Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung: Entwürfe von Böhme bis Leibniz 9783110869620, 9783110142822


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German Pages 530 [532] Year 1994

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Table of contents :
Vorwort
Einleitung
I. Sprache, Denken und Wirklichkeit
1. Grundzüge und die Problematik ihrer Unterscheidung
2. Sprachmystik, mystizistische Tendenzen und metaphysische Orientierung
3. Die ontologisierend-patriotische Sprachreflexion und ihre Gegenströmungen
4. Der ordo-Gedanke
5. Ansätze einer Theorie der sprachlichen Relativität
6. Sprachuniversalismus
II. Historische, pragmatische und soziale Aspekte
1. Sprachursprung, Sprachverwandtschaft und Geschichte des Deutschen
2. Grundrichtigkeit vs. Sprachgebrauch
3. Sprache und Kommunikation
4. Zur Stellung der Fremdsprachen
5. Sprachpädagogik und -didaktik
Bibliographie
Namenregister
Sachregister
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Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung: Entwürfe von Böhme bis Leibniz
 9783110869620, 9783110142822

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Andreas Gardt Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker Begründet von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer

Neue Folge Herausgegeben von

Stefan Sonderegger

108 (232)

W DE

G Walter de Gruyter · Berlin · New York

1994

Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung Entwürfe von Böhme bis Leibniz

von

Andreas Gardt

W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York

1994

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek. — CIP-Einheitsaufnahme

Gardt, Andreas: Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung : Entwürfe von Böhme bis Leibniz / von Andreas Gardt. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1994 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker ; N.F., 108 = 232) Zugl.: Heidelberg, Univ., Habil.-Schr., 1993 ISBN 3-11-014282-1 NE: GT

ISSN 0481-3596 © Copyright 1994 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Für Oskar Reichmann und für Monika

Vorwort Die folgende Untersuchung lag im Sommersemester 1993 der Neuphilologischen Fakultät der Universität Heidelberg als Habilitationsschrift vor. Zwei Hinweise zur äußeren Textgestalt: 1. Bei Zitaten aus Quellentexten wurde darauf verzichtet, auffallende Schreibungen mit „[sie!]" zu kennzeichnen. Die Möglichkeiten der Variation in der Schreibung sind im frühen Neuhochdeutschen so ausgeprägt, daß eine einheitliche Norm, an der die einzelnen Formen gemessen werden könnten, nur eine konstruierte wäre und die Zitate zudem von Hervorhebungen durchsetzt wären. 2.: In den deutschsprachigen Quellentexten werden lateinische Ausdrücke durch Antiqua von der deutschen Fraktur abgehoben. Um diese Unterscheidung auch in Zitaten wiedergeben zu können, werden die lateinischen Ausdrücke in deutschsprachigen Quellen kursiv gesetzt. Dem überwiegenden Teil der fremdsprachigen Zitate wurde eine Übersetzung beigegeben, grundsätzlich ausgenommen sind Zitate aus dem Englischen. Wo allgemein zugängliche Übersetzungen im Druck vorliegen, wurden diese in der Regel verwendet. Gelegentlich wurden einzelne Stellen dieser Übersetzungen von mir geändert, eine besondere Kennzeichnung dieser Änderungen erfolgt nicht. Ist in der Bibliographie zu einem fremdsprachigen Quellentext keine Übersetzung angegeben, so stammen Übersetzungen aus diesem Text von mir. Während der Entstehung dieser Untersuchung habe ich von vielen Seiten Unterstützung erfahren. Jochen Bär, Barbara Marks und Bernd Weidmann danke ich vielmals für ihre Hilfe bei der Beschaffung von Quellen. Von den zahlreichen in- und ausländischen Bibliotheken, die Drucke zur Verfügung gestellt oder Kopien geliefert haben, seien die Universitätsbibliothek Heidelberg sowie die Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel besonders erwähnt. Peter Bews, Wilhelm Kühlmann und Klaus J. Mattheier danke ich für hilfreiche Anregungen. In den Dank einschließen möchte ich Matthias Kammerer für seine Hilfe bei der typographischen Einrichtung. Dem Herausgeber der „Quellen und Forschungen" bin ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe zu Dank verpflichtet. Ganz besonders herzlich danke ich meiner Frau Monika Gardt. Sie hat das Manuskript kritisch gelesen und mit zahlreichen Anmerkungen verse-

VIII

Vorwort

hen, doch nicht minder wichtig war ihre Unterstützung in der Zeit der Entstehung der Untersuchung. Ebenso herzlich danke ich meinem Heidelberger Lehrer Oskar Reichmann. Die kooperative Atmosphäre, die er an seinem Lehrstuhl geschaffen hat, seine stete Bereitschaft zum Gespräch und die Freundlichkeit, mit der er mein Arbeiten begleitete, haben viel zum Gelingen meines Vorhabens beigetragen.

Heidelberg, im Juli 1994

Andreas Gardt

Inhalt Vorwort Einleitung I. Sprache, Denken und Wirklichkeit

VII l 19

1. Grundzüge und die Problematik ihrer Unterscheidung Exkurs: Strukturen der Argumentation in sprachreflexiven Arbeiten von Barock und Frühaufklärung

32

2. Sprachmystik, mystizistische Tendenzen und metaphysische Orientierung 2.1. Das Konzept der Motiviertheit 2.2. Sprachmystik bei Jakob Böhme a) die Dichotomic von Einheit und Vielheit b) die Qualitätenlehre c) das Konzept der Natursprache d) Bewertung der Muttersprache e) Verfügbarkeit von Sprache durch ihre Sprecher 2.3. Mystizistische Tendenzen und metaphysische Orientierung

45 45 68 70 83 89 100 101 108

3. Die ontologisierend-patriotische Sprachreflexion und ihre Gegenströmungen a) Sprachwesen und Sprachverwendung b) Sprachlob und Hypostasierungen c) semantische Differenzierungen d) der Stammwort-Begriff e) Alamode-Kritik f) Gegenströmungen: politisches' bei Thomasius und Prudentismus bei Weise 4. Der ordo-Gedanke a) der Primat der Gegenstände b) orc/o-Denken in Sprachpflege, Lexikographie, Sprachdidaktik und Rhetorik

21

129 139 146 152 160 166 176 189 195 198

X

Inhalt

c) Kombinatorik d) orrfo-Denken bei Comenius

206 222

5. Ansätze einer Theorie der sprachlichen Relativität

227

6. Sprachuniversalismus 6.1. Das Konzept der Arbitrarität 6.2. Universalgrammatik und Entwürfe künstlicher Sprachen a) Vorläufer b) Universalgrammatiken: italienische, französische und deutsche Ansätze c) Universalsprachen: kryptographische Tradition und Entwürfe aus Frankreich, England und Deutschland

251 251 260 262

II. Historische, pragmatische und soziale Aspekte

270 290 339

1. Sprachursprung, Sprachverwandtschaft und Geschichte des Deutschen a) Sprachursprung und die Figur Adams b) zur Geschichte des Deutschen c) die Praxis des Etymologisierens d) Beurteilung von Sprachwandel

341 343 348 361 364

2. Grundrichtigkeit vs. Sprachgebratich

368

3. Sprache und Kommunikation Exkurs: Übersetzungstheorie in Barock und Frühaufklärung

386 403

4. Zur Stellung der Fremdsprachen

422

5. Sprachpädagogik und -didaktik a) das sprachpädagogische Anliegen b) didaktisch-methodische Entwürfe

438 438 445

Bibliographie a) Quellen b) Forschungsliteratur Namenregister Sachregister

467 467 492 513 516

Einleitung Das Thema der vorliegenden Untersuchung ist die Reflexion über das Wesen von Sprache sowie über Möglichkeiten ihrer Verwendung im Deutschland von Barock und Frühaufklärung. Die Rede vom „Wesen der Sprache" mag auf den modernen Beobachter etwas pathetisch wirken1, trifft jedoch den Kern der Sprachreflexion der Zeit: Sprache wird als anthropologisches wie soziales Phänomen konstatiert - sie unterscheidet den Menschen vom Tier und regelt das Zusammenleben der Menschen - und ist zunächst ,als solche', in ihrer Gesamtheit, jenseits kommunikativer Wirklichkeit von Interesse. In diesen Zusammenhang gehören die im 17. und frühen 18. Jahrhundert zentralen Fragen nach den Bezügen zwischen Sprache, Denken und Wirklichkeit, damit nach der Rolle des o/vfo-Konzepts in der Sprachreflexion, ferner nach dem grundsätzlichen Verhältnis von Regelhaftigkeit und Sprachgebrauch, das sich in der zeitgenössischen Diskussion als Spannung zwischen Analogie und Anomalie im Kontext der Debatte um die zu etablierende Leitvarietät des Deutschen niederschlägt, des weiteren die Frage nach dem Sprachursprung und der Geschichtlichkeit von Sprache sowie nach der Korrelation von Sprache und Sitte bzw. Sprache und Nation, einschließlich der damit zusammenhängenden Fremdwortthematik. Diese allgemein sprachtheoretischen Themen führen zu weiteren Aspekten, von denen hier die Sprachpädagogik sowie das Kommunikationskonzept erörtert werden sollen. Die Themen werden in den Texten der Zeit zum Teil universalistisch, jenseits einzelsprachlicher Orientierung, zum Teil mit Bezug auf die deutsche Sprache diskutiert; das Spektrum der Methoden reicht vom rational-analytischen Diskurs, der bereits in weiten Teilen dem modernen Wissenschaftsbegriff gerecht wird, zu Argumentationsverfahren, wie sie für die Mystik charakteristisch sind. Natürlich sind nicht alle metasprachlichen Äußerungen der Zeit von allgemein sprachreflexivem Interesse. Insbesondere die Beschäftigung mit der Von der Ausdrucksweise „Wesen der Sprache'' ist man in der neuesten Sprachwissenschaft - man müßte sagen: in der allemeuesten, Karl Bühler etwa verwendet die Formulierung noch ganz selbstverständlich - wohl deshalb abgekommen, weil man in ihr eine Art Vergegenständlichung von Sprache vermutet, so, als sei damit der Grundannahme jeder historisch-pragmatischen Sprachwissenschaft widersprochen, daß Sprache nur als Niederschlag sich wandelnder Sprecherinteressen gegeben sei.

2

Einleitung

Einzelsprache dient oft nur der Vermittlung praktischer Fertigkeiten im Bereich von Grammatik und Rhetorik. Die Systeme dieser Disziplinen werden nicht im Detail Gegenstand der Untersuchung sein, wohl aber ihre sprachtheoretischen Grundlagen und Implikationen. Nicht im einzelnen diskutiert werden demnach Äußerungen der Art, die Wortbildungsmöglichkeiten des Deutschen erlaubten die Derivation mittels der Präfixe „ein-", „er-", „ver-" und „zer-", um Verben wie „einlegen", „erlegen", „verlegen" und „zerlegen" zu bilden2, oder das „Mittel=Wort" lasse die Unterscheidung in „wirckende" und „leidende" Formen zu3. Nicht diskutiert werden auch die Feststellungen, beim Verfassen einer „Leich=Abdanckung" solle man nicht einfach auf „ein Exordium aus einer alten Predigt" zurückgreifen4 oder daß die Synecdoche die Unterarten „Genus pro specie", „Species pro genere", „Totum pro parte" und „Pars pro toto" aufweise5. Durchaus interessant im Sinne der Fragestellung ist jedoch die Bemerkung, der Reichtum an „Stammwortern" im Deutschen, verbunden mit den zahlreichen „Ableitungs= und Doppelungsarten", trage dazu bei, die Wirklichkeit „auf das allereigentlichste", d.h. so, wie es der Natur der Dinge entspricht, abzubilden6, oder die Behauptung, daß ein guter „Sekretarius" sich fragen müsse, ob das, was er schreibt, „nicht allein [...] der Herrschaftlichen Meinung und der Sache / so man schreiben soll / sondern auch / und vornemlich; ob es guten Sitten / und dem Gottlichen Willen gemäß sey"7. Ganz offensichtlich sind die Grenzen zwischen den Bereichen des zu Erörternden und des Auszuschließenden schwer zu ziehen8; was in der Untersuchung zu behandeln ist und was 2 3 4 5 6 7 8

Wolfgang Ratke: Die WortbedeütungsLehr Der Christlichen Schule, um 1630, z.B. 310. Christian Pudor: Der Teutschen Sprache Grundrichtigkeit Und Zierlichkeit, 1672, 41f. Christian Weise: Politischer Redner, 3. Aufl., 1681, 439f. Christian Hunold: Einleitung Zur Teutschen Oratorie. Und Brief= Verfassung, 2. Aufl., 1715, 30. Schottelius: Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache, 1663, 4. Lobrede, passim. Kaspar Stieler: Teutsche SekretariatKunst, 2. Aufl., 1681, 46. Vor allem am letzten der zitierten Beispiele wird dies deutlich: Die Forderung nach einer Orientierung des Textes an einer Reihe außersprachlicher Bezugsgrößen - hier: Verfasserintention, außersprachlicher Sachverhalt, „gute Sitten" und „göttlicher Wille" - läßt sich sprachtheoretisch interpretieren als Forderung nach einer situativpragmatischen Ausrichtung sprachlichen Handelns, ist damit jedoch nichts weiter als die Ausformulierung der rhetorischen Kategorie des aptum, welche seit der Antike fest zum System der Rhetorik gehört. Im Falle dieser Kategorie müßte also von dem Grundsatz, das System der Rhetorik nicht im einzelnen darzustellen, abgerückt werden, doch ließe sich dies eben damit begründen, daß das aptum zentrale Fragestellungen der vorliegenden Untersuchung berührt, nämlich Fragen der Zeichentheorie - über

Einleitung

3

nicht, kann nicht kategorisch, sondern muß von Fall zu Fall entschieden werden. Aus dem Bisherigen wird auch deutlich, weshalb „Sprachreflexion" als Klammerform für das Corpus aus sprachphilosophischen Äußerungen (etwa aus dem Bereich der Zeichentheorie), sprachkritischen Äußerungen (z.B. im Bereich der puristischen Stilkritik der Sprachgesellschaften), sprachdidaktischen Äußerungen sowie Äußerungen aus den Bereichen Grammatik, Rhetorik, Lexikographie und einer Reihe anderer Gebiete sinnvoll erscheint.9 Um die zentralen Aspekte der metasprachlichen Theoriebildung im Deutschland des 17. und frühen 18. Jahrhunderts erfassen zu können, sind im einzelnen Texte dieser Sorten zugrunde gelegt worden: - sprachtheoretische/sprachphilosophische Abhandlungen; a) über die Einzelsprachen hinausgehend: z.B. John Locke: An Essay Concerning Human Understanding, 1690; Gottfried Wilhelm Leibniz: Nouveaux essais sur l'entendement humain, 1704; b) mit Bezug auf die deutsche Sprache: z.B. Philipp von Zesen: Rosen=Mänd, 1651; Justus Georg Schottelius: Lobreden von der Teutschen HaubtSprache, 1663; - sprachmystische und mystizistische Texte: z.B. Jakob Böhme: De signatura rerum, 1622; Franciscus Mercurius van Hellmont: Kurtzer Entwurff des eigentlichen Natur-Alphabets der Heiligen Sprache, 1667; - Texte aus dem Umkreis des Sprachuniversalismus (Universalgrammatiken, Entwürfe zu Kunstsprachen, Kombinatoriken u.a.): z.B. Johann Comenius: Vestibuli et Januae lingvarum lucidarium hoc est Nomenclatura rerum ad autopsian deducta, 1653; Johann Joachim Becher: Character Pro Notitia Linguarum Universali, 1661; Athanasius Kircher: Ars magna sciendi, 1669; Johann Daniel Longolius: Einleitung zu

die Relation Ausdruck - Referent - und Fragen des Gewichtes pragmatischer Bezugsgrößen beim Verfassen schriftlicher Texte. Zur einschlägigen Terminologie vgl.: W. Oesterreicher: Sprachtheorie - Zur Problematik der Verwendung eines Terminus. In: Brigitte Schlieben-Lange (Hrsg.): Sprachtheorie. Hamburg 1975, 81-126; R. Bartsch u. T. Vennemann: Sprachtheorie. In: Lexikon der germanistischen Linguistik. Hrsg. v. H. P. Althaus, H. Henne u. H. E. Wiegand. 2. Aufl. Studienausgabe. Tübingen 1980. Bd. l, 57-82; H. H. Lieb: Sprachstudium und Sprachsystem. Umrisse einer Sprachtheorie. Stuttgart 1970; P. Schmitter (Hrsg.): Geschichte der Sprachtheorie. Bd. 1: Zur Theorie und Methode der Geschichtsschreibung der Linguistik. Tübingen 1987; B. Schlieben-Lange: Überlegungen zur Sprachwissenschaftsgeschichtsschreibung. In: dies. u.a. (Hrsg.): Europäische Sprachwissenschaft um 1800. Methodologische und historiographische Beiträge zum Umkreis der „Ideologie". Bd. 1. Münster 1989, 11-23.

Einleitung

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gründlicher Erkantniß einer jeden / insonderheit aber Der Teutschen Sprache, 1715; Grammatiken (einzelsprachlich): z.B. Christian Gueintz: Deutscher Sprachlehre Entwurf, 1641; Isaac Pölmann: Neuer hoochdeutscher Donat / Zum Grund gelegt der neuen hoochdeutschen Grammatik, 1671; Matthias von Erberg: Grammatica Alia Moda, 1703; Orthographie- und Schreiblehren: z.B. Rudolph Sattler: Teutsche Orthographey / Vnd Phraseologey, 1631; Gebhard Overheide: Fünff Bücher Der Edlen Schreib=Kunst, 1665; Wörterbücher und Sprachenharmonien: z.B. Martin Binnart: Biglotton Amplificatum sive Dictionarium Teutonico-Latinum Novum, 1683; Georg Leopold Ponat: Anleitung zur Harmonie der Sprachen, 1713; sprachhistorische Texte: z.B. Hermann Hugo: De prima scribendi origine, 1617; Johann Ludwig Prasch: Dissertatio de origine Germanica Latinae linguae, 1686; Jacob Friedrich Reimmann: Die ersten Linien von der Historia Literaria derer Teutschen, 1713; varietätenbezogene Texte: z.B. Bernhard Raupach: De Lingvae Saxoniae Inferioris Neglectu atq. Contemtu Injusto, 1704; sprachpflegerische/sprachkritische Texte, insbesondere aus dem Umkreis der Sprachgesellschaften: z.B. Christof Arnold: Kunst-spiegel / Darinnen die Hochteutsche Sprach nach ihrem merckwürdigen Vhraltertuhm / ersprießlichen Wachstuhm / vnd reich-völligen Eigentuhm / auf Fünfferlei Gestalten Denkzeitweis außgebildet, 1640; Johann Bellin: Etlicher der hoch-loblichen deutsch-gesinneten Genossenschaft Mitglieder wie auch anderer hoch-gelehrten Manner Sende-schreiben, 1647; Carl Gustav von Hille: Der Teutsche Palmbaum, 1647; Christoph Schorer: Newe außgeputzte Sprachposaun / An die Vnartigen Teutscher Sprach=Verderber, 1648; didaktische Texte: z.B. Elias Hutter: Künstlich New ABC Buch, 1593; [Wolfgang Ratke]: Anordnung der Schneistunden zu der Newen Lehrartt Ratichij, 1619; Johann Jacob Langjahr: Kurtzgefaßte Doch Grundliche Anleitung Zu Leichter Erlernung der Teutschen Sprache, 1657; u.a: Bella grammaticalia: z.B. Johannes Buno: Uralter Fußsteig Der Fabular und Bilder=Grammaric, Darauf zusehen I. Der Grammatic= Krieg / Zwischen dem Nomine und Verbo, 1650; rhetorische Texte: a) Rhetoriken: z.B. Johann Matthäus Meyfart: Teutsche Rhetorica oder Redekunst, 1634; Christian Weise: Politischer Redner, 1681;

Einleitung

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5

b) Sekretariatkünste: z.B. Samuel Butschky: Die Hochdeutsche Kantzeley, 1649; Kaspar Stieler: Teutsche Sekretariatkunst, 1681; c) Epistolographien: z.B. Abraham Sawr: Rethoric vnd Epistel Büchlein Deutsch vnd Lateinisch, 1593; Alhardus Möller: Praxis Epistolica, Wolfenbüttel 1663; d) Titularien: z.B. [Christian Hunold]: Teutsch= und Frantzosisches Titular-Buch, o.J.; e) Predigtlehren: z.B. Johann Hulsemann: Methodus Concionandi, 1648; Johann Eilmar: Neuer Kirchen= Redner, 1706; poetologische Texte: a) Poetiken: z.B. Siegmund von Birken: Teutsche Rede-bind und DichtKunst, 1679; Albrecht Christian Rotth: Vollständige Deutsche Poesie, 1688; b) Aeraria poetica, Florilegien u.a.: z.B. Christoph Lehmann: Florilegium Politicum, 1639; Michael Bergmann: Deutsches Aerarium Poeticum oder Poetische Schatzkammer, 1675; Johann Christoph Männling: Poetisches Lexicon, 1719; literarische, erbauende, unterhaltende Texte: z.B. Georg Philipp Harsdörffer: Nathan und Jotham: Das ist Geistliche und Weltliche Lehrgedichte / Zu sinnreicher Ausbildung der waaren Gottseligkeit / wie auch aller loblichen Sitten und Tugenden vorgestellet, 1650; Hanß Willmsen Rost: Veer Scherz Gedichte, 1653; Friedrich von Logau: Heutige WeltKunst, 1654; Enzyklopädien: z.B. Johann Heinrich Alsted: Scientiarvm Omnivm Encyclopaedia, 1649; Kommentare zu metasprachlichen Arbeiten von Sprachgelehrten: z.B. Albertus Grawerus u.a.: Bericht von der Didactica, Oder LehrKunst Wolfgangi Ratichij, [1614]; Andreas Daniel Habichthorst: Wohlgegründete Bedenkschrift über die Zesische Sonderbahre Ahrt Hochdeutsch zu Schreiben und zu Reden, 1678; philosophische Texte, Logiken: z.B. Joachim Jungius: Logica Hamburgensis, 1638; Justus Georg Schottelius: Ethica, 1669; Christian Thomasius: Einleitung zur Vemunftlehre, 1691; Vorworte zu Übersetzungen: z.B. Martin Opitz: Vorwort („An den Leser") zur Übersetzung von Senecas »Trojanerinnen«, 1625.

In den Texten werden viele der eingangs angerührten Themen frühneuzeitlicher Sprachreflexion miteinander verbunden. Typisch ist etwa der folgende

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Einleitung

Abschnitt aus der von Nicolaus Bassaeus verfaßten Vorrede zu Abraham Sawrs »Rethorica vnd Epistel Büchlein Deutsch vnd Lateinisch« (1593): Denn nicht allein in dem Menschlichen Leben vnnd Bürgerlicher beysammen wonung hochlich von noten / daß man recht / ordentlich / deutlich vnnd zierlich wisse zureden / eins auß dem ändern zuschließen / einem jeden ding seine geburende grosse / anzahl / proportz vnnd anders ordentlich zueygnen vnnd geben könne / Sondern dieweil die freyen Künste als Instrumenta / vermittelst welcher wir GOTTes Wort lernen vnnd lehren können / erfordert es die hohe notturfft / daß dieselbe widemmb erkläret / in rechtem Schwang vnd Brauch bracht wurden. Darumb dann die jenigen / so sich dieses fleisses nicht ohne grosse muhe vnnd arbeit vndemommen / vnnd etwas fruchtbarliches verrichtet / billich zu loben vnnd in grossem Werdt zu halten sind.10

Zunächst wird die Beherrschung der Sprache aus dem „Menschlichen Leben" selbst, aus der conditio Humana erklärt: Die Auffassung, die „menschliche Natur" sei, wie Kaspar Stieler in seiner »Sekretariatkunst« schreibt, „zur Geselligkeit von Geburt an geneigt" und die Rede demgemäß bedingt durch „euserste Noht und Unümgänglichkeit"11, ist in den Texten der Zeit weit verbreitet; sowohl John Locke - Sprache als „the great Instrument, and common Tye of Society" - als auch Leibniz - (in wörtlicher Übernahme von Locke:) Sprache als „le grand instrument et le lien commun de cette societe" - stellen sie an den Anfang ihrer jeweils ausführlichsten sprachphilosophischen Schrift.12 Über die Konstatierung von Allgemein-Menschlichem hinaus geht die Erwähnung „bürgerlicher beysammen wonung" als Grund für korrekte Sprachbeherrschung, hl der frühen Neuzeit nimmt diese „beysammen wonung" die Gestalt des territorialstaatlichen Absolutismus an. Ein jeder ist „ein glied dieses bürgerlichen Cörpers"13, und zu seinem Erhalt ist eine gut funktionierende Verwaltung mit entsprechendem Schriftverkehr notwendig. Sawr, der Verfasser der zitierten Rhetorik, war „Procurator" im Hessischen und hatte eben diesen Schriftverkehr vor Augen, als er sein Buch schrieb. Gegen Ende des Jahrhunderts ändert sich der Ton in den einschlägigen rhetorischen Textsorten: Nicht nur deshalb müsse man gut reden und schreiben können, um die übertragenen Aufgaben korrekt zu erfüllen, sondern um es im Leben zu etwas zu bringen; ,JOliie, Welt=kluge

10 11 12 13

A3rf. S. 50 u.S. 1. Locke: An Essay concerning Human Understanding, 1690; Leibniz: Nouveaux essais sur l'entendement humain, 1704, jeweils zu Beginn des 3. Buchs. Leibniz: Ermahnung an die Teutsche, ihren Verstand und Sprache besser zu üben, 1679, 798.

Einleitung

7

und hoffliche Leute"14 wissen, wie sie ihre Redegegenstände „Listig zu Marckte [bringen]"15, um sich „guten success"16 zu sichern. Die Rede selbst soll nach Bassaeus „recht / ordentlich / deutlich vnnd zierlich" sein. Hinter den deutschen Termini lassen sich Kategorien der antiken Grammatik und Rhetorik erkennen, wenn sie auch nicht ohne weiteres mit diesen identifiziert werden dürfen: latinilas, perspicuitas bzw. claritas und elegantia. Auch die Aufforderung, „eins auß dem ändern zuschließen", ist ,klassisch' in dem Sinne, als damit sowohl der stringente Aufbau der Rede aus den diversen Teilen - exordium, narratio, conclusio etc. bzw. basierend auf antecedens und consequens oder vergleichbaren Kategorien gemeint sein kann wie die Argumentation auf der Basis bestimmter Formen logischen Schließens (z.B. des Syllogismus). In Bassaeus' sich anschließender Forderung, man solle jedem Redegegenstand „seine gebürende grösse / anzahl / proportz vnnd anders ordentlich zueygnen", mag man die aptumLehre der Rhetorik erkennen, wonach vom Redegegenstand und seinen pragmatischen Bezugsgrößen Hörer bzw. Leser und Situation in der ihnen genau angemessenen Weise gesprochen bzw. geschrieben werden soll, mag aber auch einen Reflex des ordb-Denkens sehen, in diesem Falle die Unterscheidung von Wesen und Eigenschaften eines Gegenstandes: Um einen Gegenstand präzise zu beschreiben, müssen nicht nur seine Substanz, also der Gegenstand ,an sich', sondern auch seine Akzidenzien, Eigenschaften wie Größe, Anzahl, Relation etc. benannt werden. Der sich anschließende Hinweis auf die Freien Künste gehört in den Bereich des Bildungswesens, hier speziell der Sprachlehre (ars grammatica und rhetorica), während die Feststellung, die Sprachbeherrschung diene der Verbreitung von Gottes Wort, ein Topos zeitgenössischer Argumentation ist. Grundsätzlich wird im 17. Jahrhundert jede Art der Beschäftigung mit Sprache mehr oder weniger religiös begründet: Der Mystiker kann durch die lautorientierte Entschlüsselung muttersprachlicher Wörter letztlich göttliche Wahrheit finden, der Konstrukteur einer Universalsprache erhält mit seinem Produkt ein universales Medium der Mission und ein Instrument praktischer Irenik.

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15 16

Christian Thomasius: Christian Thomas eröffnet der studierenden Jugend einen Vorschlag / Wie er einen jungen Menschen / der sich ernstlich furgesetzt / GOtt und der Welt dermahleins in vita civili rechtschaffen zu dienen / und als ein honnet und galant homme zu leben / binnen dreyer Jahre Frist in der Philosophie und singulis Jurisprudentiaepartibus zu informiisn gesonnen sey, 1701, 257. Christian Weise: Neu=Erleuterter Politischer Redner, 1684, 218. Ebd., 22.

8

Einleitung

Auch Bassaeus' abschließende Bemerkung, die Verfasser solcher sprachpraktischen Schriften seien „in großem Wert zu halten", begegnet immer wieder. Sprachlehrer und -gelehrte sichern mit der deutschen Sprache ein nationales Gut, tragen, so Fürst Ludwig, zur „erbauung wolanstandiger Sitten" bei17, halten, nach Harsdörffer, die Jugend von „unnutzen und müssigen Gedancken" ab18, dienen ferner dem Fürsten, da, so Töllner, „das Regiment [...] durch den rechten Gebrauch der Schreibfeder am besten erhalten und fortgefuhret werden" kann19, und garantieren seinen Nachruhm, denn, dies stellt Moscherosch fest, „Fürsten vnd Herren sind nach ihrem Tode nichts wann die Feder nicht will / vnd alles was sie nach dem Leben sind das haben sie von der Feder / vnd denen die solche fuhren"20. Diese Verbindung unterschiedlicher sprachreflektierender Themen in ein und demselben Text - bei Bassaeus sprachphilosophische, -historische, -praktisch-rhetorische, religiöse und soziologische - hat für eine systematische, d.h. an eben diesen Themen ausgerichtete Untersuchung zur Folge, daß nur selten einzelne Texte geschlossen diskutiert werden, in der Regel dagegen das Quellencorpus auf bestimmte Themen abgefragt wird. Die weitgehende räumliche Eingrenzung der Corpustexte auf Deutschland bedeutet eher die Konzentration auf einen Kulturraum als auf ein Sprachgebiet. Exakter wäre die Formulierung ,vorwiegend Texte in Deutschland lebender oder wirkender Autoren'. Dies sind in Barock und Frühaufklärung insbesondere deutschsprachige Texte - nicht zuletzt deshalb, weil die Verwendung des Deutschen ein kulturpolitisches Anliegen vieler Autoren war -, selbstverständlich aber auch lateinische, in seltenen Fällen französische Texte. Daß es im 17. Jahrhundert grundsätzlich möglich ist, so etwas wie nationale Spezifika der Sprachreflexion im europäischen Raum zu unterscheiden, steht aus zwei Gründen außer Frage: Zum einen ist die mit dem Humanismus einsetzende Beschäftigung mit der Muttersprache zu großen Teilen patriotisch motiviert, zum anderen haben sich, oft über lange Zeiträume, in den einzelnen Ländern bestimmte geistesgeschichtliche Traditionen herausgebildet, die insgesamt das metasprachliche Schrifttum eines Landes prägen. Trotz aller Überschneidungen und Variationen ist es daher sicherlich nicht falsch, den Empirismus in der Sprachreflexion des 17. 17 18 19 20

Ludwig von Anhalt-Köthen: Der Fruchtbringenden Gesellschaft Nahmen / Vorhaben / Gemahlde und Worter, 1646, 2. Georg Philipp Harsdörffer: Schutzschrift für die Teütsche Spracharbeit, 1644, 394. Justinus Töllner: Deutlicher Unterricht Von der Orthographie Der Teutschen, 1718, Zuschrift, 3V. Johann Michael Moscherosch: Visiones de Don de Quevedo. Das ist: Wunderliche Satyrische vnd Warhafftige Gesichte Philanders von Sittewalt, 1645, 625.

Einleitung

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Jahrhunderts besonders markant in England, in den Arbeiten einiger Autoren aus dem Umkreis der Royal Society vertreten zu sehen, den Rationalismus im Frankreich Descartes' und seiner Anhänger und die Mystik in Deutschland, wo sie vielleicht nicht die „geistige Mitte"21 des Zeitalters bildet, aber doch ausgesprochen einflußreich ist.22 Dem nationalen Element in der Sprachreflexion des 17. Jahrhunderts steht ein europäisches gegenüber, das sich zum einen aus der Rezeption metasprachlicher Werke über die Grenzen einzelner Sprach- und Kulturräume hinweg ergibt - Texte von der Art wie Julius Cäsar Scaligers »De causis linguae Latinae« (1540) und »Poetices libri septem« (1561) waren in ganz Europa von kaum zu überschätzendem Einfluß -, zum anderen aus der Tatsache, daß einzelne Gelehrte gelegentlich in mehr als einem dieser Räume präsent waren. Beides ist zunehmend dort der Fall, wo die sprachtheoretische Fragestellung universalistischer Natur ist, wie das Werk des Johann Comenius eindrucksvoll zeigt. Sein »Orbis sensualium pictus« (1658) etwa, eine bebilderte und kommentierte Darstellung „Aller vornehmsten Weltdinge und Lebensverrichtungen", erlebt bereits im Laufe des 17. Jahrhunderts eine beeindruckende Anzahl von Ausgaben: 54 lateinische, 39 deutsche, 8 madjarische, 7 schwedische, 6 englische, 6 französische, 4 Zipser, 3 italienische, 3 polnische, 2 dänische, 2 slowakische, l litauische, l niederländische.23 Nach der Erläuterung des Gegenstandes und des Raumes bleibt die Bestimmung des zeitlichen und geistesgeschichtlichen Rahmens. In der vorliegenden Untersuchung wird unter „Barock" und „Frühaufklärung" in etwa die Zeit zwischen 1600 und 1720 verstanden. Die Wende zum 17. Jahrhundert als untere Grenze für die Auswahl des Gros der Quellen festzusetzen, erlaubt die Berücksichtigung zentraler Züge der frühneuzeitlichen Sprachreflexion, insbesondere in jenen Bereichen, deren Gegenstand speziell die deutsche Sprache ist. Die gelehrt-humanistische Hinwendung zum Deutschen, seine Aufwertung zur literaturfähigen Kultursprache erlebt mit Martin Opitz' »Aristarchus« von 1617 und seiner Poetik von 1624 einen ersten Höhepunkt. Diese Entwicklung setzt sich in zahlreichen apologeti21 22 23

So noch Karl Victor: Vom Stil und Geist der deutschen Barockdichtung (1926). In: Richard Alewyn (Hrsg.): Deutsche Barockforschung. Köln u. Berlin 1965, 39-74. Vgl. G. A. Padleys Bemerkung von den „national themes" in der frühneu/eitlichen Sprachtheorie; in: Grammatical Theory in Western Europe 1500 - 1700. Trends in Vernacular Grammar I. Cambridge 1985, 383f. Bis 1967 waren 215 lateinische, 179 deutsche, 53 französische etc. erschienen. Nach: Johann Amos Comenius: Die Ausgaben des Orbis Sensualium Pictus. Eine Bibliographie. Bearb. v. K. Pilz. Nürnberg 1967.

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sehen Schriften der folgenden Jahrzehnte fort, schlägt sich in der deutschsprachigen Literaturproduktion praktisch nieder, wird in den Sprachgesellschaften - deren erste und wichtigste ebenfalls bereits 1617 gegründet wurde - institutionalisiert und prägt ganz allgemein die Reflexion über das Deutsche in diesem Jahrhundert. Nur wenige Jahre nach der Wende zum 17. Jahrhundert erscheinen auch die Arbeiten Wolfgang Ratkes, die, in ihrer eigentümlichen Methodik dem Werk Pierre de la Ramees verpflichtet, seinen Anhängern Helwig, Jung und Finck in Ansätzen Grundlagen für universalgrammatische Überlegungen bieten und gleichzeitig in ihrer pädagogischen Orientierung einen ganz spezifischen Beitrag zur frühneuzeitlichen Sprachreflexion liefern. Auch die Werke Jakob Böhmes erscheinen zum Teil kurz nach der Jahrhundertwende; sie einzubeziehen, ist für eine Untersuchung frühneuzeitlicher Sprachreflexion unabdingbar. Je mehr sich schließlich das Erscheinungsdatum der Quellentexte der Wende zum 18. Jahrhundert nähert, desto deutlicher wird, wie die für den Barock charakteristische Verknüpfung sprachbezogener, religiöser, nationalistischer und moralisch-ethischer Argumente einer pragmatischen (Christian Thomasius) bis prudentistischen (Christian Weise) Haltung weicht. Wenn bei Thomasius frühaufklärerisches Gedankengut schon unübersehbar ist, ist es im Werk von Gottfried Wilhelm Leibniz bereits prägend. Seine Überlegungen zur Sprache ausschließlich dem rationalistischeren 18. Jahrhundert zuzuordnen, bedürfte angesichts solch logisch-universalistischer Schriften wie der »Characteristica universalis« oder dem »Specimen calculi universalis« kaum einer Begründung24, doch läßt sich der Sprachhistoriker Leibniz andererseits in eine Tradition stellen, die ihn durchaus mit einem Schottelius verbindet - wenngleich die Unterschiede im Niveau der Argumentation nicht zu übersehen sind -, und auch die Überlegungen der Sprachmystik sind Leibniz vertraut. Insgesamt bietet sich sein Werk in idealer Weise an, das Quellencorpus im großen und ganzen zeitlich abzuschließen, weil es erkennen läßt, welche der sprachreflexiven Strömungen des Barock im aufgeklärten 18. Jahrhundert noch und auf welche Weise Bestand haben. Intellektuell ist Leibniz seinen Zeitgenossen zum Teil um Jahrzehnte voraus und vermag im Bereich der Sprachreflexion seinen frühaufklärerischen Rationalismus mit dem Begriff von Sprache als historischkultureller Größe zu verbinden, vermag zudem patriotisch zu sein, ohne 24

In Band 13 der von T. A. Sebeok herausgegebenen »Current Trends in Linguistics« etwa wird Leibniz in dem Artikel über das 18., nicht in dem über das 17. Jahrhundert behandelt. Daß dies jedoch nicht selbstverständlich ist, zeigt die Formulierung des Titels: „The Eighteenth Century, Including Leibniz".

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gleichzeitig die Landessprache seiner westlichen Nachbarn als „verkrüppeltes Latein" deklassieren zu müssen oder die Vorzüge des Deutschen dadurch vor Augen zu fuhren, daß er dessen Stammwörter als „alte / ansehnliche / breit= und knabelbartige Männer" charakterisiert und ihnen „eiserne Schuh und kieselsteinerne Füsse" andichtet.25 Da der größere Teil der hier herangezogenen Quellen der Zeit des Barock entstammt, sei abschließend ein Blick auf den Barockbegriff selbst geworfen, auch deshalb, weil er in den Philologien einer der umstrittensten Epochenbegriffe überhaupt ist.26 Seit Heinrich Wölfflin 1888 vom Barock nicht mehr nur in bezug auf Kunststile, sondern auch auf Literatur sprach, reißen die Versuche zur Begriffsbestimmung nicht mehr ab.27 Von Anfang an drehte sich die Diskussion auch um Fragen der sprachlichen Form. Noch vor Wölfflin hatte Friedrich Nietzsche »Vom Barockstile« geschrieben und ihn als eine Art Endzeitstil charakterisiert, der Jedesmal beim Abblühen 25

26 27

Eben dies tut Schottelius in seinem »Horrendum Bellum Grammaticale«, wenn auch im Ton wohl nicht so ganz ernst gemeint, da die bella grammaticalia eine unterhaltend-didaktische Gattung sind. In der Sache aber trifft diese Beschreibung der Stammwörter genau Schottelius' Vorstellung, bedenkt man, was er in anderen Texten über sie schreibt. - Das erste Zitat findet sich in Georg Neumarks »Teutschem Palmbaum«. Auch unter dem Aspekt der Periodisierung lohnt sich ein Blick in Barner 1970. Heinrich Wölfflin: Renaissance und Barock. München 1888. - Zu Periodisierungsfragen mit speziellem Bezug auf den Barock s. die Aufsätze von E. Engelbert, W. Dietze, H. Stolpe, W. Bahner und R. Weimann in dem von W. Bahner herausgegebenen Sammelband »Renaissance - Barock - Aufklärung«, Kronberg 1976. H. Steinhagen stellt als mögliche Epochengrenzen die Daten 1570, 1617, 1624, 1700, das Auftreten Gottscheds bzw. das Auftreten Klopstocks vor, in: Dichtung, Poetik und Geschichte im 17. Jahrhundert. In: H. Steinhagen u. B. v. Wiese (Hrsg.): Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Berlin 1984, 9-48. - Zur Bestimmung des Barockbegriffs sowie zur Darstellung der Geschichte der Bestimmungsversuche s. den bereits erwähnten Sammelband W. Bahners sowie diese Arbeiten: H. Tintelnot: Zur Gewinnung unserer Barockbegriffe. In: R. Stamm (Hrsg.): Die Kunstformen des Barockzeitalters. Bern 1956; R. Alewyn (Hrsg.): Deutsche Barockforschung. Köln u. Berlin 1965; M. Brauneck: Barockforschung. Ein Literaturbericht (1962-1967). In: Das 17. Jahrhundert in neuer Sicht. In: Wirkendes Wort. Beiheft l zu Jg. 2, 1969, 93-120; W. Bamer: Barockrhetorik. Tübingen 1970; Ders.: Stilbegriffe und ihre Grenzen. Am Beispiel „Barock". In: Deutsche Vierteljahresschrift, 45, 1971, 302ff; Ders. (Hrsg.): Der literarische Barockbegriff. Darmstadt 1975; R. Wellek: Der Barockbegriff in der Literaturwissenschaft. In: ders.: Grundbegriffe der Literaturkritik. 2. Aufl. Stuttgart etc. 1971; H. H. Müller: Barockforschung: Ideologie und Methode. Ein Kapitel deutscher Wissenschaftsgeschichte 1870-1930. Darmstadt 1973; Schulz-Buschhaus, U.: Gattungsmischung - Gattungskombination - Gattungsnivellierung. Überlegungen zum Gebrauch des literarhistorischen Epochenbegriffs »Barock«. In: H. U. Gumbrecht u. U. Link-Heer (Hrsg.), unter Mitarbeit v. F. Hassauer u. a.: Epochenschwellen und Epockenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Frankfurt 1985, 213-233.

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jeder grossen Kunst [entsteht], wenn die Anforderungen in der Kunst des classischen Ausdrucks allzugross geworden sind".28 Damit wird der dionysische Barockstil dem apollinischen Stil der Klassik gegenübergestellt29, eine Differenzierung, die in der Manierismusdebatte erneut begegnet.30 Zwar war Ernst Robert Curtius' Vorschlag, die Bezeichnung „Barock" durch „Manierismus" zu ersetzen31, kein Erfolg beschieden, doch ist die grundsätzliche Identifizierung von Barock mit ,manieristisch', ,schwülstig', .überladen' geradezu ein Kennzeichen der Barock-Diskussion, und dies bereits seit dem 18. Jahrhundert. Goethes Beschreibung barocker Kunst etwa enthält all jene Aspekte, die auch an der Literatursprache dieser Epoche kritisiert wurden: Verfall. Begriff von Eindruck ohne Sinn für Charackter. Sinn für Pracht und Größe. Gemeines Erstaunen zu erregen. Menge der Säulen. Gegenwart aller Manigfaltigkeit. Daraus wird Zierrath als Zierrath. Verlust des Gefühls des schicklichen. Mangel an Ficktion. Zuflucht zum Gegensatz zum Sonderbaren zum Unschicklichen.32

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Friedrich Nietzsche: Werke. 19 Bde. Leipzig 1903ff. Bd. 3, 77. S. dazu Bamer 1970, 3ff. Zum Begriff des Barockstils und zum Manierismus s.: K. 0. Conrady: Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts. Bonn 1962; C. Wiedemann: Johann Klaj und seine Redeoratorien. Nürnberg 1966; H.-J. Schings: Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius. Untersuchungen zu den Dissertationes funebres und Trauerspielen. Köln u. Graz 1966; L. Fischer: Gebundene Rede. Dichtung und Rhetorik in der literarischen Theorie des Barock in Deutschland. Tübingen 1968; J. Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. 2. Aufl. Bad Homburg, Berlin u. Zürich 1969; ders.: Barocksprache, Systemdenken, Staatsmentalität. Perspektiven der Forschung nach Barners „Barockrhetorik". In: Dokumente des internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur, Wolfenbüttel 1973, 21-51; H.-J. Lange: Aemulatio veterum sive de optimo genere dicendi. Die Entstehung des Barockstils im XVI. Jahrhundert durch eine Geschmacksverschiebung in Richtung der Stile des manieristischen Typs. Bern u. Frankfurt 1974; V. Sinemus: Poetik und Rhetorik im frühmodernen Staat. Sozialgeschichtliche Bedingungen des Normenwandels im 17. Jahrhundert. Göttingen 1978; W. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982. Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948). 10. Aufl. Bern u. München 1984. Weimarer Ausgabe, Bd. 47, S. 330. - Ein Kommentar zu dieser Stelle findet sich in Barner 1970, 16f.

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In seinem vielzitierten Aufsatz über den lyrischen Stil des 17. Jahrhunderts hatte Fritz Strich 1916 versucht, diese so oft bemängelten Eigenschaften der Barocksprache eher positiv zu bewerten33, doch konnten solche Versuche der Rehabilitierung nichts am grundsätzlichen Tenor der Kritik ändern. Schon früh verband sich der Vorwurf des Schwülstigen mit einer Kritik am Rhetorischen - den .rhetorischen Grundzug der Zeit' konstatierten bereits Günther Müller und Wolfgang Kayser34 -, wobei jedoch das Verhältnis zwischen Rhetorik und Manierismus und ihr Bezug zum Begriff des Barock völlig unterschiedlich beurteilt wurden. So läßt sich das Manieristische als ,typisch barock' bewerten - eine solche Charakterisierung klingt ex negative in Richard Alewyns Beschreibung der Zeit von Opitz als „vorbarockem Klassizismus" an35 - oder aber die Werke eines Marino in Italien, eines Gongora in Spanien oder ihrer deutschen Dichterkollegen werden, gerade weil sie manieristisch sind, dem Barock entgegengesetzt. Auch werden ,rhetorisch' und ,manieristisch' gegenübergestellt, wie Gustav Rene Hocke dies tut, dem der Barock als rhetorisch, der Manierismus als „anti-rhetorisch" gilt.36 Auf die Einzelheiten solcher Zuordnungen und Begriffsbestimmungen soll hier nicht eingegangen werden, festzuhalten bleibt der Tenor der Kritik barocker Sprache: Einerseits wird das Rhetorische im Sinne des nur Handwerklichen, Mechanistisch-Technischen, stupide an der Regel Orientierten kritisiert, andererseits das Manieristische als das stilistisch Überbordende, obsessiv Dekorative. Beiden Linien der Kritik liegt letztlich der Vorwurf zugrunde, barocke Sprache sei - ob aufgrund gedankenloser Regelbefolgung oder unverbindlicher Virtuosität - nur dem Äußerlichen verpflichtet, sei jedoch nie getragen von wahrer Empfindung, sei nie Ausdruck bewegter Innerlichkeit, da die starke Konzentration auf das Formale eine unverstellte sprachliche Umsetzung des auktorialen Aussagewillens verhindere. Trotz der wesentlich sachlicheren Auseinandersetzung mit dem Barock in den letzten Jahren, insbesondere über die Poetik und Rhetorik, trotz des 33 34

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Wiederabdruck in: Bamer 1975, 32-71. G. Müller z.B. in: Deutsche Dichtung von der Renaissance bis zum Ausgang des Barock (1928). Nachdruck Darmstadt 1957; Wolfgang Kayser in: Die Klangmalerei bei Harsdörffer. Ein Beitrag zur Geschichte der Literatur, Poetik und Sprachgeschichte der Barockzeit (1932). Nachdruck Göttingen 1962. Das zweite Kapitel des Buches, »Der rhetorische Grundzug von Harsdörffers Zeit und die gattungsgebundene Haltung«, ist in Bamer 1975 enthalten. Vorbarocker Klassizismus und griechische Tragödie. Analyse der „Antigone''-Übersetzung des Martin Opitz (1926). Nachdruck Darmstadt 1962. Gustav Rene Hocke: Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchimie und esoterische Kombinationskunst. Reinbek 1959.

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mittlerweile erreichten Konsenses, der Barockliteratur nicht mehr vorwurfsvoll die Erlebnisdichtung späterer Zeiten entgegenzuhalten, scheint doch gelegentlich ein bestimmtes Maß an Polemik und Ablehnung unterschwellig fortzubestehen. Nun könnte man die nach wie vor erkennbare Heterogenität der Urteile über den Barock schlicht mit dem geistes- und kulturgeschichtlich ausgesprochen heterogenen Charakter der Epoche selbst erklären, und das Antithetische des Barock als sein eigentliches Merkmal zu bestimmen, gehörte in der Tat zum Repertoire früherer Barockforschung.37 Es wäre nicht schwer, die Spannungsfelder der Zeit zu benennen. Man müßte auf die Folgen von Reformation und Gegenreformation hinweisen, die schon lange nicht mehr nur theologischer Natur waren und gerade in Deutschland im Verbund mit machtpolitischen Interessen die verheerendsten Auswirkungen hatten; die Klagen über die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges, der das „arme Vaterland", einstmals „grosser Volker Hauß / grosser Schatze Kammer | Hochberuhmter Helden Ort / aller Tugend Schoß" nun „voller Noht und Jammer"38 zurückgelassen hat, durchziehen nicht nur die Dichtung, sondern auch die Schriften der Sprachgelehrten. Im gleichen Atemzug zu nennen wäre die endgültige Beseitigung alter feudaler Strukturen zugunsten des territorialstaatlichen Absolutismus und einer Kapitalisierung der Wirtschaft39, mit all ihren gesellschaftlichen Konsequenzen, auch natürlich für die nobilitas literaria der Zeit.40 Die Naturwissenschaften profitieren vermehrt von den Möglichkeiten voraussetzungslosen, experimentellen Forschens.41 Das mechanistische, sich der Regeln ei37 38 39

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Vgl. etwa A. Hübscher: Barock als Gestaltung antithetischen Lebensgefiihls. In: Euphorien, 24, 1922, 517ff. u. 759ff. Carl Gustav von Hille: Der Teutsche Palmbaum: Das ist / Lobschrift Von der Hochloblichen Fruchtbringenden Gesellschaft [...], 1647. Zu den Bezügen zwischen Religion bzw. Konfession und Ökonomie in der frühen Neuzeit sind nach wie vor die Arbeiten Max Webers relevant; s. insbesondere: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/1905). In: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. 5. Aufl. Bd. 1. Tübingen 1963. Gerade zur Stellung des Gelehrten im 17. Jahrhundert sind in den vergangenen Jahren zahlreiche Forschungsarbeiten erschienen. Einzelheiten und Literaturangaben in Kühlmann 1982; s. aber auch: A. Martine: Barockpoesie, Publikum und Verbürgerlichung der literarischen Intelligenz. Buchproduktion und literarisches Publikum im 17. Jahrhundert. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, l, 1976, 107-145; E. Trunz: Johann Matthäus Meyfart: Theologe und Schriftsteller in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. München 1987; nach wie vor vermittelt einen guten, knappen Überblick: E. Trunz: Der deutsche Späthumanismus um 1600 als Standeskultur (l932). In: Alewyn 1968, 147-181. Zur Entwicklung der neuzeitlichen Naturwissenschaften, ihren geistesgeschichtlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen: F. Dannemann: Die Naturwissenschaften in ihrer Entwicklung und in ihrem Zusammenhange. Bd. 2: Von Galilei bis zur Mitte des

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ner alle Wirklichkeitsbereiche erfassenden mathesis universalis bedienende Denken verliert seine mystische Verbrämung, die es in Raimundus Lullus' »Ars combinatoria« aus dem 13. Jahrhundert und den in dieser Traditon stehenden Werken noch besitzt, und wird zum Kennzeichen des Cartesianismus und anderer Spielarten des Rationalismus, wenn auch in Deutschland konsequent erst im 18. Jahrhundert.42 Die wissenschaftlichen Methoden erlauben einen präzisen Zugriff auf die Phänomene der Wirklichkeit, und Galileis Diktum von der Natur als einem in mathematischer Sprache geschriebenen Buch ist typisch für den schon säkulareren Geist der Zeit. Aus dermaßen tiefgreifenden Veränderungen resultiert Verunsicherung; auf sie sind die unterschiedlichsten Reaktionen denkbar. Der vanitasGedanke des Barock könnte als unmittelbarer Niederschlag eben dieser Verunsicherung gewertet werden und der oA-do-Gedanke43 - sogar der ge-

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XVIII. Jahrhunderts. Leipzig 1911; F. Borkenau: Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte der Philosophie der Manufakturperiode. Paris 1934; L. S. Feuer: The Scientific Intellectual. The Psychological and Sociological Origins of Modern Science. New York u. London 1963; M. Boas: Die Renaissance der Naturwissenschaften 1450-1630. Das Zeitalter des Kopernikus. Gütersloh 1965; H. Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt 1966; E. Burtt: The Metaphysical Foundations of Modem Physical Science. London 1967; A. Hall: The Scientific Revolution 1500-1800. The Formation of the Modem Scientific Attitude. London 1967; C. Webster: The Great Instauration. Science, Medicine and Reform 1626-1660. London 1975; G. Böhme u.a.: Experimentelle Philosophie. Ursprünge autonomer Wissenschaftsentwicklung. Frankfurt 1977; R. S. Westman u. James Mc.Guire (Hrsg.): Hermeticism and the Scientific Revolution. Los Angeles 1977; E. J. Dijksterhus: Die Mechanisierung des Weltbildes. 2. Aufl. Berlin etc. 1978; M. Heidelberger u. S. Thiessen: Natur und Erfahrung. Von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen Naturwissenschaft. Reinbek 1981. Aus der reichhaltigen Fachliteratur sei hier erwähnt: E. Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 1932; H. Grossmann. Die gesellschaftlichen Grundlagen der mechanistischen Philosophie und die Manufaktur. In: Zeitschrift für Sozialforschung, 4, 1935, 161-231; H. Schöffler: Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung. Von Martin Opitz zu Christian Wolff. Frankfurt 1956; A. Maier: Studien zur Naturphilosophie der Spätscholastik. Bd. 5: Zwischen Philosophie und Mechanik. Rom 1958; H. Wolff: Die Weltanschauung der deutschen Aufklärung in geschichtlicher Entwicklung. 2. Aufl. Bern u. München 1963; W. Rod (Hrsg.): Geschichte der Philosophie. 12 Bde. Bde. VII u. VIII: W. Rod: Die Philosophie der Neuzeit l u. 2. München 1978 u. 1984.; Ders.: Descartes. Die Genese des Cartesianischen Rationalismus. 2. Aufl. München 1982; P. Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart 1981, insbes. Kap. 1-3; S. Wollgast: Philosophie in Deutschland 1550-1650. Berlin 1988. Bezeichnend für die Barockforschung ist K. O. Conradys Gegenüberstellung zweier Aufsätze von Fritz Strich und Erich Trunz, in denen ersterer den Barock prinzipiell über den vanitas-Begnff, letzterer ebenso prinzipiell über den o/tfo-Begriff definiert. Bei den Aufsätzen handelt es sich um: F. Strich: Der europäische Barock. In: Ders.: Der Dichter und die Zeit. Bern 1947, 71 ff.; E. Trunz: Weltbild und Dichtung im deutschen Barock. In: Ders.: Aus der Welt des Barock. Stuttgart 1957.

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samte Stoizismus der Zeit, wie er in Justus Lipsius' »De constantia« von 1584 programmatisch formuliert wird - als Versuch, dem ständig Ungewissen und Wandelbaren ein Definitives entgegenzusetzen. Dazu gehört die genaue Untergliederung der Welt in Makro- und Mikrokosmos, gleichzeitig die Suche nach den Gesetzen einer alle individuellen Gegebenheiten durchdringenden „inneren Gleichförmigkeit", wie es bei den Ratichianern bzw. nach einer „harmonia universalis", wie es bei Comenius heißt. H. Steinhagen verdeutlicht die Reaktion auf die großen Veränderungen am Beispiel von Absolutismus und Barockliteratur: In beiden Sphären wird nichts Ungeregeltes, nichts partikular Selbständiges, nichts Individuelles und Ungebändigtes geduldet; alles ist dem einen herrscherlichen Willen sei es des absoluten Souveräns, sei es des Künstlers unterworfen und muß sich der von ihm gewollten Ordnung fügen.44

Denn nur eine solche Ordnung ermöglicht angesichts der durch das Wirken Fortunas unberechenbar gewordenen Welt „eine neue, dauerhafte Verläßlichkeit".45 Nun mag man versucht sein, solche Korrelationen zwischen Sozialgeschichte, Geistesgeschichte und Kulturgeschichte auch auf den Bereich der Sprachreflexion zu übertragen und z.B. die Klage über den Sprachverfall als Ausdruck des vawtas-Gedankens zu bewerten oder den orufo-Gedanken im Bereich der Grammatik als Streben nach „Grundrichtigkeit", d.h. nach grammatischer Stimmigkeit auf der Basis genauer Regelbefolgung46, im Bereich der Zeichentheorie etwa als systematische Zuordnung von Gegenständen der Wirklichkeit zu sprachlichen Einheiten im Rahmen der hierarchisch aufgebauten Universalsprachkonzepte gespiegelt zu sehen. Solche Zuordnungen sind immer gewagt. Im vorliegenden Fall etwa ließe sich einwenden, daß die Klage über den Sprachverfall wohl so alt ist wie die Reflexion über Sprache selbst und bereits in der klassischen Rhetorik topisch ist und daß auch der ordo-Gedanke als sprachwissenschaftliches Konzept schon zuvor präsent war: In der Grammatik ist er bereits in der antiken Forderung nach einer Sprachverwendung unter Berücksichtigung des Ordnungskonzeptes der latinitas und der ihr zugeordneten analogia gegeben, und ansonsten mag man darauf verweisen, daß die Vorstellung einer wohlgeordneten Welt alles andere als eine Errungenschaft der Neuzeit ist. Ande44 45 46

In: Steinhagen 1984, 22f. Ebd., 23. „Grundrichtigkeit" beinhaltet mehr als nur grammatische Regelgemäßheit, doch ist dies an dieser Stelle nicht von Bedeutung; der Begriff wird an anderer Stelle eingehend besprochen.

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rerseits ist nicht zu leugnen, daß weite Bereiche barocker Sprachreflexion in der Tat von einem Wunsch nach Bewahrung des Bestehenden, genauer: nach Festschreibung einer in ihrer äußeren Form noch zu etablierenden, in ihrem ,Wesen' aber schon von altersher gegebenen, einheitlichen deutschen Hochsprache getragen sind. Die lexikalisch-grammatische Struktur dieses allgemein verbindlichen Deutschen mag für manche Sprachgelehrte zwar zum Teil im Rückgriff auf den tatsächlichen Gebrauch entwickelt werden, doch wird mit dem Gebrauchsfaktor keineswegs der Sprachwandel als selbstverständlicher Bestandteil der Sprachwirklichkeit akzeptiert, so daß der sprachstrukturelle ordo zumindest idealiter als unverbrüchlich gesehen wird. Zu leugnen ist ebenfalls nicht, daß bei zahlreichen Sprachgelehrten hinter dem sprachstrukturellen ordo ein zweites, das Verhältnis zwischen Lexikon und Wirklichkeit betreffendes Ordnungsprinzip mit geradezu erkenntnistheoretischem Anspruch angesetzt wird: Im Idealfalle erlauben die Wörter des Deutschen einen exakten Zugriff auf die Gegenstände der Wirklichkeit eben dadurch, daß einerseits die Wirklichkeit in sich wohlgeordnet ist, andererseits das Wort aufgrund eines rational nicht vollends nachvollziehbaren Motiviertseins den betreffenden Gegenstand eben so zu benennen vermag, wie es dessen Wesen entspricht. Die in dieser Hinsicht vollkommene Sprache enthält genau so viele Wörter bzw. deren Derivate und Komposita, wie es Gegenstände der Wirklichkeit gibt, und ist in dieser Kongruenz mit der Wirklichkeit vom gleichen Ordnungsprinzip durchdrungen. Insgesamt fallt auf, daß zumindest in den beiden ersten Dritteln des 17. Jahrhunderts das konservative Moment in der Sprachreflexion dominiert, wirklich umfassende Neuerungen kündigen sich in Deutschland erst gegen Ende des Jahrhunderts an, sei es in Richtung einer Pragmarisierung der Forderungen an korrekte Sprachverwendung, sei es in Richtung einer Logifizierung der Kunstsprachendiskussion. Die Frage aber, ob man den Barock, wie gelegentlich in der Forschung geschehen, daher eher dem Mittelalter als der Neuzeit zuordnen sollte, ist damit noch keineswegs beantwortet, da die gelegentlich „forcierte"47 Art und Weise, wie im 17. Jahrhundert an traditio47

Der Ausdruck ist H. Steinhagen entliehen, der diese Frage so beantwortet: „Wozu man die Barockepoche zu rechnen hat, ob zum Mittelalter oder zur frühen Neuzeit, auch darauf hat die Forschung noch keine endgültige Antwort gefunden, obwohl man eigentlich nicht so recht begreift, warum diese Frage noch offen sein kann, da doch die vorausgehende Renaissance dem üblichen Geschichtsverständnis nach eindeutig den Beginn der Neuzeit markiert. Das 17. Jahrhundert müßte dann eine Art Neumittelalter sein, und in der Tat gibt es in bestimmten Zweigen der Forschung eine unübersehbare Tendenz, es so einzuschätzen: es als die letzte intakte Epoche dem großen abendländischen, aus antiken und christlichen Quellen gespeisten Universum des Mittelalters mit

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nellen Inhalten und Formen festgehalten wird, die Selbstverständlichkeit vermissen läßt, mit der diese Formen und Inhalte in der Sprachreflexion früherer Zeiten aufgehoben waren, und eben darin mag man einen Beleg für den Umbruchcharakter der Barockepoche zur Neuzeit hin erkennen.

seiner objektiven Denkweise und seiner geschlossenen, hierarchisch gegliederten Weltund Gesellschaftsordnung zuzuschlagen, dessen Auflösung durch Säkularisierung angeblich erst mit der beginnenden Aufklärung einsetzt. Gleichwohl ist zu bezweifeln, daß diese Perspektive geschichtlich zutrifft. Die Barockepoche ist vermutlich nicht die letzte intakte, geschlossene Epoche der abendländischen Kultur mit einer einheitlichen Weltauffassung und einem einheitlichen Stil, sondern viel eher eine Epoche des Übergangs, der Krisen und Umwälzungen, mag das auch in der Literatur nur sehr vermittelt zum Ausdruck kommen, etwa in dem sehr forcierten Festhalten an alten Traditionen, Normen und Ordnungsvorstellungen, deren faktischer Verfall sich eben darin bekundet." In: Steinhagen 1984, 15f.

I. Sprache, Denken und Wirklichkeit

l. Grundzüge und die Problematik ihrer Unterscheidung Die Diskussion über den Komplex Sprache-Denken-Wirklichkeit im Deutschland von Barock und Frühaufklärung bietet ein Spektrum unterschiedlicher Positionen, als dessen begrenzende Pole sich diese sprachtheoretischen Auffassungen erweisen: eine auf die Einzel-, genauer: die Muttersprache bezogene, die von der transzendenten Motiviertheit des Zeichens, d.h. einer auf Göttliches verweisenden Entsprechung von Sprache und Wirklichkeit ausgeht und in der Sprachmystik ihre extremste Ausprägung erfährt, sowie eine rational-universalistische, auf die Eigenschaften und Möglichkeiten von Sprache schlechthin zielende, welche den Arbitraritätsgedanken mit all seinen zeichentheoretischen Konsequenzen favorisiert und sich am Exaktheitsideal der Mathematik und der aufkommenden Naturwissenschaften orientiert. Es handelt sich demnach um zwei verschiedene Linien hinsichtlich des Gegenstandes der Sprachbetrachtung als auch um zwei unterschiedliche Verfahren zu seiner Erschließung; ein universalistischer Ansatz steht einem einzelsprachlichen gegenüber und ein dem rationalen Diskurs verpflichteter einem auf Argumentationsverfahren und -inhalte zurückgreifenden Ansatz, wie sie im Umkreis der Sprachmystik üblich sind. Damit sind jedoch lediglich die extremen Pole des Spektrums der zeitgenössischen Sprachreflexion benannt; zwischen ihnen läßt sich eine Fülle sprachtheoretischer Erscheinungen unterscheiden. Die im Kontext des 17. und frühen 18. Jahrhunderts wichtigsten werden in der vorliegenden Untersuchung zu einer dritten Linie der Sprachreflexion zusammengefaßt und mit der Bezeichnung ontologisierend-patriotisch belegt. Dabei handelt es sich um ein der grammatisch-rhetorischen Tradition des Humanismus verpflichtetes, gleichzeitig die deutsche Sprache ideologisch überhöhendes und in Teilen nicht mehr rational explizierbares Sprachdenken, das die Existenz eines ahistorischen, in sich und mit der Natur der Dinge kohärenten deutschen „Sprachwesens" postuliert; wichtige Vertreter sind Justus Georg Schottelius und Philipp von Zesen. Charakteristische Vertreter der beiden erstgenannten sprachtheoretischen Linien sind etwa Jakob Böhme als bedeutendster Repräsentant der frühneuzeitlichen deutschen Sprachmystik, andererseits Persönlichkeiten

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Sprache, Denken und Wirklichkeit

wie Johann Joachim Becher, Gottfried Wilhelm Leibniz oder Johann Amos Comenius, deren Werke deutliche universalistische Tendenzen zeigen. Gerade im Hinblick auf die Universalisten lohnt es sich, über die Grenzen des deutschsprachigen Raumes hinauszuschauen, um einschlägige Überlegungen Descartes' und ihm gleichgesinnter Denker sowie im Umkreis der Royal Society arbeitender englischer Sprachgelehrter wie Wilkins, Dalgarno, Ward, Lodwick und anderer berücksichtigen zu können. Leitgedanke sämtlicher sprachtheoretischer Linien ist das Bemühen, den Zugriff auf Wirklichkeit mittels Sprache zu optimieren. Dies impliziert Kritik an der Leistungsfähigkeit der natürlichen historischen Sprachen. Die Begründungen für diese Kritik sind allerdings je nach sprachtheoretischer Position ebenso unterschiedlich wie die Vorschläge zur Lösung. Rational-universalistisch argumentierende Theoretiker gehen tendenziell davon aus, daß die natürlichen Einzelsprachen aufgrund ihrer historischen Genese und damit üirer grundsätzlichen Offenheit gegenüber unterschiedlichsten Gebrauchsinteressen der Sprecher nicht in der Lage sind, die Gegenstände und Sachverhalte der Wirklichkeit in ihrem objektiven Gegebensein zu erfassen. Semantische Ungenauigkeit, wie sie in den Phänomenen der Polysemie, Synonymic und Homonymie gesehen wird, unterschiedliche lexikalische Kategorisierung der Wirklichkeit in verschiedenen Einzelsprachen, zahlreiche Anomalien an Stelle eines streng analogischen grammatischen Regelwerks sind strukturelle Kennzeichen dieses Phänomens. Für bestimmte Aufgaben sollen daher künstlich geschaffene Sprachen die Rolle der natürlichen Sprachen übernehmen. Die entsprechenden Vorschläge unterscheiden sich im Grad der Abstraktheit; bei den meisten Ansätzen handelt es sich um Versuche, auf der Basis bereits existierender Sprachen eine für möglichst viele Menschen verständliche Universalsprache zu entwickeln. Getragen werden diese Versuche entweder von dem Wunsch nach Bewältigung bestimmter lebenspraktischer Probleme, wie der Verfügbarkeit über neue Märkte im Bereich des Handels, oder von pädagogischen Absichten, die nicht selten einen religiösen Hintergrund aufweisen, seien es irenische Überlegungen, sei es der Wunsch des Protestantismus nach einer das Latein der katholischen Kirche ersetzenden eigenen Sprache oder auch die bei einem Jesuiten wie Kircher anzutreffende Hoffnung auf ein universales Medium der Mission. Neben den linguae universales finden sich Überlegungen zu linguae philosophicae, zu logisch-philosophischen Sprachen - im folgenden wird für beide Arten der Terminus „Universalsprache" verwendet -, in denen die Etablierung einer definitiven Relation zwischen Wort und Sache bzw. zwischen Wort und Vorstellung unter Rückgriff auf die

Grundzüge und die Problematik ihrer Unterscheidung

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mathesis universalis gelingen soll; Leibniz' »De arte combinatoria« ist ein markantes Beispiel. Der rational-universalistische Ansatz in der Sprachbetrachtung der frühen Neuzeit basiert mehr oder weniger explizit auf der Annahme des Werkzeugcharakters von Sprache: Sprache dient dazu, eine für alle Menschen dank der Universalität der Vestandesprinzipien - Comenius spricht von allgemeingültigen normae sciendorum und von notitiae communes1 - grundsätzlich in gleicher Weise erkennbare Wirklichkeit darzustellen. Diese Allgemeinheit des „Principle of Reason"2, insbesondere aber die prinzipielle Präexistenz der Gegenstände gegenüber den sie bezeichnenden Ausdrükken sowie der mentalen Abbilder der Gegenstände gegenüber den Ausdrükken - soweit dagegen von Gelehrten Einflüsse einzelsprachlicher Kategorien auf die Wahrnehmung bzw. kognitive Behandlung von Gegenständen konstatiert werden, wird eine solche Beeinflussung stets kritisch dargestellt - ist jedoch, zumindest bis zu einem gewissen Grade, auch Kennzeichen des einzelsprachlichen Ansatzes. Entscheidend für den Universalismus ist eher die Reduzierung des Sprachbegriffs auf die beiden genannten Aspekte, d.h. die weitgehende Ausklammerung metaphysischer, einzelkultureller wie ideologischer Faktoren (etwa die Frage der nationalen Identitätsfindung anhand von Sprache) sowie die spezifische Art und Weise des Umgangs mit dem wissenschaftlichen Gegenstand. Mit letzterem ist der rationale Charakter des Ansatzes gemeint, das den Gesetzen der Logik verpflichtete Argumentieren, der vernunftgeleitete, schlüssige, semantisch durchsichtige Diskurs, dessen Behauptungen - als sprachliche Fassung von Vorstellungen, welche ihrerseits idealiter „clare et distincte"3 vorliegen - explizierbar und nachprüfbar sind, sei es durch Anwendung exakt beschreibbarer und allgemein anerkannter kognitiver Operationen, etwa bestimmter Formen des Schließens, sei es durch Bezug der im Text dargestellten Sachverhalte auf die Gegebenheiten der Realität. In dieser Hinsicht lassen sich im Europa der frühen Neuzeit durchaus englische Empiristen in der Tradition von Francis Bacon und John Locke mit französischen Gelehrten cartesianischer Prägung und deutschen Sprachuniversalisten vergleichen, da in den sprachreflexiven 1 2

3

Via lucis, 1668, 286. So bei John Wilkins hervorgehoben, dessen Arbeiten charakteristisch für die englische Ausprägung des universalistischen Ansatzes sind. In: An essay towards a real character and a philosophical language, 1668, 20. Das Begriffspaar ist geradezu typisch fur diese Linie der Argumentation; hier wurde es zitiert nach: Leibniz: Meditationes de cognitione, veritate et ideis, 1684, 425; s. auch Leibniz: Lettre touchant ce qui est independent des Sens et de la Matiere, 1702, 501.

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Sprache, Denken und Wirklichkeit

Schriften von Vertretern aller Gruppen immer wieder ein Ideal mathematischer Exaktheit anklingt, wenn - im besten Falle analytisch-präzise, im schlechtesten naiv-mechanistisch - das Verhältnis zwischen Sprache und Wirklichkeit bzw. Sprache und Denken erörtert wird.4 Insgesamt erweist sich als Leistung rational-universalistischer Sprachbetrachtung im Deutschland des 17. und frühen 18. Jahrhunderts das Erkennen der analytischen Dimension von Sprache und die damit einhergehende Einsicht in entsprechende Grenzen natürlicher Sprachen. Was die universalistischen Ansätze am offensichtlichsten von den einzelsprachlichen unterscheidet, ist die Haltung der Universalisten gegenüber den natürlichen Sprachen. Diese mögen durchaus ihre Funktion im gesellschaftlichen Leben haben - Leibniz etwa betont immer wieder das Versprachlichen und Vermitteln von Sinneseindrücken und die kommunikative Funktion „ad movendos animos"5 -, seien jedoch aufgrund ihrer mangelnden Kongruenz mit der Wirklichkeit für einige Aufgaben schlicht ungeeignet, können sogar „between our Understandings, and the Truth"6, zwischen unsere Vorstellungen von der Wahrheit der Dinge und deren tatsächliche, objektive Wahrheit treten und so unseren Blick für die wirklichen Gegebenheiten trüben. In diesem Punkt argumentieren insbesondere Vertreter der an der Muttersprache orientierten ontologisierend-patriotischen Linie genau umgekehrt: Grundsätzlich, d.h. von ihrem ,,völlige[n] Wesen" und ihrer ,,kunstmessige[n] Grundrichtigkeit"7 her, erlaube die deutsche Sprache einen präzisen Zugriff auf die Wirklichkeit. Wenn dies in konkreten sprachlichen Äußerungen nicht immer der Fall sei, so liege das nicht an der deutschen Sprache als solcher, sondern einerseits an der „Unbeständigkeit alles irdischen Wesens", der auch die Sprachen ausgesetzt sind und die sie negativen Veränderungen preisgibt, andererseits an der falschen Verwendung des Deutschen, an der „blinden wanckelenden Gewonheit"8 der Sprachbenutzer. Gelänge es, die deutsche Sprache von bestimmten Mängeln zu reinigen und sie in gereinigtem Zustand festzuschreiben oder zumindest sicher-

4

5 6 7 8

Zu Parallelen in anderer Hinsicht schreibt S. Wollgast: „Descartes' Philosophie, seine Methode und sein einzelwissenschaftliches Ziel - alles drückt die gleiche, fast unumschränkte Fortschrittsgläubigkeit aus wie bei F. Bacon." In: Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1550-1650. Berlin 1988, 110. Hier zit. aus seiner Beschreibung der Sprachtugenden „elegantia", „claritas" und „veritas". In: Marii Nizolii de veris principiis et vera ratione philosophandi libri IV, 1670, 409. Locke, An essay concerning human understanding, 1690; III, IX, 21. Schottelius, Ausfuhrliche Arbeit, 4. Ebd., 29 u. 10.

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zustellen, daß künftige Entwicklung nur noch in genau festgelegten Bahnen erfolgen kann, könnte das Deutsche sehr wohl in einen Zustand versetzt werden, in dem seine „Eigentlichkeit", d.h. seine einzigartige ontologische Qualität zum Tragen kommt. Der Glaube an das Gegebensein ontologischer und, in der Mystik, transzendenter Eigenschaften von Sprache bedeutet zeichentheoretisch die Annahme einer umfassenden Motiviertheit der Sprachzeichen, also die Annahme, daß ein bestimmter Zeichenkörper die Seinsqualitäten des bezeichneten Gegenstandes genau auf die Weise benennt, die dem Gegenstand von seinem Wesen her zukommen. Solche Eigenschaften werden im Deutschland der frühen Neuzeit typischerweise an der Einzelsprache nachgewiesen. Die für die Sprachbetrachtung der Zeit so charakteristische Aufwertung der Muttersprache ist demnach vor dem Hintergrund zweier unterschiedlicher Begründungen zu sehen: Zum einen ist sie ein Anliegen des Humanismus, der seine Verehrung für die antiken Sprachen und Kulturen mit dem Versuch zu vereinbaren vermag, den Volkssprachen einige jener Bereiche des kulturellen Lebens zu erschließen, die bislang insbesondere dem Lateinischen vorbehalten waren, etwa die Dichtung. Hier stehen die Bemühungen deutscher Sprachpfleger in einer gesamteuropäischen Tradition, welche zu Beginn des 14. Jahrhunderts mit Dantes Aufwertung der Muttersprache in seinen Schriften »Convivio« und »De vulgari eloquentia« für das Italienische einen ersten Höhepunkt erlebt und sich im Laufe der folgenden drei Jahrhunderte über die Romania nach Norden ausbreitet; Antonio de Nebrijas erste spanische Grammatik von 1492, Fernäo de Oliveiras 1536 erschienene Abhandlung über das Portugiesische, die italienischen Dialogschriften Pietro Bembos und Sperone Speronis aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, schließlich Joachim Du Bellays »La deffence et illustration de la langue fransoyse« (1549), Ausdruck des Standpunktes der französischen Pleiade, sind wichtige Stufen dieser Entwicklung. Zum anderen aber wird die Muttersprache als Quelle säkularer wie metaphysischer Wahrheit betrachtet, nicht durch das, was der Benutzer mittels ihrer Konstituenten zu sagen vermag, sondern, wie bereits angedeutet, durch ihr wesenseigene, schon vor jeder Anwendung gegebene Qualitäten. Diese Ansicht teilen nicht nur jene deutschen Sprachgelehrten, die ihre Muttersprache als Spiegel der Wirklichkeit im allgemeinen sowie germanisch-deutschen Wesens im besonderen betrachten, sondern auch die Vertreter mystischer Sprachreflexion, denen es allerdings nicht um eine erkenntnistheoretische Aufwertung des Deutschen im Gegensatz zu anderen europäischen Sprachen, sondern um den Aufweis der Nähe jeglicher Muttersprache zur „Na-

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Sprache, Denken und Wirklichkeit

tursprache" und damit um die transzendente, d.h. nicht mehr ,nur' ontologische Motiviertheit der Muttersprache geht. Das Konzept der Natursprache weiß sich durch die Heilige Schrift abgesichert. Alles Seiende ist aufgrund des Schöpfungsaktes, in dem Gott die Welt durch sein Wort hat entstehen lassen (vgl. Genesis 1,3: „Dixitque Deus: Fiat lux. Et facta est lux"; auch Joh. 1,1: „In principio erat Verbum. Et Verbum erat apud Deum. Et Deus erat Verbum"), vom göttlichen logos durchdrungen. Daß folglich der Mensch das Buch der Natur, geschrieben mit dem Finger Gottes (scriptus digito Dei), auf die darin enthaltenen Botschaften des Herrn zu deuten hat, war ohnehin nicht zu bezweifeln und gängige Praxis seit langem; die Verbindung paracelsischer Signaturenlehre mit kabbalistischer Tradition, wie sie etwa in Reuchlins Werken vermittelt wird, erfährt in den Schriften Böhmes eine unmittelbare Fortsetzung. Neben der Deutung der natürlichen Welt bietet sich dem Mystiker die Möglichkeit, auch über die menschliche Sprache zu jenen höheren Wahrheiten zu gelangen, ist sie doch ein wenn auch schwacher Spiegel der paradiesischen Sprache, „der einigen sensualischen Zungen, darinnen alle Sprachen liegen"9. So kann sich der Mensch, wenn er die Sprachlaute und ihre Kombination in den Wörtern nur richtig zu deuten weiß, zumindest ansatzweise von der ,,Babylonische[n] Hure"10, vom Fluch der Sprachverwirrung befreien. Die Leistung der auf die Muttersprache zielenden Sprachbetrachtung ist das häufig nur intuitive - Erfassen der Bedeutung von Sprache als Mittel kultureller Identifikation sowie der nicht-rationalen Dimension von Sprache und ihrer sinnlich-ästhetischen Eigenschaften mit den damit einhergehenden suggestiven Wirkungen. Im Bereich des Sprachpatriotismus kommt es dabei zu nationalistischen Überzeichnungen, im Bereich der Mystik zu einer rational nicht mehr nachvollziehbaren Transzendentalisierung der Argumentation. Die hier zugrunde gelegte Annahme eines Spektrums sprachreflexiver Konzeptionen, das von einem einzelsprachlichen bzw. einem universalistischen Pol begrenzt ist, ist nicht so unproblematisch, wie dies den Anschein haben mag. Nicht die Annahme der Existenz einzelsprachlicher und universalistischer Strömungen steht zur Diskussion - sie lassen sich aus den Texten 9

10

Böhme, Mysterium Magnum, oder Erklärung über Das Erste Buch Mosis, Von der Offenbarung Göttlichen Worts durch die drey Principia Göttliches Wesens, auch vom Ursprung der Welt und der Schöpfung, Darinnen das Reich der Natur und das Reich der Gnaden erkläret wird, 1623, 336. Ebd., 345.

Grundzüge und die Problematik ihrer Unterscheidung

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ohne weiteres nachweisen -, sondern die konsequente Identifizierung der einen als im Extrem mystisch und der anderen als im Extrem rational-analytisch bzw. die Zuweisung des Motiviertheitsgedankens ausschließlich zur einen, des Arbitraritätsgedankens zur anderen: Der Gedanke der Natursprache etwa trägt auch universalistische Züge, der Sprachuniversalismus ist nicht selten metaphysisch motiviert. So findet sich bei Leibniz - um ihn, der so oft und ausschließlich als rationalistischer Denker und Wegbereiter der Aufklärung beschrieben wird, als Beispiel zu wählen, - nicht nur die Auseinandersetzung mit der grammatica universalis vel rationales, sondern auch die Vorstellung einer lingua adamica, in der die Bezeichnung der Dinge deren Wesen entspricht11, wobei er zwar der Ansicht ist, diese Natursprache sei unwiederbringlich verloren („linguae naturaliter corrumpuntur"12), doch wird die ihm vorschwebende characteristica universalis, die Universalsprache, letztlich als Ersatz verstanden13. Auch hat sich Leibniz eingehend mit Einzelsprachen befaßt, etwa der Frage der indogermanischen Sprachenfamilie, und zudem speziell auf das Deutsche bezogene Schriften veröffentlicht, in denen er solch klassisch sprachpflegerische Themen wie das Verfassen von Wörterbüchern oder den Umgang mit Fremdwörtern erörtert. Dies wird noch häufig begegnen: Der rational-universalistische Ansatz stellt sich als mehr oder weniger säkulare Variante des einzelsprachlichen heraus, wo dieser mystisch geprägt ist, und ist häufig eher graduell als prinzipiell von ihm geschieden. Auch Leibniz akzeptiert für die natürlichen Sprachen die Motiviertheit ihrer Zeichen, zumindest eine partielle: In den »Essais« spricht er von „raisons [...] naturelles" (III, 2, 1) für die lautliche Komposition von Wortwurzeln (radices), in den »Unvorgreifflichen Gedancken« von der lautsymbolischen Qualität des Buchstaben „w", der nicht zufällig in Bewegung anzeigenden Wörtern wie „Wogen", „Wellen", „Waltze", „wehen", „Wind" oder engl. „wheel" vorkomme.14 Mit all dem soll nicht die gängige Leibniz-Interpretation in Frage gestellt, sondern die Problematik der begrifflichen Differenzierungen aufgezeigt werden: Das Wissen der Zeit und der Umgang mit ihm sind noch zu sehr von religiösem Gedankengut geprägt, um Eindeutigkeit in den Kategorisierungen zu erlauben. Akzentuierungen allerdings sind nicht zu überse11 12 13 14

In der »Characteristica universalis« (184) wird die adamische Sprache wörtlich erwähnt, in den »Nouveaux essais sur l'entendement humain« (III, 2, 1) und in »De connexione inter res et verba« (1677; S. 191f.), wird das Konzept diskutiert. Brief an Tentzel, in: Ausgabe v. Dutens, Bd. 6, 2, 232. Characteristica universalis, 184. Unvorgreiffliche Gedancken betreffend die Ausübung und Verbesserung der Teutschen Sprache, um 1697, Par. 49.

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Sprache, Denken und Wirklichkeit

hen: Wo Böhme, um beim zuletzt angeführten Beispiel zu bleiben, zur Erklärung der Motiviertheit natürlicher Sprachen auf Metaphysisches rekurriert, verweist Leibniz auf einen Sinneseindruck als Benennungsanlaß. Und während Generationen von Poetikern und Rhetorikern seiner Zeit die traditionelle Figuren- und Tropenlehre in der deutschen Sprache angewendet sehen wollen und sich um elegantia für sie bemühen, kritisiert er „ affection de elegance", die er in der Verwendung von Metaphern, Metonymien und anderen Tropen erkennt, tut dies nicht aber aus stilpuristischen Gründen, sondern wegen der dadurch bewirkten Sprachverwirrung („embarras du langage"15), wegen der damit einhergehenden „indetermination du langage" (ebd.), in der es an Gesetzen zur eindeutigen Bedeutungszuweisung fehle - Überlegungen, wie sie in Johann Christoph Gottscheds Propagierung einer „vernünftigen Schreibart" auf dem Höhepunkt rationalaufklärerischer Sprachpflege des 18. Jahrhunderts erneut begegnen. Ahnliche Schwierigkeiten eindeutiger Kategorisierung bereitet Comenius. Sein Anliegen ist zunächst universalistischer Natur und seine methodische Forderung nach einer „Evidenz, mit der man mathematische Lehrsätze zu beweisen pflegt"16, scheint einen bestimmten Ton für die Argumentation vorzugeben, der sich auch in zahlreichen Einzelanalysen wiederfindet. Seine gesamte Sprachreflexion ist aber gleichzeitig von tiefer Religiosität getragen, und die Berührungspunkte zwischen seinem durch Gedanken des Rosenkreuzertums beeinflußten holistisch-pansophischen Anliegen und der Mystik sind augenfällig: Komm also, Allsprache! Jede Sprache komme herbei, jeder Geist lobe Gott! Tönet alle zusammen, jede Sprache mit ihrem Besten, die einen wie Homer, die anderen wie Trompeten, Flöten oder süße Zithern. Am Ende der Zeit tönen alle gleich. Am Ende lehret uns der Geist aller Geister.17

Comenius' Sprachdenken ist wie dasjenige Böhmes getragen von dem Wunsch nach Rückführung der von menschlicher Sünde verursachten

15 16

17

II, 29, 12. „ea evidentia, qua propositiones mathematicorum solent demonstrari"; in: Prodromus pansophiae, 1637, 143. „Veni igitur jam omnis Lingva! jam Dominum lauda Omnis Spiritus! Habeat alia Lingva prae alia qvicqvid habeat elegantiae vel sqvaloris, jam tarnen sonate omnes! Sint aliae sonorae ut Tubae, aliae streperae ut Tympanum, aliae stridulae ut Tibia, aliae svaves ut Cithara etc. in fine tarnen seculorum sonate jam omnes simul! ut in fine Psalmorum docet, praedicit, mandat, Omnium Spirituum Spiritus [...]." In: Panglottia, 187. Übersetzung zit. nach H. Geissler: Comenius und die Sprache. Heidelberg 1959, 156. - Comenius lehnt sich in seinen Formulierungen an den 150. Psalm an.

Grundzüge und die Problematik ihrer Unterscheidung

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„Vielheit"18 in den Zustand der Einheit, der „einige [n] Wurtzel und Mutter"19. Seine Konzeption der Universalsprache kommt dadurch zustande, daß der gläubige Gelehrte seine Religiosität zum Orientierungspunkt seines fachlichen Arbeitens macht, sich aber der Mittel des exakten Denkens bedient.20 Der Harmoniegedanke, in dem sprachuniversalistische Aspekte mit theologischen verbunden werden, zeigt deutlich die Berührungspunkte zwischen den beiden sprachtheoretischen Linien. Immer wieder begegnet er in den Texten der Zeit, besonders auffallend bei Wolfgang Ratke, der seine Lehren in der „wahren Glaubens, Natur und Sprachenharmonie"21 gründen läßt und das Ideal einer „inneren Gleichförmigkeit" aller Prinzipien des Denkens und Lehrens propagiert. Wie eng die unterschiedlichen Wissenschaftskonzeptionen beieinander liegen, zeigen auch Descartes' Sympathien für die Rosenkreuzer - wegen vermeintlicher Kontakte mußte er sich 1623 sogar öffentlich rechtfertigen22 - oder die Ereignisse um den Abt Johannes Trithemius, der seine kryptologischen Arbeiten, die mit universalistischen Entwürfen viel gemein haben und in mancher Hinsicht als deren Vorläufer gelten können, gegen den Vorwurf der Schwarzen Magie verteidigen mußte. Der bereits erwähnte Becher, von Teilen der modernen Forschung seiner universalistischen Überlegungen wegen als früher Vertreter technisch-mathematischen Denkens gelobt23, ist derselbe Mann, der seinem Kaiser ein Universalmittel anbot, mit dem er sämtliche Tierkörper in Medikamente verwandeln, die Grünungsdauer aller Pflanzen verlängern, vor allem aber Gold in acht Stunden in blutrotes Salz und schließlich in Öl und Balsam

18 19 20

21 22 23

Das Wort ist Terminus bei Böhme; vgl. z.B. Clavis, , 13. Böhme, De signatura rerum, oder Von der Geburt und Bezeichnung aller Wesen, 1622, 4. Nicht zu Unrecht beschreibt D. Mahnke Comenius schon 1939 als Vertreter einer „rationalen Barock-Mystik". Auch Leibniz siedelt Mahnke in diesem intellektuellen Umfeld an: Er strebe danach, „die überkommene Mystik zu rationalisieren oder, noch umfassender, die christliche Religion zu säkularisieren, indem er sie in eine vernünftig begründete Welt- und Lebensanschauung umgestaltet, die zu tatkräftiger Hingabe an das höhere Ganze auch hier auf Erden begeistern soll." In: Die Rationalisierung der Mystik bei Leibniz und Kant. In: Blätter für Deutsche Philosophie, 13, 1939, 1-73, 11. Z.B.: Regentenamtslehre der christlichen Schule. Vgl. dazu P. Arnold: Descartes und die Rosenkreuzer. In: Antaios, l, 1959, 227-245 sowie W.-E. Peuckert: Die Rosenkreutzer. Zur Geschichte einer Reformation. Jena 1928, 149. Die Wirtschaftshochschule Mannheim veröffentlichte seinen »Character, pro notitia linguarum universal!« unter dem Obertitel: Zur mechanischen Sprachübersetzung. Ein Programmierversuch aus dem Jahre 1661.

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Sprache, Denken und Wirklichkeit

überführen könne.24 Bei Johannes Kepler, einem der Wegbereiter der modernen Naturwissenschaften, stehen sich noch zu Anfang des Jahrhunderts die unterschiedlichsten Äußerungen gegenüber. So bekennt er einerseits, daß ihm nichts heiliger sei als „die Wahrheit, wenn ich, bei aller Ehrfurcht vor den Kirchenlehrern, aus der Philosophie beweise, daß die Erde rund, ringsum von Antipoden bewohnt, ganz unbedeutend und klein ist und auch durch die Gestirne hin eilt."25 Gleichzeitig jedoch geht er von der Existenz eines „fortwährend gestaltenden Geist[es]" aus, der überschüssige Materie dahingehend verarbeitet, daß er „den Schweiß der Frauen und Hunde in Flöhe und Läuse [verwandelt], den Tau in Heuschrecken und Raupen, den Lein in Aale, den Morast in Frösche, die Erde in Pflanzen, das Aas in Würmer, den Kot in Käfer [...]"26. Die Reihe der Beispiele soll ein Auszug aus Georg Philipp Harsdörffers »Deliciae mathematicae et physicae« beschließen: Was von den Stuffenjahren oder Annis Climactericis zu halten sey? Deß Menschen Leben ist ein Trauer= und Freudenspiel: Der Spielplatz ist die Welt / die Menschen sind die verlarvten Personen / und Gott verändert ihre Kurtzweil / und heisset sie das Spiel enden / wann es ihm beliebet. Wer zu Ende auswartet / der muß 5 Handlungen vorstellig machen. 1. Die Kindheit / 2. die Jugend / 3. das männliche Alter. 4. die reiffen / und 5. die überreiffen greisen Jahre [...]. Jede Handlung begreiffet ordentlich 2 mal 7 Jahre / welche mit fünf vervielfältiget / 70 Jahre betragen / und dieses ist das Ziel / welches der Prophet David bereit zu seiner Zeit vorgestecket / da doch die Menschen zu unser Zeit viel unordentlicher leben / und ihre Tage unwissend abkurtzen [...].27

Was sich hier nur andeutet, führt auf den folgenden Seiten zum Nachweis der vollständigen rechnerischen Erfaßbarkeit menschlichen Lebens. Auffallend ist das Streben nach einer logisch stimmigen Ordnung: Der auf den ersten Blick in seiner Vielschichtigkeit amorph anmutende Komplex des Lebens erweist sich, kennt man nur den Schlüssel, als von einer vollkommenen inneren Symmetrie getragen. 2 mal 7 (= Jahre in jeder Altersstufe)

24

25 26 27

H. Hassinger: Johann Joachim Becher, 1635-1682. Wien 1951, 14. - Selbst Leibniz hatte eine Zeitlang alchemistische Interessen; vgl. dazu: G. M. Ross: Leibniz and the Nuremberg Alchemical Society. In: Studia Leibnitiana, 6, 1974, 222-248; zu Leibniz' Interesse am Rosenkreuzertum vgl. F. Yates: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare (1966). Weinheim 1990. Neue Astronomie (Astronomia nova, 1609). Übersetzt u. eingeleitet v. M. Caspar. München u. Berlin 1929, 33. - Ebd. heißt es auch: „In der Theologie gilt das Gewicht der Autoritäten, in der Philosophie aber das der Vernunftgründe." In: Johannes Kepler in seinen Briefen. Hrsg. v. M. Caspar u. W. v. Dyck. München u. Berlin 1930, Bd. l, 250. - Den Hinweis auf Kepler verdanke ich Wollgast 1988. 3. Teil, 1653, 73.

Grundzüge und die Problematik ihrer Unterscheidung

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mal 5 (= Gesamtzahl der Altersstufen) ergibt 70, das Alter mit alttestamentarischem Bezug. Die „Stuffenjahre", nach griech. „climax" (,Leiter'), sind diejenigen, in denen starke Einschnitte im Leben geschehen, oft sogar der Tod kommt; sie lassen sich als Produkt errechnen, an dessen Zustandekommen die Zahlen 7 und 9 als Multiplikanden bzw. Multiplikatoren beteiligt sind. Schon der 7. und der 9. Monat im Mutterleib sind besonders wichtig die Siebenzahl mag ihre Bedeutung von der Zahl der Planeten gewonnen haben28 -, dann das 3 mal 9. Jahr, das 7 mal 7. Jahr, das 7 mal 9., das 8 mal 9. etc. Dies sind gefahrliche Jahre: Augustus, Livius, Augustinus und viele andere sind in ihrem 77. Lebensjahr gestorben, Aristoteles, Cicero, Demosthenes im 63., Jakob im 147. (= 7 mal 21), Lamech im 777., Adam im 931. (=7 mal 133) etc. Die Zahl ist hier nicht Element einer nüchternen Arithmetik, sondern Mittel kabbalistischer Spekulation. Sie ist „der Grund und Anfang aller Ordnung", ,,erstreck[t] sich auf alles was in der gantzen Welt ist"29 und wird damit zur metaphysischen Grundqualität - im übrigen auch für Leibniz, der in der »Characteristica universalis« von der Zahl als „figura metaphysica" spricht und auf den Beginn einer mathematischen Mystik bei Pythagoras verweist.30 Dahinter stehen jahrhundertealte Vorstellungen von der auf der Zahl beruhenden Statik des Universums. Das Diktum des Isidor - „tolle numerum in rebus omnibus, et omnia pereunt"31 - hält sich in Gestalt der Zahlenallegorese bis in die frühe Neuzeit hinein. Daß die Zahl als (Sprach-)Zeichen aber ohne außersprachlichen Referenten „keine Krafft und Wirkung"32 hat, die Zahlen wie die Worte trotz allen metaphysischen Po28

29 30 31

32

Spekulationen zur Zahl Sieben finden sich zahlreich in der Kabbala; vgl. E. Bischoff: Elemente der Kabbala, Berlin 1913, 71. - Zur Sieben in ihrer Wichtigkeit für das Alter des Menschen vgl. u.a. Aristoteles: Politik, VII 16.1335b32ff. sowie VII 17.1336b37-1337a2. Harsdörffer: Deliciae, II, Vorrede, Ar. S. 184. ,Nimm die Zahl aus den Dingen, und sie gehen zugrunde.' - Etymologia, III, 4, 4. Vgl. schon diese Stelle bei Philolaos: „Kenntnisspendend ist die Natur der Zahl und führend und lehrend für jeglichen in jeglichem, das ihm problematisch und unverständlich ist. Denn gar nichts von den Gebilden wäre irgendeinem klar, weder ihr Zusich noch des einen zum andren, wenn nicht die Zahl und deren Wesen wäre. Nun aber wirkt diese durch die Seele hin in die Empfindung gestaltend alles erkennbar aus und gesellig, nach des Gnomons Natur, gibt ihnen Leib und scheidet voneinander alle die Glider der Gebilde als unendlicher wie als begrenzender. [...] Sehen kann man nicht nur in den dämonischen und göttlichen Gebilden die Natur der Zahl und ihre haltende Macht, sondern auch in allen Werken und Worten allenthalben und hin durch alle Schöpfungen des Bildens und hin durch die Musik." Zit. nach F. Domseiff: Das Alphabet in Mystik und Magie. Berlin 1925. Nachdruck. Leipzig 1980, 13. Harsdörffer, Deliciae, III, 77.

