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German Pages 175 [184] Year 1986
Sprachnormen in der Diskussion
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Sprachnormen in der Diskussion Beiträge vorgelegt von Sprachfreunden
1986 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig - pH 7, neutral)
ClP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Sprachnormen in der Diskussion / Beitr. vorgelegt von Sprachfreunden. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1986. ISBN 3-11-010710-4
© 1986 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin 30 Umschlaggestaltung: Rudolf Hübler, Berlin Einband: Lüderitz Sc Bauer, Berlin 61
Günther Drosdowski zum 15. 10. 1986
Inhalt Helmut Henne: Literatursprache — Normen wider die Norm. Arno Schmidts „Stürenburg-Geschichten" in der Zeitung
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Hans-Martin Gauger: „Schreibe, wie du redest!" Zu einer stilistischen Norm
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Inger Rosengren: Ironie als sprachliche Handlung . . .
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Herbert-Ernst Wiegand: Von der Normativität deskriptiver Wörterbücher. Zugleich ein Versuch zur Unterscheidung von Normen und Regeln
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Heinz Rupp: Über die Notwendigkeit von und das Unbehagen an Stilbüchern
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Harald Weinrich: Klammersprache Deutsch
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Horst Sitta: Satzverknüpfung als Problem der Textkonstitution in der Schule
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Literatursprache — Normen wider die N o r m Arno Schmidts „Stürenburg-Geschichten" in der Zeitung Helmut Henne „Also alles doppelsinnig zu lesen?" „: nicht, wie Herr Duden [...] es vorschreibt!"
1. Zahlreich sind die Versuche, die darstellen, was Literatur und Literatursprache seien. Literatur sei der Entwurf des Möglichen auf der Grundlage des Wirklichen, heißt es etwa; und: Literatursprache sei eine vagabundierende Sprachform. Sie stehe in Beziehung zu allen Sprachen in der Sprache und sei doch nirgends zu Hause. Diesem Duktus, Literatur und Literatursprache allgemein zu bestimmen, wollen wir uns hier versagen; statt dessen auf das Konkrete, also den literarischen Text setzen, auf das also, von dem wir wissen, daß es Literatur ist. Nun wissen wir auch, daß es unterschiedliche Fassungen des literarischen Textes gibt. Der kritische Text sei der authentische — sagen die kritischen Herausgeber und lassen uns, zuweilen, im Ungewissen darüber, ob nicht unterschiedliche Fassungen des Textes unterschiedliche Entwürfe des Autors widerspiegeln. Immer aber autorisiert' der Autor — zu Lebzeiten — ,seinen' Text. Der autorisierte Text ist der vom Autor verbürgte, also authentische. „Jeder Lektor oder Setzer
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wagt es, den selbstdenkenden Autor zu berichtigen" (Berechnungen III, 6) — die Empörung, die aus diesem Satz Arno Schmidts spricht, hängt auch damit zusammen, daß der nicht authentische Text an Literarizität verliert, möglicherweise seinen Kunstcharakter einbüßt. Die Gegenüberstellung nun von autorisiertem, also authentischem, und nicht autorisiertem Text verschafft Einsicht in den Prozeß literarischer Sprachgebung. Diese Gegenüberstellung ist konkret und kritisch und vermag somit das eingangs formulierte Versprechen (auf den literarischen Text zu setzen) einzulösen.
2. Bevor nun der Prozeß eröffnet wird, soll an des Autors „Vermächtnis" erinnert werden. In drei Beiträgen, die jeweils den Titel „Berechnungen" tragen und durch die römischen Ziffern I, II und III als aufeinander bezogen ausgewiesen sind, hat Arno Schmidt u. a. seine Poetik formuliert, die auch die sprachliche Gestalt seiner Werke einbegreift. Dabei versuchen Berechnungen I und II, Modellformen der Prosa zu entwerfen: das „Fotoalbum", das „Musivische Dasein", das „Längere Gedankenspiel" und den „Traum". Diese Prosaformen stehen gegen traditionelle, die Handlung und den „epischen Fluß" betonende Erzählmuster und sollen den „Prozeß des ,Sich-Erinnerns' " (Fotoalben), die „poröse Struktur unserer Gegenwartsempfindung" (Musivisches Dasein) und die konjunktivische Welt des Möglichen (Längeres Gedankenspiel) einfangen. „Versuchsreihe IV (Traum) bleibt einer künftigen Fortsetzung dieser ,Berechnungen' vorbehalten" (II, 102). Den Entwurf dieser Prosaformen publizierte Arno Schmidt 1955 (Berechnungen I) und 1956 (Berechnungen II) in der von Alfred Andersch herausgegebenen Zeitschrift „Texte und
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Zeichen". Der Entwurf diente dem Zweck, „einer konformen Abbildung unserer Welt durch Worte näher zu kommen" (11,95); aber ausdrücklich handelte er n i c h t „vom sprachlichen und rhythmischen Feinbau" der Prosaelemente (I, 113). Hierfür müssen „Berechnungen III" einstehen, die Alice Schmidt und J Ρ Reemtsma 1980 in der „Neuen Rundschau" posthum publizierten: „Das neunseitige, maschinenschriftliche DIN A 4-Manuskript Berechnungen III, von Arno Schmidt selbst so überschrieben, stellt einen Entwurf zu einer Fortsetzung seiner prosatheoretischen Arbeiten Berechnungen I und Berechnungen II dar. — Es trägt den Vermerk: ,21.9. 1956 - 1. Entwurf 9 h 30 m' und den handschriftlichen Zusatz: ,durchgesehen 21. 11. 1957, 5 h - 7 h " ' (5). Eingangs (§ 1) beklagt Arno Schmidt, „wie eisern bei uns Duden die Stunde regiert" (III, 6). Ihm gehe es (§ 2) „um die Weiterentwicklung, die notwendige Verfeinerung, des schriftstellerischen Handwerkszeugs" (111,7). Der normative Eingriff standardsprachlicher Regeln in die literatursprachliche Praxis soll — an bestimmten Stellen — zurückgewiesen werden. Damit stellt sich zugleich die Frage nach der Berechtigung dieser standardsprachlichen Normen: Der Autor ist auf dem Wege, Normen wider d i e Norm zu etablieren. Es folgen 9 §§ (3 bis 11) und „Ergänzungen" (knapp 4 Druckseiten). Arno Schmidt handelt hier von: der Besonderheit seiner Interpunktion; seiner Gewohnheit, Ziffern für Zahlen (statt Buchstabenwörter) zu setzen; den Klammern mit und ohne Punkt; musikalischen Zeichen, „Kartenzeichen" und typographischen Experimenten; orthographischen Abwandlungen sowie seiner Ablehnung der „Kleinschreibung" und der typographischen Struktur der Anfangszeilen seiner Kleinkapitel. Diese sachlichen Bemerkungen sind versetzt mit Anwürfen gegen vermutete Gegner („Eine Änderung ist mitnichten gleichbedeutend mit einer Verschlechterung, Verelendung: Verfeinerung wollen wir! Die herrlich=exakte Abbildung auch unse-
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rer akustischen Realität: Gegen die Herren, die immer stolz ihre linguistischen Zirbeldrüsen und Blinddärme vorweisen müssen, damit man ja nicht übersehe, daß sie vom lieben Vieh abstammen!" (III, 13)) und Klagen und Rechtfertigungen („Ich schließe gleich ein Beispiel aus dem ,Steinernen Herzen' an, obwohl es mir blutsauer fällt: ich habe das Buch vor nun drei (oder besser »3«; denn es waren drei magere Jahre!) Jahren geschrieben [...]" (111,9)). Diese Angaben folgen den inhaltlichen Vorgaben Arno Schmidts; in systematischer Hinsicht ist folgendermaßen zu gliedern: Dargestellt wird die besondere Bedeutung — traditioneller Interpunktionszeichen (einschließlich des Absatzes): u. a. werden die Pausen, welche diese Zeichen anzeigen, so bestimmt: „erst das Komma; dann das Semikolon; dann der Punkt; schließlich der Gedankenstrich (evtl. die ... striche); auch ein Schrägstrich; zum Schluß der Absatz" (III, 12). Arno Schmidt insistiert darauf, mit den Satzzeichen die Periode zu „instrumentieren" — notfalls auch gegen „Herr(n) Duden" (11 f.). — zusätzlicher Hilfszeichen (wie Klammer und Anführungszeichen), Sonderzeichen und sonstiger typographischer Mittel: Die Klammer sei eine „stilisierte Hohlhand" (III, 9), ein Crescendo etwa der Konversation könne durch das musikalische (Sonder-) Zeichen ^angezeigt werden (III, 11); 2 Truhen (am besten II Truhen) zeigten die Truhen „hochkant" stehend an (statt der flachen zwei Truhen) (III, 9); die Stadteelb bahn, t sei so richtig gezeichnet, „gelb/rot" zeige fälschlich ein Nacheinander statt ein Zugleich an (11); — der Syntax von Interpunktions- und Hilfszeichen : „[...] auch die strähnige Stimme; aber so kriegt man's noch nich raus. — : Friseure? — Gastwirte?? — - ) Halt!!: Der Laden des Eisverkäufers! [...]" Arno Schmidt erläutert, daß in dieser Passage (aus dem Anfang) seines Romans „Das steinerne
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Herz" hinter der runden Klammer „mit Absicht" kein Punkt gesetzt sei, denn der Eisverkäufer hänge „organisch" (in der Vorstellung des „Helden") mit den anderen Berufen (Friseur und Gastwirt) zusammen; der fehlende Punkt zeige also die Verbindung der Kleinstkapitel an (III, 10); — orthographischer Abwandlungen: Arno Schmidt drängt („um einer konformen Abbildung unserer Welt durch Worte näher zu kommen" (II, 95)) auf die Verlautlichung der konventionellen, historisch verwachsenen Schreibung. So schreibt er „verlautlicht", also schprechschprachlich (sie), faselt von „Mond-fasen", möchte gar das „Pf=Geknalle abschaffen", ist aber doch, Dr. Meyer-Groß zumtrost, ein „Gegner der Kleinschreibung". Die Großschreibung ermögliche eine „rasche glückliche Orientierung im Satz" (III, 12—15). Zur Verlautlichung der Schreibung gehört auch, daß er dem natürlichen Duktus des Schprechens folgt, Fräsen also nicht segmentiert, sondern wie ein Wort notiert: „ja-h-: ichweißjanich — — : aber dürfen wir das denn " (III, 12) Berechnungen III ist der Entwurf einer Sprach- und Zeichenwelt, welche die Annäherung an die innere und äußere Realität der darzustellenden Welt sichern soll. Nichts ist zufällig, alles vom Kunstverstand diktiert. Die Zeichenkomplexe sind selbst „kleine Gedankenspiele" (Neue Rundschau 1980, 2); sie sichern die künstlerische Spur des literarischen Textes und stehen nicht zur Disposition: „In ständigen schweren Abwehrkämpfen begriffen: mit Verlegern, Lektoren, Setzern, Lesern [...]" (111,17) ...
3. ... hat Arno Schmidt im Kampf mit den Redakteuren, die zwischen 1955 und 1965 acht seiner Stürenburg-Geschichten publizierten, eindeutige Niederlagen kassieren müssen — zu
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einer Zeit also, als er „Berechnungen III" schrieb. In dieser Reihenfolge wurden die acht Geschichten in folgenden Zeitungen bzw. Zeitschriften publiziert: Das heulende Haus (1) In: Hannoversche Presse vom 3. September 1955, zugleich in Braunschweiger Presse vom 3. September 1955 Die lange Grete (2) In: Kölner Stadt-Anzeiger vom 15. Mai 1956 Ein Leben im voraus (3) In: Hannoversche Presse vom 9. Juni 1956, zugleich in Braunschweiger Presse vom 9. Juni 1956 Schwarze Haare (4) In: Hannoversche Presse vom 15. September 1956, zugleich in Braunschweiger Presse vom 15. September 1956 Bericht vom kleinen Krieg (5) In: Hannoversche Presse vom 27. Oktober 1956, zugleich in Braunschweiger Presse vom 27. Oktober 1956 Große Herren wissen manches nicht (6) In: Tagesspiegel, Berlin 19. Dezember 1956 Das Kind mit der Wasserlilie (7) In: Hannoversche Presse vom 23. März 1957, zugleich in Braunschweiger Presse vom 23. März 1957 Zu ähnlich (8) In: Twen 11/65 Acht der neun Stiirenburg-Geschichten wurden also zuerst in einer Tageszeitung bzw. Zeitschrift veröffentlicht (eine 9., „Sommermeteor", erschien in dem von Rolf Schroers herausgegebenen Sammelband „Auf den Spuren der Zeit. Junge deutsche Prosa". München 1959). In zwei Fällen haben
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Redakteure den Titel verändert: Die 5. Geschichte hat den Titel „Kleiner Krieg", die 6. den Titel „Kleine graue M a u s " — nach Ausweis der mir von der Arno Schmidt Stiftung freundlich zur Verfügung gestellten Fotokopien der Typoskripte Arno Schmidts, nach Ausweis auch der von Arno Schmidt autorisierten Buchausgabe von acht Geschichten („Kleine graue Maus" fehlt hier) in dem Sammelband „Trommler beim Zaren" 1966, 95 — 131. Die Reihenfolge der Geschichten ist hier: 3, 1, 9, 5, 7, 8, 4, 2; 6 fehlt. Die Geschichten 1, 3, 4, 5, 7 und 8 sind, nach Ausweis der Typoskripte, in (22 b) Kastel über Saarburg, Nr. 63 verfaßt, also vor dem 24. September 1955 (an diesem Tag erfolgt der Umzug nach Darmstadt). Die Geschichten 2, 6 und 9 sind in (16) Darmstadt/Inselstraße 42 verfaßt. Zur Geschichte 8 gibt es zwei Versionen: Eine ältere, die im „Trommler" abgedruckt ist mit dem Titel „Er war ihm zu ähnlich"; und eine jüngere, die Arno Schmidt offensichtlich für den Abdruck in „Twen" hergestellt hat. Die Stürenburg-Geschichten sind ein Zyklus mit feststehenden Figuren: Apotheker Dettmer, Hauptmann [a. D.] v. Dieskau, Frau verw. Dr. Waring mit ihrer Nichte Emmeline, einem Teenager (ein J a h r vor dem Abitur), und der Erzähler treffen sich im Anwesen von Vermessungsrat a. D. Stürenburg, zumeist umgeben von dem „Knecht" (auch: Faktotum) Hagemann. Nachdem man sich jeweils arrangiert hat, ergreift Vermessungsrat a. D. Stürenburg die Gelegenheit und erzählt eine Geschichte, die zumeist mit seiner beruflichen Praxis als Vermessungsrat, aber auch mit seinem Studium und seiner Herkunft zusammenhängt. „Schnurren am Kamin" oder „Münchhauseniaden" hat man die erzählten Geschichten genannt. Eigentlich sind sie mehr — eben Geschichten. In gewisser Weise weichen „Kleine graue M a u s " und „Die lange Grete" von dem vorgegebenen Muster ab: In der ersten Geschichte fehlen die bekannten Figuren; statt dessen
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erzählt „der Uralte" dem Erzähler („45 Jahre alt") von der langen Grete. In der anderen Geschichte (die Arno Schmidt in die Buchpublikation nicht aufnahm) erzählt Faktotum Hagemann eine unglaubliche Geschichte vom „großen Herrn" (s. Titel) Vermessungsrat a. D. Stürenburg*
4. Nehmen wir die erste in der Zeitung publizierte Geschichte als Beispiel. „Das Heulende Haus" ist ein „halb verfallenes" Haus am Wald, in dem Landmesser und Forstleute übernachten (um ihr knappes Geld nicht in Wirtshäuser tragen zu müssen). „In der Gegend", bei den Bauern, ist das Haus „verrufen". Man hat „schreckliche Stimmen" im Haus und um das Haus herum (in den Bäumen) gehört. Als man Holz schlägt, findet man in einem „mächtigen Stamm" ein „menschliches Skelett", einen französischen Marodeur (aus der Zeit der Befreiungskriege), der sich in den Baum flüchtete, im Holzmoder versank, sich nicht befreien konnte und tagelang schrie. — Diese Geschichte erzählt Vermessungsrat a. D. Stürenburg der Runde. Er selbst war in jungen Jahren Bewohner des Hauses. Diese Geschichte ist kunstvoll aufgebaut. Eine Strukturdarstellung, welche die Absätze (als §§) zugrundelegt, soll dafür Hinweise geben: § 1 Prolog 1: E i n l e i t u n g : Die Runde (kataphorisch als „wir" eingeführt) trifft sich und ist gleichzeitig auf der Flucht (wie später der Marodeur): Wind und Regen treiben sie zu Kamin und Blasebalg. § 2 Prolog 2: V o r g e p l ä n k e l : Der unwirtliche Mai. Frau Dr. Warings Erklärung des schlechten Wetters („die Erde muß sich gedreht haben") und die Zurückweisung dieser
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laienhaften Erklärung durch den Fachmann Vermessungsrat a.D. Stürenburg. § 3 Prolog 3: V o r b e r e i t u n g : Der Erzähler setzt sich in Position. Der Wind „berennt" das Haus. § 4 B e g i n n : Die Geschichte2 in der Geschichtei beginnt. § 5 R e t a r d a ti o n i : Der Erzähler unterbricht sich zum Zwecke der Spannungssteigerung und prüft die Nerven seiner Zuhörer. § 6 F o r t s e t z u n g ! der Geschichtej: Das unheimliche Haus als Herberge. § 7 R e t a r d a t i o n 2 : Das Echo wird überprüft. § 8 F o r t s e t z u n g 2 der Geschichte2: Das Unheimliche als Lautspur: das heulende Haus ist verrufen, schreckliche Stimmen, klagende Schreie, zorniges Gestöhn. 8 a. Hiergegen setzt der Erzähler Stürenburg die Lautlosigkeit des Rauchens („Er rauchte geduldig ...") § 9 F o r t s e t z u n g 3 der Geschichte2: Flucht und Untergang („versinken") des französischen Marodeurs im Holzmoder. § 10 E p i l o g : Die Starken schützen die Schwachen: „An diesem Abend wurde es nötig, Frau Doktor nach Hause zu begleiten." Vier §§ dienen der Vor- und Nachbereitung der Geschichte; vier §§ sind der Geschichte selbst gewidmet; zwei §§ intervenieren: Sie unterbrechen den Erzählvorgang. Die Überschrift „Das Heulende Haus" hält die Vor- und Nachbereitung und die Geschichte zusammen: Stürenburgs Haus (im regnerischen und windigen Mai) und das „halb verfallene Haus" sind beides Heulende Häuser — und Marodeure sind überall. In diesen Text von 108 Schreibmaschinenzeilen (einschließlich Überschrift) greift ein Redakteur 37mal ein. Die „Korrekturen" liegen auf unterschiedlichen Ebenen: 1. Die Interpunktion wird nach „Herr[n] Duden" (Berechnungen III, 12) korrigiert. Z. B.: „ ,Die armen Seeleute' fiel der Witwe ein" wird zu „ ,Die armen Seeleute', fiel der Witwe
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ein": Das atemlose Sprechen, das die kommalose Periode suggerieren soll, verfällt der Norm. „Ja aber meine Gnädigste" wendet sich Stiirenburg gegen Frau Doktor. In der Zeitung wird daraus: „Ja, aber meine Gnädigste". Wiederum geht das Stakkato der Rede in der geregelten Zeichensetzung unter: „Auch mit den herkömmlichen Satzzeichen instrumentiere ich die Periode — nicht ,nach Belieben': sondern wie der Betreffende gesprochen hat!" (Berechnungen III, 11) 2. Orthographie und Grammatik werden den DudenRegeln angepaßt: „ichs" wird zu „ich's"; „gibts" wird zu „gibt's"; „beiseitelegen" wird zu „beiseite legen" („um die besagten 5 Mark beiseitelegen zu können"); „Niemand" („daß Niemand mehr in dem ,Heulenden Haus' wohnen mochte") wird zu „niemand". Erst „beiseitelegen" in einem Wort bildet eine Seite, hinter die man etwas legen kann. Und auch im Falle von „Niemand" wird dem Autor seine charakteristische Schreibung („Stilographie") verweigert: Der klein geschriebene niemand ist etwas weniger niemand als Niemand. 3. Orthographische Essentials werden zerstört: „Das Heulende Haus" wird „Das heulende Haus" (zweimal): Ein mehrteiliger geographischer Name (der Bayerische Wald) wird nach Duden groß geschrieben; aber als solcher wird er von den Zeitungsleuten nicht akzeptiert — obwohl doch das Heulende Haus im Bewußtsein der Bauern und Forst- und Vermessungsleute eine besondere räumlich-landschaftliche Position einnimmt. In ähnlicher Weise interpretiert der Autor die Anredeform „Junger Mann", die auf die Altersrolle abhebt, als Namen („bekam als ausgesprochen natürlich den entlegensten Bezirk") — was ihm natürlich in der Zeitung verweigert wird. Ein böser Eingriff der Zeitungsredaktion ist die Veränderung von „EK Erster" („Der Hauptmann Hess nur verächtlich
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sein EK Erster funkeln") zu ΕΚ I: Die Ironisierung wird durch die Korrektur aufgehoben. 4. Die Wortwahl wird korrigiert. Es erfolgt lexikalische Normalisierung: „manchesmal" wird zu „manchmal" (der Duden läßt eben nur „manchmal" oder „manches M a l " zu); lexikalische Verbesserung (nach Dr. Reiners): „niedlich" („saßen auf niedlichen Hockern zwei Männer") wird zu „niedrig", und lexikalische Tilgung: „womöglich" („abends womöglich in schlechten Unterkünften") wird gestrichen. Der Entwurf des Autors, der auf das Mögliche setzt, wird auf immer dieselbe Wirklichkeit festgelegt. 5. Die Streichung ganzer Textpassagen und die Veränderung der §§Struktur nehmen der Geschichte ihren unverwechselbaren Duktus und kunstvollen Aufbau. Indem 14 Typoskriptzeilen gestrichen werden, in denen Vermessungsrat a. D. Stiirenburg der Witwe Dr. Waring seine geodätischen (die Erdvermessung betreffenden) Belehrungen erteilt, treibt der Redakteur dem Text die geodätische Obsession aus (recte: die geodätische Obsession des Vermessungsrats Stiirenburg). Darüber hinaus zerstört die Streichung interne Verweise und Parallelen. Es entfallen der „süße Sud" im Mund der Frau Dr. Waring (während sie zuhört) und der „hoch unglaubwürdig" dreinschauende Dieskau — Anspielungen auf ein kleines Pfingstwunder (im Mai!) in ungläubiger Zeit. Der „süße R a u c h " , den später Vermessungsrat a. D. Stürenburg „ausstoßen" wird, bleibt so ohne Bezug. Ich redigiere, also bin ich (siehe S. 1 2 , 1 3 ) . Aber bedenken die Redakteure, daß literarische Texte Normen folgen, die nicht notwendig die der Standardsprache sind? Eben weil diese Texte eine Welt entwerfen, die „Wo-Mögliches" (siehe S. 13, Zeile 9) darstellt und also dem kruden Zwang des Wirklichen enthoben ist.
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Das Heulende Haus Der Wind pfiff lauter; zuweilen schraffierte Regen blitzschnell die großen Glastüren des Eckraumes, wohin wir uns heute geflüchtet hatten; und wir alle betrachteten nicht ohne Vergnügen die Glut, die Hagemann mit einem mächtigen Blasebalg hinten im Kamin heller anfachte. »Das ist recht, Herr Rat« sagte Frau Dr. Waring befriedigt; und dann seufzend: »das will nun ein Mai sein! — Ich glaube, die Erde muß sich gedreht haben.« Der Hausherr, Vermessungsrat a. D. Stürenburg, hob leicht befremdet die Hand: »Ja aber meine Gnädigste: die Erde dreht sich doch beständig!« »Ach, Sie wissen doch genau, wie ichs meine« schmollte die hagere Witwe über die Teetasse hinweg, und Apotheker Dettmer half dienstfertig: »Polschwankungen, nicht wahr, Gnädige Frau?«. Sie nickte nur, den Mund augenblicklich zu voll des süßen Sudes; Hauptmann von Dieskau sah hoch ungläubig drein; aber Stürenburg lehnte auch diesen Erklärungsversuch des schlechten Wetters ab: »Freilich pendeln die Erdpole ständig — das hat mein alter Lehrer Küstner damals zuerst nachgewiesen; und zwar in einer Art von Kreisen oder Ellipsen um den idealen Mittelpunkt. Aber diese sehr langsamen Schwankungen betragen nie mehr als rund zehn Meter nach allen Seiten. Außerdem werden die Bewegungen von bestimmten, zu beiden Seiten der Pole gelegenen Stationspaaren aus laufend kontrolliert: man muß ja jederzeit angeben können, wie sich die geographische Breite eines Ortes verändert. Zehn Meter? Das sind immerhin der dritte Teil einer mittleren Bogensekunde, und darf also nicht vernachlässigt werden.« »Merk Dir das Emmeline« sagte Frau D o k tor scharf zur Nichte, die ihr gar zu versunken das lohende Holz beträumte.
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Die gläsernen Ungeheuer des Windes berannten nächtiger das Haus. »Die armen Seeleute« fiel der W i t w e ein; »Die armen Soldaten« knurrte der H a u p t m a n n ; der A p o t h e k e r öffnete den M u n d , Schloß ihn aber verlegen wieder: ihm fiel nichts ein, um auch seinen Beruf herauszustreichen, »die armen Kräutersammler« hätte ja k a u m Mitleid erregt! Stürenburg beobachtete ironisch den Wettstreit; dann entschied er: »Die armen Landmesser! Bei solchem Wetter jahraus jahrein auf den Straßen; abends womöglich in schlechten Unterkünften — « er winkte bedeutend ab, legte die linke H a n d in die rechte Achselhöhle, hielt die Zigarre beschaulicher, und begann: »Als ich, lange vor dem ersten Weltkriege n o c h , meine praktischen J a h r e als Topograph a b m a c h t e , bekamen wir, wenn wir auswärts arbeiteten, an Tagesgeldern die enorme S u m m e von 5 M a r k . Die Herrlein heute erhalten 3 0 , und haben jeder ein Auto. W i r hatten Fahrräder, und mußten uns — wir waren ja sämtlich nicht vermögend! -
soviel Bücher und eigene Instrumente anschaffen, daß
wir, um die besagten 5 M a r k beiseitelegen zu k ö n n e n , auf die tollsten Ideen verfielen. Ich war damals R o t e n b u r g zugewiesen; bekam als ausgesprochener < J u n g e r M a n n > natürlich den entlegensten Bezirk, unten bei Visselhövede -
und bedachte eben traurig, d a ß ich nun doch wohl
mein Geld würde ins Wirtshaus tragen müssen, als mich der Kollege, den ich ablöste, beiseite nahm. W i r fuhren mit dem R a d e eine halbe Stunde weit, auf immer dunkler werdenden Seitenstraßen, und hielten endlich, kurz vor Stellichte, bei einem einsamen, halb
Korrekturen des Redakteurs im Typoskript Arno Schmidts. Textvorlage: „Trommler beim Zaren". Karlsruhe: Stahlberg 1966, S. 101 f. - Zu nächtiger > mächtiger (S. 13, 1. Zeile) s.u. S. 19.
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Wie behutsam und textgetreu, also dem literarischen Willen des Autors entsprechend, man eine Stiirenburg-Geschichte drucken kann, zeigt die Drucklegung von „Sommermeteor" (s.o. S. 6). Innerhalb einer Buchpublikation hat der Autor das Recht, eine Fahnenkorrektur zu lesen, die ihm offensichtlich bei Zeitungsdruck versagt bleibt. Die Fahnenkorrektur stellt also nicht nur eine Korrekturmöglichkeit dar, sondern ist auch ein Schutz vor Verfälschung oder Verwässerung des literarischen Textes. In unterschiedlicher Weise geben die weiteren sieben in der Zeitung bzw. in der Zeitschrift (Twen) (vorab-)gedruckten Stürenburg-Geschichten dazu weitere Einsichten. So wird der Spiel-Charakter des literarischen Textes reduziert, wenn die Hannoversche Presse und die Braunschweiger Presse (in: „Ein Leben im voraus") die „zwei Slibowitze", die sich Hauptmann von Dieskau in „sein dürres Skeptikergesicht füllt", zu „zwei Slibowitz" normiert und der Ausruf von Frau Dr. Waring: „Emmeline, hol mir doch ein paar Voilchen" zu „ . . . Veilchen ..." verändert wird. Der Witz des Slibowitz zeigt sich erst so richtig in der Mehrzahl, und die regionale Aussprache der Veilchen im Moose erinnert daran, daß diese Blümelein auch von Foilnis umgeben sein können. Zweifellos befindet sich Arno Schmidt (1956) auf dem Weg zu seinen „Etyms": „Wie also nennen wir diese, so vieles bündelnden linguistischen Grundgewebsgebilde? Was böte sich da an? — [...]: »Etymologie«: die Lehre vom Echten: taufen wir die polyvalenten Gesellen einfach >Etym< — einverstanden?" schreibt (und spricht er) in seinem am 13.1.1966 gesendeten Funk-Essay „Das Buch Jedermann. James Joyce zum 25. Todestage" (in: Der Triton mit dem Sonnenschirm, 279). Und er spricht hier auch von dem „Drehscheiben- und WeichenCharakter", den solche mehrfach „überdeterminierten" Wör-
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ter haben; wer geübt sei in dieser Kunst des „double dealing", könne „die mühsam angelernte, sperrig-holzige Verleimung zwischen Aussprache 8c Rechtschreibung heilsam aufweichen" (1. c. 287). Die Zeitung steht dagegen: sie leimt (vgl. Duden. Deutsches Universalwörterbuch. 1983,778) die literarischen Wörter aufs neue. Nicht nur die Etym-Sprache, auch die Sprechsprache, die Arno Schmidt, fast im Stil der Gesprächsanalyse, realistisch abzubilden trachtet, wird reduziert. „Nein — ähier bitte", sagt im „Bericht vom kleinen Krieg" Stürenburg zu dem eintretenden Polizisten, der sich an den Falschen wendet. „Nein — hier bitte" lautet diese Phrase, gereinigt und ohne hüstelnden Akzent, in der Zeitung. Aber die Redakteure gehen noch weiter. Arno Schmidt war ein Autor, welcher der aktuellen Umgangssprache, gerade auch der modischen, auf den Fersen war — der sie kunstvoll und verfremdet in seine Prosa einfügte. „S läuft halt zu viel Gesindel im Lande herum!" — mit diesem Ausspruch rechtfertigt ein Polizeihauptmann (in derselben Geschichte) seine schikanösen Kontrollen. Hier ist ein früher literarischer Beleg (1956) für die Partikel halt (im Sinne von eben) in norddeutscher Umgangssprache (inzwischen, 1986, ist halt, auch und gerade in Norddeutschland, eine wahre Modepartikel). Was macht die Zeitung aus diesem sprachliche Wirklichkeit vorausnehmenden „Spruch": „Es läuft bald (sie) zu viel Gesindel im Lande herum!" Literarisches Sprechen ist verbürgtes Sprechen, daran sollte man nicht deuteln (drehen, pflegte H. Wehner zu sagen). Die Korrekturen erhalten eine Tiefendimension dort, wo sie in die Substanz der Geschichten eingreifen. Die Kürzung und Streichung geodätischer Passagen, in denen Vermessungsrat a. D. Stürenburg das belehrende Wort führt, stellen hierfür ein Exempel dar. Aber auch scheinbar unscheinbare „Korrekturen" fälschen das Bild. Die Stürenburg-Geschichten
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sind, in Teilen, auch eine versteckte Abrechnung mit der NS-Zeit (Stiirenburg wurde in brauner Zeit seines „Amtes enthoben"). In „Große Herren wissen manches nicht" kommt — einleitend — die Rede auf einen Zoobesuch. Frau Dr. Waring erinnert sich („Raubtierfütterung, Bratwürstchenrestaurant") am intensivsten: „und auch der Führer fand sich noch in der Handtasche". Später müssen alle ihr Lieblingstier nennen, „eine hinterhältige Frage". Hauptmann v. Dieskau nennt die „Hyänen!", „dann noch: Geier, sehr nützlich auf Schlachtfeldern [...] hähä." Apotheker Dettmer nennt, „bärtchenhaft-errötend", „die Giraffen!", „und so — : hellbraun?" Das ideologische Feld Führer, Schlachtfeld, hellbraun — wer merkte nicht auch ohne Etymtheorie, was hier im Untergrund wuchert? Die Korrektur des Redakteurs des „Tagesspiegels" in Berlin hebt nun das Doppelspiel an der wichtigsten Stelle auf. Der Führer wird zum Zooführer — aber vielleicht kann man, auf einer höheren Ebene, diese Korrektur dann doch einmal als eine gelten lassen, welche die Wahrheit einholt. 6.
„Wer wird nicht einen K l o p s t o c k loben? Doch wird ihn jeder lesen? — Nein. Wir wollen weniger erhoben, Und fleißiger gelesen seyn." Gotthold Ephraim Lessing Arno Schmidt hatte ihn gelesen - und von ihm gelernt. Am 18.10.1957 wurde im Süddeutschen Rundfunk ein Radio-Essay von Arno Schmidt gesendet: „Klopstock oder verkenne Dich selbst" (in: Dya Na Sore. Gespräche in einer Bibliothek. Karlsruhe 1958, 3 1 0 - 3 5 5 ) . Hier heißt es: „Unter
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allem, was Klopstock geschrieben hat, haben nach meinem Gefühle die >grammatischen Gespräche< die meiste Anmuth". Und weiter: „viele hundert Seiten werden einer neuen deutschen Ortografie gewidmet! Nicht schreibt er länger »Pferd und Pfründe« sondern entschlossen »Ferd und Fründe«. »Ferwexlung« mit »F« und »x« [...] Anstatt »sanft« mit dem schwer aussprechbaren »n« wird es künftig »samft« heißen. Statt »ist denn« schreibt man, apostrofiert, »ist'enn«" (350f.). M a n sieht, von wem Arno Schmidt gelernt hat. Als er „Berechnungen III" schrieb (in denen er u. a. forderte, das „Pf» Geknalle" abzuschaffen (s.o. S. 5)), arbeitete er am Essay über Klopstock. Dieser forderte eine phonetische, also „verlautlichte" Schreibung: „1.) Der Zweck der Rechtschreibung ist: Das Gehörte der guten Aussprache nach der Regel der Sparsamkeit zu schreiben. [...] 2.) Kein Laut darf mer als Ein Zeichen; und kein Zeichen mer als Einen Laut haben." Fragt man nun weiter, wo denn die gute Aussprache zu hören sei, so antwortet Klopstock: „In gewissen Gegenden fon Nidersaxen [...] wird beina alles ausgesprochen, was fon der Nazion, als deütsche Aussprache, festgesezt ist" (Über die deutsche Rechtschreibung. Klopstocks sämmtliche Werke. Leipzig 1855, 330 f., 360). So hat Klopstock Arno Schmidt den spielerischen und phonetischen Umgang mit der Schreibschprache gelehrt, jener Klopstock, der auf Gehör u n d Schreibverkürzung setzte und offensichtlich auch provozieren wollte: „Jezt se ich es gern so rein for mir, wi mans hört, und spricht" (1. c. 334, . ist Klopstocks Längenzeichen). Somit muß die historische Herkunft der Literatursprache Arno Schmidts kalkuliert, zumindest darf diese Sprachform nicht dem normativen Anspruch der Standardsprache preisgegeben werden. Der historische Charakter der Sprache Arno Schmidts ist Teil seiner literarischen Ästhetik.
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Helmut Henne 7.
Da die Stiirenburg-Geschichten hinsichtlich ihrer Textgestalt in der Zeitung Gegenstand der Kritik waren, mag zum Ausklang einiges zu den Buchtexten, gleichfalls in kritischer Absicht, angemerkt werden. Zunächst: Die spätere Fassung von „Er war ihm zu ähnlich", die den Titel „ Z u ähnlich" trägt (s. o. S. 6), ist der literarischen Öffentlichkeit bislang nur über die Publikation im „Twen" zugänglich. Dabei ist die spätere Fassung die ver-schmidt-stere. Heißt es in der ersten Fassung: „Vom See her wogte träge ein Windstoss heran", so wird in der 2. Fassung folgendermaßen formuliert: „Vom See her wogte träge ein Wind= — naja ,stoß' konnte man's eben nicht nennen". In der ersten Fassung heißt es: „Nichte Emmeline dehnte verstohlen die badelustigen Beine, und während sie noch schlau zu mir herüber sah, hob Stürenburg bereits an." Die zweite Fassung formuliert das so: „Emmeline dehnte verstohlen die badelustigen Beine (1 davon zu mir her?), und während sie noch schlau an mir vorüber sah, hob Stürenburg bereits an." Der Flirt des Erzählers mit Emmeline hat in der zweiten Fassung Finessen, die vielleicht in Richtung auf das Twen-Publikum formuliert wurden. Überzeugender wirkt die Passage in der zweiten Fassung allemal. Arno Schmidt hat die e r s t e Fassung 1966 in „Trommler beim Z a r e n " aufgenommen. „Stürenburg-Geschichten. Kann fortgesetzt werden" steht vor dem Geschichten-Zyklus. D a s Fischer-Taschenbuch von 1969, das den Titel „Sommermeteor. 23 Kurzgeschichten" trägt, nimmt gleichfalls die erste Fassung auf, läßt aber Titel und Untertitel des Zyklus fort. In Band 6 der Kassette von Haffmans: „Tina · Goethe · Aus der Inselstrasse · Stürenburg-Geschichten", Zürich 1985 ist gleichfalls nur die erste Fassung aufgenommen und zudem ein falscher Nachweis für die Erstpublikation gegeben (Fuldaer
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Volkszeitung vom 14. Dez. 1956). Diese dritte zusammenhängende Buchpublikation der Stiirenburg-Geschichten hat wieder den Titel des Zyklus den Geschichten vorangesetzt, läßt nun aber den Untertitel (unverständlicherweise) fort. Die Anzahl der Stiirenburg-Geschichten bei Haffmans wird insofern erweitert, als nunmehr die im Stürenburg-Zyklus des „Trommler" nicht enthaltene Geschichte „Kleine graue Maus" aufgenommen und insofern die Geschichtenfolge der autorisierten Ausgabe erweitert wird. Der Hinweis auf die Zweitfassung von („Er war ihm) zu ähnlich" oder gar deren Abdruck unterbleibt jedoch. Für die „Haffmans Ausgabe", „eine Edition der Arno Schmidt Stiftung" (wie auf Seite 1 des Titelblatts vermerkt ist), zeichnet kein Herausgeber verantwortlich. Der Text dieser Ausgabe folgt (bis auf „Kleine graue Maus") dem Text im Fischer-Taschenbuch, das dem Text im „Trommler" folgt. Kleinere Fehler sind hinzugefügt. Ζ. B. werden in den ersten beiden Geschichten (1,3, s. S. 6) zwei Kommas und ein notwendiges Anführungszeichen verschenkt. Daß „Haffmans" nach „Fischer" (nach eigenem Bekenntnis, vgl. Bargfelder Bote 95 — 96/Oktober 1985, 16) druckt, kann man auch insofern nachweisen, als der „Haffmans-Text" „Fischer" auch dort folgt, wo dieser von den Typoskripten abweicht. Im 4. Absatz von „Schwarze Haare" heißt es im Typoskript: „Stürenburg, dessen Vermesserauge selbst heute noch nichts entging [...]" In allen Buchpublikationen fehlt das „selbst", die Zeitung hingegen druckt hier nach dem Typoskript. Im 3. Absatz von „Das Heulende Haus" steht im Typoskript: „Die gläsernen Ungeheuer des Windes berannten mächtiger das Haus." Die Zeitung folgt hier der Vorlage, alle Buchtexte und somit auch Haffmans im Gefolge von „Fischer" ersetzen „mächtiger" durch „nächtiger". (Mißbrauchte hier Arno Schmidt Klopstocks η > m Regel (siehe oben S. 17) im Zuge der Fahnenkorrektur?)
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Nun ist die Haffmans-Kassette gerade keine kritische Ausgabe. D a ß eine solche, sofern sie erscheint, neue Einsichten in Schmidts Textarbeit bieten könnte, soll am Beispiel zumindest einer Typoskriptkorrektur verdeutlicht werden. Im Heulenden Haus wird im vorletzten Absatz berichtet, wie der Förster die „Prachteiche" schlagen läßt und die Anwesenden einen grausigen Fund machen: „mitten in dem mächtigen Stamm stak, den Kopf nach unten, ein menschliches Skelett!" — so lautet der Schreibmaschinentext. „Von Hand" ist dann eine Korrektur eingetragen: „unten" ist durchgestrichen und handschriftlich durch „oben" ersetzt. Nur in dieser „Stellung" konnte der Marodeur, eingekeilt, tagelang überleben und um Hilfe rufen (heulen). Erst diese Korrektur aller bisherigen Buchfassungen sichert die „Logik" der Geschichte. A R N O S C H M I D T , 3101 Bargfeld N ° 3 7 : (Ganz) unten - (ganz) oben.
„Schreibe, wie du redest!" Z u einer stilistischen Norm'1' H a n s - M a r t i n Gauger
1. In Shakespeares „Viel L ä r m u m nichts" aus d e m J a h r 1 6 0 0 findet sich das abweichende Sprachverhalten eines Verliebten so gekennzeichnet: „ Z u v o r sprach er deutlich und zur Sache wie ein redlicher M a n n und ein Soldat, jetzt aber hat er sich in O r t h o g r a p h i e v e r w a n d e l t
— seine W ö r t e r sind ein
phantasiereiches Festmahl, jedes von ihnen ein fremdes Gericht", „he w a s w o n t to speak plain and t o the purpose, like an honest m a n and a soldier, and n o w is he turned o r t h o g r a phy — his w o r d s are a very phantastical banquet, just so
* Das Thema dieses Aufsatzes ist Gegenstand eines von mir geleiteten Projekts innerhalb des ab Oktober 1985 an der Universität Freiburg von der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingerichteten Sonderforschungsbereichs „Übergänge zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit". Meine Mitarbeiter, denen ich an dieser Stelle danke, sind Eva-Maria Gissler und Eugen Bader. — Speziell zu Nietzsche weise ich auf zwei Arbeiten von mir hin: N i e t z s c h e s S t i l a m B e i s p i e l v o n , E c c e h o m o ' . In: Grundfragen der Nietzsche-Forschung. Nietzsche-Studien 13 (1984) S. 3 3 2 - 3 5 5 , und N i e t z s c h e s A u f f a s s u n g v o m S t i l in dem von H. U. Gumbrecht und K. L. Pfeiffer herausgegebenen Band Stil - G e s c h i c h t e und F u n k t i o n e n eines k u l t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n D i s k u r s e l e m e n t s , Frankfurt 1986; der Aufsatz enthält eine genaue Interpretation von Nietzsches Aufzeichnung für Lou von Salomé Z u r L e h r e v o m S t i l .
