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German Pages 768 Year 2016
Sarah Schmidt (Hg.) SPRACHEN DES SAMMELNS
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Sarah Schmidt (Hg.)
SPRACHEN DES SAMMELNS Literatur als Medium und Reflexionsform des Sammelns
Wilhelm Fink
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Das Zustandekommen der Beiträge sowie der Druck dieses Bandes wurden durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Umschlagabbildung: Heidemarie von Wedel: „Library. Vom Verschwinden der Bücher in einem Buch und vom Verbleib einiger Titel“, Stuttgart: UND EINS, 2014. © Heidemarie von Wedel, 2014.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2016 Wilhelm Fink, Paderborn (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Lektorat und Satz: Margret Westerwinter, Düsseldorf; www.lektorat-westerwinter.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-6097-4
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INHALT
SARAH SCHMIDT Sprachen des Sammelns. Zur Einleitung ...................................................
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I. DIE BESCHREIBBARKEIT DER DINGE UND DIE DINGLICHKEIT DER SPRACHE MONA KÖRTE & SARAH SCHMIDT Die Beschreibbarkeit der Dinge und die Dinglichkeit der Sprache. Zur Einleitung ............................................
31
ULRIKE VEDDER Gendered objects. Literarische Ding- und Geschlechtercodierungen ......................................
43
DOERTE BISCHOFF Vom Überleben der Dinge. Sammlung und Exil in Edmund de Waals Der Hase mit den Bernsteinaugen und Nicole Kraussʼ Das große Haus .........................................................
59
KATJA SCHUBERT Das wandernde Taschentuch − Herta Müllers widerständige Sammlung ...................................................
81
DOMINIK FINKELDE Der nicht aufgehende Rest − zum Widerstreit zwischen Objekt und Ding in der Moderne ....................
97
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INHALT
BERND BEHR Phantom Limbs .......................................................................................... 124 SARAH SCHMIDT Odradek oder die Rache des Objektes? „Phantom Limbs“ von Bernd Behr ............................................................ 131 MONA KÖRTE Vom Ding zum Zeichen: Abc-Bücher und Buchstabensuppen .......................................................... 139 JUDITH KASPER Vom Ausscheren und Einsammeln der Buchstaben. Saussures Anagramm-Studien und Freuds Fehlleistungen ........................ 163 REGINA HILBER Brandenburg-Zyklus tagwerk X ................................................................. 181 MONA KÖRTE & SARAH SCHMIDT fortgehen – aufsammeln – weglassen. Zum Brandenburg-Zyklus tagwerk X von Regina Hilber .......................... 187 SARAH SCHMIDT Die Aura der Kopie oder das Alphabet der Klone – Jacqueline Baums und Ursula Jakobs künstlerisches Projekt Connected in Isolation (2014-2015) .......................................................... 191
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INHALT
II. DYNAMIK UND ORDNUNG DER SAMMLUNG. STRATEGIE, SPIEL UND VERLUST CHRISTINE BLÄTTLER & ULRIKE VEDDER Dynamik und Ordnung der Sammlung − Strategie, Spiel und Verlust. Zur Einleitung .............................................. 199 CHRISTINE BLÄTTLER Die Serie als Ordnungsmuster ................................................................... 205 BÄRBEL KÜSTER Die Finger im Vorhang des Archivs und andere Zaungäste – Matthias Megyeri: Hangings (seit 2009) ................................................... 219 MARION PICKER Kartographie als Sammlung. Die kosmologische Konzeption des Kartensaals im Florentiner Palazzo Vecchio ................................................................. 225 SUSANNE SCHOLZ Der Hof in der Kiste: Sammlungsdynamiken am Hof von Elizabeth I. ....................................... 235 MICHAEL NIEHAUS Sammelpunkte ........................................................................................... 243 MONA KÖRTE Ohne Mühe und Anordnung zusammengeworfen: „Queer analogies“ in Nathaniel Hawthornes „A Virtuoso’s Collection“ ..................................... 259
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INHALT
BÄRBEL KÜSTER Obsoleszenz der Ablage. Heidemarie von Wedels Buchblock Library (2012-2014) ........................ 269 INGRID STREBLE Das totale Museum oder Versuchsanordnung Literatur – eine Lektüre von Serge Rezvanis Roman LʼOrigine du monde ............................................ 275 ULRIKE VEDDER Visionen der Sammlungszerstörung .......................................................... 289 HARALD KRAEMER Sammeln ohne Zugriff: Sammeln ohne Sinn! Über den zunehmenden Verlust hypermedialer Wissensräume im Zeitalter ihrer elektronischen Speicherbarkeit ...................................... 295
III. TAXONOMIEN DES MENSCHEN – ARCHIVE DES HUMANEN BÄRBEL KÜSTER, ARMIN SCHÄFER & SUSANNE SCHOLZ Taxonomien des Menschen – Archive des Humanen. Zur Einleitung ............................................................................................ 315 ARMIN SCHÄFER Ordnungsversuche im Gebiet des Wahnsinns: Archive, Akten, Biographien ..................................................................... 327 SUSANNE SCHOLZ Typus, Taxonomie, Text: Menschen sammeln im britischen Empire ................................................. 345
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INHALT
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BÄRBEL KÜSTER Gesten des Dokumentierens – Archive des Scheiterns. Fotoalben der Kolonialzeit ......................................................................... 363 SUSANNE KOMFORT-HEIN Zur physiognomischen (Un)lesbarkeit des Menschen zwischen „eigentlichstem Wesen“ und fotografischer Serie: Max Picards Menschengesicht und August Sanders Antlitz der Zeit ................................................................. 389 SARAH SCHMIDT Falten sammeln – Falten lesen: diskursive Materialität in Maria Hanls Objekt „Faltenröcke“ (2013) aus der Serie optimize-me ....................................... 407 SUE WATERMAN The Empty Cabinet – Chapter One: Rocks ................................................ 413 MARION PICKER Die Zeit des Steins. Zu Sue Watermans The Empty Cabinet ..................................................... 451 SARAH SCHMIDT Existenzen sammeln – Existenzen schreiben: Überlegungen zu M. Foucault, W. Kempowski und F. Hoppe .................. 457 ALEXANDRE MÉTRAUX & CHARLES WOLFE Monster – Sammlung und Allegorie .......................................................... 487
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INHALT
IV. DIE „UNTERSEITE“ DER SAMMLUNG JUDITH KASPER & SUSANNE KOMFORT-HEIN Die „Unterseite“ der Sammlung. Zur Einleitung ....................................... 499 BARBARA NATALIE NAGEL Enjambement des Rests − poetische Überlebensökonomien in Jean Pauls Wutz ................................ 507 PHILIP AJOURI Zu einigen Sammlungs- und Ausschlussprinzipien beim Publikationstyp der ‚Gesammelten Werke‘. Gottfried Kellers Gesammelte Werke (1889) und Goethes Ausgabe letzter Hand (1827-30) .................................................. 513 ALEXANDRE MÉTRAUX Schriftbildlichkeit oder Bildschriftlichkeit − eine Seite Pessoa zwischen Einfall und Abfall .......................................... 529 SARAH SCHMIDT Kartographien des Denkens – Lesarten des Notierten: George Steinmanns mindmaps (1995-) ...................................................... 539 BARBARA THUMS Im Zweifel für die Reste: Lumpensammler und andere Archivisten der Moderne ............................. 545 GIANLUCA SOLLA Nach der Sammlung .................................................................................. 561
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INHALT
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GISELA ECKER „Aufgesparte gummiringe nie benutzte griffel“. Nicht-sterbliche Überreste in der Gegenwartsliteratur .............................. 577 SARAH SCHMIDT Fremdeigene Wortreste − Sprache als Sammlung in Herta Müllers Collagen .............................................................................. 593 NINA JÜRGENS „One man’s trash is another man’s treasure“ – zu Abfall und Treibgut in Murray Bails Holden’s Performance und Alexis Wrights Carpentaria ............................................................... 621 JUDITH KASPER Was nach dem Sammeln bleibt. Zum Status des Kopierens in Flauberts Bouvard et Pécuchet ................... 647 LITERATURVERZEICHNIS ............................................................................ 659 ABBILDUNGSNACHWEISE ........................................................................... 703 ÜBER DIE BEITRÄGERINNEN UND BEITRÄGER ........................................... 709 PERSONENREGISTER ................................................................................... 719
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SARAH SCHMIDT Sprachen des Sammelns. Zur Einleitung ...................................................
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I.
DIE BESCHREIBBARKEIT DER DINGE UND DIE DINGLICHKEIT DER SPRACHE MONA KÖRTE & SARAH SCHMIDT Die Beschreibbarkeit der Dinge und die Dinglichkeit der Sprache. Zur Einleitung ............................................
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ULRIKE VEDDER Gendered objects. Literarische Ding- und Geschlechtercodierungen ......................................
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DOERTE BISCHOFF Vom Überleben der Dinge. Sammlung und Exil in Edmund de Waals Der Hase mit den Bernsteinaugen und Nicole Kraussʼ Das große Haus .........................................................
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KATJA SCHUBERT Das wandernde Taschentuch − Herta Müllers widerständige Sammlung ...................................................
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DOMINIK FINKELDE Der nicht aufgehende Rest − zum Widerstreit zwischen Objekt und Ding in der Moderne ....................
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BERND BEHR Phantom Limbs .......................................................................................... 124 SARAH SCHMIDT Odradek oder die Rache des Objektes? „Phantom Limbs“ von Bernd Behr ............................................................ 131 MONA KÖRTE Vom Ding zum Zeichen: Abc-Bücher und Buchstabensuppen .......................................................... 139 JUDITH KASPER Vom Ausscheren und Einsammeln der Buchstaben. Saussures Anagramm-Studien und Freuds Fehlleistungen ........................ 163 REGINA HILBER Brandenburg-Zyklus tagwerk X ................................................................. 181 MONA KÖRTE & SARAH SCHMIDT fortgehen – aufsammeln – weglassen. Zum Brandenburg-Zyklus tagwerk X von Regina Hilber .......................... 187 SARAH SCHMIDT Die Aura der Kopie oder das Alphabet der Klone – Jacqueline Baums und Ursula Jakobs künstlerisches Projekt Connected in Isolation (2014-2015) .......................................................... 191
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II.
DYNAMIK UND ORDNUNG DER SAMMLUNG. STRATEGIE, SPIEL UND VERLUST CHRISTINE BLÄTTLER & ULRIKE VEDDER Dynamik und Ordnung der Sammlung − Strategie, Spiel und Verlust. Zur Einleitung .............................................. 199 CHRISTINE BLÄTTLER Die Serie als Ordnungsmuster ................................................................... 205 BÄRBEL KÜSTER Die Finger im Vorhang des Archivs und andere Zaungäste – Matthias Megyeri: Hangings (seit 2009) ................................................... 219 MARION PICKER Kartographie als Sammlung. Die kosmologische Konzeption des Kartensaals im Florentiner Palazzo Vecchio ................................................................. 225 SUSANNE SCHOLZ Der Hof in der Kiste: Sammlungsdynamiken am Hof von Elizabeth I. ....................................... 235 MICHAEL NIEHAUS Sammelpunkte ........................................................................................... 243 MONA KÖRTE Ohne Mühe und Anordnung zusammengeworfen: „Queer analogies“ in Nathaniel Hawthornes „A Virtuoso’s Collection“ ..................................... 259
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BÄRBEL KÜSTER Obsoleszenz der Ablage. Heidemarie von Wedels Buchblock Library (2012-2014) ........................ 269 INGRID STREBLE Das totale Museum oder Versuchsanordnung Literatur – eine Lektüre von Serge Rezvanis Roman LʼOrigine du monde ............................................ 275 ULRIKE VEDDER Visionen der Sammlungszerstörung .......................................................... 289 HARALD KRAEMER Sammeln ohne Zugriff: Sammeln ohne Sinn! Über den zunehmenden Verlust hypermedialer Wissensräume im Zeitalter ihrer elektronischen Speicherbarkeit ...................................... 295
III.
TAXONOMIEN DES MENSCHEN – ARCHIVE DES HUMANEN BÄRBEL KÜSTER, ARMIN SCHÄFER & SUSANNE SCHOLZ Taxonomien des Menschen – Archive des Humanen. Zur Einleitung ............................................................................................ 315 ARMIN SCHÄFER Ordnungsversuche im Gebiet des Wahnsinns: Archive, Akten, Biographien ..................................................................... 327 SUSANNE SCHOLZ Typus, Taxonomie, Text: Menschen sammeln im britischen Empire ................................................. 345
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BÄRBEL KÜSTER Gesten des Dokumentierens – Archive des Scheiterns. Fotoalben der Kolonialzeit ......................................................................... 363 SUSANNE KOMFORT-HEIN Zur physiognomischen (Un)lesbarkeit des Menschen zwischen „eigentlichstem Wesen“ und fotografischer Serie: Max Picards Menschengesicht und August Sanders Antlitz der Zeit ................................................................. 389 SARAH SCHMIDT Falten sammeln – Falten lesen: diskursive Materialität in Maria Hanls Objekt „Faltenröcke“ (2013) aus der Serie optimize-me ....................................... 407 SUE WATERMAN The Empty Cabinet – Chapter One: Rocks ................................................ 413 MARION PICKER Die Zeit des Steins. Zu Sue Watermans The Empty Cabinet ..................................................... 451 SARAH SCHMIDT Existenzen sammeln – Existenzen schreiben: Überlegungen zu M. Foucault, W. Kempowski und F. Hoppe .................. 457 ALEXANDRE MÉTRAUX & CHARLES WOLFE Monster – Sammlung und Allegorie .......................................................... 487
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IV.
DIE „UNTERSEITE“ DER SAMMLUNG JUDITH KASPER & SUSANNE KOMFORT-HEIN Die „Unterseite“ der Sammlung. Zur Einleitung ....................................... 499 BARBARA NATALIE NAGEL Enjambement des Rests − poetische Überlebensökonomien in Jean Pauls Wutz ................................ 507 PHILIP AJOURI Zu einigen Sammlungs- und Ausschlussprinzipien beim Publikationstyp der ‚Gesammelten Werke‘. Gottfried Kellers Gesammelte Werke (1889) und Goethes Ausgabe letzter Hand (1827-30) .................................................. 513 ALEXANDRE MÉTRAUX Schriftbildlichkeit oder Bildschriftlichkeit − eine Seite Pessoa zwischen Einfall und Abfall .......................................... 529 SARAH SCHMIDT Kartographien des Denkens – Lesarten des Notierten: George Steinmanns mindmaps (1995-) ...................................................... 539 BARBARA THUMS Im Zweifel für die Reste: Lumpensammler und andere Archivisten der Moderne ............................. 545 GIANLUCA SOLLA Nach der Sammlung .................................................................................. 561
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GISELA ECKER „Aufgesparte gummiringe nie benutzte griffel“. Nicht-sterbliche Überreste in der Gegenwartsliteratur .............................. 577 SARAH SCHMIDT Fremdeigene Wortreste − Sprache als Sammlung in Herta Müllers Collagen .............................................................................. 593 NINA JÜRGENS „One man’s trash is another man’s treasure“ – zu Abfall und Treibgut in Murray Bails Holden’s Performance und Alexis Wrights Carpentaria ............................................................... 621 JUDITH KASPER Was nach dem Sammeln bleibt. Zum Status des Kopierens in Flauberts Bouvard et Pécuchet ................... 647 LITERATURVERZEICHNIS ............................................................................ 659 ABBILDUNGSNACHWEISE ........................................................................... 703 ÜBER DIE BEITRÄGERINNEN UND BEITRÄGER ........................................... 709 PERSONENREGISTER ................................................................................... 719
SARAH SCHMIDT
SPRACHEN DES SAMMELNS. ZUR EINLEITUNG
Akte des Sammelns, die Geschichte von Sammlungsinstitutionen und Sammlern erfahren in den Kultur- und Geisteswissenschaften ebenso wie in den Künsten spätestens seit den 1970er Jahren eine besondere Aufmerksamkeit. Seit den 1990er Jahren finden sich eine Fülle an Aufsätzen, Monographien, Tagungen und Ausstellungen, ja sogar ein eigens konzipierter Studiengang1, die unter diesem Fokus immer wieder neue Fragestellungen aufwerfen und untersuchen. Wollte man das Interesse am Phänomen des Sammelns in einen größeren Rahmen stellen, so ist es sicher Teil einer generellen Konjunktur materialer Kulturen, die unter dem Schlagwort des material turn in den Kulturwissenschaften seit den 1990ern diskutiert wird.2 Aus erkenntnistheoretischer Sicht steht dieser material turn – ebenso wie der frühe linguistic turn, der performative turn oder der pictorial turn – im Zeichen einer Pluralität der Wissenskulturen und ihrer medialen Voraussetzungen. Nicht-sprachliche und nicht-diskursive Formen der Wissensgenerierung und Wissensdarstellung werden in den Vordergrund gerückt und in diesem Sinne gewinnen auch das Sammeln und Ausstellen als Formen materiellen und/oder multimedialen Zeigens oder Sagens an Bedeutung.3 Kulturgeschichtlich ist die periodische Hinwendung zu Materialität der Kultur und die besondere Aufmerksamkeit auf Dinge eng mit dem Prozess technischer Innovation verbunden. Setzt zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit den Anfängen der industriellen Revolution eine schrittweise Umwälzung der Arbeits-, Lebens- und Kommunikationsprozesse ein4, so ist es um 1900 die industrielle Massenproduktion, die in die Arbeit, den Alltag und die Medien eingreift. Für das ausgehende 20. Jahrhundert konstatiert Jean Baudrillard 1 2
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So z. B. der Masterstudiengang „Sammlungsbezogene Wissens- und Kulturgeschichte“ an der Universität Erfurt. Vgl. u. a. Köstlin/Bausinger (Hg.) 1983, Umgang mit Sachen; Miller 1998, Material Cultures; Berger 1992, Reading Matter; Beyer 2006, Der Souvenir; Hodder 1989, The Meanings of Things; Ecker/Scholz (Hg.) 2000, Umordnungen der Dinge; Daston 2004, Things that Talk; König (Hg.) 2005, Alltagsdinge: Erkundungen der materiellen Kultur; Hahn 2005, Materielle Kultur. Vgl. Ecker/Stange/Vedder (Hg.) 2001, Sammeln, Ausstellen, Wegwerfen; Barchet/KochHaag/Sierek (Hg.) 2003, Ausstellen: der Raum der Oberfläche; Bianchi (Hg.) 2007, Das neue Ausstellen; Götz (Hg.) 2008, Villa Paragone. Vgl. dazu beispielsweise die Arbeiten von Asendorf 1984, Batterien der Lebenskraft und ders. 2009, Verlust der Dinge?
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SARAH SCHMIDT
bereits 1968 einen auf Miniaturisierung und Virtualisierung ausgerichteten technischen Fortschritt und mit ihm ein schrittweises Verschwinden der Gegenstände5, mit dem die Handlungskomplexe, die Menschen und Dinge miteinander verbinden, immer filigraner und verwickelter werden. Die Bedeutung, die den Dingen in diesen Phasen technischer Innovation zukommt, stellt sich zum einen als eine Art Gegenreaktion auf eine in ihrer konkreten Handgreiflichkeit immer mehr entschwindenden materiale Lebenswelt dar, zum anderen ist sie ein Indikator von veränderten Mensch-Ding-Verhältnissen, die es neu zu denken gilt und mit denen sich auch Sammlungen neu konfigurieren. Die große Mehrzahl an Publikationen und Kolloquien zur Problematik des Sammelns stammt aus der Wissenschaftsgeschichte, der Ethnologie, der Volkskunde und Archäologie oder den Kunst- und Kulturwissenschaften. Als Vorläufer und Alternativmodell zu einem modernen Wissenschaftsverständnis kommt der Wunderkammer und dem Kuriositätenkabinett ein großes Interesse zu6, das Museum steht als Sammel-Institution der Neuzeit und Plattform nationaler Selbstdarstellung im Fokus7, das Archiv erfährt, nicht zuletzt im Zuge der Foucault-Lektüren, eine konzeptionelle Aufwertung.8 Mittlerweile gibt es umfangreiche Untersuchungen aus kulturhistorischer9, psychologischer und psychoanalytischer10 Perspektive, aus denen sich in den letzten 15 Jahren viele Ansatzpunkte und Fragestellungen entwickelt haben, die das Sammeln unter institutionsgeschichtlichen11, kulturökonomischen12, genderspezifischen13 oder theologischen14 sowie unter epistemischen und epistemologischen15 Gesichtspunkten thematisieren. 5 6
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Baudrillard 1991, Das System der Dinge, 68 f. Vgl. Impey/MacGregor (Hg.) 1985, The Origins of Museums; Grote 1994, Macrocosmos in Microcomo; Bredekamp 2000 [1993], Antikensehnsucht und Maschinenglauben; Weil 1995, A Cabinet of Curiosities; Bredekamp/Brüning/Weber (Hg.) 2000-2001, Theater der Natur und Kunst; Marx/Rehberg (Hg.) 2006, Sammeln als Institution. Vgl. u. a. Raffler 2008, Museum − Spiegel der Nation? und Breuer/Holtz/Kahl (Hg.) 2015, Die Musealisierung der Nation. Vgl. u. a. Baßler 2005, Die kulturpolitische Funktion und das Archiv; Schmitt (Hg.) 2007, Archive und Öffentlichkeit; Friedrich 2013, Die Geburt des Archivs. Vgl. Pomian 1988, Der Ursprung des Museums; Grote 1983, Materialien zur Geschichte des Sammelns; Grote 1994, Macrocosmos in Microcomo; Pearce 1992, Museums, Objects, and Collections. Vgl. Barker 1967, Portrait of an Obsession; Muensterberger 1995, Sammeln sowie den Ausstellungskatalog Hainard/Kaehr (Hg.) 1982, Collections Passion. Bennett 1995, The Birth of the Museum; Becker1996, Vom Raritäten-Kabinett zur Sammlung als Institution; Marx/Rehberg (Hg.) 2006, Sammeln als Institution; Schaer 2007, Lʼinvention des musées. Vgl. Groys 1992, Über das Neue sowie die Publikationen zu Abfall und Müll von Thompson 1979, Rubbish Theory; Rathje/Murphy 1993, Rubbish!; Windmüller 2004, Die Kehrseite der Dinge; Becker/Reither/Spies (Hg.) 2005, Reste. Vgl. de Grazia/Furlough (Hg.)1996, The Sex of Things; Brednich (Hg.)1999, Männlich. Weiblich; Kirkham (Hg.) 1996, The Gendered Object. Vgl. Mädler 2006, Transfigurationen. Vgl. u. a. Hooper-Greenhill 1992, Museums and the Shaping of Knowledge; Findlen 1994, Possessing Nature: Museums; te Heesen/Spary (Hg.) 2001, Sammeln als Wissen; te Heesen/
SPRACHEN DES SAMMELNS. ZUR EINLEITUNG
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Dass nicht nur die Literatur im weitesten Sinne (als Fixierung sprachlicher Zeugnisse), sondern auch im engeren Sinne (verstanden als ein imaginatives, sprachkünstlerisches Schrifttum) immer schon sammelnde Techniken auf Werk-, Text- und Satzebene praktiziert und zugleich den Akt des Sammelns, dessen Methoden, Gegenstände, Protagonisten und Institutionen thematisch ins Visier nimmt, zeigt selbst ein flüchtiger Blick auf die Literaturgeschichte: Goethes Briefroman Der Sammler und die Seinigen (1799), die programmatische Aufwertung des Fragments in der Romantik, Stifters sammelnde Dilettanten, Francis Ponges poetische Enzyklopädie der Dinge (Le parti pris des choses, 1942), der spielerische Umgang mit gesammeltem Wissen und Wörtern in der Gruppe Oulipo, Jorge Luis Borges’ philosophische Poetik der Bibliothek, W. G. Sebalds Archäologie der Sammlungsformen – all das sind prominente und doch sehr unterschiedliche Stationen der Beschäftigung mit Sammlungen, Sammlern und den Akten des Sammelns. In der Untersuchung der Schrift-Sammlungen, etwa der Bibliotheken oder den großen Enzyklopädie- oder Wörterbuchprojekte16, die ein breites Forschungsinteresse erfahren, kommt auch der Literaturwissenschaft (insbesondere der frühen Neuzeit) eine zentrale Rolle zu, wobei vor allem die Konjunktion von Literatur und Wissen in den Blick gerät. Neben diesen Untersuchungen finden sich viele literaturwissenschaftliche Studien zur Bibliothek17, zum Museum18 sowie zum Archiv.19 Es liegen Arbeiten zu sammelnden Textverfahren (wie zu Formen und Funktionen der Enumeration20), zu einzelnen Spezialgattungen (wie z. B. zum Schreibkalender21 oder Album22 als Sammelmedium), zu Epochen und Bewegungen23 aber auch zu ausgewählten Autoren wie Goethe24, Stifter25, oder Sebald26 vor. Einen wichtigen Anknüpfungspunkt
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Lutz (Hg.) 2005, Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort; Büttner/Friedrich/Zedelmaier (Hg.) 2003, Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen. Vgl. Stammen/Weber (Hg.) 2004, Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverbreitung; Schneider (Hg.) 2006, Seine Welt wissen; Schneider 2008, Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert; Grunert/Vollhardt (Hg.) 2007, Historia literaria sowie Büttner/Friedrich/Zedelmaier (Hg.) 2003, Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen; Kilcher 2003, ,mathesis‘ und ,poiesis‘; Schmitz-Emans/Schulz/Fischer (Hg.) 2013, Alphabet, Lexiographik und Enzyklopädistik. Zur Wörterbuchforschung vgl. z. B. Haß-Zumkehr 2001, Deutsche Wörterbücher. Vgl. z. B. Rieger 2002, Imaginäre Bibliotheken; Werle 2007, Copia librorum. Vgl. z. B. Hillebrand 2001, Erinnerung und Raum, Lonner 2007, Historyʼs Attic; MacIsaac 2007, Literatur und das Museum sowie Westerwinter 2008, Museen erzählen. Vgl. z. B. Bahr 1998, The Novel as Archive; Thielking 2006, Akteneinsamkeit: Archiv- und Aufzeichnungsfiktion. Vgl. Mainberger 2003, Die Kunst des Aufzählens. Vgl. Meise 2002, Das archivierte Ich. Kramer/Pelz (Hg.) 2013, Album. So z. B. die Untersuchungen von Moritz Baßler, die explizit eine epistemologische Fragestellung verfolgt (ders. 2002, Der deutsche Pop-Roman). Vgl. u. a. Asman 1997, Kunstkammer als Kommunikationsspiel; Apel 2001, Goethe und die Seinigen und Buschmeier 2005, Ordnungen der ungesicherten Welt. Vgl. z. B. Bertschik 2006, Gesammeltes Wissen; Finkelde 2007, Tautologien der Ordnung; McIsaac 2004, The Museal Path to ,Bildung‘.
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SARAH SCHMIDT
für weitere Studien zum Sammeln bilden darüber hinaus auch die umfangreichen Untersuchungen zum Dingumgang in der Literatur, die thematisch im Umfeld der Sammelproblematik stehen.27 Gemessen an der Fülle der geleisteten Forschung in kulturwissenschaftlichen Fächern, der Kunstgeschichte und Ethnologie, aber auch hinsichtlich der Bedeutung, die dem Sammeln in literarischen Werken seit der frühen Neuzeit zukommt, ist die Forschung innerhalb der Literaturwissenschaft zu dieser Problematik jedoch bei Weitem nicht erschöpft. *** Der Band Sprachen des Sammelns erkundet zum einen den Zusammenhang von Sprache und Sammlung. Dies umfasst neben der Untersuchung von Sammlungen in Sprache und der Funktion von Sprache für Sammlungen auch die Befragung der Analogie zwischen Sprache und Sammlung. Letzteres ließe sich in zwei Richtungen denken, nämlich inwiefern sich eine Sammlung mit der Funktionsweise einer Sprache analogisieren lässt, aber auch ob eine Sprache als (Buchstaben-, Wort- und Zeichen-)Sammlung verstanden werden und welche Bedeutung dieses Verständnis der Sprache als Sammlung für den Kommunikationsprozess haben kann. Damit verbunden ist die grundsätzliche Frage nach der Rezeption von Sammlungen, in der Ordnungsstrukturen und Klassifikationsregeln zur Anwendung kommen, aber auch unterlaufen werden können. Somit kommt dem Prozess des Lesens, auch im Sinne von legere, das
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Vgl. z. B. Finkelde 2007, Wunderkammer und Apokalypse; Köhler 2005, Verabredungen in der Vergangenheit; Lachmann 2006, Archäologie oder Restauration?; Long 2007, W. G. Sebald – Image, Archive, Modernity; Körte 2005, ,un petit sac‘; von Bülow/Gfrereis/Strittmatter (Hg.) 2008, Wandernde Schatten, Schmidt 2012, Der Falter in der Schachtel. So finden sich in der Literaturwissenschaft viele Überlegungen zur materialen Erinnerungskultur. Vgl. z. B. Albert 1998, Ein Fächer und andere Souvenirs; Oesterle 2005, Erinnerung, Gedächtnis, Wissen; Vedder 2006, Erbschaft und Gabe, Schriften und Plunder. Zur Gabe in der Romantik siehe Neumann 2004, Gaben; Mitchell 2001, Romanticism and the Life of Things sowie Polaschegg 2005, Genealogische Geographie; . Zum Fetisch siehe Weder 2007, Erschriebene Dinge: Fetisch, Amulett, Talisman um 1800; Steiner 2000, ‚Gespenstige Gegenständlichkeit‘ und Bischoff 2013, Poetischer Fetischismus. Zum französischen Gesellschaftsroman des 19. Jahrhunderts, der sich in besonderem Maße durch eine narrative Inszenierung von Objekten auszeichnet siehe u. a. Frölich 1997, Des hommes, des femmes et des choses; zum Interieur und zur symbolischen Bedeutung von Gegenständen im Biedermeier vgl. Scholz 2002, Andere Interieurs; Hunfeld/Schneider (Hg.) 2007, Die Dinge und die Zeichen; Sandgruber 2005, Narretei und Industrie und Macho 2005, Stifters Dinge. Auch die Dingästhetik der literarischen Moderne um 1900 − exemplarisch seien hier genannt Eykman 1999, Die geringen Dinge; Kimmich 2000, Kleine Dinge in Großaufnahme; Strathausen 2003, The Look of Things; Ingold 2004, Das Quadrat in der Wüste; Grunert/Kimmich (Hg.) 2008, Denken durch die Dinge − und das insbesondere ab dem 20. Jahrhundert so brisante Phänomen des Abfalls hat umfänglich Beachtung gefunden, vgl. hierzu Ecker 2001, Verwerfungen, Linck/Mattenklott 2006, Abfälle. Stoff- und Materialpräsentation; Assmann/Eke/ Geulen 2014, Entsorgungsprobleme.
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als Auflese und Nachlese selbst eine Spielart des Sammelns darstellt, eine herausgehobene Bedeutung zu.28 Sprachen des Sammelns widmet sich darüber hinaus im Besonderen der Literatur als einem Medium, in dem über das Sammeln, über Sammler und Sammelinstitutionen reflektiert wird, zugleich jedoch auch mit sprachlichen und genuin literarischen, poetischen oder rhetorischen Ordnungssystemen und Textverfahren Sammlungen erstellt werden. Sammelnde Schreibweisen und die motivische Auseinandersetzung mit dem Sammeln bedingen sich dabei wechselseitig, sie bilden sich indessen keineswegs eins zu eins aufeinander ab. Die Auswahl der Beiträge ist explizit interdisziplinär angelegt und vereint Studien aus der Literaturwissenschaft mit Untersuchungen aus der Philosophie, den Kunst- und Kulturwissenschaften sowie mit Beiträgen von Schriftstellerinnen, Künstlerinnen und Künstlern. Die vier Kapitel des Bandes lassen sich als vier voneinander unabhängige Themenschwerpunkte lesen, zugleich bauen sie aufeinander auf. Da sie in den jeweiligen Kapiteleinleitungen eine systematische Vorstellung erfahren, seien sie hier nur kurz skizziert. Das erstes Kapitel, „Die Beschreibbarkeit der Dinge und die Dinglichkeit der Sprache“, setzt mit dem Elementaren ein, mit dem, was wir sammeln. Ausgehend von der These, dass es vorzüglich sammelwürdige Dinge gibt, geht es zum einen um die literarische Erfassung und Beschreibung dieser Dinge und zum anderen um die Frage, inwiefern und unter welchen Bedingungen die Sprache selbst einem Verdinglichungsprozess unterliegt, der seinerseits Anlass für unterschiedliche Formen von Sammlungen sein kann. Dabei ist es besonders die epistemische Unschärfe und die ‚Widerständigkeit‘ des (materiellen oder sprachlichen) Dinges, für die sich die literarischen Reflexionen im ersten Kapitel interessieren. Das zweite Kapitel, „Dynamik und Ordnung der Sammlung. Strategie, Spiel und Verlust“, untersucht das Wie von Sammlungen und lenkt den Blick auf Ordnungsstrukturen und Sammlungssystematiken, auf Konstellationen, Serien und Rahmungen, auf Prozesse der Kontextualisierung und Dekontextualisierung. Die Aufmerksamkeit liegt hier speziell auf der Dialektik von Statik und Dynamik, die sich sowohl in der Zeit als auch im Raum gestaltet und die literarisch nicht zuletzt in Gestalt von Rezeptions- und Leseprozessen in Erscheinung tritt. Unter den Vorzeichen einer spezifischen Sammlung, nämlich der Sammlung des Menschen, steht das dritte Kapitel, „Taxonomien des Menschen – Archive des Humanen“: Wann bzw. unter welchen Bedingungen wird der Mensch selbst zum Objekt des Sammelns, welches Wissen vom Menschen kommt in Sammlungen zum Ausdruck, wie positioniert sich die Literatur zu diesem Wissen und inwiefern generieren einzelne literarische Formen Sammlungen des Menschen und des Menschlichen. Stärker als in den anderen Kapiteln rücken hier wissenschaftliche Sammlungen in den Vordergrund, die den 28
Siehe FN 54.
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Menschen als Exemplar einer ,Rasse‘ oder als ,Menschen-Fall‘ in Krankenoder Gefängnisakten begreifen. Eine große Rolle spielt dabei die Auseinandersetzung mit der Sammlung als Machtdispositiv und damit eng verbunden ist die Frage, inwiefern eine Gesellschaft – sei es als Hierarchie der Stände oder in biopolitischer Perspektive – als eine Form der Sammlung verstanden werden kann. Das vierte Kapitel, „Die ‚Unterseite‘ der Sammlung“, wendet schließlich den Blick auf das, was als Abfall und Rest aus einer Sammlung herausfällt oder herauszufallen droht. Die Abfall- und Resteproduktion scheint zunächst eine ökonomische Angelegenheit zu sein: Ein Objekt erweist sich als ‚unbrauchbar‘ – es ist veraltet oder kaputt. Dementsprechend untersuchen die Beiträge des vierten Kapitels auch ökonomische Bedingungen des Sammelns, die ihrerseits eng mit Fragen des technischen Fortschritts verknüpft sind. Das Herausfallen aus dem Ordnungszusammenhang einer Sammlung macht jedoch deutlich, dass Exklusionsprozesse keine rein ökonomische Angelegenheit oder allein den technischen Rahmenbedingungen geschuldet sind, sondern dem Wandel von Werten, nicht zuletzt auch literaturwissenschaftlichen Werten unterliegen. Mit dem Austreten aus dem ökonomischen Kreislauf ebenso wie aus einer Sammlungsordnung wird das Ding wieder frei, es ist von Neuem sammelbar und steht am Anfang neuer potentieller Sammlungen. Wie in jedem umfangreichen Sammelband ließe sich die thematische Gruppierung auch anders denken, so dass sich die Beiträge unter anderen Vorzeichen noch einmal neu sortieren würden. Eine Einladung zu einem kreisenden Lesen stellen die thematischen Querverweise dar, die mit einem kleinen Pfeil angezeigt werden und außer in den Kapiteleinleitungen in den Fußnoten der Beiträge zu finden sind. Sie verweisen auf Themenfelder, Motive und Gedanken, die quer zu den Kapiteln in den Beiträgen verfolgt werden, kennzeichnen Entsprechungen, aber auch Dissonanzen und stehen als Ganzes für die über mehrere Jahre, bis hin zur Drucklegung, geführte Diskussion der Beitragenden untereinander. *** Lassen wir den Blick etwas kreisen und suchen zunächst nach Formen und Institutionen des Sammelns von und in Schrift und Sprache: Die Beiträge wenden sich der Bibliothek29, der Enzyklopädie30, dem Abc-Buch31, dem Notizblatt32 oder der Patientenkarte in der Psychiatrie33 zu; sie untersuchen die
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Vgl. den schriftstellerischen Beitrag von Sue Watermann „The Empty Cabinet – Chapter One: Rocks“ sowie den Essay von Marion Picker „Die Zeit des Steins“. Vgl. Judith Kasper „Was nach dem Sammeln bleibt“. Vgl. Mona Körte „Vom Ding zum Zeichen: Abc-Bücher und Buchstabensuppen“. Vgl. Alexandre Métreaux „Schriftbildlichkeit oder Bildschriftlichkeit“ sowie die mindmaps des Künstlers Georg Steinmann und den Essay von Sarah Schmidt über den Künstler. Vgl. Armin Schäfer „Ordnungsversuche im Gebiet des Wahnsinns“.
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Idee einer Ganzheit in Werksammlungen34 und die Form des kollektiven Tagebuchs35, aber auch schrift-bildliche Mischgattungen wie das Album36, den Bildband37, die multimediale CD-ROM38 oder Kartensammlungen39. Sie bedenken die Sammlertypen des Lumpensammlers40, Flaneurs41 und Virtuosen42, nehmen die dynamische Ordnung wachsender Bücherstapel43 ins Visier, gehen motivisch dem Ende des musealen Zeitalters nach44 und untersuchen Wasser als ein der Literatur verwandtes fluides Medium, in dem es „sich sammelt“45. Sie verfolgen, wie sich mit wandernden Gegenständen Geschichten und Bedeutungen sammeln46, sie untersuchen Textcollagen47, poetische Performationstechniken48 und serielle Verfahren49 oder gehen der Hilflosigkeit nach, die als Gestus einer schlichten Auflistung innewohnen kann.50 Thematisch umreißen die Beiträge eine Zeitspanne von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart, haben jedoch einen Schwerpunkt im 19. und im 20. Jahrhundert und bieten somit weder eine epochenübergreifende ‚Geschichte des Sammelns in der Literatur‘ noch liefern sie als Ensemble eine lückenlose Thematisierung der Sammelinstitutionen, Sammlertypen oder sammelnder Textverfahren. Gemeinsam ist allen Beiträgen in diesem Band eine systematische Perspektive, denn sie richten den Fokus vorrangig auf die epistemische Bedeutung des Sammelns, d. h. auf das Sammeln als eine Erkenntnis generierende 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45
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Vgl. Philip Ajouri „Zu einigen Sammlungs- und Ausschlussprinzipien“. Siehe dazu den Beitrag von Sarah Schmidt zu Kempowski „Existenzen sammeln – Existenzen schreiben“. Vgl. dazu den Beitrag von Bärbel Küster „Gesten des Dokumentierens – Archive des Scheiterns“. Vgl. Susanne Komfort-Hein „Zur physiognomischen (Un)lesbarkeit des Menschen“. Vgl. Harald Kraemer „Sammeln ohne Zugriff: Sammeln ohne Sinn!“. Vgl. Marion Picker „Kartographie als Sammlung“. Vgl. Barbara Thums „Im Zweifel für die Reste“ und Gianluca Solla „Nach der Sammlung“. Vgl. den künstlerischen Beitrag Hangings von Matthias Megyeri sowie das Essay von Bärbel Küster „Die Finger im Vorhang des Archivs und andere Zaungäste“. Vgl. Mona Körte „,Queer analogies‘ in Nathaniel Hawthornes ,A Virtuoso’s Collection‘“. Vgl. den künstlerischen Beitrag von Heidemarie von Wedel Library sowie das Essay von Bärbel Küster „Obsoleszenz der Ablage“ zur Künstlerin. Vgl. Ingrid Streble „Das totale Museum oder Versuchsanordnung Literatur“ sowie Ulrike Vedder „Visionen der Sammlungszerstörung“. Vgl. Nina Jürgens Auseinandersetzung „,One man’s trash is another man’s treasure‘“ mit dem Treib- und Strandgut im zeitgenössischen australischen Romanen von Murray Bail und Alexis Wright, Barbara Thums Beitrag „Im Zweifel für die Reste“ und Sarah Schmidt „Existenzen sammeln – Existenzen schreiben“. Vgl. Katja Schubert „Das wandernde Taschentuch“, Dörte Bischoff „Vom Überleben der Dinge“ und Michael Niehaus „Sammelpunkte“. Siehe dazu den literarischen Beitrag von Sue Waterman „The Empty Cabinet – Chapter One: Rocks“, Marion Pickers Essay „Die Zeit des Steins“ sowie Sarah Schmidts Beitrag zu Herta Müllers Collagen „Fremdeigene Wortreste“. Siehe dazu Regina Hilbers Gedichte aus dem Brandenburg-Zyklus tagwerk X sowie das Essay von Schmidt/Körte „fortgehen – aufsammeln – weglassen“. Vgl. Christine Blättler „Die Serie als Ordnungsmuster“. Vgl. Gisela Eckers Beitrag zum Umgang mit nicht-sterblichen Überresten in der Gegenwartsliteratur: „,Aufgesparte gummiringe nie benutzte griffel‘“.
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Tätigkeit51 bzw. als eine Wissenskultur52. In diesem Sinne geht die Formulierung „Sprachen des Sammelns“ dezidiert über einen engen Sprachbegriff hinaus und fragt danach, inwiefern beispielsweise auch wissenschaftliche oder künstlerische Objekt-, Bilder- oder Datensammlungen – bis hin zur Inszenierung privater Dinge im Wohnraum53 – eine spezifische ,Logik‘ oder Auslegeordnung besitzen, deren Funktionsweise derjenigen einer Sprache nahe kommt. In der Hierarchisierung der sinntragenden (Satz-)Teile oder Elemente einer Sammlung, zu der nicht nur die Exponate selbst zählen, sondern im Fall ihrer Ausstellung ebenfalls Rahmungen, Zwischenwände, Farbgebungen, Titel, Erklärungstexte u. Ä. zählen, entsteht eine „Grammatik“ und in der Anordnung dieser Elemente eine „Syntax“. Einleitungstexte, Ausstellungs- und Archivpläne oder Kataloge bilden die spezifische Struktur der Sammlung nochmals ab, formulieren den „Regelgebrauch“, nehmen eine exemplarische Auswahl von Exponaten vor und übernehmen insofern die Funktion eines Wörterbuches oder eines Handbuchs der Grammatik. So können neue und innovative Sammlungskonzepte und -konstellationen ,sprachbildend‘ sein (und mit ihnen formiert sich auch Wissen neu); in bereits etablierten Konzepten hingegen kommen die in der jeweiligen Diskursgemeinschaft verankerten Ordnungsprinzipien und Sammelregeln zur Anwendung. Der Sammlungsbetrachter oder -rezipient ließe sich dann mit einem Leser vergleichen, der mit einem spezifischen Blick- bzw. Leseregime an die Objekte herantritt, in einer je eigenen Choreographie die Sammlung aktualisiert und mit jedem Akt dieser Lektüre auch modifiziert.54 Somit unterliegen alle „Sprachen des Sammelns“ – auch diejenigen, die sich in ihrer materialen Konstellation nicht zu verändern scheinen – einem permanenten historischen und kulturellen Wandel. Vertritt man keine essentialistische Sprachauffassung, dann käme in dieser Analogie von Sprache und Sammlung den Exponaten und Sammlungsobjek51 52 53
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Siehe FN 15 und 16. So z. B. bei Detel/Zittel (Hg.) 2002, Wissensideale; Schneider (Hg.) 2008, Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert. Zum Interieur vgl. die Beiträge aus dem Ausstellungsband von Schulze (Hg.) 1998, Innenleben; zur Symbolik der Dinge im Wohnraum vgl. Csikszentmihalyi/Rochberg-Halton 1981, The Meaning of Things und Baudrillard 1991, Das System der Dinge. Eine solche „Hermeneutik der Sammlung“ untersucht Mona Körte in ihrem Beitrag „,Queer analogies‘ in Nathaniel Hawthornes ‚A Virtuoso’s Collection‘“. Zur Konzeption des Lesens, der Nach- und Auflese vgl. auch Judith Kasper, die in ihrem Beitrag „Vom Ausscheren und Einsammeln der Buchstaben“ das ‚Lesen der Leere‘ bei Saussure und Freud untersucht oder Sarah Schmidt („Fremdeigene Wortreste“), die Herta Müllers Collage-Technik als eine „Nachlese“ von sperrigen, aus dem gewöhnlichen Sprachgebrauch herausgefallenen „Wegrandworten“ versteht. Alexandre Métraux erkundet in seinem Beitrag „Schriftbildlichkeit oder Bildschriftlichkeit“ die Grenzen sinnstiftender Lektüre auf einem Notizblatt Pessoas und Marion Picker die in Sue Watermans Romankapitel „Rocks“ vorgeführte Analogie von Lese- und Schreibprozess („Die Zeit des Steins“). Bärbel Küster wendet sich der Lektüre von Text-Bild-Verhältnissen in einer Sammlung zu („Gesten des Dokumentierens – Archive des Scheiterns“) und Maria Hanl reflektiert in ihrem künstlerischen Beitrag „Faltenröcke“ über das Ideal ewig schöner, unbeschriebener − unlesbarer Körper.
