigen Raum, und zu sehen gab er in erster Linie eines, nämlich Wehklagen: »We’ve suffered!«, »Oh, we’ve suffered a lot!«, »Too hard, it’s too hard for people to live a whole life!«, »Oh, it’s too much to bear«. Schauplatz ist eine Landarztpraxis in der Provinz Gansu im Nordwesten Chinas. Über zwei Jahre lang hat der Regisseur Cong Feng in diesem Praxisraum immer wieder seine Videokamera aufgestellt, um den Arzt Ma Bingcheng bei seiner Arbeit zu filmen.1 Schnell verschiebt sich der Fokus von Dr. Ma selbst auf seine bäuerlichen Patienten, die bei der Visite, beim Warten und Reden beobachtet werden. In langen Einstellungen zeichnet Cong Feng ihre Gespräche in Gänze auf, registriert Wiederholungen, Abschweifungen und das langsame Ausfransen des Gesprächsfadens. Es geht in diesen Gesprächen um den Alltag der Bauern, um Aussaat und Ernte, aber auch um wirtschaftliche Not und den Zwang zur Migration. Es geht um gekaufte Bräute und um die Ohnmacht gegenüber der Unterdrückung durch Bosse und Parteikader. Es geht – nicht zuletzt – um körperliche Schmerzen.

1 | Zur Raumdramaturgie von Dr. Ma’s Country Clinic vgl. Lukas Foerster: »Zur Politik des Raums im zeitgenössischen chinesischen Dokumentarfilm«, in: Karl Sierek, Guido Kirsten (Hg.): Das chinesische Kino nach der Kulturrevolution. Theorien und Analysen, Marburg 2011, S. 411-427.

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Dr. Ma’s Country Clinic ist damit ein Film, in dessen Zentrum das Sprechen steht.2 Simon Rothöhler hat den Film treffend als »visual oral history« bezeichnet, die an »der Sichtbarmachung […] subalterner Lebenswirklichkeit« arbeite und »einen geschichtlichen Stand widerständiger Praxis« wiedergebe. 3 Im Fokus auf die »harsche Systemkritik«,4 die die Protagonisten des Films artikulieren, gerät der Aspekt des Wehklagens ein wenig aus dem Blick. Mich hingegen interessiert hier eine genauere Analyse des Klagens und Jammerns als Ausdrucksform in Dr. Ma’s Country Clinic. Denn was frappiert am nicht abschwellenden Chor von Klagen und Beschwerden, den die Patienten von Dr. Ma gemeinsam anstimmen, ist sein offenbar ritualisierter und formelhafter Charakter sowie die häufige Wiederholung von bestimmten Formulierungen und der Anschein von Zitathaftigkeit. Auffällig ist auch, wie offensiv die Bauern ihr Leid in die Halböffentlichkeit der Arztpraxis tragen und sich dabei gegenseitig zu überbieten trachten: »Oh, I was the worst-off!«

Dr. Ma’s Clinic 2 | Zur Bedeutung der gesprochenen Sprache in Dr. Ma’s Country Clinic vgl. die Bemerkungen von Wang Chun: »The tone, rhythm and manner of his subjects are faithfully retained in lengthy colloquial scenes. There is a hidden drive to preserve the spoken word, perhaps out of a poet’s awareness of the intrinsic value of the crude tongue.« Wang Chun: »The young and the old«, in: Berlinale. Forumskatalog 2009, Berlin 2009, S. 103. 3 | Simon Rothöhler: Amateur der Weltgeschichte. Historiographische Praktiken im Kino der Gegenwart, Zürich, Berlin 2011, S. 171, 174. 4 | Ebd., S. 170.

Speaking bitterness im Kino

Dass die Anwesenheit der Kamera die kleine Öffentlichkeit der Arztpraxis in die potenziell viel größere des Kinos verwandelt, ist den Protagonistinnen dabei durchaus bewusst: »He is filming you.« – »Filming us? That’s great. We lead a hard life, it’s great if the filming can stop our pain. […] Who knows about the suffering that the old women have endured«. Was also ist das für ein Leiden und Klagen, das Dr. Ma’s Country Clinic aufzeichnet, vielleicht auch provoziert und produziert? Woher kommt es, wovon erzählt es? Welchen Regeln gehorchen die Produktion und Artikulation dieser Klagen und wodurch werden ihre Formen, Inhalte und Darbietungen bestimmt? Fragen wie diese zu stellen bedeutet nicht, den Klagen der Bauern die Echtheit oder Authentizität abzusprechen. Es bedeutet vielmehr, die Poetik dieses Sprechens transparent zu machen; es bedeutet, im Sinne von Foucaults Genealogie die verstreuten Herkünfte dieses Klagens aufzusuchen.5

»I THOUGHT THE Y COMPL AINED A LOT«: ZUR TR ADITION DES » BIT TEREN S PRECHENS « Lisa Rofel, Professorin für Anthropologie an der kalifornischen UC Santa Cruz, bietet einen ersten Anhaltspunkt, um den Klage-Exzessen auf die Spur zu kommen. Im Nachdenken über ihre eigenen Irritationen in der Begegnung mit älteren Chinesinnen schreibt sie: »I thought they complained a lot. They spoke about ›eating bitterness‹ with regard to almost everything in their past […]. Only gradually did I come to think of their speech as speech acts and to interpret their complaints as a historically and culturally specific narrative practice«.6 Die historisch und kulturell spezifische narrative Praxis, von der Rofel spricht, firmiert bei Sinologen unter dem Überbegriff speaking bitterness und mein Vorschlag ist, das Wehklagen in Dr. Ma’s Country Clinic als Sprechakte, als narrative Praxis zu verstehen, die in der Tradition eben dieses speaking bitterness steht. Was genau ist mit dem Begriff speaking bitterness gemeint? Speaking bitterness – auf Chinesisch sùkŭ, auf Deutsch vielleicht »bitteres Sprechen« oder »Bitterkeit erzählen« – bezeichnet eine diskursive Praxis, die die kommunistische Partei während und kurz nach der Revolution und Gründung der Volksrepublik China propagierte. Im ganzen Land organisierte die Partei Versammlungen, auf denen sie Arbeiter und Bauern dazu ermutigte, öffentlich über die Erfahrungen von Ausbeutung und Demütigung zu sprechen, die sie unter der 5 | Vgl. Michel Foucault: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: Walter Seitter (Hg.): Subversion des Wissens, Frankfurt a.M. 1987, S. 69-90. 6 | Lisa Rofel: Other Modernities. Gendered Yearnings in China after Socialism, Berkeley 1999, S. 138. Kursiv im Original.

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Herrschaft der Guomindang erlebt hatten.7 Das »bittere Sprechen« folgte dabei einem stets gleichen Schema: dem Erinnern an »vergangene Bitterkeit« (yìkŭ) wurde das Frohlocken über »gegenwärtige Süße« (sītián) gegenübergestellt. Fluchtpunkt alles »bitteren Sprechens« war damit die Produktion einer Fortschrittsgeschichte, die die neuen politischen Verhältnisse legitimieren und stabilisieren sollte. Und in diesem Sinne übernahm das von der kommunistischen Partei instituierte »bittere Sprechen« auch Nation-building-Funktionen. Die vielen individuellen Leidensgeschichten sollten zu einem großen Narrativ, zu einer kollektiven Erinnerung verschmelzen und als Grundlage und Bindemittel der jungen Volksrepublik dienen. Die Praxis des öffentlichen speaking bitterness hatte somit Teil an jenen Prozessen der sinnlichen Evidenzerzeugung, durch welche die Idee der Nation – mit Benedict Anderson gesprochen eine »imagined community« – erst Kontur gewinnen kann.8 Darüber hinaus fungierten speaking bitterness-Versammlungen als CrashKurs in Sachen »how to speak as socialist subjects«.9 Mit dem »bitteren Sprechen« stellten die Kommunisten einen Kanal, ein Medium, eine poetische Form zur Verfügung, die das politische Denken neu programmieren wollte. Arbeiter und Bauern sollten im »bitteren Sprechen« lernen, ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Terminologie des Klassenkampfes zu beschreiben und sich auf diese Weise ein neues Selbstverständnis als subalterne, sozialistische Subjekte »ersprechen«.10 Das »bittere Sprechen« operierte damit als Subjektivierungprogramm, das nicht nur auf das große Ganze der Nation abzielte, sondern auf jeden einzelnen bitteren Sprecher wirken wollte. Zentral für eine solche Interpellation der und des Einzelnen war eine Affektpolitik, die im gezielten Anzapfen von Emotionen, in der Steuerung und Verstärkung bestimmter Affekte bestand: »Weeping is an intrinsic part of the structure of these narratives«, schreibt die Anthropologin Ann Anagnost und betont den hoch emotionalen, kathartischen Charakter des »bitteren Sprechens«.11 7 | Vgl. für diverse Beschreibungen solcher Versammlungen und Narrative den klassischen Bericht von William Hinton: Fanshen. Dokumentation über die Revolution in einem chinesischen Dorf, 2 Bd., Frankfurt a.M. 1972 [1966]. 8 | Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983. Vgl. zur Bedeutung des Imaginären und Fiktionalen für die Existenz sozialer und politischer Gemeinschaften auch Ethel Matala de Mazza: »Body Politics«, in: Harun Maye, Leander Scholz (Hg.): Einführung in die Kulturwissenschaft, München 2011, S. 167-187. 9 | Rofel: Other Modernities, S. 138. 10 | Vgl. Ann Anagnost: National Past-Times. Narrative, Representation, and Power in Modern China, Durham 1997, S. 29. 11 | Ebd., S. 32. Die Emotionalität des »bitteren Sprechens« schlug oft in offene Gewalt um, vgl. hierzu Chris Berry, Mary Farquhar: »Speaking Bitterness: History, Media

Speaking bitterness im Kino

Zusammenfassend kann man sagen: Speaking bitterness ist institutionalisiertes Sprechen, das individuelles Wehklagen zum integralen und kalkulierten Bestandteil einer politischen Performanz erhebt, und bezeichnet somit eine gouvernementale Praxis mit geschichtspolitischer Funktion.12 Diesem Wehklagen von vorneherein und uneingeschränkt den Status emanzipatorischer Sprechakte zuzuschreiben, wäre also verfehlt: »[W]e must read speaking bitterness narratives not as an explosive sounding of voices silenced in history but as having emerged from a historically specific politics of representation«,13 schreibt Anagnost. Was aber hat es auf sich mit dem Wiederauftauchen des »bitteren Sprechens« gut 60 Jahre später, in einem unabhängig gedrehten Dokumentarfilm, unter veränderten politischen Umständen und im Medium des Films? Wie ist dieses Wiederauftauchen zu bewerten und was sind seine Effekte? Auf welchen Ebenen von Dr. Ma’s Country Clinic werden Elemente des speaking bitterness wirksam, was übernimmt der Film vom Modell des »bitteren Sprechens«, was nicht? Wo gibt es Kontinuitäten und wo Brüche?

G ESCHICHTE , IM D IALOG UND VERKÖRPERT Das Vorkommen von speaking bitterness-Erzählungen in einem chinesischen Dokumentarfilm aus dem Jahr 2008 ist nicht so erstaunlich, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.14 Speaking bitterness als mikropolitische Praxis war nicht auf die 1940er und 50er Jahre beschränkt. In gewandelter Form, in unterschiedlichen Medien und unter veränderten Vorzeichen tauchte es immer wieder auf und begleitete die verschiedenen politischen Brüche im China des 20. Jahrhunderts. So wurden während der Kulturrevolution Elemente des speaking bitterness in die berüchtigten Kritiksitzungen integriert. Nach der Kulturrevolution wiederum konnten Intellektuelle und Parteimitglieder, die Opfer der Kulturrevolution geworden waren, im Rahmen des »bitteren Sprechens« öffentlich ihr Leid klagen.15 and Nation in Twentieth Century China«, in: Historiography East & West, Nr. 2, 2004, S. 116-143, S. 131, S. 139. 12 | Vgl. Rofel: Other Modernities, S. 139. 13 | Anagnost: National Past-Times, S. 20. 14 | Ein kurzer, allgemeiner Hinweis zur Bedeutung der speaking bitterness-Tradition für den gegenwärtigen chinesischen Dokumentarfilm findet sich bei Chris Berry: »Getting Real: Chinese Documentary, Chinese Postsocialism«, in: Zhang Zhen (Hg.): The Urban Generation, Chinese Cinema and Society at the Turn of the Twenty-First Century, Durham 2007, S. 115-134, S. 126. 15 | An dieser Stelle wird deutlich, dass speaking bitterness immer auch die Funktion hatte, soziale Ordnung (wieder-)herzustellen, Chaos und Kontingenz zu bannen und ein-

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Es ist vielleicht diese Anpassungsfähigkeit an unterschiedlichste politische Kontexte, die das Paradigma des »bitteren Sprechens« zum vorherrschenden Erzählmuster der Geschichtsschreibung des modernen China avancieren ließ.16 Als solches prägte speaking bitterness auch ganz alltägliche Sprechweisen. Diesen informellen Modus des »bitteren Sprechens« kann man in Dr. Ma’s Country Clinic studieren.17 Das »bittere Sprechen« artikuliert sich hier in informellen Sprechakten, es nimmt Einfluss auf die Art und Weise, wie Menschen ihre Biografien entwerfen, und prägt die konkreten Formen, die das Wehklagen annimmt. So lässt sich die besondere zeitliche Struktur des »bitteren Sprechens« – das heißt die Aufsplittung der Narrative durch die Gegenüberstellung von »vergangener Bitterkeit« und »gegenwärtiger Süße« – an vielen Stellen im Film ausmachen, etwa wenn eine Frau am Ende ihrer Litanei ausruft: »We are so fortunate to live like this now!«, oder ein Mann bekräftigt: »It’s better now. Hu Jintao’s policy is good«.

Dr. Ma’s Clinic

zuhegen – das gilt nicht nur für die Kulturrevolution, sondern auch für die Zeit von Bürgerkrieg und Revolution vor 1949. 16 | Vgl. Berry, Farquhar: »Speaking Bitterness«, S. 116. Vgl. auch Chris Berry, Mary Farquhar: China on Screen. Cinema and Nation, New York 2006, S. 17ff. 17 | Vgl. Rofel: Other Modernities, S. 139, 142.

Speaking bitterness im Kino

Speaking bitterness-Anleihen lassen sich nicht nur auf der Ebene der einzelnen Sprechakte nachzeichnen; vielmehr ist auch die Geschichtserzählung, die der Film selber ist, grundlegend vom »bitteren Sprechen« geprägt. Anders gesagt: speaking bitterness liefert das Modell, nach dem Dr. Ma’s Country Clinic Historiographie betreibt. In den Gesprächen der Bauern blitzen Erinnerungen an die frühen Jahre der Volksrepublik auf und fügen sich zu einer lückenhaften Erzählung über Volkskommunen und Produktionsbrigaden, über den Großen Sprung nach Vorne und die anschließende Hungersnot:18 »We starved and suffered in the commune when we were young«, sagt ein alter Mann, und ein anderer erzählt: »We even ate grass when we were young.« Geschichte sedimentiert im Film durch das »Dauergespräch über den gegenwärtigen Alltag und seine historische Gewordenheit.«19 Deutlich wird an dieser Stelle, wie sehr Dr. Ma’s Country Clinic genau nicht Historiographie, sondern stets und ausschließlich Geschichtssprechung oder Geschichtserzählung ist. Diese Privilegierung des gesprochenen Wortes verbindet den Film mit der Praxis des »bitteren Sprechens«. Genau wie diese weist Cong Fengs Film dem »spoken word of uneducated peasants«20 eine zentrale Position im historiographischen Diskurs zu und profiliert darüber hinaus das Gespräch, den Dialog, als Form des Historiographischen. Hier wie dort geschieht Geschichtserzählung nie monologisch, sondern stets und dezidiert dialogisch. 21 Zur Frage, wie genau diese Dialoge im Film als historiographische funktionieren, schreibt Rothöhler: »Ihre geschichtliche Aufladung erhalten die Dialoge meist über den Umweg der herleitenden Explikation körperlicher Beschwerden«.22 Verwiesen ist damit auf eine spezifische Verknüpfung von Körper, Schmerz und Geschichte, die den Film kennzeichnet. Konkret bedeutet dies, dass die Bauern aktuelle Schmerzen immer wieder auf Vergangenes rückbeziehen, dass sie Kausalitäten herstellen und Verbindungen stiften zwischen akutem körperlichem Leid und vergangenen Erlebnissen. So erklärt etwa eine 18 | Der Große Sprung nach Vorne war eine Strategie, die durch Massenmobilisierung und Kollektivierung der ländlichen Produktions- und Lebensverhältnisse die Entwicklung Chinas vorantreiben wollte. Astronomische Planziele und überhöhte staatliche Getreiderequisitionen führten zu einer Hungerkatastrophe, wodurch zwischen 1959 und 1961 bis zu 30 Millionen Menschen starben; die Provinz Gansu, in der Dr. Ma’s Country Clinic liegt, gehörte zu den am schwersten betroffenen Gebieten. Vgl. Jasper Becker: Hungry Ghosts – China’s Secret Famine, London 1996. 19 | Rothöhler: Amateur der Weltgeschichte, S. 170. 20 | Anagnost: National Past-Times, S. 19. 21 | So betont Anagnost, speaking bitterness geschehe nicht »in solitude, but was very much a dialogical process initiated by a very specific interlocutor«. Anagnost: National Past-Times, S. 32. 22 | Rothöhler: Amateur der Weltgeschichte, S. 169.

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Frau, dass ihre Schmerzen im Bein damit zu tun hätten, dass sie in den 50er Jahren in der Volkskommune barfuß schwerste körperliche Arbeit verrichten musste. Wenn der Körper in Szenen wie diesen als eine Art Archiv auftritt, das Spuren der Vergangenheit in sich bewahrt, so gilt umgekehrt auch: Geschichte – etwa die der Volkskommunen – erscheint in Dr. Ma’s Country Clinic stets als verkörperte, ausgesagt von und manifestiert in wirklichen Körpern. Sie hat nichts mit staubigen Büchern und toten Buchstaben zu tun, sondern mit lebendigem Fleisch und flinken Zungen. Indem Dr. Ma’s Country Clinic auf diese besondere Weise Körper, Schmerz und Geschichte konstelliert, steht der Film ganz in der Tradition des »bitteren Sprechens«, dessen Wirkmächtigkeit in einer analogen Verkörperung und Präsentifizierung von Geschichte gründete. Speaking bitterness basiert in diesem Sinne auch auf dem Spektakel des leidenden Körpers, es besteht in dem Vor- und Herzeigen dieses Körpers, der zum Garanten historischer Wahrheit wird: »the body and its pain are made to speak a kind of truth.«23 Es ist genau diese Logik, nach der Dr. Ma’s Country Clinic Menschen in Schmerzen auftreten und sprechen lässt. Paradoxerweise sind es stets die Grenzen des Sagbaren und die Ränder der Sprache, zu denen das »bittere Sprechen« hinstrebt; die Sound-Montage gibt dem Atmen und Schluchzen, dem Röcheln und Räuspern genauso viel Raum wie der intelligiblen Aussage und lotet das Erschütterungspotenzial aus, das in diesen lautlichen Äußerungen jenseits von Sprache, Sinn und Subjekt liegt. Speaking bitterness ist in letzter Instanz auch und vor allem »a poetics of the body«,24 eine Poetik des Körpers, die in Dr. Ma’s Country Clinic zur vollen Entfaltung gebracht wird.

A NACHRONISMEN UND ANDERE S TÖRUNGEN Ich habe versucht zu zeigen, dass Cong Fengs Film in der Tradition der narrativen Praxis speaking bitterness steht – und dies in gleich zweifacher Weise. Das betrifft erstens die individuellen Sprechakte, das Wehklagen der Protagonisten, dessen spezifische Form und temporale Struktur dem Vorbild des »bitteren Sprechens« verpflichtet sind. Zweitens geht es um die Geschichtserzählung, die der Film selber ist, um die Art und Weise, wie der Film einen historiographischen Diskurs montiert: Dialogizität und Verkörperung von Geschichte waren hier die wichtigsten Stichworte. Damit ist eine komplexe Konstellation umrissen, die sich am besten mit dem Begriff Anachronismus fassen lässt. So kann man Dr. Ma’s Country 23 | Anagnost: National Past-Times, S. 19. 24 | Ebd.

Speaking bitterness im Kino

Clinic durchaus als Kritik an staatlicher Wachstums- und Modernisierungspropaganda begreifen, als Versuch einer Geschichtsschreibung von unten. Gleichzeitig aber konstruiert der Film diese Geschichtserzählung, indem er auf das alte und überkommene Modell des »bitteren Sprechens« zurückgreift. Und für die Bauern gilt, dass sie ihr Leben, ihren Alltag und ihre Probleme anno 2008 in ein Sprechen kleiden, das aus den 1940er Jahren stammt. Vielleicht ist es gerade dieser grundlegende Anachronismus, der den Film zu einer präzisen Abbildung der Verhältnisse im heutigen China macht. Denn was wäre dessen Entwicklung zwischen Turbokapitalismus und kommunistischer Ein-Parteien-Herrschaft, zwischen Wirtschaftswachstum und Massenelend, wenn nicht die totale Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen? Bei Jacques Rancière wird darüber hinaus der Anachronismus zum Signum dessen, was als politisches Ereignis gelten kann: »Das Ereignis gewinnt seine paradoxe Neuheit aus dem, was mit Wieder-Gesagtem zusammenhängt, mit außerhalb des Kontexts, an unrechter Stelle Gesagtem, einer Untauglichkeit des Ausdrucks, die zugleich eine ungebührliche Überlagerung der Zeiten ist. Das Ereignis besitzt die Neuheit des Anachronistischen.« 25 So gesehen bestünde das politische Ereignis von Cong Fengs anachronistischem Dokumentarfilm im unzeitgemäßen reload einer überkommenen Sprechweise; seine politischen Effekte wären gerade dort aufzuspüren, wo im Rahmen dieses reload das »bittere Sprechen« und seine Regeln selbst in Mitleidenschaft gezogen werden. Hierfür liefert der Film etliche Beispiele. Während speaking bitterness ursprünglich eine streng regulierte Praxis war, bei der die kommunistische Partei bestimmte, welche Subjekte das Wort ergreifen und welche Leiderfahrungen artikuliert werden konnten,26 entfällt diese Kontrolle in Dr. Mas Wartezimmer. Infolgedessen halten sich bei weitem nicht alle »bitteren Sprecher« an das Gebot, »gegenwärtige Süße« zu loben, sondern sie bringen auch ihren Unmut über gegenwärtiges Unrecht zur Sprache. Die Kamera von Cong Feng registriert dabei unterschiedslos jede Klage, etwa die wütenden Vorwürfe eines älteren Mannes, dessen Bruder im Zuge von Landstreitigkeiten zusammengeschlagen wurde und ein Auge verlor: »Do the common people here have a voice? There is no law in Gulang county! Our country is a dark place. It’s total anarchy in Gulang county«. Und während speaking bitterness 25 | Jacques Rancière: Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des Wissens, Frankfurt a.M. 1994 [1992], S. 50. 26 | Lisa Rofel etwa hat speaking bitterness auch aus Gender-Perspektive untersucht und hervorgehoben, dass »Only certain kinds of knowledge could be made into the truth of speaking bitterness – class exploitation but not, for the most part, marriage or domination by one’s husband«. Rofel: Other Modernities, S. 140.

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ursprünglich in letzter Instanz der Konstruktion einer geeinten Nation, eines Nationalkörpers diente, geht es im Film simpel und buchstäblich um individuelle, einzelne Körper, die Schmerzen haben. Wenn Dr. Ma’s Country Clinic also eine Irritation des »bitteren Sprechens« darstellt, dann auch und vor allem deshalb, weil der Film auf der Nicht-Assimilierbarkeit individuellen Leids beharrt und den Schmerz nicht in einen Plot sozialistischer Vorhersehung aufgehen lässt.

Kontraintuitiver Möglichkeitssinn Die Gründungsgeschichte des Distributionslabels dGenerate films Kevin B. Lee

Ich erinnere mich an die erste DVD-Sendung. Sie war in Zeitungspapier eingewickelt und eng verpackt in eine chinesische Einkaufstüte, ein recht großes Päckchen, aber unauffällig genug, um den chinesischen Zoll zu passieren. Nach dem Öffnen fand ich eine bunte Mischung aus ungefähr 40 Datenträgern. Einige kamen in herkömmlicher DVD-Verpackung inklusive Cover, andere lediglich in Plastikhüllen dünn wie Papiertaschentücher, Titel- und Regisseursnamen mal auf Englisch, mal in chinesischen Schriftzeichen mit einem Markierstift aufgetragen. Wenige der Namen und Titel klangen vertraut, aber allein die Bescheidenheit und die persönliche Note dieser handgemachten Scheiben übertrug eine Intimität, der ich mich nicht entziehen konnte, als ob es sich um ein Paket mit Hilfsgütern für meine Gemeinde gehandelt hätte, das mir von einem weit entfernten Ort zugesandt worden war. In den letzten vier Jahren habe ich über 400 chinesische Independentfilme gesehen, von denen ich viele inzwischen zu meinen Lieblingsfilmen zähle – unabhängig von Land und Entstehungszeitraum. Aber nichts ist vergleichbar mit dem neuartigen Gefühl der Aufregung, dem Möglichkeitssinn, den diese erste Sendung hervorgebracht hatte. Am Anfang der Ereigniskette, die diese Sendung ermöglichte, steht eine Begegnung mit Karin Chien, einer Produzentin amerikanischer Independentfilme, und dem chinesischen Regisseur und Kurator Ou Ning, als dieser im Jahr 2007 New York besuchte. Ou präsentierte zwei seiner Dokumentarfilme: San Yuan Li (ϝ‫ܗ‬䞠, 2003), eine moderne city symphony über Guangzhou, die in Zusammenarbeit mit einem Kollektiv aus Künstlern und Filmemachern entstand; und Meishi Street (✸Ꮦ㸫, 2006) ein Film über die Proteste jener Bewohner Pekings, deren Stadtteil den Bauprojekten im Rahmen der Olympiade 2008 weichen musste, und der sogar Aufnahmen zeigt, die die Bewohner selbst von ihren Auseinandersetzungen mit der Polizei während der Evakuie-

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rungsmaßnahmen gemacht hatten. Während ich noch damit beschäftigt war, den amateurfilmhaften Einfallsreichtum dieser Arbeiten zu bewundern, stellte Karin die für die mögliche Reichweite dieser Filme entscheidenden Fragen: • •



Gibt es mehr Filme wie diese? (Ja, und zwar viele.) Gibt es, in China oder in den USA, ein Vertriebsnetz, das die Filme zugänglich macht? (Weil sie außerhalb der staatlich kontrollierten Filmwirtschaft entstanden sind und nicht der Zensur zur Begutachtung vorgelegt werden, gibt es keine legale Vertriebsmöglichkeit in China. In den USA werden sie mittels spezialisierter Kanäle von jenen Personen und Institutionen, die von ihrer Existenz wissen, vorgeführt, zumeist in universitären oder musealen Zusammenhängen [Das MoMA stellte Ou Ning aus].) Was wäre nötig, um ein funktionierendes Vertriebssystem zu erschaffen? (Keine Ahnung.)

Angesichts des beträchtlichen Interesses an China und dem gleichzeitigen relativen Mangel an Filmen und anderen Medien aus dem Land war Karin überzeugt davon, dass es in den USA ein Publikum für diese Filme geben muss. Als sie diese Idee in ihrem Freundeskreis verbreitete, kamen einige Personen auf sie zu und boten ihre Unterstützung an: vor allem Brent Hall, der die geschäftliche Seite der Firma entwickelte und bis heute betreut; Philip Lam, der maßgeblich verantwortlich war für die Anlauffinanzierung; und Brian Newman, der als Leiter des Tribeca Film Festival eine Online-Plattform entwickelt hatte, die speziell auf den Vertrieb von Independentfilmen ausgerichtet ist. So formierte sich eine Infrastruktur, die den Plan, diese Filme in den USA verfügbar zu machen, Gestalt annehmen ließ. Von diesen Entwicklungen ermutigt, reiste Karin in den ersten drei Wochen des Jahres 2008 nach Peking, um die dortige Independentfilmszene kennenzulernen und Unterstützer für ihre Vertriebspläne zu finden. Ausgehend von einigen wenigen Kontakten lernte sie schnell Dutzende Filmemacher, Kuratoren und Unterstützer des unabhängigen Filmschaffens kennen; eine Begegnung führte zur nächsten, überall trat man ihr mit Enthusiasmus entgegen und bot ihr DVDs für Sichtungen an. Schließlich hatte sie jene erste Sendung aus 40 Scheiben beisammen, die sie mir zu Ansicht und Bewertung zukommen ließ. Aus diesen wählten wir zehn aus, die den Grundstock unseres Verleihangebots bildeten. Inzwischen, vier Jahre später, ist unser Katalog auf 40 Filme angewachsen. Was diese erste Chinareise angeht: Die derart freudige Aufnahme Karins und ihres Angebots kann man nur verstehen, wenn man sich die Realität des Vertriebs dieser Filme vor Augen führt. Mir war bereits bewusst gewesen, dass die Regisseure der sogenannten Sechsten Generation, wie etwa Jia Zhangke, Wang Xiaoshuai und Lou Ye, anfangs außerhalb der staatlich kontrollierten

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Filmwirtschaft gearbeitet hatten und dass chinesische Zuschauer auf ihre Werke ausschließlich über raubkopierte DVDs Zugriff hatten. Die Verbreitung von Piraterie als eine Möglichkeit, der Vertriebsproblematik zu begegnen, war so weit gediehen, dass die Regisseure perverserweise die illegale Verbreitung ihrer Filme begrüßten. Wenn sie in einem DVD-Laden die Raubkopie eines ihrer Filme entdeckten, waren sie stolz darauf, dass ihr Film würdig befunden worden war, verkauft zu werden, obwohl sie selbst aus dem Verkauf keine Einnahmen erzielten. Noch perverser stellte sich die Situation dar, wenn man bedenkt, dass die meisten dieser Filmemacher ihre Produktionen aus eigener Tasche finanziert hatten. Gleichzeitig war es gerade die Bereitschaft und das Durchhaltevermögen dieser Regisseure, ohne realistische Aussicht auf finanzielle Entlohnung Filme zu drehen, die uns besonders nahe ging. Unsere Wahrnehmung der amerikanischen Independentfilmszene (Karin arbeitete als Produzentin, ich als Kritiker) war geprägt von einer Abscheu vor dem dort in unseren Augen dominanten Karrierismus; die meisten Independentfilme wirkten wie Visitenkarten angehender Filmprofis, nicht wie originelle Arbeiten, die die Möglichkeiten des Mediums erkundeten. Es gibt wenig genuin Unabhängiges an einer Filmszene, die faktisch nur ein Laboratorium für Hollywood darstellt. Karin forderte einmal die amerikanischen Indiefilmer heraus, indem sie diese auf ihre chinesischen Kollegen hinwies: »Würdet Ihr Eure Filme auch dann machen, wenn Ihr absolut keine Möglichkeit hättet, sie kommerziell in den USA auszuwerten? Wie würden Eure Filme in diesem Fall aussehen? Würdet Ihr anders casten/schreiben/inszenieren/schneiden? Und wenn Ihr so die Möglichkeit erhalten würdet, kreative Risiken einzugehen, wäre das dann unverantwortliches Filmemachen oder wirklich befreites Filmemachen?«

Dass Filmemacher in China mehr kreative Freiheit erlebten als in den USA erscheint kontraintuitiv; aber genau diese Schlussfolgerung zog ich, nachdem ich all diese Regisseure kennengelernt und mehr über ihre Hintergründe erfahren hatte. Xu Xin (Karamay, ‫ܟ‬ᢝ⥯ձ, 2010) was ein Maler und Kalligraph; Li Hongqi (Winter Vacation, ᆦ‫؛‬, 2010) ein Dichter und Schriftsteller; Ji Dan (When the Bough Breaks, ॅᎶ, 2011) ein Lehrer; Li Ning (Tape, 㛊ᏺ, 2010) ein Tänzer; Hu Jie (Searching for Lin Zhao’s Soul, ᇏᡒᵫᰁⱘ♉儖, 2004) und Zhou Hao (The Transition Period, ‫ހ‬᳜, 2009) Journalisten, die für eine staatliche Nachrichtenagentur gearbeitet hatten. Keiner hatte eine formale Ausbildung im Filmbereich genossen; alle hatten sich irgendwann dazu berufen gefühlt, eine Kamera in die Hand zu nehmen, mal, um eine Geschichte zu erzählen, die sie sich ausgedacht hatten, mal, um eine Person zu verfolgen, die sie faszinierte (in einigen Fällen war diese Person sie selbst), mal, um ein soziales Problem aufzuzeichnen, das von den Medien ignoriert und aus

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dem öffentlichen Bewusstsein gelöscht zu werden drohte. Für viele ging es darum, eine Gesellschaft im Bild festzuhalten, die sich in einem unbarmherzigen Umbruch befindet, die sich unwiderruflich verändert und keinerlei Spuren ihrer Vergangenheit zurücklässt. Dies dürfte einige Eigenschaften dieser Filme erklären, zum Beispiel die Nähe der narrativen Arbeiten zum beobachtenden Dokumentarfilm oder die extreme Länge einiger Dokumentarfilme: sie dauern oft drei, vier, manchmal sogar bis zu neun Stunden, viele bestehen aus langen, kontinuierlichen Einstellungen. In dem sozialen und kulturellen Kontext, in dem die Filme stehen, ist der einfache Akt des Aufnehmens, des sich-Erinnerns eine kritische Handlung. Natürlich wäre die Ausarbeitung dieser langen Form, vielleicht sogar die Herstellung derartiger Filme überhaupt, nicht möglich gewesen ohne die digitale Filmtechnik – die in China erst seit ungefähr zehn Jahren verfügbar ist. Die digitale Technik hat die Filmproduktion überall auf der Welt revolutioniert, aber sie hat dies vielleicht nirgends so gründlich getan wie in China. In den vordigitalen 1990er Jahren – der ersten Dekade des unabhängigen Filmschaffens in China – entstanden pro Jahr kaum mehr als zehn Independentfilme. Jetzt, wo Regisseure HD-Kameras zu erschwinglichen Preisen erstehen können, werden Jahr für Jahr Dutzende, wenn nicht Hunderte derartige Filme gedreht. Diese finanziell niederschwellige Technologie hat ihre eigene Ästhetik hervorgebracht. Sie ist geprägt von längeren, intensiveren Auseinandersetzungen mit Gegenständen und sie setzt sich gelegentlich in radikale Opposition zu konventionellen und kommerziellen Ansätzen betreffend Thematik, filmische Form und Erzähltechnik, in Opposition gleichermaßen zu Hollywood, der Beijing Film Academy und den chinesischen Staatsmedien. Stattdessen entstehen gerade im dokumentarischen Bereich Filme, die nicht nur den Prozess der Annäherung an einen Gegenstand vermitteln, sondern gleichzeitig auch die Beziehung zwischen Gegenstand, Filmemacher und Zuschauer neu konfigurieren. Die besten chinesischen Dokumentarfilme dieser Periode zeichnen sich durch derartige Qualitäten aus. Tiexi District – West of the Tracks (䪕 㽓ऎ, 2003, Wang Bing) und Karamay sind monumentale Erinnerungsfilme über periphere Existenzen, sie konstruieren geduldig ganze Welten aus den Leben derjenigen, die vergessen und verdrängt zu werden drohen. Petition (Ϟ 㿾, 2009, Zhao Liang) und When the Bough Breaks verkomplizieren unsere Sympathie mit den Unterpriviliegierten, indem sie die Rolle des Filmemachers als Protokollanten des Elends thematisieren. Disorder (⦄ᅲᰃ䖛এⱘ᳾ᴹ, 2009, Huang Weikai) und Tape durchbrechen das dokumentarische Dispositiv mithilfe atemberaubender formaler Innovationen und absurdem Spektakel. Und einige der besten neuen chinesischen Erzählfilme, wie zum Beispiel Liu Jiayins Oxhide (⠯Ⲃ, 2004) und Oxhide 2 (⠯Ⲃ2, 2009) oder auch Li Honqis Winter Vacation, nutzen den dokumentarischen Realismus als Ausgangs-

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punkt für ihre kreativen Experimente. Lius radikale widescreen-Kompositionen eines kleinen Pekinger Appartements denken Raum neu als paradoxe epische Intimität, Lis humorvoll synkopierte Inszenierung ringt dem Alltäglichen, Banalen surreale Momente ab.

Oxhide 2 Der immense Einfluss der digitalen Revolution auf das chinesische Independentkino beschränkte sich nicht auf den Bereich der Produktion. Digitale Videorekorder tauchten in China ungefähr um dieselbe Zeit auf wie bezahlbare Heimcomputer inklusive DVD-Brenner und DVD-Rohlinge, mit deren Hilfe die Filme für wenig Geld vervielfältigt und verbreitet werden konnten. Aber die digitale Schnittstelle, die den Vertrieb wirklich in Schwung brachte, war das Internet. Über Blogs und Websites wie Douban, Fanhall oder Weibo begannen Leute aus dem ganzen Land, Informationen über die Filme auszutauschen, sich miteinander zu vernetzen und die Filme untereinander auszutauschen. Das Internet war auch von außerordentlicher Wichtigkeit für die Organisation unabhängiger Filmfestivals, die heute Filmemacher, Kuratoren und andere Filmenthusiasten aus dem ganzen Land und aller Welt anziehen. Die wichtigsten dieser Festivals sind das Beijing Independent Film Festival, das Beijing Documentary Film Festival, das China Independent Film Festival in Nanjing, das Chongqing Independent Film Festival und das Yunnan Multi Culture Visual Festival. Diese Veranstaltungen waren eine bedeutende Weiterentwicklung jener privaten Filmabende unter (wenigen) Freunden, auf denen diese Filme vorher vorgeführt worden waren; das Niveau des Austauschs und der Sichtbarkeit hatte sich beträchtlich erhöht. Diese Beschreibung des chinesischen Independentkinos im digitalen Zeitalter ist zwar zweifellos geprägt von meinem Enthusiasmus, es liegt mir aber fern, die Filme und Filmemacher zu romantisieren. Dies zu tun, würde bedeuten, die ausgesprochen unromantischen Realitäten und Herausforderungen, denen sie sich stellen müssen, zu ignorieren. Denn obwohl sie sowohl innerhalb als auch außerhalb Chinas immer deutlicher auf sich aufmerksam

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gemacht haben, bleiben sie doch gefangen in der kulturellen Peripherie, verfügen über nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, ein breiteres Publikum in ihrem Heimatland zu erreichen. Letztes Jahr [2011] wurde, aufgrund anschwellender sozialer Unruhen, wieder verstärkt Druck auf die Festivals ausgeübt, ihre Internetauftritte wurden gesperrt, ihr Programm abgeändert, einige mussten komplett abgesagt werden. Einige unabhängige Festivals entschieden sich, um ihr Überleben zu sichern, dazu, mit lokalen Beamten zusammenzuarbeiten, auf die Gefahr hin, Beschränkungen hinsichtlich der Film- und Themenauswahl hinnehmen zu müssen. Natürlich ist nicht jeder einverstanden mit derartigen Kompromissen, innerhalb der Szene kam es zu Diskussionen darüber, was ein unabhängiges Festival in China ausmache. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich in den Filmen selbst beobachten, weil viele unabhängige Filmemacher sich weiterentwickeln, sich danach sehnen, ein breiteres Publikum zu erreichen und sich deswegen neu überlegen, welche Art von Film sie drehen wollen. Jia Zhangke und Wang Xiaoshuai sind zentrale Beispiele für Regisseure der Sechsten Generation, die früher unabhängig arbeiteten und jetzt, aufgrund der größeren Reichweite, Filme innerhalb des Systems drehen, was sich zweifellos auf die Themen und Tonlagen dieser Arbeiten auswirkt. Auch einige Regisseure der digitalen Generation sehen sich nun mit diesem Dilemma konfrontiert; »Unabhängigkeit« und »Kompromiss« sind Begriffe, die jeder für sich selbst zu definieren hat. Selbst zwischen denen, die standhaft innerhalb des Bereichs des unabhängigen Filmschaffens verbleiben, entstehen Konflikte. Nun, da immer mehr unabhängige Dokumentarfilme produziert werden, weisen ihre Macher auf die philosophischen und ethischen Differenzen zwischen verschiedenen Formen des Dokumentarischen hin, was zu Diskussion führt über die Rolle des Filmemachers im Verhältnis zu seinem Gegenstand, den Gefahren einer ausbeuterischen Filmpraxis, insbesondere in Bezug auf Filme über unterprivilegierte Gesellschaftsgruppen und wiederum über die Verlockung, mithilfe einer konventionelleren filmischen Ästhetik ein größeres Publikum erreichen zu können. Diese Entwicklungen könnten ein Indiz dafür sein, dass die Szene in erhöhter Diversität aufblüht; oder sie könnten darauf hinweisen, dass sie sich immer weiter fragmentiert, aufspaltet und in Gefahr gerät, einen verbindenden Gemeinschaftssinn und die gemeinsamen Ziele aus den Augen zu verlieren. Diese Frage wird nicht nur von jenen entschieden werden, die diese Filme drehen, sondern von allen, die ihren Einfluss und ihr Potential zu schätzen lernen und so andere großartige Filmpraktiken hervorbringen, nicht nur in China, sondern überall auf der Welt. In den vier Jahren, die dGenerate damit verbracht hat, unabhängige chinesische Filme international zu vertreiben und zu bewerben, haben wir entdeckt, dass es nicht nur darum geht, die Filme verfügbar zu machen, sondern dass auch ihre Geschichte erzählt werden muss – von der

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nur ein Teil hier erwähnt wurde –, damit sich ihre Bedeutung in einem umfassenderen Sinne erschließen kann. Die Evolution dieses Kinos innerhalb von gerade einmal zehn Jahren ist ein Phänomen, das die internationale Filmszene erst teilweise begriffen hat. Es sind noch viele erste Sendungen zuzustellen. Übersetzung: Lukas Foerster

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III. Nollywood

Afrikanisches Kino und Nollywood Widersprüche Jonathan Haynes

Afrika ist Teil des globalen Systems des Kinos, beinahe seit dessen Erfindung, dies jedoch unter den unvorteilhaftesten Bedingungen: als Deponie zweitverwerteter B-Filme aus Hollywood, Bollywood oder Hongkong, die von afrikanischen Wirklichkeiten und Belangen weit entfernt sind, während die großen technischen, infrastrukturellen und finanziellen Anforderungen der Filmproduktion und -distribution es lange Zeit nahezu verunmöglichten, auf diese Fremdbilder mit eigenen Filmen zu antworten.1 Aufgrund seiner hohen Anforderungen ist Kino fast überall von staatlichen Beihilfen abhängig. Doch die postkolonialen afrikanischen Staaten haben sich, wenn es darum geht, solche Hilfen bereitzustellen, noch jedes Mal als gleichgültig, korrupt oder unfähig erwiesen. Diese düsteren Aussichten haben zwei Reaktionen hervorgerufen, die verschiedener kaum sein könnten. Die erste ist ein Intellektuellenkino – nicht der Intention, aber doch dem Resultat nach –, eingeschlossen in den schmerzlichen Widerspruch zwischen dem leidenschaftlichen Wunsch nach einer afrikanischen Filmkultur auf der einen und der Wirklichkeit neokolonialer Abhängigkeit auf der anderen Seite. Dieses Kino ist der Marktfähigkeit – einer realen Industrie, die auf Profitbasis vorangegangener Produktionen operiert – nie auch nur nahe gekommen, sondern hängt von tröpfelnden, intravenös verabreichten Fördermitteln aus ausländischen Quellen ab. Es hat international eine kleine, aber respektierte Nische für sich etabliert, afrikanische Zuschauer jedoch nur sporadisch und im Vorübergehen erreicht. Vor zwanzig Jahren machte das Aufkommen billigen und einfach zu handhabenden Videoequipments eine ganz neue Art des Filmemachens möglich, die der Problematik des Zelluloid-Kinos entging und augenblicklich überra1 | Im Original erschienen als Jonathan Haynes: »African Cinema and Nollywood: Contradictions«, in: Situations: Project of the Radical Imagination, Vol. 4, Nr. 1, 2011, S. 6790. Die vorliegende, von Nikolaus Perneczky besorgte Übersetzung ist leicht gekürzt.

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gende Erfolge beim afrikanischen Publikum feierte. Der Videoboom erhob sich auf der kommerziellen Basis nicht des überbetrieblich organisierten Kommerzialismus Hollywoods, sondern des afrikanischen Marktwesens, das durch eine enormen Energie des Austauschs gekennzeichnet ist, aber auf keine großen Kapitalformationen, Bankendarlehen oder überhaupt nennenswerte Verbindungen zum formalen Sektor rekurrieren kann. Diese informelle Wirtschaftsweise expandierte rasch zum Fernhandel und fügte sich in das von Milliarden Öldollars errichtete, durch die Pleite nach dem Boom aber ruinierte Nigeria; ein Land, in dem mehr Menschen Videorekorder besaßen als einen Kühlschrank oder trinkbares Leitungswasser;2 in dem die Straßen so gefährlich waren, dass man abends lieber daheim blieb und einen Videofilm sah als ein Kino zu besuchen; in dem es zahllose Fernsehstationen und eine Öffentlichkeitsmaschinerie gab, die bereit war, den roten Teppich für die Filmstars auszurollen. Bis jetzt haben Versuche, die Videoindustrie mit Institutionen des formalen Sektors zu verbinden, vor allem die Inkompatibilität – und Widerständigkeit – jener Grassroots-Geschäftskultur im Hinblick auf großkapitalistische Strukturen demonstriert. Die Videofilme wuchsen sich weit über die nigerianischen Grenzen zu einem riesigen Phänomen aus, werden von den Institutionen des internationalen Kinos aber nur zögerlich anerkannt, geschweige denn eingemeindet. Diese radikal verschiedenen Formationen entspringen demselben Boden: Es gibt mächtige Gemeinsamkeiten in der Geschichte des Kinos quer durch Afrika.3 Das Kino traf zusammen mit dem Kolonialismus und als sein Werkzeug ein. Es wurde gezielt eingesetzt, um die »Eingeborenen« mit der Überlegenheit westlicher Technologie zu blenden und zu indoktrinieren. Die britischen, französischen und belgischen Kolonialverwaltungen gründeten Filmeinheiten ( film units) zur Herstellung von Propaganda- und Lehrfilmen (zu Themen wie Hygiene und Agrarmethoden), zugeschnitten auf ihre Vorstellung eines afrikanischen Publikums. Kommerzielle Kinos wurden als in gleichem Maße mächtige wie zwiespältige Instanzen der Moderne – zusammen mit elektrischer Beleuchtung, populärer Musik aus Verstärkern, Fabriklöhnen und motorisierten Fahrzeugen – zu einem essenziellen Bestandteil kolonialer Städte. Af2 | Vgl. Pierre Barrot (Hg.): Nollywood: The Video Phenomenon in Nigeria, Bloomington/Indiana 2009. 3 | Im Kontext dieses Aufsatzes schließt »Afrika« Nordafrika aus. Kulturell sind Ägypten und der Maghreb vom subsaharischen Afrika sehr verschieden; und trotz einiger signifikanter institutioneller Verbindungen (zum Beispiel die beiden alternierend stattfindenden Filmfestivals Journées cinématographiques de Carthage und Festival panafricain du cinéma et de la télévision de Ouagadougou) und einiger weniger Koproduktionen sind die Kinematografien des nordafrikanischen und subsaharischen Afrika eher als getrennte Phänomene zu betrachten.

Afrikanisches Kino und Nollywood

rikaner wurden zu regen Kinobesuchern – »Kino ist unsere Abendschule«, wie Ousmane Sembène, der Gründervater des afrikanischen Kinos, bekanntlich sagte – und begannen rasch, das amerikanische Kino in ihre Populärkultur zu integrieren. Dennoch war das Verhältnis zwischen Afrika und dem Kino mehr noch als auf allen anderen Kontinenten radikal asymmetrisch. Afrikaner konsumierten Kino, konnten es aber nicht selbst machen. Unter französischer Herrschaft war es ihnen formal verboten, Filme ohne eine Lizenz zu drehen, die in der Praxis jedoch nie ausgestellt wurde. Jedenfalls hatten Afrikaner keinen Zugang zu teurem Equipment und Material, das notwendig war, um Filme zu drehen. Auch die Voraussetzung einer ausgiebigen technischen Ausbildung war nicht erfüllt; nur eine kleine Anzahl von Afrikanern erwarb diese Kompetenzen bei der Arbeit für eine der kolonialen film units. Nach der Unabhängigkeit erbten die neuen Nationen manches an Ausrüstung und Personal der film units und tätigten mitunter ambitionierte Investitionen in Produktionsanlagen. Aber zum einen waren die neuen Regierungen (wie die alten, kolonialen) nervös hinsichtlich des subversiven Potenzials des Mediums Film, zum anderen wurde die Spielfilmproduktion zugunsten von Nachrichten- und dokumentarischen Formaten vernachlässigt. Korruption, Bürokratisierung und Fehlplanungen taten das ihre, den staatlichen film units einen schweren Schlag zu versetzen. Zudem bestand das Problem der Distribution. Kinos überall in Afrika wurden von einem Duopol ausländischer Verleiher beliefert, die Blockbuchungen vertraglich aufnötigten, was die Kinos davon abhielt, etwas anderes als amerikanische B-Filme in Zweitverwertung – erweitert ab den 1960er Jahren um Bollywood-Produktionen und noch später um Kampfsportfilme aus Hongkong – zu zeigen. Selbst wenn die Kinobetreiber willens oder in der Lage waren, aus diesen Exklusivverträgen auszusteigen, konnte ein afrikanischer Film, der seine Produktionskosten einspielen musste, nicht mit den Preisen jener Filme mithalten, mit denen die weltgrößten Filmindustrien den Markt überschwemmten, sodass es für Kinos keine kommerziellen Anreize gab, lokale Filme zu zeigen. Dieses strukturelle Problem hat das Verleihsystem bis heute gegen afrikanische Filme abgedichtet. Infolge der Structural Adjustment Programs der 1980er, die Ökonomien in ganz Afrika verwüsteten, und der Zunahme digitaler Technologie haben viele Kinos zugemacht und sind in manchen Gegenden vollends verschwunden. Von den späten 1960ern an war eine kleine Gruppe von Afrikanern dennoch entschlossen, Filme zu machen – und auf kleiner Stufenleiter ist ihnen das auch gelungen. Die einschlägige Methode wurde von Sembène als »mégotage« beschrieben; als das Aufklauben von Zigarettenstummeln bzw. das Aufstellen kleiner Fördersummen wo immer es möglich war, anhand eigener Ersparnisse oder Darlehen, seltener von lokalen Unternehmen oder der Regierung. Zwei übernationale Strukturen waren maßgeblich für das Wachstum des afrikanischen Kinos. Eine ist europäische Förderung. Nach der Unabhängigkeit hörte

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Frankreich auf, die Herstellung von Filmen durch Afrikaner zu blockieren und begann, sie tentativ zu unterstützen, zum Teil als Strategie zur Ausweitung der Alternativen zur Hollywood-Hegemonie, die drohte, Frankreichs eigene Filmtradition zu verschlingen. Bis vor kurzem sind die meisten afrikanischen Zelluloidfilme mit zumindest partieller Förderung der französischen Regierung entstanden. An das Geld waren jedoch Bedingungen geknüpft. Es wurde vorgestreckt im Austausch für die Verleihrechte an den Filmen an nichtkommerziellen Veranstaltungsorten wie den französischen Kulturzentren; nach solchen Vorführungen war es unwahrscheinlich, dass sich kommerzielle Verleiher noch für die Filme interessieren würden. Den Produktionen wurden französische Kameraleute, Cutter usw. oft regelrecht aufgenötigt, um die technische Qualität (und Arbeitsplätze in der französischen Filmindustrie) zu garantieren, was der Entwicklung einer indigenen Filmästhetik hinderlich war; auch die Postproduktion musste in Frankreich erfolgen, mit dem Ergebnis, dass Afrika, egal wie viele Filme dort gedreht wurden, nie eine eigene filmindustrielle Infrastruktur aufbauen sollte. Dieses System ist zuletzt ein wenig vielfältiger geworden, da nun auch die Europäische Union, europäische Fernsehsender und eine Reihe von Stiftungen und anderen NGOs als Förderer auftreten. Einmal abgedreht, machen die Filme die Runde auf internationalen Filmfestivals, in Arthauskinos und Bildungseinrichtungen. Nur selten werden sie in Afrika gezeigt und sie erwirtschaften keinen Profit, der zukünftigen Projekten zufließen könnte. Stattdessen muss der Filmemacher jedes Mal erneut den Spießrutenlauf um ausländische Fördermittel antreten. Die andere wichtige übernationale Institution ist die Fédération Panafricaine des Cinéastes (FEPACI), eine Organisation von Filmemachern, die sich zu einem Teil in vehementer Reaktion auf das eben beschriebene ausländisch dominierte System formierte. Ihr wichtigster und nachhaltigster Erfolg ist das FESPACO, ein zweijährlich in Burkina Faso stattfindendes Filmfestival. Die FEPACI ist ein Erbe des Panafrikanismus, und ihre Verlautbarungen, besonders in den 1970er und 1980er Jahren, waren informiert vom Trikontinentalismus und den radikalen Theorien des Dritten Kinos. In einer damaligen Adresse an afrikanische Filmemacher schrieb Taher Cheriaa: »Euer Kino wird ein militantes Kino sein. Es soll zuvorderst eine kulturelle Tat mit sozialem und politischem Wert sein, oder es wird nichts sein. Wenn es sich schließlich auch als wirtschaftliches Faktum bewähren sollte, dann nur als unerheblicher Nebeneffekt«.4 Diese radikale Phase, dominiert von Filmemachern wie Ousmane Sembène, Med Hondo, oder Souleymane Cissé, war von nur kurzer Dauer. Sie wich in den späten 1980ern – gemäß einer inzwischen gängige Periodisierung – dem »calabash cinema«, das der europäischen Vorliebe für Bil4 | Mweze Ngangura: »African Cinema – Militancy or Entertainment?«, in: Imruh Bakari und Mbye Cham (Hg.): African Experiences of Cinema, London 1996, S. 60-64.

Afrikanisches Kino und Nollywood

der eines jungfräulichen, primitiven Afrika zuarbeitete, einer Tendenz, die von Idrissa Ouedraogos Filmen Yaaba (1989) und The Law (Tilaï, 1990) angeführt wurde; gefolgt, ab Mitte der 1990er, von einer Periode diverser Stile und Topoi. Exemplarische Figuren dieser Diversifizierung sind der Experimentator JeanPierre Bekolo, dessen Filme von einer Auseinandersetzung mit transnationaler Populärkultur angetrieben werden, und der visionäre Poet und Philosoph Abderrahmane Sissako. Das Sprechen und Schreiben über afrikanisches Kino war und ist stets auch ein Lamento über seine strukturelle Abhängigkeit. Das neueste Buch zum Thema5 beschreibt eine Situation, worin der Kampf gegen diesen Zustand kollabiert zu sein scheint. Eine neue Generation von Filmemachern hat sich individuelleren und psychologischen Themen zugewandt oder nimmt Anleihen bei der globalen Ästhetik des World Cinema, ohne sich über Fragen einer afrikanischen Authentizität den Kopf zu zerbrechen. Die Produktion von Spielfilmen auf Video kam auf als ein grundlegendes Novum. Der Fall Ghanas, wo Videofilme schon seit den späten 1980ern produziert werden, ist ein besonders dramatisches Beispiel für einen kompletten Neustart; eine neue Form erfunden von Neuankömmlingen, von denen die allerwenigsten Verbindungen zur bestehenden Zelluloidtradition hatten. (Die beiden Pioniere waren der Filmvorführer William Akuffo und der gelernte Automechaniker Socrate Safo.) Die neue Form basierte auf neuen Möglichkeitsbedingungen; auf einer neuerdings liberalisierten Medienlandschaft und der billigen, einfach zu handhabenden Videotechnologie, die es erlaubte, Filme mit schierem Enthusiasmus und vernachlässigbaren Budgets zu realisieren.6 Weil diese minimalen Bedingungen überall bestehen, hat sich auch die Praxis der Videoproduktion auf dem ganzen Kontinent ausgebreitet. Eine Reihe von Faktoren prädestinierten Nollywood zur Ausnahmeerscheinung kolossalen Ausmaßes. Nigeria beherbergt ein Viertel der subsaharischen Population, weshalb nigerianische Phänomene üblicherweise riesenhaft sind. Nollywoods riesiger heimischer Markt verschafft ihm ähnliche Vorteile wie Hollywood sie genießt; wie Hollywood profitiert auch Nollywood vom inter-

5 | Manthia Diawara: African Film: New Forms of Aesthetics and Politics, München 2010. 6 | Vgl. Birgit Meyer: »Popular Ghanaian Cinema and ›African Heritage‹«, in: Africa Today, Vol. 46, Nr. 2, 1999, S. 93-114; dies.: »Ghanaian Popular Video Movies between State Film Policies and Nollywood: Discourses and Tensions«, in: Ralph Austen and Mahir Saul (Hg.): Viewing African Cinema in the Twenty-First Century: Art Films and the Nollywood Video Revolution, Athens/Ohio 2010, S. 42-62; Carmela Garritano: »Contesting Authenticities: The Emergence of Local Video Production in Ghana«, in: Critical Arts, Vol. 22, Nr. 1, 2008, S. 21-48.

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nationalen Einfluss und Prestige des Englischen.7 Während des Ölbooms der 1970er und frühen 1980er Jahre wurde der Besitz eines Fernsehers und (noch ungewöhnlicher im afrikanischen Kontext) eines Videorekorders zur Normalität unter den Angehörigen einer rasch expandierenden Mittelschicht. Und es kam eine Infrastruktur der Piraterie auf, um Videokassetten ausländischer Filme zu duplizieren und zu distribuieren. Es waren in diese Infrastruktur involvierte Geschäftsleute (angeführt von Kenneth Nnebue, dessen Living in Bondage [1992] als erster Nollywoodfilm gehandelt wird), die den Profit erkannten, der von in Nigeria produzierten und vermittels des Systems der Piraterie distribuierten Filmen erwirtschaftet werden konnte.8 Diese Geschäftsleute kontrollieren nach wie vor die Industrie. Die Tradition des Yoruba-Wandertheaters, die bereits von der Bühne zum Fernsehen und Zelluloidfilm übergewechselt war, passte sich schnell ans neue Medium an und führte ihm loyale Zuschauer zu (mehrheitlich Yoruba, aber auf einem bemerkenswert breiten sozialen Spektrum).9 Vor allem aber verfügte Nigeria über eine langgediente und die bei weitem größte Fernsehsendeanstalt Afrikas und mithin über eine große Zahl erfahrener Mitarbeiter vor und hinter der Kamera. Schauspieler und Regisseure wechseln immer noch zwischen Fernsehserien und Nollywoodfilmen, und die Ästhetik Nollywoods (gesprächslastig, plot-orientiert, aber mäandernd und langwierig) ist jener der Fernsehserie näher als den Normen des internationalen Kinos. Seit Beginn des Videobooms 1992 hat Nigeria ungefähr 14 000 Spielfilme produziert.10 2007 wurden über 2000 Filme veröffentlicht, die Rate ist seither infolge einer der periodischen Krisen der Industrie wieder gefallen. Die Schwemme an Filmen auf dem Markt, die vielen Videoverleihgeschäfte und weit verbreitete Piraterie haben die Verkaufszahlen verringert, ebenso die zahllosen Fernsehsender, die regelmäßig Nollywoodfilme ausstrahlen (das südafrikanische Satellitensender-Netzwerk M-Net hat drei Kanäle namens Africa Magic, einen für englischsprachige Nollywood- und Ghallywoodfilme, einen 7 | Vgl. Moradewun Adejunmobi: »English and the Audience of an African Popular Culture«, in: Cultural Critique, Nr. 50, 2002, S. 74-103. 8 | Vgl. Brian Larkin: »Degraded Images, Distorted Sounds: Nigerian Video and the Infrastructure of Piracy«, in: Public Culture, Vol. 16, Nr. 2, 2004, S. 289-314. 9 | Vgl. Bidoun Jeyifo: The Yoruba Travelling Theatre of Nigeria, Lagos 1984; Karin Barber: The Generation of Plays: Yoruba Popular Life in Theater, Bloomington, Indianapolis 2000. 10 | Ungefähr ein Viertel davon in Hausa: Die in Kano beheimatete nordnigerianische Filmindustrie der Hausa wird meist nicht Nollywood zugerechnet, da die Filme sehr verschieden sind. Sie beinhalten regelmäßig Bollywood-artige Sing- und Tanznummern und existieren in einem spannungsvollen Verhältnis zur islamischen Zensur und den konservativen Mores der Hausa.

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für Yoruba- und einen für Hausa-Filme). Das Durchschnittsbudget einer Nollywoodproduktion ist inzwischen auf ca. 50 000 Dollar angestiegen. Die Filme werden typischerweise in zwei bis drei Wochen abgedreht und die Postproduktion nimmt weitere zwei bis drei Wochen in Anspruch; die Produzenten hoffen so, ihre Investition in den zwei Wochen nach der Erstveröffentlichung wieder einzuholen, bevor die Raubkopierer den Film in die Finger bekommen oder er unter der nächsten Lawine von releases begraben wird.

Ein Videogeschäft in Lagos Der Exporterfolg von Nollywoodfilmen (und der ähnlich gearteten Filme aus Ghana, die von demselben Strom getragen werden) ist nicht weniger bemerkenswert als ihre Dominanz auf heimischen Märkten. Als die wirkmächtigsten Bilder in Zirkulation der afrikanischen Tradition und Moderne haben sie, wie John McCall sich ausdrückt, einen »real existierenden« Panafrikanismus geschaffen.11 Ihre Popularität hat inzwischen sichtbare Auswirkungen in so weit entfernten Ländern wie Südafrika,12 allerorten sprießen ähnliche Filmindustrien aus dem Boden: Johannesburg hat jetzt sein »Jollywood«, Tanzania 11 | Vgl. John C. McCall: »The Pan-Africanism We Have: Nollywood’s Invention of Africa«, in: Film International, Vol. 5.4, Nr. 28, 2007, S. 92-97. 12 | Vgl. Matthias Krings und Onookome Okome (Hg.): Global Nollywood: Transnational Dimensions of an African Video Film Industry, Bloomington/Indiana 2012.

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sein »Bongowood«, Kenya »Riverroad« usw. Die Filme sind ungeheuer beliebt in der Karibik und scheinen auch die Videofilme aus Jamaica und Haiti beeinflusst zu haben. In Großbritannien und in Houston, Texas gibt es Kabelkanäle, die nichts anderes zeigen, auf vielen Internetseiten in den USA und in Europa kann man sie kaufen oder streamen. In einem Umkreis von vier Blocks von meinem Büro in Brooklyn gibt es acht Läden, die sie anbieten, in der Mehrzahl von karibischen Migranten und Afroamerikanern betrieben. In jedem Laden ist eine andere Auswahl dieses Untergrund-Medienuniversums mehrheitlich raubkopierter Filme à fünf Dollar ausgestellt: Neben den nigerianischen und ghanaischen Filmen finden sich Konzertfilme mit Dave Chappelle, afroamerikanische Pornos, jamaikanische Gangsterstreifen und chinesische Kampfsportfilme. Die Flatbush Avenue hinab, in einem afrikanischen Kiez, ist die Mischung eine andere und beinhaltet senegalesische Dramen, malische Musikvideos und Mitschnitte von Fußballspielen afrikanischer Teams. Darauf ausgerichtet, Filme so schnell und billig und in so großer Zahl herzustellen, unterscheiden sich die Produkte des Nollywood-Systems grundlegend von den afrikanischen Zelluloidfilmen. Nollywoodfilme sind auf die kleinen Bildschirme zugeschnitten, auf denen sie in der Regel gesehen werden. Die heute gebräuchlichen Videokameras sind von größtenteils ziemlich guter Qualität, aber die Tonaufnahme ist selten gut genug, um einer Kinoauswertung gewachsen zu sein. Der Kontrast im Zeitaufwand ist entscheidender als die technischen Differenzen und sogar als die Budgets (jene der afrikanischen Zelluloidfilme sind gemessen an internationalen Standards sehr gering, aber wesentlich größer als die der Nollywood-Videos). Normalerweise braucht es Jahre, um die Fördersumme für einen Zelluloidfilm aufzutreiben, und das Drehbuch ist das vorrangige Mittel zum Zweck der Geldbeschaffung, weshalb es über einen langen Zeitraum, unterdessen es das zentrale Ereignis im Leben eines Regisseurs (in vielen Fällen auch der Autor) ist, geschrieben und überarbeitet, wiedererwogen und -beurteilt wird. Nollywoodfilme leben von ihren Geschichten – wie oft bemerkt wurde vernachlässigen sie den visuellen Aspekt zugunsten des Narrativs, und noch das niedrigste technische oder schauspielerische Niveau wird akzeptiert, solange die Geschichte spannend genug ist. Dennoch wird auch das Drehbuch generell in demselben Tempo und mit derselben Achtlosigkeit ausgeworfen wie der Rest des Films. Autor und Regisseur sind oft Leihkräfte, die lediglich kurze Zeit mit einem bestimmten Film verbringen. Auch die Schauspieler, die jedes Jahr in dutzenden Filmen auftreten und mitunter zwischen mehreren Sets gleichzeitig manövrieren, verbringen wenig Zeit mit dem Skript. In vielen Fällen – besonders bei nicht-englischsprachigen Filmen – mag es nicht einmal ein Buch geben, nur ein vage vorgegebenes Szenario, von dem ausgehend die Darsteller improvisieren. Akin Adesokan hat brillant beschrieben, wie es den Schauspielern aus der Tradition des Yoruba-Wandertheaters nahezu unmög-

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lich ist, ihre eingeschliffenen Routinen hinter sich zu lassen. In dieser Tradition etablieren Darsteller eine Persona, die sie von einem Film zum nächsten fortschreiben (was sie davon abhält, sich allzu weit auf neue Figuren einzulassen) und bedienen sich Methoden der Kollektivimprovisation um konventionalisierte Situationen herum, was nicht nur ein schneller und kostengünstiger Weg ist, Filme fertigzustellen, sondern überdies den Genuss einer vertrauten Kunstform offeriert.13 Das afrikanische Zelluloidkino ist auteuristisch; es bedarf üblicherweise der fast schon verrückten Hingabe eines Einzelnen, um einen Film zu realisieren, wobei der Filmemacher viele Rollen zugleich – vom Drehbuchautor bis zum Verleiher – übernimmt. Es gibt keine unterstützenden, geschweige denn kompetitiven Strukturen, und keine stehenden Produktionsanlagen. In Nollywood dagegen haben die Produzenten und Promoter das Sagen, manchmal liefern sie sogar den Plot und treffen Castingentscheidungen. Und es sind in erster Linie die Schauspieler – die Stars –, die als selling proposition fungieren. Genre ist die wichtigste Ordnungskategorie zur Führung potenzieller Käufer durch den Stapel der wöchentlichen Veröffentlichungen, wichtiger noch als die Gesichter der Schauspieler oder der Name von Regisseur und Promoter auf dem Cover. Nollywoodfilme sind wesenhaft generisch; sie können es sich nicht leisten, es nicht zu sein, da ein Film, der nicht deutlich sein Naturell signalisiert, auf dem Markt untergehen und eine anderweitige Individuation der Filme Zeit und Geld kosten würden. Außerdem ist die generische Rahmung einer hastigen Arbeitsweise zuträglich, die nur unter der Voraussetzung funktioniert, dass jeder immer schon weiß was zu tun ist. Die beiden Traditionen haben verschiedene Positionen in Beziehung auf ausländische Einflüsse, obwohl es wichtig ist daran zu erinnern, dass nahezu alle afrikanischen Filmemacher von ihrer Kindheit an tausenden ausländischen Filmen ausgesetzt waren: Ihre Filme entspringen nicht jungfräulich einem irgendwie unbefleckten afrikanischen Bewusstsein, sondern sind zu einem guten Teil als reaktive Formationen zu begreifen. Die Zelluloidtradition, die oft Authentizität erheischte oder von dem Wunsch getragen war, einen Gegenentwurf im Namen des ganzen Kontinents vorzulegen, hat vor den Fluten der transnationalen Medienökonomie und deren Hervorbringungen Unterschlupf gefunden in einer geschützten Arthaus-Nische auf der einen und in multikulturellen, dezidiert afrikanistischen Kontexten auf der anderen Seite. Nollywood begrüßt und absorbiert diese transnational-massenmedialen Formen mit dem für afrikanische Populärkulturen typischen unbefangenen

13 | Vgl. Akin Adesokan: »Practicing ›Democracy‹ in Nigerian Films«, in: African Affairs, Vol. 108, Nr. 433, 2009, S. 599-619.