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many strange dishes" (Act II, III, Arden Edition, S. 132). Das auffällige Wort „Orthographie" kommentiert Herausgeber A. R. Humphreys so: „i. e. the very spirit of polished (even overpolished) style". Natürlich trifft dies; es ist aber bemerkenswert, daß das Gemeinte, nämlich die aufgeputzte, elaborierte, auch wohl undeutliche Sprechweise eines Verliebten mit diesem Ausdruck bezeichnet wird. Jene Sprechweise wird mit geschriebener Sprache, denn dies meint hier „Orthographie", gleichgesetzt: er hat sich in Schreiben verwandelt, er spricht schreibend; und für das Geschriebene erscheint die kulinarische Metapher eines festlichen Mahls mit seltsamen, fremden Gerichten; das Wort verliert in solchem Sprechen seine instrumentelle Bindung und wird - jedenfalls für den, der es gebraucht — für sich selbst zum Genuß. Der Passus enthält implizit die Meinung: So wie hier geredet wird, kann man allenfalls schreiben, nicht aber sprechen, und zum redlichen Mann gehört es, daß er deutlich und geradewegs auf die Sache gerichtet spricht. Schreibsprache also, einerseits, Sprechsprache andererseits und die heitere Warnung vor einem Übergreifen der ersteren auf die letztere. Die Ausdrucksweise, die Shakespeare der Figur Benedick (es ist die Hauptfigur) in den Mund legt, deutet auf eine Erscheinung, die die Sprachwissenschaft — und zwar gerade die „moderne" — verkannt, nicht zureichend gewürdigt hat. Es wurde nicht gesehen, daß die Schrift, daß Schreiben und Lesen und deren Verbreitung die Sprache und das Bewußtsein von ihr tief verändert haben. Walter J. Ong, dem wir das bisher beste Buch über den Gegenstand insgesamt verdanken (Orality and Literacy. The Technologizing of the Word, London, New York, 1982), betont gleich auf der ersten Seite, Saussure, der „Vater der modernen Sprachwissenschaft", habe zwar hingewiesen auf den Primat des Sprechens, aber für ihn seien Schrift und Schreiben doch nur „a kind of complement to oral speech", er habe die Schrift nicht erkannt als „a
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transformer of verbalization". Historisch ist dies insofern ungerecht, als der Primat des Gesprochenen bereits für die Junggrammatiker, etwa für Hermann Paul, von denen sich Saussure abzusetzen sucht, unzweifelhaft war; über ihn war sich sogar schon Jacob Grimm im klaren, wenngleich er, bekanntlich, das erste Buch seiner „Deutschen Grammatik" noch mit „Von den buchstaben" überschrieb (so in der zweiten Ausgabe von 1822; die erste, die keine Lautlehre enthielt, erschien 1819; in der dritten Ausgabe von 1840 heißt es dann „Lautlehre"). Es ließen sich hier, grob gesprochen, zwei entgegengesetzte Thesen formulieren. Auf der einen Seite Saussure: Schrift kommt zum Sprechen nur gleichsam hinzu, die Sprachwissenschaft, deren Gegenstand das Lautliche ist und was mit diesem semantisch zusammenhängt, kann sie auf sich beruhen lassen; sie ist ein Epiphänomen. Dem gegenüber Ong: das Geschriebene ist etwas ganz anderes als das Gesprochene; das Schreiben transformiert das Sprechen total. In dem wichtigen Kapitel „Writing restructures consciousness" erklärt er unzweideutig: „By contrast with natural, oral speech, writing is completely artificial. There is no way to write ,naturally' " (W. J. Ong 1982, 82). Gewiß ist diese Behauptung exzessiv, gewiß gibt es hier zumindest Gradunterschiede; nicht alles Geschriebene ist in gleicher Weise „künstlich". Eben darum geht es bei der stilistischen Anweisung, die hier interessiert: „Schreibe, wie du redest!". Rund siebzig Jahre vor Shakespeare in seiner Komödie äußert sich der spanische Humanist Juan de Valdés, Verfasser theologischer Schriften und eines bedeutsamen „Dialogs über die Sprache", in eben diesem Sinn: „Der Stil, den ich habe, ist mir natürlich, und ohne jede Affektiertheit schreibe ich so, wie ich spreche; ich bemühe mich nur, Wörter zu benutzen, die das, was ich sagen will, gut bezeichnen, und ich sage es so einfach und deutlich, wie es mir möglich ist, denn mir scheint, daß die Affektiertheit in keiner Sprache gut ist", „el estilo que tengo
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me es natural y sin afetación ninguna escrivo como hablo; solamente tengo cuidado de usar de vocablos que sinifiquen bien lo que quiero dezir, y dígolo quanto más llanamente me es possible, porque a mi parecer, en ninguna lengua stá bien el afetación". Rafael Lapesa, der diese Äußerung zitiert, sieht in ihr die „stilistische Lehre der Epoche" kristallisiert (R. Lapesa, 1980, 309). Was Juan de Valdés sagt, geht weiter als das, was Shakespeare den Benedick sagen läßt: nicht nur soll man nicht reden, wie man schreibt, sondern umgekehrt: man soll ohne Affektiertheit, mit Natürlichkeit, so schreiben, wie man redet. Juan de Valdés hat einige Jahre in Italien verbracht, ist überhaupt durch Italien stark bestimmt und hat seine stilistische Maxime wohl dort aufgenommen; ich habe bisher keinen früheren Beleg gefunden. Bei Martin Luther freilich, ebenfalls also in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, finden sich Äußerungen, die in dieselbe Richtung gehen, aber doch anders zu begreifen sind. Bei ihm ist es mehr — gegenüber dem bloß Geschriebenen — die Hochschätzung, die Exaltierung des gesprochenen, lebendigen Worts, der lebendigen Stimme (die alte Redeweise, deren Herkunft und Tradition zu erforschen wären, von der „viva vox"). Man wird hier sogleich an die berühmte Stelle aus dem „Sendbrief vom Dolmetschen" (1530) denken, wo von der „Mutter im Hause, den Kindern auf der Gassen, dem gemeinen Mann auf dem Markt" (in dieser Reihenfolge) die Rede ist und gesagt wird, man müsse „denselben auf das Maul sehen, wie sie reden, und danach dolmetschen". Aber es gibt andere, noch deutlichere Stellen. Etwa: „Es ist ein großer Unterschied, etwas mit lebendiger Stimme oder mit toter Schrift an den Tag zu bringen" (Ein Sermon von dem ehelichen Stand, 1519); oder: „Evangelion aber heißt nichts anderes als eine Predigt und Geschrei von der Gnade und Barmherzigkeit Gottes, durch den Herrn Christus mit seinem Tod verdient und erworben; und ist eigentlich nicht das, was
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in Büchern steht und in Buchstaben gefaßt wird, sondern mehr eine mündliche Predigt und lebendiges Wort und eine Stimme, die da in die ganze Welt erschallt und öffentlich ausgeschrien wird, daß man's überall hört" (Epistel Sankt Petri, gepredigt und ausgelegt, 1523). Oder, wieder anders akzentuiert: „Es lernt jedermann sehr viel besser Deutsch oder andere Sprachen aus der mündlichen Rede, im Hause, auf dem Markt und in der Predigt, als aus den Büchern. Die Buchstaben sind tote Wörter, die mündliche Rede sind lebendige Wörter, die geben sich nicht so eigentlich und gut in die Schrift, als sie der Geist oder die Seele der Menschen durch den Mund gibt" (Von den letzten Worten Davids, 1543). Schließlich bringt ihn seine Hochschätzung des Gesprochenen gar zu einer theologisch exegetisch gewagten These, denn es findet sich in der biblischen Welt, sehr im Unterschied zur griechischen, keinerlei Schriftskepsis, auch übrigens keinerlei Sprachskepsis (für beides ist Piaton ein Beispiel, im „Phaidros" und im Siebten Brief): „Darum ist's gar nicht neutestamentlich, Bücher mit christlicher Lehre zu schreiben, sondern es sollten ohne Bücher an allen Orten gute, gelehrte, geistliche, fleißige Prediger sein, die das lebendige Wort aus der alten Schrift zögen und dem Volk ohne Unterlaß vorbleuten, wie die Apostel getan haben, denn ehe sie schrieben, hatten sie zuvor die Leute mit leiblicher Stimme bepredigt und belehrt, was auch ihre eigentliche apostolische und neutestamentliche Aufgabe war ... Daß man aber Bücher hat schreiben müssen, ist schon ein großer Abbruch und ein Gebrechen des Geistes, das die Not erzwungen hat, und ist nicht die Art des Neuen Testaments ..." (Kirchenpostille 1522; diese und andere Äußerungen Luthers finden sich zusammengestellt in dem äußerst verdienstvollen Insel-Almanach: Martin Luther, Aus rechter Muttersprache. Herausgegeben von Walter Sparn, Frankfurt, 1983). Luther — und Luther ist ja für die deutsche Sprache nicht irgend jemand
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— ist also ohne Zweifel ein Verfechter der Mündlichkeit; die Schrift ist ihm nur Notbehelf, und wie stark mündlich seine schriftliche Äußerung geprägt ist, zeigen die angeführten Stellen. Luther wollte für sich selbst einen individuellen Stil: „Denn ich hab's so gemacht, daß ich habe bemerkt sein wollen, und wer es liest, wenn jemand meine Feder und Gedanken gesehen hat, sagen muß: Das ist der Luther". Noch radikaler wollte dies Montaigne, dessen „Essais" ab 1571 geschrieben wurden. Die berühmte Wendung lautet: „une forme mienne", „eine mir eigene Form". Eine Äußerung von ihm zeigt, daß er sich des Unterschieds zwischen Schreiben und Sprechen noch nicht recht bewußt ist. Er scheint die Spannung, die Luther bewegte, nicht zu spüren. Oder aber er spürt sie und sucht, das Geschriebene dem Sprechen anzugleichen. Seine Äußerung hierzu ist nicht ganz eindeutig: „Ich will, daß die Dinge das Übergewicht haben und daß sie dergestalt die Vorstellung dessen, der zuhört, erfüllen, daß er auf die Wörter gar nicht achtet. Das Sprechen, das ich liebe, ist ein einfaches und natürliches Sprechen, auf dem Papier ebenso wie im Mund; ein saftiges und kraftvolles, kurzes und gedrängtes Sprechen, nicht so sehr heikel bemüht und aufgeputzt als vielmehr heftig und brüsk... Eher schwierig als langweilig, von Affektiertheit entfernt, nicht Regeln folgend, abgerissen und kühn ... nicht wie die Gelehrten, nicht wie die Prediger, nicht wie die Advokaten, sondern eher soldatisch, wie Sueton das Sprechen von Julius Cäsar nennt . . . " , „Je veux que les choses surmontent, et qu'elles remplissent de façon l'imagination de celuy qui escoute, qu'il n'aye aucune souvenance des mots. Le parler que j'ayme, c'est un parler simple et naif, tel sur le papier qu'à la bouche; un parler succulent et nerveux, court et serré, non tant délicat et peigné comme vehement et brusque ... plustost difficile qu'ennuieux, esloingné d'affectation, desreglé, descousu et hardy ... non pedantesque, non
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fratesque, non pleideresque, mais plustost soldatesque, comme Suetone appelle celuy de Jules Caesar ..." (Essais, Buch I, Kapitel XXVI, Pléiade, S. 207). Das Verb „parier" wird also in gleicher Weise auf das Schreiben angewandt: „tel sur le papier qu'à la bouche". Eigentümlich, daß sich auch bei Montaigne, wie in der angeführten ShakespeareStelle später, der Hinweis auf den Soldaten findet. Der einflußreichste Grammatiker überhaupt war wohl Claude Favre de Vaugelas. Ein Kapitel seiner „Remarques sur la langue française", die schon lange vor ihrem Erscheinen im Jahr 1647 ihre Wirkung taten, handelt „Vom größten Irrtum, den es in Bezug auf das Schreiben gibt". Hier heißt es: „Der größte Irrtum in Bezug auf das Schreiben ist es zu glauben, wie dies einige tun, daß man nicht so schreiben soll wie man redet ...", „La plus grande de toutes les erreurs en matiere d'escrire, est de croire, comme font plusieurs, qu'il ne faut pas escrire comme l'on parle...". Hierher gehört auch, daß sich Vaugelas bei seiner Bemühung um die Etablierung einer sprachlichen Norm nicht primär an „les bons Autheurs", sondern an einer gesprochenen Sprache, nämlich der „des Hofs und der Stadt" orientiert. Freilich muß hier beachtet werden, daß das „Sprechen", von dem Vaugelas und andere Autoren reden, keineswegs ein spontanes, natürlich hervorbrechendes Sprechen ist, das noch Montaigne vorschwebte, sondern ein im Sinne der äußerst weit getriebenen Konversationskultur dieses Jahrhunderts g e p f l e g t e s , um sich selbst bemühtes, ja sich geradezu an Schriftlichkeit orientierendes Sprechen. Trotzdem bleibt bestehen, daß auch hier, wenngleich in anderer Weise, das Ideal ein Zusammenfallen von Sprechen und Schreiben ist. Dies zeigt besonders anschaulich eine Äußerung des „arbiter elegantiarum" jener Zeit, Freund Pascals aus dessen mondäner Phase, nämlich des Chevalier de Méré: „Es ist dennoch gut, sich gleichsam vorzustellen, wenn man schreibt, daß man spreche, um nichts
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einfließen zu lassen, das nicht natürlich ist und das man in der Gesellschaft nicht sagen könnte. Und in gleicher Weise ist es gut, wenn man spricht, so zu tun als schreibe man, um nichts zu sagen, das nicht edel ist und nicht ein wenig Genauigkeit hat", „II est pourtant bon lors qu'on écrit de s'imaginer en quelque sorte qu'on parle, pour ne rien mettre qui ne soit naturel, et qu'on ne pûst dire dans le monde: et de mesme quand on parle, de se persuader qu'on écrit, pour ne rien dire qui ne soit noble, et qui n'ait un peu de justesse" (de Méré 1930, 70/71). Es geht den Sprachkritikern des französischen 17. Jahrhunderts um eine Verfeinerung des Sprechens im Sinne des Ideals vom „honnête homme" und um den Kult des Natürlichen beim Schreiben. Unter „naturel" ist nicht das Spontane zu verstehen, sondern die Realisierung gleichsam des allgemein Menschlichen, des der allgemeinen, nicht partikularisierten Natur des Menschen Entsprechenden. Insofern dürfen weder Schreiben noch Sprechen die Merkmale des „Niederen", des Regionalen oder auch des Professionellen, des (im Sinne des 17. Jahrhunderts) „Pedantischen" zeigen. Im deutschen Bereich findet sich die gesuchte Maxime überaus greifbar in einem Brief des sehr jungen Lessing aus dem Jahr 1743 (es ist der erste von Lessing überlieferte Brief). Der Brief ist an die Schwester gerichtet; Lessing war damals auf der Fürstenschule St. Afra in Meißen. Hier heißt es: „Geliebte Schwester! Ich habe zwar an Dich geschrieben, allein Du hast nicht geantwortet. Ich muß also dencken, entweder du kanst nicht schreiben, oder Du wilst nicht schreiben. Und fast wolte ich das erste behaupten. Jedoch ich will auch das andre glauben; Du wilst nicht schreiben. Beydes ist straffbahr. Ich kann zwar nicht einsehn, wie dieses beysammen stehn kann: ein vernünfftiger Mensch zu seyn; vernünfftig reden können, und gleichwohl nicht wißen, wie man einen Brieff aufsezen soll. Schreibe wie Du redest, so schreibst Du
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schön. Jedoch; hätte auch das Gegentheil statt, man könte verniinfftig reden, dennoch aber nicht verniinfftig schreiben, so wäre es für Dich eine noch größere Schande, daß Du nicht einmahl so viel gelernet" (G. E. Lessing 1857, 3/4). Die Stelle verrät im Blick auf jene Anweisung ein gewisses Schwanken. Was aber die Anweisung selbst betrifft, wird man kaum annehmen können, daß der damals knapp fünfzehnjährige Lessing ihr Urheber war. Sie dürfte Produkt des Unterrichts sein. Tatsächlich lesen wir in der „Anweisung zu Teutschen Briefen" von Benjamin Neukirch, der 1729 starb: „Die wenigsten können sich überreden, daß man ebenso schreiben müsse, wie man redet. Daher befleißigen sie sich allezeit in ihren briefen auf etwas künstliches: ihre intention ist, dem leser etwas zu sagen, und gleichwol sagen sie es ihm so unverständlich, daß er ihre meynung offt nicht errathen kann ... Wenn man redet, so muß man natürlich und deutlich reden: warum bemüht man sich denn unvernehmlich zu schreiben?" (B. Neukirch 1746, 538). Auch bei Geliert heißt es: „Wenn ich schreibe: so thue ich nur als wenn ich redte, und ich muß das Natürliche nicht bis zum Ekelhaften treiben" (C. F. Geliert 1751, 9). Ein besonders entschiedener Verfechter der Mündlichkeit im Geschriebenen bei gleichzeitiger Verbesserung der gesprochenen Sprache war der durch W. Kraft und U. Pörksen wieder entdeckte C. G. Jochmann, der von 1789 bis 1830 lebte und im Unterschied zu Lessing und Geliert kaum Einfluß übte. Jochmann erklärt: „Nicht also daß eine Sprache viel geschrieben, wohl aber daß sie gut gesprochen werde, ist hauptsächliche Bedingung der Kunst sie gut zu schreiben. Ein gutes Buch muß in des Ausdruckes buchstäblichem Sinne sich h ö r e n lassen. Verse, die nur geschrieben werden, sind selten des Lesens wert, und ein philosophisches Werk, das nicht auch gesprochen, einen vorteilhaften Eindruck auf jeden, der nur der Sprache mächtig ist, hervorbrächte, würde bei aller Vortrefflichkeit seines Inhaltes ein
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schlechtes bleiben, und müßte, um ein gutes zu heißen, in China geschrieben sein" (C. G. Jochmann 1983, 60). Es gibt aber auch Gegenstimmen. So bemerkt Schopenhauer: „Es ist ein falsches Bestreben, geradeso zu schreiben wie man redet. Vielmehr soll jeder Stil eine gewisse Spur der Verwandtschaft mit dem Lapidarstil tragen, der ja ihrer aller Ahnherr ist" (zitiert bei L. Reiners 1961, 286). Die radikalste Stellungnahme im Sinne der Maxime „Schreibe, wie du redest" findet sich bei Nietzsche. Es gibt von diesem sprachmächtigsten unter den Philosophen schreibskeptische Äußerungen: „Das Verständlichste an der Sprache ist nicht das "Wort selber, sondern Ton, Stärke, Modulation, Tempo, mit denen eine Reihe von Worten gesprochen werden; kurz die Musik hinter den Worten, die Leidenschaft hinter dieser Musik, die Person hinter dieser Leidenschaft: alles das also, was nicht geschrieben werden kann. Deshalb ist es nichts mit Schriftstellerei" (F.Nietzsche 1975, 89). Nietzsche war entschieden für Annäherung des Geschriebenen an das Mündliche. In der kurzen, als Dekalog aufgebauten „Zur Lehre vom Stil" von 1882 heißt es: „Man muß erst genau wissen: ,so und so würde ich dies sprechen und v o r t r a g e n ' — bevor man schreiben darf. Schreiben muß eine Nachahmung sein. Weil dem Schreibenden viele M i t t e l des Vortragenden f e h l e n , so muß er im Allgemeinen eine s e h r a u s d r u c k s v o l l e Art von Vortrage zum Vorbild haben: das Abbild davon, das Geschriebene, wird schon notwendig viel blässer ausfallen" (Ibid., S. 38). Nietzsche bezieht in dieser außerordentlichen, bisher nicht beachteten Äußerung den Begriff des Stils von vorneherein auf das Schreiben, und die erste Forderung, die er erhebt, lautet: „Der Stil soll l e b e n " . Und Leben heißt für ihn Sprechnähe. Dies ist insofern bemerkenswert, als das Geschriebene, wie wir dies — mit theologischen Bezügen — noch bei Luther fanden, seit alters in Zusammenhang gebracht wurde mit
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dem Tod. Walter J. Ong hebt es hervor und sieht darin „one of the most startling paradoxes inherent in writing" (W. J. Ong 1982, 81). Dies sei paradox, weil gerade die Totheit des Geschriebenen die Dauer des Gesagten verbürge. In der Tat — dies Selbstverständliche muß man sich klar machen — liegt ja hierin die außerordentliche Leistung der Schrift: sie erlaubt es, daß das Gesagte den Bereich der Hörweite zwischen Sender und Empfänger verlassen kann, in räumlicher Hinsicht zunächst, dann aber vor allem in zeitlicher. Der „Chor der Toten", von dem Conrad Ferdinand Meyer spricht, schwillt durch die Schriftlichkeit gewaltig an und gewinnt durch sie an Echtheit und Präzision. Er wird zum Wortlaut. Diese gewaltige Leistung der Schrift hat ihren Preis. Um diesen geht es hier. Die Forderung nach Sprechnähe findet sich schließlich auch in vielen Stillehrbüchern, etwa in der ebenso viel gelesenen wie geschmähten „Stilkunst" von Ludwig Reiners. In zwei Kapiteln wird diese Forderung explizit zum Gegenstand, in dem Kapitel „Papierstil" und einem anderen, das charakteristischerweise wieder mit „Leben" überschrieben ist (L. Reiners 1961, 1 9 0 - 2 1 2 , 2 6 3 - 2 8 7 ) . Gewiß sind all diese Stellen, die immerhin die historische Dimension des Problems umreißen, ein wenig „aufgerafft". Sie bedürften der Vervollständigung und der behutsamen Interpretation innerhalb ihres jeweiligen Zusammenhangs. Natürlich ist in ihnen nicht immer dasselbe gemeint; sie reagieren auf Verschiedenes, stoßen sich an Verschiedenem und divergieren somit bereits hierin. Seit jeher gab es ja das „genus humile" und das „plane dicere", den mittleren, neutralen, mit „ornatus" nicht versehenen Stil. Neu scheint, vom 16. und 17. Jahrhundert an, daß von hier aus zunehmend eine Verbindung hergestellt wird zum Mündlichen. Vielleicht ist dies auch im Zusammenhang mit dem Buchdruck und der durch ihn bedingten Verbreitung des Lesens zu sehen. Unsere
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Maxime setzt einen Akt der Bewußtwerdung voraus, der in der eingangs angeführten Shakespeare-Stelle bereits greifbar wird: „now is he turned orthography".
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Die sachliche Schwierigkeit der Forderung „Schreibe, wie du redest!" liegt schlicht darin, daß Schreiben nicht Reden ist. Schreiben kann daher nicht — jedenfalls nicht schlechthin — wie Sprechen sein. Die Frage kann somit nur lauten: Wie ist das Wie der Anweisung zu fassen, damit sie einen berechtigten Sinn erhält? Bemerkenswert scheint mir hier wiederum Nietzsches Formulierung zu sein „Schreiben muß eine Nachahmung sein". Diese Formulierung impliziert, daß lediglich „Nachahmung" möglich ist, daß also zunächst und überhaupt prinzipielle Diversität besteht. Das Wie der Anweisung kann nicht als Gleichsetzung, sondern nur im Sinne der Imitation desselben in einem differenten Medium verstanden werden. Von großer Hilfe für die Klärung des Verhältnisses zwischen gesprochener und geschriebener Sprache ist eine von Ludwig Söll vorgeschlagene doppelte Unterscheidung. Im Bereich des Mediums muß unterschieden werden zwischen dem Phonischen und dem Graphischen: zwei mögliche ins jeweils andere Medium transponierbare Formen der Realisierung für das Sprachliche. Sodann muß eine Unterscheidung a n d e r e r Art getroffen werden, und zwar hinsichtlich der sprachlichen Anlage, der kommunikativen „Konzeption" einer Äußerung, unabhängig — insoweit — vom Medium: das Gesprochene, das Geschriebene (L.Söll 1974, 11—43). Die erstere Unterscheidung bezieht sich also auf das Medium, die zweite auf die Konzeption. Das von der Konzeption und ursprünglichem Medium her Schriftliche kann akustisch
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realisiert, und das von der Konzeption und vom ursprünglichen Medium her Mündliche kann aufgeschrieben werden, und sei es nur im Sinn einer linguistischen Transkription. Weder brauchen sich das konzeptionell und das medial Schriftliche (das Graphische) noch das konzeptionell und das medial Mündliche (das Phonische) immer zu decken. Ich kann zum Beispiel im Phonischen konzeptionell schriftlich vorgehen und umgekehrt. Damit ist natürlich die Selbstverständlichkeit nicht bestritten, daß das Gesprochene dem Phonischen und das Geschriebene dem Graphischen in besonderer Weise zugeordnet sind. Jene doppelte Unterscheidung ist auch deshalb wichtig, weil es, was das Medium angeht, nur ein eindeutiges Entweder-Oder gibt, eine Dichotomie, während im konzeptionellen Bereich von einer Art Kontinuum auszugehen ist; es gibt, konzeptionell gesehen und ganz unabhängig vom Medium, extreme Mündlichkeit und extreme Schriftlichkeit, gehend etwa von einem familiären Gespräch auf der einen Seite bis hin zu einem Gesetzestext oder einer Verwaltungsvorschrift auf der anderen. P. Koch und W. Oesterreicher sprechen in einem bemerkenswerten Aufsatz in dieser konzeptionellen Hinsicht von einer „Sprache der Nähe" und einer „Sprache der Distanz" (P. Koch, W. Oesterreicher, 1985). Die Frage, inwiefern Schreiben etwas anderes sei als Sprechen, muß, von diesen Unterscheidungen ausgehend, so formuliert werden: Weshalb führt das Medium Schrift zur Konzeption Schriftlichkeit? Inwiefern fällt das Sprachliche dadurch, daß es aufgeschrieben wird, einer Transformation im Sinne einer (mehr oder weniger ausgeprägten) Schriftlichkeit anheim? Vom Medium her wäre zunächst zu präzisieren, daß wir hier keineswegs die schlichte Dichotomie Ohr und Auge, akustisch und optisch vorfinden. Das Gesprochene erscheint ungleich komplexer als das Geschriebene; es ist eigentlich b i m e d i a l im Unterschied zu dem unimedialen Geschriebe-
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nen, denn während sich das Geschriebene nur an das Auge wendet, wendet sich das Gesprochene lediglich primär an das Ohr, dann aber auch, jedenfalls bei der Facies-ad-faciemUnterhaltung, an das Auge. A. Gil und H. Scherer unterscheiden in einer interessanten Analyse zusätzlich zu dem, was sich akustisch ereignet, Mireme (Blickverhalten), Mimeme, Gesteme, Proxeme (Näherungsverhalten) und Pantomimeme (Imitationsverhalten). Dies erscheint kompliziert, ist aber vermutlich noch nicht kompliziert genug (A. Gil/H. Scherer 1984; hierzu auch E. Oksaar 1985, 6 - 2 0 ) . Es besteht hier zwischen Sprechen und Schreiben, rein medial gesehen, eine Asymmetrie. Das Auge dominiert beim Lesen stärker und ausschließlicher als das Ohr beim Aufnehmen des Gesprochenen. Andererseits enthält das Geschriebene, schon rein medial, einen Appell an das innere Ohr, jedenfalls wenn es sich um Alphabetschrift handelt, deren Pointe ja eben darin besteht, daß sie Signifikanten und nur Signifikanten reproduziert. Dies hindert aber nicht, daß das Sprechen insgesamt komplexer, elusiver ist als das Schreiben, das sich gezwungen sieht, sich gleichsam auf das rein Sprachliche zurückzuziehen und auch von diesem rein Sprachlichen nicht alles, sondern eigentlich nur das Segmentelle abzubilden vermag. Betrachtet man, vom Medium her, die Unterschiede zwischen dem Geschriebenen und dem Gesprochenen, sind zunächst die unvermeidbaren Defizienzen des Geschriebenen hervorzukehren. Es sind einerseits m a t e r i e l l e Defizienzen, andererseits i n h a l t l i c h e . Unter den materiellen verstehe ich akustische und optische Signifikanten, die im Geschriebenen nur fehlen können: Wechsel in der Stärke des Atemdrucks (dynamischer Akzent, „stress"), Wechsel in den Tonhöhenebenen (musikalischer Akzent, „pitch"), Wechsel der Tonhöhe im kontinuierlichen Sinn der sogenannten Intonation („clause terminals"), Pausen. Bis hierher handelt es sich sogar um Elemente mit einem möglichen phonematischen Wert
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(ein „klassisches" Handbuch wie etwa H. A. Gleason, An Introduction to Descriptive Linguistics, New York 1955, redet in bezug auf stress, pitch, clause terminals und open transition schlicht von „Phonemen"). Hinzu kommen nun aber weitere materielle in der Schrift so gut wie nicht reproduzierbare Elemente: Wechsel in der Lautstärke, Wechsel in der Geschwindigkeit der Artikulationsbewegungen, das komplexe Phänomen des Rhythmus, sowohl im Sinne des festgelegten Sprachrhythmus als auch in dem des individuellen und dann okkasionellen Sprechrhythmus, dann der individuelle Klang der Stimme, ihr okkasioneller Klang (weich, schroff, trocken, schneidend, staccato und so fort), das Altersspezifische, das Geschlechtsspezifische der Stimme, dann das durch den Blick, den Gesichtsausdruck, die Gestik, den Grad der Annäherung und durch imitatives Verhalten Ausgedrückte. Schließlich — und ganz besonders — die akustisch optische Riickkoppelung, also die akustisch und optisch wahrnehmbare Reaktion des Hörers, die auf das Gesagte ständig zurückzuwirken vermag. An inhaltlichen Defizienzen sind zu verzeichnen zumindest der als gemeinsam wahrgenommene situationelle Kontext, dann der wiederum als gemeinsam vorausgesetzte soziokulturelle Kontext. Es handelt sich hier um inhaltliche Elemente, weil es nicht um die objektiven, sondern um die w a h r g e n o m m e n e n Kontexte, also um psychische Größen geht. Sucht man nach einem veranschaulichenden Beweis für die Bedeutung dieses beträchtlichen Negativkatalogs (er umfaßt rund zwanzig Punkte), braucht man nur an den Spielraum eines Schauspielers zu denken: Wort für Wort steht fest, was Philipp im „Don Carlos" zu sagen hat, und doch: wie verschieden kann diese Figur, allein durch die genannten Mittel — „angelegt" sein, wie verschieden die Wirkung! Es stellt sich hier für das Geschriebene zunächst die Aufgabe der Schaffung von Substituten für solche Defizienzen.
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Sodann muß man sich vergegenwärtigen, daß das Geschriebene, um die kommunikative Absicht zu erreichen, rein sprachlich gesehen — sonst hat das Geschriebene nichts zur Verfügung — einen höheren Aufwand benötigt. Dieser nötige höhere Planungsaufwand des Geschriebenen ist nun aber in einem so außerordentlichen Maß möglich, wie er zum Zweck des puren Verstandenwerdens keineswegs nötig wäre. Die medialen Rahmenbedingungen für das Geschriebene enthalten nicht nur Negativa, sondern auch bemerkenswerte Positiva: es steht im Normalfall ungleich mehr Zeit zur Verfügung, im Zusammenhang damit steht die durch die Schrift nicht nur ermöglichte, sondern auch e r z w u n g e n e höhere Bewußtheit, hierzu kommt der eigentümliche Rückzug des Schreibenden auf sich selbst, der dem des Lesenden entspricht, genauer: der Schreibende zieht sich, sich von seiner Umwelt abwendend, zurück auf den realen oder fiktiven Adressaten, der Lesende zieht sich auf den Absender, dem er sich zuwendet, zurück. Eine eigentlich rein technische Möglichkeit von enormer Bedeutung darf nicht übersehen werden: die Möglichkeit, im Geschriebenen, der Korrekturverwischung; korrigieren kann man sich gewiß auch beim Sprechen, man kann sich materiell verbessern, wenn man sich versprochen hat, und man kann in wiederholten Anläufen, was man sagt, zur Deckung bringen mit dem, was man eigentlich sagen will; aber eines kann man nicht: so tun nämlich, als hätte man sich nicht verbessert. Eben dies erlaubt das Schreiben und gibt ihm so — wiederum rein sprachlich — eine Intensität, die dem Gesprochenen, wenn es ohne Vorbereitung erfolgte, abgehen m u ß . Genauer: das Gesprochene bezieht seine mögliche Intensität anderswoher. Von hier aus wird deutlich, welche Möglichkeiten eine Rede hat, die als genau schriftlich vorbereitete (und bei dieser Vorbereitung auf mündliche Realisierung zielend) die Intensität des Schriftlichen mit der ganz anders gearteten des Mündlichen
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zusammenbringen kann. Die Frage, ob das Entstehen der Rhetorik, in der ersten Hälfte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts, mit dem Aufkommen der Schriftlichkeit etwas zu tun habe, wurde noch nicht systematisch gestellt; für Walter J . Ong ist der Fall klar: „as a reflective; organized ,art' of science ... rhetoric was and had to be a product of writing" (W. J . Ong 1982, 9). Aber Ong sagt dies nur; er zeigt es n i c h t . . . Sodann ist das Geschriebene gekennzeichnet durch Negativa, die sich positiv auswirken können oder die, je nachdem, so oder so bewertet werden mögen: der Druck, unter dem das Geschriebene steht, ist in aller Regel ungleich stärker als der, dem das Gesprochene im Normalfall unterliegt. Wir haben hier den Druck der Sprachnorm, dann den der Textart, den der Vorbilder, der literarischen Tradition — im Extremfall — insgesamt. Diesen Extremfall veranschaulicht eine Äußerung von Botho Strauss: „Man schreibt einzig im Auftrag der Literatur. Man schreibt unter Aufsicht alles bisher Geschriebenen". Strauss fügt aber — und dies ist glaubwürdiger — noch hinzu: „Man schreibt aber doch auch, um sich nach und nach eine geistige Heimat zu schaffen, wo man eine natürliche nicht mehr besitzt" (B. Strauss 1981,103). Die unterschiedlichen, allein schon medial gesetzten Rahmenbedingungen, die außerordentlichen Möglichkeiten, die diese Bedingungen eröffnen, führen nun, quasi automatisch, zu einer — kommunikativ gesehen — Ü b e r s c h ü s s i g k e i t des Planungsaufwands, sie führen zu sprachlicher Elaboriertheit, zu konzeptioneller Schriftlichkeit, zur fortschreitenden Trennung des Geschriebenen vom Gesprochenen, so daß schließlich, neben der weiter fortbestehenden Sprechsprache, zusätzlich eine Schreibsprache entsteht, die dann sogar, worauf bereits unsere Shakespeare-Stelle deutete, über das Sprechen selbst Gewalt zu gewinnen vermag. Hier nun ist, in systematischer Hinsicht, in den medialen Bedingungen der Schriftlichkeit selbst, in dem, was aus ihnen
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für die Anlage des Sprachlichen folgt, als eine R e a k t i o n , der permanente Ansatz für die stilistische Anweisung „Schreibe, wie du redest!". Es gibt immer wieder in verschiedener Weise (je nach den spezifischen Bedingungen) die Disjunktion Sprechnähe und Sprechferne. Wenn nun aber einmal ein bestimmter Grad von Bewußtheit erreicht ist bezüglich des Unterschieds zwischen Gesprochenem und Geschriebenem, wird sich, in dieser Disjunktion, leicht diese Reaktion auf Unbeholfenheit im Geschriebenen einstellen: aber du kannst doch sprechen, kannst dich doch sprechend verdeutlichen, also mußt du doch auch schreiben können, wenn du nämlich einfach so schreibst, wie du sprichst. Was die Ubiquität dieser Reaktion angeht, ist zu beachten, daß die Kennzeichen des Geschriebenen wie auch insbesondere die des Gesprochenen zu einem sehr erheblichen Teil gar nicht sprachspezifisch, sondern universell sind (hierüber, besonders deutlich, P. Koch 1985). Für die Ubiquität unserer Anweisung ein Beispiel (ich verdanke es Bert G. Fragner): Um das Jahr 1830 traten in Persien „Aufklärer" hervor; sie forderten unter anderem eine höhere Effizienz der Verwaltung; die Kanzleibeamten, hieß es, sollten in ihren Äußerungen auf den blumigen und metaphernreichen, aber inhaltsarmen Stil verzichten und fortan „so schreiben, wie sie reden"; diese Forderung war es, die der Kronprinzenwesir Qä'im-Maqäm von seiner Residenz in Täbris aus erhob. Gewiß macht es sich die Anweisung „Schreibe, wie du redest!" zu leicht, denn es ist alles andere als einfach, unter den Bedingungen der Schriftlichkeit mit dem — übrigens auch nicht immer leichten — Sprechen gleichsam bloß fortzufahren. In ihrem Kern geht es bei dieser Anweisung um Natürlichkeit. Diese zu erreichen oder nicht zu verfehlen, ist schwer. Und sie ist ja, für sich selbst, auch nicht ausreichend. Es kommt darauf an, wer natürlich ist. Davon aber abge-
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sehen, bleibt richtig, was Pascal so formuliert: „Wenn man einen natürlichen Stil antrifft, ist man erstaunt und entzückt, denn man hat einen Autor erwartet und findet einen Menschen. Ungekehrt glauben diejenigen, die guten Geschmack haben, wenn sie ein Buch sehen, einen Menschen zu treffen und sind sehr überrascht, wenn sie auf einen Autor stoßen ...", „Quand on voit le style naturel, on est tout étonné et ravi, car on s'attendait de voir un auteur, et on trouve un homme. Au lieu que ceux qui ont le goût bon, et qui en voyant un livre croient trouver un homme, sont tout surpris de trouver un auteur ..." (B. Pascal 1961, 79/80). Es war hier die Rede von einer stilistischen Norm für das Schreiben. Ist aber diese Ausdrucksweise nicht tautologisch? Ist, was wir „Stil" nennen, nicht primär eine Eigenschaft des Geschriebenen? Stil in dem doppelten Sinn des sich Einfügens in eine bestimmte Norm- und Formerwartung und in dem der persönlichen Eigenprägung: „style in the sense of what is distinguished and distinguishing" (Ε. B. White im exzellenten Bändchen W. Strunk, Jr. / Ε. B. White, The Elements of Style, S. 59). Also: Distinktion und Distinktheit. Vom Wort her, etymologisch, liegt der Zusammenhang zwischen Stil und Schreiben buchstäblich auf der Hand (nota bene: wir sagen, vom Alphabet her gedacht, „buchstäblich" und meinen „wörtlich"). Das lateinische „stilus" meint zunächst etwas Landwirtschaftliches: einen spitzen Pfahl oder Stift, auch einen pflanzlichen Stiel, etwa einen Spargeltrieb; metaphorisch wird mit dieser Bedeutung der Schreibgriffel bezeichnet, jenes Utensil also, aus Metall, Holz oder Horn mit den bekannten zwei Enden: eines zum Schreiben, ein anderes zum Verwischen („stilum vertere", „den Griffel umdrehen" heißt „verbessern"). So wird also bereits im Utensil das entscheidende Element des Schreibens greifbar: die Möglichkeit der Korrekturverwischung. Eine weitere Metapher führt vom Schreibgerät zur Bedeutung „Schreibart", „Stil". Also zwei
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aufeinanderfolgende Metaphern: „Pfahl", „Schreibstift", „Schreibart". Aber die Frage ist, ob unabhängig von der Etymologie ein historischer und fortdauernd systematischer Zusammenhang bestehe zwischen dem Schreiben und dem Phänomen „Stil". Ist dies Phänomen bedingt oder gefördert durch Schriftlichkeit, durch die spezifische Verdinglichung des Gesagten, die die Tatsache, daß es a u f g e s c h r i e b e n wird, bewirkt? Das Geschriebene, das „manu scriptum" ist ja in e i n e r Hinsicht ein wirkliches Ding, eine Handarbeit. Und dies gilt auch noch für das Typoskript. Freilich: es ist ein Ding spezifischer Art, einer Handarbeit anderer Art, etwa einer Perlenkette oder einer Spange, keineswegs gleichzusetzen. Hängt also „Stil" mit solcher Verdinglichung zusammen? Reden wir von „Stil" anderswo — im Blick auf Bauwerke, Musik oder auch Gesprochenes — letztlich in einem vom Schreibstil abgeleiteten Sinn? Diese Fragen sollen hier nur aufgeworfen werden. Klar ist jedenfalls dies: beim Sprechen zeigt sich weit unmittelbarer als beim Schreiben die o k k a s i o n e l l e Verfassung des Produzenten; beim Schreiben, das ja nahezu immer, verglichen mit dem Sprechen, etwas Zurechtgemachtes hat, zeigt sich mehr das Konstante, die konstante, auch im artifiziellen Sinn produzierte Eigenheit des Produzenten. Stil in diesem Sinn, nämlich bewußt hergestellter Eigenprägung, meint die berühmteste und meistbemühte Äußerung über den Stil, nämlich die des Grafen Buffon: „Le style est l'homme même". Mit diesem Satz aus seinem „Discours sur le style" aus dem Jahr 1753 sagte Buffon objektiv mehr als er subjektiv sagen konnte. Der Satz ist nicht die ganze Wahrheit hinsichtlich des Stils, aber er ist wahr. Ein witziger Franzose, Pierre Guiraud, hat den Tatbestand so umschrieben: „Was immer Buffon auch sagen mag, der Stil ist der Mensch selbst", „Quoiqu'en dise Buffon, le style est l'homme même". Natürlich dachte auch Buffon nur an Geschriebenes.