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ten als den „Elementen“ dieser Sprache an sich keine Bedeutung zu, sondern sie würden erst im Sammlungskontext zu Bedeutungsträgern werden. Das unterstreicht beispielsweise der Historiker Krzysztof Pomian, wenn er den Wandel des Sinngehalts von Sammlungsgegenständen nicht aus der Veränderung von deren Beschaffenheit erklärt, sondern aus der Veränderung von sechs Faktoren oder „Merkmalen“55, durch die sich der Mensch zum gesammelten Objekt in Beziehung setzt und denen ein stark dynamisierendes Moment innewohnt. Im Einzelnen handelt es sich dabei um die Veränderung nicht nur des sozialen Ortes, sondern auch der unmittelbaren Umgebung, des verbalen Kontextes, der Architektur wie des Publikums einer Ausstellung und natürlich auch der zugrunde liegenden konservatorischen und kuratorischen Praxis.“56 Ob Pomian mit dieser Aufzählung allen Faktoren der Bedeutungskonstitution gerecht wird, ist weniger relevant als der Hinweis darauf, dass nicht alle zitierten Merkmale stets in einem System zusammen funktionieren müssen. Wenn sich ein Objekt oder Ding gegen seine Eingliederung in eine neue Sammlung sperrt, in ihr nicht aufgeht, ‚aufmüpfig‘ ist, einen quasi semantischen ‚Eigenwert‘ ins Spiel bringt, weist dies darauf hin, dass sich Spuren einer früheren Kontextualisierung nicht ganz auslöschen lassen, sich mithin unterschiedlich(st)e Bedeutungszuschreibungen und damit unterschiedliche „Sprachen des Sammelns“ überlagern.57 Diese Geschichtsfähigkeit des materiellen Dings ist der Sprache im engeren Sinne nicht vollkommen fremd. Worte, Buchstaben und Zeichen entstammen keinem jungfräulichen Alphabet und an den Punkt eines vermeintlichen Ursprungs der Sprachen reichen wir nicht (mehr) heran. Insofern hat alles Sprechen für uns immer schon angefangen und die Vorstellung einer vollkommenen Entkleidung oder Dekontextualisierung oder Neuerfindung einzelner Sprachelemente, um sie einer neuen und willkürlich bestimmten Bedeutung zuzuführen, bleibt ein Gedankenexperiment.58 Eine Ausgangsthese, die die Arbeit der Beitragenden in diesem Buch verbindet, besagt, dass literarische Praktiken und Thematisierungen des Sammelns häufig einen implizit oder explizit geführten poetologischen Diskurs mitführen, der Poesie und Literatur innerhalb der Wissenstradition(en) verortet. Ein durchgehender Fokus der vorliegenden Fallstudien liegt demnach auf 55 56
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Pomian 1988, Der Ursprung des Museums, 80. Ebd.: „Der Gegenstand erhält eine eindeutige und sozial kodifizierte Bedeutung durch das Zusammenspiel der sechs Variablen, die wir eben aufgezählt haben. Und seine Geschichte ist die Geschichte der aufeinanderfolgenden Bedeutungen, mit denen er versehen wird.“ Dominik Finkelde („Der nicht aufgehende Rest“) führt in seiner Auseinandersetzung mit Stifter, Benjamin und Sebald vor, dass es keine universale Matrix gibt, die jegliche Sammlungs- und Ordnungsstruktur als eine Menge aller Mengen umspannt. Zur Überlagerung und Konkurrenz zweier Sammlungsformationen vgl. Susanne Scholz „Der Hof in der Kiste“. Dieses Immer-schon-involviert-Sein in Sprache veranlasst Heidegger zu der Formulierung „Die Sprache spricht“ (Heidegger 1984, Unterwegs zur Sprache, 10). Und in diesem Sinne können auch Wörter, wie Walter Benjamin im Anschluss an Karl Kraus formuliert, eine „Aura“ haben (vgl. Benjamin 1980, Gesammelte Schriften, Band I/2, 647).
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den in der Literatur direkt oder indirekt geführten selbstreferentiellen Wissensdiskursen.59 Dies zielt jedoch weder auf eine inhaltlich oder strukturell zu begründende Poetizität oder Literarizität der Literatur im engeren Sinne noch lassen sich die Beobachtungen auf den gemeinsamen Nenner eines spezifischen literarischen Wissens oder spezifisch literarischer Wissensformen zusammenführen, was eine diachrone und synchrone Kontinuität der Literaturen und eine Exklusivität im Verhältnis zu anderen Wissensbereichen voraussetzen würde. Gleichwohl finden in der Literatur ebenso wie in den anderen Künsten auffallend häufig solche Denkfiguren, Gegenstände und Fragestellungen besondere Aufmerksamkeit, die ein Ungenügen an Wissensformationen zum Ausdruck bringen, die sich (wissenschaftlichen) Sammlungen und (wissenschaftlicher) Sammelpraktiken verdanken. Ein solches Ungenügen manifestiert sich in Bezug auf den wissenschaftlichen Fortschrittsglauben beispielsweise in der „Exzentrik“60 der Literatur, welche die als ‚überholt‘ geltenden Sammlungsund Wissensformationen aufnimmt und im Sinne eines alternativen Wissensspeichers „konserviert“.61 Es zeigt sich auch in einem besonderen Interesse der Literatur an einem singulären Wissen bzw. Singularitäten, die innerhalb einer Sammlung stets Gefahr laufen, sich in Exempel, „Fälle“ oder „Typen“ zu verwandeln.62 Diese Problematik der Singularität hat auch Michel Foucault im Blick, wenn er in seinem Text La vie des hommes infâmes über historische Dokumente reflektiert, die als einzig verbliebene Spur von der Existenz eines infamen Menschen zeugen.63 Die narrative Dekonstruktion populärer und zeittypischer Sammlungssystematiken und -methoden zeigt sich beispielsweise in der Kriminalgeschichte Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde von Robert Louis Stevenson, in wel59
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Zur kontrovers geführten Debatte um Literatur und Wissen, die sowohl nach der Wechselwirkung von Wissenstexten und Literatur als auch nach den literarischen Produktionsbedingungen von Wissen in literarischen und nicht-literarischen Texten fragt und die hier unter dem Fokus des Sammelns aufgenommen wird vgl. u. a. Schlaffer 1990, Poesie und Wissen; Vogl 1991, Mimesis und Verdacht; Schäfer 1996, Biopolitik des Wissens; Danneberg/Böhme 2002, Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert; Brandstetter/Neumann (Hg.) 2004, Romantische Wissenspoetik; Hörisch 2007, Das Wissen der Literatur; Klausnitzer 2008, Literatur und Wissen; Klinkert/Neuhofer (Hg.) 2008, Literatur, Wissenschaft und Wissen; Köppe 2008, Literatur und Erkenntnis; Bergermann/Strowick (Hg.) 2007, Weiterlesen. Literatur und Wissen. Vgl. dazu den Hinweis auf den Zusammenhang von Wissen und Exzentrik bei Assmann/Gomille/Rippl (Hg.) 1998, Sammler – Bibliophile – Exzentriker, 9 f. sowie den Beitrag von Aleida Assmann im selben Sammelband. Aus diesem Grund müsste eine ,Geschichte des Sammelns in der Literatur‘ nicht in gleicher Weise verlaufen, wie eine Geschichte konkreter Sammelpraktiken in Wunderkammern, Kabinetten, Museen, Archiven oder wissenschaftlichen Sammlungen. Paradigmatisch führt dies W. G. Sebald vor, vgl. dazu Finkelde 2007, Wunderkammer und Apokalypse. Vgl. dazu auch die Überlegungen von Alexandre Métraux und Charles Wolfe über die in der Moderne nicht restlos geglückte Entzauberung der Monster. Zur Sammlung infamer Menschen vgl. die Beiträge von Bärbel Küster „Gesten des Dokumentierens – Archive des Scheiterns“, Sarah Schmidt „Existenzen sammeln – Existenzen schreiben“ sowie Gianluca Solla „Nach der Sammlung“.
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cher die damals gängigen physiognomischen Darstellungs- und Klassifikationsverfahren und die ihnen zugrunde liegende vermeintliche Entsprechung von Innen und Außen vor dem Hintergrund der gespaltenen Persönlichkeit von Dr. Jekyll demontiert werden.64 Und die beiden Titelhelden in Gustave Flauberts Roman Bouvard et Pécuchet parodieren ‚unfreiwillig‘ die enzyklopädische Wissenssammlung mit ihrem Eifer entlang einer alphabetischen Ordnung und überführen das Projekt der Aufklärung in eine (lustvolle, allerdings ins Leere laufende) Orgie des Abschreibens.65 Das Kopierte ist jedoch keine tote Abschrift und das Sammeln von Kopien oder qua Kopie beginnt seinerseits ein semantisches Eigenleben zu führen.66 Derartiges Unterlaufen von etablierten Sammlungssystematiken macht dabei auch vor gattungstheoretischen und epochenspezifischen Klassifikationen des Literaturbetriebes nicht halt, wie sich beispielsweise in Gottfried Kellers spielerischem Umgang mit Charakteristika des literarischen Realismus in seiner Einleitung zur Erzählsammlung Die Leute von Seldwyla zeigt.67 Auffällig ist auch, dass die Literatur in den von ihr reflektierten und generierten Sammlungen dem Phänomen der Zwischenräume ein besonderes Interesse entgegenbringt. Die Räume zwischen den gesammelten Dingen bilden eine wichtige Voraussetzung für die Ordnung und Taxonomie der Sammlung, eine ihrer Grundbedingungen – ohne sie kippt das Gesammelte in einen differenzlosen Haufen, in dem sowohl die Exemplarität als auch die Individualität des Exponats verschwindet.68 Die Architektur der Zwischenräume ist ein wesentliches Gestaltungselement für die Nutzer-, Besucher- oder Leserlenkung einer Sammlung. Auch in der Sprache kommt den Räumen zwischen den Schriftzeichen, den Mikro- und Makropausen, zwischen den gesprochenen Worten eine fundamentale gestalterische Funktion zu. Sie ist die Bedingung
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Siehe dazu den Beitrag „Typus, Taxonomie, Text: Menschen sammeln im britischen Empire“ von Susanne Scholz. Vgl. Judith Kasper „Was nach dem Sammeln bleibt“. Zur Frage der „totalen“ Kopie im Zusammenhang mit Kontextualisierungs- und Dekontextualisierungsverfahren vgl. neben der Auseinandersetzung mit Flaubert von Judith Kasper den künstlerischen Beitrag von Jacqueline Baum und Ursula Jacob Connected in Isolation (20142015), den literarischen Beitrag von Bernd Behr „Phantom Limbs“ sowie die Essays von Sarah Schmidt zu den beiden künstlerischen und literarischen Beiträgen. Vgl. dazu Philip Ajouri „Zu einigen Sammlungs- und Ausschlussprinzipien“. Zu einem solchen Umkippen in einen differenzlosen Haufen vgl. Ingrid Strebles Reflexion auf die Utopie oder Distopie „totaler Speicherbarkeit“ („Das totale Museum oder Versuchsanordnung Literatur“), Gianluca Sollas Beitrag „Nach der Sammlung “, der sich den Lumpenhaufen im Kontext von Verarmung, Vertreibung und Vernichtung zuwendet, sowie von Sarah Schmidt „Fremdeigene Wortreste“, in dem das Trauma als lückenloses Zusammenrücken der Buchstaben zu vollkommener (Tinten-)Schwärze oder Nacht erscheint. Eine harmlose, spielerische Variante dieses Wegfallens von Zwischenräumen kennen wir aus Buchstabenrätseln oder „Suchseln“, vgl. dazu Mona Körte „Vom Ding zum Zeichen: Abc-Bücher und Buchstabensuppen“.
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der Möglichkeit für Relation und Hierarchie der einzelnen Sprachelemente zueinander.69 Geht man davon aus, dass Sammlungen meistens unvollständig sind und das letzte Element möglicherweise ein ewig aufgegebenes ist, dann können Zwischenräume jedoch auch zum Platzhalter für dasjenige werden, was noch keinen Eingang in die Sammlung gefunden hat. Dies kann in der Systematik einer Sammlung von Beginn an angelegt sein – wie beispielsweise Linnés Herbarschrank flexible Regalböden für die Erweiterung und Umgruppierung enthielt70 und somit als eine per se bewegliche und dynamische Sammlung konzipiert war – oder aber durch die Architektur einer Sammlung kaschiert werden, die als ein Ganzheitsversprechen auftritt und mit der Illusion einer Vollständigkeit kokettiert.71 Wie in einem Vexierbild kann der Blick auf die „weißen“ Zwischenräume einer Sammlung, welche die Form der Exponate und Sammelgegenstände zum Ausdruck bringen, auch „kippen“. Die Zwischenräume nehmen dann einen Eigenwert an und verweisen darauf, dass jede Sammlung unter der Bedingung einer mehr oder weniger strengen Selektion entsteht, die Ausschluss und Ausschuss generiert.72 Das Unbesetzte, ‚Weiße‘, wird zu einer Leerstelle und diese zu einem Platzhalter für etwas, was verloren gegangen, noch nicht gefunden oder innerhalb der Sammlung nicht dingfest zu machen ist und kann als solches eine explizite Gestaltung erfahren.73 Eine Spielart dieses Insistierens der Literatur auf die bedeutungsvollen Zwischen- oder Leerräume der Sammlung ist eine Denkfigur, die man als Figur des Abwesend-Anwesenden bezeichnen kann. Sie markiert eine fehlende oder ausstehende Präsenz, die nicht mehr, noch nicht oder nie Teil der Sammlung ist und als Störfaktor der Systematik oder „Logik“ einer Sammlung agiert oder transzendiert werden kann. Motivisch zeigt sich diese Denkfigur z. B. in Adalbert Stifters erzählter Dachbodenarchäologie, in der das Rauschen und Rascheln des weiblichen „Plunders“ (noch) keinen Eintritt in die männliche Familienchronik gefunden hat.74 Sie begegnet uns auch in Walter Kempowskis erstem Band seines monumentalen Echolot-Projektes in Form eines der Sammlung vorangestellten Gedichts von Hermann Broch; sollen in Kempowskis ,Komposition‘ die historischen Textfragmente wie in einem Stimmenchor 69 70 71
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Zu den unterschiedlichen Formen des Zwischenraumes in der geschriebenen Sprache und im Gedicht vgl. Fries 2012, Der weiße Zwischenraum aus typographischer und poetischer Sicht. Vgl. Müller-Wille 2001, Carl von Linnés Herbarschrank, 26. So verweist Marion Picker in ihrer Auseinandersetzung mit der Kartensammlung der Medicis „Kartographie als Sammlung“ beispielsweise auf den Zwischenraum, der beim Blättern von Atlantenseiten entsteht und der eine „elegante Lösung“ für das fundamentale Problem der Lückenhaftigkeit des kartographischen Wissens darstellt. Die poetische Technik eines Restegenerierens als „Enjambement“ nimmt Barbara Nathalie Nagel in den Blick („Enjambement des Rests“). Vgl. Sue Watermans literarischen Beitrag The Empty Cabinet, Marion Pickers Essay „Die Zeit des Steins“ zu diesem „literary nonfiction“-Roman und die Auseinandersetzung von Sarah Schmidt mit Herta Müllers „Wortkopfsteinpflastern“ („Fremdeigene Wortreste“). Vgl. Ulrike Vedder „Gendered objects“.
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zusammenklingen, so bringt das Gedicht von Broch die „Stimmlosen“ ins Spiel, die diesem Chor beiwohnen.75 Die Formulierung eines solchen Ungenügens an Wissensformationen in Sammlungen und das Interesse an Singulärität, Zwischenräumen und Ausschluss sowie an der Denkfigur eines Abwesend-Anwesenden kommt natürlich nicht allein der Literatur oder den bildenden Künsten zu.76 Ebenso wenig ist es ein durchgehendes und exklusives Anliegen von Literatur, einen „Gegendiskurs“77 zu herrschenden Wissenspraktiken zu entwickeln. Auch wenn es kein vorzüglicher Fokus der Beiträge dieses Bandes ist, so schreiben sich Schriftsteller wie bildende Künstlerinnen auch in (eine) bestimmte Wissenstradition(en) ein, nehmen aktuelle Forschungsmethoden und -ergebnisse affirmativ auf, propagieren sie, verleihen ihnen auf narrativem Wege Legitimation, werden zu ihrem Sprachrohr. In der Auseinandersetzung mit Sammlungen und in der Praxis sammelnder Textverfahren wird Literatur somit auch, aber nicht ausschließlich, zur Artikulation oder zum Anwalt eines „Nochnicht-Wissens“, das die Funktion eines epistemischen Korrektivs für die Wissenschaften übernehmen kann, oder zur „Artikulation des Nicht-Wissens“78, welches in seiner Verweigerung eine beständige Provokation an den Grenzen des Wissens darstellt. *** Der vorliegende Band ist das Ergebnis der DFG-Netzwerkgruppe „Sprachen des Sammelns“, die über vier Jahre (2010-2014) in fünf Workshops unter alternierender Workshopleitung und in zahlreichen mittleren und kleineren Arbeitstreffen die Thematik bearbeitet hat. Neben den ständigen Mitgliedern des Netzwerkes nahm auch eine Reihe von Gästen an den Veranstaltungen teil, die sich mit ihren wissenschaftlichen, künstlerischen oder schriftstellerischen Arbeiten in das Projekt und seinen Austausch integriert haben. Künstlerische und schriftstellerische Beiträge sprechen für sich – dieser Satz ist sicherlich richtig. Zugleich ist jedes künstlerische und schriftstellerische Universum eines, das sich erst peu à peu erschließt und mehr Einblick erfordert, als im Rahmen eines Sammelbandes visuell und typographisch gewährt wer75 76
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Vgl. Sarah Schmidt „Existenzen sammeln – Existenzen schreiben“. So verweist Susanne Komfort-Hein in ihrem Beitrag „Zur physiognomischen (Un)lesbarkeit des Menschen zwischen ‚eigentlichstem Wesen‘ und fotografischer Serie“ auf Max Picards physiognomische Studien in den 1920er Jahren, in denen es nicht um die Wiedererkennung bestimmter Typen, Rassen oder Klassen geht, sondern um eine verlorene, fragmentierte Ganzheit, die nur noch in Form ihrer Abwesenheit angezeigt werden kann. In seiner Untersuchung von Aufschreibesystemen in der Psychiatrie, die ihre je eigenen Sammlungsformen des kranken Menschen generieren, zeigt Armin Schäfer, wie sich die epistemische Schwelle vom Typus hin zum Individuum senkt und eine Narrativierung zur Folge hat („Ordnungsversuche im Gebiet des Wahnsinns: Archive, Akten, Biographien“). Vgl. Geisenhanslüke 2008, Gegendiskurse. Bergermann/Strowick (Hg.) 2007, Weiterlesen. Literatur und Wissen, 13.
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den kann. Aus diesem Grunde sowie mit der Absicht, die Einbindung dieser Beiträge in unsere gemeinsame Diskussion zu unterstreichen, sind jedem Schriftsteller und jeder Schriftstellerin, jeder Künstlerin und jedem Künstler kleine Essays gewidmet. In einer qualitätsvollen Reproduktion finden sich die Abbildungen der künstlerischen Beiträge neben den Schwarz-Weiß-Abbildungen in den Essays darüber hinaus in einem Tafelteil in der Mitte des Buches. Um den an Literatur im engeren Sinne interessierten Leserinnen und Lesern einen ersten orientierenden Blick auf die in diesem Band untersuchten Werke zu ermöglichen, wurde das Literaturverzeichnis aller Beiträge am Ende des Bandes zweigeteilt: ein erstes Verzeichnis gibt die Primärliteratur literarischer Werke, eine zweite Liste vereint weitere Primärtexte zum Sammeln mit den verwendeten Sekundärtexten. Dass diese Zweiteilung insbesondere im literarisch-philosophischen Grenzbereich problematisch ist, wie die Schriften des für diese Thematik so zentralen Walter Benjamin, bleibt unbezweifelt. Jede Sammlung, auch die simple in Form einer Literaturliste, schafft Orientierung immer nur um den Preis eines Ausschlusses. Die grundlegende finanzielle Unterstützung in Form von Sachmittelbeihilfen, ohne die das Projekt und die Publikation nicht hätten realisiert werden können, stiftete die DFG, bei der ich mich an erster Stelle bedanken möchten. Für ihre Unterstützung auf den ersten konzeptionellen Metern des Projektes gilt Anke te Heesen ein freundlicher Dank. Zwei Tagungen des Netzwerkes standen dabei explizit unter einem künstlerisch-wissenschaftlichen Austausch und fanden an zwei Orten statt, die prädestiniert für eine solche Grenzüberschreitung stehen: die Akademie Schloss Solitude im württembergischen Raum und dem Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf in Brandenburg. Die Tagung im Schloss Solitude „Taxonomien des Humanen | Taxonomies of the Human“, die vom 26. bis 28. Mai 2010 stattfand, wurde in Kooperation mit dem Programm „art, science & business“ der Akademie Schloss Solitude und dem DFG-Netzwerk „Sprachen des Sammelns“ organisiert und durchgeführt. Für sein Interesse an der Thematik, für die inspirierende Zusammenarbeit und seine Gastfreundschaft an diesem besonderen Ort sei dem Leiter der Akademie Schloss Solitude, Herrn Jean-Baptiste Joly, ein ganz herzlicher Dank ausgesprochen. Auch Anne Vollenbröker und Julia Warmers, die die Tagung organisatorisch und konzeptionell mit begleitet haben, gilt ein großer Dank. Für die wunderbare Arbeitsatmosphäre und die anregende Zusammenarbeit möchte ich auch der Direktorin vom Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf, Frau Anne Frechen, herzlichen danken. Alle KünstlerInnen und Schriftstellerinnen, zum Teil Stipendiaten der Akademie Schloss Solitude und des Künstlerhauses Schloss Wiepersdorf, haben ihr Texte und ihr Bildmaterial kostenlos zur Verfügung gestellt – das ist nicht selbstverständlich und auch bei Ihnen möchten wir uns ausdrücklich bedanken. Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer intensiven Zusammenarbeit, die die Struktur, Thematik und Genese der Beiträge wesentlich bestimmt hat. Für die vielen fachlichen Ratschläge, den Enthusiasmus, die Geduld, die Be-
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reitschaft zur Infragestellung und zahlreiche kritische Lektüren möchte ich allen Autoren und Autorinnen, allen Künstlerinnen und Künstlern ganz herzlich danken. Ein ganz besonderer Dank gilt dabei den Leiterinnen und dem Leiter der Workshops, die zugleich für die einzelnen Kapitel des Buches verantwortlich waren: Christine Blättler, Judith Kasper, Susanne Komfort-Hein, Mona Körte, Bärbel Küster, Armin Schäfer, Susanne Scholz und Ulrike Vedder. Der Weg von den Workshops bis hin zum Buch ist lang und auf diesem Weg waren viele Helfer tätig: Bester Dank gilt auch den wissenschaftlichen Hilfskräften Tobias Palesch, Eva Schönle und Johann Gärtlinger für ihre logistische und organisatorische Unterstützung des Projektes und ihren Einsatz bei der Literaturrecherche. Last but not least geht ein herzlicher Dank an die Lektorin dieses Buches, Margret Westerwinter, für die voraussehende Begleitung, die gestalterische Beratung, die beständige Ermunterung und ihren unermüdlichen Einsatz, ohne die der Endspurt nicht so glücklich verlaufen wäre.
I. DIE BESCHREIBBARKEIT DER DINGE UND DIE DINGLICHKEIT DER SPRACHE
MONA KÖRTE & SARAH SCHMIDT
DIE BESCHREIBBARKEIT DER DINGE UND DIE DINGLICHKEIT DER SPRACHE. ZUR EINLEITUNG
Geht man mit Manfred Sommer davon aus, dass es vorzüglich Dinge sind, die wir sammeln – und zwar „direkt als Dinge, indirekt durch Dinge und metaphorisch wie Dinge“1 –, so stellt sich die Frage, was das Ding als Ding ausmacht und wie die Charakteristik des Dinghaften auch an dem vermeintlich Nicht-Dinglichen oder Immateriellen auftreten kann. Wie inszeniert die Literatur diese Dinghaftigkeit, wie lässt sie die Dinge zur Sprache kommen, welche Formen des literarischen Sammelns der Dinge gibt es und kann sie als Sprache selbst „dinglich“ werden? Auch wenn Dinge nicht zwangsläufig materieller Art sein müssen, so scheint sich an konkreten räumlich ausgedehnten Gegenständen der Dingcharakter prototypisch zu manifestieren. Sie treten aufgrund ihrer klaren gegenständlichen Grenzen als ein Etwas auf, dessen Eigenständigkeit mit Mobilität verbunden ist und ihnen erlaubt, von einem Kontext in einen anderen zu wechseln. In ihrer Materialität zeichnen sich Spuren ihres Gebrauchs und ihres Weges ab, und indem ihre singuläre Geschichte und Funktionalität anhand dieser Spuren lesbar wird, werden sie – auch außerhalb von Sammlungen und der nicht zuletzt durch sie generierten „Dingsysteme“ oder „Dingsprachen“2 – zu Geschichts- und Sinnträgern. Als Kommunikationsmittel, in ihrer Eigenschaft als Stellvertreter des Menschen oder als komplexe Mensch-Ding-Konstellationen, wie aktuell in der Akteur-Netzwerk-Theorie unter dem Stichwort der agency verhandelt3, eng mit dem Menschen verbunden, scheinen sich Dinge gleichwohl dadurch auszu1
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Sommer 2002, Sammeln, 127 [Herv. i. O.]. Vgl. dazu auch den Beitrag „Sammelpunkte“ von Michael Niehaus im zweiten Kapitel, der im Anschluss an Sommer Sammlungen aus der Perspektive des Gesammelten als Verquickung von ereignishaftem sich Sammeln und subjektgesteuertem Sammeln untersucht. Kulturhermeneutisch oder soziologisch verstanden z. B. bei Simmel 1996, Philosophische Kultur; bei Barthes 1985, Sprache der Mode; dem frühen Baudrillard 1991, System der Dinge oder jüngst zusammenfassend bei Bosch 2010, Kultursoziologie der Dinge; als sprachphilosophisch gewendete Signaturenlehre bei Walter Benjamin oder im kritischen Anschluss u. a. an Benjamin beim Medientheoretiker Mersch 2002, Was sich zeigt und ders. 2009, Ding, Gabe und die Praxis der Künste. Vgl. die um Mensch und Ding als operatives Gesamtkonstrukt in den letzten zwei Dezennien geführte Diskussion der ANT in den beiden auf Deutsch erschienenen Readern Belliger/ Krieger 2006, Handbuch Akteur-Netzwerk-Theorie und Thielmann/Schüttpelz 2013, AkteurMedien-Theorie.
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zeichnen, dass sie sich einem vollständigen pragmatischen oder epistemischen Zugriff des Menschen entziehen. Ihre Widerständigkeit charakterisiert sie auch als Sprach-, Wort- oder Buchstabendinge, die in ihrem Extrem als Zwischenraum, Leere oder sinnresistente Präsenz nur noch von einer Abwesenheit künden. Diese Unverfügbarkeit des Dinges – sei es gegenständlicher oder sprachlicher Natur – mag wiederum in besonderer Weise ihr Sammeln oder Einsammeln provozieren, suggeriert das Einsammeln zumindest eine Art „Besitz“ jener Abwesenheit.
Das Ding als Mensch – der Mensch als Ding Nicht belebt und passiv scheinen die Dinge unserem Umgang zunächst ausgeliefert, sie gehen durch unsere Hände, haben Teil an unseren Kulturtechniken, werden zu erweiterten Organen.4 Schreibt sich der symbolische und operative Gebrauch den Dingen ein, so wirken diese „telling objects“5 aber auf diejenigen zurück, die mit ihnen umgehen. Eine solche operationelle Verquickung von Menschen und Dingen, in der die Unterscheidung von aktiv und passiv hinfällig wird, untersucht Ulrike Vedder in ihrem Beitrag zu Dingen aus gendertheoretischer Perspektive. In der Überschreitung seiner „dienenden Funktion“6 wirkt das Ding zurück auf seinen Nutzer. In den „gendered objects“ hat sich eine Geschlechtercodierung eingeschrieben, die die Subjekte in ihren Handlungs- und Denkmodalitäten bestimmen. So provoziert das „Rätselding“ Moby Dick, dem eine Vielzahl an Männern erfolglos nachjagt, gerade im Herbeibringen aller möglichen Apparaturen und Vorrichtungen zur Jagd und wissenschaftlichen Erfassung, beständig männliche Selbstdarstellung und geschlechtsspezifisches Selbstverständnis. Dinge sind als materielle Zeichenträger und in ihrer Zeigefunktion auch dort im Einsatz, wo die gesprochene Sprache in der zwischenmenschlichen Kommunikation nicht mehr hinreicht. In diesem Sinne wird, wie Katja Schubert in ihrem Beitrag zu Herta Müllers ‚widerständiger Sammlung‘ ausführt, das morgendlich angefragte Taschentuch in Herta Müllers Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises zu einem kommunikativen Ritual, das Taschentuch selbst zu einem Bedeutungsträger, in dem jeden Morgen aufs Neue Sorge und Behütung zusammenfinden. In Herta Müllers Roman Atemschaukel entwickelt sich das von der fremden russischen Mutter überreichte Taschentuch als Inbegriff der mütterlichen Sorge für den inhaftierten Auberg sogar zum Stellvertreter des Menschen: „Das Taschentuch war der einzige 4
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Dieser Fähigkeit des „Mängelwesen[s] Mensch“ (A. Gehlen), sich die Dingwelt seinen Bedürfnissen anzubilden, stellt Henry Petroski in seiner Geschichte der Gebrauchsgegenstände die Bedeutung ästhetischer Gestaltung gegenüber, vgl. Petroski 1994, Messer, Gabel, Reißverschluss. Bal 1994, Telling Objects. Barthes 1988, Semantik des Objekts, 189.
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Mensch, der sich im Lager um mich kümmerte.“7 Als abgeschnittene Locke oder Zopf, wie in Theodor Storms Novelle Im Sonnenschein oder in Guy de Maupassants Erzählung „Une Veuve“ wird, wie Ulrike Vedder zeigt, der menschliche Körper zum Ding, der erst als Ding eine Verfügbarkeit und mit ihr eine Zusammenkunft möglich macht, die den Menschen im realen Leben nicht gewährt werden konnte. Dinge werden so zu Zeugen einer potentiellen Parallelgeschichte, die erst im fiktionalen Reich der Literatur zu ihrem Recht kommt. In der Diskrepanz zwischen dinghafter Verfügbarkeit und realem Leidensdruck droht jedoch eine pathologische Verschiebung, eine fetischartige Hingabe an die Dinge8, in der dem Ding ein größerer Stellenwert zukommen kann als dem Menschen selbst.9Diese Art der Verdinglichung des Menschen kann jedoch, eben weil sie über die Literatur einen eigenen Geschichtsraum öffnet, auch positiv verstanden werden. Als Stellvertreter einer Möglichkeit sind die Dinge dann weit mehr als Platzhalter eines Menschen, sie „haften“ für ein „Unsichtbares“10, sie übernehmen eine Brückenfunktion zu einem Vergangenen, Sakralen oder Transzendenten.
Wandernde Dinge – Erzählräume Vor allem im 20. Jahrhundert stehen Dinge im Zeichen des Verlusts und werden zu einem festen Bestandteil der Erinnerungs- und Gedenkkultur. Dort treten sie als memento mori, Relikte, Souvenirs oder „als Extension des Selbst“ in der Fremde auf11 und finden in der Denkmalskunst ihre emblematische Form. In der gezielten Zerstörung und Enteignung der persönlichen Dinge und Sammlungen in Zeiten systematischer Verfolgung spiegelt sich das Schicksal ihrer deportierten und ermordeten Besitzer. Mit der Wanderschaft der Dinge, ihrer Zerstreuung und Wiederauffindung sind ausdrücklich Aspekte jüdischer Exil- und Diasporatradition angesprochen, die, wie Dörte Bischoff in ihrer Auseinandersetzung mit Edmund de Waals und Nicole Krauss‘ Romanen 7
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Müller 2009, Atemschaukel, 80. Vgl. auch dies. 2010, Lebensangst und Worthunger, 28: „Und gerade im Lager, in einem Arbeitslager zeigt es sich unerträglich stark, wie sehr Gegenstände Menschen definieren. Gar keinen Gegenstand besitzen: Dadurch ist man sich fast von selbst weggenommen. [...] Ohne private Gegenstände und Rückzugsmöglichkeiten ist man nicht nur ein Ich-habe-nichts, sondern ein Ich-bin-nichts.“ Vgl. dazu die jüngst erschienene, umfangreiche Studie zur Literatur im 19. Jahrhundert von Bischoff 2013, Poetischer Fetischismus sowie Weder 2007, Erschriebene Dinge und zur Konjunktur des Fetischbegriffs Blättler/Schmieder 2014, In Gegenwart des Fetischs. Inwiefern sich in einer Sammlung dieser Charakter stellvertretender Dinge noch einmal potenziert, indem sie zu einem Paralleluniversum anwachsen, das dem Protagonisten für das reale Leben seine Entschlossenheit entzieht, zeigt sich meisterhaft in dem 2008 erschienenen Roman Das Museum der Unschuld von Orhan Pamuk. Vgl. Pomian 1988, Der Ursprung des Museums sowie die Monographie zur materiellen Kultur von Inken Mädler aus Perspektive der praktischen Theologie, dies. 2006, Transfigurationen. So kommt dem Koffer als Inbegriff der Mobilität im 20. Jahrhundert eine besondere Stellung zu, vgl. Ecker 2006, Geschichten von Koffern, 225.
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zeigt, zum Movens der Erzählung werden. Denn einerseits materialisieren die ‚überlebenden‘ Gegenstände den fatalen Umgang mit ihnen: Raub und Fremdbestimmung, das Abbrechen und Auslöschen von Lebens- und Familiengeschichten; andererseits sammeln sie, wie der Schreibtisch (der das auf ihm Geschriebene wie auf einer Matrize festhält und auch mit seinen vielen Schubladen als architektonisches Sammelmedium per se angesehen werden kann)12, die Geschichten ihrer Besitzer ein und weben sie ineinander. Das Verschwinden und Fehlen der Dinge werden dabei auch zur Voraussetzung für die Erzählung, die den Verlust erzählerisch rekontextualisiert und somit auf gewisse Weise auch „heilt“ bzw. kompensiert. Das Ding, sprechender Zeuge in einer Zeit, in der die Menschen verstummt sind, ist in seiner Wanderschaft auch Sinnbild einer global vernetzten Erinnerung, das seine Zeugenschaft jedoch weder vollständig annehmen noch vollständig ablegen kann. Seine dinghafte Präsenz bleibt somit immer auch eine Unbekannte im historischen Mosaik, das die Geschichtsschreibung potentiell herausfordert. Eine solche mögliche neue oder andere Geschichtsdeutung, in der sich der schweigende Dingzeuge meldet, deutet sich beispielsweise in Stifters Erzählung „Die Mappe meines Urgroßvaters“ an. Es ist das rauschende und knisternde Brautkleid der Großmutter, jener weibliche „Plunder“, der, anders als die schriftlich verfassten Erinnerungen in der Mappe des Urgroßvaters, in einer patriarchal bestimmten Erinnerungstradition nicht zur Zeugenschaft aufgerufen wird ( Ulrike Vedder). Eine andere Form der Rekontextualisierung, der auch ein wanderndes Ding zugrunde liegt, untersucht Katja Schubert in dem bereits erwähnten Beitrag zu den Texten Herta Müllers, in denen das Taschentuch zu einem narrativen Metaobjekt wird. Nicht Dispersion und Zerstörung sind hier der Ausgangspunkt, sondern eine Schichtung und Überlagerung unterschiedlicher, immer wieder neuer Verwendungskontexte des Taschentuches. Die in dieser Schichtung assoziativ aufgerufenen, heterogenen und konträren Kontextualisierungen führen zu einer hermeneutischen Unschärfe, in der die Bedeutung des Dinges nicht stillsteht.
Das Ding als Provokation In ihrer Präsenz ist den Dingen eine Widerständigkeit eigen, die sich immer wieder einem funktionalen und epistemischen Zugriff verweigert. Die Literatur interessiert sich ganz besonders für diesen störrischen Eigenwert der Dinge, dem sie spätestens seit der Romantik eine verstärkte Aufmerksamkeit widmet und das Fremd- und Anders-Sein der Dinge nicht selten als Ausdruck
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Vgl. Pelz 2003, Korrespondenzen von Schreibtisch und Museum sowie Mainberger 2011, Schreibtischportraits.
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einer poetischen oder künstlerischen Alterität inszeniert.13 Paradigmatisch für das Eigenleben der Dinge in der Dingästhetik der Moderne steht der 1878 publizierte Roman Friedrich Theodor Vischers Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Bei Vischer werden die Gegenstände personalisiert, wodurch sie kriechen, lauern, springen und pfeifen, wenn auch nicht „im Umfange einer physikalischen Natur“14. Der „Kampf“15 mit den Dingen, der tägliche Aufstand belebter Alltagsdinge gegen ihren Besitzer, wird als „Tücke“16 inszeniert, die Wittgenstein zu der Aussage provozierte, hier sei ein „dummer Anthropomorphismus“ am Werk, handelt es sich doch um die eigene Ungeschicklichkeit mit den Dingen umzugehen.17 Der Anthropomorphismus ist jedoch nur eine der Spielarten einer fundamentalen anthropologischen und epistemischen Provokation, die den Dingen nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Philosophie verstärkt seit der Moderne zugesprochen wird. Mit der Verbannung des „Dinges an sich“ als „reines Gedankending“ (Noumenon) aus dem Bereich des Erkennbaren durch Kants erkenntniskritische Schriften wird der Begriff des „Objektes“ weit prominenter als der „Dinges“. Erst mit der Phänomenologie und der entstehenden Kulturphilosophie rücken die konkreten Dinge wieder in den Fokus des Philosophierens und mit ihnen auch der Begriff des Dinges, der jedoch gerade in seiner begrifflichen Unschärfe interessiert und verhandelt wird. Dominik Finkelde wertet in seinem Beitrag die Provokation, die durch das Ding entsteht, erkenntnistheoretisch aus und untersucht eine konstitutive Abwesenheit, die den Dingverhältnissen seit der Moderne zukommt. Im Rückgriff auf Freuds Begriff des Unbewussten und seinen Aufsatz „Ding am Nebenmenschen“, auf Lacans Begriff des Realen sowie Heideggers späte Dingphilosophie entwickelt Finkelde den Dingbegriff der Moderne insbesondere im Gegensatz zum Begriff des Objektes. Letzteres steht in einer klaren Beziehung zum Subjekt, es geht in der Theorie auf, ist im rationalen Raum klar definierbar und kann vom Subjekt beherrscht werden, während Ersteres auf einen nicht-einholbaren Rest verweist. Bei Stifter zeigt sich dieser erkenntnistheoretisch nicht-einholbare Rest als fundamentale, ungerichtete Angst, in Benjamins Reflexion über das barocke Trauerspiel widersetzen sich die aus der zerstörten heilsgeschichtlichen Einheit zurückgebliebenen „toten Dinge“ oder Requisiten einer neuen Ordnung. Sebalds Protagonisten hingegen durchleben Taxonomiebrüche und den Wechsel von immer wieder neuen
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Aus der Fülle der Sekundärliteratur, die sich mit diesem „Aufstand der Dinge“ beschäftigen, sei hier nur auf einige jüngere Publikationen hingewiesen: Frank/Gockel/Hauschild et al. (Hg.) 2007, Fremde Dinge; Ferus/Rübel (Hg.) 2009, „Tücke des Objekts“; Kimmich 2011, Lebendige Dinge, Holm/Oesterle 2011, Romantische Dingpoetik; Körte 2015, Der Eigensinn des Kleinen. Vischer 1987, Auch Einer, 22. Ebd., 19. Ebd., 24. Vgl. dazu Böhme 2006, Fetischismus und Kultur, 493.
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Sammlungs- und Ordnungsversuchen angesichts der Fülle der Dinge bis hin zur Psychose.18 Fast wie ein Epochensprung erscheint demgegenüber der künstlerisch-literarische Beitrag von Bernd Behr. Nicht die Dingfülle, sondern die Dingarmut in einer zunehmend virtuell aufgestellten Welt bestimmt das postmoderne Verhältnis zu den Dingen. Anders als in Sebalds Romanen, in denen die Fülle der von den Dingen ausgehenden „Blicke“ oder „Appelle“ nicht mehr zu bewältigen ist, scheint der Protagonist in Phantom Limbs in der ewigen Wiederholung des Gleichen von einer Sehnsucht nach einer Begegnung mit den Dingen erfüllt. Sarah Schmidt deutet diesen Rückzug der Dinge als „Rache des Objekts“ wie sie Baudrillard in seinen Fatalen Strategien prophezeit, in der sich das Objekt gerade durch absolute Willfähigkeit der Macht des Subjektes entzieht.19 Ohne dinghaften Widerstand verliert sich das Subjekt in der perfiden, weil vollständigen Unterwerfung des Objektes schließlich selbst.
Materialität der Sprache Inwiefern lässt sich Sprache als „Materie“ verstehen und wie und durch was wird Sprache zu einem Ding? Welche Bedeutung hat die Literatur an diesem Prozess sprachlicher Verdinglichung und welche Rolle kommt diesem Prozess für die Sprache selbst zu? Die Materialität der Sprache, so könnte eine erste Annäherung lauten, manifestiert sich zunächst ganz konkret in ihrem physischen Laut, mehr noch in ihrer Niederschrift.20 Augenscheinlich wird dies in Inschriften und Handschriften, die eine eigene materielle Informationsebene mit sich führen. Sie ist untrennbar mit der Sinnhaftigkeit des Textes verwoben. Indem der ikonographische Charakter der Schrift als „Schriftbildlichkeit“ und „Bildschriftlichkeit“21
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Kulturgeschichtlich gewendet findet sich diese strukturell nicht mehr zu bewältigende Fülle in Ingrid Strebles Auseinandersetzung mit Serge Rezvanis Roman LʼOrigine du monde im zweiten Kapitel dieses Bandes: In dem „großen Museum“ verrottet das kulturelle Erbe zusammengeschmolzen zu einem „Blätterteig“ aus Bildern in den Bleikammern des Depots. In dieser unterschiedslosen Häufung hat das einzelne Ding jede narrative Kraft verloren. Baudrillard 1991, Die fatalen Strategien, 98 f., spricht von der siegreichen List des Objekts, das sich entzieht, weil es nicht beobachtet und analysiert sein will. Es „triumphiert durch seine Position als Objekt heute überall über das Subjekt der Analyse. Das Objekt entgeht dem Subjekt überall und verweist es auf eine undefinierbare Subjektposition […]. Das Subjekt der Analyse ist überall angreifbar geworden, und die Rache des Objekts steht erst am Anfang.“ [Herv. i. O.]. So z. B. in der Geburtsstunde der Philologie bei F. Schlegel und F. Schleiermacher, in der Laut- und Niederschrift zur „Natur“, zur materiellen Seite der Sprache gehören, ohne dass sich freilich „Geist“ und „Materie“ voneinander trennen ließen, vgl. z. B. Rieger 1988, Interpretation und Wissen, 87 ff. Vgl. Krämer/Cancik-Kirschbaum/Totzke 2012, Schriftbildlichkeit; Strätling/Witte 2006, Die Sichtbarkeit der Schrift sowie den Beitrag von Alexandre Métraux „Schriftbildlichkeit
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in den Vordergrund rückt oder Schrift durchsetzt und verbunden ist mit Zeichnungen und Skizzen22, kann ein allein auf das einzelne Zeichen gerichteter Abstraktionsprozess, in dem sich der „Geist“ der Sprache von der „Materie“ emanzipiert, Sinn nur noch unzureichend erfassen. Die Einübung eines solchen Abstraktionsprozesses steht am Anfang des Lesenlernens, den Mona Körte in ihrem Beitrag untersucht. Die von den Reformpädagogen der Aufklärung aufgestellte Propädeutik des Lesens nimmt die Materialität der Schrift mit ihren haptischen und visuellen Qualitäten in den Dienst, denn Lesenlernen kann mit Sabine Gross „als ein Zusammenspiel von Auge, Kopf und Hand“23 verstanden werden und geht als einverleibtes „Russisch Brot“ und Buchstabensuppe sogar durch den Magen. Der freigestellte Buchstabe nimmt im Prozess des Lesenlernens die Funktion einer Variablen ein, deren Potentialität es im Sinne einer unendlichen Kombinierbarkeit zu erfassen gilt. Das Auf- und Zusammenlesen kommt dabei einem kämpferischen Akt gleich, indem der materielle Aspekt, die Gegenständlichkeit, die zunächst der Sinnerschließung Hilfestellung leistet und sogar für den spezifischen Weltzugang eines aufklärerischen Denkens den Grundstein legt, überwunden werden soll. Auch wenn dieser Prozess des Lesenlernens nach Walter Benjamin unumkehrbar ist, und mit ihm auch die phantastisch-magischen Freiräume der Kinderwörter verschwinden24, muss sich das zum Werkzeug der Entzifferung etablierte Zeichen doch beständig gegen den Eigenwert seiner Materialität zur Wehr setzen. Lektüren und Handhabungen von Sprache und Schrift, in denen diesem Eigenwert der Materialität von Sprache eine große Aufmerksamkeit zukommt, erschließen sich dabei insbesondere mit Blick auf die einschneidenden technischen Innovationen ihrer Mediengeschichte: Der Buchdruck, der Übergang zum Massenprint, das Auftauchen von Straßenwerbung25, der Eintritt ins
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oder Bildschriftlichkeit“ im vierten Kapitel, der den Grenzen der Lesbarkeit einer „Bildschriftlichen“ Notiz Pessoas nachgeht. Besonders deutlich wird die Sinnhaftigkeit des materiellen Erscheinungsbildes der Schrift auch in medialen „Mischprodukten“, wie den bildhaften Schriftstücken aus künstlerischen Nachlässen, mit denen sich die Kunstwissenschaftlerin Anne Vollenbröker in ihrem Vortrag „Bits and Pieces – Nebenprodukte des Sammelns“ auf dem ersten Workshop des Netzwerkes beschäftigte. Auch der auf dem ersten Workshop des Netzwerkes vorgestellte Beitrag der Kunstwissenschaftlerin Barbara Bader „Bedeutung und Eigenart sprachlicher Notizen und bildlicher Skizzen als Rechercheform und Sammlungsmedium im künstlerischen Prozess“ lenkte den Blick auf das graphische Potential der Schrift. Er untersuchte das Wechselspiel von sprachlichen Notizen und bildlichen Skizzen im künstlerischen Prozess als einen Entwurf nur bedingt intendierter Narrationsstrukturen und Ordnungsmuster. Vgl. hierzu den Beitrag „Vom Ding zum Zeichen“ von Mona Körte im ersten Kapitel sowie Gross 1994, Lese-Zeichen. In der Sprache der Kinder „sind Wörter noch wie Höhlen, zwischen denen sie seltsame Verbindungswege kennen“ (Benjamin 1980, Gesammelte Schriften, Band IV/1 [Denkbilder], 432). Hatte sich mit der Erfindung des Buchdrucks die Schrift von der Vertikalen in die Horizontale begeben, so richtet sie sich mit der Werbung wieder in die „diktatorische Vertikale“ (Benjamin 1980, Gesammelte Schriften, Band IV/1 [Einbahnstraße], 103) auf. „Und ehe der Zeitgenosse dazu kommt, ein Buch aufzuschlagen, ist über seine Augen ein so dichtes Gestö-
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Netz26 markieren Schwellen, an denen sich Lektüreformen modifizieren und die Materialität der Sprache gerade durch ihren medialen Wandel thematisch werden lassen. So setzt ab ca. 1900 mit der zur Massenware gewordenen Zeitung ein verändertes Lesen ein.27 Hergestellt für einen schnellen und auf Aktualität ausgerichteten Konsum, kann die Zeitung nach der Lektüre weggeschmissen oder als Material weiterverarbeitet werden. Bereits in den Überschriften und Schlagzeilen, aber auch in der Werbung kündigt sich eine Zerstückelung der Syntax an, die sich im Umgang mit dem Massenprodukt Zeitung fortsetzt. Erst indem das Gedruckte nicht mehr das vornehme Buch, sondern auch Tagespresse sein kann (gleichwohl als Gedrucktes nicht ohne Autorität)28, beginnt die Kultur des Ausschneidens und Montierens, in der Wörter und Wendungen, aber auch Buchstaben jenseits der Wortgrenzen aus der Sprache herausgerissen werden und eine Art Eigenleben zu führen beginnen.