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Eklektizismus,14 in einem Prozess der kritischen Selektion und Adaption, der von den komplexen Wünschen, Veranlagungen und Ontologien des Publikums geleitet wird. Die Rolle der Markthändler und Promoter, die ausländische Medien raubkopieren und als Kingpins von Nollywood gelten, muss hier in Rechnung gestellt werden; sie sind stets als Hindernis für die Entwicklung der Videofilmindustrie beschrieben worden aufgrund ihrer engstirnigen Auffassung dessen, was sich gut verkaufen wird. Dennoch handelt es sich um den außergewöhnlich reinen Fall eines Marktes, der von den Wünschen und Begehrlichkeiten der Konsumenten allein strukturiert wird (Barrot betont diesen Punkt wiederholt). Die Promoter versuchen schließlich nur, dem Publikum das zu geben, wofür es auch bezahlen will. Keine großen Konzerne profitieren von der Industrie oder nutzen sie, um die Zuschauer zu Konsumenten einer kapitalistischen Ökonomie zu erziehen (wie die Situation der lateinamerikanischen telenovelas oft erläutert wird).15 Zwar gibt es das Nigerian National Film and Video Censors Board, aber die übliche paranoide Wachsamkeit der Regierungen gegenüber dem Kino ist stark zurückgegangen, da die Videos für gewöhnlich in der Privatheit des Heims gesehen werden und nicht an einem öffentlichen Ort vor versammelter und möglicherweise entzündbarer Menge.16 Besonders während der Herrschaft der Militärregimes, unter denen Nollywood entstand, war die nigerianische Regierung zu sehr damit beschäftigt, den Ölreichtum der Nation zu rauben, als sich mit der Mikroökonomie Nollywoods aufzuhalten.17 Zwar hat die Regierung seither zunehmend Sorge geäußert über Nollywood als bestimmende Kraft hinter Nigerias nationalem Selbstbild. Aber sie nimmt nach wie vor wenig wirklichen Einfluss darauf, welche Art von Filmen gemacht wird. Die kulturellen Gesamtfolgen Nollywoods werden heiß diskutiert. In jedem Fall sind sie widersprüchlich. Die Filme sind ein stolzes Beispiel von Importsubstitution; von einer ungekannten Eroberung afrikanischer Bildschirme durch afrikanische Bilder; von der Verfügbarmachung von Bildern afrikanischer Kultur, die migrieren und als Identitätsquelle fungieren können; von Bildern einer verwurzelten traditionellen Kultur (wie zum Beispiel im Genre des »cultural epic«, angestoßen von Bolaji Dawodus The Battle of Musanga and Igodo [1996]) und einer attraktiven afrikanischen Moderne. Überall in der Welt erkennen Afrikaner und Menschen afrikanischer Herkunft sich oder die Objekte ihrer Begierde in diesen Filmen wieder, und sind dankbar für 14 | Vgl. Karin Barber: »Popular Arts in Africa«, in: African Studies Review, Vol. 30, Nr. 3, 1987, S. 1-78. 15 | Vgl. Jonathan Haynes: »Introduction«, in: ders.(Hg.): Nigerian Video Films, Athens/ Ohio 2000, S. 1-36. 16 | Vgl. Barrot: Nollywood. 17 | Vgl. Larkin: »Degraded Images«.

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die willkommene Abwechslung von den üblichen Afrikabildern als Hort von Armut und Katastrophen. Oft werden die Filme aber scharf kritisiert für ihre aufdringliche Zurschaustellung von Reichtum und ihr unnachgiebiges Ausloten der moralischen Untiefen des zeitgenössischen Nigeria. Das Vermögen dieser Bilder, als transnationale kleine (minor) Praxis18 auf Weltreise zu gehen, ist zudem das Ergebnis eines Homogenisierungsprozesses, der einen Verlust kultureller Tiefe nach sich zieht. Der Einfall von Pentekostalismus und islamischem Fundamentalismus, welche die indigenen Religionen – mit massiven Kollateralschäden im kulturellen Bereich – systematisch ausgelöscht haben, schlägt sich auch in den Videofilmen nieder. In der Zelluloidtradition tritt das Christentum überraschend selten in Erscheinung, und der Islam eher als kulturelle Formation denn als leitende spirituelle Kraft. Indigene afrikanische religiöse und magische Praktiken und Glaubensvorstellungen kommen häufig vor, aber üblicherweise entweder als Anzeichen von Rückständigkeit und Aberglauben (z.B. in Gestalt von Frauen und Kindern, die unter falschen Hexenanschuldigungen leiden) oder als Figuren der afrikanischen Tradition, die innerhalb der Fiktion wertgeschätzt werden mag, aber keinen Glauben verlangt. Sembène hat diesbezüglich den Ton einer ironischen Distanz vorgegeben. Afrika ist im Griff eines spirituellen Konflikts von enormer historischer Größenordnung, zwischen den Weltreligionen und indigenen Glaubenssystemen, aber die Zelluloidfilme registrieren diesen Umstand kaum, weil er sich nicht mit der großen Erzählung – von afrikanischer Authentizität und Widerstand gegen Hollywood – vereinbaren lässt, die dem afrikanischen Kino (und seiner Förderung) seit jeher unterliegt. Die Videos lassen sich voll auf diesen Konflikt ein, im Genre der christlichen Moralerzählungen (zu dessen führenden Regisseuren Mike Bamiloye und Helen Ukpabio zählen) und in vielen anderen Geschichten, die spirituelle Kräfte gegeneinander antreten lassen. Der Held von Nnebues Living in Bondage, dem ersten und äußert einflussreichen Nollywoodfilm, schließt sich einer geheimen Sekte an, die Geldrituale veranstaltet, wobei Menschenopfer auf magischem Wege enormen Reichtum hervorbringen. Später benötigt er die Hilfe eines pentekostalen Priesters, um von dieser spirituellen Unfreiheit (bondage) erlöst zu werden. Die Ikonographie der Sekte gemahnt teils an Satanismus – in einer genauen Umkehrung christlicher Symbolik – und teils an indigene Religionen. In einem bezeichnenden Moment kommt eine Injektionsspritze zum Einsatz, um das Blut eines Opfers zu entnehmen, welches dann in eine Kalebasse gespritzt wird, auf diese Weise die Suggestion primitiver afrikanischer Tradition mit der durch die Sektenmitglieder (die sämtlich Luxus18 | Vgl. Moradewun Adejunmobi: »Nigerian Video Film as Minor Transnational Practice«, in: Postcolonial Text, Vol. 3, Nr. 2, 2007, http://postcolonial.org/index.php/pct/ article/view/548/405.

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autos neuester Bauart fahren) angeeigneten Moderne verbindend. Viele Filme, wie Ojifor Ezeanyanches Agboko: Land of a Thousand Demons (2000), verorten böse spirituelle Kräfte in der ländlichen, traditionellen Vergangenheit, während andere, wie Chico Ejiros früher Kassenschlager Blood Money (1997) desselben Produzenten, böse Kräfte mit slicken Bürotürmen und anderen Insignien kontemporären Reichtums und Macht assoziieren.19 Die Darstellung des Übernatürlich in den Videofilmen erschöpft sich bei weitem nicht im Konflikt zwischen Christentum und den dämonisierten Gestalten indigener Religiosität. In Spiegelung einer uralten afrikanischen Praxis wenden sich die Figuren in unzähligen Fällen an einen Wahrsager, um Probleme – von mysteriösen Krankheiten bis zur Unfruchtbarkeit – zu erklären und zu lösen. Geister, insbesondere von Frauen und Kindern, die melodramatische Tode gestorben sind, suchen ihre einstige Wohnstätte heim (z.B. im erwähnten Blood Money). Lokale Gottheiten bestrafen fehlgehende Gemeinschaften, bis diese sich eines Besseren besinnen oder einen Quell der Verunreinigung beseitigen. Dies geschieht sowohl in den traditionellen dörflichen Settings des cultural epic (Igodo: Land of the Living Dead [1999], Pestilence [2004]), als auch in zeitgenössischen Settings wie in Tunde Kelanis frühem Klassiker Ti Oluwa Ni Il ͜ (1993). Im Genre der vigilante films (Lancelot Imasuens Issakaba-Serie [2000-2001]) werden ruchlose lokale Eliten, die sich in ihrer Terrorherrschaft Schlägern und dunkler Magie bedienen, von vigilantes besiegt, die mit Amuletten und in Anwesenheit der Übeltäter leuchtenden Waffen bewehrt sind. Wie auch immer das Spirituelle repräsentiert wird: Die Gepflogenheit, ein Universum mit immanenter spiritueller Dimension darzustellen, ist ein wesentlicher Grund für die Popularität der Videofilme. Ein zunehmend beliebtes Genre (ein Beispiel hierfür wäre Emem Isongs Guilty Pleasures [2010], dessen Plot um einen lebemännischen Modefotografen kreist, der nach Nigeria zurückkehrt und seine Schwägerin, ein gelangweiltes ehemaliges Fotomodel, verführt) gibt Zeugnis von einer dramatischen Erosion afrikanischer Kultur zugunsten amerikanischer Modelle. Diese Filme sind aus demselben Guss wie die im heutigen nigerianischen Fernsehen prominenten reality und game shows amerikanischer Machart und wie der die nigerianischen Radios dominierende Hiphop. Die Plots tendieren zu romantischen Irrungen und Wirrungen und konzentrieren sich dabei auf den privaten, emotiven Bereich – ungleich der allgemeinen Nollywood-Tradition, die zumeist auf einen breiteren sozialen Horizont der Familie und deshalb eher auf Fragen der Fruchtbarkeit und Kinder orientiert ist als auf den Moment des Umwerbens. Das Setting dieser Filme gibt sich gemeinhin als eine Fantasie von westlichem Luxus zu erkennen, während afrikanische Kultur oder 19 | Vgl. Birgit Meyer: »The Power of Money: Politics, Occult Forces, and Pentecostalism in Ghana«, in: African Studies Review, Vol. 41, Nr. 3, 1998, S. 15-37.

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soziale Formationen wenn überhaupt dann in residualer Gestalt auftreten. Der Konflikt zwischen Tradition und dieser, um die Wahl des Ehepartners herum organisierten Auffassung von Modernität mag in das Narrativ eingehen. Öfter werden riesige Bestandteile der Kultur kommentarlos über Bord geworfen: Die Filme stellen sich und uns einfach vor, in einer anderen Welt zu leben. Weil sich die Videofilme vom afrikanischen Kino so grundlegend unterscheiden, ist die Geschichte ihrer Beziehung zu den Institutionen dieses Kinos von Indifferenz und schmerzvoller Inkompatibilität gekennzeichnet; von heftigem Widerstand, Verblüffung und – seltener – zaghafter Neugierde. Als die Videofilme in Nigeria und Ghana aufkamen, begegnete ihnen das Establishment der Zelluloidregisseure beider Länder mit vernichtenden Urteilen: Sie wurden gemeinhin als inkompetente Eindringlinge gesehen, ja sogar als »rettungslose Analphabeten« bezeichnet. Regierungsoffizielle, Kolumnisten und Akademiker fühlten sich peinlich berührt von der mangelnden technischen Qualität der Videofilme und von den Bildern der Nation, die sie bereitstellten. Und sie waren beleidigt darüber, dass die Videofilme das kulturell nationalistische Projekt des nation building, mit dem die Filmproduktion stets eng verbunden gewesen war, offenbar aufgaben. Internationale Filmfestivals, aber auch das FESPACO und andere afrikanische Institutionen, haben die Videofilme lange Zeit vollkommen ausgeschlossen. Da das Videophänomen heute eine Größenordnung erreicht hat, die nicht länger ignoriert werden kann, suchen die Festivals nach Wegen der Anerkennung, aber die Situation ist nach wie vor ungeheuer heikel und unbehaglich. Eine europäische Festivalkuratorin hat mir anvertraut, dass die nigerianischen und ghanaischen Videofilme tatsächlich die einzige Art von Filmen sind, die auch auf aufgeschlossene und abenteuerlustige Festivals regelrecht verstörend wirken. Festivalorganisatoren denken, sie können keine hohen Eintrittspreise verlangen für Filme, die ihre niedrigen Budgets – von der schlechten Soundqualität bis zum Seifenopernschauspiel – am Revers tragen. Eine Reihe von Strategien wurde entwickelt, um mit dieser Situation umzugehen. Eine davon ist es, das Werk des renommiertesten nigerianischen Regisseurs Tunde Kelani oder neuerdings auch das des jungen Regisseurs Kunle Afolayan zu zeigen, die beide Filme machen, die mit anderen afrikanischen Filmemachern auf Augenhöhe gezeigt werden können – die jedoch nicht wirklich Nollywood-Filmemacher sind, obschon sie Verbindungen zur Industrie unterhalten. Beide arbeiten auf eine andere Weise, mit mehr Zeit und größeren Budgets, außerhalb des Marketingsystems Nollywoods (vgl. den Beitrag von Nikolaus Perneczky im vorliegenden Band). Die andere Strategie besteht darin, einen von etlichen Dokumentarfilmen zu zeigen, die Außenstehende über Nollywood gemacht haben, oder ein Panel einzuberufen, um das Phänomen zu diskutieren und erst danach das Risiko einzugehen, das Publikum dem einen oder anderen Nollywoodfilm tatsächlich auszusetzen.

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Gelegentlich werden Nollywoodfilme aus besonderem Anlass in Kinos im Ausland vorgeführt, organisiert von den Filmemachern in Kooperation mit afrikanischen Exilgemeinschaften, aber sie gehen nie in den regulären Verleih. Der einzige in den USA auf DVD erhältliche Nollywoodfilm ist Kelanis Thunderbolt: Magun (2001), erschienen bei California Newsreel. Gleichzeitig besteht ein riesiges Parallelsystem für die Distribution von Nollywood- und ghanaischen Filmen in den Vereinigten Staaten: Hunderte Shops, dutzende Internetseiten, die sie verkaufen oder streamen, tausende Filme, die von Fans auf YouTube gepostet wurden. Die meisten der Titel, die durch dieses System geschleust werden, sind raubkopiert; in einigen Fällen mag der Produzent in Ermangelung einer besseren Alternative die Rechte für eine kleine Summe an einen amerikanischen Verleiher verkauft haben. Die Trennung von afrikanischem Kino und Videofilmen ist auf allen Ebenen so tief verwurzelt, dass sie mit Sicherheit anhalten wird. Aus der Perspektive afrikanischer Sehgewohnheiten muss das afrikanische Kino marginaler denn je erscheinen, aber es gibt keinen Grund, weshalb es ganz aussterben sollte – außer die Finanzierungsquellen trocknen aus. (Das Förderwesen und mit ihm die Produktionsrate befinden sich zur Zeit in einer Krise, da die französische Regierung die primäre Verantwortung für die Unterstützung afrikanischer Filmemacher der Europäischen Union zugespielt hat, die den Ball bisher nur zögerlich aufgenommen hat.) Die Beweggründe und Vorlieben, die das afrikanische Kino ernährt und erhalten haben, bleiben bestehen; es wird immer Zuschauer geben, die Abderrahmane Sissakos Bamako (2006) allen zweitausend im selben Jahr produzierten nigerianischen Videofilmen vorziehen. Schließlich vermochten auch bildende Künste und Literatur über viele Jahre hinweg ohne die Unterstützung afrikanischer Regierungen und allein auf ausländische Netzwerke bauend ihren Fortbestand zu sichern. Aber es hat im Gefolge der wesentlich größeren und viel beliebteren kulturellen Formation Nollywood eine implizite Aushöhlung der Ansprüche von Filmemachern, Kuratoren und Kritikern gegeben, wonach das afrikanische Kino in der Zelluloidtradition die authentische Stimme des Kontinents sei. Ferid Boughedir schrieb 1980, dass die politische Tendenz der »Königsweg« des afrikanischen Kinos sei.20 Obwohl dies heute weniger wahr ist als damals, so macht die politische Tendenz nach wie vor den Horizont afrikanischer Filmkritik aus. Es ist sehr schwierig oder um ehrlich zu sein unmöglich, in Nollywood etwas zu finden, das auch nur annähernd so unmittelbar satisfaktionsfähig ist für einen in diese Richtung geneigten Kritiker wie die leidenschaftliche Intelligenz und das ästhetische Raffinement von Bamako in seinem Versuch, das gleichermaßen verheerende wie ungreif bare Problem der Eingliederung 20 | Vgl. Ferid Boughedir: »Les Grandes Tendances Du Cinéma En Afrique Noire«, in: CinémAction, Nr. 26, 1983, S. 48-57.

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Afrikas in Weltmarkt und internationale Politik zu verhandeln. Aber wenn wir vorgeben, dass uns an den afrikanischen Massen gelegen ist, sollten wir sie ernst genug nehmen, um ihnen zuzuhören und ihre Mentalitäten und Wünsche zu verstehen.21 Das afrikanische Kino und seine Kritiker hatten in der Regel keine Probleme einander zu verstehen; sie waren Partner eines gemeinsamen, in komplementären Sphären artikulierten Projekts. Aber es bestehen tiefgehende Unterschiede zwischen den Zwecken und Mentalitäten der meisten Videofilmer und den Akademikern, die über sie schreiben, und darum auch ein größerer Interpretationsbedarf. Pierre Barrot beginnt sein Buch mit einer Infragestellung der Opposition zwischen Nollywoods kruder Ästhetik und minderwertiger Technologie und der angeblichen Politur des afrikanischen Kinos, indem er aufzeigt, dass zumindest einiges afrikanische Kino tatsächlich genauso rough ist.22 Die geläufige Konstruktion des afrikanischen Kinos rund um eine Handvoll ausgeklügelter Regisseure und das zugehörige Modell eines politisch oder wenigstens sozial engagierten, nichtkommerziellen Kinos verleitet dazu, aus der Façon fallende Phänomene – wie etwa die sporadischen Versuche zu einem populären, kommerziellen Filmschaffen wie die Komödien und Melodramen von Pierre Dikongué-Pipa und Daniel Kwama – zu ignorieren. Wenn unser Horizont der ganze audiovisuelle Output bestimmter Nationen wäre, würden die Dinge anders erscheinen als üblich, da unsere Aufmerksamkeit auf die Crème an der Spitze internationaler Filmfestivals fokussiert bleibt. Auch das thematische Prisma, durch das wir die Filme sehen, neigt zur Vergrößerung eingeschliffener Differenzen. Afrikanisches Kino wird oft unter einem eher abstrakten Gesichtspunkt – in Hinsicht auf seine sozialen Themen und ideologischen Ansätze – beschrieben, während an den Videofilmen gewöhnlich ihr manifester Plot – Geschichten, Settings, Genres – interessiert. Die Videofilme werden routinemäßig durch die interpretativen Kategorien des afrikanischen Kinos gesehen und für ungenügend befunden. Was würde aber geschehen, wenn wir das afrikanische Kino umgekehrt durch Nollywood hindurch betrachteten? Die Erzählung von Yeelen (1987) um Hexerei und Generationenkonflikte wäre nigerianischen Zuschauern durchaus vertraut, obwohl das Tempo und die visuelle Ästhetik sonderbar anmuten würde. Tunde Kelanis Ti Oluwa Ni Il ͜ und Sembènes Xala (1975) sind sich sehr ähnlich in der Art, wie eine Bedrohung von magischen Dimensionen eingesetzt wird, um kommunale Normen zu repräsentieren, und um stete Ironie, trockenen Humor und ein scharfes Unbehagen in der Darstellung einer korrupten Elite zu generieren. Viele Nollywoodfilme teilen die Grundbausteine von Sembènes Le Mandat (Mandabi, 1968); häusliche Sorgen in einer polygamen Familie 21 | Vgl. Barber: »Popular Arts«. 22 | Vgl. Barrot: Nollywood.

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(der Betreff eines Subplots von Living in Bondage), Betrug (es gibt ein Genre von Filmen über »419«, die international berüchtigten nigerianischen scams) und Verrat (Komödianten wie Nkem Owoh und John Okafor spielen habituelle Trickster, und Verrate stehen im Zentrum von Nollywoods melodramatischem Modus), ein mit modernen Institutionen konfrontierter traditioneller Mann etc. Die unaufhörlichen Beschwerden über die Nötigung des afrikanischen Kinos, Förderern in Paris und Brüssel und Zuschauern in Berlin und Toronto gefallen zu müssen, mag uns von seinem Wunsch ablenken, auch afrikanische Zuschauer zu erreichen, was immer seine primäre Motivation war, und diese afrikanischen Zuschauer teilen mit jenen Nollywoods fast alles, von ihren Sorgen bis zu ihrem Sinn für Humor. Dazu treten neuerdings materiale Konvergenzen. Wie überall ist die scharfe Trennung zwischen Zelluloid- und Videotechnologien im Begriff zusammenzubrechen. Es gibt einige frankophone Filmemacher (tatsächlich eine enttäuschend geringe Anzahl) wie Boubacar Diallo aus Burkina Faso, der Hochburg des afrikanischen Kinos, die das Nollywood-Modell kostengünstigen und populären Videofilmschaffens übernommen haben. Kamerun produziert heute sowohl Nollywood-artige Filme auf niedriger Stufenleiter (und mehrheitlich in englischer Sprache) als auch Zelluloidfilme (auf französisch). Einige Nollywoodregisseure (angeführt von Jed Amata) haben der recht weit verbreiteten Sehnsucht nachgegeben, mit Zelluloid zu arbeiten; eine Handvoll (darunter Lancelot Imasuen, Kunle Afolayan und Stephanie Okereke) verfolgen Auswertungsstrategien auf ausländischen Filmfestivals und über Kinovorführungen im Ausland, die jenen des afrikanischen Kinos stark ähneln; einige haben Gelder von ausländischen Sponsoren angenommen, um Filme über soziale Themen wie AIDS zu drehen (Francis Onwocheis Claws of the Lion [2005]). Südafrika ist zu einer bedeutenden Medienmacht über den ganzen Kontinent aufgestiegen, die mit Frankreich konkurriert: Wie Nollywood ist die südafrikanische Medienlandschaft kommerziell orientiert und anglophon, wie Frankreich verfügt sie über große technische wie Kapitalressourcen. Südafrikanische Konzerne (vor allem M-Net and Nu Metro) exportieren ihre soap operas über den ganze Kontinent, bauen Multiplexkinos an diversen Orten, strahlen afrikanisches Kino Seite an Seite mit Nollywood und ghanaischen Filmen von der Stange auf Satellitenkanälen aus und investierten Geld in die Produktion neuer Filme. Nollywood hat seine eigenen Institutionen errichtet, insbesondere BoBTV (Best of the Best African Films and TV Programmes Market) und AMAA (African Movie Academy Awards), die erfolgreich internationale Verbindungen kultivieren, indem sie als Schaufenster und Markt für Filme auf dem Kontinent und darüber hinaus dienen. Ausländische Botschaften in Lagos, beflissen sich in irgendeiner Weise mit Nollywood zu befassen, fördern Filmfestivals, die internationale Filmkunst zu einem nigerianischen Publikum bringen und betreiben Lehr-Workshops. Alle diese Entwicklungen

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bedeuten, dass Nigeria heute weniger abgeschnitten ist vom weiteren afrikanischen Kino als es das vorher war. Solche Konvergenzen sollten indes nicht überbetont werden. Trotz experimenteller Entwicklungen am oberen Ende wird Nollywood zweifellos vor allem die Versorgung seiner heimischen und afrikanischen Zuschauer weiterverfolgen auf genau die Weise, in der es das bisher tat, und die wichtigsten Entwicklungen am Horizont tendieren in eine Richtung weitab des existierenden afrikanischen Kinos. Große Konzerne und Banken umkreisen Nollywood und versuchen herauszufinden, wie sie sich beteiligen können, da sie enorme Profitpotenziale in der Überwindung von Nollywoods ungebärdiger Geschäftskultur wittern. Amaka Igwe in Nigeria und Socrate Safo in Ghana haben Organisationen zur Herstellung eines hohen und beständigen Aufkommens von Filmen und Fernsehserien geschaffen – ein Studiosystem, das mit der artisanalen Produktion sowohl von Nollywood als auch des afrikanischen Kinos nichts gemein hat. Nollywood sollte nicht als eine Imitation Hollywoods angesehen werden23 – es ist etwas grundlegend anderes –, aber der Name deutet tatsächlich auf die Aspiration, eine große, glamouröse Entertainmentindustrie zu sein. Es scheint wahrscheinlich, dass die afrikanische Medienlandschaft künftig von einer Kombination südafrikanischen Kapitals und Infrastruktur und nigerianischer kreativer Energie dominiert werden wird. Das afrikanische Kino mag eine Nische in diesem System finden und eine Alternative zur Abhängigkeit von europäischen Pfründen; es mag auch Inspiration bieten, wenn die anglophonen Filmemacher zusammen mit ihren materiellen Ressourcen auch ihre ästhetischen Möglichkeiten erweitern.

23 | Vgl. Sallie A. Marston, Keith Woodward und John Paul Jones: »Flattening Ontologies of Globalization: The Nollywood Case«, in: Globalizations, Vol. 4, Nr. 1, 2007, S. 45-63.

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Das Werk des nigerianischen Videofilmregisseurs Tunde Kelani handelt vom Beharren traditioneller Lebensweisen und Anschauungsformen, sowie von deren verwickeltem Verhältnis zur afrikanischen Moderne. Ort seiner Filme ist häufig das Dorf, und noch städtische Räume erscheinen bei ihm im Aspekt des Dörflichen. Kelanis Faszination für traditionsgebundene Gemeinschaften hat etliche Vorläufer in der Geschichte des afrikanischen Kinos. Der Dorffilm, an den seine Arbeiten dabei anschließen, ist indes kein Genre im herkömmlichen Sinn; weder ist er über hinreichende und notwendige Kriterien bestimmbar, noch findet man ihn als etablierten Ordnungsbegriff vor. Trotzdem bildet er den Fokus der vorliegenden Untersuchung, die es sich zur Aufgabe macht, Tunde Kelanis Stellung innerhalb von »Nollywood« – so der Mantelbegriff für das weite Feld der nigerianischen Videofilmproduktion – in einen genealogischen Zusammenhang mit dem politischen Projekt des frühen afrikanischen Kinos zu bringen. Erst unter diesem Gesichtspunkt wird der hier postulierte Dorffilm Gestalt annehmen als eine Konstellation semantischer und ästhetischer Optionen, die in unterschiedlichen Gemengelagen einer ganzen Reihe kultureller Formationen der postkolonialen Ära in Literatur, Film und Theater unterliegen. Was das Dorf als Signum dieser Konstellation auszeichnet, kann vorgreifend als animistisch überformte Weltlichkeit angegeben werden, oder, mit den Worten Harry Garubas, als »kontinuierliche Wiederverzauberung der Welt«.1 Die eklatanten Differenzen, die sich zwischen der bis in die Gegenwart reichenden Traditionslinie des frühen afrikanischen Kinos und dem relativ jungen Phänomen Nollywood auftun, dürfen darüber freilich nicht geglättet werden. Am Ende wird hoffentlich einleuchten, weshalb sich Kelanis zwischen den Stühlen positioniertes Werk wie kein zweites dazu anbietet, Gemeinsam1 | Harry Garuba: »Explorations in Animist Materialism: Notes on Reading/Writing African Literature, Culture, and Society«, in: Public Culture, Vol. 15, Nr. 2, Frühjahr 2003, S. 261-285, hier: S. 265.

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keiten wie Unterschiede zwischen den beiden afrikanischen Filmkulturen zu konturieren. Vor zwanzig Jahren, als der in Mali geborene Filmwissenschaftler Manthia Diawara seine einflussreiche Studie zur Geschichte des afrikanischen Kinos vorlegte, konnte er sich noch das folgende summarische Urteil erlauben: »Films directed by Africans in the former French colonies are superior, both in quantity and in quality, to those by directors in other sub-Saharan countries formerly colonized by the British, the Belgians, and the Portuguese.«2 Mit dem Aufstieg von Nollywood ist dieses Urteil obsolet geworden – zumindest teilweise. Was an afrikanischer Filmkultur auf internationalen Festivals und, schon seltener, im europäischen Verleih vorkommt, stammt zwar nach wie vor in seiner überwiegenden Mehrheit aus den frankophonen Staaten auf dem Gebiet des ehemaligen Französisch-Westafrika, aus Burkina Faso, Senegal, Mali etc. Rein zahlenmäßig kann mit der wuchernden Produktivität der über ganz Nigeria verstreuten Videografien (und der ihrer Nachahmer in Westafrika, etwa des ghanaischen Pendants Ghallywood) aber schon lange niemand mehr mithalten. Verglichen mit dem Output renommierter afrikanischer Filmemacher der Gegenwart wie Mahamat-Saleh Haroun oder Abderrahmane Sissako, verglichen aber auch mit dem Lebenswerk der Gründerfiguren des afrikanischen Kinos wie Ousmane Sembène oder Souleymane Cissé, muss das in nur zwanzig Jahren auf fast ebenso viele Filme angewachsene Oeuvre des nigerianischen Regisseurs Tunde Kelani außergewöhnlich dicht und umfangreich anmuten. Geradezu gemächlich dagegen erscheint Kelanis hoch getaktete Arbeitsweise im ihr zugehörigen Produktionsumfeld von Nollywood, das sich in denselben zwanzig Jahren, seit Beginn der 1990er, ohne ausländische oder staatliche Subventionen und gestützt allein auf die informellen Ökonomien des westafrikanischen Marktwesens zur quantitativ zweitgrößten Spielfilm-Produktionsstätte der Welt (und zu einem der größten Arbeitgeber des Landes) aufgeschwungen hat. Die bemerkenswerte Vielgestaltigkeit Nollywoods, mit seinen ethnisch wie regional ausdifferenzierten Themen, Genres und Bildlichkeiten, kann kaum in einem einzigen Begriff stillgestellt werden. Der Anthropologe Brian Larkin hat es dennoch versucht; er definiert als einendes Moment dieser unüberschaubaren Produktionslandschaft eine »aesthetics of outrage«,3 »a composite of different elements key to which is the intense transgression of moral and religious norms, often heightened by exaggeration and excess.«4 Zu 2 | Manthia Diawara: African Cinema: Politics & Culture, Bloomington, Indianapolis 1992, S. 21. 3 | Brian Larkin: Signal and Noise: Media, Infrastructure, and Urban Culture in Nigeria, Durham, London 2008, S. 172. 4 | Ebd., S. 186.

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Übertreibung und Exzess kommt als weitere Determinante eine postkoloniale »Episteme« (Foucault) hinzu, die Larkin (das südafrikanische Anthropologenpaar Jean und John Comaroff zitierend) als »occult modernity«5 bezeichnet. Gemeint ist das hohe Aufkommen von Hexerei, Satanismus und Geisterwesen, oft in Gestalt knallig-greller Spezialeffekte, durch die eine von globalen Kapitalströmen und großer Unsicherheit durchdrungene Gegenwart erfahren bzw. verstanden werde. Die hiesige Rezeption Nollywoods wird, wo sie überhaupt stattfindet, von ganz ähnlichen Vorstellungen befeuert, zu sehen etwa in René Polleschs 2004 an der Berliner Volksbühne uraufgeführtem Theaterstück 1000 Dämonen wünschen dir den Tod, das auf dem Set eines Nollywoodfilms spielt und afrikanische Fetischgebräuche mit dem Fetischcharakter der Ware kurzschließt;6 oder in dem thematischen, 2009 bei Prestel erschienenen Bildband des südafrikanischen Fotografen Pieter Hugo, der sich vor allem für die fotogenen Masken, Kostüme und Prothesen Nollywoods interessiert und darum dem Alltäglichen zugewandte Darstellungsformen erst gar nicht in den Blick bekommt.7 Sogar das Hipster-Zentralorgan Vice hat sich in jüngerer Zeit dem Thema Nollywood gewidmet, interessiert sich allerdings ausschließlich für das ungewollt Lächerliche, das man dort (wie überall) natürlich auch finden kann.8 Den christlichen cautionary tales der Igbo im Südosten Nigerias kommt man anhand der beiden vorgeschlagenen Begriffe von Empörungsästhetik und okkulter Moderne tatsächlich näher, aber schon die ganz anders gearteten Melodramen der Hausa im islamisch geprägten Norden des Landes oder die vom Wandertheater herkommenden Filme der im Südwesten ansässigen Yoruba (denen auch Kelani angehört) machen deutlich, wie schwierig es ist, Nollywood auf eine einheitliche Charakteristik einzuschwören. Zumindest die Filme der letztgenannten Yoruba, die zudem als einzige ethnische Gruppierung auf eine eigene Filmgeschichte, die des Yoruba-Kinos der 1980er Jahre, zurückblicken können, stehen der okkulten Moderne epistemisch zwar nahe, weisen in ihrem Weltverhältnis aber zugleich maßgebliche Unterschiede auf, wovon später noch die Rede sein wird.

5 | Ebd., S. 181. 6 | Vgl. René Pollesch: 1000 Dämonen wünschen dir den Tod [Programmheft], Berlin 2004. 7 | Vgl. Pieter Hugo: Nollywood, München, Berlin, London, New York 2009. 8 | Vgl. Andy Capper: »Nollywood Omen: Nigerian Christians Make the Best Drug-Party Film Ever«, in: Vice Magazine, Vol. 16, Nr. 9, September 2009.

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Bei den Dreharbeiten zu Tunde Kelanis Ma’ami

Auch Tunde Kelani partizipiert an diesem Weltverhältnis, stellt vielleicht sogar dessen auteuristische Apotheose dar. Weil er und seine Produktionsfirma Mainframe Opomulero sich sichtbar von der frenetischen Betriebsamkeit und den oft unterirdischen production values des Nollywood-Mainstream abheben, wird ihnen oft eine Sonderstellung innerhalb der boomenden Industrie (tatsächlich eher ein informeller Sektor 9) zugesprochen, gehen manche Kommentatoren gar so weit, Kelani aus dem für unwürdig befundenen Kontext herauszulösen als solitären Autor, dessen produktionstechnisch-ästhetisch konkurrenzlose Profilierung nicht repräsentativ sei für das Gros der billig hergestellten Dutzendware Videofilm. Kelani selbst scheint sich nicht immer sicher zu sein, wo er steht bzw. stehen möchte. Wo es darum geht, seine eigene, ungleich aufwändigere Praxis gegen die schiere Masse achtlos heruntergespulter Filme abzugrenzen, distanziert er sich mitunter von dem inflationären Label »Nollywood«.10 Bei anderer Gelegenheit greift er es als Fürsprecher auf, um unter diesem Banner die Kräfte zu bündeln für eine in seinen Augen überfällige Pro9 | Als informellen Sektor bezeichnet man zusammenfassend Wirtschaftsweisen, die lediglich auf mündlichen Vereinbarungen beruhen, nicht von allgemein gültigem Recht abgegolten und aufgrund ihrer formlosen Charakteristik statistisch nicht verlässlich erfasst werden können. 10 | Vgl. Akin Adesokan: Postcolonial Artists and Global Aesthetics, Bloomington and Indianapolis 2011, S. 193 [Fußnote 2].

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fessionalisierung und Verrechtlichung der nigerianischen Filmproduktion.11 Die Nollywood eingeschriebene Anspielung auf Bolly- und Hollywood – zwei Filmindustrien von Gewicht, die lange Jahre den wenigen subsaharischen Kinos ihr Programm oktroyiert hatten in einer kontinuierlichen, an Knebelverträge gebundenen Schwemme ausrangierter Filmkopien aus dem B- und CSegment – steht also nicht nur für eine den einstigen Marktführern konforme Epigonalität, sondern auch für den Willen, die Produktionsbedingungen des handwerklich organisierten und kapitalschwachen Videofilmsektors nach dem Beispiel der international etablierten Filmindustrien zu revolutionieren. In gewisser Weise hat Nollywood erreicht, wovon afrikanische Filmemacher seit den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts träumen: ein unabhängiges Kino von Afrikanern für Afrikaner zu schaffen, wirtschaftlich sowohl als kulturell subsistent, auf eigenen Füßen stehend – nur dass Nollywood weder ein Kino im eigentlichen Wortsinn noch vollinhaltlich »unabhängig« ist. Gesehen werden Nollywoodfilme überall in Afrika und in der afrikanischen Diaspora, aber auf Fernseh- oder Computerbildschirmen und gerade nicht in den wenigen verbleibenden Kinos. Mehr noch, der Niedergang des halböffentlichen und darum den Konjunkturen der inneren Sicherheit ausgesetzten Raums des Kinos war regelrecht Bedingung für den Erfolg Nollywoods: Nach den beiden Militärputschen Mitte der 1980er Jahre war es schlicht unratsam, sich außerhalb der eigenen vier Wände aufzuhalten, weshalb der Heimvideokonsum zur immer beliebteren Alternative aufstieg. Dass diese Ausweichmöglichkeit aber überhaupt bestand, war wiederum der seit Jahren im großen Maßstab gepflogenen Praxis des illegalen Video-Bootlegging geschuldet, das die entsprechenden Apparaturen und Distributionswege – Videorekorder, Tonaufnahmegeräte und fahrende Händler – zur Verfügung stellte. Nur auf dieser infrastrukturellen Basis, also bei vollständiger Umgehung aller etablierten Materialstandards, Herstellungsnormen und Abspielfenster, fand Nollywood ein Auskommen – ohne fremde Hilfeleistungen, unabhängig von (inexistenten) staatlichen Fördermitteln oder europäischen Kooperationspartnern. Dass dies in Afrika ein absolutes Novum ist, davon weiß Diawaras einschlägige Studie zu berichten. Sie gibt ein beredtes Zeugnis von den oft frustrierenden Erfahrungen afrikanischer Filmemacher mit europäischen Geldgebern, von den Anfängen der afrikanischen Kinematografien in den frühen 1960er Jahren bis heute. Nicht nur dass die heimischen Märkte von amerikanischen und indischen Produktionen dominiert wurden, während afrikanische Filme, die mit Hilfe europäischer Subventionen entstanden, in ihren Herkunftsländern oftmals kaum zu sehen waren – auch die Form dieser Subventionen, wo sie überhaupt erhältlich waren, muss als neokolonial beschrieben werden. In11 | Vgl. Kelanis Blog TK’s Notebook, http://tundekelani.blogspot.co.uk/ (zuletzt am 4. Dezember 2012).

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dem etwa die für Filmfragen zuständige Sektion des französischen Ministère de la Coopération die technischen Mittel zur Herstellung von Filmen (vor allem den Bereich der Postproduktion) auf französischem Boden zentralisierte, verhinderte sie die Entstehung einer subsistenten und autonomen Filmproduktion in den ehemaligen französischen Kolonien.12 Aber nicht erst auf die technische Umsetzung, schon auf die Drehbücher wurde Einfluss genommen; manche Projekte, wie Sembènes Black Girl (La Noire de…, 1966), wurden aufgrund ihrer kritischen Haltung zum Neokolonialismus abgelehnt – wiewohl die Coopération später die Verleihrechte zu Sembènes unabhängig finanziertem Film erwarb.13 Die Gründung der FEPACI (Fédération Panafricaine des Cinéastes) 1969 war eine direkte Reaktion auf diese Situation. Sie trat an, die Produktivkräfte und politischen Energien des jungen afrikanischen Kinos im Geist eines panafrikanischen Internationalismus zu bündeln und verstand es als ihren Auftrag, die Entstehung nationaler Filmkulturen zu befördern. Vor allem sollte das damalige französisch-amerikanische Monopol in den Bereichen der Distribution und Vorführung durch eine Verstaatlichung dieser Sektoren gebrochen werden.14 Die Produktion wollte die FEPACI jedoch in den Händen der Filmemacher selbst belassen; so weit traute man staatlicher Kontrolle dann doch nicht. Ein neues Modell der Zusammenarbeit, eine selbstbewusste Aneignung des französischen Euphemismus der »coopération«, sah wechselseitige Hilfeleistungen, Leihe und Tausch von Equipment, Wissenstransfers etc. innerhalb Afrikas vor, entlang einer »Süd-Süd-Achse«, wie die Beteiligten ihre Strategie tauften.15 Die Freiheitsgrade, die Nollywood sich weitab solcher frühen Versuche der Selbstorganisation erstritten hat, basieren auf einer aller Ideale entledigten Süd-Süd-Achse: Die Abhängigkeit von fremden Zuwendungen ist der Abhängigkeit von der eigenen Ökonomie gewichen. Die für die Anfänge des afrikanischen Kinos so prägende, aber nie verwirklichte Autonomieforderung bezog sich indes nie nur auf den wirtschaftlichen Aspekt der Filmproduktion, sondern hatte eine präzise politische Pointe. Hand in Hand mit dem Streben nach einer eigenständigen Filmproduktion ging, zumindest im Umfeld der FEPACI, eine antikoloniale, didaktische und dokumentarische Ansätze favorisierende Filmästhetik. Dass das populäre und angeblich unpolitische Nollywood in diesem Punkt versagt habe, seine Unabhängigkeit wenig mehr sei als ökonomische Souveränität; diese Einschätzung teilen viele Vertreter des frankophonen afrikanischen Kinos, etwa der Regisseur Idrissa Ouedraogo, dem Nolly-

12 | Vgl. Diawara: African Cinema, S. 33. 13 | Ebd., S. 26 & 34. 14 | Ebd., S. 40. 15 | Ebd., S. 43.

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wood als »business, not cinema«16 gilt. Die Statuten des burkinischen Festival Panafricain du Cinéma de Ouagadougou (FESPACO), des auch für die interne Verständigung der Branche maßgeblichen afrikanischen Filmfestivals, führen die hierarchische Unterscheidung zwischen dem politisch wie ästhetisch versierten cinema aus den frankophonen Ländern und dem profanen business Nollywoods auf die Materialdifferenz zwischen Zelluloid und Video zurück. Nur wer auf Film dreht, hat danach Aussicht auf einen Platz in der Hauptsektion – und das, obwohl selbst 35mm-Produktionen aus Mangel an entsprechenden Projektoren mitunter von DVD gezeigt werden.17 Ganz so strikt werden diese Regularien zwar inzwischen nicht mehr eingehalten. Dennoch hat Nollywood einen schweren Stand auf dem FESPACO: Noch 2011 waren nur wenige Filme aus dem Einzugsgebiet des nigerianischen Videobooms in den diversen Sektionen des Festivals zugelassen, nicht einer schaffte es in den offiziellen Wettbewerb. Was hier in unausgesprochener Bezugnahme auf das frühe afrikanische Kino als Materialstandard behauptet wird, ist an der historischen Wirklichkeit gemessen leicht als Missverständnis zu erkennen. Weil dem frühen afrikanischen Kino die Mittel zum Filmemachen fehlten – weil das Material knapp, die Ausrüstung veraltet (oder nach Paris ausgelagert) und ausgebildetes Personal selten war –, begründete Sembène seinen Entwurf für eine politische Ästhetik auf einer Figur des Mangels, der mégotage. Die mégots, das sind die übrig gebliebenen Zigarettenstummel, an denen die Armen sich gütlich tun, und die mégotage ist einer von vielen Versuchen im nicht nur wirtschaftlich prekären Umfeld des Dritten Kinos, aus der Not keine Tugend, sondern eine kritische Ästhetik zu machen.18 Im afrikanischen Kontext meinte cinema also zunächst nicht kostbares Zelluloid in gediegener Arthausatmosphäre, sondern emanzipatorisches Zigarettenstummelkino für die Volksmassen. Auch Nollywood, auf mehr als einer Ebene von einer chronischen, sogar konstitutiven Mangelhaftigkeit gekennzeichnet, ist eine Kunst und eine Ökonomie des Mangels, der »degraded images« und »distorted sounds«.19 So wie das frühe afrikanische Kino darauf angewiesen war, die Abfälle der europäischen Filmproduktion zu recyceln, musste Nollywood in seinen Anfängen auf dem armseligen Stand

16 | Zitiert nach Bic Leu: »FESPACO 2011: African Cinema Through Nollywood’s Lense«, in: The Guardian Nigeria, 16. März 2011, http://www.ngrguardiannews.com/index. php?option=com_content&view=ar ticle&id=41706:fespaco-2011-african-cinemathrough-nollywoods-lens&catid=74:arts&Itemid=683 (zuletzt am 4. Dezember 2012). 17 | Ebd. 18 | Vgl. z.B. Julio García Espinosa: »For an Imperfect Cinema«, in: Jump Cut, Nr. 20, 1979, S. 24-26. 19 | Larkin: Signal and Noise, S. 217ff.

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operieren, den die illegitime Verbreitung von Bildern und Tönen ihren eigenen, minimalen Ansprüchen gemäß erreicht hatte. Im Ergebnis muten die nigerianischen Videofilme noch ärmlicher an als das frühe afrikanische Kino (auch wenn sich der technische Standard in den letzten Jahren rasant verbessert hat). Man sollte diese Analogie aber auch nicht überstrapazieren: Wer Nollywood an eine vom Dritten Kino herkommende Genealogie der depravierten Form anzuschließen sucht im Sinne einer Art Arte Povera des digitalen Zeitalters – wofür an der phänomenalen Oberfläche einiges spricht –, muss dieses Ansinnen mit der Selbsteinschätzung von Videofilmern wie Tunde Kelani konfrontieren. Der glaubt an das Vermögen der digitalen Videotechnologie, das afrikanische Kino in eine neue Renaissance zu führen, ohne aber die unerwünschten Interferenzen und Verzerrungen, die im nur halb kompetenten Gebrauch veralteter Kameras und Anlagen für die Postproduktion zwangsläufig auftreten, auch nur irgendwie in ihrer ästhetischen Eigenlogik zu verklären. Immer wieder verteidigt Kelani zwar Nollywood in seiner ganzen, illustren bis sinistren Breite, aber nicht als Handwerk der knappen Mittel, sondern als Filmindustrie, die fehlt. Mit minderwertigen Videokameras fing Kelani Anfang der 1990er an, inzwischen dreht er nur noch digital, und verteidigt digitale Technologie als entscheidenden Schritt zu einer unabhängigen nigerianischen und darüber hinaus panafrikanischen Filmindustrie, die auf Zelluloid nie oder immer nur defizitär realisierbar war.20 Die Verbreitung von Digitalkameras spielt heute nicht nur in Nigeria eine ähnlich entfesselnde Rolle wie sie das Aufkommen kleinformatiger, portabler Filmkameras und Tonaufnahmegeräte in den 1960er Jahren für das Dritte Kino gespielt hatte. Neben Nollywood hat die relativ kostengünstige Verfügbarkeit von Digitalkameras ein exponentielles Wachstum unabhängiger Filmkulturen überall auf der Welt hervorgebracht (vgl. die anderen Beiträge in diesem Band). Eng mit dem ahistorischen Materialverständnis des FESPACO vertäut ist die Vorstellung des afrikanischen Kinos als politischer Kunst par excellence der postkolonialen Ära – eine große, nachwirkende, aber unvollständig realisierte Idee, bis zum heutigen Tag. Ein gemeinhin verständliches, weil bildbasiertes Instrument zur Aufklärung und Volkserziehung sollte dieses afrikanische Kino sein, und das privilegierte Medium zur ästhetischen Einübung in eine genuin afrikanische Moderne. Die von Profitzwängen mitverursachte Vorliebe Nollywoods für hemmungslose, nah an populären Affekten gebaute exploitation, die nicht selten ins populistische Fahrwasser von Verschwörungstheorien und Hexenjagden gerät, scheint dieser großen Idee fast diametral entgegenzustehen. Doch wie schon im Hinblick auf die räudige Anmutung Nollywoods, so sind auch in diesem Punkt Präzisierungen vonnöten. Auch für weniger 20 | Zitiert nach Pierre Barrot (Hg.): Nollywood: The Video Phenomenon in Nigeria, Bloomington/Indiana 2009, S. 90.

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marktschreierische, ambitionierte Filmemacher aus Nigeria wie Tunde Kelani ist das Fehlen jeglicher Berührungsängste mit vormodernen Glaubensvorstellungen kennzeichnend, als Wiederbelebung und Rehabilitierung von Traditionsbeständen, die nicht nur in der kolonialen Ära, sondern auch und gerade nach Erlangung der Unabhängigkeit – im Entwicklungsdiskurs des nation building ebenso wie im Rahmen des modernistisch-didaktischen Projekts des frühen afrikanischen Kinos – an den Rand gedrängt worden waren.21 Freilich finden sich auch in der Traditionslinie des frühen afrikanischen Kinos aus den ehemaligen französischen Kolonien zahllose Filme, die um eine nuancierte Auseinandersetzung mit vormodernen Lebensweisen und Wissensformen bemüht sind, diese also nicht rundheraus verwerfen. Aber es fällt auf, dass die Filme der alten Garde meist einen Sicherheitsabstand wahren zu traditionellen Religionen und diesen noch da, wo sie als originäres Kulturgut Wertschätzung erfahren, äußerlich bleiben. Obwohl die Gründerfiguren des afrikanischen Kinos den developmentalistischen Konsens der jungen Nationen routinemäßig attackierten und dabei auch vor ästhetischen Atavismen nicht zurückschreckten, waren solche Provokationen stets in ein umfassendes ideologisches Gegenmodell eingepasst, das selbst auf firm fortschrittsgläubigem Boden stand: ein afrikanisierter Marxismus, dessen Reichweite sich von Ousmane Sembènes Pionierleistung Borom Sarret (1963) über Sarah Maldorors Sambizanga (1973) bis zu Souleymane Cissés Work (Baara, 1980) und The Wind (Finye, 1983) erstreckt. Von den frühen Tagen des subsaharischen Kinos bis zur Mitte der 1980er, als Entwicklungsoptimismus und marxistische Kritik im Angesicht der von internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank aufgenötigten Structural Adjustment Programs gleichzeitig verblassten, war die afrikanische Politik von diesen beiden konkurrierenden Doktrinen geprägt, die ungeachtet ihrer vielen Differenzen doch darin übereinkamen, dass das präkoloniale Erbe irgendwie verdächtig sei. Deshalb ist selbst den Regisseuren, die sich wie der Jean RouchSchüler Oumarou Ganda in seinem Dorffilm Le Wazzou Polygame (1971) zu diesem Erbe bekennen, das Bemühen deutlich anzusehen, sich nicht allzu tief darin zu verstricken. An der filmischen Oberfläche schlagen sich die Vorbehalte gegen traditionelle Religion und Lebenswelt bei Ganda in der oft zu beobachtenden Dominanz von Halbtotalen und Totalen und allgemeiner in einer spekulären, die Optizität der Aufnahme betonenden Bildlichkeit nieder, die eine gewisse Distanz zu Figuren und Objekten garantiert. Was könnte von diesem, in gerader Linie über den optischen Nerv verlaufenden Aufklärungsideal weiter entfernt sein als Nollywoods ungehemmte Immersion in vormoderne Affekte und Effekte? In Missachtung der modernen – und modernistische Formen belehnenden – Selbstaufklärung der Post21 | Vgl. Larkin: Signal and Noise, S. 171.

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kolonie, aber auch in Reaktion auf die Indienstnahme und das Scheitern dieses kritischen Diskurses als offizielle Staatsideologie, verschreibt sich Nollywood vollkommen unapologetisch archaischen und magischen Praktiken. Während der Ikonoklasmus des frühen afrikanischen Kinos zuvorderst gegen das koloniale Bildinventar – vom exotistischen Hollywoodmelodram bis zur ethnografischen Feldstudie – und eine eurozentrische Auffassung von Geschichte/ Geschichtlichkeit sich stemmte, vollziehen die von staatlicher Führung und Fortschrittsideologie entkoppelten Bilderstürmer im heutigen Nigeria gewissermaßen die Kritik dieser Kritik bzw. sie fallen, je nach Standpunkt, in längst überwunden geglaubte schlechte Angewohnheiten zurück. Allerdings konnten sich die traditionellen Glaubensbestände erst im Kontakt mit der in Westafrika grassierenden Pfingstbewegung zu dem objektivieren, als was sie vor allem in den Filmen der Igbo erscheinen: Satanismus! Opferkult! Hexerei!22 Dass die Praktiken, die von der pentekostalistischen Lobby zur Transgression wider den wahren Glauben verdinglicht werden, in Wirklichkeit aus einer integralen Weltanschauung erwachsen, ohne die sie ihre Bedeutung verlieren, deutet sich in der Bezeichnung an, mit der die Yoruba die Möglichkeitsbedingung solcher magischen Akte angeben: »Ayé«, was soviel heißt wie »die Welt«, »das physische Reich«.23 Auch diese Welt, also das physische Reich als zugleich magisches und ganz und gar alltägliches, existiert in Nollywood, jenseits aller krassen, auf Schockwirkung zielenden Spezialeffekte und christlich-manichäischen Moralismen. Von Ayé – oder besser: darin – handelt auch das Schaffen Tunde Kelanis. Wo afrikanische Intellektuelle mit den stereotypen Charakteren und dem sich selbst perpetuierenden (christianisierten) Aberglauben vieler Nollywoodfilme hart ins Gericht gehen, argumentiert Kelani – in schriftlichen und mündlichen Äußerungen wie auch im Medium seiner Filme – nuancierter.24 Was er von dem vermeintlichen Budenzauber zu erretten sucht, ist dessen Welthaltigkeit: das originäre, binnenperspektivische Bild der nigerianischen Gegenwart oder, mit einer Wendung Manthia Diawaras, die »Lagerstätte für das heutige soziale Imaginäre in Afrika.« 25 Prägend für die Darstellung dieser magischen Welt in den Filmen der Yoruba ist die bis weit in die 1980er Jahre hinein äußerst rege Kultur des Wandertheaters, von dessen Schauspieltradition, Figurenrepertoire und mündlich-performativer Generativität die Filme bis heute zehren. Das Wandertheater, das seither mitsamt seinem Personal von der Videofilmproduktion absorbiert wur22 | Ebd., S. 194. 23 | Karin Barber: The Generation of Plays: Yorùbá Popular Life in Theater, Bloomington, Indianapolis 2000, S. 251. 24 | Nachzulesen bei Manthia Diawara: Neues afrikanisches Kino: Ästhetik und Politik, München, Berlin, London, New York 2010, S. 173. 25 | Ebd., S. 177.

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de, ist indes selbst keine traditionelle oder irgendwie urwüchsige Erzählform, wie es in genealogischen Spekulationen zum afrikanischen Kino gemeinhin für die viel beschworenen »oralen Erzählweisen« in Anspruch genommen wird.26 Die Elaboration eines ausgedehnten Narrativs allein durch Sprechakt und Aktion dramatischer Figuren auf einer Bühne und ohne Rekurs auf einen Erzähler war vielmehr vor den missionarischen und kolonialen Interventionen des 19. Jahrhunderts im Yoruba-Kulturkreis ungebräuchlich.27 Wie das frühe afrikanische Kino seinen Intentionen nach, so verstand sich auch das Wandertheater als eine inklusive, soziale Schichten übergreifende Kunstform, in Entgegensetzung zum modernen, englischsprachigen »literary theatre«. Der Unterschied zum Publikumsappeal des frühen afrikanischen Kinos, möchte man hinzufügen, besteht dann vor allem darin, dass das Wandertheater den avisierten Massen nicht vorenthalten blieb. Seiner Zuschauerschaft war es sozial und physisch so nahe wie kaum eine andere Kunstform des modernen Afrika; eine Eigenschaft, die es mit weiten Teilen Nollywoods gemein hat. Und wie die neueren Videografien, so war auch das Wandertheater eine durchdringend hybride Form, die alte mündliche Künste wie »praise poetry« und Beschwörungsformeln mit performativen Formaten fremder Herkunft, wie etwa der Sitcom, vermengte.28 Es verwundert daher nicht, wenn einer der Impulse, die zum noch anhaltenden Videoboom der 1990er führte, Videoaufzeichnungen von Aufführungen verschiedener Wandertheater waren, die im Fernsehen ausgestrahlt oder aber von den Schaustellern selbst, in der Art eines fahrenden Kinos, verbreitet und vorgeführt wurden.29 Auch Kelani, der das Kino als Ort einer gemeinschaftlichen Seherfahrung vermisst, tourt mit seinen Filmen durch Nigeria, das Wandertheater zum Wanderkino umdeutend (siehe Interview mit Kelani im vorliegenden Band). Seine Tätigkeit als Kameramann brachte Kelani in den 1980er Jahren mit Ola Balogun und Hubert Ogunde zusammen, zwei bestimmenden Regisseuren aus der kurzen Hochzeit des Yoruba-Kinos (die mit der des Wandertheaters ungefähr koinzidierte).30 Als Nollywood sich Anfang der 1990er zu formieren begann, hatte Kelani bereits einige Erfahrung beim Film sammeln können 26 | Vgl. Manthia Diawara: »Die Erzählstruktur von Wênd Kûuni: Orale Literatur und der Afrikanische Film«, in: Marie-Hélène Gutberlet und Hans-Peter Metzler (Hg.): Afrikanisches Kino, Unkel/Rhein, Bad Honnef 1997, S. 127-144. 27 | Barber: Generation of Plays, S. 2. 28 | Ebd., S. 6. 29 | Ebd., S. 259. 30 | Weil die Videofilme der Yoruba im Gegensatz zum Rest Nollywoods auf eine solche, mehr oder minder respektable Vorgeschichte zurückblicken können, hält es Manthia Diawara in seinem jüngst erschienenen Buch Neues afrikanisches Kino für missverständlich, sie unter den selben Begriff zu subsumieren wie die reißerischen Genrestrei-

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und genoss als einer von wenigen Regisseuren der westafrikanischen Videografien eine Art formaler Ausbildung. Dass ihm dieser Vorsprung über die nächsten zwanzig Jahre erhalten bleiben sollte, hat seinen Grund in fehlenden Ausbildungsangeboten: Im heutigen Nollywood ist ansonsten fast jeder ein Selfmademan. Kelani dreht Filme auf Englisch und in der Sprache der Yoruba, seine Stoffe bezieht er bezeichnenderweise zumeist aus Romanen und Novellen nigerianischer Schriftsteller von Bayo Adebowale bis Akinwumi Isola, der regelmäßig mit Kelani zusammenarbeitet. Anders als die Proponenten des frühen afrikanischen Kinos mit ihrer programmatischen Abständigkeit zu allem Vormodernen, hatten die maßgeblichen Literaten derselben Ära wie Chinua Achebe (in seinen Romanen Things Fall Apart und Arrow of God) oder Wole Soyinka (in dem epischen Gedicht Idanre oder dem Theaterstück The Road) diesbezüglich weitaus weniger Berührungsängste, was nicht zuletzt mit ihrem wortbasierten und der Verdinglichungsgefahr zu einem geringeren Grad ausgesetzten Medium zu tun haben mochte. Die wiederverzauberte dörfliche Welt, in der diese literarischen Fiktionen angesiedelt sind, ähnelt in mancher Hinsicht dem Lateinamerika des magischen Realismus, steht also in einem beglaubigten kulturellen Kontext, in dem animistische Überformungen der empirischen Wirklichkeit nicht sofort den Vorwurf des vorgestrigen Aberglaubens auf sich ziehen. Dass Kelani sich selten auf das frühe afrikanische Kino, seine Stoffe aber umso öfter aus literarischen Quellen bezieht, kann vor diesem Hintergrund auch als Suche nach einer kulturellen Filiation begriffen werden, die es ihm ermöglicht, unbeschadet zwischen den Fronten des auch heute noch tobenden afrikanischen Kulturkampfs zu navigieren. In der inszenatorischen Praxis unterscheiden sich vor allem seine frühen Filme dann aber doch beträchtlich von exakt geskripteten Literaturverfilmungen und verraten ihre Herkunft (und die der Schauspieler) vom Theater. Zwischen den Szenen ist viel Raum zum Atmen, Improvisieren, Reiterieren von Figuren und Situationen, die sich zwar an einem klar vorgegebenen Thema entlanghangeln, dabei aber Textvorlagen und Regieanweisungen nicht haargenau Folge leisten. Häufig ist man schon nach kurzer Zeit im Bilde über den kommunikativen Gehalt einer Szene und kann sich, einmal vom Interesse am Fortgang der Erzählung entbunden, ans freie Spiel der Figuren verlieren. Wie für die Linie des frühen afrikanischen Kinos kennzeichnend, bewegt sich Kelani spielerisch zwischen oralen und schriftlichen Quellen. Mit jedem Film tritt das Bildgespür des gelernten Kameramanns Kelani weiter in den Vordergrund, während die theatralen Anteile schwinden – dies übrigens parallel zu ähnlichen Entwicklungen im gesamten Spektrum von Nollywood.

fen, die in benachbarten Kulturkreisen florieren (S. 169). Ich habe oben bereits Einwände gegen solche Abgrenzungsmanöver vorgebracht.

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Tunde Kelani hinter der Kamera

Tunde Kelanis erster Videofilm, Ti Oluwa Ni Il ͜ (1993), erzählt die durch drei spielfilmlange Teile mäandernde Geschichte des village chief Asiyanbi (gespielt vom ehemaligen Wandertheatermimen und heutigen Nollywoodstar Kareem Adepoju aka Baba Wande), der sich von einem Ölunternehmen kaufen lässt und dafür mit einem Fluch belegt wird. Das Stück Land, das er unrechtmäßig an sich reißt und danach für den Bau einer Tankstelle freigibt, ist seit vordenklicher – also präkolonialer – Zeit rituellen Handlungen und dem Totengedenken geweiht. Einer nach dem anderen werden die Konspirateure im Schlaf von Geistererscheinungen heimgesucht und dahingerafft, nur Asiyanbi kann sich retten, indem er ins Exil geht. Der größte Teil der Trilogie handelt von seinen Fährnissen in der weiten Welt außerhalb seiner Heimatstadt, wo er in allerlei Konflikte und Komplotte verwickelt wird. Eher als ein Bösewicht ist er ein fehlbarer, eitler Mann, der zwar zu Güte und Hilfsbereitschaft in der Lage ist, im entscheidenden Moment aber stets auf sein Eigenwohl bedacht bleibt. Den Mächtigen unterstellt Ti Oluwa Ni Il ͜ Hybris: »We are the gods,« verkündet einer der Profiteure des Immobiliengeschäfts. Die Kritik an der sich selbst bereichernden Elite bedient sich einer religiös gefärbten Metaphorik, die anschließend, wenn Geistererscheinungen die Übertretung rächen, Wirklichkeit wird. Im dritten Teil der Trilogie kehrt Asiyanbi aus dem Exil zurück und schmiedet den hinterlistigen Plan, den König mit der Hilfe eines falschen Thronprätendenten zu stürzen. Zuletzt werden die fingierten Ansprüche einem Gericht vorgelegt. In der ausführlichen Darstellung der Verhandlung sucht Ti Oluwa Ni Il ͜ die Versöhnung zwischen magischer und weltlicher Rechtspraxis: Da er den archaischen Rachegeistern entkommen ist, wird Asi-

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yanbi von der modernen Gerichtsbarkeit eingeholt. Während der ausufernde und, im Vergleich zu den dichten Dramaturgien aus Kelanis Spätwerk, ungerichtete Plot sich entfaltet, werden Beistehende als Kommentatoren eingeschaltet. Unvermittelt treten etwa zwei ansonsten unbekannte Frauen auf, die in der Form des Botenberichts ein Gerücht austauschen, das eine von ihnen in einer späteren Szene prompt an einen Dritten weiterreichen wird und so weiter, bis sich über solche Verkettungen im Nebenher der eigentlichen Handlung so etwas wie eine kritische Gemeinschaft der aus der Ferne Beobachtenden – eine Allegorie des Filmpublikums? – hergestellt hat. Auf ähnliche Weise hatte schon der aus Niger stammende Oumarou Ganda die Dorfgemeinschaft in seinem Le Wazzou Polygame konstruiert. Indem Ganda sichtbare Handlungen nicht anders gewichtet als deren Nacherzählung, und Handelnde nicht denjenigen gegenüber privilegiert, die den Handelnden zusehen, eröffnet sich ihm die Möglichkeit, das Geschick seines Protagonisten auf das ihn umgebende soziale Gefüge hin zu diffundieren. Die Verbundenheit der Dorfbewohner wird dabei als selbstverständlich gesetzt, sodass sich die Frage, warum einer um das Tun des anderen weiß, erst gar nicht stellt. Unterredungen werden zwar oft via Schuss und Gegenschuss – unter vier Augen – etabliert, das sprechergebundene Hin und Her kann indes jederzeit unterbrochen und um Zuhörende in angrenzenden Räumen erweitert werden, ohne dass diese, Zuhörer wie Räume, einer vormaligen Etablierung bedürften. Anstatt seine Kritik gleichsam von außen an die Dorfgemeinschaft heranzutragen, geht das Autorensubjekt Ganda in einer vielstimmigen Rede auf, die das heterogene, von gegensätzlichen Interessen durchzogene Kollektiv über sich selbst hält. Von Kelani unterscheidet sich Gandas Entwurf vor allem in seinem Verhältnis zu Religion und magischem Denken, die im Gemeinwesen zwar eine bedeutende Rolle spielen, sich aber nirgends sichtbar manifestieren. So sehr Ganda dem aporetischen Ideal der Selbsterzählung einer Gemeinschaft und, damit verbunden, einer Ästhetik des Umweltlichen (im Heideggerschen Verständnis) zuneigt, so sehr verbleibt sein Film an der Außenseite der religiösen Tatsachen. Zwar verfolgt er die Absicht, das Dorfleben aus sich selbst heraus zu kritisieren; in einer bedeutsamen Hinsicht bleibt er ihm jedoch stets äußerlich. An dem resultierenden Spannungsverhältnis meldet sich die Distanz, die das afrikanische Kino vor Nollywood dem vorkolonialen Erbe gegenüber stets noch einhielt. Kelanis chef d’oeuvre ̒aworoid͜ (1999) und dessen lose Fortsetzung Agogo Èèwͪŭ (2002) sind beide in der fiktionalen Stadt Jogbo angesiedelt, deren filmische Ausdehnung jedoch in etwa mit dem Dorf aus Ti Oluwa Ni Il ͜ zusammenfällt. Gedreht wurde in Abeokuta, der Hauptstadt des südwestlichsten Bundestaates Ogun an der Grenze zu Benin, als eigentlicher Ort der parabolischen Erzählung ist aber unschwer die Nation Nigeria als Ganze zu erkennen. Was in den beiden Filmen als Königsdrama verhandelt wird, ist die Geschichte

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des Landes seit Erlangung der Unabhängigkeit als Tragödie und als Farce. In einer panoramatischen Ansicht, die auf alle sozialen Strata und gesellschaftlichen Bereiche ausgreift, diese zugleich aber zu einer überschaubaren Anzahl handelnder Personen verdichtet, zeichnet Kelani den Kampf um ein demokratisches Nigeria nach. Vom National Film and Video Censors Board, das dem Geist des staatlichen Entwicklungsdiskurses verpflichtet ist, wurde Agogo Èèwͪŭ (nicht aber ̒aworoid͜) wegen des wiederholten Vorkommens von Gris-gris-Talismanen und anderen magischen Objekten und Praktiken als ungeeignet für Minderjährige eingestuft; in Kelanis Augen ein Symptom für die lebensweltliche »Entfremdung« des Zensors.31 Im Gegensatz zu Ti Oluwa Ni Il ͜, der archaisches und modernes Recht zu versöhnen sucht, kulminieren ̒aworoid͜ und Agogo Èèwͪŭ beide in einer Art archaischen Schauprozess, wobei ein magisches Objekt als Instanz der Rechtsprechung angerufen wird. Mag sein, dass es diese Wendung war, die das Censors Board auf den Plan rief. Tatsächlich findet auch hier eine Vermittlung zwischen Tradition und Moderne statt, nur ist sie komplizierter gebaut als noch in Ti Oluwa Ni Il ͜. Nicht der politische Aufstand, der gegen den Tyrannen sich regt, bringt diesen zum Sturz, sondern eine Intervention magischer Kräfte führt den regime change herbei. Ausgerechnet dem Arkanen scheint Kelani eine modernisierende Funktion zuzusprechen, aber diese Lektüre beruht auf einem Missverständnis des magischen Objekts als eine Art Fetisch, dem in seiner abgetrennten Dinghaftigkeit transformative Kräfte zukommen. Der Clou bei Kelani ist demgegenüber, dass der magische Gegenstand als integraler Bestandteil der Lebenswelt der Oppositionellen deren gemeinsames Wollen genauso gut ausdrücken oder sogar ausführen kann wie eine kollektive politische Aktion im herkömmlichen Verständnis. Es ist sicher nicht ganz falsch, dass Kelanis Ansatz im Gegensatz etwa zu Sembènes marxistisch informierter Sozialkritik, die stets ein Auge auf den strukturellen Kontext richtet, stärker an konkreten Problemen orientiert ist. In seiner allegorischen Typologie der nigerianischen Eliten kommt Kelani dafür der Marx’schen Charaktermaske näher als die sozialrealistisch zurückgebundenen Figuren bei Sembène. Auch wenn ̒aworoid͜ und Agogo Èèwͪŭ die Grenzen der Stadt Jogbo fast nie verlassen, sie ihre Kritik mithin aus diesem engen Umkreis heraus entwickeln müssen, findet nicht nur Nigeria, sondern auch dessen globales Außerhalb Platz auf diesem engen Raum: Dass Kapitalinteressen sich gegen die partikularen des souveränen Nationalstaats noch jedes Mal durchsetzen, bringt Kelani in seinem Modell ebenso unter wie die Militarisierung der afrikanischen Politik, darin Fanta Regina Nacros allegorischem Königsdrama The Night of Truth (La nuit de la verité, 2004), das der frankophonen Zelluloidtradition zuzuordnen ist, verblüffend ähnlich. Auf der Bildebene findet diese gewollte Verkleinerung und Verdichtung eine 31 | Zitiert nach Barrot: Nollywood, S. 93f.