32

Sprache, Denken und Wirklichkeit

tentials erst durch Rückbindung an die Dinge Bedeutung, d.h. Relevanz und Sinn gewinnen, ist ein charakteristischer Gedanke frühneuzeitlicher Sprachreflexion; er wird eingehend zu diskutieren sein. Exkurs: Strukturen der Argumentation in sprachreflexiven Arbeiten von Barock und Frühaufklärung Eingangs wurde angedeutet, daß den hier unterschiedenen sprachreflektierenden Linien je spezifische Argumentationstechniken entsprechen. Erwähnt wurden der rationale Diskurs der Universalisten und das der Mystik eigene Argumentieren, ohne daß dies, wie auch die Spezifika des Argumentierens von Vertretern der ontologisierend-patriotischen Sprachreflexion, bislang näher bestimmt wurde. Dies soll im folgenden geschehen. Die jeweiligen argumentativen Strukturen sollen anhand des von S. Toulmin entwickelten Argumentationsschemas verdeutlicht werden. Danach wird aus einer Aussage eine zweite Aussage mittels einer Regel erschlossen33 :

D

So, Q, C

Since W

Unless R

On account of B Lautet z.B. die Ausgangsaussage (D) X wurde in Schottland geboren, so erlaubt dies die Folgerung (C): X ist britischer Staatsbürger. Dies ist möglich aufgrund der Regel (W) Wer in Schottland geboren wird, ist im allgemeinen britischer Staatsbürger. Diese Regel wiederum verdankt ihre Berechtigung einem nicht mehr zu hinterfragenden Bezugsrahmen, in diesem Falle den entsprechenden britischen Gesetzen (B). Das von Toulmin der Folgerung vorgeschaltete (Q) ist als „presumably" (,vermutlich') zu lesen, so daß sich insgesamt diese qualifizierte Folgerung ergibt: Vermutlich gilt: X ist britischer Staatsbürger. Die Qualifizierung durch „vermutlich" ist notwendig, da

33

The uses of argument. Cambridge 1969, 10Iff. - Die Buchstaben stehen für: D = datum; Q = qualifier; C = claim; W = warrant; B = backing; R = rebuttal.

Grundzüge und die Problematik ihrer Unterscheidung

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die Folgerung nur dann zutrifft, wenn nicht bestimmte sie ausschließende Faktoren (R) gegeben sind, z.B.: Beide Eltern von X sind Ausländer. Dieses Schema sei im folgenden auf Auszüge aus Leibniz' »Dialogue de connexione inter res et verba«, Schottelius' »Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache» sowie Böhmes »Aurora, oder Morgenrothe im Aufgang« angewendet. In der dem »Dialogus« entnommenen Passage diskutiert Leibniz die Möglichkeiten einer künstlichen Sprache und erklärt zu ihrer wesentlichen Voraussetzung, daß die Zeichen dieser Sprache - die als solche durchaus arbiträr zu bestimmen seien - untereinander in einer Weise verknüpft werden müßten, die zur Verknüpfung zwischen den Gegenständen der Wirklichkeit isomorph ist. Damit ergäben sich wahre Aussagen über die Wirklichkeit sozusagen von selbst34: B. [Ich meine,] daß die Zeichen, wenn sie in der Beweisführung angewandt werden sollen, irgendeine Verknüpfung, Gliederung und Ordnung, wie sie auch den Gegenständen zukommt, aufweisen müssen, und daß dies, wenn auch nicht in den einzelnen Worten, - obgleich auch dies besser wäre - so doch in ihrer Verbindung und Verknüpfung notwendig ist. [...] Denn wenngleich die Zeichen als solche willkürlich sind, so kommt dennoch in ihrer Anwendung und Verknüpfung etwas zur Geltung, was nicht mehr willkürlich ist: nämlich ein Verhältnis, das zwischen ihnen und den Dingen besteht, und damit auch bestimmte Beziehungen zwischen all den verschiedenen Zeichen, die zum Ausdruck derselben Dinge dienen. Und dieses Verhältnis, diese Beziehung ist die Grundlage der Wahrheit. Denn sie bewirkt, daß, ob wir nun diese oder andere Zeichen anwenden, das Ergebnis doch stets dasselbe bleibt oder daß wenigstens die Ergebnisse, die wir finden, äquivalent sind und in bestimmtem Maße einander entsprechen. [...] A. Ausgezeichnet! [...] Deine Ansicht wird auch durch den analytischen oder arithmetischen Kalkül bestätigt; denn bei den Zahlen wird stets dasselbe herauskommen, ob man sich nun des Dezimal- oder, wie es auch geschieht, des Duodezimalsystems bedient. Wenn man also das Ergebnis verschiedenartiger Rechnungen nachher auf Körper oder eine andere zählbare Materie anwendet, so wird das Resultat immer das nämliche bleiben. Ebenso verhält es sich in der Analysis, obgleich es hier bei verschiedenartigen Zeichen leichter den Anschein gewinnt, als sei die Sache selbst in ihren Verhältnissen geändert. Auch hier jedoch ist eben in der Verknüpfung und Anordnung der Zeichen stets eine feste Grundlage der Wahrheit gegeben. Bezeichnet man etwa das Quadrat von a = b + c, so erhält man:

+ b2 2

a =

+ 2bc. + c2

Setzt man dagegen a gleich d - e, so ergibt sich:

34

Dt. TextS. 19ff.

34

Sprache, Denken und Wirklichkeit

a2 =

- 2de. + e2

Die erste Form stellt die Beziehung des Ganzen (a) zu seinen Teilen (a, c) dar, die zweite die Beziehung eines Teiles (a) zum Ganzen (d) und der Differenz, die zwischen ihm und dem Ganzen besteht (e). Daß beides jedoch auf dasselbe hinausläuft, ergibt sich durch Substitution: denn setzen wir in der Formel: d2 + e1 - 2de (was ja = a2) für d seinen Wert a + e ein, dann erhalten wir für d2: a2 + e2 + 2ae, für - 2de: (- 2ae - 2e2), also, durch Addition: + d2 = a2 + e2 + 2ae + e2 = +e2 - 2de = - 2e2 - 2ae die Summe: = a2

Du siehst, daß, so willkürlich man auch die Zeichen nimmt, doch stets alle Ergebnisse untereinander übereinstimmen, wenn man nur bei ihrer Anwendung einer bestimmten Ordnung und Regel folgt.

Bei einer Anwendung von Toulmins Schema lassen sich anhand von Leibniz' Ausführungen gleich mehrere Anfangsaussagen und, daran anschließend, verschiedene Folgerungen formulieren. Faßt man diese Teilaussagen und -folgerungen zusammen, so läßt sich das zentrale Argument der zitierten Passage etwa so rekonstruieren:

Grundzüge und die Problematik ihrer Unterscheidung

eine bestimmte Kombinationarbiträr festgelegter, in ihren Verknüpfungsmöglichkeiten zu den Verknüpfungen der Gegenstände der Wirklichkeit isomorpher Zeichen ergibt eine wahre Aussage

35

'eine bestimmte Kombination alternativer Zeichen führt bei identischen Verknüpfungsregeln zu einem identischen oder äquivalenten Ergebnis

(denn:) die Ergebnisse von Zeichenkombinationen können bei identischen und wirklichkeitsisomorphen Verknüpfungsregeln auch bei der Verwendung unterschiedlicher Zeichen identisch sein und wahre Aussagen darstellen

(belegt anhand von:) mathematische Beweise (s.o.), die den Zeichenkombinationen analog sind Bei der oben gewählten Form der Projektion von Leibniz' Ausführungen auf Toulmins Argumentationsschema kann auf ein die Folgerung qualifizierendes Element (Q) ebenso verzichtet werden wie auf die Angabe weiterer Bedingungen (R) für die Gültigkeit der Folgerung. Wichtig im hier interessierenden Zusammenhang ist, daß Leibniz seine Argumentation zu sprachlichen Phänomenen mittels eines mathematischen Beweises absichert; die Mathematik, nicht ein kulturelles Wissen, tritt damit an die Stelle eines allgemein anerkannten, nicht mehr sinnvoll hinterfragbaren Bezugsrahmens für die gesamte Argumentation.35 Die Exaktheit, mit der

35

Die Formulierung, die Mathematik „tritt damit an die Stelle eines allgemeinen Bezugsrahmens für die [...] Argumentation" soll zum Ausdruck bringen, daß die Mathematik nicht identisch mit einem solchen Bezugsrahmen ist (- den Hinweis verdanke ich K.-P. Konerding). Denn in der zitierten Textstelle heißt es: „A: [···] Deine Antwort wird auch durch den analytischen oder arithmetischen Kalkül bestätigt [...]" (unsere Hervorhebung, A.G.). Der Kalkül bietet also einen Beleg für die Richtigkeit der Aussage von B - daher auch die Formulierung „belegt anhand von" anstelle von „aufgrund von" in der untersten Position des Toulminschen Schemas -, bildet aber nicht den gesamten Bezugsrahmen. Wie auch immer aber der Bezugsrahmen bei

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Sprache, Denken und Wirklichkeit

in dieser Argumentationsstruktur die Validitätsbedingungen der Aussagen angegeben werden können, erreicht den Grad der Eineindeutigkeit. Dies mag auch für rational-universalistische Argumentationen eine Ausnahme darstellen, verdeutlicht jedoch das Extrem, das in dieser Linie der Sprachreflexion begegnet. Der folgende Textauszug ist Schottelius' »Ausführlicher Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache« entnommen. Es handelt sich um den Beginn der dritten Lobrede, deren Thema „Uhrankunft und Uhraltertuhm" der deutschen Sprache ist, zugleich der Nachweis, daß „die itzige Teutsche Sprache / eben annoch im Grunde die Uhralte Sprache sey".36 Die längere Passage zeigt, wie sorgfältig Schottelius seine Argumentation aufbaut: WAn wir von den taglichen Sorgen einen vemunftlichen Abtritt namen / und dasselbe / was ausser uns und von dem Schopffer in der Natur / oder sonst in dem Geschichtwesen / zubeschauen vorgestellet ist / mit den Gedanken ein wenig durchwanderen / alsdan wird zu erst und zu letz nichts anders vorkomen / als die stets=bleibende Unbeständigkeit alles irdischen Wesens: Daß auch derjenige / der den Grund seines Vorhabens und seiner mühsamen Hofhung nicht auf GOtt / dessen Wort und die standfeste Tugend bauet / nichts gewissere / als einen stets betrieglichen Widerstand deß gehörten / und den Sturmwind der Zeiten zugewarten hat / der alles unverhofter weise zerbrechen / und wie Sandich sich zerstieben lassen kan. Darum / wie Tacitus sagt / alle dieses Weltwesen nicht anders in seinem umkreise gehet / als die Abwechselungen der Zeiten eine die andere forttreibet. Das Alter eines Dinges ist ein Vorbotte seines Unterganges / weil es also beschaffen ist / daß / nach des Curtii Zeugnisse nicht allein ein jedes Ding / sondern auch eines jeden Dinges Natur / durch die Langheit der Jahre verzehret und zernaget werde. Es ist dennoch unserem Gemute angeboren eine sonderliche Werthaltung / Furcht / Liebe / und Andacht zu demselben / was alhie zu vielen Jahren komt und alt wird. Darum pflegt man auch die ältesten Land=Regierungen / als ein gewisseres Vorbild der Klugheit zu untersuchen / und dieselbe zu ehren; angesehen in dero Pflantz= und Fortsetzung etwas sonderliches sich finden muß / wodurch sie der Tyrannischen Zeit zuentweichen / und den sonst gebrauchlichen Untergang kraftlos zu machen / geschikt worden seyn: Wie Hugo Grotius davon sagt in praef. ad remp. Hollandiae [...]. Ja / weil aus der Langwirigkeit eines vergänglichen Dinges / etwa ein Abbild der unendlichen Ewigkeit kan vorgestellet werden / darum kan man etwas näher eben dadurch zu GOtt / als zu dem Anfang aller Dinge schreiten: Sintemal man zu gewisser Zuversicht komt / daß in demselben / was die Jahre überstrebet / und der Zeiten Gewalt durchbricht / etwa Gottliches un imerwerendes müsse verborgen seyn. Gleich wie aber / kein älter Keysertuhm noch Königreich numehr befindlich seyn mochte / als eben dasselbige Reich / welches post tot secula, auf den Carolum M. und also auf die Teutsche / als eine Grundseule der Treu und Gerechtigkeit und ein Trotz

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Leibniz zu beschreiben wäre - er selbst bietet keinen an -, er muß von einer solchen Systematik und Logik sein, daß die Mathematik dazu dienen kann, ihn zu illustrieren. Dieses und das folgende Zitat S. 29f.

Grundlage und die Problematik ihrer Unterscheidung

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aller Welt sich gelehnet / und in einer richtigen Teutschen Keyser=Ordnung biß auf gegenwertige Zeit erhalten ist; Also wird keine jetz Weltkundige und Landubliche Sprache in Europa alter seyn / als eben die / welche Carolus M. damals gebraucht / dero Wurtzelen / Hauptgrunde / Worter / Ableitungsarten / und Bindungen wir annoch haben / nemlich die alte Teutsche. Und ob dieselbe anitzo schon in ausgeschmukter Hochteutscher Mundart eine andere Gestalt / und weit anderes Ansehen / als die vorjährige hat / so ist sie dennoch solcher alten tapferen Mutter / beliebteste natürliche Tochter / in dero Schönheit und gleichsam zuwachsender Jugend und Herlichkeit man das einfeltige / unverwelkte und ehrliebende Alter erspuren / lieben / ehren / und loben muß.

Charakteristisch für die ontologisierend-patriotische Sprachreflexion ist der Rückgriff auf Karl den Großen als einen Garanten deutscher Größe und die sich anschließenden Hypostasierungen und Übertragungen: Das deutsche Reich stützte sich auf Karl („[hat] sich gelehnet") und damit gleichzeitig („und also") auf ,die Deutschen'. Es ist das älteste Kaiserreich, und dementsprechend ist die von Karl verwendete deutsche Sprache die älteste Europas. Die Bereiche ,Kaiser' bzw. .Reich', ,Deutsche' und .deutsche Sprache' werden übereinandergeblendet, und die einem Bereich zugeschriebenen Qualitäten gelten auch für den jeweils anderen: Der Kaiser wie die Deutschen sind „eine Grundseule der Treu und Gerechtigkeit und Trotz aller Welt", und die deutsche Sprache, mit ihren „Wurtzelen" und ,,Hauptgrunde[n]" - die Ausdrücke suggerieren Solidität und schließen die Eigenschaften der Sprache an die der Sprecher an -, ist die Kaiser und Volk gemäße. Wie das Reich seine „richtige Teutsche Kayser=Ordnung" hatte, so soll, dies wird hier impliziert und an anderer Stelle im Detail ausgeführt, die deutsche Sprache eine „rechte Sprach=Ordnung" haben, die das Zusammenspiel der Sprach-Konstituenten ebenso regelt, wie die Rechtsverfassung das Zusammenspiel der Konstituenten des Reichs.37 Und wie das Reich durch sein bloßes Alter bereits Würde erlangt hat und alleine deshalb schon in Ehren zu halten ist - in Entsprechung zu den „ältesten Land=Regierungen", denen aufgrund ihres Alters Vorbildcharakter zukommt -, so muß man auch in der deutschen Sprache das Alter „erspüren / lieben / ehren / und loben". Dabei ist das Verhältnis zwischen den frühen Erscheinungsformen von Reich und Regierung zu ihrem gegenwärtigen Zustand analog zum Verhältnis zwischen dem früheren Sprachzustand des Deutschen zu seinem jetzigen: Durch die spezifische Art der „Pflantz= und Fortsetzung" von einer 37

Die Parallele von Reich, Volk und Sprache begegnet immer wieder in der frühneuzeitlichen Sprachreflexion, etwa in Ratkes »Memorial« von 1612, in dem der Sprachpädagoge den Fürsten des Frankfurter Reichstags verkündet, „Wie Im Gantzen Reich ein einträchtige Sprach, ein einträchtige Regierung, vnd Endlich Auch ein einträchtige Religion, bequemlich einzuführen und friedlich zu erhalten sey." (S. 24)

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Sprache, Denken und Wirklichkeit

Entwicklungsstufe des politischen Körpers zur nächsten wird in diesem Körper etwas bewahrt („etwas sonderliches"), das der Veränderung nicht ausgesetzt ist, eine bestimmte Qualität, die der Zeitlichkeit trotzt. In genau analoger Weise enthält die jetzige deutsche Sprache das prinzipiell unveränderliche ,Wesen' der deutschen Sprache schlechthin, gerade so, wie eine „Tochter" eine Wesensverwandtschaft mit der „Mutter" aufweist; der organischen Pflanzenmetapher im Bereich der Entwicklung des politischen Körpers („Pflantz= und Fortsetzung") entspricht dabei im Bereich der Sprache das Bild von Mutter und Kind bzw. erneut die Pflanzenmetaphorik („Wurtzelen", „zuwachsender", „unverwelkte"). Die erwähnte Übereinanderblendung unterschiedlicher Themenbereiche setzt ein Verfahren voraus, das sich textlinguistisch mit Greimas' Konzept der Isotopie beschreiben läßt38: Bestimmte Teilthemen werden durch Verwendung von Ausdrücken etabliert, die auf der gleichen Isotopieebene liegen. Am ausgeprägtesten in der zitierten Passage ist die Isotopieebene der , , genauer: des ,VERGEHENS VON ZEIT', des ,ALTERS', die durch diese Ausdrücke konstituiert wird: Unbeständigkeit, Sturmwind der Zeiten, Abwechslungen der Zeiten, Alter, Vorbote des Unterganges, Langheit der Jahre, zu vielen Jahren kommen, alt werden, alt, tyrannische Zeit, Untergang, Langwierigkeit eines vergänglichen Dinges, Abbild der unendlichen Ewigkeit, Anfang aller Dinge, die Jahre überstreben, der Zeiten Gewalt durchbrechen, immerwährend, alt, alt, vorjährig, Jugend, unverwelktes Alter. Anschließend werden diese Teilthemen - die anderen sind, wie erwähnt, ,Deutschtum', ,Kaisertum' und natürlich ,deutsche Sprache' - zueinander in Beziehung gesetzt, selten jedoch durch explizite Verweise. Bei diesem Argumentieren geht es nicht darum, eine Reihe von Fakten in mehr oder weniger linearer Folge zu bieten, sondern um die geschickte, auf rhetorische Verfahren der Textgestaltung zurückgreifende Vernetzung von Sachverhalten, die beim Leser auf eine eher unspezifische Weise bestimmte Inhalte und Bewertungen evozieren. Bei der bisherigen Kommentierung der Passage sind die ersten beiden Absätze des Textes noch weitgehend unberücksichtigt geblieben. Bezieht man sie ein, wird deutlich, daß die Aussagen zu Kaiser bzw. Reich, den Deutschen und ihrer Sprache in einem metaphysischen Rahmen stehen. Zieht sich der Mensch für einige Augenblicke vom Tagesgeschäft zurück, um sich zu besinnen, so wird er sich der „Unbeständigkeit alles irdischen Wesens" bewußt, des „Sturmwind[es] der Zeiten", der alles wie Sand „zer38

Semantique structurale. Paris 1966.

Grundzüge und die Problematik ihrer Unterscheidung

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stieben lassen kan"; die in der Dichtung so stark präsente varw/tas-Thematik ist auch in der Sprachreflexion der Zeit weit verbreitet. Das Alter nun weist einerseits auf die Vergänglichkeit allen Seins hin, doch halten wir andererseits alte Dinge in Ehren, weil sie uns auch als „Abbild der unendlichen Ewigkeit".erscheinen. Das Alte ist ein Stück näher zu Gott, und die Beschäftigung mit ihm anhand alter Gegenstände und Sachverhalte läßt das Göttliche erahnen. Genau hier werden die Bezüge zur deutschen Sprache geknüpft: Die deutsche Sprache ist alt, ,enthält' somit Göttliches, und die Beschäftigung mit ihr lohnt aus metaphysischen Gründen. Die Hinwendung des Gelehrten zur deutschen Sprache wird aus einem göttlich gegebenen Ordnungszusammenhang heraus begründet. Die Projektion der Aussagen in der zitierten Textpassage auf das Argumentationsschema Toulmins bestätigt diesen Befund. Auch hier sind unterschiedliche Abbildungen denkbar, das zentrale Anliegen aber läßt sich so darstellen: die deutsche Spracheist alt

>die deutsche Sprache ist zu schätzen (denn:) alte Dinge sind zu schätzen

(aufgrund von:) 1. Bestätigung durch Autoritäten 2. allgemeiner Erfahrungssatz 3. metaphysische Evidenz Die Argumentationsstrukturen von Schottelius und Leibniz unterscheiden sich deutlich im allgemeinen Bezugsrahmen. Bei Leibniz tritt an dessen Stelle ein mathematischer Beweis, während er bei Schottelius die genannten drei Aspekte umfaßt, hier numeriert in aufsteigender Folge entsprechend ihrer Bedeutung. Zu l: Das Anführen von Autoritäten anstelle einer voraussetzungslosen Argumentation, die nur auf die dem Gegenstand inhärenten Eigenschaften gerichtetet ist - zur oben zitierten Begründung alte Dinge sind zu schätzen wird Grotius als Zeuge angeführt, während in anderen Zusammenhängen auf Tacitus und Curtius verwiesen wird - ist natürlich ein auch im Mittelalter gepflegtes Verfahren. Rational-universalistische Gelehrte dagegen, die im Rückgriff auf Autoritäten und deren Ansichten eher ein

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Hindernis auf dem Weg zur Wahrheit sehen („ingeniorum obstacula"39), verzichten darauf über weite Passagen. Zu 2: Daß alte Dinge zu schätzen sind, ist auch Gegenstand allgemeiner Lebenserfahrung. Mit diesem Stück Erfahrung, die ein jeder teilt, beginnt Schottelius seine Darstellung: Wir sind es, die von den täglichen Sorgen Abstand nehmen sollen, wir sollen innehalten, nachdenken und werden so ganz selbstverständlich zur Einsicht in den Wert des Alters bzw. des Alten gelangen, eine Wertschätzung, die unserem Gemüt angeboren ist. Schottelius formuliert seine Behauptung die deutsche Sprache ist zu schätzen - nicht zu Beginn der Darstellung, um sie dann unter anderem durch Verweis auf die Alltagserfahrungen des Menschen zu begründen, sondern er etabliert umgekehrt einen von niemand sinnvoll zu leugnenden Bezugsrahmen, in die er seine spezifische Behauptung einordnet. Der Wahrheitsgehalt des Bezugsrahmens soll damit automatisch auch für die eingeordnete Behauptung gelten. Zu 3: Am deutlichsten wird das voraussetzungsgebundene Argumentieren an den metaphysischen Bezügen, sie stellen zudem die höchste Begründungsautorität dar. Der etablierte Bezugsrahmen ist keiner der nur menschlichen Erfahrung, denn die erste Einsicht, zu der der Mensch geführt wird, ist die der Unbeständigkeit allen irdischen Wesens. Alte Gegenstände und Sachverhalte sind nicht einfach nur als solche, d.h. aufgrund der ihnen inhärenten Eigenschaft ,hohes Alter' schätzenswert, sondern aufgrund ihrer größeren Nähe zu Gott. Mit der metaphysischen Sanktionierung der Argumentation wird der Bezugsrahmen vollends unhinterfragbar. Trotz der eindeutigen metaphysischen Verankerung der Argumentation ist das Göttliche, das im Bereich der Sprache wirksam wird, bei Schottelius nicht mystisch gefaßt wie in der Natursprachenlehre Böhmes; meist wird die Grenze zum säkulareren Bereich des Ontologisierend-Patriotischen überschritten. Andererseits ist dieses göttliche Element nicht so rational und präzise bestimmt, wie dies etwa bei Leibniz in der Regel der Fall ist, wo Gott als „souverain Architecte"40 des Weltgebäudes eine bestimmte Position im Gedankengebäude einnimmt, in der konkreten wissenschaftlichen 39

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„Duo praecipua sunt ingeniorum obstacula, quominus veritatem & solidam sapientiam assequi valeant: Praeconcepta opinio, & virorum magnorum authoritas". (,Die zwei entscheidenden Hindemisse beim Erlangen von Wahrheit und umfassendem Wissen sind vorgefaßte Meinungen und die Autorität großer Männer.') So der Schwede Stiemhielm im Vorwort seiner Ausgabe der gotischen Bibel. Zit. nach: G. J. Metcalf: The Indo-European Hypothesis in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. In: D. Hymes (Hrsg.): Studies in the History of Linguistics. Bloomington u. London 1974, 233-257; 248. Nouveaux essais, III, 6, 12.

Grundzüge und die Problematik ihrer Unterscheidung

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Sprachdiskussion - sei es in den logisch-formalisierenden, sei es in den sprachhistorischen Schriften - aber kaum mehr vorkommt; an anderer Stelle wird dies eingehend zu belegen sein. Trotz aller Unterschiede entsprechen sich die Argumentationsstrukturen in den zitierten Passagen von Leibniz und Schottelius immerhin darin, daß die thematisierten Sachverhalte mehr oder weniger linear entwickelt werden. Dabei ist spezifisch für Schottelius, daß die Sachargumentation immer wieder vor einen Hintergrund allgemein-menschlicher und metaphysischer Wahrheit gestellt wird, welche die Gültigkeit der folgenden Sachargumente apriorisch legitimieren soll. Für das mystische Argumentieren Böhmes dagegen wäre Toulmins Schema, das lineare Progression der Argumentation impliziert, eher irreführend. Bei Böhme werden nicht thematisch gebundene Sachargumente gelegentlich mit apriorischen Wahrheiten konfrontiert, sondern die gesamte Argumentation dient umgekehrt nur der Bestätigung der Validität des metaphysischen Bezugsrahmens, ist im Grunde eine Erscheinungsform dieses alles dominierenden Bezugsrahmens. Dies ist möglich, da Böhmes Überlegungen auf der Annahme basieren, daß das Sein - damit auch die Sprache - Resultat der Selbstoffenbarung Gottes und so von Göttlichem durchdrungen ist. Sämtliche Phänomene der Natur und des geistigen Lebens interessieren nur insofern, als sie dieses Göttliche zum Ausdruck bringen. Indem Böhme davon ausgeht, daß alles in einem „Centrum" - in Gott - „urständet" und sich von dort in die „Vielheit" der Wirklichkeitsphänomene zerteilt, Erfüllung aber nur finden kann, indem es in dieses Zentrum zurückkehrt, legt er dem Sein eine Kreisbewegung zugrunde. Diese Kreisbewegung spiegelt sich in der Darstellungsstruktur: Böhme operiert mit einer Reihe von dichotomischen, weiterer Analyse nicht mehr zugänglichen Grundbegriffen wie Grund Ungrund, Gut - Böse, Wille - Widerwille, Hitze - Kälte, Süße - Herbe, Anfang - Ende, Außen - Innen, Tod - Leben, Einheit - Vielheit etc., wobei jedes Paar eine jeweilige Semsdimension vollständig abdeckt. Sobald man einen der bezeichneten Teilbereiche verläßt, gerät man automatisch in den anderen: Gut wird zu Böse und dieses führt wieder zum Guten, ad infinitum. Nur in Gott herrscht coincidentia oppositorum, ein in sich ruhendes Übereinkommen der Gegensätze. Ein jeweiliger zur Diskussion stehender Sachverhalt wird nun erörtert, indem er in einen solchen Begriffskreis einbezogen, d.h. als Gegenstand des Wirkens der dichotomischen Seinskategorien gezeigt wird. Dabei ist es möglich, daß die Grundkategorien nicht nur paarweise, sondern auch in größerer Zahl auftreten - insbesondere die Dreizahl

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Sprache, Denken und Wirklichkeit

spielt bei Böhme eine große Rolle -, stets jedoch in einer Weise, die das dichotomische Prinzip nicht ausschließt. So wird z.B. in »Aurora« das Wachsen eines Getreidehalmes als Manifestation des Wechselspieles bestimmter Grundstoffe, der Qualitäten, beschrieben, insbesondere der herben, der bitteren und der süßen Qualität, wobei in diesem Falle - solche einschränkenden Bemerkungen sind bei Böhme notwendig, da er in seiner Systematik alles andere als konsequent ist - die süße Qualität der herben und bitteren gegenübersteht.41 Charakteristisch für Böhmes Vorgehen ist dabei, daß das Wachsen des Hahnes nicht als selbständiges botanisches Phänomen konstatiert und gewissermaßen zusätzlich als Ausdruck eines göttlichen Gesamtplanes gewertet wird, sondern daß der Halm in seiner konkreten Materialität als Niederschlag der beteiligten Qualitäten gedeutet wird. Die Einbettung der Phänomene der Wirklichkeit in einen metaphysischen Zirkel ist der sachliche Grund für die Kreisbewegungen in der Böhmeschen Argumentation.42 Dieses sachlich begründete Argumentationsprinzip verselbständigt sich zu einem allgemeinen stilistischen Prinzip und durchzieht das gesamte Werk. Äußerungen wie die folgende sind charakteristisch43 : Das ist nun die Gottliche Kraft, der alle Creaturen unterworfen sind: Denn alles, was da lebet und schwebet, das ist in GOtt, und GOtt selber ist alles; und alles, was gebildet ist, das ist aus Ihm gebildet, es sey gleich aus Liebe oder Zorn.

Obgleich in den Sätzen Thema und Rhema gleichmäßig wechseln, ist keine lineare Progression erkennbar: Thema

Rhema

r

Denn alles, was da lebet und schwebet, das ist in GOtt, Thema

Rhema

Thema

und GOtt selber ist alles; und alles, was gebildet ist, Rhema

das ist aus Ihm gebildet, es sey gleich aus Liebe oder Zorn.

41 42 43

Vgl. das Kapitel 1.2.2.: Sprachmystik bei Jakob Böhme. Zur „Denkform" des Kreises allgemein vgl. die Ausführungen bei H. Leisegang: Denkformen. 2. Aufl. Berlin 1951. Aurora, 13, 115. - Die Textstelle erinnert in ihrer Struktur an den Beginn des Johannesevangeliums („Am Anfang war das Wort ..."), doch sollte man nicht von einem Zitat sprechen, da es sich bei Böhme eben um ein Strukturprinzip und nicht um die Darstellung eines spezifischen Inhalts handelt.

Grundzüge und die Problematik ihrer Unterscheidung

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Eine Progression ist deshalb nicht möglich, da Thema und Rhema sich inhaltlich nicht verändern, es werden immer wieder die Bereiche , Schöpfer' („Gott"; „Ihm") und .Schöpfung' („alles") in Beziehung zueinander gesetzt. Nimmt man den Einleitungssatz („Das ist nun...") hinzu, ergibt sich diese Kette von Fokusverlagerungen: Schöpfer -» Schöpfung | Schöpfung -* Schöpfer | -» Schöpfer -» Schöpfung | Schöpfung -» Schöpfer

Der Fokus wechselt durchgehend zwischen den einen Begriffskreis bildenden Kategorien ,Schöpfer' und ,Schöpfung'. Dadurch wird über die syntaktische und textuelle Form der Passage ein wesentlicher Teil ihres Inhalts vermittelt: Die Schöpfung ist kein einmaliges Ins-Werk-Setzen, sondern ein sich stetig wiederholender Prozeß, ein Kreislauf eben. Lediglich der letzte Teilsatz - „es sey gleich aus Liebe oder Zorn" - bricht mit diesem Prinzip, doch nur, um ebenfalls ein dichotomisches Begriffspaar einzuführen. Abschließend ein Auszug aus »Aurora«, der das bislang Festgestellte illustrieren soll44: Dieses alles, wie oben erzehlet, heist darum Qualität, daß es alles in der Tieffe über der Erden, auf der Erden und in der Erden in einander qualificiret wie ein Ding: und hat doch mancherley Kraft und Wirckung, aber nur eine Mutter, daraus alles Ding herkommt und quillet; und alle Creaturen sind aus diesen Qualitäten gemacht und herkommen, und leben darinnen, als in ihrer Mutter: auch so hat die Erde und Steine daraus sein Herkommen, und alles was aus der Erden wachset, das lebet und quillet aus der Kraft dieser Qualitäten, das kan kein vernünftiger Mensch verneinen. 2. Dieser zweyfache Quell, Bös und Gut in allen Dingen, rühret alles aus den Sternen her: denn wie die Creaturen auf Erden sind in ihrer Qualität, also auch die Sterne. Denn durch seinen zweyfachen Quell hat alles seine grosse Beweglichkeit, Lauffen, Rennen, Quellen, Treiben und Wachsen. 3. Denn die Sanftmuth in der Natur ist eine stille Ruhe; aber die Grimmigkeit in allen Kräften machet alles beweglich, lauffend und rennend, darzu gebarend. Denn die treibende Qualitäten bringen Lust in alle Creaturen zum Bösen und zum Guten, daß sich alles unter einander begehret, vermischet, zunimmt, abnimmt, schone wird, verdirbet, liebet, feindet.

Die zentrale Information des ersten Absatzes wird in den ersten fünf Zeilen gegeben: Alles Sein ist Manifestation der Qualitäten. Im zweiten Absatz wird ergänzt, daß Leben nur aufgrund der Existenz widerstrebender Kräfte möglich ist; der dritte Absatz wiederholt dies. Das Textstück enthält mehrere Dichotomien: Mutter (d.i. ,Schöpfer') - Ding bzw. Creatur (d.i. ,Schöpfung'); bös - gut; Beweglichkeit bzw. Grimmigkeit - Ruhe bzw. Sanftmut;

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Ebd., 2, 1-3.

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zunehmen - abnehmen; schön werden - verderben; lieben -feinden. Außer durch dieses Strukturprinzip wird die Kohäsion der Textpassage durch zahlreiche Wiederholungen gewährleistet, wobei die wiederholten Ausdrücke nur zum Teil mit Ausdrücken aus einem der Begriffspaare identisch sind. Allein der erste Absatz enthält diese Wiederholungen: Dieses alles, wie oben erzehlet, heist darum | Qualität] daß es alles in der Tieffe über der [Erden], auf der Erdcn| und in der [Erden] in einander qualificiret wie ein Ding und hat doch mancherey [Kraft] und Wirckung, aber nur eine [Mutter], daraus alles [Dingl |herkommt] und |quillet); und alle Creaturen sind aus diesen [Qualitäten] gemacht und [herkommen], und [leben] darinnen, als in ihrer [Mutter): auch so hat die |Erde] und Steine daraus sein [Herkommen), und alles was aus der [Erden wachset, das [lebet] und |quillet) aus der [Kraft] dieser [Qualitäten], das kan kein vernunftiger Mensch verneinen.

Durch diese flächige Darstellungstechnik werden zentrale Ausdrücke untereinander vernetzt. So entsteht beim Leser Bedeutung nicht nur durch rationalen Nachvollzug von linear Mitgeteiltem, sondern ebenso sehr durch die Rezeption wiederkehrender Schlüsselwörter, die bereits durch ihre punktuelle Präsenz im Text - d.h. noch nicht durch ihre syntagmatische Verknüpfung - bestimmte Inhalte suggerieren. Im zitierten Absatz etwa wird die Sachaussage, daß alles Sein Manifestation der Qualitäten ist, in einem semantischen Umfeld konstituiert, dessen zentrale Elemente - Erde, Mutter, Leben, Kraft, herkommen, quellen - dem Sachgeschehen einen vitalistischen Zug verleihen. Eben dies vermittelt sich dem Leser weniger auf der expliziten Diskursebene denn durch suggestive Implikationen. Dabei erwiese sich ein Versuch als wenig sinnvoll, solche Ausdruckselemente mit den exakten Mitteln einer Merkmalsemantik bestimmen zu wollen, allenfalls vorsichtige Umschreibungen wären möglich. Eine Argumentationstechnik, die sich bei Schottelius nur in Ansätzen andeutet, ist also bei Böhme perfektioniert; der Unterschied zum rationalen Diskurs eines Leibniz könnte kaum größer sein.

2. Sprachmystik, mystizistische Tendenzen und metaphysische Orientierung 2.1. Das Konzept der Motiviertheit Für die Differenzierung der beschriebenen sprachreflexiven Linien, dies klang bereits mehrfach an, kommt der Frage der Motiviertheit bzw. Arbitrarität des Zeichens besondere Bedeutung zu.' Hinsichtlich der Motiviertheit lassen sich in der frühen Neuzeit drei Varianten unterscheiden, eine ontologische, eine transzendente und eine artifizielle. Die beiden erstgenannten Varianten verbindet die Annahme einer natürlichen bzw. gottgegebenen Kongruenz von Wort und Gegenstand, sie unterscheiden sich aber in der Bestimmung dessen, was die - insbesondere lexikalischen Konstituenten einer natürlichen Einzelsprache in ihrer phonetischen und graphischen Form spiegeln: Im Falle der transzendenten Motiviertheit sind dies metaphysische Gegebenheiten, in der säkulareren ontologischen Variante ist es das ,objektive' Sein der Dinge sowie das ,Wesen' der Sprachbenutzer. Vertreter der ersteren Position sind die Sprachmystiker, allen voran Jakob Böhme, die Kabbalisten sowie ganz allgemein jene, in deren sprachreflektierenden Schriften neuplatonisches Gedankengut verwertet wird. Vertreter der These der ontologischen Motiviertheit sind bei unterschiedlich stark ausgeprägten mystizistischen Tendenzen Persönlichkeiten wie Philipp von Zesen und Justus Georg Schottelius. Bemerkungen wie diejenige von Leibniz über die Motiviertheit des Buchstabens w sollen jedoch nicht unter den Begriff der ontologischen Mo-

Motiviertheit und Arbitrarität werden hier im Sinne Saussures verstanden: Mit letzterem Terminus will Saussure anzeigen, daß zwischen der Ausdrucks- und der Inhaltsseite des sprachlichen Zeichens „keinerlei innere Beziehung" besteht (Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft, 1916, 2. Aufl. der dt. Übersetzung, Berlin 1967, 79). Ein bestimmter Inhalt, dem eine bestimmte Lautfolge zugeordnet ist, könnte also „ebensowohl dargestellt sein durch irgendeine andere Lautfolge" (ebd.). Motiviertheit sei allenfalls im Bereich der Onomatopoetika gegeben, doch selbst dies gelte nur mit erheblichen Einschränkungen (ebd., 81).

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tiviertheit subsumiert werden, da ihnen jeglicher mystizistische und sprachpatriotische Einschlag abgeht. Die Auffassimg, die Sprachen hätten sich als Niederschlag sinnlicher Wahrnehmung gebildet und spiegelten dementsprechend bestimmte sinnliche Qualitäten - wie die Wellenbewegung sich in der Form des w spiegele -, rückt ihre Vertreter keineswegs in die Nähe der Mystik, sondern verträgt sich mit einem konsequenten Rationalismus oder Empirismus; entsprechende Andeutungen finden sich u.a. auch bei Locke. Der eingangs erwähnte Typ der artifiziellen Motiviertheit tritt im Rahmen universalistischer Überlegungen hervor. Bei den Kunstsprach-Entwürfen wird mehrfach betont, daß die zu schaffende Sprache idealerweise lautmalend bzw. lautsymbolisch sein solle, weil dies das Memorieren der Wörter erleichtere. In Frankreich z.B. schlägt Marin Mersenne vor, o und a für große und / für kleine Gegenstände zu verwenden.2 Die lautlich motivierte Kunstsprache widerspricht jedoch keineswegs der Ansicht von der Verfügbarkeit der Sprache durch ihre Sprecher: Die Sprachzeichen der Kunstsprache mögen motiviert sein, sind dies aber ohne Einschluß irgendwelcher metaphysischer Gegebenheiten, sondern ausschließlich aufgrund intentionaler Setzung durch den Sprachgelehrten, der sich bei ihrer Festlegung lediglich das Phänomen der Lautmalerei zunutze macht. Die artifizielle Motiviertheit basiert also letztlich auf dem Konzept der willkürlichen, d.h. hier: durch das sprechende Subjekt geleiteten Zuordnung von Zeichenausdruckszu Inhaltsseite. Als transzendent bzw. ontologisch motiviert wird das Zeichen dagegen von einzelsprachlich orientierten Autoren gesehen, wobei es unterschiedliche Akzentuierungen gibt: Ein Mystiker wie Böhme geht von der Motiviertheit der Natursprache aus und sieht sie in ,der' Muttersprache fortgesetzt; Autoren mit sprachpatriotischem Anliegen suchen die Motiviertheit speziell des Deutschen nachzuweisen. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang der Kratylos-Dialog Platons erwähnt, sei es, um das eigene Urteil durch das Zitieren einer bedeutenden Autorität abzusichern, sei es, um quasi floskelhaft die Fragestellung als solche erst einmal als seriös auszuweisen.3 Dabei 2 3

Harmonie universelle, II, 75ff. Platon hat in sprachphilosophischen Schriften des 17. Jahrhunderts nie die Kritik erfahren, die Aristoteles trotz seiner in vielen Bereichen unbestrittenen Autorität zuteil wurde. Je mehr Aristoteles als zentraler Orientierungspunkt der scholastischen Philosophie des Mittelalters galt, desto schärfer wurde er von jenen kritisiert, die sich in der frühen Neuzeit wissenschaftstheoretisch und -methodisch von dieser Philosophie zu lösen versuchten. Bacon etwa sieht in Aristoteles den Diktator, der die mittelalterlichen Denker fest im Griff hatte („their wits being shut up in the cells of a few authors - chiefly Aristotle their dictator - as their persons were shut up in the cells of mona-

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wird Platon stets im Sinne der Position der Motiviertheit interpretiert. Schon Scaliger beschreibt als Auffassung Platons, „sermonem rem esse naturalem, non ab arte"4. Schottelius zitiert gar aus dem »Kratylos«: Platon habe behauptet, die Zuordnung der Wörter zu den Dingen sei geschehen „per potentiam aliquam, quae humanam superat"5, eine Annahme, die genau auf der Linie von Schottelius' Argumentation liegen würde. Tatsächlich finden sich die Worte in Platons Text6, der Autor legt sie dem Sokrates im Zusammenhang mit der etymologischen Überprüfung von Eigennamen in den Mund. Doch was für die Eigennamen gilt - und dies auch nur vielleicht und nur für einige, wie Sokrates hinzufügt, eine Einschränkung, die Schottelius stillschweigend übergeht, - muß nicht in gleicher Weise auf Appellativa zutreffen. Hinzu kommt, daß der zitierten Bemerkung andere gegenüberstehen: Es sei der Verstand, der für die Benennung verantwortlich ist, erklärt Sokrates an anderer Stelle7 und vergleicht den Rekurs auf die Götter als Schöpfer der „ursprünglichen Wörter" mit den bequemen Lösungen mancher Tragödiendichter, die, wenn sie sich nicht mehr zu helfen wüßten, rasch einige Götter „ex machina" erscheinen ließen.8 Schließlich, und dies ist der entscheidende Einwand gegen die Platon-Interpretation des Schottelius und vieler seiner Zeitgenossen, ist Motiviertheit nicht gleich Motiviertheit; während Platon ein ganzes Spektrum unterschiedlichster Erscheinungsformen ausbreitet, geht es den Vertretern frühneuzeitlicher Stammwortkonzeption letztlich nur um die lautmalende bzw. lautsymbolische9 Motiviertheit der Simplizia. Die lautmalende Verankerung der Wörter in der Natur ist aber nur der letzte Schritt in der Diskussion um die Motiviertheit, und Platon verhält sich den einzelnen dieser Schritte gegenüber keineswegs gleich. Ein kurzer Exkurs zu dem für die Sprachdiskussion der Zeit wichtigen

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steries and colleges") und damit für deren „degenerate learning" mitverantwortlich war (Of the Advancement of Learning, 1605,1, 285). De causis linguae latinae, 1540, Kap. 67, 117. .durch eine Kraft, welche die menschliche übersteigt'; Ausfuhrliche Arbeit, 64. D.h. in dessen lateinischer Übersetzung. - Zitiert wird im folgenden nach der deutschen Übersetzung Otto Apelts: Platon. Sämtliche Dialoge. In Verbindung mit K. Hildebrandt, C. Ritter u. G. Schneider hrsg. v. O. Apelt. 7 Bde. Leipzig 1919ff. Bd. 2, übersetzt u. erläutert v. 0. Apelt. 2. durchgeseh. Aufl. Leipzig 1922. Nachdruck. Hamburg 1988, 397. Kratylos, 416.

Ebd., 425. Diese Unterscheidung, die im Zusammenhang mit dem »Kratylos« mehrfach diskutiert wurde, braucht für die vorliegende Diskussion nicht beachtet zu werden; vgl. dazu J. C. Rijlaarsdam: Platon über die Sprache. Ein Kommentar zum Kratylos. Utrecht 1978, 159f.

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»Kratylos« soll zeigen, welche seiner Aspekte in welcher Weise im 17. und frühen 18. Jahrhundert erneut zum Tragen kommen.10 Hermogenes, einer der drei Diskutanten, charakterisiert gleich zu Anfang die Position des Kratylos: Dieser behaupte, „es gebe für jedes Ding eine richtige, aus der Natur dieses Dinges selbst hervorgegangene Bezeichnung", also „eine natürliche Richtigkeit der Namen, die für jedermann, für Hellenen wie Barbaren, die gleiche sei" (383).11 Hermogenes vertritt dagegen die These der Arbitrarität und zugleich der Konventionalität. „Jeder Name [...], den man einer Sache gibt, ist richtig", urteilt er, und wo Kratylos ein Naturgesetz erkennt, sieht er „eine Frucht der gesetzlichen Übereinkunft und Gewohnheit" (384). Hier ist gleich einem möglichen Mißverständnis vorzubeugen: Unter „natürlicher Richtigkeit" versteht Kratylos keineswegs eine lautmalende oder lautsymbolische Entsprechung von Wortkörper und Referent - dieser Aspekt wird erst von Sokrates in die Debatte eingebracht -, sondern die Deckung der Bedeutung des Etymons mit dem außersprachlichen Sachverhalt. In diesem Sinne ist der Name „Agamemnon", um eine der zahlreichen Etymologien des Sokrates anzuführen, ein natürlicher Name eben deshalb, weil er darauf verweist, daß sein Träger bewundernswert („agastos", ) im Ausharren („epimone", ) war, im Ausharren vor Troja nämlich (395). Der Geber eines Namens, was hier immer auch bedeutet: eines Wortes, muß seinen Blick „auf das einem jeden Ding von 10

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Es werden also nur jene Aspekte des »Kratylos« angeführt, die für die zeitgenössische Diskussion relevant sind. Der gesamte Komplex der Auseinandersetzung mit der Anschauung des Heraklit von der stetigen Bewegung des Seins - als Anhänger Heraklits drücken für Kratylos nur die wirklich naturgemäßen Wörter den Seinsfluß aus bleibt demnach ebenso unberührt wie die Parallelen zwischen der Konventionsthese des Hermogenes und Überlegungen des Protagoras, wonach der Mensch ,das Maß aller Dinge' sei und die Dinge so seien, wie sie dem einzelnen erscheinen. - Die Literatur zum »Kratylos« ist so umfangreich, daß hier lediglich auf einige Arbeiten verwiesen werden kann (Derbolav bietet u.a. eine Bibliographie über „Hundertfünfzig Jahre Kratylosforschung"): J. Derbolav: Platons Sprachphilosophie im „Kratylos" und in den späteren Schriften. Darmstadt 1972; K. Gaiser: Name und Sache in Platons „Kratylos". Heidelberg 1974; Rijlaarsdam 1978; W. U. Wurzel: Platos „Kratylos"Dialog. Oder: Von der Motiviertheit der morphologischen Formen. In: W. Neumann u. B. Techtmeier (Hrsg.): Bedeutungen und Ideen in Sprachen und Texten. Berlin 1987, 120-134; R. Schrastetter: Die Sprachursprungsfrage in Platons „Kratylos". In: J. Gessinger u. W. v. Rahden (Hrsg.): Theorien vom Ursprung der Sprache. 2 Bde. Berlin u. New York 1988, 42-64. - Die bei weitem detaillierteste Beschäftigung mit dem Gegenstand liefert Rijlaarsdam. Die zentrale Dichotomie des »Kratylos« wird in den Zusammenhang der zeitgenössischen Geistesgeschichte eingeordnet von: F. Heinimann: Nomos und Physis. Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5. Jahrhunderts. Basel 1945. Rijlaarsdam (1978, 65) weist daraufhin, daß im Griechischen die Ausdrücke onoma (,Name') und rhema (,Wort') weitgehend synonym seien.

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Natur zukommende Wort" (390) gerichtet halten, das gegeben ist als Idee, als „Wort an sich", in „Urform" („eidos", ; 390) - im zitierten Beispiel wäre das: der ,Im-Ausharren-Bewundemswerte' -, und diese „Urform" muß er nun „in die Laute und Silben" des zu schaffenden Wortes „einzuprägen" verstehen (- im Beispiel entsteht als Ergebnis eben Agamemnon"). Sokrates sagt nicht, daß für einen betreffenden Gegenstand nur ein einziger Name in Frage kommt; wenn nur die „Urform" gleich ist, wird das fertige Wort den Gegenstand immer dessen Natur entsprechend bezeichnen: Im Grunde stimmen die Namen „Hektar" und „Astyanax" überein, da „ « " ( , ,König') und „hekto^ '( , ,Inhaber') weitgehend dasselbe bedeuten, „denn worüber einer ,König' ist, dessen ,Inhaber' ist er doch auch" (393). Fast nebenbei löst Sokrates damit auch das Problem der Referenzidentität von Wörtern in verschiedenen Sprachen: Derselbe Gegenstand mag in zwei Sprachen unterschiedlich bezeichnet werden, doch können beide Namen ,natürlich' und damit richtig sein, wenn sich der Nomothet jeweils nach dem „eidos" gerichtet hat - ein eleganter Ausweg aus dem MehrsprachigkeitsDilemma, der sich in einer Variante im 17. Jahrhundert u.a. bei Philipp von Zesen und Daniel Georg Morhof wiederfindet12, wenn sie die Unterschiedlichkeit der Bezeichnungen in verschiedenen Sprachen damit erklären, daß die jeweilige Bezeichnung nur unterschiedliche Aspekte desselben Gegenstandes angibt. Sokrates, in dem die Leser des »Kratylos« im Laufe der Jahrhunderte immer wieder Platon selbst erkennen wollen, macht absolut deutlich, daß er nur diejenigen Worte für „wohlgelungen" (439) hält, die in der oben beschriebenen Weise etymologisch motiviert sind. Hierin mag der Grund für die Annahme liegen, Platon sei kompromißloser Vertreter der Motiviertheitsthese. Die Etyma können die Bedeutung des fertigen Wortes auf unterschiedliche Weise vermitteln, indem sie z.B. in verschiedenen Spielarten der Komposition unmittelbar in ein Wort eingehen (Typ „Polemarchos", ,Kriegsherr'; 394) oder indem sie als inhaltliches Bezugswort dienen, von dem das fertige Wort durch lautliche Modifikation unterschieden ist (die „Heroen" haben ihre Namen von ihrem Schöpfer „erotos", [ '& ]), oder 12

Im übrigen haben dies schon die Befürworter der physei-These in der Antike getan, wie Proklos in seinem Bericht über die Diskussion dieser Frage durch Demokrit erwähnt; vgl. dazu Rijlaarsdam 1978, 261f. - Vgl. diese Stelle bei Morhof: „Es kan die Griechische / Lateinische und Teutsche Sprache ein einiges Ding mit verschiedenen Worten abbilden / da doch ein jedes derselben sich auff einen analogismum naturae gründet / und würde dann die Frage seyn / welches unter diesen allen am nähesten zum Ziel treffe." In: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie, 2. Aufl., 1700, 24.

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indem sie auf der Basis lautlicher Entsprechungen mit dem fertigen Wort Bedeutungen anzeigen, die zur Bedeutung der lexikalischen Endform interpretativ in. Beziehung gesetzt werden k nnen („h lich", „aischron" [αίσχρόν\ erkl rt sich aus „aeischorrhun" [άεισχόρρουν], das ,Immerstromhemmende', das sich dem - von Heraklit so gesehenen - Flu der Dinge hemmend entgegenstellt). Es lie en sich weitere Formen der etymologischen Motiviertheit anf hren, doch gewinnt die Darstellung erst mit der bereits angedeuteten Annahme einer lautmalenden Benennung eine neue Qualit t. Irgendwann n mlich gelangt der erfahrene Etymologe an den Anfangspunkt der Kette von Herleitungen und sieht sich mit der Frage nach der Herkunft der ersten Grundelemente konfrontiert. Sokrates' entsprechende Erkl rungsversuche sind das eigentlich Neue im »Kratylos«: das r erscheint ihm als „ein Werkzeug jeder Art von Bewegung" (426), das / als Mittel „zur Benennung des Glatten (λεϊον [leion]) und des Gleitens (ρλισ$άνειν [olisthanein])" (427), das n zur „Bezeichnung dessen, was drinnen (ένδον [endon]) und innerhalb (έντός [entos]) ist" (427) etc. Die Darlegungen des Sokrates bedeuten allerdings keineswegs, da die Konventions-These als widerlegt zu gelten hat. Im Grunde l t sich Sokrates' Position so zusammenfassen: Die lautmalende Verankerung der W rter w re Kennzeichen einer idealen Sprache, aber h ufig wurden die W rter eben nicht in dieser Weise geschaffen; einige W rter lassen solche lautmalenden R ckbindungen nur bei abenteuerlicher Interpretation erkennen. Wenn aber ein Gespr chspartner die Bedeutung eines Wortes wie ,jkleroies" (σκληρότης, ,H rte') zu verstehen vermag, obgleich es ein / enth lt, welches lautmalend f r das Glatte, Weiche, also f r das Gegenteil des Harten steht, dann kann dieses Verstehen nicht durch den Nachvollzug einer „nat rlichen hnlichkeit mit den Dingen" zustande gekommen sein, sondern nur durch die Gewohnheit, und die ist nichts anderes als bereinkunft (43 4f). Damit wird die These von der v lligen lautmalenden Motiviertheit der W rter zugunsten der Konventionsthese eingeschr nkt.13 Eingeschr nkt wird auch der Anspruch des Kratylos, man k nne die W rter f r den Spiegel des Wesens der Dinge halten. Der urspr ngliche Namengeber habe lediglich seine pers nlichen Vorstellungen vom Wesen der Dinge zur Grundlage des Benennungsaktes gemacht, k nnte sich dabei allerdings durchaus geirrt haben (436ff), so da nur der Blick auf die Dinge 13 Nachdem Sokrates zuvor die Konventionsthese ihrerseits eingeschr nkt hat: Dem Hermogenes h lt er vor, da die Wahl der W rter f r die Dinge keineswegs nur auf bereinkunft beruhe, denn es entspreche der Ordnung der Dinge, etwa das Junge eines L wen ebenfalls „L we" - und nicht „Pferd" - zu nennen (393).

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selbst wahre Erkenntnis ermöglicht, und dies ist der Blick des Dialektikers. Die Namengeber dagegen könnten uns mit fehlerhaften Wortschöpfungen gar „in Taumel" (339) geraten lassen, ein Gedanke, der in der frühneuzeitlichen Sprachreflexion immer wieder auftaucht, man denke an die Bemerkung des Francis Bacon im 43. Aphorismus, die Wörter veranlaßten uns zu „inanes [...] controversias et commenta", zu verstiegenen Disputen und Hirngespinsten. ,Wer die Wörter kennt, kennt die Dinge' ist im Deutschland des 17. Jahrhunderts daher entweder ein ideologisches Bekenntnis der Stammwort-Theoretiker, die an der Möglichkeit einer „eigentlichen", mit der natürlichen Ordnung kongruenten Muttersprache festhalten, oder aber die Feststellung von Anhängern einer Kunstsprache, nachdem die Wörter dieser Kunstsprache mit einer zuvor etablierten Ordnung der Dinge korreliert wurden. Die im »Kratylos« enthaltenen Differenzierungen in der Frage von Arbitrarität und Motiviertheit begegnen in der Geschichte der Sprachphilosophie nur selten in der bei Platon anzutreffenden umfassenden Systematik.14 Das allgemeine Bewußtsein der Alternative von Motiviertheit und Arbitrarität des Zeichens aber findet sich in der einen oder anderen Form immer wieder seit der Antike.15 Es findet sich auch, und dies ist für das im Mittelalter wie in der frühen Neuzeit verbreitete Etymologisieren von Bedeutung, in der christlichen Philosophie und Theologie, unter anderem bei Augustin, der in »De doctrina Christiana« natürliche Zeichen von durch Menschen gesetzten unterscheidet16, wie auch bei Petrus Hispanus, im ersten Traktat der »Summulae« („Vocum significativarum alia significat naturaliter, alia ad placitum"). Im 17. Jahrhundert schließlich spricht Philipp von Zesen vom „streit [...] unter den gelehrten": Der Auffassung, „daß die benahmung der dinge wilkührlich und von ohngefahr entsprossen / und auf der Zustimmung der menschen und dem gebrauche beruhe", stehe die Ansicht gegenüber, „die rechte und wahre nenn-worter" nehmen „wesen und 14 15

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Ein Ausnahme bildet Leibniz, dessen Überlegungen erstaunliche Parallelen zu denen Platons zeigen; dazu s. unten. Überblicke geben H. H. Christmann: Arbitrarität und Nicht-Arbitrarität im Widerstreit - Zur Geschichte der Auffassung vom sprachlichen Zeichen. In: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung, 38, 1985, 83-99; E. Coseriu: L'arbitraire du signe. Zur Spätgeschichte eines aristotelischen Begriffes. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 204, 1968, 81-112; B. E. Rollin: Natural and Conventional Meaning: An Examination of the Distinction. The Hague 1976; speziell für das 17. Jahrhundert: R. Zeller: Dichter des Barock auf den Spuren von Kratylos. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift, 38, 1988, 371394. II, 2.

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gleicheit" der außersprachlichen Referenten an, so daß sie sich nicht „nach unserer lust und beliebung" verändern lassen.17 Harsdörffer überträgt die Eigenschaften von Wörtern auf die von Bildern, deren Bedeutung „entweder von der natürlichen Eigenschaft oder von dem einstimmigen Satzung und Beliebung der Menschen / oder von beeden zugleich" herrühre.18 Becher unterscheidet zwischen zwei Arten der Schrift, „Hieroglyphicam & Steganographicam"19; erstere bringe „rem ipsam" zum Ausdruck, sozusagen auf unvermittelt natürliche Weise, die zweite bezeichne die Dinge auf dem Wege über die durch Buchstaben gebildeten Wörter, mithin unter Rückgriff auf konventionelle Festlegungen. Bechers Differenzierung geschieht mit Blick auf die Erfordernisse von Universalsprachen: Die von ihm geschilderte Natürlichkeit der Zeichen müßte in einer Kunstsprache eigens hergestellt werden, so daß, wie oben angedeutet, für Universalisten Motiviertheit des Zeichens nichts in der ,Natur der Sprache' Vorgefundenes, d.h. letztlich von Gott Gegebenes, sondern doch wieder vom Menschen Geschaffenes ist. Frühneuzeitlichen Vertretern der Motiviertheitsthese geht es nicht um so offensichtliche Formen der Motiviertheit wie die der morphologischen Motiviertheit durchsichtiger Komposita (Typ „Hauptsprache"), sondern um die Nicht-Arbitrarität von Simplizia, d.h. die lautmalende bzw. lautsymbolische Kongruenz von Etymon und Bezeichnetem. In letzter Konsequenz werden dabei isolierten Lauten bestimmte Bedeutungen zugesprochen, ein Verfahren, das sich in sprachbezogenen Arbeiten der Antike ebenso findet wie in solchen der frühen Neuzeit.20 Die eigentliche Lautmalerei wird dabei schnell zugunsten einer abstrakteren Lautsymbolik verlassen, wenn etwa, wie bei Erasmus, das / als Ausdruck von Weichem („lentus, labi, lenis") oder das m von Großem („magnus, mons, moles") verstanden wird.21 In der für viele Autoren wichtigen Poetik Julius Caesar Scaligers, »Poetices libri septem« von 1561, entspricht/dem Geräusch des Windes, u wird mit Dunkelheit korreliert und / mit Kleinheit.22 Gelegentlich findet sich sogar die Einbeziehung der Physiognomie des Sprechers: Bei der Aussprache von lat.

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Rosen=mänd, 1651, 106f. Poetischer Trichter, 1648-1653, III, 108. Character, 62. Aus der Antike sei hier nur ein Beispiel zitiert: Der Kopte Pachomios kennzeichnet die von ihm gebildeten Mönchsklassen durch griechische Buchstaben und schlägt vor, „den Einfacheren und weniger Störrischen [...] Jota [beizulegen], den Schwierigeren und Gewundeneren [...] Xi". Zit. nach Dornseiff 1925, 25. De pronunciatione, 95 8e-95 9a. 4. Buch, Kap. 47.

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„nos" wiesen die Lippen bezeichnenderweise nach innen, während sie bei der Artikulation von „vos" nach außen zeigten.23 Aus der Annahme der Motiviertheit der Einzellaute ergibt sich folgerichtig die Vermutung der Motiviertheit ganzer Wörter. Im Gegensatz zu Platon hat sich die Stoa in ihrer Lehre von der ,Richtigkeit der Namen' eindeutig zu dieser Auffassung bekannt, und die vorgetragenen Argumente wiederholen sich im Laufe der Jahrhunderte.24 Ausgangspunkt ist eine bestimmte Anzahl motivierter Simplizia, die als Grundlage für weitere Bildungen dienen, die wiederum zu den Simplizia semantisch im Verhältnis der Ähnlichkeit (similitudo), der Nachbarschaft (vicinitas) oder des Gegensatzes (contrarium) stehen. Den semantischen Verschiebungen entsprechen bestimmte ausdrucksseitige Veränderungen, wobei sich solche Ableitungsgesetze insbesondere das Etymologisieren zunutze macht. Ab dem 16. Jahrhundert finden sich in Texten deutscher Autoren Hinweise auf die besondere Motiviertheit ihrer Muttersprache. Während Valentin Ickelsamer zwar „vnter den Buchstaben" „ettliche tieffe gehaimnuß" vermutet, dies aber grundsätzlich in allen Sprachen gegeben sieht und noch recht bescheiden feststellt, daß auch in den Wörtern des Deutschen „sollicher kunst nicht wenig" sei25, lobt Schottelius ohne jede Einschränkung die „innerliche Schiklichkeit und wundervolle Art" der deutschen Wörter, die, weil die Natur sich in ihnen „völlig und aller dinges ausgearbeitet" habe, nun „den gehörigen Laut veruhrsachen", d.h. jeden Gegenstand gemäß seiner „Eigenschaft und Wirkung" bezeichnen können.26 Das Ideal ist die Sprache, in der sich alle Wörter, so Ratke, „mit den Sachen wohl ohne wiederstand reimen"27, und dem Deutschen kommt in dieser Hinsicht keine andere Sprache gleich: Zum Exempel nehme einer nur diese Worter: Wasser fliessen / gesausei / sanft / stille / etc. wie kunstlich ist es / wie gleichsam wesentlich fleust das Wasser mit stillem Gesausei von unser Zungen? Was kann das Geräusch des Fliessenden Wassers we-

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25 26 27

Diese Ansicht findet sich ebenfalls seit der Antike; vgl. dazu J. Pinborg: Classical Antiquity: Greece. In: T. S. Sebeok (Hrsg.): Current Trends in Linguistics. Bd. 13/1: Historiography of Linguistics. The Hague u. Paris 1975, 69-126, 95. Zur stoischen Sprachtheorie vgl.: K. Barwick: Probleme der stoischen Sprachlehre und Rhetorik. Berlin 1957; zur antiken Sprachtheorie allgemein: H. Steinthal: Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und Römern. 2 Bde. 2. Aufl. Berlin 1890 u. 1891. Nachdruck. Hildesheim u. New York 1971; Pinborg 1975; Schmitter 1990. Ain Teütsch Gramatica, 1534, D2rf. Ausfuhrliche Arbeit, 58f. Die WortschickuiigsLehr Der Christlichen Schule, 102.

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Sprache, Denken und Wirklichkeit sentlicher abbilden? Was kann stiller / sanfter und lieblicher uns zu Gemuthe gehen / als diese geordnete Letteren stille / sanft und lieblich?28

Im gleichen Zusammenhang spricht Harsdörffer von einer „der Natur gemassen Fuglichkeit" des Deutschen, das „dem schmatzendem / lisplenden / zischenden / rauschenden / brummenden / murmelnde / etc. Getön wunderartig nachzuklingen scheinet".29 Daß Klaj, der für seine Klanggedichte berühmt ist, Gleiches schreibt, kann nicht verwundem: Die deutsche Sprache lasse sich „nach Geheiß der innerlichen Eigenschaft [...] hören"; „sie blitzet erhitzet / sie pralet und stralet / sie sauset und brauset / sie rasselt und prasselt / sie schlösset erbosset / sie wittert und zittert / sie schüttelt zersplittert / sie brüllet und rüllet / sie gurret und murret / sie qwaket und kaket / sie dadert und schnadert [...]".30 Aus solchen Erkenntnissen lassen sich aber nicht nur sprachtheoretische, sondern auch poetologische Konsequenzen ziehen. Für die deutschsprachige Dichtung bieten sich nämlich durch den vermeintlich hohen Grad an Motiviertheit besondere Möglichkeiten der Onomatopöie, eine Tatsache, auf die Opitz bereits 1624 hinweist: „Weil ein buchstabe einen ändern klang von sich giebet als der andere / soll man sehen / das man diese zum offteren gebrauche / die sich zue der sache welche wir für vns haben am besten schicken".31 Der „fließende" Charakter von „l" und „r" könne vom Dichter zur adäquaten Beschreibung „der bäche vnd wäßer" genutzt werden: „Der klare brunnen quilt mitt lieblichem gerausche &c." Auch hier werden Einzellauten Bedeutungen zugewiesen, doch soll dies ausschließlich der Dichtung dienen. Dichtung auf der Basis von Lautinterpretation ist natürlich keine Erscheinung erst der frühen Neuzeit. Wichtig, weil in der Motiviertheitsdiskussion insbesondere des Barock immer wieder zum Thema gemacht, ist die bis in die Antike zurückreichende Tradition der Verschriftlichung der voces animantium. Im 5. Jahrhundert z.B. schreibt Polemus Silvius, seinerseits zahlreichen Vorgängern verpflichtet: „Ovis balat. canis latrat. lupus ululat. sus grunnit. bös mugit. aequs hinnit [...]"32. Das »Glossarium Salomonis« aus dem 10. Jahrhundert enthält neben anderem auch eine Liste von Vogelstimmen: „aquilas clangere, accipitres plipiare, vultures pulpare, corvos craxare vel crocitare, milvos lupire vel iugere [...]". Im 16. und 17. Jahrhun28 29 30 31 32

Schottelius: Ausfuhrliche Arbeit, 59. Lobrede des Geschmackes, 1651, 31. Lobrede der Teutschen Poeterey, 1645, 18. Buch von der Deutschen Poeterey, 378. ,Das Schaf blökt. Der Hund bellt. Der Wolf heult. Das Schwein grunzt. Das Rind brüllt. Das Pferd wiehert.' Zit. nach: W. Kayser: Die Klangmalerei bei Harsdörffer. Leipzig 1932, 213. - Auch die folgenden lateinischen Beispiele nach Kayser, a.a.O.

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dert lassen sich Spuren in den Werken zahlreicher humanistisch gelehrter Autoren nachweisen, bei Erasmus, Gesner, Gruterus, dem älteren Scaliger, Duret, Stigelius und anderen. Ein Beispiel aus »De vanitate mundi« von Jacob Bälde. Idem trecentis vocibus Natura tota clamat, Hoc mugit in trionibus, Hoc hinnit in caballis, Hoc rugit in leonibus, Hoc latrat in moloffis, Hoc barrit in vasticissimus Nigerrimisque barris.

Im 2. Teil von Harsdörffers »Deliciae« findet sich eine deutsche Version: „Unsere Sprache [...] brüllet wie der Low / plerret wie der Ochß / brummet wie der Baer / becket wie der Hirsche rintschet wie das Pferd / mauet wie die Katz / schnattert wie die Ganß / quacket wie die Endte / summet wie die Hummel / klappert wie der Storch / kracket wie der Rab / swirret wie die Schwalbe / silket wie der Sperling [...]".33 Christof Arnold fuhrt im »Kunst= Spiegel« diese Ausdrücke vor: „die Gans die schnattert sehr / der Rabe kraket nur / 1 es zischt die schlanke Schlang / begeiffert ihre Spur: | der Storchen Schlatter=maul das hat ein groß Geklapper / 1 das bappert sein Geblapper. | die Katz die mauet laut / sie pfuchtzt / sie krellt und kratzt: | Das Schwein gruntzt / bürstet sich / es schnudert / krobst und schmatzt; | Frisst das Geschloper auß / riltzt / kotzt ob dem Geschnuder / 1 und ligt im vollen Luder".34 Für viele Autoren besitzt dies noch keine sprachtheoretischen Implikationen, sondern dient als Lautmalerei oder Lautsymbolik dem Ausweis der entsprechenden Möglichkeiten des Deutschen wie der Virtuosität des Poeten. Extrem ist dieser Text aus dem »Pegnesischen Schäfergedicht«: Der kekke Lachengekk koaxet / krekkt / und quakkt / Des Krippeis Krukkenstokk krokkt / grakkelt / humpt und zakkt / Des Gukkuks Gukke trotzt de Frosch un auch die Krukke. Was knikkt und knakkt noch mehr? kurtz hier mein Reimgeflikke.35

33 34 35

S. 171. 1649,36. Ein zweites Beispiel: „Es wallt das Fluhtgelall / die schnellen Wellen schwellen | Die helle Wellenzell ballt den Krystallenwall | Der Wollenhuter billt / die Lammerhälse schellen: | Doch schallt vor allem wol der helle Gegenhall." Georg Philipp Harsdörffer, Sigmund von Birken und Johann Klaj: Pegnesisches Schäfergedicht (1644/45). Hrsg. v. K. Garber. Tübingen 1966, 78 u. 77.

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Der Bereich der Tierstimmen wie der Nachahmung von Naturlauten überhaupt wird bald verlassen; Gegenstand der Lautgedichte kann alles sein, was tönt oder Anlaß zu lautsymbolischer Verschriftlichung gibt. Ein abschließendes Beispiel aus Harsdörffers »Poetischem Trichter«: Also sagt der Poet von der Trummel: Die Trumel pumpt komt / komt / sie surnt körnt / komt / komt / etc.

Von den Schüssen: eilt / ladt / spannt das Gewehr: schiest / platzt drauf/ drauf/ drauf/ drauf/ Heerpaucken / Trompeten / Kartaunen / Musqueten / bluttriefende Degen / hellblinkende Waffen / das Puffen und Paffen der rollenden Wagen / Rauchdampfende Blitz rullt / brüllet mit donrendem Hagelgeschütz.36

Die Bedeutung von Lautmalerei und -Symbolik insbesondere fiir die Literatur des Barock steht außer Frage, doch wird mit ihr das Konzept der Motiviertheit nicht hinreichend erklärt: Lautmalerei und Lautsymbolik sind lediglich die für die Dichtung fruchtbar gemachten, durch Eingliederung in das poetische Regelwerk sozusagen domestizierten Aspekte des auf Motiviertheit basierenden Verhältnisses der deutschen Sprache zur Wirklichkeit, eines Verhältnisses, das nur unter Berücksichtigung einer Fülle sprachphilosophischer und gesellschaftlicher Aspekte zu beschreiben ist. In Ansätzen deutet sich die Spezifik dieses Verhältnisses bereits in einem so unauffällig anmutenden Sprachlob wie demjenigen Schills an: 36

I, 111. - Zur europäischen Verbreitung lautmalender und lautsymbolischer Dichtung vgl. schon Kayser 1932, 212ff. Danach einige Beispiele, zunächst aus dem Italienischen: In Marinos »Adone« werden durch Häufung von i-Lauten Vogelstimmen nachgeahmt (4, 129): „Chiama al concerto le canore voci | E i ministri invisibili volanti | AI primo cenno suo vengon veloci." Aus dem Spanischen: Juan de la Cruz gibt das Geräusch von Wind wieder: „Oh cristalina fuente, | Si en esos tus semblantes plateados, | Fomases derepente| Los ojos deseados, | Que tengo en mis entraiias dibujados? | Apärtalos, Amado | Que voy de vuelo ... | AI aire de tu vuelo ... ." Aus dem Französischen: Du-Bartas imitiert eine Lerche: „La gentille alouette avec son tire-lire ] Tire l'ire a l'ire et tire lirant tire | Vers la voute du ciel, puis son vol vers ce lieu | Vire, et desire dire adieu Dieu, adieu Dieu." Aus dem Niederländischen: Vondel gibt Kriegslärm wieder: „Onder 's krijgs alarmtrompetten, | Onder 't dondren der musketten, | Onder 't barsten van 't metael, | Onder 't knarssen van het stael, Onder 't swaijen van de vaenen."

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Bleibt also darbey / daß vnsere teutsche Sprach reich an milde / reich an gute / voll donner / voll plitzens / voll lachens / voll weinens / voll grausens / voll prausens / voll lieblicher harte / männlichen gelautes / fliessender sussigkeit.37

Dies läßt sich zunächst als rhetorisch sorgfältig gestaltetes Lob der phonetisch-prosodischen Qualitäten des Deutschen lesen und damit als Verteidigung gegen diejenigen, welche die Deutschen aufgrund ihrer Sprache für „grobe brummende Leute" halten, „die mit rostigen Worten daher grummen / und mit harten Geleute von sich knarren".38 Doch ist die Auswahl der Eigenschaften, die dem Deutschen zugeschrieben werden, bezeichnend: Donner, Blitz, Grausen, Brausen, Härte, Männlichkeit bezeichnen nicht nur lautliche39, sondern auch inhaltliche Merkmale der deutschen Haupt- und Heldensprache, der Sprache der tapferen Germanen, deren Stammwörter man sich als „alte / ansehnliche / breit= und knebelbärtige Manner" vergegenwärtigen muß, die „fest und unwandelbar" stehen und „seulengleich" einhergehen.40 Was dem oberflächlichen Blick eines Franzosen oder Italieners als Beleg für mangelnde Klangqualitäten des Deutschen erscheinen mag, ist in Wirklichkeit Spiegel der besonderen Solidität seiner Konstituenten, ihrer erkenntnistheoretischen Zuverlässigkeit: Wie die Wörter keiner zweiten Sprache erlauben die des Deutschen einen Zugriff auf die Gegenstände und Sachverhalte der Wirklichkeit in ihrem objektiven Gegebensein - eine für die deutsche Sprachreflexion charakteristische Verquickung philosophischer und sprachpatriotischer Momente. Der Gedanke der Motiviertheit des Deutschen kann also einerseits bloße Lautmalerei in der Dichtung nach sich ziehen, kann andererseits erkenntnistheoretische Dimension annehmen und dann entweder Anlaß zur Ideologisierung in Gestalt des Sprachpatriotismus geben oder Teil einer komplexen sprachphilosophischen Argumentation sein, in der die Motiviertheit durch ihre Begründung in der adamischen Ursprache ins Umfeld der Mystik gerückt wird. Der Übergang zwischen diesen Bereichen, in de37 38 39

40

Der Teutschen Sprach Ehren=Krantz, 1644, 190. Schottelius: Ausführliche Arbeit, Praefatio. Vgl. Schottelius: Ausführliche Arbeit, 59: „Wolan / last uns ein Gegenexempel nehmen / last uns sagen Donner / brausen / krachen / Blitz / etc. Man durchsinne doch den kraftigen Tohn dieser Wörter / und die Eigenschaft des Dinges / so sie andeuten; Lieber / was bricht machtiger zu uns herein als das Donneren und krachen und brausen? Was fleucht mit einer mehr erschrekkenden Schnelligkeit dahin / als der Blitz? Also wenn Opitz sagt: da eine siedende Flamme mit solchem Krachen und schreklichem Getohn heraus führ: Welcher Teutscher vernimt alhie nicht anfangs ein flammendes siedendes Gemang / darauf durch die folgende hartbrechende Worter ein krachen auf uns losbricht." Schottelius: Horrendum Bellum Grammaticale Teutonum antiquissimorum, 1673, 10.

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nen der Motiviertheitsgedanke eine Rolle spielt, ist fließend. Die Verbindung zwischen dem rein poetischen Aspekt und dem der Sprachmystik sei kurz am Beispiel von Philipp von Zesens »Rosen=mänd« und einigen seiner Gedichte dargestellt. Zunächst zum theoretischen Rahmen von Zesens Sprachbegriff, wie er ihn im »Rosen=mänd« von 1651 entwickelt. Ausgangspunkt ist die Annahme einer Ursprache, „der Adamischen oder Ebreischen" Sprache, aus der sich alle anderen Sprachen herleiten (S. 98); die Spezifika dieser Herleitung und insbesondere die Stellung des Deutschen als einer „Hauptsprache" werden an anderer Stelle, im Zusammenhang der Sprachursprungsthematik behandelt. Da Adam seine Akte der Benennung „nach den eigenschaften der dinge" (107) vollzogen hat, garantiert die Verankerung in der Ursprache die Motiviertheit sämtlicher Sprachen der Erde. Letztlich gibt es kein Wort ohne Wurzeln in der Natur, und wenn es nur einem „knalle / gerausche oder halle des klanges und getohnes" (108) des Referenten verpflichtet ist. Mit der Verbindung zur Ursprache ist auch jeder folgende Bezeichnungsakt motiviert: Zwar kommt es vor, daß jemand „aus kurtzweile" irgendeinen Namen für einen zu benennenden Gegenstand wählt, doch wird er dabei stets „unvermarkt" und „fast ohne sein wissen" von „der natur und eigenschaft des benennten dinges selbst" (107) geleitet.41 Selbst die größte „menschliche Spitzfindigkeit" kann kein radikal neues Wort hervorbringen, jedes Wort liegt „von anbegin schon in der natur der spräche verborgen". Und nur aus dieser „natur der spräche / oder aus dem natürlichen / ersten brunn-kwalle der worte" können neue Wörter geschaffen werden (111). Was Zesen hier vorträgt, hat fast den Charakter einer Beschwörung: Was immer der Mensch im Bereich des Sprachlichen versuchen mag, nie wird er bestimmte Prinzipien der Ordnung außer Kraft setzen können. Oberflächlicher menschlicher Neuerungssucht steht eine immer schon gegebene Sprachnatur gegenüber. Die Wortwahl zu ihrer Beschreibung ist bezeichnend: Natur, natürlich, Brunnquelle, von Anbeginn weisen diese Natur und Ordnung der Sprache als - vom Standpunkt Zesens und vieler seiner Zeitgenossen müßte man ergänzen: in beruhigender Weise unverbrüchlich und letztlich menschlichem Zugriff entzogen aus. Der Motiviertheitsgedanke gibt hier Anlaß zu einem Ausgreifen in die ordoThematik und ist in der von Zesen gewählten Form typisch für eine zentrale 4l

Zesen hebt damit seine zuvor getroffene Feststellung auf, er erkenne in der Diskussion, ob die Dinge „wilkührlich und von ohngefahr" bezeichnet werden oder aber danach, ob sie mit „den bedeutenden dingen [...] ubereinkahmen" (107), beide Positionen gleichermaßen an.

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Linie barocker Sprachreflexion, die auf dem Glauben an die ,Eigentlichkeit' von Sprache, d.h. an die Kongruenz von - deutscher - Sprache und Wirklichkeit beruht. Zu den Spezifika der Motiviertheit bei Zesen: Allem Sein liegen die vier „uhrwesen" Wasser, Erde, Luft und Feuer zugrunde. Ihnen entsprechen in der Sprache die vier „uhr-laute" a, e, u und o: Im a kommt die „durchdringende kraft des wassers" zum Tragen, im e „das sinken der erden", im u „das sanfte steigen und schweben der luft", im o schließlich „die hohe und steigende kraft des feuers" (153f.).42 Den vier „selb-lautern" stellt Zesen vier „uhr-mitlauter" als „Gehilfen" an die Seite, b, d, l und s. Die ersteren geben den letzteren „die Seele", sie machen ihren „todten und tauben klang lebendig und lautend" (173). Auch die vier Urmitlauter korrelieren mit den Urwesen: Dan b bezeuchnet die eigenschaft des wassers / und klinget auch so blatschericht: das d hat die Steifheit / unbewaglichkeit / und das sinken der erde gleichsam in seinem klänge: das l zeiget an die leichtheit und dinnigkeit der luft: das s schwinget sich auch gleichsam über alle buchstaben hinauf / wie das feuer über alle andere uhrwesen. (176)

Durch Kombinationen und Derivationen ergeben sich aus den acht Urlauten alle im Deutschen vorkommenden Laute, ebenso wie alle Substanzen aus den vier Ursubstanzen bestehen.43 Zesens Annahme, daß sich alle komplexen Wesenheiten aus immer einfacheren Wesenheiten zusammensetzen, begegnet in der Geistesgeschichte der frühen Neuzeit immer wieder, in den kombinatorischen Sprachentwürfen ebenso wie in der Stammwort- und Wortbildungstheorie sowie in der Monadenlehre von Leibniz. Sehr unterschiedlich sind allerdings die Vorstellungen davon, ob Komplexes sich in Einfaches mit Hilfe rationaler Methoden des Schließens oder durch eine Art divinatorisches Schauen rückführen läßt. Die Korrelationen zwischen den Konstituenten von Sprache und Wirklichkeit werden im »Rosen=mänd« zunächst in eher traditioneller Weise, d.h. dahingehend beschrieben, daß „harten dingen" bestimmte „harte knallende [...] worte" etc. entsprechen. 42 43

Zur mystischen Deutung von Vokalen und Konsonanten in den griechischen Zauberpapyri, aber auch davor, vgl. Dornseiff 1925, 35ff. H. Blume spricht in diesem Zusammenhang treffend von der „Semantisierung der Phoneme". In: Sprachtheorie und Sprachenlegitimation im 17. Jahrhundert in Schweden und in Kontinentaleuropa. In. Arkiv for Nordisk Filologi, 39, 1978, 205-218, 213. - Zu Zesens sprachpraktischem Arbeiten vgl. auch Blume: Die Morphologie von Zesens Wortneubildungen. Gießen 1967; einen Überblick über Leben und Werk Zesens gibt F. v. Ingen: Philipp von Zesen. In: Steinhagen/v. Wiese 1984, 497-516; dort auch weitere Liteiatur.

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Hier geht es noch um bloße Lautmalerei, die Beispiele „knallen", „prallen", „prasselen" usw. belegen es. Bezieht man nun neben dieser Feststellung der lautmalenden Entsprechung Zesens Äußerungen zu den Urlauten ein, ergeben sich prinzipiell andere Arten von Parallelen, eher solche lautsymbolischer Natur: Das Wort „bläu" z.B. enthält die Selbstlaute a, e und u, die für Wasser, Erde und Luft stehen, und die Vermischung dieser drei Elemente ergebe in der Natur die Farbe Blau (213). Ein zweites Beispiel: Wie das Feuer die Luft liebt, so „wil auch das o das u gern allezeit bei und um sich haben", ja, die beiden Laute „werden gleichsam / eines in das andere verwandelt", wie aus den Wörtern „böugh / büghlein / bogen / bügel / boukel / buk-en / bühel", die alle aus demselben Stamm hervorgehen, ersichtlich ist. Wie sich aber Feuer und Wasser nicht vertragen, „so wil auch das o das a nicht bei sich vertragen", und wenn das a dem o „zu nahe kommt und es das u nach sich zühet", ergibt sich „das rauhe / grausame / grauliche au / das ist ein grauliches grausen / ein schaurender graus / ja wohl das haulende garaus: dan sausen die winde / dan brausen die wallen" (190f.). Wer die systematische Aufarbeitung solcher Zusammenhänge bei Zesen erwartet, sieht sich enttäuscht. Vieles ist inkonsequent und unklar - wie etwa ist das Verhältnis zwischen Lautmalerei und Lautsymbolik? -, manches wird nur angedeutet. Seine Lautsymbolik gibt Zesen Anlaß zu den stellenweise abenteuerlichsten Etymologien und sprachgeschichtlichen Überlegungen, wobei er immer wieder richtig erkannte sprachhistorische Phänomene mit mystifizierenden Erklärungen versieht: Lautverschiebungen zwischen stimmhaften und stimmlosen Plosiven und Frikativen - etwa zwischen b, p und / - werden damit erklärt, daß die Laute „bluhtsverwante" seien (216), Verschiebungen zwischen / und e - das / „fließet aus dem e"44 - hängen damit zusammen, daß das / ohnehin „einen halben laut vom e" hat, was sich wiederum aus seiner grundsätzlichen Instabilität ergebe (es „gleichet" dem Wind und bleibt daher „an den ändern selblautern nicht wohl haften"). Vor dem Hintergrund dieser sprachreflexiven Überlegungen lohnt sich der Blick auf Zesens Gedichte bzw. Lieder: Ach! Schone / das rauschen der lauschenden küsse betäubet die obren / bezaubert den muht. Wie sanfte / wie lieblich erschallende grusse erteilet der Lippen rosienliches blüht! ihr helles getohne 44

Zesen mag hier die Erscheinung ie > i im Rahmen der nhd. Monophtongierung vor Augen gehabt haben.

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klingt lieblich und schone / o Schone / bei Dir.45

Lautmalerei im engeren Sinne des Wortes findet sich allenfalls in der ersten Zeile („rauschen").46 Was die Zeilen formal zusammenbindet, sind - natürlich außer Reim und Metrum - Lautwiederholungen, etwa die des Sibilanten in der ersten Zeile bzw. des [i] im zweiten Teil der Strophe. In der folgenden Textprobe übernimmt die gleiche Funktion der w-Laut, in der ersten Zeile verstärkt durch die zusätzliche Bindung an dasy: Juliane l Zier der Jugend / schönstes Bild der schonen tagend / kluge Fürstin / nim doch hin [...].47

Ein ähnliches Bild in den folgenden Zeilen, diesmal kommt die entsprechende Funktion dem eu bzw. an zu: Die liebe / die von Frauen rührt / entzundt sich bald / und hitzt wie feuer-flammen; doch wird sie nicht so hoch geführt / und hat die äugen nuhr zu Ammen: die aber / die aus trau: aus freundschaft / zwischen freunden entspringt / ist alzeit neu l und steht bei freund und feinden.48

Durch Lautwiederholungen werden die Wörter treu, Freundschaft, Freund und neu verbunden und damit die semantischen Bezüge zwischen den drei ersten in der Lautgestaltung bestätigt. Zusätzlich wird das Feind der letzten Zeile mittels Alliteration zu Freund und Freundschaft in Beziehung gesetzt, gleichzeitig aber durch die Verschiebung von eu zu ei von ihnen abgehoben. Der lautlichen Anknüpfung wie der Abhebung entspricht die semantisch antonyme Relation zwischen Freund und Feind (und in gewisser Weise auch zwischen treu und Feind): Freund und Feind bilden einerseits eine nahezu feste Wortgruppe, sind jedoch inhaltlich kontrastiert.49 45 46 47 48 49

Dichterisches Rosen= und Liljen-tahl, 1670. In: Sämtliche Werke, Bd. 2, 115. Vgl. zu diesem Komplex auch: R. Weber: Die Lautanalogie in den Liedern Philipp von Zesens. In: F. van Ingen: Philipp von Zesen 1619-1969. Wiesbaden 1972, 156181. Dichterische Jugend= Flammen, 1651. In: Sämtliche Werke, Bd. l/l, 269. Ebd., 274. Interessanterweise verfahrt Jakob Böhme ähnlich, wenn er bei der lautlich-semantischen Analyse des Wortes „barmherzig" in der Silbe „barm" auch die Bedeutung von „warm" und in „herz" auch die Bedeutung von „herb" (im Sinne seiner Qualitätenlehre) gegeben sieht: „Also ist und heist die herbe Qualität Hertz, und die susse Barm

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Die Lieder Zesens sind Gegenstand einer Untersuchung R. Webers, in der die Rede von einem „Sprachkosmos"50 ist, der durch Zesens Dichtungsverfahren geschaffen werde: Durch Lautanalogien werden Wörter zueinander und, über die Lehre von den motivierten Urlauten, zur Natur in Verbindung gesetzt. Zesens klangorientierte Dichtung sei letztlich poetisches Nachzeichnen der alles durchdringenden Ordnung. Damit widerspricht Weber zurecht P. Hankamer, der Zesens Verfahren als „barockes Tart pour l'art"51 bezeichnet hatte. Tatsächlich ist der überwältigende Eindruck bei der Lektüre der Quellen insbesondere des 17. Jahrhunderts die Präsenz des orcfo-Gedankens; ein nur spielerisches, d.h. hier: keinem zugrundeliegenden Ordnungsprinzip verpflichtetes Arrangieren wohlklingender Wörter ist bei Zesen angesichts seiner sprachreflexiven Überlegungen nicht denkbar, wiewohl das sprachspielerische Element nie völlig ausgeschaltet ist. Doch werden andererseits diese Überlegungen, wie oben angedeutet, keineswegs schlüssig in Dichtung umgesetzt, etwa so, daß man stets von bestimmten Lautkonstellationen auf bestimmte Aussagen über den ordo der Sprache und der Natur schließen könnte. Eine gradlinige referentielle Semantik ist zugunsten einer gewissen Autonomisierung der Sprache aufgehoben, und diese teilautonome Sprache verrät zweierlei: die barocke Neigung zum Spiel mit dem Sprachmaterial und gleichzeitig das Andeuten, Suggerieren von Bedeutungsmöglichkeiten durch Lautkombinationen und -kontrastierungen auf einer zweiten Ebene neben der wortsemantischen, irgendwo zwischen Lautmalerei und sich auf „Uhrwesen" und „Uhrklänge" berufender Lautsymbolik. Im letztgenannten Punkt erweist sich die Nähe von Zesens Sprachtheorie und dichterischer Praxis zu mystisch-kabbalistischem Gedankengut. Nicht nur in seinen eigenen Buchstabenspekulationen zeigt sich Zesens Kenntnis der Kabbala, sondern auch in der wörtlichen Erwähnung: „Cabala est divinae revelationis ad salutiferam Dei, et formarum separatarum contemplationem, tradita symbolica receptio" definiert er mit Reuch-

50 51

oder Warm, oder Linderung oder Sanftigung, und sind 2 Qualitäten, daraus das Hertze oder der Sohn GOttes geboren wird." Aurora, 8/24. - H. Haferland bezeichnet dieses Verfahren Böhmes als „Überblendung", in: Mystische Theorie der Sprache bei Jacob Böhme. In: Gessinger/van Rahden 1988, 89-130; 121. - Natürlich findet sich solche Dichtung nicht nur bei Zesen; man vgl. nur diese Zeilen Harsdörffers: „Es traut / Die Raut / Unbekannten / Amaranthen / Und Ranunkeln / Die in braunen Schatten funkeln". Weber 1972, 170. - Der Aufsatz faßt zentrale Gedanken der Dissertation der Verfasserin zusammen (Die Lieder Philipp von Zesens. Hamburg 1962). Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock. 2. Aufl. Stuttgart 1947, 149.

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lin52 und lobt den Nutzen kabbalistischer Verfahren „zur heilsamen betrachtung Gottes und der unsichtbahren gestalten"53. Die „ordentliche Verfassung und anstalt der natur" will Zesen in der Sprache finden und nötigenfalls die Ordnung letzterer entsprechend korrigieren, wie sein ideal naturkongruentes Konsonanten-Alphabet zeigt, das von „der weichligkeit oder gelindigkeit" zur „gelinden scharfe" fortschreitet, „von dieser zur harte / und von der harte zur durchdringen[den] härte / und so fort" (l65f.): b / v / w; f / p; g / j / h / k. d /1.1 / m / n / r. s. (169).

Wenn im bisherigen der Eindruck entstand, daß der Nachweis der Motiviertheit in frühneuzeitlichen Texten weitgehend an Einzelwörtern und -lauten als deren Konstituenten geführt wurde, so entspricht dies durchaus den Tatsachen. Zwei Ergänzungen sind jedoch notwendig. Zum einen beschränken sich Buchstabendeutungen nicht auf die Lautlichkeit, sondern beziehen auch die Form der Buchstaben mit ein: Zesen erklärt, in kabbalistischer Tradition, den Namen des hebräischen Buchstabens „Vau" (1) damit, daß er die Form eines Hakens habe. Und „Gimel" (3) bedeute ,Kamel', „weil der buchstab so einen langen hals hat / als ein kamehl".54 Johannes Buno gibt weitere Beispiele: Die Bedeutung ,Rind' des hebräischen „Aleph" (N) werde durch die an Hörner erinnernden gebogenen Strichlein des Buchstabens deutlich; „Beth" (S, ,Haus') spiegele in seiner Form ein flaches, nach vorne zu einem Hof geöffnetes orientalisches Haus; „Lamed" (7) bedeute ,Bratspieß' und besitze auch dessen Form; das „Ain" (J7, ,Auge') gleiche einem Auge, „Zade" (2 , ,GabeP) einer Gabel, „Schin" (ff, ,Zahn') einem Zahn etc.55 Adam, der alle Dinge ihrem Wesen entsprechend benannt habe, sei vermutlich auch der Erfinder dieser Buchstaben gewesen, deren Form er wohl so gewählt habe, um sie sich leichter merken zu können. Der mnemotechnische Aspekt als Erklärung für die Motiviertheit von Sprachzeichen begegnet im Schrifttum der Zeit meist im Zusammenhang sprachdidaktischer Diskussion; er wird an entsprechender Stelle aufgegriffen werden. Die Buchstaben sind jedenfalls nicht 52

53 54 55

Vgl. »De arte cabalistica«, Buch 1. Im folgenden zit. nach: Johannes Reuchlin: De verbo mirifico. 1494. De arte cabalistica. 1517. Faksimile-Neudruck. Stuttgart 1964, [l24]; bei Zesen S. 124. „Die Kabel ist eigendlich eine bewilligte und beglaubigte annehmung oder vielmehr eine Glaubens-entfangnus und gefasseter glaube aus Gottlicher offenbahrung", 123. Rosen=mänd, 131. - Es werden hier und im folgenden die in den Quellentexten gegebenen Schreibungen für die hebräischen Buchstaben übernommen. - Für Hilfe bei der Durchsicht der hebräischen Elemente in den Quellentexten danke ich A. Bedenbender. Johannes Buno: Neues und also eingerichtetes A B C = und Lesebuchlein, 1650, A*4vff; dort auch die folgenden Zitate.