Ironie als sprachliche Handlung Inger Rosengren 0. Einleitung Liebevolle Ironie, spöttische Ironie, sarkastische Ironie: alles Varianten der Ironie, mit denen man sich von der Umwelt distanzieren kann, um zugleich auf sie einzuwirken und sie zu bewältigen. Distanz und Engagement zugleich. Die Ironie ist ein kommunikatives Machtmittel. Sie fällt aus dem Rahmen der Griceschen Maximen, indem etwas gesagt wird, jedoch das Gegenteil bzw. etwas anderes gemeint ist. So die traditionelle Definition. Sie ist deshalb nicht vergleichbar mit z. B. der Metapher, der Metonymie, der Hyperbel usw., neben die sie oft gestellt wird. Durch die Ironie wird kommunikativ gehandelt, wird in die Beziehungen zwischen Menschen eingegriffen. Aus dieser ihrer kommunikativen Funktion heraus wird erst richtig verständlich, daß sie zwar eine bestimmte Art des sprachlichen Handelns ist, aber zugleich auch eine Lebenshaltung sein kann. Wenn die Ironie nun aber eine kommunikative Handlung ist, muß sie auch irgendwie in Beziehung gesetzt werden können zu anderen kommunikativen Handlungen. Offensichtlich kann man die kommunikative Funktion der Ironie nicht aus der Semantik und Syntax der Sätze ableiten, die dazu verwendet werden, um die ironisch gemeinte Sprachhandlung zu realisieren. Ein Satz wie „Da hast du mir wirklich eine Freude gemacht" weist keine Merkmale auf, die uns erlauben zu schließen, daß es sich um Ironie handelt. Wenn es aber keine syntaktisch-semantische Frage ist, müßte es sich
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doch wohl um eine pragmatische Frage handeln. Ist die ironische Äußerung vielleicht ein speech act im Searleschen Sinn? Oder handelt es sich um eine ganz andere Art von kommunikativer Handlung? Diese Frage wurde in letzter Zeit in der linguistischen Literatur öfter aufgegriffen. Die Antworten sind unterschiedlich und nicht immer überzeugend. Gemeinsam für diese Versuche von Seiten der Linguistik ist, daß man zwar von der Ironie als Sprechakt oder sprachlicher Handlung spricht, sie auch mehr oder weniger explizit sprachlich zu definieren versucht, daß man aber gewöhnlicherweise darauf verzichtet, ihr einen Stellenwert in einem konsistenten Sprachhandlungsmodell zuzuweisen. Die Ansätze, die es dazu gibt, reichen nicht aus, um sie als sprachliche Handlung zu erklären. Die Ironie muß auch irgendwie zu dem Begriff der sprachlichen Norm in Beziehung gesetzt werden. Heuristisch würden wir vielleicht sagen können: Die Ironie kommt dadurch zustande, daß die Norm der Aufrichtigkeit durch sie verletzt wird, indem etwas gesagt wird und das Gegenteil oder etwas anderes gemeint ist, daß aber diese Normverletzung paradoxerweise wiederum gerade die Norm ist, die die Ironie möglich macht. Eine pragmatische Normverletzung als Norm also. Eine denkbare Erklärung sicherlich. Sie beantwortet aber die oben gestellte Frage nicht. Die Ironie ist eine echte Herausforderung an die Sprachhandlungstheorie. Diese muß die Ironie im Rahmen ihres Systems konsistent unterbringen können, wenn man sie ernst nehmen soll. Im folgenden werde ich nun diesem Thema nachgehen. 1. Ironie und Lüge Welcher Platz gebührt der Ironie in einem Sprachhandlungsmodell?
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Um eine Antwort auf diese Frage zu erhalten, wird es sich lohnen, die bisherigen sprachwissenschaftlichen Erklärungen auszuwerten: Ehe wir jedoch auf die einzelnen Beiträge eingehen, soll hier kurz auf die traditionellen rhetorischen Definitionen der Ironie hingewiesen und eine erste Abgrenzung gegenüber der Lüge vorgenommen werden, die, wie sich zeigen wird, eine wichtige Rolle bei der Definition der Ironie spielt. In Knox (1973, 25 f.) werden vier Definitionen der Ironie angeführt, die sich keineswegs ausschließen: (a) das Gegenteil von dem sagen, was man meint, (b) etwas anderes sagen, als man meint, (c) tadeln durch falsches Lob und loben durch vorgeblichen Tadel, (d) jede Art des Sich-Lustigmachens und Spottens. Wenn wir vorerst von der letzten Definition absehen, die offensichtlich mehr umfaßt als das, was man normalerweise zur Ironie zählen will, und — wenn sie für den Begriff der Ironie relevant gemacht werden soll — die anderen Definitionen voraussetzt, können wir uns wohl einig sein, daß die drei anderen Definitionen verschiedene Seiten der Ironie abdekken, wenn auch vielleicht nicht alle Arten der Ironie umfassen. Die erste Definition weist auf eine Eigenschaft der Ironie hin, die sie mit der Lüge gemein hat. Die zweite Definition schließt die erste in sich ein. Die dritte Definition fokussiert eher das Ziel, das der Sprecher mit der ironischen Äußerung verfolgt. Keine der Definitionen grenzt die Ironie jedoch von der Lüge ab. Bei Muecke (1982, 35) wird gerade dieser Aspekt aufgegriffen: „Deceptions, such as lies, hoaxes, hypocrisy, white lies and equivocations, which purport to convey a truth but do not, may also be seen as contrasts of appearance and reality. But since they are not thought of as irony, it is evident that irony has some other element or elements besides this contrast. That irony and deception are close neighbours is clear from the Latin for irony: dissimulatio (as well as
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ironia). [...] But the modern ironist [...] dissembles or rather, pretends, not in order to be believed but, as has been said, in order to be understood. In deceptions there is an appearance that is proffered and a reality that is withheld, but in irony the real meaning is meant to be inferred either from what the ironist says or from the context in which he says it." Mueckes Definition zeigt, daß die Ironie etwas mit dem Wahrheitsbegriff oder besser: mit dem Wahrhaftigkeitsbegriff (zu diesem Begriff, s. Falkenberg 1982, 54ff.) zu tun hat. Das, was der Sprecher sagt, ist ja nicht wahr, bzw. der Sprecher ist nicht wahrhaftig. Er lügt aber nicht, da er nicht die Absicht hat, daß der Hörer glauben soll, was er sagt. Er soll genau das Gegenteil oder etwas anderes glauben. Lüge und Ironie haben also ein Merkmal gemein, unterscheiden sich aber in einem anderen. Wir können dies vielleicht folgendermaßen formaler fassen (vgl. hier auch Falkenberg 1982, 71 ff.): Lüge:
Sprecher behauptet p, glaubt aber -p; Hörer soll ρ glauben. Ironie: Sprecher behauptet p, glaubt aber -p; Hörer soll -p glauben. Diese Definition umfaßt nur Behauptungen. Behauptungen bestehen aus einer illokutiven Rolle und einem propositionalen Gehalt. Die illokutive Rolle gibt die propositionale — bei Behauptungen die epistemische bzw. doxastische — Einstellung des Sprechers zu dem propositionalen Gehalt wieder. Der Sprecher weiß bzw. glaubt, daß p. Was unter Lüge zu verstehen ist, wissen wir recht gut (vgl. hier u. a. Weinrich 1966 und Falkenberg 1982). Es ist klar, daß man nicht an das zu glauben braucht, was man behauptet, um es behaupten zu können. Es ist auch klar, daß man, wenn man etwas behauptet, zu verstehen gibt, daß man an das glaubt, was man behauptet. Wenn man lügt, hat man wie bei wahrhaftigen Behauptungen die Absicht, daß der Hörer
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glauben soll, was man behauptet. Die vollzogene Sprachhandlung ändert sich mit anderen Worten nicht. Eine Behauptung ist auch dann noch eine Behauptung, wenn man durch sie lügt. Lügen kann man nach Falkenberg (1982, 101) nur mit Hilfe von Behauptungen, weil nur durch Behauptungen ein Glaube zum Ausdruck gebracht wird. Da Lügen immer Behauptungen sind, haben sie auch dieselben Glückens-, Gelingens· und Erfolgsbedingungen wie Behauptungen. Falkenberg (1982, 107) gibt sie folgendermaßen wieder: 1) Die Äußerung von s war als Lüge von A geglückt nur wenn A hat dadurch, daß er s geäußert hat, behauptet, daß ρ 2) Die Lüge von A war gelungen nur wenn (a) A hat behauptet, daß ρ (b) Β hat erkannt, daß A behauptet hat, daß ρ 3) Die Lüge von A war erfolgreich nur wenn (a) A hat behauptet, daß ρ (b) Β hat erkannt, daß A behauptet hat, daß ρ (c) Β hat den aktiven Glauben, daß p, u. a. weil (b) Die Lüge kommt also dadurch zustande, daß der Sprecher nicht selbst an das glaubt, was er behauptet. Eine Lüge ist es also auch dann, wenn sie dem Sprecher nicht gelingt und er mit ihr keinen Erfolg hat. Aus dieser Analyse ergibt sich eindeutig, daß die Lüge kein Sprachhandlungstyp neben ζ. B. der Behauptung ist. „Die Lüge ist kein besonderer illokutionärer Akt, sondern ein Behauptungsakt unter der zusätzlichen Bedingung, daß der Behauptende unwahrhaftig ist." (Falkenberg 1982, 99) Das, was die ironische Behauptung von der Lüge unterscheidet, ist nun gerade, daß der Sprecher nicht will, daß der Hörer glauben soll, was er behauptet. Er soll irgendwie
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das Gegenteil oder etwas anderes glauben. Die Glückens-, Gelingens-, und Erfolgsbedingungen sind also nicht dieselben wie bei der Behauptung und der Lüge. Hier stellt sich dann die Frage, was der Sprecher eigentlich behauptet, wenn er eine ironische Behauptung vollzieht: das, was er sagt, oder das, was er meint? Ist es überhaupt möglich, zu behaupten, was man meint, ohne es zu sagen? Wenn die Lüge eine Behauptung ist, auch wenn sie nicht gelingt und erfolglos bleibt, gilt dies vielleicht auch von der ironischen Behauptung. Falkenberg unterscheidet zwischen ernsthaft/nicht ernsthaft und wörtlich/nicht wörtlich. Die Lüge sei ernsthaft und wörtlich, die Ironie ernsthaft und nicht wörtlich gemeint. Die Frage der Wörtlichkeit bzw. der Nicht-Wörtlichkeit ist aber, wie sich zeigen wird, problematisch. Es leuchtet nicht ohne weiteres ein, daß der Ironiker eine nicht-wörtliche/ übertragene Bedeutung zum Ausdruck bringt. Wörtlich/ nicht-wörtlich scheinen semantische Begriffe zu sein, die nicht ohne weiteres auf die Ironie zutreffen. Wir sind oben mit Falkenberg (1982) davon ausgegangen, daß man nur mit Hilfe von Behauptungen lügen kann. Ist das aber richtig? In Walsers „Brandung" verlangt Rainer von Halm, daß er ihm „in hochdeutscher Sprache [...] und in der Wirklichkeitsform, erste Person Einzahl verzeihen" soll. Halm macht das Schwierigkeiten aber „Halm wußte schon, daß er nachgeben würde. Er mußte einen Satz sagen, der ihm fremd war. [...] Er würde nachgeben. Er würde, von sich aus gesehen, lügen. [...] Also sagte er jetzt wirklich stöhnend: Ich verzeihe dir." (S. 126f.). Hat Halm recht, wenn er meint, daß er lügt? Die Antwort ist nicht ganz einfach. Genau wie bei Behauptungen wird ja eine Sprachhandlung vollzogen, die für ihren Vollzug nicht notwendigerweise die zu erwartende Einstellung beim Sprecher voraussetzt. Liegt die Einstellung nicht vor, könnte man vielleicht sagen, daß es nicht wahr ist, daß der Sprecher dem Hörer verzeiht und somit auch von
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einer Lüge sprechen. Gewöhnlicher ist jedoch, daß man von Unaufrichtigkeit spricht. Vielleicht sollte man zwischen Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit unterscheiden. Wir kommen auf diese Frage unten zurück. Auch Fragen und Aufforderungen bringen Einstellungen zum Ausdruck. Auf Fragen und Aufforderungen kann man aber noch weniger den Begriff der Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit applizieren. Mit diesen Sprachhandlungstypen kann man deshalb auch nicht lügen. Dagegen kann man sehr wohl mit ihrer Hilfe ironisch sein: (1) Ist das nicht aufregend? (wenn etwas langweilig ist) (2) Hast du dich geschnitten? (wenn jemand mit einem Messer gespielt hat) (3) Spann doch auch mal aus! (wenn jemand den ganzen Tag nichts getan hat) (4) Verschütte die Suppe diesmal sofort, dann sparst du dir die Schritte zum Tisch, (wenn jemand immer wieder etwas verschüttet) Diese Beispiele zeigen, daß die obige Definition der Ironie auf alle Fälle nicht ausreichen wird. Wie sehen bei (1) — (4) die Glückens-, Gelingens- und Erfolgsbedingungen aus? Der Sprecher will nicht einen Gegensatz zwischen dem, was er glaubt, und dem, was er sagt, hervorrufen. Heuristisch würden wir vielleicht sagen, daß der Sprecher gar nicht beabsichtigt, daß der Hörer die Fragen (1) und (2) als Fragen auffaßt. Auf solche Fragen erwartet man keine Antwort. Die Frage ist also nicht aufrichtig gemeint, verstößt damit gegen die Aufrichtigkeitsbedingung Searles. Worin unterscheidet sie sich dann aber von der rhetorischen Frage? Mit der Frage ist weiter eine negative Bewertung verbunden. Dasselbe gilt für die Aufforderungen (3) und (4). Kann man aber sagen, daß der Sprecher mit den Fragen (1) und (2) und den Aufforderungen (3) und (4) das Gegenteil von dem meint, was er sagt?
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Und was ist gegebenenfalls das Gegenteil? Hilft es uns, wenn wir statt Gegenteil „etwas anderes" sagen? Etwas anderes sagen wir aber auch, wenn wir eine indirekte Sprachhandlung vollziehen oder eine Metapher verwenden. Die Frage nach dem Erfolg ist ebenfalls nicht eindeutig zu beantworten. Bei (1) ist der Sprecher wohl erfolgreich, wenn der Hörer versteht, daß er etwas langweilig findet. Dies ist ein einfacher Fall, weil es sich um eine Bewertung handelt. Was macht aber den Erfolg von (2) aus? Ist der Sprecher von (3) erfolgreich, wenn der Hörer versteht, daß der Sprecher ihn faul findet, also den Tadel versteht, oder wenn er verspricht, mehr zu arbeiten, oder wenn er tatsächlich mehr arbeitet? Ist der Sprecher von (4) erfolgreich, wenn der Hörer den Tadel versteht, oder wenn er aufpaßt, oder erst, wenn er die Suppe tatsächlich nicht verschüttet? Vollzieht der Sprecher mit (1) und (2) eine Frage und mit (3) und (4) eine Aufforderung oder handelt es sich um ganz andere sprachliche Handlungen? Das letzte Beispiel weist schließlich darauf hin, daß die Proposition selbst als Indikator der Ironie aufgefaßt werden kann, wenn sie wie in diesem Fall eine Handlung benennt, die wohl in keiner Situation als wünschenswert betrachtet werden kann. Andrerseits ist ein Ironiesignal nicht notwendig, um die Ironie zu gewährleisten (anders Weinrich 1966, 63 ff.). Interessant ist schließlich, daß es den Lügner und den Ironiker gibt, jedoch weder den Metaphoriker und den Metonymiker noch den Bitter, Vorschlager, Verzeiher, Danker usw. Dies weist ebenfalls darauf hin, daß die Lüge und die Ironie Begriffe anderer Art sind als die gewöhnlichen rhetorischen Figuren, aber auch anderer Art als die gewöhnlichen Sprachhandlungen. Vielleicht sind es sprachliche Handlungen, die erst in einem Kommunikationsprozeß selbst entstehen und nur durch Einbeziehung dieses Prozesses konsistent definiert werden können.
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Hier soll noch auf die Drei-Personen-Theorie hingewiesen werden (s. Clyne 1974, 345, Löffler 1975, 122, Stempel 1976, 213, Groeben/Scheele 1984, 15 f.). Die erste Person (Sprecher) und die dritte Person (Hörer) verständigen sich über die zweite Person (das Ironieobjekt, das offenbar gar keine Person zu sein braucht). Wie man leicht versteht, können erste und zweite Person (Selbstironie) und zweite und dritte Person zusammenfallen. Ich verzichte im folgenden auf diese Distinktion, weil sie für die Definition der Ironie nicht notwendig ist. Notwendig sind immer ein Sprecher und ein Hörer. Zwischen ihnen läuft die Ironie ab.
2. Ist die ironische Äußerung eine indirekte, implizite oder uneigentliche Sprachhandlung? Während Lügen also ganz gewöhnliche Behauptungen sind, gilt dies nicht ohne weiteres von ironischen Behauptungen, Fragen und Aufforderungen. Sie sind nicht erfolgreich, wenn der Hörer glaubt, was der Sprecher sagt, die Frage beantwortet oder der Aufforderung Folge leistet. Andererseits können wir ironische Äußerungen auch nicht auf dieselbe Stufe stellen wie andere Sprachhandlungen, z. B. Behauptungen und Bitten, denn wir können nicht ausmachen, worin ihre illokutive Rolle und ihr propositionaler Gehalt bestehen. Gegen eine Einstufung auf derselben Ebene wie die übrigen Sprachhandlungen spricht außerdem noch, daß fast jeder Sprachhandlungstyp ironisch angewendet werden kann (s. auch Eggs 1979, 420f.). Die ironische Äußerung ist also kein eigener Sprachhandlungstyp, sie ist aber auch keine gewöhnliche Behauptung, Frage, Aufforderung. Was ist sie dann? Unser Versuch, die Ironie im Rahmen der Sprachhandlungstheorie zu verankern, wird vorerst von der Sprachhand-
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lungstheorie zurückgewiesen. Irgendwie scheinen wir die Erklärung des Phänomens der Ironie in der falschen Theorie zu suchen. Das ist bedauerlich, da wir ja davon überzeugt sind, daß ironische Äußerungen sprachliche Handlungen sind. Wir versuchen es also nochmals. Irgendwie muß es doch möglich sein, die Ironie mit dem Begriff der Sprachhandlung in Verbindung zu bringen, ohne kontraintuitive Ergebnisse zu erzielen. In dieser Situation bleibt — scheint es — dann nur noch die Möglichkeit, die Ironie als indirekte, implizite oder uneigentliche/übertragene/nicht-wörtliche Sprachhandlung zu betrachten. Zuerst zu dem Versuch, die Ironie als indirekte Sprachhandlung zu erklären. Es gibt mehrere voneinander divergierende Definitionen der indirekten Sprachhandlung. Allen gemeinsam ist aber, daß die indirekte Sprachhandlung durch eine Uminterpretation oder Umfunktionierung der illokutiven Rolle zustandekommt. Der typische Fall ist die Frage, die als Aufforderung intendiert ist: (5) Kannst du mir vielleicht das Messer reichen? Diskutiert wird, ob sich der propositionale Gehalt dabei auch ändert. Searle (1975) (vgl. auch Rosengren 1980 und 1986) bevorzugt eine enge Definition der indirekten Sprachhandlung und geht davon aus, daß die indirekte Sprachhandlung im Prinzip dieselbe Proposition wie die entsprechende direkte enthält, darüber hinaus aber bestimmte Bedingungen der intendierten Sprachhandlung verbalisiert (ähnlich auch Ehrich/Saile 1972, 258f.). (5) ist nach dieser Definition eine indirekte Sprachhandlung. Sökeland (1980) hat einen weiteren Indirektheitsbegriff und zählt zu den indirekten Sprachhandlungen auch solche Sprachhandlungen, deren propositionaler Gehalt von der intendierten Sprachhandlung abweicht (85 ff.). Er spricht dabei von implikativer Proposition (s. unten). Ganz abgesehen davon, daß Sökeland unter diesem
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Begriff viel Unterschiedliches zusammenfaßt, möchte ich hier an der engen Definition der Indirektheit aus sowohl theoretischen als auch methodischen Gründen festhalten. Es ist nun offensichtlich so, daß die ironische Äußerung nicht die so definierten Eigenschaften einer indirekten Sprachhandlung aufweist. Sie kann auch nicht durch eine direkte Sprachhandlung mit einer anderen illokutiven Rolle systematisch ersetzt werden. Eine ironische Frage wie die folgende (Groeben/Scheele 1984): (6) Ρ 2 fährt Ρ 1 im Lauf eines Gespräches an, daraufhin P I zu Ρ3: „Ist sie nicht sanft wie ein Engel?" (Nr. 112) kann deshalb nicht als indirekte Sprachhandlung im obigen Sinn verstanden werden. Die illokutive Rolle wird nicht umfunktioniert. Die Äußerung weist keine spezifischen Merkmale auf, die sie als ironisch markiert. Sie ist ohne Zweifel eine Frage. Andrerseits kann die obige indirekte Aufforderung (5) sehr wohl auch ironisch gemeint sein, obwohl sie indirekt ist. Das bedeutet aber, daß die ironische Aufforderung nicht neben die indirekte Aufforderung auf dieselbe Ebene gestellt werden kann. Die Definition der Ironie als eine indirekte Sprachhandlung wird deshalb auch von u. a. Ehrich/Saile (1972, 276 ff.) und Groeben/Scheele (1984, 30 ff.) mit Recht zurückgewiesen. Die Ironie scheint auf einer anderen und höheren Ebene zustandezukommen. Vielleicht ist die Ironie aber eine implizite Sprachhandlung? Die implizite Sprachhandlung (7) Es zieht. kann am ehesten als ein Schluß aus der vollzogenen Sprachhandlung erklärt werden (vgl. auch Ehrich/Saile 1972, 259 f., Zimmermann/Müller 1977, 342 ff.), wobei die vollzogene Sprachhandlung als eine Voraussetzung für die gemeinte
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Sprachhandlung aufzufassen ist. Hier würde man wohl nicht behaupten wollen, daß die vollzogene Sprachhandlung selbst eine Aufforderung ist. Sie ist eine Behauptung, die jedoch nur dann in dem aktuellen Kontext sinnvoll ist, wenn man gewisse Schlüsse aus ihr zieht, ζ. B. daß der Angesprochene die Tür schließen soll. Verglichen mit der ironischen Äußerung handelt es sich aber nicht um eine Sprachhandlung, die sozusagen durch eine ganz anders gemeinte Sprachhandlung zu ersetzen ist. Die Sprachhandlung (7) ist vom Sprecher gemeint. Er glaubt an das, was er sagt — vorausgesetzt, daß er nicht lügt — und er will, daß der Hörer daran glauben soll. Dieser Typ von Sprachhandlung kann durch die Gricesche konversationelle Implikatur erklärt werden. Bei der ironischen Äußerung handelt es sich nicht um einen solchen logischen Schluß aus einer Sprachhandlung über einen bestimmten Sachverhalt. Diese Ergebnisse scheinen darauf hinzuweisen, daß wir die Lösung unseres Problems definitiv nicht dort suchen können, wo wir Sprachhandlungen typologisieren, da jeder Sprachhandlungstyp im Prinzip ironisch angewendet, oder umgekehrt ausgedrückt, jede Sprachhandlung ironisch realisiert werden kann. Bleibt also noch das uneigentliche/übertragene oder nicht-wörtliche Sprechen. Die traditionelle Definition der Ironie baut am ehesten auf den Begriff der nicht-wörtlichen Bedeutung. Der Sprecher sagt etwas, meint aber etwas anderes. Kann man nun aber die Ironie tatsächlich mit demselben Begriffsinventar des nicht-wörtlichen Sprechens definieren wie ζ. B. die Metapher und die Metonymie? Nicht-wörtlich/übertragen/uneigentlich sind semantische Begriffe. Ein Wort, ein Syntagma oder ein ganzer Satz wird in einer anderen Bedeutung verwendet als die Bedeutung, die sich aus der lexikalischen Bedeutung der verwendeten Wörter ergibt. Irgendwie liegt aber eine solche Art der Übertragenheit bei ironischen Äußerungen nicht
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vor. Auch wenn es einer semantischen Theorie gelänge, den semantischen Begriff der Nicht-Wörtlichkeit oder Übertragenheit zu explizieren, wäre es deshalb immer noch keineswegs klar, daß man dadurch die Ironie erklären, d. h. die Ironie auf einen semantischen Nenner bringen könnte. Schon die Tatsache, daß man auch mit Hilfe einer Metapher ironisch sein kann, die ironische Äußerung aber keinerlei Merkmale aufzuweisen braucht, um ironisch aufgefaßt zu werden, weist darauf hin. Es liegt deshalb auf der Hand, die eventuelle Nicht-Wörtlichkeit der Ironie auf der pragmatischen Ebene zu suchen. Grice (1975) erklärt die Ironie mit Hilfe seines Begriffs der konversationeilen Implikatur. Ihm schließen sich nun auch Linguisten an wie Ehrich/Saile (1972, 276ff.), Berg (1977, 62ff.) und Groeben/Scheele (1984, 31 ff.). Wie Sperber/Wilson (1981) aber zeigen, kann die konversationelle Implikatur die Ironie nicht allein erklären. Sie weisen darauf hin, daß es ja nicht das Ziel des Ironikers ist, „something in addition" zu sagen, sondern „something instead" (S. 299). „The idea that an implicature could actually contradict the literal sense of an utterance — as it would in the case of irony — does not square with Grice's central claim that implicatures act as premises in an argument designed to establish that the speaker has observed the maxims of conversation in saying what he said." (S. 299). An anderer Stelle (S. 309) weisen sie außerdem darauf hin, daß die Gricesche Qualitätsmaxime, wahrhaftig zu sein, die Fälle nicht deckt, wo die Ironie durch andere Sprachhandlungen als Behauptungen zum Ausdruck gebracht wird. Dieser Einwand scheint mir aber nicht besonders relevant, da wir die Qualitätsmaxime in den aktuellen Fällen durch die Aufrichtigkeitsbedingung ersetzen können. Mit Recht ziehen aber Sperber/Wilson (1981) den Schluß, daß man die Ironie nicht allein als konversationelle Implikatur erklären kann, ohne den Begriff der Implikatur zu überziehen.
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Es gelingt also Grice nicht, den Begriff der Ironie in sein pragmatisches Konzept zu integrieren. Das bedeutet aber nicht, daß die konversationeile Implikatur ganz und gar als Erklärungsmöglichkeit wegfällt. Sperber/Wilson (1981, 309 f.) schlagen ihrerseits vor, die Ironie als echoartige Wiederholungen früherer Äußerungen zu betrachten. „The cases of mention are interpreted as echoing a remark or opinion that the speaker wants to charakterize as ludicrously inappropriate or irrelevant." (S. 310). Daraus implikatiere der Hörer nun völlig normal das Gemeinte. Diese Erklärung, für die schon einiges spricht, ist aber unnötig kompliziert und erlaubt uns auch nicht, alle Fälle zu erklären, ohne unhaltbare Annahmen über ein sehr abstraktes Echo zu machen. Wir werden unten sehen, daß die Annahme eines Echos nicht notwendig ist, um die Ironie zu erklären. Obwohl es also gute Gründe gibt, den Begriff der Griceschen Implikatur nicht ohne weiteres als Erklärungsgrundlage für die Ironie anzuwenden, bauen Groeben/Scheele (1984, 30 ff.) ihre Analyse der Ironie auf diesem Begriff auf. Nach Groeben/Scheele handelt es sich immer um eine Dissoziation des propositionalen Gehalts in der Form einer expliziten Affirmation und eines impliziten Dementis. Sie sprechen deshalb - anschließend an Ehrich/Saile (1972) und Berg (1978) — von einer implikativen Proposition, ziehen jedoch den Terminus uneigentlich-kontrastives Sprechen vor (eine vielleicht nicht ganz glückliche terminologische Entscheidung), worunter sie sowohl „das Gegenteil sagen" als auch „etwas anderes sagen" subsumieren. Ein propositionaler Kontrast muß bei der Ironie i. E. immer vorliegen. Mit ihm kann sich ein illokutiver Kontrast verbinden, muß es aber nicht. Sie betrachten einen solchen illokutiven Kontrast als eine indirekte Sprachhandlung, was also bedeutet, daß sie für die Ironie sowohl das direkte als auch das indirekte uneigentliche Sprechen postulieren. Eine solche Erweiterung des Begriffs
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der Indirektheit wurde aber schon oben zurückgewiesen. Es wäre dann nicht mehr möglich, systematisch zu unterscheiden zwischen einer indirekten Drohung, die mittels eines Versprechens realisiert wird, und einem ironischen Versprechen, bzw. zwischen einer indirekten Aufforderung in der Form einer Frage und einer ironischen Frage, ganz abgesehen davon, daß die indirekte Sprachhandlung außerdem selbst ironisch angewendet werden kann. Daß der propositionale Kontrast weder ein notwendiges noch ein hinreichendes Kriterium ist, zeigen schließlich Äußerungen, die ohne einen propositionalen Kontrast ironisch sein können: (8) (9) (10) (11)
Herzlichen Dank für deine heutige Intervention. Du darfst mir beim Aufwaschen helfen. Darf ich dir beim Aufwaschen helfen? Kannst du dir die Schuhe selbst anziehen (glaubst du)?
Die Äußerung (8) kann sehr wohl als ironischer Dank gemeint sein, ohne daß die Proposition sich irgendwie ändern müßte. Dasselbe gilt für die Erlaubnis in (9). Die Frage (10) kann auch ironisch gemeint sein, also keine aufrichtige Bitte um Erlaubnis sein. Der Kontrast ist in diesen Beispielen überhaupt nicht leicht auffindbar. Beispiel (11) ist besonders interessant, weil es sich entweder um eine indirekte Aufforderung oder aber um eine direkte ironische Frage handeln kann, jedoch nicht in erster Linie um eine indirekte ironische Aufforderung (vgl. oben (5)). Bei (11) fragt also der Sprecher, erwartet aber keine Antwort auf seine Frage, sondern will dem Hörer am ehesten sagen, daß er ihn faul findet und ihn deswegen auch tadelt. Die Ironie entsteht hier somit durch einen komplizierten Kontrast auf illokutiver Ebene, wobei die Proposition jedoch nicht kontrastiert wird. Das von Groeben/ Scheele (1984, Nr. 11) angeführte Beispiel, wo Freud ein
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Dokument unterzeichnen mußte, um ein Ausreisevisum zu erhalten, und die Gestapo bittet, am Ende einen Satz hinzufügen zu dürfen, ist ebenfalls interessant. Freud schreibt: (12) „Ich kann die Gestapo jedermann aufs beste empfehlen." Groeben/Scheele geben das implizite Dementi folgendermaßen wieder: (13) Alle Aussagen sind unter Zwang entstanden und falsch. Ich könnte mir noch eine Reihe anderer möglicher Dementis denken, die Freud mit seinem Satz gemeint haben kann. Die von Groeben/Scheele vorgeschlagene kann ich auch nur schwer als einen propositionalen Kontrast akzeptieren. Eher meine ich, daß der Kontrast in diesem Beispiel gerade darin liegt, daß Freud die Gestapo eben nicht jedermann empfehlen kann, also in der illokutiven Komponente der Sprachhandlung. Die Annahme Groeben/Scheeles, daß ein propositionaler Kontrast notwendiges und hinreichendes Kriterium für die Ironie ist, muß also zurückgewiesen werden. Die angeführten Beispiele zeigen eher, daß das, was auf der Sprachhandlungsebene abläuft, immer die ganze Illokution betrifft, indem der Hörer versteht, daß der Sprecher nicht meint, was er sagt, wenn er etwas behauptet, etwas fragt oder zu etwas auffordert. Wir können also feststellen, daß man die Ironie auch nicht ohne weiteres als nicht-wörtliches/uneigentliches Sprechen bzw. mit Hilfe der Griceschen Implikatur erklären kann. Wir wollen deshalb nach einer anderen aus sprachhandlungstheoretischer Sicht befriedigenderen Erklärung suchen. Zuerst jedoch ein paar Worte zu der syntaktisch-semantischen Struktur.
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3. Hat die ironische Äußerung eine bestimmte syntaktisch-semantische Struktur? Die meisten Linguisten, die den Begriff der Ironie zu definieren versuchen, gehen davon aus, daß im Prinzip jede Äußerung ironisch angewendet werden kann. Könnte es aber so sein, daß ironische Äußerungen ganz bestimmte syntaktisch-semantische Eigenschaften aufweisen? Einen solchen Ansatz findet man bei Oomen (1983). Sie geht von drei Hauptthesen aus: (a)
(b)
(c)
„Es wird behauptet, daß die pragmatischen Bedingungen ironischer Äußerungen ihre strukturellen Eigenschaften bestimmen. Es soll gezeigt werden, daß ironische Äußerungen ein ,Mehr' an Aussagekraft enthalten als die entsprechenden nicht ironischen Formulierungen. Aus diesem ,Mehr' an Aussagekraft soll die Motivation für die Verwendung ironischer Äußerungen und ihre Funktion im Diskurs abgeleitet werden." (S. 22)
Hier wenden wir uns vorerst der ersten These Oomens zu. Oomen will zeigen, daß nicht jede Äußerung ironisch verwendet werden kann, z. B. nicht die folgenden: (14) Alle hier angebotenen Waren sind unverkäuflich. (15) Erwachsene unter 12 Jahren bezahlen den halben Preis. (16) Inge gilt seit dem Tode ihres Mannes als verheiratet. (17) Frankreich liegt geographisch im Osten der Bundesrepublik. Aus der Unanwendbarkeit dieser Beispiele will nun Oomen schließen, daß die ironische Äußerung bestimmte sprachliche Merkmale aufweisen muß. Dies kann sie aber nicht ohne
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weiteres tun. Daß die von ihr angeführten Beispiele nicht ironisch angewendet werden können, wird vorerst dadurch erklärt, daß sie in sich widersprüchlich sind (angeboten: unverkäuflich usw.). Ironische Äußerungen sind wie Lügen normale semantisch konsistente Äußerungen. Die Gegensätzlichkeit wird ja bei ironischen Äußerungen gerade nicht sprachlich ausgedrückt, sondern erschlossen. Man kann also aus den obigen Äußerungen nicht schließen, daß „es irgendwelche sprachlichen — das heißt hier syntaktische oder semantische — Regeln für die angemessene Bildung ironischer Äußerungen geben" (S. 25) muß. Das hindert natürlich nicht, daß Oomen trotzdem recht haben kann, wenn sie ihre erste Bedingung formuliert: B.l Ironisch verwendbare Prädikate sind solche, durch die die subjektive Einschätzung eines Sachverhalts ausgedrückt wird. Falkenberg (1982, 103 f.) diskutiert u. a., ob man mit Hilfe von bewertenden Behauptungen lügen kann, und möchte die Frage mit ja beantworten. Mit einer Bewertung wie (18) Dieses Bild ist wunderschön. kann man vielleicht lügen. Nur nennt man es meist nicht so (vgl. hier die Diskussion zu verzeihen oben). Das hängt damit zusammen, daß man Lügen mit Aussagen über eine objektive Wirklichkeit verbindet, in diesem Fall, daß das Bild irgendwie objektiv wunderschön ist, daß es also wahr oder falsch ist, daß es wunderschön ist. Bewertungen sind aber subjektiv und entziehen sich doch wohl der Wahr/falsch-Dichotomie. Versucht man mit (18) zu lügen, bezieht sich deshalb die Lüge eher auf den Sprecher und seine Bewertung als auf das Bild. Der Sprecher will also dem Hörer glaubhaft machen, daß er das Bild wunderschön findet, nicht, daß es wunder-
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schön ist. Dem wirkt wiederum die Form der Äußerung entgegen, die als Behauptung und somit auch mit dem Anspruch, wahr(haftig) zu sein, auftritt. Es ist also nicht erstaunlich, daß wir bei unaufrichtigen bewertenden Behauptungen nicht gern von Lügen sprechen, jedoch auch nicht ohne weiteres behaupten können, daß man mit ihnen nicht lügen kann. Interessant ist nun, daß ironische Äußerungen oft gerade die Form der bewertenden Behauptung haben. Das Beispiel (18) würde sich somit eher als ironische Äußerung qualifizieren. Ausgehend von dieser Tatsache, versucht nun Oomen, die Prädikate näher zu bestimmen, die in ironischen Äußerungen vorkommen können. Sie meint zeigen zu können, daß nur faktive emotive, zuweilen auch faktive nicht-emotive Prädikate und gradierbare Prädikate in ironischen Äußerungen gebraucht werden können (wobei die faktiven Prädikate eine Teilmenge der gradierbaren Prädikate sind). Normalerweise werden auch positive Wertungen bevorzugt, was mit sich führt, daß man durch Ironie eher tadelt als lobt. Auch negative Prädikate können vorkommen, dann aber nicht als Dialogeröffnung. Nun läßt sich ziemlich leicht zeigen, daß die Definition Oomens viel zu eng ist. Sicherlich ist es so, daß gerade die von ihr genannten Prädikate öfter in ironischen Äußerungen vorkommen als andere. Ironische Äußerungen haben aber nicht immer gradierbare Prädikate. Ein paar Beispiele können dies zeigen: (19) Ich sehe, daß du die Suppe aufgegessen hast. Dies kann eine ironische Äußerung in einer Situation sein, wo zu erwarten ist, daß jemand (z. B. ein Kind) die Suppe hätte aufessen sollen. Folgendes Beispiel (aus Groeben/ Scheele, 1984, Nr. 9), als Aussage eines Kapitäns auf einem japanischen Schiff, das nicht durch den Panamakanal von Los
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Angeles nach New York darf, enthält auch kein gradierbares Prädikat: (20) Der Kanal wird repariert, zumindest für Schiffe unter japanischer Flagge. Das, w a s diese Äußerung ironisch macht, ist wohl doch, daß der Sprecher sehr wohl weiß, daß der Kanal nicht repariert wird, worauf auch die Folgeäußerung hindeutet. Auch wenn Oomens Annahme also nicht richtig ist, weist sie auf eine bestimmte Eigenschaft ironischer Äußerungen hin, die auch in anderen Untersuchungen thematisiert wird und die wohl der dritten rhetorischen Definition oben zugrundeliegt: daß mit jeder ironischen Äußerung eine Wertung verbunden ist. Wo es sich um Personen handelt, wird die Wertung als Tadel (nur ausnahmsweise als Lob) aufgefaßt. Bei anderen Sachverhalten liegt natürlich nur eine negative (ausnahmsweise eine positive) Wertung vor. Wenn wir davon ausgehen, daß mit jeder ironischen Äußerung eine Wertung abgegeben wird, können wir nunmehr zwischen zwei Typen ironischer Äußerungen unterscheiden: (a) Äußerungen, in denen eine Wertung explizit zum Ausdruck gebracht wird, jedoch nicht gemeint ist, und (b) Äußerungen, in denen keine Wertung sprachlich realisiert wird, trotzdem aber gerade durch die ironische Äußerung an den Hörer vermittelt wird. Der erste Typ, der auch expressive Sprachhandlungen wie ζ. B. den Dank umfaßt, ist der gewöhnlichste Typ und am leichtesten zu interpretieren. Der zweite Typ ist problematischer. Bei diesem Typ ist es oft schwer, das Gemeinte exakt zu erschließen. Oomen setzt sich auch das Ziel, zu zeigen, daß durch eine ironische Äußerung ein „Mehr" an Aussagekraft vermittelt wird als durch die entsprechende nicht-ironische Äußerung. Irgendwie muß man natürlich erklären können, daß ironische Äußerungen nicht einfach durch wörtliche Entsprechungen
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ersetzbar sind. Sie stellt fest: „Die wörtliche Formulierung drückt die Verhaltensnormen aus, nach denen der Angesprochene sich hätte ausrichten sollen oder die zu erfüllen er fälschlich beansprucht hat. Indem nun der Angesprochene die ironische Bedeutung aus der Diskrepanz zwischen wörtlicher Formulierung und tatsächlichem Verhalten konstruiert, wird gerade dieses Mißverständnis pointierter und schärfer als in gewöhnlicher Redeweise. [...] Die wörtliche Bedeutung ist also nicht einfach gelöscht, sondern die ironische Bedeutung baut gerade auf dem Spannungsverhältnis zwischen wörtlicher und abgeleiteter Bedeutung auf. Aus diesem Spannungsverhältnis ergibt sich das „Mehr" an Bedeutung der ironischen Äußerung. Dieses „Mehr" impliziert stets einen Verweis auf das Auseinanderklaffen von Erwartung und Wirklichkeit und damit auf eine Einstellung des Sprechers, mag es sich um Enttäuschung, Vorwurf oder Kritik handeln." (S. 35). Ganz abgesehen davon, daß ironische Äußerungen nicht immer auf das Verhalten des Hörers oder einer anderen Person abzielen, sondern sich sehr wohl auch auf andere Sachverhalte beziehen können, ist Oomens Vorschlag, der übrigens an die Echotheorie von Sperber/Wilson (1981) erinnert, nicht deckend. Vgl. folgendes Beispiel aus Groeben/ Scheele (1984, Nr. 68): 1 (21) Onkologische Station: Zwei Chirurgen unterhalten sich. Ρ 3: „Wir haben ja jetzt eine Psychologin auf der Station." Ρ1: „Ja, bald werden jetzt die Psychologen unsere Patienten heilen." Drückt Ρ 1 hier eine Verhaltensnorm aus? Mir scheint eine solche Erklärung hier nicht adäquat. Ähnlich verhält es sich wohl bei folgendem Beispiel:
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(22) Ρ 1 bemüht er bemerkt „Das sind (Nr. 118) Was wäre hier die
sich vergeblich, eine Lampe zu reparieren; halblaut: die Sachen, die uns glücklich machen." Verhaltensnorm?
Ohne Zweifel handelt es sich aber, wie Oomen feststellt, in diesen Beispielen um ein Auseinanderklaffen von Erwartung und Wirklichkeit. Auch dann, wenn der Sprecher sagt: (23) Mach nur so weiter! Oomen diskutiert schließlich noch die Motivation des Ironikers. Sie nennt vier solche Motivationen, auf die wir unten zurückkommen werden. 4. Die Ironie in einem Sprachhandlungsmodell Die bisherigen Analysen der Ironie haben gezeigt, (a)
daß die verschiedenen Erklärungsversuche als indirekte oder implizite Sprachhandlung oder als uneigentliches Sprechen zu kurz greifen, auch dann, wenn man das uneigentliche Sprechen als konversationelle Implikatur interpretiert;
(b)
daß die ironische Äußerung keine bestimmte syntaktisch-semantische Struktur aufweisen muß; daß mit der ironischen Äußerung immer eine Wertung verbunden ist.
(c)
Wir schließen daraus, daß die ironische Äußerung kein Sprachhandlungstyp neben anderen Sprachhandlungstypen ist, sondern daß die Ironie genau wie die Lüge mithilfe von Sprachhandlungen realisiert wird. Diese Sprachhandlungen bringen die mit ihnen verbundenen propositionalen Einstellungen zum Ausdruck. Um den ironischen Effekt zu erklären, können wir nun zu unseren eingangs gemachten Überlegungen zur Lüge zurückkehren.