Dinglichkeit der Sprache Mit dem „Aufstand der Dinge“ in der Literatur erfährt auch die Sprache einen Aufstand, in der sich die Wörter und Buchstaben „verdinglichen“. Was sich am zerschnittenen, herausgerissenen Zeitungsmaterial quasi räumlich ereignet, zeigt sich auch jenseits der konkreten Materialität der Sprache als ein der Sprache eigenes Phänomen. Eine philosophische Reflexion auf den Moment der Dingwerdung von Sprache lässt sich beispielsweise in Anschluss an Heideggers bekannte Unterscheidung von Zeug und Ding in Sein und Zeit finden. Mit Heideggers Hinweis auf den Zeugcharakter von Zeichen29 ließe sich der Modus des zuhandenden Zeuges (versus vorhandenes Ding) auch in der Sprache untersuchen. Widmet sich Heidegger dem Ding in seiner Positivität und seiner engen Beziehung zu Kunst und Dichtung erst in den späteren Schriften ausführlich, so wird in Sein und Zeit jedoch jener Moment näher beleuchtet, in
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ber von wandelbaren, farbigen, streitenden Lettern niedergegangen [...]. Heuschreckenschwärme von Schrift, die heute schon die Sonne des vermeinten Geistes den Großstädtern verfinstern, werden dichter mit jedem folgenden Jahr“ (ebd.). Vgl. dazu statistische Auswertungen wie Boesken 2001, Leseverhalten; zur Relativierung der im frühen Internetzeitalter etwas durch Flusser, Deleuze und Guattari vertretenen Ablösung linearer Lesestrukturen des Buches durch enthierarchisierende Netzstrukturen vgl. Kilcher 2015, Bücher der Literatur. Zur Lektüreform der Multimediaprodukte und den Verlust ihrer Zugänglichkeit im Prozess des technischen Fortschritts vgl. den Beitrag von Harald Kraemer „Sammeln ohne Zugriff: Sammeln ohne Sinn!“ im zweiten Kapitel dieses Bandes. Zum Zeitungsausschnitt in der massenmedialen Sattelzeit vgl. te Heesen 2006, Zeitungsausschnitt. Für Anke te Heesen kommt dem Zeitungsausschnitt der Status einer „wissenschaftlichen Tatsache“ (ebd., 15) zu, es ist ein ambivalentes Medium, auf Konsum und Verbrauch ausgerichtet, das noch einen Teil der Autorität des Gedruckten mit sich führt (ebd., 11). Heidegger 2006, Sein und Zeit, 77 f.
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dem in einer Störung des gewöhnlichen (Sprach-)Gebrauchs der Dingcharakter von Zeug zum Vorschein kommt. Ein solches problematisch Werden des gewöhnlichen Sprachgebrauchs, der selbstverständlich praktizierten semantisch-grammatischen und handlungspragmatischen Sprachstrukturen, führt Sprache auf ihre Bestandteile, auf ihre Buchstäblichkeit zurück: Satz – Wortfolge – Wort – Buchstabe und schließlich auch Zwischenräume werden zu ‚Akteuren‘. In ihrer ,Entstellung‘ und ,Entsicherung‘ entstehen einzelne, mobile, „radikale“30 Sprachdinge, die sich, ähnlich chemischen Radikalen, durch hohe Reaktionsfähigkeit auszeichnen und sich in ihrer Widerständigkeit dem Sinn suchenden Lesenden immerzu entziehen. Eine solche fundamentale Störung des gewöhnlichen Sprachgebrauches lässt sich in vielen Situationen auffinden: im Sprachlernprozess, in dem sich die Elemente der Sprache als „Zeigezeuge“ erst allmählich etablieren, im Umgang mit Wörtern und Begriffen, die ihren historisch oder pragmatischen Kontext verloren haben31 oder aber im Sich-Versprechen oder verdrängten Sprechen. Inwiefern Buchstaben und Wörter soweit versprengt sein können, dass sie sich nicht mehr zu einem in Sinneinheiten strukturierten logos versammeln lassen, untersucht Judith Kasper in ihrer Auseinandersetzung mit Saussures Anagrammstudien und Freuds psychoanalytischen Studien. Ob auf der Suche nach einem geheimen Fabrikationsprinzip der Dichtung wie Saussure oder im detektivischen Versuch, einen vergessenen, verdrängten oder verstellten Sinn zu rekonstruieren wie Freud – beide nehmen eine Zergliederung der Sprache vor, in der ihr Material in den Vordergrund rückt und sich schließlich nicht mehr vollständig beherrschen lässt. Wie bei einer Atomspaltung werden in diesen Recherchen Energien freigesetzt, der einzelne Buchstabe und die Silben werden zur Gelenkstelle unterschiedlichster Lesarten, der Text einem flüssigen Medium gleich. In Extremfall „staben“ die Buchstaben nur noch, d. h. sie bekräftigen etwas, was sich jedoch dem sinnvollen Zugriff entzieht und nur noch als Abwesendes oder Leere wahrgenommen werden kann. Als ein Sinnbild für jenes „Staben“ ohne sinnvollen Zugriff, das von den Dingen seinen Ausgang nimmt, kann in dem Fotogramm aus dem Projekt Connected in Isolation von Jacqueline Baum und Ursula Jakob gelten, wie Sarah Schmidt in ihrem Essay über diesen Künstlerinnenbeitrag nahelegt. In Baums und Jakobs künstlerischer Recherche zu De- und Rekontextuali30
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Michel Foucault spricht in seinem Essay „Das Leben der infamen Menschen“ den von ihm als nouvelles untersuchten, knappen und dekontextualisierten Geschichtsdokumenten „Radikalität“ im Sinne einer chemischen Reaktionsfähigkeit zu. Vgl. dazu den Beitrag von Sarah Schmidt „Existenzen sammeln − Existenzen schreiben“ im dritten Kapitel des Buches. Eine solche abrupte Dekontextualisierung von Sprache beschreibt Herta Müller in ihrem Roman Atemschaukel mit der Deportation des Protagonisten Leopold Auberg. Wörter wie „Hotel“ oder „Interlope Gesellschaft“ sind im Kontext des Konzentrationslagers zu Fremdkörpern geworden und geistern wie sperrige Gegenstände als Majuskelwörter durch den Text, vgl. dazu den Beitrag von Sarah Schmidt „Fremdeigene Wortreste“ im vierten Kapitel.
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sierungsverfahren im Prozess technischer Reproduktion transformiert sich die Sammlung geklonter Orchideensetzlinge zu einem Alphabet, das nur seine Buchstabenhaftigkeit, nicht jedoch seine Buchstaben preiszugeben scheint. Experimentelle Schreibverfahren und Klangrecherchen, die die Syntax aufbrechen, die Semantik aufstören und Buchstaben und Wörter an den Rand ihres Bedeutens führen, so dass sie in ihrer Sinn verweigernden Präsenz zu Buchstaben- oder Wortdingen werden, waren immer schon Bestandteil der literarischen und lyrischen Produktion. Mit dem Umbruch in der Geschichte der Medien hin zu Massenmedien wird das in Montage- und Collageverfahren praktizierte Aufbrechen der Sprache jedoch zu einem regelrechten Befreiungsschlag der literarischen Moderne und seit der frühen literarischen Avantgarde in diversen Schreibpraktiken erprobt und fortgeführt. So in den Wortcollagen und bruitistischen Gedichten des Dada und des Surrealismus, den an sie anschließenden Bewegungen des Lettrismus der 1940er Jahre, der konkreten Poesie der 1950er und 1960er Jahre oder des Oulipo in den 1960er Jahren. Strenge Restriktion und penetrante Wiederholung, Sprengung und Verschiebungen syntaktischer Anordnungen in Anagrammen und Permutationen führen das Material der Sprache vor. In dieser Tradition der Arbeit am Sprachmaterial, von der eine beständige Provokation und Herausforderung unserer Lesegewohnheiten ausgeht, stehen auch die Gedichte von Regina Hilber. Sie arbeitet mit Neuordnungen und Permutationen, in denen fremdbekannte Mischwesen den Ton angeben und sich einer kategorialen Verwertbarkeit widersetzen: „permutation aller /geschlechter / spalten sparten / obst gestein und nonsens“ – in ihren Gedichten versammeln sie sich nach einer unerschlossenen Logik, ähnlich einer „gewissen Chinesischen Enzyklopädie“ wie sie Foucault in Die Ordnung der Dinge in Anschluss an Borges zu einer Reflexion über den heterotopen Charakter der Sprache anregte.32 Hilbers Gedichte sind poetische Reflexionen auf die radikale Beweglichkeit der Buchstaben und Wörter und den mit dieser Beweglichkeit verbundenen offenen Suchraum der Sprache, in dem es das noch nicht Gesprochene, die „Restworte“ aufzuspüren gilt. Die Dingwerdung von Sprache kann im Zeichen von Zerstörung und Verlust stehen, weist jedoch auch auf ihre Potentialität hin und öffnet einen Möglichkeitsraum, der über den Weg der Sprache zugleich auch ein Möglichkeitsraum der dinglichen Welt ist. Das Aufbegehren es Sprachzeugs – ihr „Auffällig“-, „Aufdringlich“-, „Aufsässig“- oder auch „Abfällig“-Werden33 – ist daher als Modus zu verstehen, in dem sich Sprache als ein Wechselspiel von Sprachmaterial und Bedeutungskonstitution zeigt, das nicht zum Stillstand kommen darf. Denn Sinn entsteht so nicht etwa nur oder vor allem dort, wo er 32 33
Foucault 1971, Die Ordnung der Dinge, 17 ff. Heideggers drei A-Modi der Störung − das „Auffällig“-, „Aufdringlich“- oder „Aufsässig“Werden (vgl. Heidegger 2006, Sein und Zeit, 73 f.) könnte mit Blick auf den wachsenden Berg systematisch produzierten Abfalls u. a. im Massenprint um den Modus des „Abfällig“Werdens ergänzt werden.
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in ungestörter immer gleicher Gewohnheit sich abspielt, sondern gerade dort, wo er gefährdet ist.
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GENDERED OBJECTS. LITERARISCHE DING- UND GESCHLECHTERCODIERUNGEN
1. „Wann beginnt die Bedeutung des Objekts?“ – Ding- und Geschlechtercodierungen Begreift man die Dinge im Alltag, im Sozialen, in den Wissenschaften nicht als – funktionales oder widerspenstiges – Werkzeug im Sinne verfügbarer Objekte, sondern als mehr oder weniger komplexe Agenten, die Kultur- und Erkenntnisprozesse konstituieren, dann rückt die Frage nach ihrer Bedeutungsgebung ebenso in den Vordergrund wie die nach ihrem Verhältnis zu den menschlichen Subjekten. Bruno Latour spricht konsequenterweise von Dingen als ‚nichtmenschlichen Wesen‘, um diese von menschlichen Wesen zwar zu unterscheiden, aber – anstelle eines instrumentellen Verhältnisses – zugleich die Verquickung von Menschen und nicht-menschlichen Wesen anzuzeigen: „Wenn nichtmenschliche Wesen nicht länger mit Objekten verwechselt werden, läßt sich vielleicht das Kollektiv vorstellen, in dem die Menschen mit ihnen verwoben leben.“1 Nur in dieser Verquickung sind Dinge als wahrgenommene, versprachlichte, bedeutsame Dinge vorstellbar – auch wenn zugleich gilt: „Die wesentliche Eigenschaft des Dinges ist, dass es sich nicht in seinen wahrnehmbaren Eigenschaften erschöpft“2. Doch dieses Surplus mittels dessen, was nicht wahrnehmbar ist, ist ebenso wenig formulierbar wie eine Antwort auf die Frage, was und wie „Dinge ohne uns“ eigentlich sind.3 In diesem Sinne hat Roland Barthes auf die grundsätzlich „kodifizierte Natur des Objekts“4 hingewiesen – selbst wenn es der „Sinn eines Unsinns“5 ist –, und zwar unabhängig von seiner Funktion: Wann beginnt die Bedeutung des Objekts? [...] [S]obald das Objekt produziert und von einer Gesellschaft von Menschen konsumiert wird, sobald es hergestellt, normalisiert wird [...]. Alle Objekte, die einer Gesellschaft angehören, besitzen einen Sinn; um sinnfreie Objekte zu finden, müßte man sich vollständig improvi-
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Latour 2002, Die Hoffnung der Pandora, 212. Niehaus 2009, Das Buch der wandernden Dinge, 385. Macho 2011, Dinge ohne uns. Barthes 1988, Semantik des Objekts, 196. Ebd., 189.
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sierte Objekte vorstellen; [...] um absolut improvisierte Objekte zu finden, müßte man in völlig asoziale Zustände geraten.6
Zur Bedeutungsgebung von Objekten zählen an zentraler Stelle die Geschlechtercodierungen, die die Dinge prägen und sich in ihnen verdichten, die aber auch von den Objekten ausgehen. Denn neben den Dingen stellt auch die Kategorie Gender für subjektive, kulturelle und soziale Identitäten und Gemeinschaften ein wesentliches Konstituens dar, so dass in beider Zusammenspiel „two of the most fundamental components of the cultural framework which holds together our sense of social identity“7 ihre Wirkung entfalten Dabei werden zum einen die Dinge auf vielfache Weise – von Materialität und Gestaltung bis zu Anwendung, Sammlung, Ästhetisierung oder Aussortierung – als männlich oder weiblich, als sexualisiert oder asexuell, als normativ oder queer markiert8: Die Determinierung der Dinge als weiblich etwa realisiert sich, situiert nach Raum und Zeit, auf mehreren Ebenen: von der Herstellungs- zur Gebrauchsweise, von der Ästhetik über die Materialität bis zur Funktionalität. Die symbolischen Prozesse der Kodierung, insbesondere im Bereich der Mode, beschäftigen sich geradezu obsessiv mit der Geschlechterkultur, definieren und redefinieren die Grenzziehungen zwischen den Sphären.9
Zum anderen markieren die Dinge ihrerseits, als gendered objects, die Subjekte, die mit ihnen umgehen, und die Kontexte, in denen sie arrangiert sind, und wirken so auf die Verfestigung oder auch Neuformierung von Geschlechterordnungen hin.10 Damit gerät zugleich der historische Prozess des gendering in den Fokus. Als unhintergehbare Bedeutungsgebung erscheint er häufig geradezu naturalisiert und normalisiert, so dass „in ‚gendered objects‘ die deutungsreiche Beziehung zwischen Dingen und Geschlechtern als kulturelle Norm eingelagert und quasi unsichtbar ist, weil in westlichen Kulturen die geschlechtliche Kodierung der Dinge ‚normal‘ erscheint.“11 Diese kulturelle Normierung prozediert ebenso stereotyp wie vielschichtig, was sowohl den alltäglichen – sorglos-affirmativen wie kritisch-subversiven – Umgang mit gendered objects als auch dessen wissenschaftliche Analyse prägt:
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9 10
11
Ebd., 190. Kirkham/Attfield 1996, Introduction, 1. Regina Hilber spielt in ihren Gedichten mit den geschlechtsspezifischen Codierungen der Dinge und Worte und sucht nach dem Zwischenort, dem dritten Geschlecht, das eine Permutation aller Geschlechter zur Folge hat, vgl. die Gedichte aus dem Gedichtzyklus „Brandenburg-Zyklus tagwerk X“. König 2010, Relationen, 363. Inwiefern ein Ding wie das Taschentuch auch multiple Codierungen annehmen kann − u. a. die des „Mütterlichen“ − beschreibt Katja Schubert in ihrem Beitrag „Das wandernde Taschentuch“ im ersten Kapitel. König 2014, Geschlecht und Dinge, 66.
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At one level, the gendering of objects is an extremely complex process, which sometimes seems impossible to elucidate, yet the over-determination of coding involved in the construction of certain objects as ,male‘ or ,female‘ can sometimes seem crude, almost comical.12
Die wechselseitigen Prozesse der geschlechtlichen Codierung, Signifikation und Narration sind also mithilfe der Kategorie der gendered objects beobachtbar und ermöglichen die kritische Reflexion von Geschlechterordnungen als Zeichen- und Wissensordnungen hinsichtlich ihrer Strukturen, Bedingungen und Effekte: [W]enn unsere Wahrnehmung und Interpretation unserer selbst und der Welt so eng mit den Dingen unserer Umgebung verknüpft sind, deren kulturelle, symbolische und historisch je spezifische Bedeutungszuschreibungen wir immer neu setzen, interpretieren oder umformen, dann werden in genau jenem Umgang mit den Dingen auch – bewußt oder unbewußt – die Strukturen der Geschlechterordnung verhandelt.13
Diese nicht nur für die Geschlechterforschung relevanten Aspekte sind sowohl in ethnologischen, soziologischen und historischen Studien zur materiellen Kultur14 als auch in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Ästhetik und Semiologie der Dinge immer wieder fallweise einbezogen worden – so beispielsweise für das Objekt- und Zeichensystem der Mode15 oder die Dinge als Fetische16, für das Objekt der weiblichen Statue oder der Schaufensterpuppe17, für den Zusammenhang zwischen Raum- und Geschlechterordnung in Interieurs mit ihren Möbeln, Stoffen und Accessoires.18 Während also die Bedeutung der Geschlechtercodierungen einzelner Objekttypen, -gruppen oder – beziehungen analysiert und diskutiert worden ist, ist das Forschungsfeld einer systematischeren Untersuchung von gendered objects in viele Richtungen hin offen, beispielsweise in Hinblick auf weitere Dingkategorien (wie Trophäe, Erbstück, Liebesgabe, Ausstellungsobjekt, Müll, Reliquie), auf den Umgang mit Dingen und Artefakten (wie Produzieren, Konsumieren, Sammeln, Weitergeben, Wegwerfen) oder in Hinblick auf die damit einhergehenden bzw. generierten Zeichen-, Medien- und Wissensordnungen. Die Literatur kann als ein bevorzugtes Reflexionsmedium der skizzierten Prozesse fungieren, nicht nur, weil Bedeutungsgebungen in literarischen Tex12 13 14
15 16 17 18
Kirkham/Attfield 1996, Introduction, 5. Ecker/Scholz 2000, Einleitung, 10. Vgl. z. B. Mentges/Mohrmann/Foerster (Hg.) 2000, Geschlecht und materielle Kultur; de Grazia/Furlough (Hg.) 1996, The Sex of Things; Martinez/Ames (Hg.) 1997, The Material Culture of Gender. Vgl. z. B. Lehnert 1998, Mode, Weiblichkeit und Modernität; dies. 2013, Mode; Vinken 2013, Angezogen. Vgl. z. B. Böhme 2006, Fetischismus und Kultur; Bischoff 2013, Poetischer Fetischismus; Blättler/Schmieder (Hg.) 2014, In Gegenwart des Fetischs. Vgl. z. B. Müller-Tamm/Sykora (Hg.) 1999, Puppen Körper Automaten. Vgl. z. B. Roßberg 2011, Wie Frauen Zimmer wurden; Söntgen 1998, Frauenräume – Männerträume.
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ten vollzogen, narrativiert, befragt und irritiert werden, sondern auch angesichts des Potentials der Literatur für die Bestimmung unseres Verhältnisses zu den Dingen: Sie weist ihnen einen Ort in einer Lebensgeschichte zu, verleiht ihnen eine soziale Positionierung, besetzt sie mit Wünschen und Aufgaben, stört und entkoppelt konventionelle Verknüpfungen zwischen Wort und Sache. Über solche Kontexte bzw. De- und Rekontextualisierungen durch Literatur und andere Narrative nehmen Dinge Bedeutungen an und werden erzählbar, werden zu „telling objects“19. Zudem ist sie es, die einen „Eigensinn“20, ja ein Eigenleben der Dinge nicht nur metaphorisch behauptet, sondern narrativ auserzählen kann. Im Folgenden stehen literarische gendered objects im Zentrum, wobei insbesondere die skizzierte zweifache Perspektivierung interessieren soll: zum einen die Geschlechtercodierungen und Bedeutungszuschreibungen, die den Dingen anhaften, und zum anderen deren bedeutungsproduzierende Rückwirkungen auf gendered subjects. Hier ist gendered also im doppelten Sinne zu verstehen, nämlich als geschlechterbezogen und als generativ: „,To gender‘ is not only to code as male or female but also ,to generate‘ – which can, for the purposes of this field of enquiry, be applied to the act of producing meaning.“21 Angesichts der Koinzidenz, dass im 19. Jahrhundert die Geschlechteridentitäten und -performanzen im kulturellen, sozialen, medizinischen und wissenschaftlichen Register enormen Spannungen und Verhandlungen unterliegen und „dass das 19. Jahrhundert auch das Saeculum der Dinge ist“22, sollen nun die telling gendered objects in aufschlussreichen literarischen Texten des 19. Jahrhunderts einer kursorischen Lektüre unterzogen werden.
2. Gendered objects als Gedächtnismedien: Tradieren und Verwerfen (Adalbert Stifter) Dinge als Gedächtnismedien werden bewahrt, archiviert, weitergegeben, transformiert – und vielleicht dann doch verloren –, sind also Teil eines Dingverkehrs durch Räume und Zeiten, der auch ihre Bedeutungen strukturiert.23 Weil der „große Code der Objekte, in dem wir leben“24, ja kein fixierter Bedeutungskatalog ist, sondern ein zentrales Element des übergeordneten kulturellen Codes, der unser Weltwissen ebenso organisiert wie dessen Wahrneh19 20 21 22 23
24
Vgl. Bal 1994, Telling Objects. Barthes 1988, Semantik des Objekts, 188; Hahn 2005, Materielle Kultur, 46. Kirkham/Attfield 1996, Introduction, 4. Böhme 2006, Fetischismus und Kultur, 17. Vgl. z. B. Der Souvenir 2006; Langbein 2002, Geerbte Dinge. Vgl. zum Folgenden auch Vedder 2012, Weitergeben, verlorengeben. Zum Dingverkehr im Zeichen von Vernichtung und Zerstörung vgl. Dörte Bischoffs Auseinandersetzung „Vom Überleben der Dinge“ im ersten Kapitel. Barthes 1988, Semantik des Objekts, 196.
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mungs- und Repräsentationstechniken, verweisen Herkunft, Nutzung, Weitergabe, Wertung und Umwertung der Dinge auch auf je historische Geschlechtercodierungen. Wie werden die Dinge zu erinnerten Museumsstücken, Erbstücken, Souvenirs oder aber zu vergessenem Abfall, Trödel und Plunder? Und: Wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ist ihre Tradierung?25 Diese Zusammenhänge um Geschlecht und Genealogie der Dinge seien nun anhand einer Erzählung von Adalbert Stifter, dem großen Ding-Autor des 19. Jahrhunderts, konkretisiert, in der es um vermeintlich banale Gebrauchsgegenstände und um die Frage ihrer – an den jeweiligen geschlechtlichen Codierungen hängenden – Tradierung geht.26 Das erste Kapitel in Stifters Erzählung „Die Mappe meines Urgroßvaters“ (hier in der Studien-Fassung 1841) trägt den Titel „Altertümer“. Der erwachsene Erzähler ist in das Haus seiner Kindheit zurückgekehrt, um der alten Mutter – der Vater ist tot – seine junge Ehefrau vorzustellen. An einem Regentag stöbert er auf dem Dachboden in altem Kram und entdeckt dabei unter anderem die Mappe seines Urgroßvaters mit dessen Aufzeichnungen, die dann die folgenden Kapitel der Erzählung bilden. Mit dieser Entdeckung und Bedeutungsgebung der Mappe geht nicht zufällig eine Hierarchisierung von Übertragungsmodellen einher, die, davon erzählt der Text, in systematischer Weise an eine Hierarchie der Geschlechter gekoppelt ist. Der Text erzählt also davon, wie die Dinge ihre Bedeutung bekommen, wie sie ins subjektive oder kulturelle Gedächtnis eintreten und in welcher Weise dieser Prozess geschlechtlich codiert ist. Die titelgebende Mappe ist keineswegs prominent platziert, sie muss erst gefunden werden: auf dem abseitigen Speicher, der als Verräumlichung einer abseitigen Zeit fungiert, nämlich der längst vergangenen Kindheit des Erzählers mit vagen Erinnerungen an dunkle Gänge und unheimliche Dachböden. Die kulturelle Bedeutung des Objekts der Mappe muss also überhaupt erst einmal erzeugt werden. Dies geschieht z. B. durch die Textstrategie, den Ort dieser Bedeutungsgebung mehrfach einzuschachteln: Zu Beginn gelangt man in das Haus, darin auf den Dachboden; dort befindet sich unterm „zollhohen Staube“27 „eine sehr alte verschlossene Truhe“28; darin unter einem „Knäuel von Papieren, Schriften, Päckchen, Rollen, unterschiedlichen Handgeräthen, Bindzeugen und anderem Gewirr“29, die zunächst einzeln entfaltet werden, endlich eine Mappe; darin versiegelte Konvolute, die den zweiten Band der 25
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27 28 29
Zum Umgang mit geerbten Dingen in der Gegenwartsliteratur auch entgegen ihrer Funktion als Erinnerungsmedien vgl. Gisela Eckers Beitrag „,Aufgesparte Gummiringe nie benutzte Griffel‘“ im vierten Kapitel. Zur inflationären Verwendung des Wortes „Ding“ und seiner erkenntnistheoretischen Deutung bei Stifter vgl. den Beitrag von Dominik Finkelde „Der nicht aufgehende Rest“ im ersten Kapitel. Stifter 1982, Die Mappe meines Urgroßvaters, 23. Vgl. dazu auch Vedder 2011, Das Testament als literarisches Dispositiv, 233-235. Stifter 1982, Die Mappe meines Urgroßvaters, 23. Ebd.
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Aufzeichnungen des Urgroßvaters darstellen. Dies erinnert den Erzähler an eine andere Mappe aus seiner Kindheit, in der sein Vater immer gelesen habe, wohl der erste Band dieser Aufzeichnungen. Als er den Band ebenfalls findet, enthält dieser außer einer Vielzahl von Blättern, „die sämmtlich die Handschrift meines verstorbenen Vaters trugen“30, auch jene Schriften des Urgroßvaters, die dann von der Erzählung „Die Mappe meines Urgroßvaters“ nachgeschrieben und so wiederum weitergegeben werden. Das ebenso umständliche wie folgenreiche Auffinden der väterlich-urgroßväterlichen Mappe ist für die Frage nach den Geschlechterordnungen der Dinge insofern aufschlussreich, als sich auf demselben Dachboden interessanterweise zwei Parallelobjekte finden, nämlich zwei weitere Truhen, die der mütterlichen Linie zugeordnet sind: gefüllt mit „Kram“, „Trödel“ und dem „Wegwurf vergangener Jahre“. Diese als wertlos gekennzeichneten Dinge werden zwar als „Erzähler“ bezeichnet, allerdings als die „stummen unklaren Erzähler der unbekannten Geschichte“31. Die „Dichtung des Plunders“32 bleibt unverständlich, so dass die – durch die Dinge in der Truhe bewahrten – Geschichten der Toten nicht hörbar oder lesbar gemacht werden: In der Finsterniß der Truhe [...] war eine Schnur angefaßter rasselnder silberner Gupfknöpfe, ein Bündel Schnallen, langstielige Löffel, eine große silberne Schale, von der sie sagten, daß der Doktor das Blut der vornehmen Leute in dieselbe gelassen habe, [...] und anderes, was in der Dunkelheit so geheimnißvoll leuchtete, und worin wir nie kramen durften, weil die Mutter bei solchen Gelegenheiten stets nicht Zeit hatte, sondern zusperren und fort gehen mußte.33
Doch nicht nur die Mutter ist hier diejenige, die zusperren und fortgehen muss, sondern auch der Ich-Erzähler erlaubt es sich nicht, weiter zu „kramen“. Und so wird eine „Dichtung“, die aus diesem „Plunder“ entstehen könnte, nicht entfaltet. Ähnliches widerfährt der dritten Truhe, die für die Frage der Bedeutungsstiftung und ihrer geschlechtercodierten Narrative noch interessanter ist. Sie enthält Brautkleider, deren „verschossene Pracht“ hoffnungslos altmodisch und wertlos ist. Zwar überwältigt diese Pracht mit ihrer Materialität, ihrem Detailreichtum und ihren Farben, im Rascheln und Knistern der Stoffe und Kleider: Da kamen sammetne, seidene, goldstarrende Dinge zum Vorschein, die da rauschten und knisterten und unbekannt waren. Vom Doctor ist noch der ganze veilchenblaue Sammetanzug übrig, mit den vielen Schleifen und unten Goldblümchen, dann mit den Bandschuhen, und schwarzem Barett. Das aschgraue Seidengewand seiner Braut hatte hinten einen Zipfel als Schleppe hinaus, es war ein goldener Saum da, und aus dem Innern lauschte das schwefelgelbe seidene
30 31 32 33
Ebd., 26. Ebd., 17. Ebd., 16. Ebd., 14.
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Unterfutter. Insonderheit war auch der Rock der Großmutter, der meßgewandstoffig und unbiegsam war, mit den vielen Falten und großen Seidenblumen.34
Doch diese „Ahnentafel bürgerlicher Häuser“35 mit ihren so plastisch geschilderten Kleidern, die den Vorfahren zuzuordnen sind und deren Erinnerung sie kennzeichnen, verbleibt im Modus des Rauschens und Knisterns – und das heißt in dem Bedeutungskontext, den die Mappe eröffnet hat: schriftlos, sinnlos. Es ist die Mutter, die zu diesem zwiespältigen magischen Leuchten und Rauschen den Zugang bietet, die die Truhen wie Füllhörner öffnet und schließt und so den „Kram“ als weiblich konnotiertes Erbe kenntlich macht. Aus all den auf dem Dachboden befindlichen Dingen kristallisiert sich also nach und nach die Mappe als das eigentlich bedeutende Ding, das Erbstück heraus: ein patrilineares Erbe, bestehend aus den autobiographischen Schriften der männlichen Vorfahren – vom Urgroßvater auf den Großvater und Vater schließlich auf den Erzähler übergehend –, von denen die Mutter des Erzählers nichts weiß und die sie übrigens auch nicht entziffern kann. In der Konkurrenz der gendered objects um Bedeutung und Tradierung, um sinnloses Rauschen und sinnhaftes Entziffern, obsiegt die Mappe: Nur der Sohn ist, wie früher allein sein Vater, in der Lage, die Schriften zu lesen, und nur er ist ihr Erzähler, wenn er abends seinen Zuhörerinnen das Gelesene weitergibt: der Mutter, der Gattin, der Schwester. Solche Schriften kann der Ich-Erzähler am Ende mitnehmen in die Großstadt, und das heißt hier: in die Moderne. Stifters Rahmenerzählung berichtet also auch davon, wie der Sohn durch die Dinge zum erzählenden Subjekt wird, und zwar als dezidiert männliches Subjekt – ein Mann, der sich als erfolgreicher Leser und Schreiber in die patrilineare Folge einreiht, indem er die weiblich konnotierten Dinge im mütterlichen Haus zurücklässt und die im Kulturmedium Buch zu tradierenden Geschichten der Dinge auswählt. Auf Kosten anderer – und zwar nicht irgendwelcher anderer – Dinge gewinnt mithin die Mappe ihren Status und kann in mehrfacher Hinsicht als gendered object ihre Position entfalten: weil sie die Schriften der Väter und Vorväter enthält und tradiert, in denen sich der IchErzähler auf dem Weg in die Moderne spiegeln und sich seiner Herkunft versichern kann. Damit geht einher, dass andere Traditionen und Objekte in der Bedeutungslosigkeit verbleiben. Der „Plunder“ ist vermutlich noch eine Zeit lang vorhanden, wird aber weder zum vererbungswürdigen Gut erklärt noch künftig erzählenswert sein – der Erzähler kehrt in das Haus nicht mehr zurück. Stifters Text erzählt aber auch, wie unter den Bedingungen der Moderne eine solche kulturelle Bedeutungsgebung zustande kommt. Die Brautkleider als weiblich konnotiertes Erbe zu narrativieren, gehorcht einer allzu bekannten Geschlechtercodierung in familial-hausfraulicher Sphäre, angesichts derer man den Text als Ausschluss des Weiblichen aus der dominanten Position der Bedeutungsstiftung lesen kann. Doch anhand der gendered objects wird hier 34 35
Ebd., 15. Ebd.
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zugleich eine andere Erinnerungslinie markiert, ein anderes poetisches Prinzip entworfen: Mit der Idee einer ‚Dichtung des Plunders‘ werden andere Potentiale der Bedeutungskonstitution zumindest angedeutet und Spielräume denkbar, wie es sie in der patrilinearen kulturellen Ordnung nicht gibt, weil die Festschreibung auf einen Meister-Signifikanten, der hier ‚das Sich-Einreihen in die väterlichen Schriften‘ verheißt, Klarheit und Eindeutigkeit der Zugehörigkeit, der Benennung, der Besitzverhältnisse usw. verbürgen soll. Doch durch diesen an der Oberfläche patriarchalen Text hindurch ist die Idee einer anderen Ordnung lesbar.
3. Körperdinge: Gendered objects der Trauer und des Begehrens (Theodor Storm, Guy de Maupassant) Dass Haar und Sexualität „einen untrennbaren Zusammenhang“36 bilden, ist Grundlage kultureller Zuschreibungen von sex und gender seit der Antike bis zur Gegenwart und wird zugleich in jeder Haarinszenierung aufs Neue vollzogen. Bei aller historischen Stabilität dieses Zusammenhangs sind für das 19. Jahrhundert doch spezifische kulturelle und wissenschaftliche Profilierungen für das Haar als gendered object zu konstatieren, wie es insbesondere als Gedächtnismedium und als Objekt des Begehrens gestaltet und narrativiert wird. Konkretisiert sei dies nun für das Haar zum einen als Gedächtnismedium in Form von Memorialschmuck und zum anderen als Objekt des Begehrens in Form eines Zopffetischs. In beiden Fällen handelt es sich um abgeschnittenes Haar, so dass seine Geschlechtercodierung nicht länger durch die beständige Reaktualisierung der Körperstilisierung vergeschlechtlichter Subjekte bestimmt ist, wie sie, so Judith Butler, durch „verschiedenartige körperliche Gesten, Bewegungen und Inszenierungen“37 erfolgt, die eben auch Haare und Frisur betreffen. Aber auch in abgeschnittenem, vom Körper getrenntem Haar verdichten sich inszenierte Geschlechtsidentität und Sexualisierung. Zudem verdankt sich die Faszinationsgeschichte des Haars vor allem seinem Changieren zwischen belebtem Körperteil und unbelebtem Objekt sowie seiner dauerhaften ‚Überlebensfähigkeit‘, auch wenn es vom Körper getrennt ist. Diese vielschichtige Faszination des Haars bezüglich Geschlecht und Sexualisierung, Lebendigkeit und Dauer setzen etliche literarische Texte des 19. Jahr-
36 37
Stephan 2001, Das Haar der Frau, 30. Judith Butler bestimmt die Geschlechterzugehörigkeit als „eine Identität, die stets zerbrechlich in der Zeit konstituiert ist – eine Identität, die durch die stilisierte Wiederholung von Akten zustande kommt. Zudem wird die Geschlechterzugehörigkeit durch die Stilisierung des Körpers instituiert und ist also als die sachliche Art und Weise zu verstehen, in der verschiedenartige körperliche Gesten, Bewegungen und Inszenierungen die Illusion eines beständigen, geschlechtlich bestimmen Selbst erzeugen“ (Butler 2002, Performative Akte und Geschlechterkonstitution, 301 f.).
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hunderts ein.38 Im Folgenden sollen Erzählungen von Theodor Storm und Guy de Maupassant auf das gendered object des Haars hin betrachtet werden, zunächst als Gedächtnismedium, dann als Fetisch. Theodor Storms Novelle Im Sonnenschein (1854) besteht aus zwei Teilen, deren Handlungen zwei Generationen auseinanderliegen. Im zweiten Teil betrachtet der junge Protagonist namens Martin immer wieder das Bild seiner Großtante Franziska, die ein Medaillon trägt, welches ihm „wie ein Siegel“39 vor der Erinnerung erscheint. Denn er wünscht sich Franziska lebendig vorzustellen und das Geheimnis ihres Medaillons zu lüften, kann er doch auf dem Bild nicht sehen, was es enthält. Aber es gelingt ihm nicht, er hat, wie es in der Erzählung heißt, „keine Macht“40 über die Vergangenheit. Um Franziskas Geheimnis erkennen zu können, muss etwas Anderes machtvoll einbrechen, und das geschieht im Wortsinne: Als ein Sarg in der Familiengruft einstürzt, tritt das Medaillon zutage. Martin bringt es triumphierend ins Haus: ,Der Maler durfte nur die Kapsel des Medaillons malen; der offene Kristall hat auf ihrem Herzen gelegen. Ich habe oft genug gefragt, was er verberge. Nun weiß ich es; denn ich habe Macht, es umzuwenden.‘ Und er legte ein verstäubtes Kleinod auf die Fensterbank, das, des grünen Rostes ungeachtet, der es überzogen hatte, als das Original zu der Zeichnung auf Tante Fränzchens Bilde nicht zu verkennen war. Das Sonnenlicht brach durch den trüben Kristall und beleuchtete im Innern eine schwarze Haarlocke.41
Dreifach eingekapselt also – Gruft, Sarg, Medaillon – ist eine Locke, von deren Existenz Martin nun zwar weiß, die aber nur von den Leserinnen und Lesern der Novelle decodiert werden kann: Im ersten Teil, der „wohl über sechzig Jahre“42 zuvor angesiedelt ist, war vom schwarzen Haar des schönen jungen Mannes die Rede, jenes Geliebten, den Franziska nicht heiraten durfte. Auch wenn die Gruft baufällig, der Sarg eingestürzt und das Medaillon vom Rost angegriffen sind, so ist es doch gelungen, eine schwarze Locke zu bewahren und ihre Erzählung, zumindest in Andeutungen, zu ermöglichen. Anders als die beiden Liebenden ist die Locke in der Erzählgegenwart des zweiten Teils noch da und übernimmt eine doppelte Funktion als gendered object: zum einen für den Liebesdiskurs, als Liebesgabe, und zum anderen für den Toten- bzw. Reliquienkult. Denn als pars pro toto des abwesenden Geliebten verweist die Locke auf seine Nähe, ja Präsenz, und in ihrer Unvergänglichkeit fungiert sie als Medium der Erinnerung und der Trauer. Trauerschmuck, ob er in Form von Medaillons bzw. Broschen die Locke eines Verstorbenen enthält oder gänzlich aus Haar gefertigt ist, ist im 19. Jahrhundert sehr populär. Dass dieser Schmuck nicht nur mit Trauer und Totenkult, son38 39 40 41 42
Vgl. Adomeit 2007, Aspekte einer literarischen Obsession. Storm 1995, Im Sonnenschein, 553. Vgl. dazu auch Vedder 2013, Dinge als Zeitkapseln. Storm 1995, Im Sonnenschein, 553. Ebd., 558. Ebd., 552.
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dern auch mit Liebes- und Freundschaftskulten verbunden ist43, verdankt sich zum einen der Tatsache, dass Topoi der Verschmelzung und Verewigung „sowohl im Prozess der Trauer als auch im Ideal der romantischen Liebe eine zentrale Rolle“44 spielen. Und zum anderen bilden die Absenz des Geliebten und die daraus folgende Todesdrohung bzw. -angst, wie Roland Barthes gezeigt hat, ein zentrales Konstituens des Liebesdiskurses seit 1800.45 In Storms Novelle ist das unvergängliche Haar demnach zunächst – eingekapselt und verborgen im Medaillon auf dem Herzen getragen46 – als Liebessouvenir kenntlich. So wie die schwarze Locke im ersten Teil der Erzählung − noch nicht eingekapselt − metonymisch auf den attraktiven Geliebten, auf lebhafte Jugend und eine offene Zukunft verweist. In der Erzählgegenwart hingegen ist dieselbe Locke durch die weitere Einschachtelung in Sarg und Gruft zum Trauerzeichen geworden, in dem sich die Geschichte materialisiert: Trauer um eine ungelebte Liebe – so wie das Haar zugleich belebt und unbelebt ist. Das Locken-Medaillon geht mithin nicht in einer symbolhaften Bedeutung, etwa für ewige Liebe, auf, sondern ist zugleich ein überdauerndes Reales, dessen beunruhigender Charakter sowohl seiner Materialität als auch seiner Zugehörigkeit zum Totenreich geschuldet ist. Konsequenterweise lässt Martins Großmutter es in den Sarg zurücklegen: „[E]s taugt nicht in die Sonne“47. Ein anderer Haarschmuck im Zeichen einer nicht gelebten Liebe prägt Guy de Maupassants Erzählung „Une Veuve“ (1882, dt. „Eine Witwe“). Darin erinnert sich eine alte Frau, wie sie als 17-jährige mit der leidenschaftlichen Liebe ihres jüngeren Cousins spielte, bis dieser sich das Leben nahm. Erzählanlass ist ein „mit blondem Haar umlegte[r] Fingerring“, nach dem ihre Nichte „beim gedankenlosen Spiel mit der Hand ihrer alten unverheirateten Tante“ fragt: „Sag, Tante, was ist das für ein Ring? Er sieht aus wie Haar von einem Kinde …“48. Was hier nur peripher wahrgenommen wird und als ein materiell wertloses, sentimentales Erinnerungsstück am Finger einer alten Frau daherkommt, entpuppt sich als einziger Zeuge eines hochdramatischen Geschehens, das die Frau zunächst nicht preisgeben will. Dann aber enthüllt sie die Geschichte dieses Haars, war doch das ‚Kind‘ ein Abkömmling einer passionierten männlichen Genealogie, in dem sich „alle Zärtlichkeit und alle Verstiegenheit seines Geschlechts in diesem, dem letzten, 43 44 45 46
47 48
„[A]ssociated not only with death but also with love and friendship“, vgl. Pointon 1999, Wearing Memory, 74. Richter 2010, Erinnerungsspuren im Material, 56. Vgl. Barthes 1984, Fragmente einer Sprache der Liebe, 27-32. Marcia Pointon ordnet ein solches Verbergen des Haars dem Liebes- und Trauerdiskurs nach 1800 zu: „[T]he hair which is in the seventeenth century readily recognizable as hair – it pretends to be nothing else – has by the time of the widely produced mourning jewellery of the nineteenth century – become ingeniously disguised. It is hidden in invisible or semivisible compartments that lie close to the body of the wearer, or it is disguised“ (Pointon 1999, Wearing Memory, 74). Storm 1995, Im Sonnenschein, 558. Maupassant 1973, Eine Witwe, 264.
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vereinigte“49. Nach dem Muster seines Vaters und Großvaters erhängt auch er sich wegen seiner unglücklichen Liebe. Aber diese Geschichte wirkt merkwürdig nachgetragen, und zwar im doppelten Sinne. Zum einen ist der Knabe eigentlich zu jung für diese Passion, wie immer wieder thematisiert wird, so dass sie wie eine Inszenierung des Knaben erscheint, die seine Identität erst erschaffen soll, eine Performance zwischen Gender und Genealogie – zumal der Junge explizit beschließt, die Liebesgeschichten seines Vaters und seines Großvaters, die ihm erzählt wurden, nachzuleben und nachzusterben. Und zum anderen ist die Zeit solcher amour-passion – und damit einhergehend auch die der zugehörigen Erzählungen – längst vorbei, wie die unverständiggerührte Reaktion eines Zuhörers am Ende zeigt: „Ist das nicht ein Jammer, wenn Menschen in dem Punkt sich alles so zu Herzen nehmen?“50 Dass die alte Frau sich damals zur Witwe des Jungen erklärte, „eine bräutliche Witwe“51, ihre Verlobung mit einem anderen Mann löste und seither den Ring aus der kindlichen Locke trägt, charakterisiert den Ring als das Überlebsel des ungelebten Lebens, den sie nurmehr „zitternd mit müder Geste“52 präsentiert. Insofern ist der Haarring hier ein vielfältiges vergeschlechtlichtes und generatives Objekt: zugleich das Haar eines Kindes (das sie nie hatte) wie das eines Liebhabers (den sie ebenfalls nie hatte), Trauer- und Liebespfand, ein auf An- und Abwesenheit verweisendes „Körperzeichen“53, lebendiges pars pro toto und totes Ding zugleich. In dieser zwiespältigen Bedeutungsgebung liegt auch einer der Schlüssel zum Fetischcharakter des Haars, wie er in literarischen Texten des späten 19. Jahrhunderts, kurz vor der Entwicklung der Freudʼschen Psychoanalyse, inszeniert wird. Guy de Maupassant hat in seiner Erzählung „La Chevelure“ (1884, dt. „Das Haar“) den Insassen einer Psychiatrie gezeichnet, der als Zopffetischist pathologisiert wird, während er früher als zwar leidenschaftlicher, aber gerade darin seriöser Sammler von Antiquitäten galt. Der Blick des Erzählers auf den Protagonisten steht von Anfang an im Zeichen der Pathologisierung, trifft er doch den „Geisteskranke[n]“ in dessen „Zelle“, wo er ihm vom diagnostizierenden Arzt vorgestellt wird: „Er ist einer der seltsamsten Kranken, die mir je vorgekommen sind. Er leidet an düsterem, erotischem Wahnsinn. Er ist eine Art Necrophile. Übrigens hat er ein Tagebuch geschrieben, das uns völlige Klarheit bringt über seine Krankheit.“54 Die Binnenerzählung gibt dieses Journal wieder, in dem der Sammler von seiner Liebe zu alten 49 50 51 52 53
54
Ebd., 266. Ebd., 270. Ebd., 267. Ebd., 269. „Getragener Trauerschmuck aus menschlichem Haar lässt sich aufgrund der vielfältigen kulturellen Konnotationen des Materials auch als Körperzeichen interpretieren, das Erinnerung an einen geliebten Menschen lebendig und zugleich die Erfahrung der Abwesenheit begreifbar machen konnte“ (Richter 2010, Erinnerungsspuren im Material, 55). Maupassant 1920, Das Haar, 86.
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Artefakten und darüber zu den längst verstorbenen Frauen, die diese Dinge einst berührt haben mögen, berichtet – und sich damit als explizit männlicher, das Weibliche begehrender Sammler inszeniert: O wie bedauere ich alle die, die den Honigmond des Sammlers mit dem Kleinod, das er gekauft, nicht kennen. Man liebkost es mit dem Blick, der Hand, als ob es lebte. Alle Augenblicke kehrt man wieder dahin zurück. Man denkt immer daran, wohin man auch geht, was man auch thut. Sein geliebtes Gedenken folgt einem auf die Straße, in Gesellschaft, überallhin. Wenn man heimkehrt, läuft man hin, noch ehe man Handschuh und Hut abgelegt, um es mit der Zärtlichkeit eines Liebhabers zu betrachten.55
Der passionierte Sammler verlebendigt und vergeschlechtlicht das Objekt, das hier ein italienisches Möbel aus dem 17. Jahrhundert ist – wobei diese Prozesse bald bis zum Wahnsinn gesteigert werden, als er in diesem Möbelstück ein Geheimfach entdeckt, in dem ein blonder Zopf auf schwarzem Samt liegt. Denn nun richtet sich die überwältigende Leidenschaft des Sammlers auf das Haar, in dem er zugleich eine unbekannte Tote liebt: „War es nicht seltsam, daß dieses Haar hier übrig geblieben, jetzt, wo kein Atom mehr übrig war von ihrem Leibe?“56 Dass für diese fetischistische Verlebendigung das abgeschnittene Haar ein ideales gendered object darstellt, verdankt sich zum einen der sexualisierten Verschiebung vom behaarten Haupt auf das Geschlecht, wie sie als Topos von Psychoanalyse und Kunst inszeniert und erläutert worden ist.57 Zum anderen ist für den Haarfetisch die gleichzeitige Präsenz von Leben und Nicht-Leben entscheidend, die Walter Benjamin für den Fetischismus insgesamt hervorgehoben hat: Im Fetischismus legt der Sexus die Schranken zwischen organischer und anorganischer Welt nieder. Kleider und Schmuck stehen mit ihm im Bunde. Er ist im Toten wie im Fleisch zuhause. [...] Die Haare sind ein Konfinium [Grenzgebiet; U. V.], welches zwischen den beiden Reichen des Sexus gelegen ist.58
Nimmt man Freuds Überlegungen zum Fetischismus hinzu, so ist es allererst die Loslösung des Fetischs als „alleinige[s] Sexualobjekt“, die den „pathologische[n] Fall“59 eintreten lässt. Diese Loslösung ist hier im abgeschnittenen Haar konkretisiert, dessen Feminisierung und Sexualisierung in Maupassants Erzählung eindrücklich beschrieben wird: Eines Nachts wachte ich plötzlich auf mit dem Gefühl: ich war nicht allein im Zimmer. […] Und wie ich in fieberhafter Hitze mich hin und her wälzte, stand ich endlich auf, um das Haar zu berühren. Es schien mir weicher, lebendiger, 55 56 57 58 59
Ebd., 90. Ebd., 92. Vgl. dazu Stephan 2001, Das Haar der Frau. Benjamin 1982, Gesammelte Schriften. Das Passagen-Werk, Band V/1, 118. „Der pathologische Fall tritt erst ein, […] wenn sich der Fetisch von der bestimmten Person loslöst, zum alleinigen Sexualobjekt wird“ (Freud 1972, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 64).