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„slumpsweis" oder „von ohngefehr" entstanden, die des Griechischen nicht - in diesem Sinne äußert sich auch Gerard Vossius in »Aristarchvs, sive de arte grammatica libri septem«, bei dem Buno Anleihen macht -, die des Lateinischen und damit des Deutschen ebenfalls nicht. Die deutsche Fraktur erscheint Buno als durch Schludrigkeit der Schreiber zustandegekommene Variante der lateinischen Schrift, ein angesichts des allgemeinen Sprachpatriotismus eher seltenes Zugeständnis.56 Das „o" (o) etwa habe seine Form durch die Lippenrundung bei seiner Aussprache erhalten, das „r" (r) sei deshalb oben gespalten, „weil der Hund / wan er dissen Buchstaben ausstosset / die Lefzen voneinander ziehet". Franciscus Mercurius van Hellmont erklärt gar die Grundprinzipien des Universums aus der Form der hebräischen Buchstaben: Der Buchstabe „lamed" (V) stehe aufgrund seiner Größe für Tugend und Macht, „he" ( ) zeige Atem, Leben, Fruchtbarkeit an etc.57 Die hierin zum Ausdruck kommende kabbalistische Tradition zeigt sich auch bei Naphtali ben Jacob Bacharach, der die Buchstaben des Gottesnamens „Tetragrammaton" in einer Weise arrangiert, daß sie der Gestalt eines Menschen ähneln - ein Beleg für die Natur des Menschen als ein durch das Geheimnis der Buchstaben entstandener Mikrokosmos58 :

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Es spiegelt aber ein Problem, das mit der Annahme der Motiviertheit des Zeichens verknüpft ist: Angesichts der Vielzahl einzelsprachlicher Formen und Inhalte bei gleichzeitiger Eindeutigkeit der vorgegebenen Gegenstände der Wirklichkeit verlangt der Motiviertheitsgedanke, konsequent zu Ende gedacht, eine Gradierung der Einzelsprachen hinsichtlich ihrer ausdrucke- und inhaltsseitigen Nähe zu den extralingualen Gegenständen und damit hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes'. Buno tut dies in bezug auf die Schreibung, wenn er die deutsche Fraktur der lateinischen Antiqua an Natürlichkeit nachordnet, d.h. er erklärt die Antiqua-Formen für natürlicher und damit für ,richtiger', ,wahrer' als die Formen der Fraktur. Soll aber die Gleichheit der Einzelsprachen vor den natürlichen Gegenständen gewahrt bleiben, muß so verfahren werden, wie bereits Platon im »Kratylos« vorschlägt: Unterschiedliche Bezeichnungen verschiedener Sprachen für dieselbe Sache erklären sich daraus, daß in jeder Sprache unterschiedliche Aspekte desselben Gegenstandes Anlaß für die Bezeichnung sind. Einige Gedancken über die vier ersten Capitel des ersten Buchs Mosis, Genesis genannt, 1698; zit. nach A. Coudert: Some theory of natural language from the Renaissance to the seventeenth century. In: W. Beierwaltes, W.-D. Müller-Jahncke u.a.: Magia naturalis. Stuttgart 1978 [= studia leibnitiana, Sonderheft 7], 56-114; 60. Bacharach, wie die Kabbalisten überhaupt, greift dabei auf das ,Buch der Schöpfung' (»Sefer Jesira«) aus dem 3. bis 6. nachchristlichen Jahrhundert zurück. - Abbildung und Einzelheiten bei Coudert 1978, 71.

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Auch Athanasius Kircher deutet die äußere Form von Buchstaben, speziell des „A", Spiegel des „Ab= und Zunehmens alles Weltwesens":

4

„Von l in 2 / von 2 in 3 reichet das Wachsthum / dan fallet es von 3 in 4 / von 4 in 5 / und dieses Ab= und Zunehmen wird miteinander durch 2 und 4 gleichstandig verbunden. Diese Gestalt haben auch die Pyramides, Flamm= oder Spitzseulen."59

In der Geschichte mystisch-magischen Sprachdenkens ist gerade das A als Gegenpol zum Omega Gegenstand zahlreicher Deutungen und wird aufgrund der drei Striche, die zu seiner Bildung benötigt werden, als Spiegel der Trinität verstanden.60 Dieses Thema begegnet auch bei der Diskussion um die Universalsprachen, dort, wo ägyptische Hieroglyphen als mögliche Vorbilder für Universalalphabete erwogen werden. Zur zweiten Ergänzung: Zwar wird gerade von deutschen Autoren der frühen Neuzeit die Motiviertheit an sprachlichen Erscheinungen vorwiegend auf der Ebene von Graphie, Phonie und Lexik nachgewiesen, doch geht es gelegentlich auch um die Motiviertheit der Syntax. Wieder sind poetologische Aspekte von sprachphilosophischen zu unterscheiden: Harsdörffer weist darauf hin, daß Versmaß und Inhalt eines Gedichts einander entsprechen sollen, wie sich etwa ein Daktylos zur Beschreibung eines Flusses eigne.61 Dem Daktylos spricht Buchner in seiner Poetik aufgrund seines „schwinden Ganges" die Eigenschaft zu, sich besonders bei der Schilderung von „frolichen Sachen" zu bewähren62; grundsätzlich müsse der Dichter als „Folger" der Natur seine Werke dieser Natur „besser zustimment machen".

59 60 61 62

Zit. nach Harsdörffer: Deliciae, III, 37. Zu diesem Komplex vgl. Domseiff 1925, 20ff. Dazu Kayser, 1932, 84f. Ausfuhrlich zu diesem Komplex Zeller 1988, 382ff. August Büchner: Kurzer Weg=Weiser zur Deutschen Tichtkunst, 1663, 146. Die folgenden Zitate ebd., 142 u. 144.

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Auch der Reim kann zur Motiviertheit eines Textes beitragen, wenn die gereimten Wörter in semantischem Bezug stehen: „Küssen" - „Geniessen", „Kunst" - „Gunst", „Regen" - „Segen", „Armen" - „Erbarmen", „Neid" „Leid" etc.; mit Kunst, aber gegen die Natur, werden jedoch gereimt „mein" - „dein", „Eil" - „Weil", „Essen" - „Erpressen", „Stehen" - „Sehen", „Stirn" - „Zwirn".63 Wenn Harsdörffer fordert, die Reimkunst müsse „alles in richtiger Ordnung zusammen verbinden" und die Rede solle „in ihrer natürlichen Ordnung zierlich daher flüssen"64, dann spiegelt sich darin nicht nur das seit der Antike in den Rhetoriken und Poetiken propagierte aptumDenken von der Stimmigkeit aller Teile zueinander sowie zu Sprecher, Rede- bzw. Dichtungsgegenstand und -rezipient - und damit die Warnung vor den als unnatürlich empfundenen Formen des asianischen, schwülstigen Stils -, sondern auch die Präsenz des ori/o-Begriffs im Bereich der Poetik. In seiner gesellschaftlichen Ausprägung bildet der orcfo-Gedanke auch die Grundlage einer sehr indirekten, syntaktische wie wortsemantische Aspekte verbindenden Form der Motiviertheit: Ist in einem Text von Personen unterschiedlichen gesellschaftlichen Ranges die Rede, müsse der Verfasser Sorge tragen, daß er „das würdiger Wort / dem minderen vorsetze / alß den Fürsten vor den Grafen / den Grafen vor dem Freyherren / den Freyherren vor dem Ritter" etc.65 Wie Rudolph Sattler, von dem diese Anweisung stammt, argumentiert auch Kaspar Stieler: Man schreibe nicht „Weib und Mann / Knecht und Herr / Untertahn und Obrigkeit / Nacht und Tag / die weil der Natur nach / das letztere dem ersten vorgehen solte."66 Auch dies ist Motiviertheit, insofern die sprachliche Form eine ,natürliche' Ordnung spiegelt. Neben dieser poetologisch bzw. sozial begründeten Forderung nach syntaktischer Motiviertheit steht die entsprechende Forderung von Vertretern der rational-universalistischen Sprachreflexion. Als ideal gilt ihnen eine Sprache, die nicht nur in lexikalischer, sondern auch in syntaktischer Hinsicht realitätskongruent ist, eine Auffassung, die bereits in der grammatica speculative! des Mittelalters eine wichtige Rolle spielte. Dort allerdings sah man diese Qualitäten zumindest partiell in einer bereits existierenden Sprache, dem Lateinischen, realisiert; im Universalismus des 17. und frühen 18.

63 64 65 66

Harsdörffer: Poetischer Trichter, III, 80. Ebd., III, 81 u. 33. Rudolph Sattler: Teutsche Rhetoric / Titular: vnd Epistelbuchlein. 3. Aufl. Basel 1610, 45; zit. nach M. Beetz: Frühmoderne Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum. Stuttgart 1990, 206. Sekretariatkunst, II, 382.

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Jahrhunderts denkt man eher an eine zu konstruierende Sprache. Da diese aber in zahlreichen Entwürfen de facto auf dem Lateinischen basiert, gehen die beiden Argumentationslinien - in einer existierenden Sprache bereits vorhandene Kongruenz vs. künstlich geschaffene Kongruenz, d.h. artifizielle Motiviertheit - ineinander über. Für Scaliger, der in vielem mittelalterlich-spekulativen Vorläufern verpflichtet ist, soll die Abfolge der Teile einer Äußerung die Abfolge der entsprechenden Bewußtseinskonzepte spiegeln („conceptam animo sententiam primo loco exponi deberet in oratione"67). Dabei betrachtet er die Bewußtseinskonzepte wiederum als „rerum speculum"68 , was für ihn die Wahrheit der Rede garantiert („Veritas est orationis aequatio cum re, cuius est nota"69). Solche Forderungen werden auch auf den morphologischen Bereich ausgeweitet: Johann Joachim Becher fordert, daß „die Grarhatic [...] der Natur gantz ahnlich / und ihr Dienerin seyn sol", d.h. daß grammatischen Kategorien wie Tempus, Person, Numerus und Kasus bestimmte Veränderungen der Gegenstände (affectio physica70) entsprechen sollen; im Rahmen der Diskussion des Sprachuniversalismus wird dies eingehend zu behandeln sein. Wo in den zeitgenössischen Texten der Setzungscharakter morpho-syntaktischer Motiviertheit betont wird, handelt es sich letztlich um eine artifizielle Form der Motiviertheit, nicht aber um eine natürlich-ontologische oder gar transzendente Form. Schon der ganze Tenor der Argumentation ist unterschiedlich. Für das einzelne Zeichen etwa gehen Scaliger und ihm verwandte Denker ausschließlich von der Annahme der Arbitrarität aus („[...] ut libuit inuentori"71), während gerade hier die Mystiker und Grammatiker wie Schottelius und Zesen entgegengesetzt argumentieren. Zusammenfassend: Das Konzept der Motiviertheit begegnet in der Sprachreflexion des Barock in einer ontologischen, einer transzendenten und einer artifiziellen Variante. Die ontologische Motiviertheit wird im Rahmen des Sprachpatriotismus speziell für das Deutsche in Anspruch genommen: Als genealogisch „reine" „Hauptsprache" erlaubt es einen unmittelbaren Zugriff auf die Wirklichkeit; ihre lautmalenden und -symbolischen Qualitäten belegen dies eindringlich. Von transzendenter Motiviertheit kann dagegen 67 68 69 70 71

De causis linguae latinae, Kap. 152. Ebd., Kap. 66. ,Wahrheit ist die Übereinstimmung einer Äußerung mit dem Gegenstand, den sie bezeichnet'; ebd., Kap. 1. Methodvs Didactica, 1669, 135. De causis linguae latinae, Kap. 68.

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die Rede sein, wenn die Sprache nicht nur als Spiegel einer säkularen Wirklichkeit, sondern metaphysischer Wahrheit betrachtet wird. Dies wird insbesondere von der Mystik mit ihrem Konzept der Natursprache behauptet, wobei es mehrere Berührungspunkte zur Vorstellung ontologischer Motiviertheit gibt. Artifizielle Motiviertheit schließlich begegnet im Rahmen der Ansätze zu Kunstsprachen, die mnemotechnisch so eingängig wie nur möglich gestaltet werden sollen. Im Gegensatz zu den zuvor genannten, vorwiegend auf die Lexik zugeschnittenen Varianten des Motiviertheits-Konzeptes umfaßt die artifizielle Motiviertheit auch morphologische und syntaktische Phänomene. Da die hinter ihr stehende Sprachkonzeption jedoch frei von ideologischen und metaphysischen Elementen ist und die ,natürliche' Form der Motiviertheit in der Regel negiert, unterscheidet sie sich prinzipiell von den anderen Motiviertheitsformen.

2.2. Sprachmystikbei Jakob Böhme Die Art und Weise, wie Philipp von Zesen mit dem Phänomen der Motiviertheit theoretisch und, in seiner Dichtung, praktisch umgeht, zeigt den Übergang zwischen poetologischen Phänomenen und einem mystischkabbalistische Elemente beinhaltenden Sprachbegriff. Die Werke derjenigen zeitgenössischen Autoren, für die Sprache eine rational nicht völlig erschließbare, transzendent motivierte Größe darstellt, lassen Einflüsse der Kabbala, der mittelalterlichen Mystik und des Neo-Platonismus erkennen. Die Präsenz der Einflüsse ist bei den jeweiligen Autoren verschieden stark, gemeinsam ist allen die Verquickung von Sprachlichem und Metaphysischem.72 72

Zum Begriff der Mystik und zur Geschichte der Mystik in Deutschland vgl.: W. Dreß: Die Theologie Gersons. Eine Untersuchung zur Verbindung von Nominalismus und Mystik im Spätmittelalter. Gütersloh 1931. Nachdruck Hildesheim u. New York 1977; W.-E. Peuckert: Pansophie. Ein Versuch zur Geschichte der weißen und schwarzen Magie. Stuttgart 1936; ders.: Gabalia. Ein Versuch zur Geschichte der magia naturalis im 16. bis 18. Jahrhundert. Berlin 1967; E. Benz: Zur Sprachalchemie der deutschen Barockmystik. In: Dichtung und Volkstum, Euphorien N. F., 37, 1936, 482-498; ders.: Die Sprachtheologie der Barockzeit. In: Studium Generale, 4, 1951, 204-213; F.-W. Wentzlaff-Eggebert: Deutsche Mystik zwischen Mittelalter und Neuzeit. Berlin 1944; J. Quint: Mystik und Sprache. In: Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 27, 1953, 48-76. Auch in: K. Ruh (Hrsg.): Altdeutsche und altniederländische Mystik. Darmstadt 1964; G. Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Zürich 1960; ders.: Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala. In: Man and speech. Mensch und Wort. L'homme et le verbe. Eranos

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Im folgenden seien zentrale Momente mystischen Sprachdenkens der frühen Neuzeit am Beispiel der Arbeiten Jakob Böhmes aufgezeigt.73 Dessen spezifische Technik der Argumentation wurde bereits beschrieben: Böhme operiert mit Dichotomien, die ineinander übergehen und so jeweils eine Seinsdimension erfassen, wie Gut und Böse, Grund und Ungrund, Anfang und Ende. Die dadurch gegebenen Kreisbewegungen des Seins - die Phänomene des Seins bewegen sich ständig von einem durch die Ausdrücke bezeichneten Pol zum anderen und wieder zurück - spiegeln sich in der Struktur von Böhmes Argumentation.74

73

74

Jahrbuch, 39, 1973, 243-299; G. R. Hocke: Manierismus in der Literatur. SprachAlchimie und Esoterische Kombinationskunst. Hamburg 1959; Hirschle: Sprachphilosophie und Namenmagie im Neuplatonismus. Meisenheim am Glan 1979; L. Seppänen: Meister Eckeharts Konzeption der Sprachbedeutung. Sprachliche Weltschöpfung und Tiefenstruktur in der mittelalterlichen Scholastik und Mystik? Tübingen 1985; B. Gorceix: Mystische Literatur. In: H. A. Glaser (Hrsg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 3: Zwischen Gegenreformation u. Frühaufklärung: Späthumanismus, Barock. 1572-1740. Hrsg. v. H. Steinhagen. Stuttgart 1985, 206-218; W. Haug: Zur Grundlegung einer Theorie des mystischen Sprechens. In: Ruh 1986, 494508; G. Wehr: Die deutsche Mystik. Bern, München u. Wien 1988; H.-G. Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 3: Barock-Mystik. Tübingen 1988; K. Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. 1: Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts. München 1990. Zu Böhme, speziell zu seiner Sprachauffassung, vgl.: E. Benz: Zur metaphysischen Begründung der Sprache bei Jacob Böhme. In: Euphorien, 37, 1936, 340-357, ders.: Die schöpferische Bedeutung des Wortes bei Jacob Böhme. In: Man and speech. Mensch und Wort. L'homme et le verbe. Eranos Jahrbuch, 39, 1973, 1-40; W. A. Schulze. Jacob Böhme und die Kabbala. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, 9, 1955, 441-460; V: Weiß: Die Gnosis Jacob Böhmes. Zürich 1955; H. Grunsky: Jacob Böhme. Stuttgart 1956; G. Graf zu Solms-Rödelheim: Die Grundvorstellungen Jacob Böhmes und ihre Terminologie. Diss. München 1960; E. Pältz: Jacob Böhmes Hermeneutik, Geschichtsverständnis u. Sozialethik. Jena 1961; P. Schäublin: Zur Sprache Jacob Böhmes. Winterthur 1963; A. Heller: Die Sprachwelt in Jacob Böhmes Morgenröte. Diss. Innsbruck 1964; K.-O. Apel: Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico. 2., durchges. Aufl. Bonn 1975; E.-H. Lemper: Jakob Böhme. Leben und Werk. Berlin 1976; S. A. Konopacki: The Descent into Words. Jacob Böhme's Transcendental Linguistics. Ann Arbor 1979; B. Andersson: »Du Solst wissen es ist aus keinem stein gesogen«. Studien zu Jacob Böhmes Aurora oder Morgen Röte im auffgang. Stockholm 1986; H. Haferland: Mystische Theorie der Sprache bei Jacob Böhme. In: Gessinger/van Rahden 1988, 89-130; Wollgast 1988, Kap. 11: Jakob Böhme, S. 677-741; W. P. Klein: Am Anfang war das Wort. Theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Elemente frühneuzeitlichen Sprachbewußtseins. Berlin 1992, 205ff; G. Bonheim: Zeichendeutung und Natursprache. Ein Versuch über Jacob Böhme. Würzburg 1992. - Zur europäischen Böhme-Rezeption: F. Kemp: Jakob Böhme in Holland, England und Frankreich. In: L. Forster (Hrsg.): Studien zur europäischen Rezeption deutscher Barockliteratur. Vorträge gehalten anläßlich eines Arbeitsgespräches vom 20. bis 22. Mai 1981 in der Herzog August Bibliothek. Wiesbaden 1983, 211-226. Einzelheiten s. Teil I, Kap. l.

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Eine der zentralen Dichotomien bei Böhme ist die von Einheit und Vielheit; die Untersuchung ihrer Bedeutung für den mystischen Sprachbegriff sei an den Anfang der folgenden Ausführungen gestellt. Im Anschluß daran werden behandelt: b) die Qualitätenlehre; c) das Konzept der Natursprache; d) Bewertung der Muttersprache; e) Verfügbarkeit von Sprache durch ihre Sprecher. Da Böhmes Darstellung nicht systematisch ist, sollen wiederholte Zusammenfassungen den Überblick erleichtern. a) die Dichotomie von Einheit und Vielheit Der folgenden Darstellung liegt diese Gliederung zugrunde: 1. Ausgangspunkt Böhmes ist die Annahme der ursprünglichen Einheit des Seins in Gott. Leben dagegen bedeutet Differenzierung in die Vielheit, stets verbunden mit dem Wunsch nach Rückkehr in die Einheit. 2. Die Bewegung von der Einheit zur Vielheit enthält ein sprachliches Element, als die Schöpfung durch Gottes Wort zustande kam. Die menschliche Sprache verfügt über solch schöpferische Kräfte nicht. 3. Durch den Nachvollzug von Gottes Wort hat der erleuchtete Mensch die Möglichkeit, am Göttlichen und damit am Prinzip der Einheit teilzuhaben. 4. Die Dichotomie von Einheit und Vielheit durchzieht das gesamte Sein und zeigt sich auch in der Mannigfaltigkeit der Sprachen seit der babylonischen Sprachverwirrung. 1. Nach Böhme „urstandet" alles in einem „Centro"75, und dieses Zentrum ist Gott, in ihm herrscht der Zustand vollkommener Einheit und Harmonie. Die Differenz zwischen diesem Zustand der Einheit und den vielfältigen Phänomenen des Seins ist durch die Schöpfung zustande gekommen. Die empirische Tatsache, daß diese Phänomene des Seins selbständige Enritäten darstellen, darf nicht über ihren gemeinsamen Ursprung hinwegtäuschen. Böhme erinnert stets daran, daß alles Geschaffene der göttlichen Einheit entäußert ist: Alle Kräfte, Farben und Tugenden liegen in Einer, und ist eine unterschiedliche in einander wolgestimmete gebarende Harmoney; Oder wie ichs setzen mochte ein sprechendes Wort, da in dem Wort oder Sprechen alle Sprachen, Kräfte, Farben und Tugenden inne liegen, und mit dem Hallen oder Sprechen sich auswickeln, und in ein Gesicht oder Sehen einfuhren.76

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De triplici vita hominis, oder Hohe und tiefe Grunde Vom Dreyfachen Leben des Menschen, 1620, 5, 90. 76 Mysterium Magnum, 1,7.

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2. Das Zitat benennt gleichzeitig die Art und Weise, wie die Phänomene des Seins durch Gott geschaffen werden: durch sein Wort. In ihm, dem göttlichen logos, „[liegen] alle Sprachen, Kräfte, Farben und Tugenden inne", und erst durch das Wort werden sie „in ein Gesicht oder Sehen [eingeführt]", d.h. werden sie Wirklichkeit. Für Gott also ist das Apriori im Verhältnis von Wort und Ding umgekehrt: Die Dinge sind nicht vorgegeben und werden durch die Worte a posteriori bezeichnet, sondern das Wort vermag Dinge zu schaffen. Den Beleg liefert der berühmte Beginn des Prologs zum Johannes-Evangelium: „Im Anfang war das Wort / Vnd das wort war bey Gott / vnd Gott war das Wort". Dieses Wort schuf die Welt „Vnd Gott sprach / Es werde Liecht. Vnd es ward Liecht"77 etc. - und unterscheidet sich darin wesentlich vom Menschenwort. Wichtig ist nun, daß die Schöpfung kein einmaliger Akt des Ins-WerkSetzens war, sondern ein fortwährender Prozeß der Emanation Gottes ist. Indem Gott sich durch sein Sprechen permanent in die Welt entäußert, wird alles, was durch sein Wort entsteht, von Göttlichem durchdrungen, so daß Gott, wie es schon bei Meister Eckhart heißt, „in allen creatüren" ist78. Auch bei Böhme begegnet der Gedanke immer wieder: „Weil dann dasselbe Wort [Gottes, A.G.] an allen Orten hat alles geschaffen, so ists auch an allen 77

Zit. nach: Biblia: Das ist: Die gantze Heilige Schrifft / Deudsch / Auffs new zugericht. D. Märt. Luth. Wittemberg 1545. Nachdruck. Stuttgart 1967. Im folgenden sind sämtliche deutschsprachigen Bibelzitate dieser Ausgabe entnommen. - Zur schöpferischen Kraft des Gotteswortes vgl. diese Stelle bei Luther: ,„Deus dixii: etc. et fiebaf sol, durchs wort war sonn und mond. Ergo ante solem et lunam ßiit ein wort. [...] Ego crassam similitudinem dabo. Verbum mundlich quodhomo loquitur et praecipue, quando habet potestatem. Verbum quod exit ex ore, est unicum et tarnen erschalt in auribus aliorum und ist so krefftig, utfiat, quod mandat, ut dicere possis: Er sprachs, so gschachs. Et tarnen si inspicis in os, ist kaum eines fingers breit et tarnen ilia vox sol so viel schaffen, das aller uns leib und gut ghet. Princeps uno verbo polest schaffen, si iratus. Viel mehr mustu gedencken: deus im himel, quando Hie verbum dicit, so sthet da himel und erden, et iratus: ligts in der aschen." (,Gott sprach: etc. und es ward' die Sonne, durchs Wort war Sonne und Mond. Also war vor Sonne und Mond ein Wort. Ich will einen groben Vergleich bringen, das mündliche Wort, das ein Mensch spricht, besonders, wenn er Macht besitzt. Das Wort, welches aus seinem Munde kommt, ist nur ein Wort, und dennoch erschallt es in den Ohren der anderen und ist so kräftig, daß geschieht, was es gebietet, so daß man sagen könnte: Er sprach's, so geschah's. Wenn man aber den Mund ansieht, so ist er kaum einen Finger breit, und dennoch soll jenes Wort so viel schaffen, daß es uns an Leib und Gut geht. Ein Fürst kann durch ein einziges Wort schaffen, wenn er zornig ist. Um so mehr muß man sich vor Augen halten: Wenn Gott im Himmel ein Wort spricht, so entstehen Himmel und Erde, und wenn er zornig ist, so liegen sie in der Asche.) Aus den Predigten von 1528. In: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe [.Weimarer Ausgabe'], Weimar 1883ff, Bd. 27, 526. 78 Meister Eckhart: DW l, 143.

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Orten gewesen, denn ohne dasselbe ist nichts gemacht"79; und: Die „sichtbaren empfindlichen [d.h. sinnlich wahrnehmbaren, A.G.] Dinge" sind durch das „Aussprechen oder Aushauchen der unsichtbaren Kraft" entstanden, so daß nun gilt: „das unsichtbare geistliche Wort der Gottlichen Kraft wircket mit und durch das sichtbare Wesen f...]"80, ein Gedanke, der, wie zu zeigen sein wird, geradewegs zur Natursprachenlehre fuhrt. Festzuhalten bleibt demnach: 1. Der Zustand der Einheit ist der ursprüngliche; 2. die Phänomene des Seins sind Manifestationen der Entäußerung Gottes aus diesem Zustand der Einheit und demgemäß von Göttlichem durchdrungen; 3. diese Entäußerung geschieht durch das göttliche Wort, so daß Gott in der Sichtweise der Mystik mit dem Wort identifiziert wird („vnd Gott war das Wort"). Eben das gilt nicht für den Menschen: Weder verfügt er über ein flat, welches Dinge zu schaffen vermag, noch ist er in irgendeiner Weise ,identisch' mit seiner Sprache. Thomas von Aquin etwa stellt in seinem Kommentar zum Johannes-Prolog lediglich fest, daß die Sprache im Verstand des Menschen angelegt ist, weist ihr aber keine schöpferische Funktion zu: Offensichtlich ist es also notwendig, in jeglicher verstandesbegabten Natur das Wort anzusetzen, denn es gehört zur Beschaffenheit des Denkens, daß der Verstand im Denken etwas bildet. Was er bildet aber heißt ,Wort', und daher ist in jedem denkenden Wesen das Wort anzusetzen.81

Auch für Thomas unterscheidet sich das Wort Gottes von dem der Menschen82: Das Menschenwort ist nur „in potentia", nicht aber „in actu" 79 80 81

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So bei Jakob Böhme, in: De Tribvs Principiis, oder Beschreibung der Drey Principien Gottliches Wesens«, 1619, 8, 18. Böhme, Mysterium Magnum, Vorrede, Par. 4. „Patet ergo quod in qualibet natura intellectual! necesse est ponere verbum: quia de ratione intelligendi est quod intellectus intelligendo aliquid formet; huius autem formatio dicitur verbum; et ideo in omni intelligente oportet ponere verbum." Super Evangelium S. Joannis Lectura, lectio l, Nr. 25. - Die Übersetzung nach J. Blank: Im Anfang war das Wort. Die Interpretation des Johannes-Prologs bei Thomas von Aquin als Grundlegung einer theologischen Sprach-Theorie. In: Imago Linguae. Hrsg. v. K.-H. Bender, K. Berger u. M. Wandruszka. München 1977, 81-94. - Auch zur folgenden Interpretation des thomistischen Wortbegriffs s. Blank 1977. Den Unterschieden stehen bestimmte Gemeinsamkeiten gegenüber: Nach Thomas ist das Wort als „triplex verbum" (in: Quaestiones disputatae de veritate, quaestio 4: De verbo, Art. 1) gegeben. Einem sinnlich wahrnehmbaren äußeren Wort („verbum exterius") stehen die innerlichen Wort-Einheiten „verbum interius" und „verbum cordis" gegenüber. Die ursprünglichste Einheit ist das verbum cordis, als dasjenige, was sich das Bewußtsein vorstellt („id quod per intellectum concipitur"). Es ist nur innerlich gegeben („sine voce prolatum") und bedarf daher zur Entäußerung des verbum exte-

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gegeben, d.h. im Gegensatz zu Gott muß der Mensch erst denken, um zum Wort zu gelangen; das Menschenwort ist „imperfectum" im Vergleich zum Gotteswort, da es immer nur einzelne Aspekte unserer Vorstellungen auszudrücken vermag; das Menschenwort ist nicht identisch mit der Seele des Menschen, sondern ihr nur akzidentell zugeordnet, während in Gott Erkennen (und damit das Wort) und Sein in eins fallen („In Deo autem idem est intellegere et esse").83 3. Diese Unvollkommenheit vermag der Mensch zwar nicht grundsätzlich aufzuheben, doch kann er am Göttlichen dann teilhaben - d.h. den Zustand der Einheit zumindest vorübergehend erfahren -, wenn es ihm gelingt, das Wort Gottes in seiner Seele zu empfinden. Durch das Wiedergebären des göttlichen Wortes in der Seele ist dieses Wort dem Menschen kein Zeichen mehr, sondern verschafft ihm unmittelbare religiöse Erfahrung jenseits von Sprache: „Eyä, der nü diz wort hoeren sol in dem vater - da ist ez gar stille -, der mensche, der muoz gar stille sin und gescheiden sin von allen bilden, ja und von allen formen"84. Dabei gelingt das Erfahren der göttlichen Einheit, in der alle Widersprüche aufgehoben sind, nicht durch rational-intellektuelle Anstrengung, im Gegenteil: „Kunst oder Witze"85, das Disputieren, die „Bilder", die er sich gemacht hat, muß der Mensch nun hinter sich lassen, muß sich geradezu „Willen=los" geben, „in GOttes Erbarmen lassen", muß sein eigenes Wollen aufgeben und Gott erlauben, in ihm und durch ihn zu wollen. Nur so kann er „in sich selber Einig werden". Definiert man Mystik als ein „letztlich unsagbares Erkenntnis- und/oder Liebesgeschehen zwischen Mensch und Gott, das vom Menschen als gnadenhafte,

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rius. Dieses verbum cordis darf man sich nicht als Inhaltsseite eines sprachlichen Zeichens vorstellen - dies würde eher auf das verbum interius zutreffen -, da es eine noch viel unbestimmtere Qualität besitzt: Im Innersten des Menschen gebildet, stellt es eine Art erstes Erkennen eines Gegenstandes dar, noch völlig frei von bestimmten Vorstellungen über die Eigenschaften des Gegenstandes; es ist sozusagen nur der Gegenstand als solcher, der erkannt wird. Auf dieses erste Erkennen folgen in einem zweiten Schritt eben diese bestimmten Vorstellungen, die zusammen das verbum interius bilden. Das verbum interius verhält sich zum verbum exterius wie der Entwurf im Kopf eines Künstlers zum fertigen Kunstwerk. Wie der Künstler als allererstes eine Absicht auf das Ziel hin hat („intentio finis"), dann eine konkrete Vorstellung von seinem Kunstwerk, schließlich das Kunstwerk selbst schafft, so geht das verbum cordis dem verbum interius und das wiederum dem verbum exterius voraus. Die vollständige Stelle lautet: „Et ideo verbum quod format intellectus noster, non est de essentia animae, sed est accidens ei. In Deo autem idem est intellegere et esse; et ideo Verbum intellectus divini non est aliquid accidens, sed pertinens ad naturam eius: quia quicquid est in natura Dei, est Deus." Super Evangelium S. Joannis Lectura, lectio l, Nr. 28. - Nochmals sei auf Blank 1977 verwiesen. Meister Eckhart, DW 2, 307. Dieses Zitat und die folgenden: Böhme: Mysterium Magnum, 36, 50.

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ohne Anstrengung empfangene Einigung mit Gott erfahren wird [...]"86, dann sind Böhmes Überlegungen für das 17. Jahrhundert markanter Beleg. Das Erreichen des mehr als alles andere anzustrebenden Zustandes der Einheit mit Gott setzt also das Empfinden des göttlichen Wortes in der Seele des Menschen voraus, auf daß wieder „der rechte heilige Mensch, so in dem monstrosischen verborgen ist"87, zutage trete. Dies mag lange Vorbereitung erfordern, findet schließlich jedoch als ein schlagartiges Erfahren des göttlichen Prinzips statt, das es dem Menschen ermöglicht, so Abraham von Franckenberg in seinem Bericht über Böhmes Visionen, „allen Geschöpfen gleichsam in das Hertz und in die innerste Natur hinein[zu] sehen"88. Böhme selbst beschreibt diese Selbsttransmutation89 als ein Durchbrechen seines Geistes „bis in die innerste Geburt der Gottheit", so daß er fortan in der Lage war, „an allen Creatoren, so wol an Kraut und Gras GOtt zu erkennen, wer der sey, und wie der sey, und was sein Wille sey [...]".90 In sich selbst sieht er nun die drei Welten angelegt, die göttliche, die finstere und die „äussere, sichtbare Welt", letztere als Manifestation der „beyden inneren geistlichen Welten"91. Nicht nur mit Gott ist also der Mensch in diesem Geschehen inniglich verbunden, sondern auch mit der ihn umgebenden Welt, mit der Natur; Gotteserkenntnis, Selbsterkenntnis und Naturerkenntnis fallen zusammen. Spezifisch für Böhme ist dabei nicht die Hervorhebung 86

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A. Haas: Was ist Mystik? In: K. Ruh (Hrsg.): Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposium Kloster Engelberg 1984. Stuttgart 1986, 319-341, 333. - Ähnlich die Definition H.-G. Kempers: „Mystik [...] ist die von persönlichem Bekenntnis und von Begründung begleitete Suche nach und Erfahrung von dem Einswerden des Menschen mit dem Numinosen (,unio') und schließt die Übung der Gottesliebe im Dienst an der Welt mit ein (,contemplatio et actio')". In: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 3: Barock-Mystik. Tübingen 1988, 4. Jakob Böhme: Theosophische Sendbriefe. Hrsg. u. kommentiert v. G. Wehr. 2 Bde. Freiburg 1979. Bd. 1,45. Grundlicher und wahrhafter Bericht von dem Leben und Abscheid des in GOtt selig= ruhenden Jacob Böhmens, dieser Theosophischen Schriften eigentlichen Autoris und Schreibers, 1651, 11. - Zu Böhmes Vision und Franckenbergs »Bericht« vgl. auch Konopacki 1979, 3f. Dazu Haferland 1989, 107: „Die neue Geburt des Menschen in Christus ist nichts als reine Selbsttransmutation. Mag dieser eine kontinuierliche Erfahrung vorausgehen in dem Augenblick, indem sie sich vollzieht, trennt ein diskontinuierlicher Sprung den Menschen von seinem vorangegangenen Leben." „Als ich aber in meinem angesetzten Eifer also hart wieder GOtt und allen Hollen Porten sturmete, als waren meiner Kräften noch mehr vorhanden, in willens das Leben daran zu setzen [...] alsbald nach etlichen harten Stürmen ist mein Geist durch der Hollen Porten durchgebrochen bis in die innerste Geburt der Gottheit, und allda mit Liebe umfangen worden, wie ein Bräutigam seine liebe Braut umfahet". Aurora, 19, 11. Aus dem 12. Sendbrief, Par. 8 (1621).

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des Zusarnrnenkornmens von Gott und Mensch - die Wichtigkeit der tinio mystica ist seit jeher Kennzeichen der Mystik - sondern, geradezu im Gegensatz zur mittelalterlichen Mystik, jedoch in Einklang mit den naturphilosophischen Strömungen seiner Zeit, die Betonung der Natur und des dynamischen Charakters des Gottesbegriffs, d.h. der Tatsache, daß Gott als im steten Werden begriffener Gott verstanden wird.92 Gott steht also nicht außerhalb der Welt und vor der Natur als deren Schöpfer, sondern manifestiert sich stets aufs neue in ihr. Böhmes Bevorzugung der Natur vor Wissen und Verfahren der „Buchstabengelehrten" - „ich [...] habe einen ändern Lehr=Meister, welcher ist die gantze Natura. Von derselben gantzen Natur mit ihrer instehenden Geburt habe ich meine Philosophic/, Astrologia und Theologia studiret und gelernet, und nichts von Menschen oder durch Menschen"93 - zeigt paracelsische Tradition, und seine Verbindung der Bereiche von Gott und Natur trägt deutliche pantheistische Züge: „Denn alles, was da lebet und schwebet, das ist in GOtt, und GOtt selber ist alles".94 S. Wollgast bringt die Zusammenhänge auf den Punkt, wenn er bei Böhme eine Überlappung des meditativen Elements, welches Erkenntnis in der mystischen Versenkung sucht, mit empirischer Naturbeobachtung feststellt, wobei letztere etwa in seinen Anleihen bei der Alchemic zum Ausdruck kommt.95 In den Zusammenhang der Vorstellung einer engen Verbindung von Gott, Natur und Mensch gehört auch der Gedanke vom Menschen als Mikrokosmos. Er findet sich u.a. auch bei Paracelsus, der seinerseits auf den 92

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In diesem Sinne auch Solms-Rödelheim 1960, 119: „Die Vorstellung Böhmes, dass Gott wird, dass er sich entwickelt und erst in seiner Vollendung als Persönlichkeit und offenbarer Gott im ,Lichtreich' wirklicher Gott genannt wird, ist für die ma Mystik nicht nachvollziehbar. Die Natur erhält daher bei Böhme als unmittelbarer Ausdruck des Göttlichen eine hohe Wertschätzung." - Zu ähnlichen Ergebnissen hinsichtlich der Naturthematik kommt G. Haensch: Über die naturphilosophischen Anschauungen Jakob Böhmes. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 23, 1975, 415-426 Aurora, 22, 11. Aurora 13, 115. - Auf beides weist auch Wollgast hin, der sowohl Elemente eines idealistischen wie eines materialistischen Pantheismus erkennt (1988, 681 u. 683; dort auch Literatur zum Einfluß von Paracelsus auf Böhme). Peuckert spricht in diesem Zusammenhang von „Pansophie''; vgl. jedoch Woügasts Kritik (1988, 684). W. A. Schulze sieht Parallelen zu einem Ur-Pantheismus der Kabbala, in: Jakob Böhme und die Kabbala. In: Zeitschrift für Philosophische Forschung, 9, 1955, 447-460. Wollgast 1988, 688. - In diesem Sinne auch Kemper 1988, 13: „Dieser [d.h. der Mensch] trat der Natur nun - in Deutschland besonders eindrucksvoll bei Agrippa von Nettesheim [...] und Paracelsus [...] - als geisterfüllter Forscher und Gestalter gegenüber, die Versenkung in die Natur war nicht mehr nur Mittel mystischer Begegnung mit dem Göttlichen, sondern auch rationales Mittel der Naturerkenntnis zum Zwecke ihrer Beherrschung."

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Neuplatonismus des Hermes Trismegistos zurückgreift.96 Böhme selbst schreibt: „Denn der Mensch ist eine kleine Welt aus der großen und hat der ganzen großen Welt Eigenschaft in sich. Also hat er auch der Erden und Steine Eigenschaft in sich. Denn Gott sprach zu ihm nach dem Falle: Du bist Erde und sollst zu Erde werden, das ist: Sulphur, Mercurius und Sal"97. Umgekehrt ist der „gantze Leib dieser Welt [...] gleichwie ein menschlicher Leib"98, Mensch und Welt stehen im Verhältnis der Analogie. Stets wird die Verknüpfung mit Göttlichem gewahrt, denn „das ewige Wesen [ist] gleich [...] einem Menschen, und diese Welt ist auch gleich einem Menschen"99, so daß der Mensch nicht nur innigst mit der Natur verbunden ist, sondern auch die vestigia trinitatis, die Spuren der Trinität in sich trägt. Zusammenfassend: Das zumindest vorübergehende Erleben der Einheit mit Gott geschieht durch Empfinden des göttlichen Wortes in der Seele. Dies gelingt nicht durch intellektuelle Anstrengung, sondern durch eine visionäre, in ihren entscheidenden Aspekten auf Sprache verzichtende Hingabe an das Göttliche. Damit erweist sich dieser Aspekt des mystischen Sprachdenkens als das Gegenteil der aufklärerischen Forderung an den Menschen, sich die Welt als intentional mit Sprache handelndes, rationales Individuum zu erschließen. 4. Die Thematik von Einheit und Vielheit begegnet bei Böhme auch im Zusammenhang der babylonischen Sprachverwirrung, einem besonders folgenreichen Beispiel für den Verlust der Einheit. Wie „alle menschliche 96

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Der Gedanke von Makro- und Mikrokosmos ist weit verbreitet in der Renaissance, läßt sich aber bis in die Antike zurückverfolgen. Auch in der kabbalistischen Literatur begegnet er: Adam Kadmon, der Himmelsmensch, wird als Riese geschildert und an seinen Extremitäten werden die Sephirot, die Namen Gottes aufzeigt. Dazu Schulze 1955, 451. - Auch in der Sprachreflexion der frühen Neuzeit findet sich der Gedanke wiederholt, vgl. z.B. diese Stelle bei Elias Hütten „Vnd aber die Schrifften vnd Sprachen nichts anders seyn / als eine Idea, Character, Echo, Imago, Stirhe vnd Bildt Gottes vnd der Natur / so der Mensch als das Kegenbildt Gottes vnd die kleiner Welt / mit Augen / Ohren / Verstand! / Handt / Mundt / Sehen / Hören / Verstehen / Beschreiben / vnd außsprechen lernen kan [...]" (Außschreiben, D51). - Zur Geschichte des Konzepts vgl. R. Allers: Microcosmos. From Anaximandros to Paracelsus. In: Traditio. Studies in ancient and medieval history, thought and religion. New York 1944,2,319-407. 22. Sendbrief, 1622, 181. Aurora, 25, 22. - Vgl. diese Stelle aus Oswald Crollius' »Basilica Chymica« (1623, Vorrede, 51): „Es ist nichts in der gantzen Welt / dessen Eygenschafft nicht auch in dem Menschen zu finden". Zit. nach: W. Kühlmann: Oswald Crpllius und seine Signaturenlehre: Zum Profil hermetischer Naturphilosophie in der Ära Rudolphs II. In: A. Bück (Hrsg.): Die okkulten Wissenschaften in der Renaissance. Wiesbaden 1992, 103-123; 114. Vom dreyfachen Leben, 6, 48.

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Eigenschaft aus Einer kommt", so sind auch alle Sprachen aus einer entstanden; die in Babel entstandenen Sprachen „urständen"100 in der Natursprache, denn „daß er [d.h. der Mensch, A.G.] reden kann, kommt ihme ursprunglich aus dem Gottlichen Worte"101. Aus „einem einigen redenden Worte", aus einem „Lebens=Geiste"102 sind 77 Teile in Form unterschiedlicher Sprachen entstanden als Rache des zornigen Gottes. Den 72 Menschensprachen, deren Zahl sich aus der Zahl der Namen der Nachfahren Noahs ergibt103, stehen fünf heilige Sprachen gegenüber, die Böhme in »Mysterium pansophicum, oder Gründlicher Bericht von dem Irdischen und Himmlischen Mysterio« (1620) benennt: die Natursprache, dann, ganz traditionell, Hebräisch, Griechisch und Latein, schließlich eine weitere, nicht näher bestimmte Sprache, wohl eine Art Metasprache („Und das fünfte [Alphabet] ist GOttes Geist, der aller Alphabeten Eroffher ist; und dasselbe Alphabet [d.h. die fünfte Sprache, A.G.] mag kein Mensch erlernen, er eroffne sich dann selber im Menschen=Geiste", ebd. 7, 10).104 Babel als Symbol des Zerteiltseins ist nach wie vor lebendig in unserer Mitte; Baumeister des Turmes sind ,,[a]lle Vernunft=Gelehrte aus der Schule dieser Welt"105, d.h. die Gelehrten an den Hochschulen, ferner die Priester, Bischöfe, Päpste, Rabbiner. Die wahre harmonia mtindi ist ihnen fremd, und sie denken, sprechen und handeln aus dem Geiste der „Selbheit" heraus. Über den Bau des Turmes, also über den von ihnen gewählten Weg zu Gott, sind sie sich uneinig, ihnen fehlt, in jedem Sinne des Wortes, die gemeinsame Sprache.106 Nur derjenige ist wahrhaft gelehrt, der die ursprüngliche 100 101 102 103 104

Mysterium Magnum 35, 72. Ebd., 35, 73. Ebd., 29, 63. Ebd., 35, 15. Diese Vermutung auch bei Haferland 1988, 114. - Die 72 Sprachen haben als „Hauptsprachen" wiederum zahlreiche „An=Enkel", die den einzelnen Hauptsprachen zuzuordnen sind und dann wohl so etwas wie Sprachfamilien bilden. Innerhalb einer solchen Sprachfamilie sind die Unterschiede so groß, „daß man an keinem Orte der Welt unter allen Haupt= Sprachen auf 5 oder 6 Meilen einerley Sensus in einer Haupt= Sprache findet [...]" (Mysterium Magnum, 35, 75). Dabei ist Böhme in seiner Terminologie inkonsequent: An anderer Stelle (Mysterium Magnum, 35, 45) schreibt er von den „5 Haupt= Sprachen der geistlichen Zungen [...], aus welchen Zungen der Prophetische und Apostolische Geist redet", meint damit also offensichtlich die fünf heiligen Sprachen (Natursprache, Hebräisch etc.). Aber auch das wäre unstimmig, da er diese „5 Haupt= Sprachen" von Moses herkommen läßt (Mysterium Magnum, 35, 45), was zumindest auf die Natursprache und die Metasprache nicht zutreffen kann. 105 Ebd., 36, 8. 106 „Und daher ist der Streit um GOtt und seinen Willen und Wesen entstanden, daß man hat in der Selbheit um GOtt gezancket; Einer hat gesagt, man solte Ziegeln zum Bau des Thurnes bringen, der ander Steine, der dritte Kalck, der vierte Holtz, Wasser, oder

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„sensualische Zunge" beherrscht, nur er kann den göttlichen Sinn der Heiligen Schrift verstehen, ansonsten ist er nur ein „Buchstaben=Wechsler" oder „Meister Klügling".107 Häufig greift der Schuster Böhme die traditionelle Bildungselite an, weil sie glaube, „die Kunst steckte im Buchstaben"108. Im Grunde ist Gottes Wort in der Heiligen Schrift „klar" gegeben, doch bedarf der Exeget „GOttes Geist", denn erst durch ihn wird „das lebendige Wort in uns [erwecket]".109 Die Nicht-Inspirierten aber, die „Kunst=Gelehrte", sind nur „Buchstaben=Gelehrte" und tanzen um den Kelch Christi. Böhmes Polemik gegen die exegetischen Praktiken der etablierten Kirchen und sein Vorwurf, sie wollten „GOtt mit etwas Aeusserliches", mit kirchlichen „Ceremonien" „versöhnen"110, erinnert an die typischen Vorwürfe von Mystikern und Schwärmern seit dem 16. Jahrhundert gegen jede Form etabliertakademischer Gelehrsamkeit, erinnert aber auch an die Kritik Luthers am exegetischen Aufwand der katholischen Kirche. In beiden Fällen, bei Böhme wie bei Luther, werden der etablierten Institution ein Verharren im bloßen Formalismus von Ritualen vorgeworfen, was sich bei der Exegese als semantische Überstrapazierung des an sich schlichten und lebendigen Textes niederschlage. Luther setzt an die Stelle der Auslegung nach dem

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andere Nothdurft; und derer Werckmeister sind vielerley gewesen, ein ieder aus der Eigenschaft seiner Zungen, ein ieder hat den Thum wollen auf seinen Grund der Eigenschaft bauen; einer hat in seiner Landes=Eigenschaft Steine darzu gehabt, der ander Leimen, der dritte Kalck, der vierte Holtz, und hat einem ieden gut gedaucht seyn, daß er den Thurn aus seiner Materia seiner Eigenschaft alleine für sich bauete, zu einem grossen Wunder, aufdaß alle Welt darauf sehen soll, was er gebauet habe." Mysterium Magnum, 36, 12. - Böhmes Erwähnung der jeweiligen „Landes=Eigenschaft" beim Bau des Turmes wäre dann von besonderer Bedeutung, wenn sich nachweisen ließe, daß diese Landes=Eigenschaft erst durch die unterschiedlichen Einzelsprachen zustande gekommen ist. Ansatzweise würde sich das Konzept vom sprachlichen Weltbild andeuten. Vgl. dazu Teil I, Kap. 5. Die erstzitierte Bezeichnung steht Mysterium Magnum, 35, 63 die zweite verwendet Böhme häufig, z.B. Aurora, Vorrede, 91. Drey Principien, 26, 18. Ebd. - Vgl. auch diese Stelle aus Mysterium Magnum (36, 30): „In dieser Hure der Selbheit haben sich alle falsche Geistlichen gekleidet, welche ohne GOttes Geist sich zu Lehrern vom Geheimniß des Reichs GOttes haben aufgeworfen: Auswendig haben sie das Prophetische und Apostolische Wort über sich gedecket, und sich auf das Zeugnis der Bibel beruffen; aber sie haben ihren eigenen Sensum aus der Huren Ente darein gefuhret, und sind im Hertzen an der fleischlichen Huren gehangen, und haben die Sensualische, Prophetische und Apostolische Zunge nicht verstanden." - Ähnlich auch diese Stelle aus den »Drey Principien« (Anhang, 30): „Es verstehet uns kein Leser recht im Grunde, sein Gemuthe sey dann in GOtt geboren [...]. Denn als es nicht möglich ist, GOtt zu schauen mit irdischen Augen, also ists auch nicht möglich, daß ein unerleuchtetes Gemuthe himmlische Gedancken und Sinnen fasse [...]." Mysterium Magnum, 28, 27f.

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vierfachen Schriftsinn - sensus lileralis, allegoricus, moralis sive tropologicus und anagogicus - das Prinzip „sacra scriptura sui ipsius interpres": Als ich jung war, da war ich gelehrt, und sonderlich, ehe ich in die Theologia kam, da ging ich mit Allegoriis, Tropologiis und Anagogiis um, und machte eitel Kunst. Wenns jtzt einer hätte, er trüge es umher für eitel Heilthum. Aber ich weiß, daß es ein lauter Dreck ist. Nu hab ichs fahren lassen, und ist meine beste und erste Kunst, tradere scripturam simplici sensu; denn literalis sensus, der thuts, da ist Leben, da ist Kraft, Lehre und Kunst innen; in dem ändern, da ist nur Narrenwerk, wiewohl es doch gleißet.111

Der wörtliche Sinn fuhrt als einziger zur „simplex et aperta veritas"112, nur wer ihn berücksichtigt, wird der Bibel als „pugnax"113, als Streittext, gerecht, die voller „lebe-", nicht aber „lesewort"114 steckt, wie auch die Kirche eigentlich ein „mund-" und kein „fedderhawß"115 ist. Wer dagegen wie die „Eseln und buchstabilisten"116 verfahrt, schafft „des Teuffels werck, also Zeuberey, Abgotterey, geucherey"117. Nur dem erschließt sich die Bedeutung des heiligen Textes, der ein „recht, frum, trew, vleissig, forchtsam, Christlich, geleret, erfarn, geübet hertz"118 besitzt. Ohne den „verstand Christi" ist auch „die kunst der spräche nichts"119. Niemand kann Gottes Wort wirklich verstehen, „er habs denn on mittel von dem heyligen geyst.

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Weimarer Ausgabe (= WA), Tischreden, Bd. 5, 45. WA, Bd. 18,721. WA, Tischreden, Bd. 2, 352. WA, Bd. 31/1,67. WA, Bd. 10/1,2,48. WA, Bd. 30/2, 637. WA, Bd. 53, 594. - „Geucherey" ist ,SchwindeP. WA, Bd. 30/2, 640. WA, Deutsche Bibel, Bd. 8, 30. - Speziell verbirgt sich hinter der Bemerkung die Auffassung von Christus als „punctus mathematicus" (WA, Tischreden, Bd. 2, 439) der Schrift, als interpretatorischer Fluchtpunkt, der zum Maßstab jeder Auslegung wird. Konkret bedeutete dies die Interpretation des Alten Testaments als Vorausdeutung auf die Geschehnisse des Neuen. Zu diesem „evangeliozentrischen" Verfahren von Luthers Bibeldeutung sowie zur protestantischen Exegese allgemein vgl.: S. Raeder: Luther als Ausleger und Übersetzer der Heiligen Schrift. In: H. Junghans (Hrsg.): Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546. Festgabe zu seinem 500. Geburtstag. 2 Bde. Göttingen 1983, Bd. l, 253-278; H. Bornkamm: Luther und das Alte Testament. Tübingen 1948; G. Krause: Studien zu Luthers Auslegung der kleinen Propheten. Tübingen 1962; G. Ebeling: Die Anfange von Luthers Hermeneutik. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Bd. 48, 1951, 172-230 sowie ders. s.v. Hermeneutik in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 3. Aufl. Tübingen 1957-1965, s. dort auch den Artikel Schriftauslegung.

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Niemant kansz aber von dem heyligenn geyst habenn, er erfaresz, vorsuchs und empfmds denn [...]".12° Zurück zu Böhme: Der Verlust des Wissens um die sensualische Zunge und damit des unverstellten Zugangs zur Heilswahrheit kann nicht durch interpretatorische Raffinesse ausgeglichen werden. Bei der engen Korrelation von Sprache und Verstand behindert die Sprachverwirrung ein jegliches auf Wahrheit ausgerichtetes Denken; die Menschen können nicht ,an der Sprache vorbeidenken': Denn die Sprachen zum Verstande waren verwirret und zertheilet, darum haben die Volcker einer des ändern Eigenschaft nicht erkant noch verstanden; und hat ein iedes Volck gemeinet daß das andere in der Kraft des Verstandes im geformten Worte fremde seyn; daraus ist die Verachtung der Religion, als der Erkenntniß des Wortes entstanden [...].121

Sprachen zum Verstande und Kraft des Verstandes im geformten Worte die Formulierungen identifizieren nahezu Verstand und Sprache. Der Verstand zeigt sich nicht nur im Wort, ist ihm nicht vorgängig, sondern seine Kraft existiert nur, insofern er geformtes Wort ist; das Wort seinerseits wird erst zum Wort, indem der Verstand es mit seiner Kraft gestaltet. Wo nun Sprache und Verstand auseinandergerissen werden, wie dies am deutlichsten in Babel geschah, wird das selbstverständliche, sich schon mit dem bloßen Vernehmen von Sprache einstellende Verstehen unmöglich. Im Zustand der Einheit der Sprachen dagegen fiel den Menschen das Verstehen leicht, denn sie verfügten über eine gemeinsame Sprache, die noch dazu derjenigen Adams glich - Adams Sündenfall ist eine Art Vorstufe der babylonischen Sprachverwirrung122 -, so daß galt:

120 WA, Bd. 7, 546. - Zu Luther und Böhme vgl. H. Bornkamm, Luther und Böhme. Bonn 1925 sowie ders.: Jakob Böhme. Leben und Wirkung. In: ders.: Das Jahrhundert der Reformation. 2. Aufl. Göttingen 1966. Kritisch zur lutherisch-vereinnahmenden Böhme-Interpretation: Wollgast 1988, 678f. 121 Mysterium Magnum, 36, 14. 122 So daß sich bei der Sprachverwirrung nur fortsetzt, was mit dem Sündenfall bereits begonnen hat: Der Rückzug des Göttlichen und damit des Einheitsprinzips aus Leben, Sprache und Denken der Menschen: „Also verstehen wir, was die Antichristliche Babylonische Hure am Menschen ist, welche aus den zertheilten Eigenschaften ist entstanden, als aus Adam, indeme die Eigenschaften aus der gleichen Concordantz auseinander gingen, eine iede in ihre eigene Begierde und Lust zur Selbheit, davon Adam irdisch und sterblich ward, daraus hernach der Baum der Viele der Zungen und Sprachen aus einer einigen Zungen entstund." Mysterium Magnum, 36, 28.

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Denn der Tempel GOttes ist das geformte Wort der menschlichen Sprachen und Zungen im menschlichen Verstand, wie geschrieben stehet: Das Wort ist dir nahe, nämlich in deinem Munde und Hertzen [...].123

Das schon oben zitierte „geformte Wort" ist idealiter mehr als nur Menschenwort, es bewahrt zugleich Gott im Menschen auf und ist dem Menschen vor jeder abstrakten Reflexion gegeben, denn es ist seinem Herzen nahe. Im Zustand der Einheit durchdringen sich des Menschen Verstand und Sprache gegenseitig und sind gleichzeitig Hort Gottes. Im Zustand des Zerteiltseins aber wohnt im menschlichen Wort nicht Gott, sondern der „Fürst der Teufel", der „Antichrist"124. Den Verlust der Einheit durch die babylonische Sprachverwirrung illustriert Böhme auch am Bild des Baumes. „Ein ieglicher Baum wachset erstlich, nachdeme er aus seinem Korn entspringet, in einen Stamm, hernach in Aeste und Zweige, und führet ferner heraus aus seinem Ente die Blühte und Frucht"125. Schon der erste Mensch wurde „ein Stamm oder Baum des Geschmackes der Erkentniß Böses und Gutes"126, und Gut und Böse haben sich in die Äste, Zweige und Blüten verbreitet. In der Zeit vor Babel aber lagen „die Kräfte in Einer Eigenschaft im Stamme"127, d.h. die den Menschen beseelende Kraft und die Sprachen waren noch nicht zerteilt; der Baum war noch „ein Baum der einigen Zungen", die Natursprache wurde noch von allen verstanden. Die im Baum sozusagen gebündelte Kraft wurde durch Babel aufgeteilt128, so daß „der Stamm der Natur wegen der zertheilten Eigenschaft im Worte des kräftigen Verstandes matt und schwach" wurde. Weil sich der Verstand „zertheilete", wurde „die Natur schwächer", d.h. die Menschen verloren an Lebenskraft - ganz konkret: sie lebten nicht mehr so lange -, und sie verloren die Fähigkeit des unreflektierten Verstehens. Die verbliebene Verstandeskraft reicht nur noch zu einer Annäherung 123 Ebd., 36, 16. 124 Ebd. 125 Ebd., 35, 1. - Vgl. auch Aurora, Vorrede, 1. u. 8: „Ich vergleiche die gantze Philosophiam, Astrologiam und Theologiam, samt ihrer Mutter, einem kostlichen Baum, der in einem schonen Lustgarten wachst. [...]. Der Garten dieses Baumes bedeutet die Welt; der Acker die Natur; der Stamm des Baumes die Sternen; die Aeste die Elementa; die Fruchte, so auf diesem Baume wachsen, bedeuten die Menschen; der Saft in dem Baume bedeutet die klare Gottheit." 126 Mysterium Magnum, 29, 14. 127 Dieses und die folgenden Zitate ebd., 35, 12f. 128 Konkret sieht Böhme die „Zerteilung" der Sprachen und damit der Kräfte „bey den Kindern Nimrot" einsetzen. Nimrod war Ururenkel Noahs. Vgl. Genesis 10, 8ff: „Chus aber zeuget den Nimrod / Der fieng an ein gewaltiger Herr zu sein auff Erden [...]. Vnd der anfang seins Reichs war / Babel / Erech / Acad vnd Chalne im land Sinear".

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an die Geheimnisse von außen, eben so, „wie man von einem Dinge redet, davon man höret sagen", das man aber nicht wirklich kennt. Daß wir in Wirklichkeit „doch alle nur ein einiger Baum [sind]"129, gerät angesichts der Zerteilung der einen Eigenschaft und Kraft, die sich in der Vielheit der Sprachen manifestiert, in Vergessenheit. Die Menschen streiten sich „um die Hülse des Wortes" und sehen nicht „das lebendige Wort", das in ihr verborgen ist; „Ihr habets auf euer Zungen schwebende, und mogets doch nicht fassen".130 Die Not vermag nur eines zu lindem: „daß wir mögen mit uns selber wieder eines seyn, Ein Volck, Ein Baum, Ein Mensch, Eine Seele und Leib".131 Insgesamt läßt Böhmes Kommentar zur Sprachverwirrung deutlich werden: Der größte, mit dem Verschwinden der sprachlichen Einheit einhergehende Verlust ist der intuitive Zugriff auf das Wesen der Dinge anhand ihrer natursprachlichen Bezeichnungen. Die Menschen im Paradies vermochten dies noch im ganzen Umfang, die Menschen nach dem Sündenfall zumindest partiell. Die Ereignisse in Babel aber lassen den Menschen in einer Situation der Ratlosigkeit zurück, der er z.B. im Bereich der Bibelexegese mit mehr oder weniger verkrampften Versuchen begegnet, der Oberfläche der Texte den wahren Sinn abzugewinnen. Wie aber die Äste und Zweige eines Baumes eine Verbindung mit den Wurzeln besitzen, so beinhaltet jede historische Sprache letztlich die Natursprache. Die „Buchstaben= Wechsler" der Orthodoxie können sie mit ihren exegetischen Finessen freilich nicht aufspüren, lediglich der erleuchtete Mensch vermag dies. Auch dies belegt, daß der rational gesteuerte Umgang mit Sprache für Böhme den intuitiven Formen der Spracherfahrung unterlegen ist.

129 Mysterium Magnum, 36, 39. 130 Ebd., 29, 65. 131 Dominiert bei Böhme auch die negative Sicht der Sprachverwirrung und ihrer Folgen, so erkennt er in ihr auch „das grosse Geheimnis Gottlicher Offenbarung" (Mysterium Magnum, 36, 36). Wie Gott allerlei Pflanzen und Tiere, gute und böse, zu seiner Offenbarung geschaffen hat, sind auch aus den vervielfältigten Eigenschaften des menschlichen Baumes „solche Wunder" entstanden, die wiederum der „herrlichen Offenbarung der Ewigkeit" dienen. Was genau Böhme unter diesen Wundern versteht, wird nicht klar. Vielleicht soll lediglich hervorgehoben werden, daß in jeder Erscheinung der vielfältigen menschlichen Wirklichkeit Gott gegenwärtig ist. Dies legt zumindest Böhmes Bemerkung nahe, daß unter „Juden, Christen, Turcken und Heiden" letztlich „einerley Saft und Kraft" herrsche.

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b) die Qualitätenlehre Die Qualitätenlehre Böhmes basiert auf der Annahme, daß sich alle Phänomene des Seins aus einer bestimmten Anzahl von Kräften bzw. Grundsubstanzen zusammensetzen. In »Aurora« unterscheidet Böhme „siebenerley Qualitäten oder Umstände"; sie werden im einzelnen zu benennen sein. Diese Qualitäten wirken nicht isoliert, sondern bevorzugt zu zweit oder zu dritt. Die Zahlen zwei und drei sind in Böhmes Werk insgesamt von hervorgehobener Bedeutung; da sie auch in der Qualitätenlehre begegnen, sei von ihrer Betrachtung ausgegangen. Die Dreizahl erweist sich bei Böhme geradezu als inhaltliches wie methodisches Grundprinzip.132 In ihrer Bewertung geht Böhme weit über den traditionellen Trinitätsgedanken hinaus. Das Prinzip der Dreiheit zeigt sich nicht nur in Gottes Gegebensein als „Drey=Einiges Wesen"133, sondern auch im Menschen, insofern er „nach dem Gleichniß und aus der Kraft GOttes in seiner Dreyheit" geschaffen ist.134 Wie im Menschen „3 Quellbrunnen" vorhanden sind135, so kehrt das Prinzip der dreifachen Gottheit in den Tieren wieder.136 In der Flora und in den Mineralien sind es immerhin noch „drey Dinge", Substanz gebende und wirkende Kräfte, die dem Prinzip der Dreiheit Geltung verschaffen.137 132 Vgl. Wollgast 1988, 680, 691, passim. 133 Christosophia oder Der Weg zu Christo [...], 1622, 6. Buch, 3, 44. 134 Aurora, 3, 37. - Die Analogie wird fortgesetzt (3, 38): „Gleichwie vom Vater und Sohn ausgehet der H. Geist, und ist eine selbständige Person in der Gottheit, und wallet in dem gantzen Vater; also gehet auch aus den Kräften deines Hertzens, Adem und Him aus, die Kraft die in deinem gantzen Leibe wallet [...]". - Vgl. auch De signatura rerum, 1,7: „Der Mensch hat zwar alle Gestaltnisse aller drey Welten in ihme liegen, dann er ist ein gantz Bilde GOttes oder des Wesens aller Wesen; allein in seiner Menschwerdung wird die Ordnung in ihme gestellet: Dann allda sind drey Werckmeister in ihme, welche seine Gestaltniß zurichten, als das dreyfache Fiat, nach den drey Welten, und sind im Ringen um die Gestaltniß [...]". 135 Aurora, 3, 41 f.: „Also findest du in einem Menschen 3 Quellbrunnen: erstlich die Kraft in deinem gantzen Gemuthe, das bedeutet GOtt den Vater; darnach das Licht in deinem gantzen Gemuthe, das erleuchtet das gantze Gemuthe, das bedeutet GOtt den Sohn. [...] Darnach so gehet aus allen deinen Kräften, und auch aus deinem Lichte ein Geist aus, der ist verstandig: denn alle Adern samt dem Lichte in dir, sowol Hertz und Him, und alles was in dir ist, das macht denselben Geist; und das ist deine Seele [...]." 136 „Also findest du auch die Dreyheit der Gottheit in den Thieren: denn wie der Geist eines Menschen wird und entstehet, also auch in einem Thier, und ist in dem kein Unterscheid [...]". Ebd., 3, 44. 137 „In einem Holtze, Steine und Kraut sind drey Dinge [...]. Erstlich ist die Kraft, daraus ein Leib wird, es sey gleich Holtz oder Stein oder Kraut; hernach ist in demselben ein Saft, das ist das Hertze eines Dinges; zum dritten ist darinnen eine quellende Kraft, Geruch oder Geschmack, das ist der Geist eines Dinges, davon es wachst und zunimt: so nun unter den dreyen eines fehlet, so kan kein Ding bestehen." Ebd., 3, 47.

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Neben diesem Prinzip der Dreiheit - das auch in der Alchemie von Bedeutung ist, etwa in Paracelsus' Unterscheidung der drei Urstoffe Sulphur, Mercurius und Sal138 - läßt sich bei Böhme ein Prinzip der Dualität erkennen, das in bestimmter Hinsicht dem ersteren zugrunde liegt, jedenfalls dort, wo das Prinzip der Dreiheit nicht identisch mit der Dreifaltigkeit Gottes ist. Das Prinzip der Dualität bildet insofern die Basis des Dreiheitsgedankens, als alle Phänomene der Schöpfung zwei widerstreitende Prinzipien beinhalten, die als Ergebnisse der zwischen ihnen bestehenden Spannungen ein jeweils Drittes hervorbringen. So entsteht z.B. die sichtbare Welt als „drittes Principiwn" aus der Spannung zwischen den beiden ersten Prinzipien, der „Finster=Welt", „Quell der Grimmigkeit", Ort des „zornigen, grimmigen, eiferigen GOtt[es]"139, und der „Licht=Welt", Ort des sanften und gütigen Gottes.140 Bei diesen widerstreitenden Prinzipien handelt es sich also letztlich um Manifestationen von Gut und Böse, von Böhme als „Qualitäten"141 bezeichnet: „Die Natur aber hat zwo Qualitäten in sich bis in das Gerichte GOttes, eine liebliche, himmlische und heilige; und eine grimmige, hollische und durstige".142 Während „Qualität" hier die zwei grundlegenden Seinsprinzipien meint, bezeichnet der Ausdruck ansonsten meist eine Energie, eine „quallende, treibende Beweglichkeit", die alles durchdringt und in jedem Gegenstand der Natur gegenwärtig ist: „[...] alle Creaturen sind aus diesen Qualitäten gemacht und herkommen, und leben darinnen, als in ihrer Mutter: auch so hat die Erde und Steine daraus sein Herkommen, und alles was aus der Erden wachset, das lebet und quillet aus der Kraft dieser Qualitäten".143 Solche Qualitäten sind etwa Hitze und Kälte, wobei jede der Qualitäten sowohl das positive wie das negative Prinzip einschließt. So ist Hitze entweder als lebenskräftigendes und Erleuchtung bringendes Licht oder aber als „Grimmigkeit", alles verbrennend, 138 Zu Böhmes Übernahme der Begriffe s.u. - Zum Dreiheits-Prinzip in der Alchemie vgl. auch Johann Siebmachers »Via Veritas«, 1661, 181. 139 Dazu auch Wentzlaff-Eggebert 1944, 181f, der seine kurze Darstellung von Böhmes Prinzipienlehre aber leider nicht aus den Quellen belegt. 140 Die Zitate sind entnommen: Sex Puncta Mystica, 1620, 2, l sowie Drey Principien, l, 9. - Die Textstellen widersprehen sich zum Teil. So erkennt Böhme in »Sex Puncta Mystica« „drey ewige Unterscheide" an, „Feuer=Welt", „Finstere Welt" und „Licht=Welt". In »Drey Principien« greift er den Gedanken wieder auf, läßt jedoch die sichtbare Welt als dritten Bereich aus dem Gegensatz von Feuer und Licht hervorgehen. 141 Zum Terminus „Qualität", den Böhme keineswegs in nur einer einzigen Bedeutung verwendet, vgl. Solms-Rödelheim 1960, 43; Grunsky 1956, 212ff. u. P. Hankamer: Jacob Böhme. Gestalt und Gestaltung. 1924, 289ff. 142 Aurora, Vorrede, Par. 9. 143 Ebd., 2, 1.

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verzehrend und verderbend gegeben.144 Auch die Kälte umfaßt zwei Spezies, einmal als Element der Linderung grimmiger Hitze, zum anderen wieder selbst als Grimmigkeit, die jedes Leben unmöglich macht, wenn sie nicht von der Hitze eingeschränkt wird. Jede Qualität schließt also die zwei Prinzipien ein, steht außerdem als ganze Qualität einer anderen Qualität komplementär gegenüber, wie dies Hitze und Kälte tun. Wichtig an Böhmes Auffassung von der Präsenz der beiden Grundprinzipien ist, daß er eine der beiden Prinzipien zwar negativ bewertet, indem er sie als „böse" charakterisiert, daß er andererseits aber die Spannung zwischen den Prinzipien als absolut notwendig für die Möglichkeit allen Seins erachtet. Nur „der Widerwille macht die Beweglichkeit", indem er sich dem Willen entgegenstellt; nur im „Streit" kann die Natur sich offenbaren, ohne ihn „wäre keine Natur, sondern eine ewige Stille".145 Der Drang der Wesenheiten in die „stille Ruhe" widerspricht ihrer dualen Natur und provoziert das antagonistische Prinzip, so daß das negative Prinzip als „eine Ursache des Lebens und Lichts" ebenso notwendig und sinnvoll ist wie das positive146. Die beiden Prinzipien sind so grundlegend, daß sie sogar in Gott angelegt sind, d.h. spätestens hier weicht Böhme drastisch von orthodoxen theologischen Positionen ab - Gott ist der Ursprung von Gutem und Bösem. Zusammenfassend: In allen Phänomenen wirken bestimmte basale Kräfte, die „Qualitäten"; erst durch die zwischen ihnen bestehenden Spannungen wird Leben möglich. Diese Qualitäten besitzen einerseits physikalische und chemische Eigenschaften - hierin liegt der Anschluß der Qualitätenlehre an die Alchemic -, sind andererseits Manifestationen allgemeiner Werte wie Gut und Böse. Entsprechend der Bedeutung der Prinzipien der Dualität und der Dreiheit in der Schöpfung wirken die Qualitäten bevorzugt paarweise oder zu dritt, wobei das dialektische Prinzip - zwei sich antagonistisch zueinander verhaltende Qualitäten setzen eine weitere Kraft frei oder lassen einen konkreten Gegenstand entstehen - dominiert.

144 Ebd., l, 2-10. - An den hier zitierten Stellen beschreibt Böhme Hitze und Kälte als eigene Qualitäten, während er ansonsten Kälte meist als Merkmal der „herben" Qualität auffuhrt. Zur detaillierteren Darstellung der Qualitätenlehre s.u. 145 De signatura rerum, 2, 1-4. 146 Ebd.: „[...] im Streit wird sie [d.h. die Natur] offenbar, daß sich ein iedes Ding erhebet, und will aus dem Streit fliehen in die stille Ruhe, und damit nur aus sich selber in ein anders lauft, und den Streit nur dadurch erwecket". - Die im Text zuletzt zitierte Stelle aus »Sex Puncta Mystica« (3, 2) lautet vollständig: „Denn das Gute hat das Böse oder Widerwärtige in sich verschlungen, und halts im Guten im Zwang, gleich als gefangen, da das Böse eine Ursache des Lebens und Lichts seyn muß [...]".

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Obgleich die Qualitätenlehre für die Sprachreflexion Böhmes nur von indirekter Bedeutung ist, seien im folgenden die Qualitäten im einzelnen beschrieben. Wie kaum ein zweites Element verdeutlicht die Qualitätenlehre nämlich inhaltliche und methodische Charakteristika von Böhmes Denken. Als Vorlage der Beschreibung dient die Darstellung in »Aurora«.147 Dies sind die von Böhme unterschiedenen „siebenerley Qualitäten oder Umstände", die „Quellgeister", Ur-Eigenschaften allen Seins: 1. die herbe Qualität (sie ist das Herz oder der Kern in der Göttlichen Kraft, gebärt die Schärfe des Geistes, ist eine brennende Quell-Ader des Zorns Gottes, eine Finsternis); 2. die süße Qualität (Quell der Barmherzigkeit Gottes; während die herbe Qualität als Kälte das Wasser trocknet und zu scharfem Eis macht, ist die süße Qualität lindernd und wärmend, so daß aus ihr das Wasser stammt; ist ein Licht, Quell der Sanftmut und des Wohltuns); 3. die bittere Qualität (durchdringt zitternd die beiden ersten Qualitäten und steigt triumphierend in ihnen auf: ist der Quell aller Freude, Ursprung der Beweglichkeit; gibt den Dingen ihre Farben, wird besänftigt durch die bittere Qualität und erst dadurch lieb- und freudenreich, ansonsten - d.h. bei unkontrollierter Dominanz - zum reissenden und stechenden Gift, zum Geist des bitteren Zorns Gottes, zum bitter-höllischen Feuer, das das Licht verlöscht, und so zum Haus der Finsternis und der Trauer). - Die bislang genannten Qualitäten bilden eine Dreiheit, ihnen entsprechen die Urstoffe Sal, Mercurius und Sulphur. Sal, die „prima materia" der Alchemie, verleiht dort wie bei Böhme den Dingen ihre materielle Festigkeit, bei Böhme auch ihr ,,steinichte[s] Wesen", zusätzlich Härte, Kälte und eine salzähnliche Schärfe.148 Mercurius ist in der Alchemie ein geistiges Prinzip von der Natur des Quecksilbers. Bei Böhme bewegt und gestaltet es die Dinge, ist einerseits „ein bitter, stachlicht, wütend Wesen", andererseits „das ragende Leben". Sulphur schließlich ist in der Alchemie das Schweflig-Brennende, bei Böhme u.a. „Angst" sowie Ursprung des Finster- und Lichtreiches. Die Körper aller Wesen im Himmel und auf der Erde bestehen aus diesen drei Qualitäten, die mit- und gegeneinander in den Körpern wirken. So trocknet die herbe Qualität die im Wasser präsente süße, wodurch ein fester Körper entsteht. Die bittere Qualität durchdringt nun diesen Körper und verleiht ihm die Farbe der in ihm dominierenden Qualität (- der bitteren Qualität selbst entspricht die rote Farbe; wirkt die bittere Qualität in der süßen, so bildet sie blaue und weiße Farbe, während sie in der herben Qualität grüne, 147 Die folgenden Zitate aus: Aurora, Kap. 8-11. 148 Mysterium Magnum, 10, 18ff. - Zur terminologischen Bestimmung vgl. auch SolmsRödelheim 1960, 145, 141 u. 148.

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dunkle und vermischte Farben hervorbringt). Die in einem Körper dominierende Qualität bestimmt seinen „grosten Trieb", bestimmt also, wie der Körper geartet ist. Die Reihe der Qualitäten setzt sich fort: 4. die Hitze (Anfang des eigentlichen Lebens, d.h. durch sie wird dem Körper Geist verliehen). - Ein Beispiel, das auf dem bisherigen Stand der Darstellung basiert und verdeutlicht, wie Böhme seine Qualitäten in der physischen Natur wirken sieht: In der Erde sind die ersten drei Qualitäten gegenwärtig. In ihr, der Erde, befinden sich allerlei Corpora, wie Steine, Erze, Wurzeln; auch in diesen sind die drei Qualitäten präsent. Fällt nun die Hitze der Sonnenstrahlen auf die Erde, so werden die Qualitäten in ihr aktiv, alles in der Erde quillt und wächst. Im einzelnen geschieht dies deshalb, weil die Hitze das Wasser, welches eine Manifestation der süßen Qualität ist, stimuliert. Im süßen Wasser wird die Hitze zum Licht, erleuchtet die beiden anderen Qualitäten und bewirkt, daß diese rege werden, und zwar derart, daß sie ineinandergreifen, so, als würden sie den „Geschmack" der jeweils anderen kosten. Wenn aber die süße Qualität den Geschmack der bitteren kostet, muß sie vor ihr zurückweichen, ganz so wie ein Mensch bei der Verkostung eines bitteren Stoffs unwillkürlich „die Gaumen [erweitert], weiter als sie ihm gewachsen sind". Die süße Qualität weicht also, sich ausbreitend, vor der bitteren zurück, welche nun die süße Qualität verfolgt, weil sie von deren süßem Wasser kosten will. Dies will auch die herbe Qualität und drängt „immer hinnach"; bei ihrem Nachdrängen läßt sie einen trockenen ErdCorpus hinter sich zurück. In Böhmescher Sprache werden diese Abläufe so zusammengefaßt: Wenn nun die herbe und bittere Qualität von der Hitze ihr Licht bekommen, so sehen sie die susse Qualität, und kosten ihr susses Wasser: denn eilen sie dem süssen Wasser immer nach, und trincken das in sich; denn sie sind gantz harte, rauh und durstig, und die Hitze vertrocknet sie vollend: Und die süsse Qualität fleucht immer vor der bittern und herben, und dehnet ihren Gaumen immer weiter aus; und die bittere und herbe eilen immer der süssen nach, und laben sich von der süssen, und vertrocknen den Corpus.

Dies ist die mystische, auf der Qualitätenlehre beruhende Erklärung Böhmes für das in der Natur auftretende Phänomen des Austrocknens von Erde bei Sonneneinstrahlung. Das Beispiel wird fortgesetzt: Die süße Qualität verläßt auf ihrer Flucht vor der herben und bitteren die Erde, indem sie einen langen Halm hervorbringt - von diesem Vorgang war bereits im Exkurs über die zeitgenössischen Argumentationsstrukturen die Rede -, auch dabei verfolgt von

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den beiden anderen Qualitäten. Sämtliche dem naturkundlichen Auge offenkundigen biologischen Merkmale eines Hahnes werden nun aus dem Wechselspiel der Qualitäten gedeutet. So sind die Verdickungen an denjenigen Stellen des Hahnes, wo die Blätter abgehen, die Orte, wo ein Streit zwischen den Qualitäten stattfand. Auch die Blätter selbst sind Zeichen der Fluchtbewegungen der süßen Qualität, ebenso wie die Hohlheit des Hahnes. Die grüne Farbe der Pflanze erkläre sich wiederum aus der Präsenz des süßen Wassers im Hahn (Par. 53) (- obgleich Böhme an anderer Stelle [Par. 27] Grün mit der herben Qualität assoziiert). Auch der Kopf des Halmes und seine Frucht, sogar Farbe und Duft der Blüten werden anhand der Qualitäten erläutert, der Duft etwa als das Resignieren der Blüten, welche die Kinder der „süssen Mutter" sind, vor dem zu „starken Geist" der HitzeQualität. Die Liste der Qualitäten ist noch unvollständig: 5. die Liebe (freundlich und freudenreich); 6. der Schall oder Ton (aus ihm erfolgt „die Sprache und Unterscheid aller Dinge"); 7. „der Corpus, der aus den ändern sechs Geistern geboren wird, darinnen alle himmlische Figuren bestehen", eine Art „Gehäuse" für die ersten sechs Qualitäten. In den späteren Arbeiten »De signatura rerum« und »Mysterium Magnum« finden sich erneut Darstellungen der „sieben Geister GOttes oder Kräfte der Natur", wenn auch mit geringfügigen Abwandlungen. »Mysterium Magnum« enthält zudem ein Schema, in dem die einzelnen Qualitäten mit ihren Bedeutungen aufgeschlüsselt sind149: I. 2.

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Die Darstellung der Qualitätenlehre sollte verdeutlichen, daß Böhme alle Erscheinungen des Seins als aus einer endlichen Menge von Kräften bzw. 149 Mysterium Magnum, 6, 13ff.; De signatura rerum, 4, 4ff.

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Grundsubstanzen zusammengesetzt sieht. Dieses Prinzip der Kombination komplexer Seinsformen aus basalen Einheiten begegnet mehrfach in der Geistesgeschichte der frühen Neuzeit, z.B. auch in Entwürfen, die auf der Kombinatorik des Raimundus Lullus basieren; an anderer Stelle wird dies ausführlich zu besprechen sein. Im Gegensatz zu den Entwürfen auf Lullscher Grundlage handelt es sich aber bei Böhme nicht um ein mechanisches Kombinieren statischer Ausgangselemente, sondern um ein organisches Wechselspiel bestimmter Kräfte bzw. Grundsubstanzen. c) das Konzept der Natursprache Die Feststellung, daß sich hinter der sinnlich wahrnehmbaren Oberfläche der Phänomenwelt eine Ebene basaler Kräfte verbirgt, trifft auch auf die Sprache zu. An der phonetischen Form muttersprachlicher Wörter weist Böhme die Präsenz metaphysischer Inhalte nach, d.h. er zeigt auf, inwiefern in der historischen Volkssprache Deutsch Natursprachliches verborgen ist. Die Beschreibung der Einheitsthematik bei Böhme ließ bereits einige allgemeine Spezifika seiner Natursprachenlehre hervortreten. Im folgenden seien ihre theologischen Voraussetzungen sowie einige konkrete Lautanalysen am Beispiel erörtert. Die wichtigste Voraussetzung ist die Annahme einer Bezeichnung aller Dinge durch Adam, und dies - natürlich nicht nur bei Böhme150 - unter Berufung auf Genesis 2, 19f: Denn als Gott der HERR gemacht hatte von der Erden allerley Thier auff dem Felde / vnd allerley Vogel vnter dem Himel / bracht er sie zu dem Menschen / das er sehe / wie er sie nennet / Denn wie der Mensch allerley lebendige Thier nennen wurde / so sollen sie heissen. Vnd der Mensch gab einem jglichen Vieh / vnd Vogel vnter dem Himel / vnd Thier auff dem Felde / seinen namen [...].

Bei Böhme findet sich diese Stelle mit zwei wichtigen Veränderungen: Denn als Adam erstlich geredet hat, so hat er allen Creaturen, nach ihren Qualitäten und instehenden Wirckungen, den Namen gegeben: Und ist eben die Sprache der ganzen Natur, aber es kan sie nicht ein ieder; denn es ist ein Geheimniß [...].151

Von Bedeutung ist weniger die Selbstverständlichkeit, mit der aus der in der Bibel angegebenen Bezeichnung der Tiere auf die Bezeichnung aller sonsti150 Das Konzept der adamischen Ursprache wird im Zusammenhang mit der Darstellung der Sprachursprungsdebatte im 17. und frühen 18. Jahrhundert eingehend besprochen werden, hier seien lediglich Böhmes Äußerungen dazu erwähnt. 151 Aurora, 20, 91.

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gen Gegenstände der Natur geschlossen wird, entscheidend ist vielmehr, daß Adam seine Akte der Bezeichnimg nach Maßgabe der „Qualitäten und instehenden Wirckungen" der zu bezeichnenden Objekte vollzogen haben soll. Demnach hat Adam „aller Creaturen Eigenschaft gewust" und ihnen „Namen gegeben aus ihrer Essentz, Form und Eigenschaft"152, also nach ihrer Substanz und den entsprechenden Akzidenzien. Dies hat zur Folge so mag man sich die von Böhme nicht eindeutig benannten Zusammenhänge vorstellen -, daß ein Wort der Natursprache seine Bedeutung in einer Weise vermittelt, wie dies lautmalende Wörter tun: Die Inhaltsseite ist in den physikalischen Spezifika der Ausdrucksseite sozusagen enthalten. Dabei dient das natursprachliche Wort nicht nur der semantischen Identifizierung des bezeichneten Gegenstandes oder Sachverhalts, sondern liefert gleichzeitig eine detaillierte Information über die im Gegenstand bzw. Sachverhalt wirkenden basalen Seinskräfte. All dies würde sich dem Empfänger eines natursprachlichen Wortes schlagartig mitteilen. Insgesamt haben die Menschen jedoch die Fähigkeit zum Verstehen der Natursprache verloren. Wer allerdings vom Heiligen Geist erleuchtet ist, vermag an den Konstituenten der existierenden historischen Sprachen die dem oberflächlichen Blick verborgene transzendente Motiviertheit - denn um eine solche, nicht um eine ,bloß' ontologische Motiviertheit handelt es sich hier -, d.h. das den bezeichneten Gegenstand durchdringende Göttliche nachzuvollziehen. Als Beleg zitiert Böhme das Pfmgstwunder der Sprachausgießung: Wie Gott im menschlichen Leib Christi durch die Auferstehung triumphierte, „also auch in seinen Jungern und Glaubigen: da gingen alle Thüren der grossen Wunder auf, und redeten die Aposteln mit aller Volcker Zungen [...]."153 Damit hatte der Heilige Geist „alle Centra aller Essentien aufgethan, und redete aus allen", allen Menschen drang er „durchs Hertze". Das Konzept der Natursprache ist eng mit dem der Signatur verknüpft.154 Die Signaturen sind gewissermaßen die Spuren, welche die basalen Kräfte auf der Oberfläche der Phänomene hinterlassen haben, und anhand der Signaturen kann man diese Kräfte identifizieren. Sämtliche Gegenstände der Wirklichkeit verfügen über Signaturen - „die gantze aussere sichtbare Welt mit all ihrem Wesen, ist eine Bezeichnung oder Figur der in-

152 Mysterium Magnum, 19, 22. 153 Drey Principien, 26, 3f. 154 Zur Signaturenlehre allgemein: Käthe Schuhmacher: Die Signaturenlehre bei Paracelsus. Diss. Köln 1953; Peuckert 1967; auch für spätere Epochen: H. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt 1981; weitere Literatur bei Kühlmann 1992, Anm. 3 u. 28.

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neren geistlichen Welt"155, die „Schöpfung der aussern Welt ist eine Offenbarung des inneren geistlichen Mysierii"156 etc. -, und im Falle der Sprachen sind die Signaturen die phonetischen Spezifika der Laute: „Das Innere offenbaret sich im Halle des Wortes"157, „das innere Wort wohnet im aussern"158 etc. Das Konzept der Signatur wird durch Paulus (l, 20) legitimiert, wenn er feststellt, daß sich „Gottes vnsichtbares wesen [...] an den Wercken / nemlich / an der schepffung der weit" offenbare. „Ein iedes Ding" hat „seine Signatur"159, schreibt Böhme, sie ist „Behalter oder Kasten des Geistes"160. Im 16. und 17. Paragraphen des 1. Kapitels von »De signatura rerum« bestimmt Böhme die Natursprache mit ihren Signaturen so: 16. [...] dann an der äusserlichen Gestaltniß aller Creaturen, an ihrem Trieb und Begierde, item, an ihrem ausgehenden Hall, Stimme und Sprache, kennet man den verborgenen Geist, dann die Natur hat iedem Dinge seine Sprache nach seiner Essentz und Gestaltniß gegeben, dann aus der Essentz urstandet die Sprache oder der Hall, und derselben Essentz Fiat formet der Essentz Qualität, in dem ausgehenden Hall oder Kraft, den lebhaften im Hall, und den essentialischen im Ruch, Kraft und Gestaltniß: Ein iedes Ding hat seinen Mund zur Offenbarung. 17. Und das ist die Natur= Sprache, daraus iedes Ding aus seiner Eigenschaft redet, und sich immer selber offenbaret, und darstellet, worzu es gut und nutz sey, dann ein iedes Ding offenbaret seine Mutter, die die Essentz und den Willen zur Gestaltniß also gibt.

Zusammenfassend: Aufgrund der adamischen Akte der Namengebung verfügt jeder Gegenstand der Wirklichkeit über eine Bezeichnung, welche die basalen Kräfte, die allem Sein zugrundeliegen, erkennen läßt, und zwar in der Form, in der diese Kräfte in dem bezeichneten Gegenstand wirksam sind. Die phonetischen Spezifika der Bezeichnung dienen dabei als Hinweise - Signaturen - auf die inhärenten Kräfte. Obgleich die Menschheit als ganze die Fähigkeit zum intuitiven Verstehen der Natursprache verloren hat, ist ein solches Verstehen dem erleuchteten einzelnen durchaus möglich. Worum es sich bei den „basalen Kräften" genau handelt, geht aus Böhmes Ausführungen nicht hervor. Während an einigen Stellen von den „Qualitäten" der Qualitätenlehre die Rede ist, schreibt Böhme an anderen Stellen vom „Geist". Dem Tenor der gesamten Darstellung nach muß man jedenfalls davon ausgehen, daß die richtige Interpretation der Lautung eines

155 156 157 158 159 160

De signatura rerum, 9, 1. Mysterium Magnum, 10, 5. De signatura rerum, 1,6. Ebd., 9, 23. Ebd., 9,4. Ebd., l, 4.

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muttersprachlichen Wortes Wissen über bestimmte metaphysische Gegebenheiten vermittelt, die den Phänomenen der Schöpfung - dies schließt auch geistige Phänomene ein - zugrundeliegen. Die Vorstellung eines beim Sprechen aus dem Inneren des Menschen austretenden Geistes ist natürlich nicht auf Böhme beschränkt, sondern findet sich im mystischen Schrifttum der Zeit in unterschiedlichen Varianten. Der u.a. auf paracelsisches Gedankengut zurückgreifende Franciscus Mercurius van Hellmont etwa sieht die Atemluft des Menschen als durch seinen Geist angereichert - beim Inhalieren nimmt die Luft „den geruch von dem Schleim oder Samen deß Gehirnes"161 auf -, so daß die Luft nun ein ,ysp/r/ft/ose[s] subtile[s] wesen"162 enthält, das bei der Exhalation der Luft im Zuge des Sprechens den Körper verläßt, wobei es „den Samen des Hertzens und gantzen menschlichen Wesens"163 verbreitet. Wenn dies für alle Menschen gilt, so geht Hellmont für die Person Adams noch einen Schritt weiter, indem er dessen spiritus eine schöpferische Qualität zuspricht: Adam habe die Tiere nicht nur im nachhinein benannt, sondern durch den Akt der Benennung geschaffen.164 Durch den Sündenfall sei jedoch der größte Teil der Wirkung des spiritus für den Menschen verlorengegangen, so daß seinen Worten nur noch in sehr indirekter Weise Macht zukomme. Mit dieser letztgenannten Einschränkung versucht Hellmont sich vor einem etwaigen Vorwurf der Zauberei zu schützen; andere - etwa Marsilio Ficino und Ludovico Lazarelli - waren weniger zurückhaltend.165 Charakteristisch für Böhmes Verfahren ist jedoch, daß er es nicht bei der bloßen Feststellung beläßt, die, wie auch immer gearteten, basalen Kräfte spiegelten sich in der Phonie des Wortes („der Geist [hat sich] aus der Essentz durchs Principium im Hall mit der Stimme [...] offenbaret"166), sondern daß er den Vorgang im Detail schildert. Das transzendent ,richtig' 161 Kurtzer Entwurffdes Eigentlichen Natur-Alphabets der Heiligen Sprache, 1667, 36. 162 Ebd., 37. - Der Ausdruck ^pirituoses subtiles wesen" wird von Hellmont in zwei unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Wo es sich nicht um die oben beschriebene Bedeutung handelt, meint Hellmont mit dem Ausdruck eine Art Kraft, die sich bereits vor dem Inhalieren in der Luft befindet (Gott habe „ein herrliches Geistliches wesen [...] in die Lufft gepflantzet", S.75). Unter dieser Kraft scheint Hellmont allerdings keine metaphysischen, sondern bestimmte physikalische Qualitäten der Luft zu verstehen, etwa ihre Eigenschaft, sich unter bestimmten Bedingungen auszudehnen. 163 Ebd., 42. 164 So in: Einige Gedancken über die vier ersten Capitel des ersten Buchs Mosis, Genesis genannt, 1698. Nach Coudert 1978, 55ff. 165 Die Schriften Ficinos und Lazarellis erschienen bereits im 15. bzw. 16. Jahrhundert, wurden jedoch noch im 17. Jahrhundert von Hellmont und anderen rezipiert. Vgl. Coudert 1978, 74ff. 166 De signatura rerum, l, 1.

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gesprochene Wort muß sich also in seiner lautlichen Konstellation so „gebaren", wie sich der zu bezeichnende Gegenstand „gebaret". Für den Artikulationsvorgang bedeutet dies: Wie sich nun ein iedes Wort im Munde zur Substantz fasset, als zum Aussprechen, wie es der Werckmeister bildet, der in den Sensibus ist als das Fiat, und wie die Zunge mit thut, wenn sie das fasset, und durch welchen weg sie das ausführet, entweder durch die Zahne, oder über sich, oder mit offenem Munde; Item, wie sich die Zunge schmeuget im Fugen des Worts, welchen Sensum sie wieder zurucke=zeucht, und nicht will gantz ausstossen, wie denn mancher Sensus kaum halb ausgestossen wird, mancher aber gar, mancher aber wieder halb gegen dem Hertzen gezogen; und wie nun das Wort gebildet ward; also ist auch das Ding in seiner Form und Eigenschaft, das das Wort damit nennet [...].167

Genau besehen, schließt also die Motiviertheit der Natursprache nicht nur eine bestimmte phonetische Gestalt des Wortes, sondern auch den Prozeß der Gestaltung selbst, d.h. die Bewegungen der Artikulationsorgane sowie den Verlauf des Luftstromes ein. Die Beschreibungen der Artikulationsvorgänge geraten Böhme zu regelrechten transzendenten Geschichten, kurz und bisweilen sogar spannungsgeladen. Im folgenden seien einige Beispiele aufgeführt. Voraussetzung für die natursprachlichen Analysen ist die Annahme, daß einzelne Laute, Kombinationen von Lauten unterhalb der Silbengrenze, die Silbe, Kombinationen von Silben, schließlich das ganze Wort Bedeutung tragen, genauer: transzendente Bedeutung.168 Insgesamt setzt sich die Bedeutung des Gesamtwortes aus fünf Komponenten zusammen: aus den transzendente Bedeutung tragenden Konstituenten, aus der standardsprachlichen semantischen Bedeutung, aus Artikulationsort und -art sowie aus dem Verlauf des Luftstromes. Dabei ist die standardsprachliche semantische Bedeutung eines Wortes nur von sekundärer Relevanz, greift jedoch immer wieder in die natursprachliche Semantisierung hinein. Bevor jedoch das Wort der Natursprache im Mund eines Menschen gebildet werden kann, müssen die Einzelheiten dieser Bildung festgelegt werden, d.h. es muß entschieden werden, welche Lautung einem bestimmten Gegenstand, d.h. den in ihm wirkenden Kräften entspricht. Als Beispiel sei der Fall angenommen, daß ein noch namenloser Gegenstand zu bezeichnen ist. Dazu muß ihn der sich im Zustand der Erleuchtung befindende Mensch zuerst wahrnehmen und erkennen. Diese Aufgabe kommt den 167 Mysterium Magnum, 35, 56. 168 In der Forschungsliteratur findet sich häufig die Bezeichnung ,Phonem' für den Laut als Gegenstand der Bewertung durch Böhme. Hier soll dagegen ,Laut' der Vorzug gegeben werden, da Phoneme gerade nicht bedeutungstragend sind.