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Entsprechung in explorativen Kamerabewegungen, die dem Raum eine in Nollywoodfilmen seltene Plastizität erschließen. Anstelle statischer establishing shots und der üblichen verflachenden Seifenopernästhetik akzentuiert Kelani mit vereinzelten Kameragesten eine dreidimensionale, gleichsam »zuhandene« Lebenswelt. Kaum ein Film Kelanis ist so fest in der dörflichen Welt verankert wie The Narrow Path (2006), kaum einer äußert gleichzeitig so harsche Kritik an ihr. Im Zentrum der Erzählung steht das Mädchen Awero, um deren Gunst gleich zwei Männer buhlen und das am Ende mit einem von ihnen verheiratet werden soll. In die Liebesheirat mischen sich heiratspolitische Begehrlichkeiten die Beziehungen zu einem benachbarten Dorf betreffend. Infolge einer Vergewaltigung verliert Awero ihre Jungfräulichkeit. Einmal defloriert, gilt das Mädchen als beschädigt; es kann nicht mehr in den Ehetausch eingehen. Als dies ruchbar wird, stehen die beiden Dörfer am Rand eines Krieges, den Awero im letzten Moment verhindern kann in einem passionierten Plädoyer gegen die tradierte Sittlichkeit. Es gibt eine außenstehende Figur, die das Geschehen aus einiger Distanz beobachtet, eine Lehrerin, die in dem Dorf eine Schule errichten möchte. Von ihr abgesehen fehlen hier aber die offensichtlichen Vermittlungen zwischen den vormodernen Gebräuchen des Dorfes und dem modernen Selbstbild des offiziellen Nigeria, die in allen früheren Filmen Kelanis operativ waren. Gleichsam unter der Schwelle staatlicher Repräsentation bzw. der von ihr ausgehenden Objektivierung traditioneller Lebensweisen, also ohne diese entweder als Kulturerbe zu glorifizieren oder als ewiggestrigen Aberglauben abzutun, sucht The Narrow Path einen kollektivsubjektiven Zugang nicht zur äußerlichen Wirklichkeit des indexikalischen, in Einstellungen perzipierenden Kameraauges, sondern zur immer schon erschlossenen Umwelt des Dorfes und dem unverbrüchlichen In-der-Welt-Sein seiner Bewohner. So kommt es, dass inmitten eines Films, der aufgeklärte, protofeministische Kritik an den archaischen Restbeständen der Yoruba übt, Geister und andere übernatürliche Wesenheiten auftreten als wären sie das Normalste auf der Welt. Und genau darum handelt es sich: nicht um sensationelle Spezialeffekte, sondern um ein im Umweltlichen gründendes Geisterwesen, das übergangslos in der Phänomenalität des Alltags aufgeht. Statt einer Spekularisierung des Übersinnlichen, wie sie dort überwiegt, wo Nollywood im Bann des Pentekostalismus die Ausübung traditioneller Religionen nur noch als Satanismus oder Hexerei wahrnehmen kann, betreibt The Narrow Path die Rekonfiguration des Übersinnlichen als fester Bestandteil einer selbstkritischen Alltagsontologie, die eurozentrische Vorstellungen von sozialer Kritik und Realismus herausfordert. Dass die Sache komplizierter liegt, als diese gleichermaßen idealisierende Beschreibung von Kelanis ästhetischer Strategie nahelegt, dafür steht die Figur der Lehrerin ein. Sie gewährleistet, dass die Innenansicht des Dorflebens sich nicht ungestört entfalten und gegen ihr Außerhalb abschließen kann.

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Immer bleibt in den Filmen Kelanis eine Spannung zwischen den beiden konkurrierende Kritikmodellen – zwischen dem sich selbst universalisierenden Standpunkt der europäischen Aufklärung und der partikularen Einbettung in eine lokal begrenzte Umwelt – bestehen, ohne allerdings je als die unversöhnlichen Gegensätze aufzutreten, als die sie in der Heuristik des frühen afrikanischen Kinos häufig gelten. Unterwegs durchläuft The Narrow Path in durchaus Nollywood-typischer Genre-Amalgamierung eine Vielzahl unterschiedlicher, auch konträrer Tonalitäten. Kohärenz bezieht der Film nicht aus einer übergreifenden generischen Rahmung, sondern aus der dörflichen Welt seiner Erzählung, worin die ganze Bandbreite kritischer Verhaltungen, anteilig verkörpert als Komödie, Melodram oder Lehrfilm, unterkommt. Auch Arugbá (2010) synthetisiert alle möglichen Genres und Tonalitäten, von der Musicaleinlage über ein kurzes Thrillersegment bis zum Aufklärungsfilm, der junge Mütter in Kleinkindpflege schult. Im Gegensatz zu Kelanis ersten Filmen, die dem Wandertheater näher stehen, ist das Drehbuch hier dicht verfugt und für Improvisation wenig Platz. Zwei Handlungsstränge verlaufen parallel, berühren sich immer wieder, haben aber kein gemeinsames Ziel mehr: die Machinationen des korrupten Königs und seines Hofstaats auf der einen und der Alltag einer jungen Studentin auf der anderen Seite, die vom Ifá-Orakel zur Arugbá des Osun Osogbo Festival (eine rituelle Funktion, die nur von einer Jungfrau ausgefüllt werden kann) erwählt wurde. Hervorgegangen ist Arugbá aus einem Dokumentarfilm, den Kelani Mitte der Neunziger über diese Festivität gedreht hatte, und dieser dokumentarische Impuls ist rudimentär noch erhalten: Sobald die Feier beginnt, tritt das Narrativ zurück. Damit kontrastieren die beinah pädagogischen direkten Adressen an die nigerianischen Zuschauer, die in diversen Inkarnationen im Film selbst figuriert sind – als Publikum eines Hip Hop Konzerts, als Hörer eines linguistischen Universitätsseminars oder als HIV-Patientin im Gespräch mit ihrer behandelnden Ärztin. In seinen belehrenden Szenen kommt Arugbá dem staatlichoffiziellen Entwicklungsdiskurs so nah wie kein anderer Film Kelanis, was ihn aber nicht daran hindert, in den Zwischenräumen religiöse Visionen und Geistererscheinungen einzuflechten. Dem Anfang des Films verdanken wir eine der aufsehenerregendsten Visualisierungen des physischen Reichs Ayé, das zugleich ein magisches ist: ein computergenerierter Äther aus winzigen Lichtpunkten, der den Bildraum einhüllt und durchdringt. Dass diese Erscheinung diegetisch als Traumsequenz markiert ist, und nicht wie sonst bei Kelani mehr oder weniger übergangslos aus dem Medium des Alltäglichen sich ergibt, mag man als kleines Zugeständnis an den Gestus staatlich lizensierter Aufklärung verstehen, der hier den Ton angibt. Dörflich sind Kelanis Erzählwelten nicht immer ihrem buchstäblichen Ort nach, aber fast immer in ihrer – allegorisch aufgeladenen – Überschaubarkeit. Die Rede von einem Dorffilm, den man in den Genrekunden des subsaha-

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rischen Afrika vergeblich suchen wird, meint nicht zwingend Filme, die in einem ländlichen Setting spielen (obwohl es hiervon etliche gibt), sondern auch solche, die noch das urbane Zusammenleben als in einem gewissen Sinn dörflich charakterisieren; kein genau bestimmtes oder auch nur gemeinhin anerkanntes Genre, sondern eine bestimmte Konstruktion des Gemeinschaftlichen. Diese dörfliche Charakteristik beinhaltet wohlgemerkt keine These über die afrikanischen Metropolen. Das Dörfliche rührt von keinem realistischen – soziologischen oder ethnografischen – Verständnis der afrikanischen Gegenwart. Vielmehr ist es ein Mittel zu ihrer Allegorese: große Zusammenhänge werden auf die kleinere Stufenleiter der Dorfgemeinschaft heruntergebrochen, wo sie kartografierbar, personalisierbar, begreif bar werden.32 Den Modus binnenperspektivischer Kritik wiederum, der sich durch Kelanis Dorffilme zieht, bringt die britische Kulturanthropologin Karin Barber mit Blick auf das Wandertheater auf die folgende Formel: »conceptualizing ›tradition‹ as a field while still inhabiting it.«33 In einem ganz ähnlichen Sinn figurieren Tradition und vormoderne Weltanschauungen auch in den Filmen Kelanis gleichzeitig als existenzielle Behausung und kritisch zu Begreifendes. In deutlichem Unterschied zu dem universellen Standpunkt, von dem aus die europäische Aufklärung zu sprechen beansprucht, schöpfen Kelanis Dorffilme ihre dennoch aufgeklärte Kritik aus ihrer partikularen Umwelt. Ob Kelani an dieser Umwelt teilhat oder nicht, wie die zum Volkstümlichen tendierende Authentizitätsfrage nach der Lizenz des Autors wissen will, muss deshalb gar nicht interessieren, weil der hier ins Werk gesetzte Modus einer eingebetteten Binnenkritik in dem historischen Moment, da Kelani seine ersten eigenen Regiearbeiten realisierte, schon seit geraumer Zeit als eine Art generische Matrix verfügbar war. Der Dorffilm ist also nichts, das quasi naturwüchsig aus dem Bewusstsein eines authentischen Autors entsteht, sondern ein vorgefundenes kulturelles Muster, auf das nicht erst Kelani zugegriffen hat, sondern zahllose afrikanische Filmemacher – und darunter viele, die mit Nollywood nichts zu tun haben möchten – vor ihm. Nicht nur vom Wandertheater der Yoruba sondern auch vom frühen afrikanischen Kino her formiert sich der Topos des Dörflichen; aber auch literarische Vorlagen wie Achebes Things Fall Apart, der an die vorkoloniale Ära zurückgeht, um dort nicht das Paradies, sondern ein komplexes soziales Gefüge voller innerer Widersprüche vorzufinden, lassen sich als Teilmenge dieser wirkmächtigen Konstellation begreifen. Auch Ache32 | Dieses Verfahren findet sich keineswegs ausschließlich in Nollywood oder im subsaharischen Filmschaffen. Der klassische Western etwa operiert in seinen Gründungsmythen nicht unähnlich. Es wird zu zeigen sein, inwiefern das Nussschalenuniversum Nollywoods sich von vergleichbaren Entwürfen aus anderen Kulturkreisen unterscheidet. 33 | Barber: Generation of Plays, S. 14.

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be »bewohnt« die vergangene Welt seines Romans in dem erläuterten Sinn, dies jedoch ohne seine Behausung in irgendeiner Weise zu verklären. Dass diese Welt, wie der Titel vorwegnimmt, im Zerfall begriffen ist, mag mittelbar auch mit äußeren Einflüssen zu tun haben, geht aber von ihrer Mitte aus – ähnlich wie in Sembènes parabolischem Historienfilm Ceddo (1977), der einen christlichen Missionar und einen Sklavenhändler nicht als Agenten der geschichtlichen Katastrophe darstellt, sondern als ihre interessierten Zuschauer und Profiteure. Wenn Sembène an den historischen Punkt zurückgeht, an dem die Einflusssphäre des Islam bis ins subsaharische Afrika vordrang, dort aber noch auf regen Widerstand von Seiten traditioneller Kultusgemeinschaften stieß, um an diesem Konflikt die zersetzende Wirkung der monotheistischen Glaubenssätze zu veranschaulichen, ohne darüber ein ursprüngliches, pantheistisches Idyll zu behaupten, partizipiert auch er an der Poetik des Dorffilms. Die markante Differenz zu Kelani besteht, wie schon im Falle Gandas, in der objektivierenden Distanz, die Sembène gewissermaßen zwischen Kamera und subjektive Weltwahrnehmung seiner historischen Akteure einschiebt. Ein weiterer Unterschied zwischen den Dorffilmen alter und neuer Prägung dürfte darin liegen, dass die traditionellen Lebensweisen in diesen unmittelbar an die politische Gegenwart Afrikas anschlussfähig sind, während jene gerade an der Andersartigkeit ländlicher Lebensformen interessiert waren – darin ironischerweise ihren europäischen Gegenübern wie Jean Rouch (The Mad Masters [Les maîtres fous, 1955]) oder Pier Paolo Pasolini (Notes Towards an African Orestes [Appunti per un’Orestiade Africana, 1970]) gar nicht unähnlich. In den Filmen Tunde Kelanis erscheint das Dorf nicht mehr, wie im frühen afrikanischen Kino, als das ersehnte oder in Schranken zu weisende Andere einer innerlich zerrissenen Moderne, sondern als integrales Ganzes einer Alltagsontologie oder Umweltlichkeit, worin dichotomische Entgegensetzungen wie die von Tradition und Moderne tendenziell verwischen. Was Barber über das Wandertheater der Yoruba schreibt, trifft also auch auf dessen videografische Fortschreibung bei Kelani zu: »The bipolar beforeand-after narrative of modernity that traces the emergence of the universal, individualistic, autonomous, post-Enlightenment ›modern self‹ from its particularistic, communalistic, tradition-bound antecedents is called into question by these representations.«34 Als dezentral-prekäre Unternehmung, die aus der Krise der staatlichen Medien – von den mobile film units bis zum staatlichen Fernsehen – hervorgegangen ist, partizipiert Nollywood an einer globalen Rekonfiguration postkolonialer Ästhetik, auf die Arjun Appadurai den Begriff der »umgangssprachlichen Globalisierung« münzt:

34 | Ebd., S. 13.

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»The megarhetoric of developmental modernization (economic growth, high technology, agribusiness, schooling, militarization) in many countries is still with us. But it is often punctuated, interrogated, and domesticated by the micronarratives of film, television, music, and other expressive forms, which allow modernity to be rewritten more as vernacular globalization and less as a concession to large-scale national and international policies.« 35

In Kelanis Nollywood ist es die kleine Form des Dorffilms, worin eine solche »umgangsprachliche« Kritik der afrikanischen Moderne sich Gehör verschafft – entlang einer mitten durch den Dorfplatz verlaufenden Bruchlinie, die bis zu den Anfängen des afrikanischen Kinos in den 1960er Jahren zurückreicht.

35 | Arjun Appadurai: Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis, London, 1996, S. 10 (meine Hervorhebung).

»Der nigerianische Filmemacher ist ein Realist« Tunde Kelani im Gespräch

Es ist immer wieder zu vernehmen, Ihre Arbeitsweise sei im Kontext der nigerianischen Filmindustrie so ungewöhnlich, dass es zweifelhaft ist, ob Sie überhaupt als »Nollywood-Regisseur« bezeichnet werden sollten. Eine Google-Suchanfrage zum Wort »Nollywood« bringt über sieben Millionen Ergebnisse. Daran kann man ablesen, dass der Begriff nicht mehr nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene in Gebrauch ist. Vielleicht war ich, als die Marke eingeführt wurde, etwas peinlich berührt über die offensichtlichen Anleihen bei Hollywood. Aber was liegt schon an einem Namen?

Tunde Kelani Rückblickend würde ich sagen: Der Name hat nun einmal verfangen – und er hat sich als gar nicht so übel herausgestellt. In unserem riesigen Land, dessen nationaler Slogan »Unity in Diversity« lauten könnte, hat sich »Nollywood« als

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einendes Kürzel für die nigerianische Videofilmindustrie etabliert. Was die ansonsten sehr verschiedenen Teilbereiche dieser Industrie eint, ist, dass überall schnell und billig gearbeitet wird und die Filme, die Mehrzahl in englischer Sprache, dann direkt auf VCD oder DVD ausgewertet werden. Ich unterscheide mich von diesem Modell, weil ich mich von meiner eigenen Kultur beeinflussen lasse und um so etwas wie einen indigenen kulturellen Ausdruck bemüht bin, der eine Kombination aus künstlerischen Traditionen umfasst – mündliches Erzählen, Drama, Musik, Tanz, Literatur und Folklore der Yoruba aus dem Südwesten Nigerias. Außerdem zielen meine Filme, da ich mich dem Kino verpflichtet fühle, auf eine Vorführung im Kinosaal bevor sie in anderen Formaten veröffentlicht werden. Es ist möglich, dass ich bewusst oder unbewusst aus all den verfügbaren Modellen – Hollywood, frankophones afrikanisches Kino, Nollywood – etwas entnommen habe, um es dann mit meiner kulturellen Sensibilität und meinen persönlichen Erfahrungen zu vermengen, und dass ich auf diesem Weg bei einer eigenen, individuellen Form des filmischen Ausdrucks angelangt bin. Ich würde meine Arbeiten (und die vergleichbaren Arbeiten anderer) also vielleicht doch außerhalb des Nollywood-Mainstreams, in einem »anderen« oder »alternativen« Nollywood ansiedeln wollen. Was Sie von vielen anderen Nollywood-Regisseuren unterscheidet, ist, dass sie schon lange vor dem Auf kommen des Videobooms mit dem Medium Film zu tun hatten. Ich hatte zunächst nicht vor, Filmemacher zu werden. Im Alter von zwölf Jahren kam ich zum ersten Mal in Berührung mit einer Fotokamera – und konnte nicht mehr von ihr lassen. In meiner Mittelschulzeit habe ich dann alle Zeit und alles Geld in die Fotografie gesteckt und meinem Vater offenbart, dass ich Fotograf werden möchte. Ich habe nie eine Universität besucht. Stattdessen ging ich bei einem Fotografen in Lagos in die Lehre. Aber ich war immer schon vom Kino angezogen, spätestens seitdem ich Großproduktionen wie Lawrence of Arabia oder Ben-Hur und später Leones The Good, The Bad, and the Ugly gesehen hatte. Plötzlich wurde mir klar, dass die Möglichkeiten der Fotografie begrenzt waren, ohne Bewegung und Ton. Es war Zeit für eine Veränderung. Glücklicherweise war der Fernsehsender Western Nigerian Television zu der Zeit, in den 1970ern, gerade auf der Suche nach Kameraleuten. Nach einem Eignungstest wurde ich eingestellt, und fand mich in eine vollkommen neue Welt katapultiert. Es dauerte nicht lange, bis mir die Kluft auffiel zwischen den Filmen, die wir fürs Fernsehen drehten und den überlebensgroßen amerikanischen Filmen, die wir im Kino zu sehen bekamen. Später wurde ich an der London Film School angenommen, wo ich zwei Jahre studierte. Mein Weg war also eine Mischung aus formaler Ausbildung und praktischer Erfahrung. Gleich nach der Filmschule war ich an Filmpro-

»Der nigerianische Filmemacher ist ein Realist«

jekten der großen nigerianischen Filmemacher Ola Balogun, Hubert Ogunde und Adeyemi Afolayan (aka Ade Love) beteiligt, die Crews aus England, Brasilien und den USA einfliegen ließen. Ich hatte auch Gelegenheit, mehr als 15 Filme mit unabhängigen Produzenten auf 16mm zu drehen. Heute kann jeder, der sich einen Camcorder leisten kann, ohne jede Ausbildung Filmemacher werden. Die Fortschritte im Bereich digitaler Videotechnologie haben den Arbeitsvorgang fast idiotensicher gemacht. Alle machen es einfach, ganz unbefangen. Es ist heutzutage schwieriger, junge Filmemacher, die gerade ihre ersten bescheidenen Erfolge feiern, von der Notwendigkeit einer Ausbildung (und folglich auch von Ausbildungsmöglichkeiten) zu überzeugen, insbesondere in dem ungeheuer schnell voranschreitenden Wandel des digitalen Zeitalters… Gibt es überhaupt formale Ausbildungsangebote für angehende Filmemacher – Regisseure, Drehbuchautoren, Cutter etc. – in Nigeria? Oder müssten sie Ihrem Beispiel folgen und im Ausland studieren? Abhängig vom jeweiligen Bereich der nigerianischen Filmindustrie kann der Zugang formal oder informell ausfallen. Die Yoruba, deren Filmproduktion auf einer Theatertradition beruht, arbeiten mit einem hierarchischen Meistersystem, das im Verlauf einer handwerklichen Lehre – von der Theaterpraxis bis zum Filmemachen – gleicht. Der zweite Bereich geht vom marktorientierten Verleihgeschäft aus und produziert mit den Einnahmen weitere Filme. Ein dritter Bereich rekrutiert sich aus Universitätsabgängern, die eine formale Ausbildung in creative oder theatre arts genossen haben und ihre Sporen im Fernsehen, bei der Produktion von Serien, verdienen. Die hohen Kosten eines Auslandsstudiums sind für die wenigsten erschwinglich. (Ich selbst habe in den frühen 1970er Jahren 1500 Pfund pro Jahr an der London Film School berappen müssen, inzwischen ist dieser Beitrag aber auf an die 20 000 Pfund gestiegen.) Zum Glück gibt es in der Zwischenzeit einige einheimische Alternativen, angeboten vom Nigeria Film Institute und von einer Reihe privater Institutionen. Ein Distinktionsmerkmal Ihrer Filme ist, dass diese oft auf literarischen Vorlagen basieren, wie Bayo Adebowales The Virgin oder O Leku von Prof. Akinwumi Isola, mit dem Sie regelmäßig zusammenarbeiten. Ich liebe Literatur. Ich habe angefangen Yoruba-Bücher zu lesen, sobald ich lesen und schreiben konnte. Ich las D.O. Fagunwas fünf Yoruba-Romane, Igbo Olodumare, Ogboju Ode ninu igbo Irunmale, Ireke Onibudo, Irinkerindo und Adiitu Olodumare, meinem Großvater nachts beim Licht einer Sturmlampe vor. Fagunwas Saga hat meine Fantasie angestachelt, und wie sein Protagonist sehnte ich mich nach meiner Mutter, von der ich getrennt lebte, seit mein Vater den

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Entschluss gefasst hatte, mich in Abeokuta bei meinen Großeltern aufwachsen zu lassen. Englische Literatur war ein Augenöffner für mich, und ich las alles, was mir über den Weg lief. Ich fand großartige Geschichten bei ganz verschiedenen Autoren – Shakespeare, Maupassant, Hemingway, aber auch Chinua Achebe, Wole Soyinka, Femi Osofisan, Bayo Adebowale und bei vielen mehr. Auch in der griechischen Mythologie, die ich oft mit jener der Yoruba vergleiche, und in den heiligen Schriften des Ifa, des Koran und der Bibel werde ich fündig. Bücher inspirieren mich, weshalb viele meiner Filme Adaptionen literarischer Vorlagen sind: Kò̒eégbé (Akinwumi Isola), Ólekú (ders.), Thunderbolt: Magun (Adebayo Faleti), The Narrow Path (Bayo Adebowale), The Campus Queen (Akinwumi Isola), Maami (Femi Osofisan). Auch meine neuen, noch in Arbeit befindlichen Projekte sind alles Literaturverfilmungen: The Dazzling Mirage (Yinka Egbokare), Aja To Nlepa Ekun (Kola Akinlade) und Yeepa (Femi Osofisan), Wuraola (ders.) […] In einem Artikel in der nigerianischen Zeitung The Guardian von 1996 kann man die folgenden düsteren Aussichten nachlesen: »Cinema is dying… The ambience of being in a large dark hall is not possible because there is a lot of crime, life is unsafe… With the boom in satellite communications and home video, people don’t go out anymore.« Sie selbst haben einmal bemerkt (in einem Artikel, der auf das Jahr 2003 zurückdatiert), dass die nigerianische Kinoinfrastruktur längst kollabiert sei. Haben sich die Dinge seither geändert? In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich Nollywood enormer Popularität erfreut und sein Wachstum die Aufmerksamkeit der Regierung und von Konzernen auf sich gezogen. Neue Satelliten- und Kabelfernsehsender haben sich an die Filmindustrie gewandt, um den unstillbaren Appetit auf afrikanische Inhalte zu stillen. Nicht immer auf Kosten des Kinos: Silverbird Entertainment hat Multiplex-Kinos in Einkaufszentren wiedereingeführt und war damit sehr erfolgreich. Es gibt Hinweise darauf, dass weitere Betreiber diesem Beispiel folgen werden und die Zahl der Leinwände wieder steigt. Aber es gibt nur lächerliche acht Kinos – in einem Land von 150 Millionen Einwohnern –, in denen nigerianische Filmproduzenten neue Filme vorführen können. Fünf davon befinden sich in Lagos, in vielen Großstädten gibt es nicht ein einziges Kino. Alle existierenden Kinos operieren als amerikanisches franchise, weshalb die attraktivsten Spielzeiten und Kinosäle Hollywoodfilmen vorbehalten sind, während Nollywoodproduktionen dazu genutzt werden, tote Zeit zu füllen. Und um die Sache noch schlimmer zu machen, erhalten nigerianische Filmemacher weniger als 30 Prozent der Einnahmen an ihren Filmen aus den Kinokassen; ein Trend, der bald behoben werden muss, wenn die nigerianische Filmproduktion überleben soll.

»Der nigerianische Filmemacher ist ein Realist«

Eine Kinovorführung ist eine lohnendere Erfahrung als der weit verbreitete Heimvideokonsum, weil sie eine geteilte Erfahrung ist. Sie ist eine Übereinkunft, sich an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit zu treffen, um eine gemeinsame Erfahrung zu machen. Keine zwei Kinovorführungen gleichen einander. Die Reaktion des Publikums variiert von Ort zu Ort. 2001 habe ich das Modell des mobile cinema begründet, um das Kino zu seiner Zuschauerschaft zu bringen. Eben weil selbst in den Städten ein Mangel an Kinos besteht, schien es mir dringlich, mich mit einem Kinobus auf die Reise zu begeben – bepackt mit einem digitalen Projektor, Soundequipment und einem Stromgenerator; mit Technik, die rasch an öffentlichen Orten, auf Dorfplätzen und Unicampussen aufgebaut werden kann. Wir haben John Ribers Yellow Card in fünfzig Gymnasien in Lagos State gezeigt, und unseren letzten Film, Arugbá, in allen Bundestaaten des Landes. Manchmal ergibt sich dabei die Gelegenheit, auch mit ländlichen Zuschauern ins Gespräch zu kommen, die ansonsten schwer zu erreichen wären. Wie denken Sie über das Interesse europäischer und amerikanischer Kinoprogrammierer an den westafrikanischen Videografien? Film ist ein universelles Medium und wird von Geschichten getragen, die überall verbreitet und bekannt sind. Ich war zunächst etwas besorgt, wie die kärglichen production values aufgenommen würden und habe mit Erleichterung erfahren, dass die ausländische Wahrnehmung von vorsichtiger Neugierde zu tatsächlicher Wertschätzung des afrikanischen Kinos in seiner ganzen Bandbreite übergegangen ist. Werden Ihre Filme auf den großen afrikanischen Filmfestivals gezeigt? Meine Filme liefen auf diversen afrikanischen Festivals, auch auf dem beliebten FESPACO. Verständlicherweise reagiert das FESPACO als im Grunde frankophone Institution nur langsam und zögerlich auf die technologischen und filmkulturellen Umbrüche insbesondere im Bereich der neuen, digitalen Medien. Business gehört zu Nollywood, und es ermöglicht eine Variationsbreite, die an den Kinokassen mit Hollywood konkurrieren kann. Beim FESPACO rümpft man darüber die Nase. Was dieses spezielle koloniale Überbleibsel betrifft, erwarte ich keine Kehrtwende vonseiten des FESPACO, aber es gibt ja Alternativen in Südafrika und anderswo. Früher war ich aufgeregt über jede Ausgabe des FESPACO und sah es als eine Art Pilgerfahrt für Liebhaber des afrikanischen Kinos. Heute, zum ersten Mal seit vielleicht zwölf Jahren, will sich keine Vorfreude mehr einstellen.

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Tunde Kelani im Gespräch

Was denken Sie über die – mehrheitlich frankophone – »Zelluloidtradition«, von Ousmane Sembène über Souleymane Cissé bis zu Abderrahmane Sissako? War dieses Kino überhaupt verfügbar für Sie? Es hat mich sehr überrascht als ich vor kurzem erfuhr, dass es eine Art Novum war, als Sembène einen seiner frühen Filme auf Wolof drehte. YorubaFilmemacher habe immer in ihrer Sprache und Kultur gearbeitet, dafür waren ihre Filme aber auch kaum über ihren Kulturkreis hinaus bekannt. Ich bin Sembènes Filmen zum ersten Mal in den späten 1970er Jahren begegnet, als ich Student an der London Film School war; zu einer Zeit also, da Nigeria in Diskussionen zum afrikanischen Kino kaum je Erwähnung fand. Damals sah ich Sembènes Mandabi und später Xala, und fand sie sehr verschieden von den Yoruba-Filmen, die ich kannte. Diese wollen unterhalten und moralisieren, jene sind an sozialer und politischer Bewusstseinsbildung interessiert. Ich ziehe die Yoruba-Tradition vor, die mir mehr sagt im Hinblick auf mein Verständnis von Freiheit. Würden Sie uns einen ungefähren Eindruck vom Entstehungsprozess eines Nollywoodfilms geben? Ich habe manchmal finanzielle Unterstützung von der nigerianischen Regierung und auch vom französischen Kulturministerium erhalten, muss meine Mittel aber für gewöhnlich selbst auftreiben. Im Low-Budget-Bereich überschneiden sich die Rollen und die Entscheidungsfindung verläuft schneller. Ich bewahre mir sehr viel kreative Freiheit, da ich mich einmal entschieden habe, mich nicht kurzfristig am Bedarf des Marktes zu orientieren, sondern mehr Persönliches in meine Regie einfließen zu lassen, damit meine Filme auf längere Sicht aus der Masse herausragen werden. Meine Drehbücher schreibe ich nicht selbst, aber meine Zusammenarbeit mit Autoren hat sich bewährt. Im Laufe der Zeit habe ich ein Verhältnis zu den Autoren gefunden, dass für alle Beteiligten funktioniert. Egal welche Form meine Beteiligung am Buch annimmt, müssen sich die eigentlichen Autoren nie die screen credits mit mir teilen. Kürzlich haben Sie via facebook zur Teilnahme an einer Antipiraterie-Kundgebung aufgerufen, mit dem Argument, dass Piraterie eine ernstliche Bedrohung für das Wachstum der nigerianischen Filmindustrie darstelle. Gleichzeitig machen Sie einige ihrer früheren Filme auf Ihrem YouTube-Kanal frei zugänglich. Piraterie wirkt zersetzend auf die nigerianische Filmindustrie und führt zu De-investition. Sie schneidet auch die Filmemacher von ihrem Publikum ab. Die DVD/CD-Veröffentlichung von Maami, einem vor zwei Jahren fertigge-

»Der nigerianische Filmemacher ist ein Realist«

stellten Film von mir, verlief aufgrund unkontrollierter Piraterie im Sand, obwohl der Film sehr beliebt war. Es gehört zu den Freuden des Filmemachens, eine Geschichte mit einem großen Publikum zu teilen und dann das nächste Projekt anzugehen. Aber wenn uns die Einnahmequellen aus dem letzten Film abgeschnitten werden, macht es große Schwierigkeiten, das Budget für den nächsten aufzustellen. Der Krieg gegen die Filmemacher setzt sich online fort. Unsere Filme werden auf Websites hochgeladen. Wir haben zwei Jahre lang einen Rechtsstreit geführt, um solche Seiten vom Netz zu nehmen, und haben gleichzeitig unser Archiv auf YouTube geöffnet. Sembène hat einmal gesagt, das Kino sei die Abendschule der Afrikaner, wobei ihm ein politisch engagiertes, vielleicht sogar radikales Kino vorschwebte, dass zur politischen Bewusstwerdung der breiten Bevölkerung beitragen sollte. Inwiefern ist Nollywood dieses Kino? Und inwiefern ist es das nicht? Nollywood muss alleine, ohne den Luxus der Filmförderung, auf dem freien Markt zurechtkommen. Jeder Film ist eine riskante Anlage in einer instabilen Ökonomie, ohne Garantie auf Amortisierung. Alles dreht sich ums Überleben, weshalb Filmemacher generell zu Vorsicht tendieren und vor politischen Themen zurückschrecken. Aber vielleicht ist es doch zu früh, die afrikanische Demokratie für gescheitert zu erklären – oder die Frage zu stellen: »Ist dies das Afrika unserer Träume?« Sembène war Idealist, der nigerianische Filmemacher ist eindeutig Realist. Was sind Ihre Hoffnungen für die Zukunft Nollywoods (oder des »Alternative Nollywood«, wie Sie es nennen)? Auch nach zwanzig euphorischen Jahren steckt die nigerianische Filmindustrie nach wie vor in den Kinderschuhen. Sie sieht sich mit ernsthaften Problemen konfrontiert, die einer Lösung harren. Um ihr Potenzial voll auszuschöpfen, wäre eine umfassende Umstrukturierung notwendig, vor allem in Sachen Ausbildung und Infrastruktur. Die Regierung konzentriert ihre Aufmerksamkeit auf Öl und Gas und vernachlässigt die Kreativindustrie: Nollywood is our next oil and gas. Gespräch und Übersetzung: Nikolaus Perneczky

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IV. Philippinen

Schichtungen defizitärer Bilder Anmerkungen zu einigen Filmen von Khavn, Lav Diaz und Raya Martin Lukas Foerster

In seinem Film Manila in the Fangs of Darkness (Maynila sa mga pangil ng dilim, 2008) greift Khavn de la Cruz, enfant terrible des jungen philippinischen Films, einen der größten Klassiker des philippinischen Kinos wieder auf: In Lino Brockas Manila in the Claws of Neon (Maynila: Sa mga kuko ng liwanag), entstanden 1974, zu einer Zeit, in der der Staatsterror der von Ferdinand Marcos geführten Militärdiktatur ihren Höhepunkt erreichte, suchte ein junger Mann aus der Provinz im urbanen Dschungel Manilas seine Geliebte Ligaya, die von brutalen Menschenhändlern verschleppt worden war. In Khavns Film nimmt vielleicht dieselbe Figur, auf jeden Fall aber derselbe Schauspieler, die Suche ein weiteres Mal auf. Der gut dreißig Jahre gealterte, kaum mehr wiederzuerkennende Bembol Roco stolpert durch das moderne, von der unbarmherzigen Digitalkamera Khavns ins denkbar unschmeichelhafteste Licht gerückte Manila der Gegenwart. Während er sich Ligaya nähert, dringen in den Film Schnipsel und Szenen aus alten Filmen Rocos ein, nicht als subjektivierte Erinnerungen, sondern als textuelle Störmomente. Aus Manila in the Claws of Neon stammen einige der Schnipsel natürlich, aber zum Beispiel auch aus Brockas ergreifendem Spätwerk Orapronobis (1989), in dem Roco den psychotischen Major Contra spielte, innerhalb der fiktionalen Welt Brockas vom Unterdrückten zum Unterdrücker geworden war. Trotz dieser biografischen Spur in die Filmgeschichte stiftet Khavns Film in seiner Schichtung defizitärer Bilder, seiner Konfrontation der hässlichen consumer-video-Gegenwart mit von alten Videobändern gezogenen Vergangenheitsfragmenten gerade keine Kontinuitäten – außer solche der puren Destruktion: von Körpern, Materie, Bildern, Sinnzusammenhängen. Khavn sucht nicht nach dem Ursprung des gegenwärtigen Elends, er sampelt die Rückstände einer elenden Vergangenheit in der elenden Gegenwart. Geschichte birgt der Film gerade aus den Fehlern, aus Rauschen und Knacken, aus Flirren und

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falschen Farbwerten, aus ungenauen Anschlüssen und korrupten Parallelmontagen. Filmgeschichtspolitisch könnte man Khavns Film als den Versuch einer strukturierten Desynchronisierung beschreiben. Der Film bemächtigt sich der Filmgeschichte seines Landes in einem fast schon aggressiven Akt und er schreibt mit ihrer Hilfe die philippinische Nationalgeschichte fort im Sinne einer Geschichte der Gewalt, die sich wie von selbst, in Form von Kurzschlüssen und Übersprungshandlungen (und also ohne dass man sie auf individuelles Handeln verkürzen könnte) aus der Vergangenheit in die Gegenwart überträgt. Was den Film, vielleicht vor allem anderen, von den von ihm kannibalisierten Brocka-Filmen unterscheidet, wäre dann sein Bezug zur Zukunft: Denn während Brockas Filme stets auf Veränderung hin entworfen waren, auf ein erwachendes kollektives Selbstbewusstsein, das sich idealerweise nach dem Ende des Films im Leben fortsetzen sollte, gibt es in den Filmen Khavns (nicht nur in diesem) kein Außen, keinen Handlungshorizont, der über die Filme selbst und ihre zirkuläre Struktur hinausweisen würde. Die Zukunft ist für dieses Kino nicht mehr verfügbar, zumindest nicht als Perspektivierung politischer Handlungen. Viele Filme des Neuen Philippinischen Kinos, das in den letzten zehn Jahren vor allem auf internationalen Filmfestivals reüssierte, zeichnen sich durch ein derartiges »doppeltes Geschichtsbewusststein« aus. Die philippinische Nationalgeschichte, von der dreifachen Kolonisierung (durch Spanien, die USA und Japan) über die Marcos-Diktatur bis in die weitgehend unversöhnte Gegenwart, ist ein zentrales Thema dieser neuen Filme; und ein wichtiger Zugang zu dieser Nationalgeschichte stellt die Geschichte des Kinos dar, in erster Linie – aber nicht nur – die des philippinischen. Die einzelnen Filme entwickeln dabei sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, wie solch ein Zugang zu denken ist. Die interessanteren (zu denen Manila in the Fangs of Darkness zählt) nutzen die Filmgeschichte – und damit gewissermaßen ihre eigene Vergangenheit, ihr Bewusstsein von der eigenen Geschichtlichkeit – nicht als bloße Abkürzung, als eine Art Fenster, das sich auf die Geschichte hin öffnen lässt, durch das hindurch man ohne weitere Rekonstruktionsleistung Zugriff auf eine Vergangenheit hätte, der dann wiederum Handlungsanweisungen – oder zumindest Lektionen – für die Gegenwart zu entnehmen wären. Statt dessen resultiert der Umweg über die Filmgeschichte in diesen Filmen gerade in Problematisierungen, wenn nicht sogar in Blockierungen des historiografischen Blicks, der immer zuerst auf seine epistemologischen Voraussetzungen befragt werden muss. Das philippinische Kino war und ist eines der reichhaltigsten seiner Region, wenn nicht ganz Asiens. Es erscheint – erst recht an dieser Stelle – unmöglich, alle Spuren nachzuzeichnen, die die Filme der Gegenwart mit denen der Vergangenheit verbindet. Die nachfolgenden Überlegungen bleiben also notwendigerweise bruchstückhaft, beschäftigen sich nur mit einem kleinen

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Ausschnitt der philippinischen Filmgeschichte und auch nur mit einem kleinen Ausschnitt des philippinischen Gegenwartskinos. Was die Gegenwart angeht, bleiben so zentrale Autorenpositionen wie die Brillante Mendozas (dessen Filme sich in ihrer absoluten Insistenz auf den konkreten Moment der Aufnahme gewissermaßen maximal weit von allen historiografischen Diskursen entfernen) ebenso ausgespart wie das zeitgenössische kommerzielle Filmschaffen. Außerdem fallen viele philippinische Regisseure der Vergangenheit – und sogar ganze Epochen der philippinischen Filmgeschichte, unter anderem das »erste goldene Zeitalter« des philippinischen Kinos in den 1950er-Jahren – unter den Tisch, obwohl auch sie für viele junge Regisseure wichtige Referenzen darstellen. Hier kann es nicht darum gehen, die Geschichtlichkeit des philippinischen Kinos als Ganzes darzustellen. Statt dessen möchte ich mich dem spezifischen Modus dieser Geschichtlichkeit anhand von Beispielen nähern, die nicht aufgrund ihrer Repräsentativität ausgewählt sind, sondern fast im Gegenteil aufgrund der Radikalität, mit der sich in ihnen eher randständige (film-)geschichtspolitische Positionen formulieren. Zuerst werde ich zwei Stränge unterscheiden, die das gegenwärtige philippinische Kino mit seiner Vergangenheit verbinden und die man an Werk und Biografie zweier Regisseure festmachen kann: Der eine Strang ist verbunden mit dem Namen Lino Brocka, der andere mit dem Namen Kidlat Tahimik. Im Anschluss werde ich Lav Diaz und Raya Martin, die beiden vielleicht ambitioniertesten unter jenen Regisseuren des philippinischen Gegenwartskinos, die sich mit dem Verhältnis von Film- und Realgeschichte beschäftigen, vorstellen.

R ÜCKBLENDE 1: L INO B ROCK A Lino Brocka, geboren 1939, stammte aus einfachen Verhältnissen, sein Vater, ein Fischer, wurde ermordet, als er sechs Jahre alt war. In den 1960er-Jahren, nach einem abgebrochenen Studium, konvertierte Brocka kurzfristig zum Mormonentum und arbeitete als Missionar in Hawaii, später zog er völlig verarmt nach San Francisco, wo er teilweise auf der Straße lebte. 1968 kehrte er nach Manila zurück und begann eine Karriere in der Unterhaltungsindustrie: Zuerst trat er der Philippine Educational Theater Association (PETA) bei, nach einigen Arbeiten für die Bühne konnte er 1970 seinen ersten Film realisieren: Wanted: Perfect Mother, ein Melodram mit Bezügen zu The Sound of Music (1965). Bis zu seinem Tod in einem Autounfall am 22. Mai 1991, um den sich bis heute Verschwörungstheorien ranken, folgten über 60 weitere Regiearbeiten. Während seiner gesamten Karriere verstand sich Brocka als ein aktivistischer Künstler. Als offen schwuler Mann kämpfte er gegen die Diskriminierung Homosexueller, als Bürger eines zwischen 1972 und 1986

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totalitaristisch geführten (und sowohl davor wie auch danach kaum einmal im engeren Sinne demokratisch regierten) Landes bezog er gegen den Diktator Ferdinand Marcos Position, insbesondere als Gründer der Organisation Concerned Artists of the Philippines (CAP). Obwohl Brocka 1974 seine eigene Produktionsfirma Cinemanila gründete, blieb die Form seiner Filme stets dem populären Kino seines Heimatlandes verhaftet: Die meisten Brocka-Filme sind klassische Melodramen, daneben entstanden eine Handvoll Komödien und Thriller sowie mindestens ein Horrorfilm. Brocka gehörte in den 1970er-Jahren zu den ersten Regisseuren, die von der europäischen und amerikanischen Cinephilie entdeckt wurden, Insiang, gedreht 1976, war zwei Jahre später der erste philippinische Film, der auf den internationalen Filmfestspielen von Cannes gezeigt wurde. Einige Jahre lang galt Brocka als ein zentraler Regisseur des damals noch so genannten Dritten Kinos. Auch in Gilles Deleuzes Kino 2 findet er Erwähnung, allerdings nur im Vorbeigehen, im Kapitel über das politische Kino und das »fehlende Volk«: »In Asien begegnet man im Werk Brockas unterhalb des Mythos ebenfalls der Unmittelbarkeit des rohen Triebes und der sozialen Gewalt, da der Trieb im gleichen Maß ›kulturell‹ wie die Gewalt ›natürlich‹ ist.« Heute ist der Regisseur weitgehend vergessen, was nicht zuletzt dem katastrophalen Überlieferungszustand seines Werks geschuldet sein dürfte. Und das bisschen an Erinnerung, das geblieben ist, zeichnet ein seltsam reduktives Bild seiner Karriere. Nach dieser dominanten Lesart habe Brocka lediglich eine Handvoll, je nach Zählart sechs bis zehn, wirklich relevante Filme gemacht, all die anderen habe er nur heruntergekurbelt, um diese wenigen Meisterwerke des sozial engagierten Kinos finanzieren zu können. Der Kanon des BrockaWerks wäre dann schnell aufgezählt: You Have Been Weighed and Found Wanting (Tinimbang ka ngunit kulang, 1974), Manila in the Claws of Neon, Insiang, Bona (1982), Bayan ko: My Own Country (1984), Orapronobis (1989), bei großzügigerer Betrachtung auch noch Jaguar (1979), Macho Dancer (1988), Gumapang ka sa lusak (1990) und A Plea of God (Makiusap sa diyos, 1991). Diese Filme tauchen nicht nur in der Literatur häufiger auf als die übrigen, sie sind auch auf andere Weise verfügbar: Sie wurden auf europäischen Festivals aufgeführt, einige Kopien wanderten anschließend in europäische Archive. Auch die wenigen Brocka-Retrospektiven, wie zum Beispiel die im Rahmen der Viennale 2009, orientieren sich weitgehend an dieser Auswahl. Die übrigen Filme sind höchstens als philippinische und meist nicht untertitelte VHS-, VCD- oder DVD-Kopien greifbar. Einer genaueren Auseinandersetzung mit dem Werk hält ein derartiges Narrativ höchstens teilweise stand. Die Aufteilung der Filmografie in eine Handvoll politisch relevanter Meisterwerke auf der einen und eine Masse rein kommerzieller Ausstoßware auf der anderen Seite hat zwar insofern ihre Berechtigung, als sie bis zu einem gewissen Grad die Realität der Industrie, in

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der sich der Regisseur bewegte, widerspiegelt und auch mit der Eigenwahrnehmung Brockas konform geht (zumindest äußert sich der Regisseur in Christian Blackwoods Dokumentarfilm Signed: Lino Brocka (1987) entsprechend), in die Filme selbst kann man derartige Unterscheidungen aber nicht ohne weiteres eintragen. Einerseits, weil die Filme auf beiden Seiten dieser vermeintlichen Demarkationslinie in stilistischer Hinsicht sehr heterogen sind, andererseits, weil es zahlreiche erzählerische, stilistische, thematische und motivische Kontinuitäten gibt, die das gesamte Werk zusammenhalten. Immer wieder tauchen einzelne Figuren und Figurenkonstellationen aus den »ernsten« Filmen auch in den kommerziellen Arbeiten auf: die Mutter aus Insiang etwa in nur wenig abgewandelter Form in Stardoom (1971) und Mother, Sister, Daughter (Ina, kapatid, anak, 1979). Hilda Koronel wiederum nahm wesentliche Aspekte ihrer Titelrolle in Insiang – als aufsässige Tochter – sowohl wiederum in Stardoom als auch in Three, Two, One (Tatlo, dalawa, isa, 1974) vorweg. Die unbeschäftigt vor Wellblechhütten herumhängenden jungen Männer sind ohnehin im gesamten Werk allgegenwärtig – in ihrer zumeist unheilvollen Präsenz kann man sehr präzise die »Unmittelbarkeit des rohen Triebes und der sozialen Gewalt« verorten, die man mit Deleuze »unterhalb des Mythos« und eben auch unterhalb der Unterscheidung zwischen kommerziellem Erzählkino und »ernst gemeintem« Agitprop ansiedeln kann. Die Verbindungslinien innerhalb des Werkes sind auf der basalen Ebene des Genres möglicherweise am offensichtlichsten. Fast alle Filme Brockas sind zumindest auch, siehe oben, Melodramen, genauer: Familienmelodramen. Die Familie fungiert Film für Film als zentrale Unterdrückungsinstanz und ist grundsätzlich weiblich gedacht, die zentrale Abwesenheit ist fast immer die des Vaters – es liegt nahe, diese Leerstelle mit der Allgegenwart des Diktators Marcos, des »Vaters der Nation«, dessen Porträt während der Diktatur in jedem Klassenzimmer des Landes ausgestellt war, in Verbindung zu bringen. In diesem Sinne trägt sich das zentrale Drama der philippinischen Zeitgeschichte fast von selbst in die Strukturen des Familienmelos ein. Die populären narrativen Formen, in die auch die »ernsten« Filme gefasst sind, unterlaufen Brocka nicht einfach. Sie sind seiner Ästhetik gerade als politischer konstitutiv; darauf verweist auch wiederum Deleuze: …findet sich der Filmemacher der Dritten Welt oftmals einer analphabetischen Öffentlichkeit gegenüber, die von amerikanischen, ägyptischen oder indischen Serien sowie von Karatefilmen gesättigt ist; gerade da muss er hindurch, und gerade diesen Stoff gilt es zu bearbeiten, um daraus die Elemente eines Volkes zu gewinnen, das noch fehlt (Lino Brocka).

Das Argument greift auch dann noch, wenn man sich die Arroganz der Formulierung wegdenkt (im Sinne der komplementären Arroganz eines Werner

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Herzog: »Someone like Jean-Luc Godard is for me intellectual counterfeit money when compared to a good kung fu film«). Der Name Lino Brocka steht für ein Filmschaffen, das seine politische Wirkungsmacht aus dem Formenreichtum des populären Kinos gewinnt – und auch aus der Popularität des Kinos selbst. Denn nur solange, wie das Kino für einen signifikanten Teil der Bevölkerung ein wichtiger sozialer Kristallisationspunkt bleibt, solange, wie es sich als ein bestimmendes Element eines kulturellen – auch im Gegensatz zu: subkulturellen – Raums versteht und verstehen kann (der hier zwar eindeutig ein nationalstaatlicher ist, aber, wie die Eingemeindung Brockas in das Dritte Kino zeigt, prinzipiell kompatibel mit internationalistischer Rhetorik bleibt), nur solange können Regisseure wie Brocka darauf hoffen, das »fehlende Volk« aus den Bruchstücken der populären Imagination zu synthetisieren. Das vielleicht wichtigste Element dieser Synthese sind die Akte der Selbstermächtigung und Selbst-Individuierung, die Gesten der Emanzipation, auf die seine Filme immer wieder hinauslaufen. Brocka steht nicht nur für einen Produktionsmodus, sondern für ein Kino, dessen Bilder dreifach überdeterminiert sind: narrativ durch die Genreregeln, denen sie sich fügen, politisch durch die Orientierung an emanzipativen Idealen und kommunikationstheoretisch durch ihre unbedingte Ausrichtung auf ein Massenpublikum, das als Ersatz für eine Öffentlichkeit im Sinne Arendts gedacht wird.

R ÜCKBLENDE 2: K IDL AT T AHIMIK Es gibt noch eine andere Geschichte des politischen Kinos der Philippinen. Und während Brocka in einer langen Traditionslinie lediglich ein zentraler Impulsgeber war, der gleichwohl aber auf Vorarbeiten einer seit den 1950er-Jahren sehr reichhaltigen und vielfältigen Filmszene auf bauen konnte, lässt sich der Beginn dieser anderen Geschichte sehr viel genauer datieren: Auf das Jahr 1977, in dem Kidlat Tahimik seinen ersten Film The Perfumed Nightmare (Mababangong bangungot) drehte. Kidlat Tahimik kam 1942 als Eric de Guia auf die Welt, nur drei Jahre nach Lino Brocka. Seine Filme aber scheinen einer ganz anderen Zeit zu entstammen. Auch Tahimik lebte in den 1960er-Jahren zeitweise in den USA, an der Wharton School of Business der University of Pennsylvania legte er einen Master in Betriebswirtschaftslehre ab. Von 1968 bis 1972 arbeitete er in Paris für die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). 1974 hatte er eine kleine Rolle in Werner Herzogs Jeder für sich und Gott gegen alle. Seine nachfolgende Karriere als Filmregisseur verlief vollständig außerhalb der kommerziellen Filmindustrie der Philippinen. Von Anfang an fand er sein (eng begrenztes) Publikum eher auf europäischen

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Filmfestivals als in der Heimat. Auf The Perfumed Nightmare (dem Frederic Jameson in seinem einflussreichen Band The Geopolitical Aesthetics ein Kapitel widmete) folgten zwei weitere Langfilme – Moonbuggy (Sinong lumikha ng yoyo? Sinong lumikha ng moon buggy?, 1979) und Turumba (1983) – danach entstanden nur noch wenige, meist kürzere, dokumentarische Arbeiten, die auch vom Festivalbetrieb kaum wahrgenommen wurden – eine 2011 vom südkoreanischen Jeonju International Film Festival programmierte Komplettretrospektive könnte ein Anfang gewesen sein, dies zu ändern. Bislang jedoch sind Tahimiks Filme bis auf The Perfumed Nightmare und Turumba faktisch unsichtbar. Tahimiks erster Film sucht den radikalen Bruch mit dem populären Kino der Philippinen schon auf der Materialebene: The Perfumed Nightmare ist auf 8mm-Material gedreht (die späteren, kaum gezeigten Filme sind fast ausschließlich Videoarbeiten). Im Film geht es um den Jeepney-Fahrer Kidlat, eine Art Alter Ego des Regisseurs, der von Amerika träumt und ein enthusiastischer Fan des Raumfahrtpioniers Wernher von Braun ist. Kidlat bekommt aus heiterem Himmel das Angebot, nach Europa zu fliegen, der zweite Filmabschnitt spielt in Paris, Kidlat befüllt Kaugummiautomaten und lernt den Konsumkapitalismus von dessen Unterseite her kennen, die schon vorher kaum an raumzeitlicher oder handlungslogischer Kohärenz orientierte Erzählung löst sich endgültig in das Nebeneinander disparater Bild- und Zeichensysteme auf. Als politischer Film spricht The Perfumed Nightmare über die prekäre Stellung eines philippinischen Tagelöhners im globalen Wirtschaftsraum. Die Odyssee des Jeepney-Fahrers ist gleichzeitig ein frühes Manifest der Globalisierungskritik und ein Pionierwerk des globalisierten Kunstkinos. Kidlat Tahimiks Werk kann, gerade in dieser absurden Konstellation, einstehen für die Potenziale und Beschränkungen des politischen Filmschaffens in der postkinematografischen Ära. Tahimiks Filme nehmen in ihrer hybriden, nicht mehr an geteilten kulturellen Mustern orientierten Form die problematischen Rezeptionsvoraussetzungen vorweg, mit denen sich die künstlerisch und politisch ambitionierten Regisseure auf den Philippinen und in vergleichbaren Ländern heute konfrontiert sehen. Die Autorenfilmer Südostasiens (aber auch zum Beispiel die Westafrikas) agieren auf einem spezialisierten internationalen Markt, der keinerlei Kontinuität mit dem Kinobetrieb ihrer Heimatländer aufweist und auf dem dennoch »regionale Spezifik« hoch gehandelt wird. Übersprungen wird dabei der Nationalstaat und zwar gleich dreifach: als Thema, als Absatzmarkt, als filmhistoriografische Ordnungskategorie. Wenn ein Regisseur wie Tahimik in der philippinischen Filmgeschichtsschreibung vernachlässigt wird, dann hat das auch etwas damit zu tun, dass sein Kino gewissermaßen bereits post-nationalkinematografisch ist; gleichzeitig ist aber der Internationalismus, von dem das Dritte Kino auch eher geträumt hatte, als dass es ihn je realisiert hätte, selbst noch als Utopie verschwunden.

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In gewisser Weise war Tahimik also ein Pionier des heutigen world cinema, ihm selbst gelang es jedoch noch nicht, aus seiner eigenen Randständigkeit ein (und sei es auch noch so prekäres) Geschäftsmodell zu machen. Sein erster Film gibt eine Ahnung davon, warum. Die Markierungen des Lokalen, Partikularen treten in The Perfumed Nightmare noch völlig unvermittelt in Kontakt mit der Sphäre der globalisierten Zeichenproduktion, der Film sucht nicht nach Möglichkeiten der Koexistenz, er will die Konfrontation. Turumba, Tahimiks dritter und bislang letzter Spielfilm, kann dann schon als bitterer, desillusionierter Kommentar zu den Fallen des neuen globalisierten Filmschaffens in der Peripherie gelesen werden: In ihm wird ein anderes philippinisches Dorf an den Weltmarkt angeschlossen, produziert sein traditionelles Kunsthandwerk fortan ausschließlich für einen bayrischen Großhändler und gerät dabei gehörig unter die Räder.

E IN AUSGESCHL AGENES E RBE ? Lino Brocka war in den 1970er- und 1980er-Jahren nicht nur ein bedeutender Filmregisseur, sondern der vielleicht wichtigste und international bekannteste philippinische Künstler überhaupt, Kidlat Tahimik dagegen war ein Außenseiter ohne jedes Verhältnis zu den dominanten Diskursen der Zeit. Dennoch hat sich, historisch betrachtet, die »Option Tahimik« gegen die »Option Brocka« durchgesetzt. Tahimik wurde zum Paten eines neuen philippinischen Kinos, das sich nicht länger als der bestimmende Teil der Populärkultur im engeren Sinne versteht. In einem gemeinsam mit Khavn de la Cruz, Lav Diaz und Kidlat Tahimik geführten, im Katalog des Wiener Filmfestivals Viennale 2009 abgedruckten Gespräch bezieht sich Raya Martin direkt auf sein Verhältnis zu Brocka: »Unsere Filme werden insofern verglichen, als ich ebenfalls über Nationalismus und Geschichte rede. In Brockas Filmen geht es wie bei mir sehr stark um gesellschaftspolitische Themen. Aber ästhetisch sehen mich viele als Anti-Brocka, weil ich keine Filme über Slums, Armut und Korruption mache. Unterentwickelt und rückständig, so werden die Philippinen auf den Festivals fälschlich dargestellt. Es ist das Erbe Brockas, wenn man so will. Im Guten wie im Schlechten. […] Er richtete sein Augenmerk auf das, was in der Gegenwart passierte, seiner Gegenwart. […] Als Filmemacher wollte ich zurückverfolgen, warum wir sind, was wir sind, bevor ich etwas anderes aufgriff. Ich will nicht in Brockas Fußstapfen treten, weil wir das momentan nicht brauchen. Wovon wir wieder mehr brauchen, ist Brockas Geist, nicht seine Ästhetik.«

Ironischerweise manifestiert sich für Martin das Erbe Brockas als filmästhetisches heute ausgerechnet im Festivalbetrieb, also in einem Produktions- und

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Distributionszusammenhang, der für den älteren Regisseur höchstens insoweit interessant war, als er sich durch Erfolge in Cannes politischen Verhandlungsspielraum in seiner Heimat erarbeiten konnte. Martins Neuperspektivierung der Brocka’schen Ästhetik zeugt davon, dass sich das Koordinatensystem, in dem sich philippinische Regisseure bewegen, seit den 1970er- und 1980erJahren grundlegend verschoben hat. Noch deutlicher als anhand von Martins Werk (siehe unten) kann man diese Verschiebung anhand von dem seines Mitstreiters Lav Diaz nachvollziehen.

L AV D IA Z : M ÄRT YRER IN EIGENER S ACHE Wie Tahimik und Brocka lebte auch Lav Diaz einige Jahre lang im Ausland; in den 1990er-Jahren zog er, nachdem er vorher auf den Philippinen hauptsächlich als Journalist gearbeitet hatte, nach New Jersey, auch er kehrte schließlich in sein Heimatland zurück. Anders als die meisten anderen Regisseure des neuen philippinischen Kinos begann Diaz seine Filmkarriere innerhalb der lokalen Filmindustrie. Und zumindest zwei der vier Filme, die er als Teil des Studiosystems gedreht hatte, kann man als Versuche lesen, an die politische Ästhetik Lino Brockas anzuschließen: The Criminal of Barrio Concepcion (Serafin Geronimo: Ang kriminal ng Baryo Concepcion, 1998) und Jesus the Revolutionary (Hesus, rebolusyunaryo, 2002). The Criminal of Barrio Concepcion, sein erster veröffentlichter Film überhaupt ist im Kern, wie viele andere Diaz-Arbeiten, ein Traumafilm. Es geht um eine Terrororganisation, die eine Politikergattin und deren Tochter entführt. Erzählt wird das aus der Perspektive des einzigen überlebenden Terroristen, der seine Geschichte einer Journalistin anvertraut. Der psychotische Anführer der Terroristen hat Ähnlichkeiten mit Kommander Contra aus Brockas Orapronobis. The Criminal of Barrio Concepcion ist ein Film mit Stars, melodramatischen Elementen, verhältnismäßig hoher Erzählgeschwindigkeit und einer recht aufdringlichen Tonspur – kurzum: in technischer Hinsicht ein typisches Produkt der philippinischen Filmindustrie, ein Film, der den Versuch unternimmt, seinen politischen Inhalt in eine von den Produktionsumständen vorgegebene Form zu kleiden. Schon dieses Frühwerk jedoch weist in eine Richtung, die wenig zu tun hat mit dem filmästhetischen Aktivismus Brockas. Man kann das bereits an der Körperlichkeit der Hauptfigur ablesen: Gleich am Anfang des Films sitzt Serafin Geronimo, die Hauptfigur, auf einer Wiese, wie gelähmt, wie herausgefallen aus den Bewegungsdynamiken des Alltags und muss zur Ordnung gerufen werden, zur Feldarbeit. Im Film sitzt er dann immer wieder regungslos da, oft blickt er nach unten, auf den Boden, gelegentlich nach oben, in den Himmel, auch wenn er geradeaus schaut, kann er seinen Blick nicht in

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Bewegung übersetzen. Statt dessen verkrümmt ihn die Welt, schief steht er in ihr herum, wenn er sich doch rührt, dann nicht, weil er sich die Welt in der Bewegung Untertan machen will, eher verformt ihn die Welt (und noch mehr: die Vergangenheit), drückt ihn zu Boden, verleitet ihn zu kurzen, hilflosen Affektbewegungen, die immer schnell stillgestellt werden: nicht einmal der wütende Faustschlag auf den Tisch, der auf die Aufmerksamkeit anderer abzielt und somit eine soziale Geste ist, steht ihm zur Verfügung, statt dessen erstarrt er in Körperhaltungen, die auf nicht kommunizierbare Innerlichkeit verweisen. Der Film entfaltet sich über eine konventionelle Rückblendenstruktur. Doch obwohl sich die Rückblenden der geläufigen Filmgrammatik fügen, haben sie einen ähnlichen Effekt wie die experimentelleren Zeitschichtungen in Khavns Manila in the Fangs of Darkness: Die Erinnerung aktiviert nicht, sondern lähmt. In der Erzählgegenwart irren Serafin und die Journalistin durch eine nicht enden wollende Nacht und durch nicht enden wollenden Regen, jeder neue Erinnerungsschub bringt eine erneute Stillstellung, der höchstens in den Rausch, nicht aber in die Kontinuität einer Aktion im sozialen Feld zu entkommen ist. Der Film enthält auch Elemente, die in eine andere Richtung weisen; durchgängig tut dies beispielsweise die streicherlastige Musik, die auf eine emotionale Aktivierung hinaus möchte, für die die Figuren im Film genau deswegen schlichtweg keine Rezeptoren zu besitzen scheinen. Das pathosbeladene Schlussbild, das ein leeres Blatt Papier zeigt, auf dem die Journalistin ihre politische Handlungsmacht als Schreibende, als kritische Journalistin wiederzugewinnen hofft, bleibt dem emotionalen Kern des Film genauso äußerlich wie das melodramatische Happy End, das Serafin nach der Nacht des bleiernen Schreckens vergönnt ist. Was bei Brocka noch stets zusammengedacht werden konnte und musste: populäre Form und geschichtspolitische Reflexion, steht in Diaz’ Frühwerk in unbedingtem, nicht in einen dialektischen Mehrwert übersetzbaren Widerspruch zueinander. (Am späteren Jesus the Revolutionary, einem dystopischen Science-Fiction-Film, kann man dieses Auseinanderbrechen in noch einmal verschärfter Form feststellen). Aus diesem Widerspruch zog Diaz 2002 zum ersten Mal Konsequenz: Batang West Side, ein sechsstündiges, in Amerika gedrehtes Migrantenepos, markiert den Beginn einer zweiten Karriere, die komplett außerhalb filmindustrieller Zusammenhänge verläuft und ihren Platz im Festivalbetrieb – allerdings, aufgrund der Länge seiner Filme, buchstäblich an dessen Rand, in special screenings – gefunden hat. Das bisherige Hauptwerk entstand zwischen 2004 und 2012: neben einigen kürzeren Arbeiten, die eher Notizblockcharakter haben, sind das bislang sechs Filme mit Laufzeiten von sechs bis elf Stunden, die – neben vielen anderen Dingen, die in ihnen geschehen – in komplexer narrativer Struktur die philippinische Gegenwart auf ihr Verhältnis zur Geschichte befragen.