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denn sonst. […] Die Küsse, die ich darauf drückte, brachten mich beinah von Sinnen vor Glück. Ich nahm es mit zu Bett. Ich legte mich hinein, drückte es an die Lippen wie eine Geliebte, die man umarmt.60
Wenn am Ende der Geschichte der interessierte Erzähler den Arzt nach dem Haar fragt und dieser es ihm zuwirft, so dass der Zopf „einem goldenen Vogel gleich auf mich zuflog“, dann spürt der Erzähler „Ekel und Lust“ zugleich, „als reize mich etwas Seltsames, Entsetzliches“61. Auch wenn also der Zopf vom Fetisch des Sammlers indessen zum Beweisstück des Arztes und zum Erzählobjekt des Ich-Erzählers geworden ist, bleibt er doch ein sexualisiertes und verlebendigtes gendered object, das das Potential hat, den Erzähler in eine seltsam-entsetzliche Nähe zum ‚Geisteskranken‘ als gendered subject zu rücken. Damit rückt zugleich die Problematik einer Männlichkeit in den Blick, deren Fragilität und Krisenhaftigkeit in den Erzählungen um gendered objects in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so häufig verhandelt werden, wie nun an einem weiteren Objekt gezeigt werden soll.
4. Rätsel Wal, Rätsel Männlichkeit: Gendered objects in Herman Melvilles Roman Moby Dick Geradezu der Inbegriff eines gendered object, das sowohl fragile als auch heroische Männlichkeiten herausfordert, ist der weiße Wal in Herman Melvilles Roman Moby Dick (1851). Als ein besonders vitales Tier ist er nicht einfach mit Artefakten zu vergleichen, doch die Kategorie des gendered object, die die Vergeschlechtlichung „nicht-menschlicher Wesen“ (Latour) gerade im Verbund mit menschlichen Wesen als gendered subjects in den Fokus der Analyse rückt, kann in vielerlei Hinsicht die Bedeutung des weißen Wals erhellen. So ist Melvilles Wal einerseits ein zentrales Objekt sowohl der Jagd, die Kapitän Ahab verbissen verfolgt als auch der Beschreibungsversuche durch den IchErzähler Ishmael sowie der poetischen und epistemologischen Arbeit des Romans. Und er ist andererseits ein stark geschlechtercodiertes, männlichphallisches Objekt, das die Männlichkeitsentwürfe seiner Umgebung hervortreibt und prägt. Diese kollidieren beständig untereinander, wenn etwa Kapitän Ahabs ebenso leidenschaftlich wie zielgerichtet formulierter Lebenszweck, Moby Dick zu töten, auf Ishmaels unmethodisches, wenig zielbewusstes Erzählen trifft – „I care not to perform my task methodically“62, „God keep me from ever completing anything.“63 Während am Romanschluss Ahabs finale Jagd mit der tödlichen Umschlingung Moby Dicks endet, eröffnet Ishmaels Rettung durch einen schwimmenden Sarg die Frage der Bedeutungsgebung – 60 61 62 63
Maupassant 1920, Das Haar, 96. Ebd., 98. Melville 1994, Moby Dick, 203. Ebd., 149.
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und damit das Rätsel des Wals wie auch der Männlichkeit – aufs Neue: „The mystery of the whale, which remains as inconclusive and enigmatic as ever, is matched by the opening affixed to Ishmael’s story [...] as his identity escapes restrictive definitions of masculine behavior.“64 Ein Rätselobjekt bleibt Moby Dick also über den Roman hinaus, obwohl darin doch an zweierlei gearbeitet wird: einerseits diesen Wal zu jagen und sein „Rätsel“65 zu lösen, indem man ihn vernichtet; und andererseits sein Wesen zu erfassen, indem man alles, was es über Wale zu wissen gibt, erzählt. Dabei zeigt sich eine Diskrepanz zwischen der hochfunktionalen apparativen und dinglichen Einrichtung des Walfangschiffs einerseits und einer Haltung des Spekulativen, des Assoziativen andererseits. Zugleich tritt die große Spannbreite von Männlichkeitsentwürfen hervor, die mit den gendered objects, von denen dauernd die Rede ist, verbunden werden: Wenn die klar hierarchisierte Mannschaft an Bord klar zugewiesene Aufgaben beim Walfang mithilfe ihrer Waffen und Werkzeuge versieht; wenn der Männerbund der Seeleute mithilfe einer an den Mast genagelten Goldmünze unauflöslich geschlossen wird, um ihn auf die Jagd nach Moby Dick einzuschwören; wenn als Vorbote des künftigen Unglücks Ahabs Hut verloren geht und der ‚Wilde‘ Queequeg seinen Sarg zimmert; wenn Ishmael und Queequeg einander zum ersten Mal im Bett eines Wirtshauses begegnen, wo sie gemeinsam unter einer queeren Patchworkdecke schlafen, der im Roman das Kapitel „The Counterpane“ gewidmet ist.66 All diese Werkzeuge, Accessoires und Artefakte der Walfänger sind gendered objects, insofern sie im männlich geprägten Leben und Arbeiten dezidiert vergeschlechtlicht werden und zugleich die Geschlechterordnungen und Männlichkeitsvorstellungen – ob hegemonial oder marginal, fragil oder stabil – mitbestimmen. Der Roman buchstabiert den Topos ‚Mann gegen Wal‘ aus, seine Forschungsobjekte sind demnach zum einen der Wal, zum anderen die Männlichkeit. Jegliche Essentialisierung beider Objekte muss scheitern. Denn zunächst ist Ishmaels Perspektive auf die Dinge durch ‚epistemische Vagheit‘67 gekennzeichnet, insofern die Bestimmung seiner Erkenntnis- und Erzählobjekte immer wieder in die Schwebe gerät, wie im Roman formuliert: „So there is no earthly way of finding out precisely what the whale really looks like.“68 Und wie der Wal nie im Ganzen zu erkennen ist, weder von außen noch von innen – obwohl die Männer ihn sogar betreten –, so wird auch jede Idee essentieller Männlichkeit immer wieder desavouiert. Beispielsweise ist Ahabs feh64 65 66
67 68
Boone 1986, Male Independence and the American Quest Genre, 199. Melville 1994, Moby Dick, 525: „There’s a riddle […] – like a hawk’s beak it pecks my [Ahab’s; U. V.] brain. I’ll, I’ll solve it, though!“ [Herv. i. O.]. „Counterpane ist sowohl ein Wort als auch ein Objekt, in dem ästhetische, existentielle, unheimliche, erotische und vertragliche Aspekte ineinander übergehen“ (Schäfer 2012, Kapitel 4: The Counterpane, 29). Vgl. Röller 2005, Ahabs Steuer. Melville 1994, Moby Dick, 262.
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lendes Bein, das Moby Dick ihm nahm, durch eine Prothese aus Walbein supplementiert, die Ahabs Männlichkeit fokussiert und demontiert – ein ganz besonderes gendered object. Während der Schiffszimmermann die Prothese repariert, kommentiert er Stubbs (des Steuermanns) Sicht auf den Kapitän: Stubb knows him [Ahab; U. V.] best of all, and Stubb always says he’s queer; says nothing but that one sufficient little word queer; he’s queer, says Stubb; he’s queer – queer, queer; and keeps dinning it into Mr. Starbuck all the time – queer, Sir – queer, queer, very queer. And here’s his leg! Yes, now that I think of it, here’s his bed-fellow! has a stick of whale’s jaw-bone for a wife!69
Nicht nur die Supplementierung des menschlichen/männlichen Beins durch ein Stück Walknochen kennzeichnet Ahab als queer, sondern auch die Supplementierung einer Frau im Ehebett durch das Walbein. Es ist demnach eine ebenso vertraute wie sexualisierte Beziehung zur Walbeinprothese – wiederum ein pars pro toto, diesmal nicht aus Haar, sondern aus Knochen, aber ebenso belebt und unbelebt zugleich –, die Ahab mit ‚dem Wal‘ auf queere Weise verknüpft. Dass das Walbein als queeres Objekt und Kapitän Ahab als queeres Subjekt bestimmt sind, spiegelt sich zudem in der ihrerseits queeren Redeweise des Schiffszimmermanns mit ihrem Modus des exzessiven Zitats und der performierenden Wiederholung – zwei rhetorische Wege der Genderperformance, wie Judith Butler sie in Gender Trouble analysiert hat.70 Ähnlich ent-essentialisierend verfährt die Thematisierung des Walphallus im Kapitel „The Cassock“, „Der Überzieher“. Hier rückt ein erlegter Wal als überdeterminiertes gendered object in den Fokus, als sein Phallus exploriert und kastriert wird. Dass der zuständige Seemann die Haut des Penis überzieht – in pragmatischer Perspektive: um sich für die anschließende Arbeit zu schützen; in Gender-Perspektive: um zum Phallus zu werden –, demontiert zugleich Wal und phallozentrische Männlichkeit, wie Leland Person betont: [A]ny masculine construct represents a castration, a reduction of male identity to a particular physical embodiment. To wear the skin of the whaleʼs penis is to take the place of the penis, but this act of surrogation requires killing the whale, disembodying the phallus, and […] inhabiting an ‚empty phallus‘.71
5. Schluss In seinem eingangs bereits zitierten Essay „Semantik des Objekts“ hat Roland Barthes zwischen den „existentiellen“ und den „technologischen“ Konnotationen des Objekts unterschieden. Während die technologischen Konnotationen das Objekt als „das Hergestellte“ meinen, spricht Barthes mit den existentiel69 70 71
Ebd., 447. Vgl. Butler 1990, Gender Trouble. Person 2004, Melville’s Cassock, 114.
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len Konnotationen eine Objektauffassung an, nach der ein Ding „unmenschlich ist und eigensinnig, ein wenig gegen den Menschen, existiert; aus dieser Perspektive gibt es zahlreiche Entwicklungen, zahlreiche literarische Behandlungen des Objekts.“72 Die Literatur ist hier also der Ort eines Eigensinns und Eigenlebens der Dinge, das unabhängig von oder sogar „ein wenig gegen den Menschen“ stattfindet. Aber auch die technologisch konnotierten Objekte sind, so Barthes, nicht auf ihre instrumentelle Funktion zu reduzieren, sondern beinhalten einen sozialen und kulturellen Sinn, „der die Verwendung des Objekts übersteigt“73. Überhaupt besteht Barthes darauf, dass es im Sozialen kein Objekt außerhalb des Sinns gebe: Sobald ein nicht signifikantes Objekt von einer Gesellschaft übernommen wird – und ich sehe nicht, wie dies nicht [geschehen] könnte –, funktioniert es zumindest als Zeichen des Insignifikanten [...]; es bewirkt die Suche nach dem Sinn: es gibt Objekte, vor denen wir uns fragen: was ist das?74
Diese Frage „Was ist das?“ prägt alle hier diskutierten Texte des 19. Jahrhunderts, wenn sie die Truhe, die Mappe, das Medaillon, die Locke, den Zopf, den Wal als dezidierte gendered objects inszenieren und als vielschichtige Rätselobjekte erforschen. Über eine Reinszenierung von Geschlechterdichotomien hinausgehend, eröffnen diese Objekte Einsichten in die Vergeschlechtlichungsprozesse, die sie in ihren oft fatalen Konsequenzen vorführen, zum Teil auch karikieren oder subvertieren. Zudem beinhaltet ihr Status als Rätselobjekte, die die öffnende Frage des „Was ist das?“ provozieren, zugleich eine Eröffnung von Perspektiven auf das Verhältnis von Objekten und Subjekten, die nicht in Kategorien des Besitzens, Verstehens, Definierens aufgehen. Damit reflektieren sie zugleich ihre spezifische literarische Epistemologie, wenn die Erkennbarkeit bzw. Lesbarkeit der Dinge und ihrer Geschlechterordnungen auf die Probe gestellt wird: indem die Objekte in Zeit und Raum auftauchen und wieder verschwinden; indem sie durch Blicke und Worte, durch Wahrnehmungs- und Wissenssysteme nicht erschöpfend erfasst werden; indem sie im Spannungsfeld der Moderne und ihrer sich abzeichnenden Krisen agieren, für die „die reduzierte oder verweigerte Zeichenhaftigkeit der Dinge charakteristisch“75 ist; indem sie in konfliktreiche Geschlechtercodierungen eingebunden sind, die als grundlegende kulturelle Bedeutungsfunktion hervortreten.
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Barthes 1988, Semantik des Objekts, 188. Ebd., 189. Ebd., 196 [Herv. i. O.]. „Die Komponenten Materialität, Form und Funktion machen die Dinge für Affekt- und Symbolaufladungen bedeutsam. Sie stellen daher ein besonders kompliziertes Zeichensystem dar. Doch in der modernen Literatur wird gerade die reduzierte oder verweigerte Zeichenhaftigkeit der Dinge charakteristisch. Sie werden als Dinge wahrgenommen, eben weil sie nicht vollkommen funktional in der Handlung aufgehen, sondern eine Eigenlogik entwickeln oder gar lebendig werden.“ In: Frank/Gockel/Hauschild/Kimmich/Mahlke 2007, Fremde Dinge, 11.
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VOM ÜBERLEBEN DER DINGE. SAMMLUNG UND EXIL IN EDMUND DE WAALS DER HASE MIT DEN BERNSTEINAUGEN UND NICOLE KRAUSSʼ DAS GROßE HAUS
Seit einigen Jahren zeichnet sich in Geschichten, die um die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden kreisen, ein auffälliges Phänomen ab: Viele dieser Erzählungen entfalten sich in der Bezugnahme auf Dinge, die unmittelbar mit Enteignung, Exil und Verlust in Zusammenhang stehen und die so als materielle Zeitzeugen in den Blick kommen, welche zu ‚sprechen‘ vermögen, wo ihre ehemaligen Besitzer verstummt sind. Sicherlich spielt für das Hervortreten der Dinge in der Erinnerungskultur an die Shoah ganz allgemein auch eine Rolle, dass es immer weniger überlebende Zeitzeugen gibt, die Aufmerksamkeit auf Objekte der Erinnerung also ein Indiz für den Übergang vom kommunikativ vermittelten Gedächtnis zu einem sich nicht zuletzt in Museen und Sammlungen materiell manifestierenden kulturellen Gedächtnis ist.1 Zugleich mag die verstärkt geführte Debatte über die systematische Enteignung und Ausplünderung der Juden, die aktuell durch die Gurlitt-Affäre und die in ihrem Gefolge stattfindenden Recherchen von NS-Raubgut in Museen und Bibliotheken noch einmal intensiviert wurde, dazu beigetragen haben, dass Dinge als Zeugnisse wahrgenommen werden, die auf besondere Weise die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts vergegenwärtigen.2
1. Enteignete Dinge – Objekte der Erinnerung Dies akzentuiert etwa ein Dokumentarfilm aus dem Jahr 2008 (Menschliches Versagen), in dem der Regisseur Michael Verhoeven den verschiedenen, auch alltagsgeschichtlichen Aspekten der Arisierung jüdischen Besitzes nachgeht, 1
2
Assmann 1992, Das kulturelle Gedächtnis, 48-66. Nicht wie ein potentiell zusammensetzbares Puzzle, sondern wie eine nicht mehr zu bewältigende Fülle an Dingen des kulturellen Gedächtnisses erscheinen die Dinge, vgl. dazu den Beitrag von Dominik Finkelde „Der nicht aufgehende Rest“ im ersten Kapitel. Auf eine andere Zeugenschaft der Dinge im Kontext der Shoa reflektiert Gianluca Solla mit Blick auf die Fotografien differenzlos angehäufter Gegenstände vernichteter Menschen in den Konzentrationslagern, vgl. seinen Beitrag „Nach der Sammlung“ im vierten Kapitel. Die Zeugenschaft wandernder Dinge aus postkolonialer Perspektive untersucht Nina Jürgens in ihrem Beitrag „,One man’s trash is another man’s treasure‘“ ebenfalls im vierten Kapitel.
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an der sich nicht nur Behörden, sondern weite Teile der Bevölkerung, die sich offenbar scham- und skrupellos Möbel, Haushaltsgegenstände oder Kleidungsstücke ihrer ehemaligen jüdischen Nachbarn aneigneten, beteiligten.3 Der Film erzählt davon, wie Dinge, die für ihre vormaligen Eigentümer von einzigartigem, keineswegs nur monetärem Wert waren, diesen entrissen werden und auf welche Weise so Strukturen und Traditionen der Weitergabe von Wertgegenständen und Erinnerungsstücken, die wesentlich Kohärenz von Familien und (jüdischen) Gemeinschaften stiften, durchbrochen und zerstört worden sind. Raub und Aneignung fremder Dinge verweisen damit immer auch auf die Zerstörung von Identitäten, Familien und Gemeinschaften durch die Shoah. Die Dinge tragen, wie es Dan Diner einmal formuliert hat, „die Male der Ermordeten, der vernichteten Eigentümer gleichsam in sich […]. Die Sache wird zur eigentlichen Insignie des Geschehens“4. Der Film Verhoevens erzählt in einigen Episoden aber auch vom unerwarteten Wiederauftauchen der geraubten Dinge in neuen Kontexten und damit von ihrer potentiellen Widerständigkeit gegenüber dem Begehren totaler Aneignung bzw. Auslöschung des Anderen und Fremden: Sie lassen sich nicht vollständig und dauerhaft in Besitz nehmen, sondern zeugen, oft mit großer zeitlicher Verzögerung, für die Enteigneten.5 Zugleich wird allerdings auch deutlich, dass es eine einfache Restitution auch in dem – seltenen – Fall, dass ein ursprünglicher Besitzer noch lebt oder Nachkommen ausfindig gemacht werden können, nicht geben kann. Gerade indem ein ehemals ‚geliebtes Objekt‘6 infolge von Raub und Mord durch verschiedene Hände gegangen ist, kann es nicht mehr ohne Weiteres als eigenes aufgefasst werden. Vielmehr haben sich ihm die Spuren der Enteignung eingeschrieben, verweist seine ‚Lebensgeschichte‘7 nun vor allem auch auf Diskontinuitäten und Gewalt, womit die gegebenenfalls rückerstatteten Dinge auch für ihre ehemaligen und neuen Besitzer eine andere Bedeutung gewinnen. So materialisieren die ‚überlebenden‘ Gegenstände gerade auch Raub und Fremdbestimmung, das Abbrechen und Auslöschen von Lebens- und Familiengeschichten.8 Hiervon erzählt auch die Geschichte Amnon Weinsteins, Geigenbauer in Tel Aviv, der in seiner Werkstatt Geigen restauriert und sammelt, deren Schicksal aufs Engste mit Verfolgung und Shoah verknüpft ist. Selbst Sohn li3
4 5 6 7
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Verhoeven 2008, Menschliches Versagen. In dem Film kommt auch der Historiker Götz Aly zu Wort, dessen 2005 publiziertes Buch Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und sozialer Nationalismus seinerseits eine Debatte um die Bedeutung der Arisierung jüdischer Besitztümer auslöste. Diner 2008, Restitution, 18. Vgl. hierzu Bischoff/Schlör 2013, Dinge des Exils, 13 f. Vgl. Habermas 1999, Geliebte Objekte. In der kulturwissenschaftlichen Ding-Forschung wie schon bei Walter Benjamin findet sich immer wieder die Vorstellung von einer ‚Biografie der Dinge“, vgl. etwa Appadurai 1986, The Social Life of Things, 41 f. Auch Dan Diner spricht von der „Lebensgeschichte der Sachen“, Diner 2008, Restitution, 26. Vgl. hierzu Purin 1993, Dinge ohne Erinnerung.
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tauischer Juden, die sich 1938 noch ins Mandatsgebiet Palästina retten konnten, während die gesamte übrige Verwandtschaft ermordet wurde, hat er eines Tages begonnen, nicht nur die Geigen, die sein Vater, einer der ersten Geigenbauer in Palästina/Israel, von Überlebenden übernommen hatte, als besondere Zeitzeugen zu betrachten, sondern solche Geigen auch gezielt zu sammeln.9 Jedes einzelne Instrument erinnert an Menschen, die verfolgt und vertrieben wurden, die häufig nur deshalb überlebten, weil sie Mitglieder eines Lagerorchesters waren, das zu Zwangsarbeit oder zu den Routinen der Vernichtung aufspielen musste. Kein Wunder, dass sie nach 1945 auf diesen Instrumenten, die zudem meist in Deutschland hergestellt worden waren, nicht mehr spielen wollten oder konnten. Manches Instrument erinnert auch an Menschen, die nicht überlebten, etwa jene Geige, die ihr Besitzer aus dem Deportationszug warf, weil er ahnte, dass er sie an dessen Bestimmungsort nicht mehr brauchen würde. Für Weinstein ist die Restaurierung und Bewahrung der Streichinstrumente, die lange Zeit wegen ihrer Geschichte niemand haben wollte, ein Akt des Gedenkens, der künstlerische und ökonomische Erwägungen gleichermaßen übersteigt. Die individuelle, handwerkliche Sorge um die geschichtsträchtigen Instrumente ist immer auch Trauerarbeit, eine Weise der Vergegenwärtigung der Geschundenen und Ermordeten. Dieser Vergegenwärtigung korrespondiert auch die Versammlung der in viele Länder, nicht zuletzt infolge von Vertreibung und Exil verstreuten Instrumente. Dabei haben sie in Tel Aviv keinen festen und endgültigen Platz als Museumsobjekte gefunden. Indem Weinstein die „Violins of Hope“10 vielmehr regelmäßig für Gedenkkonzerte an junge Orchester in aller Welt, neuerdings auch in Deutschland, ausleiht, bleiben sie weiterhin als Musikinstrumente lebendig und in Gebrauch. Auf diese Weise stiften sie Beziehungen zwischen Menschen unterschiedlicher Zeiten, Räume und Herkünfte und ermöglichen eine Praxis des Gedenkens, die eine musealisierende Verortung der Shoah auf Distanz hält.11 Wie schwierig und prekär die Schwelle zwischen dem Bedürfnis nach einer individuellen Würdigung der singulären Objekte, nach einer Begegnung mit ihnen, die Berührung und Berührtwerden zugleich ist, einerseits und ihrer Überführung in museale Objekte, die möglichst vielen der nachkommenden Generationen zugänglich sein sollen und gerade deshalb der Berührung entzogen werden müssen, wird auch in einem weiteren Film deutlich, der sich mit dem Übergang des Ereignisses der Shoah in ein kulturelles Gedächtnis auseinandersetzt. In der Produktion Am Ende kommen Touristen von Robert Thalheim aus dem Jahr 2007 beobachtet der Zuschauer durch die Fokalisationsinstanz der Figur Sven, eines jungen Zivildienstleistenden in der Gedenkstätte 9 10 11
Vgl. Münch 2015, Violinschlüssel; Wagner 2015, Violinen jüdischer Besitzer als lebendiges Mahnmal. Vgl. Dümling 2014/2015, Violinen der Hoffnung. Von 55 Geigen der Sammlung hat Weinstein nur eine einzige an ein Museum, Yad Vashem, gegeben, das mit ihr eine besonders dramatische Geschichte von Widerstand und Vernichtung erzählt. Vgl. Münch 2015, Violinschlüssel.
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Auschwitz-Birkenau, zwei verschiedene Umgangsweisen mit den Objekten – hier vor allem den Koffern – der Ermordeten.12 Während die professionellen Konservatoren der Gedenkstätte die Koffer nach bestimmten Kriterien aufarbeiten, die die Spuren ihres Gebrauchs, vor allem aber auch Spuren der Zerstörung, möglichst belassen, bemüht sich Stanis aw Krzeminski, der hochbetagte Überlebende, der auf eigenen Wunsch noch immer in der Gedenkstätte arbeitet, darum, die Koffer möglichst zu reparieren, ihre Wunden und Verletzungen gleichsam zu heilen. Mit Amnon Weinstein verbindet diese fiktive Figur, dass ihr Bemühen um Restauration eng verknüpft ist mit den traumatischen Aspekten der eigenen (Familien-)Geschichte. Im Umgang mit diesen Dingen manifestiert sich ein Involviertsein, das als solches kaum übertragbar scheint. In der Konfrontation mit den Museumskonservatoren, die Krzeminskis Umgang mit den Koffern veraltet und unsachgemäß finden und ihm eine weitere Beteiligung an der Restaurationsarbeit verbieten, offenbar ohne die Bedeutung dieser Arbeit für ihn selbst zu begreifen, wird dies besonders deutlich. Die Frage nach der Legitimität einer Museumspraxis, die das Zerstörte konserviert, damit aber auch das Leid und die Erniedrigung der Opfer, die sich in ihnen materialisieren, gleichsam auf Dauer stellt, wird so als Dilemma aufgeworfen, für das es keine einfache Lösung geben kann. In wessen Namen bestimmen die Konservatoren über den richtigen Umgang mit den übrig gebliebenen Dingen, wenn nicht im Namen und im Sinne des ehemaligen Häftlings und Zeitzeugens? Offensichtlich ereignen sich im Übergang von der Generation der Überlebenden zu der der nachfolgenden Generation, die sich um eine Erinnerungskultur im Horizont von Gedenkstätten und Museen bemüht, entscheidende Verschiebungen gerade auch im Hinblick auf den Umgang mit den Dingen. Als Sohn von überlebenden Emigranten, der Verfolgung und Lager nicht am eigenen Leib erfahren hat, steht Weinstein gleichsam an der Schwelle zu einem gelösteren Verhältnis zu den Dingen, in die nicht nur die Schicksale der Verfolgten und Ermordeten gleichsam eingekapselt erscheinen, sondern die als Erinnerungsobjekte fungieren können, gerade indem sie in gegenwärtige kulturelle Praktiken, Begegnungen und Inszenierungen eingebunden werden. In Interviews hat Weinstein immer wieder hervorgehoben, dass die Geigen seiner besonderen Sammlung erst eigentlich im Konzert – in ihrer Sprache der Musik – zu sprechen beginnen, ihre Geschichte erzählen.13 Damit ist die Frage berührt, wie es jeweils vorstellbar ist, dass, wie eingangs formuliert, Dinge sprechen, wo Menschen verstummt sind bzw. wo es eine von Brüchen und Traumata bestimmte Geschichte zu bezeugen gilt. Im Fall von Weinsteins Geigen berührt natürlich nicht nur die bloße Tatsache, dass sie gespielt werden, sondern dass sie als Sammlung mit einer einzigartigen Geschichte präsen12 13
Thalheim 2007, Am Ende kommen Touristen. Vgl. dazu das Filmheft Bühler 2016, Am Ende kommen Touristen, der Bundeszentrale für politische Bildung. Vgl. Münch 2015, Violinschlüssel.
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tiert werden, die im Zusammenhang mit den Konzerten durch entsprechende Begleitinformationen, Gespräche und Diskussionen auch diskursiv vergegenwärtigt werden.
2. Erbschaft und Erinnerung: Edmund de Waals Roman Der Hase mit den Bernsteinaugen Eine Sammlung ganz anderer Art wird in einem neueren Erzähltext auf eindrückliche Weise zum Sprechen gebracht: Edmund de Waals 2010 erstmals erschienenes Buch A Hare with Amber Eyes, das in deutscher Übersetzung (2012) in den vergangenen Jahren eine starke Resonanz erfahren hat14, erinnert 150 Jahre Geschichte einer jüdischen Familie, die aus Odessa kommend im Paris der Jahrhundertwende und im Wien der Zwischenkriegszeit eine Zeit nahezu märchenhaften Wohlstands und kultureller Teilhabe erlebte und zwischen 1938 und 1945 brutal und nachhaltig enteignet, zerschlagen und zerstreut wurde. Die Schilderungen der „Arisierung“ des Vermögens der Familie Ephrussi, mit deren Geschichte der Autor de Waal auch der eigenen Familiengeschichte nachspürt, gehen gerade deshalb so nahe, weil dieser Episode bereits auf 270 Seiten ausführliche Beschreibungen vorausgegangen sind. Hier wird geschildert, unter welchen Bedingungen die kostbaren Bilder, Möbelstücke, Teppiche und Kunstobjekte in die jeweiligen Häuser der Familie gelangten und wie die umfangreiche Bibliothek allmählich, zahlreiche Lektüren, Gespräche, Begegnungen und Erwerbsgelegenheiten erinnernd, entstand und wuchs. Zu den Objekten, die nicht nur bereits zur Zeit ihres Erwerbs besonders wertvoll waren, sondern die auch die besondere Atmosphäre einer weltoffenen, kunstinteressierten, sinnlich-exotistischen Erlebnissen zuneigenden großbürgerlich-mondänen Lebensweise auf sehr spezifische Weise widerspiegeln, gehört eine umfangreiche Sammlung japanischer Netsuke, 264 kleine geschnitzte Figuren unterschiedlicher Gestalt und Herkunft, die Charles Ephrussi in den 1870er Jahren in Paris kaufte. 29 Jahre später, an der Schwelle des nächsten Jahrhunderts, schenkt er sie seinem Cousin Viktor, der in Wien heiratet, wo sie mitsamt der mitgeschenkten Vitrine im Ankleidezimmer seiner Frau Emmy ihren neuen Ort finden. Offenbar werden die kleinen Tier- und Menschenfiguren aus Buchsbaumholz oder Elfenbein, die weniger auf erhabene Sujets verweisen, sondern auf verschiedene Weise „eine Beziehung zum Alltagsleben haben“, die „witzig und frech und von durchtriebener Komik erscheinen“15, als nicht passend für den repräsentativen Bereich des Palais Ephrussi an der Wiener Ringstraße erachtet, trotz der Tatsache, dass Netsuke 14
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de Waal 2012, Der Hase mit den Bernsteinaugen [engl. OA 2010, A Hare with Amber Eyes]. Den überraschenden Erfolg des Buches dokumentiert auch die Tatsache, dass es nach seinem Erscheinen eine Zeit lang als Bestseller notiert wurde. Ebd., 86.
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zu sammeln im Wien der Jahrhundertwende längst Mode geworden war. Über die genauen Beweggründe, die das Paar bewogen, dieses wertvolle Hochzeitsgeschenk den Blicken der Besucher zu entziehen, kann es im Nachhinein keine Gewissheit geben. Die tastenden Überlegungen und Mutmaßungen, die de Waal anstellt, um der Lebenswirklichkeit seiner Urgroßeltern näherzukommen, werden immer wieder als eine Erzählung reflektiert, die von einer bestimmten, nachträglich (re-)konstruierenden Perspektive ausgeht. Dabei sind ihm die Netsuke, die merkwürdigen kleinen Dinge, zu denen die Menschen, in deren Besitz sie sich befanden, ein jeweils enges, aber doch auch je unterschiedliches Verhältnis hatten, die erworben, betrachtet, berührt, neu angeordnet und platziert und schließlich verschenkt wurden, Anstoß und Leitfaden dieses Erzählens. Bereits das Vorwort nimmt vorweg, was im letzten Kapitel der chronologischen Darstellung der Wege, die die Netsuke im Laufe der Zeit genommen haben, berichtet wird: Wie der Autor selbst die Netsuke nach dem Tod seines Großonkels Iggie (Ignaz), der zuletzt in Japan gelebt hatte, von dessen Lebensgefährten erhält, wodurch sie am vorläufigen Ende dieser Erzählung, die ihre Geschichte nachzeichnet, wieder nach Europa gelangen, wo die Sammlung in de Waals Haus in London einen neuen „Rastplatz“ erhält.16 Hier sollen seine „drei Kinder die Möglichkeit haben, die Netsuke kennen zu lernen, so wie es jene drei Kinder vor hundert Jahren durften.“17 Gemeint sind die Kinder von Viktor und Emmy, geboren zwischen 1899 und 1906, für die das Ankleidezimmer ein zentraler Ort der Kindheit ist, in denen die Netsuke nun nicht mehr nur „zur Intimität von Emmys Leben“ gehören, sondern auch zu ihrer Welt: „Die Netsuke sind nun Teil einer Kindheit, sie gehören zur Dingwelt der Kinder.“18 Als solche dürfen sie zu bestimmten Zeiten und Gelegenheiten aus der Vitrine genommen, aus der Sammlung herausgelöst und zum Spielen verwendet werden. Dieser kindliche Umgang mit ihnen, in denen auch noch das am sinnlichen Objekt orientierte Kunstinteresse ihres Sammlers Charles nachklingt, steht der Monumentalisierung der Sammlung als Teil einer repräsentativen oder musealen Ausstellung entgegen. Stattdessen akzentuiert er die Beweglichkeit der Dinge, die in immer neue reale und imaginative Kontexte eingebunden werden.19 Als Edmund de Waal, der vorerst letzte Erbe der Sammlung, gefragt wird, ob er sie nicht doch in Japan lassen sollte, woher sie schließlich ursprünglich stammten, entgegnet er mit Bestimmtheit, indem er gerade diese Beweglichkeit der Dinge als Einsatzmoment vielfältiger Geschichten, die zu erzählen sie herausfordern, hervorhebt: „Nein, entgegne ich. Objekte sind immer herumgetragen, verkauft, getauscht, gestohlen, wiedergefunden und verloren worden. Menschen 16 17 18 19
Ebd., 395. Ebd., 396. Ebd., 208. Mit Blick auf die grundsätzliche Beweglichkeit und die Wanderschaft von Dingen versucht Michael Niehaus Sammlungen in seinem Beitrag im zweiten Kapitel daher als „Sammelpunkte“ zu verstehen.
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haben immer Geschenke gemacht. Es geht darum, wie man ihre Geschichte erzählt.“20 Die Dinge haben keinen festen Ort, sie sind Mobilia, die weder durch ihren Entstehungszusammenhang noch durch ein besonders dramatisches Schicksal, in das sie verwickelt sein mögen, eindeutig und endgültig bestimmt werden könnten. Gerade dadurch bergen sie nicht nur das Potential, Zeugen vergangener Schicksale und Geschehnisse zu sein, sondern auch über diese hinauszuweisen, mithin der tödlichen – im 20. Jahrhundert so oft mörderischen – Gewalt endgültiger Identifizierung und Festschreibung zu entgehen. Die Netsuke kehren am Schluss also nicht zurück oder heim, sie erhalten lediglich einen neuen vorübergehenden Aufenthaltsort, einen „Rastplatz“, wo sie dazu herausfordern, ihrer Geschichte nachzuspüren, die auch eine Geschichte jüdischer Diaspora und Assimilation sowie der Zerstörung jüdischen Lebens in Europa ist. Dass die Netsuke ,überlebt‘ haben, bedeutet nicht, dass nicht zahlreiche andere Objekte aus jüdischem Besitz unwiderruflich zerstört wurden, was hier als Vorzeichen und Zeugnis der Vernichtung von Menschen ins Bild gesetzt wird. Bei de Waal steht hierfür die Schilderung, wie faschistischer Pöbel nach dem sogenannten Anschluss Österreichs in das Palais Ephrussi eindringt, Schränke durchwühlt, Dinge zu Boden wirft, unmittelbar greifbare Wertgegenstände als ,Souvenirs‘ mitnimmt und den Louis-XVI-Schreibtisch mit den Goldbronzebeschlägen und den in vergoldeten Hufen endenden Beinen aus Emmys Zimmer, auch er ein Hochzeitsgeschenk, aus dem Haus wirft: „Sie stoßen Emmy, Viktor und Rudolf an die Wand, drei von ihnen heben den Schreibtisch hoch und hieven ihn über das Geländer, bis er, Holz, Vergoldung, Intarsien splittern krachend, auf den Pflastersteinen im Hof unten zerschellt.“21 Diese „wilde, nicht genehmigte Arisierung“ ist nur der Vorbote einer viel umfassenderen, systematischen Arisierung des Besitzes der Ephrussi durch die Gestapo, die in den folgenden Monaten eine ganze „Welt an Dingen“22, zusammengetragen an unterschiedlichen Orten im Laufe einer bewegten Familiengeschichte, enteignet, verzeichnet und abtransportiert: „Es ist das seltsame Auflösen einer Sammlung, eines Hauses, einer Familie. Es ist der Augenblick, in dem etwas zerreißt, wenn große Dinge weggenommen und Familienbesitztümer, gekannt, gebraucht, geliebt, einfach Zeug werden.“23 Ohne die Dinge, die ihre Welt ausgemacht haben, gehen die Mitglieder der Familie Ephrussi ins Exil, zerstreuen sich in verschiedene Länder, finden auch nach 1945 nicht mehr zusammen.24 Bemühungen um Restitution des Vermögens bleiben weitgehend erfolglos und frustrierend, ab und zu tauchen einzelne Stücke auf, selten gelingt es angesichts komplizierter Bestimmungen und zu erbringender Nachweise, sie zurückzugewinnen. Selbst wenn es gelänge, wäre es doch nicht die Wiederherstellung eines ursprünglichen Zustands, son20 21 22 23 24
Ebd., 394. Ebd., 279. Ebd., 288. Ebd., 290. Vgl. ebd., 301 bzw. 328.
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dern nur das momenthafte Aufscheinen eines Zusammenhangs, der sich im selben Moment als ein zerstörter zeigt: „Einen Atemzug lang kannst du ein Leben zusammenstückeln, einen zerborstenen Hintergrund für eine Familie in der Diaspora.“25 Es sind daher auch nicht diese verlorenen Dinge, denen die Erzählung nachspürt, die sie in Gang setzen und am Ende auf eine Zukunft hin öffnen, sondern die Netsuke, die als einzige auf wundersame Weise vor dem Zugriff der Plünderer gerettet wurden. Nach und nach hatte Anna, die nichtjüdische Zofe von Emmy, die zurückblieb, als ihre Herrschaften verhaftet wurden, unbemerkt die japanischen Figuren aus der Vitrine genommen und in ihrer Matratze versteckt, während das Haus und seine Dinge von den neuen Machthabern in Besitz genommen wurde. Als sie nach 1945 mit Elisabeth, der ältesten Tochter, zusammentraf, übergab sie ihr die geretteten Netsuke vollständig und unversehrt. Mit der Netsuke-Sammlung hat sie nicht in erster Linie einen, wenn auch winzigen Teil eines wertvollen Besitzes gerettet, sondern vor allem Erinnerungsobjekte, die Kinderspiele und die privat-intime Sphäre ausgelöschten Lebens – Emmy hatte sich in den ersten Monaten des Exils in der Tschechoslowakei selbst das Leben genommen – vergegenwärtigt. Die Erzählung legt nahe, dass bestimmte Eigenschaften gerade dieser Dinge ihre Rettung begünstigten. Netsuke sind „klein und hart“26, so heißt es, sie „werden kaum zerkratzt, kaum zerbrochen: Sie sind geschaffen, herumgestoßen zu werden.“27 Sie sind beweglich und fordern die Berührung heraus, können in die Hand genommen, am Körper mit sich getragen und wie in diesem Fall – in der Schürze einer Frau – einem gewaltsamen Zugriff entwendet werden. Für Anna, so stellt es sich der Erzähler vor, war jedes einzelne der Netsuke ein Widerstand gegen den Versuch, eine Geschichte oder vielmehr eine Fülle von Lebensgeschichten, die sich mit ihnen verbinden, zum Verstummen zu bringen und dem Vergessen anheim zu geben.28 Dabei wird über die große Nähe und Ähnlichkeit zwischen Dingen und Geschichten nachgedacht: „Nicht nur Dinge tragen ihre Geschichten in sich. Auch Geschichten sind eine Art Dinge. Geschichten und Objekte haben etwas gemeinsam, eine Patina.“29 Die Erbschaft der Netsuke-Sammlung, die am Beginn dieser Erzählung steht, veranlasst dazu, diesen Spuren nachzuspüren, herauszufinden, wovon sie bzw. ihre einzelnen Objekte Zeugen waren30, weitere Objekte und Dokumente der Vergangenheit zu finden und sich verdichtende Zusammenhänge zu erkennen und zu vermitteln. Dass dabei immer auch Deutungen und Ausschmückungen im Spiel sind, die nur zum Teil von den geerbten Erinnerungsobjekten gedeckt sind, dass den Dingen immer ein Rest von Opazität bleibt, sie keine einfachen
25 26 27 28 29 30
Ebd., 328. Ebd., 317, vgl. auch 147. Ebd., 317. Vgl. ebd. Ebd., 394 f.; vgl. auch ebd., 30. Vgl. ebd., 29.
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Geschichten erzählen31, steht dem Bedürfnis, durch sie den Menschen, die sie berührt, in deren Leben sie einen mehr oder weniger bedeutsamen Platz eingenommen haben, näher zu kommen, nicht entgegen. Im Gegenteil wird gerade durch die verbleibende Fremdheit, die einen endgültigen Zugriff auf die Dinge, ein abschließendes Verstehen der durch sie eröffneten Zusammenhänge verwehrt32, die Notwendigkeit, sich weiter um ihre Geschichte(n) und auch deren Fortgang zu besorgen, akzentuiert. Während damit einerseits allgemeine Fragen nach dem Verhältnis von Dingen, Geschichten und Erinnerung am Beispiel der Netsuke verhandelt werden, so wird doch andererseits ihre Spezifik in diesem Erinnerungskontext hervorgehoben. Als ehemals in Japan verfertigte Kunstobjekte stehen sie in keinem kulturellen Herkunftszusammenhang mit der jüdischen Familie, die in verschiedenen europäischen Metropolen zu Ansehen und Reichtum gelangte. Allerdings scheint es charakteristisch, dass die Dinge, die in diesem Kontext nie ganz ihre fremd-exotische Wirkung verloren, auf besondere Weise für diese Familie zu sprechen scheinen, die als assimilierte keinen Bezug mehr zu explizit jüdischen Dingen bzw. Kultobjekten hat. Vielmehr haben sich deren Mitglieder als Kunst- und Literaturkenner und Sammler in einem allgemeinen Sinne hervorgetan. Dass die Sammlung hier weder durch die Herkunft ihrer einzelnen Objekte noch durch die Beheimatung des Sammlers einen festen Ort besitzt, erscheint in dieser Perspektive ebenfalls symptomatisch, sind ihr damit doch grundsätzlich Mobilität und eine gewissermaßen exilische Existenzweise eingeschrieben. Zwar bringt Iggie die Netsuke, wie er sagt, nach Japan zurück, als er dorthin übersiedelt, wo sie tatsächlich „wieder japanisch“33 werden, indem sie sich in eine kulturelle Umgebung, die ihnen ähnlich ist, einfügen und auf japanische Kunstkenner treffen, die ihren Wert einschätzen können. Aber auch in Iggies Haus in Tokio, das japanische Architektur und Kunst mit amerikanischen und europäischen Artefakten, einige davon restituiertes Raubgut aus dem ehemaligen Familienschatz34, kombiniert, treten die Netsuke in vielfältige Kontexte. Auch hier sind sie nicht Zeugen einer bestimmten Herkunftskultur, vielmehr bezeugen sie kulturelle Vernetzungen, Vermischungen und Kombinationen, die an Aufgeschlossenheit gegenüber Fremdem, exotistische Sammelleidenschaft, aber auch an gewaltsame Enteignung und Entortung bzw. an eine unwahrscheinliche Rettung erinnern. Als solche reflektieren sie die Geschichte einer Familie, die bereits im 19. Jahrhundert „von Odessa nach St. Petersburg, Berlin, Frank31 32 33 34
Ebd., 30. Vgl. hierzu auch Kimmich 2011, Lebendige Dinge, z. B. 11. de Waal 2012, Der Hase mit den Bernsteinaugen, 348. Vgl. ebd., 352 f.: „Iggies umfassende Büchersammlung, über japanische Kunst, Proust neben James Thurber und stapelweise amerikanische Krimis, füllt die Borde. […] Neben Iggies japanischen Schriftrollen die paar Brocken Restitution, die Elisabeth Wien abgerungen hat. Auch hier ein bisschen Fraternisieren: Ringstraßenstil in Japan. […] Iggie hatte die Fähigkeit, es sich einzurichten, wo immer er war […]. In seinem eklektischen Ambiente in Japan nahm er seine japanischen und westlichen Freunde sehr herzlich auf.“
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furt und Paris“35 gezogen war, und die im 20. Jahrhundert durch Vertreibung und Exil weitere Zerstreuungen erlebte. Wie Iggie, der „Adoptiv-Amerikaner“36, der zuletzt in Tokio seine österreichische Staatsbürgerschaft wieder annimmt, lassen sich die Netsuke nicht eindeutig verorten, besteht ihre „Biografie“ gerade aus Schnittpunkten, Überlagerungen und Mehrfachzugehörigkeiten, die auf Beweglichkeit, Anpassungsfähigkeit, aber auch eine gewisse Unverwüstlichkeit verweisen.37 Der Text geht diesen Korrespondenzen auf subtile, unaufdringliche Art nach, er deutet an, inwiefern die mobilen kleinen Dinge in besonderer Weise diasporische Existenz und Exilschicksal symbolisieren. Im zu Beginn formulierten Wunsch des Erzählers, unbedingt wissen zu wollen, „wie dieses hart-weiche, leicht zu verlierende Objekt überlebt hat“38, das er aus der geerbten Sammlung herausgenommen und in der Tasche mit sich herumgetragen hat, artikuliert sich auch der Wunsch, die Umstände des Lebens und Überlebens seiner jüdischen Vorfahren, die schließlich auch Bedingung seiner eigenen Existenz sind, nachzuzeichnen. Allerdings stößt er gerade wo es um das Überleben geht auf Grenzen der Übertragbarkeit und Deutung: Dass die Netsuke in Annas Tasche, in ihrer Matratze überlebt haben, ist ein Affront. Ich kann es nicht ertragen, dass daraus etwas Symbolisches wird. Warum sollten sie den Krieg in einem Versteck überlebt haben, wo es so vielen versteckten Menschen nicht gelungen ist? Ich kann Menschen, Orte und Dinge nicht mehr zusammenfügen. Diese Geschichten machen mir zu schaffen.39
Angesichts der Shoah und der Unwahrscheinlichkeit, sie überlebt zu haben, erscheinen Geschichten, die jüdisches (Über-)Leben mit bestimmten Besonderheiten jüdischer Existenzweise und Geschichte, etwa mit Mobilität, kultureller Aufgeschlossenheit und Mehrsprachigkeit in Verbindung bringen, natürlich problematisch. Die überlebenden Dinge können keine Antwort auf das sich aufdrängende ‚Warum‘ geben, sie können als Sammlung nicht zeichenhaft für eine Gemeinschaft stehen, von der hier erzählt wird. Der Text reflektiert dies und damit die Grenzen seiner erzählerischen Möglichkeiten, Verstreutes aufzufinden und Zusammenhänge aufzuspüren, Verlorenes, Vergessenes zu erinnern. Zugleich wird aber auch dadurch, dass die Materialität der erzählten Dinge hervorgehoben wird, der Akzent nicht auf die repräsentierende Funktion der Dinge, Zeichen für anderes zu sein, gesetzt, sondern auf sinnliche Begegnungen und Erlebnisse des Berührtwerdens, die nicht restlos in sinnstiftende Erzählungen überführt werden können. Insofern stellt die Hinwendung zu den Dingen, die der Erzähler zu Beginn dem Vorhaben, eine 35 36 37 38 39
Ebd., 46. Ebd., 352. Einer derartigen Überlagerung von Zuschreibungen, die wandernde Dinge erfahren, untersucht Katja Schubert in ihrem Beitrag „Das wandernde Taschentuch“ im ersten Kapitel. de Waal 2012, Der Hase mit den Bernsteinaugen, 25. Ebd., 322.