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Typisch für die Lüge und für die ironische Behauptung ist also ein Verstoß gegen die Qualitätsmaxime Grices. Wie schon oben angedeutet wurde, reicht aber dieser Begriff nicht für unsere Zwecke, da er nicht ironische Fragen, Aufforderungen usw. erklären kann, die nicht wahr oder falsch sind. Wir ziehen ihm deshalb den Begriff der Aufrichtigkeitsbedingung vor, der auch die Lüge erklären kann. Wir wissen, daß der Lügner nicht will, daß der Hörer versteht, daß er nicht aufrichtig ist, während der Ironiker dies gerade beabsichtigt. In beiden Fällen wird aber das Ziel des Sprechers nicht sprachlich realisiert. In beiden Fällen handelt es sich um eine ganz normale, entweder direkte, indirekte oder implizite Sprachhandlung. Während die Lüge also dadurch zustande kommt, daß der Lügner den Widerspruch zwischen wirklicher und ausgedrückter propositionaler Einstellung verbergen will, kommt die Ironie dadurch zustande, daß der Ironiker diesen Widerspruch dem Hörer zu verstehen gibt. Wenn ihm das nicht gelingt, wird dieser die Ironie auch nicht auffassen. Der Widerspruch zwischen wirklicher und ausgedrückter propositionaler Einstellung und die Absicht, diesen Widerspruch an den Hörer zu vermitteln, sind also konstitutive Merkmale der Ironie (vgl. hier auch Eggs 1979, 418). Aus diesem Widerspruch ergibt sich auch die Wertung, die mit jeder ironischen Äußerung verbunden ist. Denn es liegt auf der Hand, daß der offene Widerspruch zwischen wirklicher Einstellung und zum Ausdruck gebrachter Einstellung, in Kombination mit der Bedeutung der Äußerung, gerade die wirkliche Einstellung hervorhebt und eine negative bzw. positive Wertung entstehen läßt. (Vgl. hier Oomen 1983, 30 und Sperber/Wilson 1981, 312, die die Wertung ähnlich erklären.) Die Normverletzung, die in der Verletzung der Aufrichtigkeitsbedingung liegt, ist somit die ironische Norm, die man kennen muß, um eine Äußerung als ironisch aufzufassen. Paradoxerweise ist der Ironiker aufrichtig, indem er die Auf-
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richtigkeitsbedingung verletzt. Gegenüber den bisherigen Erklärungsversuchen wollen wir also das schon in der Rhetorik genannte Kriterium des Gegenteil-Sagens nicht auf die Proposition der Äußerung und der aus dieser Proposition implikatierten Proposition, sondern auf die wirkliche und ausgedrückte propositionale Einstellung des Sprechers (nichtE bzw. E) applizieren. Es handelt sich somit nicht um einen propositionalen Kontrast, also nicht um nicht-p. Bei der Ironie ist diese Annahme der nicht-E notwendig, um alle ironischen Äußerungen auf einen Nenner zu bringen. Bestimmte ironische Sprachhandlungen sind gar nicht erklärbar, wenn man nicht von nicht-E ausgeht: ζ. B. die ironische Frage, der ironische Dank und die ironische Erlaubnis. (Auf die Frage, ob auch andere Äußerungen, denen nicht eine nicht-E zugrundeliegt, als ironisch einzustufen sind, wird unten zurückgekommen.) Sicherlich könnte man auch die Lüge so erklären, obwohl hier weniger wichtig ist, ob man von nicht-E oder von nicht-p spricht. Auch der Lügner wird jedoch wohl richtiger beschrieben, wenn man sagt, daß er ρ nicht glaubt, statt, daß er glaubt, daß nicht-p. Auf diese Frage soll hier jedoch nicht näher eingegangen werden. Da auch die Implikaturtheorie nicht auf die Annahme einer Verletzung der Aufrichtigkeitsbedingung verzichten kann, ist die hier vorgeschlagene Lösung die einfachere, indem sie nur einen Kontrast voraussetzt, den zwischen wirklicher und ausgedrückter Einstellung. Für folgende drei Typen von Sprachhandlungen, die Behauptung, die Frage und die Aufforderung, erhalten wir dann: Behauptung: Sprecher glaubt nicht, daß p, behauptet aber p; Frage: Sprecher weiß, das ρ oder nicht-p, fragt aber nach p; Aufforderung: Sprecher will nicht, daß p, fordert aber zu ρ auf.
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Aus der wirklichen Einstellung des Sprechers und seinen eigenen Kenntnissen der Situation schließt dann der Hörer, was der Sprecher eigentlich meint, aber nicht sagt. Das Gemeinte wird also nicht sprachlich ausgedrückt und setzt Hintergrundwissen über die individuelle Situation voraus. Es kann in einfachen Fällen in der Tat das Gegenteil des Gesagten sein, muß es aber nicht. Wie dem auch sei, es ist nicht adäquat, von einer übertragenen Bedeutung des zum Ausdruck Gebrachten zu sprechen. Das Gemeinte wird nicht von der vollzogenen Sprachhandlung an sich nahegelegt oder implikatiert, sondern von der Beziehung dieser Sprachhandlung zu der wirklichen Einstellung des Sprechers, die wiederum nur bekannt sein kann, wenn der Hörer den Sprecher, den Kontext und die Situation gut kennt. Natürlich können sprachliche oder außersprachliche Ironiesignale darauf hinweisen, wie der Hörer die Äußerung auffassen soll. Diese Signale machen aber die Äußerung nicht ironisch. Sie helfen nur, sie richtig zu interpretieren. Man kann also die Ironie nur so weit in ein Sprachhandlungsmodell einordnen, als man sie als einen Widerspruch zwischen wirklicher und ausgedrückter Einstellung, den der Sprecher mit seiner Äußerung dem Hörer zu verstehen geben will, erklärt und die verschiedenen Bedingungen nennt, die erfüllt sein müssen, damit der Sprecher erfolgreich ist. Die linguistische Analyse kann aber niemals voraussagen, was genau der Hörer aus einer ironischen Äußerung folgern muß, da dies von der individuellen Situation abhängig ist. Den Schluß, den der Hörer aus diesem Widerspruch zwischen wirklicher und ausgedrückter Einstellung des Sprechers zieht, könnte man nun als konversationelle Implikatur erklären, da es sich nicht darum handelt, auf das Gegenteil des Gesagten zu schließen, sondern auf etwas, was mit der wirklichen Einstellung des Sprechers kompatibel ist (s. hier vor allem Sperber/Wilson, deren Echotheorie aber nicht notwen-
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dig ist). Bei Bewertungen ist dies besonders einfach, da aus der Negierung der ausgedrückten Bewertung, aus der wirklichen Einstellung des Sprechers also, die gemeinte Bewertung des Sprechers leicht zu erschließen ist. Bewertung und Gemeintes fallen hier außerdem zusammen. Bei anderen ironischen Äußerungen kann es sehr kompliziert sein, das Gemeinte herauszukristallisieren, da es sich keineswegs, wie auch Groeben/Scheele (1984, 53 ff.) zeigen, um das Gegenteil zu handeln braucht, sondern eben um etwas anderes. Was dies andere aber ist, ist nicht immer leicht zu erraten. Zuweilen ist es sicherlich auch gar nicht die Absicht des Sprechers, daß der Hörer seine ironische Handlung völlig aufschlüsseln soll. Es ist also sehr wohl möglich, daß der Hörer versteht, daß der Sprecher ironisch ist, d. h. daß der Hörer den konstitutiven Widerspruch erfaßt, jedoch nicht erschließen kann, was der Sprecher tatsächlich meint. Wir können nun die Ironie vorläufig folgendermaßen auf eine Formel bringen: (a) der Sprecher hat nicht die Einstellung E, sondern nicht-E; der Sprecher bringt E in der Äußerung ä zum Ausdruck, (b) der Sprecher will, daß der Hörer verstehen soll, daß der Sprecher nicht-E hat, (c) der Sprecher will, daß der Hörer den Widerspruch zwischen den beiden Einstellungen verarbeitet und die sich daraus ergebende Bewertung und das Gemeinte erschließt. Die Glückens-, Gelingens- und Erfolgsbedingungen sind dann die folgenden: 1) 2)
Geglückt ist die ironische Äußerung, wenn (a) — (c). Gelungen ist die Ironie, wenn 1) und wenn der Hörer versteht, daß (a) — (c).
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3) Erfolgreich ist sie, wenn 2) und der Hörer das Gemeinte (inklusive der Wertung) nachvollziehen kann. Ironie liegt somit schon vor, wenn die ironische Äußerung ä geglückt ist. Sie ist, genau wie die Lüge, nicht abhängig davon, ob der Hörer sie richtig verstanden und verarbeitet hat. Mit dieser Erklärung (a) finden wir einen gemeinsamen Nenner aller ironischer Äußerungen, auch solcher, die mit Hilfe von anderen Sprachhandlungen als Behauptungen ausgedrückt werden, indem wir die Ironie konsequent mit Hilfe der illokutiven Komponente erklären, (b) beschränken wir uns auf einen Kontrast, nämlich den zwischen wirklicher und zum Ausdruck gebrachter Einstellung, (c) brauchen wir keine akrobatischen Definitionskünste, um den Begriff des Gegenteil-Sagens zu definieren und für eine Definition der Ironie fruchtbar zu machen, da es sich immer um die gegenteilige Einstellung handelt, (d) können wir die mit der Ironie verbundene Wertung erklären. Aus der obigen Definition der Ironie ergibt sich nun, daß die Ironie erst auf der kommunikativen oder textuellen Ebene entsteht, wo Sprecher und Hörer miteinander kommunizieren und wo Sprecher- und Hörereinstellungen vorliegen (vgl. auch Clyne 1974, 353 f., Löffler 1975, 121 ff., Stempel 1976, 234, Gießmann 1977, 414 und Eggs 1979, 416). Sprachhandlungen werden also definiert und klassifiziert ohne Rücksichtnahme auf die individuelle Situation, in der sie auftreten, während Ironie und Lüge immer ein individuelles Phänomen sind. Es bedeutet weiter, daß die in die Bedeutungsdefinition des einzelnen Sprachhandlungstyps eingehenden propositionalen Einstellungen des Sprechers, z. B., daß der Sprecher,
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wenn er eine Behauptung vollzieht, auch zum Ausdruck bringt, daß er glaubt, daß p, konstitutive Merkmale des Sprachhandlungstyps sind und nicht irgendwie verschwinden oder umfunktioniert werden, wenn der Sprecher lügt oder ironisch ist. Die ironische Äußerung ist also eine paradoxerweise aufrichtige sprachliche Handlung, die auf der Textebene durch den Vollzug sprachlicher Handlungen entsteht. Mit der Verlagerung der Ironie auf die Textebene haben wir auch eine Erklärung dafür, daß es die Bezeichnungen Lügner und Ironiker gibt. Man spricht öfter davon, daß man sich mit der Verwendung der Ironie über das Ironieobjekt lustig macht. Dies ist sicherlich darauf zurückzuführen, daß die fehlende Aufrichtigkeit der Äußerung als fehlender Ernst interpretiert wird. Oft wird aber mit Hilfe der Ironie eher die Zusammengehörigkeit der Gesprächspartner betont (s. hierzu u. a. Booth 1974, 28). Über die Motivation zur Ironie wurde auch einiges geschrieben. Ich werde hier nur die von Oomen (1983, 35 ff.) genannten Motivationen anführen: (a) Durch Ironie kann man die Höflichkeitskonvention wahren, indem die Wertung des Sprechers nicht explizit gemacht wird, (b) Die Ironie gibt dem Sprecher einen Vorteil in der Argumentation, indem der Hörer die Bewertungen des Sprechers nicht ohne weiteres zurückweisen kann, da sie nicht ausgedrückt wurden, (c) Durch Ironie kann Distanz ausgedrückt werden, (d) Ironie kann zugleich darauf hinweisen, daß Sprecher und Hörer sich sehr gut kennen, also als ein Signal der Nähe funktionieren.
5. Abgrenzung gegenüber anderen Figuren Ganz kurz soll hier noch auf den Unterschied zwischen einer ironischen und einer rhetorischen Frage eingegangen
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werden. Wie Rehbock (1984) zeigt, ist bei der rhetorischen Frage in der Tat eine Antwort präsupponiert (die oft, jedoch nicht immer, identisch ist mit der negierten Proposition der Frage). Rehbock geht so weit, daß er vom Behauptungscharakter der rhetorischen Frage spricht. Bei ironischen Fragen wird gerade eine solche Antwort nicht präsupponiert. Die rhetorische Frage verstößt also nicht gegen die Aufrichtigkeitsmaxime, was aber die ironische tut. Wie zu erwarten, kann man folglich auch mit Hilfe von rhetorischen Fragen ironisch sein. Folgende Beispiele sind Groeben/Scheele (1984) entnommen: (24) Ρ 1 sagt zu seiner Freundin, bevor sie ausgehen: „Wo hast du denn das Kleid ausgegraben, sieht ja wahnsinnig aus!" Ρ 2: „Ironisch?" P I : „Bin ich je ironisch?" (Groeben/Scheele, Nr. 81) Die letzte Antwort ist sowohl rhetorisch als auch ironisch aufzufassen. Noch ein Beispiel: (25) Ρ 1 sagt als Reaktion auf einen Zeitungsartikel, in dem von dem Wunsch der Studenten berichtet wird, einen Studienplan zu haben, um dem Selbststudium' zu entgehen: „Welch eine Errungenschaft!" Ρ 2 sagt darauf: „Was willst Du? Aufgabe des Selbststudiums — wer arbeitet schon gerne selber?" (Nr. 103) Hier handelt es sich auch um eine rhetorische Frage von Ρ 2, die ironisch zu verstehen ist. Das Verstehen ist in diesen Fällen ein komplexer Prozeß, weil der Hörer zuerst die präsupponierte Antwort der rhetorischen Frage verstehen muß, um dann zu verstehen, daß es sich gar nicht um eine ernst gemeinte Antwort handelt, sondern um eine ironische Frage. Eine nicht-rhetorische ironische Frage ist die folgende:
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Inger Rosengren (26) Ein Mann versucht, aus der fahrenden Straßenbahn zu springen. Er schafft es nicht und fällt hin. Ein Passant: „Sind Sie hingefallen?" (Nr. 123)
Auch zwischen Sarkasmus und Ironie muß unterschieden werden. Ohne Zweifel kann man sinnvoll von sarkastischer Ironie sprechen. Sarkasmus wollen wir aber definieren als einen direkten Angriff auf ein Objekt oder eine Person (so auch Groeben/Scheele (1984, 56)). Beispiel: (27) Person 1. „Es gibt viele Psychotiker, die keinen Leidensdruck verspüren." Person 2: „Es sei denn, sie kommen in die Psychiatrie." (Groeben/Scheele, S. 56). Hier wird explizit das ausgesagt, was der Sprecher meint. Die negative Wertung ist aber dieselbe wie bei der Ironie, wenn auch gewöhnlicherweise stärker. Es ist mit anderen Worten schwerer, sich einen liebevollen Sarkasmus als eine liebevolle Ironie vorzustellen. Folgendes Beispiel könnte jedoch vielleicht den Anspruch an einen liebevollen Sarkasmus erfüllen: (28) Mann zu Frau während eines Sonnenbads an Bord eines Dampfers: „Du drehst Dich besser um, diese Seite ist gar!" (Groeben/Scheele, Nr. 29) Nach Groeben/Scheele (1984) liegt hier Ironie vor. Dies wäre mit unserer Definition nicht möglich. Es würde sich um einen mithilfe eines metaphorischen Ausdrucks realisierten Sarkasmus handeln. Auch der Sarkasmus ist also eine sprachliche Handlung, die erst auf der Textebene zustande kommt. Hier soll nur noch kurz auf einen anderen Typ von sprachlicher Handlung hingewiesen werden, die oft als Ironie interpretiert wird. Myers (1982) führt als ironisches Beispiel an: (29) That was a curb you just drove over.
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Hier ist die Qualitätsmaxime Grices nicht verletzt. Dagegen wird zumindest die Quantitätsmaxime nicht befolgt. Nach unserer Definition hätten wir keine ironische Äußerung. Wir würden deshalb diese Äußerung eher als Sarkasmus erklären. Schließlich muß man noch zwischen der Ironie und der Anspielung unterscheiden. Wie die Ironie entsteht die Anspielung auf der Textebene (vgl. hier auch Römer 1977). Die Anspielung baut aber nicht auf einen Einstellungswiderspruch. Sie kann am ehesten als eine Implikatur aus einer anderen Sprachhandlung betrachtet werden. Wie Römer feststellt, kann die Anspielung natürlich nie explizit gemacht werden, ohne ihren Charakter als Anspielung zu verlieren. Das hat sie mit der Ironie gemein. Die Sprachhandlung, aus der sie implikatiert wird, ist aber im Falle der Anspielung als Sprachhandlung intendiert.
Von der Normativität deskriptiver Wörterbücher Zugleich ein Versuch zur Unterscheidung von Normen und Regeln Herbert Ernst Wiegand Caesar non supra grammaticos. Übersetzungsvorschlag: Der Dudenpapst k a n n Sprachregeln nicht ändern. 1. Aus dem Wörterbuch des Teufels: Benutzer- oder Lexikographenschelte? „Lexikograph, subst. masc. Ein Schädling, der unter dem Vorwand, eine Phase in der Entwicklung einer Sprache zu registrieren, sein Möglichstes tut, ihr Wachstum aufzuhalten, ihre Flexibilität einzuschränken und ihre Methoden zu mechanisieren. Denn nachdem der Lexikograph sein Wörterbuch verfaßt hat, wird er als eine Autorität angesehen, während seine einzige Aufgabe doch ist, festzuhalten, und nicht, Gesetze zu erlassen. Die natürliche Unterwürfigkeit des menschlichen Verstandes, die ihn mit gesetzgeberischen Befugnissen ausgestattet hat, begibt sich ihres Anrechts auf Vernunft und unterwirft sich einer Chronik, als wäre sie eine Gesetzesvorschrift. Sobald zum Beispiel ein Wörterbuch ein gutes Wort als „veraltet" oder „veraltend" bezeichnet hat, werden wenige wagen, es noch zu verwenden, so sehr sie es auch brauchten und so wünschenswert seine Rehabilitierung wäre - wodurch der Verarmungsprozeß der Sprache beschleunigt und der Sprachverfall begünstigt wird. [...]" (Bierce 1966, 51 f.) In dem zitierten Ausschnitt aus einem ,kritischen' Wörterbuchartikel hat Ambrose Bierce, einer jener journalistischen
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Raufbolde mit Herz, Geist und Sprachkraft, wie man sie in der allzu öden Medienlandschaft unserer Gegenwart kaum findet, so als hätte er sich das mir sympathische Motto Gustav Heinemanns „Wer Anstöße geben will, muß Anstoß erregen" zur Maxime gemacht, mit boshafter Ironie und temperamentvoller Einseitigkeit das Thema angeschlagen, um das es in diesem Beitrag gehen soll. Meine Fragen sind, ob deskriptiven Wörterbüchern Normativität zukommt, und wenn ja, welche Aspekte sie hat und wie sie eigentlich zustande kommt. Antwortversuche verlangen eine Unterscheidung von Normen und Regeln. Daraus erklärt sich der Untertitel. Seit längerer Zeit findet eine Normendiskussion statt. Sie ist weitgefächert und noch voll im Gang. Mein Zettelkasten enthält ziemlich genau 300 Titel allein zum Thema der sprachlichen Norm(en)! Ein pauschales Urteil zu dieser umfangreichen Diskussion will ich nicht abgeben. Allerdings erlaube ich mir, zwei ,Impressionen' mitzuteilen. Erstens: Mir sind große Teile dieser Diskussion zu norm(en)gläubig. Zweitens: Die Terminologie stammt aus der Rechtssoziologie, der Anthropologie, der Terminologiewissenschaft, der sprachanalytischen Philosophie, der Sprachwissenschaft, der Frankfurter Schule und der Normenlogik. Anstatt ihn zu erhellen, ,verdunkelt' sie inzwischen den Gegenstand. Wollte man das im einzelnen belegen, ergäbe sich — so vermute ich — ein relativ unfreundlicher Vorspann. Um Ihnen dies zu ersparen, e r z ä h l e ich Ihnen zunächst lieber eine heitere Geschichte aus Heidelberg. Und ich habe die Hoffnung, daß Sie das nachdenklich stimmt. Zur Wahrheit der Geschichte möchte ich bemerken: sie ist nicht wahr in dem Sinne, wie a = a wahr ist. Sie hat aber die höhere Wahrheit einer ,unerhörten Begebenheit'. Die Geschichte ist mir da eingefallen, wo sich der Heidelberger Lexikographenweg mit dem (etwas älteren) Philosophenweg kreuzt.
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Herbert Ernst Wiegand 2. Leo Pehzeh und sein Norm-Zitaten-Lexlkon 2.1 Zur ersten Impression: Norm(en)gläubigkeit
Die aima mater in Heidelberg wird gerade 600 Jahre alt. Zum Geburtstag der Ehrwürdigen war auch Lothar Späth gekommen. Er hat manche von uns befördert. Mich auch: Per RitterSchlag wurde ich vom Geistes- zum Diskussionswissenschaftler gemacht. Wir begleiten die Naturwissenschaftler und andere Leute jetzt kritisch. Wird auch wirklich Zeit. Damit die Diskussion so richtig in Schwung kommt, bekamen viele von uns einen neuen Partner. Mit Kuppelei hat das nichts zu tun. Denn mit Nachnamen heißen die alle Pehzeh. Das ist die wohlklingende Langform von PC, welches die Abkürzung von Personal Computer ist. My friend is called Leo, mit Vornamen. A Very Nice Boy. Lächelt viel mit seiner Bildschirmmaske. Seitdem ich Leo habe, kommt es mir manchmal so vor, als sei mein Leben komplizierter geworden. Es gibt neuartige Termine: Ich muß ihn regelmäßig und normgemäß füttern. Das erinnert mich an Kleinkinder und Pferde. Mit dem Unterschied: Leo selbst hat gar keinen Hunger. Ich habe aber so die Idee: Wer seinen Partner nicht genügend füttert, dem wird er wieder weggenommen. Denn er kostet ja laufend etwas. Daher übe ich also jetzt das Füttern. Auch sagen ja die meisten, daß man so einen Leo unbedingt braucht. Ich ,spiele' fast täglich mit ihm und andere auch. Ich muß natürlich erst seine Normen lernen. Das schadet aber nichts. Müssen die andern ja auch. Er weiß inzwischen, was ich von ihm erwarte, und ich weiß das von ihm, und er weiß, daß ich das von ihm weiß und so: Kennen wir ja: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter oder: kollektives (Nicht-)Wissen oder: Erwartenerwarten ... ad infinitum. Ich habe ihm ein Lexikon mit Zitaten zur Norm eingespielt, und wenn ich will und er will und so, dann spielt er die
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Zitate raus: tolles Sprachspiel: Normen rein, Normen raus nach unseren gemeinsamen Normen in unsrer neuen Lebensform. Das Raus nennt man Autput. Die Output-Mechanik ist leider zur Zeit ein bißchen puttputt: zuviele Anwender. Das mag Leo nicht. Immerhin: die „Zitate" (Sic!) aus der neueren Normendiskussion erscheinen noch auf seinem Bildschirm. Sie sind nach Zeilen ( = Z) gezählt. Wegen der partiellen Output-Störung steht allerdings zur Zeit im Kopf der Bildschirmmaske: 1. Ζ Concordat cum originali 2. Ζ sine loco et anno Bei der Lektüre dieser Maskenzeilen denke ich mir: Schön, wie der kluge Kopf für alles die Verantwortung übernimmt. Dann lese ich weiter: 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25.
Ζ Ζ Ζ Ζ Ζ Ζ Ζ Ζ Ζ Ζ Ζ Ζ Ζ Ζ Ζ Ζ Ζ Ζ Ζ Ζ Ζ Ζ Ζ
Der Gebrauch der lexikalischen Zeichen [...] ist durch s e m a n t i s c h e N o r m e n geregelt. Der Norminhalt besteht aus Kriterien für den korrekten Gebrauch der Zeichen. Die Kriterien können scharf umgrenzte Angaben von Merkmalen sein oder auch nur sehr unbestimmte Vorbilder und Beispiele; vergleiche etwa die recht präzisen Angaben in der Norm „Gebrauche das Wort Junggeselle nur zur Bezeichnung von Männern, die nie geheiratet haben" mit der Vorbildnorm „Gebrauche das Wort Schlampe so, wie deine Mutter es gebraucht" oder mit der Beispielnorm „Gebrauche das Wort Schlampe wie in deinem Beispiel" [...]. Der Normcharakter ist in allen Fällen semantischer Normen der des Sollens, d. h. es handelt sich um obligatorische Normen. Die Normautoritäten gegenüber den Normsubjekten sind Eltern gegenüber Kindern, Lehrer gegenüber Schülern, maßgebende Personen der Peergruppen gegenüber den minder maßgebenden, Sprecher und Schreiber der kulturellen Elite gegenüber den übrigen Sprechern der Sprache (zumindest, was den Standardsprachgebrauch betrifft) oder auch in Sprachplanungssituationen, die Sprachplanungsagenten und -institutionen gegenüber weiten Kreisen der betroffenen Bevölkerung.
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„Ein schönes Zitat! Danke Dir, Leo. Leider kann ich die anderen ca. 100 in Deinem Lexikon jetzt nicht brauchen." Ab jetzt zitiere ich nach dem Muster: Leo Pehzeh, xte Zeile (z.B. LP 4. Z). Damit ist, wegen der ersten Zeile auf der Maske, die etwas lästige Verpflichtung der Stellenangabe eingelöst. Nehmen wir aus LP 9 — 11: „Gebrauche das Wort Junggeselle nur zur Bezeichnung von Männern, die nie geheiratet haben". Diese sog. semantische Norm ist, normenlogisch gesprochen, ein G e b o t in einem offenen System (vgl. von Wright 1977, 122ff.). Aber seit wann denn werden Bedeutungsbeschreibungen als Gebote formuliert???! Und wenn es keine sein soll, was denn soll es sonst sein? Diese ,semantische Normsetzerei' ist eine ernste Angelegenheit. Denn das Zitat ist kein Einzelfall! Auf der anderen Seite ist allerdings diese neue Gebotssemantik auch ein bißchen komisch. Wenn sich nämlich jemand an ihre Gebote halten wollte, müßte er nicht nur, bevor er das Wort Junggeselle prädizierend oder referierend verwendet, wissen, ob das Bezugsobjekt ein Mann ist, sondern (was etwas schwieriger festzustellen ist) auch, ob dieser noch nie geheiratet hat. Aus LP 9—11 folgt, daß z.B. eine Frage, wie „Sind Sie Junggeselle?" verboten ist, wenn diese gestellt wird, um erst herauszufinden, ob einer noch nie geheiratet hat, denn nach LP 9 - 1 1 muß man das ja wissen, wenn man Junggeselle gebotsmäßig verwenden will! So ist das eben mit Geboten und Verboten. Im Straßenverkehr sind sie wohl nötig. Nicht aber für die Semantik. Hier erschweren sie alles nur, engen ein, verfremden ... und, und ... Gebrauche Gebrauche Gebrauche Gebrauche Gebrauche
das Wort Freiheit nur ... das Wort Liebe nur ... das Wort ... ... nicht ...
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Von der Normativität deskriptiver Wörterbücher Gebrauche ... Die Guten genormt ins Töpfchen, die Schlechten verurteilt ins Kröpfchen.
2 . 2 . Z u r zweiten Impression: t e r m i n o l o g i s c h e s B a b y l o n M e i n L e o k a n n a u c h s c h o n ein bißchen T e x t v e r a r b e i t u n g . D r e i A u f g a b e n will ich ihm stellen: (1) gib uns alle K o l l o k a t i o n e n
ADJEKTIV'Norm(en)
Und schon lesen wir: „soziale, deskriptive, präskriptive, subsistente, statuierte, kodifizierte, obligatorische, dialektale, literatur- und fachsprachliche, orthographische, orthoepische, syntaktische, semantische, interne, externe, implizite, explizite, unbewußte, bewußte, verinnerlichte, veräußerte, statische, dynamische, abstrakte, konkrete, primäre, sekundäre, instrumentelle, konstitutive, regulative, restriktive N o r m bzw. N o r m e n " . Ist d a s nicht e N o r m , diese t e r m i n o l o g i s c h e Fülle! O d e r ist das eher a b N o r m ?
Bitte fragen Sie m i c h nicht,
wie
N o r m e n (PI.) u n t e r e i n a n d e r u n d diese alle m i t d e r
alle
Norm
z u s a m m e n h ä n g e n . K l a r o ist nur, sie sind vernetzt, weil neuerdings alles vernetzt ist, m a n c h e s s y n c h r o N o r m , anderes diachroNorm. (2) Gib uns alle W o r t f o r m e n , die m i t -norm
bzw.
e n d e n ! W i r b e k o m m e n über 1 5 0 verschiedene
-normen
Komposita.
Ich zähle einige auf, die in den Z i t a t e n besonders
häufig
auftreten: Sollnormen, Istnormen, Idealnormen, Gebrauchsnormen, Koordinationsnormen, Kommunikationsnormen, Vorbildnormen, Erwartungsnormen, Stilnormen, Sprach- und Sprechnorm (en), Handlungsnormen, Gegennormen, Supernormen, Tätigkeitsnormen, Zielnormen, Produktnormen, Produktionsnormen, Partialitätsnormen, Interpretationsnormen . . .
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Dies geht - über den ganzen Bildschirm — so weiter, den erschließbaren Wortbildungs-Regeln gemäß. Pardon! Den erschließbaren Wortbildungs-Normen gemäß muß es heißen im neueren 4 N^^ O R M O CHINESISCH
Das ist das Problem!
Für das voranstehende Kunstwerk möchte ich mit dem schönen Spruch werben „Jede Form ist abnorm", weil nämlich der generative Ersetzungspfeil „—»" die permanente Selbsterzeugung garantiert. (3) Gib uns alle Wortformen, die mit Norm- beginnen. Ich sortiere für Sie die aus, mit denen man auf Menschen Bezug nehmen kann: Normverfasser, Normsetzer, Normsender, Normsubjekt, Normvermittler, Normadressat, Normformulierer, Normiiberwacher, Normprüfer, Normempfänger, Normopfer, Normverstärker und Normbenefiziar.
Ist das nicht eine feine Zweiklassengesellschaft? Ich meine: Ja! Aber dennoch ist sie schön harmonisch. Es fehlen z. B. der Normverletzer ( φ Rechtsbrecher), der Normrevolutionär oder wenigstens der Normreformierer. Mir scheint hier die Vorstellung zugr'undezuliegen, daß es doch immer noch das einfachste ist, wenn im menschlichen Zusammenleben alles nach Vorschriften geht. Denn der soziologische Normbegriff, dem viele nun huldigen, ist natürlich äußerst differenziert, hat viele Varianten, viele, viele. Aber läßt man den ganzen terminologischen Schnickschnack einmal beiseite, dann ergibt sich einfach als Quintessenz dies:
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Soziale Normen sind V o r s c h r i f t e n , die das Handeln des Menschen regeln (vgl. Lautmann 1971, 98 ff.). Gefällt Ihnen das? Mir nicht: ubi lex, ibi poena. Und überhaupt: Wer regelt da? die Vorschrift? oder der, der sie erlassen hat? In der neuesten Auflage von Lewandowski (1985,991) heißt es unter dem Lemma Sprachnorm: „In der neueren Diskussion zu Begriff und Erscheinungsweise der sprachlichen Norm wird der (meist soziologisch verstandene) Begriff der Norm mit dem Begriff der sprachlichen Regel gleichgesetzt [ . . . ] . "
Ich halte diese Gleichmacherei für unangebracht. Gottlob gibt es übrigens Ausnahmen (vgl. z. B. Heringer 1978, 17 ff. und 1982, 96). Im folgenden seien daher einige ältere Unterscheidungskriterien in Erinnerung gerufen und einige neue hinzugefügt.
3. Normen und Regeln. Ein Unterscheidungsversuch Nachfolgend finden sich viele generische Sätze. Schriftliche Äußerungen solcher Sätze in Texten wie diesem sind wahrscheinlich leicht mißzuverstehen. Ich sage daher ausdrücklich, wie sie gemeint sind: als V o r s c h l ä g e für den Gebrauch von Regel(n) im Unterschied zu Norm(en).
3.1 Regeln Regeln sind nachfolgend nur Regeln, denen Menschen folgen, wenn sie s p r a c h l i c h handeln. Diese Einschränkung ist notwendig. Denn die Regeln für das sprachliche Handeln unterscheiden sich von denen für das nichtsprachliche. Und dies tiefgreifender als es nach Wittgenstein den Anschein hat. Von den Regeln für das Rechnen, von denen für den Verkehr
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oder denen des Schachspiels sind sie kategorial verschieden. Es mehren sich die Anzeichen, daß die „Verwicklungen im Denken Wittgensteins" (Thiele 1983) gerade dann, wenn es um den Regelbegriff geht, größer sind als die Rezeption in der neueren Linguistik vermuten läßt. Der mittlere und späte Wittgenstein wurde nicht ausreichend berücksichtigt. Ein neues ,Seminar' zum Regelbegriff (vgl. Heringer 1974) wäre angezeigt. 3.2 Was Regeln nicht tun! Regeln regeln nichts; sie steuern nichts; sie schreiben nichts vor. Regeln definieren keine Sprachspiele. Sie stellen keine Gleichförmigkeit her und begründen keine Erwartungen. Kurz: Regeln tun nichts, sie x-en nicht, handeln nicht selbst, weil sie keine Menschen sind. Dies Selbstverständliche zu sagen, gibt es Gründe, und zwar genug. Ich weiß wohl, daß Sätze der Form die Regel xt (mit χ als Variable für Handlungsverben) in ihren ursprünglichen Kontexten teilweise besser verständlich sind. Da bleiben sie aber nicht. Sie werden isoliert, zitiert, werden Versatzstücke für andere Texte. Für den Regelbegriff ist das nicht ohne negative Folgen geblieben. Inzwischen gibt es (neben dem Norm-) auch einen Regel-Jargon. Dieser zeigt sich darin, daß die Regel zu oft Agens ist. Regeln sind aber für Handlungen nicht verantwortlich und auch nicht verantwortlich zu machen.
3.3 Was Regeln nicht sind! Regeln sind nicht extern, und daher nicht wahrnehmbar. Regeln sind nicht etwas, was jemand befolgen s o l l ; sie sind nicht präskriptiv, aber auch nicht deskriptiv. Regeln sind
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keine Normen, auch keine Norminhalte, keine Maximen, keine Prinzipien, keine Methoden und keine Regularitäten. Sie sind keine Gesetze, keine Vorschriften, auch keine Geund Verbote. Regeln sind keine sog. linguistischen Regeln. Regeln sind nicht angeboren und nicht a priori. Sie sind kein unhintergehbares Letztes. Regeln sind nicht mit ihren Versprachlichungen identisch; mithin sind Regelsätze, Regelformulierungen, Regelangaben, Regelbeschreibungen und Regelnotierungen keine Regeln.
3.4 Einiges, was man mit guten Gründen von Regeln sagen kann Regeln sind etwas, denen Menschen, wenn sie sprachlich handeln, folgen. Darin zeigt sich, daß sie gelten. Regeln, die nicht gelten, gibt es nicht. Die Existenzweise von Regeln ist ausschließlich intraindividuell. Diese interne Existenz ist unabhängig von irgendwelchen Versprachlichungen. Zu jeder Regel kann es wenigstens eine Regelformulierung geben, aber auch mehrere verschiedene. Jede Regel gilt für einen Bereich. Regeln, die für alle Bereiche gelten, gibt es nicht. Die Geltungsbereiche von Regeln sind oft nicht klar gegeneinander abgegrenzt. Der Toleranzsaum ist bei manchen Regeltypen grundsätzlich weiter als bei anderen. Regeln können zueinander in Relationen stehen. Wer Regeln folgt, kennt sie; dies heißt nicht, daß er sie formulieren kann oder können muß. Er kann vielmehr bestimmte Handlungen ausführen, was nicht heißt, daß er das muß. M a n kann unwillentlich von Regeln abweichen und willentlich gegen Regeln verstoßen. In beiden Fällen liegt eine Regelverletzung vor. Regelverletzungen können fruchtbar sein. Dadurch ζ. B., daß sie die Reflexion auf die Regel lenken. Regeländerungen oder Regelersetzungen können ζ. B. über willentliche Regelverletzungen
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versucht werden. Unwillentliche Regelverletzungen können Regeländerungen zur Folge haben. M i t einer Regelverletzung wird eine Regeländerung initiiert, wenn die Mitglieder einer sozialen Gruppe, die Träger der verletzten Regel sind, die Regelverletzung f r e i w i l l i g akzeptieren und durch gleichartige Regelverletzungen die alte Regel dadurch außer Geltung setzen, daß sie im faktischen Handeln eine neue Regel schaffen, der sie alle f r e i w i l l i g folgen. In einem solchen Fall kann von der regelschaffenden Wirkung faktisch vollzogener Sprachhandlungen gesprochen werden. Faßt man die Sprachpraxis als „das Faktische" auf, kann hier von der „normativen Kraft des Faktischen" gesprochen werden. Dieses bedeutet dann: Die neue Praxis des einen wird als Orientierung für die Praxis der anderen anerkannt, was viele Gründe haben kann. Von der Normativität der Sprachpraxis als des Faktischen muß die Normativität von handelnden Subjekten unterschieden werden. Diese zeigt sich in einer normativen Haltung, die sich in geäußerten normativen Ansprüchen kundtut. Im Falle einer Regelverletzung z. B. kommt eine subjektive Normativität erst dann ins Spiel, wenn die Regelverletzung von vornherein mit dem normativen Anspruch verbunden wird, daß die private Regel, der bei der Regelverletzung gefolgt wurde, von den anderen übernommen werden s o l l . Dieser Anspruch gründet stets auf irgendetwas, das nicht mit Notwendigkeit ,Autorität' über die Sprache und das Sprechen begründet, z. B. auf dem Sozialstatus, der Ausbildung oder irgendwelchen Machtmitteln. Denn ob ein Individuum tatsächlich Autorität über sprachliche Regeln hat, zeigt sich nicht an seinen normativen Ansprüchen, sondern nur darin, daß andere Individuen dies durch ihr Sprechen freiwillig anerkennen, indem sie z. B. eine aus einer Regelverletzung erschließbare private Regel zu ihrer Regel machen. Daß der sozial Stärkere häufig die größere Chance hat, daß seine Regeln übernommen werden, spricht nicht gegen die
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getroffene Unterscheidung. — Einer, der Regeln kennt, kann Handlungen anderer, die nach weitgehend gleichen (d. h. ähnlichen) Regeln vollzogen wurden, als bestimmte Handlungen identifizieren. Eine der Voraussetzungen für sprachliches Handeln ist, daß es eine gewisse Übereinstimmung der Regeln bei verschiedenen Menschen gibt. Die kommunikative Erfahrung, daß dies oft so ist, führt dazu, daß Menschen in Situationen, die zu einem bestimmten, ihnen bekannten Typ gehören, erwarten, daß andere Handlungen nach bestimmten Regeln vollziehen. Aber für solche Erwartungen und die darauf aufbauenden Erwartungserwartungen gibt es keine Sicherheitsgarantie, wenn auch der Grad der Erwartungssicherheit in verschiedenen Kommunikationsfeldern unterschiedlich ist. Daß keine Sicherheitsgarantie gegeben werden kann, liegt daran, daß die sprachliche Praxis nicht durchgängig geregelt ist. Sprechen nämlich ist meistens mehr als nur ein regelgeleitetes sprachliches Handeln, was nicht heißt, daß Menschen nicht Regeln folgen, wenn sie sprachlich handeln. „Hier haben wir die Vorstellung eines Mechanismus, aus dessen Existenz folgt, daß wir ein allgemeines Wort in dieser oder jener Weise verwenden werden. Es schwebt uns der falsche Gedanke vor, die Verwendung eines Wortes sei so etwas wie das Abwikkeln eines Fadens von der Spule — als wäre alles schon da und brauche nur abgehaspelt zu werden" (Wittgenstein 1984, 2-51 ).