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In dem ersten (und längsten) dieser sechs Filme, Evolution of a Filipino Family (Ebolusyon ng isang pamilyang Pilipino, 2004), gibt es eine Sequenz, die Diaz’ Verhältnis zu Lino Brocka auf eindrückliche Weise verhandelt. Kadyo, eine der Hauptfiguren dieses knapp elfstündigen Familien- und Nationalepos über die Zeit der Marcos-Diktatur, wird in einer relativ späten Phase des Films angeheuert, Brocka umzubringen. Seine Auftraggeber drücken ihm eine Videokassette in die Hand, die einen (fiktionalen) Dokumentarfilm namens »The Lost Brocka« enthält: Brocka (gespielt vom Filmkritiker Gino Dormiendo) redet über seinen Kampf gegen die Zensur und andere Unterdrückungsversuche, wird außerdem bei Dreharbeiten und Pressekonferenzen gefilmt. In Brockas Ausführungen dringen außerdem historische Aufnahmen von Protesten gegen das Marcos-Regime ein, die man zunächst für einen Teil des fiktionalen Dokumentarfilms halten kann. Kadyo sieht sich diesen Film in einem trostlosen, bis auf einen kleinen Fernseher leergeräumten Abrisshaus an, gelegentlich steht er auf und läuft langsam durch die kahlen Zimmer. Nach dem Ende des Films scheint er beschlossen zu haben, dem Auftrag nicht nachzukommen. Er flieht, wird verfolgt und zwischen Passanten am Rande einer Anti-Marcos-Demonstration – die also nicht, oder zumindest nicht nur im Dokumentarfilm stattfindet – niedergestochen, schließlich stirbt er. Seinen Tod inszeniert Brocka in einer gespenstischen, fast zwanzigminütigen Sequenz, die nur aus zwei Einstellungen besteht und ohne Tonspur auskommt: Kadyo schleppt sich langsam, Meter für Meter durch eine Art Lagerhalle und bleibt schließlich regungslos am Boden liegen. In dieser Sequenz wie im gesamten Film setzt Diaz zwar einerseits Brocka und der aktivistischen Filmpraxis, für die er steht, ein Denkmal; andererseits aber schlägt er gleichzeitig das Erbe Brockas aus. Denn es gibt ein absolutes, durch keinerlei Anstrengung zu überwindendes Missverhältnis zwischen erstens der Rede des fiktionalen Brocka von einem gemeinsamen Kampf von Künstlern und »einfachem Volk« gegen die Diktatur, zweitens dem historischen Filmmaterial von Protesten und Straßenkämpfen und drittens der existenziellen Einsamkeit und Verzweiflung Kadyos. Schon auf der Ebene der Montage verunklart der Film das Verhältnis zwischen den ersten beiden Elementen dadurch, dass zunächst ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen fiktionalen und dokumentarischen Bildtypen zu bestehen scheint, dass dann aber die dokumentarischen Bilder »stehen bleiben«, wenn die Fiktion endet, dass sie sich widersetzen und von ihren Rahmungen emanzipieren. Die letzte Szene des »Dokumentarfilms«, in der Brocka sich im Namen der Filmindustrie für einen Fototermin mit »Arbeitern und Jeepney-Fahrern« solidarisieren möchte und hilflos neben einigen jungen Leuten revolutionäre Gesten ausprobiert, hat dann sogar ein Moment von Demontage, insoweit sie darauf verweist, dass schon in den 1980er-Jahren die Bindungskraft der populären Kunst nicht so groß war, wie Brocka sie sich vorgestellt hatte.

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Die Gesten, die Diaz’ Film selbst setzt, sind von ganz anderer Art. Kadyo hatte sich schon vorher fast schlafwandlerisch durch die Handlung bewegt. Der Film scheint ihn nun endgültig aus lebensweltlichen Sinnzusammenhängen herauszureißen; er spricht in der gesamten Sequenz kaum zwei Sätze, driftet ziellos, ohne jede Körperspannung durch das triste Haus. Bevor er die Unterkunft verlässt und sich auf seinen letzten Leidensweg aufmacht, gibt es eine Einstellung, die mit dem stilistischen System des Films zu brechen scheint: eine point-of-view-Aufnahme aus der Perspektive Kadyos, eine unsicher suchende Kamerabewegung, die den jetzt ausgeschalteten Fernseher streift und Kadyos Bewacher, der sich auf einem Sofa niedergelegt hat. Die Einstellung ist nicht die einzige in Evolution of a Filipino Family, die auf einen subjektiven Blick verweist, beziehungsweise an einem solchen Teil hat. Ganz im Gegenteil scheinen weite Teile des Films infiziert von Blicken, die den Anschein von Objektivität klassischer Historienfilme zerstören, von leicht verschrobenen Perspektivierungen und disharmonischen Bildkompositionen. Aber emphatische Subjektiven, die, vermittelt durch Kamerabewegungen, auf die Innerlichkeit der Blickenden verweisen, sind in Diaz’ Werk, zumindest in den neueren Filmen, eine Seltenheit, sie tauchen wenn überhaupt, so nur an neuralgischen Punkten des Gesamtgefüges auf. In diesem Fall in dem Moment, in dem Kadyo seinen persönlichen struggle, den Kampf um seine (ökonomisch) erbärmliche Existenz aufgibt und zum Märtyrer in eigener Sache wird. Interessant ist die subjektive Einstellung auch deshalb, weil sie in gewisser Weise, nämlich auf der Ebene der Filmsprache, eine Entsprechung dessen ist, was in einigen zentralen Filmen Brockas geschieht: Eine Selbstermächtigung des Protagonisten, Insiangs Emanzipation von ihren Peinigern, Jaguars finale Aggression gegen den Gangsterboss. Allerdings zielt Kadyos Ermächtigung, seine Subjektwerdung, nur noch auf das Bild, nicht mehr auf seine Stellung in der Gesellschaft. Sein eigener Leidensweg verläuft anschließend nur im direkt räumlichen Sinne parallel zum Protestmarsch des sich erhebenden Volkes, er ist aber in keiner Weise dessen Teil. Kadyos Leidensweg kann man durchaus, wie vorher den der Brocka-Heldinnen Insiang und Bona, als eine nationale Allegorie verstehen, allerdings mündet diese Allegorie nicht mehr in einer emanzipativen Selbstermächtigung, die auf die Möglichkeit kollektiven politischen Handelns verweisen könnte. Das Martyrium, das der verhinderte Brocka-Attentäter direkt im Anschluss an seine medial vermittelte Begegnung mit Brocka erleidet, bringt ihn nicht in Kontakt mit der Sphäre des Sozialen, fügt sich nicht zur politischen Aktion, es wirft ihn im Gegenteil ganz auf sich selbst zurück, ihre ungeheure emotionale Wirkung (nicht zufällig greifen viele Texte zum Film aus den elfeinhalb Stunden diese Szene heraus) gewinnen die beiden Einstellungen am Lagerhaus gerade durch die unbedingte Isolation Kadyos und durch die unbedingte Parteinahme des Films für diesen Ausgestoßenen, für den doppelten

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Außenseiter, der sich weder von der Macht, noch von der »Volksbewegung« vertreten fühlen kann. Das Kino des Lav Diaz glaubt nicht mehr an das integrative Potential von Kunst, noch viel weniger an das aufklärerische Potential von Kulturindustrie. Die verarmten Bauern interessieren sich in seinen Filmen nicht für potentiell revolutionäre Slum-Epen, statt dessen sitzen sie im Kreise der Familie vor dem Radio und hören sich gemeinsam melodramatische Seifenopern an (in Evolution of a Filipino Family gibt es auch Szenen, die die Aufzeichnung eines solchen Programms im Studio nachstellen). Es ist dies in erster Linie nicht einmal eine ideologische Kritik an der Kulturindustrie – weder die Zuhörer noch die Produzenten werden in diesen Szenen angeklagt. Eher erscheint die ewige Wiederkehr des Gleichen in diesen Programmen als eine bloße Entsprechung der kollektiven Subjektposition einer voraufgeklärten Gesellschaft unter der Herrschaft einer Militärdiktatur. Eine derart komplexe Auseinandersetzung mit dem Erbe Brockas findet sich in den folgenden Filmen des Regisseurs nicht mehr: Die interessieren sich zwar immer für Geschichte und die diversen Spuren, die sie in der Gegenwart hinterlassen hat, dabei aber auf den ersten Blick nur noch am Rande für die konkrete Filmgeschichte. Man könnte die folgenden Werke als eine Suchbewegung beschreiben, die, nach dem Ende des klassischen Kinodispositivs (oder zumindest nach dem Enttäuschen der in es gesetzten Hoffnungen), Ausschau hält nach alternativen Möglichkeiten, aus kulturellen Texten und Praktiken einen Begriff von kollektiver Subjektivität zu gewinnen. Heremias (Heremias: Unang aklat – Ang alamat ng prinsesang bayawak, 2006) begibt sich beispielsweise auf das Gebiet der Volksmythologie, Melancholia (2008) inszeniert ein kompliziertes Reenactment zwecks Traumaaufarbeitung. Wenn in Century of Birthing (Siglo ng pagluluwal, 2011) wieder ein Filmregisseur auftaucht, dann hat der sich bereits von Anfang an vom Modell Brocka verabschiedet, bewegt sich in der Peripherie des eurozentrischen Festivalbetriebs. Allerdings ist der Horizont auch in diesen Folgewerken nie der eines gemeinsamen politischen Handelns, sondern stets eben jenes Moment existenzieller Einsamkeit, auf das man auch zurückgeworfen wird, wenn man sich Diaz’ Filme ansieht: Die Imagination einer mit keinem Ganzen (des Kinos; der sozialen Gemeinschaft) mehr vermittelbaren Außenseiterposition.

R AYA M ARTIN : B ILDER STREICHELN Wo die Filmgeschichte für Lav Diaz nur einer unter mehreren Zugänge zur philippinischen (Zeit-)Geschichte ist, ist sie im Werk eines anderen, jüngeren Regisseurs die zentrale, alles durchdringende Matrix für die Auseinandersetzung mit Geschichte wie Gegenwart seines Heimatlandes. Raya Martin wurde

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1984, zwei Jahre vor dem Sturz des Diktators, geboren, hat also, anders als Diaz, die Marcos-Ära nicht mehr bewusst miterlebt. Martin studierte Filmregie an der University of the Philippines und arbeitet seit seinem Abschluss 2005 ausschließlich außerhalb filmindustrieller Zusammenhänge.

A Short Film About the Indio Nacional

Gleich 2005 drehte er seine ersten beiden Langfilme: die Dokumentation The Island at the End of the World (No pongso do tedted no mondo: Ang isla sa dulo ng mundo) und den Spielfilm A Short Film About the Indio Nacional (Maicling pelicula nañg ysañg Indio Nacional). Wie einige andere philippinische Indieregisseure ist auch Martin äußerst produktiv: Seine Filmografie enthält bereits mehr als 15 Einträge, teilweise entstehen mehrere Langfilme pro Jahr. Die meisten dieser Filme sind mit digitaler Technik gedreht und (nicht zuletzt deswegen) extrem kostengünstig produziert. Ihr Publikum finden sie fast ausschließlich auf internationalen Festivals, die – besonders wichtig ist hierbei der Rotterdamer Hubert Bals Fund – auch ihre Finanzierung übernehmen; beziehungsweise, das beschreibt die Produktionswirklichkeit dieses Kinos vielleicht besser, für Martins Lebensunterhalt aufkommen, damit er weiterhin Zeit hat, seine Filme zu drehen. Anders als Lav Diaz oder zum Beispiel auch Khavn de la Cruz hat sich Martin allerdings nicht vollständig diesen neuen Produktionsmodus angeeignet: Einige seiner Filme, vor allem A Short Film About the Indio Nacional und noch mehr Independencia (2009) sind in finanzieller Hinsicht aufwändigere Projekte – und zumindest teilweise auf 35mm gedreht. Diese beiden Filme bilden in gewisser Weise den Kern des bisherigen Werkes, von dem aus sich eine Autorenposition in (formal oft noch weitaus radikalere) Seitenarme ausdifferenziert. Martin hat die Filme als die ersten beiden Teile einer noch unvollendeten Trilogie angelegt, die sich mit den drei

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konsekutiven Kolonialisierungen der Philippinen durch Spanien, die USA und Japan, sowie mit Widerstandsbewegungen gegen die jeweiligen Kolonisatoren beschäftigen soll. Gleichzeitig lassen sich beide Filme von der Bildpraxis der dargestellten Epoche infizieren und stellen aufwändig historische Filmästhetiken nach. Und sie landen dabei nicht beim Pastiche aktueller Historienfilme aus Amerika oder Europa (die auf den ersten Blick oft einen ähnlichen Ansatz verfolgen), sondern bei einer Form, die ihre absurde Historizität stets mitkommuniziert: Die beiden Filme stellen den Versuch dar, ein Nationalkino zu reimaginieren, das es so nie gegeben hat und in den Ansätzen, die möglicherweise doch existierten, nicht überliefert ist: ein antikolonialistisches Befreiungskino unter den Bedingungen der kolonialen Unterdrückung. A Short Film of the Indio Nacional ist, wie einige andere Filme Martins, ein Diptych und beginnt, so steht zumindest, auch angesichts der Materialität der zunächst noch farbigen Bilder, zu vermuten, in der Gegenwart: Ein Mann und eine Frau liegen in einer Hütte und versuchen einzuschlafen. Die Kamera wechselt nur selten ihre Position, es dauert über zehn Minuten, bis sich etwas ereignet, das über unwillkürliche Bewegungen im Halbschlaf hinausgehen würde. Das naturalistische, tropische Rauschen auf der Tonspur fügt sich in ein gleichzeitig immersives und kontemplatives Setting. Erst nachdem der Film sich selbst und das Publikum auf diese Weise ausgiebig stillgestellt hat, fängt der Mann auf Bitten der Frau an, mit tränenerstickter Stimme eine Geschichte zu erzählen. Die erweist sich als Parabel auf den Leidensweg der philippinischen Nation. Die Intimität der Gesprächssituation kann man auch als Bild nehmen für den Adressierungsmodus aller hier besprochener philippinischen Filme: Es sind Filme wie ins Ohr geflüstert, nachts, kurz vor dem Einschlafen, in der Einsamkeit – oder eben: Zweisamkeit – des eigenen Schlafzimmers, in unmittelbarer Nachbarschaft zu den eigenen Träumen, Filme, die wie die Träume eine Gemeinschaftserfahrung höchstens als imaginär vermittelte bereitstellen. Und die eine gewisse Distanz wahren zum wachen Leben des Alltags. Der zweite, längere Abschnitt ist im Stil des frühen Stummfilmkinos inszeniert und besteht aus einer Reihe von narrativ nur vage integrierten Erzählungen, die sich entlang der Biografie eines philippinischen Mannes zu Zeiten der spanischen Kolonialherrschaft organisieren. Es geht zunächst um einen Jungen, der als »native bellringer« eingeführt wird, in einer Kirche arbeitet und einem Priester dabei hilft, eine verbrannte Statue zu ersetzen. Später um einen jungen Mann, der sich den antikolonialen Widerstandskämpfern angeschlossen hat und aufgrund eines Missverständnisses alleine in die Schlacht gegen die spanischen Truppen zieht. Und schließlich um ein Mitglied einer Schauspieltruppe, die, während um sie herum der Unabhängigkeitskrieg tobt, kostümiert ein Theaterstück probt, das diesen Krieg reflektiert.

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Die einzelnen Episoden beschreiben kein einheitliches »kolonisiertes Subjekt«, sondern verschiedene, disparate Unterdrückungserfahrungen, die sich fast zwangsläufig nicht in dem einen, revolutionären Akt entäußern können; statt dessen ist der Widerstand, den der Film imaginiert, geprägt von Asynchronitäten und Missverständnissen und verschiebt sich schließlich auf den Modus des ästhetischen Spiels. Sein ambitioniertes Programm hebt Martins Film in einer zarten, zerbrechlichen und spielerischen Ästhetik auf, die die Bilder in einem Schwebezustand zwischen Traum, Mythos und Geschichtsrekonstruktion belässt. Der Film ist, abgesehen von seinem Prolog, ganz im Stil des frühen Kinos gehalten und durchsetzt mit kurzen Animationssequenzen, die wie naive Kinderzeichnungen direkt ins filmische Bild eingetragen werden. Martin dreht stumm, schwarz-weiß, in langen, frontal inszenierten, oft bühnenartig anmutenden Einstellungen. Der Folgefilm Independencia springt filmhistorisch betrachtet um ungefähr zwei Jahrzehnte vorwärts und evoziert die Artifizialität des klassischen Studiokinos in einer Mischung aus später Stumm- und früher Tonfilmästhetik. Tatsächlich hat Martin seinen Film vollständig in einem kleinen Studio gedreht, komplett mit gemalten Hintergrundbildern und dramatischen Lichteffekten. Independencia spielt – Form und Inhalt sind nicht ganz synchron – in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts während des philippinisch-amerikanischen Kolonialkriegs. Die Geschichte, die der Film erzählt, ist wieder in zwei Abschnitte untergliedert und wird durch ein faux-Newsreel unterbrochen, das einen kolonialistischen Blick auf die Philippinen emuliert. Im ersten Filmabschnitt flieht eine Mutter mit ihrem Sohn angesichts der amerikanischen Invasion in eine bergige Regenwaldregion. Bald stößt eine junge Frau zu ihnen, die, darauf verweist lediglich eine englische Stimme aus dem Off – die erste filmische Manifestation der Kolonisatoren – von amerikanischen Soldaten vergewaltigt wurde. In der zweiten Filmhälfte ist die Mutter gestorben, die Fremde hat ein Kind zur Welt gebracht, die Soldaten rücken näher und während einer großartigen Gewittersequenz tritt ein Gespenst auf. Das »klassische philippinische Kino«, wie Martin es imaginiert, unterscheidet sich deutlich vom klassischen Kino schlechthin, dem Hollywoodkino der 1920er- bis 1950er-Jahre. Martin greift einzelne Momente dieser historischen Filmpoetik auf, stellt sie jedoch in einen völlig anderen Kontext und löst sie vor allem vom unbedingten Primat der Narrativierung. Die aspect ratio zum Beispiel ist die des Stummfilms (1.33:1), allerdings bleiben den ganzen Film über die Ränder der Leinwand schwarz: Martin schreibt das filmische Bild in einen Rahmen ein, der an Rahmungen alter Fotografien erinnert. Zuerst ist dieser Rahmen eine weitere, zusätzliche Medialisierung, gleichzeitig Teil von und Außen des Bilds. Ein Moment der Distanzierung, das dennoch die sehr spezielle Erfahrungsform intensiviert, die der Film vermittelt und die nicht die der anthropozentrischen, kausallogisch moti-

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vierten Hollywooderzählung ist. Denn Independencia erscheint, seiner Hybridität vielleicht nicht nur zum Trotz, in erster Linie als ein eindringliches, immersives Erlebnis, das allerdings dem rein traumartigen, hypnotischen Erfahrungsmodus von A Short Film About the Indio Nacional bereits ein wenig entrückt, weil verunreinigt mit über die Tonspur eingespeisten materiellen Erfahrungsdimensionen, ist. Der Film moduliert, vermittelt über cinephile Gesten, Erfahrungen der Isolation am Rande der Geschichte: Wie Mutter und Sohn nebeneinander in ihrer Waldhütte liegen, in der ein gefühltes Drittel des Films spielt, gefilmt fast immer aus einer frontalen Perspektive, die Kamera tief positioniert wie bei Ozu, auf der Tonspur das Rauschen eines Wasserfalls und Vogelzwitschern. Wie sie sich gegenseitig Geschichten erzählen, wie die Konstellation sich verändert, als die Fremde dazustößt. Der eifersüchtige Traum der Mutter als stummfilmartiges Bild im Bild: Der Sohn hat Sex mit der Fremden, stammt das Kind, das später auftaucht, aus diesem Traum, oder von der Vergewaltigung? Wie dann die Musik, auch die eher flächige, iterative Stummfilmbegleitung als mickey mousing, Verdopplung des dramatischen Inhalts, mehr und mehr ins Zentrum rückt und auf den Farbflash vorbereitet, der am Ende in den vorher schwarz-weißen Film eindringt. Independencia ist die Fantasie eines Fensters, das es nie gegeben hat, auf eine Welt, die zu weiten Teilen aus Pappmaschee und bemaltem Karton besteht. Das Besondere an den beiden Filmen bekommt man besser in den Blick, wenn man sie mit anderen Versuchen der letzten Jahre abgleicht, historische Filmästhetiken nachzustellen: Den Zugang zur Filmgeschichte sucht Martin nicht positivistisch, wie Michel Hazanavicius’ The Artist (2011) oder Steven Soderberghs The Good German (2006) (»so war das damals und das machen wir jetzt genauso«), auch nicht fetischistisch wie Guy Maddin (u.a. The Saddest Music in the World, 2003), über obsessive Bearbeitungen von Materialeffekten und Genretropen, sondern ausschließlich über die imaginäre Wirkkraft der Bewegungsbilder, die zwar einerseits ihre eigene Geschichte haben, deren besonderes Potential aber andererseits eben darin besteht, historiografische Ordnungskategorien zu suspendieren oder wenigstens zu verflüssigen: das Kino fälscht und fingiert, seit es existiert (wenn man nach einer Parallele im Weltkino sucht, findet man sie vielleicht in Miguel Gomes’ Kolonialismusfantasie Tabu, 2012). In Martins Filmen wird das Kino als (kulturindustrielle) Illusionsmaschinerie einerseits, als Schnittstelle zwischen kollektiver und individueller Imaginationskraft andererseits, ernstgenommen. Einige weitere Filme des schon jetzt – vor dem dreißigsten Geburtstag des Regisseurs – weit aufgefächerten Werks, schließen an die Fragestellungen und Ästhetik der beiden zentralen Historienfilme an. Von besonderem Interesse scheinen mir zwei Filme, die historisches Filmmaterial direkt in den eigenen Text einarbeiten.

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Autohystoria (2007) inszeniert Geschichte als dekonstruktivistischen Horrorfilm. Es geht um den Tod des Freiheitskämpfers Andrés Bonifacio, der von Anhängern seines ehemaligen Mitstreiters Emilio Aguinaldo im Jahr 1897 gemeinsam mit seinem Bruder hingerichtet wurde. In der Erzählgegenwart, deren Status in Bezug auf beide Teile des Begriffs problematisch ist, macht sich ein junger Mann, nachdem er ein Buch über die Ermordung gelesen hat, auf zu seinem eigenen Bruder; der Film folgt ihm auf seinem Fußmarsch durch Manila in einer fast halbstündigen Einstellung, die ein Überwachungsdispositiv aufruft: Die Kamera blickt meist vorsichtig von der anderen Straßenseite auf den Mann, scheint selbst darauf bedacht zu sein, nicht bemerkt zu werden. Dann dreht ein Polizeiwagen Kreise um ein Bonifacio-Denkmal, im Wageninneren die beiden jungen Männer, die bald der Kamera zum Opfer fallen werden. Aber eine solche Zusammenfassung konstruiert bereits zu viele Kontinuitäten, eigentlich sind die einzelnen Einstellungen in Autohystoria eher Artefakte, aus einem unendlich großen und komplexen Ganzen herausgesprengt, zufällig nebeneinander zum Stillstand gekommen. Die beiden Brüderpaare, das reale, historische und das fiktionale, werden im Weiteren langsam, aber sicher ununterscheidbar. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang das Ende des Films: historische Newsreelaufnahmen der Truppen Aguinaldos (zusammengestzt aus Fragmenten dreier Newsreels der American Mutoscope and Biograph Company: Aguinaldo’s Navy, An Historic Feat und 25th Infantry, alle 1900), die zu den ersten Bewegungsbildern gehören dürften, die auf den Philippinen entstanden sind. Martin kehrt zu den Anfängen zurück und emuliert den Gestus eines Kinos vor der narrativen Integration seiner Bestandteile: jede Einstellung eine neue, eigene Attraktion. Autohystoria bearbeitet ein grundlegendes Motiv der neuen philippinischen Historienfilme, das sich beispielsweise auch in Manila in the Fangs of Darkness und Diaz’ Melancholia und Death in the Land of the Encantos (Kagadanan sa banwaan ning mga Engkanto, 2007) wiederfindet: Die Filme inszenieren eine zwanghafte Wiederkehr von Geschichte in der Gegenwart, eine Wiederkehr, die sich sozusagen hinter dem Rücken der Subjekte dieser Geschichte vollzieht. Und es sind immer wieder Spuren, Überreste historischer Filme, die das Gegenwartskino heimsuchen, wie materialisierte Geistererscheinungen. Now Showing (2008) nimmt zwar nicht (oder nicht direkt) Bezug auf die koloniale Vergangenheit der Philippinen, aber als filmhistoriografischer Film geht er noch weiter als Autohystoria. Der Film besteht aus drei Teilen; der erste Abschnitt stellt Szenen einer Kindheit nach, untereinander verbunden im Modus des »und dann… und dann… und dann«. Ein Mädchen, Rita, vielleicht sieben, acht Jahre alt, in ihrem Schlafzimmer, sie singt ein Lied nach und dann tanzt sie. Dann ist sie draußen und spielt mit ihren Freunden. Dann gibt es irgendwann eine Geburtstagsfeier. Dann irgendwann Gespräche mit der Mut-

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ter (unter anderem über die Großmutter: die war Filmschauspielerin), dann liegen die beiden, Mutter und Tochter, gemeinsam im Bett und hören sich eine Horrorsendung im Radio an. Irgendwann lernt sie so viel und so lange, dass die Mutter sich schon fast über sie lustig macht, irgendwann verreist sie. Und so geht das fast zwei Stunden lang, Szenen einer Kindheit, die sich nicht in eine Struktur fügen, keine Nacherzählung von Prägung, sondern unbehauene, hintereinander geschaltete Erfahrungsblöcke (Warten, Laufen, Essen, Spielen, Weinen), nervöse, oft fast verwischt wirkende Bilder, Szenen, die ereignislos minutenlang stehen bleiben und dann mitten in einem ziellosen Gespräch abbrechen, wenn gerade eine Katze durchs Bild läuft, fokussiert die Kamera noch einen Moment länger. Kaum zu fassen bekommt man diese Bilder begrifflich, vielleicht kann man sie beschreiben als hypothetische Erinnerungsbilder: wie wenn man versucht, sich zu erinnern, wie es gewesen ist, ein Kind zu sein, ohne gleich zu versuchen, die Erinnerungsfragmente zu sortieren, mit dem Erlebnismodus des Erwachsenseins abzugleichen. Im dritten Teil ist Rita älter, eine Jugendliche, die in einem kleinen Ladengeschäft Filme auf gebrannten DVDs verkauft, einen Freund hat, wieder geht es um eine Geburtstagsfeier, wieder gibt es Gespräche mit der Mutter (die in einem alten Fotoalbum blättert und weint), wieder verreist sie. Es scheint etwas eingerastet zu sein zwischen den beiden Zeitebenen, gefilmt ist dieser dritte Teil in starren, langen Einstellungen, es gibt narrative Verknüpfungen, sogar unterfüttert mit einigen Redundanzen. Man redet über etwas und danach tut man es. Aber kaum haben sich ein paar Handlungsstränge etabliert, lösen sie sich schon wieder auf, Rita verlässt die Party ihrer Freundin, sitzt regungslos in Kneipen, die Kamera findet kein rechtes Verhältnis mehr zu ihr, der Film desintegriert, löst sich in einer letzten Busfahrt und einer ekstatischen Schlusstitelsequenz auf. Zwischen den beiden Abschnitten, die jeweils ungefähr eine volle Spielfilmlänge dauern, stehen, als nichts verbindendes Bindeglied einer Biografie, Szenen des Films The Real Mother (Tunay na ina, 1939) von Octavio Silos, einem von sehr wenigen philippinischen Filmen aus der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg, die bis heute überlebt haben. Auch da geht es um eine Mutter und eine Tochter, Raya Martin reißt auch da einzelne Szenen aus einem Zusammenhang, der nicht interessiert, weil er von Anfang an nur konstruiert war, um das Verlangen zu verbergen, das die Menschen offenbaren, wenn man sie einfach nur filmt. Aber es ist nicht so, dass Martin dem Film mit Gewalt etwas Verstecktes entlocken möchte, nicht aggressiv, zerstückelnd, nicht in erster Linie analytisch (nicht wie Ken Jacobs, zum Beispiel) geht er mit dem alten Film um, statt dessen sind seine Eingriffe sanft, fast, als würde er die alten Bilder streicheln, wenn er sie neu ordnet, die eine Szene rückwärts, die nächste in Zeitlupe laufen lässt und schließlich eine Art Geistererscheinung in die Geistererscheinung projiziert, wenn er in eine Einstellung einen Spiegeleffekt ein-

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baut. An Death 24x a Second, Laura Mulveys Studie zur postcinephilen Filmrezeption im DVD-Zeitalter erinnert das, weil es auch bei Mulveys Idee von einem »delayed cinema« nicht nur um den identifizierenden Zugriff, den »forschenden Blick« geht, sondern gleichzeitig um die Rührung, die einen überkommt, wenn man alte Filmschnipsel durchsieht, anhält, mit ihnen spielt. Ein 2011, zwei Jahre nach Independencia entstandener neuer Langfilm deutet eine Richtung an, in die sich das Werk entwickeln könnte: totale Fragmentierung. Buenas noches, España ist zuerst ein hypnotischer Bilderfluss, ein Drogenfilm, der nicht umsonst seinen Ausgangspunkt bei einem Paar nimmt, das auf einem Sofa sitzend verschiedene Rauschmittel ausprobiert, während es um sie herum immer wilder zu fluoreszieren beginnt. Vielleicht werden die beiden in einen Fernsehapparat gebeamt, zumindest fährt dann der Mann plötzlich durch blau leuchtende spanische Landschaften und sammelt am Straßenrand die Frau auf. Gemeinsam durchquert dieses (neue? alte?) Paar verschiedene visuelle Aggregatszustände und landet schließlich in einem Museum, wo unter anderem Gemälde des philippinischen Revolutionskünstlers Juan Luna, die in den Film einen weiteren Bruch einführen, ausgestellt sind. Telekinesis ist auch mit im Spiel. In Frage gestellt wird nicht mehr nur die Einheit der Handlung und die Selbstidentität der Figuren, sondern nun auch die piktoriale Integrität des filmischen Bilds. Buenas noches, españa setzt exzessiv Techniken ein, die dem experimentellen Kino (Dietmar Brehm, Peter Tscherkassky, Ken Jacobs) entlehnt sind: extreme Farbstilisierungen, Doppel- und Dreifachbelichtungen, Wechsel von Positiv- und Negativbelichtung, rhythmische Wiederholungen einzelner Einstellungen, statt Dialogen liegt über dem oft fast völlig abstrakten visuellen Strom ein noisiger, elektronischer Soundteppich. Anders als Lav Diaz scheint Raya Martin den Ort, von dem aus er sprechen möchte und damit auch seine eigene Positionierung in der philippinischen Filmgeschichte, noch nicht gefunden zu haben; er handelt beides mit jedem Film neu aus. Martins Filme reagieren, gerade in dieser Suchbewegung und in ihrem gleichzeitigen Verzicht auf vermeintlich sichere Rückzugspositionen (und sei es auch nur auf die einer einheitlichen Perspektive oder einer einheitlichen Materialität), auf die Verflüssigung der Bilder in Zeiten ihrer Digitalisierung. Aber sie ergeben sich ihr nicht, ergeben sich selbst nicht der sie umgebenden postmodernen, bilderfeindlichen Beliebigkeit, sie enthalten ein stures Beharren auf dem insbesondere archivarischen Wert jeder einzelnen fotografischen Aufnahme, dem semantischen und imaginären Überschuss, den Bilder auch heute noch freisetzen können; zumindest dann können sie das noch, scheinen die Filme implizit zu behaupten, wenn sie sich, so radikal wie nur möglich, von den politaktivistischen Überdeterminierungen lösen, für die einst der Name Lino Brocka stand.

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Auto-Depräsentation Raya Martins Spiel mit der politique des auteurs Maximilian Linz

Im Januar 2012 wurde unter dem Titel »Jeonju Digital Project 2012, Raya Martin Message«1 auf dem Videoportal YouTube ein dreißigsekündiger Clip veröffentlicht, in dem ein Kind vor einer Videoprojektion des Eiffelturms in Paris in englischer Sprache mit koreanischen Untertiteln folgenden Text aufsagt: »Hello. My name is Raya Martin. I am a filmmaker from the Philippines. I am still so young. So I am very happy and honoured to do the Jeonju Digital Project this year. It is one of my dreams. My film will be a celebration. We will go through the war, we will go through the cinema and we will celebrate. It will be a great cinema party. I hope you have a great day. I love you, goodbye.«

Es handelt sich hierbei um einen Trailer für das Jeonju Digital Project, das seit der Gründung des Jeonju International Film Festival im Jahr 2000 jährlich drei Filmemacher_innen des Weltkinos mit einem micro-budget von 50 Millionen Won2 beauftragt, kurze und mittellange Filme für das Festival zu produzieren, die die ästhetischen Möglichkeiten der digitalen Filmtechnik weiterentwickeln. Während die anderen beiden Filmemacher des Jahrgangs 2012 3 das Format des Trailers mit eher konventionellen mission statements bedienen, nutzt Raya Martin den sich bietenden Raum für eine spezifische Selbst-Inszenierung, die, wie ich zeigen möchte, sowohl die allgemeine diskursive Ordnung des Weltkinos expliziert als auch Raya Martins Positionierung als Filmemacher zu und innerhalb dieser Ordnung in wenigen Worten und in einer Einstellung transparent macht.

1 | »Jeonju Digital Project 2012, Raya Martin Message«, http://www.youtube.com/ watch?v=uR2ZcfZXh-M, aufgerufen am 20. September 2012. 2 | 50 Millionen Won entsprechen umgerechnet ungefähr 35.000 Euro. 3 | Neben Raya Martin waren das Vimukthi Jayasundara und Ying Liang.

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Sich als filmmaker einen Namen zu machen und auf ein Herkunftsland verweisen zu können, scheint für die Wahrnehmung im Weltkino der Gegenwart essenziell zu sein. Vinzenz Hediger hat diesen Umstand als die Onto-Topologie des Kinos beschrieben. Diese Onto-Topologie ist eine Diskursmaschine, die Antworten auf die Bazinsche Frage »Was ist Film?« generiert, indem sie bestimmte Filme aus der Mannigfaltigkeit audiovisueller Filmerzeugnisse in einen spezifischen film-kulturellen bzw. filmwissenschaftlichen Diskurs überführt: »Beginning in the 1920s, and certainly since the 1950s, the cinema of film culture and most of film scholarship, as defined mostly by french theorists and authors, whose writings developed a worldwide reach, has been routinely been[sic!] defined as both an auteur cinema and a national cinema. Thus, in film culture, the ontological question »What is cinema?« has mostly been answered by using a list and a map: A list of directorsϞ names and a map that indicates their place of origin.« 4

Vor allen weiteren Informationen bilden Eigenname und Herkunftsort den Ausgangspunkt. Nun lässt sich die Verortung des Martin-Darstellers in dem kurzen Trailer zu The Great Cinema Party (2012) auch auf der Ebene der Darstellung »onto-topologisieren«. Zunächst einmal fällt auf, dass Martin sich in dem Videoclip durch ein Kind vertreten lässt, das sich selbst als der Regisseur ausgibt. Vor allen folgenden Überlegungen zur Einschreibung des Autoren bzw. Machers in seine Filme, gewinnt dieser Zug augenblicklich an diskursiver Plausibilität, wenn der Junge sagt: »I am still so young.« Raya Martin, 1984 geboren, wird seitdem er im Jahre 2005 zum ersten Mal auf Filmfestivals in Erscheinung getreten ist, immer auch über seine Jugend definiert bzw. seine Filme werden immer auch in ein Verhältnis zu seinem Alter gesetzt. Die permanente Relationierung von Film und Alter des Autoren, die in der Bewertung der Filme implizit oder explizit mitschwingt, wird hier humorvoll ironisiert. Dass der Junge Englisch spricht, sowohl lingua franca des internationalen Filmbetriebs als auch Amtssprache auf den Philippinen seit ihrer Kolonialisierung durch die USA Anfang des 20.Jahrhunderts, erklärt sich ebenso leicht, wie die koreanischen Untertitel im Kontext des Jeonju Film Festival. Was aber soll der Eiffelturm im Bildhintergrund? Wenn das »cinema of film culture« an eine bestimmte, einen Eigennamen tragende und nationalgeschichtlich versehene (oder versehrte) Subjektivität gekoppelt ist, außerdem von je spezifischen, lokal vorgegeben Produktionsbedingungen abhängt, die je nach Ursprungsort der Produktionsmittel variieren, dann ist der Eiffelturm eine Metonymie der Stadt Paris als das trans-subjektive, trans-nationales Zentrum eben dieses »cinema 4 | Vincenz Hediger: »Lost in Space and Found in a Fold«, in: Getrud Koch et al.: Screen Dynamics – Mapping the Borders of Cinema, Wien 2012, S. 61-77, hier: S. 62.

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of film culture«. Oder eher: dessen Hintergrund. Man kann Raya Martin hier also so verstehen, dass er sich selbst als eine Figur im Netzwerk internationaler Film-Beziehungen vor dem Hintergrund jenes mythischen Ursprungsortes, der die Figur des Filmautors mit spezifischer Herkunft als Bedingung der Möglichkeit von Film-Kultur überhaupt erst erfunden hat, inszeniert. Gleichzeitig weist er vermittels des sich durch seine Vertreter-Figur und die künstliche Video-Komposition des Bildes ergebenden Verfremdungseffekts auf die Konstruiertheit dieser Kino-Konzeption hin. Martin gibt in dem Internet-Spot zwar zu erkennen, dass ihn die Einladung für das Jeonju Digital Project glücklich macht und ehrt, was in Anbetracht der Künstlerliste, die dieses Projekt in den letzten zwölf Jahren angelegt hat, sehr verständlich erscheint, schon im nächsten Satz unterwandert er dieses hehre Ehrgefühl mit charakteristischer Frechdachsigkeit: »It is one of my dreams.« Es ist erstaunlich, wie zuverlässig Martins Filme in den letzten Jahren ihren Weg vor allem nach Cannes gefunden haben, erstaunlich, weil sie selbst von einer »Unzuverlässigkeit« gekennzeichnet sind, die mit dem kritischen Vokabular traditionalistischer Autorenfilm-Theorie nur schwer zu beschreiben ist.5 Kein Film sieht aus wie der letzte, jedes Projekt schreibt die Bedingungen seines Zustandekommens anders in sich selbst ein, mit sehr offensichtlichen Auswirkungen auf Merkmale wie Materialität, Inszenierungsstrategien oder Dauer des jeweiligen Films. Die Filme widersetzen sich so sehr den Standardisierungen und Formatierungen, die die Festival-Ökonomie und die politique des auteurs durch Koordination von Handschriftlichkeit und Herkunft hervorgebracht hat, wie sie gleichzeitig auf ihrer Verortung in einer spezifisch philippinischen Welt-Geschichte und einer dezidiert filmkulturellen künstlerischen Auto-Genese insistieren. Aus der Wahrnehmung und Reflexion dieser Konstellation der eigenen künstlerischen Subjektivität im Geflecht von Film- und Weltgeschichte scheint sich die Energie zu speisen, mit der Martin in wenigen Jahren seine schon zahlreichen Projekte realisiert hat. Diese Energie hat auch angesichts einer immer noch massiv unter den Folgen der Kolonialgeschichte leidenden philippinischen Gesellschaft und einer fortwährenden und nicht 5 | Was auch schon Anlass zu beißender Polemik gewesen ist. Vgl. beispielsweise die Kritik von Cahiers du cinéma-Chefredakteur Stéphan Délorme an Raya Martin anlässlich des Kinostarts von I NDEPENDENCIA (2009) in Paris: »Raya Martin est typiquement une hallucination cannoise.« (In: Cahiers du Cinema, Nr. 656, Mai 2010, S. 49) Interessant ist auch die Rolle, die Raya Martin darüberhinaus in der Pariser Filmkritik-Szene zu spielen scheint: seit die Redaktion der Cahiers du cinéma im Frühsommer 2009 wegen schleppender Verkäufe vom Le monde-Verlag teilweise ausgewechselt wurde, hatte er dort plötzlich keinen guten Stand mehr. Gleichzeitig wurde sein Film I NDEPENDENCIA praktisch zum Namenspatron für ein Online-Magazin, das aus Teilen der alten CahiersRedaktion hervorging.

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weniger wahrscheinlichen filmkulturellen Diagnostik über das Ende des Kinos nichts Pessimistisches oder gar Autodestruktives an sich. Eher artikuliert sie sich als ein über die eigene Geschichtlichkeit und Vergänglichkeit informiertes Bewusstsein. »We will go through the war, we will go through the cinema and we will celebrate. It will be a great cinema party.« Krieg und der Durchgang durch eine abgeschlossen erscheinende Filmgeschichte sind kein Anlass zur Feier. Doch gerade auf der im doppelten Sinne grundlegenden materiellen Zerstörung des Kolonial-Krieges und der physischen Abwesenheit der Toten der Filmgeschichte feiert The Great Cinema Party die reine Immanenz. The Great Cinema Party beginnt mit found footage-Aufnahmen des amerikanisch-japanischen Pazifikkrieges der vierziger Jahre. Sie sind auf Cinemascope-Format skaliert, neu montiert und offensichtlich manipuliert. Eine stumme Viertelstunde lang feuern Flugzeuge, Schlachtschiffe, Panzer und Soldaten Raketen ab, erschüttern Detonationen die Leinwand. Dann erscheint in einer Überblendung des Gefechtsnebels der Filmemacher Lav Diaz und lädt den Zuschauer zur Party ein. Die englischen Untertitel übersetzen seine Worte: »We cordially welcome you to The Great Cinema Party. André Bazin and Andrej Tarkovsky will be there. Welcome!« Der nun beginnende Teil des Films, die folgenden 55 Minuten, sind aus einer eigenartigen Subjektive, in schwarz-weißem HD-Video aufgenommen und ebenfalls auf Cinemascope-Format kadriert. Sie zeigen die Ankunft einer circa zwanzigköpfigen Reisegruppe auf einer Insel, die hauptsächlich aus Ruinen zu bestehen scheint. Die Teilnehmer der Reise bewegen sich selbstständig und wie Touristen durch die Architektur, machen Fotoaufnahmen, hängen ab, chatten. Die Kamera beobachtet sie meist ohne klar erkennbares Interesse, nimmt gelegentlich andere Details in den Blick, zum Beispiel eine Gedenktafel für den US-Präsidenten Jimmy Carter. Ein Jeepney fährt vorbei. Das alles wirkt nicht wie ein Film, der noch von irgendeiner wie auch immer post-dramatischen Dramaturgie strukturiert wird, eher wie eine dokumentarische Videomitschrift, ein home video. Mehrmals zeigt die Kamera die in den Ruinen orientierungslos und einander fremd wirkenden Gäste, stellt sie aus. In der Mitte des Films schlägt eine Stimme von hinter der Kamera vor, sich ein Studio anzuschauen, das inmitten des Insel-Komplex als Drehort für Sitcoms diente. Dort erwartet die Gäste ein Buffet. Die Kamera nimmt jetzt die Gesten in den Blick, wie die Gäste beim Essen langsam entspannen und sich familiarisieren, Gespräche beginnen, die über das anfängliche Abchecken hinausgehen. Ein Guide führt durch das Studio, zeigt Fotos der früheren Serien-Stars. Ein Bus mit weiteren Partygästen kommt an, sie wirken mit dem Ort und der Kamera vertrauter, einheimisch. Beiläufig werden einige der Neuankömmlinge mit den anderen bekannt gemacht, z.B. mit Mark Peranson, Herausgeber der Filmzeitschrift Cinema Scope. Offensichtlich werden hier zwei Gruppen miteinander verbunden, zwei Kontexte, in denen Martin sich bewegt, zwei Gesellschaften, in denen er arbeitet.

Auto-Depräsentation

Wenige Augenblicke später geht die Beleuchtung aus und in völliger Dunkelheit, über dem Schwarz der Leinwand, erklingt ein live eingespieltes Stück Post-Rock, dessen flächige Sounds sich nach beinahe zwanzig Minuten in ein Feuerwerk und schließlich den Abspann des Films hinein auflösen. Dieser klärt abschließend über die Zusammensetzung der Partygäste auf und offenbart auf der einen Seite einige Namen der europäischen film culture, wie etwa den Co-Herausgeber der Filmzeitschrift Independencia (Antoine Thirion) oder die Kuratorin Bettina Steinbrügge, auf der anderen Seite philippinische Filmemacher-Kollegen wie Adolfo Alix Jr. oder Brillante Mendoza, den man nicht unbedingt in nächster Nähe vermutet hätte.

Lav Diaz in The Great Cinema Party

Wie energetisierend dieser Film in seinem reinen Da-Sein nun für den Zuschauer sein mag, ob er die Betrachtung lohnt… die Einladung zur Party lässt sich ja vom Kinosaal aus nur indirekt befolgen, durch sitzenbleiben. So gesehen wird man allenfalls Zeuge einer Party, zu der man doch keinen Zugang findet. Aufschlussreich ist der Film als eine filmkulturelle Geste, die das Begehren ihres Autors artikuliert, eine great cinema party zu feiern, ohne dabei im Zuschauer ein Begehren zu konstruieren, Teil dieser Party zu werden oder ihn durch Mise-en-scène und Montage in das Geschehen imaginär zu verweben. Erstaunlicherweise bleibt der Gastgeber selbst den ganzen Film über unsichtbar. Auch wenn Martin sporadisch durch seine Stimme Einfluss nimmt, hält er sich immer im Off auf. Er könnte selbst die Kamera führen, im Abspann wird für diese Funktion jedoch Gym Lumbera genannt. Wo also verortet sich der Autor? Es scheint, als würde Martin die Stelle der Enunziation, den unsichtbaren Ursprungsort des Films, der in der Autoren-Theorie vom Filmemacher selbst personifiziert wird6, strategisch unbesetzt lassen, gleichzeitig 6 | Für eine systematische Entfaltung des Begriffs der Enunziation vgl. Sulgi Lie: Die Außenseite des Films, Berlin 2012, insbesondere S. 32ff.

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aber von dem Umstand ausgehen, dass die apriorische Identifikation des Autors ihm ermöglicht, den Film für geschichtliche Sedimente und eine Gesellschaft zu öffnen, ohne sie als Enunziator stellvertretend zu repräsentieren. Des weiteren kann man mit The Great Cinema Party auch darüber nachdenken, was es bedeutet, wenn die für die Herstellung des Films veranschlagten umgerechnet 35.000 Euro am Ende in einem Feuerwerk sinnbildlich verpulvert worden sind. The Great Cinema Party nimmt sich die Freiheit, einen Teil der Partygäste aus den filmkulturellen Zentren und ihren Festival-Enklaven auf das philippinische Archipel zu laden. Statt mit einer Summe, die in deutschen Maßstäben nicht für die Autoverleih-Miete eines durchschnittlichen Low-Budget-Spielfilms ausreichen würde, einen Film zu drehen, ermächtigt sich Raya Martin hier, den Film als ein sekundäres Ereignis dem Geschehen vor der Kamera nachzuordnen und die Produktionssumme im eigenen Milieu für socialising radikal zu re-sozialisieren. In seiner Filmographie schließt The Great Cinema Party damit an die Produktionsästhetik von Next Attraction an. Die erste Stunde dieses 75-minütigen Films aus dem Jahr 2008 besteht aus dokumentarischem Videomaterial, das einen Drehtag an einem Spielfilm-Set dokumentiert. Circa zwanzig Personen befinden sich zunächst innerhalb wechselnder locations, später auch im Auto und nachts auf der Straße an einem Busbahnhof. Im Zentrum der statischen Einstellungen befindet sich häufig die Film-Kamera, es handelt sich, wie die Hauptdarstellerin einmal bemerkt, um eine 16mm von Arri, »old and expensive«, das Geschehen organisiert sich um sie herum. Die Dokumentation endet im Morgengrauen mit dem Zubettgehen desjenigen, der hier die Spielfilm-Regie geführt hat. Jetzt erst erscheint ein Titel: Next Attraction. Die akustische Atmosphäre setzt sich über die Einblendung des Titels fort und begleitet nun die noch tonlosen rushes der schwarz-weißen Aufnahmen in Super16mm, an deren Belichtung man zuvor teilhatte. Es scheint sich um eine Coming-Out-Geschichte zu handeln, die sich im Wesentlichen zwischen einer Mutter, ihrem Sohn und dessen Freund an Original-Schauplätzen in Manila zuträgt. Durch ihre Fragmentierung, ihre Entrahmung aus einem Erzählzusammenhang und ihren direkten akustischen Anschluss an die Set-Realität der Produktion, wirken diese Aufnahmen überlagert von der apparativen und sozialen Dimension ihrer Herstellung. Auch im Hinblick auf die Dauer der jeweiligen Teile deutet die Dramaturgie von Next Attraction auf den Umstand hin, dass eine traditionelle Filmproduktion, wie sie in diesem Making Of vorgestellt wird, wesentlich mehr Zeit und Arbeitskraft benötigt, als im Ergebnis erkennbar sein wird. Gleichzeitig bleibt völlig unklar, ob der Film, dessen Herstellung hier scheinbar dokumentiert wird, unabhängig von seinem MakingOf existiert. Handelt der Regisseur des 16mm-Films im eigenen Namen oder im Auftrag desjenigen hinter der Videokamera, welche die Dreharbeiten aufzeichnet? Wem gehören diese Bilder? Die Frage nach der Autorschaft deutet in

Auto-Depräsentation

Next Attraction auf eine Leerstelle, die wiederum strategisch offengelassen und zur Disposition gestellt wird. Filme wie The Great Cinema Party und Next Attraction sind in ihrer prozessualen Echtzeit-Dramaturgie, ihrer nur durch scheinbar beliebige harte Schnitte fragmentierten Ungestalt, nicht leicht zu konsumieren – vorausgesetzt es gibt überhaupt Gelegenheit dazu. Sie zu sichten ist Arbeit. Sie bilden in der Filmographie Raya Martins einen komplementären Einsatz zu den bekannteren A Short Film About the Indio Nacional (Maicling pelicula nañg ysañg Indio Nacional, 2005) oder Independencia (2009). Während diese in komplexen filmästhetischen Historisierungsverfahren eine neue, hybride philippinische Kinematografie imaginieren 7, rücken Next Attraction und The Great Cinema Party auf möglichst unmittelbare, präsentistische Weise die gesellschaftliche Mitteilung der Gegenwart des Filmemachers in den Vordergrund. Sie zeugen von einer über mehrere Filme hinweg fortgesetzten Auseinandersetzung mit der konstitutiven Verwiesenheit des Filmemachers auf andere, auf Mitarbeiter_innen, Kolleg_innen und internationale Beziehungen, die die Person Raya Martin und das geografische Territorium namens Philippinen überschreiten und ohne die die Resultate, die im filmkulturellen Diskurs auf ein einzelnes Selbst und sein Oeuvre sowie ein bestimmtes Herkunftsland und dessen (Film-)Geschichte rückbezogen werden, nicht denkbar wären. Das Spiel mit der Depräsentation von Autorschaft, »Handschrift« und Herkunft, eröffnet die Möglichkeit einer neuen Kritik an einer sich über die Identifikation ebenjener Merkmale reproduzierenden Diskursmaschine, einer Kritik, die ihre eigenen, zeitgenössischen Begriffe unter digitalen Bedingungen in der historischen Distanz, die Filmemacher_innen heute von der Epoche des Third Cinema trennt, erst noch entwickeln muss.

7 | Vgl dazu den Beitrag von Lukas Foerster in diesem Band sowie Simon Rothöhler: Amateur der Weltgeschichte – Historiographische Praktiken im Kino der Gegenwart, Zürich 2011, S. 196.

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Üblicherweise beginnen Artikel über die Philippinen mit der Floskel: »… sind ein Land von über 7000 Inseln …« – Filmriss … Berlin, Oktober 2005: deutsche Unprofessionalität, Unzugänglichkeit und Verbitterung trifft philippinische Gelassenheit, Spontaneität und situatives Improvisationstalent: Lav Diaz, berüchtigter Langfilmer – die Spieldauer vieler seiner Echtzeitwerke bewegt sich zwischen 5 und 11 Stunden – und Aushängeschild des philippinischen Kunstkinos im Haus der Kulturen der Welt (HdKdW). Der Haustechniker verzweifelt an seiner Videoanlage, frisst grün-elementare Vernichtungswut in sich hinein. Alles eine einzige Zumutung. Leise, aber doch noch verständlich grimmt er, mit einer Waffe aufräumen zu wollen: »Was ich jetzt brauche, ist eine geladene .38er …« – Vielleicht ist einer der Hauptunterschiede zwischen den Philippinen und Deutschland, wie sich die Umsetzung von Wunsch und Gedanke zueinander verhalten. Während die Krise anschwillt, erzählt Diaz von seiner Band, den Brockas, einem aus befreundeten Filmkünstlern zusammengewürfelten Noise-Core-Performance-Haufen, schlürft seinen x-ten Kaffee und sieht extrem gelassen der bevorstehenden langen Nacht entgegen, in der sein elfstündiges Werk Evolution of a Filipino Family (Ebolusion Ng Isang Phamilyang Philipino, 2004) vor einem kleinen, aber sehr interessierten Publikum gezeigt werden soll. Die Verkabelungsprobleme des vom Zornesbrand fast aufgefressenen Technikers stören ihn kaum. Es gibt schließlich genug Möglichkeiten, seine Tapes, die er vorsorglich gleich in mehreren Digital-Formaten dabei hat, durch den Videobeamer zu schicken. Filipinos sind die ungeschlagenen Weltmeister im Improvisieren. Das müssen sie sein. Zweifellos gehören die Philippinen zu den paradiesischsten Flecken Erde, die man sich vorstellen kann. Aber die Tropen können auch traurig sein. Was in Europas gemäßigten Breiten das öffentliche Leben zum Erliegen bringen und von hysterischen Medien mit eindringlichsten Weltuntergangsszenarien beschworen würde, läßt auf den Philippinen das Leben in seinem geschäftigen

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Gang nicht auch nur eine Sekunde innehalten. Eine kurze Veränderung des hektischen Rhythmus vielleicht – das ist aber auch schon alles. Der Eigensinn der Natur, der in Deutschland, wo man keine Ahnung hat von den Chancen, die in einem positiven Fatalismus liegen können, zu lebenslanger Verbitterung führen würde, wird auf den Philippinen mit Gelassenheit genommen und bestmöglich durch Spontaneität und situatives Improvisationstalent gekontert. Von Erdbeben, Vulkanen, Taifunen, Springfluten, der ganzen WeltuntergangsShow ist dieser Archipel am Rand des pazifischen »ring of fire« immer wieder umgepflügt worden. Das Inferno wohnt gleich nebenan. Unter solchen Bedingungen sind seine Bewohner eingeübt in Gleichmut im Angesicht von Katastrophen. Ihren Ausdruck findet das in der allgegenwärtigen Floskel »hindi bale« und der Gewissheit, dass doch »alles halb so wild« ist – »Was soll’s?! Macht nichts.« Auf ein Neues … – »Bahala na« also, »das wird schon«, ein weiteres geflügeltes Wort und unerschütterliches Motto aller Filipinos. Denn schlimmer kann’s immer kommen, selbst in der aussichtslosesten Situation. Und es gibt immer einen Weg: »Cool man. This will work … Rock ’n’ Roll man! Wazak!« entgegnet Lav dem fast fassungslosen Techniker. Das ist ebenso aufrichtige Lebenshaltung wie es Taktik ist, die unzumutbaren Verhältnisse auszutricksen. Zum Beispiel mit dem Genrefilm Hesus, rebolusyonaryo (Jesus the Revolutionary, 2002), einer der wenigen ernstzunehmenden politischen Utopien, die bislang auf den Philippinen gedreht wurden. Lav Diaz ist einer, der weiß, was gespielt wird und was man dem entgegenzusetzen hat. Er dreht noch eine kleine Runde durch den Saal und schlurft dann einer langen Nacht und der Cafeteria des HdKdW entgegen. Da gibt es Kaffee kannenweise. Das braucht Diaz, der Lebenskünstler. Das ist sein Eichmaß. Doch schon nach wenigen Minuten kommt eine aufgescheuchte HdKdW-Organisatorin hereingestoben. Tonausfall! Stummfilm! Diaz muss sofort in den Kinosaal, kommentieren, was zu sehen ist. Dies ist die Schreckensnacht des Technikers. Der ist heute »wasak«, möglicherweise sogar »wasak na wasak«, zerstört, ruiniert oder sogar komplett vernichtet. Bei dem hilft auch kein »bahala na« mehr. Positiver Fatalismus ist definitiv dessen Sache nicht.

Klebestelle nach dem Schnitt zum Grund der Dinge Die Philippinen sind eine Insularkultur und keine wirkliche Nation, eine tief gespaltene, postkoloniale Vision. Die Zersplitterung setzt sich fort in allen Bereichen der Gesellschaft (Kultur und Filmwelt sind davon nicht ausgenommen: mentale Clan- und Gruppenbildung auch hier – manchmal koaliert man, oft opponiert man). Unitätspropagandisten sind die üblichen Verdächtigen: konservative Eliten, neoliberales Establishment-Geschmeiß, Kommerzabsahner, katholische Kreuzkriecher usw. Pseudopluralistisch-föderative Meinungsbildung ist ihr Programm nach Außen; nach Innen verfolgen sie eisern Partikularinteressen. Entgegen ihren Lippenbekenntnisse säen sie Feindschaft und ernten

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daraus enorme Profite. Im Extremfall geschehen Exzesse wie das Maguindanao-Massaker auf der großen Südinsel Mindanao im November 2009: 58 Journalisten, Juristen und politische Anhänger des Mangudadatu-Clans wurden durch Mitglieder des herrschenden, präsidententreuen Ampatuan-Clans hingerichtet. Schwere und Tragweite des Vorfalls (eigentlich nur ein Kollateralschaden des Präsidentschaftswahlkampfs 2010) waren außergewöhnlich, Entsetzen und Empörung im In- und Ausland enorm. Prinzipiell ungewöhnlich war das Geschehen nicht. Die Regel bestimmt die Ausnahme und die Menge macht’s. Gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Clans haben auf den Philippinen eine lange Tradition: Während verschiedener Wahlkampfscharmützel wurden z.B. in Abra und Ilocos Norte (der Heimat des früheren Diktators Ferdinand Marcos), Provinzen des nahezu vollständig christlichen Nordens, in der ersten 2010er-Hälfte wesentlich mehr Menschen ermordet als bei dem Anschlag im muslimischen Maguindanao. Als schleichender Prozess fand dies im Ausland wenig Interesse. Noch weniger Widerhall erzeugt im Westen das fortdauernde Einzelschicksalabschlachten im Süden, das wie ein seichter Dauerlandregen die Landschaft mit Blut verseucht. – Aus Stoffen wie diesen sind die Filme der jungen philippinischen Regisseure gemacht. Warum gerade diese Filmszene so dynamisch und kreativ ist, so viel Beachtung im Ausland findet? – Weil es hier solche Stoffe, echt starken Tobak, extreme Geschichten wie Sand am Meer gibt. Der Irrsinn lauert hinter jeder Straßenecke und treibt extreme Blüten. Nationalcharakter und Landeskultur der Philippinen könnte man als operetta mortale beschreiben.

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International renommierte, ihren ganz eigenen Sichtweisen verpflichtete Regisseure wie Lav Diaz, Brillante Mendoza, Khavn de la Cruz, Auraeus Solito, aber auch viele andere weniger bekannte, finden hier das Material, aus dem Albträume und Visionen sind. Und sie filmen digital, mit bescheidenen finanziellen Mitteln, doch mit atemberaubender Flexibilität und enormem Arbeitstempo. Bei den Drehs mit kleinen, schnell agierenden Teams unterwegs, ist das unerschütterliche Credo dieser Kinorebellen, unter allen Umständen die Kamera am Laufen zu halten und die sie umgebende Wirklichkeit möglichst genau einzufangen. Diese Künstler – so unterschiedlich und vielfältig ihr meist sehr persönlicher Stil auch sein mag – arbeiten alle unabhängig, weit weg vom Studio-Mainstream und den eingespielten Vertriebswegen und stoßen dabei politische, soziale und ästhetische Diskussionen an, die Publikum und Fachwelt gleichermaßen in Erstaunen versetzen. In den letzten zehn, zwölf Jahren ist das ungemein lebendige und vielstimmige philippinische Kino durch seine zunehmende Präsenz und Erfolge auf den bedeutendsten internationalen Filmfestivals ins Blickfeld des am internationalen Kinogeschehen interessierten Publikums geraten. Die Filme dieser Szene verändern die Sichtweise auf die Philippinen, auf ihre Bewohner, ihre Kultur und ihr Kino. Schon lange haben sie sich losgesagt von Repräsentationen, die ihnen die erste Welt noch immer aufzunötigen versucht. Den Verschiebungen im Gefüge des Produktionsgeschehens (das sich bis vor kurzem nahezu vollständig auf die Hauptstadt, »Imperial Manila«, als Zentrum des politischen, sozialen und kulturellen Lebens konzentrierte) trägt inzwischen einer weiteren dezentralen, man kann sagen, demokratisierenden Entwicklungswelle Rechnung: Kaum sind die ersten positiven Schocks verarbeitet, drängt schon eine noch jüngere Generation von Digital-Arbeitern in die Öffentlichkeit. Nachwuchskünstler aus den verschiedenen, bisher immer unterrepräsentierten Provinzen beginnen, sich zu Wort zu melden und beschreiben bislang wenig beachtete regionale Aspekte des Landes. In keinem anderen asiatischen Land ist die digitale Revolution von Filmemachern weitgehender und erfolgreicher umgesetzt worden und hat eine tiefgreifendere Veränderung der Filmindustrie bewirkt als auf den Philippinen. Schon das im November 2000 veranstaltete 1st Filipino Full-Length Feature Indie Festival zeigte keine Zelluloid-, sondern nur noch V8- und D8-Digital-Produktionen. Für viele Beobachter ist dies Anlass und Bestätigung genug, von einem neuen goldenen Zeitalter für das philippinische Kino zu sprechen; auch, weil es wieder beginnt – wie schon einmal kurz zu Anfang der 1980er Jahre –, das internationale Publikum für sich zu interessieren. Die digitale Revolution im philippinischen Kino könnte leicht auch als tragfähiges Entwicklungsmodell für andere unterrepräsentierte Filmkulturen der so genannten Dritten Welt dienen. Es gilt, die Möglichkeiten digitalen Filmens in neues Denken und Handeln über ökonomische und ästhetische Produktionszusammenhänge,

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die Schaffung neuer, unabhängiger Produktions- und Auswertungsstrukturen in selbsterhaltende Modelle zu übersetzen. Die Chancen hierfür sind – wie das Beispiel Philippinen zeigt – besser denn je.

Szenenwechsel Vor zwei Jahren legte sich die politische Gewitterstimmung auf den Philippinen: Der Präsidentschaftswahlkampf war beendet. Endlich war Gloria Macapagal-Arroyo, kurz GMA, aus dem Amt gedrängt, (die Philippinen sind das Weltzentrum der Akronyme, zum Erlernen der Bedeutung solcher Kunstwörter, derer man sich inflationär bedient, gibt es an den Schulen sogar ein eigenes Unterrichtsfach). Ihr gelang das Kunststück, in der Spätphase ihrer Amtszeit noch unbeliebter gewesen zu sein als der verhasste Diktator Marcos. Vorbei sind die großen Mumpitz-Shows voller Theatereffekte wie z.B. jene Wahlkampfveranstaltung in Quiapo (dem beengtesten und zugleich quirligsten Stadtteil des alten Manila), bei der es den ganzen Tag lang wie aus Eimern goss und auf der der wegen Korruption und Ausplünderung des Landes aus dem Amt gejagte Joseph Estrada noch immer (oder schon wieder) als »Mr. President« tituliert wurde. Eigentlich sollte »Erap«, der »Kumpel«, wie er sich noch lieber als »Mr. President« nennen lässt, lebenslänglich hinter Gittern sitzen. Aber das nimmt man hier nicht so genau. Vergeben und vergessen – auch, dass eine der Bedingungen für Estradas Begnadigung durch einen Erlass der Präsidentin war, dass er nie wieder ein politisches Amt anstreben dürfe. Schwamm drüber. Allein Volkes Wille sei es, sagt »Erap«, der ihn, ungewollt wohlgemerkt, wieder in die Politik dränge. Selbst er, Estrada – in erster Karriere der schmissigste Haudegen des philippinischen Actionkinos –, einer jener typischen Willensmenschen des eher gemütlich-explosiven Schlages, hat dagegen nichts in der Hand. Mit so etwas kann man zweifelsohne großes Kino machen. Jerrold Tarong (einer der wenigen Arthaus-Regisseure, denen problemlos immer wieder der fließende Wechsel zwischen Indie und Mainstream gelingt) und Ruel Dahis Antipuesto haben das erkannt und für ihren gemeinsamen Debütfilm Confessional (2007) genutzt. In dieser großartigen Mockumentary, die das bis in die Knochen korrupte politische System der Philippinen mit dessen eigenen Mitteln bloßstellt, schwadroniert ein einflussreicher Kommunalpolitiker scheinbar ohne jedes Schuldbewusstsein über seinen jahrzehntelangen schamlosen Amtsmissbrauch, der ihn sofort lange hinter Gitter bringen müsste – allerdings nicht auf den Philippinen! Die Übergänge von staatstragend zu schwerkriminell sind im Archipel der 7107 Inseln fließend. Wie geschmiert funktionieren die Wege in beide Richtungen. Ohnehin wird, wer die Gesetze zu genau nimmt, nicht nur der Haarspalterei bezichtigt, sondern oft gleich ganz aus dem Spiel entfernt. Über 900 Menschenrechtler, Gewerkschaftler, politisch linksstehende Aktivisten

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und Journalisten mussten allein in der zehnjährigen Amtszeit von GMA ihr Eintreten für die Durchsetzung bestehender Gesetze oder von Reformen mit dem Leben bezahlen. Dem Militär und den Sicherheitsorganen nahestehende Gruppen erledigen dies nicht selten mit Kenntnis und Einverständnis lokaler politischer Eliten, die sich auf diese Weise gerne auch lästiger Konkurrenten um Ämter und damit verbundene nicht unerhebliche Zubrote entledigen. Doch die offiziell bestätigten Zahlen sind nur die Spitze des Eisbergs. Allein in Davao City, der drittgrößten Stadt der Philippinen, auf der Insel Mindanao gelegen, Pulverfass und größtes der vielen permanenten Krisengebiete des Inselstaates, sind in den letzten zwölf Jahren fast 1000 mutmaßliche (Klein-) Kriminelle, Dealer, Drogenabhängige, Mitglieder von Jugendbanden und Straßenkinder von den örtlichen Bürgerwehren und Todesschwadronen (Davao Death Squad, DDS) hingerichtet worden. Die Aussagen hierzu von Rodrigo Duterte, des sich gerne autokratisch und martialisch gebärdenden früheren Ex-Bürgermeisters von Davao (das Amt hat er an seine Tochter weitergereicht), waren und sind kaum je widersprüchlich, zumeist unmissverständliche offene Todesdrohungen an in seinen Augen irgendwie verdächtige, dubiose Elemente. Eine solche Haltung wird durchaus akzeptiert. Denn das Land ist geprägt von einer enorm starken Macho-Kultur. Viele Volksvertreter und Gesetzeshüter lassen sich von Anhängern wie Gegnern gleichermaßen gern als eine Mischung aus »Dirty Harry« und »Punisher« beschreiben. Eine große Menge autobiographisch geprägter Selbstjustiz-Actionfilme wie Hagedorn (1996) oder Ping Lacson: Super Cop (2000) zeugen hiervon. Kein Wunder, dass es bei solchen medialen Attraktionsmomenten in jedem Provinzkaff von selbstgerechten Saubermannfiguren diesen Kalibers wimmelt. Clash (Engkwentro, 2009) greift dieses Problem auf. Der damals gerade 21 Jahre alte Newcomer Pepe Diokno hatte sich während seiner einjährigen Recherchereise für einen Dokumentarfilm über philippinische Gefängnisse inspirieren lassen. Verständlicherweise war er beunruhigt, seine Befürchtungen, selbst ins Schussfeld zu geraten durchaus gerechtfertigt. Dennoch brauchte er nicht allzu besorgt sein: Wie viele seiner jungen Regiekollegen stammt er aus der Mittel- oder Oberschicht; er ist der Enkel des früheren Senators Jose W. Diokno (in den 1970ern einer der profiliertesten Gegner des Diktators Marcos); sein Vater ist einer der bekanntesten Menschenrechtsanwälte der Philippinen und Gründungsdekan des College of Law der De La Salle University. Trotz dieses elitären Hintergrunds ist der junge Diokno Idealist. Wie viele seiner Altersgruppe und viele seiner jungen Regiekollegen wollte er die untragbaren Zustände in seiner Heimat mit ihren permanenten massiven Verletzungen der Menschenrechte und den zahlreichen außergerichtlichen Exekutionen nicht weiter hinnehmen. Zumindest im Westen ist er mit seiner Kritik schnell auf offene Ohren gestoßen: Noch vor dem Ende des fünften Cinemalaya – Philippine Independent Film Festivals, auf dem Clash uraufgeführt wurde, bekam er

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eine Einladung zu den Filmfestspielen in Venedig. Sicher haben Lav Diaz’ politische Riesenwerke Kagadanan sa banwaan ning mga Engkanto (Death in the Land of Encantos, 2007) und Melancholia (2008) dazu beigetragen, dass bald auch typische Vertreter des Mainstreams wie der Regieveteran Mel Chionglo offene Kritik übten. In seinem Low-Budget-Film Bente (2009) spielt Jinggoy Estrada, Senator und Sohn des gestürzten Präsidenten, einen Radiojournalisten, der wegen seiner brisanten Enthüllungen an oberster Stelle auf der Todesliste eines Politikers steht. Kein guter Film, dafür Zeichen einer ermutigenden Entwicklung. In dieselbe Kerbe schlägt Vox Populi (2010) von Dennis Marasigan – auch kein guter Film, aber ein starkes Statement über die unheilige Allianz von Politik, Kirche und Wirtschaft, die selbst integerste Ansätze in Windeseile auf den Boden der durch und durch korrupten Tatsachen zurückholt. Gut gemeint, aber zu hölzern und zu billig ausgeführt ist Marasigans in der Marcos-Ära spielender Anatomy of Corruption (Anatomiya ng Korupsiyon, 2011), in dem er die Gründe für die allgegenwärtige Bestechlichkeit anhand der Mauscheleien in einer richterlichen Amtsstube darstellt.