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Sinnen zu, den Sinnen „des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens und Fühlens".169 Die Sinne sind um den „Konig", das im „Gemüth" waltende „Licht des gantzen Leibes", gruppiert; ihm, dem Geist des Menschen, arbeiten sie als seine „Räthe" zu, indem sie ihm die einzelnen Ergebnisse ihrer Tätigkeit vorlegen, damit er diese Ergebnisse in den Klang des Wortes umsetzen kann. Dabei ist die Tätigkeit der Sinnesorgane nicht auf passives Registrieren beschränkt, sondern schließt das Bewerten des Wahrgenommenen ein. Böhme beschreibt den Vorgang der Erkenntnisgewinnung über die sinnliche Wahrnehmung in einer vergleichsweise klaren Sprache; ein längeres Textstück aus der zentralen Passage sei daher zitiert. Dies also geschieht, wenn ein Reiz auf die Sinnesorgane einwirkt: Erstlich gibts der Konig den Augen zusehen, obs böse oder gut ist: und die Augen gebens (2) den Ohren, zu hören von wannen es kommt, obs aus einer rechten Region oder falschen kommt, obs erlogen oder wahr sey; und die Ohren gebens (3) der Nasen, dem Ruche, die soll riechen das Eingefuhrete, so vor dem Konige stehet, obs aus guten Essentien oder falschen komme. Und die Nase giebts (4) dem Geschmack, der sols wol probieren, obs rein oder falsch ist. Darum hat der Schmack die Zunge, daß er es soll wegspeyen, so es falsch ist [...]. Und wanns der Schmack hat probieret, dass es den Essentien der Seelen wolthut, so gibt ers (5) in die Fühlung: die soll probieren, aus welcher Qualität es ist, obs heis oder kalt, hart oder weich, dick oder dünne sey; und so es leidlich ist, so gibts die Fühlung ins Hertze vorn Blick des Lebens, und vor den Konig des Lebens=Licht, und der Wille des Gemüthes erblicket sich femer in dem Dinge in eine grosse Tieffe, und siehet was darinnen ist, wie viel er des dinges will annehmen und einlassen; wanns genug ist, alsdann gibts der Wille dem Geiste der Seelen, als dem ewigen Obersten, der fuhrets aus dem Hertzen mit seiner starcken und strengen Macht im Schalle, auf die Zunge unterm Gaumen, da zerscheidets der Geist nach den Sinnen, wie sich der Wille hat erblicket, und die Zunge zerscheidet es im Schalle.170

Das gesprochene Wort hat nun seine feste Lautgestalt, in einem genau bestimmten Artikulationsablauf. seinen Lautdeutungen verfolgt Böhme den Weg der Bildung des Wortes zurück, wobei er mit den physischen Aspekten des Artikulierens beginnt und sie häufig korrekt beobachtet. Den Vorgang der Artikulation der Wortkette „Himmel und Erden" z.B. beschreibt er so: Das Wort ,Himmer fasset sich im Hertzen, und stosset bis auf die Lippen, da wird es verschlossen: und die Sylbe ,Mel' macht die Lippen wieder auf, und wird mitten auf der Zungen gehalten, und fahret der Geist auf beyden Seiten der Zungen aus dem Maule [...].

169 Drey Principien, 16, 11. 170 Ebd., 16, 18f.

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Das Wort ,Und' fasset sich im Hertzen, und wird mit der Zungen im obern Gaumen gefangen und zusammen=corporiret; wenn es aber los lasset, so thuts noch einen Druck aus dem Hertzen zum Munde aus [...]. Das Wort ,Erden' stosset vom Hertzen, und fasset sich am hintern Theil über der Zungen, im hintern Gaumen, und zittert: es braucht sich aber die Zunge zu der ersten Sylben ,Er' nicht; sondern sie schmauget sich in den untern Gaumen hinein [...]. Die andere Silbe ,Den' fasset sich mit der Zungen mit dem obem Gaumen, und lasset das Maul offen: und der Geist der Formung fahret zur Nasen raus, und will nicht in diesem Worte zum Munde mit raus; und ob er gleich etwas mit raus fahret, so fahret der rechte Klang des rechten Geistes doch nur durch den Geruch oder die Nase heraus.171

An den Einzellauten werden charakteristische Merkmale hervorgehoben. Beim [m] ist es Bilabialität und Okklusion, beim [1], mit der Feststellung des beiderseitigen Ausströmens der Luft, die Eigenschaft der Lateralität, beim [n] die apiko-alveolare Bildung, der Verschluß der Mundhöhle und die nasale Qualität, beim [d] die apiko-alveolare Bildung, die Lippenöffnung und plötzliche Lösung des Verschlusses, beim [r] das Vibrieren der Uvula. Die artikulatorische Beschreibung wird nun durch die Deutung der Vorgänge ergänzt, und hier formuliert Böhme eine der erwähnten transzendenten Geschichten. Daß etwa „Himmel" seinen Anfang „im Hertzen" nimmt, der Hauchlaut - in späteren Arbeiten Böhmes wird [h] zum Merkmal der „Aushauchung" des Geistes172 - das Ausströmen des , unten' kommenden Luftstromes noch verstärkt, die Artikulation dann aber durch den Verschluß des [m] abrupt unterbrochen wird, ist Beleg für die Trennung von ,,innerste[r]", d.h. seelischer und ,,äusserste[r]" Geburt, bedingt durch „die greuliche Sünde". Doch die Lösung des Verschlusses in der Folgesilbe ,,-mel" zeigt nun wieder, daß Gott die Pforten erneut geöffnet, d.h. dem Menschen die Möglichkeit zur Heilsfindung eingeräumt hat. Der feste Druck der Zungenspitze auf den Alveolenbogen bei der Aussprache des [1] unterstreicht Gottes Absicht, der verdorbenen Welt „einen Konig und Groß=Fürsten" zu geben, der sich nun in Gestalt des Heiligen Geistes, „aus der Tieffe des Vaters und Sohnes", in die Welt verbreitet, ein Vorgang, dem in der Artikulation des Wortes „Himmel" das laterale Ausströmen der Luft bei der Artikulation des [1] entspricht.

171 Aurora, 18, 62ff. 172 Konopacki, der die bislang detaillierteste Untersuchung zu Böhmes Lautdeutungen vorgelegt hat, gibt u.a. einen kurzen Überblick über die Charakterisierung der einzelnen Laute in Böhmes Werken (1979, 18Iff.).

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Auch im Falle des „und" ist der Wechsel von Unterbrechung des Luftstromes zu anschließender Freisetzung173 Zeichen für den Unterschied „zwischen der heiligen und der irdischen Geburt". Die Tatsache, daß man bis zur Lösung des Verschlusses nicht einmal weiß, um welches Wort es sich handelt, belegt das Unverständnis des Irdischen für das Heilige. Die schlagartige Freisetzung des Luftstromes läßt jedoch hoffen, daß das Irdische sich mit dem heiligen Inneren „inqualiren" werde, ohne es allerdings begreifen zu können: Eben deshalb ist die Silbe stumm und ohne begriffliche Bedeutung. Die Deutung von „Erden" basiert auf der Spannung zwischen der ersten und der zweiten Silbe. In „Er" kommen die herbe und die bittere Qualität zum Tragen, der Zorn Gottes läßt die Uvula vibrieren, und die Zunge schmiegt sich aus Furcht an den unteren Gaumen, „und fleucht als vor einem Feinde". Die Artikulation des „den" aber verspricht Erlösung: Der Geist fährt zur Nase hinaus und damit gleichzeitig „hinauf ins Hirn vor den königlichen Stuhl". So bekundet Gott seinen Willen, den ,,äusserste[n] Salitter der Erden" - an dieser Stelle wohl: das Prinzip der Zerteilung in die Vielheit174 - und „das Hertze der Erden aus dem Zorn der Bosheit [zu] ziehen, und zu seinem ewigen königlichen Lobe [zu] brauchen". Dieses Verfahren transzendenter Sprachdeutung, das kabbalistische Praktiken wie paracelsisch-alchemistische Begriffe - Sulphur, Mercurius, Salitter bzw. Salniter, Matrix, Putrefaktion, Coagulation, Tinctur und andere175 - einbezieht, findet sich in allen Schaffensperioden Böhmes. Ein zweites Beispiel, aus dem späten »Mysterium Magnum«: Böhme erläutert die Bedeutung von „Ararath" als den Namen des Berges, auf dem sich die Arche niedergelassen hat.176 Das zweifach auftretende [r] - überhaupt einer der wichtigsten Laute bei Böhme177 - verdeutlicht die Grimmigkeit, den Zorn Gottes. Die letzte Silbe jedoch zeigt, daß „der Grimm der ewigen Natur" zukünftig als Krieger „durch die Natur reiten" und seine Gewalttätigkeit in den Menschen in der Form von Kriegen zur Wirksamkeit gelangen

173 Böhme hat sich hier davon täuschen lassen, daß die Zungenstellung bei der Artikulation des [n] mit der des [d] zusammenfallt; es ist natürlich nicht das [n], welches „die Sylbe mit der Zungen im oberen Gaumen" hält, d.h. den Verschluß bewirkt, sondern das[d]. 174 Zum Terminus vgl. auch Solms-Rödelheim 1960, 146. 175 Vgl. dazu Solms-Rödelheim 1960, 132ff. 176 32,33. 177 Speziell zum [r] vgl.: W. Moulton: Jacob Boehme's Uvular „r". In: Journal of English and Germanic Philology, 51, 1952, 83-89; in Erwiderung darauf: J. Mendels: Jacob Boehme's „R". In: Journal of English and Germanic Philology, 53, 1953, 559-562.

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lassen wird. Interessant sind die phonetischen Parallelen zwischen „-rat" und „reiten"; möglicherweise waren sie es, die Böhme zur Wahl des Verbs veranlaßt haben. Ein weiteres Beispiel: Die Spannung zwischen den unterschiedlichen Qualitäten kommt gut in der Interpretation des Wortes „barmhertzig" zum Ausdruck.178 In der Silbe „barm-" ist der Vokal von Konsonanten umgeben, und dieses Eingeschlossensein ist Kennzeichen der herben Qualität. Zu ihr tritt im [r] die bittere Qualität als „ein zitternder Odem". Die Unverständlichkeit der auf sich allein gestellten Silbe „barm" rührt daher, daß die Qualitäten der Bitterkeit und Herbheit hart, dunkel und kalt sind, ohne inneres Licht, das ein Verstehen ermöglichen würde. Spricht man aber die zweite Silbe „hertz" aus, so gebärt sich der Geist unmittelbar aus der Hitze des Herzens heraus, von dem „das Licht ausgehet und quallet". Schlagartig empfangt das Wort Bedeutung. Das abschließende „-ig", auf einen Okklusiv endend, verhindert das Entweichen des Geistes aus dem Wort. Diese letzte Silbe wertet Böhme ebenfalls als Ausdruck der bitter-herben Qualität, so daß die beiden Qualitäten den Geist umschließen: „darinnen wird der Sohn GOttes geboren; und das ist das rechte Hertze GOttes". Eine Lautdeutung, in deren Kontext die zugrundeliegenden sprachphilosophischen Konzepte deutlich werden, ist Böhmes Beschäftigung mit dem Wort „schuf aus Genesis l, 1. Die Deutung selbst soll hier nicht im einzelnen beschrieben werden, da sie sich im Prinzip nicht von anderen unterscheidet, die Darstellung der Konzepte jedoch sei als Zusammenfassung des Bisherigen kurz wiedergegeben. Ausgangspunkt ist die Bestimmung des Menschen als imago dei und die sich daraus ergebende Folgerung, das zentrale Anliegen der Mystik: „GOtt der Vater hat uns in Christo wieder=erboren, daß wir sollen mit unserer Imagination wieder ins Wort, als in seines Lichtflammenden Hertzens Centrum, eingehen, daß der H. Geist wieder aus uns ausginge [,..]".179 Gelingt es dem Menschen, sich mit Gott zu vereinigen, dann vermag er die Sprache nicht mehr nur als akustisches, mit einer mehr oder weniger beliebigen Bedeutung belegtes Phänomen wahrzunehmen, sondern in ihrem göttlichen Gehalt zu verstehen: Gott spricht aus dem Menschen. Dieses Verstehen war uns einst als selbstverständlicher Teil unserer Natur gegeben, nun müssen wir es wieder erlernen, erneut verdienen; unser „Dunckel", unser Drang nach „Wollust", der Gefallen am ,,sanfte[n] Fleisch" ließ die sechs Geister der Grimmigkeit unter uns

178 Aurora 8, 74ff. 179 Hier und im folgenden: Vom dreyfachen Leben, 3, 49ff.

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wirken und Gott die Geheimnisse versiegeln. Weil aber das Wort Gottes Mensch wurde und starb, wurden „die sieben Siegel in der menschlichen Seelen [gebrochen]" und können in Christus wiedergeboren werden, auf daß „das Wort auch in uns Mensch werden" mag. Die Situation ist im Grunde ganz einfach: „weil er [d.h. der Mensch] aber ist aus dem Innern ins Aeussere gangen, und stehet nun im Suchen, so muß er wieder ins Innere eingehen [...]".18° Hier ist wieder das Prinzip benannt, das Böhmes ganzes Schaffen durchzieht: Alles Sein ist dem göttlichen Zentrum entäußert und drängt nach Rückkehr in dieses Zentrum.181 Die bisherige Darstellung sollte nicht den Eindruck entstehen lassen, bei Böhmes Natursprachenlehre handele es sich um eine systematisch aufgebaute Theorie. Tatsächlich weist die Begrifflichkeit wie die gesamte Argumentation über weite Teile Unstimmigkeiten auf, und vieles ist ausgesprochen konfus; die obige Beschreibung hat zum Zwecke einer kohärenten Darstellung solche Unstimmigkeiten allerdings nicht eigens hervorgehoben. Selbst das grundlegende Konzept der Natursprache ist in der vorliegenden Form alles andere als schlüssig definiert, unklar bleibt insbesondere das Verhältnis zwischen der Natursprache und den historischen Sprachen. Denn Böhmes Klage über den Verlust der originalen Natursprache spätestens in Babel sowie seine Verwendung der Baummetapher zur Illustration der genealogischen Verhältnisse zwischen den Sprachen legt nahe, daß die existierenden Einzelsprachen die Natursprache nur noch in korrumpierter Form enthalten. Seine eigenen Lautanalysen aber zeigen auf, daß jeder einzelne Laut des betreffenden deutschen Wortes, jede Bewegung der Artikulationsorgane, jede Etappe im Verlauf des Luftstromes zur Konstituierung der transzendenten Bedeutung des Wortes beiträgt. Wäre aber ein 180 Ebd., 5, 87. 181 Die Deutung von „schuf setzt sich so fort: Das ausgesprochene Wort ist also „ein Bildniß der H. Dreyzahl" (Vom dreyfachen Leben, 5, 50ff.), ein „Gleichniß GOttes". Aus den „Essentien des Vaters" stammend, wird es im Mund vom Heiligen Geist erfaßt „und gehet also damit aus dem Vater und Sohne aus in die Wesenheit; da stehet es mit dem Glantze der Majestät in der Wesenheit [...]". Wer als gläubiger Mensch die Bildung eines Wortes auf seinem Weg vom Herzen, wo der Luftstrom seinen Ausgang nimmt, durch den Mund- oder Nasenraum genau beobachtet, der wird begreifen, „warum ein iedes Ding also heisset". Wem etwa menschliche „Vernunft" die Frage nach dem Wesen der Schöpfung eingibt, der würde im Wort „schaffen" selbst die Antwort darauffinden. Möglich ist dies, weil ein jeder Buchstabe seinen „Urständ" im Centra hat. Wie die Welt schon vor aller Zeit in Gott angelegt war und durch den im Wort aus dem Zentrum herausströmenden Geist wirklich wurde, so ist diese Welt auch im Geist des Menschen angelegt, da dieser Geist die drei Prinzipien umfaßt, „GOttes Reich, Hollen=Reich, und dieser Welt Reich".

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Wort wie z.B. „Barmhertzigkeit" die nur korrumpierte Fassung eines zugrundeliegenden natursprachlichen Wortes, dann müßten zumindest einige seiner phonetischen Komponenten bzw. artikulatorischen Spezifika nicht interpretierbar im Sinne der Natursprache sein bzw. zu falschen Interpretationen fuhren. So wie Böhme aber anhand des Wortes eine in sich geschlossene transzendente Geschichte erzählt, bei der jedem Laut seine ganz bestimmte Funktion zukommt, interpretiert er „Barmhertzigkeit" vollständig als natursprachliches Wort. Was im Verlaufe der Jahrtausende verlorengegangen ist, kann demnach nicht die Natursprache sein, denn die ist in den interpretierten Wörtern ganz offensichtlich vollständig gegenwärtig - und zwar in der Form des Deutschen, was sogleich die Frage nach dem Verhältnis anderer Einzelsprachen zur Natursprache aufwirft -, sondern lediglich die Fähigkeit, sie zu verstehen, eine Feststellung allerdings, die wiederum Böhmes Behauptung vom (partiellen) Verlust der Natursprache widersprechen würde. Was Böhme de facto macht, ist also folgendes: Sein Anliegen ist der Nachweis, daß die Phonie der Wörter nicht nur zu ihrer semantischen Bedeutung führt, sondern - zusammen mit den artikulatorischen Spezifika zu bestimmten metaphysischen Erkenntnissen bzw. Erkenntnissen über die Struktur des Seins. Um diesen Nachweis zu führen, zieht er muttersprachliche Wörter heran und interpretiert sie in einer Weise, die diese verborgenen Erkenntnisse hervortreten läßt. Der Nachweis wird stets zu dem gewünschten Ergebnis führen, denn Böhme wendet keine zuvor festgelegte Methode an, d.h. er untersucht nicht, ob die Wörter natursprachlichen Charakters sind, sondern er ,beweist', daß sie es sind und zieht dazu diejenigen Argumente heran, die diesen Beweis gültig erscheinen lassen. Bereits die kurzen Ausführungen zur methodischen Stimmigkeit von Böhmes Lautanalysen zeigen, wie weit seine Überlegungen von einem rationalen Diskurs entfernt sind. Dies liegt nicht am Thema; Leibniz etwa führt seine Argumentationen im Bereich der Metaphysik mit größter Präzision durch. Der Grund liegt eher in dem enthusiastischen Pantheismus, der Böhmes Denken prägt und auch auf sein Verfahren wirkt. Es sei jedoch davor gewarnt, aus einer solch methodenkritischen Feststellung vorschnell eine Kritik an der Sprachmystik werden zu lassen, die ihr jegliche Einsicht in sprachliche Zusammenhänge aberkennt. Tatsächlich finden sich in der Geistesgeschichte von Leibniz bis Hegel immer wieder positive Urteile über Böhme, wenn auch nie auf konkrete Aussagen von ihm bezogen; die Unstimmigkeit seiner Argumentation ist dann doch zu offensichtlich. Allerdings wird - nicht selten bei gleichzeitiger Ablehnung der metaphysischen

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Verstiegenheiten der Sprachmystik - Böhme und ähnlich gesinnten Autoren zugestanden, eine Dimension von Sprache mehr oder weniger intuitiv zu erfassen, die ein rational bestimmter Sprachbegriff verfehlen muß, eben ihre suggestiv-emotive Dimension. Dabei mag das Lob der Sprachmystik und ihrer Vertreter auch ex negativo zustande kommen, d.h. durch Ablehnung der immer eindeutiger werdenden Dominanz empiristischer wie rationalistischer Ansätze und ihrer Unterbewertung dieser suggestiv-emotiven Sprachdimension. Auch die neuere Forschung liefert dafür Beispiele: K.-O. Apel182 etwa empfindet den im Nominalismus gründenden und bis zu Bertrand Russell, dem frühen Wittgenstein, dem Strukturalismus und der Informationstheorie führenden „technisch-szientifischen" Sprachbegriff in seiner Dominanz ganz offensichtlich als beengend, auch wenn er dies nicht explizit formuliert; seine Sympathien für die „transzendentalhermeneutische" Sprachauffassung, die für ihn aus dem Zusammenspiel von Humanismus und Sprachmystik entsteht, sind deutlich. d) Bewertung der Muttersprache Zur Haltung Böhmes gegenüber seiner Muttersprache ist nicht viel zu sagen. Auffallend ist, daß die Natursprache universell ist, Böhme seine Lautdeutungen aber ausschließlich am Deutschen durchführt. Dies bedeutet jedoch nicht, daß ihn das Deutsche als eine gegenüber anderen Sprachen mit irgendwelchen besonderen Qualitäten versehene Einzelsprache interessiert. Die Frage der Stellung der unterschiedlichen Einzelsprachen zur Natursprache und einer daraus resultierenden Hierarchie dieser Einzelsprachen, wie sie z.B. in Platons »Kratylos« und Zesens oder Morhofs Überlegungen zur Motiviertheit begegnet, ist für Böhme kein Thema. Daß es ihm an keiner Stelle um Sprachpatriotismus und Fremdwortpurismus geht, wird schon an seinen Äußerungen zum Buchstaben „c" deutlich. Für zahlreiche Autoren der Zeit stellt das c ein undeutsches Element dar, „so viel nutze als das fünfte rad am wagen"183, zulässig allenfalls in Fremdwörtern, nie jedoch „in pure Germanicis dictionibus", da es dort „nicht stat vnd räum"184 hat. Bei Böhme wird das c als Buchstabe fast nie diskutiert, und als Laut spielt es kaum eine Rolle.185 182 183 184 185

In: Apel 1975. Zesen: Rosen=mänd, 146. Johannes Wemer: Manuductio Orthographica, 1635, 33. Eine Ausnahme findet sich in den »Tafeln« von 1624, wo Böhme das Wort „Tinctur" interpretiert und die Form des c als gebogenes / deutet. Mit einer Bewertung des c als

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Böhmes Äußerungen zum Deutschen sind stets Äußerungen zu einer Muttersprache und damit einer Sprache des Herzens im Gegensatz zu einer Sprache des Intellekts und der Bildung. Das Lateinische mag eine heilige Sprache sein, aus „des Herzens Abgrund" reden kann man in ihr nicht. Die Gelehrten aber haben keinen Zugang zu ihrer eigenen Muttersprache, sie benutzen die Wörter, als hätten sie nur eine Oberfläche, aber keinen Inhalt, sie verstehen nicht, „was das Wort in seinem sensu ist".186 e) Verfügbarkeit von Sprache durch ihre Sprecher Wiederholt begegnen in Böhmes Arbeiten Bemerkungen, „ein jeder Mensch [sei] nun Schöpfer seiner Worte, Kräfte und Wesens"187 oder: „was GOtt in seiner Natur" sei, dies sei „der Menschen=Geist in sich selber", so daß der Mensch nun „allen Dingen Namen [gebe], nach iedes Dinges Geist und Form [...]".188 Damit scheint dem Menschen aufgrund seiner Gottebenbildlichkeit die Fähigkeit zu sprachschöpferischem Wirken bescheinigt zu werden, ein Gedanke, den man auch in Eckharts Feststellung erkennen mag: Alles, was der göttlichen Natur eigen ist, das ist auch ganz dem göttlichen und gerechten Menschen eigen. Darum wirkt solch ein Mensch auch alles, was Gott wirkt, und er hat zusammen mit Gott Himmel und Erde geschaffen; und er ist Zeuger des ewigen Wortes, und Gott wüßte ohne einen solchen Menschen nichts zu tun [...].189

Der auch von der Forschung in bezug auf die Sprachmystik immer wieder erwähnte Begriff des Sprachschöpferischen erlaubt aber gerade bei Böhme unterschiedliche Bedeutungszuweisungen. Weitgehend auszuschließen ist die Möglichkeit, wonach dieses Schöpferische als .Schaffen von Dingen durch das Wort' verstanden wird, also als ein Schaffen wie dasjenige Gottes, der mit seinemßat konkrete Dinge entstehen lassen kann. Die Möglichkeiten des Menschen dagegen, Wirklichkeit durch Sprache Existenz zu verleihen, sind auf die Wortmagie bzw., im Rahmen der christlichen Orthodoxie, auf bestimmte ritualisierte Situationen beschränkt, wie etwa das

186 187 188 189

,unteutsch' hat dies aber nichts zu tun. Erwähnt, aber nie eingehend interpretiert, wird das c z.B. in: Mysterium Magnum, 52, 41 f.; Drey Principien, 1,13. Mysterium Magnum, 35, 61. Vom dreyfachen Leben, 5, 90. Ebd. Meister Eckhart: Deutsche Predigten und Traktate. Hrsg. u. übers, v. J. Quint. München o.J., 45 If. - K.-O. Apel (1975, 265) verweist im Zusammenhang mit dieser Eckhart-Stelle zu Recht auf Nicolaus von Cues und seine Interpretation der christlichen Imago-Dei-Auffassung, auf seine Sicht des Menschen als homo creator bzw. homo alter deus.

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Verwandeln von Wein und Brot in Blut und Fleisch Christi durch das Aussprechen bestimmter Formeln. Äußerungen wie die Hellmonts, wonach der Mensch nach wie vor über einen schaffenden „Spiritus" verfuge, begegnen bei Böhme nicht. Das schöpferische Element menschlichen Sprechens könnte sich im Böhmeschen Denken dagegen in der Fähigkeit finden, die Phänomene der Wirklichkeit mit transzendent ,richtigen' Bezeichnungen zu belegen, dies würde jedenfalls angesichts der zentralen Bedeutung, die Böhme der Natursprachenlehre beimißt, naheliegen. Doch eben ein solch schöpferisches Bezeichnen durch den Menschen ist bei Böhme nicht vorgesehen. Stattdessen sind dem Menschen die Wirklichkeit und ihre Bezeichnungen vorgegeben, und er kann diese Bezeichnungen als Erleuchteter allenfalls erkennend nachvollziehen. Äußerungen Böhmes, der Mensch „kann die Sensualische Sprache der gantzen Creation, und verstehet woraus Adam hat allen Dingen Namen gegeben [...]"19°, sind in eben diesem Sinne des verstehenden Nachvollzugs zu interpretieren. Genau darin, in der Möglichkeit verstehenden Nachvollzugs und damit in der Teilhabe an einem allumfassenden Komplex religiöser Wahrheiten, nicht aber in einer Art transzendenter Kreativität, liegt der Gewinn, den der mystische Sprachbegriff für den Menschen vorsieht. Nun steht andererseits außer Frage, daß die Sprache Böhmes und anderer Mystiker insbesondere auf der lexikalischen Ebene Innovationen aufweist. Doch hat diese Art der Kreativität nichts mit einem Sprechen des erleuchteten Menschen auf der Basis der Natursprache zu tun. Wenn ein mystischer Autor etwa Wörter wie „Seelenwurm", „ausgrünen", „Ichheit", „einsenken", „Eigenheit", „Wesen", „wesentlich" etc. bildet, dann sind diese Bildungen Zeichen von Kreativität, aber doch auf dem Boden der Gemeinsprache. Ein Wort wie das von Böhme verwendete „urstanden" z.B. mag als gelungene, treffende Bezeichnung gesehen werden, in der Bedeutung des ursprünglichen Setzens bzw. Begründet-Seins eines Gegenstands oder Sachverhalts.191 Wäre das Wort jedoch ein Produkt des erleuchteten Menschen, der es im schöpferischen Augenblick aus dem Wissen um die Natursprache heraus erstmals gestaltet, müßten die einzelnen Laute und Silben von „urstanden" in derselben Weise motiviert sein, wie Böhme dies an zahlreichen Beispielen vorführt: Das [r] müßte vielleicht als Zeichen der bitteren Qualität gewertet werden, der Sibilant als Zeichen des aus dem 190 Mysterium Magnum, 35, 57. 191 Zur Bildung des Verbs in mystisch-theosophischer Sprache vgl. das Grimmsche Wörterbuch, s.v. Urständ.

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Herzen drängenden Geistes, das [t] als Versuch, dies zu verhindern etc., und das Zusammenspiel der Laute im Wort müßte eine transzendente Geschichte ergeben. Etwas derartiges findet sich aber nirgendwo bei Böhme, so daß sich der innovative Charakter mystischer Sprache nicht mit der Theorie von der transzendent motivierten Natursprache begründen läßt. Daher darf aus einer Bemerkung wie der, der Mensch habe von Gott die Fähigkeit empfangen, „das verborgene Wort der Gottlichen Scientz wieder in Formungen und Schiedlichkeit [auszusprechen], auf Art der zeitlichen Creatoren", nicht auf die Fähigkeit zum schaffenden Sprechen geschlossen werden192, da es sich dabei explizit nur um ein Wiederaussprechen, um die Wiederholung eines bereits Vorgegebenen handelt. Wenn also in der Forschung in bezug auf Böhme von der „schöpferische[n] Bedeutung" des Wortes die Rede ist193 und wenn der mystischen Lyrik der frühen Neuzeit sprachschöpferisches Potential zugesprochen wird194, dann trifft dies nur zu, insofern ein Sprachschaffen auf der Basis der profanen Gemeinsprache gemeint ist. Aber auch unter Annahme dieser Prämisse sind Fehldeutungen möglich: Die sprachschöpferische Kreativität der Mystik ist nicht mit den Kategorien einer modernen Ästhetik zu erfassen, wonach z.B. die Welt eines fiktionalen Textes erst in seiner sprachlichen Konstituierung entsteht. Ein solcher Kreativitätsbegriff stellt das Individuum als schöpferisches Subjekt in einem Maße in den Mittelpunkt, das nicht nur in der Sprachmystik, sondern im gesamten 17. und frühen 18. Jahrhundert undenkbar wäre. Die Kreativität der Sprachmystik ist dagegen aus zwei Ursachen heraus zu erklären. Die erste Ursache ist eine eher praktische: Zahlreiche theologische Termini lagen den Mystikern nur in lateinischer Sprache vor. Viele Neologismen z.B. Meister Eckharts - Böhme hat seine Termini größtenteils von der mittelalterlichen Mystik und der Alchemic übernommen ergaben sich schlicht aus der Notwendigkeit, seinen des Lateins unkundigen Zuhörern bestimmte theologische Inhalte zu vermitteln, für die im Deutschen noch kein Ausdruck zur Verfügung stand. Bei der Umsetzung in die 192 Dies tut Kemper 1988, 7f. 193 So der bereits zitierte Titel des Aufsatzes von E. Benz: Die schöpferische Bedeutung des Wortes bei Jacob Böhme. - Benz ist sich der Mehrdeutigkeit des Schöpfungsbegriffs durchaus bewußt. 194 Vgl. Kemper 1988, passim. - Vgl. auch, insbesondere zum Konzept des „.wesentlichen' Sprechens" bei Czepko: S. Rusterholz: Barockmystische Dichtung: Widerspruch in sich selbst oder sprachtheoretisch begründete Sonderform? In: Kontroversen, alte und neue. Akten des 7. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Bd. 7. Tübingen 1986, 185-195.

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Volkssprache waren dann ungewöhnlich anmutende Lösungen für durchaus konventionelle lateinische Ausgangstermini keine Seltenheit. Die zweite Ursache ergibt sich aus der Spezifik des mystischen Erlebens. Der Mystiker sieht sich einem außergewöhnlichen, seine gesamte seelisch-geistige Existenz berührenden Ereignis gegenüber. Soll die Schilderung dem gerecht werden, muß auf ,extreme' Stilmittel gehäuft zurückgegriffen werden, auf Neubildungen, antithetische Formen wie Oxymoron und Paradoxie, auf Negation, Hyperbel, Metapher u.a.195 Die Forschung in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts spricht in diesem Zusammenhang von der „Gegnerschaft"196 von Mystiker und Sprache, von seinem „Kampf gegen den Begriff und damit gegen das Wort"197: Der Autor müsse die Sprache zur Bezeichnung von Zusammenhängen verwenden, für die sie nicht gedacht ist, müsse ihr daher ihr Äußerstes abgewinnen. Die bisweilen pathetische und dunkle Sprache, in der die Forschungsergebnisse vorgetragen werden, ist zu Recht kritisiert worden, doch ist die Sachargumentation nicht falsch. Denn eines der Prinzipien von Sprache läuft tatsächlich einem Grundgedanken der Mystik zuwider: Die Wörter zergliedern das Sein in isolierte Phänomene, und ein jedes Sprechen vollzieht diese Zergliederung nach, die Mystik aber geht vom Gedanken der absoluten Unio aus, einem Zustand, in dem alle Differenzen aufgehoben sind. Ihn sprachlich zu fassen versuchen bedeutet, ihn in eine Sphäre zu überführen - in die der differenzierten und differenzierenden Sprache -, die ihm nicht entspricht. Eine solche Entsprechung wäre letztlich nur im Zustand des Schweigens, des sanctum silenlium gegeben. Ergänzend sei jedoch hinzugefügt, daß dieses Schweigen des Mystikers - und darauf hinzuweisen versäumen J. Quint198 und ähnlich argumentierende Forscher - nicht grundsätzlich die Abwesenheit von Sprache bedeutet, sondern lediglich von menschlicher Lautsprache, d.h. einer sich linear in Raum und Zeit manifestierenden Sprache; die transzendente „simultane Wesenssprache" des Inneren dagegen ist nach wie vor gegeben.199 Die Möglichkeiten aber, wie die Engel sie besitzen, nämlich als 195 Diese Stilmittel und andere werden, mit Beispielen belegt, von J. Quint genannt: Mystik und Sprache (1953). In: K. Ruh (Hrsg.): Altdeutsche und altniederländische Mystik. Darmstadt 1964, 113-151. 196 L. Weisgerber: Die Stellung der Sprache im Aufbau der Gesamtkultur. In: Wörter und Sachen, 15, 1933,217. 197 Quint 1953, 122. - Zur Kritik an Quints Überlegungen vgl. W. Haug: Zur Grundlegung einer Theorie des mystischen Sprechens. In: K. Ruh (Hrsg.): Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984. Stuttgart 1986, 494-508. 198 Vgl. Anm. 195. 199 Das Zitat ist von K. Ruh: Das mystische Schweigen und die mystische Rede. In: P. Stein, A. Weiss u. G. Hayer (Hrsg., unter Mitwirkung v. R. Hausner, U. Müller u. F.

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körperlose Wesen untereinander ohne jegliche externe Lautbildung zu kommunizieren, sind und bleiben dem Menschen verwehrt.200 Zusammenfassend: Die zum Ideal der Natursprache in einem mehr oder weniger engen Verhältnis stehende Muttersprache ermöglicht dem erleuchteten Menschen den Zugriff auf bereits in der Sprache angelegte, d.h. nicht erst als Produkt einzelner Akte des Sprechens hervorgebrachte metaphysische Wahrheiten. Dies ist aber nur möglich, wenn der Mensch das auf der phonetischen, morphologischen und lexikalischen Ebene gegebene Sprachmaterial nicht zu seinen eigenen Interessen einsetzt, sondern bereit ist, diesen Wahrheiten in seiner Sprache nachzuspüren. Wer seine Muttersprache dagegen als bloßes Werkzeug zwischenmenschlicher Kommunikation oder der von subjektiven Interessen geleiteten Darstellung von Sachverhalten oder aber als Ausweis der eigenen Gruppenzugehörigkeit und Kultiviertheit verwendet, tut dies im Widerspruch zu ihrem Wesen, da er ihre natursprachliche Dimension ignoriert. Diese Transzendentalisierung von Sprache ist auch der Grund, warum ein Versuch scheitern muß, das an der Gemeinsprache orientierte, dreiteilige Modell der Sprachfunktionen Karl Bühlers auf Böhmes Sprachbegriff anzuwenden201: Weder läßt sich das Natursprachkonzept mit der am extralingualen Gegenstand orientierten Darstellungsfunktion von Sprache erfassen - denn diese basiert auf der Anwendung der gemeinsprachlichen Semantik - noch mit der am Rezipienten orientierten Appellfunktion, da es bei der Natursprache in keiner Weise um zwischenmenschliche Kommunikation geht. Auch die am Sprecher orientierte, d.h. über ihn, z.B. seine soziale oder geographische Herkunft informierende Ausdrucks- bzw. Symptomfunktion von Sprache, wie sie in der frühen Neuzeit etwa in der Dialektdiskussion relevant ist, läßt sich nicht auf das Natursprachkonzept anwenden. Stattdessen müßte man in bezug auf dieses V. Spechtler): Festschrift für Ingo Reiffenstein zum 60. Geburtstag. Göppingen 1988, 463-472; 470. - Zu Recht betont Ruh, daß die abendländische Mystik im Gegensatz zur femöstlichen eine /ogos-Mystik ist und sehr wohl die Gegebenheit dieser inneren Sprache auch für den Menschen vorsieht, die auch der Sprache Gottes gleicht, wie er sie bei der Schöpfung verwendet hat: Bereits Augustinus weist darauf hin, daß es sich bei flat lux nicht um sich in Raum und Zeit manifestierende Worte handeln kann etwa wie Gott sie später den Propheten gegenüber geäußert hat -, da Raum und Zeit vor der Schöpfung noch nicht existierten. 200 Ausführlich zur Sprache der Engel s. Quaestio 107 der »Summa theologica« des Thomas von Aquin. - Zur Diskussion des Konzeptes der Engelsprache in der Forschung vgl. Klein 1992, 185ff; dort auch weitere Literatur. 201 Sprachtheorie (1934). 2. Aufl. Stuttgart 1965; Die Axiomatik der Sprachwissenschaften. Einleitung u. Kommentar v. E. Ströker. 2. Aufl. Frankfürt 1976.

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Konzept von einer Offenbaningsfunktion von Sprache reden, d.h. einer Offenbarung durch die Sprache selbst als eigenständige Entität. Eben dies zu leisten, ist die eigentliche Aufgabe der Sprache bei Böhme: „Ein iedes Ding hat seinen Mund zur Offenbarung" heißt es als Erklärung dessen, was Signaturen sind202, die Schöpfung ist eine „Offenbarung" des „geistlichen Mysterif™, in der Lautung eines jeden Wortes „offenbaret" sich „das Innere"204 etc. Die Sicht von Sprache als Medium der Offenbarung weist dem sprechenden Individuum eine weitgehend passive Rolle und keine der aktiven Gestaltung zu. Der Preis für seinen Gewinn an religiöser Erkenntnis ist die Aufgabe der vollständigen Kontrolle über die eigene Sprache, weil diese Sprache nie wirklich die eigene ist. Angesichts der zentralen Bedeutung des Natursprachkonzeptes, das den Menschen in diese passive Rolle versetzt, erweist sich die vielzitierte Kreativität mystischer Sprache nicht als im mystischen Sprachbegriff selbst intentional angelegt, sondern eher als eine Begleiterscheinung, die sich aus dem Bemühen des Sprechenden erklärt, ein ihm vorgegebenes Größeres in Sprache zu fassen. Es liegt nun die Frage nahe, inwieweit sich der mystische Sprachbegriff in einer säkularisierten Form in den folgenden Jahrhunderten fortsetzt, genauer: jener Aspekt mystischen Sprachdenkens, wonach Sprechen stets Teilhabe an einem übergeordneten, in der Sprache bereits vorgegebenen, dem einzelnen aber zunächst verborgenen und von ihm nie völlig kontrollierbaren Zusammenhang bedeutet. Mit der Aufklärung hört dieser Zusammenhang auf, religiöser Natur zu sein und wird zu einem historischkulturellen: Sprache wird zur Bewahrerin kultureller Phänomene, wobei diese Phänomene gelegentlich in einer Weise aus ihren historischen Bezügen gelöst und verselbständigt werden, daß sie dem Menschen als Absoluta erscheinen und in ihrer Gesamtheit kaum weniger über den Zugriff des einzelnen hinausgehen, als es die religiösen Wahrheiten der Mystik taten. Das u.a. in der romantischen Sprachtheorie verbreitete Konzept vom

202 De signature rerum, l, 16f. 203 Mysterium Magnum, 10, 5. 204 De signatura rerum, l, 6. - Vgl. diese Bemerkung Apels (1975, 200): „Dies fuhrt uns dazu, gerade für den bei Vico erstmals im Humanismus durchdringenden ,OffenbarungsbegrifF der Sprache [...] die wesentliche Linie der abendländischen Konstitution in der Tradition der deutschen Logosmystik zu erblicken, während der italienische Humanismus den ,Bildunsgbegriff" der Sprache repräsentiert."

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„Genie" einer Sprache als einer ihr innewohnenden Kraft, ist ein solches, dem rationalen Zugriff letztlich entzogenes Absolutum.205 Einem solchen Sprachbegriff diametral entgegengesetzt ist eine Auffassung, wie sie zur Konstruktion einer Kunstsprache führt. Danach unterliegt alles Sprachliche der Kontrolle des Menschen: die Ausdrucksseiten der Sprachelemente und die Festlegung ihrer Inhaltsseiten bzw., in anderer Perspektive und Terminologie, die Wörter und die Vorstellungen von den Dingen; Eindeutigkeit in den Relationen zwischen den Größen Ding, mentalem Abbild und Wort ist nicht mehr von vornherein ausgeschlossen. Der Sprecher ist, pointiert formuliert, seiner Sprache nicht ausgeliefert, sondern die Sprache ist Werkzeug des sie selbstbewußt handhabenden Menschen und nie mehr als das durch ihn Kontrollierbare. Sehr bald jedoch wird auch hier der Preis deutlich, der für die - je nach Perspektive tatsächliche oder nur vermeintliche - Souveränität des Menschen der Sprache gegenüber zu zahlen ist: Phänomene wie suggestiv-emotive und ästhetische Aspekte von Sprache sind mit dieser Auffassung nicht erfaßbar, eine ganze Dimension von Sprache wird aus der Betrachtung ausgeklammert. Genau dies wird in sprachreflektierenden Diskussionen des 18. Jahrhunderts explizit zum Thema gemacht, wenn sich etwa Gottsched und die Schweizer Bodmer und Breitinger über die angemessene Art der Sprachverwendung auseinandersetzen und der Leipziger seine Kritik an Böhme als einem „Meister der Dunkelheit" vorträgt: Auf der einen Seite steht Gottscheds Forderung nach einem wohlgeordneten Regelsystem, nach „Deutlichkeit" und „Klarheit" der Rede, nach „vernünftigen Prinzipien" der Sprachverwendung, nach einem ,,rein[en] und wohlfließendfen]" Stil, seine Zurückhaltung gegenüber „dicke [m] Staub oder Nebel" in der Sprache, bedingt etwa durch semantisch nicht kontrollierbare „Ausschweifungen" der Metaphorik.206 Die Schweizer dagegen, als Vertreter der von ihrem Widersacher bekämpften ,,miltonische[n] Sekte"207, verlangen eine „herzrührende Schreibart" sowie die Verwendung von „Machtwörtern" und betonen damit - auch in der Art und Weise, wie sie ihr alemannisches Idiom gegenüber 205 Zu Parallelen zwischen Mystik und (Vor-)Romantik vgl. Wollgast 1983, 7. 206 Vgl. etwa: Versuch einer critischen Dichtkunst: Erster allgemeiner Theil, 1742. Hrsg. v. J. u. B. Birke. Berlin u. New York 1973 [= Ausgewählte Werke, Bd. 6/1], 342f; Ausfuhrliche Redekunst, 1759. Bearb. v. R. Scholl. Berlin u. New York 1975 [= Ausgewählte Werke, Bd.7/1], 82 u. 365; vgl. auch Gottscheds »Deutsche Sprachkunst« von 1762. Bearb. v. H. Penzl. Berlin u. New York 1978 [= Ausgewählte Werke, Bd. 8/1]. 207 Versuch einer critischen Dichtkunst, 342f. - Insbesondere gilt dies natürlich für den Milton-Übersetzer Bodmer.

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dem als stellenweise beengend empfundenen Meißnischen Gottscheds hervorheben - eben jene Aspekte der Sprache, die sich dem von Gottsched favorisierten rationalen Diskurs entziehen.208

2.3. Mystizistische Tendenzen und metaphysische Orientierung Ist in wissenschaftlichen Darstellungen frühneuzeitlicher Sprachreflexion in Deutschland von Sprachmystik die Rede, so wird stets - und zu Recht Jakob Böhme als das markanteste Beispiel angeführt. Gelegentlich finden sich auch Hinweise auf kabbalistisches Schrifttum oder auf pansophische Strömungen, etwa in Zusammenhang mit der Person des Comenius. Die Konzentration auf einzelne Persönlichkeiten oder bestimmte geistesgeschichtliche Strömungen - zu nennen wäre hier auch Pietismus, der, obgleich in mancher Hinsicht der Frühaufklärung nahestehend, bestimmte Züge mystischen Denkens aufgreift und in gemäßigter Form fortfuhrt - läßt allerdings unberücksichtigt, daß die Verbindung von sprachbezogenem mit religiösem Gedankengut im Grunde die gesamte Sprachreflexion der Zeit prägt; unterschiedlich ist lediglich die spezifische Ausprägung bei den einzelnen Autoren. Keineswegs jeder Gedanke, der nicht auf den Prinzipien der mathesis universales fußt und in irgendeiner Weise religiös getragen ist, gehört automatisch in den Umkreis der Mystik. Tatsächlich reicht das Spektrum von eindeutig mystischen Vorstellungen über Verfahren wie die Kabbala - die auch einen rational-kombinatorischen Aspekt aufweist - und eine Reihe weiterer Zwischenstufen bis hin zur fast nur floskelhaften Erwähnung Gottes. Im folgenden soll versucht werden, die in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende, allgemeine metaphysische Orientierung im sprachbezogenen Schrifttum der Zeit in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen darzustellen.209 208 Zu den beiden ersten Zitaten vgl. etwa: Johann Jakob Breitinger: Critische Dichtkunst. Faksimiledruck nach der Ausg. Zürich u. Leipzig 1740. Bd. 2. Stuttgart 1966, Abschnitte 2 u. 8. - Trotz der Unterschiede zwischen Gottsched und den Schweizern darf natürlich nicht übersehen werden, daß auch Bodmer und Breitinger in ihren sprachreflektierenden Äußerungen häufig klassisch aufklärerische Positionen vertreten. In der Kontroverse mit Gottsched deutet sich aber der Beginn einer Entwicklung an, die in der Romantik mit ihrer Überwindung des rationalistischen Sprachbegriffs ihren Höhepunkt erreicht. 209 Zur Verbindung sprachtheoretischer und metaphysischer Argumentationen in der frühen Neuzeit vgl. die insbesondere auf diesen Aspekt zugeschnittene Untersuchung Kleins (l992).

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Vorweg zwei Einschränkungen: Die insbesondere im 17. Jahrhundert so eingehend diskutierte Frage des Sprachursprungs mitsamt ihren theologischen Implikationen sei aus der Betrachtung ausgeklammert; sie soll an späterer Stelle behandelt werden. Was die metaphysischen Bezüge im rhetorischen Schrifttum angeht, so können sie bei der intensiven wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Rhetorik insbesondere des Barock in den vergangenen Jahrzehnten als im großen und ganzen bekannt vorausgesetzt und müssen hier nur kurz erwähnt werden. ,Metaphysische Bezüge' bedeutet in bezug auf rhetorische Textsorten meist die Verpflichtung des Redners oder Verfassers schriftlicher Texte auf die Prinzipien christlicher Ethik. Das antike Ideal des Rhetors als v/r bonus lebt in veränderter, der neuen Zeit angepaßter Form im einschlägigen Schrifttum fort, muß sich aber im Verlauf des Jahrhunderts immer stärker behaupten, angesichts einer prudentistischer werdenden Rhetorik, die Verfahren wie die „artige Schmeicheley" oder die „verschlagene Scharffsinnigkeit"210 zum Erreichen des Redezwecks nicht nur unter der Hand zuläßt, sondern regelrecht zum Programm erhebt. Selbst diejenigen, welche diese Verfahren propagieren, sind sich der Möglichkeit unethischen Mißbrauchs bewußt. So soll der Politicus des Christian Weise nicht nur der um das eigene Wohl, sondern auch um das summutn bonum bemühte Politicus Christianvs sein, und selbst Galante wie Bohse und Hunold halten zwar einerseits das „Fuchsschwäntzen" des galant komme für legitim211, warnen aber andererseits vor allzu oberflächlichem Alamode-Gebaren. Wie ernst allerdings solche ethischen Einbindungen angesichts der konkreten Sprachreflexion und -praxis zu nehmen sind, wird an anderer Stelle zu diskutieren sein. Einige wenige Belege zu den metaphysischen Bezügen in rhetorischen Textsorten: Harsdörffer ermahnt Dichter und Redner, „unzuchtige" Wörter zu vermeiden, da sie „als Christen [...] von einem ieden unnützen Worten Rechenschaft geben müssen".212 Stieler erweitert das Konzept des aptum dahingehend, daß die Rede nicht mehr nur ihrem Gegenstand und der „Herrschaftlichen Meinung", sondern auch „dem Gottlichen Willen" gemäß sein soll. Ohnehin wird dem Sekretär jeder Text mißlingen, der „ohne Frömmigkeit und Vertrauen auf die Gottliche Gutheissung und Beystand" angegangen wird.213 Johann Daniel Longolius warnt vor Mißbrauch: Durch gottlose Reden, und seien sie noch so „artig", wird Gott erzürnt und die 210 211 212 213

Christian Weise: Politische Nachricht von Sorgfaltigen Briefen, 1693, 171. Bohse: Neuerlauterte Teutsche Rede= Kunst und Briefe Verfassung, 1700, 907. Poetischer Trichter, I, 114. Sekretariatkunst, I, 46 u. II, 285.

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Seele „verwahrloset". Die Seele jedoch ist viel zu wertvoll, „um eines bloßen beliebten Klanges Willen" gefährdet zu werden; töricht ist derjenige, der sich um „leere Hülsen" bemüht und „eitle Wortgauckler freqventiren will". Wer dagegen als Sprachmeister Gott „zum Grunde seiner Profeßion setzet", wird reichen Segen finden, denn Gott ist „der glückseligste Anfang aller Redekünste".214 Gott als Fundament aller Rhetorik begegnet in den Texten immer wieder; wer in ihm verankert ist, wer seine Arbeit aus der geistig-seelischen Haltung des gläubigen Christen heraus verrichtet, kann im Grunde nur Gutes schaffen. Es liegt nahe, daß die metaphysische Ausrichtung der frühneuzeitlichen Sprachreflexion in ihren verschiedenen Strömungen unterschiedlich stark zum Tragen kommt. Dabei wird man eine besonders eindeutige metaphysische Orientierung in der Sprachmystik erwarten, eine Annahme, welche durch die Untersuchung der Arbeiten Böhmes bestätigt wurde. Am wenigsten dagegen mag man eine solche Orientierung bei denjenigen Denkern vermuten, die sich, in ihrem Argumentieren weniger voraussetzungsgebunden, am Wissenschaftsbegriff der aufkommenden Naturwissenschaften orientieren bzw. dazu beitragen, diesen Wissenschaftsbegriff zu konstituieren. Auch dies trifft zu, muß allerdings mit Einschränkungen versehen werden. Zunächst jedoch zu jenen Ansätzen, die traditionell in der Nähe der Mystik anzusiedeln sind. Hier ist vor allem die Präsenz der Kabbala zu nennen, die mit ihren metaphysisch untermauerten Buchstaben-ZahlenSpekulationen stets aufs neue zu beweisen versucht, daß in den Sprachen „ein gantz überirdisches verborgen"215 ist. Werke wie Johannes Reuchlins »De verbo mirifico« (1494) und »De arte cabalistica« (1517) waren weit verbreitet und wurden viel zitiert. Eine gängige kabbalistische Übung ist die Deutung des Namens Jesu; sie sei als Beispiel kabbalistischer Verfahren angeführt. Reuchlin selbst untersucht in »De verbo mirifico« die geheime Eigenschaft heiliger Namen („occulta sacrorum nominum proprietas") und erklärt „Jhsuh" zum wundersamsten Namen.216 Nach Pico della Mirandola führt eine kabbalistische Interpretation des Namens des Gottessohnes unweigerlich zu der Einsicht, daß „Jesus" ,Gott' bedeutet, außerdem ,Sohn Gottes', schließlich ,Weisheit des Vaters durch die Göttlichkeit der dritten Person' („id est Deum Dei 214 Einleitung zu grundlicher Erkantniß einer ieden / insonderheit aber Der Teutschen Sprache, 1715, 512 u. 499. 215 Schottelius: Ausführliche Arbeit, 74. 216 Dazu und zur folgenden Stelle bei Pico della Mirandola vgl. Coudert 1978, 79.

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filium patrisque sapientiam per tertiam divinitatis personam").217 Bartholomäus Scheräus wiederum errechnet in »Geistliche / Weltliche / vnd Haußliche SprachenSchule«, einer Mischung zwischen etymologischem Wörterbuch und enzyklopädischem Lexikon, mittels Buchstaben-ZahlenKorrelationen zunächst den Wert 888 für den Namen, um anschließend die Zahl zu deuten: 8 Menschen wurden in der Arche Noah gerettet, am 8. Tag wurde Jesus beschnitten, und am 8. Tag der Woche stand er von den Toten auf.218 Auch Jakob Böhme hat den Namen interpretiert, natürlich gemäß den Gesetzen seiner Natursprachenlehre: [...] die Silbe ,JE' ist seine [d.h. Jesus', A.G.] Erniedrigung aus seinem Vater in die Menschheit, und die Sylbe ,Sus' ist der Seelen Einführung über die Himmel in die Trinitat, wie dann die Silbe ,Sus' in die Hohe durch alles dringet.219

Die Lautgestalt des Namens spiegelt die Entwicklung der unterschiedlichen Seinsformen seines Trägers, vom Geist zur Materie und wieder zum Geist: Die Eingangsvokale repräsentieren den Geist, der erst im Sibilanten mit der Materie in Berührung kommt, um anschließend durch das geschlossene u erneut in den geistigen Bereich emporgehoben zu werden (- zur Bildung des [u:] bewegt sich der Zungenrücken nach oben); das finale s wird bei der Deutung übergangen. Wesentlich kunstvoller versucht Böhme an anderer Stelle, „Jesus" durch kabbalistisch-natursprachliche Verfahren an die Namen „Jehova" und „Jakob" anzuschließen.220 Mystizistische Buchstaben-Zahlen-Korrelationen finden sich auch in Harsdörffers »Deliciae Philosophicae et Mathematicae«. Geht man vom lateinischen Alphabet aus und ordnet den Kleinbuchstaben die Zahlen l bis 23 zu -j, v und w bleiben dabei unberücksichtigt -, außerdem den Großbuchstaben die im Alphabeticum Cabalicum Trigonale vorgesehenen Zahlen l bis 276221, dann ergibt sich für die im lateinischen Zahlwort „primus" vorkommenden Buchstaben der Zahlenwert 91 (Kleinbuchstaben) bzw. 777 (Großbuchstaben). Für „secundus" bis „sextus" kann man analog verfahren. Subtrahiert man nun von dem Zahlenwert des Wortes „quartus" (= 111) denjenigen von „primus" und addiert man zu dem verbliebenen Rest von 20 die Werte „secundus" und „sextus" (jeweils 101), dann erhält man die Zahl 217 218 219 220 221

Opera omnia. Nachdruck 1969, 2. Reihe, conclusio 7. 1619,8. Drey Principien, 22, 87. Z.B. Mysterium Magnum 52, 42. Teil III, 66ff. - Vgl. auch die Ausführungen von Albrecht Christian Rotth zu diesem Thema (s. Anm. 19 u. 20), der allerdings für Z zu einem höheren Zahlenwert kommt, da er das W mitberücksichtigt.

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222, welche wiederum die Summe aus der Addition der Zahlenwerte von „tertius" und „quintus" (107 bzw. 115) ist. Entsprechendes läßt sich mit den Werten für die Großbuchstaben und auch mit Eigennamen durchführen: „Johannes Huss" entspricht dem Zahlenwert 145, ebenso wie die Summe aus den Wörtern des Syntagmas „Sermo Domini Dei". Der Satz „Indignatio DEI cessavit" ergibt den Zahlenwert 1530, das Jahr der Confessio Augustana. Bei den sich anschließenden Deutungen der einzelnen Kardinalzahlen präsentiert Harsdörffer eine Zusammenstellung von zum Teil über viele Jahrhunderte tradierten zahlenallegorischen und -mystischen Auffassungen. Zahlenallegorese gehörte auch durchaus zum Kanon christlich-orthodoxer Exegese; insbesondere die hermeneutischen Anweisungen Augustins, in denen mathematische Kenntnisse zur Voraussetzung einer gelungenen Bibelauslegung gemacht werden222, garantierten die Verankerung der Arithmetik und damit der Zahlenallegorese in der Exegese der Heiligen Schrift über das Mittelalter hinaus. Noch im 16. Jahrhundert erschienen zwei umfangreiche Darstellungen der Zahlenallegorese, Hieronymus Lauretus' »Silva Allegoriarum totius Sacrae Scripturae« (1570) und Petrus Bungus' »Numerorum Mysteria« (1599).223 Im folgenden sei aus den »Deliciae« ein Beispiel, die Anmerkungen zur Zahl Zwei, angeführt.224 Die Belege lassen sich zwei Themenbereichen zuordnen, der Bibel und dem Zusammenleben der Menschen. Zur Bibel: Am Tag des jüngsten Gerichts teilt Gott die Menschen in zwei Gruppen ein (Matthias 25); zwei werden auf einem Bette liegen, einer wird angenommen, der andere wird verlassen werden (Lukas 17, 34); das Gesetz wurde auf zwei Tafeln geschrieben; die bösen Geister haben zwei Häupter, Behemot und Leviathan etc. Zum säkularen Bereich: 2 ist die Zahl der Entzweiung, der Zwietracht - diese Deutung ad malam partem erklärt sich aus der Aufhebung des Prinzips der unitas durch die Zweizahl -, repräsentiert aber auch die vollkommene Freundschaft (- und damit Deu222 Zur Zahlenallegorese allgemein und bei Augustin vgl.: E. Hellgardt: Zum Problem symbolbestimmter und formalästhetischer Zahlenkomposition in mittalalterlicher Literatur. München 1973. - Zur lexikographischen Erfassung der Zahlenallegorese vgl.: H. Meyer u. R. Suntrup: Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen. München 1987. In der Einleitung zum letztgenannten Werk auch ein Überblick über die unterschiedlichen Verfahren der Zahlendeutung, z.B. nach der Analogie von Zahl und Gezähltem („secundum paritatem") oder nach der Zusammensetzung durch Summanden und Faktoren („secundum compositionem") etc. 223 Beide Werke sind als Nachdrucke erschienen, München 1971 bzw. Hildesheim etc. 1983. 224 Deliciae, III, 82-85. - Ausführlich zur Zweizahl vgl. Meyer/Suntrup 1987, Sp. 93fF.

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tung ad bonam partem), wie sie nur zwischen zwei Menschen bestehen kann, da ein Dritter „die Waagschalen" aus dem Gleichgewicht bringt. Wie zwischen den zwei Felsen Scylla und Charybdis fuhrt der Weg des Menschen zwischen den Lastern entlang; der Weg der Tugend ist stets der mittlere, begrenzt wird er von den Lastern, die sich als Extreme, als ein Zuviel bzw. ein Zuwenig gegenüberstehen: Die Tapferkeit ist eine Tugend, Kühnheit und Zagheit sind die entsprechenden Laster; Freigebigkeit ist die Tugend, Verschwendung und Geiz sind die Laster; Verstand ist die Tugend, Torheit und Irrtum sind die Laster etc. Die Grundprinzipien der Schöpfung begegnen stets als Dualismen: Geist - Leib, Ewigkeit - Zeit, Himmlisch Irdisch, innerlich - äußerlich, gut - böse. Schließlich:

C&etiibim

fSchotti: rbi excel-] Syriacum. | lit Lexicon J Arabicum. I I Crzcum. 3^ f Cermaoicum, 1 Vita commudi: rbi ex- ι Hifpanicum. i ccllit Lexicon j Italicum. ( Callicora. , ^ Spcctalisrvbi funt Lexicay /*Qoitaor prrcogniiorum Eo cyclop* dir. l Pb ologioiin. Philofophicum. DifcipIiearumiTbibrcuitenle- l Thcologicnm. Jiocacui Lexicon X loridicnm. l Medicam. ( Art i um mcchanicaium. L ifciplinaium compofitarom. rfus cft in

Das hierarchisch-dichotomische Verfahren - sein Herkommen aus dem Werk von Petrus Ramus wird noch besprochen werden - begegnet auch in der Sprachreflexion des 17. Jahrhunderts, in den Grammatiken von Ratke und Gueintz ebenso wie in den Taxonomien, die kontinentale und englische Gelehrte ihren Universalsprachentw rfen zugrunde legen. Im Rahmen seiner »Allunterweisung« bietet Wolfgang Ratke ein System aller Lehren, darunter auch der sprachbezogenen3: S. 8l.

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Der onfo-Gedanke göttliche Lehr, als Gotteslehr. GeHaupt— müts — lehr RechtsLehr- \f\\T 1C11T lehr. menschArzneiliche — lehr. Lehr Vernunftlehr

AllUnterweisung —

des Verstandes, Verstandeslehr.

ist

Rednerlehr. Dienstder Hand- lehr Rede werkslehr. Lehrart.

Wesenkündigung. __ Erkiindigungslehr

Naturkündigung.

Maßkündi — gung

Sittenlehr.

RegimentsÜbungsGedichtslehr. lehr lehr.

Sprachlehr.

Hauslehr.

Zahlkündigung.

geschei-— Größdene kündigung.

Tonkündigung. Gestirnkündigung. Weltunge- kündischei — gung. dene Gesichtkündigung.

Auch dort aber, wo solch explizite Ordnungsprinzipien fehlen, ist die Präsenz des oruto-Denkens in den zeitgenössischen Arbeiten unübersehbar, sowohl in der einzelsprachlich orientierten Sprachreflexion als auch in der universalistischen. Worin sich die beiden Linien unterscheiden, ist die Antwort auf die Frage, inwieweit die natürlichen Sprachen in der Lage sind, den ordo der Dinge abzubilden. Dabei steht der kritischen Zurückhaltung der in nominalistischer Tradition stehenden universalistischen Sprachreflexion das Vertrauen in die Möglichkeiten der Muttersprache gegenüber, wie es sich bis zu einem gewissen Grade in der Mystik, deutlich aber in der ontologisierend-patriotischen Sprachreflexion findet. Das Ordnungsdenken, dies wird auch aus den zeitgenössischen Belegen hervorgehen, ist natürlich keine spezifisch sprachtheoretische Erscheinung. Man sollte daher nicht auf den Gedanken kommen, Chomskys Vergleiche frühneuzeitlicher und moderner Sprachreflexion4 insofern auf das ordoDenken auszudehnen, daß man in ihm aufgrund seines mechanischen In: Cartesian Linguistics. A Chapter in the History of Rationalist Thought. New York u. London 1966.

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Charakters einen Ausdruck der Orientierung an Phänomenen der Sprachstruktur und eine Ausklammerung pragmatischer Fragen erkennt, wie sie etwa für Teile der Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts charakteristisch ist. Sicherlich wäre die Feststellung richtig, daß die Annahme eines präexistierenden ordo im Bereich der Sprache mit einem historisch-pragmatischen Sprachbegriff unvereinbar ist, soweit man unter letzterem die Sicht von Sprache als Niederschlag sich wandelnder Interessen der Sprachbenutzer, d.h. als spezifische Form gesellschaftlichen Handelns versteht. Doch dürfte man für eine solche Ausblendung des Pragmatischen im 17. Jahrhundert nicht eine zu ausschließliche Orientierung an sprachstrukturellen Fragen verantwortlich machen, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen wird gerade im Barock Sprache viel zu sehr auf die lexikalische Ebene reduziert, als daß überhaupt von einer strukturellen Ausrichtung die Rede sein könnte; Sprache wird meist gar nicht in einer dem modernen Strukturalismus vergleichbaren Weise als strukturiertes Gesamtsystem wahrgenommen. Neben der Lexik erfahren in Deutschland insbesondere die Wortbildung - insbesondere durch Schottelius - und die Lehre der Wortarten, Teile der Lautlehre und die Orthographie unter den Strukturebenen vermehrte Aufmerksamkeit, eine eigenständige Syntax dagegen ist weit weniger entwickelt. Zum anderen geht der orafo-Gedanke über den rein sprachlichen Bereich hinaus, indem er einen allgemeinen, das gesamte intellektuelle Leben der Zeit beeinflussenden geistesgeschichtlichen Hintergrund bildet, vor dem die Behandlung sprachbezogener Fragen lediglich einen kleinen Teil ausmacht. Dabei stellt dieser Gedanke nicht eine unter mehreren, in der frühen Neuzeit gängigen epistemologischen Perspektiven dar, die wie eine wissenschaftliche Methode auf bestimmte Fragestellungen angewendet wird - immer unter dem Vorbehalt, daß der Forscher auch eine andere Perspektive wählen könnte -, sondern er prägt die intellektuelle Wahrnehmung und Behandlung der Forschungsgegenstände auf einer so grundlegenden Ebene des Denkens, daß er für den einzelnen kaum relativierbar ist. Letzteres gilt um so mehr in dem Maße, in dem der religiöse Charakter des ori/o-Gedankens betont wird, je eindeutiger er den metaphysischen Rahmen der Argumentation darstellt. Dabei wird die Welt als von Gott sinnvoll geordnet betrachtet und der Sprache die Aufgabe zugesprochen, die so geordnete Welt kongruent abzubilden. Doch tritt der metaphysische Bezug nicht in jedem einzelnen Argumentationsgang in gleicher Weise hervor. Insbesondere in der Kombinatorik gewinnt das Ordnungsdenken eine technisch-mechanische Dimension, die sich durchaus verselbständigen

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kann, dort büßt der Ordnungsbegriff im Verlaufe des Jahrhunderts an metaphysischem Gehalt ein. Im folgenden sei, nach einigen Belegen allgemeiner Natur, der Niederschlag des ori/o-Gedankens in unterschiedlichen Bereichen der zeitgenössischen Sprachreflexion betrachtet: a) der Primat der Gegenstände; b) ordoDenken in Sprachpflege, Lexikographie, Sprachdidaktik und Rhetorik; c) Kombinatorik; d) ordo-Denken bei Comenius. Allgemeine, d.h. nicht einem bestimmten Themengebiet zugeordnete Äußerungen zum Sinn der Ordnung finden sich in den zeitgenössischen Texten zuhauf: „die Ordnung ist allen Sachen eine besondere Zier / wie hingegen die Unordnung eine Mißstellung bringet"5, „Gott [ist] ein Gott der Ordnung, vndt nicht der Unordnung"6; die „Weltordnung" ist eine „von GOtt bestelt[e]"7; mit dem ordo stellt sich die „rechte Anordnung des Früheren und Späteren, Obern und Untern, Größern und Kleinern, Ähnlichen und Unähnlichen"8 ein; es ist offensichtlich, „daß von der Ordnung alles abhängt"9. Weil nichts geschehen kann, „was nicht der Ordnung gemäß wäre, so kann man sagen, daß auch die Wunder der Ordnung gemäß sind"10 - eine für Leibniz charakteristische Formulierung. Da man beim Eindringen in einen Gegenstand „die schönste Ordnung vorfindet, die man sich nur wünschen kann", darf man zu Recht schließen, daß nicht nur alle Substanzen geordnet sind, sondern auch ihre sämtlichen Veränderungen in geordneten Bahnen verlaufen. In all dem spiegelt sich die was wiederum die Macht, Weisheit und Güte Gottes, der „alles zum besten, d.h. in der größtmöglichen Ordnung" geschehen läßt und damit bei allen, „die vernünftig sind", die Einsicht bewirkt, „daß die Zufriedenheit um so größer sein muß, je mehr man bereit ist, der Ordnung und damit der Vernunft zu folgen"11. 5 6 7 8 9 10

11

Harsdörffer: Secretarius, II, 232. Meyfart: Vnterthanige Relation. Von der Lehrart Herrn Wolfgang Ratichii, 1640, 115. Arnold: Kunst=spiegel, 2. „[dispositio] rerum priorum & posteriorum, superiorum & inferiorum, majorum & minorum, similium & dissimilium [...]." Comenius, Didaktik, 60; dt. Text S.75. „[...] tarn evidenter hie patet, ab uno Ordine pendere Universa." Ebd., 62. „Or puisque rien ne se peut faire, qui ne soit dans 1'ordre, on peut dire que les miracles sont aussi bien dans Fordre [...]." Discours de Metaphysique, 432, dt. Text S. 15. „Et puisque toutes les fois que nous penetrons dans le fond de quelques choses, nous y trouvons le plus bei ordre qui se puisse souhaiter, au delä meine de ce qu'on s'en figuroit, comme savent tous ceux qui ont approfondi les Sciences, on peut juger qu'il en est de meme en tout le reste, et que non seulement les substances immaterielles subsistent tousjours, mais aussi que leur vies, progres et changemens sont regies [...J. Mais la consideration de la perfection des choses ou (ce qui est le meme) de la

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Sprache, Denken und Wirklichkeit

Der Rationalist und Mathematiker Leibniz identifiziert Ordnung und Vernunft; das vernünftigste geistige Konstrukt ist dasjenige, dessen Komponenten nach mathematischen Regem zusammengestellt werden. Sehr häufig wird in den Texten der Gedanke einer wohlgeordneten Kette des Seins vorgetragen. „Die Betrachtung der herrlichen und wunder vollen Geschopffe deß Allmachtigen", so Harsdörffer im »Schauplatz Lust= und Lehrreicher Gedichte«, „ist eine Kette / welche uns niederige Menschen gleichsam zu deß Höchsten GOTTes Allmacht ziehet / und zu dankschuldigen Preiß für seine hohe Wolthaten anhält [...]".i2 Der Platz eines jeden Gliedes dieser Kette ist genau festgelegt. Gleichwohl gibt es zwischen den unterschiedlichen Ebenen des Seins, von der unbelebten Materie über die Pflanzen und Tiere, weiter über den Menschen, zu den Engeln und schließlich zu Gott, die mannigfaltigsten Korrespondenzen; die Lehre von Mikround Makrokosmos basiert auf der Vorstellung einer umfassenden analogia.13 Das unterordnende Gliederungsprinzip von Genus und Spezies wird von Harsdörffer, der sich allgemein über Ordnungsstrukturen ausläßt, am Beispiel der Zeit vorgeführt: „Die Zeit ist das Gantze / welches sich sondert in die Jahre / Monat / Wochen / Tage / Stunden / Viertelstunden / Minterungen / Minuten / oder Augenblicke"14 Dies ist nicht die Feststellung einer Belanglosigkeit: Harsdörffer verweist im gleichen Zusammenhang auf Francis Bacon und dessen induktive Methode, die sich das Ganze durch das sorgfältige Studium der Teile erschließt.

souveraine puissance, sagesse et bonte de Dieu, qui fait tout pour le mieux, c'est ä dire dans le plus grand ordre, suffit pour rendre contents tous ceux qui sont raisonnables, et pour faire croire que le contentement doit estre plus grand, a mesure qu'on est plus dispose ä suivre l'ordre ou la raison". Brief an Königin Sophie Charlotte von Preußen, 507f. 12 1653, Zuschrift. 13 Wer nach der Methode des Elias Hutter Sprachen erlernt, erkenne, daß alles auf „die Harmoniam Superiorum & Inferiorum, Das ist auff Gott / sein heiliges Wort / die gantze Natur / vnd den Menschen / als die kleine Welt gerichtet [ist] / daß eins mit dem ändern vbereinstimmen / vnd derwegen alles leicht vnd mit frewden forth gehen kan." Außschreiben, D5V. - Ahnlich die Rede der Ratichianer von der „inneren Gleichförmigkeit" der Welt. - Nach Balthasar Kindermann hängen „alle Tugenden gleichsam an einer Kette [...] / derer iede ein besonderes Glied schliesset; so ist auch eine Kunst mit der anderen unaufloßlich verbunden / eingeschaltet / und verfuget". In: Der Deutsche Poet, 1664, 48. - Im identischen Wortlaut begegnet die Stelle bereits 1645 bei Harsdörffer, in: Frauenzimmer Gesprachspiele, V, 128f. 14 Frauenzimmer Gesprächspiele, V, 121.

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) der Primat der Gegenstände Der in den zitierten Textstellen zum Ausdruck kommende Ordnungsgedanke basiert auf der Annahme der Vorgegebenheit der außersprachlichen Gegenstände vor den sie bezeichnenden Ausdrücken; erkenntnistheoretisch ist die Abfolge Wirklichkeit - Denken - Sprache bzw., bei Übergehen der mentalen Zwischenstufe, Wirklichkeit - Sprache geradezu ein Axiom. Die Auffassung begegnete bereits in der Darstellung der ontologisierend-patriotischen Sprachreflexion, wird jedoch auch von der rational-universalistischen geteilt.15 Einige Belege aus zeitgenössischen Texten: ein Ding „kann nicht anders [sein], als es ist, eben wegen der unveränderlichen [...] Wahrheit der Dinge"16; „die Dinge sind an sich, was sie sind, auch wenn keine Vernunft oder Sprache sich mit ihnen verbindet. Die Vernunft und die Sprache aber drehen sich nur um die Dinge und sind ganz von ihnen abhängig"17; die Sachen sind „durch die gantze Welt einerley [...] / und die differentz [bestehet] nur in den gegebenen Namen"18; niemand kann die Worte verstehen, „wann er nicht die Sachen kennt"19; der „rechte Methodus Sciendi" fuhrt zu „der Sachen Grund", noch ehe man die Worte zum Aussprechen der Wahrheit hat20; die Wörter „antworten" den Sachen21; sie sind „Abbildungen [...] unserer Gedanken"22, sind ihre „gefasse"23; ein Gedicht kann „fertig" sein „bis auf die Worte" (d.h. die gedankliche Fassung des Textes ist seiner sprachlichen vorgängig)24; daß die „Worte" auf die „Dinge" folgen, ist „der Natur [...] gemeße"25; „kein Wort nimt oder giebt seiner Sache etwas" (15

16 17 18 19 20 21 22 23 24 25

Auch hinsichtlich der Präexistenz der Gegenstände und der Orientierung der Sprache an diesen Gegenständen sind die frühneuzeitlichen Überlegungen nicht einfach dekkungsgleich mit einer Kategorie der antiken Rhetorik, in diesem Falle dem Grundsatz des „rem tene - verba sequentur", ..Vergewissere dich der Sachen, und die Wörter werden sich einstellen'. „[Res] nee aliter esse posse, quam est, propter ipsam immutabilem [...] rerum veritatem." Comenius: Prodromus pansophiae, 1637, 74f. „Res per se sunt, id qvod sunt, qvävis se illis nulla ratio aut lingva applicet: Ratio vero & Lingva tantüm circa Res versantur, & ab illis pendent [...]". Comenius, Didactica magna, 30, 5. Becher: Methodvs didactica, 1669, Vorrede. Ebd., Appendix, 46. Ebd., 48. Leibniz: Unvorgreiffliche Gedancken, 339. Harsdörffer: Schutzschrift, 373; ebenso Schottelius: Ausfuhrliche Arbeit, 187 und Stieler: Lehrschrift, 25. - Die wörtliche Übereinstimmung der Zitate erklärt sich wohl durch den Bezug auf Scaliger. Hille: Palmbaum, 63. Birken: Teutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst, 1679, 171. Opitz: Poeterey, 371.

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Sprache, Denken und Wirklichkeit

eben weil die Sache unabhängig von und vor dem Wort existiert)26; „die Krafft der Worte aber rühret von den Sachen her"27; „wie nun die Sache ist / so müssen auch die Worte seyn"28; es ist nicht „unbillig", „die Weißheit mehr in den Sachen / als in den Worten" zu suchen29; am Anfang allen Erkennens steht „intellectus rerum"30; die Rede handelt stets „de rebus absentibus aut quasi absentibus"31; in einer idealen Sprache müssen die Wörter immer den Sachen entsprechen, so daß gilt: „Qvot Res, tot Voces", „Differentia in re, differentiam habeat in Voce" und „Simplex res simplex Vox"32. Nicht selten werden Äußerungen dieser Art durch einen Verweis auf Aristoteles ergänzt, wonach jegliche geistige Tätigkeit auf Sinnesdaten beruht.33 Dies bedeutet kein sorgfältig abgewogenes Bekenntnis zu einem Sensualismus bzw. Empirismus aristotelischer Prägung, sondern ist ein Versuch, die Wichtigkeit der Sach- gegenüber der Wortorientierung durch Verweis auf eine klassische Autorität zu betonen. Es soll die Einsicht vermittelt werden, daß „omnis Historia aut Fabula nicht in Universalibus sondern Singularibus bestehet / und alles primo ad Sensum revociret wird / auch das Commune Principium aller Philosophorum, ja des Aristotelis selbß ist / daß alle vnsre Wissenschaft a Sensibus anfange / nihil in Intellectu sey / quodnonprius fuerit in Sensibus"34. Diese Auffassung ist von allen sprachbezogenen Disziplinen verinnerlicht worden, besonders deutlich, wie noch zu zeigen sein wird, von der Didaktik. So sollen etwa Sprachen durch den steten Bezug des Lernstoffes auf die Gegenstände und Sachverhalte der Wirklichkeit erworben werden, der Schüler muß beim Spracherwerb „einen

26 27 28 29 30 31

Longolius: Einleitung, 232. Ebd., 499. Stieler: SekretariatKunst, II, 581. Reimmann: Einleitung, 124. ,das Erkennen der Sachen'; Comenius: Pampaedia, 78f. „von den abwesenden oder sozusagen abwesenden Dingen"; Comenius: Panglottia, Sp. 261. 32 „Es muß soviele Wörter wie Dinge geben"; „Unterscheidungen in einem Ding entsprechen Unterscheidungen in einem Wort"; „einem einfachen Ding entspricht ein einfaches Wort"; ebd., Sp. 313. 33 Z.B. Buno: A B C = und Lesebüchlein, 1650, A*v: „[...] darum / welches den Naturkundigern bekant / ist nichts im Verstand / was nicht zuvor in dem Sinne gewesen: oder es verstehet der Mensch nichts / als was er vorhin mit seinen euserlichen Sinnen begriffen." - Buno bezieht sich auf Aristoteles: De anima, III, 432a, 1: „Nihil est in intellectu, quod non antea fiiit in sensu". 34 Johannes Rau: Kurtzer Bericht / Welcher massen die von M. Johanne Bunone angelegte Grammatica [...] Recht vnd wol gegründet sey, 1649, 12.

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breiten Schritt in die Physicam, und Bedeutung der Sachen thu[n]"35, da nur die Rückbindung an die Sachen ein sicheres Fundament des Wissens garantiert. Die Beachtung der „naturliche[n] Verw[a]ndschafft"36 der Sachen prägt die didaktische und, in Anlehnung daran, partiell die lexikographische Literatur der Zeit; in den Januae linguarum und verwandten Textsorten regiert das onomasiologische Prinzip. Die Ordnung ist anima rerum, zunächst also eine Ordnung der Dinge, dann erst der Wörter. Wird dies vergessen, konzentriert man sich über Gebühr auf die Wörter anstatt auf die Dinge, schafft dies Verwirrung und führt zu Irrtümern. Aus dieser Haltung läßt sich die zeitgenössische Kritik an bestimmten Erscheinungsformen der Rhetorik erklären, die, wie gezeigt wurde, von der ontologisierend-patriotischen Sprachreflexion vorgetragen wird, aber auch von Vertretern der rational-universalistischen Linie: Verwendung von Tropen und Figuren führe nur dazu, so Leibniz, „falsche Ideen hervorzurufen, die Leidenschaften zu erwecken und das Urteil irrezuleiten"37. In den Akademien müssen „die Disputationen und Deklamationen ausgemerzt werden", fordert Comenius; stattdessen sollen „die Sachen durch die Sachen selber gelehrt werden", sie sollen „durch sich und in sich angeschaut werden"38. Die Kritik ist nicht auf Deutschland beschränkt: In England beklagt Francis Bacon die Neigung zu Wörtern anstatt zu Sachen. Erstere seien lediglich „the images of matter". Sich in Wörter zu verlieben sei so, als würde man sich in ein Bild verlieben, denn schließlich gelte: „substance of matter is better than beauty of words".39

35 36 37

Becher: Methodvs Didactica, 97. Ebd., Appendix, 19. „[...] tout 1'art de la Rhetorique, toutes ces applications artificielles et figurees des mots ne servent qu'ä in sinuer de fausses idees, emouvoir les passions et seduire le jugement, de sorte que ce ne sont que de pures supercheries." Leibniz: Nouveaux essais, III, 10, 34. 38 „Qvantum ad Academias, earum gloriam Sapientiam Salomonicam esse volumus, ut nempe Authorum enarrationes, Disputationes, Declamationes elirninentur. Res per res doceantur [...]." „Res ipsae per se et in se spectentur [...]." Comenius: Panorthosia. 39 Advancement of learning, 1605, 284f. - In seiner »Historia literaria antediluviana« stellt Reimmann fest, „daß die ersten Menschen die Weißheit mehr in denen Sachen / als in den Worten gesucht" und daß „wir heute zutage deshalben so spate zum Erkantnis der wahren Weißheit kommen / und so wenig neues erfinden können / weil wir die allermeiste Zeit mit erkennung der blossen Worte verderben müssen" (S. 124f).

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b)

Sprache, Denken und Wirklichkeit

-Denken in Sprachpflege, Lexikographie, Sprachdidaktik und Rhetorik

Wo der OrdriungsbegrifF explizit auf Sprache bezogen wird, geschieht dies u.a. in bezug auf Sprachpflege und Lexikographie.40 Georg Neumark, Chronist der Fruchtbringenden Gesellschaft, wählt das Bild des Sprachgartens: Wie ein Gärtner in seinem Garten an die Stelle einer verblühten Pflanze eine neue einsetzen und damit die „schone Ordnung" wiederherstellen kann, so verfährt auch die Fruchtbringende Gesellschaft im „prachtreichen teutschen Sprachgarten"41. Unter den Lexikographen lobt der eingangs zitierte Alsted diejenigen, „qui ordinem verborum conformant ordinem rerum", welche die Ordnung der Wörter mit derjenigen der Dinge zur Deckung bringen42 . Die zu ihrer Zeit ungemein erfolgreichen onomasiologischen Wörterbücher und Sprachlehrwerke des Comenius werden an anderer Stelle ausführlicher zu behandeln sein; hier sei ein Auszug aus der »Kunstublichen Wort=Lehre Teutsch und Frantzosisch« von Johann Kasper Herrman und Johann Michael Moscherosch wiedergegeben: IV. Von Der Natur vnd Ihrer Würkung. De la Nature, & de son Operation. Ein Geschopff Die Natur naturlich Natürlicher weise Ein vnnaturlich Ding Ein Wunderding Die Bewegung Beweglich Die Ruhe / Bestand Ruhig / Vnbeweglich Ruhen Der Anfang Die Gebahrung Der Ursprung

Vne Creature, la Nature. Nature!. Nature llement. Vn Monstre vn Miracle. le Mouvement. Mobile. Muable. le Repos. Repose. Reposer. le Principe, la Generation, la Procreation. lOrigine. [...]

Mit den Sprachinformationen sollen Sachinformationen vermittelt werden, das Verfahren ist typisch für die realienorientierte Spracharbeit der Zeit.

40 41 42

Zur Diskussion des Ordnungsgedankens in seiner Realisierung in den Sprachenharmonien der frühen Neuzeit vgl. Klein 1992, 281 ff. Palmbaum, 418. Encyclopaedia, 128. - Zur Lexikographie der Zeit vgl. die Aufsätze in: H. Henne (Hrsg.): Deutsche Wörterbücher des 17. und 18. Jahrhunderts. Einführung und Bibliographie. Hildesheim u. New York 1975.

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Um den orafo-Gedanken in der Sprachdidaktik am Beispiel aufzuzeigen, sei ein Blick in Johann Joachim Bechers »Methodvs Didactica« geworfen. Auch hier dominiert die Realienorientierung: Bechers gesamte Didaktik basiert auf dem Gedanken, daß der Lernende durch den Spracherwerb „mit beyden Fassen zugleich einen Sprung in viel schone Sachen thut" (107)43. Hinter der naiv anmutenden Formulierung verbirgt sich ein vergleichsweise differenziertes sprachtheoretisches Konzept - von ihm wird im Zusammenhang mit den universalistischen Ansätzen die Rede sein - sowie eine ausgeklügelte Sprachlehrmethode. Hier interessiert lediglich, daß alles Sprachliche laut Becher Spiegel einer wohlgeordneten Natur ist, das Memorieren sprachlicher Einheiten und Muster daher von den Realia abhängt und daß sich die Sprachdidaktik darauf einzustellen hat. Sie tut dies, indem sie sich als „Diener / nicht Herren der Natur" (App. 15) begreift, dem Schüler also Bezeichnungen und Bedeutungen vermittelt, welche „auß der Sachen Natur / nicht auß des Praeceptors Hirn [...] entspringen" (ebd.). Hinter jeder lexikalischen Einheit und grammatischen Kategorie steht ein Element der Wirklichkeit, die acht Wortarten und ihr Verhältnis zueinander beweisen es: Die Substantive sind diejenigen Einheiten, über die, stehen sie in Subjektposition, prädiziert wird; die Adjektive sind diese Prädikate; die Verben beschreiben „motus und Passiones" der Subjekte; die Adverbien geben die Zeitverhältnisse an, die Präpositionen „die Ordnung", die Konjunktionen die Verbindungen und die Interjektionen „die Intervalla un affectus animf" (95). Diese durch die Wortarten ausgedrückten Phänomene von .Bewegung', ,Zeit', ,Ordnung', „affectus animi" und, wie Becher an anderer Stelle schreibt (135), die durch Flexion gekennzeichneten Veränderungen von Person und Zahl, sind Erscheinungen der physischen Welt, so daß Becher hinter der Sprache eine „harmonia Physica" (95) entdeckt. Alle ,.proprietates, essentias, effectus, alterationes, distincüones atque defectus" (App. 46) bestehen letztlich in realen Gegebenheiten, nicht nur in Worten. Wichtig im Kontext der o/tfo-Thematik sind ferner Bechers Aussagen zum Aufbau des sprachlichen Wissens. Wie die Wirklichkeit hierarchisch, von einfachen zu komplexen Seinsformen hin strukturiert ist, so beginnt auch der streng nach den natürlichen Gegebenheiten verfahrende Schüler, der das Lesen erlernen möchte, mit den einzelnen Buchstaben, worauf die Silben, dann die Wörter folgen.44 Auf der lexikalischen Ebene lernt er 43 44

Zahlenangaben in Klammem sind Seitenangaben; ein vorangestelltes „App " bedeutet „Appendix". Der vor dem gleichen geistesgeschichtlichen Hintergrund argumentierende Winkelmann schreibt: „WEr in die Hohe steigen wil / der muß zuvor den untersten Sprossen

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zunächst die Wortstämme, dann Derivate und Komposita. Dieser Lehrmethode entspreche nicht nur der Aufbau der Natur, sondern auch der des Denkens. In der Seele gebe es von Natur aus „einige naturliche Grunde und Ursachen" (App. 47) unkomplexer Art, mit einer den Buchstaben vergleichbaren Funktion. Aus ihnen würden Schlüsse, Hypothesen, Axiome gebildet, die sich wiederum zu einzelnen Wissensbereichen kombinieren lassen, ganz so, wie Silben sich zu Wörtern verbinden. Und wie etwa synonyme Wörter untereinander verwandt seien, so sind es auch die ,synonymen' Axiome unterschiedlicher Wissensbereiche. Wer als Schüler im Rahmen des Spracherwerbs die Wortstämme gelernt habe, könne um so leichter die Derivate lernen; ebenso vermöge derjenige, welcher um ,J>rimas Rerum Causas" (ebd.) weiß, die Axiome gut erlernen. Wer dagegen die Wörter „ohne Ordnung also confuse ohne einige Connexion" (App. 48) erlernt, der verfügt nicht wirklich über sie, und Analoges gilt selbstverständlich für den Bereich des Denkens. Mit anderen Worten: Wer bestimmte einfache Grundprinzipien beherrscht, kann daraus alle nur denkbaren Zusammenhänge erschließen, wenn er dabei einigen genau festgelegten Methoden des Schließens folgt. Die herkömmliche Didaktik hat nach Ansicht von Kritikern wie Becher diese schlichten Ordnungsmechanismen verkannt. Wie die traditionelle scholastische Form des Argumentierens versucht sie ihren Gegenstand „durch unendliche Bücher / definitionen / Divisionen und Terminos" (ebd.) verfügbar zu machen, lenkt damit aber den Blick weg von den Wissensinhalten, „wie sie an sich selbsten seynd" (ebd.). Der Grundsatz, den Becher diesem Aspekt seiner Darstellung, d.h. der Erschließung komplexer Zusammenhänge durch Kombination einfacher Grundelemente, unterlegt - „dann was wahr ist / das ist auch einfaltig / und was einfältig ist / das wird auch am ehisten und leichtesten verstanden" (ebd.) -, stellt ihn mit zahlreichen seiner Zeitgenossen in die Traditon der Kombinatorik des Raimundus Lullus, die an späterer Stelle zu diskutieren sein wird. Ein weiterer Bereich, in dem die oröto-Thematik wirksam wird, ist die Rhetorik. Als wohlgeordnetes und alle Eventualitäten der Rede berücksichtigendes System kommt sie in geradezu idealer Weise dem barocken Ordnungsdenken entgegen; daß Sprachverwendung der geregelte Nachvollzug von außersprachlich bereits Gegebenem ist, daß schon der Vorgang der Stoffindung - damit sozusagen der Vorgang des vorsprachlichen, zumindest der Leiter betretten / dardurch wird er zu dem ändern / und so forters geleitet. Ein Kind beginnet erstlich die Buchstaben / nachmals die Sylben / und dan die ganze Worter zulernen." Proteus, 15.

Der ordo-Gedaake

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des noch nicht endgültig versprachlichten Denkens - durch die Topik im /nve/if/'o-Teil der Rhetorik geordnet verläuft, daß es für jeden Gegenstand, für jeden Sprechanlaß, für jeden Adressaten den treffenden Ausdruck gibt, entspricht frühneuzeitlichen Vorstellungen einer geordneten Welt und der ihr kongruenten Sprache. Dabei erklärt sich die Flut rhetorischer Texte erst vor dem Hintergrund einer hochdifferenzierten Ständegesellschaft mit vergleichsweise fester Binnenstruktur und eindeutiger Ausrichtung auf den Hof als das „Haupt" des ,,Corper[s] der gelehrten und tugendhaften Welt"45. Zwischen den einzelnen Ebenen dieser Gesellschaftsordnung müssen mündliche und schriftliche Texte zu unterschiedlichen Anlässen und nach festgelegten Verfahrensregeln ausgetauscht werden: „Die im Obertheil oder Stande / haben zu gebieten oder zu begehren / vornemlich an ihre eigene Unterthanen / und die so im niedrigen Grad oder Stande seyn. Dagegen müssen die im niedrigen Stande oder Theil solche hohe Obern in alle wege unterthänig bitten und ersuchen"46. Die Verben in den zitierten Sätzen bezeichnen Sprachhandlungen, für welche die Epistolographien, Titularien, Sekretariatkünste und eigentlichen Redelehren Regeln aufstellen; der Ordnung der Gesellschaft entspricht die der Sprache.47 Umgekehrt entspricht der Verkehrung der gesellschaftlichen Ordnung eine Aufhebung sprachlicher Ordnung. Dies wurde bereits im Zusammenhang mit der Besprechung der Alamode-Kritik verdeutlicht, hier sei daher lediglich ein Textbeispiel zitiert: Hanß Willmsen Rost stellt seiner Sammlung von vier »Schertz Gedichten«, die unter anderem von alamodischer Sprachmengerei handeln, diese Zeilen voran: Niemand halt sich nach dem Stande darzu GOtt ihn hat gebracht / niemand bleibt bei seiner Tracht die gebrauchlich ist im Lande / denn / das schlechte Volkgen fuhrt was dem Adel kaum gebührt. Unterscheid der Stand und Orden ist den Leuten nuhr ein Spott / da er / weislich / doch von GOTT / selber ist gestiftet worden: Bürger halten sich nach dem was den Hoochen ist bekwehm. 45 46 47

Thomasius: Von Mangeln der Academien, 1701, 200. Overheide: Neu=vermenrte Teutsche Schreib=Kunst, 6. Aufl., 1697, 115. Für die Textsorte ,Brief zeigt dies B. Siegert: Netzwerke der Regimentalitat. Harsdörfers Teutscher Secretarius und die Schicklichkeit der Briefe im 17. Jahrhundert. In: Modem Language Notes, 105, 1990, 536-562.

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Sprache, Denken und Wirklichkeit Kleider / Spraachen / Reimen schreiben / ändern sich fast alle Jahr / ich doch acht es nicht ein Haar / ich wil bei dem alten bleiben.48

Explizite Reflexionen über den Ordnungsbegriff finden sich jedoch in den wenigsten rhetorischen Texten der Zeit. Meist steht der rein technische Aspekt der Ordnung im Vordergrund, geht es um den effizienten Umgang mit hochnormierten Textsorten. Dazu seien einige wenige Beispiele genannt: Die Ordnung ist eine geschickliche Bind= oder Setzung der Sachen und Beweisgrunde in den Briefen / um seine Meinung beglaubt zumachen. Gleich wie die Weinstocke / so ordentlich nach einander gepflanzet sind / freyere Luft haben / und fruchtbarer herauf wachsen; also [...] nimmt eine wolgesetzte Rede oder Schrift das Gehör und Gemüt ein / und überredet nachdrucklicher. Ohne solche Ordnung wird kein Schreiben klingen / und wann auch die auserlesenste Worte / Spruche und Erfindungen darinnen enthalten waren. Zwar ist / sonderlich in denen Berichtschreiben und Erzehlungen die Ordnung / willkuhrlich / und naturlich / so nicht eben nach der Kunst schmecket: Aber auch dieselbe naturliche und willkuhrliche Ordnung muß keine Unordnung seyn / sondern die Zeit / die Natur / den Ort und den Vorgang der Dinge beobachten / Also gehet das / was gestern geschehen / dem heutigen / und dieses dem morgenden vor / die Kindheit der Jugend / diese den mannlichen Jahren und Alter / das ganze seinen Teilen / die Ursach dem Ausgang / und die Sach an sich selbst ihren Umstanden.49

Die Passage spricht weitgehend für sich: Texte der Sorte Briefe müssen in ihrer formalen Struktur einer festgelegten Ordnung folgen, um ihrem pragmatischen Auftrag gerecht werden zu können; der Rezipient begegnet dem Brief mit bestimmten Erwartungen hinsichtlich seiner formalen Gestaltung. Beim Produzieren formal weniger eindeutig festgelegter Textsorten müssen die Ordnungsprinzipien der Natur entnommen, sozusagen mittels des gesunden Menschenverstandes abstrahiert und beim Textverfassen angewendet werden. In keinem Fall darf ein Brief, um bei diesem Beispiel zu bleiben, aussehen wie ein „Pickelherings-Hut / daran das hinterste zuforderst gekehret"50. Harsdörffer vergleicht einen Brief mit „einem wolgestalten Leibe / dessen Gliedmassen / von der Maß und gleichstandigen richtigen Beschaffenheiten ihren Namen und natürliche Stellen haben"51. Solche Forderungen nach struktureller Einheitlichkeit des Textes begegnen auch in den antiken Texten immer wieder - Quintilian setzt fest: „corpus sit, non mem48 49 50 51

Rosts niederdeutsche »Veer Schertz Gedichte« erschienen 1653; zit. wurde nach Johann Laurembergs hochdeutscher Übersetzung von 1654, A2V. Stieler: Sekretariatkunst, II, 300f. Riemer: Schatz=Meister, 146. Harsdörffer: Secretarius, II, 232.