Mit diesen Worten kritisiert Wittgenstein eine frühere Entwicklungsphase in seiner Gebrauchstheorie der Bedeutung, die nämlich, die die Grundlage für die linguistische Rezeption bildet (vgl. Thiele 1986). Regeln sind erlernbar. Nur zwei Fälle beim Erlernen der Muttersprache seien hier unterschieden: das Lernen von Regeln unabhängig von ihren Formulierungen und das aus ihren Formulierungen. Der zweite Fall tritt bei der Wörterbuchbenutzung auf. Wir betrachten hier kurz den ersten. In diesem wird nicht
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zuerst eine Regel gelernt und dann wird sie befolgt. Vielmehr wird in der Anwendung, in Befolgungsversuchen, im probeweise Mithandeln und gegebenenfalls aus Abweichungen und Korrekturäußerungen gelernt. Das Lernen von Regeln, die nicht formuliert sind, geschieht f r e i w i l l i g (Hierbei ist freiwillig zu lesen wie ohne Zwang). Das Erlernen von Regeln aus ihren Formulierungen kann freiwillig geschehen. Den Dialekt seiner Umgebung erlernt ein Kind freiwillig. Die deutsche Standardsprache in der Schule, die als fremde Sprache der anderen gilt, wohl kaum. Eine der Voraussetzungen für das Erlernen von Regeln ist die Fähigkeit, aus Regelmäßigkeiten, die Regeln gemäß sind, und einer gewissen Gleichförmigkeit des sprachlichen Handelns und der Texte auf Regeln schließen zu können. Aus dem Gesagten folgt: Der Begriff des Verstehens ist dem des sprachlichen Handelns logisch (und m. E. auch ontogenetisch) vorgeordnet. Wer Regeln unabhängig von ihren Formulierungen gelernt hat, muß etwas mitgelernt haben, wenn er ihnen tatsächlich folgen will, nämlich ihren Geltungsbereich oder aber wenigstens einen relevanten Ausschnitt aus diesem anhand von prominenten Fällen. Die Kenntnis des Geltungsbereiches von Regeln ist eine Bedingung der Möglichkeit dafür, daß Regeln im Handeln befolgt werden, und nicht das Ergebnis der Befolgung. Deswegen müssen auch in einer vollständigen Regelformulierung die Bedingungen angegeben werden, unter denen die formulierte Regel gilt. Das Subjekt, das eine solche Regelformulierung zur Kenntnis nimmt, um die Regel daraus zu lernen, muß aber immer noch selbst erkennen und entscheiden, ob die angegebenen Bedingungen nun tatsächlich vorliegen oder nicht! Mit dem Erlernen von Regeln wird zugleich ein Mehr, nämlich ein Erfahrungswissen erworben über den Zusammenhang von Regeln und den Geltungsbereich, in dem nach ihnen gehandelt wird. Dieses Erfahrungswissen ist derjenige Teil der Urteilskraft, kraft derer der
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Mensch über sprachliche Handlungen urteilt. Diese Urteilskraft bildet sich zusammen mit dem Regelerwerb aus. Von der bloßen Kenntnis der Regeln ist sie deutlich zu unterscheiden. Sie ist das, was hinter den Regeln ist, dennoch aber keiner metaphysischen Erklärung bedarf und auch nicht als ein System von Metaregeln verstanden werden kann. Kraft der sprach- und kommunikationsreflexiven Urteilskraft wissen Menschen ζ. B. auch, unter welchen Bedingungen sie welche Regeln verletzen können und unter welchen nicht. Und sie wissen auch, daß sie sich gerade hierin von anderen unterscheiden, was die anderen ihrerseits wissen. Kraft dieser Urteilskraft kann man auch einschätzen, wie weit im Handlungsvollzug der Toleranzsaum im Geltungsbereich einer Regel ausgeschöpft werden kann, ohne daß die Handlung als eine andere gilt. Weil sich mit dem Erlernen von Regeln eine Urteilskraft herausbildet (über die sich natürlich noch mehr sagen ließe) ist es auch zu kurz gegriffen, wenn angenommen wurde, daß alles „Verwenden von sprachlichen Ausdrücken im Lernen einer konventionellen Regel, einer Norm, [gründet]" (Tugendhat 1979, 127). Zwei Menschen, die weitgehend gleiche oder ähnliche Regeln kennen, können sich in dieser Urteilskraft erheblich unterscheiden. Denn es kommt auch darauf an, unter welchen Bedingungen man die Regeln lernt. Auch gibt es Gründe, daran zu erinnern, daß Menschen einen Willen haben, was sich überaus deutlich darin zeigt, daß sie mit ihren sprachlichen Handlungen etwas wollen, Ziele verfolgen. Sieht man von Lernsituationen ab, dann handelt niemand, um Regeln zu folgen. Wer eine Regel gelernt hat, der k a n n etwas. Daraus folgt aber nicht, daß er das, was er kann, nämlich nach den Regeln handeln, automatisch tun muß oder sollte. Aus den genannten Gründen ist es daher angebracht, Satzformen für Regelformulierungen in Analogie zu einer der möglichen Satzformen für den hypothetischen Imperativ im Sinne Kants
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zu bilden, die lautet: Wenn Du X willst, dann tue Y. Im WennSatz. wird eine Willensbestimmung inhaltlich angegeben, im dann-Satz eine Handlungsaufforderung formuliert. Der Imperativ steht unter der Hypothese des Gewolltseins. Die allgemeine Satzform ( = SFj) für eine Regelformulierung lautet daher so: Wenn Du eine sprachliche Handlung vom Typ Tx ausführen willst, dann mußt Du unter den Bedingungen B¡ eine Handlung vom Typ Ty machen. Das mußt Du im dann-Satz ist bei gleichen B¡ häufig durch ein kannst Du ersetzbar. Denn es kann eine Reihe von begrenzten alternativen Handlungen gewählt werden, so daß sich ergibt; ... dann kannst Du entweder das, dies oder jenes machen. Ein einprägsames Beispiel: Wenn Du eine sprachliche Handlung vom Typ J E M A N D E N B E L E I D I G E N ausführen willst, dann kannst Du — wenn Du an einer öffentlichen Talk-Show teilnimmst - dies dadurch tun, daß Du eine Handlung vom Typ J E M A N D E N B E S C H I M P F E N ausführst, indem Du ζ. B. zum Talkmaster entweder sagst Sie sind ein Vollidiot oder sagst ... oder sagst ... (Deiner Phantasie gemäß).
Nun kann es aber sein, daß Du ζ. B. aufgrund Deiner Erziehung grundsätzlich Handlungen vom Typ J E M A N D E N B E L E I D I G E N nicht ausführen willst. Dann läßt Du für Dich eine Norm gelten. Und in diesem Fall bist Du gut beraten. Dennoch mußt Du Dir darüber im klaren sein, daß auch diese Norm Deine Handlungsmöglichkeiten einschränkt. Es gibt demnach Normen, deren Anerkennung dazu führt, daß man sprachliche Handlungen unterläßt oder ausführt. Daß dies so ist, darf aber nicht dazu führen, daß die prinzipiellen Unterschiede zwischen Regeln und Normen vergessen werden. Sonst hat man kein hinreichendes Instrumentarium mehr, um ungerechtfertigte normative Ansprüche klar genug als solche zu markieren.
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3.5 Was Normen für die Sprache und das sprachliche Handeln von Regeln unterscheidet Normen für die Sprache und das sprachliche Handeln — und nur um dies und nicht um die Sprachnorm oder um andere sprachliche Normen geht es hier — existieren nicht (wie Regeln) unabhängig von ihren sprachlichen Formulierungen, was nicht heißt, daß sie mit diesen identisch sind. (1) — (4) sind Normformulierungen. (1) (2) (3) (4)
Einen Brief beginnt man nicht mit ich. Kinder reden beim Essen nur dann, wenn sie gefragt werden. Man antwortet immer in ganzen Sätzen. Deutsches Wort in deutscher Schrift!
(1) — (4) können in Sätze umgeformt werden, die nach folgender Satzform ( = SF2) gebildet sind: Immer, wenn die Bedingungen B, erfüllt sind, dann sollst/ mußt Du entweder eine/mehrere Handlung(en) eines bestimmten Typs ausführen oder unterlassen. Eine (neue) Norm kann einer alleine durchsetzen, ζ. B. (2). Er kann auch alleine ihre Befolgung überwachen. Bei Regeln geht das nicht. Niemand kann a l l e i n e z.B. mittels Regelformulierungen oder Regelverletzungen neue Regeln für den Gebrauch z.B. von und oder von Stuhl in der deutschen Standardsprache einführen. Einer kann allenfalls alleine eine Zeit lang bei der Verwendung von einigen Ausdrücken privaten Regeln folgen. Er muß aber auf der Hut sein. Denn es kann ihm dies leicht widerfahren: Man hält ihn nicht für normal, oder er stirbt vereinsamt (wie der alte Mann in Peter Bichseis Erzählung Ein Tisch ist ein Tisch). Im Unterschied zu Regeln gibt es Normen, die nicht gelten. Denn wenn Normen formuliert werden, gelten sie nicht ohne weiteres. Daher gibt es auch viele formulierte Normen, für die nur ein Geltungsanspruch gegeben ist. Um zu gelten, müssen Normen in Geltung gesetzt werden. Dies kann unmittelbar mit ihrer
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Formulierung verbunden werden, aber auch später ausdrücklich erfolgen. Wer Normen in Geltung setzen will, muß Autorität oder Macht oder beides haben. Oder aber er muß qua Gesetz legitimiert sein. Viele Normen — ich vermute sogar: es sind die meisten — werden nicht freiwillig übernommen und auch nicht freiwillig befolgt. Sollen Normen tatsächlich übernommen und befolgt werden, dann muß dies häufig genug ausdrücklich durchgesetzt werden. Geschieht dies gegen den Willen der Betroffenen, dann muß die Einhaltung der Normen überprüft werden. Und schon hat man eine Zwangsveranstaltung! Für das Durchsetzen und Überprüfen gibt es viele Mittel. Und diese sind oft genug unangemessen. Während man z. B. bei dem Versuch, die tatsächliche Befolgung von (2) durchzusetzen, schwerlich ohne Zwang und Sanktionen auskommen wird, ist es natürlich ganz albern, davon zu sprechen, man müßte durchsetzen und überwachen, daß Kinder z. B. die semantischen Bezugsregeln für Wörter wie Stuhl, schreiben und Oma lernen. Das muttersprachliche Lernen der semantischen Bezugsregeln und auch anderer sprachlicher Regeln ist eben keine Zwangsveranstaltung! Wenn Normformulierungen als Formulierung der Norm verwendet werden, ist stets ein normativer Anspruch mit ihnen verbunden, und zwar auch dann, wenn Formen von sollen, dürfen, müssen in ihnen nicht vorkommen. Wer Normen setzt, wählt aus dem, was Menschen qua Regeln können, etwas aus, nämlich das, was sie sollen, nicht sollen, nicht dürfen. Diese Auswahl erfolgt oft unter Rückgriff auf Regelformulierungen oder Regelbeschreibungen, die selbst deskriptiv sind. Normen verdanken sich also der vorgängigen Existenz von Regeln. Wer Normen setzt, will seine Ordnung stiften, soziale Kontrolle, Herrschaft ausüben. Wenn einer Regeln folgt, dann zeigt sich im Handeln, was er wie die andern kann. Wenn einer Normen folgt, schränkt er sein Können ein. Letzteres soll keine Wertung beinhalten. Denn
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es ist ja nicht von vornherein klar, ob eine Einschränkung nicht erforderlich ist. Es ist behauptet worden, man könne an sprachlichen Handlungen und an Äußerungen nicht erkennen, ob jemand einer Regel oder einer verinnerlichten Norm gefolgt ist (vgl. Kohrt 1983, 269ff.). Ob das erkennbar ist, hängt allerdings weitgehend davon ab, welche Normen einer befolgt hat. Ich erlaube mir, hierzu kurz über eine wahre Begebenheit zu berichten. Ich kann Ihnen die Wahrheit nur versichern. Nach den üblichen wissenschaftlichen Verfahren belegen kann ich sie nicht. Es gibt aber viele Zeugen. Seit Jahren arbeiten in unserem Haushalt Azubinnen ( = A); das sind weibliche Lehrlinge. Eine hatte ein irgendwie auffälliges Verhalten. Ich ( = S) hatte intuitiv bald begriffen, wodurch der Eindruck des Auffälligen entstand. Das Begreifen war sozusagen plötzlich da, als nämlich ein Sohn begann, die A. nachzuäffen. Hier einige Beispiele. S: „Th., kannst Du bitte diese Schecks mit zur Bank nehmen?" Th. (nachäffend): „Ja, Vater, ich werde die Schecks jetzt mit zur Bank nehmen." Nachgeäfft wurden solche Dialogausschnitte wie ζ. B. S: „Bitte, machen Sie mir einen Kaffee." A: „Ja, ich mache Ihnen jetzt einen Kaffee." S: „Können Sie bitte die Hunde rauslassen?" A: „Ja, ich lasse sie gleich raus." S: „Ist es schon später als sechs?" A: „Nein, es ist noch nicht später als sechs."
Wenn irgend möglich, antwortete' die Α., wenn sie ζ. B. mit Aufforderungen oder Fragen angesprochen wurde, mit ganzen Sätzen. Recherchen ergaben: Das abweichende Sprachverhalten war auf die Verinnerlichung und Befolgung der N o r m zurückzuführen, die ich oben mit (3) formuliert habe. Ein älterer Hauptschullehrer hatte sie eingeführt und laufend überwacht. (Nebenbei bemerkt: Eine ,Therapie' der A. ist mir gelungen).
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4. Deskriptive Wörterbücher, Regeln und Vorschriften Nur alphabetische Wörterbücher zur deutschen Standardsprache der Gegenwart ziehe ich nachfolgend in Betracht. 4.1 Was sind deskriptive Wörterbücher? Seit 1977 spricht man in der germanistischen Wörterbuchforschung von deskriptiver Lexikographie (vgl. H. Bergenholtz/B. Schaeder 1977). Deren Ergebnisse heißen deskriptive Wörterbücher (vgl. ζ. B. Bergenholtz 1984, 14). Für diese Lexikographie gilt das Textkorpusprinzip. „Eine wesentliche Neuerung gegenüber der bisherigen lexikographischen Praxis ist die durchgängige Verwendung und vollständige Auswertung eines Textkorpus"
schreiben Bergenholtz/Mugdan (1984, 50). Man kann daher von strikt empirischer, korpusgestützter oder von korpusorientierter Lexikographie sprechen, (vgl. Mugdan 1985,188 u. 196 ff.). In dieser Art von Lexikographie arbeitet man computerunterstützt mit der sog. korpusanalytischen Methode (vgl. ζ. Β. Bergenholtz 1983, 85 u. 1984, 18). In welchem Sinne nun verfährt die deskriptive Lexikographie, wie sie von Bergenholtz/Mugdan und Schaeder verstanden wird, deskriptiv? Was heißt hier deskriptiv? Unter der Überschrift „Deskription und Präskription" führt Mugdan (1985, 210) aus: „Mit den Benutzerinteressen ist die Frage nach der deskriptiven oder präskriptiven Grundhaltung eng verknüpft. Diese Termini werden recht unterschiedlich verwendet, was leicht zu Mißverständnissen führt. Nach meiner Auffassung tut es zum Beispiel wenig zur Sache, ob eine Angabe in die äußere Form einer Anweisung gekleidet wird (wie in generativen Darstellungen) oder nicht. Ich verstehe eine Aussage als deskriptiv, solange sie Beobachtetes feststellt; sie ist dagegen präskriptiv, wenn sie ohne Beobachtungen oder sogar im Widerspruch dazu Wertungen vornimmt und Verhaltensnormen setzen will. Nicht selten klaf-
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fen allerdings Anspruch und Praxis auseinander, und manche Darstellung, die nicht präskriptiv sein w i l l , wird es faktisch dadurch, daß sie nicht auf den erforderlichen Beobachtungen fußt. Von daher darf man wohl auch dann von Präskription sprechen, wenn nicht normative Bestrebungen, sondern methodische Mängel für die Diskrepanz zwischen der lexikographischen Information und der Sprachwirklichkeit verantwortlich sind — für den Benutzer ist das letztlich einerlei, wenn er an die Autorität seines Wörterbuches glaubt und für falsch hält, was es nicht verzeichnet."
Obwohl ich zu wissen glaube, daß Mugdan keinen so uneingeschränkten empiristischen Beobachtungsbegriff hat (vgl. ζ. B. Mugdan 1985, 200), wie es nach der Feststellung „Ich verstehe eine Aussage als deskriptiv, solange sie Beobachtetes feststellt" den Anschein hat, muß zu diesem m. E. mißverständlichen Satz doch etwas gesagt werden. Aus dem weiteren Text geht hervor, daß das, was beobachtet wird, die Beobachtungsgegenstände außerhalb des Beobachters also, Textkorpusdaten sind. Diese Textkorpusdaten können allerdings nicht das „Beobachtete" sein. Denn Aussagen können nicht Textkorpusdaten feststellen. Das „Beobachtete" kann nur das Ergebnis einer (selten theorielosen) aktiven Wahrnehmung von vorverstandenen Textkorpusdaten sein. Im BrockhausWahrig z.B. findet man das Textsegment TSj: ,Alt-phi-lo-lo·gie' [...] Sy klassische Philologie. Dies ist eine verkürzte lexikographische „Aussage", die wie der folgende Satz zu verstehen ist: ,Altphilologie' ist synonym mit ,klassischer Philologie'. Synonymierelationen kommen nun als Textkorpusdaten niemals vor. Daher gibt es sie auch nicht als „Beobachtetes". Entsprechendes gilt auch für die anderen paradigmatischen Relationen. Nach Mugdan wären daher Wörterbücher, die paradigmatische Relationen beschreiben, prinzipiell nicht deskriptiv, sondern präskriptiv. — Hypothetische Synonymiebehauptungen der Form X ist synonym mit Y können an einem Textkorpus unter Zuhilfenahme von Proze-
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duren, wie ζ. Β. Substitutionstests, nur kompetenzgestützt überprüft werden. Diese Vorgehensweise kann aber nicht auf Beobachtungs- und Wahrnehmungsakte reduziert werden. Die Gewinnung von lexikographischen Daten geschieht auch in der deskriptiven Lexikographie in einem Kommunikationsprozeß. Mit dessen Ergebnissen wird nicht etwas Beobachtetes festgestellt. Vielmehr werden kompetenzgestützte, interpretative Beschreibungen des Sprachgebrauchs formuliert, und zwar auch dann, wenn ein Textkorpus benutzt wird. Selbst Häufigkeitsangaben setzen Interpretation voraus. Im Unterschied zu M u g d a n meine ich, daß lexikographische Angaben und ihre Lesartenvarianten (vgl. Wiegand 1985) dann deskriptiv sind, wenn sie entweder als richtig oder falsch beurteilt werden können. O b sie richtig oder falsch sind, wird bei den unterschiedlichen Typen von Angaben auf unterschiedliche Weise festgestellt. Dabei kann auch ein Textkorpus herangezogen werden. Das Textsegment TS 2 ,Am-boß' [.../ m. aus dem Brockhaus-Wahrig kann wie ,Amboß' ist maskulin gelesen werden. Es ist deskriptiv und richtig. Hieße es TS¿ ,Am-boß' [...] «., wäre TS2 deskriptiv und falsch. Falsche (und auch schlechte) deskriptive Angaben sind nicht präskriptiv, sondern irreführend. Sie schaden dem Benutzer immer (vgl. Wiegand 1986). Dies gilt für präskriptive Angaben keineswegs immer (vgl. 4.2). Deskriptiv ist somit eingeführt als ein Prädikat, das auf lexikographische Textsegmente bzw. deren Lesarten bezogen werden kann. Soll es zutreffend und uneingeschränkt von ganzen Wörterbüchern prädiziert werden, m u ß zusätzlich gelten: In der Wörterbucheinleitung dürfen keine normativen Ansprüche erhoben werden, und weder die Kriterien der inneren noch die der äußeren Auswahl dürfen in dem Sinne normativ sein, daß sie sich an Wertvorstellungen orientieren, so daß systematisch bestimmte Bereiche der Sprache ausgeschlossen werden.
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4.2 Vorschriften: die Orthographie als präskriptives Element im deskriptiven Wörterbuch Was die meisten orthographische Regeln, singulare oder generelle Rechtschreibregeln nennen (vgl. Kohrt 1983, 299 ff.), sind für mich keine Regeln sondern Vorschriften. M i t R 60 „Substantive werden groß geschrieben" (Duden-1, 1980, 30) wird eine generelle Rechtschreibvorschrift formuliert. R 60 ist eine Vorschriften-, keine Regelformulierung. M i t formulierten Rechtschreibvorschriften wird ein diesen Vorschriften gemäßes Schreiben vorgeschrieben. Sie haben einen bestimmten Geltungsbereich. Für diesen sind sie „amtlich" in Geltung gesetzt. Normen und Vorschriften ist u. a. gemeinsam, daß ihre Existenz von mindestens einer Versprachlichung abhängig ist. Rechtschreibvorschriften sind von solchen Normen wie sie mit (1) bis (4) formuliert wurden, unterschieden. Denn während ζ. B. mit (2) etwas, was Kinder bereits können, nämlich nach den Regeln für den Sprecherwechsel zu kommunizieren, eingeschränkt werden s o l l , ist z. B. R 60 eine Vorschrift, die heutzutage vor allem dazu dient, daß alle, die Schreiben lernen wollen oder müssen, etwas Gleichartiges lernen m ü s s e n . M i t R 60 wird also nicht etwas, was gelernt wurde, eingeschränkt, sondern die Möglichkeit ausgeschlossen, daß etwas anderes gelehrt w i r d und damit auch tendenziell, daß etwas anderes gelernt w i r d , ζ. B. die sog. gemäßigte Kleinschreibung. Daß wir Rechtschreibevorschriften brauchen, halte ich für ausgemacht. Es fragt sich nur, wie rigide sie sein müssen. Rechtschreibung, die Beherrschung des vorschriftengemäßen Schreibens, d a s Angepaßtsein der Schreibhandlungen gilt als ein Wert in unserer Gesellschaft, und jedem „richtig" geschriebenen Wort ist daher Normativität inhärent. Alle Lexikographen des gegenwärtigen Standarddeutsch schreiben den amtlichen Rechtschreibevorschriften g e m ä ß ,
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so daß nicht nur der Duden-1 als Rechtschreibwörterbuch konsultierbar ist. So sind z. B. alle Lemmata im BrockhausWahrig gemäß den Rechtschreibvorschriften geschrieben; sie sind somit als Muster für vorschriftengemäßes Schreiben aufzufassen. Nach diesem Muster können alle Verwendungsinstanzen des zugehörigen Lemmazeichens dadurch vorschriftengemäß geschrieben werden, daß der Wörterbuchbenutzer den gleichen Vorschriften folgt wie der Lexikograph. Mit der Musterhaftigkeit insbesondere der Lemmata ist ein n o r m a t i v e r A n s p r u c h verbunden insofern, als für einen Wörterbuchbenutzer gilt: Immer wenn Du den amtlichen Rechtschreibevorschriften gemäß schreiben mußt oder willst, dann mußt Du so schreiben, wie es in diesem Wörterbuch vorgemacht ist. Vom normativen Anspruch müssen n o r m a t i v e W i r k u n g e n unterschieden werden. Diese treten auf, wenn ein Wörterbuchbenutzer tatsächlich nach den Mustern schreibt und damit die Vorschriften befolgt. Jenseits von je konkreten Benutzungsakten gibt es keine normativen Wirkungen. Die materielle Ursache für diese ist das präskriptive Element, das allen lexikographischen Textsegmenten im deskriptiven Wörterbuch inhärent ist, die durch vorschriftengemäße Schriftgestalten realisiert sind. Der normative Anspruch begründet keinen allgemeinen Befolgungszwang. Denn die Rechtschreibvorschriften sind ja nicht für alle gesellschaftlichen Bereiche in Geltung gesetzt. Wer daher z. B. mit dem Duden-1 in der Hand in Texten herumkorrigiert, für die die amtlichen Rechtschreibevorschriften gar nicht gelten, erweitert den Geltungsbereich der Vorschriften ad hoc und muß sich gefallen lassen, daß er zur Rechtfertigung seiner mit den Korrekturhandlungen gezeigten, übertriebenen Vorschriftengläubigkeit aufgefordert wird. Erinnert sei hier an die Auseinandersetzungen Arno Schmidts mit seinen Korrektoren (vgl. Helmut Henne in diesem Band).
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4.3 Semantische Regeln: lexikographisch formuliert Von den Regeln, die in Wörterbüchern formuliert werden, greife ich eine Klasse von semantischen Regeln heraus. Textsegmente wie ζ. B. TS3: ,Zitrone' [...] Frucht des Zitronenbaumes (aus dem WDG), die die Form LEMMA [...] LEXIKALISCHE PARAPHRASE haben, lassen sich verstehen als — gemäß lexikographischen Formulierungsgepflogenheiten — verkürzte Regelformulierungen. Formuliert werden die semantischen Gebrauchsregeln für das Lemmazeichen. Diese gehören im Falle substantivischer Prädikationen zur Klasse der Bezugsregeln. Das sind die Referenz- und Prädikationsregeln. Eine Lesart ( = Li) von TS 3 ist daher: ¡Zitrone' wird verwendet, um auf die Frucht des Zitronenbaumes Bezug zu nehmen. L] ist deskriptiv gemeint und nicht etwa präskriptiv wie: ,Zitrone' ist zu verwenden ... Sagt jemand bei Tisch (5) Reich mir mal bitte die Zitrone da rüber und erhält daraufhin vom Angesprochenen einen gelben Plastikbehälter in der Größe und Form einer Zitrone, der künstlichen Zitronensaft enthält, dann ist Zitrone korrekt, sinnvoll und verständlich verwendet, offensichtlich aber nicht gemäß den Bezugsregeln, die in TS 3 formuliert sind. Denn der Plastikbehälter ist keine Frucht des Zitronenbaumes. Für n i c h t u s u e l l e Texte wie (5) sind jedoch die Regeln nicht formuliert. Vielmehr werden lexikographische Regelformulierungen für Prädikatoren nur für deren u s u e l l e Texte formuliert. Usuelle Texte für Zitrone sind solche, in denen Zitrone so referierend oder prädizierend verwendet ist, daß — unter Berücksichtigung der semantischen Schlechtbestimmtheit sprachlicher Ausdrücke — eine semantische Übereinstimmung mit korrekten Antwortäußerungen in usuellen Benennungskontexten für Zitrone gegeben ist. Usuelle Benennungskontexte für Zitrone sind dialogische Kontexte. In ihnen
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wird das schon immer gegebene Benanntsein (und damit bestimmte Sein) nichtsprachlicher Entitäten in partieller Determination vom Benanntsein (und damit bestimmten Sein) anderer nichtsprachlicher Entitäten korrekt reproduziert. Dies erfolgt dadurch, daß auf Fragen wie z. B. Was ist eine Zitrone? oder Was heißt ,Zitrone'? Antworten erfolgen, die dem Frager ermöglichen, die Bezugsregeln für Zitrone zu rekonstruieren. Diese Antworten sind nicht beliebig. Denn Zitronen sind in dem Sinne etwas Bestimmtes, daß bestimmte Prädikate sicher auf sie zutreffen, andere sicher nicht, und bei anderen darüber gestritten werden kann. — Berücksichtigt man in Li die Bedingung des usuellen Kontextes und verallgemeinert man zugleich, dann ergibt sich: Ein Lemmazeichen A, das ein substantivischer Prädikator ist, wird usuell verwendet, um auf denjenigen Gegenstand Bezug zu nehmen, der mit der lexikalischen Paraphrase zu A charakterisiert wird. Diese verallgemeinerte Lesart von T S 3 kann so in die Form von SFi gebracht werden: Wenn Du mit einem deutschen Substantiv auf einen Gegenstand Bezug nehmen willst, der mit der lexikalischen Paraphrase zu A charakterisiert wird, dann mußt Du (falls es kein synonymes Substantiv gibt) das Lemmazeichen A verwenden. Das hier nur grob dargelegte Konzept über den Zusammenhang von lexikographisch formulierten semantischen Regeln, usuellen Texten und usuellen Benennungskontexten (das in Wiegand 1985 detailliert ausgearbeitet ist) fundiert die Semantik lexikalisierter Ausdrücke im dialogischen Sprechen über ihre Bedeutung und berücksichtigt somit die Historizität und Sozialität der Regeln ebenso wie die unscharfen Grenzen ihres Geltungsbereiches. Dieses Konzept, das für alle Typen von Lemmazeichen ausgearbeitet werden kann, ermöglicht eine Sicht auf lexikographische Texte, die ihre Deskriptivität freilegt, so daß man dann um so präziser nach ihrer Normativität fragen kann.
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5. Aspekte lexikographischer Normativität Verschiedene Aspekte der Normativität deskriptiver Wörterbücher sind bereits angeklungen. Diese sollen nun mit einigen anderen — ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit — zu einer Skizze zusammengefaßt werden, die sich auf die Lexikographie der deutschen Gegenwartssprache bezieht. Alle wichtigen Wörterbücher der deutschen Gegenwartssprache sind deskriptive Wörterbücher mit je spezifischen Einschränkungen durch Aspekte lexikographischer Normativität. Nicht nur in den Rechtschreibwörterbüchern ist die Orthographie als präskriptives Element gegenwärtig. Mit allen Wörterbüchern, in denen gemäß den Rechtschreibevorschriften geschrieben wurde, verbindet sich daher entweder ein impliziter oder expliziter normativer Anspruch. Explizit ist er dann, wenn in der Wörterbucheinleitung ζ. B. steht: „Die Rechtschreibung folgt den durch einen Beschluß der Konferenz der Kultusminister von 1955 autorisierten Duden-Regeln und Schreibweisen [ . . . ] " (Brockhaus-Wahrig, 1,9).
Implizit ist er dann, wenn er sich nur im vorschriftengemäßen Schreiben zeigt. Normative Wirkungen müssen nachweisbare Ursachen im Wörterbuch haben. Jenseits von Benutzungsakten existieren sie nicht. Ein Aspekt der normativen Wirkung, deren Ursache das präskriptive Element der orthographischen Musterhaftigkeit ist, ist die vereinheitlichende, die normalisierende Wirkung der Wörterbücher bei den Ergebnissen der Schreibhandlungen, den Schriftstücken aller Art. — Dieser normalisierende Effekt kann nun aber ζ. B. auch dann eintreten, wenn Wörterbuchbenutzer semantische Regeln aus lexikographischen Regelformulierungen lernen. Denn Regelformulierungen vergegenständlichen Regeln. Und solche sprachlichen Vergegenständlichungen schaffen meistens deutlichere Konturen als tatsächlich vorliegen. Die Formulierung von Bezugsregeln ζ. B. fixiert häufig genug den
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Bezugsbereich von Prädikatoren deutlicher, als er in der Sprachpraxis gegeben ist. Da die Sprachpraxis aber nie voll überschaubar ist, läßt sich dies kaum grundsätzlich ändern. Zu beachten ist allerdings dies: Während im Falle der Orthographie der normalisierende Effekt mit der normativen Haltung der Wörterbuchmacher bezüglich der Rechtschreibung in Beziehung steht, ist dies in Fragen der Semantik nicht notwendigerweise der Fall. Es kann also eine normalisierende Wirkung geben, ohne daß dahinter ein normatives Interesse steht. In diesem Fall wäre es wohl irreführend, lexikographische Formulierungen semantischer Regeln normativ zu nennen. Anders ist dies, wenn Lexikographen z. B. politische Ausdrücke relativ zu Wertvorstellungen semantisch erläutern. So lesen wir in der Vorbemerkung zum 4. Band des W D G von 1970: „Es [das W D G ] wird v o m 4 . Band an den gesamten W o r t s c h a t z konsequent auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Weltanschauung darstellen [ . . . ] . "
Hier ist die Normativität explizit gemacht. Implizit ist sie z. B. in Trübners Deutschem Wörterbuch (vgl. Wiegand 1984). Ein normativer Anspruch ist ein Anspruch, eine Orientierung gemäß irgendeiner Wertvorstellung geben zu können. Ein solcher findet sich z. B. im Vorwort zum Duden-DUW, wo es heißt: „ G a n z bewußt stellt sich das ,Deutsche Universalwörterbuch' in den Dienst der Sprachkultur. Es will dazu beitragen, daß die deutsche Standardsprache nicht in Varianten zerflattert, sondern weiterhin als Trägerin der politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklung verläßlich bleibt."
Der ,Wert', zu dessen Erhaltung die Dudenredaktion beitragen will, ist die Verläßlichkeit der deutschen Standardsprache als Trägerin der politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklung. Die Dudenredaktion — so muß angenommen werden - sieht diese Verläßlichkeit in Gefahr. Nur
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wenn man dies annimmt, wird der zitierte Text verständlich. Offenbar soll mit dem Wörterbuch einer Entwicklung zu neuen Varianten, zum neuen Substandard etc. entgegengewirkt werden. Das Wörterbuch hat sozusagen eine präventive Funktion. Allerdings wüßte man gerne, welches denn jene präventiven lexikographischen Handlungen waren, die die Sprachveränderung verhindern sollen. Daß hier nichts Genaueres gesagt wird, finde ich bedauerlich. Schließlich gehört zur lexikographischen Normativität das, was ich die n o r m a t i v e K r a f t deskriptiver Wörterbücher nennen möchte. Was darunter zu verstehen ist, macht man am besten dadurch deutlich, daß man zeigt, wie sie entsteht. Dies sei am Beispiel der Duden-Wörterbücher kurz angedeutet, wobei es mir nicht auf historische Details ankommt. Die allermeisten Schüler kennen seit Generationen eine Wörterbuchbenutzungssituation: das Nachschlagen entweder in einem Rechtschreibewörterbuch, oft einem Duden, oder in einem sog. Rechtschreibgrundwortschatz (vgl. Kühn 1984). Letzteres sind in den meisten Fällen Wortlisten ohne nennenswertes zusätzliches Datenangebot, überflüssige Verdummungsbücher; ihre amtliche Einführung ist ein kulturpolitischer Skandal. Diese Bücher erfährt der Schüler als ,Gesetzbuch'. Sie haben immer recht. Sogar der Lehrer richtet sich nach ihnen. Auf jede Frage vom Typ WIE SCHREIBT MAN X? gibt es immer eine richtige Antwort; und richtig ist hier synonym mit vorscbriftengemäß. So entsteht so etwas wie die Mentalität von Wörterbuchuntertanen, die viele auch als Erwachsene noch haben. Ihr Kern sind normative Erwartungen: man erwartet eine immer ,richtige' Orientierung, wenn man ein Wörterbuch benutzt, die normativen Erwartungen werden von vielen (was empirisch nachgewiesen werden kann) auf andere als Rechtschreibewörterbücher übertragen. Die Dudenredaktion nun weiß, was viele von ihr erwarten: Und sie weiß auch mit diesen Erwartungen umzugehen.
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Mit Werbung und lexikographischer Qualität hat sie das Image, daß sie zuständig ist für richtiges Deutsch, erfolgreich gepflegt. In dieser historisch-sozialen Situation hat sich die normative Kraft insbesondere der Duden-Wörterbücher herausgebildet. Sie besteht auch — anders als die normative Wirkung — jenseits von konkreten Benutzungssituationen. Lexikographische Normativität hat stets positive und negative Seiten. Welche ihrer Aspekte wie eingeschätzt werden, hängt vom Blickwinkel ab. Problematisch am DudenImage ist u. a., daß sich der Begriff der Richtigkeit der amtlich abgesicherten Autorität in Orthographiefragen verdankt. Was z. B. die Bedeutung angeht, ist jedoch die Gleichung richtig — vorschriftengemäß unbrauchbar. Für die Semantik kann nur gelten, bezogen auf eine Sprechergruppe: richtig = wie die meisten anderen. „Die Bedeutung des Wortes kennen heißt, es auf dieselbe Weise verwenden wie die anderen" (Wittgenstein 1978, 220). Als Sprecher des gegenwärtigen Standarddeutsch meine ich: Semantische Regeln formulieren? Ja! Aber meine! Soweit diese auch die der anderen sind. Dafür ist aber Eure empirische Basis zu schmal, meine geschätzten Damen und Herren Nachbarn in der Mannheimer Dudenstraße. Ca. 3 Millionen Belege in der Sprachkartei? Im vorelektronischen Zeitalter ein Knüller. Im elektronischen Zeitalter ein Witz. Den Anspruch auf richtiges Deutsch in den nichtorthographischen Bereichen kann man heute nur noch einlösen, wenn man mit großen Textkorpora arbeitet. Es gilt, den ganzen Reichtum unserer Standardsprache zu dokumentieren. Das wäre das beste Mittel, um ihr „Zerflattern in Varianten" zu verhindern. Warum? Weil nur eine variantenreiche und entwicklungsfähige Standardsprache mit ihrer geregelten Heterogenität Sprachloyalität und ausreichende Verständigung gewährleistet. Lexikographische Normativität wäre dann für Benutzer, die dies noch nicht wissen,
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die empirisch besser abgesicherte Orientierung darüber, wie die anderen lexikalische Ausdrücke verwenden, wenn sie sprachlich handeln.
Über die Notwendigkeit von und das Unbehagen an Stilbüchern Heinz Rupp Der äußere Anlaß für diesen kleinen Aufsatz — ich möchte ihn lieber eine Diatribe nennen — war der Blick in das Schaufenster einer Buchhandlung. Er fiel auf das Buch von Wolf Schneider: „Deutsch für Profis". Neugierig aus Profession, und weil ich Wolf Schneider in einer Podiumsdiskussion über „Sprachglossen in Zeitungen und Zeitschriften" gehört hatte (vgl. R. Wimmer 1985, 2 3 0 - 2 3 2 ) , kaufte ich das Buch und sah als erstes die Überschrift über das 1. Kapitel „Der Duden hat kapituliert" — eine Schlagzeile, wie sie auch im „Spiegel" stehen könnte und die die Funktion hat, den Leser sofort auf etwas Negatives einzustimmen: Wenn man vor etwas kapituliert, dann ist das schlimm, fast eine Schande. In diesem Kapitel heißt es u. a.: „In seinem sechsbändigen Großen Wörterbuch der deutschen Sprache (erschienen 1976 bis 1981) verzichtet er (der Dudenverlag) darauf, Normen zu setzen, gut und schlecht zu unterscheiden — er registriert nur noch" (S. 11). Wenig später „... die Duden-Redaktion (hat) ohne Not ihr Richteramt gegen eine Registratur vertauscht." Ich will nicht nachprüfen, ob diese Behauptungen stimmen; ich will fragen, ob Wolf Schneider den „Profis" — das sind für ihn die Journalisten — sagen kann, was gut, was schlecht ist, ob er die richtigen Wege oder sogar den richtigen Weg „zu gutem Stil" zeigen kann. Nun: Wolf Schneider weiß Bedenkenswertes seinen Profis zu sagen. Er hat sich mit diesem Buch dreierlei vorgenommen:
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„dem guten Willen Mut zu machen, wo er im Ansatz da ist; die bequemsten Wege zu besserem Deutsch (oder mindestens die am wenigsten unbequemen) darzulegen; schließlich die nachwachsende Journalisten-Generation auf diese Aufgabe einzustimmen" (S. 9). Im Zentrum des Buches sollen „Ratschläge zur Erhöhung (Neudeutsch: ,Optimierung') der Verständlichkeit" (S. 10) stehen, und er weiß und sagt es deutlich: „Die Sprache ist nicht aus Logik geboren, sie ist nicht logisch aufgebaut, nur zäh gibt sie sich zu logischen Prozeduren her, und wer sich ihr allein mit der Logik nähert, kann sie nicht zum Blühen bringen. Willkür und historische Zufälle spritzen uns nur so entgegen, wo immer wir die Sprache anstechen. Der Tomatensaft ist aus Tomaten, aber der Hustensaft ist nicht aus Husten. Im Kinderbett liegt meistens nur ein Kind; im Kindbett darf es nicht liegen, denn in ihm liegt die Mutter; die liegt überdies im Wochenbett. Der Schoßhund sitzt auf dem Schoß, aber der Schäferhund nicht auf dem Schäfer. Die Feuerwehr bekämpft das Feuer, die Bundeswehr hoffentlich nicht den Bund." (S. 14). Bedenkenswert in der Tat, und auch richtig. Bedenkenswertes und Richtiges auch im einzelnen. Ein paar Beispiele: Das 7. Kapitel trägt die Überschrift „Weg mit den Adjektiven!" So rigoros meint es Schneider nicht, aber er warnt mit Recht vor zu großzügigem Adjektivverbrauch; er fordert „Her mit den Verben!" — auch dies ist in bestimmten Zusammenhängen richtig —, etwa um Substantivanhäufungen in einem Satz zu vermeiden (Verwaltungssprache). Er hat recht, wenn er geistreichelnden Wissenschaftsjargon verdammt und dafür ein abschreckendes Beispiel aus der Z e i t schrift für deutsche Philologie' (94,2 (1975) 62) anführt: „Repetido führt zur reflexio: Onomasiologische und semasiologische Parallelen und Kontraste legen den circulus vitiosus semantischer und existentieller Fesseln bloß." Beispiele dieser Art könnte er häufen, gerade auch aus der Linguistik. Er
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warnt vor der alten Schulmeisterregel, dieselben Wörter nicht zu rasch hintereinander zu verwenden, sondern abzuwechseln, Synonyme zu gebrauchen; er nimmt den ,Spiegel-Jargon' aufs Korn. Er zeigt, daß kurze Sätze nicht das A und O für den schreibenden Journalisten sind und sein dürfen, daß der gutstrukturierte längere Satz auch sein Recht und seine Qualitäten hat — nur der Schachtelsatz wird verdammt. Gute Ratschläge gibt Schneider auch dafür, wie man der Spaltung des Prädikats ein Schnippchen schlagen und damit die Verständlichkeit eines längeren Satzes verbessern kann. Vernünftiges weiß Schneider zur notwendigen oder nicht mehr notwendigen sprachlichen Redundanz zu sagen. Noch manches wäre anzufügen, aber so weit, so gut. So gut? Leider nicht! Richtiges und Vernünftiges mischt sich in unbrauchbarer und oft unerträglicher Weise mit Subjektivem, Allzu-Subjektivem, Falschem, Törichtem und Arrogantem. Eine Sprache ohne Normen ist undenkbar, sie wäre nicht funktionsfähig. Aber Sprachnorm ist nicht gleich Sprachnorm. Hätte W. Schneider dies bedacht, hätte er manches nicht geschrieben. Am leichtesten normierbar sind Rechtschreibung und Interpunktion (und dies tut die DudenRedaktion heute noch); deshalb am einfachsten, weil sie mit sprachlichen Inhalten nichts zu tun haben; sie haben nur den einen Sinn, das Verstehen sprachlicher Erzeugnisse zu erleichtern. Strenger N o r m unterworfen ist dann alles Morphologische; aber schon bei der Syntax ist es nicht mehr so einfach, schon gar nicht, wenn man die Inhaltsseite berücksichtigt. Viele Verben lassen sich erst dann inhaltlich festlegen, wenn man zu ihnen gehörende Valenzen und Distributionen berücksichtigt. Auch hier ein Beispiel. Schneider sagt: „Welche Verben sind denn nun erstrebenswert? Mit einem Schlagwort ausgedrückt: solche, die sich eignen würden, Schillers Reihe fortzusetzen:
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,Balken krachen, Pfosten stürzen, Fenster klirren, Kinder jammern, Mütter irren.' " (S. 47). Schön, aber ich möchte jetzt mit e i n e m Verb sagen, daß ich an meinem Radio etwas tun will, damit aus dem Radio Töne kommen. Das kann ich nicht jedesmal in der Art einer Gebrauchsanweisung sagen: „Drehen Sie an dem Knopf ganz links am Apparat so lange, bis Sie einen leichten Knacklaut hören." Das wäre unbrauchbar. Also: Ich kann den Radioapparat einschalten, anschalten, anstellen (einstellen kann ich am eingeschalteten Apparat nur irgendeinen Sender); ich kann ihn dann ausschalten, abschalten, abstellen (auch ausstellen, das heißt aber etwas anderes). Beim Auto geht das nicht: den Motor muß ich anlassen, ablassen kann ich ihn nicht, da muß ich ihn normalerweise abstellen (das Auto kann ich natürlich auch auf einem Parkplatz abstellen). „Anschauliche" Verben sind das nicht. Denn was hat anstellen mit stellen, einschalten mit schalten, anlassen mit lassen zu tun? Außerdem haben anstellen, einstellen, abstellen je nach Valenz und Distribution noch viele andere Bedeutungen (s. sechsbändiger Duden!). Hinterfragt man diese Verben (ich weiß, Herr Schneider, daß sie dieses Wort für schlecht halten (S. 212); ich nicht: wenn ich danach fragen will, was sich hinter einer Sache verbirgt, dann ist hinterfragen ein recht anschauliches Verbum und nicht „aus dem anus der deutschen Sprache ausgeschieden": so zitieren Sie Hans Weigel). Also: Hinterfragt man diese Verben, so kommt ein barer Unsinn heraus. Sie lassen die Komposita von setzen, legen, stellen u. a. weitgehend aus dem Spiel - mit Recht. Warum aber tadeln Sie dann „In der Metallindustrie droht ein Streik" (S. 20)? „Er drohte mit Vergeltung", das ist — so meinen Sie wohl — der richtige Gebrauch von drohen. Aber wie bei vielen anderen Verben kann durch Verschiebung der SubjektMenge (hier menschliche Person) auf andere Mengen ein Bildkomplex gebildet werden (ich lache — die Sonne lacht:
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er droht mir ein Gewitter droht — in der Metallindustrie droht ein Streik). Ihre Argumente auf S. 20 sind spitzfindig. Ähnliches gilt für Ihre Warnung vor dem imaginären Subjekt (S. 91). Sie nennen herrschen im Satz „Im Festsaal herrschte gähnende Leere" eine ausgeleierte Floskel. Aber: „Auf den Philippinen herrscht ausschließlich die Marcos-Clique", „In ... herrschen schreckliche Zustände" und „Im Festsaal herrscht gähnende Leere". Ist das so schlecht; ist der Vorschlag „Der Festsaal blieb fast leer" so viel besser, anschaulicher? Wenn aber herrschen in diesem Satz eine ausgeleierte Floskel ist, wie steht es dann mit dem Ausgeleiert-Sein von ursprünglich anschaulichen Verben wie begreifen, behandeln, verstehen, übersetzen (Texte) und vielen anderen? Hier handelt es sich um „Normierungen" ganz anderer Art als bei der Rechtschreibung — um Gebrauchsnormen, die Sie für gut oder schlecht, für richtig oder falsch halten können; aber Sie können andere nicht mit stichhaltigen Gründen zwingen, sich Ihren Meinungen anzuschließen, es sei denn, Sie halten Ihre Meinung für die absolut richtige (ich setze ,absolut' bewußt, obwohl es unnötig zu sein scheint). S. 54 schreiben Sie: „Warum hören wir nichts von Autobahngegenstromeinbiegern oder mißbräuchlichen Gegenrichtungsfahrbahnbenutzern? Wären das nicht korrekte Beschreibungen für jene Autofahrer, die sich mörderisch und selbstmörderisch in die falsche Spur einfädeln? Durchaus. Nur daß hier der Volksmund schneller war: Geisterfahrer nennt er solche Leute. Logisch-bürokratisch betrachtet ist diese Wortprägung anfechtbar: Sie lehnt sich an die Geisterbahn an, die hier weit und breit nicht vorkommt, und läßt die Autobahn unerwähnt wie auch das gegen — die beiden Begriffe also, an denen alles hängt. Aber ,Geisterfahrer' ist ein treffendes Wort: Jeder versteht es, jedem geht es unter die Haut. Die Sprache lebt nicht von der Genauigkeit, sondern davon, daß sie trifft."