Intermission Zeige mir deine Politiker und ich sage dir, warum nichts funktioniert: Ein illustres Trüppchen tummelt sich an der Spitze der philippinischen Gesellschaftspyramide. Schon im Senat, der höchsten Kammer der Volksvertreter, beginnt das Possenspiel: Ramon »Bong« Revilla Jr., dessen politische Karriere nicht von der als Filmschauspieler und Showstar zu trennen ist (mehr als 70 Rollen in Film und TV) übernahm den Senatorenposten von seinem Vater. Vicente »Tito« Sotto III, zum dritten Mal Senator, ist ein früherer Komödienschauspieler, TV-Moderator und Musiker (sein Bruder ist der Komödienstar Vic Sotto). Ein weiterer Filmstar, der es in die höchsten Reihen der Politik geschafft hat, ist Lito Lapid. Noch in seiner mehrfach verlängerten Amtszeit als Gouverneur der hauptstadtnahen Provinz Pampanga drehte er fleißig Filme. Erst als Senator konzentriert er sich mehr auf die Politik. Doch er hat schon neue Filmprojekte in Vorbereitung. Auch sein Kollege Jinggoy Ejercito Estrada lässt es sich nicht nehmen, seine Wähler als Leinwandheld zu beeindrucken. Gute Chancen bei den nächsten Wahlen vom Volksvertreter im Repräsentantenhaus zum Senator aufgewertet zu werden hat der Box-Champion Manny Pacquiao. Neben diesen eher für Unterhaltungswert sorgenden Leichtgewichten wirft auch die dunkle Seite der Macht ihren Schatten auf den Senat: Richtig finstere Gesellen sind der ehemalige Chef der gefürchteten Philippine Constabulary (Militärpolizei) Panfilo »Ping« Lacson, ein Mann der eisernen Faust mit blutroter Weste. Nachdem im Fall der 2000 ermordeten Dacer und Corbito gegen ihn endlich eine stichhaltige Mordanklage aufgebaut werden konnte, tauchte er 2010 unter, wurde sogar von Interpol gesucht und spielte ein Jahr lang Versteck mit der Justiz. Als nach anstrengender Kulissenschieberei sich

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die Beweise gegen ihn einer nach dem anderen verflüchtigten, bis sie nicht mehr für eine Anklage reichten, ließ er sich 2011 wieder blicken. Seitdem sitzt er im Senat. Senatsvorsitzender ist Juan Ponce Enrile, einer der politischen Architekten der Marcos-Diktatur und Mastermind des die 1970er Jahre bestimmenden Kriegsrechts. Sein Name findet sich als unsichtbares Wasserzeichen unter den Todesurteilen hunderter Regimegegner. So geht es zu in den höchsten Kreisen der politischen Willensbildung, die durch Diadochenkämpfe wechselnder Fraktionen und Allianzen gekennzeichnet ist, und unter ähnlichen Vorzeichen setzt es sich fort bis hinunter in die Kommunalverwaltungen. Auf den Philippinen, auf dem Papier die dienstälteste Demokratie Asiens, ist Politik mehr als anderswo Showgeschäft – meist überdrehtes Melodram, oft unterstes Schmierentheater, nicht selten aber auch so blutig wie eine grandguignol-Aufführung. In diesem Klima gedeihen kontroverse und extreme Dinge. Wer sich über Filme wie Brillante Mendozas Foster Child (2007), Tirador (2007), Service (Serbis, 2008) oder Lola (2009) wundert, sollte seinen Urlaub einmal nicht im touristenzahmen Thailand verbringen, sondern vor dem Einchecken im Strandresort zuerst in einen der lauten, grellen Ballungsräume der Philippinen eintauchen. Hier finden viele der konfrontationswilligen jungen Regisseure ihre Themen: im Alltag der überwiegenden Mehrzahl ihrer Landsleute, marginalisiert von neoliberalen Wirtschaftsprogrammen des IWF und der Weltbank, die lediglich der wohlsituierten, schmalen Oberschicht in die Hände spielen und den übergroßen Rest der Bevölkerung ein Leben in erbärmlicher Armut am Rand des Existenzminimums fristen lassen. Zwar ist auch eine kleine Mittelschicht entstanden, für die sogenannte Alternative-Cinema-Filme wie Chris Martinez’ Krebsendstadium-Tragikomödie 100 (2008) oder die bourgeoisen Coming-of-Ager Rakenrol (2011) von Quark Henares, The Animals (2012) von Gino Santos und What Isn’t There (Ang nawawala, 2012) von Marie Jomara sowie jede Menge großangelegter Mainstream-Murks wie Those Little Secrets (Mag mumunting lihim, 2012) von Jose Javier Reyes gedreht werden, doch die große Mehrheit der Bevölkerung bleibt vom Wohlstand ausgeschlossen. Nur jene Familien, die eines oder mehrere ihrer Mitglieder als Billiglohnkräfte nach Übersee entsenden (sogenannte OFWs, Overseas Foreign Workers) und von deren in die Heimat transferierten Einkünften leben können, ist es möglich, in kleinen Schritten das Bruttonationaleinkommen zu steigern. »Filmreife stories schießen unter solchen Verhältnissen wie Pilze aus dem Boden«, erklärt Brillante Mendoza dem Autor. Allerdings sollte man sich als Filmemacher nie zu weit aus dem Fenster lehnen. Auch das macht die Werke unerschrockener Filmer wie Anak Ng Tinapa (2005) von Jon Red (Bruder von Raymond Red), Rotonda (2006) von Ron Bryant, Carnivore (2008) von Ato Bautista oder den grauenerregenden Slaughter (Kinatay, 2009) von Mendoza so bemerkenswert. Alle drehen sich darum, wie Korruption und ihre extrem gewalttätigen Folgen alle Bereiche der Gesell-

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schaft durchdringen und ihre Fundamente untergraben; wie der Mensch des Menschen Wolf bzw. Krokodil ist. Verblendung und extreme Realitätsverleugnung haben auf den Philippinen eine lange Tradition. Schon die luxusgeile Gattin des früheren Diktators Marcos wollte um keinen Preis wahrhaben, dass die Nation darbt. Die Übel beim Namen zu nennen und zu zeigen, war Tabu. Jene an den italienischen Neorealismus angelehnten, sozialkritischen Slum-Filme des Altmeisters Lino Brocka wie Maynila: Sa mga kuko ng liwanag (Manila in the Claws of Neon, 1975), Insiang (1976) oder Jaguar (1979) waren ihr ein Dorn im Auge und passten nicht zu dem von ihr persönlich angestoßenen und überwachten Verschönerungsprogramm der Hauptstadtstraßen. Das Elend sollte hinter potemkinschen Fassaden verschwinden. Unter drastischer Blickverengung leidet das Establishment noch immer, besonders die Ex-Präsidentin GMA, wenn sie – kennt man das nicht in Deutschland? – ihren Landsleuten blühende Landschaften und den Anschluss an den Lebensstandard der Industrienationen innerhalb der kommenden 20 Jahre versprach. In diesem Land hat man sich daran gewöhnt, für den Augenblick zu leben und den Rest möglichst schnell zu vergessen. Etwas anderes als die Verheißungen eines strengen katholischen Glaubens, dem 80 Prozent der Bevölkerung anhängen und der die Philippinen zu einer der stärksten Bastionen des Papstes macht, stand nie zur Debatte. Was man dagegen haben möchte, ist der schöne Schein für den Augenblick – und den permanent. Deshalb ist das philippinische Mainstreamkino nichts als eine endlose Reihe von Genrefilmen (hauptsächlich Komödien und entweder rotztraurigen oder quietschfidelen Liebesfilmen), die in ihrer Falschheit und Flachheit kaum zu unterbieten sind. Als Reaktion hierauf ziehen ambitionierte junge Bildrebellen los wie kleine Guerillatrupps und filmen ihre Sicht der Dinge. Man kann diese Entwicklung unter dem Label Neo-Slum- bzw. Poverty-Porn-Filme zusammenfassen. Sie knüpft an Brockas Werke der 1970er Jahre und an bestimmte Tendenzen der für das philippinische Kino weitgehend unbedeutenden Zwischenzeit der 1990er Jahre an. Zu nennen wären das filmvisionäre Multitalent Mario O’Hara mit den Neo-Slum-Meisterwerken Woman on a Tin Roof (Babae sa bubungang lata, 1998) und Woman of Breakwater (Babae sa Breakwater, 2004) oder der gleichfalls unterschätzte Jeffrey Jeturian mit Pila-balde (1999), der Mediensatire Larger Than Life (Tuhog, 2001) und dem stilistisch richtungsweisenden Bet Collector (Kubrador, 2006). Um sie herum gruppieren sich junge Wilde, Brutes, Indio Bravos wie John Torres mit Todo todo teros (2006), Khavn de la Cruz mit Vampire of Quezon City (Aswang ng QC, 2005), Squatterpunk (2007), 3 Days of Darkness (Tatlong Araw Ng Kadiliman, 2007) und Mondomanila (2010), Jim Libiran mit Tribu (2007), Francis Xavier Pasion mit der Mediensatire Jay (2008) und dem erschütternden Straßenkinderdrama Sampaguita – National Flower (2010), beide als Pseudo-Dokus

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angelegt, magische Realisten wie Paolo Herras mit Rekados (2006) oder jene vom politischen Bildpoeten Lav Diaz inspirierte Schule, zu der Sherad Anthony Sanchez mit seiner monumentalen Davao-Studie Sewer (Imburnal, 2008) und dem Experimentalfilm Balangay (2010) gehört. Sie sind ästhetische Aufrührer und können doch problemlos auch als Neo-Traditionalisten betrachtet werden. Insbesondere wäre hierzu der in den internationalen Filmfestivalzirkus schon bestens eingeführte junge Nachwuchsüberflieger Raya Martin zu zählen. Er widmet sich mit A Short Film About the Indio Nacional (Maicling pelicula nañg ysañg Indio Nacional, 2006), Autohystoria (2007), Independencia (2009), dem gemeinsam mit Adolf Alix jr. gedrehten Manila (2009), einer Hommage an die Manila-Filme der beiden Großmeister Lino Brocka und Ishmael Bernal, oder Buenas noches, España (2011) der Aufarbeitung eines schwierigen historischen Erbes. Allerdings kann man das Konzept der Slumfilme schnell überreizen und jegliche soziale Relevanz über Bord gehen lassen. So wie Squalor (Astig, 2009). Der stellt das Leben unter der Armutsgrenze mit beliebten Film- und Fernsehstars und immensem Produktionsaufwand im Stil von MTV-Clips nach. Sein Regisseur GB Sampedro ist ein erfolgreicher Werbe- und Musikvideofilmer. Nicht zu Unrecht bezeichnen manche Squalor als Hochglanz-Slum-Pornographie. Inzwischen ist es für viele aus dem Mainstream zu einem Trend geworden, ihre persönlichen Eitelkeiten durch die Mitarbeit an prestigeträchtigen Independent-Projekten zu befriedigen. Eine absurde Umkehrsituation ist entstanden: Die kreativen Kräfte des digitalen Kinos haben mit einem erheblichen Wahrnehmungsdefizit in ihrer Heimat zu kämpfen, während sie auf internationalen Filmfestivals gefeiert oder zumindest als positive Überraschung zur Kenntnis genommen werden. Auf den Philippinen finden sie außerhalb kleiner universitärer, filmwissenschaftlicher oder cinephiler Zirkel so gut wie keine Aufmerksamkeit. So befruchtet die Szene zum Bedauern vieler sich nur selbst – aber dies mit einer erstaunlich hohen Fortpflanzungs- und Mutationsrate. Das führt zu Kontroversen, die die Szene zersplittern. Für Mike Sandejas, einen eher publikumsorientierten unabhängigen Regisseur, der mit seinen Musikfilmen Just Like Before (Tulad ng dati, 2006) und If I Knew What You Said (Dinig sana kita, 2009) ausreichend Zuschauer in die Kinos locken kann, ist Filmemachen auf den Philippinen ein Extremsport, den man sich nur leisten kann, wenn man einen regulären Haupt-, zumindest einen lukrativen Nebenerwerb irgendwo in der Medienindustrie hat. Das ist nicht neu. Selbst in der langen Boom-Phase von den 1950er bis in die frühen 1980er Jahre, als jährlich oft weit über 200 Filme entstanden, war das philippinische Kino immer auf sich selbst fixiert und wurde nur in wenigen Ausnahmefällen von ausländischen Spezialisten wahrgenommen. Filmereignisse wie Blessings of the Land (Biyaya ng

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lupa, 1959) von Manuel Silos, der 1960 am Wettbewerb der zehnten Berlinale teilnahm, blieben die Ausnahme. Unter scharfer Beobachtung eines ganz anderen Publikums stehen dagegen politisch engagierte Dokumentarfilmer. Man kann sich brisanten Themen von Außen nähern wie es die in den USA lebende Ramona S. Diaz tut. In ihrer fabelhaften Doku Imelda (2003) porträtiert sie die Gattin des gestürzten Diktators Marcos und geht den selbst nach einem Vierteljahrhundert nicht geklärten Hintergründen der Ermordung des charismatischen Oppositionsführers Benigno »Ninoy« Aquino nach. Wie tief der Stachel der Verschwörung noch immer sitzt, zeigt Jun Reyes’ The Last Journey of Ninoy (2009), in dem sich selten gesehenes Originalmaterial und nachgestellte Spielszenen zu einer sehr interessanten Doku über die letzten 192 Stunden im Leben Aquinos zusammenfügen. Wird einem jedoch nicht von politisch höchst einflussreichen Oligarchenfamilien wie den Aquinos/Cojuancos oder der Lopez-Mediendynastie (ABS-CBN) der Rücken freigehalten, gerät man als Dokumentarist nicht selten selbst in die Schusslinie. So etwa Ditsi Carolino, die zu den wenigen reinen Dokumentarfilmern der Philippinen gehört. In Hindered Land (Lupang hinarang, 2009), betitelt nach der Nationalhymne der Philippinen, hält sie den von Gandhi inspirierten, 1700 Kilometer langen Protestmarsch von landenteigneten Bauern zum Präsidentenpalast in Manila fest und schildert den Widerstand der Landarbeiter gegen die Gewaltmaßnahmen der auch vor Mord nicht zurückschreckenden Zuckerbarone auf der Insel Negros. Durch solches Engagement wird man schnell als Staatsfeind und Mitglied einer linken Rebellenbewegung diffamiert und potenzielles Ziel ultrarechter Todesschwadronen. Die politisch progressiven Medienaktivisten der Gruppe Southern Tagalog Exposure leben besonders gefährlich. Nicht nur werden ihre Filme regelmäßig von der Zensur verboten. Eines von vielen schrecklichen Beispielen sind die Erlebnisse des Filmemachers Virgilio »King« Catoy. Er wurde während der Recherche zu einer Dokumentation über Menschenrechtsverletzungen zusammen mit mehreren politischen Aktivisten von Militärs gekidnappt, seine Kamera und das Bildmaterial zerstört. Zwar wurde er nach der schnellen Intervention höherer Kreise und seiner Scheinexekution wieder freigelassen (»this is your second birthday«, gab man ihm noch zur Erinnerung mit auf den Weg). Doch zwei seiner Begleiter aus der Menschenrechtsvereinigung Karapatan-Southern Tagalog wurden wenige Tage später ermordet und misshandelt aufgefunden.

Untertitel Vieles hat sich seit Juni 2010 getan: Optimismus wie seit langem nicht mehr herrscht in allen Bevölkerungsschichten: ein neuer Präsident wurde gewählt, eine neue Administration ist angetreten, alte Seilschaften aus den oberen Reihen der Regierungsorganisationen und Verwaltungsgremien zu entfernen.

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Zudem wächst die Wirtschaft kontinuierlich (7,3 Prozent 2010, 4 Prozent 2011, um 6,5 Prozent 2012– allerdings vom jährlichen Bevölkerungswachstum von durchschnittlich um 2 Prozent gleich wieder zur Nullsumme degradiert), nach China momentan die dynamischste Volkswirtschaft Asiens. Von interessierten Kreisen zur Macht gedrängt, sozusagen ins Amt getragen worden ist der bis dahin unauffällige Senator Benigno »Noynoy« Aquino III (zweiter Spitzname »P-Noy«). Seine Mutter war die Expräsidentin Corazon »Cory« Aquino, die Frau des von Marcos ermordeten Oppositionsführers Benigno »Ninoy« Aquino jr. Tatsächlich hat Aquino zur Chefsache erklärt, die frühere Präsidentin GMA am Wickel zu kriegen und sie für ihre Vergehen während ihrer Amtszeit (Hauptvorwurf ist fortgesetzter Wahlbetrug) zur Verantwortung zu ziehen. Erster Schritt dahin war, sie Ende 2011 am Verlassen des Landes zu hindern. Seitdem sitzt sie in Untersuchungshaft. Die Verfahrenseröffnung gegen sie verzögerte sich, weil Aquino zuerst den durch eine illegale »Mitternachtsernennung« ins Amt gelangten höchsten Richter des Landes, Renato Corona (früherer chief of staff für GMA) loswerden musste. Corona war zuvor durch mehrere höchst fragwürdige und politisch absolut unerwünschte Rechtsentscheidungen unangenehm aufgefallen. Eine schwere Verfassungskrise zog herauf. In dem quälend zähen und zermürbenden Verfahren, in dem sich die Kontrahentenlager bei jeder Bewegung zu blockieren versuchten, zeigt sich wieder das ganze Dilemma einer schwachen Verwaltung und Regierung. Über Monate verfolgte die philippinische Bevölkerung live im Fernsehen die Verhandlungen. Ihr großes Interesse erklärt sich daraus, dass zuvor lediglich das impeachment des korrupten Joseph Estrada erfolgreich zur Amtsenthebung eines der höchsten Volksvertreter führte und Ablauf und Ausgang der jetzigen Verhandlungen allgemein als Nagelprobe für das verfassungsgemäße Funktionieren der Institutionen gewertet wurden. Durch die Bestimmtheit, mit der Aquino seine Hauptanliegen verfolgt (etwa die Mitte Oktober 2012 bis dahin nicht für möglich gehaltene, überraschende Unterzeichnung eines tragfähigen Friedensabkommens mit den Rebellen der Moro Islamic Liberation Front [MILF]), erhält man eine gute Vorstellung davon, welche weiteren Möglichkeiten zur Veränderung es im Land gäbe (z.B. hinsichtlich Landreform, Friedensschluss mit maoistischen Rebellen, Reproductive Health Bill etc.), bestünde nur der politische Wille, sich dieser Dinge anzunehmen.

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Cinemalaya: außen

Man kann sagen, was man will: der neue Präsident macht seinen Job besser als seine Vorgänger. Noch immer ist die Zivilgesellschaft schwach, doch sie scheint sich zu entwickeln. Tatsächlich hat sich auch die Menschenrechtssituation verbessert. Der berüchtigte Armeegeneralmajor Jovito Palparan, »Berdugo« (»Henker«) genannt, hat sich mit großer Sicherheit zahlreicher Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht. Nach einem Bericht der Philippine Commission on Human Rights von 2007 können ihm zwar keine direkten Tatbeteiligungen nachgewiesen werden, doch man kam zu dem Schluss: »there is certainly evidence pointing the finger of suspicion at some elements and personalities in the armed forces, in particular General Palparan, as responsible for an undetermined number of killings, by allowing, tolerating, and even encouraging the killings«. Gegen Palparan, der ab 2009 als Volksvertreter im Repräsentantenhaus saß, wird Ende 2011 ein Haftbefehl erwirkt. Seitdem befindet er sich auf der Flucht. Inzwischen wagen sich Zeugen der von Palparan und seinen Schergen begangenen Verbrechen aus der Deckung. Bauern, Aktivisten der Landreform, Mitglieder kooperativer Gruppierungen (bislang grundsätzlich als linksgerichtet und damit staatszersetzend diffamiert), die zuvor zu den Opfern Palparans gehörten, beteiligen sich an der Jagd auf ihn. Die Menschen haben deutlich Vertrauen in das Rechtssystem gewonnen. Belegt wir dies u.a. durch Interviews, welche die Künstlerin und Filmemacherin Kiri Dalena und die Journalistin Pat Evangelista mit Opfern und Zeugen im Rahmen von Maßnahmen führten, die zur Ergreifung Palparans beitragen sollen.

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Rückblende Seit fast drei Jahrzehnten eine zentrale Figur der philippinischen (Indie-)Kinokultur ist Teddy Co. Er selbst nennt sich filmologist. Er ist Filmhistoriker und eine wandelnde Filmenzyklopädie. Lange bevor es das Internet gab, war er eine der wichtigsten Gedächtnisinstanzen in der Filmszene. Das Magazin Rogue titulierte ihn 2008 zutreffend als »bookmaker«. Co ist ein unermüdlicher Brückenbauer und sehr erfolgreicher Advokat und Lobbyist für das philippinische Kino. Die Hauptbestimmung dieses one man think tank ist es, Ideengeber und Berater zu sein. Es ist kaum möglich, alle Festivals und Initiativen zu nennen, bei denen er entscheidend mitgeholfen hat, sie aus der Taufe zu heben – oder sie gar erst denkbar zu machen. Schon in den 1980er Jahren lassen sich z.B. Veröffentlichungen von ihm finden, in denen er die Vision dezentralisierter Produktionsstandorte und eines transregionalen Filmfestivals entwarf, das nicht mehr nur auf die Hauptstadtregion Manila fixiert ist, sondern alle Landesteile und Lokalkulturen gleichberechtigt repräsentieren würde. Ziemlich exakt wurden diese Vorgaben schließlich mit der Etablierung des Cinema Rehiyon Film Festival im Jahr 2009 umgesetzt. Ebenfalls in den 1980ern begann er für ein nationales Filmarchiv zu werben. Selbstverständlich ist er Gründungsmitglied der Society of Filipino Archivists for Film. Seit 1993 streitet dieser private Verein namhafter Filmenthusiasten und -spezialisten für diese längst überfällige Institution. Der SOFIA ist es zu verdanken, dass durch ihre akribische Recherche zahlreiche verloren geglaubte Filme wiedergefunden und viele andere vor der sicheren Zerstörung bewahrt werden konnten. Bis zur Verwirklichung eines mit nennenswerten finanziellen Mitteln und adäquater Logistik ausgestatteten Filmarchivs als Regierungsinstitution musste Co allerdings bis 2011 warten. Filmfestivals sind Antriebskräfte der Entwicklung. Neben den etablierten großen (Independent-)Filmfestivals dürfen kleine aber sehr feine Festivals wie das .MOV-International Film, Music & Literature Festival nicht unerwähnt bleiben. Seit 2002 wird es von seinem Initiator Khavn de la Cruz in unregelmäßigen Abständen und an wechselnden Orten veranstaltet. Es ist das älteste noch bestehende ganz auf digitale Medien ausgerichtete Festival der Philippinen, älter als Cinemalaya und Cinema One Original Digital Film Festival und zu 100 Prozent unabhängig. Im November 2011 fand es zum vierten Mal statt. Als eines der neuen Zentren für unabhängiges und digitales Filmemachen hat sich auf Mindanao Davao, die drittgrößte Stadt der Philippinen, etabliert. Schon seit 2003 findet hier, meist im Oktober des jeweiligen Jahres von der Alchemy of Vision and Light veranstaltet, der Guerilla Digital Filmmaking Workshop statt, in dem jedem Interessierten alle für diese Arbeitsweise wichtigen Werkzeuge erklärt werden und er diese dann praktisch erproben kann. Hauptsächlich die während dieses einwöchigen Crashkurses entstandenen, aber auch einige andere Filme aus Mindanao (jeweils 10 bis 12 Kurz- und Langfilme sowie einige

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Dokumentarfilme) werden anschließend während des jeweils im Dezember veranstalteten, fünftägigen Mindanao Film Festival gezeigt, das von lokalen und überregionalen Regierungsbehörden in Kooperation mit privaten Trägern ausgerichtet wird. Das Fest fand zwischen 2005 und 2010 sechs Mal statt und muss als die wichtigste Keimzelle der inzwischen kräftig aufgeblühten Filmszene von Mindanao gesehen werden. In den folgenden Jahren konzentrierten sich die für das MMF Verantwortlichen auf die Mitarbeit am Cinema Rehiyon. Das Active Vista Film Festival, organisiert von Dakila – Philippine Collective for Modern Heroism, unterstützt von nationalen und internationalen Institutionen wie u.a. der Commission on Human Rights und dem United Nations Development Programme (UNDP), erstmals 2010 veranstaltet, tourte während eines halben Jahres durch 17 Städte und wurde von Workshops und Panels mit Filmschaffenden begleitet. Ende 2012 startete die Neuauflage des Festivals. Weit draußen in der abgelegenen Provinz der Visaya-Insel Samar wurde 2010 von dem Spaßvogel Noriel Jarito und Mitstreitern zum zweiten Mal das Filmfestival Pambujan Pelikula Para Sa Publiko (PPPP) veranstaltet. Dieses Fest hat sich ganz jenen Filmen verschrieben, die im lokalen Waray-Waray-Dialekt der Nachbarinseln Samar und Leyte gedreht sind. Als weitere wichtige Festivalinstitution hat sich auf Negros das Bacollywood etabliert. Gezeigt werden Filme, die in den Dialekten der Region (hauptsächlich Cebuano, Hiligaynon etc.) oder von Abkömmlingen der Region in anderen Landesteilen gedreht wurden. Motor hinter dem Festival ist die sehr gut etablierte Filmemacherszene von Bacolod (Hauptstadt der Provinz Negros Occidental). In deren Zentrum steht der Regie-Maverick Peque Gallaga,der sich mit Klassikern wie Gold, Silver, Death (Oro, Plata, Mata, 1982), Scorpio Nights [1984] oder Isang Araw Walang Diyos (1989) in das kollektive Gedächtnis eingegraben hat. Seit 1991 veranstaltet er in Zusammenarbeit mit dem Bacolod-Ableger der privaten De La Salle-Eliteuni den Negros Summer Workshop, aus dem über die Jahre ein kontinuierlicher Strom junger Talente hervorgegangen ist, von denen sich viele (Erik Matti, Lawrence Fajardo, Richard Somes, Gabby Fernandez, um nur einige zu nennen) im Mainstream- und/oder Independent-Bereich etablieren konnten. Auf der Nachbarinsel Cebu mit der gleichnamigen Hauptstadt wird jedes Jahr im Januar das alle Kulturbereiche umfassende Sinulog Festival veranstaltet, zu dem auch ein für die Region wichtiges Kurzfilmfestival gehört. Ein kleines, dafür aber sehr wichtiges Festival jenseits des Mainstreams ist das Gawad CCP Para Sa Alternatibong Pelikula At Video. Seit 1987 wird diese Veranstaltungsreihe vom Cultural Center of the Philippines (CCP) organisiert und ist damit das älteste Independent-Filmfestival der Philippinen. Die zum Schluss jedes Gawad CCP vergebenen Preise sind wichtige Anerkennungen und Auszeichnungen im philippinischen Indie-Kino. Das Festival, das immer in den Monaten November oder Dezember abgehalten wird, gilt als Rückschau auf das Interessanteste, was im Verlauf des jeweiligen Jahres in den Sparten

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Kurz-, Dokumentar- und Experimentalfilm, Animation und Video produziert wurde. Schon seit seiner Gründung 2007 erfährt das Animahenasyon – Pinoy Animation Festival großen Zulauf und Zuspruch. Veranstalter ist das Animation Council of the Philippines, ein nicht gewinnorientierter, regierungsunterstützter Zusammenschluss von mehr als 60 Privatfirmen aus dem Bereich Animation und den wichtigsten Hochschulen des Landes. Immer im November eines Jahres werden während fünf oder sechs Programmtagen jeweils weit über 100 neue Produktionen (fast ausschließlich Kurzfilme) präsentiert. Comics, Zeichentrick und Animation haben eine lange Geschichte auf den Philippinen. Pinoy-Kids sind fast ebenso komik-verrückt wie japanische manga-verrückt sind. Aus dieser Tradition erwachsen junge Talente, die oft sehr schnell von den Majors in Hollywood angeworben werden. Ausländische IndustrieBeobachter sind daher auf jedem Animahenasyon zu finden. Neben den genannten Festivalreihen gibt es immer wieder sehr wichtige und interessante Einzelveranstaltungen, die meist von Gruppen unabhängiger Filmaktivisten ausgerichtet werden. Erwähnenswert hierbei wäre u.a. das Kontra-Agos aus dem Jahr 2007, das den Untertitel »A Resistance Film Festival« trug und von der Kultur- und Politaktivistengruppe Southern Tagalog Exposure organisiert wurde. Wichtige Übersetzungsinstanzen im Filmgeschehen sind die jungen, sehr engagierten und gut vernetzten Filmkritiker des Landes. Ihr Hauptmedium ist das Internet. Hier finden sich sehr scharfsinnige, funkensprühende Blogs wie Oggs Cruz’ Lessons From the School of Inattention, Noel Veras Critic After Dark, Dino Manriques PinoyFilm.com oder der unerlässliche Meta-Blog pinoy rebyu – Critical Consensus of Filipino films.

Preproduction Bis vor kurzem war die wichtigste Förderinstitution für alles Unabhängige, für Experimental-, Kunst- und Arthouse-Filme die National Commission for Culture and the Arts (NCCA). Noch bis vor drei Jahren war es die Praxis des mit Filmkünstlern und im Bereich Film arbeitenden Kulturschaffenden besetzten Cinema Committee der NCCA, jedes halbe Jahr darüber zu entscheiden, welche in diesem Zeitraum eingereichten Drehbücher als Kandidaten für eine staatliche Förderung in Frage kommen. Dann entschied man sich, ein neues Verfahren, das NCCA Competitive Grants Program einzuführen: Projektanträge wurden während des ganzen Kalenderjahres gesammelt. Erst zu Beginn des Folgejahres wurde über die Förderung entschieden. Durch diese Änderung in der Vorgehensweise und die damit verbundene Verdichtung des Auswahlverfahrens wollte die Kommission eine Konkurrenz unter den beantragten Projekten erreichen und die vielversprechendsten Vorschläge selektieren. Man wollte effizienter als zuvor fördern, als durch das Gießkannenprinzip auch weniger gute Projekte finanziert wurden. Inzwischen hat die NCCA ihre Förderpolitik erneut umgestellt – und sich selbst ein Bein. Die neuen Regeln

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sehen vor, dass ein Projekt, nachdem es als förderwürdig anerkannt wurde, vom Filmemacher vorfinanziert werden muss. Erst nach der Fertigstellung erstattet die NCCA dem Regisseur die Produktionskosten bis zum jeweiligen Förderlimit für Kurz- (150.000 Pesos) oder Langfilme (500.000 Peso [durchschnittlicher Umrechnungsfaktor der letzten zehn Jahre: 1 Euro = 60 Peso]). Unter diesen Bedingungen können es sich nur noch Begüterte oder schon in der Industrie Etablierte leisten, einen Film zu drehen. Damit hat die NCCA das genaue Gegenteil ihres ursprünglichen Auftrags erreicht. Unter anderem aus diesem Grund entwickelt sich auf den Philippinen crowd funding zu einer wichtigen Finanzierungsalternative. Einer der ersten, der mit diesem neuen Budget-Konzept arbeitet, ist John Torres, der seit Anfang 2012 versucht, auf diese Weise Geld für sein Projekt »Lukas nino« zusammenzubekommen. Zuvor war er in Konflikt mit der NCCA geraten. Man hatte dort erhebliche Zweifel an den von Torres vorgelegten Budgetberechnungen für seinen minimalistisch-improvisiert-mäandernden Refrains Happen Like Revolutions in a Song (Ang ninanais, 2010). Vorreiter des crowd funding auf den Philippinen ist Crisaldo »Cris« Pablo, der König des Independent-Porn. Seit 2000 hat er rund 30 schwule Softsexfilme inszeniert. Durch crowd funding produziert er über seine Beteiligungsfirma seit 2005 auch regelmäßig (meist seine eigenen) Filme. Pablo ist vielleicht nicht der kreativste, sicher aber der schnellste und produktivste Filmer in seiner Sparte. Die lokale Gay-Porn-Szene, die im Ausland so gut wie unbekannt ist, bildet die zweite Säule des philippinischen Independent-Films. Kinovorführungen zahlreicher neuer Gay-Filme sind, anders als die wenigen Kinovorstellungen ihrer Arthouse-Gegenstücke, oft sehr gut besucht. Im Gegensatz zur Arthouse-Independent-Filmszene werden hier zusammen mit der Zweitauswertung auf dem Videomarkt richtig hohe Umsätze und Gewinne erzielt. Das Geschäft läuft so gut, dass dieses Special-Interest-Segment neben unabhängigen Kleinst- und Kleinfirmen nun auch die Majors bedient – Sex sells. Was dagegen leider so gut wie überhaupt nicht funktionierte, war das 2005 ins Leben gerufene indieSine, das »the new home of brave new independent films« sein wollte. Es handelt sich dabei um eine sehr verdienstvolle Initiative der Philippine Independent Filmmakers MultiPurpose Cooperative (IFC) und der in die Robinson Galleria-Einkaufscenter integrierten Multiplex-Kinos Robinsons Galleria Movieworld, die jeweils einen ihrer Säle für Independent-Filme zur Verfügung stellten. In Zusammenarbeit mit der NCCA organisierte die IFC im Februar 2007 das kleine, doch sehr ehrgeizig programmierte Pelikusina. Im Untertitel versprach es, ein Festival für »photography, film and video« zu sein und führte tatsächlich erlesene Arbeiten aus 60 Jahren philippinischen Kunstschaffens zusammen. Trotzdem entwickelte sich das indieSine leider immer mehr zur Nullnummer, denn selten wurden die Vorstellungen von mehr als einer Handvoll Zuschauer besucht. Immer öfter kam es vor, dass Movieworld einen Indie-Arthouse-Film schon an

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seinem Starttag wieder aus dem Programm kickte, um Platz für HollywoodBlockbuster zu schaffen. 2010 wurde die Zusammenarbeit eingestellt. Bis dahin funktionierten nur noch Gay-Softsex-Filme. Immer mehr Indie-Firmen begannen, dieses Material zu produzieren. Konservative Gruppen, die ohnehin grundsätzlich gegen die freigeistigen Einstellungen junger Filmemacher waren, fühlten sich in ihren Vorurteilen bestätigt, und konnten noch lauter polemisierten, dass das Independent-Kino nichts weiter sei als ein moralisch durch und durch verkommener Sumpf. Zwei weitere sehr verdiente private Indie-Institutionen, die Aufführungsreihen in den Gallerie-Bars mag:net und Mogwai (eröffnet 2005), mussten leider 2010 bzw. 2011 ihren Betrieb einstellen.

Nahaufnahmen Unbedingt im Auge behalten muss man Mes De Guzman. Er lebt und arbeitet in der Provinz Nueva Ecija, einer wenig entwickelten Region in der Mitte der Hauptinsel Luzon. Nach Balikbayan Box (2007), einem drögen, zweistündigen Kurzfilm im Stil von Lav Diaz, hat er seine eigene Stimme gefunden und ist zu einem der bedeutendsten Vertreter des regionalen Kinos geworden. In den nahdokumentarischen, alltagspoetischen Ice Is the Earth (Ang Mundo Sa Panahon Ng Yelo, 2010), Stone Is the Earth (Ang Mundo Sa Panahon Ng Bato, 2010) und »Ang Mundo Sa Panahon Ng Bakal« (dem derzeit noch nicht veröffentlichten Abschlussfilm seiner Eis-Stein-Metall-Trilogie) sowie in Sa Kanto Ng Ulap At Lupa (2011) verarbeitet er Schicksale von randexistierenden Kindern und Jugendlichen, die in einer erbarmungslosen Gesellschaft geschunden und verbraucht werden, sich verflüchtigen wie in einer Todesfuge, ohne dass es jemand bemerkte oder interesierte. Nach wie vor ist Ato Bautista, ein Maverick, wie aus knorrigem tropischen Hartholz, einer der großen Hoffnungsträger für harte, intelligente IndieGenreware wie etwa Awaken (Sa Aking Pagkakagising Mula Sa Kamulatan, 2005) oder Blackout (2007). Er spielt in einer eigenen Liga, z.B. mit dem in schwarz-weiß und bester Film-Noir-Tradition gedrehten Thriller The Night Infinite (‘Di Natatapos Ang gabi, 2010) – leider völlig untergegangen, höchstens einer Handvoll Insidern bekannt. Bautista drehte ihn in einer schwierigen Lebensphase: fast abgebrannt, ohne Job und eigene Wohnung, schon halb auf dem Weg weg aus der Metropole zurück in die Provinz und den Schoß der Familie, kratzt er seine tatsächlich letzten Kröten zusammen und bringt ein reifes Werk zustande, dem man zwar in einigen Szenen sein lachhaft geringes Budget ansieht, das aber dennoch eine künstlerisch integre Aussage liefert. An der Beurteilung der filmischen Fähigkeiten von Khavn de la Cruz, der aus begüterten Verhältnissen stammt und an der privaten De La Salle-Eliteuniversität seinen Schliff erhielt, scheiden sich die Geister: während ihn die einen für wenig mehr als einen selbstdarstellerischen Schaumschläger halten,

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gilt er anderen als avantgardistische Speerspitze. Er gehört zur Gruppe der sogenannten »Festival Babies« (u.a. Raya Martin, Adolfo Alix jr., John Torres), die sehr genau die Erwartungen bestimmter meinungsbildender Festivals wie z.B. dem in Rotterdam zu bedienen wissen. Khavn versteht diese Jonglage am besten; schon deshalb, weil sein Werkausstoß kaum zu toppen ist und allein hierdurch eine gewisse Bandbreite der Ausdrucksmöglichkeiten von ihm geliefert wird. Inwieweit Radikalität und Kalkül Hand in Hand gehen bei Khavn, sollte gesondert untersucht werden. Man darf ihn durchaus für einen besseren Musiker und Literat denn Filmemacher halten. Daher überrascht es nicht, wenn er nebenbei mal einen inzwischen zum Klassiker gewordenen absurdexistentialistischen Bühnenstoff von Paul Dumol, dem ersten philippinischen Theatermodernisten, zu The Trials of Mister Serapio (Ang Paglilitis Ni Mang Serapio, 2010) umformt und so seinen bislang besten – möglicherweise genau deshalb am wenigsten wahrgenommenen – Langfilm dreht. Ein großer Coup gelingt Khavn mit »Ruined Heart«, der Spielfilmversion seines Kurzfilms Pusong wazak (2011). Sie wird koproduziert von der Kölner Firma Rapid Eye Movies. Außerdem kann er Chistopher Doyle, der wie Khavn selbst als Improvisationstalent bekannt ist, als Kameramann gewinnen. Adolfo Alix Jr. ist (neben Khavn) der mit Abstand umtriebigste IndependentFilmemacher (er liebäugelt aber auch immer wieder mit dem Mainstream). 1999 wird erstmals eine Story des damals 21jährigen verfilmt, 2002 folgt die erste Verfilmung eines seiner Drehbücher; Donsol (2006) wird sein Regiedebüt; bis Mitte 2012 hat er bei 22 Spielfilmen Regie geführt und 8 Filme produziert; seine Einladungen auf internationale Festivals gehen in die Dutzende, ebenso seine Filmpreise. Alix gehört klar in die Spitzengruppe der »Festival Babies«: Er besitzt ein untrügliches Gespür dafür, wann welche Stoffe wo nachgefragt werden könnten und liefert (z.B. schon Mitte 2012 Wildlife [Kalayaan, 2012] zum aktuellen Konflikt der Philippinen mit der Volksrepublik China um mögliche Bodenschätze unter den unbewohnten Spratly-Inseln im südchinesischen bzw. neuerdings politisch korrekter westphilippinischen Meer). Wer das indie exploitation nennen mag, macht sich beim Festivalvolk keine Freunde, liegt mit seiner Einschätzung aber nicht völlig falsch. Beispiel: Fable of the Fish (Isda, 2010), ein Film der von den philippinischen Großmeistern Lino Brocka (sozialkritisch) und Ishmael Bernal (bisweilen magisch-realistisch), auch von Brillante Mendoza, ebenso von dem Argentinier Eliseo Subiela (und anderen in dieser Gewichtsklasse) inspiriert ist. Der Film funktioniert nur teilweise und seine Vorbilder sind zu leicht erkennbar. Dennoch ist er für viele Programmierer internationaler Festivals, die mit immer engmaschigeren Schleppnetzen noch die kleinsten lokalen Filmregionen durchpflügen, um »aufregendes Neues« herauszufiltern, unwiderstehlich. Genau dieses Maßschneidern einer bestimmten Gruppe von Filmemachern, die Befriedigung einer spezifischen stereotypen Nachfrage nach bestimmtem »Dritte-Welt-Material« nehmen Mar-

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lon Rivera und Chris Martinez mit The Woman in the Septic Tank (Ang Babae Sa Septic Tank, 2011) auf die Schippe. In ihrer Satire beschreiben sie, wie ein zynisches Produktionsteam einen Film nach Mustern zusammenbastelt, die sich auf internationalen Filmkunstfestivals als durchsetzungsfähig erwiesen haben. Der reissbrettkonstruierte SEPTIC TANK wird beim Cinemalaya 7 unter dem Juryvorsitz des Leiters des Vesoul International Film Festival of Asian Cinema fragwürdigerweise Doppelsieger in den beiden Hauptkategorien »bester Film« und »beste Regie« und daraufhin u.a. sofort in die rennomierte Forum-Sektion der Berlinale eingeladen – schelmenhaft?! Adolfo Alix ist zweifelsfrei ein großes Talent mit einer enormen Bandbreite an Themen und (clever kompilierten) Stilen und verfügt über eine messerscharfe Beobachtungsgabe (sein Slum-Film Adela [2008] hätte ebenso gut von Brillante Mendoza gedreht werden können; die Story von Chassis über Obdachlose, die unter geparkten Lastwagen vegetieren [2010] geht auf eine Folge der Dokumentarserie i-Witness des TV-Senders GMA7 zurück – weitere Beispiele von gekonnter Zweitverwertung ließen sich mühelos finden). Aber er tendiert dazu, seine Energie zu verschwenden. Einige seiner Werke, die durch größere Konzentration leicht an Bedeutung hätten gewinnen können, verlieren durch ihre hastige Ausführung in der raschen, übereilten Folge seiner Projekte. Selbst wenn Alix’ Filme oft zu kalkuliert erscheinen; Kontroversen und Risiken scheut er nicht. Seinen Zielen ist dies zuträglich. Den einen oder anderen finanziellen Versager kann er sich leisten. Alix ist schlau und handwerklich versiert genug, dieses Propaganda-Kalkül für sich arbeiten zu lassen. Es gibt über die Jahre eine lange Reihe philippinischer Verbotsfilme. Sie wurden von der Zensurbehörde Movie and Television Review Classification Board (MTRCB) mit einem X-Rating versehen, öffentliche Aufführungen sind ausgeschlossen (ausgenommen sind die beiden Kultur-Enklaven Cultural Center of the Philippines [CCP] und University of the Philippines). Die Gründe sind politischer oder sexueller Natur oder beides zugleich. Schon Alix’ Aurora (2009) über das Leiden eines Abu Sayyaf-Entführungsopfers wurde mit einem X gebrandmarkt. Warum nicht einen kleinen Tritt in die Hacken der Zensoren! Mit Chassis zum Beispiel. Alix gelingt ein noch nicht dagewesener Doppelpunkt gegen die normative Systemblödheit: als höchste Instanz schaltet sich das Office of the President of the Philippines ein und belegt den Film mit einem eigenen Bann (der Präsident darf das): »the depiction of graphic masturbation and the exhibition of male genitalia are clearly concrete grounds for disapproval of the film for public viewing«. Doppel-X! Selbst wenn das MTRCB im Sinn der Kunstfreiheit nachgegeben hätte, bliebe der Film somit verboten. Alle Achtung für den Provokateur! Möchte man in Alix das Beste sehen, könnte man ihn vielleicht schon jetzt neben den jungen Fassbinder stellen; seine weitere Entwicklung bleibt abzuwarten (dass er, wie der große Vorläufer, an beiden Enden brennt und jung verglüht, ist, wenn man Alix kennt, kaum zu erwarten).

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Stiefkind des philippinischen Kinos ist der Dokumentarfilm, obwohl hier echte Entdeckungen zu machen sind: z.B. Monster Jimenez’ Kano – An American and His Harem (2010) über einen amerikanischen Vietnamkriegsveteranen, der sich in einem kleinen philippinischen Dorf niedergelassen hatte. Durch seinen Sexhunger und die über hundert Frauen und Mädchen, die er für ihre Dienste mit harter Münze entlohnte, hielt er seit 1969 fast im Alleingang die lokale Wirtschaft am Laufen. Erst 2002 wurde er, zum Unmut vieler Dorfbewohnerinnen, die weiterhin zu ihm stehen, wegen 80facher Vergewaltigung ins Gefängnis geworfen. Nach vierjähriger Produktionszeit filtern Jimenez und ihr Produzent und Mitstreiter Mario Cornejo aus über 150 Stunden Material das interessante Portrait eines schrägen Vogels und seines sozio-kulturell-ökonomischen Umfelds heraus, das alles andere als eine schwarz-weiß gezeichnete Anklage gegen sexuelle Ausbeutung ist. Vielmehr bietet der Film Einblicke in die Gefühlswelt, Denk- und Lebensweise seiner Opfer, die sich in vielen Fällen überhaupt nicht als solche sehen, da der Ameri-Kano seine hohe Invalidenrente gleich an sie, seine zahlreichen Haremsbräute, weiterreichte und damit der bread winner großer Teile der Dorfgemeinschaft war – und auch aus dem Knast heraus noch immer ist. Das Hauptproblem, dem Dokumentaristen auf den Philippinen begegnen, fasst die von Monster kolportierte Äußerung ihrer begeisterten Tante zusammen, die sie fragte: »So when are you going to make a real movie?« – man nimmt sie nicht ernst. Zudem gibt es für Dok-Filmer so gut wie keine Möglichkeit, ihre Produktionskosten wieder hereinzubekommen – niemand, keine Institution, kein Fernsehsender ist daran interessiert, ihre Filme kommerziell auszuwerten. Ein weiteres Doku-Highlight ist Jewel Maranans Tondo, Beloved (Tundong Magilaw: Pasaan Isinisilang Siyang Mahirap?, 2011), erster Teil einer Trilogie über das Leben in den Slums des Hafenviertels Tondo in Manila, eines der besten Beispiele für die erfolgreiche Wiederaufnahme der vom GoetheInstitut in Manila veranstalteten Film-Workshops, in denen jungen philippinischen Regisseuren die Gelegenheit gegeben wird, mit deutschen Filmschaffenden zusammenzuarbeiten. Schon von den 70er bis in die frühen 90er Jahre hinein, als es mit Ausnahme der privaten Mowelfund Organisation mit dem Mowelfund Film Institute und ihren Unterrichtsangeboten noch keine Filmschulen auf den Philippine gab (praktisch orientierte Filmstudiengänge wurden erstmals zu Beginn der 90er Jahre an Manilas drei Elite-Unis De La Salle – College of Saint Benilde, Ateneo de Manila und dem College of Mass Communication der University of the Philippines Diliman etabliert, später auch an weiteren großen Unis wie University of Santo Tomas oder University of the East), brachte das G. I. Künstler wie Werner Schroeter, Harun Farocki, Rosa von Praunheim, Ingo Petzke, Christoph Janetzko nach Manila und düngten damit die Kulturwüste. Viele junge Filminteressierte erhielten hier erste Einblicke in Filmtheorie, Arbeit mit der Kamera, Postproduktion; schon erfahrenere Film-

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künstler erhielten eine Fortbildung, darunter Raymond Lee, Lav Diaz, Roxlee, Ditsi Carolino, Tad Ermitaño, Mark Meily, Yam Laranas. Nach einem mehr als zehn Jahre dauernden, budgetkürzungsbedingten Dornröschenschlaf beginnt das G. I. 2010 in Zusammenarbeit mit dem De La Salle College, der NCCA und dem IFC wieder mit der aktiven Ausbildungsarbeit. 2012 erlebte der bislang sehr erfolgreiche Documentary Filmmaker’s Workshop (diesmal mit zusätzlicher Unterstützung des Institut français), an dem jeweils mehr als ein Dutzend junge Filmemacher teilnehmen und unter Anleitung deutscher (und diesmal auch französischer) Spezialisten Dokumentarlangfilme erarbeiten, seine dritte Auflage.

Hauptfilm Die für das philippinische Kino bedeutendste Entwicklung ist der Durchbruch des regionalen Filmschaffens im Jahr 2010. Beim Cinemalaya 6 gehen alle Hauptpreise an Filme aus Mindanao (das selbst für viele Filipinos fast ein fremdes Land ist und aufgrund seiner verschärften politischen und gesellschaftlichen Probleme meist nur durch negative Schlagzeilen auffällt): Ways of the Sea (Halaw, 2010) des aus Zamboanga auf Mindanao stammenden Regisseurs Sheron Dayok gewinnt die Preise als bester Film und für die beste Regie, wird daraufhin auf zahlreichen wichtigen internationalen Festivals weitergereicht und gewinnt ein ganzes Warenlager von Filmtrophäen. Es geht um jene kaum bekannte Route philippinischer Wirtschaftsflüchtlinge über die Kette der Sulusee-Inseln, die wie ein Rattenschwanz – und sozusagen durch die Hintertür – das Armenhaus Mindanao direkt mit Sabah verbindet, einer auf Borneo gelegenen östlichen Provinz des wirtschaftlich aufstrebenden Schwellenlands Malaysia. Dayok gelingt es, während der nächtlichen Überfahrt einer hoffnungslos überfüllten Nussschale die ganze Widerwärtigkeit wirtschaftlicher Ausbeutung und menschlicher Verzweiflung und Gier zu kondensieren. Noch während des Festivals wurde bekannt, dass The Bridal Quarter (Limbunan, 2010) von Gutierrez »Teng« Mangansakan II., ebenfalls aus dem Wettbewerb des Cinemalaya 6, zum Filmfestival nach Venedig als Abschlussfilm der International Critics’ Week-Sektion eingeladen wurde. Mangansakan, Sproß eines Datu-Clans, aus der Führerschicht (in seiner Region ist dies die Muslim-Aristokratie), stammt aus der politisch extrem instabilen Provinz Maguindanao auf Mindano (wo sein Großvater Provinzgouverneur war). Privilegiert einerseits, selbst unterdrückt andererseits durch seine intellektuelle Opposition und inzwischen offene Homosexualität, balanciert Mangansakan entlang tödlicher Verwerfungslinien. Leichter macht es ihm nicht, dass zu seiner Familie Salamat Hashim gehört, Gründer der Moro Islamic Liberation Front, der militanten Abspaltung der Moro National Liberation Front (MNLF), die sich ihrerseits inzwischen weitgehend mit der philippinischen Zentralregierung arrangiert hat. In The Bridal Quarter geht es um die Rituale im Zusammenhang ver-

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mittelter Hochzeit, die Gewalt und das eiserne Korsett der Tradition. Mangansakan findet angemessenen Ausdruck für all seine Anliegen. Ein hervorragendes Werk. Leider kann man das von dem sehr persönlichen Letters of Solitude (Cartas de la soledad, 2011) und dem symbolistisch-allegorischen Qiyamah (2012) nicht sagen. Vervollständigt wird die Erfolgstriade des Regionalkinos durch Sheika (2010) von Arnel Mardoquio. Er ist ein Spätzünder. Seinen Job als Generalmanager für Coca Cola in Mindanao schmeißt er mit Ende 30, organisiert lieber die Theaterszene in Davao, dreht mit seinem Filmdebüt Earth’s Whisper (Hunghong sa yuta, 2008) einen unglaublich drögen und hölzernen Ethnoklotz, dem der menschenrechtsschulmäßige, schwerverdauliche Hospital Boat (2009) folgt. Eigentlich ein Filmemacher, für den wenig Hoffnung bestand. Dann jedoch passiert etwas. Thema, Mitarbeiter, Umsetzung – alles stimmt. Die Verantwortlichen des Cinemalaya wollen dies jedoch nicht erkennen. Da ein guter Teil der Filmfinanzierung vom Festival kommt, verlangt man Mitspracherecht an Sheika. Die Hauptdarstellerin soll ausgetauscht werden. Sie ist eine Unbekannte. Aber auch die Produzentin des Films. Mardoquio besteht entschieden auf seiner künstlerischen Souveränität. Noch bevor Sheika disqualifiziert wird, entzieht Mardoquio sich der Einflussversuche, nimmt seinen Film aus dem Langfilmwettbewerb und geht im Streit. Doch dann holt der Festivalprogrammierer Ed Cabagnot Sheika zurück ins Festival. Er ist nicht den Festivalleitern unterstellt, sondern arbeitet für das staatseigene CCP, Austragungsort des Festivals. Sheika wird einer der Konkurrenten im Wettbewerb um die NETPAC Awards, eine Unterabteilung des Festivals, die von der unabhängigen Organisation Network for the Promotion of Asian Cinema ausgerichtet wird. Sheika, der vom verdeckten Krieg der Regierung gegen die muslimische Bevölkerungsmehrheit im Süden des philippinischen Archipels erzählt, gewinnt und wird in der Folge auf zahlreiche Festivals weltweit eingeladen. Sheika ist klassisches Erzählkino. Seine Haltung ist Anklage und Inbrunst. Ebenso in seinen beiden nächsten Filmen, Crossfire (2011) und Ang paglalakbay ng mga bituin sa gabing madilim (2012), die auch davon erzählen, wie die Menschen unter dem fortdauernden Konflikt in Mindanao leiden müssen.

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Cinemalaya: innen

Wie versucht wurde, mit Mardoquio umzuspringen, diskreditiert Leitung und Organisatiosstruktur des Cinemalaya-Festivals und verweist direkt auf seine weiterhin ungelösten zentralen Probleme. Kleine und größere Skandale, gewisse Ungereimtheiten hat es beim Cinemalaya von Anfang an gegeben, nur wurden die bislang nicht öffentlich gemacht. Das ändert sich jedoch Anfang 2012, als dem Langfilm-Newcomer Emerson Reyes (mit An Endless Room [Walang Katapusang Kwarto, 2011] Gewinner des Cinemalaya 7-Kurzfilmwettbewerbs) Gleiches widerfährt wie Mardoquio: Robbie Tan ist mit den beiden Hauptdarstellern von MNL 143 (2012) nicht zufrieden und verlangte im Namen der Festivalleitung auch in diesem Fall »competence, suitability to the role, and greater audience acceptability«, obwohl es sich diesmal um gestandenen Schauspielprofis handelt. (Ehrlicherweise muß gesagt werden, dass MNL 143 tatsächlich nicht gut funktioniert; das liegt an Struktur und Umsetzung des Films und an seinen Darstellern.) Doch Reyes will sich Tans Diktat nicht beugen. Er wartet, bis ihm das offizielle Disqualifikationsschreiben zugestellt wird. Nun kann er mit diesem Dokument an die Öffentlichkeit gehen und auf diese und andere dubiose Praktiken seitens der Cinemalaya-Leitung hinweisen, die in den Festivalstatuten überhaupt nicht vorgesehen sind. Ein Sturm bricht los. Genug Potenzial, schlechte Stimmung, negative Energie hatte sich über die Jahre angesammelt. Eine massive Welle dunkler Masse schwillt an gegen die Verantwortlichen des Festivals, zu dessen Ursprungswidersprüchen es gehört, das Adjektiv malaya (frei, unabhängig, unkontrolliert) im Namen zu tragen. In Teilen der Independet-Filmszene herrscht Revolutionsstimmung.

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Nachdem die Kontroverse voll entbrannt ist, zieht als Erster Nestor Jardin die Konsequenzen. Schon Mitte März erklärt er seinen Rücktritt vom Posten des Cinemalaya Festival Director. Kurz vor Beginn des Cinemalay 8 Mitte Juli tritt dann Robbie Tan von seinem Posten als Leiter des Monitoring Committee zurück. Beide bleiben allerdings weiterhin Mitglieder der Cinemalaya Foundation und damit graue Eminenzen im Hintergrund. Ob etwas von den Reformbemühungen bleibt, wird sich zeigen. Zu erhoffen ist nicht sehr viel. Das Fest ist inzwischen zu groß, zu wichtig, zu viele Erwartungen, materielle und immaterielle Pfründe hängen an ihm, um es einfach zu kippen. Statt dessen dürfte bei einigen hastigen informellen Zusammenkünften abgenickt worden sein, dass die nie öffentlich ausgesprochenen kommerziellen Interessen der Hauptbeteiligten (zu denen auch das CCP gehört, das neben einer gehörigen Prise Prestige während der jeweils zehn Cinemalaya-Festivaltage auch alle seine Säle voll bekommt) bis auf weiteres gesichert bleiben. Ein viel größeres Problem ist, daß das Festival ohne Hauptprogrammierer dasteht. Denn Ed Cabagnot, der wegen seines eigenen Kopfes und ätzenden Lästermauls schließlich Ende 2011 geschasst wurde, hinterläßt eine Lücke, die so einfach nicht zu schließen ist. Dies ist der eigentliche Grund, warum das Programm des Cinemalaya 8 dramatisch zusammengeschrumpft ist. Die Pfründesicherung der CinemalayaOberen und ihr Nepotismus hat viele Formen. Vertraglich geregelt ist z.B., wo die Untertitelung aller Cinemalaya-Produktionen vorgenommen werden muss: delikaterweise bei der Firma Pixelgrain Inc. bzw. deren Unterfirma Boutique Studio. Besitzer beider Firmen ist Laurice Guillen. Einen Interessenskonflikt kann die Festivalleiterin nicht erkennen. Auch nicht darin, ihren eigenen Film Mask (Maskara, 2011) als Eröffnungsfilm des Cinemalaya 7 zu platzieren. (Ist das Naivität oder Unverfrorenheit?) Ein typisches Beispiel für den Verlust des Instinkts für die früher für Filipinos in allen Lebenslagen unverzichtbare delicadessa. Sie unschreibt den in der traditionellen Gesellschaft essentiellen Verhaltenskomplex zwischen Ehrgefühl, Scham und Etikette. Ein anderes großes Problem des Cinemalaya-Kinos – und es ist ein Cinemalaya-Kino, eine eigene Sparte, fast ein eigenes Genre – ist, dass es nach dem Willen der Festivaltroika Laurice Guillen, Nestor Jardin (2001-2009 Präsident des CCP) und Robbie Tan, den Vorgaben des konventionellen Erzählkinos entsprechend geplant und konstruiert ist. Nicht nur vielen der jungen, experimentierfreudigen Filmemachern, die schon früh bei der Projektkonzeption durch die aufgezwungenen Konsultationen des Leitungstrios ausgebremst wurden, war nie völlig schlüssig zu erklären, warum ausgerechnet einer wie Tan, der zwischen 1978 und 2007 hauptsächlich über seine Firma Seiko Films rund 140 Spielfilme finanzierte und produzierte – in erster Linie Genremassenware für den Mainstream, oft mit deftigen Sexszenen aufgepimpt – plötzlich als eine Koryphäe des Independent-Kinos platziert wurde. Die Gründe liegen in der Natur des Cinemalaya: zu allererst wurde es als Produktlieferant konzipiert,

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als in den frühmittleren Nullerjahren klar wurde, dass auch mit billigen, aber gut gemachten Digitalfilmen TV-Sendeplätze gefüllt werden können. Das entsprach den kommerziellen Wünschen und Bedürfnissen des Hauptfinanziers des Festivals, des Oligarchen Antonio »Tonyboy« Cojuanco, der aus einer der mächtigsten Familien des Landes stammt. Sein Clan prägt seit fast einem Jahrhundert Wirtschaft und Politik der Philippinen: Seine Tante, aus der Cojuanco-Linie stammend, war die Präsidentin Corazon Aquino, sein Cousin ist der gegenwärtige Präsident Benigno Aquino. Nachdem Cojuanco 2001 das Dream Satellite Television, das erste volldigitale Direct-to-home-Satellitenfernsehen auf den Philippinen gestartet und 2003 den Sender TV5 erworben hatte, brauchte er kostengünstige Lückenfüller. Mit der Finanzierung des Cinemalaya seit seiner Gründung 2005 kann der schöngeistige Großmäzen Cojuanco gleichzeitig seine kunstliebenden Adern durchspülen. Sicher, es gibt in den Nebenprogrammen des Cinemalaya-Fests Schaufenstervorführungen guter, wichtiger und interessanter Filme des jeweils letzten Produktionsjahres. Große Aufmerksamkeit erhalten diese nicht. Wettbewerbsgewinner werden eingeladen, der Rest vergessen. Ist die Hauptcharge verbrannt, sind die Siegerfilme zu oft gesehen, grasen die Programmierer die zweite Reihe ab. Plötzlich eine Chance bekommen durch den internationalen Festivalhunger glücklicherweise auch Filme wie der technisch brillante Gewaltreigen Amok (2011) von Lawrence Fajardo (eine logistische MikrobudgetMeisterleistung, die Handlung spielt an einer der irrsinnigsten Straßenkreuzungen Manilas) oder Eduardo Roys pseudo-dokumentarischer Baby Factory (Bahay Bata, 2011), der während der Weihnachtstage in einer staatlichen, hoffnungslos unterbudgetierten Geburtsklinik spielt: die unterpriviligierten Weiber, die staatlich verordnet noch nie etwas von Geburtenkontrolle gehört haben (schon der Gebrauch eines Kondoms gilt nach der Doktrin der katholischen Kirche der Philippinen als Mord und diese Ideologie wird tagein tagaus in die Köpfe der Schäfchen gehämmert) spucken hier die Säuglinge aus ihren Gebärmüttern wie Schokoweihnachtsmänner am Nestlé-Fließband. Die Jahr ums Jahr größer gewordene Bedeutung und immer wichtigere Weichenstellungsfunktion des Cinemalaya-Fests lässt sich daran ablesen, dass zu jedem neuen Festival mehr ausländische Festivalmacher auf der Suche nach Programmfutter anreisen. Das führt dazu, dass immer mehr etablierte oder erfahrene, aber irgendwann in der fortdauernden Kinokrise seit den 90er Jahren aus dem Rennen geworfene Regisseure sich der Möglichkeiten dieses Festivals zu bedienen versuchen: z.B. der Cannes-Gewinner Raymond Red. Von der größten Indie-Hoffnung der 80er (sein Bayani [1992] über den Nationalhelden Andrés Bonifacio wurde vom ZDF koproduziert) wandelte er sich zu einem der gefragtesten Werbefilmer. Fast ein Jahrzehnt mühte er sich mit der Planung und Fertigstellung seines Rückkehrprojekts, des phänomenalen Thrillers Manila Skies (Himpapawid, 2009). Seine Hoffnung, in den

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Kreis der philippinischen Filmkunstexponenten zurückzukehren, erfüllte sich trotz dieses überzeugenden Werks nicht. Seine Wiedereintrittsstrategie lautete daher: Teilnahme an der erstmals beim Cinemalaya 6 (2010) veranstalteten Sparte Director’s Showcase (Bewerber für die fünf Finalistenfilme, die jeweils mit 600.000 Pesos aus verschiedenen Quellen, hauptsächlich aber den Cinemalaya-Töpfen gefördert werden, müssen mindestens drei kommerzielle Spielfilmveröffentlichungen vorweisen können). Red gelang mit seinem Stummfilmexperiment Kamera obskura (2012) der Einzug. Dieses Jahr darf Jose Javier Reyes mit Those Little Secrets (Mag Mumunting Lihim, 2012) teilnehmen. Nicht, dass Reyes an einem Aufmerksamkeitsdefizit litte: Seit seinem Regiedebüt von 1989 hat der frühere Reporter bislang 65 mal mehr mal weniger schrottige Kassenschlager inszeniert und in den letzten 30 Jahren 150 Drehbücher geschrieben. Gleiche Gewichtsklasse: Joel Lamangan: 81 mal Regie, 14 mal Drehbuch, 5 mal Produktion, 2 mal Teilnahme am Director’s Showcase mit persönlich aufrichtigen, filmisch und politisch völlig debilen Schleimpfropfen wie dem wohlmeinenden Patikul (2011) über den Bürgerkrieg auf der Sulusee-Insel Basilan, die als einer der Hauptrückzugsort der Abu SayyafTerroristen immer wieder für negative Schlagzeilen sorgt. – Herausgeschmissenes Geld, dass in diese Richtung nur durch Spezikitzeln und -rückenklopfen geflossen ist. Nachgewiesen werden kann nichts, bestritten wird alles. Jeder will nur das Beste. Zur Klarstellung: Raymond Red gehört nicht in die Gruppe dieser Absahner. Auch nicht der im Juni 2012 an Leukämie verstorbene Mario O’Hara, ein Gründungsfels des philippinischen Arthouse-Kinos. Als man nach O’Haras fast zehnjähriger Filmabstinenz (sein Arbeitsschwerpunkt war das Theater) von seiner Leinwandrückkehr mit The Trial of Andres Bonifacio (Ang Paglilitis Ni Andres Bonifacio, 2010) in der ersten Kohorte des Director’s Showcase erfuhr, hob eine fiebrige Spannung an. Das Ergebnis war zwiespältig, O’Hara zu sehr auf den Theatereffekt konzentriert. Zudem hatte man sich eine schärfere Abrechnung gewünscht mit Emilio Aguionaldo. Er war der Gegenspieler von Bonifacio, dem Führer der volksnahen katipunan-Bewegung im Befreiungskampf gegen die spanische Kolonialmacht im späten 19. Jahrhundert. In diesem frühen Verrat an der Revolution der Massen zugunsten der Bedürfnisse einer kleinen Führungsriege aus der Oberschicht kann man die Keimzelle des fortdauernden politischen Dilemmas der Philippinen sehen. Erkennbar wird das in O’Haras Film leider nicht. The Woman in the Septic Tank und Remington and the Curse of the Zombadings (Zombadings 1 – Patayin Sa Shokot Ni Remington!, 2011) kann man als zwei Seiten einer Medaille sehen. Beides sind Komödien und Genrevariationen: eine freche Persiflage auf scheißspröden Kunstehrgeizdreck der eine, der andere eine urkomische, so nur auf den Philippinen mögliche antihomophobe Horror-Farce. Septic ist ein typischer Fall von Independent-Retor-

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te: Steigbügelhalter für den Pseudodebütanten Marlon Rivera (ein Veteran mit mehr als zwei Jahrzehnten erfolgreicher Karriere in der Werbung auf dem Buckel) ist der erfolgreiche Drehbuchautor, Produzent und Regisseur Chris Martinez, der nach langen Jahren der Werbemangel und Theaterbodenscheuerei mit der Krebsendstadium-Tragikomödie 100 (2008) beim Cinemalaya 4 seinen Durchbruch erlebte. Für Cinemalaya-Wettbewerbe eine typische Vorentwicklung. Auch Loy Arcenas, mit der melancholischen Familienverfallsgeschichte Niño (2011) der heimliche und eigentliche Gewinner des Cinemalaya 7, ist ein Spätzünder: seine letzten 30 Jahre hat er an New Yorker Theaterbühnen verbracht. Beim Cinemalaya 8 ist im Hauptwettbewerb, der sich New Breed nennt u.a. Aloy Adlawan mit The Caretaker (Ang Katiwala, 2012) vertreten. Zwar hat Adlawan erst bei drei Spielfilmen selber Regie geführt. Andererseits war er mit seinem Debüt Room Boy (2005) schon beim ersten Cinemalaya vertreten. In der Zwischenzeit wurden mehr als 40 seiner Drehbücher fürs Unterhaltungskino und -fernsehen verfilmt. Frisches Blut schmeckt anders. So unterschiedlich diese Filme auch sein mögen, sie sind typisch für das Cinemalaya; verbindendes Element ist ihre von den Festivalmachern so geschätzte konventionelle Narration. Selbstverliebte Kunstfilmer mit aufgeblähten Reverenzrahmen bis kurz vor den Kuipergürtel wie Raya Martin und Khavn oder sattelfeste Innovationsrentner? – Ganz sicher müssen das nicht die Alternativen des philippinischen Kinos sein (immerhin besitzt es die längsten Tradition in ganz Asien).