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„sepiagetönte Familiensaga“40 als Verlustgeschichte zu schreiben, entgegenstellt, eine Bescheidung der Erzählung dar, die auch Konzentration auf Objekte in ihrer Dinglichkeit ist, welche Momente der Fremdheit und des nicht in Sprache Übersetzbaren bewahrt.
3. Aus den Trümmern der Geschichte: Erzählen als Sammlung in Nicole Kraussʼ Roman Das große Haus Im selben Jahr wie de Waals am Leitfaden der Dinge erzählte jüdische Familiengeschichte erschien in den USA Nicole Kraussʼ Roman Great House (2011 als Das große Haus auf Deutsch41), der ebenfalls auf gewaltsame Entortungen, Exile und Migrationen im 20. Jahrhundert zurückblickt, indem er Wege und Schicksale von Dingen in den Fokus rückt. Genauer gesagt handelt es sich vor allem um einen großen Schreibtisch, der in den verschiedenen Teilen der Erzählung, die zunächst kaum miteinander verknüpft erscheinen, eine zentrale Rolle spielt. Auch hier wird eine spezifisch jüdische Generationengeschichte mit Bezug auf ein Objekt erzählt, das eine besondere Signifikanz im Kontext jüdischer Gemeinschaft und Überlieferung hat, das aber gerade nicht im Sinne einfacher Erbfolge weitergegeben wird und Kohärenz stiftet, sondern infolge von Deportation, Inhaftierung, aber auch als Leih- oder Liebesgabe immer wieder seine Orte und Besitzer wechselt. Diese erweisen sich – ähnlich wie in de Waals Geschichte – daher immer nur als temporäre Hüter oder besser Gefährten des Tisches, von denen keiner seine ganze Geschichte kennt. Indem ihre eigene Geschichte jeweils intensiv mit dem Tisch verknüpft ist, weist dieser daher auf ihr Eingebundensein in andere Geschichten, deren Vernetzung im Laufe der Erzählung zumindest teilweise aufgedeckt wird. Von den insgesamt acht Kapiteln, die in zwei Teilen so angeordnet sind, dass je ein Kapitel aus dem zweiten Teil eine Geschichte, die in den Kapiteln des ersten Teils begonnen wurde, wieder aufnimmt, gestalten sechs verschiedene Episoden aus der Geschichte des Schreibtisches. Diese Episoden, die von unterschiedlichen Erzählerfiguren berichtet werden, sind nicht chronologisch angeordnet, die Geschichte des Tisches kann also nur allmählich rekonstruiert werden durch eine quasi-detektivische Lektüre, die nach und nach auftauchende Puzzleteile zusammenfügt. Dabei bleiben jedoch Lücken und Unschärfen, die durch Andeutungen und Mutmaßungen aus den Perspektiven der jeweiligen Erzähler entstehen und die, da es keine übergeordnete Erzählinstanz gibt, nicht aufgelöst werden. Das Gefühl der Figuren, mit dem Schreibtisch ein Möbel im Haus zu haben, das in besonderer Beziehung zum Eigensten steht, zugleich
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Ebd., 28. Krauss 2011, Das große Haus [engl. OA 2010, Great House].
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aber Aspekte des Unheimlich-Fremden hat42, wird auf diese Weise auch in der komplexen Erzählstruktur reflektiert. Die erste Figur, die den Schreibtisch beherbergt, ist Nadia, eine New Yorker Schriftstellerin, deren Wohnung nach einer Trennung und dem damit einhergehenden Verlust an Einrichtungsgegenständen fast leer steht. Sie übernimmt den Schreibtisch zunächst als vorübergehende Leihgabe von einem jungen Dichter namens Daniel Varsky43, der in seine Heimat Chile zurückzugehen beabsichtigt und eine „Herberge für seine Möbel“44 braucht. Während sie vorher in Möbeln gewohnt hatte, die ihr ehemaliger Freund von seiner Mutter geerbt hatte und in deren Mitte er „wie ein sitzender Buddha“45 thronte, richtet sie sich nun in den Dingen ein, die ihr ein Fremder überlässt: ein Sofa, ein Bücherregal, eine Truhe, die als Tisch dienen kann, und ein großer Schreibtisch mit vielen Schubladen. Dieser Schreibtisch, von dem Varsky behauptet, er sei für eine Weile von Lorca benutzt worden, erlangt für Nadia, die mit den neuen Möbeln die Chance zu einem Neuanfang verbindet, eine wachsende Bedeutung, da sie ihren ersten Roman und schließlich sechs weitere an ihm geschrieben hat. Nachdem sie Nachricht erhalten hat, dass der ursprüngliche Besitzer des Tisches wegen seiner Aktivitäten gegen das Pinochet-Regime inhaftiert und wahrscheinlich ermordet wurde, betrachtet sie ihn als ihr Eigentum, das jedoch immer überschattet bleibt von einem dunklen Geheimnis und der Erinnerung an ein gewaltsam ausgelöschtes Leben. Immer wieder drängt sich ihr die Vorstellung auf, dass er ihr nie wirklich gehört hatte und nie gehören würde, dass sie „nur seine zufällige Hüterin war“ und dass der „wahre Dichter, der daran sitzen sollte, höchstwahrscheinlich tot war.“46 Solange der Tisch da ist, gibt sie sich der Illusion hin, auch gut ohne ihn leben, ihn jederzeit durch ein beliebiges anderes zweckmäßiges und vielleicht weniger belastetes Möbelstück ersetzen zu können. Als jedoch eines Tages eine junge Frau sie aufsucht, die behauptet, die Tochter des Chilenen zu sein und seinen Schreibtisch zurückerbittet, wird ihr bewusst, dass ihr Leben viel stärker mit dem Tisch verbunden gewesen war als sie es sich eingestehen wollte, dass sie im Begriff ist, „den einzigen bedeutsamen Gegenstand [ihres; D. B.] schriftstellerischen Daseins, die einzige physische Repräsentation all 42
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44 45 46
Hierin lassen sich implizite Bezüge zu Freuds Ausführungen zum Unheimlichen ausmachen, das nicht nur ausdrücklich mit einem Changieren zwischen Mensch und Objekt, Belebtem und Unbelebtem in Zusammenhang gebracht wird, sondern auch mit Wiederholungsstrukturen, die Phänomene der „Ich-Verdopplung, Ich-Teilung, Ich-Vertauschung“ implizieren. In Das große Haus erscheinen die verschiedenen Erzählstränge durch Wiederholungen, die sich vor allem im immer wieder auftauchenden Schreibtisch manifestieren, zueinander in Beziehung gesetzt. Sie alle sind zugleich Teil einer traumatisch konnotierten Konstellation. Vgl. Freud 1970, Das Unheimliche, 250 und 257. Die Geschichte um Daniel Varsky, die als Keimzelle des Romans verstanden werden kann, wurde 2007 bereits als Kurzgeschichte unter dem Titel „From the Desk of Daniel Varsky“ in Harperʼs Magazine publiziert. 2008 wurde sie für die angesehene Sammlung The Best American Short Stories ausgewählt. Krauss 2011, Das große Haus, 14. Ebd. Ebd., 266.
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dessen, was ansonsten schwerelos und ungreifbar war“47, zu verlieren. Nachdem der Tisch abgeholt worden ist, um nach Jerusalem, den Wohnort der jungen Frau namens Leah Weisz, verschifft zu werden, macht sie sich selbst auf den Weg dorthin, seinem Weg und seiner Geschichte nachfolgend. Derart in Erwartung, den Schlüssel zu den verborgenen Zusammenhängen, auch zu uneingelösten Erwartungen und Glücksversprechen ihres eigenen Lebens, zu finden, begegnet sie in Jerusalem aber vor allem Phantomen, Stellvertretern und Vexierbildern, die das gesuchte Eigentliche, Antworten oder gar Erlösung, die dieser Ort auf paradigmatische Weise zu versprechen scheint, erst recht in ungreifbare Ferne rücken lässt. Stattdessen stößt sie buchstäblich mit einem ihr unbekannten Menschen zusammen, den sie mit dem Auto anfährt, ein mit Blick auf die Erzählsituation folgenreiches Ereignis, da die gesamte Episode rückblickend von ihr erzählt wird, während sie am Krankenbett des bewusstlosen Verletzten sitzt. Dieser stumme Adressat ihrer Bekenntnisse und Reflexionen ist, so legt es der Text nahe, der Protagonist derjenigen Episoden des Romans, in denen der Schreibtisch eigentlich keine Rolle spielt. Sie handeln – in der Du-Perspektive als Ansprache seines Vaters an ihn – von einem Jungen, der äußerlich sorgenlos und geliebt in Israel aufwächst, tatsächlich aber offenbar von den traumatischen Geschichten seiner jüdischen Vorfahren in Europa geprägt ist, die seine Eltern ihm durch ihre eigenen Ängste und Schuldgefühle unausgesprochen weitergegeben haben. Dass er eigentlich Schriftsteller hatte werden wollen, verbindet ihn mit Nadia und weiteren Figuren der Erzählung und rückt das Bedürfnis zu schreiben und ein belastendes, unheimliches und unausgesprochenes Erbe in eine gemeinsame Konstellation. Dass der Schreibtisch in dieser Episode abwesend ist, deutet auch darauf hin, dass das Schreiben hier nicht zugelassen, das Bedürfnis zu einem schreibenden Erkunden verborgener Verletzungen und verdrängter Zusammenhänge unterdrückt wird, weil der Vater, ein überzeugter Zionist, dies nicht für einen vernünftigen und ihrer Lebenssituation angemessenen Beruf hält. Tatsächlich schreibt Dov nur für sich – Geschichten, die auf beklemmende Weise von Versuchen, Schmerz ‚abzuleiten‘, erzählen –, wird dann aber wie sein Vater Richter, allerdings nachdem er Israel infolge von Kriegserlebnissen verlassen und sich in London niedergelassen hat. Nach dem Tod der Mutter gibt er jedoch überraschend sein hohes Richteramt auf und kehrt nach Israel zurück. Dort ereignet sich, während der Vater zu Hause auf ihn wartet, jener Unfall, der Anlass und Hintergrund der Erzählung ist und der Figuren, Schauplätze und Geschichten verschiedener Episoden des Textes in Kontakt bringt. Nadias Erzählung, die immer wieder von der Anrede „Euer Ehren“ zäsuriert wird, ist also an einen Richter gerichtet, der sich nicht mehr in einem offiziellen Richteramt befindet und zudem bewusstlos ist, dennoch oder gerade deshalb werden Erzählen und Richten in einen engen Bezug zueinander gebracht. Angesichts der Tatsache, dass die richtende Instanz körperlich anwesend und doch abwesend, ihrer Sou47
Ebd., 36.
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veränität entkleidet ist, kommt dem auf sie ausgerichteten Erzählen, das sie regelrecht am Leben zu halten scheint, eine besondere Bedeutung zu. Dabei ist bemerkenswert, dass die erzählende Instanz an diesem Zustand keineswegs unschuldig ist, es wird also definitiv kein souveräner, unbeteiligter Standort restituiert, stattdessen wird die Verstrickung aller Instanzen in Schuldzusammenhänge aufgewiesen, die nicht als isolierte Fälle behandelt und abgegolten werden können. Das Erzählen – und hier ist auch ein selbstreflexives Moment des Textes zu erkennen – bringt diese Zusammenhänge zum Vorschein, ohne doch Brüche, Ungewisses und Verluste heilen oder überwinden zu können. Dinge wie der große Schreibtisch fungieren in dieser Romanerzählung immer auch als Beweisstück, Indiz oder Corpus Delicti, das für zu entschlüsselnde Szenen der Gewalt steht, wobei gerade der Schreibtisch hier natürlich zugleich immer auch auf das Schreiben bzw. Erzählen selbst verweist. Dabei geht es um die materielle Dimension des Tisches, seine Form und Funktion als Möbelstück, das mitbestimmt, wie sich jemand in seinem Leben und in der Welt einrichtet, wie auch seine Funktion als Symbol für die kulturschöpferische Tätigkeit des Schreibens.48 Dass Letzteres auch unterdrückt, verboten oder gänzlich unmöglich gemacht werden kann, wird in der Episode um Dov und seinen Vater nur angedeutet – tatsächlich verweist die Abwesenheit des Schreibtisches hier in verschobener Weise auch auf Szenen der Beraubung, auf Enteignung, Deportation und Internierung, in denen nicht einmal mehr ein Tisch und Schreibwerkzeug zur Verfügung stehen. Mit dem Verstummen der Zeugen, den Brüchen in der Überlieferung, ist auch der Zivilisationsbruch der Shoah mit angedeutet, der im Hintergrund des Romans vielfach präsent ist, auch wenn er nur in wenigen Passagen explizit evoziert wird. Vor allem wird deutlich, dass angesichts der Tatsache, dass es kaum direkte Zeugen (mehr) gibt – was zum einen mit der Logik der Vernichtung zu tun hat, keinen Zeugen am Leben zu lassen, zum anderen mit der zeitlichen Distanz und dem Verschwinden der letzten Überlebenden – stellvertretend erinnert bzw. erzählt werden muss. Das Prinzip der Stellvertretung organisiert alle Episoden des Romans: Nadia beherbergt Varskys Schreibtisch, der dessen grausames Schicksal verkörpert49, aber auch ein zum Verstummen gebrachtes dichterisches Potential erinnert, das auf verschobene Weise bei ihr zur Entfaltung kommt. Nach dem Unfall spricht sie für den Verletzten Dov und zwar in einem doppelten Wortsinn: Sie erzählt, wo dieser nicht erzählen kann und sie spricht ihn an, damit er nicht stirbt. Anstatt den Schreibtisch, nach dem sie sucht, und den verschwundenen Chilenen, den sie in einem jungen Mann, dem sie in Jerusalem begegnet, inkarniert glaubt, zu finden, stößt die New Yorker Schriftstellerin dort auf einen ihr unbekannten Menschen, dessen Schicksal plötzlich im Wortsinn mit ihrem kollidiert.
48 49
Vgl. hierzu allgemeiner auch Pelz 1996, Der Schreibtisch. Ebd., 266.
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Stellvertretung scheint in hohem Maße auch strukturbildend für eine weitere Episode des Romans, in dem wiederum eine Autorin, Lotte Berg, im Zentrum steht, die ihrerseits eine Zeit lang im Besitz des Tisches war, an dem auch sie ihre Texte schrieb. Berichtet wird hier aus der Sicht ihres Ehemannes, einem Literaturprofessor in Oxford, der nach dem Tod seiner Frau versucht, Seiten ihres Lebens aufzuspüren, die sie ihm immer verborgen hatte und die offenbar ein dunkles Geheimnis bergen. Dabei weiß er von ihrem Schicksal, weiß, dass „ein abgrundtiefer Verlust“50 ihr Leben bestimmt hatte: Nachdem sie mit den Eltern aus Nürnberg in ein Transitlager an der polnischen Grenze deportiert worden war, ergibt sich für die Achtzehnjährige 1939 die Möglichkeit, einen Kindertransport nach England zu begleiten. Der Verlust der Eltern, die in den Lagern sterben, verfolgt sie ein Leben lang. Was ihr Mann zunächst nicht weiß, aber nach ihrem Tod durch Recherchen und Gespräche rekonstruiert, ist, dass sie 1948 in England einen Sohn bekam, den sie per Zeitungsannonce zur Adoption gegeben hatte. Diese Entdeckung, das Faktum selbst, dass eine Mutter ihr Kind weggibt und dass sie dies gegenüber ihrem langjährigen Lebensgefährten verschweigt, hat für diesen etwas Erschütterndes und Monströses: Achtundvierzig Jahre lang hatte ich mein Leben mit einer Frau geteilt, die fähig gewesen war, ihr Kind ungerührt an eine Fremde abzugeben. Mit einer Frau, die ihr eigenes Baby – ihr eigenes Baby – in der Zeitung annonciert hatte, wie man ein Möbelstück zum Verkauf annonciert.51
Wird diese Entscheidung der jungen Frau in der Rekonstruktion der Ereignisse einerseits durch ihre schwierige Situation als Flüchtling motiviert, so bleibt sie doch zugleich auf unheimliche Weise auf das vorausgehende Erlebnis, die Trennung von den eigenen Eltern, die sie in verschobener Konstellation wie einem traumatischen Zwang folgend zu wiederholen scheint, bezogen. Was dem Ehemann als unglaublich hartherzige Handlung erscheint, die den Unterschied zwischen Mensch und Ding einebnet, ist auch als Reflex auf einen selbst erlebten Verlust lesbar, der den Menschen, Lotte Berg, einer fundamentalen Einsamkeit aussetzt, die durch Beziehungen zu anderen Menschen letztlich nicht überwunden werden kann. Eine Beziehung zu einem eigenen Kind, das unweigerlich mit diesem Erbe belastet würde, erscheint nicht möglich. Voraussetzung dafür, dass sie dennoch eine derart lange Ehe führt, ist offenbar, dass sie den Schmerz und die Erinnerung regelrecht einkapselt und abspaltet. Sprechendes Bild für diesen Teil des eigenen Selbst, der der Beziehung entzogen und in ihr Zimmer unter dem Dach „verbannt“52 erscheint, ist der Schreibtisch, von dem unklar bleibt, wie er in ihren Besitz gelangt ist. Ihre Auskunft, sie habe ihn geschenkt bekommen, ist ihrem Mann Anlass für Eifersuchtsgefühle, denn offenbar bewahrt der Schreibtisch eine Erinnerung, die 50 51 52
Ebd., 105. Ebd., 346 [Herv. i. O.]. Ebd., 116.
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ihn ausschließt, was er nicht anders deuten kann, als dass ein Nebenbuhler im Spiel ist.53 Bereits als er sie kennenlernt, erscheint ihm der Schreibtisch als „groteskes bedrohliches Monstrum“54, als „sehr männlicher Tisch“, zudem als „rachsüchtiges Ungetüm, dunkel schimmernd fast schwarz wie Ebenholz“55 und „furchterregende[r] Möbelkörper“56. Diese Wahrnehmung variiert die Vorstellung einer Nivellierung und Vertauschung von Mensch und Ding, die auch in der bereits zitierten Passage über das weggegebene Kind anklingt. Tatsächlich werden Tisch und Kind mit dem Fortgang der Recherchen zunehmend in eine Nähe gerückt, erscheint der Tisch als Reliquie der Erinnerung und Ersatz für das Kind, dessen Präsenz als abgespaltenes Liebesobjekt ebenso symbolisierend wie seine Abwesenheit, seine Erstarrung zu einem unbeweglichen, toten Gegenstand. Gerade dass er zwischen Unbelebtheit und Belebung zu changieren scheint, macht ihn besonders unheimlich, in den Augen des Erzählers erscheint er als „riesiges, bedeutungsträchtiges Ding, das […] sich als unbelebt ausgab, sich aber ständig wie eine Venusfliegenfalle in Bereitschaft hielt, über sie [i.e. die Menschen im Zimmer; D. B.] herzufallen und sie via einer seiner schrecklichen kleinen Schubladen zu verdauen.“57 Lotte, in deren Leben es keine Spur ihrer Vergangenheit zu geben scheint, „[k]eine Fotos, keine Andenken, keine Erbstücke“58, hängt an diesem Schreibtisch, der kein unmittelbar von der Familie überlassenes Erinnerungsobjekt sein kann, sondern dessen Weg zu ihr selbst von Brüchen und Diskontinuitäten gezeichnet ist. Dass er eines Tages aus seinem Haus verschwindet, beruhigt den Erzähler nicht, sondern bestätigt vielmehr seine Ängste, seine Frau verheimliche ihm etwas, das sich in dem Tisch materialisiere. Tatsächlich schenkt Lotte den Tisch einem jungen Mann, der sie als Leser ihrer Bücher aufgesucht und sich selbst als Dichter zu erkennen gegeben hatte – es handelt sich um Daniel Varsky, der auf diese Weise in den Besitz des Tisches gelangt. Auch wenn der Ehemann wiederum sehr eifersüchtig auf diesen potentiellen Konkurrenten reagiert, so wird doch deutlich, dass der junge Mann, der vom Alter her ihr Sohn sein könnte, Lotte wohl eher an den verlorenen eigenen Sohn erinnert. Der Zeitpunkt, an dem sie sich von dem Schreibtisch trennt, erscheint im Nachhinein zudem in zeitlicher Nähe zu dem Moment, in dem der leibliche Sohn, der bei Adoptiveltern aufwächst, 23-jährig offenbar bei einem Unfall stirbt. Mit der Weitergabe des Tisches an Daniel Varsky vollzieht sie einen symbolischen Trennungsprozess (wobei unklar bleibt, ob sie überhaupt von 53
54 55 56 57 58
Eine andere Lesart, die naheliegt, ist, dass er sich vom Schreiben seiner Frau, das sie zeitlich und emotional stark beansprucht und zudem einem traditionellen Weiblichkeitsbild widerspricht, ebenfalls ausgeschlossen fühlt. Diese Deutungslinie soll hier nicht weiter verfolgt werden. Krauss 2011, Das große Haus, 111. Ebd., 114. Ebd., 112. Ebd., 322. Ebd.
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dem Tod ihres Sohnes wissen konnte, da sie keinerlei Kontakt pflegte), der an jene gewissermaßen nicht-genealogische Erbschaft erinnert, in deren Folge der Tisch, der aus jüdischem Besitz in Ungarn stammt, allererst bei ihr gelandet ist. Verschiebung und Stellvertretung bestimmen auch hier die Logik der Weitergabe, die als solche die Brüche in den Genealogien, die Zerschlagung von Familien und Gemeinschaften, vorführt. So wird der Schreibtisch auch zum Zeichen dafür, dass die Bürde der Erinnerung dort, wo Tod und Traumata Familiengedächtnisse zerstört haben, nur von jeweils anderen getragen werden kann. Scheint sich ihr Schicksal jeweils zufällig mit dem der Überlebenden und Toten zu verknüpfen, so wird doch deutlich, dass sie insgesamt Teil einer länderüberschreitenden vernetzten Erinnerung sind, welche durch die Shoah und die weltweite Zerstreuung exilierter Menschen und erbenlos gewordener Kulturgüter befördert und notwendig geworden ist. Für Lotte Berg verkörpert der Schreibtisch zeitlebens auch eine Schuld59, für die sie sich am Ende ihres Lebens, schon im Zustand der Demenz, vor einer Friedensrichterin zu verantworten sucht. Versichert diese der alten Frau, angesichts der Adoption habe „niemand ein Verbrechen begangen“60, so ist doch deutlich, dass dieses ‚Verbrechen‘ und diese empfundene Schuld auf ein anderes, größeres, individuell und auch von einer nationalen Justizinstanz kaum greifbares Verbrechen verweist, das in seiner Wirkung und Reichweite nicht auf bestimmte Schauplätze oder Gruppen beschränkt werden kann. Hier wird besonders deutlich, dass die Nachgeborenen, die Generationen, die auf die der Zeitzeugen der Shoah folgen, ein kulturelles Erbe übernehmen, das von Lücken und Brüchen gezeichnet ist und das sich nicht (mehr) in einer Ordnung familiärer, religiöser, gruppenspezifischer oder nationaler Kohärenzstiftung einhegen lässt. In Kraussʼ Roman allerdings gibt es eine Figur, die dieser Tendenz der Zerstreuung und Stellvertretung von Dingen und Menschen mit aller Kraft entgegenarbeitet: Der Antiquitätenhändler George Weisz, geboren 1928 als Sohn eines jüdischen Gelehrten in Budapest, ist Zeit seines Lebens damit beschäftigt, die durch Enteignung, Beraubung und die Ermordung ihrer ursprünglichen Eigentümer in der Welt verstreuten jüdischen Besitztümer aufzuspüren, zusammenzuführen und, wo möglich, zu restituieren. Rastlos zieht er durch viele Länder und Städte der Welt, verhandelt mit unterschiedlichsten Menschen, um ehemals geraubte Dinge zu finden, damit sie den überlebenden ehemaligen Eigentümern oder deren Nachkommen zurückerstattet werden können. Er brauchte keinen Laden, seine Kunden wussten immer, wo sie ihn finden konnten. Und die Möbel, die sie so heiß begehrten, die Tische, Sekretäre oder Stühle, nach denen sie sich sehnten, an oder auf denen sie vor langer Zeit gesessen und nie wieder zu sitzen geglaubt hatten, alles, was ihr verlorengegangenes oder für die Zukunft erträumtes Leben möblierte, gelangte über Quellen, Kanäle 59 60
Vgl. ebd., 327: „All die Jahre hatte sie nicht nur den Tisch, sondern auch ihre Schuld gehegt.“ Ebd., 135.
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und Zufälle, die das Geheimnis seines Handeln blieben, in den Besitz von George Weisz.61
Weisz stellt seine Aktivitäten ganz und gar in den Dienst eines Bedürfnisses nach Wiederherstellung und Heilung – hier den eingangs erwähnten Restaurateuren Amnon Weinstein und Stanis aw Krzeminski ähnlich –, wo ein Original nicht mehr auffindbar ist, deklariert er ein ähnliches Objekt gelegentlich auch dazu, im Bemühen, den innigsten Wünschen seiner Auftraggeber Genüge zu tun.62 Dabei ist klar, dass es nicht nur um die Rückerstattung eines geschätzten Gegenstandes geht. Vielmehr steht diese stellvertretend für Gemeinschaften und insgesamt eine Ordnung der Dinge, deren unwiderrufliche Zerstörung sie zugleich bezeugen wie leugnen. Bedingung dafür ist die Überzeugung Weiszʼ, dass „die leblosen Dinge“63 im Gegensatz zu Menschen nicht einfach verschwinden. „Es ist wahr, ich kann die Toten nicht ins Leben zurückholen. Aber ich hole den Stuhl zurück, auf dem sie einmal gesessen, das Bett, in dem sie geschlafen haben.“64 Weiszʼ geradezu obsessive Suche nach den verlorenen Dingen hat einen biographischen Hintergrund: Als Kind hatte er erlebt, wie sein Vater von der SS verhaftet worden war und wie Möbel und Wertgegenstände der mütterlicherseits sehr wohlhabenden Familie konfisziert und abtransportiert wurden: Sie wurden – zusammen mit Bergen von Geschmeide, Diamanten, Geld, Uhren, Gemälden, Teppichen, Tafelsilber, Geschirr, Mobiliar, Wäsche, Porzellan, ja sogar Fotoapparaten und Briefmarkensammlungen – auf den zweiundvierzig Eisenbahnwaggons langen „Goldzug“ geladen, den die SS beim Vorrücken der Roten Armee benutzte, um jüdisches Eigentum aus Ungarn herauszuschaffen. Was zurückblieb, wurde von den Nachbarn geplündert.65
Die Möbeldepots, die Weisz selbst aus zurückgekauften jüdischen Dingen anlegt, scheinen, bevor Restitution überhaupt stattfinden kann, den Zustand ihrer gewaltsamen Entortung noch einmal nachzuvollziehen. In der Wahrnehmung der Erzählerin beschwören diese Möbelansammlungen Bilder von Arisierung und Deportation herauf: Esstische, Stühle, Sekretäre, Truhen, Lampen und Tischchen, alle abmarschbereit in dem Saal versammelt, als warteten sie auf eine Vorladung, und ich erinnerte mich, warum mir das Foto von den Juden auf dem Umschlagplatz ausgerechnet jetzt eingefallen war, erinnerte mich […] [an] Fotos von Synagogen und 61 62
63 64 65
Ebd., 155 f. Vgl. ebd., 358: „Das Bett, an das ein Mann sich als den Ort seiner seelischen Überwältigung erinnert, ist für einen anderen nur ein Bett. […] Aber der Mann, dessen Seele darin überwältigt wurde, hat das Bedürfnis, bevor er stirbt noch einmal in diesem Bett zu liegen. Er kommt zu mir. […] Also finde ich das Bett, auch wenn es nicht mehr existiert. […] Ich schaffe es herbei. […] Weil er so dringend dieses Bett braucht, in dem sie einst mit ihm gelegen hat, braucht er die Wahrheit nicht zu wissen.“ Ebd., 149. Ebd., 357. Ebd., 149 f.
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jüdischen Warenhäusern […], die als Depots für die von der Gestapo erbeuteten Möbel und Haushaltsgegenstände aus den Wohnungen deportierter und ermordeter Juden dienten, Fotos, die ganze Armeen hochkant gestellter Stühle zeigten, wie in einem über Nacht geschlossenen Speisesaal, Türme gefalteter Tischwäsche und Regale voller Silberbesteck, sortierte Löffel, Messer und Gabeln.66
Weiszʼ persönliches Bemühen um Restitution richtet sich nun allerdings weniger auf die Rückgewinnung von Schmuck- und Wertgegenständen, sondern vielmehr auf die detailgetreue Wiederherstellung des Budapester Arbeitszimmers seines Vaters in seinem Haus in Jerusalem. Für den Vater, einem Gelehrten der jüdischen Geschichte, der zusammen mit der Mutter 1944 deportiert wird und im Folgejahr auf einem der Todesmärsche stirbt, hatte der Tisch, an dem er schrieb, eine besondere Bedeutung. In seinen vielen Schubladen scheinen dem Sohn „zweitausend Jahre aufbewahrt“67, die ganze Zeit jüdischer Exilgeschichte nach der Zerstörung des Zweiten Tempels. Da er selbst von der Monumentalität und Bedeutsamkeit des Möbels derart beeindruckt ist, wagt er nicht, eine der Schubladen mit etwas Eigenem zu befüllen, wie ihm der Vater gestattet. So wird diese Schublade des Schreibtisches leer verschlossen, der Schlüssel geht verloren und auch für spätere Besitzer, Lotte Berg, Daniel Varsky, Nadia, bleibt diese Kammer immer unaufschließbar und rätselhaft. Dass der Tisch durch seine wechselvolle Geschichte selbst längst zu einem Ding geworden ist, in dem sich vielfältige Geschichten verdichten und das sich deshalb nicht (mehr) ohne Weiteres als eigenes reklamieren lässt, vermag Weisz zunächst offenbar nicht zu sehen. Nachdem er alle anderen Einrichtungsgegenstände des väterlichen Arbeitszimmers bereits wiederfinden konnte, ist es nur mehr der Schreibtisch, der dieser restituierenden Sammlung fehlt, „an dem Platz, wo er hätte stehen müssen, klaffte eine große Lücke“68. Als er ihn schließlich lokalisiert hat, schickt er seine Tochter Leah nach New York, um ihn von dort zurückzuholen. Tatsächlich gelingt es Leah, die sich als Tochter von Daniel Varsky ausgibt, Nadia zur Herausgabe des Schreibtisches zu bewegen, allerdings ist sie es zugleich, die verhindert, dass sich zuletzt der Kreis durch Restitution des Tisches und seine ‚Heimkehr‘ nach Jerusalem schließt: Sie lässt den Tisch in ein New Yorker Lagerhaus befördern und weigert sich, den Schlüssel herauszugeben. Erst viel später, so wird in einer Vorausschau erzählt, wird sie diesen Schlüssel, da sie selbst kinderlos bleibt, an ihren Neffen weitergeben. Als George Weisz begreift, dass es eine Rückkehr des Tisches nicht geben wird, nimmt er sich in seinem Haus in Jerusalem das Leben. Für Leah und ihren Bruder eröffnet jedoch der Aufschub der Vollendung der Sammlung neue Lebensmöglichkeiten. Beide sind durch ihre Verstrickung in seine lebenslange Sammelmanie regelrecht „Gefangene ihres Vaters,
66 67 68
Ebd., 203. Ebd., 368. Ebd., 152 [Herv. i. O.]; Kursivierung im Brief der Tochter.
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eingeschlossen hinter der Mauern ihrer Familie“69, so dass auch sie sich nicht auf andere Menschen hin öffnen, sich mit ihnen verbinden können, was sich zumindest für den Sohn, Yoav, schließlich offensichtlich ändert. Diese Episode ist aus der Perspektive von Isabel, seiner Freundin und späteren Frau, erzählt. So ist es zuletzt die jüngere Generation, die die Zeit (vor) der Shoah selbst nicht mehr erlebt, aber in ihrem bedrückenden Schatten gelebt hat, die zumindest ansatzweise zu einem anderen Umgang mit den Dingen findet, indem sie deren Zerstreuung offenhält und auf eine versammelnde Restitution verzichtet. Wie die Netsuke-Sammlung bei de Waal, die zuletzt weder nach Wien zurückkehrt noch in ihrem Herkunftsland Japan bleibt, sondern eine weitere Reise nach England antritt, findet auch der große Schreibtisch bei Krauss zuletzt weder eine Heimat in Budapest noch in Israel. Vielmehr bleibt er ein ‚Ding des Exils‘, das gerade weil es nicht (wieder) zurückgeführt oder beheimatet wird, gewaltsame Entortung und Zerstreuung, die sich mit ihm verknüpfen, erinnert. Durch die Verkettung seiner temporären Hüter verbindet der Schreibtisch, der vielfach mit menschlichen Attributen beschrieben wird, als ‚Überlebender‘ in einem Sinne, der auch auf das Überleben der Shoah verweist70, unterschiedliche menschliche Geschichten und Schicksale, die sich im Bezug auf den Tisch ineinander spiegeln und in gewisser Weise gegenseitig bezeugen. Sammlung und Zerstreuung werden hier also in einem ambivalenten Spannungsverhältnis beschrieben, womit ausdrücklich Aspekte jüdischer Exil- und Diasporatradition aufgerufen werden. So bringt Weisz selbst seine Restitutionsarbeit mit der Vision in Verbindung, „das geplünderte Gold und Silber aus dem vor zweitausend Jahren von den Römern zerstörten Tempel […], die von Titus erbeuteten heiligen Objekte“71, erscheinen zu lassen. Ein solches Erscheinenlassen ist offensichtlich nicht mit ihrer materiellen Rückgewinnung identisch, sondern eher als momenthafte Erfüllung und Erlösung versprechende Stellvertretung konzeptualisiert. Dazu passt, dass Rabbi Jochanan ben Zakkai in Erinnerung gerufen wird, von dem Weiszʼ Vater ihm schon als Kind erzählt hatte. Angesichts der Zerstörung des Tempels, der Vertreibung aus Jerusalem und des Exils des jüdischen Volkes ergeht mit ihm die Aufforderung, „Jerusalem in eine Idee, den Tempel in ein Buch [zu verwandeln; D. B.], ein Buch, das so groß, so heilig und so komplex ist wie die Stadt selbst“72. Eine „vollkommene Versammlung der unendlichen Teile des jüdischen Gedächtnisses“73 sei nicht zu eigenen Lebzeiten möglich, vielmehr müsse jeder ein Bruchstückchen bewahren und so seinen Anteil am Werk der Zu69 70
71 72 73
Ebd., 148. In ihrer Arbeit über Raub und Restitution jüdischer Kulturgüter beschreibt Elisabeth Gallas, dass in Israel „die Rettung dieses Kulturgutes mit der Rettung der Überlebenden aus Europa geradezu gleich[ge]setzt[]“ wurde. Gallas 2013, „Das Leichenhaus der Bücher“, 217. Ebd., 358. Ebd., 363. Zur traditionsreichen Vorstellung vom Judentum als ‚Volk des Buches‘ vgl. Kilcher 2016, ,Volk des Buches‘. Krauss 2011, Das Große Haus, 363.
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sammenfügung des Zerbrochenen und Zerstreuten übernehmen. In dieser Erinnerung an einen in der Shoah ermordeten jüdischen Gelehrten wird zugleich dessen Wissen um jüdische Traditionen, für die auch der Schreibtisch steht, in den Text hinein ‚gerettet‘, wo es im Gefüge seiner heterogenen Perspektiven und Erzählungen eine eigene Resonanz entfaltet, ohne dass durch diese ‚Montage‘ der gesamte Text eine religiös-messianische Dimension bekäme. So greift Das große Haus Aspekte der jüdischen Exiltradition auf, ohne doch einfach an diese anknüpfen, sich in ihren Horizont stellen zu können. Vielmehr wird durch die Fokussierung der Traditionsbrüche, welche die Shoah sowie Raub und Zerstörung jüdischer Dinge in einem umfassenden Ausmaß bedeuten, gerade auch die Möglichkeit eines bruchlosen Weitererzählens problematisiert. In der Aufmerksamkeit auf das Schicksal der Dinge, die Abwesendes und Verlorenes präsent halten und in denen traumatisch-unausgesprochene Aspekte menschlicher Schicksale materialisiert erscheinen, gelingt es jedoch, der erinnernden Erzählung, die auch eine Erzählung über das Erinnern ist, Brüche einzuschreiben. An die Stelle einer Versammlung von Dingen an einem bestimmten Ort tritt bei Krauss offensichtlich eine Sammlung von Schicksalen und Geschichten, deren Korrespondenzen und nicht auf den ersten Blick erkennbaren Vernetzungen erst im Akt des immer wieder durch den Wechsel von Schauplätzen und Perspektiven unterbrochenen Erzählens erkennbar werden. Wie auch bei de Waal sind die Dinge Anlass, sich vergangenen und als solche zerstörten Lebenswelten zu nähern, ähnlich wie Der Hase mit den Bernsteinaugen reflektiert auch Das große Haus das wechselseitige Bezogensein von Dingen und Erzählungen, das sich im Schreib-Tisch in besonderer Weise materialisiert. Indem dieser Schreibtisch hier ausdrücklich als Exilobjekt in den Blick kommt, das nicht primär – wie ehemals die Bundeslade – den Zusammenhalt einer jüdischen Gemeinschaft im Exil symbolisiert, sondern durch seine eigenen diskontinuierlichen Wanderungen eher Zerschlagung und Zerstreuung akzentuiert, wird die Frage nach Formen von Erinnerung und Gemeinschaft nach der Shoah aufgeworfen.74 In gewisser Weise lassen sich diese Texte als Kommentare zu jener historischen Tatsache lesen, dass gerade die Sorge um die erbenlos gewordenen jüdischen Kulturgüter nach 1945, wie sie die Jewish Cultural Reconstruction (JCR) institutionell vertrat, dazu führte, dass es erstmals eine rechtliche Instanz gab, die international im Namen des Judentums zu agieren beanspruchte.75 Georges Weiszʼ Fähigkeit, „einen Stuhl, einen Tisch, eine Kommode aus den Trümmern der Geschichte erscheinen“76 zu lassen, erinnert dabei an Überlegungen, die Hannah Arendt, eine der Hauptverantwortlichen der JCR, im Anschluss an geschichtsphilosophische 74 75 76
Vgl. hierzu auch Berger/Milbauer 2013, The Burden of Inheritance. Diner 2008, Restitution, 25 f.; Gallas 2013, „Das Leichenhaus der Bücher“, 15 f. und 246; Sznaider 2008, Die Arbeit der ,Jewish Cultural Reconstruction‘. Krauss 2011, Das große Haus, 369.
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Reflexionen zur Sammlung bei Walter Benjamin angestellt hat. Wird bei Benjamin die Diagnose, dass die Dinge zunehmend nicht mehr als traditionsstiftende Erbstücke in den Blick kommen, sondern lediglich „aus dem Trümmerhaufen des Vergangenen herauszulesen“77 sind, allgemein mit der Moderne in Verbindung gebracht, so sieht Hannah Arendt den „Traditionsbruch“ ausdrücklich auch mit der Situation nach der Shoah verknüpft. Versuche der Restitution oder Sammlung von (jüdischen) Dingen, zumal an einem Ort, tragen im Horizont dieses Traditionsbruchs die Signatur des Unmöglichen. Während Georges Weisz dennoch zeitlebens unermüdlich bestrebt ist, dem Bruch und der Zerstreuung durch eine möglichst perfekte (bzw. perfekt wirkende) Restitution entgegenzuarbeiten, richten Vertreter der nachfolgenden Generationen, zu denen Nicole Krauss und Edmund de Waal gehören, den Blick explizit auf Strukturen von Verschiebungen und Ersatz an der Stelle von Brüchen, die sie zugleich markieren. Anstelle der Restitution einer unterbrochenen Tradition rücken damit nicht-genealogische Vernetzung und Figurationen sekundärer Zeugenschaft, eines Bezeugens im Angesicht der überlebenden Dinge, in den Vordergrund.
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Arendt 1971, Walter Benjamin, 56.
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DAS WANDERNDE TASCHENTUCH − HERTA MÜLLERS WIDERSTÄNDIGE SAMMLUNG
Das Ritual Am Anfang des Textes der Nobelpreisrede von Herta Müller Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis war das Wort, und das Wort war eine Frage, und die Frage war ein Ritual, und das Ritual kreiste um ein Ding, und das Ding wurde zum Sinnbild: HAST DU EIN TASCHENTUCH, fragte die Mutter jeden Morgen am Haustor, bevor ich auf die Straße ging. Und weil ich keines hatte, ging ich noch mal ins Zimmer zurück und nahm mir ein Taschentuch. Ich hatte jeden Morgen keines, weil ich jeden Morgen auf die Frage wartete. Das Taschentuch war der Beweis, dass die Mutter mich am Morgen behütet […] Jeden Morgen war ich einmal ohne Taschentuch am Tor und ein zweites Mal mit einem Taschentuch. Erst dann ging ich auf die Straße, als wäre mit dem Taschentuch auch die Mutter dabei.1
Jeden Morgen sind Abwesenheit und Anwesenheit des Dings konstitutiv dafür, dass das Kind das Haus verlassen kann. Das notwendige Fehlen des Gegenstands motiviert das Ritual, in welchem die vorläufige Aneignung des Dings stattfinden kann, denn am nächsten Tag wird es erneut ‚vergessen‘. Die Wirkung dieses Dings gilt nur, wenn es zuerst nicht verfügbar ist, dann aber durch eine sich ständig wiederholende Geste eingeholt wird. Das Fehlen ist die Bedingung, dass die Beziehung zwischen Mutter und Kind jeden Morgen neu hergestellt, bekräftigt werden kann. Das ritualisierte Liegenlassen und Mitnehmen des Taschentuchs dient als Band und zugleich als Pfand, die Liebe zu bezeugen und Treue zu versprechen. Dabei ist das Warten auf die Frage und das Hören der Frage vor der Annahme des Taschentuchs entscheidend: „Der Wortklang behütete mich.“2 Sprache und Klang bereiten die tägliche Handhabung des Dings vor und sind entscheidend für die Vermittlung eines Gefühls der Geborgenheit. Gleichzeitig existiert das Ritual auch deshalb, weil es zwischen der Mutter, „hart und verstört, wie vom Leben beleidigt“3, und der Tochter weder eine Sprache noch andere Gesten der Intimität, der Zuneigung oder des Schutzes zu geben scheint. Die Liebe findet sich ein im Taschentuch1 2 3
Müller 2013, Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis, 7. Ebd., 19. Müller 2009, Christina und ihre Attrappe oder Was (nicht) in den Akten der Securitate steht, 18.
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ritual. Nur mithilfe des Rituals kann die Tochter ohne die leibliche und zugleich mit der ,transformierten‘ Mutter hinaus auf die Straße, in einen anderen Raum und in eine andere Zeit gehen. Vor diesem Hinaustreten und als Teil des Rituals wird regelmäßig auf eine Taschentuchsammlung zurückgegriffen, die den zyklischen und monotonen Rhythmus des Familienlebens abbildet. Wenn das Kind ins Zimmer zurückgeht, um ein Taschentuch zu nehmen, greift es in die Taschentuchschublade mit drei Stapeln: [D]ie Männertaschentücher waren die größten, hatten dunkle Randstreifen in Braun, Grau oder Bordeaux. Die Frauentaschentücher waren kleiner, ihre Ränder hellblau, rot oder grün. Die Kindertaschentücher waren die kleinsten, ohne Rand, aber im weißen Viereck mit Blumen oder Tieren bemalt. Von allen drei Taschentuchsorten gab es Werktagstaschentücher, in der vorderen Reihe, und Sonntagstaschentücher, in der hinteren Reihe. Sonntags musste das Taschentuch, auch wenn man es nicht sah, zur Farbe der Kleidung passen […]. Die Schublade war unser Familienbild im Taschentuchformat.4
Die Taschentuchsammlung weist eine hierarchische Ordnung auf, die die Bedeutung und Rolle der Familienmitglieder widerzuspiegeln scheint. Sie befestigt in den fein säuberlich getrennten Wochentags- und Sonntagstaschentüchern den Lebensrhythmus, der einzuhalten ist. Nichts soll sich der Tradition entziehen dürfen, und dafür ist eine kontrollierende und kontrollierte Ordnung, in der alles und jeder auf engem, klar abgegrenztem Raum, wie die Taschentücher in der Schublade, seinen vorgesehenen Platz einnimmt und die entsprechenden Gesten ausführt, entscheidend. Man könnte nun fragen, ob die sinnbildlich für das restriktive Familien- und Dorfleben stehende Taschentuchsammlung in der Schublade ein sinnbildliches Taschentuchäquivalent in der städtischen, vom Geheimdienst kontrollierten Welt hat. Diese Frage drängt sich auf, wenn man von der Hypothese ausgeht, dass der Charakter der Ordnung in der Familie und im Dorf sich in unmittelbarer Nähe der ‚Spielregeln‘ des Gesellschaftskollektivs in der Diktatur ‚draußen‘ ansiedelt, nur dass in letzterer kein Rest von Geborgenheit mehr gegeben ist. Um diesen Zusammenhängen auf die Spur zu kommen, soll die ‚Wanderschaft‘ des Taschentuchs näher untersucht werden.5 Was passiert, wenn das Taschentuch, das in der Schublade jederzeit zum Gebrauch bereit liegt, aus seiner Sammlung in der Schublade entlassen wird und nach dem ersten Ritual zwischen Haustor und Zimmer auf ‚Wanderschaft‘ geht? Wenn es also buchstäblich in der Tasche verschwindet und aus dem Haus hinaus getragen wird? Es wird zu zeigen sein, dass ‚Wanderschaft‘ hier einerseits heißt, dass das 4 5
Müller 2013, Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis, 12. Zur Wanderschaft der Dinge im Kontext von Vertreibung und Zerstörung vgl. den Beitrag von Dörte Bischoff „Vom Überleben der Dinge“ im ersten Kapitel. Eine Wanderschaft der Dinge durch die Sammelinstitutionen aus der Perspektive der Dinge beschreibt Michael Niehaus in seinem Beitrag „Sammelpunkte“ im zweiten Kapitel.