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Sonst sind Sie ja sehr für Genauigkeit — lassen wir das. Ich bin Ihrer Meinung: ,Geisterfahrer' ist ein gutes Wort, aber verstehen kann man es erst, wenn es sich eingebürgert hat und jeder weiß, daß nicht einer gemeint ist, der Geister herumfährt. Aber warum tadeln Sie dann ,Nobelherberge' (S. 215)? Nur weil es Spiegel-Jargon ist? Aber es ist doch kurz und brauchbar wie Geisterfahrer. Und was würden Sie — um noch ein Beispiel zu nennen — zu einer Prägung wie „Er ist ein 56facher Internationaler" sagen? Dies gehört in die Sportsprache, und der Internationale ist, das weiß jeder, kein Mann mit 56 Pässen, sondern einer, der 56mal in seiner Nationalmannschaft gegen eine andere Nationalmannschaft gespielt hat. Was ist falsch, was richtig, was gut, was schlecht? Einen Abschnitt S. 63 ff. überschreiben Sie mit „Über die schleichende Srilankitis". Hier behandeln Sie vor allem Ländernamen und tadeln, daß wir nicht mehr Persien und Ceylon sagen, sondern Iran und Sri Lanka. Das ist kein Problem der Sprachgestaltung, hier geht es nur um die Verwendung von Namen. Ihre Meinung in allen Ehren, aber ich meine, es sei richtiger, die Namen zu verwenden, die heute die offiziellen Namen sind. Es heißt eben Iran und Sri Lanka; und Sie werden auch nicht darum herumkommen, auf den Namen Obervolta zu verzichten und den neuen Burkina Faso zu verwenden, genau so wie Sie sicher heute schon von Zaire und nicht mehr vom Kongo sprechen. Im Falle von Rußland — Sowjetunion, England — Großbritannien — Vereinigtes Königreich, Holland — Niederlande ist dies anders. Diese Länder liegen in unserer Nähe, sind uns vertraut, Doppelund Dreifachbezeichnungen stören und verwirren nicht. Daß „jede Verneinung ein Problem" (S. 143) ist, vor allem im Deutschen, wissen die Sprachgermanisten schon lange; daß man es aber zu einem noch größeren Problem hochstilisieren kann, zeigen Sie auf den Seiten 143 ff. Sie sagen in der Einleitung zum 22. Kapitel:
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„Ja, wenn es üblich wäre, Verneinungen durch ein klares Nein, Kein oder Nicht auszudrücken! Doch statt dieser drei benutzen wir 73 Wörter und Silben — es sei denn mehr, weil dem Verfasser nicht alle eingefallen sind ... . Darunter befinden sich solche, deren verneinenden Charakter wir auf Anhieb nicht immer erkennen (Mangel, Flaute) oder gar leugnen würden wie bei den Verneinungssilben frei und unter (Man unterlasse es, koffeinfreien Kaffee zu trinken); ja selbst Silben wie ein und preis können eine Verneinung bewirken, wenn sie aus dem Büßen das Einbüßen und aus dem Geben das Preisgeben machen." (S. 143). Schon daran wird deutlich, daß Sie Verschiedenes in unzulässiger Weise vermischen. Das eine — ich vereinfache — sind die grammatischen und syntaktischen Möglichkeiten, ein Wort, eine Wortgruppe, einen Satz zu verneinen; das andere sind Wörter mit einer Bedeutung, die auf ein Minus hinweist im Vergleich mit der Bedeutung anderer Wörter: Mangel ein Minus an Fülle, Überfluß, Flaute ein Minus an Wind, schlecht ein Minus an gut. Sie hätten also in Ihre Liste auf S. 147 f. unter 2. noch viel mehr Adjektive und Substantive aufnehmen müssen. Aber alle diese Wörter, die Sie integrierte Verneinung' nennen, sind grammatisch-syntaktisch gesehen keine Verneinungen, und deshalb kann man von „einem zunehmendem Mangel an Weizen" (S. 144) reden. (Ihre Begründung, daß man es nicht kann, ist unter Ihrem Niveau; „der Weizen nimmt gar nicht zu, er nimmt ab" (ebda); natürlich, aber der Mangel, das Minus, nimmt zu, wird größer.) Auch hier wie überall Vernünftiges, Förderliches, neben Spitzfindigem, ja Falschem. Ich könnte auf nahezu jeder Seite etwas finden, das zu kritisieren wäre. Es soll genug sein. Doch etwas Grundsätzliches muß noch gesagt, Herrn Schneider vorgeworfen werden (ein anschauliches Verb, wenn auch im Passiv!): Er schreibt über Wörter und Sätze und sagt nahezu (ein sinnloses
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Flickwort!) nirgends etwas über Texte. Dabei fügen doch seine Profis Wörter immer zu Sätzen zusammen und bauen mit diesen Sätzen dann Texte. Herr Schneider weiß sicher, daß ein einfacher, allein stehender Satz in einen Text eingefügt die Verständlichkeit des Textes empfindlich stören kann und ein allein stehender, schwer verständlicher Satz innerhalb eines Textes die Verständlichkeit des Textes sogar fördern kann. Hätte er, was man heute Textlinguistik nennt, ins Zentrum gestellt, oder noch besser, hätte er damit sein Buch angefangen, dann hätte er nicht schreiben können, was auf S. 100 über die Wortstellung im Satz steht — und er hätte gut daran getan: Die Weichen für den Satz werden in seinem Vorfeld gestellt. „Vorfeld" heißen diejenigen Wörter, die dem Verb — genauer: dem konjugierten Teil des Verbs — vorausgehen. In dem Satz „Ich habe das schon immer gewollt" ist habe der konjugierte Teil des Verbs (gewollt das unkonjugierte Partizip). Die gerade Wortstellung (Normalstellung, Grundstellung, Nullstellung) ist die Abfolge Subjekt — Prädikat (Der Hund bellt) oder Subjekt — Prädikat — Objekt. (Der Hund beißt den Briefträger). Im Vorfeld steht also nur das Subjekt. Diese Wortstellung, obwohl die logische und am leichtesten verständliche, wirkt bei mehrfacher Wiederholung monoton — falls sie nicht aus besonderem Grund mit besonderem Geschick verwendet wird: Der König sprach's, der Page lief, Der Knabe kam, der König rief: Laßt mir herein den Alten! (Goethe) Von ungerader Wortstellung (Inversion) spricht man, wenn das Vorfeld nicht vom Subjekt, sondern von anderen Wörtern besetzt ist, vor allem: • von einer Konjunktion (aber, als, auch, denn) • von einer Präposition (auf, nach, über, wegen) • von einer Zeitbestimmung (Gestern war's...) • von einer Ortsbestimmung: „Ans Haff nun fliegt die Möwe..." (Theodor Storm) • vom Objekt (Den Biß überlebte der Briefträger nicht).
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Aber zurück zur Textproblematik. Zwei Beispiele sollen zeigen, w a s ich meine. A m 30. 12. 85 fand ich auf Seite 2 der Basler Zeitung einen „Tageskommentar" von Charles Landmann mit der Überschrift „Friede mit Bewährungsfrist". Die ersten zwei Abschnitte lauten: „Im Libanon herrscht seit Samstag formell Frieden zwischen den verschiedenen religiösen, konfessionellen, ideologischen Gruppierungen, Milizen und Sippen. Doch die Ruhe, die nun in dem seit fast elf Jahren vom Bürgerkrieg erschütterten Land herrscht, gleicht sowohl jener eines Friedhofs wie derjenigen vor dem Sturm. Denn das Friedensabkommen von Damaskus zwischen den Führern der wichtigsten christlichen, schiitischen und drusischen Milizen ist in erster Linie ein Totenschein für den bisherigen Libanon — diesen einst blühenden Staat, den ausgerechnet diejenigen, die nun sich so friedliebend geben, auf ihrem Gewissen haben. Da der Frieden aber auch Opfer fordert, nämlich von den schwächeren Gruppierungen, und auch Zurückhaltung von den stärkeren, ist die Grundlage für eine massive Opposition gegen das Abkommen bereits gelegt. Und weil sich die Libanesen angewöhnt haben, Meinungsverschiedenheiten einzig mit der Waffe auszutragen, ist der nächste Schusswechsel absehbar, das Friedensabkommen von zeitlich beschränktem Wert. Zumindest was die militärische Seite angeht. Und doch ist dem Abkommen von Damaskus gewaltige staatspolitische Bedeutung zuzumessen. Es wird den tatsächlichen Gegebenheiten im Lande der Zedern, das längst keine Schweiz des Nahen Ostens mehr war, viel eher gerecht, als der ungeschriebene Nationalpakt von 1943, auf dem bisher Libanons staatliche Macht und relative Funktionsfähigkeit beruhte. Die demographischen Veränderungen, denen der Staat seit der Verfassungsgebung im Jahre 1926 — als der Konfessionsproporz festgeschrieben worden war - und dem Nationalpakt von 1943 unterworfen war, diese demographischen Veränderungen, die ihren Ausdruck im Kampfgeschehen und im Ausgang des Bürgerkriegs fanden, haben sich nun im politischen Teil des Friedensabkommens niedergeschlagen." Ich halte diesen Kommentar für einen guten, verständlichen Text. Warum? Auf S. 1 derselben Ausgabe stand ein Artikel
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mit der Schlagzeile „Friedensabkommen für Libanon unterzeichnet". Dort, wo der Artikel auf S. 1 endet, steht der fettgedruckte Hinweis: „Fortsetzung und Tageskommentar Seite 2". Herr Landmann kann und darf annehmen, daß die Leser den Artikel auf S. 1 und 2 gelesen haben, bevor sie seinen Kommentar lesen (hier das Problem: Stand des Vorwissens der Leser, ein Problem, auf das Schneider auf den S. 133 ff. eingeht, leider nicht in der nötigen Breite und Tiefe). Die Sätze, die Herr Landmann schreibt, sind alles andere als kurz, das Kurzzeitgedächtnis (7 —14 Wörter pro Satz [S. 82 ff.]) wird recht strapaziert, denn der erste Satz hat 17, der zweite 26 und der dritte sage und schreibe 42 Wörter. Trotzdem, so meine ich, ist das Verstehen gesichert. Die Sätze sind klar strukturiert und die Abfolge der Aussagen ist ohne Bruch. Ich will das nicht im einzelnen aufweisen. Jeder von uns weiß, daß die Abfolge der Satzglieder in einem deutschen Satz anders ist als im Französischen oder Italienischen. Nicht die Abfolge Subjekt — Prädikat — Objekte u. a. ist bei uns die Regel; im Deutschen sind es sprachinhaltliche Kriterien. Vor dem an zweiter Stelle im Satz stehenden Verbum finitum, also a m Satzanfang, steht meistens etwas, was dem Leser aus den vorhergehenden Sätzen bekannt ist, was an Informationen des letzten Satzes anschließt. Der deutsche Satzanfang innerhalb eines Textes bildet ein Scharnier zum Vorhergegangenen. Und je sicherer diese Scharniere sind, desto leichter kann der Leser dem Gedankengang des Textes folgen. M a n kennt dieses Strukturgesetz unter dem Begriff Thema-RhemaStellung. Landmann hält sich ob bewußt oder unbewußt — an dieses Strukturgesetz. Dies läßt sich leicht im einzelnen nachprüfen. Ein zweites Beispiel: Ein anderer Artikel der Basler Zeitung vom 31. 12. 85, im Sportteil S. 30, trägt die Überschrift: „Scheinbar Unschein-
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bares im Monat Dezember. Pirmin Zurbriggen, Jogger und eine Mutter." Die ersten Abschnitte lauten: Der Saaser Pirmin Zurbriggen, 22 J a h r e alt, hat keine Initiative für eine Schweiz o h n e Armee eingereicht. Lediglich hat er die Initiative ergriffen — nicht als erster und wohl nicht als letzter — f ü r einen Spitzensport ohne Rekrutenschule, wie sie landesüblich ist. Auch f ü r diese mildere Form des militärischen Antrags steht allerdings regelmässig das Fettnäpfchen bereit. Viele Leute wollen zwar glänzend unterhalten sein und leiden an der Sucht, Applaus schenken zu dürfen. Aber gleichzeitig soll ein Star, bittschön, grad so sein wie ungefähr sie selbst. A m liebsten wäre ihnen vermutlich ein Bauer, der Doppelweltmeister würde, nachdem er soeben seine 50 Kühe gemolken und den Mist auf die Wiese gebracht hätte. Der Skifahrer Zurbriggen, ein senkrechter Spitzensportler vom Scheitel bis zur Sohle, wird in der Armee seine leidvollen Erfahrungen gemacht haben. Vermutlich nirgends werden so d u m m e Anweisungen gegeben, wie dort, wo sie Befehle sind. Ein Mensch mit innerem Halt, mit einem feu sacré und einem überdurchschnittlichen Leistungswillen kann den militärischen Schlendrian, notdürftig uniformiert mit Sisyphusarbeit, oft k a u m ertragen, von der Gewissensnot ganz zu schweigen. Die Sprache sagt es. Der Kopf eines Unternehmens, das Oberhaupt der Kirche, selbst noch ein « Bärnergrind » — Charakterisierungen sind es, die einer Person ein gehörig Mass an Wertschätzung garantieren. Als Militärkopf aber wird ein sturer Aufgeblähter bezeichnet, mit den Gaben des Geistes nicht unbedingt übermässig gesegnet. O f t ist die Sprache, sie selbst, revolutionärer als die Ideologinnen und Ideologen, die sich ihrer bedienen.
Diesen Text halte ich für schlecht, leserunfreundlich. Warum? Der erste Abschnitt bleibt verständlich, die Thema-RhemaStellung ist gewahrt. Wer Zurbriggen ist, was Initiative für eine Schweiz ohne Armee meint, was die Rekrutenschule ist, weiß der Schweizer Leser. Auch der erste Satz des 2. Abschnitts schließt direkt an: „Auch ... mildere Form des ...
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Antrags", greift das Rhema des letzten Satzes auf („militärischer Antrag" ist natürlich schlimm). Aber dann folgen Sätze, deren Anfang dem Leser kein direktes Anschließen an das Gesagte erlaubt; er kommt ins Schwimmen, und mit dem 4. Abschnitt hat er viel Gedankenarbeit nötig, bis er versteht, was in diesem Artikel „die Sprache" zu suchen hat. Über diese ,Textprobleme' findet sich bei Schneider nichts. Aber kann man darüber reden, wie Sprache verständlich gemacht werden soll, wenn man nur von Wörtern und Sätzen redet und über Textstrukturen, Herstellen von verständlichen Texten gar nichts zu sagen weiß? Herr Schneider möge doch einmal Bücher der erfolgreichsten Trivialautoren lesen, von Karl May über Ganghofer, die Marlitt bis zu Simmel. Es ist nicht nur der Inhalt, der die Leute diese Bücher lesen läßt, es liegt auch und nicht zuletzt daran, daß diese Erfolgsautoren die Thema-Rhema-Struktur im allgemeinen konsequent durchhalten und dadurch Lesen und Verstehen erleichtern. Das Fazit: „Wege zu gutem Stil" zeigt Schneider aufs Ganze gesehen nicht. Seine Argumente sind oft nicht stichhaltig, die Argumentationsebenen verschieden und oft der Sprache ungemäß. Vieles ist allzu subjektiv und ungenau, manches läßt ungenügende sprachwissenschaftliche Kenntnisse vermuten. Schneiders (Sowinskis) Stilbegriff reicht nicht aus: S. 1'67 sagt Schneider: „Doch am ungewohnten Wort trennen sich die Wege. Stil ist die Abweichung vom Üblichen und Erwarteten, definiert Sowinski. Eine literarische Definition, gewiß — doch ist den Journalisten der literarische Ehrgeiz nicht verschlossen, im Feuilleton und in der großen Reportage hat er sogar seinen Platz." Stil ist nicht Abweichung vom Üblichen und Erwarteten. Unsere Sprache stellt uns vielmehr für jede Aussageabsicht verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Die für eine Aussageabsicht angemessene Auswahl aus diesen Möglichkeiten, das ist Stil. Was aber für eine Aussageabsicht, eine Textsorte
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angemessen ist — das πρέπον der antiken Rhetorik bestimmen Konventionen, die zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Gesellschaft gelten. Sicher, Sprache ist zu pflegen; Journalisten und andere Profis — dazu gehören auch die Wissenschaftler — müssen immer wieder ermahnt werden, sich um die Sprache zu bemühen, Aussageabsicht und deren sprachliche Gestaltung möglichst zur Deckung zu bringen, Ungenauigkeiten, Schwulst und bloßes Wortgeklingel zu bekämpfen; aber so, wie es Schneider lehrt, genügt es nicht. Nach dem Lesen seines Buches muß ich mich leider dem anschließen, was Hugo Steger und Rainer Wimmer in einem ,Kurzbericht über die Podiumsdiskussion „Sprachglossen in Zeitungen und Zeitschriften" ' geschrieben haben (vgl. R. Wimmer 1985, 230 - 232): „Eine besonders rigide und kompromißlose Einstellung zu Normierungsfragen demonstrierte Wolf Schneider, für den Sprache, Sprecher und Sprachgebrauch ,Gegenstände' sind, die man vor allem einmal auf Vordermann bringen muß. Der Vergleich mit militärischen Ordnungsvorstellungen drängte sich geradezu auf." (S. 231). Und ich muß mich diesem Verdikt vor allem deshalb anschließen, weil es heute und morgen nötiger denn je zuvor ist, daß Journalisten ein gut verständliches Deutsch schreiben, Texte verfassen, deren Informationen mit größtmöglicher Sicherheit vom Leser aufgenommen und verstanden werden können. Mir geht es im Blick auf Ihre Profis um eine solche Sprache; ich wende mich aber mit aller Schärfe gegen alle Sprachdiktatoren. „Schlußendlich" (S. 217, ist ein Helvetismus, lassen Sie ihn uns, Herr Schneider) ein tröstendes Wort: Ich lese Zeitungen und Zeitschriften, höre Radionachrichten, sehe die Tagesschau u. a. So schlecht, wie Wolf Schneider meint, ist das Journalistendeutsch nicht. Das dauernde Gerede vom Zerfall der deutschen Sprache, vor allem der Journalistensprache,
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ödet mich an. Natürlich gibt es Schlamperei und supergeistreichseinwollendes Geschwätz, aber sehr, sehr viele Journalisten mühen sich mit der Sprache ab und meist mit Erfolg. Journalisten sind meist besser als ihr Ruf. Und die Dudenredaktion? Hat sie kapituliert? Auch hier irrt Schneider. Er spricht vom sechsbändigen Dudenwörterbuch. Aber ein Wörterbuch ist ein Wörterbuch, keine Lehre „zu gutem Stil". Was ein Wörterbuch zur Stilistik sagen kann, sagt es: sechsbändiger Duden, Band 1, S. 15, Deutsches Universalwörterbuch S. 157. Mehr an Stilistischem kann und soll ein Wörterbuch nicht sagen. Es muß zuerst und vor allem anhand eines reichen Belegmaterials registrieren — und das tut es. Schade, daß auch Schneiders Buch trotz viel Nützlichem eher verwirrt als fördert, ähnlich wie andere, der „Wustmann" etwa oder die noch viel schlimmeren „ ... Leiden der jungen Wörter" von Hans Weigel. Ein Wegweiser zu einem guten Stil wäre noch zu schreiben — von einem Sprachwissenschaftler?
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In der Diskussion über Sprachnormen wird nicht immer genügend berücksichtigt, daß zum Nomen „ N o r m " zwei Adjektive gehören, nämlich „normativ" und „normal". Im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit steht — positiv oder negativ — die normative Norm. Man fragt also, wie man sprechen oder schreiben soll, oder man wehrt sich dagegen, daß jemand mit Autorität darüber bestimmt, welches sprachliche Verhalten erwünscht und welches nicht erwünscht ist. Während nun das ältere Sprachdenken, häufig in Gestalt der Sprachpflege oder Sprachkritik, mit großer Unbefangenheit normative Positionen bezog und verteidigte, hat die neuere Linguistik in der Regel alle normativen Versuchungen weit von sich gewiesen und sich strikt deskriptiv verhalten, um auf diese Weise keinen Zweifel an der Wissenschaftlichkeit ihrer Sätze aufkommen zu lassen. So sind nun heute so gut wie alle unsere Grammatiken und Wörterbücher, auch die von der Duden-Redaktion gemachten, ebenso wie die Masse der linguistischen Literatur Ausdruck eines großangelegten wissenschaftlichen Unternehmens, die betreffende Sprache ohne alle Rücksicht auf noch so legitime Wünsche, wie sie sein sollte, genau so zu beschreiben, wie sie tatsächlich ist. Es scheint, als sei damit der Übergang von der Normativität zur Normalität problemlos gelungen. Aber so einfach verhält es sich mit den linguistischen Dingen natürlich nicht. Jede Beschreibung, die für eine gegebene Sprache, etwa die deutsche Sprache, einen bestimmten
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Sprachgebrauch als normal ermittelt, gehorcht selber bestimmten Beschreibungsnormen, die im Idealfall wissenschaftstheoretisch gesichert und ständiger kritischer Revision ausgesetzt sind, häufig aber auch unausgesprochen bleiben und unreflektiert in das Bild des normalen Sprachgebrauchs eingehen. Insofern ist in jeder Normalität eine Normativität enthalten und oft auch versteckt. Das ist die Normativität vor der Normalität. Es gibt aber auch eine Normativität nach der Normalität. Denn gerade wenn die Linguistik sich befleißigt, ihren Gegenstand strikt deskriptiv so darzustellen, wie er normalerweise ist, befestigt sie damit die ermittelte Normalität stärker, als es je durch die Sollenssätze einer normativen Linguistik geschehen könnte. Wer will schon anders sprechen und schreiben, als es normal ist!1 Gegen diese Verhältnisse ist nun grundsätzlich nichts einzuwenden, und vor allem sind sie nicht zu ändern. Man sollte sie allerdings kennen und nicht meinen, die strikt deskriptive Methode habe der Linguistik die Normen ein für allemal vom Leibe geschafft. Wünschenswert ist unter diesen Umständen insbesondere, daß alle linguistischen Beschreibungen in Grammatiken und Wörterbüchern möglichst deutlich ihre theoretischen Vorgaben zu erkennen geben, die als Beschreibungsnormen in sie eingegangen sind. Ich möchte diese Zusammenhänge im folgenden an einem Problemfall erläutern, der bei der Arbeit an meiner im Entstehen begriffenen „Textgrammatik der deutschen Sprache" aufgetreten ist. Diese Grammatik soll in ihren methodischen Grundlagen meiner „Textgrammatik der französischen Sprache" (1982) folgen und wie diese das Verb in den Mittelpunkt der syntaktischen Beschreibung stellen. Schon das ist übrigens eine Beschrei1
Zur Normenproblematik vgl. insbesondere die von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung herausgegebenen
Bände Der öffentliche
Sprachgebrauch.
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bungsnorm, deren Geltung nicht selbstverständlich ist, hier aber nicht weiter problematisiert werden soll, da die neuere Pragmalinguistik genügend Argumente bereitgestellt hat, mit denen eine handlungsorientierte Linguistik ihre Vorentscheidung zugunsten einer verborientierten Beschreibung der Syntax plausibel machen kann. Aber schon die nächsten Beschreibungsschritte verdienen eine genaue und kritische Betrachtung, da sie für das Normalbild von der deutschen Sprache von entscheidender Bedeutung sind. Es geht dabei insbesondere um die Frage, welche Stellung des deutschen Verbs als Normalstellung angesehen werden kann.
1. Es ist in Grammatiken der deutschen Sprache üblich, die Stellung des Verbs nach den drei Positionen Erststellung, Zweitstellung und Endstellung zu unterscheiden. Nun könnte man natürlich diese drei Stellungen einfach nacheinander vornehmen und sie in ihren Bedingungen katalogartig beschreiben. Das wäre aber eine unbefriedigende, weil unökonomische Beschreibungstechnik. Tatsächlich finde ich in allen mir bekannten Grammatiken und diesbezüglichen Monographien eine andere Beschreibungstechnik angewandt, die aufgrund bestimmter theoretischer Vorgaben Relevanzentscheidungen trifft und eine dieser Stellungen als Normalstellung, die anderen beiden Stellungen als Varianten dieser Normalstellung beschreibt. Meistens gilt die Zweitstellung des Verbs als normal, da sie im deklarativen „Hauptsatz" auftritt, wie ihn die (Aussagen-)Logik liebt. Endstellung und Erststellung des Verbs werden von dieser Grundstellung aus als Abweichungen erfaßt. Nicht ohne Reiz ist daneben ein alternatives Beschreibungsverfahren, in dem man die Endstellung des Verbs, wie sie im deutschen „Nebensatz" auftritt, als Normal-
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Stellung ansieht und von ihr ausgehend die beiden anderen Stellungen als Abweichungen beschreibt. 2 Die dritte Möglichkeit, von der Erststellung des Verbs als Normalstellung auszugehen, um von ihr aus Zweitstellung und Endstellung als Abweichungen zu beschreiben, ist bisher meines Wissens in expliziten Beschreibungen der deutschen Sprache nicht ergriffen worden, obwohl ihr natürlich ebenfalls keine grundsätzlichen methodischen Bedenken entgegenstehen würden. Daß die skizzierten Beschreibungsnormen zur Ermittlung einer Normalstellung des deutschen Verbs Folgen für die gesamte Beschreibung der deutschen Grammatik und insofern für das Normalbild von der deutschen Sprache haben, läßt sich an einer Reihe von neueren Publikationen zur Sprachentypologie im Rahmen der Universalienforschung deutlich ablesen. In dieser universalistischen Sprachentypologie spielt die Stellung des Verbs (hier meistens Prädikat genannt) eine besondere Rolle, und man unterscheidet die Sprachen der Welt beispielsweise danach, ob sie dem SubjektPrädikat-Objekt-Typus (S-P-O-Sprachen) oder dem SubjektObjekt-Prädikat-Typus (S-O-P-Sprachen) angehören. 3 Zu welchem Typus gehört nun die deutsche Sprache? Die Antwort fällt verschieden aus, je nach den Beschreibungsnormen. Setzt man die Zweitstellung des Verbs als normal an, so ist die deutsche Sprache eine S-P-O-Sprache. Ist hingegen die Endstellung des Verbs normal, so muß die deutsche Sprache als S-O-P-Sprache gelten. Sind schließlich beide Stellungen gleichermaßen normal, die eine im „Hauptsatz", die andere
2
3
Vgl. hierzu besonders H. Wunderlich/H. Reis 1924/25, E. Bach 1970. Zur Typologie der Wortstellung in den Sprachen der Welt und den damit verbundenen Universalien-Problemen vgl. J. H. Greenberg 1963, J. H . Greenberg 1974, T h . Vennemann 1984 und P. Ramat 1985 (mit umfangreicher Bibliographie).
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im „Nebensatz", so kann man die deutsche Sprache typologisch gar nicht genau einordnen und muß sie als Mischtypus bezeichnen, was dann wiederum die historische Frage auslösen kann, ob sie yielleicht eine ursprüngliche S-P-O-Sprache auf dem Wege zu einer S-O-P-Sprache ist oder umgekehrt. 4 Ich bin nun der Ansicht, daß die deutsche Sprache weder als S-P-O-Sprache noch als S-O-P-Sprache und schon gar nicht als Mischphänomen zwischen diesen beiden Typen adäquat beschrieben werden kann. Denn in sehr vielen Fällen ist das Verb in der deutschen Sprache zweiteilig, und da findet man meistens das erste Element des Verbs in der Zweitstellung, das zweite in der Endstellung. Wie wäre es denn, wenn man in der deutschen Sprache die Zweiteiligkeit des Verbs, da sie doch so häufig auftritt, als Normalstellung auffaßte? Welches Bild von der deutschen Sprache würde sich aus dieser Beschreibungsnorm ergeben? Ich habe mich nun nach eingehender Diskussion mit meinen Mitarbeitern für diese Beschreibungsnorm entschieden und werde sie der geplanten Textgrammatik zugrunde legen. Bei dieser Entscheidung hat natürlich die Überlegung eine große Rolle gespielt, durch welche Eigenschaften sich eine Textgrammatik überhaupt von anderen Grammatiken unterscheidet. Denn eine Textgrammatik ist ja nicht eine Grammatik von Texten, sondern eine textuelle Grammatik. Anders ausgedrückt, eine Textgrammatik ist nicht eine Satzgrammatik, die um eine zusätzliche Nische Text erweitert wäre, sondern eine in ihrer Substanz von den Prinzipien der Textlinguistik regierte Grammatik. Daraus ergibt sich eine allgemeine Beschreibungsnorm, die besagt, daß bei der Beschreibung jedes grammatischen Phänomens alle diejenigen Funktionen als primär angesehen werden, die zur Textbildung beitragen. Nun will ich nicht behaupten, in allen anderen 4
Vgl. W. P. Lehmann 1971.
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Grammatiken seien die textbildenden Funktionen bisher völlig vernachlässigt worden. So hat es gewiß bisher noch keine Grammatik unterlassen, die eminent textbildenden Funktionen der Genus- und Numerus-Kongruenz zu beschreiben. Auch die Phänomene der textuellen Referenz, insbesondere durch Pronominalisierung, sind im Prinzip seit der antiken Grammatik bekannt und werden in allen Grammatiken beschrieben. Allerdings hat die Textlinguistik in ihrer ersten Arbeitsphase hier noch manche ergänzenden Beobachtungen machen können, die sich insbesondere auf die Leistung der Pronomina bei der Textkonstitution „jenseits des Satzes" erstrecken. Aber darüber hinaus bleibt es die Aufgabe der gegenwärtigen und jeder zukünftigen Textlinguistik, das Repertoire der textbildenden Faktoren in der Grammatik in seinem ganzen Ausmaß zu entdecken und in ihren Beschreibungen bekanntzumachen. Unter diesen methodischen Prämissen gewinnt nun die Zweiteiligkeit vieler deutscher Verben und die dadurch bewirkte Klammerbildung ein besonderes Interesse. Denn wenn ein Verb im Text zweiteilig (oder mehrteilig) ist, so daß seine Teile über ein kürzeres oder längeres Textstück hinweg eine Klammer bilden, so ist diese Klammer zweifellos ein wichtiger Beitrag zur Textualität dieses Textes. Offensichtlich ist die Bedeutung des Verbs dann weder mit dem ersten noch mit dem zweiten Verbteil zu identifizieren, sondern ergibt sich erst aus dem Gesamtverb mit seinen beiden textuell getrennten Teilen. Diese Teile wollen wir im folgenden Vorverb und Nachverb nennen und können dann das nachfolgende Beispiel so analysieren: / auf einer Gasse kamen mir einzelne Frauen entgegen / NACHVERB VORVERB VERBALKLAMMER
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M a n darf sich hier durch die Graphik nicht täuschen lassen, es handelt sich nur in geschriebener Sprache um Stellungen, die man nach links und rechts beschreiben kann. In der gesprochenen Sprache, und darum haben wir diese Begriffe gewählt, ist das Vorverb das frühere und das Nachverb das spätere Signal. Das ist wichtig zum sprachpsychologischen Verständnis der Verbalklammer. Denn wenn sich die Bedeutung des Verbs aus zwei Teilen zusammensetzt, so erhält der Hörer mit dem Vorverb noch nicht „die" Bedeutung des Verbs, sondern nur eine Bedeutungserwartung, die je nach dem Kontext mehr oder weniger stark sein kann. Erst das Nachverb bringt dann die Erfüllung der Bedeutungserwartung, durch die diese entweder bestätigt oder korrigiert wird. Auch in der schriftlichen Kommunikation ist die Verbalklammer, da ja das lesende Auge von links nach rechts wandert, ein Spannungsbogen zwischen den Polen Erwartung und Erfüllung. So ist auch die Verbalklammer (oder Satzklammer, wie man sie gelegentlich nennt) seit E. Drach in der Literatur oft beschrieben worden. 5 Aber hier ist nun sogleich eine Stelle, an der ich von der Beschreibung, wie sie in den meisten Grammatiken und einschlägigen Monographien zu finden ist, abweichen werde. Was ich hier Vorverb und Nachverb genannt habe, heißt an anderer Stelle gewöhnlich Verb und Verbzusatz (oder ähnlich). Das scheint mir eine inadäquate Benennung und folglich auch inadäquate Beschreibung des Sachverhalts zu sein. Ich vermag nicht einzusehen, warum die zeitliche Priorität des Vorverbs vor dem Nachverb im Textverlauf ohne weitere Begründung in eine linguistische (oder „logische") Priorität umgedeutet werden soll. Ich bestehe also darauf, daß das
5
E. Drach 1963. - Vgl. auch K. Boost 1955, U. Engel 1970 und P. Schröder 1971.
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Nachverb in der grammatischen Beschreibung als grundsätzlich gleichrangiger Bestandteil des Verbs und seiner Bedeutung angesehen wird. Es gibt in diesem Bereich noch eine zweite Benennungsfrage, die in Wirklichkeit auch eine vorweggenommene Beschreibungsfrage ist. Ich habe die in diesem Beispiel vorkommende Verbform kam ... entgegen ein zweiteiliges Verb genannt. Auch das ist eine Benennung, wie sie in den meisten Grammatiken und Monographien zu diesem Thema nicht üblich ist. Man spricht dort von „trennbaren" Verben. Diese Benennung ist nur dann gerechtfertigt, wenn man den Infinitiv als Normalform des Verbs ansieht. Im Infinitiv werden ja nach den Regeln der deutschen Orthographie die beiden Teile des Verbs, übrigens mit Umkehrung der Reihenfolge, zusammengeschrieben, so daß man in der geschriebenen Sprache ein einziges Wort vor sich hat. Dieses Wort ist aber trennbar und wird in seinen einfachen finiten Formen getrennt, wie das oben gegebene Beispiel zeigt. Diese Auffassung ist natürlich nicht falsch, aber sie bringt doch einige Nachteile mit sich, die sich auf die weitere Beschreibung ungünstig auswirken. Bekannt ist beispielsweise, um mit der didaktischen Seite zu beginnen, die Schwierigkeit, die sich daraus ergibt, daß die trennbare Form übersetzen (vgl. ich setze ... über) und die nicht trennbare Form übersetzen (vgl. ich übersetze) nach den Regeln der deutschen Orthographie in der Infinitivform nicht graphisch unterschieden sind, so daß man sich, wenn man diese Formen lehren will, mit diakritischen Zeichen außerhalb des Repertoires der deutschen Orthographie behelfen muß. Es ist didaktisch viel einfacher, die beiden Verben von Anfang an mit einer finiten Form als deskriptiver und didaktischer Normalform vorzuführen, so daß sie sich von vornherein in unterschiedlicher Gestalt zeigen. Das ist die natürlichste Art der Disambiguierung.
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Wichtiger ist mir jedoch ein anderer Aspekt bei diesem Benennungs- und Beschreibungsproblem. Es steht außer Frage und kann durch kleine Probeauszählungen an mündlichen oder schriftlichen Texten der deutschen Sprache leicht überprüft werden, daß die Verben dieses Typus nicht nur trennbar sind, sondern in den meisten Fällen ihres Gebrauchs (als tokens) tatsächlich auch getrennt vorkommen. Sie bilden dann also eine Verbalklammer. Da die deutsche Sprache sich nun gerade durch ihre Vorliebe für Klammerstrukturen von den meisten ihrer europäischen Nachbarsprachen und anderen großen Weltsprachen unterscheidet, so daß diese Struktur auch für Sprachlernende solcher Herkunftssprachen besonders schwierig ist und zu einer Häufung von Interferenzfehlern führt, scheint es mir deskriptiv und didaktisch richtig zu sein, dieser Schwierigkeit von Anfang an Rechnung zu tragen und die grammatische Beschreibung von dem grammatischen „Sonderweg" der deutschen Sprache her zu organisieren. Ich leite daraus für die geplante Textgrammatik der deutschen Sprache die Folgerung ab, als Grundform des deutschen Verbs nicht den Infinitiv, sondern eine finite Verbform zu nehmen, wie das ja auch in den Grammatiken einiger anderer Sprachen, beispielsweise des Altgriechischen, der Brauch ist. In dem oben gegebenen Beispiel soll die Grundform des Verbs also lauten: komme — entgegen, wobei der Strich zwischen dem Vorverb komme und dem Nachverb entgegen für denjenigen Kontext steht, der nach den Stellungsregeln der deutschen Grammatik zwischen Vorverb und Nachverb zugelassen ist. Von hierher erreicht man dann wieder mühelos die bekannte Beschreibung des deutschen Satzes nach drei Feldern: dem Vorfeld (vor dem Vorverb), dem Mittelfeld (zwischen Vorverb und Nachverb) und dem Nachfeld (nach dem Nachverb). In dem nachfolgenden Beispiel aus einem literarischen Text sind alle drei Felder besetzt:
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/ unter den zahllosen Männern kamen mir einzelne Frauen entgegen, unverschleiert VORVERB NACHVERB VORFELD
MITTELFELD
NACHFELD
Mit den Regeln zur Verteilung der Information auf die drei Felder werde ich mich in diesem Aufsatz nicht befassen. 6
2. Das besprochene Beispiel ist einem Textstück entnommen, das auch in der geplanten Textgrammatik an wichtiger Stelle der texdinguistischen Argumentation eine Rolle spielen soll. Es handelt sich um die Schrift „Die Stimmen von Marrakesch" von Elias Canetti (1967). 7 Auf diesen Text werden wir uns auch im folgenden noch weiter beziehen und dabei insbesondere auf seine verbale Struktur achten. Bei der nachfolgenden Wiedergabe des Textes sind die Verbformen durchlaufend numeriert. Die Ziffer steht jeweils hinter dem Verb, bei zweiteiligen Verben hinter dem Vorverb. Der Text lautet wie folgt: Ich ging (1) nun auf einer Gasse, die vom Bazar des Eingangs tiefer in die Mellah hineinführte (2). Sie war (3) dicht belebt. Mitten unter den zahllosen Männern kamen (4) mir einzelne Frauen entgegen, unverschleiert. Ein uraltes, völlig verwittertes Weib schlich (5) daher, sie sah (6) aus wie der älteste Mensch. Ihre Augen waren (7) starr in die Ferne gerichtet, sie schien (8) genau zu sehen (9), 4 7
Vgl. hierzu H. Griesbach 1978. E. Canetti: Die Stimmen von Marrakesch. Taschenbuchausgabe Fischer Taschenbuch Frankfurt 1980, S. 47 f.