Spin-Off Viel zu oft fallen die übrigen guten bis sehr guten Filme außerhalb des Cinemalaya durchs Wahrnehmungsraster. Glücklicherweise erhielt das gewagte und gelungene Experiment Ang damgo ni Eleuteria Kirchbaum (2010) von Remton Siega Zuasola die verdiente Anerkennung: Bei den Gawad Urian, den wichtigsten jährlichen Filmpreisen der Philippinen, seit 1976 verliehen von der Filmkritikervereinigung (Manunuri ng Pelikulang Pilipino), ist Zuasola der große Abräumer: Er selber erhält die Trophäen für den besten Film und die beste Regie; weitere gibt es in wichtigen technischen Kategorien. Ein enorm wichtiges Signal. Nicht nur weil er mit 26 Jahren der bislang jüngste Hauptpreisträger ist, sondern auch weil er ein weiterer Exponent des regionalen Kinos ist. Zuasola, aus Cebu, einer der Hauptinseln der Visayas-Region, filmt die Familiendebatte des Für und Wider über die Internet-Verbandelung und bevorstehende Vermählung der einzigen Tochter mit einem obskuren Deutschen im lokalen Dialekt (für viele Filipinos nur mit Untertiteln verständlich) und in einer einzigen Einstellung, die Kamera folgt dem mäandernden Geschehen ohne Schnitt! Eine Million Peso (zirka 19.000 Euro, Stand Dezember 2012) hat seine Produktionsfirma Cinema One springen lassen. Ohne Wenn und Aber. Konzept angenommen, Geld erhalten, keine weitere Einflussnahme.

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Keine Sorgenfrei-, aber eine sehr bedeutende Summe für einen IndependentFilm. Die Strukturen im Filmgeschehen verändern sich rasant zugunsten regionaler Nachwuchsregisseure. Der Fernsehsender ABS-CBN, der größte der Philippinen, verteilt über seinen Unterkanal Cinema One seit 2005 jährlich an sechs bis zehn Finalisten, die es durch die Konzept- und Drehbuchauswahl eines unabhängigen Expertengremiums geschafft haben, jeweils eine Million Peso. Dieses Geld kann von den Regisseuren nach eigenem Gutdünken für die Umsetzung ihrer Ideen verwendet werden. Einzige Beschränkung war bis zum Jahr 2010, dass die Filmkünstler sämtliche Rechte an ihrem Werk dem Sender überlassen mussten. Seit 2011 sind die Verwertungsrechte paritätisch: so können sich die Regisseure nun selbst um Festivalteilnahmen im Ausland kümmern und werden auch an den Einspielergebnissen im In- und Ausland beteiligt. Das zugehörige Cinema One Original Digital Film Festival (meist im November), auf dem diese Filme gezeigt werden, eine gelungene Verbindung von Kunst und Kommerz, versteht sich nicht als Konkurrenz zum Cinemalaya (meist im Juli), zum reinen Abspielfestival CineManila International Film Festival (seit seiner Gründung 1999 durch notorische Unterfinanzierung und die kapriziösen Egotrips seines Initiators, des Filmregisseurs Tikoy Aguiluz, der durch Imponiergehabe und Machtspielchen immer wieder für Irritationen und Skandale sorgt, auch durch seine oft kurzfristigen Terminverlegungen, berüchtigt) oder dem 1975 gegründeten Metro Manila Film Festival (Dezember und Januar), das inzwischen zur reinen Promo-Veranstaltung für die Handvoll übriggebliebener philippinischer Mainstream-Produktionsfirmen wie Regal Films, Viva Entertainment oder Star Cinema und ihr allerbanalstes Kommerzkino verkommen ist. Dass das MMFF seit 2010 auch eine New Wave Feature Film-Sektion führt, in der jeweils fünf Independent-Langfilme und noch einige studentische Kurzfilme gezeigt werden, ist nur eine Alibiveranstaltung. Vom Festivalpublikum, das Stars und leichte Kost sehen will, werden diese Randerscheinungen so gut wie nicht wahrgenommen. Immer weiter frisst sich derweil der Oligarch und Monopolist Manuel V. Pangilinan (ein früherer Investmentbanker) in die philippinische Gesellschaft hinein und bringt einen Schlüsselkonzern nach dem anderen unter seine Kontrolle. Zu seinem Imperium gehören neben den Versorgern Manila Electric Company (Meralco) und Maynilad, den Telecom-Konzernen Philippine Long Distance Telephone Company (PLDT) und Smart Communications auch die Associated Broadcast Company mit TV5 (dem drittgrößten Sender des Landes). Zwar scheiterte Ende 2012 auch sein zweiter Anlauf, Mehrheitseigner bei GMA Network Inc. zu werden, die mit GMA7 den zweitgrößten TV-Sender des Landes betreiben, doch sein Masterplan ist nur aufgeschoben. Gelungen ist ihm schon die vollständige Übernahme des Senders TV5. Es sieht so aus, als wäre Pangilinan dabei, wie in einem Zeitlupe-Maverick-Clash seinen früheren Geschäftspartner Tonyboy Cojuanco aus dessen früheren Geschäfts-

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kernbereichen Kommunikation und Medien herauszudrängen. Als Mäzen tut sich der Magnat durch sein Sponsoring des Sineng Pambansa Film Festival hervor. Auch hier steht er in deutlicher Konkurrenz zu Cojuanco, der mit seinen Geldern das Cinemalaya-Festival ursprünglich schlicht aus dem Grund geschaffen hat (und durch die Zuwendungen über seine Econolink Investment Inc. noch immer am Leben erhält), um mit den Festivalfilmen kostengünstig Programme zur kommerziellen Auswertung bei TV5 zu bekommen und junge Filmtalente an seinen früheren Sender zu binden (in gleicher Weise tut dies der Sender ABS-CBN mit den Filmen des Cinema One-Fests). Gut möglich, dass hier auch eine hübsche Profilneurose – neues gegen altes Geld – abgearbeitet wird. Auch das ist eine Facette des philippinischen Independent-Kinos, und sicher nicht die unbedeutendste.

Split Screens Erneut bemerkbar wird die philippinische Insulanermentalität in der voll aufgebrochenen Rivalität zwischen dem sehr verdienstvollen Cinema Rehiyon Film Festival (gegründet 2009 als Beitrag des Cinema Committee der NCCA, zum jährlich im Februar stattfindenden landesweiten Philippine International Arts Festival) und dem vom Film Development Council of the Philippines (FDCP) organisierten Sineng Pambansa Film Festival, das durch die Provinzstädte tourt. Das starke Hegemonialstreben des Sineng Pambansa ist auffällig. Beide Festivals besetzen im Großen und Ganzen dieselbe Nische und zielen auf das neue große Ding: die Förderung des regionalen Kinos der Philippinen. Eine der zentralen Komponenten dieser Festivalreihe ist das »Sine ng masa« (das »Volkskino«): Zu einer größeren Projektionsfläche zusammengeschaltete Fernseher werden auf LKWs montiert und in Stadteile und Dörfer gefahren, in denen es keine Kinos gibt, um kostenlos auch dort das Programm des Festivals zugänglich zu machen. Sowohl FDCP, gegründet 2002, als auch NCCA sind Regierungsorganisationen, die jeweils direkt dem Präsidenten der Philippinen unterstellt sind. Während die spezifisch auf Film ausgerichtete FDCP über mehr Geld verfügt, folgt die NCCA einem umfassenderen künstlerischen Förderauftrag. Das FDCP hat mit dem Regierungswechsel im Jahr 2010, namentlich mit der Neueinsetzung seines derzeitige Leiters Briccio Santos sein Interesse an der unabhängigen Filmkunst entdeckt. Zuvor war sie wenig mehr als eine Verteilungsstelle für Pfründe und finanzielle Vorteile an ihre bis dahin hauptsächlich aus dem Mainstream-Bereich kommenden Kommissionsmitglieder und deren Spezis – mit anderen Worten: korrupt ohne Scham. Santos dagegen hat mit persönlicher Rückendeckung des neue Präsidenten Aquino sofort mit dem Ausmisten dieses Augiasstalls begonnen und eine gründliche Neuausrichtung vorgenommen.

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Dreharbeiten zu Captive

Die Förderpolitik des FDCP während der letzten Dekade hat ihr Ziel verfehlt. Gefördert wurde eine im Absterben begriffene Industrie, deren Produkte und Unternehmungen nur mit Mühe dem eigentlichen Auftrag (»ensuring that the economic, cultural and educational aspects of film are effectively represented at home and abroad« – FDCP-Netzseite) entsprachen. Im Juli 2006 startet der 25 Millionen Peso schwere FDCP Film Fund, der Filmprojekte mit bis zu 5 Millionen Peso Fördergeldern unterstützen soll. Seine Hauptaufgabe laut seiner Statuten:, »to stimulate economic activity in the industry by increasing the economic viability of quality films […] is to be used to provide financial assistance to qualified producers«. Partikulare, private Interessen standen jedoch oft an der Spitze der Förderagenda. Aufgrund der unzutreffenden Marktanalysen des FDCP wurden meist Filme aus dem Mainstream gefördert. Im Gegensatz zu den tatsächlich relevanten Independent-Filmen, die weltweit Beachtung finden und in weit geringerem Maß unterstützt wurden, interessiert sich außer der philippinischen Diaspora im Ausland zu Recht niemand für diese Filme. Ein schönes Beispiel für die Verschwendungspraktiken des FDCP bis ins Jahr 2010 ist seine Beteiligung an der großen philippinischen Kinoretrospektive des Paris Cinema International Film Festival im Jahr 2008. Zwar kamen viele der rund 50 Filme aus dem Independent-Bereich. Doch statt mehr Filmkünstler nach Paris zu bringen, finanzierte das FDCP lieber die Flugkosten einer enormen Entourage aus Produzenten und Funktionären und deren Angehörigen, die auf Staatskosten in Paris Urlaub machen und einkaufen wollten. Das neu besetzte FDCP unter Briccio Santos geht seit 2010 einen vielversprechenden anderen Weg: Eine seiner nützlichen Initiativen ist die erstmals im Juni 2012 (in Davao, Mindanao) ausgetragene National Film Competition. Teilnehmen

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dürfen Newcomer, die noch nicht mehr als drei Filme gedreht haben. Jeweils drei Spielfilme aus den drei Regionen Luzon, Visayas und Mindanao werden mit jeweils 600.000 Pesos, jeweils ein Dokumentarfilm aus den genannten Regionen mit jeweils 300.000 Pesos gefördert. Entstanden ist ein Dutzend jener philippinischen Arthouse-Indie-Filme u.a. der kraftvolle Polizei-Thriller Qwerty (2012) von Ed Lejano, von denen einige sicher bald auch auf internationalen Filmfestivals zu begutachten sein werden. Briccio Santos kündigte im Gespräch mit dem Autor an, im Jahr 2013 gleich 50 (!) Filme aus dem Arthouse- und Independentbereich fördern und/oder produzieren zu wollen. Emir (2010) von Chito Roño war das ultimative Fiasko, die Bankrotterklärung des vorhergehenden Fördersystems. Als Crony-Syndrom erinnerte es an die übelsten Auswüchse der Marcos-Ära. Emir, ein Musical, spielt in einem fantasierten Arabien irgendwo zwischen Casablanca und Katar. Gedreht wurde in Marokko. Die Finanzierungsgelder sprudelten hauptsächlich aus den öffentlichen Quellen des von Rolando S. Atienza bis 2010 geleiteten FDCP. Die offiziellen Produktionskosten von Emir liegen bei rund 100 Millionen Peso. Inoffiziell wurde noch weit mehr Geld aus dem Fenster geschaufelt. Selbst nach Herausrechnen der Inflationsrate dürfte es damit der bislang teuerste Film der philippinischen Filmgeschichte gewesen sein. Für dieses Geld hätte man mindestens 5 reguläre Mainstream-Produktionen mit einem Durchschnittsbudget von 20 Millionen Peso oder 100 typische Independent-Filme à eine Million Peso drehen können. Wenn wenigstens die Einspielergebnisse gestimmt hätten. Aber aus Roños Kassengrab sind nicht einmal 3,09 Millionen Pesos herausgekrochen. Zum Vergleich: Wenn V. Daramas’ Praybeyt Benjamin (2011) ist mit 332 Millionen Peso der bisherige Einnahmenspitzenreiter. Ihm folgen Ruel S. Bayanis No Other Woman (2011) mit 278 Millionen Peso und Tony Y. Reyes’ Enteng ng Ina mo (2011) mit 238 Millionen Peso. Alles federleichte, lupenreine Genreprodukte – Slapstick Comedy, Love Story, Romcom respektive – ohne jede Bruchzone oder Profil, alle vom Filmproduktionsarm Star Cinema des TV-Senders ABS-CBN produziert. Nach langen Jahren des Verfalls sowohl bei den Einnahmen als auch bei den Produktionszahlen weist das philippinische Kino in den letzten fünf Jahren bei insgesamt etwa gleichbleibenden Zahlen von 150 bis 170 Spielfilmproduktionen pro Jahr (Mainstream fallend, Independent stark steigend) bei den Einnahmen (Mainstream stark steigend, Independent gleichbleibend bedeutungslos) nach oben: 4 Milliarden im Jahr 2007 gegen 6 Milliarden in 2011. Nach außen war Emir geplant als das ganz große nationale Renommierobjekt, mit dem das philippinische Kino wieder international wettbewerbsfähig gemacht werden sollte. Eine von Anfang an hirnverbrannte Idee. Hinter den Kulissen ging es in erster Linie um freundliche Zuwendungen und inoffizielle Zubrote. Solch Art abstruse Projekte hatten Tradition unter Atienzas fünfjähriger Ägide.

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Dagegen betreibt Briccio Santos eine wirklich hilfreiche Förderung. So eröffnete das FDCP im September 2011 in Baguio eine erste Kinemathek; 16 weitere sollen folgen (eine in jeder der Regionen der Philippinen). Durch diese Institutionen sollen Klassiker und wichtige neuere Filme des philippinischen Kinos einer breiteren Öffentlichkeit kostenlos zugänglich gemacht werden. Im Dezember 2011 wurde schließlich in Manila im Stadtteil Cubao übergangsweise das National Film Archive eröffnet, in dem Filme gekühlt und klimatisiert gelagert werden können und das, was noch übrig ist, vom weiteren Zerfall bewahrt wird. Dies ist längst überfällig, wenn man bedenkt, dass schon viele Filme aus den 1970ern und 1980ern nur mehr schwer zugänglich, die meisten Filme weiter zurückliegender Jahrzehnte sogar zerstört und unwiederbringlich verloren sind. Von den rund 8000 seit 1912 produzierten philippinischen Filmen existieren lediglich noch rund 3000, nicht wenige davon in unterschiedlichen Stadien der Zersetzung. Inzwischen konnte das FDCP bereits einen Grundstock von rund 1000 Filmen aufbauen. Ihr ältestes Exponat ist der Abenteuerfilm Fury in Paradise (Zamboanga, 1937). Später soll das Archiv in das 50 Kilometer von Manila entfernte, 600 Meter hoch gelegene, damit klimatisch günstigere Tagaytay City umziehen. Ob dies eine wirklich gute Wahl ist, bleibt abzuwarten, da die Stadt direkt auf dem Kranz und an den Hängen der Calderea des Taal klebt, der einer der aktivsten und instabilsten Vulkane der Philippinen ist. Wichtiger als die Qualität der Filme, die beim Cinema Rehiyon gezeigt werden, ist sein Forumscharakter und der ungebrochene enorme Enthusiasmus, der sich dort unter den jungen Filmemachern verbreitet. Erfahreneren Nachwuchsfilmern, aber auch vielen Debütanten (nicht wenige noch Teenager oder ganz junge Twens) aus allen Teilen des Landes wird die Möglichkeit geboten, mit Gleichgesinnten von überall her Erfahrungen und Ideen auszutauschen, zu diskutieren, Netzwerke aufzubauen, sich über Förder- und Aufführungsmöglichkeiten zu informieren. Typisch z.B. der Fall eines Filmschullehrers von einem der Colleges der Gebirgsgroßstadt Baguio, der beim ersten C. R. im Jahr 2009 während einer öffentlichen Diskussion mutig genug war, zuzugeben, dass er von fast keiner der vielfältigen Fördermöglichkeiten der Regierung und ihrer Kulturgremien wusste, die landesweit prinzipiell allen Institutionen oder Bürgern offenstehen. Eines der besten Beispiel dafür, wie wichtig es – nicht nur für die Filmkultur – ist, die Konzentration vom »Imperial Manila« abzulenken und den Blick auf die Bedürfnisse der Provinzen und Regionen zu richten. Überrascht war man beim Cinema Rehiyon 3, das in Davao auf Mindanao abgehalten wurde, als man erfuhr, dass sich in der kleinen Bergprovinz Benguet in den zentralen Cordilleras auf Luzon schon so etwas wie ein autonomes Vertriebsnetz für lokale Produktionen gebildet hatte, über das Filme wie z.B. Ganab di anos (2010) von Donna Kebeng sehr erfolgreich vertrieben werden. Dabei werden digital gedrehte Spielfilme aus dieser Region, die sich

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beim Publikum wegen ihrer Ortsbezogenheit und der oft simpel gestrickten Handlungen großer Beliebtheit erfreuen, von den Filmemachern selber auf DVD gebrannt und in Supermärkten und allen möglichen Läden und öffentlichen Orten direkt an die Endkunden verkauft. Aushängeschild des philippinischen Arthouse-Kinos ist und bleibt Brillante Mendoza. Er ist der erste philippinische Regisseur, dessen Filme in den Hauptwettbewerben der drei zentralen A-Festivals (Cannes, Venedig, Berlin) gezeigt wurden. Aus der Falle des Poverty Porn-Vorwurfs hat er sich mit der Großproduktion Captive (2012) bis auf weiteres befreien können. Auch seine bislang favorisierte Arbeitsmethode des real time filming (reale Lebenssituationen möglichst nahdokumentarisch nachzuinszenieren) hat er für diesen Film weitgehend abgelegt. Ob er sich damit tatsächlich einen Gefallen getan hat (sein erklärtes Ziel, bevor er sein Regiedebüt The Masseur [Masahista, 2005] vorgelegt hatte, war es, Hollywood-äquivalente Filme zu drehen), bleibt abzuwarten. Neben philippinischen Produktionsgeldern stammt der größte Teil des Budgets aus den Kassen von Arte France Cinema. Möchte man von diesem Umstand absehen, ist Captive einer der teuersten, wenn nicht der teuerste philippinische Film bislang. Entsprechend großformatig ist der Film gestaltet. Seine technischen Mitstreiter und das international besetzte Schauspielerteam (im Zentrum Isabelle Huppert) dirigiert Mendoza wie ein geübter Feldherr. Die vierwöchigen Dreharbeiten sind präzise wie ein Schlachtplan vorbereitet. Thema des Films ist die Entführung von dutzenden Urlaubern und Angestellten aus dem Luxushotel Dos Palmas auf der Insel Palawan. Im Jahr 2001 gelangen der islamistischen Untergrundorganisation Abu Sayyaf hierdurch die gewünschten Schlagzeilen und deren rasche Verbreitung rund um die Welt. Die sich über mehr als ein Jahr hinziehende Krise wird für alle Beteiligten zum Fiasko, zahlreiche Befreiungskampagnen durch das Militär enden desaströs und mit dutzenden Toten. Mendoza versucht, den dahinterstehenden Mechanismen auf die Spur zu kommen. Geiselnahmen mit Lösegelderpressung sind in einigen Gebieten im Süden des philippinischen Archipels noch immer ein großes Problem. Zahlreiche neue Entführungsfälle verunsichern seit Ende 2011 wieder diese Region, in der seit Jahrzehnten eine Kultur der Gewalt herrscht. In dieser Hinsicht kommt Captive genau zur rechten Zeit. Gegenüber dem Autor erklärt Mendoza: »Ich habe mich für diese Geschichte entschieden, weil während dieser Krise so viel Regierungsstellen und Militärs versagt und damit ihre eigene Integrität untergraben haben. Es geht mir nicht darum, Personen oder Behörden bloßzustellen. Ich möchte aber, dass die Beteiligten daran erinnert werden, was wirklich passiert ist, dass wir alle aus den Vorfällen lernen und sich so etwas nie wieder ereignet. Glücklicherweise haben wir jetzt einen Präsidenten, der tatsächlich willens ist, gegen die überall vorhandene Korruption vorzugehen. Auf seine Anordnung hin werden gerade Korruptionsfälle aufgedeckt, die sich seit Jahrzehnten durch die allerhöchsten

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Ränge des Militärs ziehen. So etwas war früher undenkbar: Die Armee war unantastbar. Es gibt also Zeichen der Hoffnung.« Mit dem Nachfolger Thy Womb (Sinapupunan, 2012) bewegt Mendoza sich zurück zu seinen Wurzeln. Er zeigt die Arbeit einer Hebamme (gespielt von Nora Aunor, seit Jahrzehnten einer der unerreichten Superstars des philippinischen Kinos). Sie unterstützt die Badjao-Seenomaden und andere indigene Gruppen auf Tawi-Tawi, einer abgelegenen Inselgruppe in der Sulusee. Es ist die südlichste Provinz des Landes, näher an Borneo (teils Malaysia) als am Rest der Philippinen. Der Film ist ein Gemeinschaftsprojekt von Mendozas Center Stage Production und dem FDCP, das dem Regisseur den Weg in diese abgelegene und nicht ungefährliche Region geebnet hat.

Abspann Die andere Seite Manilas, im Pelz der Speckbacken: Forbes Park North (hermetisch abgeriegeltes Hyper-Luxus-Ghetto der oberen 500 der Philippinen). Eine abendliche Gartenparty, despedida (Abschiedsfeier) für den Regisseur Carlos Siguion-Reyna, der meist in Singapur lebt. Auch wenn er für Ang lalaki sa buhay ni Selya (1997) auf der Berlinale den Teddy Award erhielt – als Filmer ist er unbedeutend; seine Familie ist es nicht (seine Mutter ist die Entertainment-Größe Armida Siguion-Reyna, ehemalige Vorsitzende der Zensurbehörde MTRCB, sein Onkel der Senatsvorsitzende Juan Ponce Enrile). An einem der Gartentische am Rand des Pools, der fast halbe olympic size hat, sitzt Brillante Mendoza (zusammen mit seinem Lover, den man sonst so gut wie nie sieht). An einem anderen Tisch gleich daneben haben sich rund 450 Jahre philippinische Filmgeschichte versammelt, alles Frauen, die haben die Hosen an. Darunter die gefürchtete Großproduzentin »Mother« Lilly Monteverde von Regal Films, Susan Roces, Witwe von Fernando Poe, Jr. (besser bekannt als FPJ, Leinwandsuperstar und Ex-Präsidentschaftskandidat) und Grace Roces (Stieftochter von S. R. und FPJ), gegenwärtig Leiterin des MTRCB. So nebenbei meint Grace, sie werde sich demnächst mit einigen Abgeordneten treffen, nicht mit irgendwelchen unbedeutenden Pappnasenvolksvertretern, sondern mit »richtigen« Abgeordneten, welchen mit Geld und Einfluss, die wirkliche Entscheidungen treffen und Deals machen, die Bestand haben. Über den Präsidenten der Philippinen spricht man hier wie über einen Nachbarsjungen, den man gerade losgeschickt hat, irgendwas zu besorgen. Das erstaunliche dieser illustren Runde ist ihre interne Vernetzung. Die Siguion-Reynas sind seit Generationen steinreiche Anwälte und Politiker, durch Ponce Enrile eng mit Marcos verbunden. FPJ wurde nach der gewaltlosen EDSA 2-Revolution von GMA durch Wahlbetrug um das Präsidentenamt gebracht und starb darüber wenig später (an »gebrochenem Herzen«, wie so schön kolportiert wird). Als Anwaltsfamilie gehört die Loyalität der Siguion-Reynas auch dem zu diesem Zeitpunkt (Januar 2012) noch nicht abgesägten obersten Richter und GMA-

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Spezi Renato Corona. Besagte Susan Roces, ausgesprochene GMA-Gegenerin, zwar nur Schauspielerin, aber Ikone, sitzt mit allen am Tisch. Eigentlich ein enorm explosives Gemisch. Nicht aber hier. Man arrangiert sich. Irgendwo im Hintergrund, in der Deckung ausladender Futtertafeln, umschleicht Carlos Siguion-Reyna Mel Chionglo (der im Auswahlkomitee des Cinemalaya sitzt), um mit dessen Hilfe auszubaldowern, über welche Abkürzungen er am einfachsten in den Director’s Showcase des Filmfests gelangen könne. Aus Abenden wie diesem kann man Skulpturen formen, die ihre eigenen Tage lange überdauern werden. Mabuhy ang pelikulang philipino! (Lang lebe das philippinische Kino!) (Teile dieses Textes wurden veröffentlicht als: »Mord in Manila«, in: Tagesspiegel, 07.08.2009 und »Welcome to Crocodile Country«, in: cargo-film.de, 01.09.2009 [zuletzt abgerufen: 19.07.2012])

V. Brasilien

Krieg eines einzelnen Mannes José Padilhas konzeptuelle Nationalkinematografie Bert Rebhandl

Das brasilianische Wort Favela wird in den Untertiteln einschlägiger Filme zumeist mit »slum« übersetzt. So auch in José Padilhas Elite Squad (Tropa de Elite, 2007) in dem der erste Satz, den der Polizist Nascimento als Erzähler aus dem Off spricht, eine statistische Information enthält: »In meiner Stadt gibt es 700 Favelas.« Die Stadt ist Rio de Janeiro, zu deren tradiertem Erscheinungsbild mindestens seit Black Orpheus (Orfeu Negro, 1959) ganz wesentlich die dicht bebauten, häufig steilen Berghänge zählen, auf denen viele der informellen Siedlungen entstanden sind, die als Favelas bezeichnet werden. Während sich der Begriff Slum eher auf Stadtteile bezieht, die einen Funktionsverlust zu verzeichnen haben und durch Verwahrlosung, Leerstand und Austausch von Bewohnerschichten eben »verslumen«, haben die Favelas potenziell eine umgekehrte Entwicklungsrichtung: Sie sind nicht Endpunkte, sondern Durchgangsstationen, häufig für Zuwanderer aus den Provinzen, von denen manche den Aufstieg in die neuen Mittelklassen schaffen. Favelas entwickeln sich in dem Maß, in dem ihre Bevölkerung sich entwickelt. Dem stehen retardierende Momente entgegen, vor allem die starke Kriminalität, die wiederum entscheidend mit der Macht der Drogenhändler zu tun hat. Diese bilden in ihren Einflussgebieten informelle Exekutiven, wodurch die Einflussmöglichkeiten der zuständigen Institutionen beschränkt werden. Vor diesem Hintergrund erfährt der Begriff der Favela eine weitere Bestimmung als tendenziell rechtloser Raum. Beto Nascimento formuliert das in Elite Squad zuerst erzählerisch: »Wenn ehrliche Polizisten in die Favelas kommen, passiert meist etwas Schlimmes.« Doch bald darauf bringt er die Situation auf einen Begriff, der weitreichende Implikationen hat: Er spricht von »Krieg«. In den Favelas herrscht Krieg zwischen der Polizei und den Kartellen, und in diesem Krieg gibt es eine Gruppe, die sich direkt aus diesem Kriegszustand legitimiert und daraus ihre Position außerhalb oder über dem Gesetz ableitet: Jene Elitetruppe BOPE, zu der auch der Capitao Nascimento gehört, der als Erzähler des Films die entscheidende Instanz der Steuerung der

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Rezeption ist. Das Batalhao de Operacoes Policiais Especiais (Einsatzgruppe für besondere Polizeioperationen) zählt in der Fiktion von Elite Squad nur rund 100 Mann. Sie tragen einen Totenschädel als Erkennungszeichen auf ihren schwarzen Uniformen, und in der Regel werden sie gerufen, wenn ihre Kollegen von der regulären Polizei bei einem Einsatz in Schwierigkeiten geraten. Die Definition der eigenen Einsätze als Kriegshandlungen schafft jene Probleme, von deren Zuspitzung Elite Squad in Form eines Actionthrillers, aber mit durchaus systematischem Interesse handelt. Denn Nascimento geht abends nach der Arbeit nach Hause, er führt auch ein privates Leben als Ehemann und (werdender) Vater, und es fällt ihm zunehmend schwerer, diesen Übergang zu vollziehen. »Mein Leben wurde immer komplizierter«. Elite Squad lässt sich als ein auf mehreren Ebene beschreibbares Projekt betrachten: In der Genreform geht es um die Initiation zweier junger Polizisten in die Elitetruppe, von denen einer an die Stelle des amtsmüden Capitao Nascimento treten soll, wodurch potentiell Serialität oder zumindest eine Fortsetzung ermöglicht wird. Der Polizeithriller verhandelt dabei ein grundlegendes gesellschaftliches Problem, nämlich die territoriale Definition von Ausnahmezuständen, aus denen sich entsprechende Verhaltensweisen ableiten lassen, die in alltäglichen Situationen keine Berechtigung hätten, die hier aber – und entscheidend dann vor allem durch die Fortsetzung Elite Squad: The Enemy within (Tropa de Elite 2 – O Inimigo Agora É Outro, 2010) – auf ihre Legitimierungsstrategien hin hinterfragt werden. Autorenpolitisch lässt sich José Padilhas erster Spielfilm schließlich in ein größeres Projekt einbetten, das ich als konzeptuelle Nationalkinematografie bezeichnen möchte, und in dem es einerseits darum geht, mit den beiden Tropa-Filmen die Entwicklung eines international vermarktbaren brasilianischen Mainstream- und Genrekinos mitzutragen, während Padilha andererseits, in anderen Arbeiten deutliche Verbindungen zu älteren, kritischen Traditionen des brasilianischen Kinos knüpft: mit seinem ersten Dokumentarfilm Bus 174 (Ônibus 174, 2002) an die Figur des Straßenjungen, wie sie in Hector Babencos Pixote (Pixote: A Lei do Mais Fraco, 1981) repräsentativ verkörpert wurde; mit seinem Dokumentarfilm Garapa (2009) an das Cinema Novo in seiner Erkundung der Lebensumstände im Nordosten des Landes (kanonisch in Barren Lives [Vidas secas, 1963] von Nelson Pereira dos Santos). Mit einem gewissen Recht lässt sich sogar der weitgehend konventionellen Fernsehformen entsprechende Dokumentarfilm Secrets of the Tribe (2010), in dem es um die Feldforschung bei den indigenen Yanonami-Völkern geht, als eine Beschäftigung mit wichtigen Motiven brasilianischer Modernitätskonzepte lesen. Aus all dem ergibt sich die Frage, ob nicht auch Elite Squad selbst – über eine Logik der Quersubvention der weniger populären Projekte durch Mainstreamfilme – in dieses Projekt einer kritischen Relektüre der Errungenschaften des brasilianischen Kinos gehört. Das lässt sich auf jeden Fall so sehen, wenn man City of God

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(Cidade de Deus, 2002) von Fernando Meirelles aus dem Jahr 2002 trotz des kurzen historischen Abstands zu den Vorläufern zählt, auf die Padilha sich implizit bezieht. Die Ästhetisierung der Gewalt(-verhältnisse), die bei Meirelles so deutlich ist, ist zwar in Elite Squad nicht in demselben Ausmaß erkennbar, trotzdem ist auch hier – wie so oft im amerikanischen Mainstreamkino, das auch auf dem brasilianischen Markt dominiert und um das kein Filmemacher herumkommt, der mit den einschlägigen Genres arbeitet – die Auseinandersetzung mit einer Form männlich konnotierter, intensiv bewaffneter Durchsetzungskraft nicht nur Moment der Attraktion, sondern auch Thema der Reflexion. Und mit dem Sequel Elite Squad 2 »überarbeitet« Padilha die im ersten Teil noch stärker individualisierte Geschichte von den Ausnahmezuständen in Rio, und hebt den Blick dezidiert auf eine national(kinematografisch)e Ebene. Elite Squad erzählt eine Geschichte aus der Zeit im Jahr 1997, in der Brasilien sich auf den Besuch des damaligen Papstes Johannes Paul II. vorbereitet. Das Oberhaupt der katholischen Kirche hat ein Quartier in Turano gewählt, also nicht an einem sicheren Ort, sondern in der Nähe neuralgischer sozialer Zonen. Die intensivierte Polizeiarbeit während der Vorbereitung des Papstbesuchs bildet den Hintergrund für die fiktionale Handlung von Elite Squad, in dem Capitao Nascimento (Wagner Moura) eine Krise durchlebt, die ihn in eine zwiespältige Position gegenüber seiner eigenen Einheit bringt: er wird immer mehr zu einem besonders radikalen Vertreter der BOPE, während er zugleich seinen Ausstieg vorbereitet. Da seine Erzählung aus dem Off retrospektiv ist, ist er im Grunde bereits draußen; zugleich aber folgt die Initiation seines Nachfolgers einer Bewegung der Korrumpierung, des Hineingezogenwerdens in rechtlose Praktiken, sodass Elite Squad die vor allem durch die Stimme aus dem Off manifeste Strategie der Distanzierung von BOPE auf der anderen, manifesten Ebene des Plots unterläuft (wie auch Nascimentos Handlungen seiner »Deutung« zuwiderlaufen und sie zugleich als Krise bestätigen). Zwei Kandidaten gibt es für die Aufnahme in die Elitetruppe und für die Besetzung der Position von Nascimento: Neto und Mathias. Neto wird mit dem Begriff »Seele« konnotiert, er bekämpft »Feuer mit Feuer«, das heißt, er begibt sich mit der Wahl seiner Mittel auf das Niveau der gesetzlosen Drogenhändler. Mathias wird als der Intellektuelle der beiden präsentiert, er studiert neben der Polizeiarbeit, um Anwalt zu werden. Den Kommilitonen im Seminar verrät er nichts von seiner Arbeit. Im Seminar gerät er in eine Gruppe, in der Überwachen und Strafen von Michel Foucault diskutiert wird (dass der Film hier über die Erwähnung des Begriffs MikroMachtbeziehungen hinaus nicht ins theoretische Detail geht, ist nicht verwunderlich; allein die Tatsache, dass Padilha sich die Mühe macht, Foucault ausdrücklich und mehrfach zu erwähnen, ist für einen Genrefilm dieser Art ungewöhnlich). Mathias arbeitet auch mit einer Gruppe zusammen, die in

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einer Favela namens Prazeres Sozialarbeit leistet, was nur mit Duldung des lokalen Drogenbosses Baiano möglich ist. In einer wichtigen Nebenhandlung geht es um einen Jungen namens Romerito, von dem Mathias als einziger bemerkt, dass seine Lernschwierigkeiten in der Schule auf Kurzsichtigkeit beruhen. Dieser Romerito, von dem noch offen ist, ob er eine Ausbildung machen kann oder ob er sich mit den Drogenhändlern einlässt, schließt an geläufige Kinderfiguren im brasilianischen Kino an, von denen Pixote die bekannteste ist. Sein Engagement für Romerito (und für die NGO, in der Mathias auch vorübergehend eine Freundin aus der weißen Oberschicht findet) bringt ihn in Konfrontation mit Baiano, der eines Tages von seiner beruflichen Identität erfährt und beschließt, ihn hinzurichten. Durch einen Zufall lässt Mathias sich an diesem Tag durch Neto vertreten, der an seiner Stelle in Prazeres getötet wird. In der Bewegung des Films wird dies zu einem weiteren Schritt seiner Initiation, die letztlich auf ein Bild hinausläuft, das auch den Kriegszustand, von dem Nascimento zu Beginn sprach, auf eine einfachere Gewaltlogik hin transzendiert. Denn Mathias nimmt schließlich Rache für Neto, und zwar in einer Form, die zurückverweist auf die Folterungen, mit denen Nascimento davor mehrfach das Polizeimandat deutlich überschritten hat (»setz ihn auf die Rechnung vom Papst«, sagt er dabei an einer Stelle, die einen Höhepunkt des Zynismus seiner Figur ausmacht, auch dies allerdings ein ambivalenter, zugleich »sozialkritischer« Satz). Mathias stellt Baiano, übergibt ihn aber nicht dem Gesetz, sondern tötet ihn auf eine Weise, die umso mehr als besonders sadistisch erscheinen muss, als Baiano um eine letzte Gnade fleht: Er will nicht, dass sein Gesicht durch den tödlichen Schuss verunstaltet wird, »wegen der Totenwache«. Das letzte Bild von Tropa de Elite ist das der Waffenmündung, aus der jener Schuss abgefeuert wird, der Baiano töten und verunstalten wird. Mit dieser Tat, die als Radikalisierung der ohnehin schon brutalen Ausbildung zu sehen ist, die Mathias auch formal durchläuft (in einem Trainingscamp, das mit den Worten beginnt: »Ihr werdet nicht überleben«), ist der Übergang vollzogen. BOPE hat einen neuen Elitepolizisten, während Nascimento sich ins Privatleben zurückziehen kann, das gerade durch die Geburt seines Sohnes Rafael bereichert wurde. Bevor ich zu der Fortsetzung von Elite Squad komme, ist es angebracht, einen Schritt zurück zu gehen – zu dem Dokumentarfilm Bus 174, in dem Padilha bereits mit der BOPE zu tun hatte, allerdings in einem nicht-fiktionalen Zusammenhang. Den establishing shot bildet eine lange Luftaufnahme der vielfältigen Stadtlandschaft von Rio de Janeiro, in deren Verlauf die Kamera nicht wenige der »700 Favelas« streift, von denen Nascimento später sprechen sollte. Mit diesem Bild macht Padilha bereits klar, dass es ihm um ein panoramatisches Verfahren geht, sowohl im visuellen wie im sozialen Sinn. Der Fall von Pedro Nascimento, der am 12. Juni 2000 einen Bus des öffentlichen Nahverkehrs von Rio kaperte und die Passagiere als Geiseln nahm, wurde so-

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fort zu einem Medienspektakel. Zahlreiche Kamerateams begaben sich an den Ort, an dem der Autobus zum Stehen gekommen war, und in dem der junge Mann, von Drogenkonsum beeinträchtigt und mit der in einer schwierigen Biografie aufgestauten ohnmächtigen Wut versuchte, die Bedingungen seines Entkommens zu verhandeln. Zwischendurch bedrohte er immer wieder die Passagiere, schwang Reden und stellte (kümmerliche) Forderungen. Das Drama zog sich über Stunden hin, während derer die schlecht koordinierten Polizeieinheiten ein Eingreifen vorbereiteten. Die Exekutivkräfte waren dabei ständig in Kontakt mit den politischen Autoritäten, denen es wiederum nur um die Medienwirkung des Falls ging. Schließlich beging ein BOPE-Polizist einen fatalen Fehler: Er erschoss eine Frau, die den Bus bereits verlassen hatte und eigentlich schon in Sicherheit war. Der Vorfall war bereits wieder weitgehend in Vergessenheit geraten, als Padilha beschloss, ihn zu untersuchen. Er ließ sich das gesamte Material zeigen, das an diesem Tag von Fernsehteams, Überwachungskameras und Passanten aufgenommen worden war. Und er versuchte, herauszufinden, wer Sandro Nascimento war: ein junger Mann, dessen Mutter einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war, als er ein kleiner Junge war, und der den größten Teil seines Lebens in Heimen, im Gefängnis oder auf der Straße zugebracht hatte. Zufälligerweise war er auch bei einem Ereignis dabei, auf das in Elite Squad angespielt wird: 1993 räumten Polizeikräfte einen Platz, auf dem Obdachlose sich eine improvisierte Heimstätte rund um ein Kirche geschaffen hatten. Das Massaker von Candelaria forderte acht Todesopfer, Straßenkinder im Alter zwischen elf und zwanzig Jahren. Sandro Nascimento überlebte den Übergriff, umso beziehungsreicher musste es erscheinen, als er sieben Jahre später »seinen« Moment im Rampenlicht hatte. Die gesamte brasilianische Gesellschaft konnte sich in dem Fall des Bus 174 wiedererkennen – als Fahrgäste des öffentlichen Verkehrs, oder unter den vielen institutionellen und freiwilligen Helfern, denen Sandro Nascimento in seinem Leben begegnet war. Es war, als wäre Pixote wiederauferstanden, der junge Mann aus Hector Babencos gleichnamigem Film, der als Wegmarke des brasilianischen Nationalkinos gilt. Mit Pixote kam das Cinema Novo an ein Ende und eine andere Bewegung begann. Das Ziel war nun nicht mehr die Vermittlung zwischen den Ansprüchen der westlichen Moderne und lokalen Traditionen in einem »tropical multiculturalism« (Robert Stam), wie dies in Glauber Rochas Antonio das Mortes (O Dragão da Maldade contra o Santo Guerreiro, 1969) besonders anschaulich wird. Pixote ging es eindeutig sowohl um ein nationales wie ein internationales Publikum, der Film zielte auf einen Arthouse-Markt, der sich als eine neue Nische eben erst zu konstituieren begann. Neue Strategien gingen damit einher: Identifikation statt Verfremdung, näher heran an die Erzählweisen des klassischen Kinos, bei verringerter Beanspruchung der Rezeptionsarbeit.

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Padilha ist der erste markante auteur im brasilianischen Kino nach jenen fast zwei Jahrzehnten, die zwischen Pixote (der im Grunde zu früh kam, und noch nicht die für eine Fortsetzung in diesem Stil notwendigen Produktionsbedingungen vorfand) und Central Station (Central do Brasil, 1998) liegen, in dem Walter Salles 1998 die Impulse von Babenco aufgriff. Auch hier steht ein Kind im Mittelpunkt, ein wenig jünger als Pixote, und damit umso mehr einer Gesellschaft schutzbefohlen, die hier in einer territorialen wie ideellen Bewegung durchmessen wird: aus der Stadt in die Provinz, auf der Suche nach einer Vaterfigur, die unauffindbar bleibt. Was in Central Station stattdessen gefunden wird, ist eine alte Idee von Modernität (ein Wohnprojekt, das in seiner technokratischen, geometrischen Anlage wie ein Fremdkörper in der kanonischen Landschaft liegt), und eine – für Brasilien – neue Idee von Subjektivität: evangelikales Christentum, das in der jüngeren Vergangenheit starke Zuwächse zu verzeichnen hatte. Mit Central Station begann für die brasilianische Filmindustrie ein neues Kapitel, in dem wir uns immer noch befinden, und für das neue gesetzliche Regelungen wesentlich wurden, die eine Umverteilung von wirtschaftlichen Profiten in kulturelle Leistungen erlaubte. Der Rohstoff konzern Petrobras steht seither über fast allen wichtigen brasilianischen Filmen. Mit dem globalen Erfolg des Favela-Epos City of God kehrte das brasilianische Kino in die Stadt zurück, und fand zugleich einen Attraktionsfaktor, der popkulturell enorme Resonanz hatte. Padilha profitierte zweifellos von dem Hype um City of God. Zugleich legten sich damit aber Missverständnisse nahe, denn Elite Squad konnte als bloßer Versuch erscheinen, den Erfolg von Meirelles zu wiederholen. Erst die Fortsetzung und der zwischendurch veröffentlichte Garapa machten eindeutiger klar, dass es Padilha um eine neue Standortbestimmung für das brasilianische Kino insgesamt ging. In Garapa wandte er sich einem zentralen politischen Programm der Regierung Lula zu. Unter dem Stichwort »Fome zero« (Null Hunger) laufen die Versuche, das Problem der Unterernährung im Land in den Griff zu bekommen. Padilha zeigt in seinem in schwarzweiß gehaltenen Dokumentarfilm drei Frauen aus dem Nordosten des Landes, die mit ihren Familien unter extrem ärmlichen Bedingungen leben. Dabei ruft er sehr deutlich vor allem den Film Barren Lives von Nelson Pereira dos Santos auf, in dessen Mittelpunkt die kleine Familie eines Landarbeiters steht, der im Sertão herumzieht und nach Arbeit sucht. Für eine Weile findet er eine Stelle bei einem Bauern, der ihn aber zu übervorteilen versucht, zudem gerät er in Konflikt mit den Behörden. So vollzieht sich ein Kreislauf der Hoffnungslosigkeit, der auch durch einen befreienden Regenguss zu Beginn des Films nur kurzzeitig unterbrochen werden kann. Padilha zitiert die erste Einstellung von Barren Lives, in der die Familie aus dem Nichts der ariden Buschlandschaft heraustritt, zumindest in Ansätzen, allerdings mit einem verschobenen Motiv. Die beiden Frauen, die hier eine staubige Straße entlang gehen, sind de facto

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unterwegs, um sich die karge Unterstützung abzuholen, die von der Regierung für Menschen in Not gewährt wird. Geld und Milch, das sind die Güter, die für kurze Zeit eine bessere Versorgung gewährleisten. Doch für einen ganzen Monat reicht das nicht, und danach sind die Mütter wieder auf das Zuckergetränk angewiesen, nach dem der Film benannt ist: Sie bereiten für die Kinder Garapa zu, woraus sich jene einseitige Ernährung ergibt, die mittelfristig genauso tödlich ist wie faktische Unterernährung.

Garapa Die Ursachen für die schwierige Situation sind im Wesentlichen die gleichen wie 1963. Klimatische Faktoren erschweren die landwirtschaftliche und anderweitige Produktion, der Mangel an Arbeit schlägt sich auch in einem Mangel an Bildung nieder, die hohe Geburtenrate ist eine Folge davon. Die Familie, die Padilha in Recife gefilmt hat, hat noch am besten Kontakt zu den Institutionen, aber gerade in einer Szene, in der die Mutter mit einer Frau vom Sozialamt spricht, wird deutlich, dass die Interventionsmöglichkeiten beschränkt sind: Katastrophale hygienische Zustände, ein verantwortungsloser Familien-

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vater, mangelnde Erwerbsmöglichkeiten rauben den Kindern die Perspektive. Garapa lässt einen Befund erkennen, der den Transformationsgeschichten, die über Brasilien kursieren, strukturell widerspricht. Padilha öffnet eine Zeitrechnung des Kinos, die erkennen lässt, dass sich in den fünfzig Jahren seit Barren Lives für wesentliche Bevölkerungsschichten nichts geändert hat. Repräsentationspolitisch ist sein Manöver dabei pointiert: Denn mit dem »direct cinema«-Ansatz von Garapa, in dem distanzierte Beobachtung, Interviews und »fly on the wall«-Unmittelbarkeit mit den apathisch herumliegenden Kindern ineinander übergehen, stellt Padilha eher eine Verbindung zum »neorealistischen« Flügel des Cinema Novo her als zu dem avancierten Modernisten Glauber Rocha, der ja dezidiert auf eine Ästhetik des Hungers abgehoben hatte. Garapa hingegen suggeriert dokumentarische Unmittelbarkeit in einer Notlage, von der die nicht rechtsfähigen Subjekte am stärksten betroffen sind. Der Staat ist in Garapa indirekt dort präsent, wo von den Hilfsleistungen die Rede ist, auf die die Menschen Anspruch haben. Sie befinden sich buchstäblich an der äußersten Peripherie der Institutionen, mit dem Gemeinwesen verbindet sie nur die monatliche Unterstützung. So taucht auch in Garapa die Frage nach dem größeren Zusammenhang auf, den Padilha schließlich mit Elite Squad 2 in den Blick nimmt, und aus dessen Schlussbild man auch ableiten kann, dass die Armut im trockenen Nordosten dem »Krieg« in den Favelas strukturell entspricht. In beiden Fällen handelt es sich um Folgen scheiternder Institutionalität, die nun auf das nationalstaatliche Brasilien hin verallgemeinert werden. Nascimento ist in dieser Fortsetzung neuerlich bei der BOPE, nachdem sich erwiesen hat, dass sein Abgang eine Lücke hinterließ, die nur er wieder schließen konnte. So kommt es, dass er mit einer Operation in einem Gefängnis befasst ist, die weitreichende Folgen hat. In Bangu One nehmen Häftlinge Beamte als Geiseln, und verlangen nach dem Soziologen Fraga als Unterhändler. Dieser Intellektuelle ist in mehreren Hinsichten als Komplementärfigur zu Nascimento konzipiert. Er vertritt einen reformistischen, prozeduralen Weg, eine Politik der Deeskalation, und muss deswegen misstrauisch gegenüber BOPE sein. Padilha spitzt die Sache noch dadurch zu, dass Nascimento inzwischen von seiner Frau und seinem Sohn getrennt lebt, die jetzt mit Fraga zusammenleben. Bei der Kommandoaktion in Bangu One kommt ein Häftling ums Leben, wodurch Fraga, der sich für ihn verbürgt hatte, diskreditiert wird (wofür Nascimento allerdings auch bei einem Besuch in einem Restaurant Applaus von den gutsituierten Gästen bekommt). Mit diesem Vorfall (in dem sich das Unglück von Bus 174 in umgekehrter Konstellation wiederholt: BOPE tötet hier einen Verbrecher, ist damit aber wieder »zu schnell« für ein vernünftiges Krisenmanagement) bekommen die Autoritäten, vom Gouverneur abwärts, ein Mittel an die Hand, um den unberechenbaren Nascimento kaltzustellen. Er wird in eine Abteilung versetzt, in der er mit Überwachungsarbeit beschäftigt ist. (Die amerikanische Fernsehserie The

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Wire [2002-2008] mag hier als Inspiration gedient haben.) Für Nascimento ergibt sich daraus allerdings die Gelegenheit, einen »Krieg gegen das System« zu erklären (zuerst einmal nur für sich selbst). Er deckt eine weitreichende Verschwörung auf, in der es um den Kauf von Wählerstimmen geht, und in die der Gouverneur, ein weiterer Lokalpolitiker (der zugleich Medienstar ist), und von Seiten der Polizei Fábio verwickelt sind, der im Verlauf der beiden Filme zu einem der größten »Paten« wird. Für die Politik von Elite Squad ist das Finale ausschlaggebend. Nascimento geht mit seinem belastenden Material in die Abgeordnetenkammer von Rio, wo er in einem Ausschuss, dessen Vorsitz Fraga innehat, in einer dreistündigen Anklagerede zahlreiche korrupte Vertreter des Systems bloßstellt (die Konsequenz einer großen »Aufräumaktion« wird mit einer Montagesequenz eher kursorisch gezeigt). Aus dem parlamentarischen Raum in Rio de Janeiro bewegt der Film sich mit einem Schnitt, der deutlich als Verallgemeinerung gedacht ist, in die Hauptstadt Brasília, deren territoriale Implikationen als Verbindungsort zwischen den Metropolen an der Küste und den Hinterländern hier vorausgesetzt werden können. Nascimentos Stimme aus dem Off rechtfertigt diesen Schnitt so: »Das System ist viel größer, als ich dachte«. Dazu zeigt Padilha Szenen von Schreiduellen aus einer »Ethik-Kommission«. Den ersten Schlusspunkt setzt er dann mit einer Flugaufnahme entlang der Esplanada dos Ministerios, die vom Congresso Nacional den Ausgang nimmt, und beim Pantheon des Vaterlandes und der Freiheit gewissermaßen im Offenen endet, indem Nascimento sagt: »Kein Wunder, dass es Favelas gibt. Das System ist kaputt«. Mit diesem ikonologisch höchst resonanten Manöver überträgt Padilha die partikulare Geschichte von BOPE auf den allgemeinen Kontext des Funktionierens der brasilianischen Institutionen, die in der Anlage von Brasília versinnbildlicht sind, und zugleich in eine symbolische Beziehung zu vergleichbaren »Nationalarchitekturen« in Washington, Paris oder Berlin treten. Diese Beziehung ist zugleich eine der Reverenz wie der Konkurrenz. Als unabhängiger Nationalstaat steht Brasilien in einem Emanzipationsverhältnis zu den älteren Demokratien, die einerseits Vorbild sind, andererseits aber auch überboten werden beziehungsweise durch eine für die Verhältnisse des Landes spezifische Variante von Institutionalität eingeholt werden sollen. Die vektorale Form der »National Mall« holt Padilha mit einer Flugkamerafahrt ein, die er allerdings auffällig ins Leere laufen lässt. Das Konzept von Brasília beruht dabei auf Prozessen von Adaption und Inkulturation, die in der konzeptuellen Nationalkinematografie von Padilha ständig Entsprechungen im Detail (von Foucault bis zum Metal-Rock der Band Tijuana, von denen der Titeltrack des Soundtracks stammt) wie in der Gesamtkonzeption hat. Elite Squad hat selbst den Status einer Institution, die im Austausch vor allem mit Beispielen aus dem amerikanischen Kino entsteht, in denen das individuelle, für das Gemeinwesen relevante Handeln von »Helden« immer wieder mit der sym-

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bolischen Architektur und Stadtanlage von Washington in Beziehung gesetzt wird. Das brasilianische Kino hat mit Elite Squad die symbolische Potenz der ehemaligen Hegemonialmacht eingeholt, kommt aber nicht umhin, einzuräumen, dass das System, das sich in Brasília idealisiert darstellt, »fucked« ist. Der »Krieg gegen das System«, den Nascimento individuell führen zu können meinte, erweist sich als nicht gewinnbar. Damit stellt sich am Ende von Elite Squad die Systemfrage: Wie lässt sich das ideale Gemeinwesen, wie es in Brasília symbolische Gestalt angenommen hat, mit den konkreten Umständen vermitteln, die Padilha in seinen Dokumentarfilmen in den Blick genommen hat? Sein Projekt einer konzeptuellen Nationalkinematografie hat in einem ersten Durchlauf einen vorläufigen, offenen Abschluss erreicht. In einer nächsten Ebene müsste Padilha sich dann dem Erbe stellen, das er bisher gemieden hat: dem hybriden Modernismus von Glauber Rocha. Dass Capitao Nascimento als heutiger cangaceiro in einem dritten Teil von Elite Squad noch einmal auftauchen könnte, ist inhaltlich durchaus vorstellbar. Wie ein Film allerdings aussehen könnte, der die politisch-ästhetischen Strategien von Antonio das Mortes mit dem kommerziellen Projekt der Tropa-Filme vermittelt, das wäre auch eine neue Ebene von nationalkinematografischer Konzeptualität.

Für eine Filmpoetik des Scheiterns Eine Überblendung von Cinema Novo und Retomada Cecilia Valenti

P ROLOG : Z UR F ILMGESCHICHTSSCHREIBUNG Filmbild – Schwarzbild – Filmbild: Das filmische Prinzip, das auf der Intermittenz von Anwesenheit und Verschwinden des Bildes basiert, verdichtet sich zum Arbeitsprinzip, durch das sich die Filmgeschichte Brasiliens erzählen lässt. Auf diese Weise lässt sich eine melancholische Suchbewegung in der Filmgeschichtsschreibung Brasiliens verfolgen, welche immer wieder nach dem unrealisierten Film und nach dem gescheiterten Projekt fragt. Dieses Insistieren auf dem Scheitern im Prozess des Filmemachens verweist zum einen auf einen zentralen Topos in der Filmgeschichtsschreibung, einen Moment der Selbstreflexion, an dem der Film über sich selbst nachdenkt. Zum anderen ist das Motiv des Scheiterns in der Filmgeschichte Brasiliens stets mit einer politischen Diagnose zur schwierigen Situation des Filmemachens verbunden. So proklamierte Glauber Rocha, der Hauptvertreter der Filmbewegung des Cinema Novo, schon 1962, dass diese schon wieder tot sei. Am Ende der 1960er Jahre polemisierte Rogério Sganzerla, einer der Mitstreiter der Udigrudi (Underground) Bewegung,1 mit den Vertretern des Cinema Novo: »My films are their defects. My films are exactly that which their production could not achieve and that I could never film because, as everyone knows, Brazilian cinema is the greatest precisely because it is impossible«.2 Und schließlich kommentierte der frühere Cinema Novo-Regisseur Carlos Diegues 2000 die Situation des aktuel-

1 | Zur Udigrudi Bewegung siehe: Ismail Xavier: Allegories of Underdevelopment. Aesthetics and Politics in Modern Brazilian Cinema, Minneapolis, London 1997; Julio Bressane: »Una lettera di Julio Bressane«, in: 11. Mostra Internazionale del nuovo cinema: Il Cinema Novo brasiliano, 2° I registi e i film, Rom 1975, S. 36. 2 | Rogério Sganzerla: »Everybody’s Woman«, in: Randal Johnson, Robert Stam (Hg.): Brazilian Cinema Expanded Edition, New York 1995, S. 84-85.

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len brasilianischen Kinos mit nüchternem Ton: »At best, the Audio-visual Law can only create the biggest industry in the world of unreleased films«.3 Diese kursorische Abfolge von Aussagen quer durch die brasilianische (Film-)Geschichte hebt in ihrer Verdichtung eine Paradoxie hervor: Den Versuch, eine (Film-)Geschichte zu skizzieren, die sich entzieht, indem sie immer wieder über ihre eigene Unmöglichkeit und ihr Verschwinden nachdenkt. Wenn man versucht, das Auftauchen dieser Figur des Scheiterns nachzuzeichnen, erkennt man bald die Weite des Problemfeldes, das von der wechselseitigen Relationierung von Theorie und Praxis des Kinomachens gekennzeichnet ist. Im Folgenden soll dieser Komplex zum einen in seiner Historizität erschlossen werden: In einem historischen Exkurs werden die 1960er Jahre als zentrale Periode in der Filmgeschichte Brasiliens hervorgehoben, in der sich die brasilianischen Filmindustrie etabliert und gleichzeitig das Medium Film stabilisiert hat.4 Zum anderen lässt sich das Ineinandergreifen von Filmtheorie und Filmpraxis, das in meiner Lektüre als konstitutiv für die 1960er Jahre vorgeschlagen werden soll, für das aktuelle Phänomen der Retomada und seine Folgen weiterdenken und -problematisieren. Der Begriff der Retomada (»Wiederbelebung«) bezeichnet die politische und wirtschaftliche Konjunktur, die am Anfang der 1990er Jahre zu einer »Renaissance« der Filmproduktion in Brasilien geführt hat. Es soll im Folgenden nicht um eine »Re-Aktualisierung« alter Debatten und Diskurse gehen, die mit dem Cinema Novo entstanden sind, sondern vielmehr darum, das Erbe des Cinema Novo als eine bestimmte Art, Film zu denken, zuerst historisch zu rekonstruieren und danach als a-historische, analytische Schlüsselfigur zu veranschlagen, um die Verhältnisse innerhalb der heutigen Kinoproduktion Brasiliens herauszuarbeiten. Dieses Übertragungsmoment, mit welchem die zwei historischen Phasen aus der Filmgeschichte Brasiliens hervorgehoben und zum Kommunizieren gebracht werden sollen, sollte in seiner Fiktionalität – als Reduktion und Zuspitzung – verstanden werden. Vom Standpunkt der Gegenwart schaut man zurück auf die brasilianische Filmgeschichte, dorthin, wo das Verhältnis zu Ästhetik und Praxis durchgehend kritisch verhandelt wurde. Die Phase des Cinema Novo kristallisiert sich aus diesem methodologischen Vorgehen als eine Art »Urszene« heraus, aus der bestimmte Fragen entstanden sind, mit denen 3 | Carlos Diegues: »The cinema that Brazil deserves«, in: Lúcia Nagib (Hg.): The New Brazilian Cinema, London, New York 2003, S. 23-35. 4 | Darüber schreibt Randal Johnson: »The 1960s would be crucial for the future development of Brazilian cinema, not only in economic terms and in terms of state intervention, but also in cultural and ideological terms with the appearance of Cinema Novo and its new concept of film practice«, in: Randal Johnson: The Film Industry in Brazil. Culture and the State, Pittsburgh 1987, S. 85.

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dann das gegenwärtige Kino konfrontiert werden soll. Durch Abgrenzungen und Ergänzungen blicken diese beiden Perioden zueinander: Während im Cinema Novo das Abwägen von Filmästhetik und Praxis als politisches Handeln verstanden wurde, fehlt diese Art von Unmittelbarkeit zwischen Filmpraxis und ästhetischen Strategien bei den gegenwärtigen Filmemachern der Retomada. Dennoch soll im Folgenden versucht werden, aktuelle Filmproduktionen – der Fokus wird insbesondere auf den von dem Filmindustriekoloss Globo produzierten Favela-Filmen, wie City of God (Cidade de Deus, 2002) und City of Men (Cidade dos Homens, 2007), und der gleichnamigen TVSerie liegen – mit dem filmhistorischen und ästhetischen Wissen sowie dem kritisch-analytischen Potenzial, die aus der Erfahrung des Cinema Novo entstanden sind, zu analysieren.

C INEMA N OVO : D AS D ENKEN DES K INOS UND DIE S UCHE NACH DEM G ESAMTBILD Historische Rahmungen Die frühen 1960er Jahre sind von einer politischen Instabilität gekennzeichnet, die 1964 zum Militärputsch führt. Nach Ende der Regierungszeit Juscelino Kubitscheks (1956-1961), dessen politische Agenda von einer forcierten, durch ausländisches Kapital finanzierten Modernisierung und durch die populistische Ideologie des desenvolvimentismo (Fortschritt und Modernisierung) charakterisiert war, folgten die kurzen Regierungsperioden Jânio Quadros’ (19601961) und João Goularts (1961-1964). Auf kultureller Ebene waren die frühen 1960er Jahre durch eine Erneuerung und Politisierung der Künste gekennzeichnet.5 In diesem umwälzerischen Klima organisierte sich eine Gruppe junger Cineasten und Studenten in Rio de Janeiro und gründete die Filmbewegung Cinema Novo, deren Name Programm sein sollte: ihr erklärtes Ziel war es, der öden ökonomischen und kulturellen Lage des brasilianischen Kinos etwas entgegenzusetzen. Das hieß für sie, einerseits eine Filmsprache – eine Ästhetik – zu entwickeln, welche die Spezifik der brasilianischen Wirklichkeit in Bilder übersetzen sollte, und andererseits die Debatte über die Schwierigkeiten, in Brasilien Filme zu drehen (und vor allem zu zeigen), zu verschärfen.

5 | Für eine historische Kontextualisierung des Cinema Novo im Brasilien der 60er Jahre und seine Verbindungen zum allgemeinen Kulturpanorama (mit dem Arbeitertheater, dem Bossa Nova etc.) siehe: Regina Aggio: Cinema Novo. Neues brasilianisches Kino 1954-1964, Remscheid 2005.