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Taschentuch mit einem beständig wechselnden semantischen Gehalt in immer neuen Erzählkontexten auftaucht. Die sich immer ändernde Semantik entspricht dem unterschiedlichen Gebrauch des Taschentuchs, pragmatisch und affektiv, der in den im Folgenden zu analysierenden Szenen im Mittelpunkt steht. Dabei wird das Ding zu einer Art ‚Metaobjekt‘, das eine Fülle von Bedeutungen absorbiert. Die Literarisierung dieses Bedeutungsreichtums ist andererseits aufs Engste verwoben mit der Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Ding. Es geht Herta Müller nicht um eine literarische Konfiguration des Dings an sich, da dieses sich der erkennenden und der sprachlichen Erfassung entzieht. Das Interesse der Autorin richtet sich in ihrem ganzen Werk vielmehr auf das Phänomen des Auseinanderfallens von Dingen und Worten, auf jenen „Riss“ also, der, wie Norbert Otto Eke es formuliert, auf „die Erfahrung der Porosität und Labilität des Einverständnisses von Welt (Gegenständen) und Sprache (Wörtern), damit auch ‚Leben‘ und ‚Wissen‘“ zurückgeht und „die Frage nach dem Verhältnis von Kunst bzw. ästhetischer Erfahrung und Wirklichkeit“6 stellt. Oder um es noch einmal mit dem Begriff der ‚Wanderschaft‘ und als Frage zu formulieren: Wie wandert der Riss in dieses vermeintliche Einverständnis zwischen Ding und Sprache ein, und wie kann die literarische Arbeit mit dem Dingbild Taschentuch davon Zeugnis ablegen? In der Darstellung des Eingangsrituals zwischen Haustor und Straße mit seinem performativen Charakter scheint die Wahrnehmung des Kindes noch nicht explizit von diesem Riss berührt zu sein, da darin das Wort (Taschentuch) und das Gelebte (Zuneigung und Schutz) für Momente zusammenfinden. Das heißt aber gerade nicht, dass in der Kindheit ein durchgängiges Einverständnis von Welt und Wort herrscht, wie wir im zweiten Teil der vorliegenden Untersuchung sehen werden. Der Riss zwischen Erfahrung, Denken, Sprache und Wirklichkeit wächst allerdings mit dem Erwachsenwerden und rückt bei der erwachsenen Frau immer mehr ins Zentrum der Wahrnehmung. Der semantische und durch den genannten Riss auch widerständig auftretende Bedeutungsreichtum des Taschentuchs entfaltet sich in Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis in weiteren Episoden aus der Kindheit im Dorf sowie in Szenen in der Stadt, wo die Erwachsene später der Diktatur der rumänischen Regierung auf unmittelbare Weise ausgesetzt ist. Auffallend ist aber auch, dass sich das Taschentuch ebenso in anderen Texten von Herta Müller findet, wobei es eine sehr exponierte Stellung vor allem im sowjetischen Arbeitslager im Roman Atemschaukel einnimmt. Dadurch erscheint die Wanderung, und das ist ein dritter Aspekt des Begriffs, in diesem Schreibprozess auch als eine Wanderung durch das Gesamtwerk der Autorin, bei der die Einzeltexte über das Bild Taschentuch in gewisser Weise zu einem einzigen Œuvre verschmelzen und einen Blick auf die ‚gesammelten Taschentücher‘ freigeben. 6
Eke 2011, Von Taschentüchern und anderen Dingen, 76.
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Wanderungen Das Dingbild Taschentuch stiftet einen Übergang vom Haus zum Tor, vom Tor auf die Straße und von der Straße auf den Friedhof. Man könnte darin einen durch den Gegenstand markierten Parcours des engen Lebens der Dorfbewohner erkennen: Von der Herkunftsfamilie im Haus bewegt man sich zum Tor und auf die Straße, um ein Minimum an ‚Welt‘ außerhalb des Hauses bzw. Dorfes zu erkunden, zum Sterben oder im Tod aber kehren alle wieder ins Dorf zurück. Dieser von der Tradition bestimmte Weg, den Herta Müller in ihrem Text Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis nachzeichnet, wird jedoch zugleich von einer fundamentalen Irritation durchkreuzt. So finden sich die Kinder, die im Sommer zum Gießen spät abends zum Friedhof geschickt werden, für eine besondere Art des spectacle ein: Dann setzten wir uns eng aneinander auf die Treppen der Kapelle und schauten, wie aus manchen Gräbern weiße Dunstfetzen stiegen. Sie flogen ein bisschen in der schwarzen Luft und verschwanden. Für uns waren es die Seelen der Toten: Tiergestalten, Brillen, Fläschchen und Tassen, Handschuhe und Strümpfe. Und dazwischen hie und da ein weißes Taschentuch mit dem schwarzen Rand der Nacht.7
Anders als in der Eingangsszene des Rituals des vergessenen und wieder gefundenen allmorgendlichen Taschentuchs, wo für das Kind Gelebtes, Ding und Wort noch eine Einheit zu bilden scheinen, spielt sich die Wahrnehmung der Kinder hier auf verschiedenen Wirklichkeitsebenen ab. Man könnte nun überlegen, ob nicht die auf diese Weise beschriebene Kindheitsszene auf dem Friedhof schon das Schreibkonzept der „erfundenen Wahrnehmung“ der Autorin, also „die imaginierte Umbildung der Wirklichkeit, die Wahrnehmung zur Eigenkonstruktion macht“8, enthält. Tatsächlich setzen die Kinder in ihrem Sehen die herkömmlichen Sichtweisen der Erwachsenen außer Kraft. Die Dunstfetzen, die aus den Gräbern aufsteigen, werden zu Bildträgern. Die Kinder respektieren das Wort „Seele“ nicht in seiner Undarstellbarkeit und Abstraktion, sondern füllen es mit konkreten Dingbildern, die auf den bekannten Alltag der Dorfbewohner verweisen und im neuen Kontext − schwebend über den Gräbern − zugleich tiefe Befremdung erzeugen. Dem auf den ersten Blick Erkennbaren, den Gegenständen, wird sogleich die Referenz entzogen, da sie ja so merkwürdig in der Luft schweben. Für die Kinder allerdings existiert in diesem Moment die Einheit von realem Geschehen und Fiktion, von Phantasie und Realität, die sie als ‚Welterfahrung‘ integrieren können. Der Riss zwischen vielfältigen Erfahrungswelten und deren sprachlicher Form verstört das Bewusstsein der Kinder nicht. Das weiße Taschentuch „mit dem schwarzen Rand der Nacht“ erkennen sie ebenfalls als das wichtige Ding ihres Alltags, das zuvor das Kinn mit dem geschlossenen Mund des Toten verbunden hatte, 7 8
Müller 2013, Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis, 13. Bozzi 2011, Erfahrungsdruck und Dichtung, 101.
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bis die Leichenstarre abgeschlossen war. Da der Tote nun begraben ist, kann das ‚herrenlose Taschentuch‘ durch die Luft fliegen, oder aber es fliegt hier ganz begründungslos als Produkt der Imagination herum. Auf ihre Weise ‚transzendieren‘ die Kinder die karge Lebenswirklichkeit ihres Alltags und schaffen hier einen buchstäblichen ‚Sur-Realismus‘, der Welt erklärt und Welt schafft, wobei die Differenz zwischen diesen letzteren vielleicht nicht einmal existiert oder aber bewusst verwischt wird. Leben und Tod rücken darin auf eine Weise zusammen, die weder als konkret bedrohlich noch als abstrakt unsinnlich empfunden wird. Diese Kinderwelt auf dem Friedhof ist weitaus offener und kreativer als der Innenraum von Haus und Dorf, in dem traditionelle Lebensweisen und die Sprachlosigkeit der Erwachsenen dominieren. Auch scheint es, als ob diese Erwachsenen sich wie unter Gewichten Gebeugte durch ihren freudlosen, engen und mühsamen Alltag schleppen. Um sich materiell halbwegs zu versorgen, tragen sie ganz konkret zu schwere Taschen und sind dem Klima schutzlos ausgeliefert, weil das helfende Transportmittel fehlt. Die soziale Interaktion gilt vor allem dem Umgang mit Trauer, Verletzung, Abschied und Tod. Erzählt wird all dies über das Taschentuch, und es fungiert dadurch wie ein narratives ‚Dach‘ für diese Alltagsgeschichten, das Erfahrungen bergen kann. In die bedrohliche Alltagswelt führt es Momente von Schutz, Empathie und Zugewandtheit ein. Das Taschentuch war universell nutzbar für: Schnupfen, Nasenbluten, verletzte Hand, Ellbogen oder Knie, Weinen oder Draufbeißen und das Weinen unterdrücken. Ein nasses, kaltes Taschentuch auf der Stirn war gegen Kopfweh. Mit vier Knoten an den Ecken war es eine Kopfbedeckung gegen Sonnenbrand oder Regen. Wenn man sich etwas merken wollte, machte man sich einen Knoten als Gedächtnisstütze ins Taschentuch. Zum Tragen schwerer Taschen wickelte man es um die Hand. Flatternd wurde es ein Abschiedswinken, wenn der Zug aus dem Bahnhof fuhr. [...] Wenn im Dorf einer zu Hause starb, band man ihm sofort ums Kinn herum ein Taschentuch, damit der Mund geschlossen bleibt, wenn die Leichenstarre fertig ist.9
Sind in den zitierten Szenen die Hinweise auf bekannte Alltagsszenen noch zahlreich, so findet im Folgenden eine weitere semantische Verschiebung statt, indem das Taschentuch in Kontexten ‚interveniert‘, in denen die Erwachsenen, sobald sie das Dorf verlassen, unbekannten und mysteriösen Gefahren für Leib und Leben begegnen, und dies auch, wenn sie scheinbar nur auf die Straße gehen: „Wenn am Wegrand in der Stadt einer umfiel, fand sich immer ein Passant, der dem Toten das Gesicht zudeckte mit seinem Taschentuch − so war das Taschentuch seine erste Totenruhe.“10 Vom kleinen Ding Taschentuch, das zu Anfang noch die Mutter-Kind-Beziehung zu beglaubigen, die Familienordnung zu befestigen und den Alltag zu gewährleisten hatte, stehen wir plötz9 10
Müller 2013, Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis, 12 f. Ebd., 13.
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lich vor der Frage nach dem rätselhaften Tod, der sich vor unseren Augen auf der Straße abspielt. Und so lesen wir das Ritual am Morgen fast auch wie die Vorbereitung auf das mögliche Ritual „am Wegrand“: das Taschentuch, das auf das Gesicht des Toten gelegt wird, um ihm eine erste Totenruhe zu vergönnen, indem ein kleinster intimer Raum geschaffen wird, in welchem der Tote nicht den Blicken der Umgebung ausgesetzt ist, sondern in sich ruhen darf. Das Kind, das sich am Morgen über das ‚Ritual Taschentuch‘ der schwer zu erringenden Liebe seiner Mutter versichert, soll später, wenn es größer ist und sich vielleicht an das erste Taschentuchritual erinnert, dem Toten am Wegesrand den Moment einer Geborgenheit weitergeben. In welcher Stadt, in welcher Welt aber fällt einer auf der Straße einfach tot um, und dies scheinbar ‚immer wieder‘, alltäglich, wenn wir der einfachen Satzkonstruktion mit „wenn am Wegrand in der Stadt einer umfiel“ folgen? Und warum heißt er nur „einer“, warum nicht einmal ‚ein Mensch‘? Eine Welt der diffusen Dauerbedrohung deutet sich hier an, in der das Taschentuch nicht dem lebendigen, sondern dem toten Menschen einen Moment der Integrität verleiht. Die Hand des Fremden, der nicht achtlos an dem Toten vorbeigeht, sondern ihn sieht, diese Hand deckt dem Toten das Gesicht mit dem Taschentuch zu, damit man ihn – in gewisser Hinsicht – nicht sieht. Man könnte diese Handlung im Kontext der Diktatur auch verstehen als letzte Geste, mit der ein Mensch dem Exponiert- und Ausgeliefertsein durch die umfassende Überwachung in der Diktatur zumindest im Tod entzogen wird. Verfolgen wir das Taschentuch in seiner weiteren Verwendung, wie es sich von einer Szene zur nächsten beständig neu kontextualisiert und mit neuen Gebrauchsformen und Wahrnehmungsweisen verknüpft wird. Erscheint es zunächst als ein Ding, das die problematische Zugehörigkeit zu einer Familienund Dorfgemeinschaft vermittelt, so wird es zunehmend zum Indikator des Ausschlusses und der Ausgrenzung aus dem von der Diktatur erschaffenen und streng überwachten Kollektiv. Über diese Narrativierung des Dings lässt sich das Funktionieren von Diktatur und die Art und Weise, wie die Menschen in sie hineinwachsen, aufzeigen. Die Sozialisation des Kindes im Text der Nobelpreisrede legt dafür Zeugnis ab. Das Mädchen gewinnt über den Gegenstand Erkenntnisse über die NS-Diktatur mit deren Nachwirkungen in Gedächtnis und Alltagspraxis der Familie. Andererseits markiert das Taschentuch Konfrontationen mit den gewalttätigen Akteuren der stalinistischen Ceau escu-Diktatur und den Versuch, diesen Repressionen Widerstand zu leisten. Insofern erweitert sich der Wirkungsraum dieses ‚Dingschreibens‘ beträchtlich: Es holt die Dimension der Untiefen der geschichtlichen Gewordenheit in eine Dorfwelt hinein, die sich zwar auf enge, aber scheinbar uralte ‚unschuldige‘ Traditionen bezieht, die Referenzen zur jüngeren Geschichte hingegen verdrängt, versteckt und beschreibt. Auf die stalinistische Diktatur bezogen, erprobt diese Schreibweise eine oft im Dingdetail erkennbare subtile Illustration und zugleich Verweigerung der herrschenden Verhältnisse.
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Eine der ersten Kindheitserinnerungen beschreibt das ungeliebte Akkordeonspielen auf dem Instrument des ‚toten Soldaten Matz‘, der Onkel der IchErzählerin und ein überzeugter Nationalsozialist war. „Die Riemen des Akkordeons waren viel zu lang für mich. Damit sie nicht von der Schulter rutschten, band der Akkordeonlehrer sie mir auf dem Rücken mit einem Taschentuch zusammen.“11 Man könnte hier lesen: Das Taschentuch verknüpft sinnbildlich die Geschichte des Kindes mit der Geschichte des Onkels, die es fortan auf dem Rücken trägt und mit sich herumschleppt. Der Gegenstand ‚materialisiert‘ die notwendig auferlegte und mehr oder weniger angenommene Bindung, die ein Mensch durch seine Familiengeschichte und durch die Geschichte des Kollektivs, in dem er lebt, erhält, ohne dass er nach seinem Einverständnis gefragt wird. Die Bindungen über das Sinnbild verweisen auf die Zukunft − die Liebe wird (hoffentlich) halten bis morgen − und auf die Vergangenheit, in der die Bande nicht stark genug waren, um vor der Identifikation mit einer mörderischen Ideologie und vor dem Tod im Krieg zu schützen. Eine ganz ähnliche Doppelbödigkeit zeigt sich in einer weiteren Taschentuchszene, in der die Großmutter ein Foto ihres toten Sohnes von der Front zugeschickt bekommt. Das Todesfoto ist handgroß, ein schwarzer Acker, mittendrauf ein weißes Tuch mit einem grauen Häuflein Mensch. Im Schwarzen liegt das weiße Tuch so klein wie ein Kindertaschentuch, dessen weißes Viereck in der Mitte mit einer bizarren Zeichnung bemalt ist. Für meine Großmutter hatte auch dieses Foto seine Mixtur: auf dem weißen Taschentuch war ein toter Nazi, in ihrem Gedächtnis als lebender Sohn.12
In einem sparsamen Satzraum werden die äußeren Bilder hier zu inneren Bildern. Der Acker wird in die Farbe Schwarz, das Leichentuch ins Kindertaschentuch aus der Taschentuchschublade, das Häuflein Mensch in eine bizarre Zeichnung, die Konturen von Blumen und Tieren auf dem einstigen Kindertaschentuch in ein eher abstraktes Gebilde, der tote Nazi in den lebenden Sohn in der Erinnerung transponiert. Zum ersten Sehen gesellt sich ein zweites, das Bilder und Erfahrungen abstrahiert, ins Symbolisch-Repräsentative wendet oder in der Erinnerung neu erschafft. Das eine Bild allein stimmt nicht, so wie die eine Wahrnehmung allein nicht stimmt und das eine Band der schwierigen Liebe nicht ohne das andere Band mit der schwierigen Geschichte zu haben ist. Je mehr Taschentuchszenen hinzukommen und sich wechselseitig zum Referenzrahmen werden, desto mehr stellt sich Doppelbödigkeit, manchmal auch Bodenlosigkeit ein, weil wir als Lesende im vielschichtigen Referenzrahmen Herta Müllers und in einem Sprachmaterial, das selbst „unter Referenzentzug gestellt“13 wird, manchmal auch verloren gehen. Die Wahrnehmung beim Lesen und beim Hören der Wörter ‚wandert‘ und muss beständig über11 12 13
Ebd., 17. Ebd. Bozzi 2011, Erfahrungsdruck und Dichtung, 109.
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prüft werden. Es ist ein Schreiben und Lesen des „Gegen-Blickens“14, das höchste Aufmerksamkeit erfordert und den Dingen ihre Selbstverständlichkeit entzieht. Zugleich erzählt die Autorin „nicht nur eine Geschichte, sondern auch die Geschichte der Geschichte, die Geschichte der Sprache und die Geschichte ihrer eigenen Methoden.“15 Im Bild des gesammelten und wandernden Taschentuchs als Tuch, Textur und Text, als Mehrfachmaterial, das (ver-)bindet und verbündet in und zwischen Sprachen, Geschichten und Zeiten, kann dem auf besondere Weise nachgegangen werden. In diesem Sinne hört auch die erwachsen gewordene Frau, die als Übersetzerin in einer Fabrik arbeitet und die Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst verweigert, Jahre später jeden Morgen wie im Echo auf die Taschentuchfrage aus der Kindheit eine neue Frage. Es ist die drohende Frage des Direktors, der möchte, dass die Frau für immer aus der Fabrik verschwindet und der seinerseits auf Druck der Geheimpolizei agiert: „Hast du eine andere Arbeit gefunden?“16 Und fast wie als Kind eignet sich die Frau das Taschentuch dann erneut an, allerdings jetzt nicht, um sich der Liebe der Mutter zu versichern, sondern um ihren Widerstand gegen die Repression durch den Fabrikdirektor und den Geheimdienst zu manifestieren. So setzt sie sich, ausgeschlossen aus ihrem Büro und vom Geheimdienst drangsaliert, auf der Treppe ihrer Fabrik auf das Tuch. Dort beginnt ihr Schreiben. „Aber das Schreiben hat im Schweigen begonnen, dort auf der Fabriktreppe, wo ich mit mir selbst mehr ausmachen musste, als man sagen konnte […], als […] das Taschentuch mein Büro war.“17 Das Tuch erscheint wie die dünne Haut, die das Ich zwischen sich und die Akteure der Repression, aber auch zwischen sich und die drohende Verödung der Menschen in der Diktatur, wie es sie auch bei den Arbeitskollegen erlebt, zu legen versucht. Die dünne Haut, das feine Tuch, die zarte Textur braucht es, um in der Isolation und im Schweigen eine eigene Stimme zu vernehmen, die das Schreiben hervorbringt. Das Tuch schützt gegen die Auslöschung der eigenen Person durch die Außenwelt, indem es die Interaktion mit dem eigenen Ich im Innern eröffnet, da ein anderes Gegenüber nicht mehr existiert. Die Protagonistin errichtet eine Form der Grenze gegenüber der Außenwelt, hinter der das Ich beginnen kann, Wörter für sich zu suchen und dadurch eine Form der Unabhängigkeit für sich zu schaffen. Auf dieser inneren Bühne entsteht ein Spiel der Imagination, das Poetik und Ethik zu verbinden vermag und so neue Erfahrungsräume und Bewusstseinsfiguren erschafft. Diese sind den Ohren und Augen der Akteure der Macht nicht zugänglich, da sie das von der Autorin entwickelte Sehen, Hören, Lesen und Schreiben weder kennen noch beherrschen, ihre Kontrollorgane reichen nicht bis in diese Dimension hinein. Diese Erfindung einer Sprache der „verwun14 15 16 17
Eke 2011, Von Taschentüchern und anderen Dingen, 80. Bozzi 2011, Erfahrungsdruck und Dichtung, 100. Müller 2013, Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis, 9. Ebd., 18 f.
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schenen Logik“18 und einer neuen erkenntniskritischen Energie entzieht sich ihrer Macht. Die Müllerʼsche Sprache antwortet auf den geforderten Verrat im Bespitzeln, Verleumden, Kollaborieren mit einem anderen Betrug: Nichts mehr stimmt, und alles ist wahr […] [D]er Wortklang weiß, dass er betrügen muss, weil die Gegenstände mit ihrem Material betrügen, die Gefühle mit ihren Gesten. An der Schnittstelle, wo der Betrug der Materialien und der Gesten zusammenkommt, nistet sich der Wortklang mit seiner erfundenen Wahrheit ein. Beim Schreiben kann von Vertrauen keine Rede sein, eher von der Redlichkeit des Betrugs.19
In dieser Perspektive wird aus dem Gefängnis der Fabriktreppe das ‚Taschentuchbüro‘, wo eine ganz neue Arbeit und aus dem Schweigen das Schreiben entstehen. Eine solche ‚neue Arbeit‘, die auf ihre Weise auch eine Form des widerständigen „Betrugs“ darstellt, erschafft sich auch die Mutter der jungen Frau, die kurz vor der geplanten Ausreise im Büro eines Polizisten eingeschlossen wird. Den ganzen Tag saß meine Mutter eingesperrt da. Die ersten Stunden saß sie an seinem Tisch und weinte. Dann ging sie auf und ab und begann mit dem tränennassen Taschentuch den Staub von den Möbeln zu wischen. Dann nahm sie den Wassereimer aus der Ecke und das Handtuch vom Nagel an der Wand und wischte den Boden. Ich war entsetzt, als sie mir das erzählte. Wie kannst du dem das Büro putzen, fragte ich. Sie sagte, ohne sich zu genieren, ich habe mir Arbeit gesucht, dass die Zeit vergeht. Und das Büro war so dreckig. Gut, dass ich mir eins von den großen Männertaschentüchern mitgenommen habe. Erst jetzt verstand ich, durch zusätzliche, aber freiwillige Erniedrigung verschaffte sie sich Würde in diesem Arrest.20
Das Männertaschentuch aus der engen Familienschublade im Dorf, aus dem Herz der Familie, ist hier sinnbildlich ins Herz der Macht gewandert und wird auf überraschende Weise in eine Waffe transformiert, die die Unterwerfung in Würde verwandelt. Betrogen wird dadurch der Vertreter der Staatsmacht, der die Gefangene im Stadium der Unterwerfung festhalten möchte, ‚betrogen‘ fühlt sich im ersten Moment auch die Tochter, betrogen ist aber auch in gewisser Hinsicht der Leser, der die Taschentuchschublade ausschließlich als ‚Familienfoto der Dorfenge und Traditionslast‘ gesehen hat und das „Gegen-Blicken“ sich nicht selbst auch zur Aufgabe in einer eigenen Arbeit gestellt hat. Die Dreieckskonfiguration von Mutter, Kind und Tuch ist ein Leitmotiv in Herta Müllers Werk und verweist auf einen Zusammenhang von Generationen, Ding und Überlieferung. Im Roman Atemschaukel erfährt der Protagonist Leopold Auberg im sowjetischen Arbeitslager in der Begegnung mit einer ihm unbekannten russischen Mutter die umarmende und verletzende Schönheit des Taschentuches: 18 19 20
Ebd. Ebd., 19. Ebd., 20 f.
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Das schneeweiße Taschentuch aus feinstem Batist war alt, ein gutes Stück aus der Zarenzeit. Es hatte einen handgestickten Ajour-Rand, Stäbchen aus Seidenzwirn. Die Lücken zwischen den Stäbchen waren akkurat genäht und in den Ecken kleine Seidenrosetten. So etwas Schönes hatte ich lang nicht mehr gesehen. Die Schönheit der normalen Gebrauchsgegenstände war zu Hause nicht der Rede wert. Im Lager ist es gut, sie zu vergessen. In dem Taschentuch erwischte sie mich. Die Schönheit tat mir weh.21
Die Schönheit richtet sich an Leopold Auberg stellvertretend für den abwesenden leiblichen Sohn der Mutter, das verlorene Kind. Die Gabe des Tuchs der fremden Mutter ist beglückend und überfordernd zugleich, es ist ein Zuviel, das hier dem Gegenstand und somit dem Beschenkten zukommt: Mir war es peinlich, dass ich da war, dass ich nicht er war. Und dass sie das auch spürte und sich darüber hinweg setzen musste, weil sie die Sorgen um ihn nicht mehr aushielt. Auch ich hielt es nicht mehr aus, zwei Menschen zu sein, zwei Verschleppte, das war mir zuviel, das war nicht so einfach wie auf dem Hocker zwei Hühner nebeneinander. Ich war mir doch selber schon um eine Last zuviel.22
Und doch kann der junge Mann das Taschentuch nicht mehr aus der Hand geben, denn er verknüpft es mit einem Satz, den ihm die Großmutter, kurz bevor er ins Lager deportiert wurde, beim Abschied mitgab: „ICH WEISS DU KOMMST WIEDER“23. Auch hier steht ein Satz für die Wiederkehr, die Heimkehr in den Schoß der Familie, ist erneut Band und Pfand eines Versprechens von Rettung und Liebe und hält am Leben. Auch wenn die Großmutter nicht von ihren unmittelbaren Gefühlen beim Abschied spricht, so vermittelt sie ihre Hoffnung doch direkter, weniger ‚verschlüsselt‘ als die Mutter der Taschentuch-Eingangsszene in Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis es vermag. Und auch hier ist die Beziehung von Wort und Ding entscheidend. Ohne die Worte „ICH WEISS DU KOMMST WIEDER“, wie zuvor „HAST DU EIN TASCHENTUCH?“, wäre das Ding auch im Lager ein banales Ding und könnte sich nicht zum lebensrettenden Bedeutungsträger verwandeln. „Ich war mir sicher, der Abschiedssatz meiner Großmutter ICH WEISS DU KOMMST WIEDER hat sich in ein Taschentuch verwandelt.“24 Interessanterweise liegt hier aber nun die umgekehrte Konfiguration im Vergleich zur ersten Taschentuchszene im Dorf vor: Dort hatte das Taschentuch die Mutterliebe beglaubigt, im Lager hingegen beglaubigt die Großmutterliebe das Taschentuch.25 Dort hatte das Ding sich in den unausgesprochenen Satz ‚Mutter liebt mich‘ ver21 22 23 24
25
Müller 2009, Atemschaukel, 78. Ebd., 77 f. Ebd., 14. Ebd., 80. Zur Verwendung der Majuskeln im Roman Atemschaukel von Herta Müller als „Wegrandworte“ oder Dingworte sowie zur Dingwelt des Lagers vgl. den Beitrag von Sarah Schmidt „Fremdeigene Wortreste“ im vierten Kapitel. Zur geschlechtsspezifischen Codierung der Dinge vgl. den Beitrag von Ulrike Vedder „Gendered objects“ im ersten Kapitel.
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wandelt, im Lager verwandelt sich der Satz „ICH WEISS DU KOMMST WIEDER“ in das Ding. Im Lager, wo es immer wieder, rein ‚materiell‘ gesprochen, nichts gibt als das Hungergefühl, gewinnt ein so unglaubliches, schönes Ding wie das Taschentuch aus Batist allein durch sein ‚Dasein‘ eine unerhörte materielle Präsenz, die über den äußersten Gewaltkosmos triumphiert. Im Familienhaus in der Nobelpreisrede hingegen, wo eine Fülle der Dinge gegeben ist, jedoch die Abwesenheit von Sprache und affektivem Ausdruck in den menschlichen Beziehungen das eigentliche Problem ist, ist es die Gewissheit eines indirekten Liebesgeständnisses, das die Grenzen des Gegebenen überschreiten soll. Vor diesem Hintergrund kann man auch zwei weitere ‚Echosätze‘ verstehen, die sich ähneln und zugleich aus einer leichten Verschiebung der Wahrnehmung im Bezug auf die Position des ‚Menschen‘ hervorgehen: „Kein anderer Gegenstand im Haus, nicht einmal wir selber, war uns jemals so wichtig wie das Taschentuch“26, sagt das Mädchen über seine Familie im Dorf. Das Ding Taschentuch wird hier in der Wichtigkeit seiner Mehrfachrolle als Liebesbestätigung, als jederzeit verfügbarer Gebrauchsgegenstand in der Not und als Gradmesser der Repression einer zu engen Tradition, die keinen Raum für freies Denken oder geäußerte Gefühle gibt, bestätigt. Es wird über den Menschen gestellt bzw. wird zum Mittel, um Liebe von Menschen zu bekommen, Empathie in die sozialen Beziehungen einzuführen oder Unfreiheit unter Menschen thematisieren zu können. „Das Taschentuch war der einzige Mensch, der sich im Lager um mich kümmerte“27, sagt der junge Mann in Atemschaukel im Rückblick auf seinen Lageraufenthalt. Das Taschentuch wird hier an die Stelle des Menschen gestellt, der in Sorge und Zuwendung sich dem anderen Menschen auch in Extremsituationen noch zuwenden kann. Es ist das Signalwort dafür, dass es diese Menschen nicht mehr gibt. (Denn selbst die russische Mutter wendet sich eigentlich einem anderen zu, nicht dem realen Empfänger des Taschentuchs, der nur Stellvertreterfunktion für den leiblichen Sohn hat.) Es geht also im Lager nicht mehr darum, dem schwierigen Zusammensein von Menschen eine affektive, empathische oder befreiende Geste abzuringen, sondern es geht darum, einen Ort zu denken, wo diese definitiv nicht mehr existiert. Einen Ort, an dem eine primäre Solidarität in menschlichen Beziehungen, die sich, unabhängig von den Konflikten in der Geschichte der Menschheit, ausgebildet hat und worin die Menschen sich als Menschen erkennen, nicht mehr gegeben ist. Hier verläuft dann auch die Grenze der Vergleichsmöglichkeiten zwischen der sprachlosen, gefühlsarmen und Unfreiheit produzierenden Verrohung der Menschen im Dorf und den Formen der Diktatur, wie sie das Lager konfiguriert. Folgt man der Logik der hier vorgestellten Überlegungen zum Taschentuch im Lager, ist es kaum überraschend, dass dieser Status des Dings als Stellver26 27
Müller 2013, Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis, 12. Müller 2009, Atemschaukel, 80.
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treter des Menschlichen eine religiöse Konnotation annimmt. So bewahrt Leopold Auberg das feine Batisttaschentuch der russischen Mutter bis zum letzten Tag im Koffer auf und nimmt es dann auf die Rückreise nach Hause mit, als „eine Art Reliquie von einer Mutter und einem Sohn“28. Auch die Reliquie zeichnet sich durch die ihr inhärenten vielfältigen Konnotationen aus. Ihr Entstehungsgrund ist der oftmals gewaltsame oder Märtyrer-Tod eines verehrten und geliebten Menschen, der zurückgelassen werden muss (lat. re-linquere, zurück-lassen). Was bleibt, ist ein Rest, ein Detail, ein Körperteil oder ein Gegenstand, der an die Stelle des Menschen rückt oder auf ihn verweist: Knochen, die Asche, ein Kleidungsstück, ein Tuch. Diesem Rest kommt nun auch eine Form der Verehrung zu, die sich oftmals mit der Hoffnung auf eine dem Ding innewohnende und erfahrbare Kraftquelle verknüpft. Die Materialität der Reliquie ist entscheidend, da das Anfassen oder Küssen als Voraussetzung des Krafttransfers verstanden wird. Im Bedürfnis nach diesem Haptischen verbinden sich Gedenken an das Vernichtete, Liebe, Rest und neue Kraft, die Zeit kehrt in ihre ‚alte Ordnung‘ von früher, heute und morgen zurück. Ist genau diese Sinnzuschreibung, auf das Taschentuch bezogen, im Lager und auf der Heimfahrt noch halbwegs intakt, so zerfällt dieser Halt vollständig mit der Rückkehr in die Familie. Das Taschentuch spielt im Leben nach dem Lager keine Rolle mehr und findet hier auch keinen Platz mehr als Erinnerungsstück oder als Reliquie. Es verschwindet einfach und kann auch im nachträglichen Schreiben des Protagonisten nicht mehr wiedergefunden werden. Das Dingwort ‚überlebt‘ den Übergang vom Lager in das Leben nach dem Lager nicht. Als er aus dem Lager in die Heimatstadt zurückkommt, versucht Leopold Auberg, das Erlebte in Form von Erinnerungen in „Diktandoheften“29 aufzuschreiben. Er beginnt mit dem Vorwort, kann aber keine Namen, sondern nur Kürzel oder Decknamen notieren. Der Heimgekehrte ist unfähig, den Satz der Großmutter oder das weiße Taschentuch aus Batist in seinem Schreiben zu erwähnen. Die Zeit kehrt nicht in ihre alten Gleise zurück, das Vorwort wird immer länger und erstreckt sich über drei Schreibhefte: „Darum habe ich VORWORT durchgestrichen und NACHWORT darüber geschrieben.“30 Und selbst „Nachwort“ wird dann dekonstruiert, wenn der Erzähler sagt, dass er weder „da bin ich“, noch „da war ich“31 schreiben kann: „Es war das große innere Fiasko, dass ich jetzt auf freiem Fuß unabänderlich allein und für mich selbst ein falscher Zeuge bin […]. Man kann sich nicht schützen, weder durchs Schweigen, noch durchs Erzählen.“32 Diesem „Überdruck an Erfahrung“33 (Heiner Müller) als einem Zuviel an Erfahrung, das in Atemschaukel ein Schreiben über die Lagerzeit vereitelt, begegnet Herta Müller mit der be28 29 30 31 32 33
Ebd., 79 f. Ebd. gleichnamiges Kapitel, 281 ff. Ebd., 283. Ebd., 294. Ebd., 283 und 294. Heiner Müller 1999, Krieg ohne Schlacht, 72.
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reits erwähnten Écriture des Gegen-Blickens, in der Fiktion und Dokumentarisches auf radikale Weise zusammenwirken, fundamentale Erlebens- und Verstehensgewissheiten außer Kraft setzen bzw. ganz neu konfigurieren und Visionen eines „es könnte auch anders sein“34 erfahrbar machen. Nur in dieser Form von sehendem Schreiben kann das zerstörerische Potential des Erfahrungsüberdrucks abgewendet und in etwas anderes verwandelt werden, worin auch die äußersten Ränder von Gewalterfahrung noch sprachlich erfasst oder zumindest von Sprache berührt werden können. Eine andere Arbeitsweise betrifft die Hereinnahme der zweiten Sprache, des zweiten Namens für Taschentuch, des rumänischen Worts Batista, was nun abschließend untersucht werden soll.
Zwischen zwei Sprachen In einer autobiographischen Selbstauskunft erzählt Herta Mülller, wie der Name Batista im Austausch mit Oskar Pastior über seine Lagererfahrungen in ihrem Werk aufgetaucht sei. Obwohl ich seit Jahrzehnten Rumänisch spreche, fiel mir im Gespräch mit Oskar Pastior zum ersten Mal auf: Taschentuch heißt auf Rumänisch BATISTA. Wieder mal das sinnliche Rumänisch, das seine Wörter zwingend einfach ins Herz der Dinge jagt. Das Material macht keinen Unterschied, bezeichnet sich als fertiges Taschentuch, als BATISTA. Als wäre jedes Taschentuch jederzeit und überall aus Batist.35
Während der deutsche Name „Taschentuch“ den Akzent auf die Größe, den Aufbewahrungsort beim Unterwegssein (für die Tasche) und auf den allgemeinen Begriff „Tuch“ legt, führt das Rumänische eine Art materiell-poetische Differenz ein, indem es die Spezifität eines kostbaren, schönen, traditionell auf dem Webstuhl angefertigten Stoffs in den Mittelpunkt stellt. Das Material, die Materialität, das Herstellen, das Haptische im Rumänischen stehen hier der Form, dem Aufbewahren und dem Gebrauch im Deutschen gegenüber, Sinnlichkeit und Ästhetik bilden eine Opposition zu Form und Funktion. Der rumänische Name bewahrt die Begriffsgeschichte und Etymologie aus dem Französischen auf. Schaut man im etymologischen Wörterbuch nach, findet man gleich mehrere Herkunftstheorien. Zum einen wird vermutet, dass „Batista“ aus der französischen Wurzel „battre“, schlagen, abgeleitet ist. Andererseits wird auch der nicht ganz gesicherte Ursprung der Benennung nach dem Leinweber Jean Baptiste aus Cambrai im 13. Jahrhundert angegeben, dessen Herkunftsort, trotz der Unsicherheit der Überlieferung, in den englischen Namen für Batist, „Cambria“, eingegangen ist.36 Entgegen dem französischen 34 35 36
Bozzi 2011, Erfahrungsdruck und Dichtung, 114. Müller 2013, Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis, 14. Pfister 1980, Einführung in die romanische Etymologie, 105.
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„batiste“, das in seinem Homonym „Baptiste“37 den Namen des Tuchmachers und den ‚Täufer‘, und damit auch das symbolisch-rituelle Geschehen der Taufe, als Wurzel des Namens andeutet, wählt das Englische in dieser Transposition anstelle des Materialnamens oder des Namens des Herstellers nun den Ort. Anderen Angaben zufolge ist der Name „Batist“ vom indischen Wort „Baftas“38 für weißen Kattun entlehnt worden. So ruft das rumänische „Batista“ auch eine ganze Kulturgeschichte der Wanderung auf, in der historisch Verbürgtes und Fiktion miteinander verschmelzen: Wanderung von Namen zwischen Mensch und Objekt, Wanderung zwischen Orten, Wanderung als Teil der Wirtschaftsgeschichte, Wanderung des Materials, Wanderung von der Textur in den Text und Wanderung als das Zusammentreffen von Material und Wort, die eine Einheit bilden. Man könnte also formulieren, dass der rumänische Name „Batista“ eine andere ‚Raumund Bewegungsstruktur‘ entwickelt und ein damit verbundenes Gedächtnis transportiert und hörbar macht, die dem deutschen Namen Taschentuch, insofern man ihn zuerst unter seinem funktionalen Aspekt betrachtet, nicht inhärent ist. Andererseits schickt die Autorin das ‚deutsche Taschentuch‘ in ihren Texten unaufhörlich auf Wanderschaft, wodurch sich das semantische Feld so erweitert, dass eine beständig wachsende Sammlung von Bildern und Bedeutungen entsteht. Der etymologisch-phonetische Reichtum im Rumänischen und ein Schreibprozess, der in der deutschen Sprache ‚die Dinge‘ offen hält und ein unabschließbares Verwandlungspotential des Verhältnisses von Gegenstand und Sprache betont, treffen sich im Stichwort „Wanderung“ und vereinigen sich in der Zweisprachigkeit. Auf jeden Fall ergeben beide Wörter gemeinsam gelesen eine Zusammenschau auf eine ‚funktional-begrifflich-materielle‘ Schreibweise und auf den eher sinnlich-metaphorischen Grund des Denkens. Der rumänische Name Batista wirkt im Text überdies für deutschsprachige Leser stark über seinen Klang. Zur beschriebenen haptischen Qualität des Stoffes gesellt sich also eine zweite sinnliche Wahrnehmung im Bereich der Akustik durch den Klang des Namens. Als im Kopf manchmal ‚laut Lesende‘ halten wir beim Wort „Batista“ mit einem besonders aufmerksamen Hören inne. Denn es scheint tatsächlich, als ob man dem rumänischen Namen länger nachhört, da er einen fremden Klang in den Text einführt. Die deutsche oder rumäniendeutsche Sprache sind „fortan nicht mehr die einzige Station der Gegenstände, nicht mehr das einzige Maß der Dinge“39; auch nicht mehr der einzige Ton, kann man hier noch hinzufügen. Der neue Ton markiert eine Unterbrechung, ohne diese zu beherrschen. Er fügt in den Text zunächst einmal weder Erklärung noch Wissen oder Repräsentation von Wissen ein, sondern einen Klang, der uns hellhörig macht für etwas, das wir nicht gleich verstehen, 37 38 39
Petit Robert: „batiste“. www.stofflexikon.com/batist/92/batist.htm, zuletzt aufgerufen am 20.03.2015. Müller 2002, Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm, 11.
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nicht kennen, vielleicht den Anfang einer anderen Geschichte. Zum „GegenBlicken“ gesellt sich ein ‚Gegen-Hören‘.40
Schluss Ein Ausgangspunkt meiner Auseinandersetzung mit dem Text Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis war das Bild der in der Schublade gesammelten und aufbewahrten Taschentücher, die jederzeit zum Gebrauch bereitlagen und sinnbildlich der festgelegten, autoritären Ordnung und Tradition des Familienund Dorflebens Rahmen und Struktur vorgaben. Mit diesem ‚festen Bild‘ der Taschentuchsammlung, das ‚Authentizität‘ und eine Form der Stillstellung von Zeit und Raum suggeriert, beginnen also der Text und die Geschichte. Diese Sammlung in der begrenzten und eingrenzenden Schublade ist dann aber auch der Startpunkt für ‚die große Reise‘ des Taschentuchs. Es wird zu einem ‚Metaobjekt‘, verwischt immer wieder Spuren der Zugehörigkeit und wirkt auf vielfältige Weise und mit ständig wechselnden Bedeutungen und Funktionen durch die Texte der Autorin hindurch. Aus der Sammlung geht es in die Zerstreuung, und anhand des Objekts werden die verschiedenen Schichten und Schichtungen von Realität erforscht, wo der Gegenstand selbst zum Bildträger nicht mehr der Ordnung, sondern der ‚Un-Ordnung‘ und vor allem zum Sinnbild des Widerstands gegen die diversen Formen von Gewalt wird. Die Arbeit mit dem semantischen Gehalt des Dings Taschentuch zeigt die Risse zwischen Welt und Sprache auf und stellt sie gleichzeitig her, damit der Leser die Wahrnehmung seines eigenen Sehens und Hörens von Realität überprüfen muss. Und dennoch gibt es auch dies: „Mit dem Taschentuch endet auch eine andere Geschichte“, schreibt die Autorin und erzählt dann die Geschichte vom Todesfoto von Onkel Matz, dem Nationalsozialisten. Das Taschentuch kann also am Anfang oder am Ende einer Geschichte oder einer Passage auf der langen Wanderung stehen, die es, einmal aus der Schublade entlassen, unternimmt. Es bildet keine Klammer zwischen den Episoden, es hegt nicht ein, es sucht nicht neue ‚Schubladen‘ für neue Sammlungen von Bildern, Wörtern, Wissen, Traditionen. Es ist in gewisser Hinsicht ‚frei flottierend‘, ein „weiße[r] Dunstfetzen“41 mit seinem optischen Täuschungspotential: Wir sehen nicht immer scharf, so dass Wahrnehmung und Wort in unserem Kopf eben nicht unbedingt übereinstimmen, und der vermeintliche ‚Nebel‘ verhüllt und enthüllt zugleich Präsenz oder lässt Visionen eines ‚Anderen‘, einer „Welt des Werdens“42, erahnen. 40 41 42
Zum Spiel mit Zweisprachigkeit vgl. auch Mona Körtes Beitrag „Vom Ding zum Zeichen“ im ersten Kapitel. Müller 2013, Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis, 13. Bozzi 2011, Erfahrungsdruck und Dichtung, 111.
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Am Ende der Nobelpreisrede ist das Wort, und das Wort ist eine Frage, und die Frage ist kein Ritual, aber kreist um ein Ding, und das Ding wird zum Sinnbild „Habt ihr ein Taschentuch?“43. Beim Lesen scheint es, als ob der Text sich hier, nach einer langen Reise durch die produktive Einbildungskraft, die Ethik und Poesie, Fiktion und Autobiographisches im Bild des Taschentuchs immer wieder, und immer wieder auch sehr sperrig, zusammengebracht hatte, noch einmal sammelt, erinnert. Eine Referenz zu seinem eigenen Beginnen wird hergestellt, etwas kommt für einen Augenblick zur Ruhe und kehrt an einen Ausgangspunkt zurück. Und dann wird noch einmal auf die antwortende Echostruktur zurückgegriffen, so dass diese Rückkehr zugleich einen weiteren neuen Raum öffnet: den des Wünschens. Aus dem „du“ wird in Müllers Nobelpreisrede ein „ihr“, und die Frage nach dem Taschentuch, so der Wunsch der Schreibenden, sollte „über die halbe Welt gespannt“44 und ein Satz „[F]ür alle, denen man in Diktaturen aller Tage, bis heute, die Würde nimmt“45, werden. Der Satz mit dem Taschentuch erscheint jetzt in einer universellen Dachfunktion als Schirm, Zelt oder Schutzschild gegen die Entwürdigung und Gewalt gegen Menschen in der Diktatur. Die Kraft des Satzes aber kann sich nur entfalten, wenn er von einem Menschen zu einem anderen gesagt oder für einen anderen Menschen geschrieben und von ihm gelesen werden kann. Eine Begegnung muss stattfinden über die Sprache. Wir sind an den Anfang zurückgekehrt, und zugleich hat sich ein schmaler Fensterspalt – denn die Autorin verbleibt hier ganz im Konjunktiv – auf die Denk-, Sag- und Schreibmöglichkeit einer weltumspannenden Taschentuchfrage geöffnet: „Ich wünsche mir, ich könnte einen Satz sagen“46. Diese schüchterne und fragile Öffnung steht im Zeichen der Sorge und Fürsorglichkeit als „utopisches Merkzeichen eines erst noch zu erreichenden Zustands universaler Mitmenschlichkeit.“47 Das Schreiben vom Taschentuch in seinem Dauerwandern wird zur widerständigen Sammlung dieser zerbrechlichen Hoffnung.
43 44 45 46 47
Müller 2013, Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis, 21. Ebd., 14. Ebd., 21. Ebd. Eke 2011, Von Taschentüchern und anderen Dingen, 81.