Der ortfo-Gedanke

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bra"52 -, und gerade im Bereich der Textorganisation wird auf antike Autoren ausgiebig Bezug genommen. Stieler z.B. gibt in seiner »SekretariatKunst« für sämtliche deutsche Fachtermini die entsprechenden lateinischen Bezeichnungen in Anmerkungen, häufig mit Belegstellenangaben oder Zitaten. Sprachtheoretisch interessanter als diese rein technischen Aspekte rhetorischer Textgestaltung sind barocke Aeraria Poetica, Florilegien, poetische Lexika und andere Sammlungen rhetorischen Schmucks, betrachtet man sie unter dem Aspekt der Vorgegebenheit der Gegenstände vor ihren sprachlichen Bezeichnungen. In gewisser Weise zeigt sich im Aufbau solcher gerade für die Dichtung intendierter Werke die sprachtheoretische Erklärung für die Rigidität der barocken Regelpoetik. In den erwähnten Textsorten wird ein bestimmter Begriff vorgestellt, der nun in einzelnen Wörtern, Syntagmen, ganzen Sätzen, darunter Sentenzen und Zitaten, paraphrasiert, attributiv erweitert oder durch Synonyme ergänzt wird. Unter Sünde etwa finden sich in Michael Bergmanns »Poetischer Schatzkammer« unter anderem53: angstende / ärgernde l allgemeine l befohlne l begangne l beherrschte l bekandte l bellende l beruffne l beschryene l blutige usw. Sünde; ferner Synonyme wie Boßheit, Büberey, Fehl, Gottlosigkeit, Laster, Lasterhafftigkeit usw.; ferner Der Sünden oder Laster Bande l Beschwer l Bild l Bürde l Brunn l Dampf/'usw·.; ferner Wendungen wie Mangel und Gebrechen, der Staar der blinden Sünden, das Band der Tauben Lust usw. Johann Christoph Männling bietet im »Poetischen Lexicon« für Aberglauben an: Des Glaubens Mißgeburth, Affter=Kind. Die Larve der Vernunfft, und Ohnmacht des Gemüthes. Der Thorheit Steuer=Geld. Der Warheit Wiederstand. Der Schatten von dem Licht. [...] Das Auge der Vernunfft. Verblendter Aberglaube. Der Aberglaube zeigt die wilde Hartigkeit. Des Pöbels Kapzaum ist der wilde Aberglaube. Der Aberglaube ist gemeiniglich eingehult in der Unschuld Wester=Hemde.54

Sprachliche Einheiten werden als mehr oder weniger austauschbare Versatzstücke gehandhabt, die bestimmten Gegebenheiten der Wirklichkeit je nach Redezweck zugeordnet werden. Nicht um unverstellten und originären sprachlichen Niederschlag einer Schaffensabsicht - im Sinne eines modernen Kreativitätsbegriffs - geht es bei dieser Art des streng regelgeleiteten Verfassens von Texten, nicht um die Konstituierung des Redegegenstandes durch seine sprachliche Form, wie dies in neueren Dichtungstheorien vorgesehen ist, sondern um das Sich-Bewegen in einem vorgegebenen Rahmen, 52 53 54

Institutio oratoria, VII, 10, 16. Deutsches Aerarium Poeticum oder Poetische Schatz=Kammer, 1675, 110. 2. Aufl., 1719, 3.

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Sprache, Denken und Wirklichkeit

um das Nachvollziehen einer präexistierenden Ordnung, der sich der Sprechende bzw. Schreibende verpflichtet fühlt. Dies gilt letztlich auch für die stärker manieristischen Formen der Barocksprache. Denn mit dem Appellieren an den furor des Dichters und mit der Betonung seines ingenium anstelle des abwägenden indicium - zweifelsohne auch Mittel zum gesellschaftlichen Zweck, den poeta doctus vom bloßen Reimeschmied abzuheben - sowie mit der expliziten Hervorhebung des spielerischen Elements im Umgang mit Sprache - man denke an die »Gesprächspiele« der Zeit - wird nur scheinbar ein kreatives Sprachschaffen legitimiert, zumindest nicht im heutigen Sinne des Wortes. Obgleich dem Poeten zugestanden wird, nicht nur das, „was ist", sondern auch dasjenige, was „seyn kont"55 nachzuahmen, wird er als „Bruder der Natur" stets auf deren imitatio verpflichtet, und sein Schöpfertum wird begrenzt: „Ob nun wol der Poet bemühet ist neue Erfindungen an das Liecht zu bringe / so kan er doch nichts finden / dessen Gleichheit nicht zuvor gewesen / oder noch auf der Welt wäre".56 Der manieristische Verstoß gegen die Regel bedeutet kein Ersetzen dieser Regel durch das Subjektiv-Schöpferische des Originalgenies späterer Zeiten, sondern ein Überziehen der Regel über ein von vielen als sinnvoll empfundenes mittleres Maß hinaus, ein extremes Ausspielen einzelner im poetisch-rhetorischen Regelsystem angelegter Möglichkeiten unter Nichtbeachtung eines harmonischen Verhältnisses der Teile des Ganzen zueinander, wobei die Regel sehr wohl als Ausgangspunkt für die manieristische Überzeichnung im Hintergrund präsent bleibt. Insgesamt ist der Manierismus keineswegs unvereinbar mit dem ordb-Gedanken. Mit all dem bildet diese Art der rhetorisch gestalteten Sprache im Barock das Extrem jener Formen der Sprachverwendung, die durch Formelhaftigkeit und mechanische Anwendung von Regem gekennzeichnet sind, Formen, die für ihre modernen Kritiker einem bloß „reproduzierenden Sprechen"57 gleichkommen. Eine solch mechanistisch gehandhabte Sprache ist das Gegenteil eines - so Meister Eckhart - Redens aus des Herzens Abgrund; ein „Lautwerden tieferer, dumpferer Gründe menschlicher Seele", ein „Gestalten noch ungeformter Lebenswallungen"58 läßt diese Sprache in der Tat nicht zu. Paul Hankamers Feststellung ist trotz des pathetischen

55 56 57 58

Harsdörffer: Poetischer Trichter, II, 7. Ebd., 8. Hankamer 1965, 7. - Vgl. auch Apel 1975, 260. Hankamer 1965, 7.

Der ordb-Gedanke

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Sprachduktus in der Sache nicht unberechtigt59, doch sei davor gewarnt, aus der Feststellung eine Kritik werden zu lassen. Bereits in der Literaturgeschichtsschreibung wurde bisweilen der Fehler begangen, die Dichtung des Barock mit der Begründung abzutun, sie sei keine „Erlebnisdichtung". Würde nun der Fehler in der Historiographie der Sprachtheorie wiederholt, so gäbe man die Möglichkeit preis, die Sprachreflexion des Barock in der ihr eigentümlichen Qualität zu erkennen und zu würdigen. hi zahlreichen zeitgenössischen Texten wird das Bemühen deutlich, sämtliche Bereiche der gegebenen Wirklichkeit, soweit sie als Textgegenstände in Frage kommen, sowie alle potentiellen Kommunikationssituationen mit fast schon obsessiver Akribie im vorhinein sprachlich abzudecken. Wenn Christof Arnold in einem Gedicht Dutzende von Farbbezeichnungen des Deutschen aufrührt, dann tut er dies maßgeblich, um nachzuweisen, daß die deutsche Sprache in der Lage ist, aufgrund ihrer copia sämtliche Aspekte der Wirklichkeit in einem ganz bestimmten Bereich zu erfassen.60 Und Christian Weidling schreibt: „DEr Hoff ist [...] eine kleine Welt / in welcher unterschiedene Arten der Menschen sich praesentiren l und von unterschiedenem Glück oder Unglück begleitet werden. Wer diesen Beyfall giebet / muß auch gestehen / daß bey Hoffe unterschiedene Gelegenheiten zu reden sich finden / welche die Reden selbst unterschieden machen"61. Die Welt, sei es innerhalb des Hofes oder außerhalb, ist in ihren Grenzen genau bestimmt, und für sämtliche Redeanlässe, die es in ihr geben kann, soll Vorsorge getroffen werden; ein Blick in die umfangreichen Inhaltsverzeichnisse von Rhetoriken und Epistolographien belegt dies.

59

60

61

Hankamers Aussage würde allerdings in dem Maße eine Einschränkung erfahren, in dem man gegen Ende des 17. Jahrhunderts bei einzelnen Rhetorikern den Beginn einer Theorie des Individualstils erkennt. Sinemus (1978) diskutiert solche Versuche am Beispiel von Weise, lehnt es jedoch ab, das Konzept des Individualstils bereits im 17. Jahrhundert verwirklicht zu sehen. Dagegen sieht E. Kleinschmidt die für das 18. Jahrhundert charakteristische „umfassende Darstellungssouveränität" und das „Originalitätsprinzip" prinzipiell schon im Barock angelegt. Während dies im Hinblick auf die große Menge der Barockautoren m.E. zu pointiert formuliert ist, kann man Kleinschmidts Schlußaussage uneingeschränkt zustimmen: „Der entscheidende Durchbruch der Barockzeit im Handlungshorizont der Schriftkultur besteht indes zweifellos darin, daß Sprache in ihrer gesellschaftsprägenden und bewußtseinsbildenden Kraft zum Thema wurde." „An den Schattenbraunen Matten / | nechst dem Kohlpechschwarzen Wald / | da soviel Rauchfarbes Hartz | und Schwartzgelbes Ertz zu finden / 1 Saß die Himmelschone Jungfer | in dem tunckelgrunen Halt / auf dem gelblichblassen Laub; | schreibend in Safftgrune Rinden: Vnter den braunschwartzen Schatten | hat der Fried im Vnfried Fried [...]." Kunst=spiegel, 39. Oratorischer Hofmeister, 1698,780.

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Sprache, Denken und Wirklichkeit

c) Kombinatorik Derjenige Bereich, in dem der orcfo-Gedanke seine vielleicht markanteste Ausprägung erfährt, ist die Kombinatorik.62 Dir Grundgedanke begegnete bereits in den Ausführungen zu Bechers Didaktik: Einfache Basiselemente werden mit Hilfe einer Reihe genau festgelegter Regeln zu komplexeren übergeordneten Einheiten verbunden. Immer wieder findet sich dieser Gedanke in den sprachbezogenen Texten der frühen Neuzeit, sowohl bei einzelsprachlich orientierten Autoren als auch bei Universalisten; im folgenden seien seine Erscheinungsformen sowie seine Tradition kurz umrissen. Kombinatorische Züge trägt z.B. die Wortbildungslehre von Schottelius. Die Charakterisierung des Stammworts an früherer Stelle hat erkennen lassen, daß das Stammwort einerseits von Mystizismen umgeben ist - das im „Grund der Sprache" verankerte, „eigentliche", den Gegenstand „wesentlich" erfassende und in seiner formalen wie inhaltlichen Solidität das Naturell der deutschen Sprecher spiegelnde Wort -, andererseits von Schottelius ausgesprochen mechanistisch gehandhabt wird: Stamm, Wortbildungs- und Flexionsmorpheme sowie Kompositionselemente sind vergleichsweise frei, d.h. auch gegen den Gebrauch kombinierbar. Damit ist das gebildete Wort keine generatio im Sinne des thomistischen und auch bei Eckhart anzutreffenden Wortbegriffs63, d.h. keine organische Einheit, die sich nicht einfach aus der semantischen ,Summe' ihrer Konstituenten erklären läßt, sondern eher eine atomistisch zusammengesetzte Menge von Einzelelementen. Die rein wortbildungssystematisch legitimierte, gegen den Gebrauch verlaufende Bildung zeigt sich sowohl in der Komposition wie in der Derivation (- sie zeigt sich auch in der Flexion, etwa dort, wo Schottelius aufgrund eines stnikturimmanenten Analogiegesetzes den Plural von Substantiven wie „Kaiser" entsprechend dem von „König" mit -e bilden will): Aber / wen aus naturlicher Kraft und wirkender Eigenschaft der Radicum oder Stammworter / fernere Ableitungen und Doppelungs=Arten entstehen / und nach deroselben rechtmassiger Leitung ein Sprachkundiger fortfehret [...] und [...] neue Worter bildet / und sich derer in Beschreibung vielerley Handel vernünftig gebraucht / 62

63

Zu diesem Komplex vgl. die Literaturangaben zur frühneuzeitlichen Entwicklung der Naturwissenschaften und der Technik in Teil I, Kap. 1., sowie diese Arbeiten: John Neubauer: Symbolismus und symbolische Logik. Die Idee der Ars Combinatoria in der Entwicklung der modernen Dichtung. München 1978; Gaede 1978; W. Kühlmann: Technischer Fortschritt und kulturelles Bewußtsein. In: H. Möbius u. J. J. Berns (Hrsg.): Die Mechanik in den Künsten. Studien zur ästhetischen Bedeutung von Naturwissenschaft und Technologie. Marburg 1990, 31-43. Dazu Seppänen 1985, 34ff.

Der ordo-Gedanke

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solches heisset mit nichten nicht neue / unteutsche und unbekante Worter hervorzubringen / sondern darin wird guten Teihls die rechte Kundigkeit und Kunst mit bestehen / die Teutsche Sprache aus der Teutschen Sprache ferner zuerheben [...].64

Die neuen Wörter sind dann gute deutsche Wörter, wenn sie aus dem lexikalischen Material des Deutschen und nach dessen Wortbildungsregeln geschaffen werden. So gelangt Schottelius zu Formen wie „Bemorgengabung", „Fahnlehnsgeding" oder „Un=wieder=ab=treib=lich=keit"65 und freut sich ganz offensichtlich über die Möglichkeiten, bestimmten Sachverhalten ,ihr' Wort zuzuweisen: Ein „Froboser" ist jemand, „der sich über eines ändern Unglük freuet", ein „Fromboser" dagegen ein Mensch, „der in einem Schaafbelz den Wolf birgt"66 etc. In ähnlicher Manier lassen sich Reihen bilden wie „Bittersüß / Gallensüß / Saursüß" oder entsprechende verbale Ableitungsreihen mit variierendem Präfix.67 Dieses Verfahren der Wortbildung folgt bestimmten Kombinationsregeln, für die Komposition z.B.: Stamm a + Stamm l;Sb + Sl;Sc + Sl etc. oder Sa + Sl + S2; Sb + Sl + S2 etc. oder Sl + Sa; Sl + Sb etc. Das geschieht so mechanisch, daß sich das Verfahren zu verselbständigen scheint, d.h. es werden Wörter nur deshalb gebildet, weil die Systematik der Regeln dies erlaubt, und dementsprechend ist die Bedeutung einer Neubildung gelegentlich kaum zu erschließen. Ein ähnliches Vorgehen findet sich bei Harsdörffer, in seinen »Gesprachspielen«, spektakulärer aber im »Fünffachen Denckring der Teutschen Sprache«68:

64 65 66 67 68

Ausführliche Arbeit, 98.

Ebd., 78f. Ebd., 79. Ebd. Deliciae, II, 517. - Eine Erklärung gibt Harsdörffer ebd., aber auch im »Poetischen Trichter«, III, 81 ff.

208

Sprache, Denken und Wirklichkeit

Im innersten Kreis stehen 48 „Vorsylben", dann, nach außen gehend, 60 „Anfangsbuchstaben]", 12 „Mittelbuchstaben", 120 „Endbuchstaben", 24 „Nachsylben". Damit will Harsdörffer „die gantze Teutsche Sprache auf einem Blätlein" untergebracht haben, jedenfalls erhält er durch Verdrehen der fünf Ringe gegeneinander fast einhundert Millionen Einheiten - Leibniz berechnet 97209600 Möglichkeiten69 -, muß dann allerdings etliche „blinde" abziehen. Ähnlich verfährt Quirinus Kuhlmann mit seinem „Sprachrad", das „tausendtausendmahltausend" Kombinationen ermöglicht, sich dabei auf alle Sprachen dieser Erde bezieht und selbst die Wörter ausgestorbener Sprachen wiederzufinden vermag.70

69 70

Akademieausgabe, VI, 1,203. Breßlauers Lehrreicher Geschicht=Herold, 1672, Vorgespräche, Par. 23. Nach Zeller 1974, 167f.

Deronfo-Gedanke

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Es wird deutlich, daß der Übergang von der Kombinatorik zum Bereich der Universalsprachen fließend ist, Leibniz selbst bietet mit seiner »Ars combinatoria« das beste Beispiel. Im Oktober 1671 schreibt er Herzog Johann Friedrich: In Philosophia habe ich ein mittel runden, das jenige was Cartesius und andere per Algebram et Analysin in Arithmetica et Geometria gethan, in allen seienden zuwege zu bringen per Artem Combinatoriam, welche Lullius und P. Kircher zwar excolirt, bey weiten aber in solche deren intima nicht gesehen. Dadurch alle Notiones compositae der ganzen Welt, in wenig simplices als deren Alphabet reduciret, und aus solches alphabets combination wiederumb alle dinge, samt ihren theoremaiibus, und was nur von ihnen zu inventiren müglich, ordinata methodo, mit der zeit zu finden ein weg gebahnet wird.71

Immer wieder handelt es sich um den gleichen Gedanken: Ein komplexes Ganzes ergibt sich durch Kombination einfacher Grundelemente. Das Prinzip wird bei den Kunstsprachen auf den unterschiedlichsten Ebenen wirksam. Ein Vorschlag, den Comenius in der »Panglottia« unterbreitet, mag an dieser Stelle zur Illustration ausreichen: Col bedeute ,Farbe', + e ergibt Cole (,weiß'), + i ergibt Coli (,gelb'), + ei ergibt Colei (,grün'), + o ergibt Colo (,rof), + au ergibt Colau (,schwarz') etc.72 Es ist offensichtlich, daß im Bereich der Kombinatorik der Ordnungsgedanke eine rein technische Dimension annehmen und sich dabei der metaphysischen Einbindungen mehr oder weniger entledigen kann. Auch dieser Aspekt des Ordnungsgedankens geht weit über das rein Sprachliche hinaus und zeigt sich in der Geistesgeschichte der Zeit in der Anwendung des Konzeptes der Mechanik auf die unterschiedlichsten Bereiche des Denkens und Handelns. Stellvertretend dafür sei hier auf die Uhrenmetaphorik hingewiesen, da sie auch in der Sprachreflexion begegnet. Die mechanische Uhr ist vielen das sinnfälligste Symbol einer auf dem kontrollierten Zusammenspiel aller Einzelteile basierenden Ordnung. Dieser Ordnung unterliegen nicht nur künstlich hergestellte Gegenstände, sondern auch der Mensch selbst: „Es ist allen bekannt, daß das menschliche hertz, gleich wie die vnruh ind einem vhrwerck, allezeit sich bewegt, vnd schlegt tag vnd nacht ohn vnterlaß" schreibt Friedrich von Spee im Rahmen seiner »Vergleichung eines Vhrwercks, vnd eines frommen andächtigen Menschens«73 . In der Dichtung ist das Motiv seit Dante geläufig - Harsdörffer

71 72 73

Sämtliche Schriften und Briefe, 2. Reihe, Bd. l, 160. Sp.290. In: Güldenes Tagebuch. In: Sämtliche Schriften. Hrsg. v. E. Rosenfeld. Bd. 2, hrsg. v. T. G. M. v. Oorschot. München 1968, 437f.

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Sprache, Denken und Wirklichkeit

etwa hat eine Reihe von Uhrengedichten verfaßt -, und in der geistlichen Literatur ebenfalls.74 Das Bild läßt sich auf das gesamte Universum ausweiten. Johannes Kepler verbindet die Vorstellung von der Welt als mechanica Dei mit den Interessen des neuzeitlichen Forschers bei seiner Suche nach den „physikalischen Ursachen" der Dinge: Er wolle zeigen, „daß die himmlische Maschine nicht eine Art göttlichen Lebewesens ist, sondern gleichsam ein Uhrwerk [...], insofern darin nahezu alle die mannigfaltigen Bewegungen von einer einzigen ganz einfachen magnetischen Kraft besorgt werden, wie bei einem Uhrwerk alle die Bewegungen von dem so einfachen Gewicht. Und zwar zeige ich auch, wie diese physikalische Vorstellung rechnerisch und geometrisch darzustellen ist".75 Schottelius verwendet das Bild der Uhr im Kontext der Stammwortthematik76, und Comenius führt es in seiner »Didacrica magna« detailliert aus: Wie kommt es schließlich, daß in dem Werkzeug für Zeitmessung, in der Uhr, das hin und her schwingende und seinen Standort wechselnde Metall sich von selbst bewegt? Dazu gleichmäßig Minuten, Stunden, Tage, Monate und vielleicht auch Jahre zählt

74

75 76

Einige Titel seien genannt: Leonhard Lerchenfeld: Horologium piarum actionum tarn quotidianum quam hebdomadarium, Ingolstadt 1645; derselbe: Geistliches UhrWerck, Ingolstadt 1646; Epiphane Louys: Horloge pour l'adoration perpetuelle du Saint-Sacrement, Paris 1674; Johann Dirckincks: Horologium spirituale scholasticorum Societatis Jesu, Osnabrück 1696; derselbe: Geistliches Ührlein [...] für die Gottverlobten Jungfrauen, Trier 1698; Maximilian van der Sandt: Horologium mysticum, Köhi 1648; Etienne Stapel: Horologium Passionis, Antwerpen 1635. - Titelnennungen nach J. J. Berns: „Vergleichung eines Vhrwercks, vnd eines frommen andachtigen Menschens." Zum Verhältnis von Mystik und Mechanik bei Spee. In: I. M. Battafarano (Hrsg.): Friedrich von Spee. Gardolo di Trento 1988, 101-206. - Berns bietet u.a. einen kurzen Überblick über die Geschichte der Uhrenmetaphorik und ihre Ausprägungen in der frühen Neuzeit. Weitere Literatur zum Thema: G. Bilfinger: Die Mittelalterlichen Hören und die Modernen Stunden. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte. Stuttgart 1892; K. Maurice: Die deutsche Räderuhr. Zur Kunst und Technik des mechanischen Zeitmessens im deutschen Sprachraum. 2 Bde. München 1976; O. Mayr: Die Uhr als Symbol für Ordnung, Autorität und Determinismus. In: K. Maurice u. 0. Mayr (Hrsg.): Die Welt als Uhr. Deutsche Uhren und Automaten 1550-1650. München u. Berlin 1980, 1-9; P. Rück: Die Dynamik mittelalterlicher Zeitmaße und die mechanische Uhr. In: H. Möbius u. J. J. Berns (Hrsg.): Die Mechanik in den Künsten. Studien zur ästhetischen Bedeutung von Naturwissenschaft und Technologie. Marburg 1990, 17-30. - Zur Mechanik in der frühen Neuzeit allgemein sowie zu ihrem Niederschlag in den Künsten (Literatur zur Entwicklung der Naturwissenschaften s. Anmerkungen zur Einleitung): A. Stöcklein: Leitbilder der Technik. Biblische Tradition und technischer Fortschritt. München 1969; F. Klemm: Zur Kulturgschichte der Technik. 2. Aufl. München 1982; W. Kühlmann: Technischer Fortschritt und kulturelles Bewußtsem. Zur Diagnose von Modernität in der frühneuzeitlichen Literatur. In: Möbius/Berns 1990, 31-44. Johannes Kepler in seinen Briefen, Bd. l, 219. Ausführliche Arbeit, 1247.

Der orifo-Gedanke

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[...]? Welche verborgene Kraft aber bewirkt solches? Keine andere als die offenkundige, hier alles beherrschende Ordnung. D.h. die Kraft der richtigen Anordnung aller zusammenwirkenden Teile, richtig in Zahl, Maß und Ordnung, deren jedes seine vorgeschriebene Aufgabe hat und auf diese Aufgabe gerichtete Mittel und zu diesen Mitteln gehörige Verhaltensweisen. Überall finden sich die richtigen Größenverhältnisse der einzelnen Teile zum Ganzen und der nötige Zusammenhang eines jeden mit seinem Arbeitspartner, und es herrschen gegenseitig verpflichtende Gesetze über die Vermittlung und Wechselwirkung der Kraft. So wickelt sich alles mit größerer Genauigkeit ab als in einem lebendigen, von eigenem Geist geleiteten Körper. Wenn nun aber darin etwas auseinander fallt, zerbricht, sich spaltet, erschlafft oder sich verbiegt, und wenn es sich dabei um ein noch so kleines Rädchen, die kleinste Achse oder das feinste Teilchen handelt, so bleibt alles stehen oder weicht von seinem Wege ab. So augenfällig geht daraus hervor, daß von der Ordnung einzig und allein alles abhängt.77

Dies ist das Verlangen nach einer vollkommenen Harmonie, in der alle Teile zum Wohle des Ganzen zusammenspielen. Eine der ersten Voraussetzungen für eine solche Harmonie im gesellschaftlichen Bereich wäre die Schaffung einer Universalsprache. Diese Sprache wäre dann ideal, wenn sie vollständig in ihren Zwecken der Darstellung und der Kommunikation aufgehen würde; sprachästhetische Gesichtspunkte spielen für Comenius kaum eine Rolle. Das Interesse an der Kombinatorik ist nicht auf Deutschland beschränkt, die Vorstellung von den sich zu einem komplexen Ganzen organisierenden Einzelelementen findet sich in ganz Europa. In einem Kommentar zu den pansophischen Arbeiten von Comenius schreibt Descartes: Gott ist einer und hat eine einzige, einfache, kontinuierliche, überall zusammenhängende und sich entsprechende Natur geschaffen, die aus sehr wenigen Prinzipien und Elementen besteht und von da aus zu fast unendlich vielen Dingen geführt hat [...]. Ebenso muß auch die Erkenntnis dieser Dinge nach dem Vorbilde des einen Gottes und der einen Natur einheitlich, einfach, kontinuierlich und nicht unterbrochen sein, 77

„Qvid deniqve isthuc, qvod in temporis dimitiendi instrumento, Horologio, varie deductum & dislocatum ferrum spontaneos edit motus? & qvidem harmonice, minuta, horas, dies, menses fortassis & annos, dinumerans? [...] Qvä id autem occultä vi? Nullä nisi aperti, hie per omnia regnatis Ordinis: Dispositionis nempe certö numero, mensurä, & ordine, omnium ibi concurrentium talis, ut unumqvodqve praescriptam habeat metam; & ad metam directa media; & mediorum certos modos: accuratissimam nempe cujusqve ad caetera proportionem; & unum qvod qve cum suo correlate debitam cohaerentiam; & ad communicandam reciprocandämqve vim mutuas leges. Ita procedunt omnia, exactiüs ac vivum aliqvod, proprio spiritu agitatum, corpus. At verö si qvid in his dishiascit, aut rumpitur, aut difrringitur, aut lentescit, aut concurvatur, qvamvis minima fuerit totula, minimus axiculus, minimus claviculus, statim vel consistunt, vel ä scopo suo aberrant omnia: tarn evidenter hie patet, ab uno Ordine pendere Vniversa." XIII, 13f.

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Sprache, Denken und Wirklichkeit muß aus wenigen Prinzipien [...] bestehen, woraus alles Übrige bis zum Speziellsten in unteilbarer Verknüpfung und weisester Ordnung abgeleitet bleibt [...]·78

Descartes' Bemerkung, die Erkenntnis der hierarchisch aufgebauten Natur müsse wie die Natur selbst von wenigen Prinzipien ausgehen, zeigt, daß Kombinatorik nicht nur ein Prinzip des Seins, sondern auch des Denkens ist bzw. sein kann. Geht man noch einen Schritt weiter, kann man sie als Ars inveniendi einsetzen79, d.h. man kann durch mechanische und systematische Kombination von Ausgangselementen bestimmte Fragestellungen oder Aussagen erschließen, die bei rein intuitivem Vorgehen nicht in den Blick geraten wären. Harsdörffer berichtet in den »Deliciae« von der Entdeckung eines Herrn von Preissac, der eine solch mechanisch-kombinatorische Ars inveniendi mit engumrissener Thematik und damit zugeschnitten auf einen genau definierten Zweck - in diesem Falle einem militärischen - entwickelt habe.80 Neun Papierscheiben unterschiedlicher Größe werden in je sechs Teile unterteilt. Auf die größte, äußerste Scheibe werden sechs Fragewörter eingetragen - ob, womit, wo, wann, wie, wieviel -, je eines in eine Unterteilung. Auf der nächst kleineren Scheibe folgen die sechs Ausdrücke Krieg, Frieden, Anstand, Unterredung, Bündnis, Vergleich. Schließlich weitere Sechsergruppen, jeweils auf einer Scheibe: Patrioten, Vnterthanen, Bundsgenossen, Schutzverwandte, Neutrale, Feinde - verbleiben, weichen, fechten, ziehen, zu Feld liegen, wintern - Ehre, Nutz, Gehorsam, Wohlstand, Not, Bequemlichkeit etc.81 Die einzelnen Sechsergruppen sind thematisch zusammengestellt, die Themen lauten: 1. Fragewörter, 2. nach Zwecken, 3. nach Personen, 4. nach Verrichtungen, 5. nach Ursachen, 6. nach zufälligen Gegebenheiten. Durch Verdrehen der übereinander gehefteten Scheiben ergeben sich nun die unterschiedlichsten Fragen, etwa „ob man Krieg fuhren soll gegen seine MitParrioten / oder Getreue deß Vatterlands? Ob man mit den unterthanen Fried machen / und derselben Neigung und wolwollen erhalten soll? Ob man einen Anstand treffen soll mit den Bundesgenossen?". Verändert sich die Ausgangslage, z.B. wenn Krieg erklärt wurde, so fragt man mittels der Scheiben, ob man verbleiben soll, weichen soll, fechten soll etc. Im Grunde ist dies nicht viel mehr als eine konsequente, me-

78 79 80 81

»Urteil über das pansophische Werk«, zit. nach Mahnke 1931, 255f. Dazu auch Zeller 1974, 178ff. Zum folgenden: Deliciae, II, 412f. Die Reihung setzt sich fort: Sonne, Wasser, Wind, Pässe, Wage, Gelegenheit Wagen, Leiter, Brücken, Hauen, Schaufel, Schiffe - Geld, Mundkost, Kraut, Lot, Pferde, Artzneyen - Wacht, Ordnung, Einfall, Sicherheit, Angriffe, Anschläge.

Der o/-£/o-Gedanke

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chanisierte Weiterentwicklung der Topik in der Rhetorik.82 Alles zu einem bestimmten Sachverhalt Prädizierbare soll systematisch erfaßt werden, eine Auffassung, die überhaupt nur dann einen Sinn ergibt, wenn man sich die Welt als eine Art geschlossenes System vorstellt, zusammengesetzt aus einer endlichen Menge von Einzeldingen und Einzelsituationen, die lediglich zu immer neuen Kombinationen verbunden werden, wobei das Kombinieren wiederum genau festgelegten Regeln folgt. Zweifelsohne ist dies einer der zentralen Unterschiede zwischen dem Geistesleben der frühen Neuzeit und dem der Moderne: die Annahme der Existenz eines präexistierenden ordo, innerhalb dessen man sich bewegt, und die Unruhe angesichts der zunehmenden Auflösung dieses intellektuelle Sicherheit vermittelnden Gefüges. All diese kombinatorischen Verfahren haben ein gemeinsames Element nicht nur in ihren grundsätzlichen Prinzipien, sondern auch in ihrer Tradition, der »Ars combinatoria« des Ramon Lull aus dem späten 13. Jahrhundert. Sie ist für die Sprachreflexion der frühen Neuzeit von größter Bedeutung, da sie unterschiedliche Anwendungen bis hin zu Universalsprachentwürfen erlaubt. Lulls Vita ist die eines bekehrten Hofmannes: Eine Reihe von Christusvisionen veranlaßten ihn, sein Amt am majorkanischen Hof aufzugeben und sich christlich-erzieherischen Aufgaben zu widmen, unter denen die für Zeitgenossen und Nachwelt wichtigste das Schreiben von Büchern „gegen die Irrtümer der Ungläubigen" war.83 Im Laufe der Jahre entwickelte er in unterschiedlichen Fassungen eine »Ars inveniendi veritatem« - aufgrund ihrer Methodik in späteren Jahrhunderten häufig als »Ars combinatoria« bezeichnet -, ein Verfahren zur Auffindung aller nur denkbaren Wahrheiten, dessen Aufgabe er in der »Ars magna generalis ultima« (1305-1308) so beschreibt: „potest homo invenire veritatem sub compendio, et contemplare et cognoscere DEUM, et vivificare virtutes, et mortificare vitia"84. Damit der Mensch Wahrheit finden, zu Gott gelangen, die Tugenden pflegen, den Lastern abschwören kann, muß das System der Wahrheitsfindung umfas82 83

84

Nochmals sei auf die Untersuchung »Topica universalis« Schmidt-Biggemanns (1983) verwiesen. Vida Coetänia del Reverend Mestre Ramon Lull segons el Manuscrit 16432 del British Museum. Hrsg. v. F. de B. Moll. Palma 1933, 11. Hier zit. nach: R. D. F. Pring-Mill: Grundzüge von Lulls Ars Inveniendi Veritatem. In: Archiv für Geschichte der Philosophie, 43, 1961, 239-266; 242. - Zu Lulls ari vgl. diesen Aufsatz von Pring-Mill sowie: Yates 1990, 162ff.; E. W. Platzeck: Ramon Lull. 2 Bde. 1962 u. 1964.; Neubauer 1978; Schmidt-Biggemann 1983; Leinkauf 1993. Zit. nach Pring-Mill 1961, 254.

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Sprache, Denken und Wirklichkeit

send sein, muß allen Manifestationen und Eventualitäten des Wahren gerecht werden. Ausgangspunkt ist die Annahme von neun „dignitates", Attributen Gottes, von Lull als absolute Prinzipien bzw. Prädikate definiert, die in allen Aspekten der Schöpfung präsent sind, so daß umgekehrt alles Sein als aus diesen Prinzipien konstituiert verstanden werden kann: Bonitas, Magnitude, Duratio, Potestas, Sapientia, Voluntas, Virtus, Veritas, Gloria. Diese neun absoluten Prinzipien sind in einer Figur A organisiert85:

Die Prinzipien, dies zeigen die Verbindungslinien, sind untereinander in alle Richtungen kombinierbar. Den absoluten stehen neun relative, in Dreiergruppen gefaßte Prinzipien bzw. Prädikate gegenüber: differentia - concordantia - contrarietas (B-C-D), principium - medium - finis (E-F-G), maioritas - aequalitas - minoritas (H-I-K). Sie sind in der Figur T zusammengefaßt: 85

Diese und die folgende Darstellung von Lulls Figuren sind Athanasius Kirchers »Ars magna sciendi« von 1664 entnommen (S. 8 u. 9).

Der 0/tfo-Gedanke

215

Die relativen Prinzipien B, C und D können das Verhältnis zwischen Geistigem und Sinnlichem beschreiben, die Prinzipien E, F und G das Verhältnis zwischen Kausalität, Quantität und Zeit, die Prinzipien H, I und K das Verhältnis zwischen Substantiellem und Akzidentellem. Die beiden Prinzipienreihen lassen sich nun miteinander kombinieren: die absoluten Prinzipien untereinander und mit einem relativen Prinzip, die Prinzipien übernehmen dabei Subjekt- und Prädikatstatus von Propositonen. Die „quarta figura" zeigt drei gegeneinander drehbare Buchstabenkreise, welche die unterschiedlichsten Aussagen erlauben86:

86

Abb. zit. nach Pring-Mill 1961, 257.

216

Sprache, Denken und Wirklichkeit

Die je neun Prinzipien können nicht nur untereinander in Bezug gesetzt werden, sondern zusätzlich zu neun Fragen (Utnim? Quid? De Quo? Quare? etc.), neun Subjekten (von den Instrumentativa, der toten Materie, über die Pflanzen, den Menschen etc. zu Gott), neun Tugenden, neun Lastern. Da jedes Element der Schöpfung in der einen oder anderen Weise auf die Grundprinzipien zurückfuhrbar ist, ist der Zusammenhang aller Einzelphänomene gewährleistet. In Lulls »Ars inveniendi veritatem« wurden im Laufe der Jahrhunderte unterschiedlichste Traditionen in verschiedener Brechung vermutet, von der platonischen Ideenlehre über die aristotelischen Kategorien, augustinisches Gedankengut, Verfahren arabischer Lexikographie, Methoden der grammatica speculativa und Prinzipien der Kabbala.87 Auf die Parallele letzterer zu Lulls »Ars« wies Pico della Mirandola gegen Ende des 15. Jahrhunderts in seinen »Conclusiones et apologia« hin, mit der Folge, daß Lulls Werk fortan als eine christliche Variante der jüdischen Kabbala galt. 1518 erschien in Venedig »De auditu kabbalistico« und wurde fälschlicherweise Lull zugeschrieben. Seine Prinzipien werden darin mehr oder weniger mit den Sefiroth der Kabbala, d.h. mit den hebräischen Namen und Erscheinungsformen Gottes identifiziert.88 Auch die kabbalistischen Versuche, aus den Einzel87 88

Vgl. ebd., 262. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang das »Sefer ha-Sohar«, das ,Buch des Glanzes', eine der kabbalistischen Hauptschriften. Es entstand in Kastilien, zu Lebzeiten Lulls. Im Sohar, wie auch an anderer Stelle, werden die Sefiroth so angegeben: „Kether Eljon", .höchste Krone' Gottes; „Chochma", ,Weisheit', Uridee Gottes; „Bi-

Der ordo-Gedanke

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buchstaben des hebräischen Alphabets die Namen Gottes zu kombinieren, wurden in Parallele zu Lulls Kombinationskunst gesetzt. Wichtig im hier diskutierten Zusammenhang ist die Doppelgesichtigkeit der »Ars«: Ihr streng kombinatorisches Element rückt sie in die Nähe der Logik, während die Ausrichtung auf transzendente Größen bzw. die Art und Weise des Umgangs mit diesen Größen ihre Nähe zur Mystik erkennen läßt.89 Lull selbst äußerte sich in diesem Sinne und sah seine Kunst als der reinen Logik überlegen, da sie nicht wertfrei ist, sondern sich auf bestimmte Inhalte, eben auf eine Reihe von Grundwahrheiten bezieht.90 Andererseits ist sie allgemein genug, um allen Wissenschaften als Basis dienen zu können. L. Thorndike betonte einmal ihren Wert als Hilfsmittel für scholastische Disputationen, vergleichbar mit „an adding machine in a modern bank or business office"91: In die „Maschine" wird eine bestimmte Menge von Konzepten als Subjekte und Prädikate eingegeben, so daß sie nach genau festgelegten Verfahrensregeln ihre Lösungen produzieren kann. Die Wirkung von Lulls »Ars combinatoria« auf die Sprachreflexion der frühen Neuzeit ist, wie bereits deutlich wurde, beachtlich. Viele der auf der Basis des ordo-Gedankens entwickelten Sprachbegriffe sind von ihr beeinflußt, seien sie rational-logischer, seien sie, zumindest partiell, mystischer Natur. Leibniz setzt sich in seiner »Ars combinatoria« eingehend mit Lull auseinander, den er zwar wegen ungenauer Begrifflichkeit kritisiert92, dessen grundsätzlichen Gedanken einer Kombinationskunst er aber durch sein eigenes Arbeiten sanktioniert. Auch bei Leibniz zeigt sich die Doppelgesichtigkeit des Ansatzes, wenn er nicht nur dessen logische Aspekte sieht, sondern von der Möglichkeit schreibt, den Geist durch ein solches Verfahren an das Unendliche heranzuführen und die Harmonie der Welt sowie den inneren Aufbau der Dinge zu erfassen („harmonia mundi et intimas con-

89

90 91 92

na", ,Intelligenz' Gottes; „Chessed", ,Liebe', ,Gnade' Gottes; „Gebura" oder „Din", ,Macht' Gottes; „Rachamin", »Barmherzigkeit' Gottes; „Nezach", »beständige Dauer' Gottes; „Hod", ,Majestät' Gottes; „Jessod", ,Grund' aller Kräfte Gottes; „Malchuth", ,Reich' Gottes. Nach: G. Scholem. Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt 1957, 232. In diesem Sinne auch Neubauer 1978, 18: „Die Lullsche Logik will zugleich Metaphysik sein". Und ebd., 19: „Die Lullsche Kunst hat demnach ein logisches und ein mystisches Gesicht". Auch Pring-Mill (1961, 261) setzt Lulls Kunst „zwischen Glauben und Verstehen" an. Entsprechende Zitate bei Pring-Mill, a.a.O., 253. A History of Magic and Experimental Science. 8 Bde. New York 1923ff. Bd. 2, 865. Zit. nach Neubauer 1978, 19. Ars combinatoria, 1666, 192ff.

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Sprache, Denken und Wirklichkeit

structiones rerum"93). Lulls Name taucht in zahlreichen sprachreflektierenden Arbeiten der frühen Neuzeit auf, oft ergänzt durch eine mehr oder weniger verkürzte Darstellung seines Systems. Harsdörffer beschränkt sich z.B. auf die zwei Gruppen von Prinzipien und die Fragenreihe94:

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Aus dem Schema ergeben sich implizite Propositionen wie „Vnterschied der Guhte / oder die Unterscheidung guter Dinge" (bb) oder „Grosse der Gühtigkeit" (be) etc. Charakteristisch für zeitgenössische Kommentare zu Lull ist die universalistisch-enzyklopädisch geprägte Feststellung Harsdörffers, Lulls „grosse Kunst" erlaube es, „von allen Sachen reden / urtheilen / und fragen" zu können. Konsequentes Befolgen der Systematik führt also zu bislang nicht bedachten Fragen und Propositionen und kann dadurch die Grenzen des Wissens erweitern. Gleichzeitig, und dies ist der den gegebenen ordo bestätigende Zug der Kombinatorik, sind die Grundkonzepte sowie die Verfahren ihrer Kombination begrenzt und genau definiert, so daß sich der Forscher letztlich in einem vorgegebenen Rahmen bewegt, den er allenfalls mit immer feineren Details auszufüllen vermag, den er aber nicht verlassen kann. Übertragen auf den sprachlichen Bereich heißt dies, daß im Rahmen der Kombinatorik Sprechen letztlich Nachvollzug von Vorgegebenem und nicht das Formulieren von radikal Neuem bedeutet. 93 94

Ebd., 187. - Vgl. auch Neubauer 1978, 26. Frauenzimmer Gesprachspiele, V. Teil, 126.

Der orito-Gedanke

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Als abschließendes Beispiel für die Rezeption der Lullschen »Ars« sei Johann Just Winkelmanns »Proteus« vorgestellt, der 1657 unter dem Pseudonym Stanislaus Mink von Weinsheun erscheint. Proteusverse sind Verse, in denen sich die Wörter zu immer neuen Sinnkombinationen umstellen lassen, Ziel ist eine möglichst hohe Zahl von Kombinationen. Scaliger hat diese Art des Verses im 30. Kapitel des 2. Buchs der »Poetices libri septem« definiert, und zahlreiche Autoren der frühen Neuzeit versuchen sich in Beispielen. Im »Poetischen Trichter« macht Harsdörffer diesen Vorschlag: Auf Angst / Noht / Leid / Haß / Schmach / Spott / Krieg / Sturm / Furcht / Streit / Muh' / und Fleiß folgt Lust / Rant / Trost / Güst / Ruhm / Lob / Sieg / Ruh / Mut / Nutz / Lohn / und Preiß. Diese Reimart konte man einen Wechselsatz nennen: dann wann man die ersten Wort / (auf folgt) und die letzten zwey (Fleiß und Preiß) unverändert auf solcher Stelle behält / können die ändern Worter 39916 800 [...] mal versetzet werden [...]: wolle man aber die Reimwort Fleiß / Preiß / auch versetzen / und Krieg und Sieg darfür gebrauchen / so kan man noch etlich tausend mal öfter wechseln.95

Auch Winkelmann gibt entsprechende Beipiele, doch sollen hier andere Aspekte, seine auf Lull basierenden Vorschläge zum Verfassen ganzer Texte interessieren. Der »Proteus« reiht sich in die zahlreichen rhetorischdidaktischen Arbeiten der Zeit ein. Wie in vielen anderen Arbeiten vor und nach ihm verspricht sein Autor, dem Leser das Dichten in Deutsch und Latein sowie das Briefeschreiben in Französisch und Latein zu vermitteln, und zwar, dies ist das Kennzeichen der didactica nova und der in ihrem Umkreis entstandenen Werke, „in kurzer Zeit ohne Müh"96, d.h. nicht durch das bereits von Ratke und seinen Ratichianem bekämpfte stupide Auswendiglernen von Wörtern und Regeln. Als erste Übung führt Winkelmann in das Verfassen von Prosatexten ein, etwa einem Text wie diesem: Es ist unsere angeborne Deutsche Sprach eine von den furnemsten und grasten GnadenGaben GOttes [...] / sie ist reich an Güte / reich an Milde [...] / und ist also unumschrenket und raumig / daß ihre Grenzen unumschlossen [...] / und gleichwol ist bey ihr eine überflüssige Kürze [...] und ein kurzer Überfluß [...]; Je alter etwas ist /je adler ist es [...].

95 1,51f. 96 Zit. aus dem Titel. - Das Versprechen kurzer Lemzeiten ist auch charakteristisch für die ebenfalls in Lullscher Tradition stehenden Planer von Kunstsprachen; vgl. Coudert 1978, 112f. - Für die folgende Darstellung wird auf die Angabe von Seitenzahlen verzichtet.

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Sprache, Denken und Wirklichkeit

Dem Text merkt man nicht an, daß er das Resultat eines mechanischen Texterstellungs-Verfahrens auf der Basis des Lullschen Systems ist. Dazu interpretiert Winkelmann Lull genau so, wie es ihm für seine Zwecke dienlich ist, und er tut dies in einer Weise, die den universalistischen Aspekt des Ansatzes im Bereich der Sprache, d.h. nicht in dem der Metaphysik wirksam werden läßt. Ausgangspunkt sind die Buchstaben des Alphabets, das bei vielen Völkern identisch sei. Die 23 Buchstaben erlaubten 2585201673888497664000 unterschiedliche Kombinationen; nicht einmal, wer wie Methusalem 969 Jahre alt würde und jeden Tag 2000000000000000 Varianten durchprobiere, könne sie alle ausführen. Im Zusammenhang mit dem Erkunden der mathematischen Möglichkeiten der „Litterverwechselung oder Versetzung der Buchstaben" werden sowohl die Kabbala als auch Lullus lobend erwähnt. Von dessen Prinzipienreihen verwendet Winkelmann nur eine, die der absoluten Prinzipien: Güte (B), Größe (C), Beständigkeit (D), Gewalt (E), Weisheit (F), Begierde (G), Tugend (H), Wahrheit (I) und Ruhm (K). Sie dient ihm als „Grundfeste aller Sprachen", also nicht, wie bei Lull, als Zusammenstellung metaphysischer Kategorien. Sämtliche Wörter jeder Sprache lassen sich in den „Kellern" (nach Lulls „Cellulas") dieser Grundfeste so unterbringen, daß sie jederzeit ans Licht geholt werden können. In den Keller ,Güte' z.B. „kan alles dasjenige gebracht werden / was gut oder boß / nutz= oder unnutzlich / ehr= oder unehrlich / lieb= oder unlieblich / u.s.f.". In den zweiten Keller, ,Größe', alles, was groß und klein, viel und wenig etc. ist; Entsprechendes gilt für die anderen Keller. Winkelmann betrachtet die absoluten Prinzipien als übergeordnete Begriffe, die alle zusammen ein das ganze Sein abdeckendes onomasiologisches Feld definieren. Daß er bei der Zuweisung dessen, was in die Keller soll, d.h. was unter einem jeweiligen Überbegriff subsumiert werden soll, nicht zwischen Gegenständen und ihren Bezeichnungen unterscheidet, verrät die in den Texten der Zeit immer wieder anzutreffende implizite Identifizierung von Sprache und Wirklichkeit. Unter die Überbegriffe werden schließlich eine große Zahl von Wörtern gefaßt, die nach Meinung des Aufteilenden entweder die im Überbegriff angezeigte Qualität beinhalten oder aber das contrarium der Qualität zum Ausdruck bringen. Eine Beschreibung des Verfahrens unter Rückgriff auf Kategorien der Merkmalsemantik - (partielle) Synonymic bzw. Antonymie durch Gegebensein bestimmter semantischer Merkmale - scheint sich zunächst anzubieten, ist wegen der Heterogenität der subsumierten Ausdrücke aber unmöglich. Der Keller B würde, geordnet nach Wortarten, u.a. enthalten:

Der ordo-Gedanke

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Acker / Anmuth / Arzney / Aufenthalt / Begünstigung / Belohnung / Benedeyung / Beschirmung / Beystand / Eigenthum / Ergotzligkeit / Freundwilligkeit / Froligkeit [...]. Angenehm / anmuhtig / annehmlich / auserkiest / begnadigt / begütigt / behaglich / behilflich / benedeyet / beqvem / beseliget / einträglich / erfreulich / erfrischet / ergötzlich [...]. Begnadigen / begütigen / behulflich seyn / belohnen / benedeyen / Benutzen / beqvemen / beschädigen / beschirmen / beseligen / bessern / beschützen / besuchen / bewachen / beystehen / dienen / dingen [...].

Die contrario zu diesen Wörtern sind im Keller B' zusammengestellt97: Aas / Abentheur / Abgang / Abmattung / Abmergelung / Antastung / Angst / Anliegen / Arbeit / Argwahn / Aufmattung / Ausmergelung / Aussaugung / Bekümmernis / Beleidigung [...]. Angsthaftig / arbeitsam / arg / bekümmerlich / betrübt / beschwerlich / bitter / bos / elendig / erbärmlich / erschrecklich / erdicht / falsch / gefahrlich [...]. Abkummem / abmartern / sauer ankommen / antasten / ausstehen / bejammern / beklagen / bekümmern / beladen / belustigen / beleidigen / beschädigen / bemuhen / beschweren [...].

Aus dem so gegliederten Sprachmaterial können nun einzelne Elemente herausgegriffen und auf einen thematischen Gegenstand bezogen werden, z.B. auf die deutsche Sprache. Mit lexikalischem Material aus dem Keller B läßt sich über die Sprache aussagen, daß sie „eine angenehme / behagliche / holtselige / liebliche / nützliche" etc. sei, mit Material aus dem Keller C kann sie als „eine ausgefulte / ausführliche / beschwängerte / grosmühtige / gründliche / raumige / reiche" etc. beschrieben werden, Wörter aus dem Keller D ermöglichen die Attribute „daurhaft" oder „tiefeingewurzelt" etc. In einem letzten Schritt kommt es zum Verfassen des bereits zitierten Textes: Es ist unsere angeborne Deutsche Sprach eine von den fumemsten und grasten GnadenGaben GOttes (CB) / sie ist reich an Gute / reich an Milde (CB) / und ist also unumschrenket und raumig / daß ihre Grenzen unumschlossen (C) / und gleichwol ist bey ihr eine überflüssige Kurze (CC') und ein kuzer Überfluß (C'C); Je alter etwas ist /je idler ist es (D) [...].«

Kaum etwas verdeutlicht den mechanischen Umgang mit Sprache besser als dieses Verfahren Winkelmanns. 97 98

Winkelmann verwendet ein auf den Kopf gestelltes B. Vermittelt man den Schülern noch Grundkenntnisse in der Metrik, können sie sogar Gedichte verfassen. Zunächst, der Einfachheit halber, mit einsilbigen „Stammwörtern": „Die Jungfer die ist fromm / keusch / klug / gut / schon / und mild /| zart / reich / rein / weiß / frisch /jung / werth / lieb / ein Tugendbild."

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Sprache, Denken und Wirklichkeit

d) ordo-Denken bei Comenius Zum Abschluß dieses thematischen Komplexes seien die sprachbezogenen Arbeiten von Johann Comenius auf den orJo-Gedanken hin abgefragt. Das Werk nur weniger Autoren verdeutlicht den Umbruchcharakter der Zeit so eindringlich wie das des böhmischen Bruders. Sein pansophisch-religiöses Anliegen geht mit rational-universalistischen Inhalten und Methoden eine Synthese ein, die in der frühen Neuzeit ihresgleichen sucht; es sei nochmals D. Mahnkes treffende Rede von einer „säkularisierten Religiosität" bzw. einer „rationalisierten Mystik" in bezug auf Comenius angeführt.99 Comenius geht es mit seinem Wirken darum, „alle Menschen durch die wahre Weisheit zu erleuchten, sie durch eine rechtschaffene Staatsverfassung wieder in die rechte Ordnung zu bringen und sie durch die wahre Religion so mit Gott zu einen, daß niemand den Sinn seiner Sendung auf dieser Welt verfehlen kann"100. Auf dieser Überzeugung basiert der Bildungsgedanke: Da die Ursache aller Unordnung im Menschengeschlecht letztlich die falsche Erziehung der Kinder ist, kommt der Schule eine besondere Bedeutung bei der Vermittlung der Ordnungsprinzipien zu.101 Comenius' Schule soll für alle geöffnet sein, einem jeden, gleich welchen Standes, soll sie geistige und seelische Orientierung vermitteln, „ein jeglicher wird wissen, wohin er alle Wünsche und Taten des Lebens richten, innerhalb welcher Grenzen er bleiben und wie er seinen Platz behaupten muß"102. Dazu muß er unter anderem lernen, „was der Vnterscheid sey aller Dinge / vnd ein jedwedes mit seinem rechten (eigenen) Name bezeichnen"103 . Das zu können bedeutet, ein Ding mittels genus proximum und differentia specified exakt zu bestimmen. So sind z.B. die Erdfrüchte dadurch gekennzeichnet, daß sie „in Halmen auffwachsen / vnd ayrn tragen (entweder spitzigte oder stumpffigte): aber in den Komhülsen das Korn erhalten (hegen) mit den Ahrspitzen besichem / als: Der Reiß / die Spelte / [...] die Hirse / der Buchweitzen [...]"; die Hülsenfrüchte dagegen „sind in den Hülsen (Schale) vnd vnterschiedenen Fachlein eingewickelt / wie an der Bone / der Welsche Erbsen / der Kichern [...]"104. Dieses taxonomische, 99 Mahnke 1932, 66. 100 „Breviüs: ad Omnes homines verä Sapientiä collustrandum; verä Politiä in Ordinem redigendum; veräque Religione ita DEO uniendum, ut suae in Mundum missionis fine excidere possit nemo." Pampaedia, S. 15; dt. Text S. 17. 101 Informatorium Maternum, 282. 102 „Sciäntiqve omnes qvö omnibus Vitae actionibus & desideriis collimandum sit: per qvos cancellos incedendum: & qvomodo sua cuiqve static tuenda." Didaktik, IX, 8. 103 Janua linguarum reserata aurea, 1642, Ar. 104 Ebd.,A3v.

Der ordo-Gedanke

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letztlich in aristotelischer Tradition stehende Verfahren wird in einer konsequenter durchgeführten Form bei den Universalsprachentwürfen erneut begegnen. Das universalistische Anliegen des Comenius sowie sein Rückgriff auf Verfahrensweisen, wie sie in den Naturwissenschaften und der Mathematik üblich sind, tritt deutlich in den Forderungen zutage, daß „alles, was irgendwo ist, gewesen ist oder sein wird, in zahlenmäßige Ordnung komme" und daß „das symmetrische Verhältnis aller Dinge sowohl zur Gesamtheit wie gegenseitig zueinander"105 Ziel der wissenschaftlichen Bemühungen zu sein habe. An anderer Stelle führt Comenius vor, daß mit „Ding" nicht nur die Gegenstände und Sachverhalte der außersprachlichen und außermentalen Wirklichkeit gemeint sind. In einer schematischen Darstellung werden die Bereiche Wirklichkeit, Denken und Sprache in ihren Kongruenzverhältnissen gezeigt106:

105 „Aut [...] elaborandum puto, ut, quemadmodum Deus omnia in numero, mensura et pondere disposuit (Sap. 11, 21): ita nobis I. omnia, quae usquam sunt, erunt et fuerunt, sub numeros veniant, ne quidquam cognitionem effiigiat. II. Ut omnium commensurata proportio tarn ad Universum, quam ad se invicem pateat oculis nistris." Comenius fügt noch eine weitere Forderung nach der genauen Erkenntis der Wahrheit an. - Prodromus pansophiae, Par. 40. 106 Triertium catholicum, 1681, 2.

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Sprache, Denken und Wirklichkeit

Das Bewußtsein wird ganz im Sinne Scaligers als Spiegel der Dinge definiert, seine Äußerungsform ist die „cogitatio", das Bilden gedanklicher Einheiten, an anderen Stellen von Comenius als „notationes" bezeichnet. Die Sprache dient dem Ausdruck der „res" - hier in der Bedeutung Dentales Abbild der außersprachlichen Gegenstände' - in Gestalt der „sermo", und die einzelne Handlung („operatic") ist Manifestation eines allgemeinen, sich auf die Dinge in ihrer Gegenständlichkeit beziehenden Handlungsvermögens („manus"). Die Komponenten „cogitato", „sermo" und „operatic" verhalten sich zu den Komponenten „mens", „lingua" und „manus" wie die parole zur langue: Sie befinden sich, obgleich dem Menschen zugehörig, innerhalb des durch das Dreieck angezeigten Wirklichkeitsbereichs - im Gegensatz zum mentalen Bereich von „mens", „lingua" und „manus" -, dem auch die Gegenstände und Sachverhalte selbst angehören. Comenius' Erläuterung des Schemas zeigt, daß die Darstellung zusätzlich ein dynamisches Element enthält: „RES, Mentis speculo exceptae, dant COGITATIONEM; COGITATIO, extends sonis REM figurans dat SERMONEM; COGITATIO & sermo in OPUS transiens, iterum fit RES [...]". Die Gegenstände und Sachverhalte der Wirklichkeit werden wahrgenommen und vom Bewußtsein verarbeitet. Das Denken bringt mittels externer Laute die Rede hervor und zeigt damit die „res" an. Denken und Rede zusammen wirken wiederum, werden sie in den Bereich des Handelns übertragen, auf die Gegenstände und Sachverhalte der Wirklichkeit ein. Comenius illustriert dies, indem er die Analogien zwischen den Bereichen des Denkens, Sprechens und Handelns aufweist. So definiert er Logik als „ars bene cogitandi", Grammatik als „ars bene loquendi" und Pragmatik („pragmatica") als „ars bene operandi"107. Um jeden der Bereiche zur Anwendung zu bringen, muß je dreierlei gegeben sein; für das Denken: das Bewußtsein („subjectum cogitans"), der Gegenstand („objectum cogitationis") sowie ein Argument, das diesem Gegenstand zugeschrieben wird („argumentum"); für das Sprechen: ein Sprachwerkzeug („membrum loquens"), eine mentale Einheit („notio"), eine Artikulationseinheit („sonus articulatus", „voces"); für das Handeln: ein Handelndes („potens", „actuens"), etwas, worauf sich die Handlung beziehen kann („possibile"), ein äußeres Tun, das den Handlungsplan in die Tat umsetzt („fieri")108. In dieser Weise fährt Comenius fort, um schließlich sieben von ihm unterschiedenen „partes orationis" sieben Einheiten des Denkens bzw. des Handelns zuzuordnen. Die Ebenen der Sprache werden

107 Ebd., 20. 108 Ebd., 20f.

Der onfo-Gedanke

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teils formal, teils semantisch bestimmt, von den einzelnen Lauten über die Silben (komplexe Laute), die Wörter (Laute, die eine Sache bezeichnen), die Phraseologismen („phrases"), die Sentenzen (einfache bejahende oder verneinende Aussagen), zum Satz (sprachliche Einheit, die eine vollständige Bedeutung zum Ausdruck bringt, „plenu sensu") und schließlich zur Rede (aus Sätzen zusammengesetzt).109 In Analogie dazu sind die sieben Ebenen des Denkens und Handelns ebenfalls von einfachen zu komplexen Formen organisiert, im Bereich des Denkens etwa von der einfachen intuitiven Wahrnehmung, über die „notio", die „propositio" und andere Formen bis zum vollständigen „discursus". Einige Aspekte von Comenius' System muten ausgesprochen modern an. Die Differenzierung unterschiedlicher Ebenen für die Bereiche von sermo und lingua entspricht zumindest insofern der Dichotomic von parole und langue, als eine Ebene der Realisierung von einer des Systems unterschieden wird, wenn auch Comenius den Systembegriff nicht näher bestimmt. Interessant ist außerdem die Verknüpfung zwischen den Bereichen Denken, Sprechen und Handeln: Das Denken - das seine Impulse durch die Wahrnehmung der Wirklichkeit erhält - leitet das Sprechen, und Denken und Sprechen zusammen bewirken das Handeln, d.h. das Gestalten der Wirklichkeit. Um hier Ansätze zu einer Sprachhandlungstheorie zu erkennen, müßte man diese Textstellen allerdings sehr großzügig auslegen. Letztlich bleibt bei Comenius der Bereich der Sprache sehr deutlich von dem des Handelns getrennt; die „pragmatica" ist ganz eindeutig „ars bene operandi" und die „grammatica" ausschließlich „ars bene loquendi", auch wenn letztere Handlungen zu motivieren vermag. Die dadurch immerhin bestehenden Verbindungen zwischen den Bereichen des Sprechens und des Handelns sind bei Comenius wohl weniger auf sprachtheoretische Innovation denn auf seinen letztlich religiös motivierten Wunsch nach der Korrelierung unterschiedlicher Wirklichkeitsbereiche zurückzuführen. In dieser Hinsicht haben seine sehr detaillierten Ausführungen in »Triertium catholicum«, von denen hier nur ein kleiner Ausschnitt besprochen werden konnte, fast etwas Obsessives an sich. In jedem Fall aber ist Comenius' System ein beeindruckender Versuch, wesentliche Phänomene des Seins so zu strukturieren, daß zugrundeliegende Ordnungsprinzipien zutage treten. Wie die zuvor geschilderten Ansätze basieren seine Überlegungen auf der Annahme des Primats der Gegenstände gegenüber den Kategorien der Sprache. Daß es von diesem Axiom in der 109 Ebd., 25.

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Sprache, Denken und Wirklichkeit

frühen Neuzeit auch Ausnahmen gibt, sollen die folgenden Ausführungen zeigen.

5. Ansätze einer Theorie der sprachlichen Relativität Mehrfach wurde im bisherigen betont, daß die Annahme des Primats der Gegenstände vor den sie bezeichnenden sprachlichen Einheiten ein Grundsatz frühneuzeitlicher Sprachreflexion sei. In moderner Begrifflichkeit ließe sich eine solche sprachphilosophische Position als realistisch bezeichnen, und zwar im Sinne eines Abbildrealismus, der von der objektiven Gegebenheit der Wirklichkeit ausgeht, gleichzeitig von der Möglichkeit des Menschen, diese Wirklichkeit in ihrem objektiven Sein zu erkennen und in sprachliche Kategorien zu fassen.1 Der Terminus „Abbild" beschreibt dabei das Verhältnis zwischen dem Gegenstand oder Sachverhalt der objektiven Wirklichkeit einerseits und seinem mentalen Pendant andererseits, die sprachliche Einheit wiederum dient der Bezeichnung des einzelnen mentalen Abbildes. Nach dieser Auffassung ist das Denken entweder faktisch sprachfrei oder kann zumindest sprachfrei sein, in keinem Fall jedoch ist Wirklichkeit ausschließlich als sprachlich vermittelte gegeben. Von dieser Position bewegt man sich in dem Maße zur Gegenposition des sprachphilosophischen Idealismus, in dem man das mentale Abbild nicht als isomorphe Widerspiegelung einer objektiven Wirklichkeit, sondern als bedingt durch die kulturellen und sonstigen Interessen einer Sprachgemeinschaft betrachtet. Auch diese Prämisse ließe sich jedoch noch mit einem gemäßigten Realismus vereinbaren: Die Tatsache, daß unterschiedliche Sprachgemeinschaften bestimmte Bereiche der Wirklichkeit in unterschiedlicher lexikalischer Differenziertheit erfassen, wäre entsprechend realistischer Auffassung als Resultat der Verschiedenheit kultureller und anderer Interessen zu werten, würde allerdings nichts an der Annahme der Existenz einer universellen, objektiven und objektiv erkennbaren Wirklichkeit ändern. Der Umschlag in die idealistische Position geschieht erst dort, wo die Existenz einer objektiven Wirklichkeit, die jenseits der Ebene der sprachlich vermittelten Wirklichkeit gegeben ist, geleugnet wird bzw. wo zumindest geleugnet wird, daß eine solche objektive Wirklichkeit, sollte sie l

Dies bedeutet natürlich: eben nicht im Sinne des mittelalterlichen Realismus. - Zur Begrifflichkeit vgl. 0. Reichmann: Germanistische Lexikologie. 2. Aufl. Stuttgart 1976, 47ff. - Vgl. auch A. Schaff: Sprache und Erkenntnis. Wien, Frankfurt u. Zürich 1964.

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Sprache, Denken und Wirklichkeit

denn existieren, sozusagen an der Sprache vorbei erkennbar wäre. Nach dieser Auffassung würde Wirklichkeit dem einzelnen ausschließlich in den lexikalischen - möglicherweise auch in den grammatischen - Kategorien von Sprache zur Verfügung stehen. Als im engeren Sinne „idealistisch" wäre dabei diejenige Variante dieser Auffassung zu bezeichnen, in der nicht bestimmte tiefenstrukturelle, allen Sprachen gemeinsame Kategorien die Wirklichkeit vermitteln, sondern in der diese Vermittlung für eine jeweilige Einzelsprache spezifisch verläuft. Die Wirklichkeit ist danach nicht allgemein sprachlich, sondern ausschließlich in den lexikalischen Inhaltssystemen bzw. in den grammatischen Strukturen der unterschiedlichen Einzelsprachen verfugbar. Die Einzelsprache wird damit zur Größe, die dem menschlichen Bewußtsein die Kategorien erst bereitstellt, mittels derer ein Erfassen von Wirklichkeit überhaupt möglich ist, ein vorsprachliches Denken dagegen ist nicht möglich. Der junge Mensch, der in eine Sprachgemeinschaft hineingeboren wird, eignet sich die Gegenstände und Sachverhalte der ihn umgebenden Wirklichkeit in einer für die betreffende Einzelsprache spezifischen Kategorisierung an. Sein Bild von der Wirklichkeit wäre einzelsprachlich geprägt, das erkenntnistheoretische Apriori würde der Sprache, nicht einer übereinzelsprachlich gegebenen, objektiven und in dieser Objektivität erkennbaren Wirklichkeit zukommen. In der Historiographie der Sprachwissenschaft sowie in der Sprachphilosophie ist diese zuletzt genannte Auffassung als ,These vom sprachlichen Weltbild' bzw. der ,sprachlichen Relativität' bekannt. Im 20. Jahrhundert werden mit ihr die Namen von Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf, in Deutschland etwa von Leo Weisgerber oder Jost Trier verbunden; im Zentrum ihrer historischen Bestimmung steht stets die Person Wilhelm von Humboldts. Für Humboldt gibt es keinen präexistierenden ordo der Welt, der im nachhinein in sprachliche Kategorien gefaßt wird, sondern die Einzelsprachen schaffen einen jeweiligen ordo, vermitteln „eine eigentümliche Weltansicht"2, nicht jedoch auf irgendeine mystische Weise, sondern nach Maßgabe der „menschlichen Geisteskraft"3. Die historisch-kulturelle Gebundenheit dieser Geisteskraft hat zur Folge, daß die Wirklichkeit für jede Sprachgemeinschaft spezifisch konstituiert wird, d.h. die Sprecher konstituieren ihre Welt mittels der Sprache, in einem in steter Veränderung begriffenen Prozeß; Einzelsprache und „nationelle Geisteskraft" stehen im engsten 2 3

Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechtes (1836). In: Wilhelm von Humboldt: Schriften zur Sprache. Hrsg. v. M. Böhler. Stuttgart 1973, 30-207; 53. Ebd., 31, passim.

Ansätze einer Theorie der sprachlichen Relativität

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wechselseitigen Verhältnis zueinander.4 Als „gleichsam [...] äußerliche Erscheinung des Geistes der Völker"5 ist die Sprache damit für Humboldt eine Art Behältnis - Herder verwendet die Bezeichnung „Vorratshaus" von Inhalten und Kategorisierungsweisen, wie sie für eine Sprachgemeinschaft charakteristisch sind. Das Denken verläuft nicht vorsprachlich, sondern ist im Gegenteil „an die Notwendigkeit geknüpft, eine Verbindung mit dem Sprachlaute einzugehen; das Denken kann sonst nicht zur Deutlichkeit gelangen, die Vorstellung nicht zum Begriff werden"6. So sind nach dieser Auffassung also die Wörter nicht im nachhinein vergebene, nur äußerliche Bezeichnungen bereits existierender, objektiv erfaßbarer Gegebenheiten und spiegeln in ihren Bedeutungen auch nicht die objektive Substanz dieser Gegebenheiten, sondern sie spiegeln vielmehr den kategorisierenden Zugriff und damit das Erkenntnisinteresse der einzelnen Sprachgemeinschaft. Damit funktionieren sie nicht objektiv-referentiell, sondern zunächst nur innersprachlich; wird ein Stein als ,hart' bezeichnet, dann spiegelt dies nicht bzw. nicht notwendigerweise einen objektiven Sachverhalt, sondern zunächst nur das Interesse der Sprachgemeinschaft, im Sprachsystem die Bedeutung von „Stein" von der Bedeutung z.B. von „Holz" abzuheben.7 In der Forschung war es lange üblich, die Auffassung von der sprachlichen Relativität mit Humboldt beginnen zu lassen.8 Seit Mitte der sechziger Jahre wird dagegen in einer Reihe von Publikationen der Ursprung dieser These zumindest in das 18., aber auch in das 17. Jahrhundert zurückver4

5 6 7

8

Ebd. - Vgl. auch: „Die Geisteseigentümlichkeit und die Sprachgestaltung eines Volkes stehen in solcher Innigkeit der Verschmelzung ineinander, daß, wenn die eine gegeben wäre, die andre müßte vollständig aus ihr abgeleitet werden können." Ebd., 32. Ebd., 33. Ebd., 45. Das Beispiel nach Seppänen 1985, 31£, der Humboldts Sprachauffassung von der mittelalterlich-realistischen abhebt: Bei Humboldt „kann nichts vorher Bestehendes mehr entdeckt und nomenklatonsch benannt werden, denn für Humboldt sind weder die Genese noch die synchrone Funktion der Bedeutungen durch die Dinge bestimmt. Die Bedeutungen sind für ihn keine aus den Dingen abgezogenen Bilder, sie entstehen überhaupt nicht durch Verwandlung von irgend etwas Bestehendem, wie die aristotelisch-thomistische Lehre des kreatürlichen Werdens voraussetzen würde, sondern umgekehrt ex nihilo, wie die Formen der Kunst oder - gewissermaßen - wie die Werke Gottes [...]. Und die Bedeutungen funktionieren auch nicht durch Widerspiegelung der Dingeigenschaften, sondern nur ,strukturell', d.h. dingunabhängig und innersprachlich [...]." Vgl. H. H. Christmann: „Welches sind die Ursprünge der Weltbildthese? Was die europäische Tradition angeht, so ist bekannt, daß sie auf Wilhelm von Humboldt basiert [...]." Aus: Beiträge zur Geschichte der These vom Weltbild der Sprache. Mainz 1967 [Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse, Nr. 7], 441-469, 444.

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Sprache, Denken und Wirklichkeit

legt. Letzteres scheint sich als Konsens durchgesetzt zu haben9 - allerdings ein, wie zu zeigen sein wird, letztlich nicht haltbarer Konsens. Wo eine solche historische Zuordnung getroffen wird, werden Bacon und Locke10 sowie Leibniz11 oder auch französische Denker in cartesianischer Tradition12 - erstaunlicherweise aber nicht Comenius - als diejenigen genannt, bei denen die Relativitäts-Auffassung erstmals formuliert werde. Demgegenüber sei hier behauptet, daß sich eine Theorie der sprachlichen Relativität in der bei Humboldt gegebenen konsequenten Form im 17. Jahrhundert nicht nachweisen läßt, wenngleich Tendenzen in Richtung einer solchen Theorie unübersehbar sind. Diese Tendenzen beschränken sich aber nicht auf Bacon, Locke oder Leibniz, sondern treten in drei sprachreflexiven Argumentationszusammenhängen auf: in der Sprachmystik, in der ontologisierend-patriotischen sowie in der rational-universalistischen Sprachreflexion. Daß das Weltbild-Konzept für die vorliegende Untersuchung von zentraler Bedeutung ist, steht außer Frage, da in dem Maße, in dem dieses 9

Vgl. dazu: Christmann 1985; P. Tort: Dialectique des eignes chez Condillac. In: H. Parret (Hrsg.): History of Linguistic Thought and Contemporary Linguistics. Berlin u. New York 1976; G. Haßler: Zu einigen Aspekten der Diskussion von Zeichenproblematik und Sprachabhängigkeit des Denkens im 18. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung, 36, 1983, 516ff; dies.: Sprachtheorien der Aufklärung. Zur Rolle der Sprache im Erkenntnisprozeß. Berlin 1984; dies.: Der semantische Wertbegriff in Sprachtheorien vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Berlin 1991; dies.: Sprachphilosophie in der Aufklärung. In: Dascal/Gerhardus/Lorenz/Meggle 1992, 116-144; U. Ricken: Zur Stellung der Sprache in Lockes ,Essay concerning human understanding'. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, 33, 1984, 3, 31-39; ders.: Probleme des Zeichens und der Kommunikation in der Wissenschafts- und Ideologiegeschichte der Aufklärung. Berlin 1985; ders., in Zusammenarbeit mit P. Bergheaud, L. Formigiari, G. Haßler, B. A. OPchovikov u. J. V. Rozdestvenskij: Sprachtheorie und Weltanschauung in der europäischen Aufklärung. Zur Geschichte der Sprachtheorien des 18. Jahrhunderts und ihrer europäischen Rezeption nach der Französischen Revolution. Berlin 1990; H. Schmidt: Die lebendige Sprache. Zur Entstehung des Organismuskonzepts. Berlin 1986; W. Wildgen: Dynamische Sprach- und Weltauffassungen (in ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart). Bremen 1985. - Eine Überblicksdarstellung liefert I. Werten: Sprache, Mensch und Welt. Geschichte und Bedeutung des Prinzips der sprachlichen Relativität. Darmstadt 1989. 10 Karl-Heinz Weimann: Vorstufen der Sprachphilosophie Humboldts bei Bacon und Locke. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie, 84, 1965, 498-508. - 1966 begegnet die gleiche Behauptung in T. de Mauros »Introduzione alia semantica«. Auch Werten 1989 stellt die Engländer und Leibniz an den Anfang. Ähnlich argumentiert Hans Aarsleff: The Eighteenth Century, Including Leibniz. In: Sebeok 1975, 383-479. 11 G. Heintz: Point de Vue. Leibniz und die These vom Weltbild der Sprache. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, 98, 1969, 216-240. - Vgl. dazu auch die Kritik in Aarsleff 1975, 396f. 12 Hierzu insbes. die Arbeiten von Ricken und von Haßler (s. Anm. 9).

Ansätze einer Theorie der sprachlichen Relativität

231

Konzept im 17. und frühen 18. Jahrhundert präsent ist, die These vom Primat der Gegenstände vor den Wörtern eingeschränkt wird. Bei der Sprachmystik ist dieser Sachverhalt auf den ersten Blick am offensichtlichsten, weil ihr die Annahme des „am Anfang" stehenden Wortes Voraussetzung für das gesamte Gedankengebäude ist. Da alle Dinge durch das Wort ins Sein gesetzt wurden, ist die Abfolge Gegenstand - Wort aufgehoben. Uneingeschränkt gilt dies aber nur - und damit würde die Sprachmystik in gewisser Weise wieder aus der sich nur auf die menschliche Sprache beziehenden Relativitäts-Diskussion herausfallen - für den göttlichen logos, nur das göttliche ßat kann Dinge ins Werk setzen. Der Mensch vermag dies im Einklang mit der Orthodoxie nur als Stellvertreter Gottes, d.h. als ein Sakramente spendender Priester. Wer eine solche Fähigkeit dem Menschen aber außerhalb dieses Bereichs zuspricht, macht sich der Magie verdächtig, und die Biographien einzelner Gelehrter der frühen Neuzeit zeugen von einschlägigen Erfahrungen.13 Selbst wer nur Adam die Fähigkeit des „Wortens" zugesteht, wie dies Franciscus Mercurius van Hellmont tut, muß seine Überzeugung mit größter Vorsicht formulieren. Abgesehen von der grundsätzlichen Annahme des Primats des Schöpferwortes gibt es jedoch vereinzelte Hinweise auf eine relativistische Position bei Jakob Böhme. Gott habe die Sprachen „nach iedes Landes Eigenschaft formiret", schreibt er in »Mysterium Magnum«14: „Dann weil sich die Volcker in alle Lande zerstreuen sollen, so hatte Er iedem Volck eine Sprache eröffnet, wie es in einem Lande wohnen würde [...]". Und: Wie die Offenbarung des geformten Wortes in dem Geiste der Welt an iedem Orte war, also formete Ihme auch der Geist GOttes durch die Natur der Eigenschaften die Sprachen in iedes Land [...]. [Die Sprachen] verdrehen sich fast alle 5 oder 6 Meilen, alles nach den Eigenschaften desselben Poli oder Hohe; was für eine Eigenschaft die Luft hat in ihrem inherrschenden Gestirne, eine solche Eigenschaft hat auch das gemeine Volck in der Sprache.

Bemerkungen dieser Art sind jedoch isoliert, nehmen keinen spezifischen Platz in Böhmes System ein und tragen damit auch nicht zu dessen Konstituierung bei. Hinzu kommt, daß Böhme es bei der Feststellung beläßt, die Einzelsprachen seien von Gott den natürlichen Gegebenheiten und der ,Natur' der Sprecher angepaßt. An keiner Stelle deutet er an, daß eine jeweilige Einzelsprache Wahrnehmung und Denken ihrer Sprecher zu prägen vermag bzw. daß die Wirklichkeit nur als einzelsprachlich gegebene verfügbar ist.

13 14

Vgl. die Ausführungen in Teil I, Kap. 2.3. 36,72ff.

232

Sprache, Denken und Wirklichkeit

Wo Böhme natürlichen Sprachen besondere Qualitäten zuspricht, geschieht dies mit Hinblick auf die Tatsache, daß sie Muttersprachen sind und als solche an der Natursprache teilhaben, nicht aber weil und insofern sie Einzelsprachen sind. Eine etwas andere Situation ist in der ontologisierend-patriotischen Sprachreflexion gegeben. Hier finden sich zahlreiche Äußerungen, welche die erkenntnisrelevante Abfolge Gegenstand - (Vorstellung) - Bezeichnung zumindest ansatzweise aufzuheben scheinen. Recht bald jedoch werden Widersprüche in der Argumentation deutlich, und eine allgemeine Tendenz der Diskussion ist nur mit Vorsicht zu erschließen. So schreibt Harsdörffer in der Vorrede zum ersten Teil des »Poetischen Trichters«, daß man als Deutscher „den Verstand in seiner Muttersprache [ausschärfen]"15 könne, behauptet aber wenige Seiten darauf, daß „deß Menschen Verstand nicht an eine gewisse Sprache gebunden"16 sei, eine in den zeitgenössischen Texten oft wiederkehrende Feststellung. Beide Äußerungen werden in ihrem Gewicht relativiert, betrachtet man sie unter dem Gesichtspunkt des Bedürfnisses nach Aufwertung des Deutschen gegenüber den antiken und westeuropäischen Sprachen: In beiden Fällen erklärt sich die Verbindung von Verstand und deutscher Sprache vornehmlich aus diesem Bedürfnis heraus, in Zurückweisung der von den europäischen Nachbarn gelegentlich zu hörenden Kritik, die Deutschen seien „grobe, brummende Leute"17, und ihre Sprache erlaube keinen Ausdruck von intellektuell Anspruchsvollem, ein angesichts der lexikalischen Lücken in den Fachsprachen nicht leicht von der Hand zu weisender Einwand. So begegnet die zweite der zitierten Feststellungen häufig in diesem Kontext: „Es ist [...] die Vernunft an keine gewisse Sprache gebunden: alle Zungen können verständige Gedanken ausreden / und were vielen zu nahe gesagt / daß man nur in Latein / Griechisch oder Hebräisch weiß / in Teutsch aber närrisch sein solte"18. Angesichts des verbreiteten Sprachpatriotismus dürfen solche Textstellen sprachtheoretisch nicht überbewertet werden. Auch eine Bemerkung wie die Zesens, wonach „die Vernunft ohne die Rede nicht sein kan"19, hebt nur auf den ersten Blick auf eine Identifizierung von Denken und Sprache ab. Tatsächlich meint Zesen, daß sich das Denken ohne Sprache nicht entäußern könne, denn an anderer Stelle wird deutlich, daß er es sehr wohl als vor15 16 17 18 19

Punkt 12. S. 17. Schottelius: Ausführliche Arbeit, Praefatio. Hille: Palmbaum, 136. S. 97.

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sprachlich einstuft: „Dan was die Vernunft ersinnet / das mus die rede aussprechen"20. Diese letztgenannte Auffassung von der Vorsprachlichkeit des Denkens erweist sich schließlich innerhalb der ontologisierenden Sprachreflexion als die im ganzen dominierende. Dennoch, und im Widerspruch zu ihr, finden sich Andeutungen in Richtung einer relativistischen Position, und zwar im Zusammenhang mit der Kritik an der Sprachverderbnis durch das Alamodewesen. Die Klage, daß durch den Niedergang der deutschen Sprache „Teutscher Geist und Teutsches Hertze [...] zerstukkt"21, daß „der Teutsche Geist entfremdet / die rechte Art / verunartet"22 werden, daß das bloße Wort „Kompliment" schon eine das deutsche Wesen negativ beeinflussende „krafft"23 besitze - solche Klagen implizieren die Annahme, daß die Sprache nicht nur technisches Instrument ist, sondern durchaus bewußtseinsbildend wirken kann. Bewegt man sich nun von der Kritik zur positiven Darstellung dieses Sachverhalts, dann wird dieser Aspekt noch deutlicher. Schon Opitz schreibt im »Aristarch«, das Deutsche atme den Geist des deutschen Vaterlandes („patriam suam spirantem linguam"24), Harsdörffer hält es für offensichtlich, „daß die Ehre und Lehre eines jeden Volcks in seiner eignen Landsprache enthalten ist"25, und Christof Arnold führt im »Kunst= Spiegel« sehr unmißverständlich aus: Betrachtet doch nur mit Wunderanschauung Berg und Thal / Felsen / Flusse [...] / dabei Bemerkende: Wie die ffirsichtige Natur jedes Land mit einer unvergänglichen Marckung umgräntzet; als mit einer Schnur jedes Volk besondert / und alle Mundarten ihren Eigenschafften nach unterschieden; damit sich gleiche Gesponschafft zusammen garten / und leutseelig einander besprechen konte.26

Am deutlichsten wird dieser Aspekt jedoch bei Schottelius. Schon in der »praefatio« zur »Ausführlichen Arbeit« deutet er sich an: Daß nun auch der Jugend die grundliche Kundigkeit und Ausübung unserer Teutschen Sprache hochnotig und rühmlich / ja zu Anleitung vieles Gutes und Erwekkung munterer Gedanken eine Uhrsach und Mittel sey / ist daher zuschliessen / weil Kirchen und Schulen / Recht und Gerechtigkeit / Krieg und Friede / Handel und Wandel / Tuhn und lassen bey uns erhalten / gefuhret und fbrtgepflantzet wird durch unsere Teutsche Sprache [...].

20 21 22 23 24 25 26

Ebd. Neumark: Palmbaum, 23. Hille: Palmbaum, 3. Schorer: Sprachverderber, 3, 6 u. 11. S. 57. Secretarius, I, 3. S. If.

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Sprache, Denken und Wirklichkeit

Hier wird die positive Wirkung der deutschen Sprache auf die Jugend explizit angesprochen: Die Beherrschung des Deutschen veranlaßt „zu Anleitung vieles Gutes und Erwekkung munterer Gedanken". In der ersten Lobrede greift Schottelius die Thematik erneut auf: Die „unbeweglichen HaubtGründe unserer Sprache [...] befehlen uns also die Worter zubilden / und die Dinge auszudrukken"27 - die Sprache wirkt auf das Bewußtsein der Sprecher ein, die aufgrund ihrer Veranlagung, ihres Deutschen Wesens', der Sprache entgegenkommen können, denn „ein Teutsches Gemüt [ist] also genaturet / daß es solche teutsche Worter leichtlich vernehmen / und Kraft derer / die vielerley Verenderungen des irdischen Wesens in seine Bildung gar vernemlich bringen kan"28. Sprache und Sprecher stehen in einer symbiotischen Beziehung: Die Prinzipien des deutschen Sprachwesens „befehlen" den Sprechern, das Wesen dieser Sprecher ist zu ihrer Sprache hin „genaturet". Am prägnantesten in dieser Hinsicht ist diese Stelle aus dem Grammatikkrieg: In den deutschen Wörtern „wohnet gleichsam Treu und Aufrichtigkeit"29, Qualitäten, die ihnen von alters her zukommen und sich aus ihrer germanischen bis biblischen Vergangenheit erklären. Mit ihnen wirken sie auf die Sprecher ein, denen „durch den tapferen Thon" dieser Wörter „die Lust zur Tugend / und Absinn zur Untugend [...] einwechset". Und weiter: Durch den „Wollaut", durch den „ehrlichen Zuspruch und Einfalt" der deutschen Wörter, durch ihren „kurtzen Klang / Nachtruck und Natur" werden die Deutschen „zur Ehrlichkeit / Aufrichtigkeit und wolklingender Einigkeit aufgemuntert und immer erinnert werden". In dem Maße schließlich, in dem die deutsche Sprache erhalten und der Nachwelt überliefert - in Schottelius' Terminologie: „verstammet / vererbet / fortgeleitet / eingeliebet und eingeleibet" - werden kann, werden das ,,Teutsch[e] Gemüht", das „Vertrauen", die „Einigkeit" und „Wolfahrt" gesichert. Das Prinzip ist unkompliziert und wird von Schottelius so auf den Punkt gebracht: „Dan / werden wir diese ehrliche fromme Teutsche Sprache unverfälscht auf unsere Teutsche Nachwelt fortpflantzen / so wird auch solche Teutsche Nachwelt ehrlich und fromm verbleiben [...]". Die deutsche Sprache ist mit positiven Werten sozusagen angereichert und vermag diese 27 28 29

Ausführliche Arbeit, 13. Ebd. Hier und im folgenden: S. 6f. - Der »Bellum Grammaticale« ist zwar ein Text, der aufgrund seines sprachdidaktischen Anliegens - mittels der Geschichte eines Krieges zwischen den Wortarten grammatische Informationen zu vermitteln - Passagen enthält, die nicht wörtlich verstanden werden dürfen, doch gilt dies noch nicht für den Textteil, dem die Zitate entnommen sind. Dieser Teil entspricht durchaus dem, was Schottelius auch in der »Ausfuhrlichen Arbeit« schreibt.

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Werte nun an ihre Sprecher abzugeben, die wiederum als ehrliche und aufrechte Deutsche in der Welt wirken; die Reihenfolge Gegenstand - (Vorstellung) - Bezeichnung ist in ihr Gegenteil verkehrt. In Äußerungen wie den zitierten zeigen sich insofern Anklänge zu einer Auffassung sprachlicher Relativität, als die sprachlichen Einheiten nicht mehr nur passive Bezeichnungen für ihnen vorgängige Sachverhalte der Wirklichkeit bzw. Vorstellungen sind. Diese Auffassung ergibt sich jedoch unmittelbar aus dem Anliegen des Sprachpatriotismus und ist kein Anzeichen für einen grundlegenden sprachphilosophischen Positionswandel, d.h. für eine Aufhebung des Gegenstandsprimats. Zu einschlägigen Stellungnahmen Humboldts - um dessen Arbeiten sozusagen als Maßstab für die These der sprachlichen Relativität heranzuziehen - besteht zwar eine Parallele darin, daß die Einzelsprache einen gewissen bewußtseinsbildenden Einfluß auf ihre Sprecher haben kann, doch geschieht dies bei Schottelius in einer ahistorischen, fast mystischen Weise. Das bei Humboldt zentrale kultur/z/storische Moment ist völlig ausgeblendet und würde auch dem Anliegen der ontologisierend-patriotischen Sprachreflexion widersprechen: Für Humboldt ist die Aneignung von Wirklichkeit durch Sprache ein steter Prozeß, die Sprache ist dem Menschen gerade nicht als Absolutum vorgegeben, ist eben nicht „Ergon", sondern „Energeia"30. Genau entgegengesetzt wird dieser Punkt von Schottelius und ihm gleichgesinnten Gelehrten bewertet: In einer Zeit steten Wandels kommt der Sprache eine Orientierungsfunktion zu, die sie nur erfüllen kann, wenn sie selbst diesem Wandel nicht ausgesetzt ist. Die Annahme, dem Deutschen seien bestimmte Qualitäten inhärent, ist bei Schottelius und anderen geradezu Resultat der Postulierung des letztlich durch nichts relativierbaren, absoluten Gegebenseins der Wirklichkeit sowie des ,Wesens' der Deutschen und ihrer Sprache. Von einer je nach Sprachgemeinschaft historisch-kulturell bedingten Kategorisierung der Wirklichkeit durch Sprache kann in der ontologisierend-patriotischen Sprachreflexion nicht die Rede sein. Eben dieser Aspekt wird von rational-universalistisch argumentierenden Gelehrten anders beurteilt. Für das empiristische Denken der frühen Neuzeit belegen dies eindringlich die Werke Francis Bacons und John Lockes. Sie seien Gegenstand der folgenden Ausführungen. Bacon formuliert zunächst eine scharfe Kritik am aristotelischen, in der scholastischen Philosophie noch so virtuos gehandhabten Verfahren des 30

Humboldt: Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 36.

236

Sprache, Denken und Wirklichkeit

deduzierenden, von allgemeinen Begriffen ausgehenden Denkens. Aristoteles, so schreibt er im »Novum Organum«, habe Erfahrungswerte erst einbezogen, nachdem er seine Schlüsse formuliert habe, um dann die Erfahrungswerte im nachhinein im Sinne dieser Schlüsse zu interpretieren.31 Diese kritische Haltung verbindet sich mit einem grundsätzlichen Mißtrauen gegenüber den Wörtern, welche das Verstehen geradezu behindern, Verwirrung stiften und die Menschen in „inanes [...] contraversias et commenta", in verstiegene Dispute und Hirngespinste führen können.32 Eine solche Kritik an der Sprache geht offensichtlich nicht von der Annahme einer a priori gegebenen Isomorphie von Sprach- und Wirklichkeitsstruktur aus, im Gegenteil: Das Gegebensein einer bestimmten sprach31

32

Aphorismus 63: „Ille enim prius decreverat, neque experientiam ad constituenda decreta et axiomata rite consuluit; sed postquam pro arbitrio suo decrevisset, experientiam ad sua placita tortam circumducit et captivam [...]." - In diesem Sinne auch Bacons Kritik an den scholastischen Philosophen: „ [...] their wits being shut up in the cells of a few authors (chiefly Aristotle their dictator) as their persons were shut up in the cells of monasteries and colleges". In: The Twoo Bookes of the Proficience and Advancement of Learning Divine and Humane, 1605, 285. - Zur englischen Sprachtheorie der Zeit vgl.: G. A. Padley: Grammatical Theory in Western Europe 1500-1700. Trends in Vernacular Grammar. 2 Bde. Cambridge etc. 1985 u. 1988, insbes. Bd. l, 325flf.; V. Salmon: The works of Francis Lodwick: A study of his writings in the intellectual context of the seventeenth century. London 1972; dies. (Hrsg.): The study of language in seventeenth century England. Amsterdam 1979; J. Knowlson: Universal language schemes in England and France 1600-1800. Toronto 1975; M. Slaughter: Universal languages and scientific taxonomy in the seventeenth century. Cambridge 1982; L. Formigari: Language and Experience in 17th-Century British Philosophy. Amsterdam u. Philadelphia 1988; dies.: The empiricist tradition in the philosophy of language. In: Dascal/Gerhardus/Lorenz/Meggle 1992, 175-184. Speziell zu John Locke seien außer den Arbeiten von Aarsleff, Formigiari, Ricken, Weimann und anderen noch die prägnante Zusammenfassung seiner zentralen Thesen von G. Streminger erwähnt: John Locke (1632-1704). In: Dascal/Gerhardus/Lorenz/ Meggle 1992, 308-320. Die Textstelle (Aphorismus 43) lautet vollständig: „Itaque mala et inepta verborum impositio miris modis intellectum obsidet. Neque definitiones aut explicationes, quibus homines docti se munire et vmdicare in nonnullis consueverunt, rem ullo modo restituunt. Sed verba plane vim faciunt intellectui, et omnia turbant; et homines ad inanes et innumeras controversias et commenta deducunt." - „Deshalb behindert die schlechte und unangemessene Verwendung von Wörtern in erstaunlicher Weise das Verstehen. Und auch die Definitionen und Erläuterungen, durch die sich Gelehrte häufig abzusichern und zu schützen pflegen, tragen nicht dazu bei, die Angelegenheit richtigzustellen. Denn die Wörter tun dem Verstehen ganz offensichtlich Gewalt an, verwirren alles und verleiten die Menschen zu unzähligen verstiegenen Disputen und Hirngespinsten." - Auch Seth Ward, Mathematiker und Astronom in Oxford, spricht von den Wörtern als „obstacles" fur das klare Denken. Um der Verwirrung zu begegnen, welche durch Wörter geschaffen werde, seien mathematische Symbole entwickelt worden, „a designe perfectly intended against Language and its servant Grammar". In: Vindiciae academiarum. Oxford 1654, 20 u. 19.

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237

liehen Einheit, eines einzelnen Wortes etwa, oder einer grammatischen Kategorie, z.B. einer Wortart, erlaubt noch keinen Schluß auf die tatsächliche Existenz eines im lexikalischen Inhalt des Wortes angezeigten Gegenstandes der Wirklichkeit bzw. auf die tatsächliche Existenz eines bestimmten Wirklichkeitsbereichs, dem eine Kategorie wie z.B. ,Verb' inhaltlich entspräche.33 Die zitierte Stelle zeigt zugleich, daß Bacon es nicht bei der bloßen Feststellung einer mangelnden Deckung zwischen Sprache und Wirklichkeit beläßt. Einmal fest im Wortschatz einer Sprache etabliert, vermögen die Wörter auf das menschliche Bewußtsein bzw. auf die Fähigkeit des Verstehens einzuwirken („verba [...] super intellectum retorqueant et reflectant"34), so daß im Grunde nicht die Rede davon sein kann, daß die Menschen ihre eigene Sprache mit den Mitteln des Verstandes kontrollieren können („Credunt enim homines rationem suam verbis imperare; sed [...]") Die Wörter geben gar eine bestimmte Segmentierung der Wirklichkeit vor Bacon schreibt wörtlich: „Verba [...] res secant" -, und wenn sich diese sprachliche Segmentierung aufgrund neuer Erkenntnisse über die Wirklichkeit als nicht deckungsgleich mit den tatsächlichen Gegebenheiten der Wirklichkeit erweist und nun von Sprechern versucht wird, die bisherige sprachliche Wirklichkeitssegmentierung den neuen Erkenntnissen anzupassen, dann stehen dem die Wörter im Wege („verba obstrepunt"). Das vergleichende Studium des Wortschatzes unterschiedlicher Einzelsprachen vermittelt Erkenntnisse über intellektuelle Eigenschaften und Gebräuche der betreffenden Völker und Nationen („de ingeniis et moribus populorum et nationum"35). Aus der Tatsache etwa, daß „in compositionibus verborum" die Griechen sehr frei verfuhren, die Römer dagegen weniger, lasse sich schließen, daß erstere eher den Künsten (artes) zuneigten, letztere den Geschäften, da zur sprachlichen Differenzierung innerhalb der Künste Komposita notwendiger seien als zum Betreiben der Geschäfte. Und angesichts der stärkeren Präsenz bestimmter grammatischer Kategorien in den antiken Sprachen im Vergleich zu modernen Sprachen - „declinationum, casuum, conjugationum, temporum" - sei gar der Schluß erlaubt, daß der Verstand der Sprecher jener Sprachen schärfer und zu differenzierterer Leistung fähig war als der unsere („ingenia [...] acutiora et subtiliora"). 33

34 35

Letzteres ist natürlich nicht bei einer morphosyntaktischen, sondern nur bei einer semantischen Bestimmung von Wortarten möglich. Einer sprachlichen Kategorie „verbum" würde dann in der Wirklichkeit z.B. der ,offensichtlich existierende' Sachverhalt der zeitlichen Erstreckung von Ereignissen, Handlungen etc. entsprechen. Aphorismus 59, ebenso die folgenden Zitate. Dieses und die folgenden Zitate aus: De Augmentis Scientiarum, Buch 6. In: Bacon 1963, Bd. 3, 654f.