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So entwickelte das Cinema Novo aus dem Zusammenspiel von Kinoökonomie, Kinopraxis und Ästhetik eine Filmpoetik des »produktiven Scheiterns«: Technische Armut und unzureichende Produktionsmittel wurden in ästhetischen Mehrwert übersetzt und zur Chiffre einer authentischen brasilianischen Kinematographie gemacht. Über die nationalen Grenzen hinaus sollte die Bewegung des Cinema Novo mit den weiteren Kinematografien und Manifesten, die in den 1950er und 60er Jahren in den Ländern der so genannten Dritten Welt 6 entstanden waren, historisch kontextualisiert werden, etwa im Sinne des Manifests »For an imperfect cinema« des kubanischen Filmregisseurs Julio García Espinosa. Außerdem gibt es eine Kontinuität zwischen den zu jener Zeit geführten Debatten innerhalb der Filmindustrie (exemplarisch wird hier der 1. São Paulo Kongress des brasilianischen Kinos [1952] analysiert) und dem Programm des Cinema Novo für die Schaffung eines neuen brasilianischen Kinos. Des Weiteren ist das Wechselspiel zwischen Filmindustrie und Cinema Novo auf die Tatsache zurückzubeziehen, dass durch die internationale Anerkennung der Cinema-Novo-Bewegung eine Konsolidierung und Stabilisierung der Filmindustrie in Brasilien stattgefunden hat. Entsprechend schreibt der CinemaNovo-Regisseur Joaquim Pedro de Andrade, dass die Filmbewegung zu einer kulturellen Verwertung des brasilianischen Films geführt habe, welche wiederum eine Professionalisierung und Etablierung der Arbeit des Cineasten zur Folge hatte.7 Schließlich soll über die Bemerkung hinaus, dass das Cinema Novo, vor allem in seiner Verbindung mit einem spezifischen Befreiungsdiskurs der alten Linken, als historisch zu betrachten ist, die Frage gestellt werden, inwiefern heute die Vorstellung des Cinema Novo, das Kino in seiner Gesamtheit als privilegierten Ort zu denken, um eine Diskursivierung der Produktionsverhältnisse zu befördern, sich noch immer als produktiv erweist. 1961 formulierte Cavalheiro Lima, eine wichtige Persönlichkeit der brasilianischen Filmindustrie der 1950er Jahre, eine Diagnose des brasilianischen Filmmarkts, die aus heutiger Sicht als erfüllte Vorhersage gelten kann: »Grundsätzlich ist der brasilianische Markt hoch wirtschaftlich und seine Zukunft viel versprechend. Der ›Riesenwuchs‹ (gigantismo) dieses Markts ist eine historische, geographische, demographische Schicksalshaftigkeit. Aufgrund der beschleunigten Industrialisierung und seiner globalen Expansion ist Brasilien dasjenige Land der westlichen Halbkugel, das am meisten Expansionsaussichten verspricht. Es ist Zeit, dass die euro6 | Zu einer Historisierung des Begriffs des Dritten Kinos im Verhältnis zur Geschichte Brasiliens siehe z.B. Xavier: Allegories of Underdevelopment, S. 1-11. 7 | Joaquim Pedro de Andrade im Interview mit Alex Viany, in: 11. Mostra Internazionale del nuovo cinema: Il Cinema Novo Brasiliano, 2° I registi e i film, S. 22.

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päischen Geschäftsmänner sich über diese Realität klar werden und einer Handelspolitik entgegengehen, welche für die gegenwärtigen und zukünftigen Zustände geeignet ist. 8«

Die brasilianische Filmindustrie in den 1950er Jahren 1952 fand der 1. São Paulo Kongress des brasilianischen Kinos statt. Er war der erste einer Reihe von Kongressen in São Paulo und Rio de Janeiro, auf den nach dem Zusammenbruch der ambitionierten Produktionsfirma Vera Cruz in São Paulo (1949-1954)9 schnelle Lösungen für die strukturellen Probleme der brasilianischen Filmindustrie gefunden werden sollten. Die Ergebnisse des Kongresses lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Auf ökonomischer Ebene wurde prinzipiell über Filmdistribution und über den Mangel an Investitionskapital diskutiert. Es wurde die Gründung eines nationalen Verleihsystems für die Distribution brasilianischer Filmen vorschlagen, um damit den Importmarkt, der von nordamerikanischen Filmen überflutet wurde, zu reglementieren. Dieser Vorschlag wurde erst in den frühen 1970er Jahren, mit der Kreation der Embrafilme, konkretisiert. Des Weiteren war der Mangel an Investitionskapital ein konstantes Problem der Filmindustrie: Die Praxis des 8 | Orig. ital.: »In linea di massima, il mercato brasiliano di consumo è altamente economico ed il suo futuro è molto promettente. Il »gigantismo« di tale mercato è una fatalità storica, geografica, demografica. L’accelerata industrializzazione del paese e la sua espansione globale gli conferiscono la caratteristica del mercato con la maggiore espansione futura nell’emisfero occidentale. È dunque tempo che gli uomini d’affari europei si rendano conto di questa realtà, avviandosi verso una politica commerciale atta ad adattarsi alle condizioni presenti e future.«, Cavalheiro Lima: »Il mercato cinematografico brasiliano«, in: Gianni Amico (Hg.): Il cinema brasiliano, Mailand 1961, S. 244 (Eigene Übersetzung). 9 | Die Geschichte der Vera Cruz Studios und ihre Rezeption ist sehr interessant. Immer mal wieder wurde sie vom Cinema Novo als eine ambivalente Erfahrung betrachtet: Zum einen als das Gegenbeispiel, als der Versuch, Filme im Stil Hollywoods und für den Exportmarkt zu produzieren, ohne dabei die sozialpolitische Realität Brasiliens zu berücksichtigen. Des Weiteren habe die Vera Cruz den Fehler gemacht, die Distribution ihrer Filme in die Hände der Columbia Pictures zu geben, welche nicht daran interessiert gewesen sei, den brasilianischen Film zu fördern. Gleichzeitig stellte die Erfahrung der Vera Cruz für die jungen Regisseure aber auch den positiven Versuch dar, in Brasilien überhaupt Filme zu produzieren. Für eine Geschichte der Studios Vera Cruz und ihrer ökonomischen Folgen für die Entwicklung der brasilianischen Filmindustrie siehe: Johnson: The Film Industry in Brazil, S. 62-63; Alex Viany: »Cinema brasiliano: Il vecchio e il nuovo«, in: 11. Mostra Internazionale del nuovo cinema: Il Cinema Novo Brasiliano, 1° testi e i documenti, Rom 1975, S. 124-125.

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cavação (buchstäblich »graben«) bezeichnet die Suche des Filmemachers nach Finanzierung aus ganz unterschiedlichen Quellen: privaten Kontakten oder durch Auftragsarbeiten. Außerdem wurden während des Kongresses weitere Themen angesprochen, wie die Überrepräsentanz von ausländischen Facharbeitern in der Nationalindustrie, Fragen der Arbeiterschutzpolitik und die Organisation von Gewerkschaften im Filmsektor. Insbesondere wurden ausländische Arbeiter beschuldigt, den internen Arbeitsmarkt für Brasilianer zu verengen: Die xenophoben und nationalistischen Töne dieses Vorwands spiegelten die politische Strategie der trabalhismo – einer Mischung aus Sozialhilfepolitik, Unterstützung der Arbeiterklasse und Nationalisierungsprogrammen in der Wirtschaft unter der Regierung Getúlio Vargas’ (1930-1945 und 1950-1954). Die interessantesten Schlussfolgerungen – die die Filmindustrie Brasiliens langfristig beeinflussen sollten – wurden jedoch auf einer ideologisch-kulturellen Ebene gezogen. So wurde die Diskussion von der großen Grundfrage geleitet: »Was ist das brasilianische Kino?« Außerdem erhielt der brasilianische Film seinen juristischen Status: »A national film is produced in Brazil, spoken in Portuguese, produced with at least 60 percent national capital, and has an artistic and technical crew consisting of two-thirds Brazilians«.10 Die Stringenz dieser Definition bereitete aber weitere Probleme, die sich unter die Frage nach dem Realismus im Film subsumieren lassen. So übernahm der zukünftige Cinema-Novo-Vertreter Nelson Pereira dos Santos eine Position, die für die Bewegung repräsentativ werden sollte: In seinem Text mit dem Titel »The problem of content in Brazilian Cinema« stellte er einen Zusammenhang zwischen Filminhalt und dem ökonomischen Aspekt her. Der brasilianische Film sollte, anders als die internationale Ausrichtung der Vera Cruz Studios, brasilianische Themen (wie historische Ereignisse oder literarische Adaptionen) verhandeln, um dadurch Publikum zu gewinnen und die Dominanz ausländischer Filme in den Kinos zu mindern. Des Weiteren sollte das brasilianische Kino nach dos Santos sein eigenes Industriemodell finden, das auf einfachen Produktionstechniken – low budget, begrenzten Drehteams, lokalen Drehorten – basieren sollte. Schließlich lassen sich die Ergebnisse aus dem 1. São Paulo Kongress des brasilianischen Kinos als ein erster Versuch zusammenfassen, Tendenzen und Probleme der Filmindustrie – wie die Frage nach staatlicher Intervention in der Filmförderung oder nach der Reglementierung ausländischer Filme – zu benennen. Obwohl der Kongress zu keinen konkreten Veränderungen und neuer Gesetzgebung führte, wurden dadurch die ersten Diskussionen über die Entwicklung einer Nationalkinematographie begonnen. Jahre später, am Anfang der 1960er Jahre, wurde dieses Projekt von der Filmbewegung Cinema 10 | Johnson: The Film Industry in Brazil, S. 67.

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Novo wieder aufgegriffen: Die Knappheit an Produktionsmitteln sollte nun zur eigenen Filmästhetik gemacht werden.

»Eine Idee im Kopf und eine Kamera in der Hand« »Eine Idee im Kopf und eine Kamera in der Hand«:11 So fasste Glauber Rocha, der junge Regisseur und das Sprachrohr der Bewegung, 1961 die Arbeitspraxis des Cinema Novo zusammen. Die jungen Cineasten verstanden die Arbeit am Film als Koordination und Kontinuität zwischen dem Denken und dem Filmemachen, evoziert in dem lebendigen Sinnbild, die Kamera sei die natürliche Verlängerung der eigenen Gedanken. Einerseits fand diese Emphase der Unmittelbarkeit von Denken und Filmen in der Verbreitung der 16mm Kamera12 eine technische Entsprechung. Andererseits impliziert Rochas Motto eine konkrete Filmpraxis und Arbeitsorganisation, die filmästhetische Konsequenzen haben sollte. Kontrastierendes Schwarz-Weiß und sporadische Dialoge (Barren Lives [Vidas Secas, 1963]), eingebaute dokumentarisierende Sequenzen (Barravento [Barravento, 1962]) und die Partizipation armer Nordestinos (The Guns [Os Fuzis, 1964]) sind Techniken und ästhetische Tendenzen, in denen die frühen Filme des Cinema Novo dem italienischen Neorealismus ähneln. Des Weiteren entsprechen die bevorzugten Drehorte – der Sertão, die Wüste im Nordosten, oder die Favelas von Rio – einer Filmpoetik, die sozialen und magischen Realismus verbindet. So stellen die Leere des Sertão und das Wimmeln in den Favelas eine Symmetrie zwischen urbanem Zentrum und ländlicher Peripherie her; zwischen den Favelas als brennendem Kollateralschaden der beschleunigten Industrialisierung der 1950er Jahre, dem Nordosten als dem Ort kollektiver Kämpfe (der Landarbeiter für eine Agrarreform) und als allegorischer Topos, an dem sich Mythen und Rituale aus einem atavistischen, vormodernen Brasilien abspielen. Die frühen Cinema-Novo-Filme zeichneten auf diese Weise eine Art Kartographie des Elends, die den Zusammenhang zwischen geographischer Verortung und sozioökonomischer Analyse zeigt. 1965, ein Jahr nach dem Militärputsch, blickt Glauber Rocha auf die Cinema-Novo-Bewegung zurück und schreibt das Manifest »Ästhetik des Hungers«13. Die wirtschaftliche und kulturelle Lage des brasilianischen Films wird 11 | Orig. portugiesisch: »Com uma idéia na cabeça e uma câmera na mão«, stammt aus dem Artikel: »Arraial, Cinema Novo e camera na mão«, in: Suplemento Dominical do Jornal do Brasil, 12. 08.1961. 12 | Aggio: Cinema Novo, S. 126. 13 | »Ästhetik des Hungers« wurde weit rezipiert: Zum ersten Mal wurde es im Januar 1965 in Italien, in Genua, im Rahmen der »Rassegna del Cinema Latino-Americano« (Retrospektive zum Lateinamerikanischen Kino) präsentiert. Im gleichen Jahr erschien

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historisch, als Residuum kolonialer Ausbeutungsverhältnisse und geopolitisch, als Folge der Dominanz des amerikanischen Imperialismus, kontextualisiert. So betont Glauber Rocha: »It is for this reason that the hunger of Latin America is not simply an alarming symptom: it is the essence of our society. There resides the tragic originality of Cinema Novo in relation to world cinema. Our originality is our hunger and our greatest misery is that this hunger is felt but not intellectually understood. […] We know – since we made these sad, ugly films, these screaming, desperate films where reason does not always prevail – that the cloak of technicolor cannot hide, but only aggravates, its tumors. Therefore only a culture of hunger, weakening its own structures, can surpass itself qualitatively; the most noble cultural manifestation of hunger is violence.« 14

Anstatt die manieristische Sprache Hollywoods zu importieren, sollte der brasilianische Film die eigene Lage des Unterentwickeltseins in Bilder übersetzen. Als noch nicht vervollständigte Sprache, als noch nicht entwickelte Technik sollte er also versuchen, sein eigenes Stottern und Stolpern zum Ausdruck zu bringen, um dadurch einen Prozess der coscientização15 – des Bewusstwerdens – über den elenden ökonomischen und politischen Zustand Brasiliens zu entfesseln. So lässt sich die Poetik des Cinema Novo als eine Art Realismus zweiten Grades auffassen: Realistisch ist der Film nicht nur als Repräsentationsmedium, d.h. indem er eine außenstehende Realität repräsentieren kann, sondern aufgrund seines Diskursivierungspotenzials, das erlaubt, den Blick auf die Produktionszusammenhänge und auf die realen Bedingungen des Filmemachens in Brasilien zu vertiefen.

es in der Revista Civilização Brasileira und danach in französischer Übersetzung als »L’esthétique de la violence« in Positif. Des Weiteren knüpft der Ton des Manifests an den antikolonialistischen Diskurs der 60er Jahre und an seine Texte an – vor allem an Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde und an seinen psychoanalytischen Ansatz. Schließlich ist die italienische Übersetzung besonders interessant, weil sie weitere Ergänzungen (wie z.B. Hinweise auf die Repräsentation der Frau im Cinema Novo) enthält, welche von Glauber Rocha selbst während der Retrospektive, anlässlich einer Podiumsdiskussion, hinzugefügt wurden. Diesbezüglich siehe: Glauber Rocha: »Una estetica della fame«, in: 11. Mostra internazionale del nuovo cinema: Il Cinema Novo Brasiliano, 1° Testi e documenti, S. 64-68. 14 | Johnson, Stam (Hg.): Brazilian Cinema, S. 70. 15 | Johnson: The Film Industry in Brazil, S. 90.

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Produktionsverhältnisse Wenn man auf die Produktionszusammenhänge des Cinema Novo blickt, ergibt sich ein komplexes Bild, das nicht frei von Ambivalenzen und Widersprüchen bleibt. Zusammengefasst zeigen die frühen 1960er Jahre eine Verstärkung staatlicher Kulturpolitik: Diese Tendenz spiegelt sich in einer generellen Intensivierung des Verhältnisses von Kunstproduktion und Regierung wider, die sich am Beispiel der Filmindustrie, durch die Gründung der GEICINE (Grupo Executivo da Indústria Cinematográfica), paradigmatisch skizzieren lässt. Die GEICINE stellt den ersten systematischen Versuch dar, die brasilianische Filmindustrie durch staatliche Intervention und Förderung zu reglementieren.16 Sie verdeutlicht eine Tendenz in der Filmindustrie, welche sich in den 1970er Jahren, durch die Gründung des Instituto Nacional de Cinema (INC) und der Empresa Brasileira de Cinema (Embrafilme) verfestigt. Des Weiteren arbeiteten viele Regisseure, darunter Carlos Diegues und Leon Hirszman, zusammen mit dem 1961 gegründeten CPC (Centro Popular de Cultura) in Rio, welches sich als Bildungsinstitution verstand, die durch Kultur und Kunst politisches Bewusstsein in der armen Bevölkerung fördern sollte. Dazu führte das CPC eine Alphabetisierungskampagne durch, die von Paolo Freires befreiungspädagogischer Theorie geleitet wurde. Der einzige Cinema-Novo-Film, der direkt vom CPC finanziert wurde, ist der Omnibusfilm Favela Five Times (Cinco vezes Favela, 1962). Die beiden Fragmente Cat Skin (Couro de Gato, 1962) und Stone Quarry Sao Diego (Pedreira de São Diego, 1962) wurden aber vom CPC als zu formalistisch und nicht unmittelbar politisch beurteilt und die Mitarbeit zwischen CPC und Cinema Novo kam zu einem Ende. Dieser Fall verdeutlicht, dass das CPC-Programm, das Kultur als Synonym für Bildung einsetzte, für das Cinema Novo zu paternalistisch wirkte.17 Außerdem arbeitete das Cinema Novo in engem Zusammenhang mit dem ISEB (Instituto Superior de Estudos Brasileiros),18 einem Forschungsinstitut, das 1954 in Rio de Janeiro unter der Regierung Kubitschek gegründet worden war. Beide Institutionen, das CPC und das ISEB erhielten staatliche Fördermittel, wobei das CPC auch über die UNE (União Nacional dos Estudantes), einen Studentenverbund mit dem es verbunden war, finanziert wurde. Das ISEB war dafür verantwortlich, die Rolle der Kultur im Entwicklungsprozess zu konzipieren. Es handelte sich also um ein Programm, das mit Kubitscheks desenvolvimentismo und dessen Modernisierungstheorie übereinstimmte. So 16 | Zu GEICINEs Filmpolitik, siehe: Ebd., S. 87-103. 17 | Für eine detaillierte Geschichte des CPC und sein Verhältnis zum Cinema Novo siehe: Aggio: Cinema Novo, S. 167-172. 18 | Zur Geschichte der ISEB siehe: Ebd., S. 167; Johnson: The Film Industry in Brazil, S. 89-91.

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wurde die Entwicklung einer starken und vom Ausland unabhängigen Nationalindustrie als Ausgangspunkt für die Überwindung der kolonialen Situation des Landes betrachtet: Das kapitalistische Modell wurde nicht in Frage gestellt, sondern als unbestreitbare Prämisse für die Entwicklung Brasiliens zur unabhängigen Nation begriffen. Zudem verdichtete sich der wahrgenommene Hauptwiderspruch in der brasilianischen Gesellschaft nicht hin zu einer Opposition von »Kapital« versus »Arbeit«, sondern zu der von »Nation« versus »Nicht-Nation«, wobei Nation als starker Begriff auf eine Vorstellung von Authentizität hinweist.19 So lässt sich, vor allem hinsichtlich der Betrachtung der historischen Entwicklung und der gesellschaftlichen Verhältnisse, eine Kontinuität zwischen manchen Thesen der ISEB und des Cinema Novo feststellen: »As did the intellectuals of ISEB, Cinema Novo tended to see the major conflict of Brazilian society as ›colonizer‹ versus ›colonized‹, to use Glauber Rocha’s words (›An Aesthetic of Hunger‹), rather than to analyze it in terms of class. The movement was engaged in a struggle to create an authentic national culture in opposition to the interests of the colonizer. It also tended to adopt a dualist vision of society, setting a traditional, feudal, backward Brazil tied to imperialist interests in opposition to a progressive, modern Brazil led by sectors of the national bourgeoisie.« 20

Aus dieser kurzen Erläuterung über das Wechselspiel von Cinema Novo und brasilianischen Kulturinstitutionen, die zwischen den 50er und 60er Jahren in Brasilien entstanden sind, ergibt sich ein Bild der Filmbewegung als gesellschaftliches Phänomen, das, vor allem aufgrund der Zusammenarbeit mit dem CPC und der UNE, eine besondere Verbindung zum Studenten- und Intellektuellenmilieu aufwies. Außerdem ist eine Nähe zwischen der Filmbewegung und manchen Schichten der Nationalbourgeoisie nicht nur aus den reformistischen und progressiven Ansichten von Cinema-Novo-Mitstreitern herzuleiten, sondern auch aus der Tatsache, dass mehrere Cinema-Novo-Klassiker, die vor 1964 entstanden sind, wie Barren Lives oder Black God, White Devil (Deus e o Diabo na Terra do Sol, 1964), von der Nationalbank von Minas Gerais finanziert wurden, aus deren Besitzerfamilie Magalhães Pinto einige der Politiker kamen, die den Militärputsch von 1964 unterstützten.21 Schließlich lässt sich schon ab den 1960er Jahren in der Rezeption der Bewegung erkennen, wie das Politische des Cinema Novo immer wieder an solchen Ambivalenzen gemessen wurde. Insbesondere wurde sein Scheitern als Folge des widersprüchlichen Verhältnisses zwischen ästhetischem Radikalis-

19 | Johnson: The Film Industry in Brazil, S. 89. 20 | Ebd., S. 91. 21 | Ebd.

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mus und Kompromissbereitschaft in der Filmpraxis konstatiert. Zum anderen wurde es am Fehlen eines Klassenstandpunktes festgemacht.22 Über diese Kritik hinaus soll im nächsten Teil gefragt werden, inwiefern das Projekt des Cinema Novo – das brasilianische Kino, nicht nur neu zu denken, sondern überhaupt erst zu erfinden – vom aktuellen Standpunkt der Kinoproduktion der Retomada aus betrachtet an seine Grenzen kommt, aber gleichzeitig dazu dient, die Grenze des aktuellen Kinos darzustellen.23 Da das Wort Retomada zunächst eine neutrale Konnotation besitzt, welche im Unterschied zum Cinema Novo auf keine stilistische oder inhaltliche Gruppierung, sondern auf die spezifischen Produktionsverhältnisse seit 1991 hinweist, scheint es nahe liegend, bei der Betrachtung der Retomada den Fokus auf die Filmindustrie zu verschieben. Genauer erlebt Anfang der 90er Jahre das brasilianische Kino nach einem kurzzeitigen Verschwinden (colapso) eine neue Phase, die unter dem Namen »Retomada« in die Filmgeschichte eingegangen ist. Wie am Anfang dieses Textes bereits erläutert wurde, bezeichnet der Begriff der Retomada (»Wiederbelebung«) die politische und wirtschaftliche Konjunktur, welche am Anfang der 1990er Jahre zu einer »Renaissance« der Filmproduktion in Brasilien geführt hat. Nachdem Präsident Fernando Collor de Mello, im Zuge seiner neoliberalen Agenda, 1990 das Instituto Nacional de Cinema (INC) und die Empresa Brasileira de Cinema (Embrafilme) abgeschafft hatte, steckte das brasilianische Kino in einer Situation vollständiger Paralyse. Denn seit diese beiden Institutionen 1966 bzw. 1969 gegründet worden waren, war die Filmproduktion in Brasilien fast ausschließlich auf staatliche Förderungen angewiesen. Umso stärker wurde die Filmindustrie nun von der Abschaffung dieser zwei Institutionen getroffen.24 Dank einer Reihe unterschiedlicher Maß22 | Für eine Zwischenbilanz zum Cinema Novo siehe z.B. Peter B. Schumann: Handbuch des brasilianischen Films, Frankfurt a. M. 1988, S. 25; Günter Peter Straschek: Handbuch wider das Kino, Frankfurt a. M. 1975, S. 353-355. 23 | Folgender Ansatz soll kein motivorientierter Vergleich sein. So wurden das Cinema Novo und die frühe Phase der Retomada aufgrund einer Ähnlichkeit an Motiven und Themen, wie zum Beispiel der wiederholten Präsenz in vielen frühen Retomada-Filmen der für das Cinema Novo emblematischen Orte der Favela und des Sertão, oft verglichen. Exemplarisch dafür steht Ivana Bentes: »The sertão and the favela in contemporary Brazilian film«, in: Nagib: The New Brazilian Cinema, S. 121-138. Schließlich könnte man es so zusammenfassen, dass das Cinema Novo heute als Grundmoment in der brasilianischen Filmgeschichtsschreibung und als ästhetischer Maßstab für aktuelles Kino der Retomada betrachtet wird. 24 | Sicherlich sollte aber die Abschaffung der beiden Institutionen nicht als die einzige Ursache des Kollaps des brasilianischen Kinos Anfang der 1990er betrachten werden: Der Aufstieg des Konkurrenzmediums Fernsehen, sowie die allgemeine wirtschaftliche Krise sind weitere Auslöser, die weit in die 1980er zurückreichen.

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nahmen und Reglementierungen, die unter dem Präsidenten Itamar Franco (1992-1994) avisiert und später von Präsident Henrique Cardoso (1995-2002) vollzogen wurden, konnte die Filmproduktion wieder neu beginnen. Zuerst wurde 1991 das Rouanet-Gesetz (Nr. 8.313) eingeführt, um private Investitionen im einheimischen Kulturbereich zu unterstützen. Dank dieses Gesetzes nahm die privatwirtschaftliche Beteiligung an der Finanzierung von Kulturprojekten und insbesondere von brasilianischen Filmen in den Folgejahren deutlich zu. Die bedeutendste Maßnahme aber war die Verabschiedung des Audiovisuellen Gesetzes (Nr. 8.586) im Jahr 1993, das zum einen eine Steuererleichterung für Unternehmen darstellte, die in lokale Projekte investierten, und zum anderen ausländischen Filmvertriebsfirmen erlaubte, durch die Kooperation mit lokalen Tochtergesellschaften bis zu 70 % ihrer Einkommenssteuern in lokale Geschäfte zu investieren. Davon profitierten vor allem Sony und Columbia, aber auch Warner Bros, Fox und Miramax.25 Und noch auf einer weiteren Ebene lässt sich das Phänomen der Retomada im Rahmen der neoliberalen Tendenzen kontextualisieren, die die brasilianische Wirtschaft seit den 1980er Jahren kennzeichnen. So förderten die Retomada-Reglementierungen, vor allem durch die Unterstützung von Privatunternehmen und Koproduktionen, eine Transnationalisierung und Globalisierung des Filmmarktes. Das Phänomen der Retomada muss demnach in größeren geopolitischen Zusammenhängen betrachtet werden: Die Frage nach der Herstellung von Filmen, die in ihrer Dringlichkeit vom Cinema Novo aufgeworfen worden war, wurde im gegenwärtigen Brasilien, als dem aktuell mächtigsten Schwellenland, reformuliert. Insbesondere sollen im Folgenden die Auswirkungen der Retomada am Beispiel des brasilianischen und weltweit viertgrößten Medienkonzerns Rede Globo und seines Einstiegs in die Filmbranche 1998 erwogen werden. Genauer soll untersucht werden, wie die Rede Globo bei der Produktion und Distribution von »Favela-Filmen« Strategien der Medienkonvergenz, des Franchising und transnationaler Koproduktionen einsetzt, um damit ihren Profit zu maximieren und das brasilianische Publikum zu gewinnen. Zuvor sollen jedoch anhand eines filmanalythischen close-up auf drei Globo Produktionen – auf die Fernsehserie City of Men (Cidade dos Homens, 2002-2005) und auf die zwei Filme City of Men und City of God – die Favela als spezifischer medialer und ästhetischer Raum konturiert werden. Schließlich wird sich im Laufe dieses zweiten Teils des vorliegenden Textes herausstellen, dass sich nicht alle ästhetischen Strategien und Narrative, die aus den ausgewählten Filmbeispie25 | Für eine detaillierte Erklärung des Audiovisuellen Gesetzes und seiner Folgen, siehe: Cacilda Rêgo: »The Fall and Rise of Brazilian Cinema«, in: Cacilda Rêgo, Carolina Rocha (Hg.): New Trends in Argentine and Brazilian Cinema, Bristol, Chicago 2011, S. 37-38.

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len herauszuarbeiten sind, auf Fragen nach der kommerziellen Verwertbarkeit derselben reduzieren lassen. So entfalten die einzelnen Filme einen ästhetischen Mehrwert, den eine strikt ökonomistische, profitorientierte Logik überschreitet. Letztendlich stellt also der filmanalytische Teil, der hier unmittelbar folgen wird, hinsichtlich meiner Argumentationsfolge gleichzeitig einen Bruch im und eine Abschweifung aus dem Text dar: Die Filme leisten gegen den Versuch, sie einer abgedichteten (totalisierenden) Interpretationslogik zu subsumieren, passiven Widerstand.

R E TOMADA UND P OST -R E TOMADA : N EUE K ONFIGUR ATIONEN IN DER M EDIENINDUSTRIE Das Gehen in der Favela: Eine räumliche Erkundung Die brasilianische Fernsehserie City of Men zeigt das Alltagsleben in der Favela Rio de Janeiros aus der Sicht von zwei schwarzen Jugendlichen im Alter von 13 Jahren, Laranjinha (Darlan Cunha) und Acerola (Douglas Silva), die schon immer beste Freunde gewesen sind. Während ihre Charaktere in der ersten Staffel nach dem komödiantischen Prinzip des sich ergänzenden Paars funktionieren (der eine der smarte, schmale Picaro, der andere der unbeholfene Verantwortungsbewusste), verselbständigen sich ihre Figuren im Laufe der Serie. Ihre Freundschaft ist die Konstante der Erzählung, die dazu dient, Kohärenz in der seriellen Folge zu sichern. Denn jede Episode ist selbstvergesslich, es gibt keinen Handlungsstrang, der sich quer durch die ganze Serie zieht, immer wieder tauchen Nebenfiguren auf, um in der nächsten Episode gleich wieder zu verschwinden. Die Episode »Correio« (City of Men) erzählt vom Versuch, den Raum der Favela zu erschließen, wobei die urbane Praktik der Raumvermessung als Verhandlung innerhalb der Favela-Gemeinschaft dargestellt wird. So ist das Gehen in der Favela keine moderne flânerie, die die Stadt in ihrer Horizontalität durch ein rhythmisches Laufen erschließt, sondern eher ein Auf-und-Über-Klettern, ein Durch- und Hineindringen. Das Laufen hat hier etwas Experimentelles: Es wird zu einer abtastenden Tätigkeit, in der sich die Verflechtung von Straßen und Gassen zu keiner allumfassenden Räumlichkeit verdichtet. Die Kamera, die sich oft in Augenhöhe und »mittendrin« bewegt, wird zum Fußgänger, der den Raum schreibt ohne ihn aber lesen zu können: »Alles geht so vor sich, als ob eine Blindheit die organisierenden Praktiken der bewohnten Stadt charakterisierte«,26 schreibt Michel de Certeau. So dienen der wiederholte Einsatz von establishing shots, in denen die Favela vor allem von 26 | Michel de Certeau: Kunst des Handelns, (West-)Berlin 1988, S. 182.

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oben gefilmt wird, dazu, diese als undurchdringlichen und in sich gekehrten Raum zu zeigen: Von außen bleibt die Favela ein visuell undurchschaubares Rätsel. In der Episode »Correio« werden Laranjinha und Acerola vom Boss der Favela beauftragt, als Briefträger zu arbeiten. Als sie einen Brief nicht abgeben können, sollen sie hinunter in die Stadt fahren, um ihn dem Absender zurückzugeben. Dort bemerken sie, dass auf dem Brief nicht Rio de Janeiro, sondern São Paulo als Bestimmungsort angegeben ist. Daraufhin zerreißen Laranjinha und Acerola den Brief und werfen ihn weg. Dabei wird in der Episode das Motiv des verschollenen Briefs zum Auslöser einer weiteren wichtigen Entdeckung: Auf Laranjinha und Acerolas Stadtplan, den sie bekommen haben, um sich in der Stadt zu orientieren, existieren die Favelas nur als grüne, blinde Flecken: »Have you already found the slum?/There is no slum, only bush/What do you mean bush?/Look everything is green/There is no shanty town«. Diese topographische Anonymisierung der Favela auf der Karte zeigt wie sie zu einem Raum wird, dem eine geometrische Raumvermessung, die durch die Distanz einer Panorama-Sicht entsteht, vorenthalten bleibt. »Die gewöhnlichen Benutzer der Stadt aber leben »unten« (down), jenseits der Schwellen, wo die Sichtbarkeit aufhört«:27 Der Rest der Episode verdeutlicht, wie sich gegen eine geometrische Raumvermessung der Raum der Favela durch gemeinsames Handeln auf einer Mikroebene konstituieren lässt. Als die Gangster erfahren, dass Laranjinha und Acerola den Brief weggeworfen haben, erfindet Acerola eine Eskamotage, um der Bestrafung zu entfliehen: Die Favela braucht Straßenschilder und Hausnummern, um den Briefverkehr zu regeln. Jede Straße soll Namen von bekannten Leuten tragen, d.h., jeder Boss in der Favela kann sich eine Straße aussuchen, die seinen Namen tragen wird. Das Benennungsprojekt wird gestartet und wie oft in der Serie entsteht aus einer solchen Idee für Laranjinha und Acerola die Möglichkeit, etwas dazu zu verdienen. Die ganze Gemeinde ist von dem Projekt animiert und jeder möchte einer Straße seinen Namen geben. Da die Namen von »Soldiers, bosses and managers« zu wenige sind, um alle Straßen zu benennen, versuchen Laranjinha und Acerola, die plötzlich zu kleinen Unternehmern geworden sind, gegen Geld alle zufrieden zu stellen. Dabei stellt die Favela-Gemeinschaft keine Kulisse dar, sondern fungiert als aktive Teilnehmerin in der Alltagspolitik, die vor allem durch den Akt des Sich-Beschwerens hervortritt. Langsam fügen Acerola und Laranjinho alle neuen Straßennamen auf ihrem Stadtplan hinzu und die Straßenschilder, aus Holz und in grellen Farben geschrieben, werden mit Nägeln an den Wänden befestigt. Die ganze Operation der Umschreibung stößt aber immer wieder auf Schwierigkeiten: Plötzlich stehen sie an einem Ort, der sich nicht weiter klassifizieren lässt: »Fuck! This isn’t 27 | Ebd., S. 181.

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a street, an alley or a lane!/It isn’t a staircase nor a passageway. What is it?/This is a square man/A square.« Auch hier zeigt sich, dass sich der Raum der Favela dem Versuch einer Übersetzung in Zeichensysteme entzieht. Als am Ende der Episode Laranjinha und Acerola mit dem Stadtplan in die Hände von SWAT-Polizisten geraten, reicht es aus, die Straßenschilder miteinander zu vertauschen, um den Plan unbrauchbar zu machen. Verwirrt und orientierungslos schauen die Polizisten auf den Plan: diese letzte Szene vermittelt ein Gefühl von diffusem, stillem Widerstand; der Raum der Favela entzieht sich und bleibt unentziffert.

Medialisierung der Favela Bestimmte Stilmittel, wie eine amateurhafte Handkamera, schnelle Sequenzen in Parallelmontage und kontrastierende Farbgebung, werden in der Fernsehserie City of Men zur spezifischen Filmästhetik der Favela kombiniert: Soweit sich die Handlung von der Peripherie zum Stadtzentrum verschiebt, verlangsamen sich auch die Kamerabewegungen. Ähnliche Verfahren werden in der filmischen Umsetzung der Serie City of Men nicht nur weiterverwendet, sondern bis zur Hypertrophie und Proliferation der Blicke gesteigert. In der Anfangssequenz von City of Men wird die Favela als Affektraum erschlossen: Nach einem mittlerweile kanonisch gewordenen establishing shot auf die Favela, wird die unerträgliche Hitze durch Lichtreflexe in der Kamera, Unschärfe und Gesichter, die wiederholt zur Sonne blicken, sinnlich erfahrbar. So ist die Ausgangssituation eine von Stagnation und Bewegungslosigkeit, was aber von Madrugadão, der Spitze des Mobs, unterbrochen wird: Er will nach drei Jahren wieder hinunter an den Strand gehen, um zu baden. Damit wird die Handlung in Bewegung gesetzt und der Film kann tatsächlich beginnen. Die Gangstergruppe macht sich auf den Weg zum Strand und Laranjinha und Acerola, die dieses Ereignis nicht verpassen möchten, beschließen mitzugehen. Der Strand ist eine Pracht von im Licht glänzenden Haut- und Wasseroberflächen und die ganze Aktion ist durch das Alternieren zwischen Bewegungen (in das Wasser hinein und heraus springen) und Beobachtungen (das SichKreuzen der Blicke beim Flirten mit den Mädchen) charakterisiert. Die allgegenwärtige Kamera macht auch vor der Wasseroberfläche nicht Halt: das Ende einer Rückblende ist ein flash frame, das zum weiß sprudelnden Meerwasser wird. So stabilisieren sich manieristische Blickwinkel oder das zufällige Hineinschauen – wie der unvermittelte Kamerablick in das glühende Öl in einer Pfanne am Anfang des Films – im Laufe des Films zu einer präzisen Kameraästhetik. Genauer scheint sich die Kamera immer wieder von der Handlung zu trennen und zu einer autonomen Beobachtungsinstanz zu werden, geleitet nur von

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einem skopischen Trieb: Versteckte Teleobjektive, Kadrierung und Re-Kadrierung, Unschärfe und nervöse Zooms sind nicht nur kinematografische Verfahren, die die Erzählung verschieben und verlangsamen, sondern sie werden zu Operationen der Überwachung und Abmessung eines mediatisierten Raums. Schließlich war das Eindringen der Medien in die Favelas bereits spätestens mit dem Film City of God problematisiert worden: Zum einen durch eine implizite Kritik an der Schaulust der Massenmedien und zum anderen durch den bewussten Einsatz einer Fernseh- und Musikclip-Ästhetik. So wie die Proliferation der Blickwinkel in City of God einen abgedichteten Überwachungsraum herauf beschwört, wird ein ähnlicher Multiperspektivismus in City of God zur Erzählstrategie. Der gesamte Film wird als Rückblende des jungen schwarzen Protagonisten Buscapé (Alexandre Rodrigues) erzählt, die im Lauf des Films von weiteren Rückblenden durchkreuzt wird. So eröffnen sich immer wieder Einschübe, close-ups auf die Biographie einzelner Charaktere, welche neue Blicke auf die Haupthandlung ermöglichen. Beispielsweise fügt die Geschichte des Bosses »Löckchen« Dadinho (Douglas Silva), die als Parenthese in die Haupthandlung eingeblendet wird, Adjustierungen in der Haupthandlung, so wie sie uns bis dahin erzählt wurde, hinzu: Wir werden Zeuge, wie Löckchen, noch als Kind, in der Episode des Motelüberfalls am Anfang des Films, alle ermordet hat und wie er später auch Buscapés Bruders, Marreco, kaltblütig töten wird. In Laufe des Films akkumulieren sich Geschichten zu einem komplexen Gesamtbild; Geschichten die aus den Rändern der Haupthandlung entstehen und diese gleichzeitig dezentrieren. Dadurch entsteht ein produktives Moment von Bilderskepsis: Die Geschichte, die wir im Film gesehen haben, ist nur eine unter mehreren und sie weist auf die Beobachterposition, aus welcher sie erzählt wurde.

Globo Filme und die »Franchised Favela« Alle drei analysierten Arbeiten, City of God und City of Men (Film und Serie), sind zur Zeit der Retomada vom brasilianischen Medienkonzern Globo produziert worden. Mit City of God, der einen großen Erfolg nicht nur an der nationalen Kinokasse, sondern auch bei der internationalen Kritik darstellte, setzt sich eine Tendenz fort, die sich sowohl als eine neue ästhetische Richtung im aktuellen brasilianischen Mainstream-Kino, als auch als eine spezifische Vermarktungsstrategie des Globo-Medienkonglomerats betrachten lässt. Als »Favela Franchised«28 wurde diese spezielle Nische der Globo Filmproduktion 28 | Courtney Brannon Donoghue: »Globo Filmes, and Franchise Film-Making: Transnational Industry in the Brazilian Pós-Retomada«, in: Rêgo, Rocha: New Trends in Argentine and Brazilian Cinema, S. 62.

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benannt und neben den schon angeführten Filmen wird darunter auch der ebenso erfolgreiche Elite Squad (Tropa de Elite, 2007) klassifiziert; Filme also, die, wie schon früher im Text angesprochen, dazu beitragen, die Favela zwischen Realismus und Manierismus – zwischen Überforderung und Vergnügen – zu verorten. Im Folgenden soll abschließend analysiert werden, inwiefern die Analogien zwischen City of God und City of Men, die auf der ästhetischen Ebene herausgearbeitet wurden, gleichzeitig einen bedeutenden Fall von Medienkonvergenz, Kapitalisierung und Serialität darstellen. So lässt sich die mediale Präsenz, die bereits als wichtiger Aspekt dieser Filme herausgehoben wurde, auf einer weiteren Ebene, der der Produktionspraktiken, durchdeklinieren: Intermedialität sollte also hier nicht allein als ästhetisches Prinzip verstanden werden, sondern weist auf die Synergie und Interaktion zwischen Fernsehund Filmindustrie – hin. 1997 gründete der brasilianischen Medienkonzern Rede Globo eine eigene Filmabteilung, die Globo Filmes. Durch die Herstellung der Globo Filmes entwickelte sich Globo zum aktuellen Hauptakteur in der Filmbranche. Denn alle erfolgreichen Retomada Filme neben City of God, Carandiru (Carandiru, 2003) oder God Is Brazilian (Deus É Brasileiro, 2003) wurden von Globo sowohl produziert als auch verliehen. Damit steht Globos Filmpolitik in engem Zusammenhang mit dem Phänomen der Retomada und allgemein mit dem Anwachsen von neoliberalen Tendenzen seit den 1980er Jahren in der Wirtschaft Brasiliens. Globo Filmes profitiert von den Vergünstigungsmaßnahmen während der Retomada und dem daraus folgenden positiven Investitionsklima. Durch die Kooperation mit anderen Produktionsfirmen bekam Globo Filmes einerseits Zugang zu den Vergünstigungsprogrammen, obwohl sie nach dem Audiovisuellen Gesetz keine unabhängige Produktionsfirma sind und deswegen eigentlich keinen Anspruch darauf hätten. Zum anderen kooperierte Globo Filmes mit mehreren MPA-Distributionsfirmen, die verantwortlich für den Verleih der meisten erfolgreichen Retomada-Filme waren. Infolgedessen ist das Duo Globo-Columbia heute das erfolgreichste Modell der Filmbranche Brasiliens.29 Schon vor der Gründung von Globo Filmes, war die Rede Globo, als das größte brasilianische und lateinamerikanische TV-Netzwerk, eine ökonomische, politische und ideologische Institution, welche insbesondere wegen der Produktion von Telenovelas, der weltweit exportierten brasilianischen soapoperas, bekannt wurde. Darüber hinaus produzierte Globo Filmes in den letzten Jahren mehrere filmische Adaptionen von populären, auf TV Globo 29 | Randal Johnson: »TV Globo, the MPA and Contemporary Brazilian Cinema«, in: Lisa Shaw, Stephanie Dennison (Hg.): Latin American Cinema. Essays on Modernity, Gender and National Identity, Jefferson London 2005, S. 27.

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bereits ausgestrahlten Fernsehserien, wie zum Beispiel die erfolgreichen Komödien A Dog’s Will (O Auto da Compadecida, 2000) oder So Normal (Os Normais – O Filme, 2003), die dafür bekannte Globo-Fernsehschauspieler casteten. Durch diese Strategie der Medienkonvergenz versicherte sich Globo der Kontrolle über unterschiedliche Zweige der Medienindustrie, die von Fernsehen, Film bis zu deren ancillary markets, DVD- und Musikmarkt, reichen. Genau diese Art von Parallelität zwischen Fernseh- und Filmindustrie ist auch am Beispiel der Favela-Filme zu bemerken: Filmemacher, Autoren, Schauspieler und Publikum bewegen sich von einem Medium zum nächsten. So sind Fernando Meirelles und die Dokumentaristin Kátia Lund die Regisseure sowohl von City of God als auch von einigen Episoden der Serie City of Men, während Paulo Lins, der Drehbuchautor von City of God, eine Montage aus Nahaufnahmen von Essen, Tieren und Samba, die die Favela als lebendigen und vitalistischen Ort hervorheben, auch als Musikvideoclip verbreitet. Globos Kinopolitik ist unterschiedlich beurteilt worden: Neben einer optimistischen Einschätzung, dass die erfolgreiche Strategie von Globo das brasilianische Kino stärke, stößt sie auch auf heftige Kritik. Die Kritiker weisen vor allem darauf hin, dass Filmqualität nicht am Erfolg an der Kinokasse gemessen werden kann und damit auch auf die Tatsache, dass mehrere gute Filme, die nicht unter der Obhut von Globo entstanden sind, nicht einfach ignoriert werden können.30 Diese Kritik knüpft an ähnliche Positionen in Folge der Retomada an, beispielsweise wenn einerseits dank der Retomada das brasilianische Kino eine unbestreitbare Steigerung der Filmproduktion erlebt hat, andererseits aber die strukturellen Probleme der brasilianischen Filmindustrie, wie das Problem der Filmdistribution, weiter ungelöst sind. Damit bleibt diese auch weiterhin von ausländischen Unternehmen abhängig und die Präsenz von Hollywood in der brasilianischen Filmindustrie, die seit den 1960er Jahren als problematische Konstante empfunden wurde, ist seit der Retomada und den Vergünstigungen für Investoren nochmals gestiegen. Schließlich hatte der Versuch, durch die Wiederherstellung einer staatlichen Institution für Filmförderung 2001, der Agência National de Cinema (Ancine), den brasilianischen Filmmarkt durch eine protektionistische Filmpolitik31 zu regulieren, wenig Resultate gebracht.

30 | Ebd., S. 28. 31 | Zur staatlichen Politik während der Retomada, siehe: Ebd., S. 21-24.

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R ÜCKBLICKE Das Politikum des Cinema Novo, so wie es hier umrissen wurde, war der Versuch, Zusammenhänge zwischen Kinopraxis und gesellschaftlichen Verhältnissen zu erschließen. Ohne die Erfahrung des Cinema Novo als »Geschichte« zu beseitigen, wurde im Folgenden das Erbe des Cinema Novo als eine bestimmte Art, Film zu denken, zuerst historisch kontextualisiert und danach als a-historische, analytische Schlüsselfigur veranschlagt, um die gegenwärtigen Verhältnisse innerhalb der heutigen Kinoproduktion Brasiliens zu sondieren. Es lässt sich also eine Vorstellung historischen Denkens ableiten, das nicht den Blick simuliert, der aus dem heutigen Stand in die Vergangenheit zurück schaut, sondern der von damals auf die Gegenwart sich richtet. Als eine Verkehrung und Durchkreuzung einer genealogischen Historiographie, wurde der Prozess des Schaffens und der Konsolidierung einer brasilianischen Filmindustrie von der Sicht des Cinema Novo bis hin zur Gegenwart verfolgt. Anstatt nach zurückgelassenen Spuren der Vergangenheit in der Gegenwart zu suchen und sie dann zu verfolgen, hat man die Szene, in welcher Spuren zurückgelassen werden, nachgezeichnet, um sie dann in ihrer Potenzialität zu entfalten.

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Mythos, Müll und Marginalia José Mojica Marins, Prophet von Brasiliens Neuem Kino Christoph Huber

»Mit diesem Film scheine ich erfolgreich gewesen zu sein«, sagt José Mojica Marins sichtlich zufrieden im Interview (geführt gemeinsam mit Vero Brozzoni, Markus Keuschnigg und Olaf Möller), wenige Tage nach der Weltpremiere seines Comebacks Embodiment of Evil (Encarnação do Demônio, 2008) bei den Internationalen Filmfestspielen Venedig 2008: »Man hat mir gesagt, es begann wie eine Vorführung – und endete als Alptraum!« Horror ist der Stoff, aus dem die Träume dieses brasilianischen Genrepioniers sind, behauptet jedenfalls der Mythos. Und der ist von Mojica selbst nicht zu trennen, seit er mit dem Low-Budget-Kultfilm At Midnight I’ll Take Your Soul (À Meia-Noite Levarei Sua Alma, 1964) eine Leinwandfigur geschaffen hat, deren perverser Reiz und subversive Nachhaltigkeit ihresgleichen suchen. Sein schrecklicher Totengräber Zé do Caixão, später als Coffin Joe auch zur internationalen Horror-Legende geworden, schlug Brasilien sofort in seinen Bann, nicht zuletzt weil er viele Widersprüche seiner Heimat ikonisch auf den Punkt brachte: Zugleich Held und Schurke, widerlich in seiner Unbarmherzigkeit, aber bewundernswert in seiner Konsequenz – ein stolzer Atheist, wie er nur einem zutiefst katholischen Umfeld entspringen kann, und ein Kämpfer gegen das Spirituelle, dessen übernatürliche Manifestationen ihn nichtsdestotrotz ununterbrochen verfolgen. Mit Zé erschuf Mojica ein Gefäß, das sich mit den Antagonismen und Ambivalenzen der brasilianischen Gesellschaft füllte: Unermüdlich, bösartig, aber auch zutiefst aufrichtig in seiner Suche – nach Unsterblichkeit durch das Zeugen eines Erben mit der perfekten Frau. Mojicas (und Brasiliens) erster Horrorfilm war ein Sensationserfolg: Zé wurde zum Helden der Armen und Unterdrückten, die zweifellos angezogen wurden von seiner befreienden, anarchischen Wut auf ein heuchlerisches Establishment und seinem Kampf gegen das institutionalisierte Böse, unweigerlich verkörpert von der korrupten Dreifaltigkeit aus Kirche, Politik und Polizei. Der stets schwarz gekleidete Totengräber mit seinen Markenzeichen-Accessoires (Zylinder, Umhang und lange Fingernägel) war zugleich eine frustrierende Kraft:

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Er straft eine furchtsame Bevölkerung für ihre Schwäche mit Verachtung. Die eingängige Gospel-Ballade am Anfang von Mojicas Horror-Episodenfilm Strange World of Coffin Joe (O Estranho Mundo de Zé do Caixão, 1968) formuliert es angemessen und schön schizophren: »His reign is for revolt/His orders are for hatred.« Wo Zés erster Filmauftritt (natürlich auf dem Friedhof) für Stille und Betroffenheit sorgte, galt für die kontroverse öffentliche Figur Mojica das Gegenteil: Er ging in seiner populären Leinwandpersona auf, bis zur eigenen Fernsehsendung und atemberaubend absurder Markenpolitik wie dem Zé do Caixão-Volkswagen (1969/70) oder einem Deodorant namens Mistério. Inzwischen hatte Mojica mit der ebenso umstrittenen Fortsetzung Tonight I’ll Possess Your Corpse (Esta Noite Encarnarei no Teu Cadáver, 1966) reüssiert und nutzte den Publikumsmagnet Zé für Anthologien in seinen zwei Lieblingsformaten: Filme und Comics, deren Rachegeschichten Tales from the Crypt ähnelten (mit Zé als Crypt Keeper). In Strange World of Coffin Joe kommt Zé nur im Titellied vor, das für diesen »Man without god« schmachtet: Mojica spielt in der besten Episode einen Professor mit ähnlicher Haltung, der grausame Experimente mit kannibalischen Resultaten vornimmt. Mojicas bereitwilliges Verschmelzen mit Zé machte ihn zu einer »walking contradiction«, wie Kris Kristoffersson anderswo sang, »partly truth and partly fiction«. Den sorgsam kultivierten Status als mythischer Volksheld – er wird bis heute auf der Straße gebeten, Babys zu küssen – hat er gewitzt und verspielt in seine Filmografie eingewoben, nicht zuletzt in jenem Film, den er als seine »größte Leistung, was sozialen Kommentar angeht« betrachtet: Bei Awakening of the Beast (O Despertar de Besta, 1970) hatte er auch seine größte Schlacht mit der Zensur – der zunächst Ritual of the Sadists (O Ritual dos Sádicos, 1970) betitelte Film wurde prompt verboten und erst 1986 in der Urform beim RioCine Festival gezeigt. Charakteristischerweise macht Mojica aus dieser genüsslichen Anklage einer dekadenten Gesellschaft, die sich in Drogenmissbrauch und sexueller Verwirrung manifestiert, eine Rechtfertigung seiner selbst. Gleich zweimal wird er hier im Fernsehen angeklagt, beim ersten Mal wird der bekennende Autodidakt als Zé beschuldigt: »Sie sind dieser Diskussion intellektuell nicht gewachsen!« Woraufhin er knapp kontert: »Entschuldigen Sie, aber Zé do Caixão ist auf dem Friedhof geblieben. Sie reden mit José Mojica Marins.« Das belegt die Raffinesse dieses angeblich »primitiven Künstlers«, den sein gefeierter Regiekollege Glauber Rocha als »reinen Filmemacher« gepriesen hat (was Mojica mit sichtlicher Zufriedenheit in Awakening of the Beast einbaut). Diese künstlerische Allianz zeigt zugleich den Sonderstatus Mojicas in Brasiliens Kino: Er steht eigentlich dem Cinema Marginal und dem Udigrudi (Underground) nahe, die das Cinema Novo weiterführten. Cinema NovoSchlüsselfigur Rocha bezeichnete ihn polemisch als »einen der besten Filme-

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macher weltweit«: ein cinephiler Ausdruck des paradoxen Mojica-Mythos, der zugleich die Massen und eine radikale Avantgarde ansprach. Mojicas At Midnight I’ll Take Your Soul erschien im Jahr des Militärputsches 1964, als das Cinema Novo seine von Klassikern wie Rochas Black God, White Devil (Deus e o Diabo na Terra do Sol, 1964) repräsentierte erste Phase gegen ein urbaneres Mittelklasse-Krisenkino eintauschte, bevor ab 1968 der allegorischkannibalistische Tropikalismus mit Filmen wie Joaquim Pedro de Andrades Macunaima (Macunaíma, 1969) Einzug hielt. Parallel dazu entfaltete sich das Cinema Marginal, in Mojicas Heimatstadt São Paulo als Cinema da Boca do Lixo (»Mouth of Garbage«, nach dem für hohe Verbrechensraten und Prostitution berüchtigten Stadtteil Boca do Lixo). Eine hybride »Ästhetik des Mülls« war die Antwort auf Rochas Novo-Manifest von der »Ästhetik des Hungers«. Rogério Sganzerla, dessen Langfilmdebüt The Red Light Bandit (O Bandido da Luz Vermelha, 1968) den Boca de Lixo definierte, schrieb als junger Kritiker begeistert über Mojicas Horror-Einstand: »Das Natürliche ist so falsch wie das Falsche. Nur das Erzfalsche ist wirklich real. Ich rede von José Mojica Marins, Cineast des Exzesses und des Verbrechens [...]« Sganzerlas spätere Devise, »Filme zu machen, um heruntergekommene Billigkinos zu besetzen und dann vergessen zu werden« könnte von Mojicas Exploitation-Erfolgen inspiriert worden sein – Mojica selbst hatte das populäre Scheitern des Cinema Novo mit einer intellektuellen Abgehobenheit in Verbindung gebracht: »zu individualistisch«. Zweifellos einte ihn die Liebe zum bis dato artistisch diskreditierten US-B-Kino mit dem Boca do Lixo. Sganzerlas Debüt zitiert (und parodiert) Mojica neben Orson Welles und Jean-Luc Godard, bezieht sich aber genauso auf Sam Fuller und Mickey Spillane – so wie Mojicas Horror-Universum ohne die B-Pictures von Hollywoods Universal Studios undenkbar ist: Sein emblematisches Motiv ist ein zum Höhepunkt heraufziehendes Gewitter. Das wiederkehrende Bild eines einmontierten Blitzschlags, der den dunklen Nachthimmel zerreißt, könnte direkt aus einem Universal-Meisterwerk wie Roy William Neills Frankenstein Meets the Wolf Man (1943) entlehnt sein. Sganzerla besetzte Mojica schließlich im strukturalistischen Synapsensprenger The Abyss (O Abismo, 1977), der zu einem guten Drittel aus Zé-Posen in Nahaufnahme (ganz geisteskrankes Starren und Schwenken der langen Nägel) zu bestehen scheint, obwohl Mojica eigentlich einen verrückten Professor spielt. Mit Rocha teilt Marins wiederum eine Nähe zum Italo-Western, dessen revolutionäre Spielart Rocha in Antonio das Mortes (O Dragão da Maldade contra o Santo Guerreiro, 1969) brechtisch interpretierte, während er bei Mojica tief in die Ästhetik eingesickert ist (die gore-Effekte und das angelegentliche Farb-Delirium erinnern dafür an italienische Horror-Höhepunkte der Ära): Tonight I’ll Posess Your Corpse spielt im archetypischen Western-Nirgendwo zwischen Saloon und Friedhof, und die Spieluhr, der Zé lauscht, während er geflissentlich die Hilferufe seiner

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Opfer ignoriert, erinnert überdeutlich an Sergio Leones For a Few Dollars More (Per qualche dollaro in più, 1965). Ein Rocha-Traumprojekt war das filmische Aufeinandertreffen von Zé und Antonio das Mortes, in einem gemeinsam geplanten Episodenfilm sollten drei Regisseure dieselbe Geschichte aus drei Perspektiven erzählen: Mojica aus der Sicht des einfachen Mannes, Rocha vom Standpunkt des Intellektuellen, und Veteran Lima Barreto, dessen Räuberballade Cangaceiro (O cangaceiro, 1953) den Western variierte, durch die Augen einer Caboclo-Mischlingsfrau. Rocha starb, bevor die Produktion finanziert wurde, sein letzter Film The Age of the Earth (A Idade da Terra, 1980) gilt als Hommage an den Boca do Lixo, mit fiebriger Exzentrik im Dekor, die den denkwürdigen Höllenvisionen der Zé-Filme nahe steht. Mojicas Mythomanie im Fortschreiben seiner Persona und deren Identifikation mit seiner Person hat sein konsequentes Spiel mit diesen Identitäten überschattet: Der Höhepunkt ist die psychedelische Montage-Orgie Hallucinations of a Deranged Mind (Delírios de um Anormal, 1978), selbstbewusst fast nur aus erweitertem Material früherer Filme komponiert, darunter natürlich das Bava-bunte Inferno aus Tonight I’ll Posess Your Corpse und viel Material aus Awakening of the Beast. Dazu wird Mojica im Film bezeichnenderweise gewarnt: »He would even confuse you with your literary creation!« Die Dualität von Zé und Mojica zieht sich durch Schaffen wie Biografie: Die berühmteste Anekdote betrifft seine Kandidatur für die brasilianische Arbeiterpartei PTB 1982 – als Zé do Caixão! (Eine im Brasilien übliche Praxis). Später behauptete Mojica freilich kurzerhand, dass er unter seinem wahren Namen kandidiert hätte, sei der Grund für seine Niederlage gewesen: Denn eine überwältigende Mehrheit hätte für Zé gestimmt. Die Legende von Mojica ist also zu einem Gutteil Autofabrikation in völliger Vereinbarkeit mit seiner Kunst: Als Ursprung seiner Faszination fürs Kino (sein Vater betrieb eines) nannte er eine Dokumentation über Geschlechtskrankheiten bei »der er alles über das Filmschauen lernte«; ein andermal erinnert er Charlie Chaplin als Initiation: »Alle haben über seine Filme gelacht außer mir, denn mich quälte die Angst, die ich in Chaplins Augen sah.« Als 10-jähriger wünschte sich Mojica die erste Super-8-Kamera, der Horror-Durchbruch gelang nach einigen Spielfilmversuchen in anderen Genres mit der Erschaffung der Figur, die auf ihre Art so ikonisch ist wie Chaplins Tramp: Zés Wirkung verdankte sich zum Teil seinen unerhörten Torturen und blasphemischen Beschwörungen, sotto voce vorgetragen als hypnotischer, schaurig-schöner Singsang. Gleichzeitig traf Mojicas Fusion von Kommerziellem und Experimentellem zwischen Trash und Avantgarde einen Nerv: Mit seinem langjährigen Mitarbeiter und Kameramann Giorgio Attili entwarf er eine unkonventionelle Ästhetik, deren beengter, intensiver Low-Budget-Expressionismus vergessen lässt, dass Mojica kein großer Geschichtenerzähler ist. (Rocha beeindruckte beim Setbesuch, wie das keine 20 Quadratmeter große Studio mit Hilfe einer Nebelmaschine

Mythos, Müll und Marginalia

in »weitreichende Wälder« verwandelt wurde.) Die Zé-Filme wiederholen obsessiv denselben mageren Plot: Er wütet gegen den Menschen und fordert Gott und Teufel heraus, während er so sadistisch wie methodisch foltert und mordet, um den perfekten Spross zu zeugen. Dann plagen ihn zusehends Visionen seiner Opfer, was ihn an seinem Nietzscheanischen Materialismus zweifeln lässt. Und dann ereilt ihn sein Schicksal. Mojicas Idee eines Horrorfilms hat weniger mit der Handlung als mit Bildern wie aus dem Unbewussten, beunruhigenden philosophischen Ideen und dem Theater der Grausamkeit zu tun. Die Kraft von Mojicas bizarrer arte povera manifestiert sich in At Midnight I’ll Take Your Soul am nachdrücklichsten in einem mehrminütigen, ungeschnittenen Wahnsinnsmonolog von Zé, der demonstriert, dass Mojicas Poesie des Unheimlichen der dunklen Lyrik seiner theatralisch-prophetischen Rede ebenso viel verdankt wie der visuellen Inspiration. Das chiaroscuro der Anfänge erweiterte sich mit den Unterweltqualen in Tonight I’ll Posess Your Corpse zu Trip-Farben, doch bis mit dem Abschluss der Zé-Trilogie eine ganz andere Ästhetik Einzug hielt, vergingen 40 Jahre: Mojica, wohl auch wegen seiner Popularität am stärksten im Visier der Zensur, konnte das Projekt 1968 nicht verwirklichen. Das Meta-Meisterwerk Awakening of the Beast, inspiriert von »Polizei-Todesschwadronen, die auf eine schwangere Prostituierte einschlugen«, war in gewisser Weise seine Antwort: LSD-Testsubjekte werden darin mit Zé-Bildern konfrontiert – das einzige, was eine Reaktion sichert. Im folgenden verlief Mojicas Karriere vollends parallel zum Boca do Lixo bis zu dessen Ende 1988: Während eine Serie von Filmen in zeitgemäßer MüllÄsthetik der Zé-Linie folgte, verschrieb er sich (zunächst unter dem Pseudonym J. Avelar) dem dominierenden Genre – pornonchanchada, einer regionalen Spielart der Sexkomödie, in Brasilien so populär wie sonst nur in Bayern. Die Zé-Linie führte durch die absurde Trance-Parabel End of Man (Finis Hominis, 1971), wo Mojicas messianischer Titelheld im seidenen Sultanskostüm einen Trupp Hippie-Jünger zurückweist, indem er Geld hinwirft, um das sie kämpfen, über The Bloody Exorcism of Coffin Joe (O Exorcismo Negro, 1974) oder Strange Hostel of Naked Pleasures (A Estranha Hospedaria dos Prazeres, 1976) zu Hellish Flesh (Inferno Carnal, 1977), dem Spielfilm-Äquivalent eines EC Comics. Perversion (Estupro, 1979) erzählte eine äquivalente Rachehandlung dann als reine Erotika-Muzak. Mit Fifth Dimension of Sex (A Quinta Dimensão do Sexo, 1984), 24 Hours of Explicit Sex (24 Horas de Sexo Explícito, 1985) oder 48 Hours of Hallucinatory Sex (48 Horas de Sexo Alucinante, 1987) stieg Mojica auch ins Hardcore-Gewerbe ein – schon Anfang der Dekade waren 70 % der nationalen Spielfilmproduktion pornografisch –, ohne allerdings auf seine spezielle Signatur zu verzichten: Sex setzte er wie Horror in Szene, als surreales Ritual und perverses Experiment, oft überwacht durch eine von Mojica gespielte Figur. Im vergnüglichen wie lehrreichen Dokumentarfilm The Strange World of José Moji-

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ca Marins (Maldito – O Estranho Mundo de José Mojica Marins, 2001), erinnert sich ein vom internationalen Coffin-Joe-Revival inzwischen sichtlich beflügelter Regisseur mit Milde an seinen zweiten bestialischen Pionierakt für die Kinonation nach der Inauguration brasilianischen Horrors: In 24 Hours of Explicit Sex stieg Vânia Bonier mit einem deutschen Schäferhund ins Bett (»ein besserer, leidenschaftlicherer Liebhaber als jeder Mann, den ich je kannte«, insistiert Mojica) – ihr Film-Mann rächte sich mit einem sprechenden Maulesel. Dazu lieferte ein Papagei laufenden Kommentar. Im Porno Dama de Paus (Dama de Paus, 1989) über die Sexfantasien einer unbefriedigten Hausfrau trat Mojica knapp vor Ende als heuchlerischer Prediger auf: Während der Kollekte kippt er heimlich hinter der Kanzel ein paar Gläser Schnaps. Absolviert hat er die Rolle unter seinem pornochanchada-Pseudonym J. Avelar.

Embodiment of Evil

Umso deutlicher ist in Embodiment of Evil die Rückkehr zu Zés Ursprüngen: Nach der Haftentlassung wendet er sich wieder seinen horriblen Experimenten mit der perfekten Frau zu. Direkte Kontrahenten sind ein scheinheiliger Exorzist und ein rachsüchtiger Polizeigeneral, deren Brutalitäten Zés Akte in ein anderes Licht rücken. »Es gibt eine soziale Botschaft. Zur Unterdrückung bedienen sich die Autoritäten eines Gesetzes, das nicht existiert: das Gesetz der Gewalt. Ich habe das Bedürfnis, dagegen anzukämpfen«, erklärt Mojica im Interview, während er den ungewohnt professionellen Look des neuen Films auf die Produzenten zurückführt. Bis auf ein digital deliriertes Dante-Fegefeuer zeigen die glatteren Bilder aber weiter handgemachte Mojica-Visionen

Mythos, Müll und Marginalia

von abgründiger Pracht: »Mir ist wichtig, dass man diese Dinge nicht in einem Computer erzeugen kann, wenn sie Kraft haben sollen.« Mojicas Wut speist sich aus einem Verhältnis zur Realität, egal wie sehr es durch Mythos und Erfindungsreichtum verzerrt wird: Darum ist Zé nach 40 Jahren aus der Provinz in die Stadt gekommen, zu den urbanen Slums, um die derzeit etwa auch José Padilhas Elite Squad-Filme operieren (Elite Squad, [Tropa de Elite, 2007] und Elite Squad: The Enemy within [Tropa de Elite 2 – O Inimigo Agora É Outro, 2010]). Zurück in den Müll, aus dem der Boca do Lixo einst auf brach: Gewidmet ist Embodiment of Evil berührenderweise Sganzerla sowie Jairo Ferreira, dem Chronisten von São Paulos Filmszene. In dessen wundersamen Tagebuchfilm The Vampire of the Cinematheque (O Vampiro da Cinemateca, 1977) taucht Mojica ganz am Schluss auf, erst als Zé auf der Leinwand, dann in Person. Im Off-Kommentar sinniert Ferreira dazu, ob José Mojica Marins der wichtigste Brasilianer des Jahrhunderts ist.

(Teile dieses Textes basieren auf Christoph Hubers Artikel »The Man, The Myth, Mojica: Zé do Caixãos Incredible Comeback«, in: Cinema Scope, No. 37, 2008.)