DOMINIK FINKELDE
DER NICHT AUFGEHENDE REST − ZUM WIDERSTREIT ZWISCHEN OBJEKT UND DING IN DER MODERNE
Einleitung Ein zentrales Thema der Philosophie ist spätestens seit dem 18. Jahrhundert die Erkenntnis, dass sich die Struktur unserer Zuwendung zu Gegenständen selbst nicht vollständig abbilden lässt. Entscheidend ist hier, inwiefern unser erkennendes und sich intentional auf die Umwelt beziehendes Bewusstsein immer schon etwas ausblenden bzw. abblenden muss, z. B. den Bereich eines nicht abschließbaren Hintergrunds, aus dem heraus ein erkanntes, gedachtes oder phantasiertes Objekt sich erst präsentiert. So bleibt ein nicht einholbarer, nicht explizierbarer ‚Rest‘ übrig, den keine Begrifflichkeit unter Einbeziehung ihrer eigenen Bedingungen in den Akt ihrer Benennung bringen kann. Dieser Rest konfrontiert die Erkenntnis mit einem ‚Noch-Nicht‘ ihres Erkannten. Die Reflexion über diesen Rest legt offen, inwiefern die Dynamik von Strukturbildungen eines begrifflich explizierbaren und durch Intentionalität entstehenden Bereichs objektiver Zusammenhänge erst durch eine konstitutive Abwesenheit zustande kommt.1 Sigmund Freud thematisiert diese Erkenntnis prominent in seiner Analyse des psychischen Apparats. Er tut dies nicht wie die Erkenntnistheorie des 18. und 19. Jahrhunderts im Rahmen einer Analyse apriorischer Bedingungen wie sie die Subjekt-Objekt-Dichotomie prägen, sondern durch die Erforschung von Psychopathologien und psychosomatischen Symptomen, die unter anderem darauf hinweisen, dass das Bewusstsein des Menschen sich selbst nicht umschließen kann und durch eine innere Alterität immer wieder in seinen Selbstbezügen herausgefordert ist. Freuds Untersuchungen führten ihn zur Entdeckung des Unbewussten als bewusstseinsbedingender Abblendung oder Hintergrundstruktur, ohne die Selbstreflexivität auf der von Freud thematisierten Ebene des „Ego“ überhaupt nicht auf den Plan einer Selbstbeziehung treten kann. So gibt es sowohl in der Philosophie wie auch in der Psychoanalyse kein Erkennen ohne Rest, weder in der Selbsterkenntnis noch in der Erkenntnis der Welt ‚da draußen‘ als der immer überdeterminiert bleibenden Komplemen1
Vgl. Wolfram Hogrebe, der diese Struktur in Schellings „Weltalter“-Fragmenten offenlegt, in: Hogrebe 1989, Prädikation und Genesis. Siehe auch Gabriel 2010, Die Welt als konstitutiver Entzug, 92 ff. und: ders. 2013, Warum es die Welt nicht gibt.
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tärstruktur gegenüber einem unterdeterminiert bleibenden Zugriff bewusstseinsabhängiger Synthesen. Dieser Umstand wird an dieser Stelle einleitend erwähnt, da er auch die menschliche Tätigkeit des Sammelns und Ordnens betrifft. Denn auch Sammlungen, die wir hier stark vereinfacht im Sinne einer modernen Synthese zur repräsentationalistischen Darbietung von Gegenständen im Rahmen einer damit bezweckten Narration verstehen, gelingt es nicht, durch einen Selbsteinschluss die Repräsentationsstruktur ihrer Taxonomien zu einem Gegenstand innerhalb der Repräsentation (der Versammlung bzw. der Ausstellung) zu bringen. Sammlungen sind auf der Makroebene ablaufende Synthetisierungsprozesse, die, ähnlich wie auf der Mikroebene des Erkenntnisapparats ablaufende individuelle Erkenntnisakte, Mannigfaltigkeiten gemäß einer Subsumptionsregel in eine Einheit bringen. Zur Spezifizierung dieses Gedankens kann man auf Kants berühmte Definition des Denkens als Subsumptionsprozess rekurrieren, die auch als eine in die Makrostruktur extrapolierte Definition des Sammelns angesehen werden kann: Die Sache der Sinne ist, anzuschauen, die des Verstandes, zu denken. Denken aber ist Vorstellungen in einem Bewußtsein vereinigen. [...] Die Vereinigung der Vorstellungen in einem Bewußtsein ist das Urteil. Also ist Denken so viel, als Urteilen, oder Vorstellungen auf Urteile überhaupt beziehen.2
In diesem Sinne ist Sammeln zu verstehen als eine Form der urteilsartigen Zusammenfügung von Mannigfaltigkeiten unter Oberbegriffe, wie man sie beispielsweise von Ausstellungsräumen in Museen her kennt.3 Sammeln erweist sich als eine Syntheseleistung ‚zweiter Ordnung‘. Sie inszeniert operationelle Bezüge des Menschen auf die Wirklichkeit und verrichtet auf einer Metaebene, was der menschliche Verstand gemäß Kants berühmter Definition permanent tut: Mannigfaltigkeiten sinnlicher Eindrücke unter Oberbegriffe zu subsummieren. Unter den Bestimmungen ihrer Auswahlkriterien transformiert sie inkonsistente, heterogene Mannigfaltigkeiten in konsistente und geordnete Mannigfaltigkeiten und schafft dadurch eine Wirklichkeit, deren Konstruktion sich Kriterien verdankt, die, wie gesagt, nicht Teil der Repräsentation werden. Eine Mannigfaltigkeit (wenn auch nicht von Eindrücken, aber doch von Gegenständen) wird in einer Sammlung unter einen Oberbegriff gebracht, ohne dass die Präsentation eingeschlossener Teil ihrer selbst werden kann; oder in anderen Worten ausgedrückt: ohne dass die Präsentation all ihre Regelfolgen, die entscheidend waren in der Etablierung der präsentierten Einheit, ein2 3
Kant 1902-, Prolegomena, 304/§ 22. „Sammlungen“ meinen wir hier stark vereinfacht im Sinne einer klar nach Ordnungsparametern gestalteten Zusammenschau von Dingen. Die mittelalterliche Wunderkammer und das „cabinet of curiosity“ beispielsweise fallen nicht darunter, da sie noch vormoderne, mit Foucault gesagt, ,vorklassische‘ Repräsentationsformen der Synthese verwenden. Siehe zu dieser Vorform des modernen Museums und der modernen Sammlung folgende einschlägige Studien: Daston 1998, Wonders and the Order of Nature 1150-1750; Bredekamp 2000, Antikensehnsucht und Maschinenglauben; Pomian 1988, Der Ursprung des Museums.
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holt/einfängt und diese ihrerseits Teil des Präsentierten werden.4 Wollte man dies unbedingt anstreben, so müsste für jede Regelerklärung eine weitere angeführt werden und die Sammlung würde sich um ihre – in einem Regress sich unendlich vermehrenden – Sammlungskriterien-Analysen unendlich erweitern. Wenn der Versammelnde nämlich aufzuweisen versucht, warum er bei seiner Sammlung diesem oder jenem Kriterium gefolgt sei, dann folgt er im Urteilsbezug auf dieses Kriterium ja wieder einem solchen und so ad infinitum. Erkennen als Synthetisieren ist daher so aufzufassen, dass das mit ihm verbundene Urteilen an einem bestimmten Punkt nicht mehr im Paradigma des Regelfolgens zu verstehen ist, sondern als Setzung. Und das betrifft auch die Sammlung, vorausgesetzt ihre Taxonomien zielen auf eine Repräsentationsform eines Oberbegriffs und damit auf die Objektivität desselben und inszenieren weniger eine taxonomische Unschärferelation, wie sie die frühneuzeitlichen Wunderkammern prägte. Es gibt somit eine aus strukturellen Gründen als notwendig anzunehmende Inkommensurabilität, die eine klar taxonomisch geprägte Sammlungssynthese – egal, ob auf Mikro- oder Makroebene – nicht überwinden kann.5 In den folgenden Ausführungen wollen wir uns diesen operationellen Bezügen des Sammelns genauer widmen, und zwar im Verweis auf drei Autoren – Adalbert Stifter, Walter Benjamin und W. G. Sebald –, die eine ausgeprägte Sensibilität gegenüber den oben beschriebenen Aporien innerhalb der Syntheseleistungen des Sammelns, Vereinens, Ordnens und Erkennens in ihren Werken literarisch entwickeln. Sie setzen sich dabei von einem unkritischen Verständnis menschlicher Wirklichkeitskonstruktion ab. Stifter, Benjamin und Sebald problematisieren mit ihren diversen Thematisierungen des Sammelns als Leitmotiv der literarischen Arbeit (sowohl ihrer eigenen, wie auch der ihrer literarischen Figuren) herausragend und vielschichtig, was Museen und Sammlungen, zumindest bis ins späte 20. Jahrhundert hinein, nicht selten ahnungslos und unreflektiert taten bzw. tun: Dinge und Gegenstände nach taxonomischen Wahrheitswerten in scheinbar eindeutig abzählbare Mengen zu vereinen, ohne die dabei konstitutive und eingangs erwähnte Abblendung reflexiv einzufangen.6 Die genannten Autoren legen offen, inwiefern es keine
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Den erkenntnisbedingenden Nicht-Einschluss des Erkenntnisaktes in den Erkenntnisprozess kennt man formalisiert durch Russells Mengenantinomie. Sie ist in einem gewissen Sinne gut auf das Thema des Sammelns anwendbar. Denn so, wie gemäß Russell im Fall einer Menge, die nicht Teil ihrer selbst ist, der Versuch, den Selbsteinschluss zu vollziehen, zu einem Zusammenbruch der genannten Menge führt, kann auch eine Sammlung nicht ihren eigenen Selbsteinschluss erreichen. Vgl. Russell 1967, Letter to Frege. Hierbei wird vorausgesetzt, die Sammlung strebe (in der Regel) jene „Objektivität“ des Erkennens an, insofern mit ihr eine bestimmte Narration verbunden ist und das Ziel einer Repräsentation von dem, ‚was der Fall‘ ist. Eine moderne Museumskultur versucht seit spätestens den 1980er Jahren wiederholt, die Selbstreflexivität ihrer Urteilsstrukturen mit in die Repräsentationsform der Sammlung und also gleichfalls zur Darstellung zu bringen. Zahlreiche Studien im Bereich der Museum Studies wid-
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universale Matrix gibt, die jegliche Art von Taxonomien wie in einer Menge aller Mengen umspannt. Diese Erkenntnis führt sie zu teilweise dramatischen Inszenierungen dialektischer Taxonomiebrüche innerhalb ihrer Texte in Bezug auf das Thema des Sammelns, das Thema des Ordnens – und schließlich bis zur Erörterung der Frage nach einer Weltordnung. In Stifters wiederholt von der Literaturforschung analysierten Faszination am Sammeln wie auch am Wort „Ding“ – verstanden als Universalchiffre einer gottverbürgten Weltordnung, die der Autor einzufangen versucht – begegnen wir einer aufkommenden Angst, die Anzeichen dafür ist, dass der österreichische Autor an die Kohärenz seiner Sinnstiftungen im Hintergrund der Partikularität der Einzeldinge nicht mehr zu glauben vermag.7 Bei Benjamin erleben wir die Thematisierung von Taxonomiebrüchen in seiner Geschichtsphilosophie wie auch in seiner Interpretation des deutschen Barocktheaters, auf die wir eingehen werden. Im Barock ist gemäß seiner Interpretation in der soteriologischen Perspektive des Protestantismus eine transzendenzentzogene, „entleerte“ Welt rein in ihrer schwer lastenden materiellen Dinglichkeit vorherrschend. Wie Benjamin schreibt, ragt „die Dingwelt übern Horizont des Trauerspiels beklemmend“8, weil ein Vertrauen in erkennbare Repräsentationsstrukturen der metaphysischen Wirklichkeit nicht mehr gewahrt ist. In dieser Welt instabil gewordener Dinge, die ihrerseits auf eine kontingente Schicksalhaftigkeit menschlicher Existenz verweist, prägt Melancholie die Lebensvollzüge und nimmt Erfahrungsformen transzendenter Obdachlosigkeit des 20. Jahrhunderts indirekt voraus. W. G. Sebald inszeniert diese seinerseits in seinem Werk auf herausragende Weise. Denn bei ihm werden wir sehen, inwiefern sein Erzähler in Die Ringe des Saturn (die Konzeption der Melancholie aus Benjamins Trauerspiel-Buch klingt hier an) sich vom Bedürfnis befallen erfährt, eine nicht mehr kohärent zu vereinende soziohistorische Wirklichkeit nach verstehender Versammlung durch seine Sammlungen von Erinnerungen und Fragmenten der Geschichte zusammenzuhalten. Wie wir zeigen werden, erlebt der Sebald’sche Erzähler sich immerfort appellativ invadiert von einer Außenwelt, durch die die „Schlachtbank der Geschichte“9 (Hegel) ihm ständig neu entgegentritt und ihm den Raum eines Lebens in der Normalität der Alltäglichkeit raubt. So bleibt im Anblick eines nie aufgehenden Rests der Sammlung die um Ordnung und Verstehen bemühte Psyche nahezu psychotisch zurück. Wie wir in den folgenden Kapiteln aufzeigen wollen, legen die Autoren in ihren Rekursen auf das vielschichtig verhandelte Thema des Sammelns und Ordnens offen, inwiefern Ordnungsbezüge als eine Form der Urteilsbezüge
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men sich diesem Thema. Siehe beispielsweise die folgende Anthologie: Carbonell 2012, Museum Studies. An Anthology of Contexts. Nicht der Verwendung des Wortes „Ding“, sondern einer gendertheoretischen Untersuchung ausgewählter Dingbeschreibungen bei Stifter geht Ulrike Vedder in ihrem Beitrag „Gendered objects“ im ersten Kapitel nach. Benjamin 1990, Ursprung des deutschen Trauerspiels, 312. Hegel 1986, Philosophie der Geschichte, 35.
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über Wirklichkeit weder vor einem nicht aufgehenden Rest gefeit sind, noch vor dialektischen Umkehrungen, die eventuell von diesem Rest her die etablierten Repräsentationsschemata in ihr Gegenteil stürzen lassen. Denkansätze, Motive und Theorien, die die scheinbare Kohärenz des Synthetisierten (einer Sammlung) in dialektische Umkehrbezüge subvertieren, werden von den Autoren wiederholt, wenn auch sehr unterschiedlich, dargestellt. Alle drei beweisen eine große Sensibilität dafür, dass Sammlungen und Ordnungsverhältnisse als Makro-Synthesen des menschlichen Zugriffs auf ‚Welt‘ – wie Kippbilder – plötzlich in fundamental andere Abbildungen sich verkehren können, weil eine konstitutive Abwesenheit den dialektischen Umkehrpunkt markiert, von dem her eine Konstruktion ihr Gegenteil kennenlernt. Sie thematisieren so literarisch eine konstitutive Abwesenheit in Ordnungsstrukturen, ziehen jedoch unterschiedliche Konsequenzen. Bei Stifter tritt sie als die Angst angesichts einer in kontingenten Naturprozessen verankerten Welt hervor, bei Benjamin berührt sie den Einblick in eine Welt, die instabil gewordene Weltbezüge etabliert, und bei Sebald taucht sie in der Unfähigkeit auf, Ordnungen in Form einer geschichtlichen ‚Erfahrungssicherung‘ zu erkennen, die wir Menschen als Garantie unserer Wirklichkeitsbezüge unbezweifelbar brauchen. Das Motiv einer konstitutiven Abwesenheit in unserem Bezug auf die Wirklichkeit hat sowohl etwas mit der eingangs erwähnten erkenntniskonstitutiven Abblendung, wie auch mit dem – das selbstreflexive Verhältnis des intentionalen Bewusstseins betreffenden – Begriff des Unbewussten zu tun. Daher wird in unseren Analysen der Rückgriff auf Freuds Begriffe des Unbewussten und der Verdrängung strukturell eine Rolle spielen und durch Jacques Lacans Rede vom „Realen“ theoretisch seine Erweiterung finden. Der vielrezipierte Begriff des Lacan’schen Realen steht gemäß dem französischen Psychoanalytiker für das Andere einer repräsentationalistischen Selbstbeziehung, die dadurch jeder Wirklichkeit entkommt.10 Das Reale ist Grenzbegriff eines vorsymbolisierten ‚X‘ und verschwindet – ohne weg zu sein – in dem Moment, in dem eine symbolische oder sprachlich-semantische Syntheseleistung (egal ob individuell-psychisch oder sozial-gesellschaftlich) glaubt, Objektives zu umfassen. Der Begriff des Lacan’schen Realen wird hier aufgegriffen, da er die erwähnten erkenntnistheoretischen und individualpsychischen Strukturaporien einer jeden repräsentationalistischen Reflexion einfängt und sich für unsere Analysen zum Thema des Sammelns als fruchtbar erweist. Die Freud’sche und Lacan’sche Rede von der Verdrängung als bewusstseins- und intentionalitätsbedingte (wie auch -bedingende) Abblendung kann uns in Bezug auf Stifter, Benjamin und Sebald verstehen helfen, inwiefern eine Kehrseite der Sammlung etwas mit einem konstitutiven Entzug zu tun hat als Bedingung dafür, dass Gegenstände, Dinge und die Außenwelt überhaupt in einer scheinbar eindeutig geordneten Repräsentationsform erscheinen. 10
Vgl. Lacan 2006, Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale. Siehe ebenso ders. 1996, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, 59-66.
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Diese Kehrseite hat es – epistemologisch gesehen – selbstverständlich immer schon gegeben. Sie ist nicht erst eine Entdeckung des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts. Dennoch verbreitet diese Einsicht sich in lebensweltlichen Zusammenhängen erst sehr viel später mit der Destabilisierung traditioneller ontologisch und/oder religiös geprägter Welterklärungsmodelle. Die hier präsentierten Autoren sind Seismographen dieser Veränderungen, ohne dass sie schon genau definieren können, welcher epistemische Wechsel es ist, der sich als Grund ihrer besonders bei Benjamin und Sebald spürbaren Melancholie vollzieht. Dieser Wechsel wird aber dennoch vor dem Hintergrund des Leitmotivs des Sammelns von den drei Autoren bereits erwähnt und als Schicksalsdimension ins Leben ihrer literarischen Figuren gestellt. Stifter, Benjamin und Sebald inszenieren – so die These – Sammeln und Ordnen als eine Form der Jagd nach einem namenlosen Verlorenen, einer ontologischen Unvollständigkeit, die sich in den Dingen, die sie versammeln, verbreitet. Dies unterscheidet ihre Texte u. a. von Texten des frühen 19. Jahrhunderts. Auch diese thematisieren bekanntlich das Thema des Sammelns.11 Aber die zugegebenermaßen hier sehr reduktiv in die These eingehenden, ‚vormodernen‘ Autoren kennen noch nicht dieselben ‚Unheimlichkeiten‘ innerhalb der Netzwerke von Bedeutungen, innerhalb der Taxonomien, von denen die hier präsentierten Schriftsteller in der Konfrontation mit dem Epochenbruch zur klassischen Moderne als von einem nicht aufgehenden Rest und sogar Abgrund sprechen. Oder anders gesagt: Die vormodernen Autoren gehen in ihren Sammlungen von Objekten aus, während die hier behandelten Autoren in zunehmendem Maße von Dingen ausgehen. Mit der Differenz von Objekt und Ding, die in den folgenden Ausführungen wichtig ist, wird auf ein Theorem zurückgegriffen, welches Freud in seiner Rede vom „Ding am Nebenmenschen“12 de. Dinge stehen gemäß unserer mithilfe von Lacans Theorie des Realen eingeführten Differenzierung nicht als objektivierbare, dreidimensionale Gegenstände in einem rationalisierbaren Raum, wie es Objekte (gemäß der hier vorgeschlagenen Definition) tun. Sie sind vielmehr eingebunden in einem ‚dispositionellen Feld der Aspektwahrnehmung‘13, das vom Subjekt nicht dominiert werden kann und je durch eine thematisierte Nicht-Koinzidenz der Dinge mit sich selbst unterminiert wird. Die genannten Autoren thematisieren in ihren je verschiedenen Sammlungs- und Ordnungstheorien diese Nicht-Koinzidenz der Dinge als abgründige Dimension hinter jeder Art der Wirklichkeitskonstruktion, die besonders das Sammeln als eine Form der Weltaneignung betrifft.
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Prominent ist hier ein Text Goethes: Goethe 1997, Der Sammler und die Seinigen. Siehe auch den Artikel von Carrie Asman: Asman 1998, Orte des Sammelns. Freud 1962, Entwurf einer Psychologie, 338. Dieser Begriff, auf den wir später noch näher eingehen werden, stammt von Maurice Merleau-Ponty und wird von Richard Boothby in den Kontext der Psychoanalyse integriert. Siehe: Boothby 2001, Freud as Philosopher, 21 ff.
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Adalbert Stifter und die fürchterliche Wendung der Dinge Stifter ist im Kontext einer Metatheorie des Sammelns, wie wir sie hier entfalten wollen, in Bezug auf einen Epochenbruch zur klassischen Moderne ein besonderer Autor, da man ihn auf zwei verschiedene Weisen lesen und analysieren kann. Gemäß der einen Lektüre ist für Stifter eine an der Aufklärung mit ihren diversen Bildungsidealen ausgerichteten Sehnsucht dominant, den Menschen als ordnendes Geschöpf innerhalb einer geordneten Schöpfung zu verstehen. Das Thema des Ordnens ist hier scheinbar stark der Tradition des Bildungsromans verschrieben und als solches rezipiert worden. Sein Hauptwerk Der Nachsommer steht dafür in prägnanter Weise ein. Aber diese Einschätzung verkehrt sich auch in ihr Gegenteil: Das Ordnungsmotiv offenbart sich bei Stifter ebenso als Symptom unterschwelliger Verlustangst letztverbürgter Ordnung. Besonders Stifters eigene Rede vom „Ding“ expliziert die für unsere Ausführungen wichtige Objekt-Ding-Differenz, da die vielbeachtete Manie eines eigenen „Ding“-Diskurses, einer eigenen Besessenheit mit dem Wort „Ding“ diese Angst in Form einer auch poetisch sich abzeichnenden Paranoia vermittelt. Dies drückt sich bei Stifter durch eine von der Forschung wiederholt rezipierte, eigenwillige Beziehung zu dem Wort „Ding“ bzw. zur Rede von „den Dingen“ aus. Diese Eigenart wird deutlich, wo das Wort „Ding“ in einer solch umfangreichen Weise von Stifter gebraucht wird, dass es sich als Kategorie einer Differenzierung durch das Fehlen eines Gegenübers (eines Nicht-Dinges) nahezu aufhebt.14 Stifter nennt die Natur ein „Ding“, ebenso die Zukunft15, Waldansichten oder Musikstücke, selbst Menschen16 und Gefühle. Das Wort „Ding“ hat also einen seltsamen, alle Differenzen auslöschenden Klang, so dass man den Eindruck gewinnen könnte, Stifter reaktualisiere in neoscholastischer Manier die aus der Theologie verbürgte Interpretation der „res“ als Inbegriff der gesamten als Schöpfung verstandenen Welt (z. B. bei Aquin).17 „Es war ein gewaltiger Reiz für das Herz, das was in den Dingen vor mir lag, zu ergreifen“18, heißt es im Nachsommer.19 Als göttlich verbürgtes „Ding“ ist – so könnte man meinen – letztlich noch der schrecklichste Eindruck, die größte Gefahr, der Stifter seine Romanfiguren aussetzt, immer noch durch Gott aufgehoben, selbst wenn die ‚Inflation‘ der Dinge zu göttlich verbürgten „res“ scheinbar um den Preis der Individuation 14
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Eva Geulen schreibt diesbezüglich: „Stifters Prosa ist ein Ensemble von Wiederholungen, der Themen, der Schauplätze und der Worte, unter ihnen ‚das Ding‘, das in seiner unbestimmten Bestimmtheit gleichsam das Motiv der Motive abgibt.“ Geulen 1992, Worthörig wider Willen, 41. Vgl. Stifter 1982, Der Hagestolz, 14. „Sonst war Abdias ein Ding, das der blödeste Türke mit dem Fuße stoßen zu dürfen glaubte, und stieß.“ Stifter 1982, Abdias, 245. Vgl. Dehn 1969, Ding und Vernunft, 9. Stifter 1997, Der Nachsommer, 32. An einer anderen Stelle spricht Stifter von der „Unschuld der Dinge“ (ebd., 218), die ihnen allen zukomme.
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erkauft ist.20 Und wenn Stifters Romanfigur Witiko sagt, „Ich habe gar keine Meinung, ich erwarte nur die Dinge“21, so drückt er in diesem Satz im übertragenen Sinne die Haltung Stifters zu seiner schriftstellerischen Tätigkeit aus: Statt subjektiv bleibende „Meinungen“ auszudrücken, dränge es ihn, wie er schreibt, die „Dinge“ möglichst ohne Einmischung eines Vermittlers (d. h. des Autors/Dichters) zum Sprechen zu bringen.22 Und doch stellt man fest, dass die Beseelung der Dinge bei Stifter eine ganz andere, nach-klassische und nach-romantische, bedrohliche Wendung nimmt. Der nach-klassische ‚spätsommerliche‘ Stil von Stifters Prosa, wie er eindringlich im gleichnamigen Roman, aber auch noch einmal bis zur scheinbar mutwillig provozierten Unlesbarkeit in dem späten Werk Witiko zelebriert wird, erweist sich bei genauerer Betrachtung als illusionäre Patina über einer kaum zu bändigenden Weltangst. Dialoge werden nicht mehr dramatisch komponiert, sondern, so möchte man meinen, protokollarisch aufgelistet, um die Welt instabil gewordener Dinge narrativ einzufrieren und stillzustellen. Geht im Nachsommer die Realität der Dinge nach dem Wunsch der Hauptfigur, des Freiherrn von Risach, in eine Realität der Sammlung über, so radikalisiert sich dieser Prozess auf poetologischer Ebene im Witiko. Hier werden Dinge nicht einfach geordnet, sondern der Roman inszeniert in registrierender Sprache – performativ – seine eigene Erstarrung als Narration. Der folgende spröde anmutende ‚Flirt‘ zwischen Witiko und einem Mädchen mag das veranschaulichen: ‚Ach, was ihr für schöne Haare habt!‘, sagte das Mädchen. / ‚Und was du für rothe Wangen hast‘, erwiederte er. / ‚Und wie blau eure Augen sind‘, sagte sie. / ‚Und wie braun und groß die deinen‘, antwortete er. / ‚Und wie ihr freundlich sprecht‘, sagte sie. / ‚Und wie du lieblich bist‘, antwortete er.23
Es scheint, als sei diese nicht ironisch gemeinte Form der Protokollsprache eine Strategie der Angstabwehr gegenüber einer instabil gewordenen Außenwelt. Der sprachliche Zugriff des Narrativen soll eine Welt in purer Statik halten.24 Die Figur des Witiko ist auch vom Charakter her – ähnlich wie die Figuren Risach, Heinrich oder Drendorf – mit seinem Wünschen und Meinen immer schon in den bestehenden Verhältnissen der Vernünftigkeit aufgegangen. Dies drückt sich in zahlreichen Formulierungen aus wie „Es hat sich so gefügt“, „Es ist wie es ist“, „Ich habe gar keine Meinung, ich erwarte nur die Dinge“25. 20
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„Wenn Stifter die Dinge als ‚Wesenheiten‘ dichtet, dann meint er ebenso sehr die Idee wie die Erscheinung. [...] Wenn die Dinge bedeuten, dann sind sie damit nicht so sehr nur Brücke zu einem ideellen Höheren, sondern sie bergen dies Höhere in sich, sind dessen sichtbare Ausprägung.“ (Dehn 1969, Ding und Vernunft, 62.) Stifter 1985, Witiko, 129. Stifter 1947, Briefe, 330. Stifter 1985, Witiko, 35. Siehe zum Aspekt der ‚Erstarrung der Angst‘ bei Stifter den herausragenden Artikel von Koschorke/Ammer 1987, Der Text ohne Bedeutung. Vgl. dazu meine Ausführungen in: Finkelde 2007, Tautologien der Ordnung, 1-20.
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Man hat auch deshalb den Eindruck, als wolle gerade der späte Stifter mit einer bis zur Persiflage mutierten, nahezu dadaistisch anmutenden Sprache die Welt instabil gewordener Letztverbürgung von Sinn und kosmisch chaotischer Selektionsprozesse26 durch eine Verlangsamung der narrativen Dramatik und Dialoge zum Stehen bringen, um die Welt zumindest in der Idealphantasie der Statik zu bewahren. Das folgende Beispiel einer Abschiedsszene aus dem Witiko bringt das noch einmal deutlich zum Ausdruck: ‚So lebe wohl, du lederner Mann‘, sagte der Scharlachreiter. / ‚Leb wohl‘, sagte Witiko, [...] / ‚Reite fröhlich‘, rief Welislaw. / ‚Du auch‘, sagte Witiko. / ‚Lebe wohl‘, rief Ben. / ‚Komme bald zu uns zurück‘, rief der Sohn des Nacerat. / ‚Lebet wohl‘, sagte Witiko. / Die von hinten kamen nun auch hervor, und riefen: ‚Lebe wohl.‘ ‚Reite glücklich.‘ / ‚Lebet wohl‘, antwortete Witiko.27
Stifter hatte Charles Darwins The Origin of Species (1859) studiert und es ist nahe liegend, dass er seismographisch die Konsequenzen von Darwins Thesen für die Ordnungsphantasien der abendländischen Tradition erahnt hat. Stifters eigentümlich anmutende Rede vom Ding erweist sich daher als Ausdruck einer fundamentalen Irritation gegenüber einer Welt, in der die Dinge nicht mehr ganz zu ordnen sind. Ähnlich wie in Freuds und Lacans Rede vom Ding, denen gemäß das Ding Träger einer nicht ableitbaren Alterität (am Nebenmenschen bzw. der Außenwelt) ist, die die Psyche umtreibt28, begegnet uns das Ding bei Stifter als etwas, das von einer bedrohlichen Unterseite, einer inneren nicht metabolisierbaren Alterität geprägt ist, von einer nicht einholbaren Abgründigkeit, die das Ding und die Welt der Dinge unheimlich und gesetzlos chaotisch zurücklässt. Weil das Bewusstsein des Betroffenen im Zugriff auf das Ding dieses nicht mehr einfach umfassen kann, wird es zunehmend neurotisiert. Stifter spricht von einer „fürchterlichen Wendung der Dinge“29, die seine Helden bis an den Rand des Wahnsinns treiben können. Je dominanter Stifter also vom „Ding“ redet, um so mehr legt sich dem Leser die Vermutung nahe, dass irgendetwas mit ihnen, mit den „res“, nicht mehr stimmt, so dass sie ihre Selbstverständlichkeit einbüßen und nicht mehr garantierter Teil unhinterfragter Lebenspraktiken sind. Die Rede von einer „fürchterlichen Wendung der Dinge“ kann einerseits gelesen werden für den synonymen Ausdruck von einer ‚furchtbaren Wendung bestimmter Lebensverhältnisse‘. Und natürlich prägt das einen Großteil der Dramatik von Stifters Texten. Es ist jedoch ebenso schlüssig, die Rede von der „furchtbaren Wendung der Dinge“ wortwörtlich zu nehmen, als eine wirkliche, furchtbare Wendung von Dingen in der Außenwelt, die plötzlich auf ihrer Rückseite etwas offenbaren, womit der betrachtende Blick im Zugriff auf sie nicht gerechnet hatte. Diese Kehrtwendung von spätsommerlicher Freude 26 27 28 29
Vgl. Michler 1999, Darwinismus und Literatur, 128. Stifter 1985, Witiko, 96. Vgl. Freud 1962, Entwurf einer Psychologie, 337 f. Stifter 1982, Bunte Steine, 27.
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an der Ordnung in Angst vor unbändiger Unordnung kündigt sich an, wenn Stifter schreibt, dass „die Dinge“ sich gegen ihn „versündigen“30, wie er dies in einem Brief an Heckenast tut. Hier deutet sich an, dass sich etwas in den Dingen befindet, was sich immer wieder gegen Stifter und seine Figuren und gegen die Objektivierung von Objekten des ordnenden und sammelnden Verstandes richtet.31 Stifters Text über die „Sonnenfinsternis vom 8. Juli 1842“ macht dies herausragend deutlich.32 Der Text thematisiert das Verhältnis von Ding und Angst, wo die apokalyptische Veränderung der Welt durch den Verlust des Sonnenlichts aus dem romantisch verklärten Motiv des „schön“ und „sanft“ leuchtenden Mondes ein „unheimliche[s], klumpenhafte[s], tiefschwarze[s] vorrückende[s] Ding“ machte, „das langsam die Sonne wegfraß“33. Der Text beschreibt mustergültig den Umschlag von einem Objekt in ein plötzlich schreckenerregendes Ding, das sozusagen eine bisher ungesehene, nicht geahnte (Unter-)Seite nach oben kehrt und die Sinnstrukturen, in denen das Subjekt sich im Bezug auf das Objekt heimisch fühlte, wie von einer nicht erkannten Unterseite seiner Objektivierungen gefährlich bedroht. „[A]ber doch war er es [der Mond], und im Sternenrohr erschienen auch seine Ränder mit Zacken und Wulsten besetzt, den furchtbaren Bergen, die sich auf dem uns so freundlichen Runde türmen.“34 Dinge werden so bei Stifter einerseits geordnet, gesammelt, aufbewahrt und gleichzeitig erweisen sie sich als bedrohlich.35 „Denn heute kömmt mit derselben holden Miene Segen“36 und morgen geschieht durch eine unerwartete Wendung der Dinge „das Entsetzliche.“37 Die Dinge bei Stifter widerstreben – im Gegensatz zu Objekten – der Integration, die Stifter ihnen ‚andichten‘ möchte. Die Dinge kehren sich immer wieder um, „und was sich als groß gezeigt hatte, stand als Kleines am Wege, und das Unbeachtete schwoll an und entdeckte sich als Schwerpunkt der Dinge, um den sie sich bewegen.“38 Adorno hat den Ursprung dieser Bedrohungen bei Stifter (im Unterschied zu Walter Benjamin) gerade als Scheitern der dichterischen Arbeit an gegenständlicher Treue und als ihren Umschlag in „manische Obsession“ interpretiert.39 30 31 32 33 34 35
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Brief an Gustav Heckenast, vom 13. Mai 1854, in: Stifter 1947, Briefe, 205. Siehe auch Macho 2005, Stifters Dinge. Stifter 1962, Sonnenfinsternis. Ebd., 104. Ebd. Wilhelm Dehn erwähnt, dass Stifter in seinen Briefen wiederholt die Gestalt Johannes Keplers beschwört als Entdecker der ‚harmonia mundi‘. Er plante einen Roman über diesen Mann, der, als Mensch unstet und umtriebig, die Ahnung kosmischer Gesetze hegt, sie schließlich findet und der Menschheit mitteilt: „Stifter fühlt sich der irdischen Dingwelt gegenüber als ein Kepler, und im Künden von den Dingen sieht er seine immer neue Aufgabe.“ (Dehn 1969, Ding und Vernunft, 58). Stifter 1982, Abdias, 237. Ebd. Stifter 2002, Der Waldgänger, 101. Vgl. Adorno 1989, Über epische Naivität, 37.
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Der Verweis auf Stifter als einem Dichter an der Schwelle zu einer nachklassischen Ordnungsidee – mit Objekten im Mittelpunkt, die ihre ersten Erschütterungen erfahren und zu Dingen mutieren, die eine unkalkulierbare Abgründigkeit offenbaren – mag einen ersten Hinweis darauf geben, inwiefern es sinnvoll ist, von einer Differenz zwischen einem Objekt und einem Ding zu sprechen. Meine These ist hierbei, dass das Ding seit der Moderne auf einem Siegeszug ist und diese Moderne sich, neben zahlreichen philosophischen und literarischen Kontexten, eben zentral auch in Stifters Werk ankündigt und sich ebenso in Benjamins und Sebalds antizipatorischen Texten Bahn bricht. Wenn hier von einer Differenz zwischen Objekt und Ding gesprochen wird, so markiert die Rede vom Objekt, wie gesagt, einen Gegenstand, der vom Subjekt problemlos umfasst, begriffen, ‚objektiviert‘ und verortet werden kann. Das Ding ist dagegen dasjenige, was im Objekt nicht aufgeht.40 Stifter stößt auf einen das ‚Dingsein‘ der Objekte bedingenden inneren Antagonismus, der auch etwas mit dem symbolischen Netz der Sprache zu tun hat, in dem Dinge von ihrer Identität als scheinbar kohärente Objekte und damit von sich selbst durch den Holismus sprachlicher Semantik getrennt werden. Die Dinge sind nie mit sich identisch, weil der ordnende, verstandesmäßige und zeichenhafte Zugriff des Menschen ihnen immer auch ihre Partikularität abziehen muss, um sie (durch Kategorisierung/Subsumtion) zu individuieren. Dinge sind immer schon im Holismus menschlicher Zeichenwelten und somit durch diesen von sich selbst getrennt. Man kann zwar einwenden, dass – gemäß unserer Differenz – Objekte dann auch nicht erst zum Beginn der klassischen Moderne zu Dingen werden, sondern schon zur Zeit der Antike z. B. im thematisierten Verhältnis eines gegenseitigen Verschuldetseins zueinander stehen, wie dies Anaximander beschreibt41, jedoch der Wegfall metaphysischer Welterklärungen – seien sie neuzeitlicher oder moderner Art – verändert dann trotzdem noch einmal grundlegend eine solche Erkenntnis oder Intuition.42 Bei Stifter erleben wir, inwiefern die moderne Wissenschaft, vertreten durch Darwins Hauptwerk, Konsequenzen und Einblicke in eine ‚Verschuldungsstruktur‘ von Dingen befördern und im Zeitalter nicht mehr kollektiv verbürgter, metaphysischer Überzeugungen exponentiell dramatisch verschärfen kann. Die Thematik von einer gegenseitige Verschuldung der Dinge übernimmt und thematisiert Heidegger in seiner Auslegung der folgenden Sätze Anaximanders: „Woher die Dinge ihre Entstehung haben, dahin müssen sie 40
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Ein besonders gutes Beispiel eines Dinges bietet z. B. Henry James anhand der „goldenen Schale“ in seinem gleichnamigen Roman The Golden Bowl. Diese Schale hat einen nicht sichtbaren Sprung und verbirgt in diesem Sprung einen nicht bewältigbaren Bedeutungsrest, der die Narration des Romans in seiner ganzen Dramatik dominiert. Vgl. James 1909, The Golden Bowl. Vgl. dazu Heidegger 2003, Der Spruch des Anaximander. Das Phänomen ist als ein periodisches zu denken, was nicht ausschließt, dass ähnliche Erfahrungen in verschiedenen Epochen in je neuen Lebenswelten dennoch radikal neue Konsequenzen für Individuum und Gesellschaft zeitigen.
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auch zu Grunde gehen, nach der Notwendigkeit, denn sie müssen Buße zahlen und für ihre Ungerechtigkeiten gerichtet werden, gemäß der Ordnung der Zeit.“43 Heidegger betont, wie Anaximander von „Recht und Ungerechtigkeit in den Dingen“ spricht, „von Strafe und Buße, von Sühne und Abzahlung“44. Die Dinge stehen in Schuldzusammenhängen, da es keine erkennbare Ordnung gibt, die jenseits antagonistischer Kräfte den Dingen ihren Ort zuweist. Ding-Sein ist immer schon in einem inneren Antagonismus befangen, der von Anaximander auch moralisch gedeutet wird. Aus diesem Grund sind die Dinge, die „Pragmata“, die Seienden, notwendig immer schon Teil eines Schuldzusammenhangs der kosmischen Ordnung.45 Zwar präsentierte auch schon Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes von 1807 einige Jahrzehnte vor Stifter eine dem Begriff der Dialektik verschriebene Metaphysik der konstruktiven Katastrophe(n), aber dessen Glauben an einen den dialektischen Brüchen inhärierenden absoluten Geist konnte Stifter als Leser Darwins wohl nicht mehr teilen. Bevor wir im Folgenden auf Benjamins Interpretation des deutschen Barock als Epoche der erschütterten Beziehungen von Dingen und ihrer transzendental verbürgten Bedeutung eingehen, mit der Benjamin seiner eigenen, durch Kapitalisierungsprozesse moderner Warenproduktion ökonomisch destabilisierten Zeit einen Spiegel vorhält, wollen wir zuvor noch einmal auf die erwähnte Objekt-Ding-Differenz im Verweis auf die Phänomenologie zurückkommen. Der Verweis auf die Phänomenologie ist, bei aller Kürze, mit der sie hier erwähnt wird, entscheidend. Sie thematisiert nämlich besonders im Werk Heideggers ähnlich wie in dem Stifters und Benjamins eine instabile Referenzwelt bedeutsamer Lebensvollzüge, insofern sie subjektphilosophisch das Dasein aus kategorialen Bezügen zu einer Objektwelt herausholt und in existentielle und nicht verobjektivierbare Praxisbezüge zur Dingwelt stellt.46 Damit trägt auch die Phänomenologie dazu bei, Weltbezüge an neue epistemische Fragestellungen rückzubinden, die sich eher dem Ding widmen als dem Objekt. Dabei drückt sich in den Entdeckungen der Phänomenologie auch eine Hinterfragung der traditionell als klar organisierbare Subjekt-Objekt-Bezüge verstandenen Weltbezüge aus. Die Phänomenologie ist nicht nur neutrale Wissenschaft, sondern auch Symptom ihrer Zeit, die durch Modernitätsschübe in Gesellschaft und Wissenschaft geprägt ist.
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Zitiert nach Heidegger 2003, Der Spruch des Anaximander, 321. Ebd., 330. Vgl. ebd., 321-373. Vgl. Heidegger 2006, Sein und Zeit, §§ 54-60.
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Die Phänomenologie und die Frage nach dem Ding Das eingangs erwähnte Motiv der Abblendung im intentionalen Erkenntnisakt des Bewusstseins ist zentral im breiten Untersuchungsfeld der Phänomenologie. Sie versteht sich unter anderem als diejenige Disziplin, die gemäß dem Weckruf Husserls – „zurück zu den Sachen“47 – über eine auf analytischen Erkenntnisformen aufbauende Philosophie hinausstrebt und auch als „zurück zu den Dingen“, als zurück „zu den Seienden“, den „Pragmata“ sich wendend verstanden werden kann. Besonders Heideggers Ziel ist es, die Seinsweise des menschlichen Daseins in der Welt als von Praktiken und nicht von Verstandeskategorien abhängig zu erörtern und in Handlungen sich etablierende Dingbezüge zu erläutern. Gerade dadurch aber entfaltet die Phänomenologie eine Sensibilität für das „Ding“, die sich beispielhaft in Heideggers Vorlesung Die Frage nach dem Ding48 ausdrückt. Heidegger stellt sich dieser Frage in expliziter Kontrastierung einer antik-griechischen Sprechweise vom Ding zu derjenigen Kants und im Rückgriff auf die von ihm in Sein und Zeit angelegte These, dass Dinge für das erkennende Subjekt in Seinsbezügen einer nicht abschließbaren wechselseitigen Verwiesenheit stehen, die das Subjekt bis in seine intimsten Fragen der Moral und des Gewissens evozierenden Selbstverhältnisse betrifft.49 Denn – so könnte man sagen – die nicht abschließende Verwiesenheit/Verschuldung der Dinge führt für Heidegger dazu, dass das menschliche Dasein in seiner Abhängigkeit von der Außenwelt diese Verwiesenheit als Teil seines – die Subjekt-Objekt-Dualität betreffenden – Selbstverhältnisses verinnerlichen muss. So ist aber das Subjekt notwendig verstrickt in eine (schuldhafte) Außenwelt, die ihrerseits das Bedürfnis nach einem ‚Gewissenhaben-Wollen‘ evoziert.50 Der Mensch erfährt sich nicht in eine Welt objektiver Wahrheitswerte gestellt, sondern in einer seinsmangelnden Seinsstruktur. Werden Objekte in den diversen Kategorienlehren von Aristoteles und Kant in festen Newton’schen Koordinaten von Raum und Zeit bestimmt, so finden Dinge durch Heideggers Lehre der Existentialien ihr eigentliches Medium der Erörterung. Dasselbe Thema (ohne die Heidegger’sche Verschuldungs-Thematik) entdeckt Merleau-Ponty als Zentrum der impressionistischen Malerei, in der sich die Verwandlung von Objekten hin zu Dingen entscheidend ankündigt.51 In der Bezugnahme auf Merleau-Ponty erfahren wir noch einmal, inwiefern man wirklich von einer Objekt-Ding-Differenz ausgehen kann. Wir beziehen uns dabei auf einige Anmerkungen Merleau-Pontys zur impressionistischen Malerei. Merleau-Ponty rezipiert den Impressionismus, da beispielsweise eine Gemäldeserie, wie die der Seerosen Monets, in der Inszenierung von 47 48 49 50 51
Husserl 1995, Logische Untersuchungen, 9. Vgl. Heidegger 1987, Die Frage nach dem Ding. Vgl. Heidegger 2006, Sein und Zeit, § 56. Vgl. ebd., § 57-60. Vgl. Merleau-Ponty 1984, Das Auge und der Geist. Siehe ebenso Merleau-Ponty 1974, Phänomenologie der Wahrnehmung, 23 f.
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Wahrnehmungsmomenten zwischen den einzelnen Rosen und den Ausschnitten des Teiches eine Grunderfahrung der Phänomenologie thematisiert. Wie der französische Kunstkritiker Gustave Geffroy heraushebt, begegnen die Dinge dem Betrachter in den genannten Gemälden als „objets passagers“.52 Es sind transitive Objekte. Monet versuche, die Erscheinungsweise der Objekte selbst zum Thema seiner Malerei zu machen. Er stelle seine Gegenstände gerade nicht in einen neutralen Raum, durch den der Maler wie durch einen ätherfreien Raum sieht, sondern ihn interessiere das Medium der Wahrnehmung, der Zwischenbereich zwischen dem zu malenden Gegenstand und der Impression im Modus der Wahrnehmung dieses Gegenstandes. Die beiden folgenden Schaubilder mögen – wenn auch stark reduktiv – die Verhältnisbestimmung zwischen Subjekt und Objekt, wie sie Phänomenologie und Impressionismus nahezu zeitgleich thematisieren, ansatzweise veranschaulichen. Abbildung Nr. 1 (Neuzeitliches Modell) zeigt das neuzeitliche „Weltbild“-Verhältnis in sinnbildlich zentralperspektivischer Ausrichtung der Raumverhältnisse. Abbildung Nr. 2 (Phänomenologisches Modell) veranschaulicht die oben im Bezug zur Phänomenologie erwähnte Subjekt-Objekt-Differenz als instabiles, den Prozess der Wahrnehmung selbst in den Bildinhalt aufnehmendes Wechselverhältnis. Subjekt
Objekt
1 − Neuzeitliches Modell (Zentralperspektive)
Objekt
Subjekt
Objekt
2 − Phänomenologisches Modell („dispositional field“)
„Für mich“, formuliert Monet, „existiert eine Landschaft nicht als Landschaft, da ihre Erscheinung jeden Moment wechselt; sie lebt in Übereinstimmung mit dem, was sie umgibt, der Luft und dem Licht, die ständig wechseln.“53
52 53
Geffroy 1892, Les Meules de Claude Monet, 24-25. Zitiert nach Gordon/Forge 1983, Monet, 163 [eigene Übersetzung; D. F.]. Monet sagt hier, dass eine Landschaft ihn nicht in ihrer Statik der sich in ihr befindenden Objekte interessiere, sondern sozusagen im Medium, in dem die Dinge in dieser Landschaft uns als angesichts der menschlichen Kategorisierung nicht stillstehende begegnen.