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Sprache, Denken und Wirklichkeit

Die Äußerungen Bacons scheinen die Auffassung vom frühen Auftreten der Weltbild-These zu bestätigen, und sie gewinnen an zusätzlichem Gewicht durch die Präsenz ähnlicher Gedanken in einem der bedeutendsten sprachphilosophischen Texte der Zeit, dem dritten Buch von John Lockes »An Essay Concerning Human Understanding« von 1690 (- freilich begegnen Überlegungen Bacons auch bei Thomas Hobbes, dessen »Leviathan« bereits zwanzig Jahre vor Lockes »Essay« erschien. Hier jedoch sei lediglich Lockes Schrift berücksichtigt, da sie den unmittelbaren Bezugspunkt für die »Nouveaux essais« von Leibniz darstellt). Lockes sprachtheoretischer Ausgangspunkt ist allgemein bekannt: „[...] Words, as they are used by Men, can properly and immediately signify nothing but the Ideas, that are in the Mind of the Speaker [...]" (Ill, II, 4).36 Damit ist gleichzeitig gesagt, daß die Wörter nicht ,for the reality of Things" (III, II, 5) stehen. Die Benennung der Dinge geschieht nämlich nicht nach ihren „real Essences", sondern nach ihren „obvious appearances" (III, VI, 25), so daß sich die nominalistische Folgerung ergibt: „[...] we sort and name Substances by their nominal, and not by their real Essences [...]" (Ill, VI, 26), wobei „nominal" „made by the Mind, and not by Nature" (ebd.) bedeutet. Der Mensch faßt die Gegenstände der Wirklichkeit nach seinen eigenen Interessen in Sprache, zumindest „with some liberty" (III, VI, 27), gelegentlich auch „very arbitrarily" (III, V, 3), und eben deshalb entsprechen die von ihm festgestellten und mit Namen belegten „essences" nur selten der tatsächlichen Natur der Dinge (III, VI, 37). Umgekehrt spiegeln diese Namen natürlich seinen kategorisierenden Zugriff auf die Wirklichkeit, und Locke gibt zahlreiche Beispiele für dieses Auseinanderklaffen zwischen der sprachlichen Kategorisierung und den tatsächlichen Gegebenheiten: If I should ask any one, whether Ice and Water were two distinct Species of Things, I doubt not but I should be answered in the affirmative: And it cannot be denied, but he that says they are two distinct Species, is in the right. But if an English-man, bred in Jamaica, who, perhaps, had never seen nor heard of Ice, coming into England in the Winter, find, the Water he put in his Bason at night, in a great part frozen in the morning; and not knowing any peculiar name it had, should call it harden'd Water; I ask, Whether this would be a new Species to him, different from Water? And, I think, it would be answered here, It would not to him be a new Species [...]. And if this be so, 'tis plain, that our distinct Species, are nothing but distinct complex Ideas, with distinct names annexed to them. (Ill, VI, 13)

36

Zitiert wird nach der Ausgabe von P. Nidditch, Oxford 1975.

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In einem anderen Beispiel schreibt Locke über die abstrakte Vorstellung, die wir mit dem Wort „Man" bezeichnen. Wäre diese Vorstellung von der Natur vorgegeben, müßte jeder Mensch die gleiche Vorstellung mit dem Namen verbinden, und es dürfte nicht vorkommen, daß „Man" einmal als Animal rationale", ein andermal als Animal implwne bipes latis unguibus" gesehen wird. Beiden Vorstellungen liegen offensichtlich unterschiedliche Essenzen zugrunde, mit entsprechenden Konsequenzen: „By which means, the same individual will be a true Man to the one, which is not so to the other" (III, VI, 26). Was sich in diesem Argument zeigt, ist die Annahme, daß die vom Menschen unterschiedenen Spezies der Wirklichkeit tatsächlich in einem Konrinuum stehen und nicht etwa durch eindeutig verlaufende faktische Trennungslinien voneinander abgehoben sind, zumindest nicht - bzw. nicht notwendigerweise - durch diejenigen Trennungslinien, die durch unsere sprachlichen Kategorisierungen suggeriert werden. Im Zusammenhang mit der Kategorie „Man" wird dies, so Locke in Fortführung des zitierten Beispiels, u.a. an den Diskussionen deutlich, die sich bei der Geburt eines Kindes ergeben, dessen Körper verunstaltet ist. Dann muß entschieden werden, ob das Neugeborene überhaupt als Mensch einzustufen ist, was wiederum die Voraussetzung für die Taufe wäre. Locke führt den Fall eines französischen Abtes an, der aufgrund seiner körperlichen Verunstaltungen beinahe nicht getauft worden wäre, weil nicht klar war, ob man ihn überhaupt der Spezies Mensch zurechnen solle. Dieser Abt, so Locke, erwies sich im Leben als durchaus mit „reason" ausgestattet, während andere, obgleich von akzeptablem Äußeren, im Laufe ihres Lebens nicht mehr Vernunft an den Tag legten als ein Affe oder ein Elefant. Die Willkürlichkeit der menschlichen Kategorisierungen und anschließenden Benennungen sei somit offensichtlich. Auf die „real essences" der Dinge, so läßt sich Lockes Position resümieren, kann aus den Bezeichnungen durch den Menschen nicht eindeutig geschlossen werden. Was sich dem Betrachter aufgrund von Beobachtungen überhaupt erschließen kann, stehe zur Natur der Dinge im gleichen Verhältnis wie die sich bewegenden Figuren der berühmten Straßburger Uhr zu ihrem inneren Mechanismus. Welche „real essence" ist es, so fragt Locke, die bewirkt, daß sich Blei und Antimon mit einem anderen Stoff verschmelzen lassen, Holz und Stein aber nicht? Welche „real essence" läßt Blei und Eisen formbar sein, Antimon und Steine aber nicht? Ein Blinder könne ebensogut versuchen, Gegenstände nach ihrer Farbe zu sortieren, wie er versuchen könne, diese Gegenstände aufgrund ihrer „internal Constitutions" (III, VI, 9) zu kategorisieren. Bei all dem leugnet Locke nicht, daß viele von

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der Natur geschaffene Substanzen Ähnlichkeiten untereinander aufweisen und von daher durchaus in Gruppen zusammengefaßt werden könnten. Der konkrete Vorgang der Gruppenbildung aber, das Subsumieren von Gegenständen und Sachverhalten unter allgemeine Bezeichnungen („general terms"; HI, VI, 30) geschehe nicht nach Maßgabe einer sorgfältigen und an den Gegenständen und Sachverhalten selbst orientierten Untersuchung, sondern werde geleitet von dem Bedürfnis, möglichst rasch und unaufwendig allgemeine Bezeichnungen zur Hand zu haben, um sich über die betreffenden Gegebenheiten der Wirklichkeit problemlos austauschen zu können. Wird nun ein Kind in eine bestimmte Sprachgemeinschaft hineingeboren, so lernt es im Laufe der Zeit die Ausdrücke, die in der betreffenden Sprache die von den Sprechern unterschiedenen Gegenstände und Sachverhalte der Wirklichkeit bezeichnen, und es lernt diese Bezeichnungen, bevor es sich die damit ausgedrückten Vorstellungen angeeignet hat (- was zumindest fur die „mixed modes" gilt, für komplexe Vorstellungen, die sich aus einfachen Vorstellungen zusammensetzen): „[...] I ask, whether it be not the ordinary Method, that Children learn the Names of mixed Modes, before they have their IdeasT (III, V, 15). Die Wörter, die das Kind lernt, sind diejenigen Wörter, die alle Mitglieder der Sprachgemeinschaft verwenden; die tägliche Gewohnheit bewirkt, daß es sie weiterverwendet, ohne sie auf ihren Wirklichkeitsgehalt zu überprüfen. Es dürfte schwer sein, einen Sprecher davon zu überzeugen, daß die Wörter, welche sein Vater, sein Lehrer oder der Gemeindepfarrer benutzen, „signified nothing that really existed in Nature" (III, X, 16). Wenn die Wörter erst einmal gegeben und im Gebrauch sind, eignen sich neu an der Sprachgemeinschaft teilhabende Sprecher Vorstellungen von Gegenständen und Sachverhalten der Wirklichkeit üblicherweise anhand der Wörter an, die für diese Gegenstände und Sachverhalte verwendet werden. Gegebenheiten der Realität, für die es kein Wort gibt, werden gar nicht wahrgenommen.37 So gewinnt die Sprache eine Art Eigendynamik in ihrem Einfluß auf das Denken, sie tritt „between our Understandings, and the Truth" (III, IX, 21). Soweit zur Sprachkritik Bacons und Lockes. Die Parallelen zu Humboldt sind nicht von der Hand zu weisen: Die in den lexikalischen Einheiten einer Sprache zum Ausdruck kommenden Kategorisierungen der Wirklichkeit sind kein objektives, , Natur' isomorphes Abbild dieser Wirklichkeit, sondern durch geistige Aktivitäten des Menschen zustande gekommen. Diese Kategorisierungen, die je nach Sprachgemeinschaft unterschiedlich 37

III, X, 4; III, X, 16 und III, V, 11.

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sind, können das Denken des Menschen dann beeinflussen, wenn der Mensch die Inhalte der sprachlichen Kategorien mit den tatsächlichen Gegebenheiten identifiziert und als Folge etwas für real hält, was zunächst nur sprachlich ist. Doch hier deutet sich der ganz zentrale Unterschied zu Humboldts Auffassung an, die anhand einer wichtigen Stelle aus der Einleitung zum Kawi-Werk nochmals ins Gedächtnis gerufen sei. Zunächst aber ein Beleg für die Parallelen zu Bacon und Locke: „Wie der einzelne Laut zwischen den Gegenstand und den Menschen, so tritt die ganze Sprache zwischen ihn und die innerlich und äußerlich auf ihn einwirkende Natur"38. Gleich darauf jedoch wird der Unterschied deutlich: „Der Mensch lebt in den Gegenständen hauptsächlich, ja, da Empfinden und Handeln in ihm von seinen Vorstellungen abhängen, sogar ausschließlich so, wie die Sprache sie ihm zuführt" (unsere Hervorhebung). Es ist diese Betonung der Ausschließlichkeit des Zugangs zur Wirklichkeit über die Sprache, die Humboldt von den Engländern unterscheidet. Für Humboldt gibt es keinen Punkt jenseits von Sprache - genauer: jenseits einer jeweiligen Einzelsprache -, auf den sich der Erkenntnis Suchende zurückzuziehen vermag, um die Gegenstände und Sachverhalte der Wirklichkeit sprachfrei zu erfassen. Jede Einzelsprache ist wie ein „Kreis", der sämtliche Sprecher einschließt: Aus einem solchen einzelsprachlichen „Kreis" herauszutreten ist nur insofern möglich, „als man zugleich in den Kreis einer andren [Einzelsprache, A.G.] hinübertritt". Für Bacon und Locke dagegen ist die nicht-objektive Abbildung der Wirklichkeit in den Einzelsprachen keine sprachphilosophische Selbstverständlichkeit - in dem Sinne, daß Kategorisierungen von Wirklichkeit überhaupt nur auf dem Boden einzelkultureller Sprecherinteressen möglich wären -, sondern Resultat fehlerhafter Zuordnungen durch die Sprecher. Diese Zuordnungen von Wörtern zu Gegenständen der Wirklichkeit geschieht nach Bacon und Locke nämlich gemäß dem intellektuellen Vermögen der Ungebildeten, „ex captu vulgi" heißt es bei Bacon. Locke nennt die menschliche Bequemlichkeit als Grund: Die meisten Menschen wollten sich eben nicht der Mühe unterziehen, die Dinge genau zu untersuchen, um ihnen anschließend angemessene Bezeichnungen zukommen zu lassen, und begnügten sich damit, die Dinge nach einigen leicht erkennbaren Äußerlichkeiten zu beurteilen. Dies reiche ihnen, um die „common Affairs of Life" (III, VI, 30) in den Griff zu bekommen. Die Konsequenz aus dieser Kritik

38

Dieses Zitat und die folgenden aus: Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 53 (unsere Hervorhebungen).

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ist bei Bacon und insbesondere bei Locke aber nicht etwa die Negation der sprachfreien Erkenntnis einer jenseits aller Sprachen gegebenen und im Prinzip für alle Menschen gleichen Wirklichkeit, sondern im Gegenteil die Aufforderung zum immer genaueren Studium der Einzelphänomene, sozusagen an der Alltagssprache vorbei, die sich als Mittel der Erkenntnis disqualifiziert hat. Genau dieser Versuch, auf die Phänomene selbst, jenseits der Sprache, zu schauen, unterscheidet also die englischen Empiristen und ihnen gleichgesinnte Denker von einer mit dem Konzept des sprachlichen Weltbildes argumentierenden Sprachtheorie, welche in letzter Konsequenz den Zugang zur Wirklichkeit grundsätzlich und immer über die Einzelsprachen gegeben sieht. Wenn Locke in seiner Epistle to the Reader geradezu verärgert feststellt, daß vages und bedeutungsloses Reden und Sprachmißbrauch nur das Unwissen verbergen und zum Hindernis für wahre Erkenntnis werden, dann ist darin der Glaube impliziert, daß der umsichtig Verfahrende bei richtiger Sprachverwendung sehr wohl zu „true knowledge" gelangen kann. Allenfalls insofern sind Zweifel an der Möglichkeit wahrer Erkenntnis berechtigt, als wir nie sicher sein können, daß eine von uns gewählte wissenschaftliche Methode einen Erkenntnisgegenstand tatsächlich umfassend zu erschließen vermag. Von der Annahme einer prinzipiellen Unmöglichkeit objektiver Welterkenntnis aufgrund einer grundsätzlichen Sprachgebundenheit allen Denkens und Wissens aber ist bei Bacon und Locke nichts zu spüren. Welchen Sinn hätte es auch, immer wieder die Falschverwendung von Wörtern („/// use of Words"; III, XI, 4; III, XI, 5, IV, 3, 30 u.ö.) aus erkenntnistheoretischen Vorbehalten zu kritisieren, würde man nicht daran glauben, daß Erkenntnis sehr wohl möglich ist, wenn die Wörter nur richtig verwendet werden. Den Mathematikern etwa gelänge es immer wieder, sich beim Denken von der Sprache zu lösen („abstracting their Thoughts from Names"; IV, III, 30), und die Philosophie, mit ihrem Verlangen nach terminologischer Präzision, praktiziere bereits „the precise signification of the names of Substances".39 Eben dies bedeutet ,richtige' Verwendung von Sprache: sie den Dingen gemäß zu verwenden, denn in den Dingen, nicht in den Wörtern, liegen die wahren „Fountains of Knowledge", die wahren Quellen des Wissens und der Erkenntnis.40

39 40

III, IX, 15. „For Language being the great Conduit, whereby Men convey their Discoveries, Reasonings, and Knowledge, from one to another, he that makes an ill use of it, though he does not corrupt the Fountains of Knowledge, which are in Things themselves; yet he does, as much as in him lies, break or stop the Pipes, whereby it is distributed to the publick use and advantage of Mankind." (Ill, XI, 5)

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Demnach gilt: Die in nominalistischer Tradition stehende Sprachkritik, wie sie von Bacon und Locke exemplarisch formuliert wird, beinhaltet eher den empiristischen Realitätsbegriff der Naturwissenschaften als den relativistischen, weil einzelsprachgebundenen Wirklichkeitsbegriff des sprachtheoretischen Idealismus.41 Vieles, was zu Bacon und insbesondere zu Locke festgestellt wurde, trifft auch auf Leibniz zu. Schon Aarsleff hat darauf hingewiesen, daß die Unterschiede gerade zwischen Leibniz und Locke in sprachtheoretischer Hinsicht nicht so groß sind, wie dies gelegentlich angenommen wird.42 Was Leibniz jedoch von Locke trennt - abgesehen natürlich von der platonischen 41

42

Dieser Interpretation kommt auch die Art und Weise entgegen, wie Locke die Beziehung zwischen Wörtern und Gedanken beschreibt. Wer wie er davon ausgeht, daß die Sprachgebundenheit menschlichen Denkens kein unumstößliches Faktum der conditio humana, sondern im Prinzip korrigierbares Ergebnis menschlichen Fehlverhaltens ist, der wird diese Beziehung nicht als dem menschlichem Zugriff enthoben, als natur- oder gottgegeben betrachten. So ist die Wahl des Verbs „annex" zur Beschreibung dieser Beziehung bezeichnend, da es den Akt des Hinzufügens zu etwas Vorgegebenen - d.h. des Wortes zum Gedanken oder des Gedankens zum Wort ausdrückt und von Locke häufig mit dem Sprachbenutzer in der Subjektstelle verwendet wird. Vgl. z.B. III, X, 4: ,Men, having been accustomed from their Cradles to learn Words, which are easily got and retained, before they knew, or had framed the complex Ideas, to which they were annexed [...]." Es spielt hier keine Rolle, ob das Wort oder der Gedanke von Locke primär gesetzt wird. Wichtig ist, daß er beide als prinzipiell voneinander unabhängig und den Vorgang der Verknüpfung als beeinflußbar betrachtet. - Zu dieser Thematik vgl. auch Apel 1975, der die heute dominierende „technisch-szientifische Sprachauffassung" in einer Verbindung der „nominalistisch-empiristischen Sprachauffassung mit der Zeichenkunst der mathesis universalis" gegeben sieht (S. 6). - Zu Recht hat auch H. Aarsleff Lockes »Essay« als „manual in the epistemology of the Royal Society" bezeichnet, in: Leibniz on Locke on Language. In: American Philosophical Quarterly, 1, 1964, 165-188, 178. Der vollständige Titel der 1660 gegründeten Gesellschaft lautet „Royal Society of London for the Improvement of Natural Knowledge". Vgl. Aarsleff 1975. - Die einschlägige Literatur zu Leibniz ist nahezu unüberschaubar geworden. Es sei daher auf eine Auswahl weniger Arbeiten verwiesen. Wichtig sind vor allem diese Bibliographien: K. D. Dutz (Hrsg.): Zeichentheorie und Sprachwissenschaft bei G. W. Leibniz. Eine kritisch annotierte Bibliographie der Sekundärliteratur. Mit einem Anhang: Sekundärliteratur zur Sprachlehrforschung im 17. Jahrhundert, v. U. Klinkhammer. Münster 1983; A. Heinekamp (Hrsg.): Leibniz Bibliographie. Die Literatur über Leibniz bis 1980. Begründet v. K. Müller. 2. Aufl. Frankfurt 1984. - Wichtig für die sprachhistorischen Arbeiten: S. v. d. Schulenburg: Leibniz als Sprachforscher. Mit einem Vorwort hrsg. v. K. Müller. Frankfurt 1973. - Zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung: H. W. Arndt: Methode scientifica pertractatum. Mos geometricus und Kalkülbegriff in der philosophischen Theoriebildung des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin u. New York 1971; Apel 1975. - Eine ausgezeichnete, materialreiche Analyse von Leibniz' universalistischen Überlegungen bietet A. Heinekamp: Ars characteristica und natürliche Sprache bei Leibniz. In: Tijdschrift voor Filosofie, 34, 1972, 446-488; auch zu Leibniz' Zeichentheorie vgl. Heinekamp: Sprache und Wirklichkeit bei Leibniz. In: Parret 1976, 518-570.

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Sprache, Denken und Wirklichkeit

Annahme des Vorgegebenseins von Ideen (les idees, ideae) als den Essenzen (essentiae) der Dinge43 - ist die Zeichengebundenheit des reflexiven, nicht mehr nur intuitiv verfahrenden Denkens. Letztere umfaßt sowohl die Annahme einer bloßen kognitiven Unterstützungsfunktion, die der Sprache für das Denken zukommt, als auch die Annahme einer das Denken konstituierenden Funktion von Sprache; die beiden Vorstellungen überschneiden sich bei Leibniz. In jedem Fall will er sich von denjenigen abheben, die meinen, „die Sprache sey deswegen erfunden, daß wir uns zu vernehmen geben, und andere bewegen".44 Nichts anderes als das Verbinden und Ersetzen von Zeichen sei unser Denken, gleichgültig, ob diese Zeichen Wörter oder Vorstellungen oder Bilder sind45: Die »Unvorgreifflichen Gedancken« beginnen mit den Feststellungen, „dass die Sprach ein Spiegel des Verstandes"46 sei und „dass wir Zeichen nöthig haben, nicht nur unsere Meynung ändern anzudeuten, sondern auch unsern Gedancken selbst zu helffen"47. Im »Dialogue de connexione inter res et verba« geht Leibniz noch weiter: „[...] wir würden sogar, wenn es keine Zeichen gäbe, niemals etwas deutlich denken oder schließen"48. In solchen Argumentationen ist Sprache für Leibniz „instrumentum rationis"49, ein Sachverhalt, der sich in der von ihm wiederholt verwendeten Münzmetapher ausdrückt: „Daher braucht man offt die Wort als Zifern oder als Rechen-Pfennige an statt der Bildnisse und Sachen, biss man Stuffenweise zum Facit schreitet und beym Vernunfft-Schluss zu Sache selbst gelanget"50. Das Ideal ist die Bedeutungseinheit, die in ihrem Wert ebenso eindeutig definiert ist wie eine Münze; mit diesen mentalen Münzen, und nur mit ihnen, ist präzises Denken möglich. Leibniz ist viel zu sehr Historiker, um nicht zu wissen, daß er ein solches Eindeutigkeitspostulat nicht an natürliche Sprachen herantragen kann, und so erweist sich für ihn die logisch-philosophische Kunstsprache als eigentliches Medium ratio43 44 45 46 47 48

49 50

So unterscheidet Leibniz z.B. in »Quid sit Idea« (um 1700) bei der Beschreibung des Bewußtseinsinhalts zwischen Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühlen („cogitationes, perceptiones, affectus") einerseits und den Ideen andererseits. Ermahnung an die Teutsche, ihren Verstand und Sprache beßer zu üben, 1679, 812. Zu den unterschiedlichen Sprachfunktionen bei Leibniz vgl. auch Heinekamp 1976, 524ff. „Omnis Ratiocinatio nostra nihil aliud est quam characterum connexio et substitutio, sive illi characteres sint verba sive notae, sive denique imagines". Die philosophischen Schriften, Bd. 7, 31. Par. 1. Par. 5. - Der gleiche Gedanke findet sich in den »Nouveaux Essais«, III, I, 2. „Imo si characteres abessent, nunquam quicquam distincte cogitaremus, neque ratiocinaremur" S. 191, dt. Text S. 19. Brief an Oldenburg, 1673. In: Sämtliche Schriften und Briefe, Reihe 2, Bd. l, 239. Unvorgreiffliche Gedancken, Par. 7.

Ansätze einer Theorie der sprachlichen Relativität

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naler Erkenntnis.51 Gleichwohl betrachtet er auch natürliche Sprachen unter dem Gesichtspunkt des Abstraktionsniveaus, das sie den ,in ihnen Denkenden' ermöglichen, und in dieser Hinsicht schneidet das Deutsche - in anderem Zusammenhang wurde bereits darauf hingeweisen - ungünstiger ab als etwa das Französische oder die antiken Sprachen. Die zitierte Äußerung von der Sprache als „Spiegel des Verstandes" setzt sich so fort: ,,[...] und dass die Völcker, wenn sie den Verstand hoch schwingen, auch zugleich die Sprache wol ausüben". In diesem Sinne ist auch zu verstehen: „[...] ich bin insonderheit der Meinung, daß die Nationen, deren Sprache wohl ausgeübt und vollkommen gemacht, dabei einen großen Vorteil zur Schürfung ihres Verstandes haben"52, ferner: es gibt Nationen, „deren wohlausgeübte Muttersprach wie ein rein polirtes glas gleichsam die scharffsichrigkeit des gemüths befördert, und dem verstand eine durchleuchtende clarheit giebt"53. Der letztgenannte Vorteil mangelt „uns Teütschen annoch"54, doch verfügen wir stattdessen über eine Sprache, in der sich Konkreta ausgezeichnet versprachlichen lassen. Das Deutsche funktioniert geradezu als „Probierstein der Gedancken"55, um - auch darauf wurde bereits hingewiesen - den „Schaum müssiger Gedancken" von soliden Gegenständen und Sachverhalten zu unterschieden: Was unsolide ist, läßt sich auf deutsch gar nicht erst ausdrücken. Solche auf Einzelsprachen bezogenen Äußerungen können den Eindruck eines gewissen Relativismus entstehen lassen. Doch auch für Leibniz gilt, was zu Bacon und Locke festgestellt wurde: Zwar mögen die Einzelsprachen je unterschiedliche Wirklichkeitsperspektiven bieten, doch ändert dies nichts an der Existenz einer objektiven Wirklichkeit - bzw. an der Existenz objektiv vorgegebener, überzeitlicher Ideen, die den Gegenständen der Wirklichkeit absolut kongruent sind, eben da sie deren essentia sind56 sowie an der Erkennbarkeit der Wirklichkeit durch den Menschen. Diese Verbindung eines gewissen Relativismus mit dem Glauben an positiv Bestimmbares kommt gut in dieser Stelle aus der »Monadologie« zum Ausdruck: 51 52 53 54 55 56

Zahlreiche Belege bei Heinekamp 1972, 487, passim. Einige patriotische Gedanken, 5. Ermahnung an die Teutsche, 809.

Ebd. Unvorgreiffliche Gedancken, Par. 11. Die Ideen, durch Denken und Sprache nicht beeinflußbar (vgl. »Nouveaux essais«, III, III u. II, XXII, 4), sind im Bewußtsein des Menschen lediglich angelegt, und der Mensch kann nur versuchen, sie mit seinem Denken zu erfassen. Vgl. dazu auch Heinekamp 1976, 558ff.

246

Sprache, Denken und Wirklichkeit Und wie eine und dieselbe Stadt, von verschiedenen Seiten betrachtet, immer wieder anders und gleichsam perspektivisch vervielfältigt erscheint, so gibt es vermöge der unendlichen Vielheit der einfachen Substanzen gleichsam ebensoviele verschiedene Welten, die indes nichts andres sind, als - gemäß den verschiedenen Gesichtspunkten jeder Monade - perspektivische Ansichten einer einzigen.57

Der Unterschiedlichkeit der Perspektiven steht also die Eindeutigkeit des Bezugspunktes dieser Perspektiven gegenüber („eine und dieselbe Stadt"). So hält Leibniz ein exaktes Erkennen sehr wohl für möglich, aber, wie angedeutet, nicht mit Hilfe der natürlichen Einzelsprachen, sondern einer logisch-philosophischen Sprache. Die historische Einzelsprache gilt Leibniz stattdessen als „behalterin der wißenschafft"58, als Bereich, in dem das Wissen und die Erfahrungen einer Sprachgemeinschaft enthalten ist, doch sieht er wie die Engländer die Möglichkeit, daß die Wörter und Konstruktionen der Einzelsprachen die Erkenntnis geradezu verhindern können, sind sie doch durch „unzählige Mehrdeutigkeiten" („innumeris aequivocationibus"59) gekennzeichnet. Häufig glaubten die Menschen, sie verfügten über „ideas rerum"60, nur weil sie über den diese res bezeichnenden Ausdruck verfügen. Tatsächlich aber kann der Ausdruck einen Widerspruch oder sachlichen Fehler enthalten, dessen man sich nicht bewußt wird, wenn man die Wörter aus der Gewohnheit heraus, d.h. ohne sie auf ihren inhärenten Wahrheitsgehalt zu überprüfen, verwendet. So kann es Philalethes in den »Noveaux Essais« - zwar als Sprachrohr Lockes, aber mit weitgehender Billigung von Theophilus/Leibniz - als regelrechten „Mißbrauch der Worte" bezeichnen, wenn man unkritisch „die Worte für die Dinge hält"61; ein Wort wie das von den Peripatetikem verwendete „Pflanzenseele" etwa suggeriert fälschlicherweise und alleine durch seine bloße Existenz, daß Pflanzen Seelen haben. Die zuvor angeführten Textstellen zeigen jedoch, daß Leibniz trotz dieses Bewußtseins falscher Kategorisierungen durch Sprache und trotz seiner Überzeugung von der Zeichengebundenheit des Denkens nicht an der 57

58 59 60 61

„Et comme une meme ville regardee de differens cötes paroist toute autre et est comme multipliee perspectivement, il arrive de meme, que par la multitude infinie des substances simples, il y a comme autant de differens univers, qui ne sont pourtant que les perspectives d'un seul selon les differens points de veue de chaque Monade". Par. 57, dt. Text S. 448. Vgl. dazu auch Heintz 1969. Ermahnung, 819. [Omnis humana ratiocmatio ...], 205. Meditationes, 424. Nouveaux Essais, III, X, 14. - Theophilus schränkt die Feststellung von Philalethes lediglich etwas ein, wenn er bemerkt, daß solche Irrtümer nicht allein („du seul") vom Mißbrauch der Wörter abhingen.

Ansätze einer Theorie der sprachlichen Relativität

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Existenz einer objektiv gegebenen Wirklichkeit und an der Möglichkeit, sie in dieser Objektivität zu erkennen, zweifelt. Die Tatsache, daß in Bezeichnungsvorgänge menschliche Wertungen und Differenzierungsinteressen hineinspielen, beweist keineswegs, „daß die Dinge dadurch daran gehindert werden, vom Verstand unabhängige reale Wesenheiten zu haben, und wir, sie zu erkennen"62. Bisweilen werde man gezwungen, Bedeutungen willkürlich festzulegen, weil die Natur von sich aus keine entsprechenden Kriterien biete - dies sei z.B. bei der Festlegung von Maß- und Gewichtseinheiten der Fall -, doch müsse man für gewöhnlich („pour l'ordinaire") derartiges nicht befürchten. Mit anderen Worten: Die ideale Bezeichnung geschieht nach Maßgabe dessen, was tatsächlich existiert („qui existe effectivement"63), und in der Regel ist es auch die Natur der Sachen („la nature des choses"), welche die Grenzen der Arten festlegt64, ein Sachverhalt, der im übrigen auch auf geistige Gegenstände zutrifft, denn die Urbilder der Ideen („les patrons des idees") und die Eigenschaften des Geistes („les qualites de l'esprit") sind nicht weniger wirklich als körperliche Gegebenheiten.65 Insgesamt also ist Leibniz' Position gegenüber dem Konzept der sprachlichen Relativität im Humboldtschen Sinne in weiten Teilen mit derjenigen Bacons und Lockes vergleichbar. Wie sehr sich Leibniz' sprachtheoretische Positionen im Rationalismus der Aufklärung durchgesetzt haben, wird bei einem Blick in das Werk von Christian Wolff deutlich.66 Mehrfach betont er den engen Zusammenhang zwischen Sprache und Denken, unterscheidet z.B. zwei Arten der Erkenntnis, deren eine, die „figürliche", sich „durch Worter, oder andere Zeichen" vollzieht67, spricht sogar von einer Abhängigkeit des Vernunftgebrauchs vom Sprachgebrauch („dependentia usus rationis ab usu sermonis"68). Wie Leibniz stellt er fest, daß man sehr wohl kommunizieren könne, ohne „daß wir den Begrif der Sache vor uns haben, wenn wir von ihr reden": 62 63 64 65 66

67 68

„Mais je ne vois point qu'elle puisse empecher les choses d'avoir des essences reelles independament de l'entendement, et nous de les connoistre [...]". Nouveaux Essais, III, VI, 27. III, VI, 28. III, V, 9. - Vgl. auch III, VI, 13: „[...] man kann nur Arten aufstellen, die die Natur, welche auch die Möglichkeiten einschließt, geschaffen oder schon vor uns unterschieden hat". Vgl. III, V, 12. Auf die Unterschiede zwischen Leibniz und Wolff sei hier nicht eingegangen, vgl. dazu Ricken 1990 und die Beiträge in Schneiders 1983. Vernunfftige Gedancken Von GOTT, Der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt, (Erstausg. 1720), Par. 316. Psychologia rationalis, (Erstausg. 1734), Par. 461.

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Sprache, Denken und Wirklichkeit Hieraus ist nun Sonnenklar, daß man miteinander reden, und einander verstehen, und doch keiner einen Begrif von dem haben kan, was er redet, oder höret, indem von lauter nichts geredet wird. Dergleichen Discourse sind unter Gelehrten nicht selten, absonderlich tritt man viele in der Natur-Lehre der Schul-Weisen an.69

Wolffs Kritik daran, daß wir „leere Worter, mit denen kein Begrif verknüpfet ist, für Erkäntniß halten, und Worter für Sachen ausgeben"70, ist vom gleichen Wunsch nach Kongruenz zwischen Wort, Vorstellung und Sache sowie nach entsprechender Art und Weise der Sprachverwendung getragen. Ausgehend vom Eindeutigkeitsideal der Mathematik - die Mathematik führe zu „klaren, deutlichen und vollständigen Begriffen", aus denen sich „ohne Anstoß die übrigen Sachen herleite[n]" ließen, führe den menschlichen Verstand auf den „höchsten Gipfel der Vollkommenheit"71 -, fordert er einerseits das immer genauere Studium der Phänomenwelt mit naturwissenschaftlichen Mitteln72, andererseits die präzise Definition der Begriffe und Termini. Auch bei Wolff begegnet kein grundsätzlicher Zweifel an der Möglichkeit objektiver Erkenntnis aufgrund einer Sprachgebundenheit des Denkens. Auf der gleichen Linie der Argumentation liegen einschlägige Überlegungen von Comenius. Sie gehen zeitlich zwar denjenigen Lockes und Leibniz' voraus, wurden bislang jedoch zurückgestellt, um die Parallelen einerseits zwischen Bacon und Locke, andererseits zwischen Locke und Leibniz deutlich werden zu lassen. Im folgenden seien sie kurz umrissen. Die Gegenstände der Wirklichkeit werden mittels der Sinnesorgane wahrgenommen („Sensibus extemis"73) und anschließend vom Bewußtsein verarbeitet. Dabei kommt der bloßen Sinneswahrnehmung eine sekundäre Rolle gegenüber der kognitiven Verarbeitung der Sinnesdaten zu: Verglichen mit den „intellectualia" sind die „sensualia" wahre Nichtigkeiten (minutiae14). Ideal wäre nun, würden die Gegenstände der Wirklichkeit so wahrgenommen, wie sie objektiv sind. Grundsätzlich wäre dies möglich, da sich die Dinge allen Menschen in gleicher Weise darbieten und die „Intellectüs structura"75 der Menschen, ihre ,$rinc\pia [...] innala"16 identisch 69 70 71 72 73 74 75

Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes, (Erstaus. 1713), Kap. l, Par. 5 u. 10. Vernünftige Gedancken Von GOTT, Der Welt und der Seele des Menschen, Par. 320. Anfangs=Grimde aller Mathematischen Wissenschaften, (Erstausg. 1710), 1750, a4v. Z.B. in: Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes, Kap. l, Par. 22. Didactica, 27, 7. Via lucis, 290. Panorthosia, Par. 19.

Ansätze einer Theorie der sprachlichen Relativität

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sind. Genau hier zeigt sich aber die Crux der Sprachenvielfalt und der Unbestimmtheit der Bedeutungen bzw. ihrer Verwendungen in den jeweiligen Einzelsprachen, denn die Menschen gehen mit der Bedeutung der Wörter nicht einheitlich um.77 Comenius' Sprachkritik entspricht also in weiten Teilen derjenigen Bacons und nimmt diejenige Lockes und Leibniz' vorweg: Die Wortbedeutungen wurden nicht aufgrund sorgfältigen Studiums der Gegenstände festgelegt, die Menschen haben sich nicht nach deren objektiven Eigenschaften gerichtet, sondern danach, was sie auf einen ersten Blick wahrnahmen. Beim Bezeichnungsprozeß spielte der Zufall eine wichtige Rolle, identische oder ähnliche Laute wurden für gegensätzliche Dinge verwendet und gegensätzliche Laute für identische Dinge. So bezeichnen etwa die Ausdrücke „Sus", „porcus", „Verres", „aper", und „Scrofa"78 ähnliche Gegenstände, nämlich Tiere der Gattung des Schweins, bei völlig unterschiedlichen Ausdrucksseiten; umgekehrt verfügen die Ausdrücke „Ver", „Verres", „Vervex" und „Verro" über sehr ähnliche Ausdrucksseiten, jedoch verschiedene Bedeutungen. Aufgrund der unzureichenden Bezeichnungsgebung war die Sprache voll von Homonymen, Synonymen, Paronymen, Tropen, Figuren, Periphrasen, mit anderen Worten: voller „ambiguitatum, superfluitatum, confusionum".79 Da die Bezeichnungen für die Gegenstände ohne Rücksicht auf das Wesen der Gegenstände („nomina non per rerum naturam imposita sunt"80) vergeben wurden und daher weder der Sprachgebrauch („sermonis usu[s]") noch eine etwaige Stimmigkeit zwischen Bezeichnung und Gegenstand („harmoni[a] mutua") das Wesen der Dinge erkennen lassen, werden bei Auseinandersetzungen nur Wörter ausgetauscht, ohne daß dies irgendwohin führen würde. Trotz des Lärms unserer Dispute kommen wir in unserer Erkenntnis kaum voran, denn anstatt Dinge sprechen wir Worte („verba loquimur, non res"). Als ideale Lösung aus dem Dilemma drängt sich die Universalsprache geradezu auf. Abschließend sei noch einmal ein Aspekt aus der Argumentation von Leibniz hervorgehoben: Sieht man von gelegentlichen Fehlkategorisierungen der Wirklichkeit durch Sprache ab, so ermöglichen die Wörter in der Regel doch einen zumindest hinreichend genauen Zugriff auf die Wirklichkeit. Und insofern die Wörter „den Sachen antworten", bringen sie „die Erkänt76 77 78 79 80

Via lucis, 286. Panorthosia, Par. 19. Panglottia, Sp. 289ff. Via lucis, 353. Ebd., 354, auch die folgenden Zitate.

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niss unbekandter Sachen mit sich"81, d.h. man kann sich die Kenntnis der Sachen mittels der Wörter aneignen - für Leibniz einer der Gründe, ein Wörterbuch des deutschen Fachwortschatzes zu fordern, da solch ein Wörterbuch eine große Menge an fachspezifischen Fakten in sich bergen würde und seinen Lesern einschlägiges Wissen vermitteln könnte. Ein ähnlicher Gedanke begegnet bei Becher, der in seiner »Methodvs didactica« immer wieder betont, der Schüler solle mit der Erlernung der Wörter „auch die allgemeine natürliche Zufall und Wesen der benennten Sachen erlerne[n]"82. In diesem Zusammenhang berichtet Becher von einem Erlebnis, das er bei der Anwendung seines onomasiologischen Sortierverfahrens hatte: Beim Versuch, einzelne Wörter bestimmten Überbegriffen zuzuordnen, mußte er feststellen, daß diese Wörter „nicht dahin gewolt", wo er sie haben wollte, was wohl so zu verstehen ist, daß Becher seine eigenen, bewußt angesetzten Unterteilungen auf einer eher intuitiven Ebene wiederum verwarf. Nachdem der Lexikograph und Didaktiker merkte, daß er die „Natur" der Wörter seinen ganz persönlichen, von ihm selbst letztlich als nicht sachgerecht empfundenen Ordnungsprinzipien unterwerfen wollte („dann ich habe wol viel Abtheilungen auß meinem Kopff vor hinein gemacht"83), entschied er sich für den umgekehrten Weg: „auß Natur der Worter / die Sachen und Worter zertheilen". Becher geht noch weiter, indem er behauptet, daß all jenes, „was man nicht nennen noch mit Worten außsprechen kan / man auch nicht verstehe / das ist / worvon in einer Sprach keine Wort seynd / damit es benennet / beschrieben oder bekandt gemacht werden konte / darvon haben auch selbige Leut in dergleichen Sprach nichts gewust"84. Solche Äußerungen beinhalten nur scheinbar eine relativistische Position. Wenn Becher sich die Sachverhalte durch die Wörter erschließt und dies auch in der Lehre einsetzen will, dann geschieht dies letztlich im Vertrauen darauf, daß die Wörter die Gegenstände und Sachverhalte der Wirklichkeit objektiv abbilden bzw. dies unter bestimmten Voraussetzungen leisten können. Nur dann - und nicht etwa, weil den sprachlichen Einheiten ein Apriori zugesprochen würde, d.h. Becher davon ausginge, daß die Wirklichkeit nicht als objektive, sondern nur als in der Sprache aufgehobene existierte - ist es für Becher wie auch für Leibniz und Comenius sinnvoll, die Sprache als Schlüssel zur Wirklichkeit heranzuziehen.

81 82 83 84

Unvorgreiffliche Gedancken, Par. 40. Appendix, 18. Ebd. Ebd., 19.

6. Sprachuniversalismus 6.1. Das Konzept der Arbitraritat Der Begriff der Motiviertheit wurde in eine ontologische, eine transzendente und eine artifizielle Spielart differenziert, deren gemeinsamer Nenner die Kongruenz zwischen der Ausdrucksseite des Zeichens und dem bezeichneten Sachverhalt ist, wie dies etwa in der Lautmalerei der Fall ist. In Analogie dazu sei „Arbitraritat" für das Folgende als ,ausdrucksseitig nicht motiviert' definiert.1 Diese Bestimmung fallt zu weiten Teilen zusammen mit dem Kriterium der Konventionalität, ist jedoch nicht mit ihm identisch. So werden im Rahmen der Universalsprachentwürfe Sprachzeichen konventionell festgelegt, die gleichzeitig lautmalend und damit ausdrucksseitig motiviert sind. Erweitert man die Bedeutung von „Motiviertheit" über die lautmalende Motiviertheit der Simplicia auf den Bereich der morphologischen Motiviertheit, ergeben sich weitere Kombinationsmöglichkeiten: Ein durchsichtiges Kompositum ist hinsichtlich seiner Konstituenten motiviert, kann aber durchaus konventionell festgelegt sein (Typ „Kunstwort"); derselbe Kompositionstyp kann zusätzlich (partiell) ausdrucksseitig motiviert sein (Typ „der Storchen Schlatter=MauF2) etc. Auf solche Aspekte wird im folgenden je nach Fall eigens hingewiesen werden. Wie das Konzept der Motiviertheit wird auch das der Arbitraritat in den zeitgenössischen Texten gelegentlich auf die Antike zurückgeführt. In diesem Falle ist diese Stelle aus dem 2. Kapitel von Aristoteles' »De interpretatione« relevant: Das Nomen ist also ein Laut, der konventionell etwas bedeutet [...]. Die Bestimmung ,konventionell' (aufgrund einer Übereinkunft) will sagen, daß kein Nomen von Natur ein solches ist, sondern erst wenn es zum Zeichen geworden ist.

1 2

Zur Mehrdeutigkeit des Terminus, allerdings in anderen als den hier getroffenen Differenzierungen, vgl. auch Coseriu 1966; weitere Literatur s. Teil I, Kap. 2.1. der vorliegenden Untersuchung („Das Konzept der Motiviertheit"). Arnold: Kunst=spiegel, 49.

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Wie schon bei der Diskussion von Platons »Kratylos« soll die Textstelle hier nicht als Ausdruck bestimmter Positionen des Autors interessieren, sondern ausschließlich in derjenigen Interpretation, die sie im Laufe ihrer Rezeptionsgeschichte erfahren hat.3 Aristoteles' Feststellung ist mit zunehmender Ausschließlichkeit in der Bedeutung ,mangelnde ausdrucksseitige Motiviertheit', in Verbindung mit ,Festlegung per Konvention' verstanden worden. Nach Thomas von Aquin bezeichnet das verbum exlerius „ad placitum"4, also willkürlich, und Wilhelm von Ockham unterscheidet in der »Summa totius logicae« zwischen natürlichen mentalen Konzepten und ausschließlich konventionell bezeichnenden sprachlichen Einheiten; andere Ausdrücke für denselben Sachverhalt sind inslitutio, forluito, ex arbifrio.5 In der frühen Neuzeit war Julius Caesar Scaliger einer derjenigen, dessen Formulierung der Arbitraritätsthese für ihre weite Verbreitung sorgte: „nomina ä rerum natura non fluxerint" schreibt er in »De causis linguae latinae«, stattdessen seien sie nach Gutdünken festgelegt („ut libuit inuentori"6). Allerdings seien diese konventionellen Wörter als Zeichen der Dinge auf die Nachahmung dieser Dinge verpflichtet („cüm uoces rerum signa sunt, earum quoque naturam imitantur"7), ein Gedanke, welcher der Forderung der Kunstsprach-Theoretiker nach artifizieller Motiviertheit entspricht. Scaligers Belege für die Arbitraritätsbehauptung sind so konstruiert: Was die Römer carbo nennen, nenne der Germane collttm, ein Sachverhalt, an dem sich die arbiträre Zeichenzuweisung erkennen lasse. Scaliger meint damit: Die Kohle, lat. carbo, bezeichnet der Germane mit dem semantisch äquivalenten, aber anders lautenden germanischen Wort, und dies belege den Arbitraritätsgedanken, denn wären die Bezeichnungen a natura rerum, d.h. lautlich-ausdrucksseitig motiviert, dann müßten Römer und Germanen dasselbe Wort verwenden. Im Prinzip ist die Argumentation einsichtig, doch nennt Scaliger eben kein germanisches Wort, sondern er verwendet ein in der Lautung den deutschen Varianten - ahd. kolo, mhd. kol, frnhd. Kol(e) - ähnliches lateinisches Wort, eben collum. Das aber hat wiederum eine spezifische Bedeutung im Lateinischen, nämlich ,Hals'. Das Verfahren wird dadurch natürlich unsinnig, soll aber wohl dazu dienen, die Mängel der Motiviertheitsthese besonders plastisch vor Augen zu führen.8

3 4 5 6 7 8

Zu dieser Stelle vgl. Coseriu 1968, 87; dagegen aber Rijlaarsdam 1978. De veritate, Art. l. Belege für die unterschiedlichen Ausdrücke bei Coseriu 1968, 89f. III, Kap. 68. III, Kap. 75. III, Kap. 67; Scaliger gibt noch weitere Beispiele.

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In den nationalsprachlichen Fachliteraturen begegnet das Arbitraritätskonzept - meist explizit oder implizit mit dem Konventionalitätsgedanken identifiziert - bei Autoren aus dem gesamten westeuropäischen Raum. In Italien formuliert Sperone Speroni 1542 in außergewöhnlich modern anmutender Sicht: Ich bin fest davon überzeugt, daß alle Sprachen, das Arabische wie das Indische, das Römische wie das Attische, von gleichem Wert sind, und daß sie von Menschen mit Vernunft für einen bestimmten Zweck geschaffen worden sind. Deshalb wäre es mir lieber, Dir sprächet davon nicht so, als handele es sich um Erzeugnisse der Natur, da sie doch vom Kunstverstand der Menschen und nach ihrem Gutdünken gemacht, in Regeln gebracht und weder gepflanzt noch gesät worden sind.9

Von Sperone beeinflußt, schreibt wenige Jahre später Joachim du Bellay in der »Deffence et Illustration de la Langue Francoyse«, daß die Sprachen nicht wie Pflanzen natürlich entstanden sind: Donques les Langues ne sont n'ees d'elles mesmes en fafon d'herbes, racines & arbres: les unes infirmes & debiles en leurs especes: les autres saines & robustes, & plus aptes a porter le faiz des conceptions humames: mais toute leur vertu est nee au monde du vouloir & arbitre des mortelz.10

Im 17. Jahrhundert wird der Arbitraritätsgedanke in Frankreich unter anderem in der Grammatik von Port-Royal formuliert: „La Grammaire est Art de parier. Parier, est expliquer ses pensees par des signes, que les hommes ont inventez ä ce dessein"11. In England finden sich im frühen 17. Jahrhundert entsprechende Äußerungen etwa in Bacons »Advancement of Learning«: Wörter seien festgelegt „ad placitum", „for words are the tokens current and accepted for conceits, as moneys are for values, and that it is fit men be not ignorant that moneys may be of another kind than gold and silver"12. Wörter sind in ihrem Wert ebenso auf den gesellschaftlichen Konsens angewiesen wie das Geld, das ja auch nicht notwendigerweise aus Gold- oder Silbermünzen bestehen muß. Bischof John Wilkins schreibt in

9

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„ ho per fermo, ehe le lingue d'ogni paese, cosi l'Arabica e Indiana, come la Romana e 1'Ateniese, siano d'un medesimo valore, e dai mortali ad un fine con un giudicio formate, ehe io non vorrei ehe voi ne parlaste come di cosa dalla natura prodotta; essendo fatte e regolate dallo artificio delle persone a beneplacito loro, non piantate ne seminate [...]". Dialogo delle lingue, 116; dt. Text S. 117. I, Kap. 1. „Grammatik ist die Kunst des Sprechens. Sprechen heißt, seine Gedanken mittels Zeichen auszudrücken, welche die Menschen nach ihrem Gutdünken erfunden haben". S. 5. - In der Logik von Port-Royal ist die Rede von „d'institution et d'etablissement", I, Kap. 4., in der Ausgabe von 1685. S. 400.

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seinem Kunstsprach-Entwurf von 1668, daß die Bezeichnungen, welche die mentalen Konzepte zum Ausdruck bringen, „arbitrary sounds or words" sind, zustande gekommen „as Nations of men have agreed upon, either casually or designedly"13; in jedem Fall von Menschen geschaffene Bezeichnungen, ohne ontologische oder transzendente Hintergründe. Verspottet wurden in England gelegentlich diejenigen, welche den Motiviertheitsgedanken zu unmittelbar an göttliches Wirken bei der Sprachentstehung knüpften. So macht sich etwa Seth Ward über John Websters Annäherung an den „divinely-inspired Teutonick" Jakob Böhme lustig, und Richard Simon weist in seiner »Critical history of the Old Testament« von 1682 die Vorstellung eines göttlichen Eingreifens mit der Begründung zurück, daß Gott damit die Rolle eines „Grammar Schoolmaster"14 zugewiesen werden würde. Ausgesprochen folgenreich für die zeitgenössische Sprachphilosophie waren die einschlägigen Äußerungen John Lockes. Wörter werden von den Menschen als Zeichen für ihre Vorstellungen verwendet, nicht jedoch aufgrund irgendwelcher natürlicher Entsprechungen („natural connexion"), die zwischen einem bestimmten Laut und einer bestimmten Vorstellung bestehen mögen - dann nämlich gäbe es für alle Menschen nur eine einzige Sprache -, sondern aufgrund eines willentlichen Setzungsaktes, wodurch ein betreffendes Wort willkürlich zum Zeichen einer bestimmten Vorstellung gemacht wird („by a voluntary Imposition, whereby such a Word is made arbitrarily the Mark of such an Wea")15. Die Gewohnheit, immer dieselben Wörter für immer dieselben Vorstellungen zu verwenden, mag die Existenz einer natürlichen Verbindung suggerieren, doch eben dies sei nicht der Fall. Des Menschen Freiheit, Wort und Vorstellung miteinander zu verbinden, sei uneingeschränkt, und dies gelte sogar für den einzelnen Redeakt: Niemand habe die Macht, „to make others have the same Ideas in their Minds, that he has, when they use the same Words, that he does"16. Mit seinem Insistieren auf der Arbitrarität geht Locke allen Verwicklungen aus dem Wege, die sich aus möglichen transzendenten Aspekten der Bezeichnungszuweisung ergeben könnten: Die Annahme einer auf Göttliches verweisenden adamischen Ursprache (im Sinne der Böhmeschen Natursprache) etwa würde bedeuten, daß der Mensch, so er erleuchtet ist, anhand der Sprache transzendente Zusammenhänge erkennen, d.h. über Bewußtseinsinhalte verfügen würde, 13 14 15 16

S. 20. 1682,1, S. 99. Zit. nach Salmon 1972, [98]. III, II, l. III, II. 8.

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die er sich nicht selbst durch sinnliche Wahrnehmung bzw. durch auf solcher Wahrnehmung basierendes Denken angeeignet hat, sondern die in ihm als Geschöpf Gottes bereits angelegt sind. Eben weil letzteres nach der Natursprachenlehre der Fall ist, konnte Adam das Wesen der zu benennenden Tiere erkennen: Sein Bewußtsein war keine tabula rasa, da es von göttlichem Geist durchdrungen war. Genau dies aber würde Lockes Auffassung von der Abwesenheit jedweder „innate principles" widersprechen, und konsequenterweise behauptet Locke sogar für Adam, daß dieser die Namen der Dinge ausschließlich „by his own Thoughts", völlig frei entscheidend, gefunden habe und daß er sich darin in nichts von allen anderen Menschen unterscheide: „The same Liberty also, that Adam had of affixing any new name to any Idea; the same has any one still [...]"17 - eingeschränkt freilich durch die Tatsache, daß der heutige Mensch allerorts bereits etablierte Sprachen vorfindet. Und was für den Akt des Bezeichnens gilt, trifft umgekehrt auch auf den Akt des Verstehens zu: Einfache Vorstellungen („simple ideas"18) z.B., wie die Vorstellung vom Licht oder von einem bestimmten Geschmack, könnten sich dem Geist nur durch unmittelbares Einwirken, d.h. auf dem Wege der Sinneswahmehmung und der damit einhergehenden Bildung dieser Vorstellung mitteilen. Geschehe dies nicht, dann könne uns kein Wort der Welt diese Vorstellung vermitteln - etwa in der Hoffnung, dieses Wort könne in unserem Geist auf etwas stoßen, was schon von vornherein dort gegeben wäre. So ist für Locke die Annahme der Arbitrarität unaufhebbar. Weit weniger rigoros und aufgrund seiner sprachhistorischen Kenntnisse differenzierter als Locke argumentiert Leibniz. Zunächst übernimmt er Lockes Äußerung zu Arbitrarität, indem er sie Philalethes in den Mund legt: Da die Worte jetzt von den Menschen als Zeichen für ihre Ideen gebraucht werden, kann man zunächst fragen, wie die Worte dazu bestimmt worden sind; und man stimmt darin überein, daß das nicht durch eine natürliche Verbindung, die es zwischen bestimmten artikulierten Lauten und bestimmten Ideen gäbe, geschehen ist, (denn in diesem Falle gäbe es nur eine Sprache unter den Menschen), sondern durch eine willkürliche Festsetzung, derzufolge ein bestimmtes Wort auf Grund eines Willensaktes zum Zeichen einer bestimmten Idee wurde.19 17 18 19

III, VI, 51. - Vgl. dazu auch Aarsleff 1964, 181ff. III, IV, 11. „Maintenant les mots estant employes par les hommes pour estre signes de leur idees, on peut demander d'abord comment ces mots y ont este determines; et convient que c'est non par aucune connexion naturelle qu'il y ait entre certains sons articules et certaines idees (car en ce cas il n'y auroit qu'une langue parmy les hommes), mais par une institution arbitraire en vertu de laquelle un tel mot a este volontairement le signe d'une teile idee" Ill, II, 1.

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Doch sogleich schränkt Theophilus ein, dem die Rede von der „institution arbitraire" zu undifferenziert ist: Es sei richtig, daß die significations des mots" nicht durch eine Naturnotwendigkeit („necessite naturelle") zustande komme, doch spielten bei der Bezeichnungsfmdung in historischen Sprachen natürliche Faktoren sehr wohl eine Rolle. Im Zentrum des Arguments steht dabei für Leibniz die Lautmalerei der radices. So lasse z.B. „quaken" einerseits das spezifische Geräusch des Frosches erkennen, mag andererseits aber auch - da das Quaken zugleich ein Lebenszeichen des Tieres ist Anlaß zur Bildung der Wurzel „quek" gewesen sein, die auf etwas Lebendiges hinweise, wie etwa in „Quecksilber", „erquicken" oder dem englischen „quick" etc. (- eine Etymologie, die sich im übrigen nicht belegen läßt). Die Germanen und Kelten scheinen aus einem „instinct naturel" z.B. den Buchstaben „r" zum Ausdruck einer heftigen Bewegung bzw. dem damit einhergehenden Geräusch verwendet zu haben, Wörter wie „rinnen", die Flußnamen „Rhein", „Rhone" und „Ruhr", die Verben „rauben", „rauschen" etc. belegen dies.20 Das „l" dagegen zeige sanftere Bewegungen an und trete dementsprechend in Wörtern wie „leben", „laben", „lind", „lieben" etc. auf. Solche Einwendungen basieren zum einen auf den Kenntnissen und Vermutungen des Sprachhistorikers, zum anderen auf der Annahme von der sinnlichen Natur der Bezeichnungsanlässe. Die erwähnten Kenntnisse lassen Leibniz von der Existenz einer Ursprache ausgehen und sogar die „lingua adamica" erwähnen21, was ihn jedoch insgesamt nicht in die Nähe einer mystisch geprägten Sprachreflexion rückt, schon deshalb nicht, weil er eine etwaige Ursprache als verloren betrachtet und lediglich sprachstrukturelle Überreste einer solchen ersten Sprache in den gegenwärtigen Sprachen, insbesondere in ihrer Lautung, erkennt, nicht aber irgendwelche transzendenten Qualitäten. Hinsichtlich der sinnlichen Natur der Bezeichnungsanlässe ist er einer Meinung mit Locke, wenn er Philalethes sagen läßt: „So sind die folgenden Worte: vorstellen, begreifen, sich hinwenden, auffassen, einflößen, verabscheuen, Unruhe, Ruhe alle von den Wirkungen sinnlicher Dinge entlehnt und auf bestimmte Modi des Denkens übertragen. Das Wort Geist ist in seiner ersten Bedeutung der Windhauch, das Wort Engel bedeutet Bote"22. Eben diese Erkenntnis bewirkt seine Zurückhaltung gegenüber

20 21 22

Dies und das Folgende: III, II, 1. In: Nouveaux Essais, III, II, l u. Characteristica universalis, 184. „Ainsi les mots suivans: imaginer, comprendre, s'attacher, concevoir, instiller, degouster, trouble, tranquillite, etc. sont tous empruntes des operations des choses sensibles et appliques a certains modes de penser. Le mot Esprit dans sa premiere signification c'est le souffle, et celuy d'Ange signifie messager". III, I, 5.

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der undifferenzierten Verwendung des Arbitraritätsbegriffs, und in der »Brevis designatio« formuliert er seine Position in einer gewissen Zuspitzung: „Die Sprachen sind nicht durch Übereinkunft zustande gekommen und sozusagen per Gesetz festgelegt worden, sondern aus einem natürlichen Impuls der Menschen entstanden, welche die Laute den Affekten und Bewegungen des Geistes anpaßten"23. „Ex analogia vocis cum affectu" seien die Wörter gebildet worden, und so habe wohl auch Adam die Namen vergeben. Charakteristisch für Leibniz' Idealismus ist schließlich die Bemerkung, daß Willkürliches allenfalls in den Wörtern gegeben sein mag, nie jedoch in den Ideen als den Wesenheiten der Dinge, da diese von aller Ewigkeit an in Gott sind und auch in uns, noch bevor wir an sie denken.24 Im folgenden sei eine längere Passage aus dem Dialog »De connexione inter res et verba« angeführt, in der die Arbitraritätsthematik vor dem Hintergrund zentraler Theoreme von Leibniz ausgebreitet wird: B. Es besteht unter den Zeichen, besonders wenn sie gut gewählt sind, eine Beziehung oder Ordnung, die einer Ordnung in den Dingen entspricht. A. Mag sein, aber welche Ähnlichkeit haben denn die ersten Elemente mit den Gegenständen, die sie bezeichnen, z.B. die 0 mit dem Nichts, oder der Buchstabe a mit der Linie? Du mußt zugeben, daß zum mindesten diese Elemente keine Ähnlichkeit mit den Dingen zu haben brauchen. Dies gilt z.B. von den Stammworten „lux" und „fero", während ihr Kompositum „lucifer" allerdings zu ihnen in einer bestimmten Beziehung steht und zwar in einer Beziehung, der eine Relation zwischen den Objekten, die durch lucifer, lux, fero bezeichnet sind, entspricht. B. Im Griechischen hat aber phosphoros dieselbe Bedeutung zuphos undphero. A. Ja, - doch hätten die Griechen hier auch ein anderes Wort anwenden können. B. Ganz recht; nur meine ich, daß die Charaktere, wenn sie in der Beweisführung angewandt werden sollen, irgend eine Verknüpfung, Gliederung und Ordnung, wie sie auch den Gegenständen zukommt, aufweisen müssen, und daß dies, wenn auch nicht in den einzelnen Worten, - obgleich auch dies besser wäre - so doch in ihrer Verbindung und Verknüpfung notwendig ist. Diese Ordnung und Entsprechung wenigstens muß sich, obgleich in verschiedener Weise, in allen Sprachen finden. Und dies läßt mich auf eine Lösung der Schwierigkeit hoffen. Denn wenngleich die Charaktere als solche willkürlich sind, so kommt doch in ihrer Anwendung und Verknüpfung etwas zur Geltung, was nicht mehr willkürlich ist: nämlich ein Verhältnis, das zwischen 23

24

„Neque vero ex institute profectae, & quasi lege conditae sunt linguae, sed naturali quodam impetu natae hominum, sonos ad affectus motusque animi attemperantium. [...] At in linguis paulatim natis orta sunt vocabula per occasiones ex analogia vocis cum affectu, qui rei sensum comitabatur: nee aliter Adamum nomina imposuisse crediderim". S. 187. - Festzuhalten ist nebenbei, daß nach Leibniz nicht sagt, die Laute seien den Dingen angepaßt worden, sondern den Affekten, welche die Dinge bei den Menschen bewirkt haben. „Je crois que Farbitraire se trouve seulement dans les mots et nullement dans les idees. [...] Car les idees sont en Dieu de toute eternite et meme elles sont en nous avant que nous y pensions actuellement [...]." III, IV, 17.

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Sprache, Denken und Wirklichkeit ihnen und den Dingen besteht, und damit auch bestimmte Beziehungen zwischen all den verschiedenen Charakteren, die zum Ausdruck derselben Dinge dienen. Und dieses Verhältnis, diese Beziehung ist die Grundlage der Wahrheit. Denn sie bewirkt, daß, ob wir nun diese oder andere Charaktere anwenden, das Ergebnis doch stets dasselbe bleibt oder daß wenigstens die Ergebnisse, die wir finden, äquivalent sind und in bestimmtem Maße einander entsprechen. Irgendwelcher Charaktere allerdings bedarf man wohl stets zum Denken. A. Ausgezeichnet! Du hast Dich ganz vorzüglich aus der Verlegenheit gezogen. Deine Ansicht wird auch durch den analytischen oder arithmetischen Kalkül bestätigt; denn bei den Zahlen wird stets dasselbe herauskommen, ob man sich nun des Dezimal-, oder, wie es auch geschieht, des Duodezimalsystems bedient.25

Nicht als Historiker argumentiert Leibniz hier, sondern als Analytiker. Die Ausdrücke „lux" und „fero" sind arbiträr - der Sachverhalt der Lautmalerei auf der Basis sinnlicher Wahrnehmung bleibt zunächst völlig unberücksichtigt -, nicht aber ihre Zusammensetzung „lucifer". Wie bereits die Diskussion der ori/o-Thematik zeigte, entspricht die Relation zwischen den Komponenten eines Kompositums idealiter der Relation der durch die Wörter bezeichneten Gegenstände der außersprachlichen Wirklichkeit bzw. der durch die Wörter bezeichneten objektiv gegebenen Ideen. Eine derartige Entsprechung zwischen Sprachordnung und Weltordnung sieht Leibniz nicht nur bei Komposita gegeben, sondern grundsätzlich bei sämtlichen Verknüpfungen zwischen Ausdrücken. Noch besser wäre freilich, wenn auch die Wörter selbst, d.h. nicht nur die zwischen ihnen bestehenden Relationen, unmittelbar der Wirklichkeit entsprächen, wenn sie also, so 25

„B. Est aliqua relatio sive ordo in characteribus qui in rebus, inprimis si characteres sint bene inventi. - A. Esto, sed quam similitudinem cum rebus habent ipsa prima Elementa, verbi gratia, 0 cum nihilo, vel a cum linea. Cogeris ergo admittere saltern in his elementis nulla opus esse similitudine. Exempli causa, in lucis aut ferendi vocabulo, tametsi compositum lucifer relationem ad lucis et ferendi vocabula habeat et respondentem quam habet res lucifero significata ad rem vocabulis lucis et ferendi significatam. - B. At Graecum phosphoros eandem habet relationem ad phos et phero. - A. poterant Graeci non hac, sed alia voce uti. B. ita est, sed hoc tarnen animadverto, si characteres ad ratiocinandum adhiberi possint, in illis aliquem esse situm complexum, ordinem, qui rebus convenit, si non in singulis vocibus (quanquam et hoc melius foret) saltern in earum conjunctione et flexu. Et hunc ordinem variatum quidem in omnibus linguis quodammodo respondere. Atque hoc mihi spem facit exeundi e difficultate. Nam etsi characteres sint arbitrarii, eorum tarnen usus et connexio habet quiddam quod non est arbitrarium, scilicet proportionem quandam inter characteres et res, et diversorum characterum easdem res exprimentium relationes inter se. Et haec proportio sive relatio est fundamentum veritatis. Efficit enim, ut sive hos sive alios characteres adhibeamus, idem semper sive aequivalens seu proportione respondens prodeat. Tametsi forte aliquos semper characteres adhiberi necesse sit ad cogitandum. - A. Euge: praeclare admodum te expediisti. Idque confirmat calculus analyticus arithmeticusve. Nam in numeris eodem semper modo res succedet, sive denaria sive ut quidam fecere, duodenaria progressione utaris [...]". 192; dt. Text 19ff.

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müßte man ergänzen, lautmalend wären, was jedoch der Existenz unterschiedlicher Sprachen widersprechen würde. Im Rationalismus des 18. Jahrhunderts setzt sich der Arbitraritätsgedanke immer deutlicher durch und erreicht einen ersten Höhepunkt in den Arbeiten Christian Wolffs.26 In der »Deutschen Metaphysik« unterscheidet Wolff zwischen „naturlichen" und „willkührlichen Zeichen"27 bzw., an anderem Ort, zwischen signum naturale und signum artiflciale1*. Der Rauch etwa sei ein natürliches Zeichen des Feuers, willkürliche Zeichen dagegen seien z.B. die Trachten, die Personen eines bestimmten Standes tragen, oder eben die Wörter.29 Diejenigen, „welche die Worter erst erdacht", mögen gute Gründe für ihre jeweilige Wahl gehabt haben, doch kann ein solcher Grund nie „nothwendig" gewesen sein, „wesentliche Bedeutung"30 gibt es nicht. Den Beweis liefere die unterschiedliche Bezeichnung identischer Sachverhalte in unterschiedlichen Einzelsprachen.31 Nicht zuletzt deshalb formuliert Wolff den Arbitraritätsgedanken so konsequent und ohne jeden sprachhistorischen Bezug, weil er damit seinen freien Umgang mit lexikalischen Neuprägungen im Bereich der philosophischen und mathematischen Fachterminologie zu rechtfertigen vermag. Abschließend sei nochmals Leibniz' Bemerkung aufgegriffen, daß eine zusätzliche natürliche, d.h. onomatopoetische Motiviertheit der Wörter von Nutzen sei. Diese Feststellung, in der die lautliche Motiviertheit wie ein frei wählbares Merkmal einer Sprache behandelt wird, begegnet bei Autoren, die an der Konzeption von Universalsprachen interessiert sind. Es handelt sich um jenes Phänomen, das hier als ,artifizielle Motiviertheit' bezeichnet wird: Lautliche Motiviertheit wäre beim Erwerb der Kunstsprache aus mnemotechnischen Gründen hilfreich. So wünschen sich Bischof Wilkins und Leibniz nicht nur eine auf die Strukturrelationen bezogene Entsprechung zwischen Sprachelementen und Wirklichkeit, sondern eine derartige Konstruktion der künstlichen Sprachzeichen, daß „affinity or opposition in their 26

27 28 29 30 31

Zu Wolffs Sprachtheorie s. die Arbeiten von U. Ricken, z.B. Ricken 1990, Kap. 7; zu unterschiedlichen Aspekten von Wolffs Philosophie sowie zur Fachliteratur über Wolffs. W. Schneiders (Hrsg.): Christian Wolff (1679-1754). Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Hamburg 1983. Vernunfftige Gedancken Von GOTT, Der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt, Par. 293ff. Disquisitio Philosophica de Loquela, 1703, Par. 7. Vernunfftige Gedancken Von GOTT, Der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt, Par. 293ff. Das letzte Zitat in: Ausfuhrliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, (Erstausg. 1726), Kap. 2, Par. 17. Ebd. sowie in Philosophia Prima, Sive Ontologia, (Erstausg. 1730), Par. 958ff.

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letters and sounds"32 die realen Gegebenheiten der bezeichneten Gegenstände und Sachverhalte spiegeln. In Frankreich argumentiert Marin Mersenne in fast identischer Weise, wenn er, im Rückgriff auf allgemeine Überlegungen Descartes', das a und das o für große und edle Dinge reservieren möchte, das e für feine Gegenstände und für den Ausdruck von Trauer, das / für kleine Gegenstände, das u für dunkle, geheimnisvolle Sachverhalte etc.33 Wiederum nahezu deckungsgleich formuliert Comenius die Zuordnung von Laut und Bedeutung: a zeigt Größe, / Kleinheit, o Vollkommenheit, Klarheit und Universalität, u das Dunkle und das Nichts, e das jeweils Mittlere, / das Weiche, r das Harte etc.34 Was in anderem Zusammenhang Ausdruck mystisch-kabbalistischen Glaubens war, wird für die Anhänger einer Universalsprache Gegenstand nüchterner Kalkulation.

6.2. Universalgrammatik und Entwürfe künstlicher Sprachen Es kann nicht überraschen, daß unter den Anhängern der Arbitraritäts-These insbesondere Vertreter der rational-universalistischen Sprachreflexion zu finden sind, von deren mnemotechnisch bedingter Forderung nach artifizieller Motiviertheit einmal abgesehen. Wo das einzelne Zeichen nicht transzendent oder ontologisch motiviert ist, wird die Sprache als ganze in ihrer Struktur berechenbarer, was der frühaufklärerischen Prägung der meisten Vertreter dieser Linie der Sprachreflexion entspricht. Vor allem den Planern einer Kunstsprache kommt die Vorstellung der Berechenbarkeit von Sprache entgegen: Sie sehen sich nicht einem Gebilde gegenüber, das durch Größen bestimmt ist, die dem Zugriff des Menschen entzogen sind, sondern können nach Maßgabe ihrer eigenen Entscheidungen über das Sprachmaterial verfügen. Dabei konzentrieren sie sich jedoch meist ausschließlich auf die strukturellen Aspekte der Kunstsprachen und lassen - nicht selten in naiver Fehleinschätzung historisch-pragmatischer Abläufe - die konkreten Erfordernisse zwischenmenschlicher Kommunikation außer acht. Die Folge ist, daß ihre Entwürfe, vielleicht mit Ausnahme der einen oder anderen Geheimsprache, nie in die Praxis umgesetzt wurden. Als die fünf wohl wichtigsten Kennzeichen universalistischer Arbeiten der frühen Neuzeit können gelten: 32 33 34

Essay, 21. Harmonie Universelle, Proposition 50. Panglottia, Sp. 329f.

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1. Das mentale Abbild wird als eigenständiger Faktor in der Bestimmung des Zeichenbegriffs betont. Im Gegensatz zur ontologisierenden Sprachreflexion wird damit nicht nur zwischen außersprachlichen Gegenständen und den sie bezeichnenden Ausdrücken differenziert, sondern eine dritte, mentale Größe etabliert. 2. Als ideale Relation zwischen den Größen Gegenstand, Abbild und Bezeichnung gilt die der Eindeutigkeit, im Bereich künstlicher Sprachen sogar der Isomorphie. Obgleich das Vertrauen der spekulativen Grammatik des Mittelalters in die Gegebenheit einer solchen Isomorphie in der lateinischen Sprache nicht auf die lebenden Einzelsprachen übertragen wird - man denke an die Sprachkritik Bacons, Lockes und der Rationalisten -, klingt doch gelegentlich der Glaube an eine Isomorphie zumindest auf der tiefenstrukturellen Ebene natürlicher Sprachen an. Die Forderung nach Eindeutigkeit und Isomorphie ist in Form und Inhalt nicht zu verwechseln mit dem Wunsch nach Eigentlichkeit im Verhältnis von Wort zu Gegenstand. Dem universalistischen Ansatz fehlt jegliche sprachpatriotische Ausrichtung, und er ist in seinen konkret sprachbezogenen Teilen frei von jener auch auf Mystizismen zurückgreifenden Verabsolutierung der Muttersprache, wie sie der ontologisierenden Sprachreflexion eigen ist. In gewisser Weise kann man ihn als rationale Variante des Natursprachegedankens bezeichnen, und sowohl Comenius als auch Leibniz erkennen in einer Kunstsprache eine Nachfolgerin der verlorengegangenen lingua Adamica.35 3. Die Wirklichkeit wird als objektiv gegeben und in dieser Objektivität erkennbar gesehen. Dies ist möglich aufgrund der vermuteten Universalität der Perzeptions- und Erkenntnisvorgänge. Die grundsätzliche Möglichkeit objektiver Erkenntnis bedeutet jedoch nicht, daß jeder Erkenntnisakt automatisch zu ,richtigen', d.h. dem tatsächlichen Gegebensein der Dinge entsprechenden Ergebnissen führt. 4. In einigen universalgrammatischen Arbeiten wird zumindest ansatzweise eine Unterscheidung in Oberflächen- und Tiefenstruktur getroffen. Diese Unterscheidung deutet sich bereits bei mittelalterlichen Autoren an, und die Begriffe zur Beschreibung der Veränderungen zwischen den strukturellen Ebenen gehen sogar auf die antike Rhetorik zurück, wo Quin-

35

Comenius in »Methodvs lingvarum novissima« (III, 32) und Leibniz u.a. in den »Nouveaux essais« (III, II, 1) sowie in »De connexione inter res et verba« (191f).

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tilian vier Arten von Verstößen gegen korrekte Syntax unterscheidet und sie als adiectio, detractio, transmutatio und inmutatio bezeichnet.36 5. Universalistische Arbeiten zeigen größeres Interesse auch an syntaktischen, nicht nur an lexikalischen Fragestellungen. Betrachtet man die Arbeiten der rational-universalistischen Sprachreflexion im Lichte des Bühlerschen Modells der Sprachfunktionen, so wird deutlich, daß die Ausdrucks- bzw. Symptomfunktion gar keine und die Appellfunktion im Grunde nur eine untergeordnete Rolle spielt. Letzteres gilt trotz der Formulierung kommunikativer Anliegen durch zahlreiche Autoren. Zwar werden Universalsprachen fast ausschließlich mit dem Wunsch nach reibungsloser Verständigung zwischen den Menschen begründet, doch wird dieses Anliegen gerade bei den Verfassern logisch-philosophischer Sprachen von dem Interesse an den rein strukturell-technischen Möglichkeiten ihrer Systeme überlagert; dies wird an anderer Stelle eingehender zu diskutieren sein.37 Dominierend ist stattdessen die Darstellungsfunktion, d.h. Ziel ist die zeichenrelational exakte Darstellung außersprachlicher Wirklichkeit. In der folgenden Untersuchung werden zunächst wichtige Vorläufer der rational-universalistischen Sprachreflexion des 17. und frühen 18. Jahrhunderts vorgestellt. Bei ihnen finden sich bereits die einschlägigen thematischen Schwerpunkte und die spezifische Methodik. In einem zweiten Schritt sollen einige Universalgrammatiken, in einem abschließenden dritten verschiedene Entwürfe von Universalsprachen einschließlich ihrer kryptographischen Tradition erörtert werden. Da die Universalismus-Thematik ein europäisches Phänomen ist, werden auch Autoren und Werke aus dem außerdeutschen Raum berücksichtigt. a) Vorläufer Die starke Beachtung, die der Sprachuniversalismus in den vergangenen drei Jahrzehnten in der Forschung erfahren hat38, darf nicht den Eindruck 36 37 38

,Hinzufiigung', .Tilgung', .Umstellung' und .Ersetzung'. In: Institutio oratoria, I, 5, 38-41. Vgl. Teil II, Kap. 3 („Sprache und Kommunikation"). Den Anstoß gab Chomskys »Cartesian Linguistics« von 1966. An Auseinandersetzungen mit Chomsky vgl.: G. Harman: [Rezension], in: Philosophical Review, 77, 1968, 229-235; K. E. Zimmer: [Rezension], in: International Journal of American Linguistics, 34, 1968, 290-303; H. E. Brekle: [Rezension], in: Linguistische Berichte, l, 1969, 52-66; ders.: The Seventeenth Century, in: Current Trends in Linguistics, ed. by T. A. Sebeok, vol. 13: Historiography of Linguistics. The Hague u. Paris 1975,

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entstehen lassen, daß die frühneuzeitliche Beschäftigung mit Sprache vorwiegend universalistisch ausgerichtet war. Den neuen Entwicklungen in der Theorie steht eine in weiten Teilen mehr oder weniger traditionelle humanistische Grammatik gegenüber, deren Ziel die Vermittlung praktischer Sprachfertigkeit war. Das ganze Mittelalter hindurch wurden als Lehrbücher die »Ars minor« des Donatus für die Grundlagen sowie, für den fortgeschrittenen Unterricht, die »Institutiones grammaticae« des Priscian eingesetzt. Die Grammatiken der frühen Neuzeit greifen weitgehend auf diese Vorlagen aus dem 4. bzw. frühen 6. Jahrhundert zurück und versuchen dabei, sie von mittelalterlich-dialektischen Überlagerungen zu befreien. Spezifisch mittelalterliche Lehrbücher wie die Satzlehre des Alexander von VillaDei werden verworfen, und ein Werk wie Laurentius Vallas »De linguae Latinae elegantia« von 1471 orientiert sich ausschließlich am antiken Ideal.39 In Deutschland kommt eine vergleichbare Funktion Philipp Melanchthon zu, dessen »Grammatica Latina« 1525 erschien, ein Jahr später gefolgt von der »Syntaxis«. Auch die im 16. Jahrhundert aufkommenden volkssprachlichen Grammatiken in Deutschland stehen noch deutlich in der antikhumanistischen Tradition.40

39 40

277-382, insbes. 333ff.; R. A. Hall: Some recent studies on Port-Royal and Vaugelas. In: Acta Linguistica Hamiensia, 12, 1969, 207-233; J. Miel: Pascal, Port-Royal, and Cartesian linguistics, in: Journal of the History of Ideas, 30, 1969, 261-271; V. Salmon: [Rezension], in: Journal of Linguistics, 5, 1969, 165-187; H. Aarsleff: The history of linguistics and Professor Chomsky, in: Language, 46, 1970, 570-585; ders.: ,Cartesian linguistics': History or fantasy? In: Language Sciences, 17, 1971, 1-12; ders.: The Eighteenth Century, Including Leibniz, in: Sebeok 1975, 383-479; W. K. Percival: On the non-existence of Cartesian linguistics, in: R. J. Butler (ed.): Cartesian Studies. Oxford 1972, 137-145. - An Untersuchungen u.a. zum Sprachuniversalismus seien genannt: L. Couturat u. L. Lcau: Histoire de la langue universelle. Paris 1903; A. Bausani: Geheim- und Universalsprachen: Entwicklung und Typologie. Stuttgart etc. 1970; Knowlson 1975; M. Cohen: Sensible Words: Linguistic Practice in England 1640- 1785. Baltimore u. London 1977; Salmon 1972 u. 1979; Slaughter 1982; Padley 1976, 1985 u. 1988; Formigari 1988; Strasser 1988; B. Naumann: ,Allgemeine Grammatik' vor und nach 1800 in Deutschland. In: D. Peschel (Hrsg.): Germanistik in Erlangen. 100 Jahre nach Gründung des Deutschen Seminars. Erlangen 1983; Bossong 1989; H. Weiss: Universalgrammatiken aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Münster 1992. Zu den sprachtheoretischen Aspekten von Vallas Werk, insbesondere zu seinen Stellungnahmen zur zentralen Bedeutung des Sprachgebrauchs und zu seiner Formulierung des Arbitraritätsgedankens vgl. Waswo 1987. Zu Parallelen und Unterschieden in der Terminologie und den damit angezeigten Konzepten vgl. Barbaric 1981; allgemein zu dieser Thematik, jedoch ebenfalls mit zahlreichen Beispielen: Padley 1976, 1985 u. 1988 sowie natürlich nach wie vor Jellinek 1913. Eine Übersicht bietet W. K. Percival: The grammatical tradition and the rise of the vernaculars. In: Sebeok 1975, 231-275.

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Über diese Tradition geht erstmals Julius Cäsar Scaligers »De causis linguae latinae« von 1540 hinaus. Scaliger schlägt neue morphosyntaktische Differenzierungen vor41 und greift in Einzelfällen gezielt auf Überlegungen der modistischen Grammatiker des Mittelalters zurück, etwa indem er auf der Unterscheidung zwischen der lexikalischen und grammatischen Bedeutung von Wörtern besteht: „At aliud est significare, aliud consignificare"42. So kann ein Substantiv einen Gegenstand oder Sachverhalt des zeitlichen Ablaufs anzeigen („significare"), z.B. „annus", nicht aber den zeitlichen Ablauf selbst. Dies wiederum leistet das Verb mittels seiner Flexive („consignificare"), so daß sich genau darin die modistische Unterscheidung zwischen dem Substantiv und dem Verb zeigt: Das Substantiv bezeichnet „per modum permanentis" und das Verb „per modum fluxus". Im Zusammenhang mit dem universalistischen Zeichenbegriff sind Scaligers Äußerungen zum Verhältnis zwischen Gegenstand, Abbild und sprachlichem Ausdruck wichtig. Die Gegebenheiten der Wirklichkeit sind fest vorgegeben - „res naturam non mutant"43 - und werden ohne menschliches Zutun durch die Sinne wahrgenommen („per sensus sine medio humano"44). So wird das Bewußtsein zum Spiegel der vorgegebenen Dinge („rerum speculum"45) und das einzelne Wort zum Zeichen der im Bewußtsein enthaltenen Vorstellungen („nota earum notionü, quae in anima sunt"46) bzw. genauer: zum Zeichen für eine einzige, im Bewußtsein vorgestellte Spezies („Nota unius speciei, quae est in animo"47). Die ganze Rede dient dann der lautlichen Manifestation des Bewußtseinsinhalts („Est enim Sermo dispositio uocü articulatarum ad interpretandum anirnum"48). Die Eindeutigkeit der Relation zwischen den Größen Wirklichkeit, Bewußtsein und Sprache kommt in Scaligers Zusammenfassung des Sachverhalts zum Ausdruck: „Wie die Vorstellungen von den Dingen Zeichen des Bewußtseins sind, so sind die Wörter Zeichen für diese Bewußtseinszeichen"49. Ein Pferd existiert demnach sowohl als Element der Wirklichkeit als auch als „species in intellectu" und als „nomen in uoce", in mündlicher oder schriftlicher Form.

41 Gerade dazu vgl. die Arbeiten Padleys. 42 IV, 75; S. 136. 43 III, 66; S. 115. 44 Ebd. 45 III, 66; S. 115. 46 1,1; S. 2. 47 III, 66; S. 115. 48 I, 2; S. 8. 49 „Sicut igitur imagines rerum sunt notiones intellectui: ita uoces sunt notionum illarum notiones [...]". III, Kap. 66; S. 115.

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Ziel jeder Rede ist die wahre Aussage, d.h. die Übereinstimmung der Rede mit der Wirklichkeit, „orationis aequatio cum re"50. Derlei Differenzierungen finden sich in der ontologisierenden Sprachreflexion nicht, was sich aus den unterschiedlichen Interessen erklärt: Schottelius, Zesen und anderen geht es um die Aufwertung des Deutschen und die Etablierung eines verbindlichen Standards, Scaliger und ihm Gleichgesinnte zielen auf die „communem rationem loquendi"51, d.h. auf die der Sprache zugrundeliegenden allgemeinen Vernunftprinzipien. Zu diesen Gleichgesinnten zählt Franciscus Sanctius Brocensis (Francisco Sanchez de laz Brozas), dessen »Minerva: seu de causis linguae Latinae« 1587 im spanischen Salamanca erscheint.52 Sanctius' Suche nach der ratio, den vera principia der Sprache findet am Beispiel des Lateinischen statt. Diese zugrundeliegenden Sprachprinzipien haben nach seiner Ansicht letztlich Entsprechungen in der für alle Menschen identischen Natur der Dinge, auch wenn die Rede nicht einfach und in allen Fällen auf die natürlichen Gegebenheiten abbildbar ist. Sanctius' Bestimmung der Wortarten - er unterscheidet drei: Nomen, Verb und Partikel - greift für Nomen und Verb auf Platons Unterscheidung zurück: Was wir bezeichnen ist entweder „permanens" (wie z.B. „Baum") oder „fluens" (z.B. „schlafen")53; diejenigen Wörter, welche die „res permanentes" bezeichnen, nennen wir Nomen, die anderen Verben. Zusätzlich jedoch liefert Sanctius eine morphosyntaktische Bestimmung: „nominis finitio est per vocem numeri casualis cum genere" bzw., für das Verb: „Verbum est vox particeps numeri personalis cum tempore"54. Insgesamt ist der Gedanke der Natürlichkeit sprachlicher Kategorien in der »Minerva« nicht wortsemantisch, sondern syntaktisch fundiert. Der vollkommene Grammatiker („perfectus, absolutusque grammaticus") 50 51

52

53 54

I, l, S. 2. IV, 75; S. 136. - Die an der gleichen Stelle hervorgehobene Bedeutung des usus - in der Definition der Grammatik als „scientia loquendi ex usu" - ist angesichts der gesamten Anlage von Scaligers Arbeit de facto sekundär. Vgl. M. Breva-Claramonte: Sanctius' ,Minerva' of 1562 and the Evolution of his Linguistic Theory. In: Historiographia Linguistica, 2, 1975, 49-66; ders.: Sanctius' Antecedents: the Beginnings of Transformational Grammar. In: Language Sciences, 44 u. 45, 1977, 9-18 u. 6-21; ders.: The Sign and the Notion of „General Grammar in Sanctius and Port-Royal. In: Semiotica, 24, 1978, 354-375; ders.: Sanctius' Theory of Language: A Contribution to the History of Renaissance Linguistics. Amsterdam 1983; ders.: Introduction, in: Sanctius: Minerva. Nachdruck. Stuttgart-Bad Cannstatt 1986; Bossong 1990, 170ff; zum folgenden vgl. insbes. Padley 1975, 97ff. I, 2; S. 10V: „Inquit enim ille [i.e. Plato, A.G.]: Quidquid enuntiatur, aut est permanens, vt arbor, durum: aut fluens, vt currit, dormit". I, 5;S. 15 v u. I, 12; S. 28r.

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kann seine Arbeit selbst dann gut verrichten, wenn er die Bedeutung der Wörter, mit denen er sich im strukturellen Kontext beschäftigt, nicht versteht („[...] etiam si sensum verborum non intelligat"55). In seinen syntaktischen Analysen geht Sanctius davon aus, daß den konkret in der Rede vorkommenden syntagmatischen Einheiten basalere Verkettungen zugrunde liegen, die ihrerseits den concepta mentis entsprechen. Er tut dies in einer Weise, die in gewisser Hinsicht Verfahren der Grammatiker von Port-Royal wie auch die moderne Unterscheidung in Oberflächen- und Tiefenstruktur vorwegnimmt. Chomsky hatte eben dies nicht erkannt, als er seine eigene grammatische Theorie erst mit dem Cartesianismus einsetzen ließ.56 In der Suche nach dem Beginn dieser grammatischen Tradition kann man noch über Sanctius hinaus- und zumindest bis zu den mittelalterlichen Modisten zurückgehen. Nach Thomas von Erfurt lassen sich z.B. alle Modi in eine zugrundeliegende Infinitivkonstruktion auflösen („resolvantur"). In „lego" verberge sich die dem mentalen Konzept tatsächlich entsprechende Form „indico me legere", in „lege" das explizitere „impero te legere"57. Beispiele dieser Art finden sich zuhauf bei Sanctius, etwa wenn er feststellt, daß in dem Satz „Ego Anibal peto pacem" der Subjektform „Anibal" das explizitere „Ens [...] Anibal" bzw. „Qui sum Anibal"58 zugrundeliegt. Solche Überlegungen implizieren den Gedanken einer universalen, von allen Menschen prinzipiell in gleicher Weise erkennbaren Wirklichkeit, die dann in Sprache umgesetzt wird. Was zur Debatte steht, ist allenfalls die je nach Einzelsprache unterschiedliche Oberflächenrealisierung, nicht jedoch die zugrundeliegende, mit der Wirklichkeit isomorphe mentale Struktur. Auch hier konnte man sich auf den Beginn von Aristoteles' »De interpretatione« berufen: Es sind also die Laute, zu denen die Stimme gebildet wird, Zeichen der in der Seele hervorgerufenen Vorstellungen, und die Schrift ist wieder ein Zeichen der Laute. Und wie nicht alle dieselbe Schrift haben, so sind auch die Laute nicht bei allen dieselben. Was aber durch beide an erster Stelle angezeigt wird, die einfachen seelischen Vorstellungen, sind bei allen Menschen dieselben, und ebenso sind es die Dinge, deren Abbilder die Vorstellungen sind. 55 56 57

58

I, 2; S. 8V. Vgl. Anm. 38. ,Ich lege' : ,Ich zeige an, daß ich lege'; ,Leg!' : ,Ich befehle dir, zu legen!'. - Grammatica speculativa, 224. II, 2. - Padley 75, 103, weist in diesem Zusammenhang zu Recht auf Parallelen zum Vorgehen von Thomas Linacre hin, der bereits 1524 sein entsprechendes Werk »De emendata structura Latini sermonis libri sex« veröffentlicht hatte. Auf Linacres Arbeit kann hier nicht eingegangen werden. - Weitere Beispiele zu Scaligers Transformationen bei Padley, ebd.

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Daß diese Auffassung auch für die mittelalterlichen Grammatiker Gültigkeit besitzt, wurde bereits angedeutet. Hier eine einschlägige Stelle aus einem anonymen Traktat des 14. Jahrhunderts, das den Zusammenhang in mustergültiger Weise auf den Punkt bringt: Ob allen Sprachen eine einzige Grammatik zugrunde liegt? Ja, denn die Natur der Sachen, der Seinsweisen [„modi essendi"] und der Auffassungsweisen [„modi intelligendi"] sind für alle bzw. bei allen Menschen ähnlich. Dementsprechend sind auch die Weisen des Bezeichnens [„modi significandi"], des Konstruierens [„modi construendi"] und des Sprechens [„modi loquendi"], welche die Grammatik konstituieren, ähnlich. Und so ist die gesamte Grammatik einer Sprache derjenigen einer anderen Sprache ähnlich und ist von der gleichen Art wie diese. Unterschiede entstehen einzig durch die verschiedenen Abwandlungen der Wörter; solche Abwandlungen sind Akzidenzien der Grammatik. Wer [also] die Grammatik einer Sprache kennt, kennt auch die einer anderen, zumindest die wesentlichen Aspekte. Der Grund dafür, daß man mit Hilfe dieser Grammatik dennoch nicht eine Sprache sprechen oder die in ihr Sprechenden verstehen kann, liegt in den Unterschieden zwischen den Wörtern und deren unterschiedlichen Abwandlungen, welche die Akzidenzien der Grammatik sind. Die Wortarten sind in den unterschiedlichen Sprachen ihrem Wesen nach dieselben und unterscheiden sich [nur] akzidentell, wie es [zum Beispiel] vorkommt, daß einige Sprachen über einen Artikel verfugen, andere nicht. Und wie sich die Wortarten welche die Substanz der Bezeichnungsweisen sind - in den verschiedenen Sprachen nur der Zahl, nicht aber der Art nach unterscheiden, so unterscheiden sich auch die Bezeichnungsweisen selbst nur nach Zahl und nicht nach Art. Demnach gibt es in der gesamten Grammatik nur zahlenmäßige Unterschiede.59

Die Art und Weise der Existenz der Dinge sowie die Weisen ihrer intellektuellen Verarbeitung sind universell, ebenso die semantischen und grammatischen Aspekte der Sprachen, jedenfalls auf einer tiefenstrukturellen Ebene. Die Verschiedenheit der Flexionsmerkmale und der Ausdrucksseiten der Wortstämme ist nur akzidentell. 59

„Utrum omnia ydiomata sint una gramatica. Sic, quia nature rerum et modi essendi et intellegendi similes sunt apud omnes, et per consequens similes modi significandi et construendi et loquendi a quibus accipitur gramatica. Et sie tota gramatica que est in uno ydiomate similis est illi que est in altero, et una in specie cum ilia, diversificata solum secundum diversas figurationes vocum, que sunt accidentales gramatice. Unde sciens gramaticam in uno ydiomate seit earn in alio, quantum ad omnia que sunt essentialia gramatice. Quod tarnen secundum earn non loquatur in illo nee loquentes intelligat, hoc est propter diversitatem vocum et diversas figurationes earum, que sunt accidentalia gramatice. Partes enim orationis, in diversis ydiomatibus sunt eedem essentialiter, diversificate accidentaliter. Unde quod apud aliquos est articulus et aliquid huiusmodi, quod non apud alios, accidit. Et sicut diverse numero, non specie sunt partes orationis, que sunt substantia modorum significandi, in diversis ydiomatibus, sie et modi significandi; et per consequens tota gramatica solo numero diversificatur". In: C. Thurot (Hrsg.): Extraits de Divers Manuscrits Latins pour Servir a l'Histoire des Doctrines Grammaticales au Moyen Age. Paris 1869. Nachdruck. Frankfurt 1964, 125.

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Nachdem mit Scaliger und Sanctius zwei Autoren benannt wurden, die entscheidende inhaltliche Neuerungen im Bereich der Grammatikschreibung einführten - wenngleich sie dabei auf Traditionen zurückgriffen, die zum Teil Jahrhunderte zurücklagen -, sei nun mit Petrus Ramus (Pierre de la Ramee) ein Autor erwähnt, an dessen Werk hier nur methodische Aspekte interessieren sollen.60 Ramus setzt sich in seinen sprachbezogenen und logischen Schriften zum Teil scharf vom Aristotelismus und seiner scholastischen Rezeption ab, am deutlichsten in seinen »Aristotelicae animadversiones« von 1543.61 Schlagartig bekannt war er geworden, als er an der traditionell aristotelisch geprägten Pariser Universität in seiner Magisterdisputation die These vertrat, „Quaecumque ab Aristotele dicta essent, commentitia esse", daß alles, was Aristoteles gesagt habe, falsch sei. Wie der etwas ältere Spanier Juan Luis Vives, der in »Adversus pseudodialecticos« bereits 1520 seiner Unzufriedenheit mit dem zeitgenössischen, seiner Ansicht nach sich in logischen Spielereien verlierenden scholastischen Aristotelismus seiner Pariser Lehrer Ausdruck verliehen hatte, rief Ramus damit den Widerstand der konservativeren Gelehrten hervor, was ihm unter anderem ein vorübergehendes Lehrverbot einbrachte. Ramus' Arbeiten sind von großer methodischer Strenge. Seine Anhänger leiteten daraus ein Ideal stilistischer Schlichtheit und argumentativer Stringenz ab, das sich im Norden und Osten Deutschlands gelegentlich mit einem strengen Protestantismus verband, dem von seinen Gegnern eine gewisse Nähe zum Calvinismus nachgesagt wurde.62 Um 1600 erreicht der Ramismus seine größte Verbreitung in Deutschland, fast sämtliche philosophischen Lehrstühle im Nordosten sind von Ramisten besetzt.63 Ramus' Gegner finden sich vorwiegend im katholischen Lager, aber auch unter den Anhängern Melanchthons, und so kommt es um die Jahrhundertwende zu einer Reihe von grammatischen Veröffentlichungen, in denen ein Kompro60

61 62 63

Die Hervorhebung von Scaliger, Sanctius und Ramus als wichtigen Vertretern frühneuzeitlicher Sprachreflexion findet sich auch bei Padley (1975). - Zu Ramus vgl. auch: W. J. Ong: Ramus. Method, and the decay of dialogue. Cambridge/Mass. 1958; W. Risse: Die Logik der Neuzeit. Bd. 1. Stuttgart 1964; Padley 1985, 9ff; Schmidt-Biggemann 1983. Gleichwohl bleibt Ramus in mancherlei Hinsicht Aristoteles verpflichtet; vgl. F. P. Graves: Petrus Ramus and the Educational Reformation of the Sixteenth Century. New York 1912. Vgl. Ong 1958, 160ff. u. Padley 1985, 46. - Padley (1985, 10) unterscheidet zwei zentrale Aspekte des Ramismus, „its obsession with method and a dialectical approach and, above all, what amounts to its mania for quantification". Ong 1958, 164.