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Filmografie

3 Days of Darkness, OT: Tatlong Araw Ng Kadiliman, Khavn, Philippinen, 2007 24 Hours of Explicit Sex, OT: 24 Horas de Sexo Explícito, José Mojica Marins, Brasilien, 1985 25th Infantry, anonym, USA, 1900 48 Hours of Hallucinatory Sex, OT: 48 Horas de Sexo Alucinante, José Mojica Marins, Brasilien, 1987 Adela, Adolfo Alix Jr., Philippinen, 2008 A Dog’s Will, OT: O Auto da Compadecida, Guel Arraes, Brasilien, 2000 Afrique 50, René Vautier, Frankreich, 1950 Agboko: Land of a Thousand Demons, Ojiofor Ezeanyanche, Nigeria 2000 Agogo Èèwͫ, Tunde Kelani, Nigeria, 2002 Aguinaldo’s Navy, anonym, USA, 1900 Al grito de este pueblo, Humberto Rios, Argentinien, 1972 Amok, Lawrence Fajardo, Philippinen, 2011 Amuhuelai – mi, Maria Luisa Mallet, Chile, 1971 Anak Ng Tinapa, Jon Red, Philippinen, 2005 Anatomy of Corruption, OT: Anatomiya ng korupsiyon, Dennis Marasigan, Philippinen, 2011 Ang damgo ni Eleuteria Kirchbaum, Remton Siega Zuasola, Philippinen, 2010 Ang lalaki sa buhay ni Selya, Carlos Siguion-Reyna, Philippinen, 1997 Ang paglalakbay ng mga bituin sa gabing madilim, Arnel Mardoquio, Philippinen, 2012 An Historic Feat, anonym, USA, 1900 Antonio das Mortes, OT: O Draga~o da Malda contra o Santo Guerreiro, Glauber Rocha, Brasilien, 1969 A Plea of God, OT: Makiusap sa diyos, Lino Brocka, Philippinen, 1991 Appunti per un’Orestiade Africana, Pier Paolo Pasolini, Italien, 1970 Argentina, mayo de 1969: Los caminos de la liberación, Arbeitskollektiv Realizadores de Mayo, Argentinien, 1969 Arugbá, Tunde Kelani, Nigeria, 2010

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A Short Film About the Indio Nacional, OT: Maicling pelicula nañg ysañg Indio Nacional, Raya Martin, Philippinen, 2005 Aurora, Adolfo Alix Jr., Philippinen, 2009 At Midnight I’ll Take Your Soul, OT: À Meia-Noite Levarei Sua Alma, José Mojica Marins, Brasilien, 1964 Autohystoria, Raya Martin, Philippinen, 2007 Awaken, OT: Sa Aking Pagkakagising Mula Sa Kamulatan, Ato Bautista, Philippinen, 2005 Awakening of the Beast, OT: O Ritual dos Sádicos, José Mojica Marins, Brasilien, 1970 Babel, Alejandro González Iñárritu, Frankreich/USA/Mexiko, 2006 Baby Factory, OT: Bahay Bata, Eduardo W. Roy Jr., Philippinen, 2011 Bal (Honey), OT Bal, Semih Kaplanoğlu, Türkei, 2010 Balangay, Sherad Anthony Sanchez & Robin Färdig, Philippinen/Schweden, 2010 Balikbayan Box, Ramon Mez de Guzman, Philippinen, 2007 Bamako, Abderrahmane Sissako, Mali/Frankreich/USA, 2006 Barren Lives, OT: Vidas Secas, Nelson Pereira dos Santos, Brasilien, 1963 Batang West Side, Lav Diaz,, Philippinen/USA, 2002 Bayani, Raymond Red, Philippinen, 1992 Bayan ko: My Own Country, OT: Bayan ko: Kapit sa npatalim, Lino Brocka, Philippinen, 1985 Ben-Hur, William Wyler, USA, 1959 Bente, Mel Chionglo, Philippinen, 2009 Bet Collector, OT: Kubrador, Jeffrey Jeturian, Philippinen, 2006 Black Girl, OT: La noire de…, Ousmane Sembène, Frankreich, 1966 Black God, White Devil, OT: Deus e o Diabo na Terra do Sol, Glauber Rocha, Brasilien, 1964 Black Orpheus, OT: Orfeu Negro, Marcel Camus, Brasilien/Frankreich/Italien, 1959 Bona, Lino Brocka, Philippinen, 1982 Blessings of the Land, OT: Biyaya ng lupa, Manuel Silos, Philippinen, 1959 Blood Money, Chico Ejiro, Nigeria, 1997 Blood of the Condor, OT: Yawar Mallku, Jorge Sanjinés/Kollektiv, 1969 Borom Sarret, Ousmane Sembène, Senegal, 1963 Brazil – A Report on Torture, Saul Landau & Haskell Wexler & Bob Estrin & Chris Burrill, USA/Chile, 1971 Brigada venceremos, Sergio Nuñez Martinez, Kuba, 1970 Brokeback Mountain, Ang Lee, USA, 2005 B.R.P., Alvaro Ramirez & Samuel Carvajal & Leonardo Cespedes, Chile, 1970 Buenas noches, España, Raya Martin, Philippinen, 2011 Bus 174, OT: Ônibus 174, José Padilha, Brasilien, 2002

Filmografie

City of Men, OT: Cidade dos Homens, Paulo Morelli, Brasilien, 2007 City of Men, OT: Cidade dos Homens, Fernando Meirelles, Brasilien 2007 Cangaceiro, OT: O Cangaceiro, Lima Barreto, Brasilien, 1953 Captive, Brillante Mendoza, Philippinen, 2012 Carandiru, Hector Babenco, Brasilien, 2003 Carnivore, Ato Bautista, Philippinen, 2008 Casa o mierda, Guillerom Cahn & Carlos Flores/Kollektiv, Chile, 1970 Cat Skin, OT: Couro de Gato, Joaquim Pedro de Andrade, Brasilien, 1962 Ceddo, Ousmane Sembène, Senegal, 1977 Century of Birthing, OT: Siglo ng pagluluwal, Lav Diaz, Philippinen, 2011 Chassis, Adolfo Alix Jr., Philippinen, 2010 Child Undernourishment, OT: Desnutrición infantil, Alvaro Ramírez, Chile, 1969 City of God, OT: Cidade de Deus, Fernando Meirelles, Brasilien, 2002 Clash, OT: Engkwentro, Pepe Diokno, Philippinen, 2009 Claws of the Lion, Francis Onwochei, Nigeria, 2005 Coal Money, OT: ✸⚁, Wang Bing, China/Frankreich, 2008 Columbia 1970, Carlos Álvarez, Kolumbien, 1970 Confessional, Ruel Dahis Antipuesto & Jerrold Tarog, Philippinen, 2007 Crossfire, Arnel Mardoquio, Philippinen, 2011 Contrainformacion, anonym, Venezuela, 1970 Crude Oil, OT: 䞛⊍᮹䆄, Wang Bing, China/Niederlande, 2008 Dakan, Mohamed Camara, Guinea/Frankreich, 1997 Dama de Paus, Mário Vaz Filho, Brasilien, 1989 Death in the Land of the Encantos, OT: Kagadanan sa banwaan ning mga Engkanto, Lav Diaz, Philippinen, 2007 Destruction des Archives au fort du Conquet, René Vautier, Frankreich, 1985 Disorder, OT: ⦄ᅲᰃ䖛এⱘ᳾ᴹ, Huang Weikai, China, 2009 Donsol, Adolfo Alix Jr., Philippinen, 2006 Dr. Ma’s Country Clinic, OT: 偀໻໿ⱘ䆞᠔, Cong Feng, China, 2008 Earth’s Whisper, OT: Hunghong sa yuta, Arnel Mardoquio, Philippinen, 2008 Ein Western für den SDS, Günter Peter Straschek, BRD, 1968 Elecciones, Mario Handler & Ugo Ulive, Uruquay, 1967 Elite Squad, OT: Tropa de Elite, José Padilha, Brasilien, 2007 Elite Squad: The Enemy Within, OT: Tropa de Elite 2 – O Inimigo Agora É Outro, José Padilha, Brasilien, 2010 El problema de la carne, Mario Handler, Uruquay, 1969 El sueldo de Chile, Fernando Balmaceda, Chile, 1971 Embodiment of Evil, OT: Encarnação do Demônio, José Mojica Marins, Brasilien, 2008

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Emir, Chito S. Roño, Philippinen, 2010 End of Men, OT: Finis Hominis, José Mojica Marins, Brasilien, 1971 Enteng ng Ina mo, Tony Y. Reyes, Philippinen, 2011 Enthusiasm, OT: Entuziazm: Sinfonia Donbassa, Dsiga Wertow, UdSSR, 1931 Entranced Earth, OT: Terra em Transe, Glauber Rocha, Brasilien, 1967 Evolution of a Filipino Family, OT: Ebolusion Ng Isang Phamilyang Philipino, Lav Diaz, Philippinen, 2004 Fable of the Fish, OT: Isda, Adolfo Alix Jr., Philippinen, 2010 Favela Five Times, OT: Cinco vezes Favela, Joaquim Pedro de Andrade u.a., Brasilien, 1962 Fifth Dimension of Sex, OT: A Quinta Dimensão do Sexo, José Mojica Marins, Brasilien, 1984 Five Ways to Kill Yourself, Gus van Sant, USA, 1987 For a Few Dollars More, OT: Per qualche dollaro in più, Sergio Leone, Italien/ Spanien/BRD, 1965 For the First Time, OT: Por primera vez, Octavia Cortazar, Kuba, 1967 Foster Child, Brillante Mendoza, Philippinen, 2007 Frankenstein Meets the Wolf Man, Roy William Neill, USA, 1943 Fury in Paradise, OT: Zamboanga, Eduardo de Castro, Philippinen, 1937 Ganab di anos, Donna Kebeng, Philippinen, 2010 Garapa, José Padilha, Brasilien, 2009 God is Brazilian, OT: Deus É Brasileiro, Carlos Diegues, Brasilien, 2003 Gold, Silver, Death, OT: Oro, Plata, Mata, Peque Gallaga, Philippinen, 1982 Guilty Pleasures, Daniel Ademinokan, Nigeria, 2010 Gumapang ka sa lusak, Lino Brocka, Philippinen, 1990 100, Chris Martinez, Philippinen, 2008 Hagedorn, Fernando Poe Jr., Philippinen, 1996 Hallucinations of a Deranged Mind, OT: Delírios de um Anorma, José Mojica Marins, Brasilien, 1978 Hanoi, Tuesday 13th, OT: Hanoi, Martes 13, Santiago Álvarez, Kuba, 1967 He Fengming, a Chinese Memoir, OT: ੠޸号, China/Frankreich/Hongkong, Wang Bing, 2007 Hellish Flesh, OT: Inferno Carnal, José Mojica Marins, Brasilien, 1977 Heremias, Lav Diaz, Philippinen, 2006 Heremias, OT: Uang aklat – Ang alamat ng prinsesang bayawak, Lav Diaz, Philipinnen, 2006 Herminda de La Victoria, Douglas Hübner, Chile, 1969 Hindered Land, OT: Lupang hinarang, Ditsi Carolino, Philippinen, 2009 Hospital Boat, Arnel Mardoquio, Philippinen, 2009

Filmografie

Ice Is the Earth, OT: Ang Mundo Sa Panahon Ng Yelo, Ramon Mez de Guzman, Philippinen, 2010 If I Knew What You Said, OT: Dinig sana kita, Mike Sandejas, 2009 Igodo: Land of the Living Dead, Andy Amenchi & Don Pedro Obaseki, Nigeria, 1999 I Like Students, OT: Me gustan los estudiantes, Mario Handler, Uruquay, 1968 Imelda, Ramona S. Diaz, Philippinen, 2003 Independencia, Raya Martin, Philippinen, 2009 Insiang, Lino Brocka, Philippinen, 1976 Isang Araw Walang Diyos, Peque Gallaga & Lore Reyes, Philippinen, 1989 Issakaba 1-4, Lancelot Oduwa Imasuen, Nigeria, 2000-2001 It Happened in Hualfin, OT: Ocurrido en Hualfín, Raymundo Gleyzer & Jorge Preloran, Argentinien, 1966 Jackal of Nahueltoro, El chakal de Nahueltoro, Miguel Littín, Chile, 1969 Jaguar, Lino Brocka, Philippinen, 1979 Jay, Francis Xavier Pasion, Philippinen, 2008 Jesus the Revolutionary, OT: Hesus, rebolusyonaryo, Lav Diaz, Philippinen, 2002 Just Like Before, OT: Tulad ng dati, Mike Sandejas, Philippinen, 2006 Kamera obskura, Raymond Red, Philippinen, 2012 Kano – An American and His Harem, Monster Jimenez, Philippinen, 2010 Karamay, OT: ‫ܟ‬ᢝ⥯ձ, Xin Xu, China, 2010 Kino in Opposition (Der unabhängige Spielfilm in Lateinamerika), Peter B. Schumann, BRD, 1970 Kino im Untergrund (Der politische Dokumentarfilm in Lateinamerika), Peter B. Schumann, BRD, 1970 Kòseégbé, Tunde Kelani, Nigeria, 1995 La bandera que le vantamos, Mario Jacob & Eduardo Terra, Uruquay, 1971 La Condition Canine, OT: ⢫ⱘ⢊‫މ‬, Jia Zhang-ke, 2001 Larger Than Life, OT: Tuhog, Jeffrey Jeturian, Philippinen, 2001 La paz, Grupo Cine Liberacion, Argentinien, 1968 La rosca, Grupo America Nueva, Uruquay, 1971 Lawrence of Arabia, David Lean, Großbritannien/USA, 1962 Letters of Solitude (Cartas de la soledad, 2011) Le Wazzou Polygame, Oumarou Ganda, Niger, 1971 Liber Arce – Liberarse, Mario Handler & Mario Jacob Banchero, Uruquay, 1969 Living in Bondage, Chris Obi Rapu, Nigeria, 1992 Lola, Brillante Mendoza, Philippinen, 2009 Lukas the Strange, OT: Lukas nino, John Torres, Philippinen, 2013

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Maami, Tunde Kelani, Nigeria, 2012 Macho Dancer, Lino Brocka, Philippinen, 1988 Macunaíma, Joaquim Pedro de Andrade, Brasilien, 1969 Manila, Raya Martin/Adolfo Alix Jr., Philippinen, 2009 Manila Skies, OT: Himpapawid, Raymond Red, Philippinen, 2009 Man with no Name, OT: ᮴ৡ㗙, Wang Bing, China, 2010 Mask, OT: Máskara, Laurice Guillen, 2011 Meishi Street, OT: ✸Ꮦ㸫, Ou Ning, 2006 Melancholia, Lav Diaz, Philippinen, 2008 Mexico: The Frozen Revolution, OT: Mexico – La revolution congelada, Raymundo Gleyzer, Argentinien 1970, Miguel Angel Aguilera, presente, Alvaro Ramirez & Samuel Carvajal & Leonardo Cespedes, Chile, 1970 MNL 143, Emerson Reyes, Philippinen, 2012 Moonbuggy, OT: Sinong lumikha ng yoyo? Sinong lumikha ng moon buggy?, Kidlat Tahimik, Philippinen, 1979 Monangambee, Sarah Maldoror, Algerien, 1969 Mondomanila, Khavn, Philippinen, 2010 Mother, Sister, Daughter, OT: Ina, kapatid, anak, Lino Brocka, 1979 Muerte y pueblo, Nemesio Juarez, Argentinien, 1969 Muita, Sergio Castilla & Patricio Castilla, Chile, 1970 Next Attraction, Raya Martin, Philippinen, 2008 Niño, Loy Arcenas, Philippinen, 2011 No es hora de llorar, Pedro Chaskel & Alberto Sanz, Chile, 1971 No Other Woman, Ruel S. Bayani, Philipinen, 2011 Now!, Santiago Álvarez, Kuba, 1965 Now Showing, Raya Martin, Philippinen, 2008 Nutuayin mapu, Carlo Flores Delpino, Guillermo Cahn, Chile, 1971 Oleku, Tunde Kelani, Nigeria, 1997 Ollas populares, Grupo Cine Liberacion, Argentinien, 1968 Oxhide, OT: ⠯Ⲃ, Liu Jiayin, China, 2004 Oxhide 2, OT: ⠯Ⲃ2, Liu Jiayin, China, 2009 Patikul, Joel Lamangan, Philippinen, 2011 Perversion, OT: Estupro!, José Mojica Marins, Brasilien, 1979 Pestilence, Mlemchukwu Project, Nigeria 2004 Petition, OT: ‫ހ‬᳜, Liang Zhao, China, 2009 Pila-balde, Jeffry Jeturian, Philippinen, 1999 Ping Lacson: Super Cop, Toto Natividad, Philippinen, 2000 Pintando con el pueblo, Lermarlo Céspedes, Chile, 1971 Pixote, OT: Pixote: A Lei do Mais Fraco, Hector Babenco, Brasilien, 1981

Filmografie

Planas – Testimonio de un etnocidio, Jorge Silva & Marta Rodrigues, Kolumbien, 1971 Praybeyt Benjamin, Wenn V. Deramas, Philippinen, 2011 Pusong Wasak, Khavn, Philippinen, 2011 Qiyamah, Gutierrez Mangansakan II, Philippinen, 2012 ¿Que es la democracia?, Carlos Álvarez, Kolumbien, 1970 Qwerty, Ed Lejano, Philippinen, 2012 Rakenrol, Quark Henares, Philippinen, 2011 Rashomon, Akira Kurosawa, Japan, 1950 Reed: Insurgent Mexico, OT: Reed – Mexico insurgente, Paul Leduc, Mexico, 1972 Refrains Happen Like Revolutions in a Song, OT: Ang ninanais, John Torres, 2010 Rekados, Paolo Herras, Philippinen, 2006 Remington and the Curse of the Zombadings, OT: Zombadings 1 – Patayin Sa Shokot Ni Remington!, Jade Castro, Philippinen, 2011 Report to Lota, OT: Reportaje a Lota, Diego Bonacina & José Román, Chile, 1970 Room Boy, Aloy Adlawan, Philippinen, 2005 Rotonda, Ron Bryant, Philippinen, 2006 Ruined Heart, Khavn, Philippinen, 2013 Sa Kanto Ng Ulap At Lupa, Ramon Mez de Guzman, Philippinen, 2011 Sambizanga, Sarah Maldoror, Angola, 1973 Sampaguita – National Flower, Francis Xavier Pasion, Philippinen, 2010 Santa Maria de Iquique, Claudio Sapiain, Chile, 1971 Santa Teresa, Alfredo J. Anzola, Venezuela, 1970 San Yuan Li, OT: ϝ‫ܗ‬䞠, Cao Fei & Ning Ou, China, 2003 ̒aworoid͝, Tunde Kelani, Nigeria, 1999 Scorpio Nights, Peque Gallaga, Philippinen, 1984 Searching for Lin Zhao’s Soul, OT: ᇏᡒᵫᰁⱘ♉儖, Hu Jie, China, 2004 Secrets of the Tribe, José Padilha, Brasilien/GB, 2010 Service, OT: Serbis, Brillante Mendoza, Philippinen, 2008 Sewer, OT: Imburnal, Sherad Anthony Sanchez, Philippinen, 2008 Sheika, Arnel Mardoquio, Philippinen, 2010 Signed: Lino Brocka, Christian Blackwood, USA, 1987 Slaughter, OT: Kinatay, Brillante Mendoza, China, 2009 Sleepless Knights, Stefan Butzmühlen & Cristina Diz, Deutschland, 2012 So Normal, OT: Os Normais – O Filme, José Alvarenga Jr., Brasilien, 2003 Squalor, OT: Astig, G.B. Sampedro, Philippinen, 2009

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Squatterpunk, OT: Iskwaterpangk, Khavn, Philippinen, 2007 Stardoom, Lino Brocka, Philippinen, 1971 Stone Is the Earth, OT: Ang Mundo Sa Panahon Ng Bato, Ramon Mez de Guzman, 2010 Strange Hostel of Naked Pleasures, OT: Hospedaria de Prazeres, José Mojica Marins, Brasilien, 1976 Strange World of Coffin Joe, O Estranho Mundo de Zé do Caixão, José Mojica Marins, Brasilien, 1968 Tabu, Miguel Gomes, Portugal/Deutschland/Brasilien/Frankreich, 2012 Tape, OT: 㛊ᏺ, Ning Li, China, 2010 Testimonio, Pedro Chaskel, Chile, 1968 Tiexi District – West of the tracks, OT: 䪕㽓ऎ, Wang Bing, China/Niederlande, 2003 The Abyss, OT: L’abisso, Rogério Sganzerla, Brasilien, 1977 The Adventure of Iron Pussy, OT: Hua jai tor ra nong, Apichatpong Weerasethakul, Thailand, 2003 The Age of the Earth, OT: A Idade da Terra, Glauber Rocha, Brasilien, 1980 The Animals, Gino M. Santos, Philippinen, 2012 The Artist, Michel Hazanavicius, Frankreich/Belgien/USA, 2011 The Battle of Musanga and Igodo, Bolaji Dawodu, Nigeria, 1996 The Bloody Exorcism of Coffin Joe, OT: O Exorcismo Negro, José Mojica Marins, Brasilien, 1974 The Bridal Quarter, OT: Limbunan, Gutierrez Mangansakan II, 2010 The Campus Queen, Tunde Kelani, Nigeria, 2004 The Caretaker, OT: Ang Katiwala, Aloy Adlawan, Philippinen, 2012 The Criminal of Barrio Concepcion, OT: Serafin Geronimo: Ang kriminal ng Baryo Concepcion, Lav Diaz, Philippinen, 1998 The Forgotten War, OT: La guerra olvidada, Santiago Álvarez, Kuba, 1967 The Good German, Steven Soderbergh, USA, 2006 The Good, The Bad, and the Ugly, OT: Il buono, il brutto, il cattivo, Sergio Leone, BRD/Italien/Spanien, 1966 The Great Cinema Party, Raya Martin, Südkorea/Philippinen, 2012 The Guns, OT: Os fuzis, Rui Guerra, Brasilien, 1964 The Hour of the Furnaces, OT: La hora de los hornos, Fernando E. Solanas & Octavio Getino, Argentinien, 1968 The Island at the End of the World, OT: No pongso do tedted no mondo: Ang isla sa dulo ng mundo, Raya Martin, Philippinen, 2005 The Last Journey of Ninoy, Jun Reyes, Philippinen, 2009 The Law, OT: Tilai, Idrissa Ouedraogo, Burkina, 1990 Faso/Deutschland/ Frankreich/Großbritannien/Schweiz, 1990 The Mad Masters, OT: Les maîtres fous, Jean Rouch, Frankreich, 1955

Filmografie

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Autoren

Axel Estein Studium der Japanologie, Geschichte und Philosophie an der FU Berlin. Gründer und Ko-Herausgeber der Splatting Image. Organisation des Filmfestivals »Howl: Weekend of Fear« (1991-1995). Beratend, kuratierend und organisatorisch tätig für u.a. folgende Filmfestivals: Exground, Asian Hot Shots, Interfilm, Kurzfilmtage Oberhausen, Tampere Film Festival. Tätigkeit als Journalist, Universitätslektor und Festival-Jurymitglied im In- und Ausland. Organisation von Komplettretrospektiven der Regisseure Lav Diaz (2008) und Brillante Mendoza (2010) in Deutschland. Lebt in Berlin und Manila. Lukas Foerster Studium der Filmwissenschaft und Japanologie an der FU Berlin. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sfb 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« der FU Berlin. Veröffentlichungen unter anderem zu zeitgenössischem asiatischen Kino und zur Ästhetik der TV-Serie. Redaktionell verantwortlich für die Kinokolumne des perlentaucher. Außerdem Arbeit als freier Kurator in Berlin und Wien sowie als Filmkritiker, unter anderem für taz, CARGO, StadtRevue, Splatting Image, critic.de. Jonathan Haynes Studierte an der McGill University und in Yale. Seit 1998 unterrichtet er an der Long Island University. Er ist Autor zweier Bücher zur englischen Renaissanceliteratur, Koautor (zusammen mit Onookome Okome) der Studie Cinema and Social Change in West Africa und Herausgeber des Sammelbands Nigerian Video Films. Seine Artikel sind erschienen in Africa Today, Film International, Postcolonial Text, CinémAction, Jump Cut u.v.m. Christoph Huber 1973 in Vöcklabruck (Österreich) geboren, in Attnang-Puchheim aufgewachsen. Physikstudium an der TU Wien (Diplomarbeit über die magnetoinduktiven Eigenschaften von Feinblechen). Filmredakteur der Wiener Tageszeitung

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Zu Spuren eines dritten Kinos

Die Presse, langjähriger Autor der Programmtexte des Österreichischen Filmmuseums, European Editor der kanadischen Filmzeitschrift Cinema Scope. Zahlreiche Beiträge in Zeitschriften und Büchern. Koautor (mit Olaf Möller) des Buchs Taschenkino #4: Peter Kern, Kurator diverser Filmreihen. Ferronist. Tunde Kelani Geboren 1948 in Lagos, Nigeria. Filmstudium an der London International Film School. Nach langjähriger Arbeit als Kameramann u.a. bei Ola Balogun und Hubert Ogunde gründete Kelani die Produktionsfirma Mainframe Film and Television Productions. Seit 1993 führt er bei zahlreichen Videofilmen Regie, heute gilt er als einer der wichtigsten nigerianischen Gegenwartsregisseure. Betreiber des Mobile Cinema Project, das regelmäßig frei zugängliche Filmvorführungen überall in Nigeria veranstaltet. Jan Künemund Geboren 1974 in Schwerte/Ruhr. Studium der Neuen deutschen Literaturwissenschaft, Linguistik und Soziologie in Bochum. Magisterarbeit über Hubert Fichte und Josef Winkler. 2004-2009 Mitveranstalter des Bochumer Filmfestivals »blicke«. Seit 2006 zuständig für Texte & Presse beim Berliner Filmverleih und DVD-Label Edition Salzgeber, 2008 auch für den Queer-Film-Award der Berlinale, den »Teddy«. Seit 2009 Redakteur der Queer-Cinema-Zeitschrift Sissy. Kevin B. Lee Arbeitet als Filmkritiker, Filmemacher und VP of Programming and Education für dGenerate Films, die einzige auf chinesisches Independentkino spezialisierte Vertriebsfirma der USA. Er ist einer der führenden Vertreter videobasierter Filmkritik und hat in den letzten fünf Jahren über 100 kurze Videoessays zu Film und Fernsehen produziert. Gründer von Fandor und Redakteur des Blogs »Press Play« für Indiewire. Außerdem regelmäßig Beiträge für Sight & Sound, Chicago Sun-Times, Time Out und Cineaste. Maximilian Linz Studium der Filmwissenschaft, Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft und Philosophie an der FU Berlin und der Sorbonne Nouvelle Paris 3, sowie der Filmregie an der DFFB (Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin). Texte für CARGO, perlentaucher und die Schweizer Fabrikzeitung. Filme: »Die Finanzen des Großherzogs Radikant Film« (2011), »Das Oberhausener Gefühl – Eine Depressentation in 10 Folgen« (2012). Lebt in Berlin.

Autoren

Elena Meilicke Studierte Neuere deutsche Literatur, Kulturwissenschaft und Sinologie in Berlin, Wien und Los Angeles. Seit 2011 Promotionsstipendiatin im Graduiertenkolleg »Mediale Historiographien« an der Bauhaus-Universität Weimar mit einem Projekt zu Mediengeschichte(n) der Paranoia. Außerdem Filmkritiken für den perlentaucher. Nikolaus Perneczky Studierte Filmwissenschaft und Philosophie an der FU Berlin. Seit 2011 ist er ebendort wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste«. Kritiken und journalistische Arbeiten für perlentaucher, Cargo u.a. Kuratorische Projekte in Berlin, Wien und London. Bert Rebhandl Geboren 1964. Freier Journalist, Autor und Übersetzer. Filmkritiker unter anderem für FAZ und taz. Mitherausgeber der Zeitschrift CARGO. Jüngste Buchveröffentlichung: Seinfeld (2012). Lebt in Berlin. Simon Rothöhler Arbeitet als Filmwissenschaftler am Sonderforschungsbereich 626 der FU Berlin. Mitgründer und -herausgeber der Zeitschrift CARGO. Film/Medien/ Kultur (2009ff). Herausgeber der Schriftenreihe booklets (seit Frühjahr 2012, diaphanes). Monografische Publikationen: High Definition. Zu einer digitalen Filmästhetik (August Verlag 2013, i.E.), The West Wing (diaphanes 2012), Amateur der Weltgeschichte. Historiographische Praktiken im Kino der Gegenwart (diaphanes 2011). Kritiken und journalistische Arbeiten für Freitag und taz. Fabian Tietke Geboren 1981. Kuratiert seit 2006 Filmreihen, bis Sommer 2012 Mitarbeiter des Zeughauskinos in Berlin, Mitglied von CineGraph Babelsberg. Daneben: Filmpublizistische und -historische Umtriebigkeit. Sein filmhistorisches Interesse gilt Film und sozialen Bewegungen, sowie der italienischen, nordafrikanischen und chinesischen Filmgeschichte. Cecilia Valenti Studierte Philosophie und Filmwissenschaft in Mailand, Bremen und Berlin. Seit 2011 Promotionsstipendiatin im Graduiertenkolleg »Mediale Historiographien« an der Bauhaus-Universität Weimar mit einem Projekt zum italienischen Fernsehprogramm Blob. Kuratorische Arbeiten in Berlin und Wien.

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Index

.MOV International Film, Music & Literature Festival (Philippinen) 180 1. São Paulo Kongress 218ff 100 (2008) 174, 194 1st Filipino Full-Length Feature Indie Festival 170 24 Hours of Explicit Sex (1985) 239f 25th Infantry (1900) 154 3 Days of Darkness (Tatlong Araw Ng Kadiliman, 2007) 175 48 Hours of Hallucinatory Sex (48 Horas de Sexo Alucinante, 1987) 239

Abu Sayyaf

186, 193, 200 A Dog’s Will (O Auto da Compadecida, 2000) 232 A Plea of God (Makiasap sa diyos, 1991) 140 A Short Film a Indio Nacional (Maicling pelicula nañg ysañg Indio Nacional, 2005) 150, 153, 165, 176 ABS-CBN (Fernsehsender) 177, 195f, 198 Achebe, Chinua 118, 130 Active Vista Film Festival 181 Adebowale, Bayo 118, 129f Adela (2008) 186 Adepoju, Kareem (aka Baba Wande) 119

Adesokan, Akin 96f, 110 Adiitu Olodumare (Roman) 129 Adlawan, Aloy 194 Afolayan, Adeyemi 129 Afolayan, Kunle 101, 104 Africa Magic (Fernsehsender) 94 African Movie Academy Awards (AMAA) 104 Agboko: Land of a Thousand Demons (2000) 100 Agência National de Cinema 232 Agogo Èèvò (2002) 120f Aguiluz, Tikoy 195 Aguinaldo, Emilio 154 Aguinaldo’s Navy (1900) 154 Akinlade, Kola 130 Akuffo, William 93 Alchemy of Vision and Light (Filmstudio) 180 Alix, Jr., Adolfo 163, 185 Allende, Salvador 30 Alvarez, Santiago 13, 37f Amata, Jed 104 American Mutoscope and Biograph Company 154 Amok (2011) 19 An Endless Room (Walang Katapusang Kwarto, 2011) 190 An Historic Feat (1900) 154 Anagnost, Ann 72 Anak Ng Tinapa (2005) 174

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Zu Spuren eines dritten Kinos

Anatomy of Corruption (Anatomiya ng korupsiyon, 2011) 173 Anderson, Benedict 72 Andrade, Joaquim Pedro de 9, 218, 237 Ang damgo ni Eleuteria Kirchbaum (2010) 194 Ang lalaki sa buhay ni Selya (1997) 201 Ang paglalakbay ng mga bituin sa gabing madilim (2012) 189 Animahenasyon – Pinoy Animation Festival 182 Animation Council of the Philippines 182 Antipuesto, Ruel Dahis 171 Antonio das Mortes (O Dragão da Maldade contra o Santo Guerreiro, 1969) 209, 214, 237f Appadurai, Arjun 125f Aquino III, Benigno 178 Aquino Jr., Benigno 178 Aquino, Corazon 192 Arcenas, Loy 194 Arri (Kamerahersteller) 164 Arrow of God (Roman) 118 Arsenal (Kino) 25ff, 29f, 32, 35f Arte France Cinema 200 Arugbá (2010) 123, 131 Associated Broadcast Company (ABC) 195 Ästhetik des Hungers 12, 212, 221, 237 At Midnight I’ll Take Your Soul (À Meia-Noite Levarei Sua Alma, 1964) 235, 237, 239 Ateneo de Manila 187 Atienza, Rolando S. 198 Attili, Giorgio 238 Aunor, Nora 201 Aurora (2009) 186 Autohystoria (2007) 154, 176

Avelar, J. 239f Awaken (Sa Aking Pagkakagising Mula Sa Kamulatan, 2005) 184 Awakening of the Beast (O Ritual dos Sádicos, 1970) 236, 238f

Babel (2006)

13 Babenco, Hector 206, 209 Baby Factory (Bahay Bata, 2011) 192 Bacollywood 181 Buenos Aires International Festival of Independent Cinema (BAFICI) 47 Bal (Honey) (Bal, 2010) 43 Balangay (2010) 176 Balikbayan Box (2007) 184 Balogun, Ola 117, 129 Bamako (2006) 102 Bamiloye, Mike 99 Barber, Karin 94, 98, 116, 124 Barren Lives (Barravento, 1962) 206, 210, 212, 221, 224 Barreto, Lima 238 Barrot, Pierre 253, 90, 103, 114 Batalhão de Operações Policiais Especiais (BOPE) 205, 207ff, 212f Batang West Side (2002) 146 Bautista, Ato 174, 184 Bava, Lamberto 238 Bayan ko: My Own Country (Bayan ko: Kapit sa patalim, 1984) 140 Bayani (1992) 192 Bayani, Ruel 198 Bazin, André 162 Beijing Documentary Film Festival 83 Beijing Film Academy 82 Beijing Independent Film Festival 83 Bekolo, Jean-Pierre 93 Ben Hur (1959) 128

Index

Benning, James 55 Bente (2009) 173 Beringer, Johannes 23, 28 Berlinale (Filmfestival) 26, 70, 177, 186, 201 Bernal, Ishmael 176, 185 Bet Collector (Kubrador, 2006) 175 Black Girl (La noire de..., 1966) 10, 112 Black God, White Devil (Deus e o Diabo na Terra do Sol, 1964) 224, 237 Black Orpheus (Orfeu Negro, 1959) 205 Blackwood, Christian 141 Blessings of the Land (Biyaya ng lupa, 1959) 176 Blood Money (1997) 100 Best of the Best African Films and TV Programmes Market (BoBTV) 104 Bollywood 89, 91, 94 Bona (1982) 140, 148 Bonier, Vânia 240 Bonifacio, Andrés 154, 192f Borom Sarret (1963) 115 Boughedir, Ferid 102 Boutique Studio (Unternehmen) 191 Braun, Heiner 27 Brehm, Dietmar 156 Brocka, Lino 10, 137, 139, 141f, 144f, 147, 156, 175f, 185 Brokeback Mountain (2005) 47 Brozzoni, Vero 235 Bryant, Ron 174 Buenas noches, España (2011) 156, 176 Bundeskulturministerium (BKM) 41 Bus 174 (Ônibus 174, 2002) 206, 208f, 212 BUTT (Zeitschrift) 42

Cabagnot, Ed

189, 191 Cahiers du cinéma (Zeitschrift) 32, 60, 161 California Newsreel 102 Cangaceiro (O cangaceiro, 1953) 238 Captive (2012) 197, 200 Carandiru (2003) 231 Cardoso, Henrique 226 Carnivore (2008) 174 Carolino, Ditsi 177, 188 Carter, Jimmy 162 Cat Skin (Couro de Gato, 1962) 9, 223 Catoy, Virgilio 177 Ceddo (1977) 125 Center Stage Production 201 Century of Birthing (Siglo ng pagluluwal, 2011) 149 Certeau, Michel de 59, 227 Chaplin, Charles (Charlie) 238 Chassis (2010) 186 Cheriaa, Taher 92 Chien, Karin 79 China Independent Film Festival 83 Chionglo, Mel 173, 202 Chongqing Independent Film Festival 83 Cinema Marginal 236f Cinema Nov o 6, 9, 18, 28, 206, 212, 215-226, 233, 236f Cinema One Original Digital Film Festival 180, 195 Cinema Rehiyon Film Festival 180, 196 Cinemalaya – Philippine Independent Film Festival 172, 179f, 186, 188-196, 202 Cinemanila 140 CineManila International Film Festival 195

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Zu Spuren eines dritten Kinos

Cinema Scope (Zeitschrift) 67, 162, 241 Cinémathèque française 28, 35 Cissé, Souleymane 92, 108, 115, 132, 251f City of God (Cidade de Deus, 2002) 43, 206, 210, 217, 226, 230ff City of Men (Cidade dos Homens, 2007) 217, 226, 230, 232 City of Men (Cidade dos Homens, 2002-2005, Serie) 226f, 229ff Clash (Engkwentro, 2009) 172 Claws of the Lion (2005) 104 Co, Teddy 180 Coal Money (✸⚁, 2008) 53ff Coffin Joe 275, 235f, 239f Cojuanco, Antonio 177, 192, 195f. Collor de Mello, Fernando 225 Columbia 219, 226, 231 Comaroff, Jean und John 109 Confessional (2007) 171 Cong Feng 5, 17, 69, 75ff Cornejo, Mario 187 Corona, Renato 178, 202 Critic After Dark (Blog) 182 Crossfire (2011) 189 Crude Oil (䞛⊍᮹䆄, 2008) 53f Cruz, Khavn de la 137, 144, 150, 170, 175, 180, 184 Cruz, Oggs 182 Cultural Center of the Philippines 181, 186 Cunha, Darlan 227

Dakan (1997)

46f Dakila – Philippine Collective for Modern Heroism 181 Dalena, Kiri 179 Dama de Paus (1989) 240 Dante 240 Davao Death Squad 172

Dawodu, Bolaji 98 Dayok, Sheron 188 De La Salle University (Philippinen) 172, 181, 184, 187, 188 Death in the Land of the Encantos (Kagadanan sa banwaan ning mga Engkanto, 2007) 154, 173 Deleuze, Gilles 140f Délorme, Stéphan 161 Deng Xiaoping 52 Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin (dff b) (Filmhochschule) 23, 26, 29 Deutscher Filmförderfonds (DFFF) (Filmförderinstitution) 41 dGenerate (Verleih) 5, 17, 79, 84 Diallo, Boubacar 104 Diawara, Manthia 93, 108, 111f, 116f Diaz, Lav 6, 14, 137, 139, 144-150, 154, 156, 162f, 167f, 170, 173, 176, 184, 188 Diaz, Ramona S. 177 Diegues, Carlos 215f, 223 Dikongué-Pipa, Pierre 103 Diokno, Jose W. 172 Diokno, Pepe 172 Disorder (⦄ᅲᰃ䖛এⱘ᳾ᴹ 2009) 82 Documentary Filmmaker’s Workshop 188 Donsol (2006) 185 Dormiendo, Gino 147 Douban (Website) 83 Doyle, Christopher 185 Dr. Ma’s Country Clinic (偀໻໿ⱘ䆞 ᠔, 2008) 5, 17, 69ff, 73-78 Dream Satellite Television 192 Duterte, Rodrigo 172

Earth’s Whisper (Hunghong sa yuta, 2008) 189 Econolink Investment Inc. 196

Index

Edition Salzgeber 17, 44ff Egbokare, Yinka 130 Ejiro, Chico 100 Elite Squad (Tropa de Elite, 2007) 205-210, 212ff, 231, 241 Elite Squad: The Enemy Within (Tropa de Elite 2 – O Inimigo Agora É Outro, 2010) 207ff, 241 Embodiment of Evil (Encarnação do Demônio, 2008) 235, 240f Empresa Brasileira de Cinema (Verleihsystem) 219, 223, 225 Emir (2010) 198f Enteng ng Ina mo (2011) 198 Entranced Earth (Terra em Transe, 1967) 10 Enthusiasm (Entuziazm: Symfoniya Donbassa, 1931) 60 Ermitaño, Tad 188 Espinosa, Julio García 12, 14, 113, 218 Estrada, Jinggoy 173 Estrada, Joseph 171, 178 Evangelista, Pat 179 Evolution of a Filipino Family (Ebolusion Ng Isang Phamilyang Philipino, 2004) 14, 147ff, 167 Ezeanyanche, Ojifor 100

Fable of the Fish (Isda, 2010) 185 Fagunwa, D(aniel) O(lorunfe·mi) 129 Fajardo, Lawrence 181, 192 Faleti, Adebayo 130 Fanhall (Website) 83 Farocki, Harun 187 Fassbinder, Rainer Werner 45, 186 Favela Five Times (Cinco vezes Favela, 1962) 223 Faye, Safi 12 Fédération Internationale des Archives du Film (FIAF) 27

Fédération Panafricaine des Cinéastes (FEPACI) 92, 112 Fernandez, Gabby 181 Ferreira, Jairo 241 Festival Panafricain du Cinéma et de la Télévision de Ouagadougou (FESPACO) 90, 92, 101, 113f, 131 Fifth Dimension of Sex (A Quinta Dimensão do Sexo, 1984) 239 Film (Zeitschrift) 32 Film Development Council of the Philippines (FDCP) (Filmförderinstitution) 196-199, 201 Filmkritik (Zeitschrift) 32 Five Ways to Kill Yourself (1987) 45 For a Few Dollars More (Per qualche dollaro in più, 1965) 238 Forum (siehe Internationales Forum des Jungen Films) Foster Child (2007) 174 Foucault, Michel 60ff, 71, 109, 207, 213 Fox 226 Franco, Francisco 47 Franco, Itamar 226 Frankenstein Meets the Wolf Man (1943) 237 Französisch-Westafrika 108 Freires, Paolo 223 Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) 27 Freunde der deutschen Kinemathek e.V. 25ff, 29, 32, 36 Friedländer, Saul 62 Fuller, Sam 237 Fury in Paradise (Zamboanga, 1937) 199

Gallaga, Peque

181 Ganab di anos (2010) 199 Ganda, Oumarou 115, 120, 125

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Zu Spuren eines dritten Kinos

Gandert, Gero 25 Garapa (2009) 206, 210ff Garuba, Harry 107 Gawad CCP Para Sa Alternatibong Pelikula At Video (Filmfestival) 181 Gawad Urian (Filmpreis) 194 Grupo Executivo da Indústria Cinematográfica (GEICINE) 223 Getino, Octavio 11f, 19, 40 Ghallywood 94, 108 Ginzburg, Carlo 62 Globo Filmes (Filmabteilung von Rede Globo) 231 GMA 7 (Fernsehsender) 186, 195 GMA Network Inc. (Medienkonzern) 195 God is Brazilian (Deus É Brasileiro, 2003) 231 Godard, Jean-Luc 142, 237 Goethe-Institut 42, 187 Gold, Silver, Death (Oro, Plata, Mata, 1982) 181 Gomes, Miguel 153 Göteborg International Film Festival 47 Goulart, João 217 Gregor, Erika 25 Gregor, Ulrich 25ff, 30, 255 Großer Sprung nach Vorne 65, 75 Guha, Ranajit 53 Guillen, Laurice 191 Guilty Pleasures (2010) 100 Gumapang ka sa lusak (1990) 140 Guomindang 72 Guzman, Mes de 184

Haroun, Mahamat-Saleh 108 Hashim, Salamat 188 Haus der Kulturen der Welt (HdKdW) 167 Hausa (Volksgruppe) 94f, 109 Hazanavicius, Michel 153 He Fengming, a Chinese Memoir (੠ ޸号, 2007) 62, 64-67 Hediger, Vinzenz 160 Hellish Flesh (Inferno carnal, 1977) 239 Hemingway, Ernest 130 Henares, Quark 174 Heremias (Heremias: Unang aklat – Ang alamat ng prinsesang bayawak, 2006) 149 Herras, Paolo 176 Herzog, Werner 142 Hindered Land (Lupang hinarang, 2009) 177 Hirszman, Leon 223 Hochschule der Künste (heute: Universität der Künste) (Berliner Kunsthochschule) 26 Hollywood 11, 81f, 89f, 92f, 99, 105, 111, 116, 127f, 130f, 152f, 182, 184, 200, 219, 222, 232, 237 Hondo, Med 92 Hospital Boat (2009) 189 Hu Jie 81 Hu Jintao 74 Hu Shi 54 Huang Weikai 82 Hubert Bals Fund 41, 43, 150 Hugo, Pieter 109 Huppert, Isabelle 200

Hagedorn (1996) 172 Hall, Brent 80 Hallucinations of a Deranged Mind (Delírios de um Anorma, 1978) 238

i-Witness 186 Ice Is the Earth (Ang Mundo Sa Panahon Ng Yelo, 2010) 184 Idanre (episches Gedicht) 118

Index

If I Knew What You Said (Dinig sana kita, 2009) 176 Igbo (Volksgruppe) 109, 116 Igbo Olodumare (Roman) 129 Igodo: Land of the Living Dead (1999) 100 Igwe, Amaka 105 Imasuen, Lancelot 100, 104 Imelda (2003) 177 Iñárritu, Alejandro González 13 Independencia (2009) 150, 152f, 156f, 161, 165, 176 Independencia (Onlinemagazin) 163 indieSine 183 Insiang (1976) 10, 140f, 175 Institut français 188 Instituto Nacional de Cinema (INC) 223 Internationale Filmfestspiele Venedig 173, 188, 200, 235 Internationaler Währungsfonds (IWF) 115, 174 Internationales Forum des Jungen Films (Festivalsektion) 25f, 39f, 47, 69f, 186 Ireke Onibudo (Roman) 129 Irinkerindo (Roman) 129 Isang Araw Walang Diyos (1989) 181 Instituto Superior de Estudos Brasileiros (ISEB) 223f Isola, Akinwumi 118, 129f Isong, Emem 100 Issakaba 1-4 (2000-2001) 100

Jacobs, Ken 155f Jaguar (1979) 140, 175 Janetzko, Christoph 187 Jardin, Nestor 191 Jarito, Noriel 181 Jay (2008) 175 Jayasundara, Vimukthi 159

Zé Do Caixão (Rollenname) 235f, 238, 241 Jeonju Digital Project 159, 161 Jeonju International Film Festival 143, 159f Jesus the Revolutionary (Hesus, rebolusyunaryo, 2002) 145f, 168 Jeturian, Jeffrey 175, 244 Ji Dan 81 Jia Zhang-ke 9 Jie Li 58, 61 Jimenez, Monster 187 Johannes Paul II. 207 Jomara, Marie 174 Jones, Doug 55 Journées cinématographiques de Carthage 90 Julien, Isaac 42 Just Like Before (Tulad ng dati, 2006) 176

K amera obskura (2012)

193 Kano – An American and His Harem (2010) 187 Karamay (‫ܟ‬ᢝ⥯ձ, 2010) 81f Karapatan-Southern Tagalog (Menschenrechtsorganisation) 177 Katipunan-Bewegun 193 Käutner, Helmut 25 Kebeng, Donna 199 Kelani, Tunde 16-18, 100-103, 107111, 114-127 Keuschnigg, Markus 235 Kim Ki-duk 43 Kontra-Agos (Filmfestival) 182 Koronel, Hilda 141 Kò̓eégbé (1995) 130 Kristofferson, Kris 236 Kubitschek, Juscelino 217, 223 Kulturrevolution 65, 73f Kuomintang (siehe Guomindang) Kwama, Daniel 103

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Zu Spuren eines dritten Kinos

La Condition Canine (⢫ⱘ⢊‫މ‬, 2001) 9 Lacson, Panfilo 173 Lam, Philip 80 Lamangan, Joel 193 Langlois, Henri 35 Lapid, Lito 173 Laranas, Yam 188 Larger Than Life (Tuhog, 2001) 175 Larkin, Brian 94, 98, 108f, 113, 115 Lawrence of Arabia (1962) 128 Le Canard enchaîné (Zeitschrift) 24 Le monde (Zeitung) 161 Le Pen, Jean-Marie 24 Le Wazzou Polygame (1971) 115, 120 Lee, Raymond 188 Leiser, Erwin 23 Lejano, Ed 198 Leone, Sergio 128, 238 Lessons from the School of Inattention (Blog) 182 Letters of Solitude (Cartas de la soledad, 2011) 189 Li Hongqi 81 Li Ning 81 Liniran, Jim 175 Liepe, Hubert 25 Lima, Cavalheiro 129, 218 Lins, Paulo 232 Liu Jiayin 82f Living in Bondage (1992) 94, 99, 104 Lola (2009) 174 London Film School 128f, 132 Lorenz, Juliane 45 Lou Ye 80 Lu Xinyu 54, 60 Luft, Friedrich 25 Lukas the Strange (Lukas nino, 2013) 183 Lumbera, Gym 163 Luna, Juan 156

Lund, Kátia

232

M-Net (Satellitensender-Netzwerk) 94, 104 Ma Bingcheng 69 Maami (2012) 130, 132 Macapagal-Arroyo, Gloria 171f, 175, 178, 201, 202 Macho Dancer (1988) 140 Macunaima (1969) 237 Maddin, Guy 153 Magischer Realismus 118, 221 Maguindanao-Massaker 169, 188 Mainframe Opomulero (Produktionsfirma) 110 Maldoror, Sarah 30, 115 Man with no Name (᮴ৡ㗙, 2010) 51 Mangansakan II, Gutierrez 188f Manila (2009) 176 Manila Electric Company 195 Manila in the Claws of Neon (Maynila: Sa mga kuko ng liwanag, 1974) 137, 140, 175 Manila in the Fangs of Darkness (Maynila sa mga pangil ng dilim, 2008) 137f, 146, 154 Manila Skies (Impapawid, 2009) 192 Manriques, Dino 182 Manunuri ng Pelikulang Pilipino (Filmkritikervereinigung) 194 Mao Zedong (Tse-Tung) 54, 59, 65 Marasigan, Dennis 173 Marcos, Ferdinand 14, 137f, 140f, 147, 150, 169, 171-175, 177, 178, 198, 201 Marcos, Imelda 177 Mardoquio, Arnel 189f Martin, Raya 18, 46, 139, 144f, 149156, 159-165, 174, 176, 185, 194 Martinez, Chris 174, 186, 194

Index

Mask (Maskaram 2011) 191 Matthews, Travis 42 Matti, Erik 181 Maynilad (Konzern) 195 Meily, Mark 188 Meirelles, Fernando 207, 210, 232 Meishi Street (✸Ꮦ㸫, 2006) 79 Melancholia (2008) 149, 154, 173 Mendoza, Brillante 46, 139, 163, 170, 174, 185f, 200f Metro Manila Film Festival 195 Mindanao Film Festival 181 Ministère de la Coopération (Frankreich) 112 Miramax 226 MNL 143 (2012) 190 Möller, Olaf 235 MOMA 80 Mondomanila (2010) 175 Monteverde, Lilly 201 Moonbuggy (Sinong lumikha ng yoyo? Sinong lumikha ng moon buggy?, 1979) 143 Moro Islamic Liberation Front (MILF) 178, 188 Moro National Liberation Front (MNLF) 188 Mother, Sister, Daughter Ina, kapatid, anak, 1979) 141 Moura, Wagner 207 Movie and Television Review Classification Board (Philippinen) 186 Movieworld (Kino) 183 Mowelfund Film Institute 187 Mowelfund Organisation 187 MPA (Vertriebsfirma) 231 Mulvey, Laura 156 Murnau, Friedrich 45

Nacro, Fanta Regina 121 National Commission for Culture and the Arts (NCCA) 182

National Film Archive (Philippinen) 199 National Film Competition (Philippinen) 197 NCCA Competitive Grants Program 182 Negros Summer Workshop 181 Neill, Roy William 237 Neorealismus 175, 221 NETPAC Awards 189 Network for the Promotion of Asian Cinema (NETPAC) 189 New Crowned Hope (Festival) 43 Newman, Brian 80 Next Attraction (2008) 164f Niehoff, Karena 25 Nigeria Film Institute 129 Nigerian National Film and Video Censors Board 98 Niño (2011) 194 Nnebue, Kenneth 94, 99 No Other Woman (2011) 198 Nollywood 16f, 89ff, 93-105, 107-129 Notes Towards an African Orestes (Appunti per un’Orestiade Africana, 1970) 125 Now Showing (2008) 154 Nu Metro (Konzern) 104

O Leku (Roman) 129 O‘Hara, Mario 175, 193 Oberhausener Manifest 27 Office of the President of the Philippines 186 Ogboju Ode ninu igbo Irunmale (Roman) 129 Ogunde, Hubert 117, 129 Okafor, John 104 Okereke, Stephanie 104 Ólekú (1997) 130 Onganía, Juan Carlos 30 Onwochei, Francis 104

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Zu Spuren eines dritten Kinos

Organisation Concerned Artists of the Philippines (CAP)â•… 140 Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)â•…142 Osofisan, Femiâ•… 130 Osun Osogbo Festivalâ•… 123 Ou Ningâ•… 79f Ouedraogo, Idrissaâ•… 93, 112 Owoh, Nkemâ•… 104 Oxhide (牛皮, 2004)â•… 82 Oxhide 2 (牛皮2, 2009)â•… 82f

Pablo, Crisaldoâ•… 183 Pacquiao, Mannyâ•… 173 Padilha, Joséâ•… 18, 205-214, 241 Palparan, Jovidoâ•… 179 Pambujan Pelikula Para Sa Publiko (PPPP)â•…181 Pangilinan, Manuel V.â•… 195 Paris Cinema International Film Festivalâ•…197 Pasion, Francis Xavierâ•… 175 Pasolini, Pier Paoloâ•… 125 Patikul (2011)â•… 193 Pelikusina (Festival)â•… 183 Pentekostalismus (Pfingstbewegung)â•… 99, 122 Peranson, Markâ•… 162 Perón, Juanâ•… 30 Perversion (Estupro, 1979)â•… 239 Pestilence (2004)â•… 100 Petition (冬月, 2009)â•… 82 Petzke, Ingoâ•… 187 Philippine Commission on Human Rightsâ•…179 Philippine Educational Theater Association (PETA)â•… 139 Philippine Independent Filmmakers Multi-Purpose Cooperativeâ•… 183 Philippine International Arts Festivalâ•…196

Philippine Long Distance Telephone Companyâ•…195 Pila-balde (1999)â•… 175 Ping Lacson: Super Cop (2000)â•… 172 Pinochet, Augustoâ•… 23, 35 PinoyFilm.comâ•…182 pinoy rebyu – Critical Consensus of Filipino filmsâ•… 182 Pinto, Magalhãesâ•… 224 Pixelgrain Inc.â•… 191 Pixote (Pixote: A Lei do Mais Fraco, 1981)â•… 206, 208ff Poe, Jr., Fernandoâ•… 201 Pohland, Hansjürgenâ•… 25 politique des auteursâ•… 159, 161 Pollesch, Renéâ•… 109 Ponce Enrile, Juanâ•… 174, 201 Pornochanchada (Genre)â•… 240 Praunheim, Rosa vonâ•… 187 Praybeyt Benjamin (2011)â•… 198 PTB (Partei)â•… 238 Pusong Wazak (2011)â•… 185

Qiyamah (2012)â•… 189 Quadros, Jânioâ•… 217 Qwerty (2012)â•… 198 R ainer Werner Fassbinder Foundationâ•…45 Rakenrol (2011)â•… 174 Rancière, Jacquesâ•… 77 Rapid Eye Moviesâ•… 185 Rathsack, Heinzâ•… 23 Red, Jonâ•… 174 Red, Raymondâ•… 174 Rede Globo (Konzern)â•… 226, 231 Refrains Happen Like Revolutions in a Song (Ang ninanais, 2010)â•… 183 Regal Filmsâ•… 195, 201 Rekados (2006)â•… 176 Remington and the Curse of the Zombadings (Zombadings 1 –

Index

Patayin Sa Shokot Ni Remington!, 2011) 193 Reproductive Health Bill (Philippinen) 178 Retomada 18, 215ff, 225ff, 230ff Revilla Jr., Ramon 173 Reyes, Emerson 190 Reyes, Jose Javier 174, 193 Reyes, Jun 177 Reyes, Tony Y. 198 Riber, John 131 Ricoeur, Paul 62f, 67 RioCine Festival 236 Ritual of the Sadists (O Ritual dos Sádicos, 1970) 236 Rivera, Marlon 186, 194 Roces, Grace 201 Roces, Susan 201f Rocha, Glauber 10, 12, 14, 32, 209, 212, 214f, 221f, 224, 226, 230, 236ff Rodrigues, Alexandre 230 Rodrigues, João Pedro 47 Rofel, Lisa 71-74, 77 Rogue (Online-Filmmagazin) 180 Roño, Chito 198 Room Boy (2005) 194 Roß, Heiner 25 Rothöhler, Simon 70, 75, 165 Rotonda (2006) 174 Rouanet-Gesetz 226 Rouch, Jean 115, 125 Roxlee 188 Roy, Eduardo 192 Ruined Heart (2013) 185

Sa Kanto Ng Ulap At Lupa (2011) 184 Safo, Socrate 93, 105 Salzgeber, Manfred 25 Sambizanga (1973) 115

Sampaguita – National Flower (2010) 175 Sampedro, G.B. 176 San Sebastian International Film Festival 47 San Yuan Li (ϝ‫ܗ‬䞠, 2003) 79 Sanchez, Sherad Anthony 176 Sandejas, Mike 176 Sanjinés, Jorge 12, 36, 38 Santos, Briccio 196-199 Santos, Gino 174 dos Santos, Nelson Pereira 206, 210, 220 ̒aworoid͝ (1999) 120f Schroeter, Werner 187 Scorpio Nights (1984) 181 Searching for Lin Zhao’s Soul (ᇏᡒ ᵫᰁⱘ♉儖, 2004) 81 Secrets of the Tribe (2010) 206 Seiko Films 191 Sellars, Peter 43 Sembène, Ousmane 10, 12, 14, 91f, 99, 103, 108, 112f, 115, 121, 125, 132f Senft, Haro 27 Service (Serbis, 2008) 174 Sewer (Imburnal, 2008) 176 Sganzerla, Rogério 215, 237, 241 Shakespeare, William 130 Sheika (2010) 189 Siega Zuasola, Remton 194 Signed: Lino Brocka (1987) 141 Siguion-Reyna, Armida 201 Siguion-Reyna, Carlos 201 Silos, Manuel 177 Silos, Octavio 155 Silva, Douglas 227, 230 Silverbird Entertainment 130 Sineng Pambansa Film Festival 196 Sinulog Festival 181 Sissako, Abderrahmane 93, 102, 108, 132 Slaughter (Kinatay, 2009) 174

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Zu Spuren eines dritten Kinos

Sleepless Knights (2012) 42, 47 Smart Communications 195 So Normal (Os Normais – O Filme, 2003) 232 Society of Filipino Archivists for Film (SOFIA) 180 Soderbergh, Steven 153 Solanas, Fernando E. 11f, 19, 31f, 36, 40 Solito, Auraeus 170 Solschenyzin, Alexander 65 Somes, Richard 181 Sony 226 Sotto III, Vicente 173 Sotto, Vic 173 Southern Tagalog Exposure 177, 182 Soyinka, Wole 118, 130 Spillane, Mickey 237 Spivak, Gayatri 53 Squalor (Astig, 2009) 176 Squatterpunk (2007) 175 Star Cinema 195, 198 Stardoom (1971) 141 Steinbrügge, Bettina 163 Stone Is the Earth (Ang Mundo Sa Panahon Ng Bato, 2010) 184 Strange Hostel of Naked Pleasures (A Estranha Hospedaria dos Prazeres, 1976) 239 Strange World of Coffin Joe (O Estranho Mundo de Zé do Caixão, 1968) 236 Straschek, Günter Peter 23, 29, 225 Structural Adjustment Programs 115 Subiela, Eliseo 40, 185 SWAT-Polizisten 229

Tabu (2012) 153 Tahimik, Kidlat 139, 142-145 Tales from the Crypt (Fernsehserie und Film, basierend auf EC-Comic) 236 Tape 㛊ᏺ, 2010) 81f Tarkovsky, Andrej 162 Tarong, Jerrold 171 The Abyss (O Abismo, 1977) 237 The Adventure of Iron Pussy (Hua jai tor ra nong, 2003) 46 The Age of the Earth (A Idade da Terra, 1980) 238 The Animals (2012) 174 The Artist (2011) 153 The Battle of Musanga and Igodo (1996) 98 The Bloody Exorcism of Coffin Joe (O Exorcismo Negro, 1974) 239 The Bridal Quarter (Limbunan, 2010) 188 The Brockas (Band) 167 The Campus Queen (2004) 130 The Caretaker (Ang Katiwala, 2012) 194 The Criminal of Barrio Concepcion (Serafin Geronimo: Ang kriminal ng Baryo Concepcion, 1998) 145 The Good German (2006) 153 The Good, The Bad, and the Ugly (Il buono, il brutto, il cattivo, 1966) 128 The Great Cinema Party (Südkorea, Philippinen, 2012) 18, 159-165 The Guns (Os Fuzis, 1964) 221 The Hour of the Furnaces (La hora de los hornos, 1968) 11f, 31, 54 The Island at the End of the World (No pongso do tedted no mondo: Ang isla sa dulo ng mundo, 2005) 150 The Last Journey of Ninoy (2009) 177

Index

The Law (Tilaï, 1990) 93 The Mad Masters (Les maîtres fous, 1955) 125 The Masseur (Masahista, 2005) 200 The Money Order (Mandabi, 1968) 103, 132 The Narrow Path (2006) 122f, 130 The Night Infinite (Di Natatapos Ang gabi, 2010) 184 The Night of Truth (La nuit de la verité, 2004) 121 The Perfumed Nightmare (Mababangong bangungot, 1977) 142ff The Real Mother (Tunay na ina, 1942) 155 The Red Light Bandit (O Bandido da Luz Vermelha, 1968) 237 The Road (Theaterstück) 118 The Saddest Music in the World (2003) 153 The Sound of Music (1965) 139 The Strange World of José Mojica Marins (O Estranho Mundo de Zé do Caixão, 2001) 239 The Transition Period (‫ހ‬᳜, 2009) 81 The Trial of Andres Bonifacio (Ang Paglilitis Ni Andres Bonifacio, 2010) 193 The Trials of Mister Serapio (Ang Paglilitis Ni Mang Serapio, 2010) 185 The Vampire of the Cinematheque (O Vampiro da Cinemateca, 1977) 241 The Virgin (Roman) 129 The Wind (Finye, 1983) 115 The Woman in the Septic Tank (Ang Babae Sa Septic Tank, 2011) 186, 193 Thiel, Reinhold E. 25

Things Fall Apart (Roman) 118, 124 Thirion, Antoine 163 Thompson, E.P. 52 Those Little Secrets (Mag Mumunting Lihim, 2012) 174, 193 Three, Two, One (Tatlo, Dalawa, Isa, 1974) 141 Thunderbolt: Magun (2001) 102, 130 Thy Womb (Sinapupunan, 2012) 201 Ti Oluwa Ni Il͝ (Nigeria, 1993) 100, 103, 119ff Tiexi District – West of the Tracks (䪕 㽓ऎ,2003) 14, 19, 53-64, 66, 82 Tirador (2007) 174 Todo todo teros (2006) 175 Tondo, Beloved (Tundong Magilaw: Pasaan Isinisilang Siyang Mahirap?, 2011) 187 Tonight I’ll Possess Your Corpse (Esta Noite Encarnarei no Teu Cadáver, 1966) 236-239 Torres, John 175, 183, 185 Tribeca Film Festival 80 Tribu (2007) 175 Tsai Ming Liang 46 Tscherkassky, Peter 156 Turumba (1983) 143f TV5 (Fernsehsender) 192, 195f

UC Santa Cruz

71 Udigrudi (Filmbewegung) 215 Ukamau (Filmkollektiv) 13, 33 Ukpabio, Helen 99 Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives (Loong Boonmee raleuk chat, 2010) 13, 44 União Nacional dos Estudantes (UNE) 223 United Nations Development Programme (UNDP) 181

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Zu Spuren eines dritten Kinos

University of Santo Tomas 187 University of the East 187 University of the Philippines 150, 186

Vallejo, Gerardo 32, 36 Vampire of Quezon City (Aswang Ng QC, 2005) 175, 252 Van Sant, Gus 45 Vargas, Getúlio 220 Vautier, René 24, 33 Vera, Noel 182 Vertov, Dziga 60 Vesely, Herbert 27 Vesoul International Film Festival of Asian Cinema 186 Veyne, Paul 52f, 59 Viennale (Filmfestival) 140, 144 Village Documentary Project 14, 16, 119 Virtual Print Fee 44 Viva Entertainment 195 Vogel, Amos 32 Vox Populi (2010) 173 Wang Bing

14, 17, 51-67 Wang Jingchao 65 Wang Xiaoshuai 80, 84 Wanted: Perfect Mother (1970) 139 Warner Bros 226 Ways of the Sea (Halaw, 2010) 188 Weerasethakul, Apichatpong 42, 46 Wegner, Carl 25 Weibo (Website) 83 Welles, Orson 237 Weltbank 115, 174 Western Nigerian Television 128 What Isn’t There (Ang nawawala, 2012) 174 When the Bough Breaks (ॅᎶ, 2011) 81f

White, Hayden 62 Wildlife (Kalayaan, 2012) 185 Winter Vacation (ᆦ‫؛‬, 2010) 81f Witte, Karsten 26 Woman of Breakwater (Babae sa Breakwater, 2004) 175 Woman on a Tin Roof (Babae sa bubungang lata, 1998) 175 Wong Kar-Wai 43 Work (Baara, 1980) 115 World Cinema Fund (Filmförderinstitution) 41

Xala (1975) 103, 132 Xu Xin 81 Yaaba (1989) 93 Yellow Card (2000) 131 Ying Liang 159 Yoruba (Volksgruppe) 94ff, 109, 116ff, 122, 124f, 128ff, 132 You Have Been Weighed and Found Wanting (Tinimbang ka ngunit kulang, 1974) 140 YouTube 9f, 102, 132f, 159 Yunnan Multi Culture Visual Festival 83 Zeughauskino (Berlin) Zhao Liang 82 Zhou Hao 81 Ziewer, Christian

32f

10, 263

Film Bettina Dennerlein, Elke Frietsch (Hg.) Identitäten in Bewegung Migration im Film 2011, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1472-5

Tobias Ebbrecht Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis Filmische Narrationen des Holocaust 2011, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1671-2

Kay Kirchmann, Jens Ruchatz (Hg.) Medienreflexion im Film Ein Handbuch August 2013, ca. 404 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1091-8

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Film Daniel Kofahl, Gerrit Fröhlich, Lars Alberth (Hg.) Kulinarisches Kino Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film März 2013, 280 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2217-1

Niels Penke (Hg.) Der skandinavische Horrorfilm Kultur- und ästhetikgeschichtliche Perspektiven 2012, 320 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2001-6

Daniela Schulz Wenn die Musik spielt ... Der deutsche Schlagerfilm der 1950er bis 1970er Jahre 2012, 338 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1882-2

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Christian Pischel Die Orchestrierung der Empfindungen Affektpoetiken des amerikanischen Großfilms der 1990er Jahre Mai 2013, 266 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2426-7

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Birgit Wagner, Christina Lutter, Helmut Lethen (Hg.)

Übersetzungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2012

2012, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2178-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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