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wohin sie ging (10). Sie wich (11) niemandem aus, während andere Kurven beschrieben (12), um durchzukommen (13), war (14) um sie immer Platz. Ich glaube (15), man fürchtete (16) sie: Sie ging (17) ganz langsam und hätte (18) Zeit gehabt, jedes einzelne Geschöpf zu verwünschen (19). Die Furcht, die sie einflößte (20), war (21) es wohl, die ihr die Kraft zu ihrer Wanderung gab (22). Als sie endlich an mir vorüber war (23), wandte (24) ich mich um und sah (25) ihr nach. Sie spürte (26) meinen Blick; denn sie drehte (27) sich, so langsam wie sie ging (28), zu mir zurück und nahm (29) mich voll ins Aug. Ich machte (30) mich schleunigst davon; und so instinktiv war (31) meine Reaktion auf ihren Blick gewesen, daß ich erst später merkte (32), wieviel rascher ich nun ging (33). Die einfachste Beobachtung, die an den Verben dieses Textes gemacht werden kann, ist wohl die, daß einige Verben einteilig und andere zweiteilig sind. Einteilig ist beispielsweise die Verbform (1): ich ging. Zweiteilig ist die bereits erwähnte Verbform (4): kamen — entgegen, ferner die Verbformen (5): schlich — daher, (6): sah — aus, (11): wich — aus, (24): wandte — (mich) um, (25): sah — nach, (27): drehte — (sich) zurück, (30): machte (mich) — davon. Aber auch die Form (29) nahm — ins Aug muß als zweiteilige Verbform angesehen werden. Man spricht bei solchen Formen bekanntlich von Funktionsverben. Das ist eine glückliche Benennung, die ich hier gern übernehmen will, allerdings mit einer nicht unwichtigen Abweichung vom herrschenden fachsprachlichen Usus. Ebenso nämlich wie bei den anderen zweiteiligen Verben ist es bei der Erforschung der Funktionsverben üblich geworden, nur das finite Element, in unserem Beispiel also die Form nahm, Funktionsverb zu nennen und das nicht-finite Element, in unserem Beispiel also den Ausdruck ins Aug, wieder nur als „Verbzusatz" zu berücksichtigen. Mit dieser Benennung,
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die natürlich auch wieder die Beschreibung vorsteuert, kann ich mich hier ebensowenig abfinden wie bei den vorher besprochenen einfachen zweiteiligen Verben, und ich werde also in der Konsequenz der oben angestellten Überlegungen auch hier das ganze zweiteilige Verb nahm — ins Aug Funktionsverb nennen, mit dem (finiten) Vorverb nahm und dem Nachverb ins Aug, bei dem mich nicht stört, daß es in diesem Fall aus zwei Sprachzeichen besteht. Das ist eben das Besondere vieler Funktionsverben.8 Die bisher besprochenen (und der Forschung natürlich als Phänomene bekannten) Verbalklammern wollen wir unter dem Oberbegriff lexikalischer Verbalklammern (abgekürzt: Lexikalklammern) zusammenfassen. Sie sollen so heißen, weil sie als lexikalische Einheiten im Wörterbuch erfaßt werden — oder erfaßt werden sollten. Ob sie allerdings in den existierenden Wörterbüchern der deutschen Sprache schon ihre günstigste Darstellung gefunden haben, ist eine offene Frage und sollte in Zukunft noch Gegenstand der lexikographischen Reflexion werden. Vergleichen wir nur die beiden bisher besprochenen Typen, also solche zweiteiligen Verben wie komme — entgegen und nehme — ins Aug. Zweiteilige Verben des ersten Typus werden in den meisten Wörterbüchern unter der Infinitivform entgegenkommen lemmatisiert, also vom Nachverb her betrachtet. Zweiteilige Funktionsverben hingegen wie nehme — ins Aug (umgangssprachlich häufiger: fasse — ins Auge) erscheinen im Wörterbuch unter dem Lemma des Vorverbs, also unter der Infinitivform nehmen. Das ist eine lexikographische Inkonsequenz, die zu denken gibt. Ist sie vielleicht dadurch zu beheben, daß man dem Beispiel des Sprach-Brockhaus folgt und die zweiteiligen Verben unter den Simplexformen der betreffenden Verben 8
Zu den Funktionsverben bzw. Funktionsverbgefügen vgl. besonders P. v. Polenz 1963, W. Herrlitz 1973 und G. Heibig 1979.
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lemmatisiert, bei unserem Beispiel also das zweiteilige Verb komme — entgegen unter dem Lemma komme}9 Das ist eine Frage, bei deren Beantwortung sicher verschiedene lexikographische Gesichtspunkte zu beachten sind. Vielleicht braucht sie auch gar nicht für alle Wörterbücher in der gleichen Weise beantwortet zu werden. Ich meine jedenfalls, daß wenigstens ein Wörterbuch diesem Lemmatisierungs-Prinzip folgen sollte, um den Wörterbuchbenutzern auf diese Weise einen bisher noch wenig benutzten Zugang zur deutschen Sprache zu eröffnen. Es ist möglich, die lexikalischen Klammerverben (so können wir diejenigen zweiteiligen Verben nennen, mit denen lexikalische Verbalklammern gebildet werden) zu subkategorisieren, und zwar nach dem grammatischen Charakter des Nachverbs. Das Nachverb kann beispielsweise sein: ein (meistens deiktisches) Adverb {schleiche — daher), eine Präposition (sehe — aus), ein nicht-flektiertes Adjektiv (fahre — schwarz), ein nicht-artikuliertes Nomen (laufe — Ski), ein präpositionaler Ausdruck (setze — in Kenntnis). Gemeinsam ist allen diesen Nachverben, daß sie der Form nach invariant sind. Ob allerdings doch gewisse morphematische Varianten, beispielsweise die Steigerungsformen, als vereinbar mit der grundsätzlichen Invarianz der Nachverben berücksichtigt werden können, ist eine erwägenswerte Frage, die allerdings hier nicht weiterverfolgt werden soll. Wenn wir nun die grammatischen Leistungen des Vorverbs und des Nachverbs in einem zweiteiligen Verb miteinander vergleichen, so können wir eine sehr elegante Aufgabenverteilung feststellen. Das Vorverb ist in seiner Form sehr variabel, da es als finite Form Träger sehr wichtiger grammatischer Determinanten ist: Person, Tempus, Modus. Die lexikalische Bedeutung des Vorverbs ist dagegen eher schwach und be9
Vgl. Der Sprach-Brockhaus.
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gniigt sich in vielen Fällen mit einem recht weiten Bedeutungsrahmen, der zur Erzeugung einer gewissen Bedeutungserwartung ausreicht. Das Nachverb hingegen verzichtet mit der Invarianz seiner Form auf (fast) jede weitere grammatische Information, gibt dem Hörer jedoch in vielen Fällen, insbesondere bei den Funktionsverben, eine präzisere lexikalische Information. Wir können das Vorverb daher auch den grammatischen Verbteil, das Nachverb den lexikalischen Verbteil der Verbalklammer nennen und für ihre normale Abfolge feststellen, daß die Verteilung der (vorwiegend) grammatischen und der (vorwiegend) lexikalischen Information auf die beiden Teile des Verbs den allgemeinen Regeln der Informationsverteilung nach dem Thema-Rhema-Prinzip gehorcht. Zwar zeigen nicht alle lexikalischen Verbalklammern diese Informationsverteilung in gleicher Deutlichkeit, doch ist sie wenigstens tendenziell bei allen zweiteiligen Verben nachweisbar und wird uns unten bei anderen Typen der Verbalklammer noch weit deutlicher begegnen.
3. Da ich nun eingangs gesagt habe, es solle in der geplanten Textgrammatik der deutschen Sprache das zweiteilige Verb als Normalform des deutschen Verbs angesehen werden, obwohl doch bei weitem nicht alle Verben der deutschen Sprache zweiteilig sind, ist zu fragen, ob das nicht schon von der Frequenz her abwegig ist. Diese Frage ist jedoch in der einfachen Form, wie ich sie hier gewählt habe, nach dem gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse überhaupt nicht zu beantworten. Da alle Frequenz-Wörterbücher der deutschen Sprache von der orthographischen Einheit Wort ausgehen, kann man aus diesen Quellen keine zuverlässigen Auskünfte über die Frequenz zweiteiliger Verben erhalten, mindestens
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was die Funktionsverben betrifft. Die Frequenzverteilung zwischen einteiligen und zweiteiligen Verben ist überdies sehr stark von der Situation und Textsorte abhängig. In dem oben abgedruckten Erzähltext von Elias Canetti sind zweiteilige Verben recht häufig, in argumentativer Prosa sind sie seltener. Generell kann man sagen, daß zweiteilige Verben um so häufiger vorkommen, je mehr man sich der gesprochenen Umgangssprache nähert. Für die Funktionsverben allerdings, die ebenfalls zweiteilig sind, erhält man eine abweichende Frequenz-Regel, der zufolge gerade bestimmte fachsprachliche Texte besonders viele zweiteilige Verben dieses Typus enthalten. Dabei spielen auch Unterschiede des stilistischen Registers eine erhebliche Rolle. In allgemeinster Form besagt die diesbezügliche Regel, daß man die zweiteiligen Verben eher in einem niedrigeren, aber ebendarum auch kraftvolleren Register findet (zum Beispiel: fange — an, höre — auf, lese — vor), während in einem höheren, aber ebendarum auch schwächeren und gezierteren Register die einteiligen Verben häufiger sind (zum Beispiel: beginne, beendige, rezitiere). Dabei spielt eine erhebliche Rolle, daß die meisten Kulturwörter griechisch-lateinisch-romanisch-englischer Herkunft („Fremdwörter"), soweit es sich um Verben handelt, einteilig sind (zum Beispiel: probe, regle, studiere, marschiere). Z w a r ist mit der lexikalischen Einbürgerung dieser Kulturwörter auch die Möglichkeit eröffnet, sie zu zweiteiligen Verben weiterzubilden (zum Beispiel: marschiere — ab), doch nimmt die deutsche Sprache sehr viel lieber Verben mit elementarleiblicher Bedeutung als Vorverben zweiteiliger Verben (zum Beispiel: setze — ein, stelle — auf, lege — weg, fahre — ab). Daraus folgt, daß man ganz unterschiedliche Frequenzwerte für die Verteilung von einteiligen und zweiteiligen Verben in der deutschen Sprache erhält, je nachdem in welchem Umfang man in dem Korpus, das der Frequenzberechnung zugrunde liegt, bei den Verben die vorwiegend einteiligen Kulturwörter
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der Fachsprachen berücksichtigt. Es wird sich aber in den anschließenden Überlegungen zeigen, daß die Entscheidung zugunsten der einteiligen oder zweiteiligen Verbform als Normalform des deutschen Verbs nicht nur von den bisher besprochenen lexikalischen Verbalklammern her zu treffen ist. Es gibt nämlich zusätzlich zu den bisher erörterten Formen zweiteiliger Verben noch eine weitere Klammerform, die wir die Prädikationsklammer nennen und ebenfalls zu den lexikalischen Verbalklammern zählen wollen. Schauen wir zunächst auf den Canetti-Text. Wir finden dort auch die folgenden Klammerausdrücke (3) war — belebt und (14) war — Platz. Nichts spricht dagegen, prädikative Ausdrücke dieser Art ebenfalls als zweiteilige Verben aufzufassen. Vorverb ist jeweils ein Prädikationsverb (eine „Kopula"), die nach den grammatischen Determinanten Person, Tempus und Modus variabel und lexikalisch bedeutungsschwach ist. Das paßt gut zu den Beobachtungen, die wir bisher schon an den anderen Formen der lexikalischen Verbalklammer machen konnten. Nachverb ist im Beispiel (3) ein nicht-flektiertes Adjektiv {belebt), im Beispiel (14) ein nicht-artikuliertes Nomen {Platz). Beide Ausdrücke sind grammatisch invariant, wenigstens in dem Sinne, daß sie keine Flexionsmerkmale zulassen (von der oben erwähnten Steigerung als Grenzfall abgesehen). Zum Ausgleich sind sie aber lexikalisch bedeutungsstark, da die spezifische Bedeutung der ganzen Prädikation an ihnen hängt. Das Mittelfeld, das sich bei der Prädikationsklammer genauso wie bei den anderen Formen der lexikalischen Verbalklammer zwischen Vorverb und Nachverb eröffnet, kann mit mehr oder weniger lexikalischer Information gefüllt werden; im Beispiel (3) ist es durch ein Adverb {dicht), im Beispiel (14) durch einen präpositionalen Ausdruck {um sie) und ein Adverb {immer) ausgefüllt. Wir werden also auch die Prädikationsklammern, die der oben gegebenen Strukturbeschreibung entsprechen, zu den lexikali-
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sehen Verbalklammern rechnen, sofern jeweils die Bedingung erfüllt ist, daß das Nachverb einfach und invariant ist. Damit verändern sich auch für die oben angestellten Überlegungen zur relativen Frequenz einteiliger und zweiteiliger Verben alle statistischen Grundlagen. 4. Die Statistik wird sich durch die folgenden Überlegungen noch weiter verändern. Die deutsche Sprache ist nämlich vor allem deshalb eine Klammersprache, weil sie nicht nur lexikalische Verbalklammern (abgekürzt: Lexikalklammern) kennt, sondern auch viele Formen grammatischer Verbalklammern (abgekürzt: Grammatikalklammern). Diese lassen grundsätzlich die gleichen Strukturen erkennen, die wir bisher schon bei den Lexikalklammern analysiert haben. Wir schauen zunächst wieder auf den Text und finden dort die folgenden Grammatikalklammern: (7) waren — gerichtet, (18) hätte — gehabt, (31) war — (instinktiv) gewesen. Mit Hilfe dieser Beispiele und einigen anderen, die ich zur Ergänzung heranziehe, will ich im folgenden die Kategorie der Grammatikalklammer subkategorisieren. Wir unterscheiden zunächst Valenzklammern, Modalklammern und Tempusklammern. Unter dem Begriff der Valenzklammer wollen wir die Passivklammer {bin/werde — gerichtet, werde/bin — gefragt) und die Infinitivklammer mit oder ohne zu (scheine — zu sehen, sehe — kommen) zusammenfassen. Das Gemeinsame beider Klammertypen, das eine Subsumierung unter den Oberbegriff der Valenzklammer rechtfertigt, ist die Möglichkeit der Valenzerhöhung oder Valenzminderung in Verbindung mit dieser verbalen Zweiteiligkeit. Auch bei den Modalklammern kann man einen Unterschied machen, je nachdem ob das Nachverb von einem reinen Infinitiv oder einem Infinitiv mit zu gebildet ist (will — verreisen, braucht nicht —
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zu fragen). Tempusklammern werden durch die sogenannten zusammengesetzten ( = zweiteiligen) Tempora gebildet, wobei das Nachverb entweder ein Rück-Partizip ist (hätte — gehabt), oder ein Infinitiv (werde — kommen), im Grenzfall auch eine Kombination beider (würde — gemeint haben). Bei allen grammatischen Verbalklammern zeigt sich nun noch deutlicher als bei den vorher besprochenen lexikalischen Verbalklammern die Funktionsteilung zwischen dem Vorverb, das grammatisch stark und lexikalisch schwach ist, und dem Nachverb, das grammatisch schwach und lexikalisch stark ist. Denn in den meisten Fällen ist das Vorverb als klammeröffnendes Element einer Grammatikalklammer nur ein „Hilfsverb" (Auxiliarverb), während sich die ganze lexikalische Information auf das Nachverb als klammerschließendes Element konzentriert. Da es also in der deutschen Sprache neben lexikalischen Verbalklammern auch grammatische Verbalklammern gibt, ist die Frage von größtem Interesse, was dann geschieht, wenn eine lexikalische mit einer grammatischen Verbalklammer zusammentrifft. Dieser Fall tritt beispielsweise ein, wenn wir einige der verzeichneten Lexikalklammern unseres Textes von dem einfachen Tempus Präteritum in das zusammengesetzte Tempus Perfekt oder Plusquamperfekt transponieren. Beispiele: (4) kamen — entgegen / sind — entgegengekommen, (6) sah — aus / hat — ausgesehen, (3) war — belebt / ist — belebt gewesen, (14) war — Platz / war — Platz gewesen. Wir beobachten an allen diesen Beispielen, auch denen mit Prädikationsklammer, daß es beim Zusammentreffen der beiden Klammertypen zu einem syntaktischen Arrangement kommen muß. Denn nur eine der beiden Klammern kann Textklammer bleiben — mit allen Möglichkeiten der größeren oder geringeren Fernstellung zwischen dem klammeröffnenden und dem klammerschließenden Element und entsprechend unterschiedlicher Textspannung. Die andere Klammer
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verliert diese Eigenschaft. Zeichen ihres Verzichts ist, daß sie erstens zusammengedrängt und zweitens umgekehrt wird. In dieser Form wird sie der anderen Klammer inkorporiert (oder „einverleibt"), und zwar als nunmehr komplexes Nachverb. Zusammendrängung (Kompression) und Umkehrung (Inversion) sind also die strukturellen Merkmale, an denen man die inkorporierte Klammer erkennen kann. Vergleichen wir unter diesem Gesichtspunkt die beiden Varianten des ersten Beispiels. Die lexikalische Klammer lautet kamen — entgegen. Diese Lexikalklammer nimmt, wenn sie nicht mit einer Grammatikaiklammer zusammentrifft, alle Funktionen einer Textklammer wahr, insbesondere die wichtige Funktion, zwischen Vorverb und Nachverb (in dieser „normalen" Abfolge!) ein Mittelfeld zu bilden, das so viel Information aufnimmt, wie dem Textgedächtnis des Hörers zugemutet werden kann. Das gleiche läßt sich nun von der reinen Tempusklammer als einer Form der Grammatikalklammer sagen. Man kann also, wenn man sich die entsprechende Tempusklammer im zusammengesetzten Tempus Perfekt mit einem einteiligen lexikalischen Verb gebildet denkt, sagen: sind — gekommen. Und auch hier ist im Mittelfeld zwischen der klammeröffnenden und der klammerschließenden Tempusform so viel Information unterzubringen, wie der Sprecher meint, dem Hörer zumuten zu können. Beides sind also Textklammern mit genau gleichen Strukturen. Treffen nun aber, in einer gedachten Variante unseres Textes, die beiden Klammern zusammen, so bleibt die Tempusklammer bestehen, und nur sie nimmt weiterhin alle Klammerfunktionen wahr. Der dritte Satz unseres Textes würde also in dieser Variante vollständig lauten: Mitten unter den zahllosen Männern sind mir einzelne Frauen entgegengekommen, unverschleiert. Man sieht, daß die Tempusklammer hier genau die Stellen besetzt, die vorher im authentischen Text von der Lexikalklammer besetzt waren. Aber verschwunden ist die
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Lexikalklammer bei diesem Zusammentreffen dennoch nicht. Sie existiert ja semantisch weiter und ist in der Form entgegengekommen der anderen Klammer inkorporiert, und zwar als deren nunmehr komplexes Nachverb. In diesem finden wir nun an erster Stelle das alte Nachverb entgegen, an zweiter Stelle, in Gestalt eines Rück-Partizips, das alte Vorverb gekommen. Ein Mittelfeld wird zwischen ihnen nicht mehr eröffnet, so daß von einer Textklammer im strengen Sinne nicht mehr die Rede sein kann. Klammeröffnendes und klammerschließendes Element sind vielmehr hier zusammengedrängt (komprimiert) und bei diesem Prozeß überdies noch umgekehrt (invertiert) worden. Daß nun das alte Nachverb jetzt vorne und das alte Vorverb jetzt hinten steht, wollen wir nicht als Inkonsequenz der Terminologie durch eine Korrektur beseitigen, sondern vielmehr als deutlichen Hinweis darauf stehen lassen, daß es sich um eine richtige grammatische Inversion handelt. Ich glaube, hier wird gleichzeitig deutlich, wie problematisch es ist, in der Grammatik und im Wörterbuch die Infinitivform zweiteiliger deutscher Verben als Normalform zu nehmen. Man wählt ja, wenn man es tut, eine Form, die als Inversionsform zu gelten hat, da sie beim Zusammentreffen zweier Klammern Signal der strukturellen Inkorporation ist. Die hier am Beispiel einer Tempusklammer gemachten Beobachtungen können verallgemeinert werden. Immer wenn eine Lexikalklammer gleich welchen Typus, also unter Einschluß der Prädikationsklammer, mit einer Grammatikalklammer, ebenfalls gleich welchen Typus, zusammentrifft, so bleibt jeweils die Grammatikalklammer als Textklammer erhalten, und die Lexikalklammer wird in sie inkorporiert. Lassen wir nun zur Probe eine Lexikalklammer (hier: Funktionsverbklammer) mit einer Valenzklammer (hier Passivklammer) zusammentreffen, indem wir das Beispiel (29) abwandeln. Es lautet im Canetti-Text: nahm — ins Aug. Die
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passive Form des einteiligen Verbs nehme lautet im Präteritum wurde — genommen. Stoßen nun beide Klammern zusammen, so heißt es: wurde — ins Aug genommen. Hier ist wieder die Grammatikaiklammer Textklammer geblieben. Die Lexikalklammer des Funktionsverbs ist hingegen zusammengedrängt und umgekehrt und in dieser Gestalt der Grammatikalklammer inkorporiert worden. Wir finden nun das alte Nachverb ins Aug an erster Stelle und das alte Vorverb nahm in Gestalt des Rück-Partizips genommen an zweiter Stelle des neuen komplexen Nachverbs. Die Komplexität des neuen Nachverbs besteht eben darin, daß es eine zusammengedrängte und umgekehrte Verbalklammer in sich aufgenommen und einverleibt hat. Genau die gleiche Beobachtung ist zu machen, wenn von den beiden zusammentreffenden Textklammern die Lexikalklammer eine Prädikationsklammer und die Grammatikalklammer eine Modalklammer ist. Die Prädikationsklammer soll wie im Beispiel (3) heißen: war — belebt. Die Modalklammer soll lauten: mußte — sein. Treffen nun beide zusammen, so bleibt wieder die Grammatikaiklammer als Textklammer. Sie behält ihre Klammereigenschaften und verleibt sich die lexikalische Prädikationsklammer ein, und zwar als ihr komplexes Nachverb, das durch Zusammendrängung und Umkehrung entsteht. Die neue kombinierte Klammer lautet: mußte — belebt sein. Auch hier finden wir das alte Nachverb nun an erster Stelle und das alte Vorverb an zweiter Stelle, und kein Mittelfeld tut sich mehr zwischen ihnen auf. Wir können also generell feststellen, daß beim Zusammentreffen einer lexikalischen Verbalklammer mit einer grammatischen Verbalklammer in einem Text die grammatische die inkorporierende und die lexikalische die inkorporierte Klammer ist.
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5. Nachdem nun besprochen ist, was passiert, wenn eine Lexikalklammer und eine Grammatikaiklammer zusammentreffen, ist weiter zu fragen, welche Regeln für das Zusammentreffen von Lexikalklammern untereinander und Grammatikalklammern untereinander gelten. Was zunächst die Lexikalklammern betrifft, so ist ihr Zusammentreffen untereinander, soweit ich sehen kann, sehr selten. Wenn man will, kann man eine Lexikalklammer wie komme — heran als Arrangement der zwei Klammern komme — her und komme — an interpretieren, doch ist diese Interpretation nicht zwingend und kann wahrscheinlich auch durch andere, einfachere Auffassungen ersetzt werden. Recht oft kommt es indes in der Sprache zum Zusammentreffen zweier Grammatikaiklammern. Wir lassen zur Probe einmal eine Valenzklammer (hier Passivklammer) mit einer Modalklammer zusammentreffen. Die Passivklammer soll, in Anlehnung an das Beispiel (7), lauten: waren — gerichtet. Es handelt sich also um ein Zustandspassiv im Präteritum. Die Modalklammer soll lauten: konnten — richten. Daraus wird dann, wenn beide Grammatikalklammern zusammentreffen, die Textklammer: konnten — gerichtet sein. Wieder erhalten wir, was das syntaktische Arrangement betrifft, ein eindeutiges Ergebnis. Eine der beiden Grammatikalklammern, nämlich die Modalklammer, bleibt als Textklammer bestehen und macht die andere Grammatikalklammer, die Passivklammer, durch Kompression und Inversion zu ihrem komplexen Nachverb, genau wie wir das vorher bei der syntaktischen Inkorporation einer Lexikalklammer beobachtet hatten. Es gibt also auch innerhalb der Klasse der Grammatikalklammern eine syntaktische Hierarchie der einzelnen Klammertypen. Lassen wir nun zur Gegenprobe die Modalklammer mit einer Tempusklammer zusammentreffen. Die Modalklammer
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soll lauten: muß — verreisen. Als Tempusklammer nehmen wir an: bin — verreist (Perfekt). Für das Zusammentreffen der beiden Grammatikalklammern können wir nun nach den Regeln des deutschen Sprachgebrauchs beobachten, daß je nach der Sprechintention und Kontextlage bald die Modalklammer und bald die Tempusklammer als Klammer bestehen bleibt. Mit erhaltener Modalklammer lautet unser Beispiel nun: muß — verreist sein. Lassen wir hingegen die Tempusklammer bestehen bleiben, so lautet es: habe — verreisen müssen. Natürlich haben diese beiden Beispiele nun eine unterschiedliche Bedeutung, aber eben dieser Bedeutungsunterschied kommt durch das unterschiedliche Arrangement der Grammatikalklammern in den beiden Beispielen zustande. Ich will diesen Bedeutungsunterschied hier nicht weiter erläutern, sondern begnüge mich mit der klammergrammatischen Feststellung, daß beide Arrangements eben möglich sind. Ebensowenig will ich hier verschiedene Sekundärphänomene erörtern, die im Zusammenhang dieser Konkurrenz verschiedener Klammertypen auftreten, insbesondere das Phänomen des sogenannten Ersatz-Infinitivs sowie im Zusammenhang damit der Wechsel zwischen den Morphemverben sein und haben. Ich will nur andeuten, daß eine genauere Strukturanalyse dieser Phänomene wohl nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie von den Strukturbedingungen zweier zusammentreffender Klammern ihren Ausgang nimmt. 6. Da nun eine Grammatikalklammer, wie beschrieben, sowohl mit einer Lexikalklammer als auch mit einer anderen Grammatikalklammer zusammentreffen kann, so folgt daraus, daß auch ein Zusammentreffen dreier Klammern möglich ist. Wir wählen zur Illustration dieser textuellen Möglich-
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keit eine Präpositionalklammer als Lexikalklammer, eine Passivklammer als Grammatikalklammer und eine Tempusklammer als weitere Grammatikalklammer und können nun nach den bisherigen Analysen bereits vorhersagen, daß die Temporalklammer die Passivklammer und mit dieser zusammen die Lexikalklammer inkorporieren wird. Hier nun die Beispiele: Die Lexikalklammer soll lauten: rufe — an. Für die Passivklammer wählen wir die Form: werde — gerufen. Und die Tempusklammer soll durch eine Form des Plusquamperfekts vertreten sein: hatte - gerufen. Alle drei Klammern, in eins genommen, ergeben dann nach den Inkorporationsregeln der deutschen Sprache: war — angerufen worden. Als Textklammer bleibt also nur die Tempusklammer bestehen (mit ihrem Wechsel zwischen den Formen hatte und war im Vorverb, den ich hier nicht weiter kommentieren will). Die weiteren Inkorporationen müssen, da ja die Inversion zu den Erkennungssignalen der Inkorporation gehört, rückläufig zum Textverlauf, also im geschriebenen Text von rechts nach links, gelesen werden. Die letztinkorporierte Klammer ist demnach die (komprimierte und invertierte) Passivklammer gerufen — worden (ebenfalls mit einer morphologischen Veränderung des ehemaligen Vorverbs werde zu worden). Und die erstinkorporierte Klammer ist schließlich, wie immer, die Lexikalklammer. Sie ist hier ebenfalls komprimiert und invertiert und hat die Form angerufen (gleichfalls mit bestimmten, hier nicht zu kommentierenden Veränderungen der Form, die mit der Versetzung ins Partizip zu tun haben). Schließlich können auch alle vier bisher besprochenen Textklammern zusammentreffen, und wir können uns das soeben analysierte Beispiel noch um eine Modalklammer erweitert denken. Wir erhalten dann, je nachdem ob die Tempusklammer oder die Modalklammer Textklammer bleibt, eines der beiden folgenden komplexen Klammergebilde: muß — angerufen worden sein oder: hat — angerufen
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werden müssen. Auch dabei ergeben sich wieder, je nach der Inkorporations-Hierarchie, unterschiedliche Bedeutungen und bestimmte morphologische Anpassungen, die hier nicht weiter berücksichtigt werden sollen, da es zunächst um das all diesen Fällen Gemeinsame geht.
7. Es steht nun noch ein letzter, bisher nicht erwähnter Typus der grammatischen Verbalklammer zur Analyse an: die Junktionsklammer. Um diese Analyse richtig anzusetzen, muß ich ein paar Überlegungen vorausschicken, die ich an anderer Stelle schon ausführlicher gegeben und begründet habe. Den Junktionsbegriff habe ich in meiner Textgrammatik der französischen Sprache besonders eingehend behandelt und will hier nur kurz zusammenfassen und wiederholen, daß eine Junktion ein Determinationsgefüge ist, bei dem eine determinationsbedürftige Basis durch einen Junktor mit einem determinationskräftigen Adjunkt verbunden wird. Der Ausdruck Junktor dient hier als Oberbegriff hauptsächlich für Präpositionen, Konjunktionen und Relativ-Junktoren. Die Einführung des Junktionsbegriffs bringt den methodischen Vorteil mit sich, daß man mit diesen Begriffen genau nach dem gleichen Verfahren eine präpositionale Junktion wie Kraft zur Wanderung, eine konjunktionale Junktion wie als sie vorbei war, wandte ich mich um und eine RelativJunktion wie die Furcht, die sie einflößte analysieren kann. Mit dem konjunktionalen Typus der Junktion ist gleichzeitig das Satzgefüge aus Haupt- und Nebensatz erfaßt, so daß man sich diese Begriffe sparen kann. 10 10
Zur näheren Begründung verweise ich auf meine Textgrammatik der französischen Sprache.
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Ein weiteres ist noch zu bedenken. Es ist ja seit Tesnière gut bekannt, daß die einzelnen Verben unterschiedliche Valenzen haben. Das gilt unabhängig davon, o b die Verben einteilig oder zweiteilig sind. Der Begriff Valenz (Wertigkeit) ist von Tesnière sehr geschickt gewählt. Es handelt sich bekanntlich um eine Metapher aus der Chemie, und gemeint ist dort die unterschiedliche „Bindekraft" der einzelnen Atome, in der Linguistik diejenige der einzelnen Verben. Alle Verben haben eine solche Bindekraft (Erben sagt auch „Fügepotenz"), mit der sie insbesondere die Handlungsrollen oder Aktanten an sich binden können. Die einzelnen Verben unterscheiden sich allerdings danach, wieviele und welche Handlungsrollen sie in ihrer Nachbarschaft zulassen. Das soll uns hier im einzelnen nicht beschäftigen, wohl aber will ich unterstreichen, daß den Verben dabei eine ähnliche Kraft oder „Potenz" zugeschrieben wird, wie wir sie auch den Junktoren (Präpositionen, Konjunktionen, Relativ-Junktoren) zuschreiben müssen, wenn wir von ihnen sagen, daß sie die Fähigkeit haben, eine Basis und ein Adjunkt in einer Junktion zusammenzubringen. Es besteht also, wie ich an anderer Stelle näher ausgeführt habe, eine Strukturanalogie zwischen Verben und Junktoren. M a n kann, etwas vereinfacht, etwa sagen: in jedem Verb steckt (mindestens) ein bestimmter Junktor. Ebendies und nichts anderes ist mit dem Begriff Valenz gemeint. 1 1 Wenn diese Überlegungen richtig sind, dann kann den bisher erörterten Grammatikaiklammern eine weitere Klammer an die Seite gestellt werden, die den Namen Junktionsklammer tragen soll. Sie besteht im Verbalbereich zwischen
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Zur Theorie der Junktion verweise ich auf meinen Aufsatz Vom Zusammenhalt der Sprache im Sprechen 1981 sowie auf die genannte Textgrammatik der französischen Sprache, Kapitel 8. In dem genannten Aufsatz behandle ich auch den Zusammenhang von Junktion und Valenz.
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der Konjunktion oder dem Relativ-Junktor als klammeröffnendem Element und dem Verb in der Endstellung („Nebensatzstellung") als klammerschließendem Element. Ich will zur Verdeutlichung in Anlehnung an die Verben (15) und (16) das Beispiel bilden: ich glaube, daß man sie fürchtete. Das ist eine (konjunktionale) Junktion mit der determinationsbedürftigen Basis ich glaube und dem determinationskräftigen Adjunkt man sie fürchtete. Regiert wird die ganze Junktion von dem Junktor, nämlich der Inhalts-Konjunktion daß. Diese können wir nun als klammeröffnendes Element einer Junktionsklammer auffassen, die durch das Verb fürchtete in der Endstellung geschlossen wird. Die Konjunktion entspricht dann dem Vorverb, das Verb in der Endstellung dem Nachverb der bisher erörterten Verbalklammer. Was ist nun damit gewonnen? Das wird sich sogleich zeigen, wenn wir jetzt mit dem Blick auf die Junktionsklammer die gleichen Fragen stellen, die wir vorher schon beim Zusammentreffen der anderen Verbalklammern gestellt haben. Man kann sich nämlich nun fragen: Was passiert, wenn eine Junktionsklammer mit einer Lexikalklammer oder einer sonstigen Grammatikalklammer zusammentrifft? Ich will die Antwort auf diese Frage schon vorwegnehmen und sogleich generell sagen, daß die Junktionsklammer unter allen Umständen Verbalklammer bleibt und sowohl Lexikalklammern als auch sämtliche Grammatikaiklammern zu inkorporieren vermag. Ich will das wieder an einem Beispiel zeigen, das sich semantisch an unseren Text anlehnt. Die Lexikalklammer soll lauten: gehe — spazieren (mit einem Infinitiv als Nachverb). Die Junktionsklammer soll mit der Konjunktion während gebildet werden und lauten: während (sie) — geht. Die Frage kann also nun wieder lauten: Was geschieht, wenn beide Klammern zusammentreffen? Welche Klammer wird sich als die inkorporierende und welche als die inkorporierte erweisen? Der deutsche Sprachgebrauch läßt die Antwort
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nicht zweifelhaft erscheinen, denn die beiden Klammern, in eins genommen, ergeben: während (sie) — spazierengeht. Offensichtlich ist hier die Junktionsklammer Textklammer geblieben, denn sie eröffnet ja weiterhin ein Mittelfeld, das mit soviel semantischer Information gefüllt werden kann, wie der Sprecher nur dem Hörer zumuten mag. Das festgestellte Inkorporationsverhältnis ist im übrigen nicht verwunderlich, da es sich ja bei der Junktionsklammer ebenfalls um eine Grammatikalklammer handelt, die auch sonst immer die textuelle Eigenschaft hat, eine Lexikalklammer inkorporieren zu können. In der Tat ist die mit dieser Junktionsklammer zusammentreffende Lexikalklammer gehe — spazieren durch Kompression und Inversion zum komplexen Nachverb der Junktionsklammer, anders ausgedrückt, zum komplexen Nebensatzverb in der Satzendstellung geworden. Die gleiche Beobachtung ist aber zu machen, wenn eine Junktionsklammer mit einer anderen Grammatikalklammer zusammentrifft, ganz gleich ob es sich um eine Valenzklammer, eine Modalklammer oder eine Tempusklammer handelt. Auf der Seite der Junktionsklammer spielt es dabei keine Rolle, ob der Junktor, wie in dem soeben erörterten Beispiel, eine Konjunktion ist oder, wie in dem nachfolgenden Beispiel, ein Relativ-Junktor. Ich bilde dieses Beispiel, um gleichzeitig das Zusammentreffen dreier Junktoren zeigen zu können, mit leichter Abwandlung des Beispiels (2) unseres CanettiTextes, wo von einer Gasse die Rede ist, die mich vom Bazar des Eingangs tiefer in die Mellah hineinführen wird. Die Klammer wird eröffnet von dem Relativ-Junktor die, der mit dem Nomen der Basis Gasse in Genus und Numerus kongruent ist. Geschlossen wird die Klammer von der komplexen Verbform hineinführen wird, so daß wir schon sehen können, dai? die Junktionsklammer hier beim Zusammentreffen mit zwei anderen Klammern, einer Lexikalklammer und einer Tempusklammer, als Textklammer erhalten geblieben
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ist. Die weitere Inkorporationsabfolge können wir dann an der komplexen Verbform rückläufig zum Textverlauf ablesen. Denn hier, am klammerschließenden Pol der Junktionsklammer, sind die beiden anderen Klammern wieder mit Umkehrung ihrer Klammerglieder zusammengedrängt, wobei sie dennoch auch untereinander noch ein Inkorporationsverhältnis erkennen lassen. Die letztinkorporierte Klammer ist nämlich die Tempusklammer, die für sich allein lauten würde: wird — führen. Als erstinkorporierte der drei Klammern finden wir schließlich die Lexikalklammer, die für sich allein den Wortlaut hätte: führe — hinein. Die syntaktische Hierarchie der drei in Frage stehenden Klammern führt also in absteigender Linie von der Junktionsklammer über die Tempusklammer zur Lexikalklammer, und zwar rückläufig zum Text. Ich verzichte hier nun darauf, die noch komplexeren und bis zur Fünfstufigkeit erweiterbaren Klammerkombinationen zu analysieren, bei denen im Zusammenhang mit dem schon kurz erwähnten Ersatz-Infinitiv für die Untergliederung sehr komplexer Verben in der Endstellung eine Zusatzregel für die Vorwegnahme des finiten Elements (zum Beispiel: weil er das nicht hat tun können) einzuführen wäre. Diese Regularitäten werden in der geplanten Textgrammatik der deutschen Sprache im einzelnen beschrieben werden und können hier außer Betracht bleiben, da sie das Gesamtbild der komplexen Klammer-Verklammerung nur unwesentlich modifizieren, nicht aber von Grund auf in Frage stellen. Nicht in Frage steht insbesondere auch die syntaktische Hierarchie der Klammern, die ich nun im folgenden noch einmal im Zusammenhang darstellen will. Die Hierarchie der einzelnen Klammern untereinander regelt sich also nach der von unten nach oben zu lesenden Abfolge der Inkorporationen: — Junktionsklammer - Modal- und Tempusklammer (gleichrangig)
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— Valenzklammer — Lexikalklammer. Wenn man will, kann man in das ganze Klammer-Panorama auch noch die Nominalklammer einbeziehen, die natürlich in der deutschen Sprache ebenfalls eine starke Stellung und eine wichtige Funktion hat. Die Nominalklammer besteht zwischen einem Artikel und seinem zugehörigen Nomen und kann, ähnlich wie die Verbalklammer, zwischen dem klammeröffnenden Artikel und dem klammerschließenden Nomen eine mehr oder weniger große Menge an Informationen umschließen, zu deren Dosierung nur zu beachten ist, daß der Sprecher seinen Hörer nicht überfordern darf. Beispiele aus unserem Text: die zahllosen Männer, ein uraltes, völlig verwittertes Weib; der älteste Mensch-, jedes einzelne Geschöpf. Diese Nominalklammern haben im Text meistens die Funktion von Handlungsrollen (Aktanten), oder sie sind Bestandteile präpositionaler Ausdrücke in Junktionen. Im ersten Fall hängen sie über die Valenz von Verben ab, im zweiten Fall von Junktoren. Wenn nun die oben angestellten Überlegungen zur Strukturverwandtschaft zwischen Verbvalenz und Junktor plausibel sind, so ergibt sich daraus zwangsläufig die Auffassung, daß Nominalklammern, da sie entweder von Verbvalenzen oder von Junktoren regiert werden, in der Hierarchie der Textklammern die allerunterste Stufe einnehmen und folglich noch unter den lexikalischen Verbalklammern zu schreiben sind. Diese Hierarchie gilt jedoch nur im Rahmen einer grammatischen Theorie, in der schon die Vorentscheidung getroffen worden ist, die ganze Grammatik vom Verb her zu organisieren.
Satzverknüpfung als Problem der Textkonstitution in der Schule Horst Sitta Mit schöner Regelmäßigkeit (und vorzugsweise in nachrichtenarmen Zeiten) erscheinen in der veröffentlichten Meinung, vorgetragen von — oft selbsternannten — ,Fachleuten', vernichtende Urteile über die sprachlichen Fähigkeiten unserer Schüler. Ihre übliche Formulierung (ζ. B. „Unsere Schüler sind nicht mehr in der Lage, korrektes Deutsch zu sprechen/ zu schreiben") impliziert immer den kulturkritischen Gestus und die Botschaft, früher sei alles besser gewesen: Von fernher grüßt der Topos der laudatio temporis acti. Ich halte seit vielen Jahren engen Kontakt mit der Schule (in unterschiedlichen Formen und Stufen), und ich arbeite in diesem Zusammenhang an vielen Stellen auch professionell mit, besonders häufig bei Beurteilung und Auswertung schriftlicher Arbeiten, häufig auch im mündlichen Bereich. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die hier zusammengekommen sind, neige ich dazu, die modischen Kassandrarufe hinsichtlich der schlechten Sprachfähigkeiten der jungen Generation für übertrieben und undifferenziert zu halten. Weitgehend Altherrentopoi sind das in meinen Augen, einzureihen in eine Serie, die ihren Anfang in der frühen Menschheitsgeschichte genommen haben dürfte und die uns schriftlich greifbar ist seit der griechischen Frühzeit (und das heißt zugleich: seit es in Europa Schriftlichkeit gibt). Die wenigen Untersuchungen, die wirklich angestellt worden sind, legen eher den Schluß nahe, daß es zwar interne Schwankungen in
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der Beherrschung von Teilfähigkeiten gibt, daß die Summe der Laster aber annähernd konstant bleibt. Ich habe freilich den unabweisbaren Eindruck, daß eine wichtige Fähigkeit doch stark zu wünschen übrig läßt: die Fähigkeit, schriftlich einen kohärenten Text aufzubauen·, das ist besonders auffällig bei argumentierenden Texten. Einfacher und zugleich pointierter gesagt: Schüler vermögen Sätze zu bauen und aneinanderzureihen; sie haben aber Schwierigkeit, die Sätze nach bestimmten sprachlogischen Konventionen miteinander zu verknüpfen. Was grundsätzlich damit gemeint ist, soll im folgenden so knapp als irgend möglich an einigen mir zentral erscheinenden Merkmalen der Schriftlichkeit expliziert werden (1). Konkretisieren will ich es d a n n am Paradigma der Systematisierung kausaler Verknüpfung im Deutschen (2). Die Analyse entsprechender Verknüpfungsphänomene in einem Schulaufsatz soll anschließend zeigen, was man auf diesem Gebiet in Schulheften finden kann — aber nicht nur d o r t (3). In einem letzten Schritt schließlich soll es um die Frage gehen, wie das, was wir wahrnehmen, zu bewerten ist und was allenfalls getan werden kann (4). 1. Was man einem anderen Menschen vermitteln will, ein „Gemeintes", ist im Kopf präsent als ein Gedanken- und Vorstellungskomplex·, dieser Komplex muß, um vermittelt werden zu können, in eine lineare Abfolge von Teilaussagen zerlegt werden. Das führt zur Notwendigkeit einer ,Portionierung' des Gemeinten auf Textelemente wie Einzelworte, Satzglieder, Sätze und Satzfolgen, die als Ganzes den Text ausmachen. Aus den einzelnen Elementen, die er wahrnimmt, baut sich der Rezipient die komplexe Aussage (mehr oder weniger adäquat) wieder auf.