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niß zwischen den Parteien versucht wird, etwa der »Grammatica Latina Philippo-Ramea" von 1591. Ramus' Verfahren, ein komplexes Ganzes wie die Grammatik einer Sprache in einem streng definierten System von Über- und Unterordnungen zu beschreiben, findet eine Reihe von Nachahmern, auch unter deutschen Grammatikern. Die deutlichsten Spuren dieses rigiden dichotomischen Vorgehens zeigen sich in den Arbeiten Wolfgang Ratkes und einiger seiner Anhänger. Ein Beispiel aus dessen »Wortschickungslehr«: Von dem Geschlecht. 1. Was ist das Geschlecht? Das Geschlecht ist ein vnterscheid des worts, die Gattung eines dinges zuerkennen. 2. Was verstehest!! durch die Gattung? Allerley form vnd arten der Nennwörter, dardürch das Geschlecht eines Jeden dinges vnterschieden werden kan. 3. Wie mancherley ist das Geschlecht? Zweierley: Einfach vnd vielfach. 4. Wie wird das Einfache getheilet? Jn das Einschlechtige vnd keinschlechtige. 5. Was ist das Einschlechtige? Das Mannliche vnd Frawliche. 6. Was ist das Mannliche? Welches Mannliche, oder gleichsam Mannliche Sachen andeutet, alß keyser, Julius, mann, kriegsknecht, Südwind, der Berg Atlas. 7. Was ist das Frawliche? Welches Frawliche oder gleichsam Frawliche Sachen andeutet alß Lucretia, mutter, Fraw, Schwester, magd, die Jnsel. 8. Was ist aber das keinschlechtige? Welches weder den Männlichen, noch den frawlichen Sachen zustehet, alß das Grab, mahl, kalb, lamb, bad, rad, glied, pfand etc. 9. Wie mancherley ist das vielfache Geschlecht? Zweierley: Zweyfach vnd Dreyfach. 10. Wie wird genennet das zweyfache? Zweyschlechtig. 11. Was ist das zweyschlechtige? [...].64

Ein Blick in die Grammatik von Christian Gueintz zeigt die Parallele zu Ratke und damit wiederum zu Ramus: Von der Deutschen Sprachlehre. Die Deutsche Sprachlehre ist eine dienstfertigkeit der zusammensetzlichen Deutschen worter recht rein Deutsch zu reden. Worbey in acht zu nemen / die Endbetrachtung und mittelhandelung.

64

S. 165.

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Sprache, Denken und Wirklichkeit In der Endbetrachtung sind etzliche sachen wesendlich / etzliche zufallig. Die wesendliche sind Innerlich / oder eußerlich. Innerlich sind die beschreibung des wertes / oder des dinges. Beschreibung des wortes: [...].65

b) Universalgrammatiken: italienische, französische und deutsche Ansätze Die bei Scaliger, Sanctius und Ramus in Ansätzen begegnende Suche nach der communis ratio loquendi setzt sich im 17. Jahrhundert in zahlreichen Arbeiten fort. Etwa 400 Jahre, nachdem Roger Bacon feststellte, daß die grammatische Substanz aller Sprachen identisch sei („grammatica vna et eadem est secundum substanciam in omnibus linguis"66), schreibt John Wilkins, daß die Menschen aufgrund ihres gemeinsamen „Principle of Reason" über die gleichen mentalen Abbilder der Dinge verfügen: Die Vorstellung, welche die Menschen von einem Pferd haben, „is the Notion or mental Image of that Beast"67. Der Ausdruck dieser mentalen Abbilder richte sich mittels Artikulation an das Ohr oder durch die Schrift an das Auge, und es seien ausschließlich diese - ohnehin willkürlich zustande gekommenen - rein äußerlichen Ausdrucksformen, welche die Sprachen unterscheiden. Der Schritt zur Universalsprache drängt sich geradezu auf: „So that if men should generally consent upon the same way or manner of Expression, as they do agree in the same Notion, we should then be freed from that Curse in the Confusion of Tongues, with all the unhappy consequences of it". Nur vor dem Hintergrund der Annahme einer idealen Kongruenz von Wirklichkeit und mentalem Abbild - eine Auffassung, die auch in der aufklärerisch-rationalen Sprachreflexion des 18. Jahrhunderts dominieren wird - erklären sich Bemerkungen wie die von Francis Bacon, im Chinesischen stünden die Schriftzeichen für „Things or Notions"68, d.h. ohne daß Bacon zwischen den beiden Größen differenziert, oder wie die bereits zitierte Bemerkung von Leibniz, die Worte seien nicht nur der Gedanken, „sondern auch der Dinge Zeichen"69. Bei Johann Joachim Becher wird die mentale Zwischenstufe gar nicht erst erwähnt, wenn er das universalistische Moment der Sprache in der lakonischen Feststellung zusammengefaßt, daß 65 66

67 68 69

S. 1. The Greek Grammar of Roger Bacon and a Fragment of His Hebrew Grammar. Hrsg. v. E. Nolan u. S. A. Hirsch. Cambridge 1902, Kap. II, S. [xvii]. Dieses Zitat und die folgenden. Essay, 20. Of the Advancement of Learning, 399 (unsere Hervorhebung). Unvorgreiffliche Gedancken, Par. 5.

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„ein Hund [...] in der gantze Welt ein Hund" sei und sich lediglich die Bezeichnungen dafür unterschieden, eben „Hund", „Canis", „Cheleb", „Kyon", „Chien", „Cane" etc.70 Daß auch Comenius' Gedankengebäude auf dem universalistischen Kongruenzgedanken basiert, wurde im Zusammenhang mit seiner Rede von den principia innata11 bereits betont. Seinem pansophischen Anliegen entspricht, daß er den Bereich des Universellen auf sämtliche Bereiche des Wissens, Wollens und Tuns („Scire, Velle, Posse"72) ausweitet. Im sprachlichen Bereich bedeutet dies, daß die Kenntnis der idea einer einzigen Sprache den Zugang zu allen anderen Sprachen erschließt73. Da „die Dinge allen auf eben dieselbe Weise sich zeigen, und allen dieselbe Grundstruktur des Erkenntnisvermögens eigen ist"74, liegen die Probleme nur in der äußerlich unterschiedlichen Sprachform. Auch für Comenius ist die Forderung nach einer Universal spräche unausweichlich. Bevor jedoch die konkreten Entwürfe für Universalsprachen im einzelnen betrachtet werden, sollen einige universalgrammatische Ansätze, die auf Überlegungen von Scaliger und Sanctius zurückgreifen können, diskutiert werden. Es handelt sich um Arbeiten eines Italieners, zweier Franzosen sowie eines Deutschen. In Paris erscheint 1638 das Hauptwerk des neapolitanischen Dominikaners Tommaso Campanella: »Philosophiae rationalis partes quinque, Videlicet: grammatica, dialectica, rhetorica, poetica, historiographia«. Hier interessiert nur der erste Teil, die Grammatik.75 An vielen Stellen des Werks fällt auf, daß Campanella sich keineswegs nur am Lateinischen orientiert und dieses sozusagen unter der Hand zur universalen Sprache erklärt. Neben der noch fast selbstverständlichen Einbeziehung des Griechischen und Hebräischen spielen auch neben lebenden europäischen Sprachen das Arabische sowie asiatische Sprachen eine Rolle; Informationen über letztere waren durch die Berichte von Missionaren nach Europa gelangt. Der universalistische Tenor des Buchs tritt etwa an Bemerkungen wie der hervor, wonach die Beugung des Verbs ein nur akzidentelles Phänomen ist - und damit keine sprachliche Universalie sein kann -, weil im Vietnamesischen Verben keine Tempus- oder Personenangaben enthielten. Gleichwohl ist Campanella in vielem mittelalterlich-modistischen Autoren verpflichtet. 70 Methodvs Didactica, 4. 71 Via lucis, 286. 72 Ebd. 73 Panglottia, III; Sp. 261. 74 „cum Res nonnisi eodem modo sint omnibus, et Intellectus structure eadem sit omnibus". Panorthosia, V, Par. 19. 75 Vgl. hierzu Padley 1976, 160ff. u. Bossong 1990, 210ff.

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Wie sie geht er von einer Kongruenz mentaler und, in der Folge, sprachlicher Strukturen mit den Erscheinungen der Wirklichkeit aus; die Kategorien von Sprache ergeben sich „ex natura rei"76. Die Definitionen von Wort und Satz spiegeln dies: Das Wort, „naturalibus instrumentis formatus", dient dem Ausdruck einer einfachen, d.h. nicht zusammengesetzten Vorstellung, der Satz dagegen dem Ausdruck eines im Bewußtsein gebildeten Vorstellungskomplexes.77 Der methodischen Stringenz des Ansatzes entspricht die an den Anfang der Untersuchung gestellte Unterteilung der Grammatik in „Ciuilis" und „Philosophica"78, wie sie im 17. und frühen 18. Jahrhundert nicht unüblich ist. Die erstere bezieht sich auf die Alltagssprache und argumentiert „ex autoritate vsuque", d.h. auf der Basis als vorbildlich geltender, konkreter Sprachzeugnisse; sie beruht auf Erfahrung und ist keine Wissenschaft („peritia est, non scientia"79). Ihr steht die philosophische Grammatik gegenüber, die sich nicht am historisch Gewordenen der Sprache, sondern an ihrer inhärenten rationalitas orientiert („non agnoscit aetatem linguae, sed rationalitatem"80). Die Einteilung der Wortarten unterscheidet sich nicht von der vieler anderer Autoren: Nomen, Verb, Partizip, Pronomen, Adnomen (d.h. Präposition), Abverb und Konjunktion werden unterschieden. Mit geringen Abweichungen ist dies dieselbe Aufteilung, die schon Dionysius Thrax in seiner »Techne« vollzog.81 Die Zusammenfassung von Pronomen, Adnomen, Adverb und Konjunktion zu einer Gruppe, deren Elemente sich nicht durch lexikalisches „significare", sondern durch grammatisches „consignificare" auszeichnen, erinnert wiederum an modistisches Vorgehen.82 Ganz in diesem Sinne wird der Unterschied zwischen Nomen und Verb bestimmt: Das Nomen ist jene pars orationis, welche durch willentliche Setzung - d.h.

76 77

78 79 80 81

82

Philosophia rationalis, I, S. 5. „Vocabulum est sonus, ore animalis prolatus, naturalibus instrumentis formatus, ad signiflcandum aliquid simplex mente conceptum", S. 13. - „Oratio est vocabulorum complexio, ordinata ad manifestandum quidquid animo complexe concipitur", S. 15. - Dem Kontext nach kann sich „orafto" hier auf einen oder mehrere Sätze beziehen. S. 3. Ebd. Ebd., S.6. Dionysius Thrax unterscheidet zusätzlich den Artikel, wobei jedoch unter diese Kategorie arthron auch das Relativpronomen fallt. Im Zusammenhang mit der Bestimmung des Nomens, zu dessen Merkmalen das „significare" gehört, heißt es: „Dixi signißcans: ad differentiam consigruficantium. Aduerbium enim & pronomen, & praenomen, & Conjunctio consigruficant aliqua circa essentiam & actus: non autem significant aliquid ratum". S. 18.

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nicht „ab animi affectione", wie dies für Interjektionen gilt, die deshalb bei den Wortarten gar nicht erst auftauchen - die „essentia" einer Sache anzeigt, während das Verb den „actus" der Dinge, bzw. genauer: „essentiam cum actu"83 ausdrückt. Am Beispiel des Nomen seien einige interessante Folgedifferenzierungen Campanellas aufgezeigt. Zunächst werden mehrere Weisen des nominalen Ausdrucks der „essentia" voneinander abgehoben: Das reine Wesen („essentiam puram") drücken Wörter wie „Amor" und „Homo" aus; die Zuordnung einer essentia zu einer anderen wird z.B. durch „humanu[s]" angezeigt; die auf Handlung bezogenen Formen der essentia liegen entweder in Form der ,,essenti[a] actionis" vor (Typ „lectio, amatio, auditio"), der ,,essenti[a] patient's" (Typ ,/acttira, creatura, armalura"), der „essenti[a] instrumenti actus" (Typ „amatorium, auditorium, sensorium") etc.84 Inhaltlich, d.h. nicht hinsichtlich der Weisen des Ausdrückens, bezeichnet das Nomen nach Campanella neben Substanz und Qualität auch die essentias „quanritatem, & formam, & actum, & actionem, & passionem, & sinülitudinem, & dissimilitudinem, & Relationem"85. Selbst die essentia des „Non ens" kann bezeichnet werden, wie das Nomen „nihilum" zeigt. Daß der Bezug von sprachlichen zu mentalen und realen Kategorien in der »Philosophia rationalis« kein vordergründiger ist, zeigen auch Campanellas Überführungen einer Oberflächenstruktur auf die zugrundeliegende Form im syntaktischen Bereich: Wird z.B. auf die Frage „vis panem" mit „volo" geantwortet, so sind in „volo" das Pronomen „ego" und das Nomen „panem" impliziert.86 Die der Rede vorausgehenden Abläufe werden so zusammengefaßt: „Als erstes stellen wir uns im Geist einfache Dinge vor, dann machen wir sie in der Sprache mittels einer Verbindung von Wörtern manifest, und zwar so, daß diese Wörter die ratio der Vorstellung ausdrükken. Dann verbinden wir die Vorstellungen von den Dingen, wie sie in der Natur gegeben sind, und machen eine Äußerung. Die Wörter bezeichnen also die Dinge, die Sätze dagegen die Verbindungen der Vorstellungen von den Dingen"87.

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S. 18. - Die Definition des Nomen steht S. 17. S. 19. S. 18f. S. 15. „[...] quoniam prius concipimus animo res simplices, deinde vocabulis manifestamus ore concinnatis, ita vt rationem conceptus exprimant. Deinde coniungimus res conceptas, vti sunt in natura, & facimus orationem. Vocabula ergo significant res: oratio complexiones rerum conceptarum". S. 15.

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Spuren dieses rational-universalistischen Sprachdenkens finden sich immer häufiger in Arbeiten des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, und es ließen sich aus mehreren westeuropäischen Ländern einschlägige Beiträge zitieren. In Italien etwa erscheint nur fünf Jahre nach Campanellas Werk ein volkssprachliches Buch Benedetto Buonmatteis zum Toskanischen, das sich gleichwohl mit universalistischen Fragen beschäftigt.88 Der spanische Bischof Juan Caramuel y Lobkowitz veröffentlicht 1654 seinen »Praecursor logicvs complectens grammaticam audacem«, der schon durch die Parenthese „ab omnibus linguis" in der Überschrift des ersten Teiles sein universalistisches Anliegen zu erkennen gibt. Caramuel geht es um eine ,Jrfetagrammatica"*9, und er sucht sie in enger Anlehnung an mittelalterliche und frühneuzeitliche Vorgänger. Explizit stellt er sich in eine Tradition, die von Thomas von Erfurt über Scaliger bis zu Campanella fuhrt. Wiederholt beruft er sich auch auf Augustinus, mit dem er das Zeichen definiert als dasjenige „quodpraeter speciem quam ingerit sensibus facit aliud in nostram notitiam devenire"90. An einer Stelle wird der berühmte Leitgedanke des Wilhelm von Ockham zitiert: „Non sunt multiplicanda entia absque neceßitate"91. Wenn Caramuel dies auch speziell auf die Zahl der Buchstaben des Alphabets bezieht („Non sunt multiplicandae litterae sine neceßitate"), so gibt die Maxime doch treffend den Geist dieses Werks und einer zunehmend wichtigen Linie der frühneuzeitlichen Sprachreflexion wieder: Das Ideal ist die möglichst ökonomisch konstruierte, auf der Ebene von Oberflächen- wie Tiefenstruktur den Gesetzen der Vernunft verpflichtete, mit den Größen Wirklichkeit und Denken in Isomorphieverhältnisse eingebundene und sich semantisch nicht in Mehrdeutigkeiten verlierende Sprache. Die diesem Sprachbegriff korrelierende Art der Grammatikschreibung kommt in mustergültiger Weise in der 1660 erscheinenden »Grammaire generate et raisonnee« zum Ausdruck.92 Ihre Autoren, Antoine Arnauld und 88

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Delia lingua toscana. Florenz 1643. - Vgl. dazu: H. E. Brekle: Semiotische und sprachtheoretische Positionen in Benedetto Buonmatteis „Delia lingua toscana" (1643). In: J. Trabant (Hrsg.): Logos semantikos. Studia linguistica in honorem Eugenio Coseriu (1921-1981). Bd. 1. Berlin u. Madrid 1981, 191-206. S. 3. S. 5. - Diese zeichentheoretischen Grundlagen werden von Caramuel in weitgehend wörtlicher Übereinstimmung bereits in seiner »Rationalis et realis philosophia« von 1642 ausgeführt. Ich zitiere allerdings aus dem späteren Werk, da dies im Nachdruck vorliegt. Ebd., 4. Die Literatur zur »Grammaire« ist seit Chomskys Buch von 1966 reichhaltig. Hier sei lediglich auf eine kleine Auswahl verwiesen: H. E. Brekle: Semiotik und linguistische Semantik in Port-Royal. In: Indogermanische Forschungen, 69, 1964, 103-121; ders.:

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Claude Lancelot, waren Jansenisten und lebten im Kloster Port-Royal, unweit von Paris. Sie gehörten damit einer protestantischen Gruppierung an, die sich, ähnlich wie der Calvinismus, durch konzeptionelle Strenge auszeichnete, was wiederum ein Grund für die erbitterte Gegnerschaft der Jesuiten war, die schließlich mit staatlicher Unterstützung gewaltsam über sie dominierten. Diese konzeptionelle Strenge ist auch der »Grammaire« anzumerken, ebenso wie der zwei Jahre später veröffentlichten Logik von Port-Royal - »La logique ou l'art de penser« -, verfaßt von Amauld und Pierre Nicole. Im folgenden sei die Grammatik betrachtet. Schon ihr Titel ist aufschlußreich: „generale" verweist auf das universalistische Element, „raisonee" auf das rationalistische. Das Werk steht in cartesianischer Tradition, aber auch, wie alle Universalgrammatiken der Zeit, in der mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Autoren, soweit diese universalistische Interessen zeigen, also etwa Scaligers und Sanctius'.93 Doch sind die Neuerungen nicht zu übersehen, bereits in der Wahl der Bezugssprache: War dies für die Modisten noch ausschließlich, für Scaliger und Sanctius noch vorwiegend das Lateinische, ist es für Amauld und Lancelot die Volkssprache Französisch. Die Grammatik beginnt mit diesen Worten: Grammatik ist die Kunst des Sprechens. Sprechen ist das Darlegen der eigenen Gedanken mittels Zeichen, welche die Menschen zu diesem Zweck erfunden haben. Nach verbreiteter Ansicht sind die nützlichsten dieser Zeichen Laute und Vokale. Da jedoch diese Laute vergänglich sind, erfand man andere Zeichen, um sie dauerhaft und sichtbar zu machen; dies sind die Schriftzeichen [...].

93

[Einführung zur Ausgabe der »Grammaire«], Stuttgart 1966, VII-XXXII; ders.: Die Bedeutung der Grammaire generale et raisonnee - bekannt als Grammatik von PortRoyal - für die heutige Sprachwissenschaft. In: Indogermanische Forschungen, 72, 1967, 1-21; R. Lakoff: »La Grammaire generale et raisonee ou la Grammaire de PortRoyal«. In: Parret 1976, 348-373 [ursprünglich Rezension zu Brekles Ausgabe der Grammatik]; W. K. Percival: The Notion of Usage in Vaugelas and in the Port-Royal Grammar. In: Parret 1976, 374-382; Padley 1976, 219ff.; Padley 1985, 283fF; M. Dominicy: La naissance de la grammaire moderne. Langage, logique et philosophic a Port-Royal. Brüssel 1984; J.-C. Pariente: L'analyse de langage ä Port-Royal. Six etudes logico-grammaticales. Paris 1985; Bossong 1990, 182ff. Die Grammatik von Port-Royal ist damit in besonderer Weise repräsentativ für das, was Bossong (1990) den „zweiten Universalismus" nennt, der auf den ersten Universalismus der mittelalterlichen Sprachreflexion folgt. Den universalistischen Strömungen stehen nach Bossong zwei partikularistische gegenüber: die humanistische Hinwendung zur Muttersprache sowie die Zeit „des Historismus zwischen Aufklärung und Romantik". Bossong betont, daß der zweite Universalismus nicht einfach ein Abklatsch des ersten ist, sondern es sind „die Ergebnisse des ersten Partikularismus in ihn eingegangen" (S. 187).

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Sprache, Denken und Wirklichkeit Demnach kann man zwei Aspekte der Zeichen unterschieden: Erstens, was sie ihrer Natur nach sind, d.h. als Laute und Schriftzeichen. Zweitens, was sie hinsichtlich ihrer Bedeutung nach sind, d.h. der Art und Weise, in der die Menschen sie zur Bezeichnung ihrer Gedanken verwenden.94

Die Zeichen wurden also von den Menschen zu bestimmten Zwecken erfunden; sie sind Gegenstand menschlichen Nützlichkeitsdenkens. Da die Lautzeichen für bestimmte Zwecke als unzureichend bewertet wurden, erfand man die Schriftzeichen. Die Bedeutung der Sprachzeichen ergibt sich aus ihrer Verwendung zur Bezeichnung durch die Menschen. Im zitierten Textstück schildern Arnauld und Lancelot den Ablauf der Sprachfindung in einer Weise, die den Menschen in eine Position absoluter Souveränität gegenüber seiner Sprache versetzt. Seine Entscheidungen werden nach Abwägung der Situation, zur Lösung bestimmter Probleme getroffen. Wenn hier von der „nature" der Sprachzeichen die Rede ist, dann beinhaltet dies nichts Numinoses, das seinerseits auf rational nicht ganz nachvollziehbare Weise auf den Menschen einzuwirken vermag. Dem entspricht der Bedeutungsbegriff: Das Zeichen steht nicht einfach für den Gegenstand oder dessen mentales Abbild, sondern gewinnt seine semantischen Qualitäten durch die Art und Weise der Verwendung. Tatsächlich klingt gerade diese Stelle moderner, als sie ist, da die referentiellen Eigenschaften der Sprachzeichen von Arnauld und Lancelot nie aufgehoben werden, doch markiert die Betonung der Sprecherrolle in jedem Fall einen wichtigen Unterschied zur Auffassung anderer Autoren. Der rational-analytische Duktus des Werks setzt sich in der Diskussion der Buchstaben fort. Unmittelbar repräsentieren die Schriftzeichen ausschließlich Laute, doch bewegen sich die Gedanken der Menschen häufig von den Schriftzeichen zu den bezeichneten Gegenständen selbst95, eine Feststellung, die bei Locke in eine Kritik an der Identifizierung der Zeichen

94

95

„LA GRAMMAIRE est l'Art de parier. Parier, est expliquer ses pensees par des signes, que les hommes ont inventez ä ce dessein. On a trouve que les plus commodes de ces signes, estoient les sons & les voix. Mais parce que ces sons passent, on a invente d'autres signes pour les rendre durables & visibles, qui sont les caracteres de Fecriture [...]. Ainsi peut considerer deux choses dans ces signes: La premiere; ce qu'ils sont par leur nature, c'est ä dire, en tant que sons & caracteres. La seconde; leur signification: c'est ä dire, la maniere dont les hommes s'en servent pour signifier leurs pensees" (S. 5). Zitiert wird nach dem von H. E. Brekle 1966 herausgegebenen Nachdruck der Grammatik. Es wird dabei allerdings nicht danach differenziert, von welchem der beiden Autoren ein betreffender Textbeitrag stammt. „Mais quoy que ces figures ou caracteres selon leur premiere institution ne signifient immediatement que les sons, neanmoins les hommes portent souvent leurs pensees des caracteres ä la chose mesme signifiee par les sons". S. 18.

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mit den Gegenständen gewendet werden wird. So lassen sich die Schriftzeichen in zweierlei Hinsicht betrachten, als auf einen jeweiligen Laut verweisende oder als Elemente, die uns bei der Vorstellung dessen helfen, was der Laut bezeichnet. In der erstgenannten Hinsicht müssen die Schriftzeichen vier Kriterien genügen, um ihr optimales Funktionieren zu gewährleisten: 1. Jedes Schriftzeichen soll für einen Laut stehen, d.h. daß nichts geschrieben werden soll, das nicht auch gesprochen wird; 2. jeder Laut soll einem Schriftzeichen zugeordnet sein, d.h. daß nichts gesprochen werden soll, was nicht auch geschrieben wird; 3. jedes Schriftzeichen soll ausschließlich für einen einzigen Laut stehen; 4. ein und derselbe Laut soll nicht unterschiedlichen Schriftzeichen zugeordnet werden.96 Diesen Kriterien liegt der gleiche Wunsch nach zeichenrelationaler Eindeutigkeit zugrunde, der auch die Universalsprachentwürfe der Zeit prägt. Daran ändert auch die Einschränkung der Autoren nichts, daß die gelegentliche Nichtbeachtung zumindest des ersten und des vierten Kriteriums angesichts der zweiten Funktion der Schriftzeichen - uns beim Vorstellen der bezeichneten Gegenstände zu helfen - sogar zugute komme. Mit einer Feststellung zur Funktion der Einzellaute beginnt auch der zweite Teil der »Grammaire«, der sich insgesamt mit dem geistigen („spirituel") Aspekt der Sprache beschäftigt. Die Überschrift läßt die Prioritäten eines mentalistischen Ansatzes deutlich werden: „Daß das Wissen dessen, was in unserem Geist geschieht, zum Verständnis der Grundlagen der Grammatik notwendig ist; und daß davon die Unterschiedlichkeit der Worte abhängt, welche die Rede bilden"97. Kurz darauf findet sich jene Passage, die Chomsky ersten Anlaß zur Behauptung der generativen Qualität dieser Grammatik gab: Arnauld und Lancelot bezeichnen es als „invention merveilleuse", daß man aus 25 oder 30 Lauten eine „infinie variete de mots"98 bilden könne. Von dort gelangen sie zur Definition der Wörter als distinkten und artikulierten Lauten, welchen die Menschen Zeichencharakter verliehen haben, um ihre Gedanken zu bezeichnen. Als die zentralen mentalen Operationen werden charakteristischerweise „CONCEVOIR, IVGER, RAISONNER"99 bestimmt, wobei das erstere das Bilden von Vorstellungen meint, das zweite das Treffen von einfachen Feststellungen (Urteilen) auf der Basis

96 Ebd. 97 „Que la connoissance de ce qui se passe dans nostre esprit, est necessaire pour comprendre les fondemens de la Grammaire; et que c 'est de la que depend la diversite des mots qui composent le discours". S. 26. 98 S. 27. 99 Ebd.

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dieser Vorstellungen - z.B. daß die Erde rund ist - und das dritte das Verknüpfen von Feststellungen, der mentale Diskurs, z.B. der auf verschiedenen Voraussetzungen aufbauende Schluß. Der Grund für das vor etwa drei Jahrzehnten neu erwachte Interesse an der Grammatik von Port-Royal ist jedoch das 9. Kapitel des zweiten Teiles: ,J)u Pronom appelle Relatif'100. An ihm orientiert sich die Diskussion über die Frage einer Unterscheidung von Oberflächen- und Tiefenstruktur. Arnauld und Lancelot leiten die Darstellung mit dem Vergleich des Relativpronomens mit anderen Pronomina ein: Wie diese nimmt das Relativpronomen die Position des Nomens ein, z.B. ,Er, der König ist' (,JLuy QVI est Roy"). Zwei Spezifika zeichnen jedoch das Relativpronomen aus: Es bezieht sich stets auf ein anderes Nomen oder Pronomen, das antecedent - z.B. ist ,Gott' in ,Gott, der heilig ist' das antecedent -, und die untergeordnete Proposition, in die es eingeht, kann Teil des Subjekts oder Prädikats einer anderen, übergeordneten Proposition sein. So ist z.B. in ,Ein fähiger Magistrat ist ein nützlicher Mann für die Republik' unter anderem die Relativkonstruktion ,der fähig ist' enthalten und zwar als Teil des Subjekts des Satzes. In einigen Fällen können nun Propositionen, deren Subjekt oder Prädikat aus mehreren Teilen besteht, verschiedene Feststellungen (Urteile) enthalten, die zu je eigenen Propositionen umgeformt werden können. Der Satz ,J)ieu invisible a cree le monde visible''' enthält z.B. die Propositionen 1. „Dieu est invisible" 2. „il a cree le monde" 3. „le monde est visible",

wobei die zweite Proposition die zentrale ist. Diese untergeordneten Propositionen können explizit gemacht werden: ,J)ieu QVI est invisible a cree le monde QVI est visible" (,Gott, der unsichtbar ist, hat die Welt geschaffen, die sichtbar ist'). Dies erlaubt die Schlüsse: 1. Werden zwei Nomina miteinander verbunden, von denen keines das andere regiert - wie in der Apposition „urbs Roma", in der Adjektivkonstruktion ,J)eus sanctus", in der Partizipialkonstruktion „canis currens"m - so implizieren diese Konstruktionen das Relativpronomen und lassen sich unter dessen Zuhilfenahme auflösen („urbs quae dicitur Roma" - ,J)eus qui est sanctus" - „canis qui cw/T/f"102). 2. Da die durch ein Relativpronomen eingeleitete Proposition Teil des Subjekts oder des Prädikats einer übergeordneten Proposition sein 100 S. 66-71. 101 Das Partizip hat hier adjektivische Funktion und ist damit ein Nomen. 102 ,Die Stadt, die Rom genannt wird - Gott, der heilig ist - Der Hund der läuft'.

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kann, muß - soll das Subjekt bzw. Prädikat vervollständigt werden dasjenige Wort ergänzt werden, welches durch das Relativpronomen vertreten wird, z.B.: In ,JDieu qui est invisible, est le crealeur du monde qui est visible" wird „qui est invisible'''' erst zum vollständigen Subjekt durch Ergänzung von ,f)ieu"; Entsprechendes gilt für das Prädikat. 3. Das Relativpronomen kann entweder das Subjekt oder Teil des Prädikats der untergeordneten Proposition sein: Ersteres ist der Fall, wenn es im Nominativ steht, z.B: „Qui creavit mundum". Steht es aber in einem anderen Kasus, dann kann es nur einen Teil des Prädikats der untergeordneten Proposition bilden, z.B.: ,J)eus quem amo" (,Gott, den ich liebe'). Das Subjekt der Proposition ist - das in „amo" implizierte - „ego", und das verbindende Verb stellt einen Teil des Prädikats dar, das, um vollständig zu sein, durch das Relativpronomen ergänzt werden muß, z.B. zu ,£go amo quem" oder zu ,ßgo sum amans quem". Zusammenfassend: In einem konventionellen grammatischen Zusammenhang werden hier Äußerungen zum Verhältnis von Oberflächen- zu Tiefenstruktur gemacht, deren Stoßrichtung insofern universalistisch ist, als die beschriebenen Phänomene nicht auf eine Einzelsprache beschränkt werden. Es soll hier nicht diskutiert werden, in welchem Umfang die Überlegungen der Grammatiker von Port-Royal tatsächlich die Bezeichnungen generativ oder transformationell verdienen, dies ist bereits ausführlich geschehen.103 In jedem Fall trifft zu, daß Arnauld und Lancelot von der Existenz einer wie auch immer näher zu bestimmenden Tiefenebene der Sprache überzeugt sind, die übereinzelsprachlicher Natur ist und mittels der ratio erschlossen werden kann. Auch in anderer Hinsicht ist die »Grammaire« mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Vorläufern verpflichtet. So basiert die Unterscheidung von Substantiven und Adjektiven auf der traditionellen Unterscheidung zwischen den Gegenständen unseres Denkens - wie Erde, Sonne oder Wasser und der Art und Weise ihres Gegebenseins („la maniere des choses"104), wie Rot-Sein, Hart-Sein oder Rund-Sein. Im ersten Fall ist die Substanz der Gegenstände relevant, im zweiten sind es ihre Akzidenzien. Dieser Unterscheidung entsprechen die ersten beiden Operationen des Bewußtseins concevoir und juger, d.h. das Bilden einfacher Vorstellungen von substantiellen Gegenständen sowie das Fällen einfacher Urteile, in denen über einen Gegenstand etwas ausgesagt wird. Diejenigen Wörter, welche Sub-

103 S. die Literaturangaben in Anm. 38 und 92. 104 S. 30.

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stanzen bezeichnen, wurden „noms substantifs", diejenigen, welche Akzidenzien bezeichnen, wurden „noms adjectifs" genannt, zumindest war dies der - sozusagen in der Natur der Dinge verankerte - Ursprung der Termini. In einem nächsten Schritt sei auch die Art und Weise des Bezeichnens berücksichtigt worden, und da Substanzen auf sich selbst gestellt bestehen können, Akzidenzien aber den Bezug auf eine Substanz benötigen, wurden diejenigen Wörter, welche unabhängig von anderen im Satz stehen können, Substantive genannt, diejenigen aber, für die dies nicht gilt, Adjektive. Hier taucht nun das Problem auf, daß die lexikalisch-semantischen und die syntaktischen Eigenschaften von Wörtern zu unterschiedlichen Kategorisierungen führen können. Ein Wort wie ,Farbe' etwa ist syntaktisch unabhängig, bezeichnet aber ein Akzidens105, und umgekehrt kann ein syntaktisch abhängiges Wort sehr wohl eine Substanz bezeichnen. Arnauld und Lancelot helfen sich nun mit der ebenfalls bereits bei den spekulativen Grammatikern angelegten Unterscheidung zwischen Denotation und Konnotation. Der Grund, warum ein Adjektiv nicht alleine stehen kann, ist seine Konnotation, welche als unklare Bedeutung („connotation", „signification confuse") neben der distinkten („signification distincte") gegeben ist. So hat „rot" die distinkte Bedeutung ,Röte' („la rougeur"), aber „rot" zeigt ,Röte' dadurch an, indem es in unklarer Weise („confusement") den Gegenstand dieser Röte anzeigt (d.h. dasjenige, was rot ist). „Rot" wird also immer in bezug auf einen Gegenstand verwendet, ist nie auf sich selbst gestellt, und deshalb kann das Adjektiv nicht alleine im Satz vorkommen, der Gegenstand des Rotseins muß stets mit benannt werden. Ein Adjektiv (z.B. „rot") unterscheidet sich also von einem Substantiv („Röte") durch seine zusätzliche „signification confuse", ein Faktor, der einerseits die syntaktische Realität, andererseits das Konzept einer der Sprache zugrundeliegenden mentalen Struktur berücksichtigt, die ihrerseits wiederum eine Interpretation der Wirklichkeit darstellt.106 105 Dieses Beispiel ist der »Logique« entnommen, wo dieselbe Fragestellung diskutiert wird. 106 Ähnlich interessant, wenn auch wiederum nicht innovativ, ist die in der »Grammaire« getroffene Differenzierung zwischen der Intension und der Extension eines Begriffs. Da sie sich nicht aus der Thematik der zugrundeliegenden mentalen Strukturen ergibt, sei sie an dieser Stelle kurz erwähnt. Amauld und Lancelot stellen der „signification qui est fixe", d.h. der dem Wort ,fest' beigegebenen /a«gwe-Bedeutung, die „Fetendue de cette signification", die Extension dieser Bedeutung gegenüber, die sich mit der jeweiligen Verwendung des Wortes ändert, d.h. damit, ob das Wort auf eine ganze Spezies oder nur auf einen Ausschnitt bezogen wird. Ein Wort kann hinsichtlich seiner Extension unbestimmt („indetermine") sein, dann nämlich, wenn Angaben fehlen, die den Bedeutungsskopos beschränken; umgekehrt ist etwa „Aomme" in „Taute

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Abschließend sei die Behandlung des Verbs angesprochen. Wieder ist der Ausgangspunkt eine mentale Operation, das Fällen von Urteilen über Dinge („le jugement que nous faisons des choses"107). So beinhaltet z.B. die assertorische Formulierung ,Die Erde ist rund' ein Subjekt (,Erde') und ein Prädikat (,rund'). Der Bezug des Prädikats auf das Subjekt, hier: die assertorische Qualität, ist durch die Kopula ,ist' gegeben. Diese assertorische Qualität ist die zentrale Weise unseres Denkens („la principale maniere de nostre pensee"), d.h. wenn wir Urteile fallen, tun wir das in der Regel dadurch, daß wir einem Gegenstand eine bestimmte Eigenschaft zuschreiben. Demgemäß ist das Verb als ein Wort zu bestimmen, dessen Hauptfunktion das Zuschreiben ist („vn mot donl le principal vsage est de signißer l'affirmation"). Die Rede von der ,Hauptfunktion' beinhaltet, daß es auch andere Funktionen gibt, etwa das Wünschen, das Bitten, das Befehlen („desirer, prier, commanded), insgesamt jedenfalls ,Regungen der Seele' („movemens de nostre ame") - eine interessante Bemerkung Arnaulds und Lancelots, da die Verben alle unterschiedliche Sprechhandlungen im Sinne der Sprechakttheorie bezeichnen; die Trennung zwischen Proposition und Illokution wäre damit zumindest implizit angedeutet. Zur Gestaltung einer Aussage bedarf es also von der Verbseite her nur der Kopula. Tatsächlich aber geschehen Zuschreibungen in Aussagen nur selten ausschließlich mittels der Kopula, meist sind sie mit der Angabe von lexikalischen Bedeutungen verknüpft. So beinhaltet der Satz ,fetrus v/v;/' nicht nur die Tatsache der Zuschreibung, sondern auch den Sachverhalt des Lebens. ,fetrus v/v;/' läßt sich also auflösen in: ,Petrus ist lebend', d.h. in Subjekt + Kopula + lexikalisches Element, welches eine Eigenschaft angibt, hi anderen Fällen ist das zuschreibende Element an das Subjekt selbst geknüpft, so daß zwei Wörter oder gar ein einziges Wort bereits eine Proposition bilden. In ,jum Homo" z.B. bewirkt „swm" nicht nur die Zuschreibung, sondern beinhaltet auch das Pronomen „ego", das Subjekt der Proposition. In wieder anderen Fällen ist die Zuschreibung an eine Zeitangabe geknüpft: Durch „caenastf'' z.B. schreibe ich demjenigen, mit dem ich rede, die Handlung des Essens zu, allerdings für die Vergangenheit. Eben diese unterschiedlichen Bedeutungsmöglichkeiten, die in einem einzigen Wort zusammenkommen können, hätten bewirkt, so die Autoren, daß viele ansonsten sehr kluge Köpfe die komplexe Natur des Verbs verhomme est raisonnable" in seiner Extension durch „taute" bestimmt (S. 81f). - Vgl. hierzu Brekle 1967, der einen interessanten Vergleich zwischen den grammatischen Kategorien von Port-Royal und denen modemer Sprachwissenschaft bietet. 107 Für das folgende: Kap. 13, S. 94ff.

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kannten. Aristoteles etwa habe zur assertorischen Qualität lediglich die Zeitangabe hinzugefügt, als er das Verb als „vox significans cum tempore" definierte.108 Andere hätten zusätzlich die Personenangabe einbezogen („cum tempore et persona"), wieder andere definierten aufgrund der Angabe „des actions ou des passions". All diese Bestimmungsversuche seien unzureichend. So gebe es z.B. Verben, die weder Aktiv noch Passiv seien, z.B. „calef (,es ist warm') oder ,/rigef (,es ist kalt'). Letztlich erweise sich nur diese Definition des Verbs als sinnvoll: ,ein Wort, welches eine Zuschreibung bezeichnet, mit Angabe von Person, Numerus und Zeit' („vox significans affirmationem, cum designatione personae, numeri et tempora"). Will man die Möglichkeit zusätzlicher lexikalischer Angaben einbeziehen, dann wäre dies die angemessene Definition: ,Ein Wort, welches die Zuschreibung eines begrifflichen Inhalts bezeichnet, mit Angabe von Person, Numerus und Zeit' („vox significans affirmationem alicujus attributi, cum designatione personae, numeri, et temporis"). Die Grammatik von Port-Royal wurde im Deutschland des 17. Jahrhunderts nur von wenigen wahrgenommen, erst im 18. Jahrhundert kam es zu einer umfassenderen Rezeption und zu unmittelbaren Wirkungen.109 Unabhängig j/on den Erkenntnissen Arnaulds und Lancelots wurden jedoch auch von deutschen Autoren Vorschläge zu Universalgrammatiken unterbreitet. Christopher Helwigs »Allgemeine Sprachkünste«, erschienen bereits 1619, sind ein Beispiel.110 Helwig war am Gymnasium illustre in Gießen tätig, zunächst als Professor für Griechisch und Hebräisch, später, ab 1610, als Professor für Theologie. Die Lehranstalt war von dem Lutheraner Ludwig von HessenDarmstadt in Reaktion auf die Calvinisierung der Marburger Universität durch seinen Cousin Moritz von Hessen-Kassel zu Beginn des 17. Jahrhunderts gegründet worden. Ludwigs Stiefschwester, Dorothea Maria von Sachsen-Weimar, war ebenfalls in Bildungsfragen engagiert, unter anderem 108 Die Definition steht im 3. Kapitel von »De interpretatione«. 109 In diesem Sinne auch Padley 1975, 223. Das gleiche gilt im übrigen auch für ihre Rezeption in England. 110 Zu Helwigs Grammatik vgl.: Padley 1975, 160ff. (Padley bezieht sich allerdings meist auf die Grammatik, die »Grammatica Latina«, die Helwig zusammen mit Kaspar Finck 1610 veröffentlichte); B. Kaltz: Christoph Helwig, ein vergessener Vertreter der allgemeinen Grammatik in Deutschland. In: Historiographia Linguistica, 5, 1978, 227-235; S. Juntune: Christoph Helwig's Allgemeine Sprachkunst: One of the first universal grammars. In: Dutz/Kaczmarek 1985, 91-123. Juntune gibt außerdem einen kurzen biographischen Abriß.

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unterstützte sie Wolfgang Ratke während seines sehr wechselvollen Lebensweges, auch dann noch, als sich der eigenwillige Mann schon mit anderen Gönnern überwerfen hatte. Dorotheas Bruder war Ludwig von Anhalt-Köthen, der Gründer der Fruchtbringenden Gesellschaft. So hatte Helwig von Anfang an Kontakt zu den maßgeblichen sprachpflegerischen Kreisen in den ersten Jahren des 17. Jahrhunderts. Insbesondere die pädagogisch-didaktischen Überlegungen Ratkes hatten ihn überzeugt, und er wurde für eine Zeitlang einer seiner treuesten Anhänger. Der Universalismus der Ratichianer hat seinen Ausgangspunkt außerhalb des Sprachlichen. Es besteht eine „Gleichförmigkeit in allen Dingen"111 , alle Teile des Universums stehen in sinnvollem Bezug zueinander. Diesem Prinzip steht die faktische Unordnung der Welt gegenüber, letztlich bedingt durch die „so groß Vnordnung"112 in den Schulen: Woher kömpts auch / das Fressen / Sauffen / Huren / Fluchen / Lestern / vnd andere grewliche Schande vnd Laster so häuften weise inreissen? Daß Trigerey / Geltgeitz / Wuchersucht / in gemeinem Leben vnd Handel so sehr vberhand nimbt? Woher entspinnet sich so viel Zwietracht / Auffrunr / vnnötiger Krieg / Vnchristlicher Gerichtshader? Woher rührts / daß im Haußstand so seltzam zugehet / daß so wenig Haußväter noch Haußmütter gerbenden werden / die ihre Kinder noch Gesinde recht zu ziehn vnd zu regiren wissen? Was machte / daß im Weltlichen Regiment so viel gebrechen vnd Mängel sich eräugen / daß auch offtermals Oberkeiten / selber nicht gnugsam verstehen / was ihr Ampt sey / was ist die Vrsache daß vom Lehrstand so viel klage vorfellet? Daß in hohen Schulen / ja auch im heyligen Predigampt / so wenig Eyfer / Trew vnd Fleiß / hergegen aber so viel Neyd / eigen Nutz vnd Ehrgeitz sich spüren lesset? Ists nicht alles der alten / bösen / vnlustigen / verdrieslichen / vnrichtigen vnd vntüchtigen Lehrart Schuld?113

Die Klage setzt bei individuellen menschlichen Lastern ein und weitet sich auf den gesamten Bereich des gesellschaftlichen Lebens aus, von der Familie zur Obrigkeit, den Bildungsinstitutionen, zur Geistlichkeit. Alle genannten Einrichtungen sollten am Erhalt der Ordnung beteiligt sein, bewirken aber das Gegenteil. Der „Vrsprung der Kranckheit" liegt in den Schulen, und nur dort kann „die Artzney"114 gesucht werden. Jede Didaktik, die solche Mißstände beheben will, muß auf den ganzen Menschen zielen, d.h. nicht nur auf die Vermittlung technischer Fertigkeiten. Sie muß der Tatsache gerecht werden, daß die Schulabgänger in den unterschiedlichsten Be111 [Christopher Helwig u. Joachim Jung]: Artickel / Auff welchen fumemlich die Ratichianische LehrKunst beruhet, um 1614/1615, 15. 112 Christopher Helwig u. Joachim Jung: Nachbericht Von der newen Lehrkunst Wolfgangi Ratichii, 1614, 77. 113 Ebd., 81f. 114 Ebd., 82.

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reichen gesellschaftlichen Lebens wirken werden und muß ihnen daher eine fachliche und ethisch-religiöse Grundlage vermitteln, die vor jeder Spezialisierung sozusagen die charakterliche Basis des einzelnen bildet. Nur dann ist gewährleistet, daß aus den Schulen „verständige Haußväter / geschickte Hausmütter / Trewe Gesinde / Ehrliebende Bürger / weise Regenten / kluge Rahtherrn / gehorsame Vnterthanen"115 ins Leben entlassen werden. Zu den Inhalten dieser Didaktik sei im Kontext der Universalismusthematik nur soviel gesagt: 1. Da Sprache, Denken und Wirklichkeit auf einer basalen Ebene bestimmte Analogien zueinander aufweisen, ist der Sprachunterricht fest an den Sachunterricht geknüpft. Wird eine Sprache vermittelt, sollen zunächst die korrelierenden außersprachlichen Gegenstände und Sachverhalte unterrichtet werden116; dieser Aspekt wurde bereits im Zusammenhang mit der Darstellung des ordo-Konzeptes erwähnt. Der Weg führt dabei von der Substanz des Gegenstandes („ein Ding an ihm selbst") zu den Modi seines Gegebenseins („die weise von dem Ding"117). Dies entspricht insofern den natürlichen Gegebenheiten, als das bloße Sein der Gegenstände ihren Eigenschaften bzw. deren Feststellung vorausgeht. 2. Grundlage des Unterrichtens ist die hermeneutische Maxime, daß sich Neues nur auf der Basis von Vertrautem lernen läßt. Der Ausgangspunkt der Sprachvermittlung ist daher immer die Muttersprache. Insbesondere die lateinische Sprache darf nicht als „Tyrannin vber die ändern Sprachen vnd Künste herrsche[n]"118. Dies bedeutet auch, daß die grammatische Terminologie vollständig eingedeutscht wird. 3. Die Sprachen dürfen nicht nur aus dem usus bzw., schlimmer noch, nach dem Wörter- oder „phrases Buch" oder der Grammatik - zumindest keiner der herkömmlichen Art - erworben, sondern müssen gemäß der ihnen inhärenten Strukturen („aus jhrer gründlichen Eygenschafft"119) erlernt werden, was freilich anhand von Texten vorbildlicher Autoren geschehen kann. Bei all dem ist der Lehrende gut beraten, sich an der Logik zu orientieren. Zwar vermag sie ihm keine konkreten didaktischen Hinweise zu geben, doch wird sie sein Denken in einer Weise disziplinieren, die wiederum der Didaktik zugute kommt.120 Helwigs Sprachuniversalismus steht also in einer Art panpädagogischem Kontext. Hinsichtlich der sprachreflexiven Tradition ist die in Zu-

115 116 117 118 119 120

Ebd., 81. Artickel, 19. Ebd., 16. Kurtzer Bericht, 66. Artickel, 24. Kurtzer Bericht, 62.

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sammenarbeit mit Kaspar Finck verfaßte und bereits 1610 veröffentlichte »Grammatica Latina« aufschlußreicher als die »Sprachkünste«, jedenfalls was die explizite Erwähnung von Vorgängern betrifft. In der »Grammatica Latina« werden häufig Anleihen bei Scaliger und Ramus, aber auch bei Melanchthon und Priscian gemacht. Von Scaliger wird die Auffassung übernommen, daß die Vorstellungen von den Dingen durch das Wirken der Sinnesorgane ins Bewußtsein gelangen, und zwar ohne menschliches Zutun. Die „imagines rerum" entsprechen dann als mentale Größen („notiones") einerseits den Wörtern, andererseits den Gegebenheiten der Wirklichkeit.121 Dies wird verbunden mit der Definition der „vox significativa" des Petrus Hispanus („Signum aptum natum ad aliquid repraesentandum intellectui per auditum"), und bei der Bestimmung von Nomen und Verb wird auf Petrus Ramus zurückgegriffen. Die »Sprachkünste« erheben den Anspruch, „dasjenige / so allen Sprachen gemein ist", zu benennen. Der Text umfaßt zwei Teile, die „Kannung der Worter" und die „Ordnung der Worter". Ein weiterer Teil, das „Läsen vnd Schreiben", der noch im Inhaltsverzeichnis als erster genannt wird, wird ganz in der Tradition mittelalterlicher Autoren aus der eigentlichen Grammatik verbannt. In der „Kannung der Worter" wird zunächst die Wortbildung, anschließend die Aufteilung der Wortarten behandelt. Eine allgemeine Definition des Wortes fehlt, ist allerdings in der lateinischen Version der Grammatik enthalten: ,Das Wort ist die unabhängige Bezeichnung einer geistigen Vorstellung'122. Es verfügt über eine materielle und eine inhaltliche Seite, und je nach deren unterschiedlicher Handhabung durch die Menschen unterscheiden sich die Sprachen. In den »Sprachkünsten« wird nun das Nomen („Nännwort") schlicht bestimmt als etwas, „damit man etwas nännet", wie Mann, Weib, Haus etc. Das Verb („Sagwort") dagegen dient dazu, etwas auszudrücken, „das man thut oder leidet", wie schreiben oder lesen. Nomina und Verben bilden zusammen die Gruppe der „Haubtworter", der sämtliche anderen Wortarten als „Beiworter" mit syntaktischen Funktionen gegenüberstehen, letzteres eine Festlegung, die sich in ähnlicher Form auch bei vielen anderen, etwa bei modistischen Grammatikern findet. Bei der Unterteilung des Nomen in Substantiv („selbständiges Nannwort") und Adjektiv („zustandiges Nannwort") kommt es zu einer Definition nach unterschiedlichen Kriterien: Das Substantiv „bedeut ein We121 S. 4. 122 „Vox est nota conceptus mentis separata". S. 14. - Dementsprechend wird die „sermo" definiert als .umfassende Bezeichnung geistiger Vorstellungen durch Wörter', ebd.

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sen: (oder / Mit dem man nicht zugleich kan sagen Ding:) als / Hauß / Hof/ Thür [...]". Das erste Kriterium ist ein semantisches („bedeut ein Wesen"), das zweite ein syntaktisches („Mit dem man nicht zugleich kan sagen Ding"): Ein Substantiv kann kein weiteres Substantiv bei sich fuhren. Dementsprechend wird das Adjektiv als Wort definiert, „welches bedeutet eines Wesens Beschaffenheit (oder / Mit dem man zugleich kan sagen / Ding.)", d.h. als Wort, das ein „Ding"-Wort in seiner unmittelbaren Umgebung zuläßt bzw. sogar, wie es wenig später heißt, erfordert. Interessant unter universalgrammatischen Gesichtspunkten ist insbesondere der letzte Punkt der »Sprachkünste«: „Von Abwachselung der rede", diskutiert im Rahmen der Syntax. „Es kan offt eine Mäinung vilerlei weise außgeredet / und also ein einige red vilerlei weise abgewechselt werden", schreibt Helwig. In dieser Hinsicht habe jede Sprache „ihre sondere art und eigenschafft". Dies könnte auf eine Unterscheidung von Oberflächen- und Tiefenstruktur hinweisen, wird jedoch von Helwig sogleich in den Zusammenhang der Stilistik gestellt, wenn er hinzufügt, daß die unterschiedlichen Ausdrucksweisen des gleichen Inhalts „beid zur zierd / und auch zur fertigkeit im reden und schreiben" dienen. Das wäre nun wahrhaftig nichts Besonderes, würde Helwig nicht eine Reihe von Beispielen anfügen. Danach seien „ohn unterscheid" austauschbar123: •

1. ein Partizip : ein Relativpronomen in Verbindung mit einem Verb; 2. ein Substantiv bzw. Adjektiv : ein Relativpronomen in Verbindung mit einer Form von „sein"; 3. ein Verb im Aktiv in Verbindung mit einem Subjekt und einem Akkusativobjekt : ein Verb im Passiv in Verbindung mit einem .passiven' Substantiv im Nominativ und einer Präposition einschließlich eines den Agens bezeichnenden Substantivs; 4. eine Fortdauer ausdrückende Konjunktion : die Präposition „zu" in Verbindung mit einer infiniten Verbform; 5. eine kopulative Konjunktion : ein Partizip.

Da Helwig keine Belege liefert, sei dies im folgenden nachgeholt: 1. ,Das spielende Kind' : ,Das Kind, das spielt'. 2. Dieser Fall ist problematischer, da im Original als Ausgangsform „Nannwort" steht, ohne weitere Spezifizierung. Ein Substantiv würde jedoch keinen Sinn ergeben, wohl aber ein Adjektiv, doch auch dann wäre der Austausch nicht genau nach Helwigs Anleitungen durchführbar. Helwig hatte wohl dies im Sinn: ,Der hohe Baum' : ,Der Baum, der hoch ist'. Das Adjektiv müßte in der neuen Variante also ebenfalls vertreten sein. 3. ,Die Frau liest das Buch' : ,Das Buch 123 In den meisten Fällen verzichte ich im folgenden auf die Nennung von Helwigs Eindeutschungen. - S. auch Juntune 1985, 114.

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wird von der Frau gelesen'. 4. Auch dieser Austausch ist nicht ohne weiteres nach den Anweisungen durchfuhrbar. An der entsprechenden Stelle in der lateinischen Fassung der Grammatik findet sich: „Continuativum ut Praepositio AD cum Gerundio (aut Infinitivo)". Geht man also davon aus, daß „ut" eine Konjunktion ist - sämtliche Konjunktionen werden in der lateinischen Fassung als „continuativa" bezeichnet - dann könnte man ein Beispiel wie dieses bilden. ,Er kommt, damit er singt' : ,Er kommt zum Singen'. Auch dabei wäre bei den Angaben für die Ausgangsform das Verb zu ergänzen: ,eine Konjunktion in Verbindung mit einem Verb' . ,die Präposition „zu" in Verbindung mit einem Gerundium' (formgleich mit dem Infinitiv ,singen'; die Tatsache der Substantivierung des Verbs müßte dabei unberücksichtigt bleiben). Diese Lösung setzt allerdings mehrere Abweichungen von Helwigs Anweisungen voraus: Bei der Ausgangsform müßte ein Verb ergänzt werden und die Wahl der Konjunktion wäre auf das finale „damit" eingeschränkt.124 Außerdem müßte man unter der infiniten Verbform auch eine substantivierte Form wie das Gerundium verstehen dürfen. Will man tatsächlich den Infinitiv beibehalten, müßte „um" ergänzt werden, womit allerdings die Bedingung ,Präposition' unerfüllt blieb: ,Er kommt, um zu singen'. Eine andere Lösung scheint sich jedoch nicht anzubieten. 5. ,Er klagt und weint' : ,Er klagt weinend'. Zusammenfassend: Um von der Ausgangsform zur Austauschform zu gelangen, muß der Sprachbenutzer auf eine Ebene zugreifen, die der Oberflächenrealisierung vorausgeht. Diese tiefere Ebene ist die der zugrundeliegenden mentalen Fassung des Sachverhalts. Von ihr aus kann mittels unterschiedlicher Transformationsverfahren eine andere sprachliche Realisierung gesucht werden. Bei all dem darf aber nicht außer acht gelassen werden und die Begeisterung der Forschung über die vermeintlichen und tatsächli-

124 Letzteres ist schon deshalb problematisch, weil Helwig von einer Konjunktion spricht, die Kontinuität ausdrückt, vom „Fugwort" des „Fortsatzes". Als Beispiele gibt er selbst an: „Ferner / weiter / zu dem / darnach". Juntune (1985, 114) weist zu Recht darauf hin, daß dies keinen Sinn ergibt und hält eine Interferenz mit dem lateinischen Text für denkbar: Wie bereits festgestellt, werden in der lateinischen Fassung sämtliche Konjunktionen unter dem Titel „continuativa" geführt. Übersetzt man nun „ut continuativum" ins Deutsche, so kann „continuativum" irrtümlich mit „Fortsatz" gleichgesetzt werden, da das Wort „Fortsatz" außerhalb dieses speziellen Kontextes tatsächlich die Bedeutung des lateinischen Wortes haben kann. Der Gedanke Juntunes scheint nicht so abwegig, wie er zunächst anmuten mag, zumal Helwigs Text nicht von ihm persönlich, sondern zwei Jahre nach seinem Tode von seiner Familie herausgegeben wurde, eine Tatsache, die auch das Problem beim Nachvollzug der zweiten Anweisung erklären könnte. Über den Hinweis auf den möglichen Übersetzungsfehler hinaus kann aber auch Juntune keine Lösung anbieten.

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eben Vorläufer moderner Grammatiken hat dies etwas in den Hintergrund treten lassen -, daß das universalistische und transformationeile Element in frühneuzeitlichen Arbeiten zwar angelegt ist, aber nur sehr in Ansätzen ausgeführt ist. Die jeweiligen Grammatiken sind alle vorwiegend, d.h. trotz gelegentlichen Verweises auf andere Sprachen, auf eine Einzelsprache bezogen und dienen mehr oder weniger deutlich dem einzelsprachlichen Grammatikunterricht. In Helwigs Fall etwa begegnen die genannten ,modernen' Aspekte nicht einmal als Behauptungen des Verfassers und müssen dem Werk im nachhinein und nur auf die Beispiele gestützt zugeschrieben werden. Auch zitiert Helwig nur in wenigen Fällen konkrete Beispiele aus anderen Sprachen, und die Ersetzungsvorgänge bleiben unkommentiert. Solche Einschränkungen gelten auch für Arbeiten zumindest des frühen 18. Jahrhunderts. So kündigt Johann Daniel Longolius mit seinem 1715 erschienenen Werk eine »Einleitung zu grundlicher Erkäntniß einer ieden / insonderheit aber Der Teutschen Sprache« an. Ausgegangen sei er von „der Erkanntnuß menschlicher Rede und den allen Volckern gemeinen Hauptarten aller Dinge", sein Interesse habe er auf die „Natur aller Sprachen" gerichtet125: Denn weil alle Sprachen die Rede zu ihrem allgemeinen Endzwecke haben; jede Rede aber aus gewissen Sätzen / Redensarten / Worten / und dero mancherley Gliedern und Elementen bestehet / kan ein jeder Vemunfftiger leicht begreiffen / daß aller dieser Stucke Natur allen Sprachen gemein / und also auch billig ohne Absicht auff eine gewisse insonderheit / insgemein zu untersuchen sey.

Dazu muß man die „Grantzen der gemeinen Grammatic" überschreiten, muß sich nach der „gesunden Vernunfft und eigentlichen Natur der darunter begriffnen Sachen" richten. Hier kommt einiges von dem zum Ausdruck, was die rational-universalistische Sprachreflexion kennzeichnet: der nicht an der sprachstrukturellen Oberfläche verhaftete Blick, d.h. der Rückgriff auf eine dem Sprachlichen zugrundeliegende Ordnung der Dinge - das menschliche Bewußtsein als eigenständiger Faktor im Sprachprozeß bleibt allerdings unerwähnt - und das Appellieren an die ratio. Tatsächlich aber hat Longolius eine am Deutschen orientierte Strukturbeschreibung verfaßt, zu der später traditionelle rhetorische Teile treten, wobei er zwar immer wieder betont, daß der eine oder andere Aspekt in anderen Sprachen unterschiedlich gelagert sei, doch gibt er nur wenige Beispiele und diskutiert nie 125 S. 6.

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tiefenstrukturelle Fragen in der Art, wie dies zumindest ansatzweise die Autoren von Port-Royal tun und wie sich dies wenigstens implizit bei Helwig findet. Bemerkenswert ist andererseits die Differenziertheit und Systematik, mit der einzelne strukturelle Phänomene beschrieben werden. So führt er den phonetischen Teil mit einer Beschreibung des Artikulationsvorgangs ein: Der aus der Lunge und durch die Luftröhre in den Mund gelangende Luftstrom werde durch die Artikulationsorgane „gemeistert oder modificiret"126; vom Nasenraum ist allerdings an dieser Stelle nicht die Rede. Diese Modifizierung könne entweder durch die unterschiedliche Öffnung des Mundes oder „durch Veränderung und Lage seiner Theile" geschehen. Im ersten Fall führe dies zu einem „klaren vollkommenen Ton", einem Vokal, im zweiten zu einem „unvollkomnen Laut", einem Konsonanten. Die Veränderung der Zungenstellung bei der Artikulation von Vokalen wird von Longolius nicht berücksichtigt. Stattdessen sieht er bei Vokalen zumindest zehn Variationsmöglichkeiten für die Mundstellung gegeben: a / Das Manner a mit langem Munde / wie bey den Schlesiem. a / das Weiber a mit breitem Munde / wie bey den Marckern. e / a / das helle e oder schlechte a / als in sehen. e / das dunckle e / als in gehen. i / das helle i mit breitem Munde / wie bey den Thüringern. i / das dunckle i mit spitzigen Munde / wie bey den Meißnern. o / das helle oder gemeine o / als Bock. o / das dunckle o / oder Marckische o / als Bocke. u / das helle u / als unser. u / das helle o oder y / als übel.

Die Darstellung ist vergleichsweise differenziert - der Verweis auf die Aussprache in den Dialekten ist zu Longolius' Zeit noch notwendig -, doch geht es an keiner Stelle auch nur ansatzweise um so etwas wie phonetische Universalien. Interessant im Hinblick auf die rational-universalistische Sprachreflexion ist allenfalls noch die an verschiedenen Stellen des Textes anzutreffende Anwendung logischer Prinzipien auf die Sprache. In dem der Rhetorik gewidmeten Teil seines Werks gibt Longolius unter der Überschrift „Von der Eigenschafft einer ieden Rede"127 Anweisungen, wie die Argumentation aufzubauen sei. Hilfreich sei dabei das Wissen um einige „unumstößliche Beweißthümer", die mittels der Mathematik „auf gewissen Fuß gesetzet werden". Diese „Beweißthümer" werden unter diversen loci bzw. „Titeln" 126 S. 9. 127 Im folgenden 231 f.

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zusammengefaßt. Der ,J^ocus nolaiionis" dient der Rechtfertigung einer Bezeichnung, indem anhand der Bedeutung von Subjekt oder Prädikat - es sind hier die Termini der Logik gemeint - ein Beweis gefuhrt wird. Als erster Grundsatz ergibt sich dementsprechend: „Kein Wort nimt oder giebt seiner Sache etwas". Dies bedeutet, daß objektive Eigenschaften einer Gegebenheit nicht von der Art und Weise ihrer sprachlichen Bezeichnung abhängen. Der zweite Grundsatz: „Jede Sache soll ihren eignen Nahmen haben". Ist eine Sache ohne Bezeichnung, so hat jeder das Recht, ihr eine zu geben. Der dritte Grundsatz: „Der Nähme und die That gehören zusamen", die Bezeichnung soll die für den bezeichneten Sachverhalt wahr sein. Wer z.B. wie ein Christ lebt, mag sich auch „Christ" nennen, und bezeichnet sich jemand als Christ, so soll er auch so leben. Die zitierten Beispiele belegen außer einer charakteristischen Verfahrensweise auch die Annahme der Existenz einer objektiv vorgegebenen und von Sprache unabhängigen Wirklichkeit sowie den Wunsch nach zeichenrelationaler Eindeutigkeit. c) Universalsprachen: kryptographische Tradition und Entwürfe aus Frankreich, England und Deutschland Neben universal^rammatischen Ansätzen haben das 17. und 18. Jahrhundert eine Reihe konkreter Entwürfe zu Universalsprachen hervorgebracht. Der Terminus „Universalsprache" wurde im bisherigen für zwei unterschiedliche Arten von Sprachentwürfen verwendet, sowohl für logisch-philosophische Sprachen als auch für künstliche Sprachen, die als Medien grenzüberschreitender Kommunikation gedacht waren, vergleichbar etwa mit dem modernen Esperanto. Erstere setzen entweder eine methodisch stringente Analyse der Phänomene der Wirklichkeit voraus, wobei die einzelnen Phänomene taxonomisch, d.h. nach genus proximum und differentia speciflca, bestimmt werden können - wie z.B. in der »Philosophical Language« von John Wilkins, welche die empiristische Variante dieses Sprachtyps repräsentiert - oder eine nicht minder präzise Analyse sämtlicher Vorstellungen des menschlichen Denkens, um an die „idees simples"128 zu gelangen - die rationalistische, etwa von Descartes vorgeschlagene Variante -, aus deren logischer Kombination sich die philosophische Sprache ergibt. Diese Form der Universalsprache läßt sich insofern als apriorisch bezeichnen, als sie, zumindest idealerweise, nicht auf Kategorien bereits existierender Sprachen aufbaut. Ihr steht ein aposteriorischer Sprachtyp gegenüber, 128 Descartes im Brief an Mersenne, vom 20. November 1929, S. 231.

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auf den eben das zutrifft129: Die Konstituenten einer solchen Universalsprache entsprechen mehr oder weniger weitgehend den Konstituenten existierender Sprachen; die Regeln zu ihrer Verknüpfung folgen keinen mathematischen Gesetzen, sondern der Syntax natürlicher Sprachen. Die Unterscheidung zwischen diesen Arten von Universalsprachen ist plausibel, doch gleichzeitig idealtypisch. In der historischen Realität liegen die jeweiligen Sprachentwürfe in den unterschiedlichsten Überschneidungen vor. Die folgende Darstellung wird daher nach nationalen Traditionen bzw. nach einzelnen Persönlichkeiten, nicht aber nach diesen systematischen Kategorien vorgehen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts berichtet Jacob Friedrich Reimmann in seiner Geschichte der Gelehrsamkeit über die ersten „Pangrammatisticen"130: Deutsche und Engländer seien in diesem Bereich recht erfolgreich gewesen, Spanier und Franzosen dagegen kaum. Tatsächlich kamen die am weitesten fortgeschrittenen Kunstsprachentwürfe der Zeit aus England, sieht man einmal von Leibniz' strikt logischen Ansätzen ab, die Reimmann vermutlich gar nicht kannte, da er an deutschen Autoren lediglich Johann Joachim Becher erwähnt. Selbstverständlich liegen aber auch Äußerungen von Autoren aus der Romania zu dieser Frage vor, deren vielleicht bedeutendste von Descartes selbst stammt. Dessen Stellungnahme ist denkbar kurz und findet sich in einem Brief an Mersenne vom November 1629. Mersenne, der neben seinen eigenen philosophischen und mathematischen Arbeiten eine ausgedehnte Korrespondenz mit einigen der führenden Köpfe Europas unterhielt und so zu einem regen Austausch von Ideen beitrug, hatte Descartes den Kunstsprachentwurf eines Juristen namens Des Vallees übersandt. Der Entwurf und Descartes' Kritik sollen hier nicht interessieren. Ein fast identischer Vorschlag wird Jahre später von Becher unterbreitet, und dessen Entwurf wird Gegenstand der Untersuchung sein. Im Vergleich zu Des Vallees' Vorschlag, der auf dem Wortschatz und der Grammatik bereits existierender Sprachen aufbaut, ist Descartes' Ansatz radikal: Der Schaffung der Universalsprache soll die Etablierung einer „Ordnung für alle Vorstellungen, die dem menschlichen Geist kommen kön-

129 Das Begriffspaar apriorisch - aposteriorisch in bezug auf Universalsprachen findet sich in Couturat/Leau 1903. Zu dieser Differenzierung vgl. auch: Strasser 1988, 106; Slaughter 1982, 126. - Eine eigene Differenzierung schlägt Pombo 1987, 29ff. vor, die auch kurz auf T. Todorovs Einteilung von 1972 eingeht (Le sens des sons. In: Poetique, 11,273-308). 130 Versuch einer Einleitung in die Historiam Literariam derer Teutschen, Teil 3/1, 270.

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nen"131, vorausgehen. Diese Ordnung soll derjenigen der Zahlen entsprechen; sie zu finden, ist nur mittels der „wahren Philosophie" („la vraie Philosophie") möglich. Die Elemente dieser Ordnung sind also Zeichen für die Vorstellungen der Menschen, in deren nicht-komplexen Form („claires et simples"), sozusagen als klare mentale Simplizia. Ein Sprache, die aus der Kombination solcher Einheiten besteht, wäre sehr leicht zu erlernen, ebenso wie man innerhalb eines Tages die Bezeichnungen für die Zahlen bis zum Unendlichen einschließlich ihrer Schreibweise erlernen könne. Gleichzeitig, und dies wäre die Hauptsache, würde sie die menschliche Urteilskraft dadurch unterstützen, „daß sie ihr alle Dinge so deutlich darstellt, daß es fast unmöglich für sie sein dürfte, sich zu täuschen". Die Wörter unserer natürlichen Sprachen dagegen haben „fast nur unbestimmte Bedeutungen [...], an die sich der menschliche Geist seit langer Hand gewöhnt hat, was die Ursache dafür ist, daß er fast nichts vollkommen versteht"132. Descartes' Ausführungen sind gleich in mehrfacher Hinsicht charakteristisch für die rational-universalistische Sprachreflexion. Zum einen ist es die Auffassung, daß die sprachlichen Einheiten zunächst für mentale Einheiten stehen, nicht einfach für ,die Dinge der Wirklichkeit', eine Auffassung, welche, daran sei nochmals erinnert, die im engeren Sinne rationalistische Sprachreflexion trotz der Unterschiede in wichtigen erkenntnistheoretischen Fragen mit der empiristischen Linie teilt; man denke an Lockes Behauptung: „Words [...] can properly and immediately signify nothing but the Ideas, that are in the Mind of the Speaker"133. Die Grundlagen für diese mentalen Einheiten sind die durch die Sinne erfaßten Außenweltreize. Diese Reize stoßen jedoch - und dies ist ein Spezifikum des Rationalismus - auf eingeborene Prinzipien des Denkens, und die Cartesianer verwahren sich energisch vor jeder Art des simplen Sensualismus: Diejenigen, so Mersenne, welche als sogenannte Skeptiker das menschliche Wissen nicht über das sinnlich Wahrgenommene hinausgehen lassen, reduzieren den Menschen

131 „un ordre entre toutes les pensees qui peuvent entrer en l'esprit humain", S. 230. Die folgenden Zitate. S. 230f; der deutsche Text S. 28f. 132 „[...] une langue universelle [...] qui aiderait au jugement, lui representant si distinctement toutes choses, qu'il lui serait presque impossible de se tromper; au lieu que, tout au rebours, les mots que nous avons n'ont quasi que des significations confuses, auxquelles l'esprit des homines s'etant accoutume de longue main, cela est cause qu'il n'etend presque rien parfaitement." 133 Essay, III, II, 4.

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auf einen Status, der unterhalb dem der primitivsten Tiere liegt und berauben ihn sämtlicher Möglichkeiten des vernünftigen Denkens.134 Spezifisch für den rationalistischen Universalsprachgedanken ist auch die Forderung, diese mentalen Einheiten auf ihre naturae simplices zu reduzieren, denen wiederum nicht-komplexe Sprachzeichen zuzuordnen, um aus diesen, mit den basalen mentalen Einheiten nun kongruenten Sprachzeichen, per Kombination größere Zeichenkomplexe aufzubauen. Dabei ist eine einfache Vorstellung von der Wirklichkeit eine solche, die „clare et distincte"135 gegeben ist und nicht in kleinere Vorstellungen zerlegt werden kann. Sie ist unmittelbar evident, wird intuitiv als richtig erkannt, und aus ihr lassen sich sämtliche Folgewahrheiten ableiten. Dieselbe Begrifflichkeit begegnet bei Leibniz und wird im Zusammenhang mit der Darstellung seiner Überlegungen eingehender beschrieben werden. Die allgemeinen methodischen Prinzipien für solche mit mathematischer Exaktheit durchgeführten Analysen hatte Descartes bereits in den »Regulae ad directionem ingenii« niedergelegt. Wird z.B. erkannt, daß X eine weniger komplexe Größe als ist, dann gilt immer, daß die Größe X zuzüglich eines Zusatzes enthält.136 Wenn der Inhalt von X genau a ist, dann ist der Inhalt von = a + b. Gibt es eine dritte Größe Z, die wiederum komplexer als ist, dann muß dies bedeuten, daß der Inhalt von Z = (a + b) + c ist. Descartes war sich sehr wohl darüber im klaren, daß eine solche Sprache nie in Gebrauch sein wird, doch hielt er sie von ihren strukturellen Voraussetzungen grundsätzlich für möglich. Eine ihrer vorteilhaftesten Begleiterscheinungen wäre ihre positive Wirkung auf unser Denken: Die neu gefundene zeichenrelationale Exaktheit würde unsere mentalen Prozesse disziplinieren, und die Bauern könnten die Wahrheit der Dinge besser beurteilen, als dies heute die Philosophen vermögen. Unsere natürlichen Sprachen dagegen ließen diese Art der Exaktheit vermissen, zum Nachteil der Genauigkeit unseres Denkens - auch dies wieder der Topos von der Logifizierungsfunktion der Sprache, wie er in gleicher Weise bei Leibniz begegnet. 134 „Ils s'appellent sceptiques, & sont gens Libertins, & indignes du nom d'homme qu'ils portent, puisque comme oyseaux funestres de la nuit n'ayans pas la prunelle assez forte pour supporter l'eclat de la verite ils sacrifient honteusement au mensonge, & bomans toute la connoisance des hommes ä la seule portee des sens, & ä l'apparence exterieure des choses, nous ravalent indignement ä l'etat le plus vil, & a la condition la plus basse des bestes les plus stupides & nous depouillent de l'usage de tout veritable discourse & arraisonnement". In: La Verite des Sciences, Paris 1625, Widmungsschrift, 2f. Zit. nach Coudert 1978, 93. 135 Z.B. in: Regulae ad directionem ingenii, regula XI. 136 Das Beispiel findet sich in: H. Joachim: Descartes' Rules for the Direction of the Mind. Hrsg. v. E. Harris. London 1957, 71.

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Bevor nun die Entwürfe für Universalsprachen von Wilkins, Comenius, Becher und Leibniz erörtert werden, sei eine Tradition des Sprachschaffens betrachtet, die deutlichen Einfluß auf diese Sprachentwürfe hatte: die Kryptologie, die Lehre vom Verfassen von Geheimsprachen. Kryptologie bzw. Kryptographie, d.h. das eigentliche Verfassen von Geheimsprachen, wird gerade in der frühen Neuzeit mit besonderer Intensität betrieben. Der Sprachuniversalismus empfängt von ihr etliche Impulse. Die Parallelen sind mehr als oberflächlich, und ihre Kenntnis ist zum Verständnis der Kunstsprachentwürfe notwendig.137 Das große Interesse an der Kryptographie hängt sicherlich auch mit dem mathematisch-kombinatorischen Aspekt der Disziplin zusammen, der stets etwas Spielerisches hat. Es ist kein Zufall, daß in Harsdörffers »Deliciae«, den »Mathematischen Erquickstunden«, der Kryptographie mehrere Seiten eingeräumt werden. Andererseits konnte das Interesse auch sehr handfest sein, denn Geheimsprachen galten im Bereich der privaten Korrespondenz, aber auch im Militärwesen als ausgesprochen nützlich. „Mancher Commendant in einer belagerten Stadt oder Vestung würde weder Fleiß noch Kosten spahren", schreibt Johannes Balthasar Friderici, „wen er eine gute invention haben konte / den eigentlichen Zustand an seinen Fürsten und Herrn durch Zeichen oder Brieffe / verborgener Weise zu berichten? Ja Konige und Fürsten selbst / auch deren Ambassadeurs l Cantzler und Räthe / haben unterweilen zu ihren geheimem Correspondences dergleichen Künste nothig"138. Von dem kryptographischen Erlebnis eines solchen Ambassadeur berichtet der Franzose Blaise de Vigenere: Im Jahre 1569 plante Sultan Selim II. einen Überfall auf das venezianische Zypern.139 Um zu verhindern, daß der Botschafter Venedigs in Konstantinopel das Vorhaben verrät, verlangte Selim die Vorlage aller von dem Gesandten verfaßten Briefe vor deren Versendung. Der Venezianer hinterging die Vorsichtsmaßnahme, indem er in den Text eines Briefes eine geheime Botschaft einarbeiten ließ, wobei ein Verfahren des Johannes Trithemius gewählt wurde, von dem im folgenden die Rede sein wird (- an der Einnahme Zyperns durch die Türken, dies sei hinzugefügt, hat dies nichts geändert).

137 Das Verdienst, dies umfassend herausgearbeitet zu haben, kommt insbesondere G. Strasser (1988) zu; weitere Lit. s. Anm. 38. Zum folgenden vgl. insbes. Strasser 1988, 29ff. u. 133ff. 138 CRYPTOGRAPHIA oder Geheime schrifft= mund= und wurckliche Correspondent, 1684, Vorrede. - Ich danke Frank Würker (Manutius-Verlag Heidelberg) für die Überlassung einer Kopie des Textes. 139 Das Beispiel ist zit. nach Strasser 1988, 45.

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Auf die mittelalterliche und vormittelalterliche Tradition der Kryptologie soll hier nicht eingegangen werden. Als erste im vorliegenden Zusammenhang interessierende Persönlichkeit ist der 1462 geborene Benediktiner Johannes Trithemius zu nennen.140 Im Jahre 1500 verfaßte er eine erste Summe seiner kryptographischen Arbeit, die »Steganographia«, die allerdings über ein Jahrhundert auf ihre Veröffentlichung warten mußte. 1518 erschien die »Polygraphia«. Schon vor der Jahrhundertwende mußte sich Trithemius wegen seiner sprachbezogenen Studien gegen den Vorwurf der Schwarzen Magie verteidigen, wobei er an den Entwicklungen, die weit über seinen Tod hinausreichten - 1609 wurde die »Steganographia« indiziert - nicht ganz unschuldig war. In einem Brief an den befreundeten Karmeliter Arnold Bostius hatte Trithemius sein Werk in gelegentlich mystisch anmutenden Formulierungen beschrieben, vielleicht nur, um es rätselhafter und damit zugleich interessanter erscheinen zu lassen.141 Der Brief geriet in falsche Hände, und Trithemius hatte fortan einen schweren Stand. Aus seiner allenfalls etwas vollmundigen Ankündigung des dritten Buches der »Steganographia« entnahmen seine Gegner, daß er mit dunklen Mächten zusammenarbeitete: Das dritte Buch wird die Kunst zeigen, einen ungebildeten und nur seiner Muttersprache mächtigen Menschen, der noch nie ein Wort Latein gekonnt hat, in zwei Stunden so weit zu unterrichten, daß er - so viel er auch nur wolle - geschmackvoll und genau genug Lateinisch schreiben und lesen und die Sprache auch verstehen könne, so daß alle, die seine Briefe lesen sollten, den Wortlaut loben und die lateinische Abfassung verstehen würden.142

Das hier zum Ausdruck kommende sprachdidaktische Element trat bei der Ausarbeitung des Textes immer mehr in den Hintergrund zugunsten des kryptographischen und, in dessen Folge, des universalistischen. Ein Beispiel für die Verschlüsselungstechniken des Trithemius sei im folgenden angeführt: die sogenannte „Ave-Maria-Chiffre", die bei der venezianisch-türkischen Auseinandersetzung eine Rolle spielte.

140 Zu Leben und Werk: K. Arnold: Johannes Trithemius (1462-1516). Würzburg 1971. 141 Dies jedenfalls vermutet Strasser (1988). 142 „Tertius über docet artem, per quam possum hominem ydeotam scientem tantum linguam maternam, qui nunquam novit verbum latini sermonis in duobus horis docere scribere, legere et intelligere latinum satis omate et discrete quantumcumque voluerit, ita ut quicunque viderint eius literas laudent verba, intelligant latine composita". Original und Übersetzung it. nach Strasser 1988, 37.

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Grundlage der Chiffrierung sind Listen von Wörtern, die den Buchstaben des Alphabets zugeordnet sind; hier ein Auszug143: a b c d

Deus Creator Conditor Opifex

a b c d

Clemens clementissimus pius pijssimus

a b c d

creans regens consuerans moderans

a b c d

celos celestia supercelestia mundum

Die Wörter sind so gewählt, daß jedes Wort jeder Liste mit jedem vorangehenden oder folgenden Wort wenigstens ansatzweise semantisch kombinierbar ist. Wenn nun z.B. der Name „abbas Tritemius" in chiffrierter Form an den Anfang einer Nachricht gesetzt werden soll, dann muß aus der ersten Liste „Deus" (= a), aus der zweiten „clementissimus" (= b), aus der dritten „regens" (= b), aus der vierten „celos" (= a) etc. gewählt werden. In dieser Reihenfolge werden die vier Wörter an den Anfang des Textes gestellt: Deus clementissimus regens celos manifestet optantibus lucem seraphicam cum omnibus dilectis suis in perpetuum amen Suauitas potentissimi motoris deuotis semper vbique [...].

Auf einen ersten Blick mag dies tatsächlich als harmloser religiöser Text akzeptiert werden. Interessant ist - und dies weist bereits auf Universalsprach-Entwürfe hin -, daß die Chiffre zusätzlich die Verwendung vornehmlich von Präpositionen, Pronomina und Adverbien vorsieht, die zur syntaktische Organisation der Geheimbotschaft dienen; im zitierten Beispiel sind sie kursiv gesetzt. Die folgenden Beispiele sind dem oben bereits erwähnten Werk des Friderici entnommen, der 1684 erschienenen »Cryptographia oder Geheime schrifft= münd= und wurckliche Correspondentz«. Die Beispiele sollen die Bandbreite der Disziplin vor Augen fuhren. Deutlich wird der unterschiedliche Grad der Abstraktion von vorgegebenen Sprach- bzw. Schriftsystemem, eine Voraussetzung, die auch Universalsprachen teilen. Friderici beginnt seine Darstellung mit dem Hinweis auf Julius Cäsar, der schon Geheimschriften verwendet habe. Tatsächlich werden die einfachsten Substitutionsverfahren Cäsar und Augustus zugeschrieben.144 Die im Mittelalter verbreitete Chiffre des Augustus ist denkbar einfach: Für jeden Buchstaben des Alphabets wird der nächstfolgende gesetzt, für a also wird b, für b wird c, für c wird d geschrieben, bis zu z, für das aa gesetzt wird. 143 Das Zitat gibt den Beginn des ersten Buches der »Polygraphia« wieder. Das Beispiel ist zit. nach Strasser 1988, 54. 144 Zu diesen kryptographischen Verfahren vgl. D. Kahn: The Codebreakers: The Story of Secret Writing. New York 1967; Strasser 1988, 19ff.

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Eine deutliche Steigerung im Grad der Komplexität stellt die tabula transpositions dar, die Friderici gleich als nächstes zitiert und auf der die meisten seiner Geheimschriften basieren:

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* ft S Im Grunde ist die Substitutionstafel lediglich eine Erweiterung der Methode des Augustus. Die horizontalen Buchstabenreihen werden mit Namen belegt, von oben nach unten z.B. Ambriel, Geradiel, Emoniel, Buriel, Arcadiel etc. Hat man sich mit dem Adressaten zuvor auf einen Code geeinigt, etwa Emoniel, dem Kennamen für die dritte waagrechte Reihe, dann wird man die Chiffrezeichen aus dieser dritten Reihe entnehmen, für A also ein d, für B ein e, für C ein/etc.; aus „Krieg" wird so „numkh". Gibt es noch keine Absprache hinsichtlich einer Codereihe, dann ließe sich der Name der betreffenden Reihe in dem verschlüsselten Dokument selbst unterbringen. Voraussetzung ist, daß man sich zuvor auf andere, unauffälligere Namen geeinigt hat, etwa, so schlägt Friderici vor, auf Städtenamen: Ambriel: Danzig, Geradiel: Hamburg, Emoniel: Breslau etc. Der entsprechende Name könnte als vermeintliche Ortsangabe zum Datum geschrieben

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werden. Das gesamte Verfahren kann gezielt kompliziert werden, indem man mehrere Codereihen verwendet, d.h. für den ersten Buchstaben des Ausgangswortes den korrespondierenden Buchstaben aus der ersten horizontalen Reihe wählt, für den zweiten Ausgangsbuchstaben den korrespondierenden Buchstaben aus der zweiten Reihe etc., so daß „Krieg" zu „Ismim" chiffriert wird. Die tabula transpositions wurde von Trithemius in die Kryptographie eingeführt und bewirkte eine kleine Revolution in der Disziplin. Dabei konnte der Abt auf zahlreiche Anregungen zurückgreifen, von einer kryptologischen Schrift des Hrabanus Maurus, »De inventione linguarum«145, über die allgegenwärtige »Ars combinatoria« des Lullus zu kabbalistischen Vorläufern. Agrippa von Nettesheim z.B. druckte in »De Occvlta Philosophia« von 1533 eine Substitutionstafel mit hebräischen Buchstaben ab. Ein zweites Beispiel, diesmal aus dem Bereich der Umsetzung von Buchstaben in Zahlen. Zugrunde liegt diese clavis146: I II III

a i r 1

b k s 2

c 1 t 3

d m u 4

e n

f o

g P

h

W

X

y

5

6

7

z 8

q

Zur Chiffrierung wird einem Ausgangangsbuchstaben zunächst diejenige Zahl zugewiesen, welche an der linken Seite der betreffenden horizontalen Reihe steht, dann die Zahl, die am Fuß der entsprechenden vertikalen Reihe steht: Für wird 11 gesetzt, für b die Zahl 12 etc. Damit sich die entstehende Zahlenreihe unverdächtig übermitteln läßt, könnte sie etwa in einem Brief dieser Art untergebracht werden: Mein Herr: Ich habe die bey seinem jüngsten Schreiben communjcirte Vormünder Rechnung erhalten; dieweil aber im Nachsehen / einige errores calculi, und zwar in dem summiren l nehmlich fol: 2. 5. 6. und 9. gefunden: Als habe nunmehr dieselben corrigirt l und müssen die Summen auff gedachten jWni also stehen:

145 Der Text steht bei Migne (Hrsg.): Patrologia. Bd. 112. Paris 1878; Sp. 1579-1584. Die Angaben zu Trithemius' Vorläufern nach Strasser 1988, 55ff. 146 Friderici: Cryptographia, 166 f.

Sprachuniversalismus fol.2. 1415 2125 9341 5313 5112

fol.5. 5319 2132 3391 4213 1925

fol.6. 1833 9171 5333 1153 5932

1111

1 1 11

1 118

299

fol.9. 1 116 1615 9211 8259 1112

Sä: 21313 Sä: 26637 Sä: 19093 Sä: 24740 Wann es demnach meinem Herrn nicht zu wieder / so wolle Er sothanige errores ändern / und mir mit nächsten eine reformirte Rechnung zukommen lassen, a Dieu.

Der Klartext der so chiffrierten Mitteilung lautet: „Dein Verwalter ist dir nicht getrew / schaffe ihn ab". Die Basis eines Codes, seine clavis, kann auch graphische Elemente einbeziehen. Im folgenden Beispiel sind dies Viertel- bzw. Halbkreise147:

Soll die Nachricht „Der frernbde von dantzig wil morgen wider weg. Siehe zu das du ein geld von ihm bekommest" chiffriert werden, so müssen zunächst alle Buchstaben durchgezählt werden, im vorliegenden Falle von l bis 72: D e r f r e m b d e v o n d a n t z i g [...] l 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 [...]

147 Ebd., 169.

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Im nächsten Schritt werden zu jedem Buchstaben des Textes diejenigen Zahlen geschrieben, die ihm bei der Aufreihung zugeordnet wurden. Das d etwa kommt achtmal vor, und die folgenden Zahlen entsprechen ihm: l, 9, 14, 32, 45, 48, 50, 57. Anschließend werden zwölf Halbkreise in der Weise gezeichnet, daß sich folgende Figur ergibt:

Beim Ausfüllen der Figur wird diesem Prinzip gefolgt: Die Zahlen werden stets auf denjenigen Halbkreis abgetragen, dessen Buchstabe wiederum dem Buchstaben entspricht, welcher mit der Zahl bei dem zweiten Zuordnungsschritt korreliert wurde. Die Zuweisung von Buchstabe zu Halbkreis ergibt sich dabei aus der ersten Figur, der clavis. Danach ist der erste Halbkreis für das Auftragen von a und n bestimmt, der zweite Halbkreis für b und o etc. Sollen z.B. die im zweiten Schritt dem Buchstaben d zugeordneten Zahlen l, 9, 14, 32, 45, 48, 50, 57 - in die Halbkreisfigur übertragen werden, so muß das auf dem vierten Halbkreis geschehen, da das d in der clavis den vierten Halbkreis kennzeichnet. Sollen dagegen die Zahlen des Buchstabens a auf die Halbkreise abgetragen werden (- das a kommt in der Botschaft zweimal vor, und zwar an den Positionen 15 und 46), dann ist der erste Halbkreis der richtige Ort, denn in der clavis kennzeichnet das a den ersten Halbkreis. Sollen die dem n entsprechenden Zahlen abgetragen werden 13, 16, 29, 53, 60 -, kommt entsprechend der clavis ebenfalls der erste Halbkreis in Frage. Um die «-Zahlen von den -Zahlen zu unterscheiden, wird zwischen den Zahlenreihen ein senkrechter Strich gezogen. Grundsätzlich werden diejenigen Zahlenreihen, welche den auf der clavis vertikal

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angeordneten Buchstaben entsprechen, links von den Zahlenreihen eingetragen, die den auf der clavis horizontal angeordneten Buchstaben entsprechen. Die dermaßen mit Ziffern ausgefüllte Halbkreis-Figur kann nun als ,M^thematischer Brieff"' verschickt werden. Die Methode der Entschlüsselung versteht sich im Grunde von selbst: Der Empfänger schreibt unter die Waagrechte, welche die Halbkreise abschließt, die Buchstaben der clavis, von innen nach außen gehend und mit a bzw. n beginnend. Durch die diesen Buchstaben entsprechenden Zahlen auf den Halbkreisen erfährt er, an welcher Stelle im Text ein bestimmter Buchstabe vorkommt. Der Rest ist offensichtlich. Die Beispiele ließen sich über viele Seiten fortsetzen. Nicht alle Vorschläge erscheinen sinnvoll, und bei einigen dominiert das schiere Vergnügen an den Möglichkeiten der Kryptographie. Auch Harsdörffers Zusammenstellung kryptographischer Themen in den »Deliciae« gewinnt gelegentlich den Charakter einer bunten Mischung: „Wie man heimlich schreiben könne / daß es keinen Verdacht bringe?", „Ob / und wie man in der Finstern mit einem Bleystefft gleich schreiben könne?", „Wie man auf einmal zween Briefe oder andre Schrifften zugleich schreiben könne?", „Einen Brieff in ein Ey verbergen", „Wie die Buchstabwechsel zu den Dantzspielen oder Balleten zugebrauchen?", „Ob man so geschwind schreiben könne / als man zu reden pfleget" etc. Die beiden letzten Fragen sind allerdings durchaus interessant: Die Frage, inwieweit kombinatorischer Umgang mit Buchstaben für die Musik bzw. bei Tanzspielen relevant sein könne, spielt vor allem im Barock eine ernstzunehmende Rolle. Athanasius Kircher z.B. hat eine überaus beliebte Area Musarilhmica geschaffen, ein Komponierkästchen, das seinen Besitzer in die Lage versetzen soll, vierstimmige Sätze zu schaffen.148 Auch die Erwähnung der Stenographie spiegelt durchaus das Interesse der Zeit; die »Deliciae« sind beileibe nicht das einzige Werk, das entsprechende Vorschläge enthält.149

148 Vgl. Strasser 1988, 144. 149 Kaspar Schott erwähnt in den »Technica Curiosa« (1664) die Arbeit des Engländers Thomas Schelton von 1660: »Tachigraphia Nova, sive Exactissima et Compendiosissima breviter scribendi methodus«. Aus dieser Arbeit zitiert Schott die maßgeblichen Tabellen, wie diese des Alphabets (S. 534f):

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Der Ausblick auf die Kryptographie soll mit der Erwähnung des 1653 geschriebenen »Arithmeticus Nomenclator« des Spaniers Pedro Bermudo abgeschlossen werden, da hier die Übergänge zu den Universalsprachen deutlich hervortreten.150 Das Bemerkenswerte an Bermudos Vorschlag ist die Einrichtung von 44 Grundkategorien allen Seins („certa classes"), die er durchnumeriert, von Elementa (L), Coelum & Coelestia (II.), Intellectualia (III.), Status saecularis (IV.), über Militia (XII.), Medico (XIII.), Bruta animantia (XIV.), zu Wortarten-Kategorien wie Verba contrahendi oder Adverbia. Jede der Grundkategorien erhält mehrere Subkategorien; Elementa z.B. umfaßt Ignis (1.), Flamma (2.), Fumus (3.), Cinis (4.), Aer (5.), Ventus (6.) etc.; die Grundkategorie Affectus, Habitus enthält Amor (L), Timor (2.), Spes (3.), Gaudium (4.), Dolor (5.) etc.; die Klasse Medica enthält Medicus (1.), Chirurgus (2.), Aeger (3.), Pulsus (4.), Urina (5.), Febris (6.) etc. Bermudo stellt also Sachklassen zusammen, zu denen Gegenstände und Sachverhalte gezählt werden, die nach seiner Ansicht dazu beitragen, eine jeweilige Sachklasse zu konstituieren. Daß die Unterteilungen etwas Willkürliches haben, ist offenkundig. Möglicherweise hat sich Bermudo an entsprechenden Kategorisierungen aus der Taubstummensprache orientiert.

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150 Informationen über das Werk finden sich in Schotts »Technica Curiosa«; zum folgenden vgl. dort S. 483ff.

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Wichtig ist aber die Bewegung von der Semasiologie zur Onomasiologie: Nicht bzw. nicht ausschließlich auf sprachlichen Einheiten basiert Bermudos Entwurf, sondern auf Sachkategorien. Eine Verschlüsselung des Glaubensbekenntnisses auf dieser Grundlage würde so beginnen (- die römischen Zahlen geben die Grundkategorien an, die arabischen Zahlen die Subkategorien)151: XXXIX.4 (Credo) XLII.8 (in) III. 1.... (Deum Patrem) XXXIII.47 (omni-) XL.23.... (potentem), XXXVI. 17.... (creatorem) 11.10.., (coeli) XLI.15 (et) 1.21. (terrae) XLI.15 (et) XLII.8 (in) III.2 ..., (Jesum Christum Filium DEI) etc. Man sieht, wie leicht sich diese Chiffre zu einer Universalsprache ausbauen ließe: Von der Annahme ausgehend, daß die Grund- und Subkategorien universell sind, müßten neben den auf die einzelnen Kategorien verweisenden Zahlen lediglich Übersetzungsheteronyme stehen, neben „credere" also „believe", „glauben" etc. Jedes Mitglied einer Sprachgemeinschaft, dessen Sprache bei dieser Zusammenstellung von Heteronymen vertreten ist, könnte dann anhand der Zahlen den Originaltext verstehen. Auch morphologische und syntaktische Informationen werden vermittelt. Bermudo gelingt dies zumindest teilweise durch ein System von Punkten. Im zitierten Beispiel wird der Akkusativ von „Deum Patrem", „-potentem" und „creatorem" durch vier Punkte hinter der arabischen Zahl gekennzeichnet, während dem Genitiv von „coeli" und „terrae" zwei Punkte entsprechen. Die Verschlüsselung verdeutlicht aber auch ein immer wieder begegnendes Problem von apriorischen Sprachentwürfen dieser Art: ihre mangelnde semantische Exaktheit. Denn in dem Maße, in dem solche Entwürfe von Wörtern ausgehen, müssen sie in der Praxis mit Synonymen arbeiten und verlieren eben dadurch an Genauigkeit, während sie in dem Maße, indem sie von Sachkategorien ausgehen, von vornherein mit schlecht bestimmten mentalen Größen operieren. Das als erstes erwähnte Synonymenproblem ergibt sich aus der Menge der Grund- und Subkategorien und aus ihrem semantischen Status. Entscheidet man sich dafür, den einer Kategorie zugeordneten Ausdruck als lexikalische Einheit einzustufen und nicht als Sachangabe im Sinne der Onomasiologie, dann operiert man in dem Sprachentwurf mit einer begrenzten Menge von Wörtern, in Bermudos Falle ca. 1200. Verschlüsselt man nun die Wörter eines Textes, so gelingt dies nur dann semantisch problemlos, wenn der Text ein Vokabular enthält, das nicht über die 1200 Wörter des Systems hinausgeht. Sollen aber nicht im System vorhandene Wörter verschlüsselt werden, so muß auf diejenigen 151 Vgl. dazu auch Strasser 1988.

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(partiellen) Synonyme der zu verschlüsselnden Wörter zurückgegriffen werden, die Teil des Systems sind. Daß dies ein beachtliches Potential an Ungenauigkeit enthält, ist offensichtlich. Dem vermag man auch nicht dadurch zu entgehen, daß man erklärt, ein durch ein Synonym ausgetauschter Ausdruck sei nicht als Wort Teil des Systems, sondern der bezeichnete Gegenstand selbst sei gemeint und die Verstehenden hätten aufgrund gleicher Wahrnehmungsweise und mentaler Anlagen das identische Bild vom gemeinten Gegenstand; die jeweiligen Ausdrücke wurden lediglich den Anstoß zur mentalen Realisierung übereinzelsprachlicher - und bei Synonymen eben: identischer - Bilder liefern. Daß dies eine Illusion wäre, bedarf kaum einer Begründung, denn das mentale Bild eines Gegenstandes, das durch einen Ausdruck X evoziert wird, wird sich stets in denjenigen Merkmalen von dem durch einen Ausdruck evozierten Bild unterscheiden, in dem sich die semantischen Merkmale der evozierenden Synonyme - die sich bei näherer Betrachtung doch nur als partiell synonym erweisen - unterscheiden. Bei einem Vokabular von 1200 Einheiten dürfte dies gelegentlich erheblich sein und auch deutlich in den Bereich des Denotativen hineingreifen. Dennoch mögen solche Sprachentwürfe für bestimmte Zwecke völlig ausreichen. Sie würden zwar nicht den Exaktheitsforderungen eines Descartes oder Leibniz entsprechen, könnten in einem entsprechenden Verwendungskontext aber hinreichend genau sein. Bermudos Vorschlag wird von einer Reihe von Zeitgenossen, u.a. von Athanasius Kircher aufgegriffen. Kircher hat die Kunst der Kryptographie perfektioniert. Das deutlichste Zeugnis ist seine Area Steganographica, ein Kasten mit Buchstaben- und Zahlenlisten zum Chiffrieren und Dechiffrieren. In seiner in Rom erschienenen »Polygraphia nova et vniversalis« von 1663 arbeitet auch Kircher mit Grund- und Subkategorien, insgesamt mit 54. Diese Zahl, wie auch etliche andere Aspekte, verrät die enge Anlehnung an Lullus. Die Wiedergabe eines Schemas aus der »Ars magna sciendi sive combinatoria« von 1669 verdeutlicht dies152:

152 S. 24. - Zu Kirchers universalwissenschaftlichen Bestrebungen s. Leinkauf 1993.

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T A B U L A

Afybabetorum Anis

Columna quarta. Column» tertla. Columna fccunda. Columna prima. < frinofurum jilfhattium fiiniipietum it· ^Ifbatttumffiacifiinum wuAlfbabetum frunuin dlphfiaum •vetfatunn. fpiRivmim. · atfilutnum. Erttunatuum.

. An. 2. Quid. 3. Cur. 4. Quantum. f. Qul. o". Quäle. 7. Ubi. 8. Qjjando.

i. 2. 3. 4. f. 4. 7. 8.

B. M. D. P. S. Vo. Vi. Ve.

Bonicas. Magnitudo. Duratio. Poteutia. Sapientia. Voluntas. Virtus. Veritas.

9. Quibufcum. 9. G. Gloria.

i. 2. 3. 4. f. Finis. ^ Majoritas. JEqualitas.

9. Mi. Minoritas.

. Deus. 2. ^^a Angelus. j . ^) Coclum. 4. Elcmenta. j·. >f Homo. 6. mf Animalia. 7. 4J& Planta;. 8. (2j Mineralia&omnia raixta. 9. HI Materialinj In. ftrumentalia.

Von der Kryptographie zu den Universalsprachen: Die folgende Beschreibung des Entwurfs von John Wilkins wird die Nähe der beiden Bereiche zueinander erkennen lassen. Wilkins' »Essay towards a Real Character and a Philosophical Language« von 1668 muß ebenso wie die Spracharbeit der kontinentalen Gelehrten vor dem Hintergrund des intellektuellen Klimas der Zeit gesehen werden. Die Forderung nach einer Universalsprache steht häufig im Zusammenhang mit praktisch-ökonomischen und theologischen Anliegen: Einerseits würde eine lingua universalis bei der Erschließung neuer Märkte helfen, andererseits könnte sie das bei der Missionierung immer wieder begegnende leidige Übersetzungsproblem ein für allemal aus der Welt schaffen. Dies faßt auch Wilkins' Landsmann Francis Lodwick ins Auge, der zusätzlich zu seinen linguistischen Arbeiten eine Schrift »Of converting infidels to Christianity« verfaßt hat, oder George Dalgamo, der in seiner bekannten »Ars signorum« von 1661 den Nutzen einer Universalsprache für die Verbreitung des Gotteswortes hervorhebt. Während bei Descartes und Leibniz die Forderung nach zeichenrelationaler Exaktheit von einem gewissen Selbstzweck getragen ist, scheint bei den englischen Autoren insgesamt der Anwendungsaspekt eine größere Rolle zu spielen. Gleichwohl gibt es aus dem Umkreis der Royal Society eine auch prinzipielle Kritik an unpräziser Sprachverwendung, an allzu bombastischer Rhetorik; entsprechende Äußerungen Bacons - bereits aus einer Zeit vor Gründung der Society - und Lockes wurden bereits angeführt. In der »History of the Royal Society« von 1667 schreibt Thomas Sprat, die Einrichtung habe es sich zum Anliegen gemacht, auf jegliche Art stilistischen Schmucks zu

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verzichten und „a close, naked, natural way of speaking"153 zu praktizieren, ohne „swellings of style", orientiert am Ideal einer „Mathematical plainness". Diese Forderung nach einer schmucklosen, präzisen Sprache ist anders motiviert als die auf den ersten Blick identische Forderung, die von puritanischer Seite immer wieder an die Prediger herangetragen wird, eine Forderung, die im übrigen auch Gemeinplatz des deutschen Protestantismus ist und sich bereits in Luthers Hinweisen „ad simplicem modum contionandi"154, auf einen schlichten Predigtstil findet. Sie ist auch anders motiviert als die im deutschen Sprachraum verbreitete Forderung nach einer dem „ehrlichen alten Teutschen" entsprechenden, rhetorisch unaufwendigen Sprache. In ihr zeigen sich vielmehr Anklänge an jene im Verlaufe des 18. Jahrhunderts immer typischer werdende Ausdehnung des naturwissenschaftlich-mathematischen Exaktheitsideals auf den Bereich der Sprache. In England hat die Aufforderung, sich eher an den empirisch erfahrbaren Gegenständen der Wirklichkeit als an den bloßen Wörtern zu orientieren, im Bewußtsein der gebildeten Öffentlichkeit des frühen 18. Jahrhunderts einen solchen Stellenwert eingenommen, daß sie zum Gegenstand von Spott und Satire werden kann. Jonathan Swift berichtet in »Gulliver's Travels« über die Reise seines Helden nach Balnibarbi, in das Land der Gelehrsamkeit. Da man dort davon ausging, daß die Worte lediglich Bezeichnungen für die Dinge seien und daß die Dinge am besten für sich selbst sprechen sollten, hätten sich die Gelehrten darauf geeinigt, stets große Säcke mit Gegenständen mit sich zu führen, um bei Gesprächen wortlos den jeweils interessierenden Gegenstand herauszuholen und dem Gesprächspartner zu zeigen, Gespräche von einer Stunde seien so durchaus möglich. Ein weiterer Vorteil dieser Erfindung sei ihre Eignung als „universal Language to be understood in all civilised nations"155. Die empiristische Sprachkritik ist aber mehr als nur Stilkritik. Der zugrundeliegende Angriff richtet sich gegen ein Denken - dies wurde bereits im Zusammenhang mit der Diskussion des Relativitätsgedankens erwähnt -, das sich in allgemeinen Begriffen aufhält und sich dabei auf vorgegebene sprachliche Kategorien stützt. In dieser Hinsicht unterscheiden 153 Dieses und die beiden folgenden Zitate nach Salmon 1972, [79], - Einem solchen Stilideal widerspricht nach Auffassung zahlreicher Engländer auch die Sprache Jakob Böhmes, der, obgleich er ein vielgelesener Autor in England war, wegen seiner gelegentlichen sprachlichen Obskurität heftige Kritik auf sich zog. 154 Weimarer Ausgabe, Tischreden, Bd. 4, 447. - Daß diese Forderung im Widerspruch gerade zu Luthers eigener Wortgewalt steht, tut in diesem Zusammenhang nichts zur Sache. 155 Teil III, Kap. 5.

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sich empiristische und rationalistische Kritiker nicht. Als Alternative sehen gerade englische Autoren ein von den konkreten Einzelgegenständen ausgehendes und sich dieser Einzelgegenstände immer wieder empirisch vergewisserndes Denken. Ein solches auf das konkrete Objekt gerichtetes Denken, welches erst das naturwissenschaftlich-experimentelle Arbeiten ermöglicht, verlangt nach einer exakten Sprache, die all jene Fehler nicht hat, welche die natürlichen Sprachen kennzeichnen. Leisten kann dies nur „the wisdom of the Mathematicians"156, nicht die verbose Kunst des Rhetorikers mit ihrer „affectionate study of eloquence and copie of speech"157. Vor dem Hintergrund dieser Auffassungen erklärt sich das Interesse frühneuzeitlicher, und hier wieder insbesondere englischer Autoren an den im Chinesischen vermuteten „Characters Real, which express neither letters nor words in gross, but Things or Notions"158, an Zeichen also, welche auf die Gegenstände der Wirklichkeit bzw. auf die mentale Fassung dieser Gegenstände unter vermeintlicher Umgehung gerade des spezifisch Sprachlichen (Grammatischen, Arbiträr-Semantischen) in unmittelbarem Bezug verweisen. Bereits von den Hieroglyphen des Ägyptischen hatte man vermutet, daß sie jeweils einen Gegenstand der Wirklichkeit direkt bezeichnen159, doch wurde dem Chinesischen weit größeres Interesse zuteil. Von Missionaren verfaßte Berichte über die chinesische Sprache kursierten seit dem späten 16. Jahrhundert in ganz Europa. 1569 hatte der Dominikaner Gaspar da Cruz auf die vermeintlich unmittelbare Verbindung zwischen den Dingen und den sie repräsentierenden Zeichen im Chinesischen hingewiesen. Seine Erkenntnisse erlangten durch Übernahme in Juan Gonzalez de Mendozas vielfach übersetzter und in dreißig Ausgaben gedruckter »Historia de las cosas mas notables, ritos y costumbres, del gran 156 Bacon, Of the Advancement of Learning, 397. 157 Ebd., 283. 158 Ebd., 399. - Vgl. die Definition von „Real Character" bei Francis Lodwick: „Carracter is the signe of som sound or thing or the affections of things. When applyed to sounds -1 meane those we call articulate sounds - then is it called a vocall Carracter. Such are the alfabetall letters a, b, d, etc. When applyed to things they are called Reall Carracters, from res or thing, in distinction from the former vocall carracters. These Reall Carracters are either those which represent the thing it standeth for, as the picture of a man is the carracter of a man, [...] or those which only signifie by concent the thing it standeth for. As suppose 0 for heaven, which it does not represent further then when by declaration or concent before hand it be constituted thus to signifie [...]." In: Of an universall reall caracter, 32r. 159 Vgl. etwa Kirchers »Sphinx mystagoga sive diatriba Hieroglyphica«. Amsterdam 1676. - Zu dieser Thematik. E. Iversen: The Myth of Egypt and Its Hieroglyphs in European Tradition. Kopenhagen 1961; vgl. auch P. Cornelius: Languages in Seventeenth- and Early Eighteenth-Century Imaginary Voyages. Genf 1965.

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Reyno de la China« (Rom 1585) in der gesamten gelehrten Welt Verbreitung.160 Außer der direkten Verbindung zwischen Zeichen und Gegenstand hebt Gaspar da Cruz die große Zahl der Zeichen hervor, die notwendig sind, um einen jeden Gegenstand der Wirklichkeit benennen zu können - der Jesuit Matteo Ricci spricht in seinem Bericht gar von bis zu 80.000 Schriftzeichen -, ein Aspekt, der bei der Konstruktion von Universalsprachen immer wieder als problematisch vermerkt wird. Auch auf die Eigenschaft der chinesischen Schriftsprache, von Benutzern divergierender gesprochener Varietäten verstanden zu werden, weist der Dominikaner hin. Die frühen Berichte über das Chinesische werden durch die Beobachtungen des bereits erwähnten Matteo Ricci ergänzt, die sein Ordensbruder Nicolas Trigault samt Kommentar 1615 herausgibt.161 Dieses Buch wurde zur Grundlage von Überlegungen des Flamen Hermann Hugo über die Möglichkeit einer Universalsprache, die ihrerseits das Denken über Universalsprachen in der Folgezeit beeinflussen sollten: Wenn es die den einzelnen Buchstaben zugeschriebene Aufgabe wäre, nicht die Wörter, sondern die Dinge selbst zu bezeichnen, und wenn diese Buchstaben allen Menschen gemein wären, dann würden alle Menschen die Schrift der einzelnen Völker verstehen, selbst wenn die einzelnen Völker die einzelnen Dinge mit unterschiedlichen Namen belegten.162

Hier werden Gedanken formuliert, die im Zusammenhang der Universalsprachen-Thematik immer wieder auftauchen: Die Ausdrucksseiten der Zeichen sollen nicht für Wörter, sondern für Dinge stehen, so daß alle Menschen diese Zeichenschrift verstehen könnten, selbst wenn sie die außersprachlichen Gegenstände mit unterschiedlichen Wörtern bezeichnen.163 160 Dazu Slaughter 1975, 24. 161 Nicolas Trigault: De Christiana Expeditione apud Sinas suscepta ab Societate Jesu ex P. Matthaei Ricii eiusdem Societatis Comentariis Libri V. Augsburg 1615. 162 „Si singulae literae tmpositae essent, non vocibus, sed rebus ipsis sigmficandis, eaeque essent honünibus omnibus communes; omnes omnino homines, etiamsi gentes singulae res singulas diversis nominibus appellent, singularum gentium scriptionem intelligerent". In: De prima scribendi origine et vniversa rei literariae antiquitate (1617), 1738, 37. - Zu Hugo vgl. Strasser 1988, 90ff. 163 Ähnlich die Formulierung des Universalsprach-Gedankens bei Francis Lodwick: »The reason hereof [d.h. fur die universelle Verständlichkeit eines in der Universalsprache verfaßten Textes, A.G.J is, for that this writing hath no reference to letters, or their Conjunctions in words, according to the several! Languages, but being rather a kind of hieroglyphical representation of words, by so many severall Characters, for each word a Character [...]". In: A Common Writing: Whereby two, although not understanding one the others Language, yet by the helpe thereof, may communicate their minds one to another [...]. 1647, A2.

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Im »Essay« des Bischofs von Chester laufen all diese Stränge zusammen. Seine Kritik an den natürlichen Sprachen spiegelt den Geist der Zeit. Von der unzureichenden Ordnung ihrer Alphabete („inartificial and confusedy6*, über die semantischen Erscheinungen Polysemie, Homonymie und Synonymic, die der gewünschten Eindeutigkeit in der zeicheninternen Relation von Ausdrucks- zu Inhaltsseite Abbruch tun, bis zur mangelnden Kongruenz zwischen Graphic und Phonie wird alles, was eine Sprache „doubtful and obscure" werden läßt, aufgelistet. Die Basis für diese Kritik ist, wie an anderer Stelle bereits erwähnt, der Glaube an die Universalität der ,,Principle[s] of Reason", aus der sich ganz selbstverständlich eine Zeichentheorie ergibt, wie sie mehr oder weniger ausgeprägt bereits häufig begegnete: Wenn die Prinzipien des vernünftigen Denkens bei allen Menschen in gleicher Weise gegeben sind, dann sind auch die Vorstellungen als die mentalen Fassungen der Gegenstände die gleichen. Die mentale Fassung eines Baumes etwa - Wilkins' Beispiel wurde an anderer Stelle bereits ausführlich zitiert - ist im Bewußtsein der Menschen als feste Vorstellung von diesem Gegenstand („Notion or mental Image") gegeben. Die Ausdrucksseiten der Wörter, die zur Bezeichnung der Vorstellungen dienen, sind ausschließlich durch Konventionen festgelegt, so daß sich als Ziel des Universalisten die Herstellung von Übereinstimmung hinsichtlich dieser Ausdrucksseiten erweist. Die entscheidende Bedingung einer Sprache auf der Basis des Real Character soll aber nun sein, von jedem Sprecher einer jeden Muttersprache verstanden werden zu können. Er muß in die Lage versetzt werden, aus der Ausdrucksseite des Zeichens zweifelsfrei dessen Inhaltsseite herleiten zu können. Diese Inhaltsseite ist Abbild eines Gegenstandes der für jeden Menschen gleichen Wirklichkeit, so daß die Aufgabe der einzelnen Zeichenkomponenten darin besteht, den Ort des bezeichneten Gegenstandes im System der Wirklichkeit präzise anzugeben. Denn dies ist natürlich die wichtigste Voraussetzung: daß die Realität nicht ungeordnet ist, sondern ein jeder Gegenstand in einem festen Gefüge von Unter- und Nebenordnungen seinen genau bestimmten Platz hat. So leistet Wilkins, wie schon Bermudo und andere, mehr als nur Sprachwissenschaftliches, nämlich die Untergliederung der gesamten Welt165:

164 John Wilkins: Essay, 14f. Die beiden folgenden Zitate S. 17. 165 Ebd., 23.

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'GcaertU namely thoic.UniverCU notions,, whether, belonging more properly to t GENERAL. I C#««.icalledTRANSCENDENTALX RELATION MIXED. II 1} (RELATION OF ACTION. Ill I (Wards 5 DISCOURSE. IV {Special:, denoting either iCREATOR. V iCreature; namely fuchi things as were ciuuetcreeteJ or' eenertttedbj. God, not excluding ieveral of thofc. notions, which are. framed by the. minds Of men, confidered either (Crfettiwlj; WORLD. VI \DiJlritiitivtlj:, according to the. (evcra! kinds of Beings, whether fuch as do ( belong to ; ELEMENT. Vn \Aniatatf·,. con dered. according to theirIeveral {Specie*· ι whether yegetttive

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Die Zahl zur Kennzeichnung der flexionsmorphologischen Angaben wird in analoger Weise codiert, durch Punkt-Strich-Kombinationen in den Bereichen, die im Musterrahmen durch die Buchstaben E, F, G, H und / gekenn-

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zeichnet sind. Die durch L und K angezeigten Bereiche dienen der Codierung von Kommata bzw. Punkten. Insgesamt führt Becher in seinem lateinischen Ausgangslexikon 9432 Wörter auf, zusätzlich 281 Vornamen und 568 Toponyme. In der „Tabula pro variationibus sensuum" finden sich Codierungen für 173 grammatische Angaben. Das Umständliche des Verfahrens erkennt Becher durchaus, doch meint er, die ^Jviolestitf' werde angesichts des Nutzens schon hingenommen, „denn solcher Gestalt konten alle Nationen sonder kostbare Dollmetschen in der Welt mit einander correspondiren". Den Druckereien käme das Verfahren ebenfalls entgegen, da sie mit nur wenig Typen auskämen. Um die Fehlerquote so gering wie möglich zu halten, warnt Becher vor allzu komplexen Sätzen und der Aufteilung von Wörtern („prolixae phrases ac vocabulorum distractiones"), womit er im Grunde genau das macht, was in der maschinellen Übersetzung als pre-editing bezeichnet wird, ein Bearbeiten des zu übersetzenden Textes, um mögliche Komplikationen beim maschinellen Übersetzungsvorgang von vornherein auszuschließen. Wer nun noch Bechers System kritisiert, gibt sich, zumindest dessen eigener Ansicht nach, als engstirniger Kritiker zu erkennen, der das Potential eines solchen character universalis nicht erkenne, der nicht sehen wolle, daß alle Völker unter ihnen „Galli, Slavoni, Arabes, Hebraei, Graeci, Latini, Persae, Turcae" - dadurch einander verstehen könnten. Bechers »Character« reiht sich in die zeitgenössische Tradition der Universalsprach-Entwürfe ein. Die einzelnen Entwürfe weisen gegenüber ihren jeweiligen Vorläufern häufig ein innovatives Element auf- bei Becher ist es die vergleichsweise perfekte Umsetzung in das Schreibsystem -, ihre zugrundeliegenden Prinzipien sind jedoch weitgehend identisch und mit diesen Prinzipien auch ihre Schwächen. Diese Schwächen liegen in der recht geringen Praktikabilität und in der Orientierung an grammatischen Kategorien einer existierenden Sprache, i.e. des Lateinischen als Ausgangssprache. Die Vereinigung aller Sprachen durch eine einzigartige Harmonie, von der Becher in der „Defensio" seines Werks spricht, kann der »Character« eben aufgrund der Tatsache, daß sich Becher nicht von den Oberflächenstrukturen der Bezugssprache löst, jedenfalls nicht leisten. Die zuletzt erwähnte Einschränkung versucht Leibniz in einem seiner Ansätze zu überwinden. Mehrfach wurde bereits auf den rational-kombinatorischen Zug in seinen Arbeiten hingewiesen, der an entsprechende Überlegungen u.a. bei Descartes und in der Logik von Port-Royal erinnert. Ein komplexes Ganzes wird in seine einfachen Konstituenten zerlegt, wobei der

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Vorgang der Analyse streng logisch verläuft und sich dadurch auf jeder Stufe in einen Vorgang der Synthese umkehren läßt, der zu dem Ausgangspunkt zurückführt, welcher dem letzten Analyseschritt voranging. Das kombinatorische Element als solches findet sich bereits bei Raimundus Lullus, mit dem sich Leibniz in der »Ars combinatoria« auseinandersetzt, an anderer Stelle wurde dies bereits angesprochen. Überhaupt erweist sich Leibniz als sehr bewandert in der einschlägigen Fachliteratur. Er kennt die Entwürfe von Dalgarno, Wilkins und Kircher, weiß um die Diskussion über die universalsprachlichen Qualitäten des Chinesischen und ist ganz allgemein mit den Spezifika der Universalismusdebatte vertraut.216 Bei Leibniz finden sich zwei unterschiedliche Ansätze, ein apriorischer und ein aposteriorischer, leider jedoch nicht in einer konsequent ausformulierten Form. Stattdessen sind die Einzelheiten auf zahlreiche mehr oder weniger fragmentarische Schriften unterschiedlichen Charakters verteilt, und selbst nach ihrer Zusammenstellung ergeben sich nicht mehr als Vorschläge, wie eine lingua universalis aussehen könnte, Vorschläge allerdings, deren argumentatives Niveau deutlich über denen der meisten Zeitgenossen liegt. Leibniz' aposteriorischer Ansatz mag zwar nicht den Anforderungen mathematischer Exaktheit genügen, ist aber leichter zu realisieren, da er auf Kategorien existierender Sprachen zurückgreift. Der Pater Labbe habe eine Sprache entworfen, so Leibniz in den »Nouveaux Essais«, die auf dem Lateinischen basiere, aber wesentlich unkomplizierter sei. Offensichtlich kannte Leibniz die vor 1663 erschienene »Grammatica linguae universalis missionum et commerciorum« des Philippe Labbe, in der ein von Kasusendungen, Formen der Komparation, Genera, Komplexitäten des Tempussystems etc. befreites Latein als Medium der Mission vorgeschlagen wird. Das Vaterunser etwa würde in dieser Sprache so lauten: Orag domani. Oh pat asa, u eno ni cels. Nom ee santur. Regn ee venu. Vol ee facur, tou ni cel te ni ter. Donu mo da as li pan asa de oms dies. Te parcu da as li debs asas, tou te äs parcos da debans asas. Te no ducu äs ne tentag. Pa libu äs ba mali. Enu.217

Etwas im Prinzip, wenn auch nicht notwendigerweise in der konkreten Ausführung Vergleichbares muß Leibniz bei seinen Äußerungen zu einer möglichen Kunstsprache vorgeschwebt haben. Diese Kunstsprache solle am

216 In der »Ars combinatoria« z.B. diskutiert er sämtliche kombinatorischen Entwürfe, die Harsdörffer in den »Deliciae« auffuhrt. 217 S. 15. Zit. nach Strasser 1988, 197, wo sich auch Einzelheiten über Labbes Sprache finden.

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Ende zwar den Regeln einer grammatica rationalis entsprechen, doch könne man als Ausgangspunkt durchaus eine historische Einzelsprache heranziehen, etwa das Lateinische.218 In jener Einzelsprache müssen nun in einem ersten Schritt all diejenigen Wörter, Phraseologismen, Sprichwörter und sonstigen Einheiten semantisch präzise bestimmt werden, deren Gesamtbedeutung sich nicht durch Addition ihrer einzelnen semantischen Konstituenten beschreiben läßt und sich damit sozusagen von selbst ergibt bzw., im Falle einzelner Wörter, die als Simplizia nicht in weitere sprechende' Bedeutungskonstituenten analysierbar sind.219 Mit anderen Worten: Nur diejenigen sprachlichen Einheiten müssen nicht weiter semantisch analysiert werden, deren Bedeutung sich aus ihren Konstituenten unmittelbar ergibt (- wobei allerdings diese ersten Konstituenten sehr wohl Gegenstand der semantischen Bestimmung sind). Auf diese Weise erhält man eine Anzahl genau bestimmter einfacher Einheiten, für die dann in einem zweiten Schritt Verknüpfungsregeln für komplexere Einheiten bis hin zum Text festgelegt werden müssen. Für diese Verknüpfungsregeln nun schlägt Leibniz konsequent Vereinfachungen gegenüber den Grammatiken historischer Sprachen vor, so daß am Ende eine von redundanten grammatischen Positionen entlastete Mindestgrammatik verbleibt. Die Vorschläge zur Reduzierung grammatischer Kategorien betreffen Wortarten, Tempussystem und ganz allgemein die Flexion, ermöglicht durch Transformationen der unterschiedlichsten Art. So könne man alle Kasus mit Ausnahme des Genitivs abschaffen. Der Akkusativ etwa lasse sich ebensogut durch ein Nomen verbale wiedergeben - für „Ego laudo Titium" stünde „Ego sum laudator Titii"220 -, und ansonsten seien Präpositionen völlig ausreichend.221 Auch sei der Plural in der rationalen Grammatik letztlich nutzlos („inutilis"222 ), die Verben ließen sich durch Hinzufugung einer Form von „esse" aufheben - aus „Petrus scribit" wird „Petrus est scribens"223 -, auch die Nomina könnten sich durch eine Kombination von „res" bzw. „ens" + Adjektiv ersetzen lassen: „homo" z.B. sei nichts anderes als „Ens humanum"224. Tempusangaben wiederum ließen sich an Nomina knüpfen - wenn „amatio" die Handlung („actus") eines Liebenden bezeichne, warum dann nicht auch „amavitio" die Handlung 218 219 220 221 222 223 224

Consilium de Encyclopaedia nova conscribenda methodo inventoria, vmtl. 1679, 35. Analysis linguarum, 1678, 352f. [Essay d'analyse grammaticale], o.J., 285. [Vocabula sunt vel generalia vel specialia ...], o.J., 288. Grammatica, o.J., 281. [De Grammatica rationali], 1678, 281. [Vocabula sunt vel generalia vel specialia ...], 289.

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dessen, der geliebt hat225 -, insgesamt könnten die Flexionen erheblich reduziert werden226 etc. Auch auf der Ebene der Einzellexeme wären Transformationen denkbar: „vir" lasse sich durch „homo masculus", „homo" durch „habens humanitatem"227 ersetzen. Im Grunde könnte man also eine Grammatik mit res bzw. ens, einer Form von esse, Adjektiven und einigen Partikeln bestreiten. Ganz offensichtlich ist Leibniz die Unterscheidung in eine - wie auch immer zu definierende - sprachliche Tiefenstruktur und eine Oberflächenstruktur geläufig. Letztlich aber handelt es sich dabei um Verfahren, die bis zur spekulativen Grammatik des Mittelalters zurückreichen; im ganzen zeigt Leibniz hier wenig Originalität. Dies ist anders bei seinen apriorischen Versuchen in Richtung einer Universalsprache. Im Ansatz lassen sich dabei zwar Parallelen zu Descartes erkennen, doch geht Leibniz weit über dessen sehr rudimentäre Äußerungen hinaus. Gemeinsamkeit besteht insofern, als Voraussetzung einer Universalsprache ein Alphabet aller menschlichen Gedanken („Alphabetum cogitationum humanarum"228) sein muß. Diesen mentalen Grundeinheiten können dann Zeichen zugewiesen werden, wobei Gedanke und Zeichen in einem isomorphen Verhältnis zueinander stehen; die Verknüpfungen des einen entsprechen stets denen des anderen. Der erste Schritt müßte also die Rückführung der Gedanken auf einfache Vorstellungen („termini primi"; „termes absolument primitifs") und die genaue Festlegung der Verknüpfungsregeln sein - der für Leibniz zentrale Gedanke des Aufbaus komplexer Einheiten aus ihnen zugrundeliegenden und in ihnen ,ohne Rest' aufgehenden einfacheren Größen. Der Gedanke durchzieht viele seiner Schriften, die »Monadologie« etwa beginnt so: 1. Die Monade, von der hier die Rede sein soll, ist nichts andres, als eine einfache Substanz, die als Element in das Zusammengesetzte eingeht. Sie ist einfach, d.h. sie hat keine Teile [...]. 2. Einfache Substanzen muß es aber geben, da es zusammengesetzte gibt; denn das Zusammengesetzte ist nichts andres, als eine Anhäufung, ein Aggregat der einfachen. [...] 5. Ebenso unbegreiflich ist es, daß eine einfache Substanz auf natürlichem Wege entstehen könnte, da sie sich ja nicht durch Zusammensetzung bilden kann. 6. Man kann demnach sagen, daß die Monaden nur mit einem Schlage entstehen oder vergehen können, d.h. sie können nur durch Schöpfung entstehen und durch Vemich-

225 226 227 228

Ebd. Ebd., 290. [Consequentiae], o.J., 243. [Characteristica Universalis], 185.

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tung vergehen, während das Zusammengesetzte aus Teilen entsteht und in solche vergeht.229

Wie eine Monade nicht weiter zerlegbar ist, so gibt es auch Vorstellungen, die so basal sind, daß sie keine konstituierenden Elemente mehr aufweisen, mittels derer sie bestimmbar sind. Solche „notiones primitivae" sind daher nur ,aus sich selbst heraus', d.h. intuitiv erkennbar („per se intelligitur"230), z.B. Punctum, Dimensio, Unum, Longum, Progressio etc.231 Ihnen stehen zusammengesetzte Vorstellungen gegenüber, für die man beim Denken Symbole verwendet, da man sich in der Regel nicht aller Konstituenten einer solchen komplexen Vorstellung beim Denken vergegenwärtigen kann (- ein Gedanke, der sich wie vieles bei Leibniz in fast identischer Form auch bei Descartes findet232). Eben dies meint ja die Münzmetapher bei Leibniz: Der Verstand kann eine Sache nicht „iedesmahl so offt sie vorkommt" in allen Einzelheiten denken, sondern er benötigt einen Stellvertreter, eben das Wort, das nun wie eine mentale Münze, mit der man kognitiv handeln kann, funktioniert („Daher braucht man offt die Wort als Ziffern oder als Rechen-Pfennige an statt der Bildnisse und Sachen [,..]"233). Dieser Stellvertreter ist also keineswegs nur für die Entäußerung der Gedanken den Mitmenschen gegenüber vonnöten, sondern zunächst einmal für das eigene 229 „I. La Monade, dont nous parlerons ici, n'est autre chose, qu'une substance simple, qui entre dans les composes; simple, c'est ä dire, sans parties. 2. Et il faut qu'il y ait des substances simples, puisqu'il y a des composes; car le compose n'est autre choses, qu'un amas, ou aggregatum des simples. 5. Par la meme raison il n'y en a aucune, par laquelle une substance simple puisse commencer naturellement, puisqu'elle ne sauroit etre formee par composition. 6. Ainsi on peut dire, que les Monades ne sauroient commencer ny finir que tout d'un coup, c'est ä dire elles ne sauroient commencer que par creation, et finir que par annihilation, au lieu, que ce qui est compose, commence ou finit par parties." Dt. Text S. 435. 230 Meditationes, 423. 231 Der arte combinatoria, 200. 232 Vgl. Descartes' »Regulae«, Regula XII, 11: „Um dagegen aus demjenigen, was aus Unterschiedlichem zusammengenommen wurde, eines zu deduzieren, was oft nötig ist, muß alles das aus den Ideen der Dinge beseitigt werden, was keine gegenwärtige Aufmerksamkeit erfordert, damit das übrige leichter im Gedächtnis behalten werden kann. Demgemäß sind also dann nicht die Sachverhalte selbst den äußeren Sinnen vorzulegen, sondern vielmehr gewisse abkürzende Zeichen an ihrer Stelle, die um so bequemer sein werden, je kürzer sie sind, wenn sie nur ausreichen, ein Versagen des Gedächtnisses zu verhindern". - „Ut vero ex pluribus simul collectis unum quid deducat, quod saepe faciendum est, rejiciendum est ex rerum ideis quidquid praesentem attentionem non requiret, ut facilius reliqua possint in memoria retineri; atque eodem modo, non tune res ipsae sensibus extemis erunt proponendae, sed potius compendiosae quacdam illarum figurae, quae, modo sufficiant ad cavendum memoriae lapsum, quo breviores, eo commodiores existent". 233 Unvorgreiffliche Gedancken, Par. 7.

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Denken, das ansonsten nicht von der Stelle käme, eine Tatsache, die bei der Interpretation der seit dem Altertum verbreiteten Rede von den Wörtern als Münzen (yerba ut nummi) nicht vergessen werden darf.234 Denn tatsächlich hat die Münzmetapher zwei Seiten, eine kommunikative und eine rationalkognitive. Wer betonen will, daß Wörter Einheiten der Kommunikation sind, vermag dies mittels der Münzmetapher aus zwei Gründen: 1. Münzen werden wie Wörter zwischen Menschen ausgetauscht, sind Elemente zwischenmenschlichen Handelns; 2. Münzen wie Wörter können ihrer Aufgabe nur gerecht werden, wenn ihre Erscheinung und ihr Wert bzw. ihre Bedeutung von allen Beteiligten anerkannt werden. In beiden Fällen wird der sozial-pragmatische Aspekt der Münzmetapher betont, im Gegensatz zu dieser Charakterisierung: Mit der Münzmetapher wird verdeutlicht, daß Wörter wie Münzen zumindest in ihrer Intension exakt bestimmte Einheiten sind. Dies greift den zweiten der zuvor genannten Punkte wieder auf, allerdings in anderer Akzentuierung: Die präzise Festlegung des Wertes der Einheit wird nicht als im Dienste der Kommunikation stehend gesehen, sondern als Hilfsmittel für das Denken. Wie der Geldmünze ihr genauer Wert ein für allemal eingeprägt ist, damit man mit ihr ganz selbstverständlich, d.h. ohne über die Münze selbst reflektieren zu müssen, handeln kann, soll die Wortmünze dank ihrer festumrissenen Bedeutung zum Mittel kognitiven Handelns werden, ohne daß man ihre semantischen Komponenten jedesmal im Detail bedenken muß. Den elementaren mentalen Grundeinheiten sind also ebenso elementare Characteres in zeichenrelationaler Eineindeutigkeit zugeordnet. Über die mentalen Einheiten sind automatisch sämtliche Gegenstände und Sachverhalte der Realität erfaßt („omnes res totius mundi"235), wie sie sich in unserem Bewußtsein spiegeln, und zwar als „notiones distinctas", d.h. in einer Form, die es uns ermöglicht, ihre konstitutiven Eigenschaften („requisita") zu benennen.236 Werden nun die für die mentalen Einheiten stehenden Zeichen kombiniert, so zeigen die erreichten Kombinationen aufgrund der strengen Isomorphieverhältnisse die exakte Struktur komplexer Vorstellungen von bestimmten konkreten oder abstrakten Gegenständen und Sachverhalten der realen oder einer fiktiven Wirklichkeit an. Da die Zeichen präzise

234 Zur Geschichte der Münzmetapher vgl. H. Weinrich: Münze und Wort. Untersuchungen an einem Bildfeld. In: Romanica. Festschrift für Gerhard Rohlfs. Halle 1958, 508-521 sowie M. Dascal: Language and Money. A Simile and its Meaning in 17th Century Philosophy of Language. In: Studia Leibnitiana, 8, 1976, 187-218. 235 Elementa Calculi, 1679, 50. 236 Ebd.

Sprachuniversalismus

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definiert sind und die zwischen ihnen gültigen Verknüpfungsregeln mathematischen Gesetzen folgen, kann jede Aussage in eine mathematische Gleichung überführt werden und umgekehrt.237 Das Ideal beschreibt Leibniz so: 6 sei ein komplexes Zeichen für die komplexe Vorstellung , '. Dieses komplexe Zeichen ergibt sich als Produkt der Zeichenkonstituenten 2 und 3 als Multiplikand bzw. Multiplikator, und zwar genauso, wie sich die komplexe Vorstellung ,/ZO/HO' aus der Verknüpfung der einfacheren Vorstellungen , und .rationalis" ergibt.238 „Genauso" heißt: , und ,rationalisi sind ein präzise bestimmter Inhalt und nur dieser Inhalt, wie auch Zahlen ausschließlich einen bestimmten Wert haben. Umgekehrt gibt es den semantischen Inhalt ,an/wa/' und ,rationalisi nur je ein einziges Mal, d.h. wollte man den jeweiligen Inhalt durch ein Zeichen ausdrücken, müßte dies stets durch die Ausdrucksseite 2 (, ) bzw. 3 (salionalis') geschei hen. Außerdem ist das Produkt ,homo durch keine anderen Einheiten errechenbar als durch , und ,rationalis'', wie es auch außer den Konstituenten , und ,rationalisi nichts enthält. Ein Vorzug dieser Characteristica universalis wäre nun, daß sie wie Lulls Kobinatorik gleichzeitig als Ars inveniendi, als Technik zur Entdekkung neuer Wahrheiten fungieren könnte. Sind einmal die einfachen Vorstellungen festgelegt und ihnen einfache Zeichen zugewiesen, sind außerdem die Verknüpfungsregeln zwischen den Zeichen bestimmt worden, dann können bei den folgenden Kombinationsschritten die Zeichen verknüpft werden, ohne daß jedesmal die angezeigten Vorstellungen in ihrer ganzen Komplexität auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden müssen: Die Zeichenkombinationen werden sozusagen automatisch zu Wahrheiten führen, da ja die Voraussetzungen stimmen. Weil die Vorstellungen „quam maxime naturales", d.h. objektive Abbilder der Wirklichkeit sind, kann man von den sie repräsentierenden Zeichenkombinationen unmittelbar auf die Wirklichkeit schließen. Anstatt über die Dinge der Wirklichkeit nachzudenken, d.h. anstatt Vorstellungen im Bewußtsein zu verknüpfen, müßte man lediglich die Zeichen nach mathematischen Regeln kombinieren, um am Ende des Kombinationsvorganges die so gewonnenen Zeichenkombinationen gewissermaßen in Vorstellungen von Dingen rückzuübersetzen - man hätte es 237 Calculi universalis Elementa, 1679, 61. - Vgl. diese Stelle aus »Specimen Calculi universalis [Zusatz]« (o.J., 241): In „Omnis tricenarius est binarius" ist „binarius" ein Attribut zu „tricenarius", ebenso wie in der Aussage „DEUS est Justus" Justus" ein Attribut zu „deus" ist; die Zahl 2 verhält sich zur Zahl 30 genauso, wie sich die Eigenschaft gerecht zu Gott verhält. 238 Elementa Calculi, 50 u. 53f. sowie Elementa Characteristicae universalis, 42f. u. Calculi universalis Elementa, 57ff.

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dann ganz selbstverständlich mit Wahrheiten zu tun. Zu ernsten Streitigkeiten über die Wahrheit einer Aussage könnte es laut Leibniz im Grunde nicht mehr kommen, und es wäre auch nicht möglich, daß Auseinandersetzungen von den Affekten anstatt von der Vernunft entschieden würden: Da seine Characteristica universalis alle Zusammenhänge auf Zahlen reduzieren würde, müßte man im Streitfalle nur nachrechnen, um die Diskussion zu beenden.239 Auf das zitierte Beispiel homo - animal rationale (6 = 2 3) bezogen bedeutet dies: Steht zur Diskussion, ob animal rationale die Vorstellung („notio") homo enthalte („contineat"), so muß lediglich überprüft werden, ob die äquivalenten Zahlen einander enthalten, was bei 2 3 und 6 der Fall ist.240 Anders verhielte sich dies bei der Frage nach dem Enthaltensein der Vorstellung homo in der Vorstellung simia (,Affe'), wobei homo die Zahl 6 und simia die Zahl 10 entsprechen soll: Da sich weder 10 durch 6 noch 6 durch 10 ohne Rest dividieren lassen, sind auch die Vorstellungen nicht ineinander enthalten. Ein anderes Beispiel: „Omnis sapiens est pius".241 Setzt man nun für den Weisen die Zahl +70-33 - die Notation ist ungewöhnlich -, für fromm die Zahl +10-3, dann erweist sich eine solche universal bejahende Aussage („Propositio universalis affirmativa") als wahr, wenn jede beliebige Zahl des Subjekts (sapiens) - also +70 oder -33 - durch jede beliebige Zahl des (logischen) Prädikats (fromm) mit gleichem Vorzeichen - also +10 oder -3 - ohne Rest dividierbar ist. Dies ist im Beispiel der Fall: +70 läßt sich durch +10 dividieren, -33 durch -3. Wäre die Division ohne Rest nicht möglich, dann wäre die Aussage falsch. Das Verfahren läßt sich nun fortsetzen, hier lediglich eine weitere Version: „quidam pius non est sapiens". Diese Aussage, daß ein bestimmter Frommer (+70-3) nicht weise (+70-33) ist, ist partikular verneinend („Propositio particularis negativa"). Um sie auf ihre Wahrheit zu überprüfen, muß erneut nach der Teilbarkeit gefragt werden, diesmal allerdings unter umgekehrten Vorzei239 [Characteristica universalis], 188f. - Die Konzeption der »Characteristica universalis« enthält allerdings ein gewichtiges Problem. Das System ist nur dann eine Hilfe, wenn die Kombinationen der Zeichen tatsächlich automatisch wahre Vorstellungen und damit letztlich wahre Aussagen über die Wirklichkeit ergeben. Um dies sicherzustellen, müßte im vorhinein bekannt sein, zu welchen Kombinationen es kommen könnte. Mit anderen Worten: Die möglichen Wahrheiten der Dinge, die durch die Kombination der Zeichen erst erschlossen werden sollen, müßten also bereits bekannt sein. Zu diesem inhärenten Widerspruch vgl. z.B. Amdt 1971, 112f. und Heinekamp 1972. 240 Elementa Calculi, 54. 241 Regulae ex quibus de bonitate consequentiarum formisque et modis syllogismorum (categoricorum) judicari potest, per numeros, 1679, 78f.

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chen: Die Aussage ist genau dann wahr, wenn sich weder +10 durch +70, noch -3 durch -33 dividieren lassen, was der Fall ist. Dies ist das Ideal der mathematischen Eineindeutigkeit, angewendet auf sprachliche Zusammenhänge. Trotz all dieser Rechenexempel gibt Leibniz keine ausführlichen Beispiele für eine Universalsprache, sei sie aposteriorischer, sei sie apriorischer Natur. An verschiedenen Stellen seines Werks nennt er zwar einige einfache Vorstellungen, läßt uns über ihren Status jedoch im unklaren; weder ist einsichtig, wie er zu ihnen gelangt ist, noch schließt er weiterführende Kombinationen an. Vieles findet sich nur in Andeutungen, wie der Hinweis im 4. Buch der »Nouveaux Essais«, daß man einen „Caractere Universel" für die gesamte Bevölkerung dadurch schaffen könne, daß man anstelle der Wörter kleine Figuren („petites figures") verwendet.242 Diese Figuren müßten die sichtbaren Dinge mittels ihrer Umrisse und die Unsichtbaren mittels der in ihrem Umfeld anzutreffenden Sichtbaren anzeigen, und einige Zeichen zum Ausdruck von Flexion und Partikeln würden das Ganze vollenden. Über Ansätze geht auch Leibniz' 1678 niedergeschriebener Vorschlag der Gestaltung einer Kunstsprache nicht hinaus: Den Zahlen l bis 9 werden die Konsonanten b bis n zugeordnet: b. 1.

c. 2.

d. 3.

f. 4.

g. 5.

h. 6.

1. 7.

m. 8.

n. 9.;

die Vokale stehen für die Werte l, 10, 100, 1000 und 10000. Die Zahl 81374 läßt sich danach auf zweierlei Weise ausdrücken: als „mubodilefa" und als „bodifalemu".243 Der Versuch, die Ausgangselemente in den Kombinationen so frei wie möglich zu halten, ist typisch für Leibniz. Auch das Produkt homo läßt sich durch Kombination von animal und rationalis wie durch die umgekehrte Kombination von rationalis und animal erreichen. Wie Comenius und andere begründet Leibniz sein universalistisches Arbeiten zunächst mit der Chance zur Vermeidung von Streit und zur Völkerverständigung bzw. zur Mission („Haec lingua excellentissima pro missionariis"244). Insgesamt aber werden seine Bemühungen - über deren Realisierbarkeit er sich letzlich wohl keine Illusionen gemacht hat245 - nicht 242 IV, VI, 2. 243 Lingua generalis, 278. - Ein viel aufwendigeres, aber weniger elegantes Verfahren zur Aussprache von Zahlen findet sich bei Comenius. In: Panglottia, Sp. 339. 244 Lingua generalis, 1678, 279. 245 S. z.B. Lingua generalis, 107, positiv wertend dagegen »[Preface a la science generale]«, um 1677, 156.

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von der religiösen Überzeugung des Irenikers, sondern von den Interessen des Logikers getragen, dem es um die dem Gegenstand inhärenten Möglichkeiten geht. Allenfalls läßt sich eine Art kognitionspädagogisches Motiv erkennen, wenn Leibniz betont, eine Universalsprache könne die Vorstellungskraft der Menschen bereichern („enrichir imagination") sowie taube und bloß verbale Gedanken verhindern („[...] et pour donner des pensees moins sourdes et moins verbales"), könne allgemein die Leistungsfähigkeit des Intellekts steigern und unsere Vorstellungen realer machen („rendre nos conceptions plus reelles"246). Wie bereits in ähnlichem Zusammenhang bei Descartes könnte man von einer Logifizierungsfunktion sprechen, die Leibniz hier der Sprache zuerkennt; sie wäre in jeder Hinsicht das Gegenstück zur , Offenbarungsfunktion' von Sprache, welche die Mystik vorsieht.

246 Nouveaux Essais, IV, VI, 2f. - Die Stelle über die Steigerung der intellektuellen Leistung ("mentis potentiam") findet sich in [Characteristica universalis], 187.

II. Historische, pragmatische und soziale Aspekte

1. Sprachursprung, Sprachverwandtschaft und Geschichte des Deutschen In den Texten des 17. und frühen 18. Jahrhunderts ist vom Sprachursprung in zweifacher Hinsicht die Rede: vom Ursprung der Sprache schlechthin und vom Ursprung einzelner Sprachen, insbesondere des Deutschen. Im ersten Fall geht es um die Frage, wie der Mensch zur Sprache gekommen ist bzw. wie Sprache in der Gestaltung durch den Menschen entstanden ist. Die zeitgenössischen Antworten auf diese Frage lassen sich nach dem Grad der in ihnen zum Ausdruck kommenden Religiosität bzw. Säkularität unterscheiden, das Spektrum reicht von der unmittelbaren göttlichen Eingebung von Sprache an Adam bis zu ihrer eigenständigen Schaffung durch den Menschen.1 Die erste These findet sich nur selten, immerhin aber noch im 18. Jahrhundert in Johann Peter Süßmilchs Schrift »Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe« (1766). Weit verbreitet ist dagegen die Auffassung, Gott habe den Menschen die Sprachfähigkeii verliehen, eine Fähigkeit, von der erstmals Adam im Paradies Gebrauch machte, als er zunächst die Tiere mit Namen belegte. Diese Annahme von Adam als erstem Namengeber erlaubt wiederum eine metaphysische und eine eher säkulare Interpretation: Die Bezeichnungsakte durch Adam können aufgrund eines intuitiven bis mystischen Wissens um das innere Wesen der bezeichneten Gegenstände vollzogen worden sein - die insbesondere im 17. Jahrhundert verbreitete Ansicht -, oder aber Adam hat die Gegenstände völlig willkürlich bezeichnet, aus einem Bewußtseinsstand der tabula rasa heraus, wie etwa John Locke die adamischen Bezeichnungsakte bewertet. Insgesamt läßt sich eine deutliche Tendenz zur Säkularisierung der Sprachursprungsdebatte zur Aufklärungszeit hin erkennen. Metaphysisch ausgerichtete Argumentationen treten zugunsten entweder sensualistischer Auffassungen zurück, wie sie besonders prägnant von Etienne Bonnot de Condillac in seinem »Essai sur Forigine des connaissances humaines« von l

U. Ricken unterscheidet im Rückgriff auf Megill für die frühe Neuzeit drei Haupthypothesen zum Sprachursprung, eine Dreiteilung, die sich jedoch auf die hier gegebene Zweiteilung abbilden läßt. In: Probleme des Zeichens und der Kommunikation in der Wissenschafts- und Ideologiegeschichte der Aufklärung. Berlin 1985.

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1746 vertreten werden. Oder zugunsten von Anschauungen wie derjenigen Johann Gottfried Herders, der mit seiner Schrift »Über den Ursprung der Sprache« 1771 den Preis der Berliner Akademie gewinnt, indem er einen rein intuitiven Charakter der Sprachentwicklung negiert, das reflexive Moment als das eigentlich menschliche betont, zugleich aber auch die enge Verbindung zwischen Sprechen und Denken hervorhebt.2 Wird im 17. und frühen 18. Jahrhundert die Frage des Ursprungs nicht von Sprache schlechthin, sondern historischer Einzelsprachen diskutiert, geschieht dies meist mit Bezug auf die babylonische Sprachverwirrung. Hier finden sich, trotz des theologischen Rahmens der Argumentation, konkrete etymologische und andere sprachhistorische Aussagen. Zeitgenössische Darstellungen der Geschichte des Deutschen setzen meist mit den Ereignissen in Babel ein. Solche Darstellungen bestehen aus einer genetisch-strukturellen Abgrenzung des Deutschen von verwandten Sprachen, verbunden mit seiner im Sprachpatriotismus fußenden Aufwertung. Im folgenden wird zunächst auf die Figur Adams und auf die Schilderungen der sprachhistorischen Situation vor der babylonischen Sprachverwirrung eingegangen. Dies kann in wenigen Worten geschehen, da das Thema bereits in anderem Zusammenhang angesprochen wurde und zudem vergleichsweise ausführlich Gegenstand der Forschung war und ist.3 Anschließend sollen exemplarisch Äußerungen zur Geschichte des Deutschen

Zu Condillac s. z.B.: U. Ricken: Condillac. Sensualistische Sprachursprungshypothese, geschichtlichers Menschen- und Gesellschaftsbild der Aufklärung. In: Gessinger/ von Rahden 1988, I, 287-311. - Zu Herder s. z.B.: U. Gaier: Herders Sprachtheorie und Erkenntniskritik. Stuttgart 1988. Vgl. in der vorliegenden Untersuchung die Kapitel „Sprachmystik bei Jakob Böhme" und „Mystizistische Tendenzen und metaphysische Orientierung". - An wissenschaftlicher Literatur zur Frage des Sprachursprungs seien hier lediglich vier Arbeiten genannt, von denen insbesondere die erste reichhaltigst Quellenhinweise bietet: A. Borst: Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker. 4 Bde. Stuttgart 1957-1963; F. R. Borchardt: German antiquity in renaissance myth. Baltimore u. London 1971; S. Brough: The Goths and the Concept of Gothic in Germany from 1500 to 1750. Culture, Language and Architecture. Frankfurt, Bern u. New York 1985; J. Gessinger u. W. v. Rahden (Hrsg.): Theorien vom Ursprung der Sprache. 2. Bde. Berlin u. New York 1989. Vgl. darin besonders die Aufsätze von H. Haferland: Mystische Theorie der Sprache bei Jacob Böhme; T. Willard: Rosicrucian Sign Lore and the Origin of Language; C. Hubig: Die Sprache als Menschenwerk. Zu den Sprachentstehungstheorien des Humanismus/Neuhumanismus und ihrer dialektischen Kritik; J. Polk: From Locke to Hume: The Radicalisation of the Sensualistic Premises in the Empirical Interpretation of the Origins of Speech; K. D. Dutz: „Lingua Adamica nobis certe ignota est." Die Sprachursprungsdebatte und Gottfried Wilhelm Leibniz.

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betrachtet werden. Auch auf die Praxis des Etymologisierens und auf den Sprachwandel-Begriff wird ein Blick zu werfen sein. a) Sprachursprung und die Figur Adams Soll die Sprachursprungsdebatte der Zeit im Überblick dargestellt werden, kann dies in einer Untersuchung wie der vorliegenden nur durch das Aufzeigen von Tendenzen geschehen; zu zahlreich sind die Spezifika in Detailfragen. Gerade hier muß auf die bereits vorliegende Forschungsliteratur verwiesen werden. Für nahezu sämtliche Aspekte dieser Debatte gibt es Traditionen, die zum Teil weit über das 17. Jahrhundert zurückreichen. Diese Traditionslinien seien hier nicht systematisch verfolgt, nur gelegentlich sollen frühere Autoren Erwähnung finden. Unmittelbaren Einfluß insbesondere auf die barocke Diskussion von Sprachursprung und Sprachverwandtschaft in Deutschland üben einige Werke des 16. Jahrhunderts aus, vor allem Bearus Rhenanus' »Rerum Germanicarum libri tres« (1531), Theodor Biblianders »De ratione communi omnium linguarum & literarum« (1548), Konrad Gesners »Mithridates« (1555) sowie Joseph Justus Scaligers »Diatriba de Europaeorum linguis« (verfaßt 1599). Hinzu kommen einige Arbeiten niederländischer Autoren, die u.a. von Schottelius intensiv rezipiert wurden und auf diesem Wege um so stärkere Verbreitung im deutschsprachigen Raum fanden: Johannes Goropius Becanus' »Origines Antwerpianae« (1569) und »Notationes de origine et antiquitate gentis et linguae Cimbricae seu Germanicae« (1580); Hugo Grotius' »De antiquitate Reipublicae Batavicae« (1610) sowie Adrianus Rodornius Scrieckius' »Adversariorvm libri IIII« (1620).4 Bereits 1613 erschien mit Claude Durets »Thresor de l'histoire des langues de cest univers« eine zeitgenössische Zusammenstellung u.a. der gängigen Auffassungen zum Sprachursprung.

Zu den Einflüssen niederländischer Autoren vgl. Kiedron 1991; zur frühneuzeitlichen Sicht der Sprachenverwandtschaft vgl. G. Bonfante: Ideas on the kinship of the European languages from 1200 to 1800. In: Cahiers d'histoire mondiale, 1, 1953, 679699; G. J. Metcalf: The Indo-European Hypothesis in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. In: D. Hymes (Hrsg.): Studies in the history of linguistics. Bloomington u. London 1974, 233-257; P. Schaeffer: Baroque philology: the position of German in the European family of languages. In: G. Hoffineister (Hrsg.): German baroque literature. The European perspective. New York 1983; M. Rössing-Hager: Ansätze zu einer deutschen Sprachgeschichtsschreibung vom Humanismus bis ins 18. Jahrhundert. In: Besch/Reichmann/Sonderegger 1984, Artikel 144. - Vgl. auch Borchardt 1971 u. Brough 1985.

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Der dominierende Zug der Sprachursprungsdebatte im 17. und zumindest noch im frühen 18. Jahrhundert ist, wie eingangs angedeutet, ein religiöser. Verbreitet ist die Ansicht, Gott habe dem Menschen die Sprachfahigkeit gegeben, nicht dagegen die Sprache, und Äußerungen der Art, daß die Sprache „dem Menschen vor dem Fall [...] eingepflantzet"5 worden sei, sind in eben diesem Sinne zu verstehen. Als Antwort auf die Frage, warum der Mensch überhaupt die Sprache erhalten habe, wird als säkularer Grund die Möglichkeit zur Kommunikation mit den Mitmenschen genannt, als religiöser Grund das Lob Gottes mittels der Sprache, ein Grund, der durch die Aufwertung der Muttersprachen im Protestantismus eine konfessionelle Note erhält und insbesondere seit Luther immer wieder begegnet.6 Warum, fragt Ratke, hat Gott dem Menschen das „bedeutend wort" offenbart? Weil er „mit bedeütlicher Sprach gerühmet sein will".7 Die Antwort seiner Anhänger Helwig und Jungius auf dieselbe Frage ist etwas ausführlicher: Mann bedencke nur / zu was Ende GOtt den Menschen die Sprach gegeben hat / nemlich / damit einer den ändern von Gottes Willen und Wercken vnterrichten / GOttes geschöpff erkennen und betrachten leren / vnd in nützlichen Künsten vnterweisen könne.8

Zwei zentrale Sprachfunktionen werden genannt, die Kommunikationsfunktion („den ändern [...] vnterrichten" und „vnterweisen") und die Darstellungsfunktion (die „geschöpff erkennen und betrachten"). Besonders die erstgenannte entspricht dem pädagogischen Anliegen der Ratichianer, während die zweite ihr untergeordnet ist. Beide jedoch sind metaphysisch eingebunden: Es sind Gottes Willen und Werke, von denen der andere unterrichtet werden soll, und Gegenstand des Erkennens sind die Geschöpfe Gottes.9 Weitere Nennungen: Die Sprache mag die Völker regieren, die 5 6

7 8 9

Andreas Rivinus: Mancherley furnehmer Leute JUDICIA Vrtheil / vnd Meynungen Vber Die erste Sprachen=Thur, 1635, 11. „Wie wol das Evangelien alleyn durch den heyligen geist ist komen und teglich kompt, so ists doch durch Mittel der sprachen komen und hat auch dadurch zugenomen, mus auch da durch behalten werden. [...]. Niemant hat gewußt, warumb Gott die sprachen erfur lies komen, bis das man nu allererst sihet, daß es umb des Evangelic willen geschehen ist, wuchs er hernach hat woellen offinbam." Aus: An die Ratherren aller Städte deutsches Lands, daß sie christliche Schulen aufrichten und erhalten sollen (1524). In: Weimarer Ausgabe, Bd. 15, 9-53. Die WortbedeütungsLehr der Christlichen Schule, 276. Kurtzer Bericht Von der Didactica oder LehrKunst Wolfgangi Ratichij, 1614, 71 f. Vgl. die Formulierung bei Overheide, Schreib=Kunst, 3: „GOTT der Herr hat den Menschen vor allen anderen Creaturen redend erschaffen / und solches ist eine sehr hohe und Gottliche Gnade und Wolthat / dann der Mensch kan dadurch nicht alleine seinen von Gott verliehenen Verstand und naturliches Erkantniß / gnugsam offenbahren / sondern auch mit seiner Rede seinen Schopffer allewege preisen und seinem

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Kriegsheere beherrschen, den Hausstand erhalten und manches Weltliche mehr leisten, vor allem aber bringt sie Gott „das schuldige Lobopffer unsrer Lippen dar" und ist das Werkzeug, durch das „das Wort Gottes in die gantze Welt ist ausgebreitet worden".10 Als Christen haben wir „die schuldige Pflicht", Gott zu loben, und dazu bedarf es einer angemessenen Sprache. Den Schulen kommt dabei eine entscheidende Aufgabe zu, denn das Analphabetentum hindert „an dem Erkendniß GOttes / vnd seines seligmachenden Worts".11 Die „Schuhl=Regenten" müssen sich die Frage gefallen lassen, warum man nicht ebensogut auf Deutsch wie auf Lateinisch lernen könne, „wie man GOtt recht erkennen und ehren solle"12 etc. Natürlich fehlt auch hier nicht der Verweis auf die besondere Stellung des Deutschen: Neben dem Hebräischen, Griechischen und Lateinischen habe sich Gott das Deutsche als Medium der Offenbarung seines ,,Wesen[s] und Willenjs]" gewählt13 etc. Zurück zu Adam: Durch ihn wurde die Sprachfähigkeit erstmals angewandt, indem er den Tieren Namen gab (Genesis 2, 19f). Für die meisten Autoren war dieser Bezeichnungsvorgang nicht arbiträr, da die gewählten Namen nach verbreiteter Ansicht ,dem Wesen der Tiere' entsprachen, d.h. Bezeichnung und bezeichneter Gegenstand in einem nicht näher bestimmten, von der Mystik jedenfalls mit dem Natursprachgedanken erklärten Isomorphieverhältnis standen. Adam konnte dies, weil er, noch vor dem Sündenfall stehend, um Substanz und Qualitäten der Dinge intuitiv wußte; schon Luther bezeichnet sein geistiges Vermögen als „märe cognitionis et sapientiae"14. Der Engländer Robert South formuliert den Sachverhalt prägnant in einer Predigt des Jahres 1662, wenn er Adam als Philosophen bezeichnet, eine Tatsache, which sufficiently appeared by his writing the nature of things upon their names; he could view essences in themselves, and read forms without the comment of their re-

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Nechsten mit guten Raht und Trost nutzlich dienen [...]."- Das Reden mit Gott und den Menschen wird noch im Parnassus Boicus von 1722 (S. 7) als Grund genannt: Die Sprache ist „eine von GOtt dem Menschen verlyhene Gnad / mitgetheilet in Ansehung deß Comercij oder Gemeinschaft / so er [...] mit seinem Neben= Menschen vnd wohl auch mit GOtt vnd seinen H. Englen solte vnd wurde pflegen müssen [...]." Harsdörffer: Deliciae, III, 31. Johann Kromayer: Bericht vom newen Methode, 1619, A3r. Martin Zeiller: Epistolische SchatzKammer, 1700, 315. Hutter: Außschreiben , A3V. - In diesem Sinne auch die Stelle B2V, wonach Gott an Pfingsten nicht eine einzige, sondern alle Sprachen „Nobilitirt" hat. „Quantum märe cognitionis et sapientiae in hoc uno homine fuit!". In: Weimarer Ausgabe, Bd. 42, 90.

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Historische, pragmatische und soziale Aspekte spective properties. [...] An Aristotle was but the rubbish of an Adam, and Athens but the rudiments of paradise.15

John Locke dagegen muß aufgrund seiner Annahme, daß dem Menschen keine irgendwie gearteten mentalen Inhalte oder Strukturen mitgegeben sind („no innate ideas"), von der völlig arbiträren, d.h. von keinem vorgegebenen Wissen geleiteten Bezeichnung durch Adam ausgehen; in anderem Zusammenhang wurde bereits darauf hingewiesen.16 Grundsätzliche Zweifel an der Benennung durch Adam finden sich in der zeitgenössischen Literatur jedoch selten. Als eine der wenigen Ausnahmen seien Jacob Friedrich Reimmanns Ausführungen in seiner »Geschichte der Gelehrsamkeit und derer Gelehrten vor der Sintfluth« erwähnt. Zu Recht stellt Reimmann fest, daß die Heilige Schrift keine Aussage enthält, aus der eine mit dem Wesen der Tiere kongruente Benennung ersichtlich wäre.17 Am Beispiel wird der Nachweis versucht, daß Adam die Tiere entweder nicht „nach ihrer wesentlichen Verfassung" oder aber überhaupt nicht bezeichnet habe. Hinzu kommt das Problem, daß die Bibel in keiner Weise den Schluß von der Tierbenennung auf die Bezeichnung aller Dinge und Sachverhalte legitimiere, ein in den zeitgenössischen Texten allerdings üblicher Schluß. Um die Behauptung von der „onomathesia Adamitica" aufrechtzuerhalten, bieten ihre Vertreter die Erklärung an, Adam habe von seinem Lehrmeister, dem Engel Raziel, ein Buch erhalten, in dem sämtliche Geheimnisse verzeichnet gewesen seien, eine Erklärung freilich, die Reimmann verwirft. Mit gesundem Menschenverstand versucht er, den traditionellen Interpretationen zu begegnen: Wie sollte ein Lebewesen, das doch nach allen anderen Kreaturen geschaffen wurde, über diese Kreaturen Bescheid wissen, noch dazu, da ihm „die Augen mit einem tieffen Schlaff verbunden worden", während aus seiner Rippe die Gefährtin geschaffen wurde? Je stärker Autoren aufklärerischem Gedankengut verpflichtet sind, desto deutlicher wird ihre Skepsis in der Sprachursprungsfrage. Charakteristisch ist der Kompromiß, den Samuel Pufendorff zwischen der Auffassung von der wesenhaften Bezeichnung aller Dinge durch Adam und der Arbitraritätsthese gefunden hat: Adam habe lediglich „denen Thieren und einigen ändern Dingen [...]" Namen gegeben, „die ihr Wesen und ihre Eigenschaften" aus15 16 17

Sermons Preached on Several Occasions. Bd. 1. Oxford 1823, 37f. Zit. nach H. Aarsleff: Leibniz on Locke on language. In: American Philosophical Quarterly, 1, 1964, 165-188; 180. Vgl. Lockes »Essay«, III, VI, 51. Historia literaria antediliviana, 53ff.

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drücken; alles andere sei „aus freyer Beliebung derer Menschen" bezeichnet worden.18 Für diejenigen aber, die nach wie vor davon ausgehen, daß Adam sämtliche Dinge bezeichnet und damit eine vollständige Sprache geschaffen hat, stellt sich die Frage nach der Gestalt dieser Sprache. Das Konzept der Natursprache, das sich als Antwort anbietet, wird von der Mystik und von mystizistischen Strömungen im Detail ausgearbeitet. Daneben ist von einer Art Proto-Hebräisch die Rede, das zumindest partiell natursprachlichen Charakter besitze, oder aber vom Hebräischen selbst. Mit dieser sancta et primogenia lingua hat man es erstmals mit einer konkreten historischen Sprache zu tun, deren Phonie und Graphic in dem Versuch, Spuren wesenhafter Bezeichnungsqualitäten nachzuweisen - wenn schon nicht an der genealogischen Vorstufe, so doch wenigstens an der in Sprachdenkmälern vorliegenden Sprache -, nun Gegenstand sprachhistorischer bis kabbalistischer Spekulation wird. Auf einen Topos verkürzt, liest sich die Begründung für die Annahme des Hebräischen als „aller anderer [Sprachen] Mutter oder vielmehr Groß= und Ertz=mutter"19 so: Ausser allem Zweiffei ist / daß im Anfang und nechst nach Erschaffung der Welt / die Menschen ingemein / nur eine Sprache / nemlich die uralte Hebräische geredet: Solches beglaubet die hochheilige Schrift / welche alle die ersten Menschen Hebräischen benamet.20

Von dieser Annahme gibt es zahlreiche Abweichungen, die selbst wiederum in den zeitgenössischen Texten diskutiert werden. So findet Kaspar Stieler in seiner vorwiegend sprachpraktisch ausgerichteten »SekretariatKunst« Raum, die Auffassung von Goropius Becanus aus den »Origines Antwerpianae« vorzustellen, wonach das Holländische die älteste Sprache sei.21 Andere denken an das Syrische, das Skythische oder das Chinesische, aufgrund seiner ideographischen Qualitäten; der Engländer John Webb widmet ihm 1669 sogar einen »Historical essay endeavouring the probability that the language of China is the primitive language«. Selbst das Deutsche wird berücksichtigt, wobei der sog. Oberrheinische Revolutionär am weitesten geht, wenn er Adam zum Deutschen erklärt: Aber Japhet, der obreste, kunstrichest, wie obgemelt, zoch vff den Rhin vnd buwet Ougst, jetzt Basel, V hundert jor for dem turn Babel. Daruff Tusch in zweivndsibetzig sprachen wart zerteilt, wan iecklicher meister mit sinem folck macht sunder sproch. 18 19 20 21

Vom Narur= und VolckerRechte, 1712 (lat. Ausg. 1672), 748. Habichthorst: Bedenkschrift, 3. Hille: Palmbaum, 79. II, 161.

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Historische, pragmatische und soziale Aspekte Doms kan alman warlich verston, das Adam ist ein tuscher man gewesen. Dorvmb heissen wier Tuschen in ollen sprechen Almans, wan for der Zerstörung was Tusch alman sproch, als dan die bibel clarlich dardütt.22

Wiederholt begegnet in den Texten der Zeit die Geschichte von einem Herrscher, der Säuglinge ohne jegliche Spracherziehung heranwachsen läßt, um festzustellen, ob sie von sich aus eine bestimmte Sprache verwenden würden. Dieser recht drastische Versuch zur Überprüfung der NativismusThese wird in unterschiedlichen Varianten geschildert: Die Kinder werden von Stummen erzogen, werden „einem Hirten aufzuerziehen gegeben", werden in der Wüste ausgesetzt, werden „in denen Wäldern abgesondert" etc.23 Auch die Herrscher wechseln - ein ägyptischer König, ein Großmogul, eine polnische Königin - und ebenso die Ergebnisse: Mal haben die Kinder gar nichts gesprochen, mal haben sie die Silbe „beck" von sich gegeben, was man für das phrygische Wort für ,Brot' und daher das Phrygische für die erste Sprache hielt, wobei jedoch nach Ansicht anderer „beck" lediglich eine Imitation des Blökens der Schafe war, unter denen die Kinder der Versuchsanleitung entsprechend aufwuchsen. b) zur Geschichte des Deutschen Der zweite biblische Bezugspunkt, der im Zusammenhang der Sprachursprungs-Thematik von Bedeutung ist, sind die Ereignisse in Babylon. „BABEL, id est Confusio" schreibt Philipp Clüver24, und wie viele andere Autoren sieht er das Deutsche in dieser Verwirrung gründen; nur in dieser Hinsicht soll Babel hier interessieren. Auch zu diesem Aspekt seien lediglich einige charakteristische Elemente der zeitgenössischen Debatte herausgegriffen. Der an der ganzen Fülle des historischen Belegmaterials Interessierte sei auf die in ihrem Materialreichtum nach wie vor einzigartige Untersuchung A. Borsts (1957 - 1963) sowie auf einige in den Anmerkungen genannten Einzelstudien verwiesen. Zunächst gibt es vom Vorgang der Sprachverwirrung selbst unterschiedliche Vorstellungen. Die meisten Autoren teilen die Auffassung, daß Gott den Menschen „vil zu balden in dise ihre hochmütige Karrten [schawe-

22 23 24

Das Buch der hundert Kapitel und der vierzig Statuten des sogenannten Oberrheinischen Revolutionärs. Edition u. textl. Bearb. v. A. Franke. Histor. Analyse v. G. Zschäbitz. Berlin 1967, 221. Vgl. etwa: Parnassus Boicus, 8; Stieler: SekretariatKunst, II, 160f. Germaniae antiquae libri tres, 1616,43.

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te]"25 und sie mit der Aufhebung ihrer bis dahin einheitlichen Sprache bestrafte. Andere dagegen gehen davon aus, daß nicht eine Verwirrung der Sprachen, sondern eine Verwirrung der Einigkeit unter den Beteiligten zur Aufgabe des Vorhabens rührte: Der Blitz habe mehrfach in das Bauwerk eingeschlagen, die „Kinder Noa [seien] verdrossen worde"26 und hätten sich in alle Himmelsrichtungen ausgebreitet, „daß also die Verwirrung der Sprache nicht an dem Ort des Thurns / sondern in ändern Landen geschehen / wohin sie sich vertheilet". Unter einigen Mitgliedern der Fruchtbringenden Gesellschaft kommt es zu einer Auseinandersetzung darüber, ob die Vorfahren der Deutschen bzw. ihre Vorfahren überhaupt beim Turmbau anwesend waren. Harsdörffer jedenfalls stellt die Anwesenheit in Frage - Noah hätte seine Söhne sicherlich an der Beteiligung gehindert, wenn er zur Stelle gewesen wäre27 -, und Gueintz widerspricht ihm.28 Meist ist Gueintz allerdings derjenige, der vor allzu gewagten sprachhistorischen Spekulationen warnt. Es sei unsinnig, das Lateinische aus dem Deutschen herleiten zu wollen, denn man werde schwerlich beweisen können, „daß die Lateiner in Deutschland gereiset", um von dort die Wörter mitzunehmen.29 Für fast alle Autoren jedoch geht es um den Nachweis, daß die deutsche Sprache „ihre erste zier und jungferschaft vom Babelschen turne her noch furzuweisen weis"30. Damit würde sie automatisch als nicht-abgeleitete Sprache gelten, die der adamischen näher ist als andere Sprachen: Dann sie [d.h. die deutsche Sprache] ist der ersten / die uns GOtt durch Adam gegeben / erstgebohmes Kind / nemlich Chaldaisch / oder Celtisch / so der nechste Dialect vom Ebraischen / und durch gantz Teutschland gemein ist. Biß auf die Bayern und Oesterreicher / so der Sprach nach / so wohl im Reden / als Schreiben Syrer sind.31

Die Gleichsetzung von Deutsch und Keltisch ist das übliche Verfahren, den Ursprung des Deutschen zeitlich rückzuverlagern und es damit letztlich an das Hebräische anzuschließen. Allerdings variieren die Erklärungen, wie das Deutsche bzw. dessen Vorstufe von Babel nach Deutschland gelangt ist. Um die Art und Weise der zeitgenössischen Argumentation zu verdeutli25 26 27 28 29 30 31

Güntzel: Haubtschlussel, Vorrede. Becher: Methodvs Dedactica, 19. Ertzschrein, 373. - Die Frage der Anwesenheit der Deutschen bzw. ihrer Vorfahren beim Turmbau wird bereits in dem unten erwähnten Werk von Annius von 1478 angesprochen. Ebd., 365. Ebd., 263. Zesen: Rosen=mänd, 206. Johann Conrad Wack: Kurtze Anzeigung / Wie nemlich die uralte Teutsche Sprache Meistentheils Ihren Ursprung aus dem Celtisch= oder Chaldaeischen habe. 1713, 230.

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Historische, pragmatische und soziale Aspekte

chen, sei im folgenden eine solche Erklärung vorgetragen, zusammengestellt aus den am häufigsten begegnenden Motiven der Quellentexte.32 Folgt man der Rechnung Rudolph Sattlers, dann ist die deutsche Sprache im Jahre 1616 genau 3822 Jahre alt.33 Die Rechnung basiert unter anderem auf dem vermuteten Datum der babylonischen Sprachverwirrung. Um das Jahr 1780 nach Erschaffung der Welt und etwas über 100 Jahre nach der Sintflut wies Noah seinen Söhnen unterschiedliche Siedlungsgebiete zu, wobei der europäische Raum an Japhet fiel (- Scrieckius Rodornius verbindet im 2. Kapitel des 4. Buchs seiner »Adversariorvm libri IIII« den Namen „Europa" in einer gewagten Etymologie mit dem Wort „Ursprung", andere, etwa Guillaume Postel, verbinden „Europa" explizit mit „Japhet"34). Vor dem Aufbruch in die unterschiedlichen Regionen beschlossen die drei Söhne - Sem hatte Afrika, Cham Asien erhalten -, besagten Turm zu bauen, als „ewiges angedenken bey allen Nachkommen"35. Von den sich anschließenden Ereignissen zeuge noch heute das deutsche „babbeln" bzw. „Gebabbel", in welchem den Namen „Babel" nahezu unverändert präsent sei. Schließlich sei Ascenas, ein Enkel Japhets und damit einer der unmittelbaren Nachfahren Adams, nach Europa gezogen, um sich in der Gegend zwischen Köln und Trier oder, nach Ansicht mancher Autoren, direkt im „Fürstenthumb Anhalt" niederzulassen, welches einigen als „das alte Ascanier=Land / oder erste Haupt=Sitz dises vnseres Teutschen Stamm=Vatters Ascenez"36 galt. Damit gilt Ascenas als Stammvater der keltischen Völker, definiert als diejenigen Völker, „welche hernacher gewohnet in den Länderen / die wir jetzund Teutschland Frankreich / Spanien / Engelland / Schottland / Norwegen / Lapland / Schweden / Dennemark /

32

33

34 35 36

Vgl. etwa die folgenden Darstellungen: Schottelius: Ausführliche Arbeit, 33ff; Sattler: Orthographey, 3ff; Stieler: SekretariatKunst, II, 166ff.; Güntzel: Haubtschlüssel, Vorrede; Arnold: Kunst=Spiegel, 6ff; Wack: Anzeigung, 230ff.; Neumark: Palmbaum, 104ff.; Mutter: Außschreiben, C3ff.; Hille: Palmbaum, 79ff; Reimmann: Historia literaria antediliviana, passim; Zesen: Spraach=übung, 12, 18 u. 44; Overheide: SchreibKunst, 7ff; Habichthorst: Bedenckschrift, 4ff; Morhof: Unterricht, 23ff. etc. „So man nun die 3962. Jahr / welche nach etlicher meinung von crschaffung der Welt / biß auff Christi Geburt hingeflossen / zu den 1616. Jahren / welche seit Christi Geburt / biß auffdise zeit abgelauffen / schlecht / vnd diese beede Zahlen addiert / thut es 5578. Jahr / hievon die vorstehenden 1756. Jahr / welche biß zur zeit der Erbawung deß vorgesagten Thurns / verschienen seind / subtrahiert vnnd abgezogen / verbleibt 3822. Jahr. So alt soll nach dieser rechnung vnser Teutsche Sprach sein". In: Orthographey, 3. Zu letzterer Etymologie s. Borst 1957-1963, Bd. 3/1. Schottelius: Ausführliche Arbeit, 33. Parnassus Boicus, 17.

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Tracien / und Illirien heissen"37. Seine Sprache, ,im Grunde' das Deutsche, habe Ascenas natürlich mitgebracht. Diese knappe Darstellung der zeitgenössischen Herleitung des Deutschen aus den Ereignissen um Babel kann nur deshalb so übersichtlich sein, da sie einen Aspekt unberücksichtigt läßt, der den Sachverhalt schlagartig komplizieren würde: die seit dem späten 15. Jahrhundert versuchte Rückführung des Sprach- und Volksnamens „deutsch" auf eine germanische Gottheit bzw. auf eine biblische Gestalt.38 1498 erscheint ein Werk des Dominikaners Giovanni Nanni (lat. Annius; »Berosi sacerdotis chaldaici Antiquitatum libri quinque cum commentariis Joannis Annii Viterbensis«), die kommentierte Ausgabe der angeblichen babylonischen Urgeschichte eines Berossos aus dem dritten Jahrhundert v. Chr. Laut Berossos habe Noah einen Sohn mit Namen „Tuyscon" gehabt. Diesen Tuyscon identifiziert nun Annius mit dem sagenhaften, aus der Erde geborenen Gott „Tuisto", den Tacitus in der »Germania« als Stammvater der Germanen ausweist („[...] Tuistonem deum terra editum"39). Die Deutung setzt sich weitgehend durch und findet sich im 15. Jahrhundert inmmer wieder (- wie auch die Auffassung, daß dieser Tuyscon einen Sohn „Mannus" gehabt habe, nach dem sich die Alemannen benennen). Der Name Tuyscon bzw. Tuisto begegnet dann in den Varianten „Tuison", „Tuisco", „Duisko", „Tuitscho" etc., und man sieht, daß sich eine etymologische Verbindung zu „deutsch" ohne allzuviel Phantasie anbietet. Wie aber läßt sich diese Deutung der Herkunft von Volk und Sprachnamen mit der Gestalt des Ascenas vereinbaren? Von ihm ist in den Texten des frühen 16. Jahrhunderts die Rede, erstmals vielleicht bei Aventin40, der Ascenas als einen jüngeren Verwandten des Tuisco bezeichnet. 1538 wird diese Ansicht von Melanchthon dahingehend ,korrigiert', daß er die Ascanes etymologisch zu Tu - iscones werden läßt, was den heidnischen Gott letztlich zu einer Art Personifizierung des biblischen Ascenas macht41; im einzelnen werden solche Etymologien noch beschrieben werden. Andere Autoren wiederum werten Tuisco lediglich als anderen Namen für Ascenas, ohne überhaupt auf eine germanische Gottheit oder einen 37 38 39 40 41

Schottelius: Ausführliche Arbeit, 34. - Die identische Aufzählung, in dieser Reihenfolge, z.B. bei Arnold (Kunst=spiegel, 7), allerdings unter Hinzunahme von Litauen und Moskau. Originalität wird bei der Darstellung des Folgenden nicht angestrebt; vgl. daher Borst 1957-1963, 84, 975, 1056ff, 1070ff., 1225. 1,2. Dies jedenfalls behauptet Borst 1957-1963, 1058ff. So Borst 1957-63, 1070.

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zusätzlichen Sohn Noahs zurückzugreifen. Kompliziert wird der Sachverhalt außerdem durch Behauptungen der Art, daß Tuisco lediglich ein anderes Wort für lat. „deus" sei42 oder daß die „Askanier" zwar von Ascenas, die „Germanier" aber von To-Garma, einem Bruder des Ascenas, abstammen.43 Deutungen dieser Art scheinen in den zeitgenössischen Texten in geradezu unbegrenzter Zahl vorhanden zu sein, sollen aber hier nicht weiter interessieren. Von größerer Bedeutung sind die zeitgenössischen Auffassungen der Abstammungsverhältnisse zwischen den Einzelsprachen, jedenfalls soweit sie das Deutsche ins Zentrum stellen. Berühmt ist die Darstellung bei Schottelius44:

42 43 44

Z.B. bei Philipp Clüver: Germaniae Antiquae libri tres. Vgl. auch Schottelius: Ausführliche Arbeit, 36. Letztere Behauptung z.B. bei Zesen, in: Rosen=Mänd, 230. Ausführliche Arbeit, 154.

Sprachurspning, Sprachverwandtschaft und Geschichte des Deutschen

3(b|tfHimfjji/berliiih>«rbifd)t a«

r«» Dreierlei fällt auf: 1. Das Deutsche und das Keltische werden miteinander identifiziert, wodurch dem Deutschen automatisch ein hohes Alter sowie Ursprünglichkeit zugesprochen werden, beides Werte an sich; 2. Kriterium zur Bestimmung der Sprachen- bzw. Varietätengruppen sind ausschließlich strukturelle Faktoren („Geschlechtworter / Hüllwörter / Stammworter"); 3. den Maßstab zur Beurteilung sämtlicher Sprachen bzw. Varietäten bildet dieses Keltisch-Deutsche; was ihm nicht entspricht, gilt als das »eigentlich' deutsche Sprachwesen beschädigender Faktor („Verstumlung" und „unkentlich Machung" deutscher Wörter, „Einmengung" von Fremdwörtern). Dabei erweisen sich für Schottelius sowohl die germanischen Sprachen als auch

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die Varietäten des Deutschen auf einer Art Tiefenebene als ,deutsch' (die germanischen Sprachen sind und bleiben hinsichtlich „Grund und Wesen" deutsch, die genannten Varietäten sind „an sich" deutsch), hinsichtlich ihrer Oberflächenrealisierungen zeigen sie jedoch Abweichungen von dieser „an sich" deutschen Sprache, die germanischen Sprachen stärker als die Varietäten des Deutschen. Was genau die „an sich" deutsche Sprache ist an anderen Stellen schreibt Schottelius von der „lingua ipsa Germanica" -, bleibt unklar. Durch Identifizierung mit einer existierenden Sprache bzw. Varietät ist sie nicht zu bestimmen: ,Die' historische keltische Sprache kommt nicht in Betracht - sie ist lediglich die „alte" deutsche Sprache -, ebensowenig das Hoch- oder das Niederdeutsche, denn letztere sind mit keiner Varietät deckungsgleich (- bekanntlich weigerte sich gerade Schottelius vor einer allzu rückhaltlosen Anerkennung des Primats des Meißnischen). Schottelius betont dies ausdrücklich: Hoch- und Niederdeutsch sind keine Dialekte, „sonderen haben ihre Dialectos"45. Insgesamt läßt sich das Deutsche in seiner Sicht als Gesamtheit historischer wie gegenwartsbezogener Varietäten fassen, aber nur in dem Sinne, daß diese Varietäten Ausdruck eines überzeitlichen deutschen Sprachwesens sind, dessen strukturelle Kennzeichen (besondere phonetisch-phonologische Qualitäten und Wortbildungsmöglichkeiten, zahlreiche Stammwörter etc.) Momente beinhalten, die sich dem rein rational-deskriptiven Zugriff entziehen.46 Gruppenbildungen wie die von Schottelius vorgeschlagene sind in der zeitgenössischen Literatur gang und gäbe. Häufig werden zumindest fünf Sprachen unterschieden, die als „Hauptsprachen" bzw. „linguae cardinales" oder „matrices" direkt auf Babel zurückgeführt werden (- Joseph Justus Scaliger unterscheidet vier übergeordnete und sieben untergeordnete „matrices"47 , wieder andere differenzieren anders). Bei den fünf Sprachen handelt es sich in der Regel um Hebräisch, Griechisch, Lateinisch - auf die Tradition der Hochschätzung dieser Sprachen braucht hier nicht eingegangen zu werden, da Borst sie eingehend beschrieben hat48 -, Slavisch und Deutsch; gelegentlich wird das Arabische hinzugenommen. Die Einbeziehung des Slavischen zeigt, daß es sich zumindest teilweise um Sprachenfamilien han-

45 46

47 48

Ebd., 152. Vgl. das Kapitel „Die ontologisierend-patriotische Linie der Sprachreflexion und ihre Gegenströmungen". In: Diatriba de Europaeorum linguis. S. 1983f. gibt Borst eine Zusammenstellung von Textstellen, in denen die besondere Stellung der drei Sprachen betont wird.

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delt, und gelegentlich geht dies auch aus der jeweiligen Beschreibung hervor, etwa wenn der „Slavonica" die Einzelsprachen Polnisch, Wendisch, Bömisch, Russisch etc. zugeordnet werden.49 Die Rede vom Deutschen als einer unmittelbar von Babel abstammenden Sprache ist nur dann möglich, wenn man die Bedeutung des Wortes unbestimmt läßt: Zwar ist im Grunde eine Sprachenfamilie gemeint, doch wird durch die Wahl eines spezifischen Sprachnamens suggeriert, daß die strukturellen und sonstigen Qualitäten der Sprachenfamilie am deutlichsten in dieser einen Sprache realisiert sind. Dort, wo fünf Hauptsprachen angenommen werden, werden auch Statusunterschiede unter ihnen wahrgenommen. Vom Standpunkt des Deutschen aus gesehen, erscheint die Abgrenzung gegenüber dem Lateinischen und dem Griechischen am wichtigsten. Wenn es gelingt, diesen beiden Sprachen gegenüber eine wie auch immer geartete Überlegenheit der deutschen Sprache nachzuweisen, dann vermag dies auch das Selbstvertrauen gegenüber denjenigen Kulturen zu heben, die durch die Sprachen Latein und Griechisch repräsentiert werden. Hinzu kommt, daß der Nachweis der Überlegenheit dem Lateinischen gegenüber aus der Perspektive der Sprachpatrioten sozusagen automatisch die Überlegenheit gegenüber den lebenden romanischen Sprachen einschließt. Die zeitgenössischen Kommentare zu den antiken Sprachen pendeln dementsprechend zwischen Hochachtung und heftigen Angriffen. Drei große und mächtige Türme würde man sehen, näherte man sich der „Glossopolis" Babel, heißt es in der Einleitung zu Rivinus' »Sprachen=Thür«; der größte - „zweifeis frey noch ein Stuck von dem fundament des alten Gebews"50 - ist das Hebräische, gefolgt vom Turm des Griechischen und dem des Lateinischen. Wir, die Bewohner „der Occ/dentalischen Lateinischen Monarchie", sind natürlich vor allem an letzterem interessiert, denn um ihn herum „liegen die schönsten newgebawten Palläste der Spanischen / Italiänischen vnd Frantzosischen Rede". Anders dagegen Habichthorst, der nicht auf die klassische Form von Latein und Griechisch abhebt, sondern auf ihre Gegenwart: Das Lateinische werde nirgends mehr gesprochen und könne nur noch aus Büchern erlernt werden, und das Griechische sei in seinem derzeitigen Zustand derartig „verbastert und verdorben", daß es seinen alten Glanz völlig verloren habe.51 Wack schließlich will beweisen, daß das Deutsche „pur Orientalisch" und damit

49 50 51

Becher: Character, 64f. S. 12. - Das Zitat ist der von J. Habrecht verfaßten „Einleitunge" entnommen. Bedenkschrift, 3f.

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„weit adelicher ist / als die Griechen und Lateiner / samt allen ihren Kindeni"52. Der Beweis der vermeintlichen Überlegenheit des Deutschen wird anhand der Abstammungsverhältnisse geführt, die dazu geeignete Textsorte ist die Sprachenharmonie. In Georg Leopold Ponats »Einleitung zur Harmonie der Sprachen« von 1713 geht das Anliegen aus dem Inhaltsverzeichnis hervor: I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X.

Von der ältesten und ersten Sprache. Gleichheit der Hebräischen und Griechischen Sprache. Gleichheit der Chaldaischen / Syrischen / Arabischen und Aegypt. Sprache mit der Griechischen. Gleichheit der Persischen un AEthiopischen Sprache mit der Teutschen und Griechischen. Gleichheit der Griechischen und Teutschen Sprache. Gleichheit der Lateinischen und Teutschen Sprache. Gleichheit der Lateinische u. Griechischen Sprache. Gleichheit der Italiänischen Sprache mit der Teutschen u. Lateinischen. Gleichheit der Frantzosischen Sprache mit der Teutschen u. Lateinischen. Gleichheit der Englischen und Spanischen Sprache mit der Teutschen.

Ponat hat seine Nachweise so untereinander vernetzt, daß letzten Endes jede der genannten Sprachen mit jeder anderen „gleich" ist. Als Beispiel für die Verfahrensweise sei das sechste Kapitel gewählt. An den Anfang wird das Anführen von Autoritäten gestellt. So habe selbst Varro zugestanden, daß der lexikalische Ursprung des Lateinischen „von den Barbaren" komme. Ähnliches habe Dionysius Halicarnassus behauptet: Verschiedene Völker hätten einen Einfluß auf die Entwicklung des Lateinischen gehabt, unter anderem die Gallier, welche wiederum, so ergänzt Ponat, von den Kelten und Skythen abstammen. Wilhelm Postel habe in seinen »Origines Ertruriae« sogar die lateinische Schrift als die der Kelten identifiziert. Wiederholt beruft sich Ponat auf Morhof, dessen »Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie« von 1682 tatsächlich eine Summa der sprachhistorischen Erkenntnisse der Zeit darstellt; sie soll hier nur am Rande berücksichtigt werden, da sie zu den in der Forschung bereits gewürdigten Arbeiten zählt. Der Versicherung der Autoritäten folgt eine Liste derjenigen Wörter, welche die Urspriinglichkeit des Deutschen vor Augen führen sollen: ager Acker, ancora - Anker, cella - Keller, corona - Krone, corpus - Körper, discus - Tisch, facula - Fackel, vastus - wüst, fluvius ~ Fluß, frigere 52

Anzeigung, 7.

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frieren etc.53 Doch nicht nur hinsichtlich der Abstammung der Wörter, auch in der Kongruenz von Genus, Numerus und Kasus folge das Lateinische dem Deutschen, ferner in der Kongruenz von Relativpronomen und vorangehendem Substantiv oder Demonstrativpronomen. Wie im Lateinischen müsse auch im Deutschen darauf geachtet werden, daß bei der Verbindung von Satzteilen durch bestimmte Konjunktionen die flektierten Konstituenten dieser Satzteile in Kasus, Modus, Tempus etc. übereinstimmen. Ein jeder Bauer wisse, daß man nicht sagen könne: „Ich habe Hansen weder gesehen noch höre" oder „Hans und Greten ist heute dagewesen". Auf den folgenden Seiten führt Ponat einige syntaktische Regem des Lateinischen an und stellt die entsprechenden deutschen Regem daneben. Natürlich beweist er weder mit den grammatischen noch mit den lexikalischen Parallelen den Primat des Deutschen in der Genealogie der Sprachen, sondern konstatiert lediglich die Tatsache gewisser Gemeinsamkeiten. In solchen Sprachenharmonien verbinden sich daher in zeittypischer Weise Wissenschaft und Mythos: Mit zum Teil erstaunlicher Genauigkeit werden sprachhistorische Fakten genannt, um dann aus metaphysischen oder sprachpatriotischen Interessen heraus interpretiert zu werden. Insbesondere hinsichtlich lautgesetzlicher Zusammenhänge werden zum Teil korrekte Beobachtungen gemacht: Gehet man nun die Glieder des Menschlichen Leibes durch / so wird man die Gleichheit überall finden. Das Wort kephale, caput, Kop / Kopff / Haupt / hapt / Angl. head, ist / was die Stammbuchstaben betrifft / einerley. Denn c und h werden unter sich verwandelt / als cornu, Hörn / cardia, hart / cutis, Hut / calamus, Hahn / kyon, Hund. Oculus ist als ein diminutivum von Og / quasi Ogulus, Auge / und das Griechische äuge, splendor, kömmt überein. Das alte Wort Specere, sehen / kömmt von den alten Scythischen Spi, sehe / daher noch Arimaspi genannt werden / die mit einem Auge sehen / und die Wörter außspähen / verspähen / spok / die Lateinischen / Speculum, Species [,..].54

Nicht immer dominiert dabei die patriotische Sicht auf das Deutsche. Georg Cruciger z.B. setzt in seiner »Harmonia linguarum« von 1616 die vier Hauptsprachen Hebräisch, Griechisch, Latein und Deutsch in genealogische Beziehungen zueinander, wobei er zwar vom deutschen Wort ausgeht etwa, um an das oben zitierte Beispiel anzuknüpfen, von dt. Kopf-, dieses

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54

Vgl. hierzu auch Johann Heinrich Schills »Der Teutschen Sprach Ehren=Krantz« (210ff), wo über viele Seiten der .Nachweis' geführt wird, daß die Griechen, Römer, Franzosen, Spanier, Italiener und andere, die sich uns kulturell überlegen glauben, die Wörter des Deutschen doch nur in ihre Sprachen herübergeholt haben. Morhof: Unterricht, 80f.

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allerdings als jüngste Form betrachtet: Kopf< lat. caput < gr. kybe < hebr. gaph. In dieser Weise leitet er her55: dt. minder dt. hoffen dt. Bein dt. gern

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