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Dieser Vermittlungs- und Rekonstruktionsprozeß steht unter ganz unterschiedlichen Bedingungen, je nachdem, ob er Prinzipien der Mündlichkeit oder Prinzipien der Schriftlichkeit verpflichtet ist (und das bedeutet normalerweise auch: ob es ein Sprecher mit einem Hörer zu tun hat oder ein Schreiber mit einem Leser): Wo ein Sprecher einem Hörer etwas vermitteln will, ist der Vermittlungsmodus prinzipiell von beiden Beteiligten gemeinsam auszuhandeln; das geschieht in einer Interaktionssituation, an der beide Partner teilhaben, in der neben verbalen Signalen in reichem Maße nonverbale Mittel zur Verfügung stehen und in der ein situativer Kontext alles Sprachliche trägt. Das ist grundsätzlich anders in Beziehungen, die der Schriftlichkeit verpflichtet sind. Hier gelten — gegenüber mündlicher Sprachverwendung — einschneidende Reduktionen (detaillierter dazu vgl. P. Sieber/H. Sitta 1986,121 - 1 3 6 und G. Beck 1973, 81 -108), — die Reduktion der Interaktionalität: Geschriebene Sprache ist prinzipiell einwegig: Es gibt keine direkten Antwortmöglichkeiten; damit ist sie auch nicht beeinflußt von den Reaktionen des Angesprochenen, auch wenn der Schreiber bei seinem Schreiben Leserreaktionen antizipiert und in seiner Textgestaltung wirksam werden läßt. Zumindest gilt das alles in höherem Maße als in der mündlichen Kommunikation. — die Reduktion der außerverbalen Kommunikationsmöglichkeiten: Was in der Situation der Mündlichkeit durch para- und außersprachliche Signale höchst differenziert vermittelt werden kann, das muß in geschriebener Sprache mit Hilfe von Schriftzeichen entfaltet bzw. unter Umständen durch besondere Markierung ersetzt werden. Bei-
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des ist aufwendig, und es stehen nicht annähernd so differenzierte und damit so leistungsfähige Mittel zur Verfügung wie in der Mündlichkeit. — die Reduktion der pragmatischen Kontextualität: Geschriebene Sprache ist nicht von einem situativen Kontext getragen wie gesprochene. Die Situation muß vielmehr mitgegeben werden, und sie muß sprachlich organisiert mitgegeben werden. Das führt zu einer jedenfalls prinzipiell — vollständigeren und komplexeren Anwendung der Möglichkeiten der Sprache in der Schriftlichkeit. Dieser Reduktionen muß man Herr werden. Die Voraussetzung dafür, daß das überhaupt möglich ist, liegt im spezifischen Charakter des Planungsprozesses in der Schriftlichkeit. Gesprochene Sprache entsteht in einer extrem knappen Planungszeit, Sprechen vollzieht sich unmittelbarer, spontaner als Schreiben. Schreiben hingegen ist ein höchst komplexer, prinzipiell reflexionsgesteuerter Prozeß der gedanklichen Konkretisierung, der textuellen Verplanung und der sprachlichen Ausformulierung. Unter den spezifischen Bedingungen dieses Prozesses hat sich nun in der Tradition der Schriftlichkeit ein ganzes Netz von Ausgleichsstrategien etabliert, mittels derer den Reduktionen auf verschiedenen Ebenen wirksam beizukommen ist, so ζ. B. — ein differenzierterer Gebrauch von syntaktischen Strukturen und lexikalischen Mitteln, — ein höherer semantischer Bestimmtheitsgrad als Regelforderung, — ausdrückliche expositorische Verbalisierungen, wodurch genauere Umstände erläutert werden.
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Konkreter: Wo sich beim Sprechen ein Zusammenhang zwischen Aussagen aus der Situation gleichsam von selbst ergibt, wo er jedenfalls nicht signalisiert werden muß, ist er in schriftlichem Sprachgebrauch üblich, und es gibt spezifische sprachliche Mittel zu seiner Signalisierung. Unpräzise Formulierung läßt sich in Situationen der Mündlichkeit nachträglich korrigieren oder korrigiert sich selbst aus dem Zusammenhang; bei schriftlichem Sprachgebrauch gilt das nicht, ja der Zusammenhang selbst muß noch sprachlich hergestellt werden. Und grundsätzlich gilt (die stärkere Interpretationsbedürftigkeit schriftlicher Texte antizipatorisch berücksichtigend) die Verpflichtung zu rigiderer Einhaltung von Normen und die Selbstverpflichtung zu einer ,ausgewogenen Redundanz'. Das alles ist verantwortlich dafür, daß bis ins Detail der sprachlichen Wahlen hinein — mindestens in der Tradition unseres Schreibens und ihren Forderungen - geschriebene Texte anders organisiert sind als gesprochene.
2. Oben habe ich auf die Notwendigkeit hingewiesen, im Vermittlungsprozeß zu portionieren, und ich habe in diesem Zusammenhang Einzelworte, Satzglieder, Sätze und Satzfolgen voneinander abgesetzt, die in ihrer wechselseitigen Verknüpfung den Text konstituieren. Nun scheint mir die Verknüpfung von Einzelworten und Satzgliedern im Satz kein Punkt zu sein, über den man lange sprechen muß. Hier stehen morphogrammatische Mittel zu Gebote (grammatische Kongruenz, Wortstellungsregularitäten, Rektion, Kasus, Präpositionen), und diese Mittel werden normalerweise ohne große Probleme beherrscht (bzw. wo es Probleme gibt, sind sie nicht unlösbar, und die Reichweite der Auswirkung von Fehl verhalten ist nicht besonders groß).
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Das ist anders dort, wo ganze Aussagen zueinander in Beziehung gesetzt werden, also ζ. B. Teilsätze im zusammengesetzten Satz, auch einfache Sätze, aufeinander folgend in Abschnitten. Sub specie grammaticae geht es hier um die Verwendung von Konjunktionen, Adverbien und anderen aussageverknüpfenden Elementen. Im gegebenen Zusammenhang scheint es mir wichtig, zwei Punkte deutlich herauszustellen: 1. In jeder Sprache gibt es bestimmte (als kategorial anzusehende) Möglichkeiten, Aussagen (oder Teilaussagen in Sätzen) zueinander in Beziehung zu setzen. Die Teilaussage Er kam nicht und die Teilaussage Es regnete läßt sich beispielsweise u. a. folgendermaßen miteinander verbinden: 1. Er kam nicht, als es regnete. 2. Er kam nicht, weil es regnete. 3. Er kam nicht, obwohl es regnete. Wir unterscheiden — in diesen Fällen — temporalen (1) von kausalem (2) und konzessivem (3) Bezug. Diese Bezüge werden traditionsgemäß in der Grammatik (des zusammengesetzten Satzes) behandelt. Das findet seine Begründung darin, daß sie (zumindest teilweise) grammatikalisiert sind. Ausgiebig oder gar erschöpfend freilich ist diese Behandlung in der Grammatik normalerweise nicht. Das wiederum dürfte darin begründet liegen, daß es hier um Fragen geht, die weit über Grammatisches hinausreichen, z. B. hinein in die Stilistik und in die Rhetorik, letztere verstanden als Schule nicht nur des Redens und Schreibens, sondern auch des Denkens, des Argumentierens. 2. Die Bezüge, um die es hier geht, sind weder auf bestimmte grammatische Möglichkeiten noch überhaupt auf Darstellung innerhalb des Satzes bzw. Satzgefüges
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Horst Sitta festgelegt. Innerhalb der jeweiligen kategorialen Möglichkeiten gibt es vielmehr ein ganzes System unterschiedlicher Ausdrucksformen. Bezogen auf die Kategorie Kausalität läßt sich beispielsweise unterscheiden (detaillierter dazu vgl. W. Boettcher/H. Sitta 1972): 1. Er kam nicht, da/weil es regnete. 2. Es regnete, weshalb er nicht kam. 3. Es regnete, deshalb kam er nicht. 4. Er kam nicht, es regnete nämlich. 5. Er kam nicht, es regnete. 6. Er kam wegen des Regens nicht. Diese Beispiele sind kategorial äquivalent: Es geht in allen Fällen um die Darstellung von Kausalität. Unter dem Gesichtspunkt des Strukturtyps, d. h. der Ausdrucksform, sind sie different, und different sind sie auch hinsichtlich ihrer Einsatzmöglichkeit in unterschiedlichen Stilbereichen und Verwendungssituationen. So mag man (1) mit größerer Häufigkeit in geschriebener Sprache antreffen, (5) eher in gesprochener Sprache. Im übrigen könnte mindestens in den Beispielen (3) bis (5) statt des Kommas auch Semikolon oder Punkt stehen, d. h. die Phänomene, um die es geht, reichen über die Satzgrenze hinaus.
Ich möchte nun auf folgendes hinaus: Auf dem Gebiet, das hier angesprochen ist (und für das ,Kausalität' nicht mehr als ein Beispiel ist) steht in der deutschen Schriftsprache ein hochdifferenziertes System von Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung. Schon die lateinische Grammatik hat es gepflegt (in der Unterscheidung verschiedener Nebensatztypen wie Kausalsatz, Konditionalsatz, Konzessivsatz usw.), es wurde in die deutsche Grammatik übernommen, und es war und ist selbstverständliches Verfügungswissen des gebildeten Schreibkundigen. Dabei handelt es sich — noch einmal —
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hier nicht um irgendwelche formalgrammatischen Satztypen, sondern um (allerdings grammatisch beschreibbare) Möglichkeiten, Aussagen gedanklich und sprachlich zueinander in Beziehung zu setzen, Sprech- und in gewissem Sinne Denkmuster, die in der kontextfreieren schriftlichen Sprachverwendung ihren wichtigen Sinn haben. Genau an dieser Stelle, d. h. bei der reflektierten und korrekten Anwendung dieses Systems, diagnostiziere ich in unserer Schreibkultur besorgniserregende Mängel, besorgniserregend deswegen, weil die sprachlichen (und gedanklichen) Mittel, um die es hier geht, wichtige Steuerungsmomente für den Rezipienten sind, »Anweisungen', wie er die Aussagen zueinander in Beziehung zu setzen hat, und weil natürlich die Möglichkeit der Rekonstruktion des Mitteilungskomplexes unter den Bedingungen der Schriftlichkeit mit ihren Reduktionen entscheidend abhängig ist von der Qualität der Strukturierung. Es ist immer gefährlich zu sagen: „Wer schlecht schreibt, denkt schlecht." (vgl. H. Heckmann 1981,14); wenn es aber irgendwo mit einem gewissen Recht gesagt werden kann, dann hier, und nicht etwa dort, wo einmal Dativ und Akkusativ miteinander verwechselt werden („ ... Sachen, die einem nicht interessieren") oder wo — ζ. B. unter Dialekteinfluß — ein falscher Artikel gesetzt wird („ ... sein Krieg zieht ein Wirtschaftsboykott nach sich"), Fälle, die man gern an den Pranger stellt. Die Mängel betreffen — so scheint mir — unterschiedliche Ebenen, die man auseinanderhalten sollte, so — die Beherrschung der sprachlichen Mittel selbst, — die Verfügungsfähigkeit über die hinter ihnen stehenden Denkkategorien, — die Bereitschaft, mit den gegebenen Mitteln wirklich differenziert zu operieren. Wer schreibt: „Hier liegt auf einem Haufen mehr beisammen, wie ich je gesehen habe", verstößt — in meinen Augen
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— gegen eine im wesentlichen noch intakte grammatische Regularität der geschriebenen Sprache, gegen einen sprachlichen Mechanismus, desgleichen, wer — unter Dialekteinfluß — formuliert: „Das ist die Fabrik, wo du mir gezeigt hast." (vgl. W. Flückiger 1984,55). Hier kann man vernünftigerweise nicht von einem Denkfehler sprechen. Nicht einfach ein Sprachfehler, sondern Verdacht auf mangelnde Beherrschung einer Denfckategorie oder jedenfalls auf mangelnde Bereitschaft, genauer zu differenzieren, liegt vor, wo eine Begründung durch (instrumentales) dadurch daß, bzw. dadurch oder durch statt durch (kausales) weil bzw. deshalb eingeleitet wird, was in Schüleraufsätzen — aber auch sonst — heute auffällig oft zu beobachten ist („Durch das Fehlen eines eindeutigen Kriteriums bleibt es unumgänglich, sich auf Informantenbefragungen zu stützen."). Dabei sei ohne weiteres zugestanden, daß aus der NichtVerwendung einer differenzierten Kategorie in einem Text nicht auf Mängel in der Kompetenz des Schreibenden zurückgeschlossen werden kann. Mir fällt auf, daß in der Sprachnormdiskussion — soweit ich sie überblicke — auf diese Dinge kaum je hingewiesen wird. In den drei bekannten Normbänden der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ζ. B. spielen sie allenfalls am Rande eine Rolle. Da geht es immer um Stichworte wie — Verständlichkeit, Durchsichtigkeit, Eindeutigkeit, Klarheit, — Präzision und Effizienz, — Einfachheit der sprachlichen Formulierung, Kürze und Prägnanz von Inhalt und sprachlicher Darstellung, — Angemessenheit, Eindeutigkeit, Kürze; und diese Tugenden erwartet man sich normalerweise auf zwei Wegen: — durch kurze Sätze, — durch einfache Wörter.
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Ich will das nicht entwerten. Doch kann ich das Wort so hoch unmöglich schätzen. Viel Wichtigeres scheint mir zwischen den Sätzen zu liegen. 3. Worum es mir konkret geht, soll im folgenden an einem Textbeispiel aus der Schule genauer demonstriert werden. Dabei werde ich mich wieder lediglich auf Phänomene kausaler Verknüpfung beschränken. Ich drucke einen Aufsatz ab, der von einer Schülerin einer achten Jahrgangsklasse stammt, mithin einem Mädchen von 14/15 Jahren; sie besucht eine nicht nach Schulformen differenzierte (also gesamtschulartige) Schule im deutschsprachigen Süden in ländlicher Umgebung. Der Aufsatz ist ohne spezielle Vorbereitung geschrieben worden. Er besteht aus sechs ungleich langen Abschnitten, die ich — zur besseren Verständigung — mit römischen Ziffern markiert habe. Arabische Ziffern bezeichnen Sätze (wobei ich als Satz gelten lasse, was die Schülerin selbst durch ihre Interpunktion — starke Satzzeichen — so bestimmt). Mit Buchstaben sind satzinterne Elemente markiert, in erster Linie Teilsätze, dann ihnen Äquivalentes, besonders (teil-)satzwertige Infinitive. Die Markierung ist rein praktisch zu verstehen, theoretische Finessen verstecken sich dahinter nicht. Gefahren durch das Fernsehen I (1) (a) Das Problem des Fernsehen wird immer größer, (b) hauptsächlich betrifft es Kinder und Jugentliche von 6 — 18 Jahren. (2) (a) Denn Kleinkinder sind lieber in der Nähe der Mutter (b) oder spielen im Sandkasten. (3) Erwachsene suchen sich ihr Programm schon mit etwas Kritik aus. (4) (a) Hingegen die Jugend schaut jede Sendung an, (b) falls die Eltern es nicht verbieten. (5) (a)
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Deshalb sollten die Eltern mit den Kindern ein Programm besprechen (b) und aussuchen (c) was nützliche Sendungen sind, (d) denn es zeigt auch Unterrichtsstoffe (e) die einem nutzen können. (6) (a) Aber meine Aufgabe ist es nun (b) die Gefahren zu erörtern. II (7) (a) Manch ein Kind kommt nach Hause, (b) nimmt das Essen, (c) setzt sich vor den Fernseher (d) und schaut nun den ganzen Tag. (8) (a) Meist ist es auch der Fall, (b) daß beide Eltern berufstätig sind (c) und somit können sie auch nicht dem Kind das Fernsehen verbieten. (9) Das Kind oder die Jugentlichen verlieren durch das Fernsehen den Kontakt zu den Eltern. (10) (a) Sie haben keine Zeit (b) um mit den Eltern über andere Probleme zu reden, (c) weil sie mit Fernsehen beschäftigt sind. (11) Durch das Fernsehen verliert der junge Mensch nicht nur den Kontakt zu der Familie, sondern auch zur Gemeinschaft. (12) (a) Deshalb kann man behaupten, (b) daß der Apparat ein Stören im Zusammenleben von Menschen ist. III (13) (al) Ein Kind (b) das keinen Fernseher besitzt (a2) schreibt einen Phantasieaufsatz ganz unkompliziert, gedankenreich und selbständig. (14) (a) Hingegen ein Mensch mit Fernseher zählt im Aufsatz sicher Phantasiegestalten auf (b) die wie Biene Maya, Superman usw. im Fernseher vorkommen. (15) (a) Also lassen (b) oder haben solche Kinder keine eigene Vorstellung oder Phantasie. (16) (a) Deshalb ist es wichtig (b) zu unterscheiden von nützlichen oder blödsinnigen Sendungen. (17) Meist sitzt ein Jugentlicher nicht 1 Stunde am Bildschirm sondern mehrere Stunden. (18) (a) Er sitzt da (b) und guckt in den Kasten hinein (c) und läßt alles auf sich zukommen, (d) nimmt es auf (e) und denkt nicht einmal über die Sendung nach, (f) die er gerade geschaut hat (g) und so gehts den ganzen Tag. (19) (a) Er läßt sich dann so beeinflussen, (b) daß das Fernsehen eine Sucht wird. (20)
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Ebenfalls nimmt der Fernseher einen die Freizeit weg. (21) Man geht nicht mehr an die frische Luft. IV (22) Zwei akute Gefahren beim Fernsehen sind die auftretenden Haltungs- und Sehschäden. (23) (a) Diese Schäden treten deshalb auf, (b) weil man beim Schauen gemütlich verdreht im Sessel sitzt (c) und womöglich nahe am Fernseher sein will. (24) (a) Darum sollte man achten, (b) daß man einen bestimmten Abstand vom Apparat haltet (c) und noch dazu versuchen (d) gerade zu sitzen. V (25) (a) Bei Jugentlichen sollte man auch darauf achtgeben, (b) daß sie nicht neben den Hausaufgaben zugleich noch fernsehen, (c) weil man sich nicht auf die Aufgaben konzentrieren kann. VI (26) (a) Meiner Meinung nach ist der Fernseher ein „Störenfrieden" in jeder Familie, (b) weil man ihn falsch nützt. (27) (a) Er dient ja (b) um einen zu informieren (c) und ist nicht da als Freiheitsbeschäftigung für Kinder. (28) (a) Bei uns auf dem Lande ist das nicht so, (b) daß den ganzen Tag in den Kasten „geglotzt" wird. (29) (a) Aber ich kenne welche (b) die den lieben langen Tag schauen. (30) (a) Weil im Fernseher doch meistens ein Blödsinn gezeigt wird, (b) werde ich mir keinen Fernseher kaufen, (c) da deshalb auch das Familienleben gestört werden kann. Ich halte den Aufsatz nicht für besonders schlecht (er wird übrigens auch von vielen Lehrern, denen ich ihn vorgelegt habe, als ,ganz gut' beurteilt), und ich halte ihn nicht für untypisch, selbst wenn ich mich über manches ärgere (ζ. B. den altklug bombastischen Einstieg oder die pauschalen Behauptungen wie in (11) und in (13/14)); ich will damit sagen: Er ist weder mit besonderer Raffinesse noch mit außergewöhnlicher Bosheit ausgesucht.
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Ich habe an diesem Aufsatz in verschiedenen Arbeitsgruppen zusammen mit Lehrern und mit Studenten gearbeitet. Was sich dabei im Detail kritisch zu den Kausalverknüpfungen ergeben hat (und nur das Kritische!) stelle ich im folgenden zusammen, soweit es mir nachvollziehbar war. Ich übergehe bei dieser Zusammenstellung von vornherein alles andere Anstößige, also ζ. B. (einmal demonstriert an I) Verstöße gegen die Regeln der Orthographie (Jugendliche), der Interpunktion (fehlende Kommata zwischen (5 b) und (5 c), (5d) und (5e) oder (6 a) und (6 b)) und (wenn nicht gerade Verstöße, so doch) Ungenauigkeiten im Zwischenbereich von Orthographie und Interpunktion (so ζ. B., daß in ( l b ) von ausgeschrieben ist, bis aber durch einen Strich wiedergegeben ist). Ich übergehe Verstöße gegen formalgrammatische Regeln (das fehlende Genitivsignal bei Fernsehen in (1 a), anfechtbaren wtfs-Anschluß in (5 c), und ich setze mich nicht speziell mit der problematischen Verwendung eines offensichtlich anaphorisierend gemeinten es in (5 b) und (5 d) auseinander: Der Bezug ist hier jeweils mit einigem Nachdenken herstellbar, aber er ,sitzt' nicht). Ich beschränke mich auf Phänomene kausaler Verknüpfung, nehme die aber dafür vollständig ins Visier. Zu (2) Zwischen Satz (1) und Satz (2) wird Kausalitätsbezug angesetzt, signalisiert durch satzeinleitendes denn in (2 a), dergestalt, daß (2) eine Begründung zu liefern hätte für die Aussage in (1). Als Wirkungsbereich dieses Kausalitätsbezugs muß — so meine ich - aus textgrammatischen Gründen der ganze Satz (1) angesehen werden. Aus inhaltlichen Gründen bzw. aus Gründen der Logik kann aber Bezug von (2) nur auf (1 b) intendiert sein. Das bedeutet: Die Verknüpfung von Satz (1) und Satz (2) ist verfehlt aufgrund eines Hiats zwischen textgrammatischem und logischem Bezugsbereich. Diesem Problem ist beizukommen durch bloße Korrektur in der Interpunktion, die die beiden unterschiedlichen Bezugsbereiche näher zusammenbringt, ζ. B. so:
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Das Problem des Fernsehens wird immer größer. Hauptsächlich betrifft es Kinder und Jugendliche von sechs bis achtzehn Jahren (weniger kleine Kinder), denn Kleinkinder sind lieber in der Nähe der Mutter oder spielen im Sandkasten. Anstößig bleibt dabei freilich, daß (bei diesem Verständnis) denn im Grunde statt einer Begründung dafür, daß hauptsächlich Sechs- bis Achtzehnjährige betroffen sind, eine Begründung dafür einleitet, daß andere nicht betroffen sind. Eine letzte Möglichkeit ,rettenden' Verständnisses bestünde darin, (2) und (3) sehr eng zu verbinden (gewissermaßen durch ein ergänztes und). Das hätte auch positive Folgen für das Verständnis des Anschlusses von deshalb in (5).
Zu (5)
Probleme des Bezugs gibt es auch beim nächsten Kausalitätssignal, bei deshalb in (5 a). Die Begründung dafür, daß „Eltern mit den Kindern ein Programm besprechen und aussuchen (sollten), was nützliche Sendungen sind", steht in den Sätzen (3) und (4). Auf sie greift satzeinleitendes deshalb in (5) nicht zwangsläufig zurück; näher liegt Bezug nur auf die unmittelbar vorhergehende Aussage. Schwächere Interpunktion zwischen (2) und (3) oder zwischen (3) und (4) wäre hier ein sinnvolles Remedium; gleiches leistete eine weiter ausgreifende Kausalitätssignalisierung (z. B. aus diesen Gründen). Eine andere Möglichkeit der Vereindeutigung läge in der tatsächlichen Herstellung eines Bezugs zum unmittelbar Vorhergehenden, der dann in einem neuen (5 a) etwa erfolgen könnte durch Um dies zu verhindern... Zusätzlich irritierend an dieser Stelle ist die Teilsatzeinleitung mit denn in (5d), dies einmal darum, weil jetzt in ein und demselben Satz eine weitere Kausalität signalisiert wird, zum andern deswegen, weil die Verknüpfung wegen des unklaren Bezugs des Personalpronomens der 3. Person (es) schwer fällt: Grammatisch ist es ja hier nur auf Programm beziehbar; implizit läuft der Bezug aber auf Fernsehen, und das ist vom Wortlaut des Textes her nicht einlösbar.
Zu (8)
In Satz (8) scheint durch somit ein kausales Verhältnis angedeutet zu sein, mindestens ein schwaches. Ist dieses Verständnis richtig,
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so lautet die (implizierte) Behauptung (mindestens für eine ganze Reihe von Lesern), daß sich aus der Berufstätigkeit von Eltern ergibt, daß sie nicht verbieten können, oder daß ein Verbot nur (so lange) zu bestehen vermag, als der Verbietende anwesend ist. An dieser Stelle entsteht ein Problem. Das Problem ergibt sich hier daraus, daß verbieten sowohl ,illokutiv' als auch ,perlokutiv' zu verstehen ist. Es hat damit nur am Rande mit Kausalität zu tun.
Zu (10) Der kausale Nebensatzanschluß in (10 c) gibt zu keinen kritischen Bemerkungen Anlaß.
Zu (12) Nicht leicht zu bestimmen ist der Status von deshalb in (12 a). Am nächsten läge wieder die Annahme einer kausalen Verknüpfung des durch deshalb eingeleiteten Satzes (12) mit dem unmittelbar vorhergehenden Satz (11). Nun geht es aber in (12) annähernd um gleiches wie in (11), beiden Sätzen eignet die Grundprägung des Resümierens. Deshalb wird denn auch von manchen Lesern als ein Resümiergestus verstanden. Wie groß aber ist dann seine Reichweite? Ist Reichweite zurück bis einschließlich (9) intendiert?
Zu (15) Wir wollen davon absehen, daß Satz (15) ungrammatisch ist. Er ist mit einem schlußfolgernden also eingeleitet. Ist das korrekt? Dem Satz (15) gehen zwei Sätze voraus, die einander antithetisch zugeordnet sind. Aus dieser Zuordnung zieht die Verfasserin eine Schlußfolgerung, die keineswegs zwingend ist. Oder ist das also gar nicht als folgernd zu verstehen — wie oft in der Mündlichkeit?
Zu (16) Gehen wir davon aus, mit (15) sei eine Schlußfolgerung formuliert, ein Ergebnis gefunden worden. Dann legt das deshalb in (16 a) die Annahme nahe, dieses Ergebnis sei die Begründung für das, was in (16) ausgesagt wird. Anders formuliert hieße die Aussage dann: Weil solche Kinder keine eigene Vorstellung oder Phantasie haben, ist es wichtig, zwischen nützlichen und nutzlosen Sendungen zu unterscheiden (ich übergehe alles, was an
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Einwänden zu den diversen Kontaminationen hier denkbar wäre). Eine solche Aussage ist nun offenkundig unsinnig, und sie ist wohl auch nicht gemeint. Was gemeint ist, läßt sich erschließen, wenn man bestimmte Gedankensprünge unterstellt: Satz (15) wäre dann zu ergänzen etwa in Richtung auf: Unkritischer und übermäßiger Fernsehkonsum kann zu Verkümmerung oder zum Verlust der Phantasie führen. Mit anderen Worten: Das deshalb in (16 a) verweist auf einen nur präsupponierten Gedanken; es steht zu Unrecht da.
Zu (23)
Satz (23) ist argumentativ nicht in Ordnung. Das weil in (23 b) leitet nicht die Formulierung des Tatbestandes ein, der zu den Haltungs- und Sehschäden führt; vielmehr wird eine Vermutung darüber abgegeben, wie es zu diesem Tatbestand kommt. Von der Konfusion ist auch der Anschluß mit darum in (24) tangiert. Grammatisch kann sich dieser Anschluß wieder nur auf (23) beziehen. Sinngemäß bezieht er sich aber (mindestens auch) auf (22). Die Konfusion entsteht wohl daraus, daß das darum hier als eine Art Allerweltsoperator verwendet wird, mit dessen Einsatz man präzisere Angaben (hier ζ. B.: Um derartige Schäden zu vermeiden ...) umgeht.
Zu (25)
Satz (25) zeigt argumentative Mängel im weil-Satz allenfalls wegen des man, das nicht referenzidentisch mit man in (25 a) ist. Die Verknüpfung zwischen den Teilsätzen von Satz (25) ist aber dadurch (jedenfalls für mich; andere Leser haben hier viel schärfer reagiert) nur marginal gestört.
Zu (26)
In Satz (26) erregt die Begründung in (b) auffällig viel Anstoß. Dieser Anstoß wäre beseitigt, wenn anstelle des weil ein wenn stünde. Die Aussage, die sich dann ergäbe, würde besser zu dem Duktus der vorangegangenen Argumentation passen, nach der die Gefahren des Fernsehens ja wesentlich in der Art des Gebrauchs, nicht in der Sache selbst liegen. Es ist aber nicht auszuschließen, daß die Verfasserin wirklich weil meint: Schulaufsätze neigen zu solchen Aussagen. Dann ist (jedenfalls unter argumentationslogischen Gesichtspunkten)
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gegen diesen Anschluß nichts zu sagen. Freilich wird diese freundliche Interpretation erschwert dadurch, daß (wieder mit einer kausalitätsverdächtigen Partikel, mit ja) im nächsten Satz durchaus differenziert zum Fernsehen Stellung genommen wird.
Zu (30)
Satz (30) ist eine Orgie in Kausalität. Sprachlich unkorrekt ist hier das Nebeneinander zweier Kausalsätze auf gleicher Subordinationsebene ohne explizite Verbindung. Möglich wäre allenfalls: Weil im Fernsehen doch meistens ein Blödsinn gezeigt wird und (weil) durch Fernsehen auch das Familienleben gestört werden kann, werde ich mir keinen Fernseher kaufen. Aus der leichten Umformung zeigt sich auch die Unangemessenheit des deshalb im Ausgangssatz: Es hängt in der Luft.
Ich weiß, daß im Vorstehenden manchmal mit überscharfer Sonde vorgegangen worden ist; ich weiß auch, daß die vorgetragenen (durchweg alltagslogisch orientierten) Befunde nicht unstrittig sind: In verschiedenen Arbeitsgruppen hat sich gezeigt, daß sehr unterschiedliche Ansprüche und unterschiedliche Verstehensweisen bei verschiedenen Lesern vorliegen. Wichtig ist mir das Grundsätzliche. Und nur in Parenthese sei hinzugefügt: Was ich am Paradigma ,Kausalität' herausgestellt habe, ließe sich in doppelter Hinsicht erweitern: 1. Es gibt neben ,Kausalität' eine ganze Anzahl weiterer kategorialer Verknüpfungsmöglichkeiten — und es gibt neben diesen kategorial ausgeprägten Möglichkeiten andere und weniger spezifische kohärenzsichernde (ζ. B. die einfache Anaphorisierung). Was oben für die Kausalität gezeigt werden konnte, läßt sich gleichermaßen für andere Verknüpfungsmöglichkeiten belegen. 2. M a n meine nicht, hier liege ein Problem allein der Schule. Erwachsene Schreiber, routinierte, ja professionelle Schreiber sind im gleichen Spital krank.
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Beides kann ein Abschnitt aus einem Leitartikel der Zürcher „Weltwoche" (R. Medwedjew: Die Supermächte auf dem Weg zur Vernunft. In: Die Weltwoche. 54. Jahrgang. 2. 1. 1986 S. 1) demonstrieren, in der — weiß Gott — nicht das schlechteste Deutsch geschrieben wird; man achte hier auf die (falsche) Antithesenstruktur: „Es wurde kein durchschlagender Erfolg erwartet von der Begegnung zwischen dem konservativsten, entschiedensten antikommunistischen amerikanischen Präsidenten der vergangenen 40 Jahre und dem neuen Sowjetführer, der der sozialistischen Gesellschaft neue Impulse vermitteln will, die Militarisierung der Sowjetunion zu stoppen versucht und den Lebensstandard der sowjetischen Bevölkerung heben möchte. Aber das Genfer Treffen rechtfertigte keineswegs pessimistische Unkenrufe der Schwarzseher. Doch gab es auch keinen neuen ,Geist von Genf' in den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen, und der Zeitpunkt war nicht gegeben für entscheidende Verhandlungen oder gar Übereinkommen. Alles in allem jedoch war es der erste Schritt in der richtigen Richtung des gegenseitigen Verständnisses und künftigen Fortschritts."
4. Ein Letztes: Bei der Arbeit mit Lehrern an dem vorstehenden Aufsatz, aber auch in anderen vergleichbaren Zusammenhängen habe ich — und das scheint mir wichtig — sehr unterschiedliche Verhaltensmuster angetroffen. — Eine leider nicht geringe Anzahl von Lehrern nimmt Probleme hier nicht wahr oder wehrt sich gar vehement dagegen, etwas wahrzunehmen. Unter ihnen gibt es solche, die weder rhetorisch noch grammatisch hinreichend geschult sind (hier liegen Versäumnisse der Leh-
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Horst Sitta rerbildung vor), so daß sie tatsächlich nichts wahrnehmen können. Andere sehen das Problem, weisen ihm aber gegenüber anderen Problemen — zu Unrecht — einen untergeordneten Stellenwert zu (Argumentationstyp: „Wissen Sie, wir haben mit der Bekämpfung der Dialekteinflüsse und mit Rechtschreibschwierigkeiten so viel zu tun, daß wir uns nicht auch noch um diese Dinge kümmern können." — Dabei wäre Arbeit an ,diesen Dingen' meines Erachtens viel wichtiger als Arbeit ζ. B. an der Rechtschreibung.). — Eine ebenfalls nicht geringe Anzahl geht ausgesprochen bereitwillig auf die Erörterung der angesprochenen Probleme ein, bekennt aber große Schwierigkeiten gegenüber der Aufgabe, begrifflich zu fassen, was vorliegt, und den Schülern zu erklären, was falsch ist, warum etwas falsch ist und wie man Fehler vermeiden kann. Auch hier fehlt das begriffliche Inventar, das Training in der Textanalyse; das lebendige Interesse aber, das da begegnet, sobald man präzise Beschreibungen und Erklärungen anzubieten hat, zeugt von Aufnahmebereitschaft und Sensibilität.
Beiden Gruppen gemeinsam ist die Unsicherheit, an welchen Stellen Widerstand am Platze ist, an welchen GewährenLassen. Diese Unsicherheit ist sehr groß, und sie steht zum Teil im Zusammenhang mit den Erklärungsversuchen, zu denen man sich bekennt. Ich habe hier vor allem drei Argumentationslinien angetroffen, die ich im folgenden knapp charakterisiere und kommentiere: 1. Was wir in der Schule beobachten, sei nicht zu verallgemeinern. Es handle sich vielmehr um altersbedingte Schwächen dort, wo (a) Argumentation und (b) Schreiben verlangt wird. Es wachse sich mit den Jahren aus.
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Ich nehme dieses Argument ernst. Vergleiche von Aufsätzen Fünfzehnjähriger mit solchen von Neunzehnjährigen zeigen in der Tat, daß auf den Faktor Zeit zu setzen ist, wenigstens ein Stück weit. Das bedeutet freilich in meinen Augen nicht, daß man in der Schule die Hände in den Schoß legen kann. Vielmehr gilt es Maßnahmen zu entwickeln, die das ,Auswachsen' zu befördern vermögen. 2. Was wir beobachten können, sei nicht altersbedingt, es sei generationenbedingt: Diese Generation lese (verglichen mit früheren Generationen) wenig, ihr stünden daher die schriftsprachlichen Mittel nicht fraglos zu Gebot. Ich schließe nicht aus, daß auch hier eine wirklich wichtige Ursache liegt. Was Radio und Fernsehen, was ζ. B. schon die massenweise Etablierung des Telefons an Veränderungen in unseren Lebens- und eben auch Sprachstil gebracht haben, ist noch gar nicht hinreichend abzusehen. Unterstützt werden könnte dieser Trend in der Schule durch einen Sprachunterricht, der — jedenfalls was die Gymnasien angeht — in den zurückliegenden Jahren deutlich durch die Abkehr von einem stark reflexionsorientierten Rhetorik-( = Sprach- und Denk-)Unterricht, wie er etwa die alte Lateinschule bestimmt hat (auch den Lateinunterricht), charakterisiert ist. Soweit dies zutrifft, scheint mir die Schule ebenfalls gefordert zu sein: Schule hat nicht nur die Aufgabe, auf,Leben' vorzubereiten, man kann ihr auch kompensierende Funktionen zuweisen, d. h. von ihr verlangen, daß sie gerade dort Akzente setzt, wo es ,das Leben' nicht tut. 3. Ein Zeitstil etabliere sich, der gar nicht abzuwerten sei, selbst wenn er — anders als frühere Zeitstile — auch
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Horst Sitta i m Schreiben stark Prinzipien der M ü n d l i c h k e i t v e r pflichtet sei. W e r s o argumentiert, stützt sich e t w a auf die A r b e i t e n v o n H . Eggers, d e r h e r a u s g e a r b e i t e t h a t , d a ß sich unsere S c h r e i b s p r a c h e seit g u t 1 0 0 J a h r e n u n t e r s t a r k e m E i n fluß
von
Vermündlichungstendenzen
entwickelt
hat
( H . E g g e r s 1973). W i e s t a r k d a s m i t s o z i a l e m u n d kulturellem U m b r u c h zu t u n h a t (der w o h l n o c h k a u m als abgeschlossen zu b e t r a c h t e n ist), ist a u c h beschrieben. H . E g g e r s (1980, 2 0 3 ) f o r m u l i e r t es so: „In den Schulen des Bildungsbürgertums, den humanistischen Gymnasien, galten allein die großen Schriftsteller, vornehmlich der Antike und der deutschen Klassik, als die Sprachvorbilder, denen man nachzustreben hatte. Aber nur eine kleine privilegierte Schicht, die sich selbst als Elite verstand, wurde dort erzogen. Weniger als 100 000 Schüler besuchten im J a h resdurchschnitt bis 1914 die Gymnasien und anderen Höheren Schulen; höchstens 1 2 0 0 0 Abiturienten, denen allein die führenden Positionen im öffentlichen und gesellschaftlichen Leben vorbehalten waren, verließen jährlich diese ,Bildungsanstalten'. Zur gleichen Zeit bevölkerten sechs Millionen Kinder alljährlich die Volksschulen; dort erwarben sie ihre Grundkenntnisse und konnten bestenfalls zum grammatisch und orthographisch richtigen Sprachgebrauch, aber gewiß nicht zu einer literarisch gepflegten Hochsprache erzogen werden. Wir übersehen heute allzu leicht, daß die vielgepriesene Literatur- und Hochsprache des Bürgertums geradezu das ,Statussymbol' einer kleinen Bildungsschicht war, an der die große Masse der Sprachteilhaber keinen oder doch nur beschränkten Anteil hatte." G e n a u d a s gleiche spricht G . Ä u g s t a n , w e n n er schreibt (G. Ä u g s t 1982, 130): „In eine besonders kritische Phase gelangte die Hochsprache, als — Ende des 19. Jahrhunderts beginnend, aber verstärkt in unserem Jahrhundert — neue soziale Kreise an der Hochsprache teilhaben wollten und mußten." und
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„Genau damit ist der historische Ort beschrieben, an dem sich die heutige deutsche Nationalsprache befindet. Sie muß von einer Hochsprache einer kleinen Elite zu einer Standardsprache aller werden."
Wenn das richtig ist, steht unsere Generation vor einer herausfordernden Aufgabe: Es geht um nicht weniger als die Erhaltung und Ausbreitung einer hohen Sprachkultur auch und gerade unter den Bedingungen einer Massengesellschaft. Und auch hier hat die Schule eine große Verantwortung. Wie immer man es wenden mag: Alle Linien führen letztlich auf die Verantwortung der Schule, und auch ich möchte die Schule aus dieser Verantwortung nicht entlassen: Sie ist immer die genuine Sozialisationsinstanz in allen Belangen der Schriftlichkeit gewesen. Von den Lehrern ist damit in unserer Situation viel gefordert, Interesse zumal und Sachkenntnis, Aufnahmebereitschaft und Sensibilität, aber auch Entschiedenheit und Standfestigkeit: Natürlich ist Empathie eine hohe Tugend, und gewiß ist vom Lehrer zu verlangen, daß er sich Mühe gibt, auch das zu verstehen, was nicht ganz korrekt gesagt (oder geschrieben) ist. Das muß aber nicht Verzicht auf die Forderung nach richtigem Sprachgebrauch bedeuten. Das ist eines. Viel wichtiger aber scheint mir ein anderes: Die Schule kann ja nur Vermittlungs'mstara sein. Sie kann allenfalls Forderungen — ,Normen' — vertreten und durchsetzen, aber sie kann sie nicht setzen. Hier liegt ein Problem, zu dessen Lösung der Schlüssel — wenn überhaupt irgendwo — bei uns, bei der Sprachwissenschaft zu suchen ist: Wenn wir auch nur im Ansatz ein Konzept von Sprachkultur akzeptieren, an dem sich unser Sprachgebrauch und die Instanz, die sie an die nächste Generation zu vermitteln hat, ausrichten kann, so bedeutet das zugleich die Akzeptation von Normen — im konkreten Fall ζ. B. die Akzeptation von Normen bei der textuellen Ver-
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knüpfung, und natürlich die Bereitschaft, an ihrer Erstellung mitzuwirken. Mir scheint, wir müssen dringend die in der Linguistik etablierte geradezu hochmütige Abstinenz gegenüber Normen überprüfen. Sie ist mitverantwortlich für die Ratlosigkeit in der Schule und sie schafft unter den gegebenen Umständen nur Lizenz für alle die, die mit viel weniger Skrupeln Normen zu setzen bereit sind und die es per saldo gewiß nicht begründeter tun, als wir das tun könnten. Wir müssen ferner den Institutionen, die mit Sinn für Verantwortung an Normierung arbeiten, Unterstützung geben. Es ist wohlfeil, von der Position des deskriptiv arbeitenden Linguisten her etwa die Arbeit des Duden anzugreifen und ihr ausdrücklich Legitimation abzusprechen. Aber weiß man auch, wie gefährlich das ist, ζ. B. für die Schule? Da versucht man, an einer Stelle die Autorität einer Institution auszuhöhlen (und man kommt damit gegenwärtig erstaunlich gut voran), wo Autorität gebraucht wird und nichts in der Lage ist, an die Stelle der Institution zu treten, sollte sie einmal destabilisiert — zusammengebrochen sein. Wo soll sich eigentlich die Schule orientieren? Zusammengenommen: Es gibt (wie zu anderen Zeiten auch) Probleme in unserer Schreibkultur, die in der Schule sichtbar werden. Es kann keine Rede davon sein, daß (wie es 1984 ausgerechnet DER SPIEGEL diagnostiziert hat) „eine Industrienation ... ihre Sprache (verliert)". Aber ernst genug sind die Probleme schon. Und Chancen, sie zu lösen, haben wir nur, wenn sich verschiedene Instanzen gleichermaßen in die Pflicht genommen fühlen — Schule, Wissenschaft und eine selbstbewußte Norminstanz — wenn sie kooperieren und sich aufeinander verlassen können.
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