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Eine ähnliche Ablösung der Objekte aus ihrem kategorialisierten Repräsentationsverhältnis kennen wir auch von Heideggers Analyse des „Zeugs“ als „Pragmata“, das sich immer in Zuhandenheitsbezügen dem Bewusstsein schon unthematisch anbietet.54 Richard Boothby hat auf die Wahlverwandtschaft der instabilen Wahrnehmungsweise von Impressionismus und Phänomenologie mit der Psychoanalyse Freuds hingewiesen. Denn in die Bildsprache der Serie von Monets „Lilien“ auf seinem Teich in Giverny übertragen, könnte man behaupten, dass die zentrale Erkenntnis der Psychoanalyse darin besteht, zu zeigen, inwiefern das Bewusstsein wie auf einer abgrundtiefen Fläche des Unbewussten aufliegt und aufgrund strukturimmanenter Abblendungen (Verdrängungen) sich nie selbst umfassen kann. Bewusstsein ist kein Objekt, kein Gegenstand eines sich einschließenden Selbstbezugs. Gerade deshalb kann Bewusstsein von Außenkoordinaten eines Anderen als Teil seiner Selbstbeziehung erschüttert werden, wie Freud besonders anschaulich in seinem Buch Zur Psychopathologie des Alltagslebens aufweist.55 Bewusstsein liegt ähnlich wie die Seerosen in einem nahezu auratischen Umfeld und erfährt seine strukturelle Form der Nicht-Einheit: Als Oberflächensemantik innerhalb anderer (psychosomatischer, vorbewusster, unbewusster, kurz: abgeblendeter) Semantiken kann es nicht auf sich selbst abschließend Bezug nehmen. So wie die Rosen sich vom Wasser des Teichs in Giverny innerhalb unscharfer Grenzverläufe absetzen, artikulieren sich Intentionalitätsmomente aus einem Feld, das das Bewusstsein nie umfassen kann. Dies hat insofern etwas mit dem Thema des Sammelns zu tun, als der in der Sammlung nie aufgehende Rest etwas mit dem Bewusstsein und nicht mit der Sammlung zu tun hat. Eine Sammlung ohne einen versammelnden intentionalen Akt gibt es nicht. Merleau-Ponty schreibt: Das Sichtbare selbst hat eine unsichtbare Gliederung, und das Unsichtbare ist das geheime Gegenstück des Sichtbaren, es erscheint nur in ihm, es ist das Nichturpräsentierbare, das mir als solches in der Welt präsentiert ist – man kann es in ihr nicht sehen, und jede Anstrengung, es darin zu sehen, bringt es zum Verschwinden.56
Richard Boothby setzt des auratische Umfeld, in dem die Dinge bei Monet, die Rosen, über ihrem Abgrund ruhen, in Beziehung mit einem von MerleauPonty hergeleiteten Begriff des ‚dispositionellen Feldes der Wahrnehmung‘. Das dispositionelle Feld ist als undefinierbares Hintergrundfeld zu verstehen, aus dem Einzelobjekte überhaupt erst für uns heraus- und hervortreten können. Der Teich auf Monets Gemälden ist Bedingung von Erkenntnis, gleichzeitig 54
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Vgl. Heidegger 2006, Sein und Zeit, § 15 f. Der Hammer ist nicht ein Objekt, das der Handwerker von einem Ort einer abstrakten Verhältnisbeziehung zur Außenwelt aus ergreift. Der Hammer bietet sich ihm immer schon als Medium an, das die Hand des Handwerkers sozusagen ‚sucht‘. Vgl. Freud 1986, Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Merleau-Ponty 1986, Das Sichtbare und das Unsichtbare, 275 [Herv. i. O.].
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aber selbst nicht als Eines erkennbar. Dies soll noch einmal untermalen, inwiefern ganz verschiedene Disziplinen die Ablösung des Objekts durch das Ding thematisieren. Freud spricht, wie erwähnt, in seinem Entwurf einer Psychologie aus dem Jahr 1895 vom „Ding“ am Nebenmenschen, um zu verdeutlichen, inwiefern das Subjekt je in Abhängigkeit von einer nicht repräsentierbaren Alterität, einer nicht assimilierbaren Andersartigkeit in seinem Nebenmenschen (z. B. den Eltern) erst zu sich selbst kommt.57 (Bei Sebald werden wir sehen, dass genau eine solche Alterität seinen Helden als Sammler zur Verzweiflung bringt gegenüber seinen vergeblichen Versammlungsbemühungen im Dienst einer Metaphysik der Memoria.) Für Freud ist gerade auch das Ding am Nebenmenschen etwas, das als Enigma das Subjekt ‚verhindert‘. Während das epistemisch arme Tier unabhängig vom „Nebenmenschen“ in der Welt aufgeht wie Wasser in Wasser und deshalb eins sein kann mit der Welt als einem geordneten Ganzen von Naturkausalitäten, ist nach Freud dem Subjekt genau diese Welt der Naturordnung verwehrt, weil ihm die Konfrontation mit dem „Ding“ am Nebenmenschen nicht erspart bleiben kann.58 Das Ding am Nebenmenschen bedingt den Menschen in seiner Subjektwerdung und prägt ihn in seiner konstitutiven Exzentrik.
Walter Benjamin: „Die Dingwelt ragt übern Horizont des Trauerspiels beklemmend“ Walter Benjamin widmet sich dem Thema von Ordnungsmodalitäten zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Bezug auf seine eigene Tätigkeit als Sammler59, in seiner Geschichtsphilosophie60, in Bezug zu den Weltausstellungen im Passagen-Werk61 und im Trauerspiel-Buch. Im Folgenden wollen wir uns mit dem zuletzt genannten Werk auseinandersetzen, und uns dabei besonders Benjamins Anmerkungen zur „Dingwelt“ widmen. Benjamin legt dort in seinem Rückgang auf den Barock nämlich nicht nur eine Analyse des 16. Jahrhunderts vor. Er sah im barocken Umgang mit einer „entleerten Welt“ auch besonders einen Bezug zu seiner durch sich neu entfaltende Konsumverhältnisse geprägten Zeit. Die Allegorese spielt hierbei eine wichtige Rolle, verweist sie doch auf eine Objektwelt, ohne dieselbe durch eine Lesbarkeit in einer klaren Eins-zu-Eins-Relation mit einer objektiven Wahrheit (des zu Lesenden) zu verorten. Wie wir dann auch bei Sebald sehen werden, spielt das Zeitalter des Barock gerade vor dem Hintergrund einer instabil gewordenen Verhältnisbe57 58
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Vgl. Freud 1962, Entwurf einer Psychologie, 338. Wenn Freud daher behauptet, dass der Mensch immer erst auf einem „anderen Schauplatz “ (Freud 1972, Die Traumdeutung, 512) zu sich kommt, so ist dieser Schauplatz notwendig auch – um auf Heidegger zurückzukommen – derjenige verschuldeter Dinge. Vgl. Benjamin 1972, Ich packe meine Bibliothek aus. Vgl. Benjamin 1990, Eduard Fuchs; ders. 1980, Über den Begriff der Geschichte. Benjamin 1982, Gesammelte Schriften. Das Passagen-Werk, Band V/1, 50-52.
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ziehung zwischen den Menschen und einem aus ‚abzählbaren‘ Objekten zusammengefügten, zur Ordnung fähigen Kosmos eine wichtige Rolle, die Benjamin bewog, diese Epoche als indirektes Medium der Analyse der Moderne heranzuziehen. Dabei sieht Benjamin eine Wahlverwandtschaft zwischen der Allegorie der deutschen Theatermacher und der Allegorie bei Baudelaire.62 Beide Sprachformen stehen für einen Weltbezug, der dialektische Wendungen der Gegenstände zu „Dingen“ veranschaulicht, in der hier vorgeschlagenen Terminologie. Die strukturelle Analogie zwischen Barock und 20. Jahrhundert impliziert jedoch nicht, dass die Erfahrungen in gleichen metaphysischen Ordnungen der Dinge stattfinden. Der Einbruch der Neuzeit bzw. des „klassischen Zeitalters“ gestaltet neue Weltverhältnisse. Insofern ist die strukturelle Analogie, die Benjamin entwirft, nur begrenzt als Wesensgleichheit epochaler Erfahrungen auslegbar. Wenn Benjamin im Bezug zum Trauerspiel schreibt: „Die Geschichte wandert in den Schauplatz [des barocken Trauerspiels, D. F.] hinein“63, so meint er damit eine Geschichte als „restlose Säkularisierung des Historischen“64, die für ihn, wie erwähnt, auch auf seine Interpretation der Moderne zurückverweist. Das Trauerspiel ist sehr wohl in eine Geschichte eingeschlossen, aber in eine, die auf den Status als Naturgeschichte als stets vom Chaos geprägte Zufallsgeschichte zurückgefallen ist. Und das wird gerade auch in den auf der Bühne dargelegten, scheinbar ihrer Sinnbezüge beraubten Dingen dargestellt. Wie Albrecht Schöne treffend eine Regieanweisung zitierend und auslegend schreibt: ,Der Schauplatz [im barocken Trauerspiel, D. F.] liget voll Leichen / Bilder / Cronen / Zepter / Schwerter etc.‘ So wenig wie Cronen bestimmter Könige, sind das die Leichen bestimmter Personen. Sie werden nicht identifiziert, gehören als Schaustücke tatsächlich zur Bühnenausstattung und geben das Theater [...] als einen ,Schauplatz der Sterblichkeit‘ zu erkennen.65
Schöne betont hier, ähnlich wie Benjamin, dass die Bühnenutensilien nicht als Gebrauchsgegenstände von Praxisbezügen, sondern in einer Art endzeitlicher Zurschaustellung dargeboten werden. Sie sind ein müßig anschaubarer Rest dessen, was bleibt, wenn Welt, Kosmos und Schöpfung scheinbar zur Sterblichkeit verdammt worden sind. Statt als griechischer Heros begegnet uns im barocken Trauerspiel daher auch der Mensch als „Kreatur“. Benjamin macht dafür den Protestantismus verantwortlich, nämlich insofern, als dieser die Seele des Gläubigen nach einer Abkehr von den „guten Werken“ allein abhängig machte von der „Gnade
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Zur Allegorie bei Benjamin und Baudelaire vgl. auch den Beitrag von Alexandre Métraux und Charles Wolfe „Monster − Sammlung und Allegorie“ im ersten Kapitel. Benjamin 1990, Ursprung des deutschen Trauerspiels, 271. Ebd. Schöne 1993, Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, 217.
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des Glaubens“66. Damit hat der Protestantismus „zwar im Volke [...] den strengen Pflichtgehorsam angesiedelt, in seinen Großen aber den Trübsinn“67. Mit dem Wegfall der „guten Werke“ war den menschlichen Handlungen jeder Wert genommen worden. „Etwas Neues entstand: eine leere Welt“68. Das Trauerspiel kennt daher keine griechischen Helden mehr, da es durch Geschichte (nicht aber durch die Geschichte) treibt. Die Kreatur „hält an der Welt“69 fest wie verkrallt, während der tragische Held sich noch im Untergang gegen sein Schicksal aufrichten kann. Alle Elemente des Trauerspiels weisen darauf hin, dass „das Schicksal, die wahre Ordnung der ewigen Wiederkunft, nur uneigentlich, nämlich parasitär, zeitlich zu nennen ist“70. „Ist [...] die Tragödie von der Dingwelt gänzlich abgelöst, so ragt sie [die Dingwelt; D. F.] übern Horizont des Trauerspiels beklemmend“71. Dabei wird die „Dingwelt“ geradezu penetrant im Requisit. Als Requisiten regieren die toten Dinge das Geschehen auf dem Schauplatz, weil die Heilsgewissheit, die immer auch eine Gewissheit heilgeschichtlicher Ordnung beinhaltet, abhanden gekommen ist. Benjamin beschließt den ersten Teil des Trauerspiel-Buches mit einem „Exkurs“ zur Melancholie. Seine Überlegungen kreisen um Albrecht Dürers Kupferstich Melencolia I und die Studien von Karl Giehlow und Erwin Panofsky/Fritz Saxl, die 1903/04 bzw. 1923 veröffentlicht wurden.72 Benjamins Ausführungen nehmen direkt Bezug auf die Allegorie als einem Bedeutenden, das nicht mehr „im Innern der Repräsentation“73 wie im klassischen Zeichen vorliegt, sondern nur noch als ein auf Äußerlichkeit beruhendes Zeichen gelesen wird. Genau damit haben wir es zu tun im Fall der Dingwelt als einer bedrohlichen Welt nicht mehr lesbarer Sinnbezüge. Wenn die Welt „entleert“ ist, dann ist sie auch nicht mehr von Objekten als Teilen einer verbürgten Ordnung geprägt. Die Dinge widersetzen sich der Ordnung. Die Melancholie trauert somit um eine inhaltslose, leer gewordene Welt, in der „das Geheimnis“ verlorengeht, das „Eidos verlischt“ und nichts übrig bleibt als „die dürren rebus, die bedeuten“74. Das allegorische Bedeuten wird als „Entwertung“ der profanen Welt erfahren. Melancholie erhebt Einspruch gegen das „Dasein als [...] ein Trümmerfeld“75. Den Trauerspielen „eignet eine gewisse Ostentation“, schreibt Benjamin. „Ihre Bilder sind gestellt, um gesehen zu werden“76. Damit aber gleichen die dargebrachten Bilder auf der Bühne 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76
Benjamin 1990, Ursprung des deutschen Trauerspiels, 317. Ebd. Ebd. Ebd., 246. Ebd., 313. Ebd., 312. Vgl. Giehlow 1903, Dürers Stich; ders. 1904, Dürers Stich; Panofsky/Saxl 1923, Dürers ‚Melencolia I‘. Foucault 1971, Die Ordnung der Dinge, 99. Benjamin 1990, Ursprung des deutschen Trauerspiels, 352. Ebd., 318. Ebd., 298.
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den Gerätschaften, die in Melencolia I um den Dürer’schen Engel liegen. Sie sollen nicht ergriffen werden. Der Blick des Engels versenkt sich in ihnen. Die Gerätschaften, die um den Engel verteilt sind, liegen „ungenutzt“, als Gegenstände „des Grübelns“77. Die Dinge verweisen nicht auf einen Gebrauch oder, mit Heidegger gesprochen, auf eine praktisch-lebenstätige Zuhandenheit, sondern als Embleme stehen sie für ein Anderes, dessen Absenz sie bezeichnen. Das Andere ist keine (neue) Ordnung, sondern der Verlust derselben. Für Benjamin betrifft dies in einem gewissen Sinne auch die Warenwelt des modernen Kapitalismus, was sich besonders in seinen verstreuten Bemerkungen zu den Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts ausdrückt.78 Die kapitalistische Moderne ist für Benjamin immer schon eine der erstarrten Unruhe, die im Konsum der Dinge den Menschen evtl. nur weiter neurotisieren, aber kein Leben im Leben garantieren kann. Die erwähnte Absenz der Zuhandenheit der Dinge in Benjamins BarockAnalyse hat vorerst keine akute lebensbedrohliche Dimension, wie man sie bei Stifter in seinem Verweis auf die schreckliche Wendung der Dinge evtl. herauslesen kann. Aber sie hat im barocken Trauerspiel den Effekt, dass die Dinge ihre grübelnden Betrachter in einen nicht stillstellbaren Abgrund der Versenkung hinunterziehen können, gerade weil sie nicht mehr in einem klar definierbaren Bereich objektiv beschreibbarer Sinnzusammenhänge auftauchen. Eine ähnliche Analyse entfaltet Benjamin in Bezug auf Charles Baudelaire als Dichter des Paris des Second Empire. Von dem barock-allegorischen „Ding“ aus der Emblematik oder dem Bühnendekor herkommend, sieht Benjamin in Baudelaire einen Allegoriker, der eine Moderne poetisch beschreibt, die in ihren Fortschrittsversprechen immer schon verfallen ist. Der Fetischcharakter fügt zahlreichen Dingen „theologische Mucken“79 zu. Die „theologischen Mucken“ sind aber nicht wirklich theologisch zu verstehen als metaphysische Substanz in ihnen. Theologisch sind die Dinge als Tauschgegenstände gerade deshalb, weil nun der letztlich nicht zu säkularisierende Fetischcharakter der Ware sie definiert.
Die Appellkraft der Dinge: W. G. Sebalds psychotische Theorie der Memoria Es ist anzunehmen, dass Sebald in Benjamins Trauerspiel-Buch eine Blaupause seiner eigenen Poetik des Romans Die Ringe des Saturn sah. Denn seine Hauptfigur versenkt sich ununterbrochen in Dinge einer durch die Erfahrun77
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Ebd., 319. Damit aber sind sie im eigentlichen Sinne keine Gegenstände mehr. Die zu den Todsünden hinzugerechnete acedia ist eine „pathologische [...] Verfassung, in welcher jedes unscheinbarste Ding [...] als Chiffre einer rätselhaften Weisheit auftritt“. Vgl. Benjamin 1982, Gesammelte Schriften. Das Passagen-Werk, Band V/1, 50 f. und 271 ff. Siehe auch meinen Artikel: Finkelde 2007, Die Welt als Bild. Marx 1970, Der Fetischcharakter der Ware, 85.
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gen des 20. Jahrhunderts geprägten, entleerten Welt. Er versucht vergeblich, eine Ganzheit zu etablieren, die – gemäß dem Buchtitel – nicht herstellbar ist. Das dem Roman vorangestellte Brockhaus-Zitat definiert bekanntlich Die Ringe des Saturn als Bruchstücke eines Mondes, der, ursprünglich Sinnbild harmonischer Ganzheit, durch die Gezeitenwirkungen des Saturns zerstört wurde. Meteoritische Staubteilchen umgeben ihn nun. Aber Sebalds Erzähler verliert sich nicht nur in der Kontemplation wie Dürers Engel. Er wird immer wieder auf seinen Wanderungen von einer dritten Koordinate in seinem Selbstverhältnis und in eins damit auch in seinem Verhältnis zur Dingwelt invadiert, was ihn dazu bringt, in den von diversen Appellen an ihn herangetragenen Entdeckungen, Erfahrungen und Begegnungen neue Tiefenschichten einer verlorenen Vergangenheit zu ergründen. Sebalds Erzähler kann sich diesen Appellen nicht mehr autonom entziehen, was den Roman zur Fallstudie der Psychopathologie im Zeitalter des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ macht. So kann man die von Sebald dramatisch in Szene gesetzte Destabilisierung seines Helden mit einer Kombination von zwei Theorien interpretieren: Roland Barthes These vom punctum80 als einem Zuviel appellativer Geltungskraft, die von einem verlorenen Moment im fotografischen Abbild ausgeht, und Jacques Lacans These vom regard als einer invadierenden dritten Größe, die das Sehfeld des Subjekts in einer Rückspiegelung auf sich selbst erschüttert.81 Während man mit Barthes Theorie des punctum zeigen kann, wie ein Zuviel appellativer Erinnerungskraft in den vom Erzähler versammelten Fotos und Zeitungsausschnitten diesen immer wieder umtreibt ‚zu berichten‘, so zeigt Lacans Theorie vom „Blick“, inwiefern das, was Barthes als punctum im Bezug auf Fotografien festhält, für Lacan das gesamte Sehfeld betrifft, in dem das Subjekt immer schon sein Selbstverhältnis als gesehenes vor allem Sehen erfährt. Der regard markiert als plötzlich auftretende unerwartete ‚Koordinate‘ im Beziehungsfeld, in dem das Subjekt in seinem Selbstverhältnis aufgehängt und integriert ist, die Evokation einer Irritation, von der her es sich in seinem Selbstverhältnis erschüttert findet. Es erkennt, dass es durch einen anderen Blick bereits von einer Außenstelle her objektiviert wurde. Lacan interpretiert den „Blick“ als eine nicht repräsentierbare Koordinate, von der das Subjekt sich als gesehen erfahren kann, ohne den Blick, von dem es sich getroffen erfährt, wirklich verorten zu können. Was für Lacan den regard kennzeichnet, ist nicht nur der Umstand, dass das Subjekt sich schon in einer auch durch Blicke der Überwachung sich konstituierenden Abhängigkeit von einem großen Anderen befindet, sondern, dass der regard als eine plötz80 81
Vgl. Barthes 1989, Die Helle Kammer, 25 ff. Vgl. Lacan 1996, Das Seminar. Buch XI, 73-126. Das Motiv vom „Blick der Dinge“ wird auch von Benjamin wiederholt thematisiert, z. B., wenn er, Franz Hessel zitierend, darauf hinweist, dass „[n]ur was [wir sehen] uns anschaut“ (Benjamin 1982, Die Wiederkehr des Flaneurs, 199). Oder wenn er vom „Kaspar-Hauser-Blick“ (Benjamin 1989, Gesammelte Schriften. Das Passagen-Werk, Band V/2, 672) der Dinge spricht, die sozusagen ohne Lebenswelt, ohne Wissen und Erfahrung schauen.
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lich gefühlte Intuition, von einem unerkannten Ort aus beobachtet zu werden, das Subjekt aus der Illusion, sein Blickfeld aus einer Perspektive unerschütterlicher Dominanz zu umfassen, herauswirft und destabilisiert zurücklässt. Die hier vorgestellte These ist nun, dass Sebalds Erzähler in einem posttraumatischen Weltverhältnis lebend vorgestellt wird, in dem er immer wieder von der Lacan’schen nicht repräsentierbaren, weil letztlich kontingent auftretenden Koordinate des regard angesehen wird, was seine Ahnung bestärkt, Rechenschaft ablegen zu müssen gegenüber den diversen im Roman verhandelten Katastrophen des 19. und 20. Jahrhunderts. Sebalds Erzähler erlebt sich daher als ein Sammler in einer Welt, in der immer neue Dinge ihn zu verschiedenen Taxonomiebezügen zwingen, wobei immer neue Taxonomiebrüche die bisher etablieren Ordnungen verändern und die Psyche an den Rand der Psychose bringen. In Bezug auf die bisherigen Ausführungen zum Objekt und zum Ding wird die Rede vom Ding bei Sebald noch einmal durch das Thema nicht aufhörender Appellkraft radikal verschärft. Folgendes Schaubild, mit dem von Lacan interpretierten Gemälde The Ambassadors von Hans Holbein (dem Jüngeren), mag in Abgrenzung zu den beiden oben aufgeführten die Verhältnisbestimmung zwischen Ding und Subjekt ansatzweise veranschaulichen.82 Objekt
Subjekt
„Das Ding“ 3 − Modell nach Freud/Lacan: „Das Ding“
82
Lacan thematisiert das Gemälde Hans Holbeins (des Jüngeren) in seinem XI. Seminar Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Eine Alterität, vertreten durch den anamorphotisch dargestellten Totenkopf im unteren Bildteil, dringt in den Horizont der etablierten Zentralperspektive mit den beiden Diplomaten, Jean de Dinteville und Georges de Selves, im Themenfeld des Bildes. Das anamorphotische Objekt offenbart für Lacan, dass die Zentralperspektive nicht alles umfasst, da erst der Schritt aus der Zentralperspektive heraus den vorerst unkenntlichen breiten Fleck im Vordergrund erkennbar macht. Besonders bei Sebald wird dieser letzte Aspekt literarisch in Szene gesetzt in Bezug auf das Thema der Sammlung und des Dings. Sebalds Erzähler sieht sich wiederholt vom Einbruch einer Alterität in seinem Selbstverhältnis erschüttert. Ähnlich wie der Lacan’sche Begriff vom „regard“ destabilisiert er die Koordinaten des Selbstbezugs. Oder in Bezug auf das Gemälde The Ambassadors könnte man sagen: Sebalds Protagonist wird immer neu invadiert von einer dritten Koordinate, so wie der Schädel im unteren Bilddrittel die Selbstpräsentation weltherrschaftlicher Macht (Globus, Quadrant, Sonnenuhr, Torquetum) im Idealbild, alles zu sein, erschüttert. Vgl. Lacan 1996, Das Seminar. Buch XI, 85-96.
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Im Gegensatz zu den beiden oben aufgeführten Abbildungen soll das Schaubild (Abb. 3: Modell nach Freud/Lacan: „Das Ding“) verdeutlichen, inwiefern das noch harmonisch zu lesende dispositionelle Feld der Aspektwahrnehmung in der phänomenologischen Tradition durch eine überzählige, dritte Koordinate, wie sie für Lacan der regard repräsentiert, das Selbstverhältnis noch einmal radikal erschüttern mag. Diese letzte Thematik, die in Lacans Interpretation von Hans Holbeins Gemälde The Ambassadors veranschaulicht wird, liegt auch der Eigenart der von Sebald in Die Ringe des Saturn geschilderten Psychopathologie zugrunde. Die dritte Koordinate steht für den regard, insofern Sebalds Erzähler die Dinge um ihn herum im Sinne einer vom regard ausgehenden Appellation ansprechen und ihn auf die nicht enden wollende Verschuldung ihrer scheinbar intrinsischen Vergangenheitseigenschaften verweisen. Die Frage nach der möglichen Ordnung ist gleich von Anfang an entscheidend und zentral in Sebalds „Eine englische Wallfahrt“. Der Erzähler zitiert auf den ersten Seiten eine Vielfalt von Ordnungsmodellen: von der Encyclopaedia Britannica über Brehms Tierleben bis hin zu Borges’ Buch der imaginären Wesen, das sich Museen und Raritätenkabinetten widmet. Besonders angetan haben es ihm die Sammlungen Thomas Brownes und sein philosophisch-religiöses Bekenntnisbuch Religio medici (1643). Sebald orientiert sich in seinem Buch explizit an der frühneuzeitlichen Wunderkammer, gerade weil nach diesem Ordnungsmodell die Dinge nicht mehr verortbar sind wie Objekte. Das permanente Angesehenwerden des Sebald’schen Erzählers von gesammelten Fotografien83, Fragmenten84, Gemälden85 schreibt semantisch in der Psyche des Erzählers unendlich die Schuld des Menschen gegen den Menschen fort. Dieser Strom von Appellen kann nie in der Psyche, in ihrer Sehnsucht nach einem verantwortbaren reinen Gewissen unter einem versammelnden Einschluss still gestellt werden. Das führt zu einem vom Roman in Szene gesetzten Bewusstseinsverlust des Erzählers. Von einem solchen erholte sich der Erzähler bereits gleich zu Beginn des Romans in einem Sanatorium, was nahelegt, dass der Anfang auf das Ende und umgekehrt verweist. Der Erzähler muss unter der Last seiner Erinnerungsarbeit zusammenbrechen und im Sanatorium aufwachen, um von vorne dieselbe vergebliche Arbeit, die scheinbar keine festen Taxonomiebezüge mehr kennt, zu beginnen.86 Ständig taucht ihm dabei eine unerwartete ‚Koordinate‘ zwischen Subjekt und Objekt auf (im Lacan’schen Vokabular: eine Figuration des Realen), die etwas mit einem nicht mehr verantwortlich zu machenden „großen Anderen“ 83 84 85 86
Herausragende Beispiele: Sebald 1995, Die Ringe des Saturn, 50, 73, 80 f., 86, 91, 122, 131 und 228 f. Vgl. ebd., 24, 29, 78, 83, 216 und 289. Vgl. ebd., 22 f., 154 und 159. Der Last der Dingarmut, nicht der Dingfülle, die unsere zunehmend virtuelle (Post-)Moderne bestimmt, geht Bernd Behrs Text „Phantom Limbs“ nach; vgl. auch den Beitrag von Sarah Schmidt zu Bernd Behr im ersten Kapitel.
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und so mit einer einen Wirklichkeitsverlust bedingenden Abgründigkeit lebensweltlicher Gewissheiten des Erzählers zu tun hat. Die oben erwähnte, bei Anaximander und Heidegger thematisierte Verschuldung der Dinge scheint bei Sebald allmächtig die Psyche zu bedrängen. Sebalds Sammler, zu denen auch Austerlitz im gleichnamigen Roman von 2001 gezählt werden kann, können sich dem Sammeln nicht entziehen, weil sie ständig angesehen werden: von Fotografien (im Holocaust getöteter Menschen), Fundstücken von Leidenden (Flüchtlingen), von auf Schrecken der Geschichte verweisenden Beweisen. Der Sebald’sche Erzähler leidet unter einem Zuviel an kulturellem Gedächtnis und einem Mangel an Verdrängungskraft.87 Sein Urteilsvermögen kann die Impressionen nicht mehr unter ein Allgemeines bringen, was für Kant die Urteilskraft von ihrer transzendentalen Funktion her tun muss, wenn sie dem Menschen als Vernunftwesen Orientierung und d. h. Synthesen und Synthetisierungen geben soll. Aber bei Sebalds Erzähler ist eine solche Synthese nicht mehr in einer von der universalisierenden Vernunft gestifteten Reinform möglich, da Taxonomiebrüche sich ständig in dialektischen Wendungen aufeinander beziehen. So verweben sich dem Erzähler die Partikularitäten nicht zu einer Ereigniskette, sondern zu einem Gewebe aufeinander verweisender Geschichten ohne Geschichte. Die Macht appellativer ‚Blicke‘ in den Dingen wird schon zu Beginn des Romans am Beispiel des Rembrandt-Gemäldes Die Anatomie des Dr. Tulp deutlich, das als erstes von fünf doppelseitigen Abbildungen den Roman eröffnet und ein ganzes Blickgeflecht um einen toten Körper (den Körper der Geschichte?) inszeniert.88 Sebalds Erzähler finden sich in einer Welt von enigmatic signifiers konfrontiert, von denen Eric Santner schreibt: [W]e are always within the ‚ban‘ of such signifiers by virtue of the historicity of meaning. We are, that is, always haunted, surrounded by the remainders of lost forms of life, by concepts and signs that had meaning within a form of life that is now gone and so persist, to use Lacan’s telling formulation as ‚hieroglyphs in the desert‘.89
Sebalds Erzähler kann nicht anders, als sich ständig von Appellen der Vergangenheit angehen zu lassen. Die von Santner im Rückgang auf Lacan erwähnten „Hieroglyphen“ senden subjektlose regards aus, in denen Sebalds Erzähler sich als Medium der Bewahrung erinnernder Bringschuld gegenüber einer (gleichfalls) ständig schuldigen Umwelt sieht. In gewissem Sinne prägt das 87
88 89
In ihrem Artikel „Das totale Museum“ über den Roman L‘Origine du monde von Serge Rezvani untersucht Ingrid Streble dieses kulturgeschichtliche „Zuviel“ aus der Perspektive sammelnder Institutionen; in den Depots des „großen Museums“ verschmelzen die gelagerten Bilder zu einem langsam verrottenden „Blätterteig“. Vgl. Sebald 1995, Die Ringe des Saturn, 22 f. Siehe zur Analyse des Bildes in Sebalds Roman den Artikel von Mülder-Bach 2007, Der große Zug des Details. Santner 2011, Psychotheology, 44.
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seine Alltagspsychose.90 Diese regards, in denen der Mensch immer schon steht, mit ihren nicht aufgehenden Bedeutungsresten können verschiedene Formen haben: In den Fotos aus Die Ausgewanderten können sie die Form des von Roland Barthes analysierten punctum haben. Aber man könnte einen solchen regard auch in dem nahezu unscheinbaren Segelboot91 erkennen, das den Blick von Sebalds Erzähler auf seiner Wallfahrt in Bann zieht, aber ihn auch als Gesehenen entlarvt. Aber er kann auch in dem Tierauge liegen, das den Erzähler „fragend anblickt“92. Während in den Romanen Austerlitz (2001) und Die Ausgewanderte (1992) Dinge in eine Ordnung gebracht werden können, die die Lebensgeschichten jüdischer Überlebender des Holocaust biographisch illustrieren, so ist in Die Ringe des Saturn eine solche Ordnung nicht möglich. Wohl deshalb orientiert Sebald seine Prosa am Strukturprinzip der mittelalterlichen Wunderkammer als Allegorie eines modernen, der Gefahr der Psychopathologie ausgesetzten Bewusstseins.93 Wenn mit dem Wegfall eines in Gottes Erinnerungskraft gesetzten Vertrauens als in ein absolutes Gedächtnis nun ausschließlich einer – mit Nietzsche gesagt – menschlichen, allzu menschlichen Menschheit die Erinnerungskraft auferlegt ist, so führt Sebald seinen Lesern die Folgen dessen vor Augen. Die Menschheit muss überfordert sein, wenn sie es mit dem kulturellen Gedächtnis wirklich ernst meinen möchte. In diesem Zusammenhang kann man auf die These des Kunsthistorikers Boris Groys verweisen, der das moderne Bedürfnis des Sammelns geschichtlich in der europäischen Moderne verortet. Er behauptet, dass dieses Bedürfnis seine Wurzeln in der Säkularisierung und damit implizit in dem Verlust des Glaubens an ein ewiges, göttliches Gedächtnis hat.94 Stand dieses Gedächtnis (dieser Kopf Gottes) einst für eine in sich geschlossene Sammlung (von Objekten) und damit auch für ein auf Innerlichkeit beruhendes göttliches Gesammeltsein, so verweist der Museumsboom, der im 19. Jahrhundert begann und heute – oft mit neuen Ausstellungsformen der Selbstreflexion ausgestattet – fortschreitet, auf einen Prozess der Zerstreuung von Dingen. Sebalds Erzähler versucht ähnlich wie der moderne Museumsboom, dieser Zerstreuung entgegenzuwirken und die Aufgabe zu übernehmen, die einst Gott zustand: die Dinge zu vereinen und in zu verantwortende Ordnungsstrukturen zu stellen. Das Museum (ebenso wie das ihm zugehörige Archiv) muss dabei jedoch ebenso wie Sebalds Erzähler eine Antwort finden auf die metaphysisch-religiöse Frage „Was bleibt?“. Wie Sebald offenlegt, bleibt zu viel. Es bleibt zu viel zu bewahren für die vom menschlichen Bewusstseins verantwortbaren Taxonomien. Sebald scheint nahezulegen, dass der Mensch diese Frage nach dem, was bleibt, nicht beantworten kann, weil seine Synthesen nur um den Preis der Abblendungen von90 91 92 93 94
Vgl. zum Thema der Alltagspsychose: Miller 2009, Ordinary Psychosis Revisited. Vgl. Sebald 1995, Ringe des Saturn, 86. Ebd., 87. Vgl. Finkelde 2007, Wunderkammer und Apokalypse. Vgl. Groys 1997, Logik der Sammlung, 48.
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statten gehen und die menschliche Verantwortung nie Gewissheit darüber haben mag, ob nicht schlicht und einfach der pragmatische Wille zur Macht die Vergangenheit immer so schon auslegt, wie die gerade etablierte Episteme es für ihren eigenen Machterhalt braucht. Eine Psyche, die versucht, das gerade nicht zu tun, d. h., die versucht, den Machtanspruch der etablierten Praktiken zu hinterfragen, erinnert sich – pointiert formuliert – ‚krankenhausreif‘. Sebalds Erzähler ist ein Versuchsobjekt, das die pragmatische Aneignung der Geschichte zu hinterfragen versucht, weshalb er immer wieder neue Fragmente freilegt mit ihren nur ihn ansprechenden, aber ihn aus der Gegenwart der pragmatischen Gesellschaft letztlich verdrängenden Appellen. In diesem Sinne ist hier das Thema des Sammelns eine Technik kritischer Reflexion. Um noch einmal auf die Dichotomie von Objekt und Ding zurückzukommen, könnte man daher sagen, dass Sebald uns eine Abgründigkeit der Dinge vor Augen führt, die zu einem Netz von Korrespondenzen führt, das unendlich weitergesponnen werden kann, da allein schon die Dimension des abwesenden großen Anderen, der die Geschichte regiert, selbst wenn er nicht da ist, niemals erschöpfend beschrieben werden kann, und darüber hinaus der Autor/ Sammler immer nur ein Bruchstück aufgreift, das keine narrative Er- bzw. Einlösung findet. Sebalds Figuren sammeln Fragmente aller Art (Fotografien, Postkarten, Zeitungsausschnitte) mit einer solchen Besessenheit, weil diese Dinge gerade nicht mehr wie bei Monet in einem harmonischen „envelope“ (in einer Umhüllung) gebündelt sind bzw. in einem „dispositional field“ schweben. Vielmehr springen permanent die Dinge erschreckend aus dem „envelope“ einer harmlosen Wallfahrt durch die englische Grafschaft Suffolk. Mustergültig dafür ist die Szene, in der der Erzähler, auf einer Klippe stehend, ein am Boden liegendes verschlungenes Paar sieht. Er erfährt einen lebensbedrohlichen Schrecken, den er in Beziehung setzt mit einem in einer Erzählung von Borges erwähnten ovalen Spiegel, demgegenüber zwei Autoren sich beim Nachtessen unheimlich beobachtet fühlten. Von diesem „ovale[n], halbblinde[n] Spiegel“, heißt es, ging „eine Art Beunruhigung aus. Wir fühlten uns von diesem stummen Zeugen belauert“95. Nach meiner Meinung kann dieser Spiegel als sinnbildliche Umschreibung dessen verstanden werden, was Lacan den regard nennt und was bei Sebald die Krankheit zum Tode des Erinnerns auslöst. Mit den Worten Richard Boothbys könnte man sagen, dass das ‚molluskenartige‘ Menschenpaar am Ufer bzw. der ovale halbblinde Spiegel für „a rupturing of imaginary coherence that stages a revelation of the Real“96 stehen. Sebalds Figuren sammeln Dinge. Diese beinhalten aber einen Übernähe evozierenden, nicht kommensurablen Rest. Damit thematisiert Sebald ein Unerklärbares, ein sich nicht in Ausstellungsräumen und Sammlungen (die ja seine Romane selbst sind) auflösendes „Etwas“. Dieses sich nicht auflösende Etwas verweigert sich darin – wie Freuds Unbewusstes – einer rationalen Auf95 96
Sebald 1995, Ringe des Saturn, 92. Boothby 2001, Freud as Philosopher, 102.
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lösung. An dem von Lacan wiederholt kommentierten und oben erwähnten Holbein-Gemälde kann deutlich werden, inwiefern das „Ding“ nach Lacan etwas ist, das wie von einer nicht repräsentierbaren Position aus (sprich: jenseits des zentralperspektivischen Blickes auf das Gemälde) in ein in sich geschlossenes Verhältnis hineinbricht und den symbolischen Raum neu gliedert. Das Holbein-Gemälde zu erwähnen ist naheliegend, weil es mit dem anamorphotischen Totenschädel im Vordergrund die Vergänglichkeit des Irdischen darstellt und weil es uns zurückführt auf Sebalds eigene Anverwandlung barocker Vanitasmotive, die er in Die Ringe des Saturn wiederholt abbildet. Es ist daher auch nahe liegend anzunehmen, dass Sebald ganz bewusst Benjamins Trauerspiel-Buch rezipiert. Er thematisiert eine barocke, aber auch moderne Abgründigkeit der Dinge, die Benjamin am Beispiel von Fragment und Ruine darlegt und die Holbein mit seinem anamorphotischen Totenschädel als Ansturm der Vergänglichkeit gegen die im Gemälde repräsentierte und symbolträchtige Sammlung von Instrumenten neuzeitlicher Weltbeherrschung zwischen den beiden Diplomaten am Hof Heinrichs VIII. darstellt. Sebald rezipiert nicht das Holbein-Gemälde, aber das Motiv barocker Vanitas ist allpräsent, sowohl im gleich zu Beginn des Romans abgebildeten Totenschädel von Thomas Browne als auch in der von Rembrandt dargestellten Die Anatomie des Dr. Tulp und dem ebenso von Browne stammenden Verweis auf das Musaeum Clausum. Diese Aspekte deuten im Zusammenhang mit einer barocken Poetik des Sammelns auf eine Abgründigkeit der Dinge hin, die für Benjamin neben dem Verweis auf Fragment und Ruine ebenso mit der Allegorie zu tun haben. Sebald inszeniert mit seiner am Musaeum Clausum von Thomas Browne ausgerichteten Poetologie einen Gegendiskurs zu dem, was Museen seit ihrer Gründung durch den Louvre (eines der ersten Nationalmuseen) tun müssen: Geschichte etablieren und Objekte der Nationalgeschichte in eine festdefinierte Diskursform integrieren. Museen kreieren Diskurse, die der Existenz einer inhärenten Irrationalität innerhalb der Netzwerke ihrer Bedeutungen zugunsten der Narration (übrigens auch zugunsten der Narration von Alterität) ausweichen. Aber das „Andere“ im Vergangenen beinhaltet immer einen Rest des NichtAuflösbaren und damit eine theologische Dimension. Öffentliche Museen sind als gesellschaftliche Institutionen phantasmagorische Produktionsstätten, die jeweils den Status der herrschenden Ordnung verteidigen – geprägt durch die Verdrängung des Dings und die Präsentation des Objekts. Eine theologische Dimension muss man ihnen absprechen. Zum Abschluss noch eine Anmerkung: Wie wir sahen, beschreibt Sebalds Prosa eine ständig sterbende Naturgeschichte. Dies wird in vielen seiner Werke deutlich, besonders aber in Die Ringe des Saturn. Sebald tut dies, weil eine ständig sterbende Naturgeschichte als eine durch Symbolwelten aufrechterhaltene natürlich auch nicht wirklich, nicht richtig sterben kann. Einer Interpretation Slavoj folgend, kann man sagen, dass die Naturgeschichte bei Sebald sowenig wie die
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Opfer de Sades wirklich stirbt.97 Die Opfer de Sades können nicht sterben, da sie eine besondere Substanz verkörpern, hauptet. Ebenso weist Lacan darauf hin, dass es eine radikale Vernichtung des Lebenskreislaufes nur dann gibt, wenn wir uns schon im Symbolischen befinden. Die Idee des radikalen Verbrechens impliziert eine Distanz zum Lebenskreislauf. Es impliziert, dass wir irgendwie aus ihm „heraustreten“, ihn von außen vernichten und „neu, aus dem Nichts beginnen“ können. Und diese Distanz wird erst durch das Symbolische eröffnet: Sie wird erst insofern möglich, als wir nicht unmittelbar mit der Realität des Kreislaufes des Lebens und des Todes, des Gebärens und des Sterbens zu tun haben. Was Sebald daher tut, ist, den Körper der Geschichte immer neu zu zerhacken, zu zerstören und umzugruppieren. Und gleichzeitig – so seltsam es ist – ersteht dieser Körper immer wieder auf, z. B. in der ästhetischen Melancholie von Sebalds Poetik. Der Körper steht wieder auf, weil er eine Substanz verkörpert, die nicht zu töten ist, nicht auf der Ebene eines „natürlichen Todes“ wie Lacan in Abgrenzung zu einem „symbolischen Tod“ sagt.98 Der Körper der Geschichte ist ein „erhabener“ Körper. Gerade, weil eine Lücke in diesem Körper ist, ein Mangel an Bedeutung, kann er sublim sein, kann er (und mit ihm) nicht abgeschlossen werden. Deswegen wird er für Sebalds Erzähler ständig neu erzählt, neu getötet, um wieder neu erklärt zu werden. Das signifikante Netz strukturiert sich immer um diese Lücke, um eine Leere. Es impliziert immer eine unmögliche Stelle, die von Lacan als Stelle des traumatischen, nicht symbolisierbaren, realen Dinges, der Objekt-Ursache des Begehrens konzeptualisiert wird. Gerade die Besetzung Netz, das gesamte Feld der signifikanten, strukturierten Realität des Lebenskreislaufes zu „vernichten“99.
97 98
99
Liebe Dein Symptom wie Dich selbst!, 74 f. Lacan exemplifiziert dies in seiner Antigone-Lektüre. Vgl. Lacan 1996, Antigone.
Ebd., 76.
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Inside this tattered shoebox lies a single square photograph, a black-and-white image from an unfamiliar time and place. You pick it up and understand instinctively you are looking at your future self. You work for an international cartel of furniture distributors, specialising in the grey market of quality reproductions of 20th century modernist chairs. Mostly, you source potential new manufacturers and maintain quality control across your allocated Far East sector. The job matches the surroundings you live in, a recent New Town development emulating the architectural vernacular of one of your main client countries in the West, a quality reproduction like the chairs you deal in – the Wassily, the Hardoy, the Tulip, the Ax, the Barcelona, La Fonda, the Swan, the Series 7. You have never travelled outside of your own country, so you cannot be certain, but you suspect it may be a rather idealised past, or future, that is set here in brightly painted concrete. The place is still being built, following an intricate pattern of development in which completed phases are interspersed by incomplete tracts, giving the impression of a place eternally rehearsing its entire life cycle in an instant. Even though most real estate, actual and projected, has been snapped up, it has been purely for investment reasons, and so the homes remain mostly lacking in actual tenants. The dominant demographic of this town consists of an army of cleaners who comb the deserted streets and pedestrian zones, fishing debris as they row along the gentle canals and preen the meandering car ports, keeping at bay the eternal dust and dirt generated by the interspersed construction zones. The handful of actual, living residents like yourself are scattered across the town; like the dust that hangs in the air, you feel their presence though you never see them. The economic slow down in your client countries has given you unprecedented spare time and you have learned to fill this void with long walks amongst the new and unfinished buildings of your neighbourhood. Having eventually grown tired of the constant noise of the surrounding construction, lately you have taken to explore the quiet, infinite depths of the empty shopping mall which lies at the lifeless heart of this new town. Like the surrounding development that was supposed to supply it with custom, it grew too fast to fill the void inside. The shopping mall is simply called Centre Centre, the doubling of its social and geographic positioning no doubt intend-
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ed to exponentially boost its economic gravity. Its present condition of underwhelming occupancy would imply the one Centre cancelling out the other, creating a mystical zero, a vacuum floating in deep space. The food court in this vast complex, originally your first destination as it is the heart and stomach of any mall, is a sea of multi-coloured plastic eating units, each one consisting of a round table with five chairs encircling it, all connected by a single undulating chrome steel tube. You suppose they were intended to look like flowers, and every time you come here you think of a sea of petals, Maoʼs hundred flowers forever blooming under a fluorescent sky. It is a bastardised design, though not without its charm, certainly not like any of the adaptations you have seen in your own factories. Out of curiosity you once looked into where these were produced, self-consciously kneeling on the floor to look for that elusive manufacturerʼs mark on the underside, but you could find none. This in itself was a clue to their imported nature, probably from one of the south-eastern economies which are beginning to enter your market, and you learned to appreciate the smell of foreign injection-moulded plastic and the premature patina resulting from the inferior pigments used in their manufacture. Of the dozen or so food outlets, only two are occupied and running. Despite the terminal underpopulation of the town, the two outlets run a full service. This is not surprising since they belong to state-owned fast food chains which are subsidised and therefore not subject to the vagaries of demand and supply. You only eat from one of them, an outlet from the Freedom Fresh chain which specialises in salads, juices and smoothies which are freshly prepared in front of you. The young man who works behind the counter reminds you of your younger self, around the age when you first started working in this business of furniture. Back then it was your uncle who took you under his wings and got you your first job in his factory specialising in tubular steel furniture and fittings. You had received your education in 20th century furniture design from the black-and-white photocopies pinned up all across your uncleʼs office, a scattered and circular history of rectal support organised according to prevailing market tastes and reproducibility in the then limited, but nevertheless ambitious capacity of your uncle’s factory. Many of the images were severely degraded photocopies of photocopies of photocopies, and you distinctly remember your amazement at how some of these vague images in which you sometimes barely recognised an object, never mind a piece of furniture, demanded a considerable amount of imagination to overcome the missing information and produce a chair out of. There was a story which the workers at the factory liked to rehearse in various versions, a story about a new worker who was given the task of reproducing a prototype copy from one of these images and who eventually fell into despair when he
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produced an unwieldy object which, as it later turned out, was the chair and its shadow combined in a single object. At Freedom Fresh you generally order the same salad, Number 12: Autumn Reds, composed mostly of shredded beetroot. Occasionally, you order a different dish, a random selection from their menu such as Number 4: Lucky Spring, or Number 18: Prosperous Green, to avoid the situation where the young man might start to prepare Number 12: Autumn Reds before you arrive and thus deny you the small spectacle which is the very reason for your repeat custom. You watch him first peel the skin of the beets, then rasp them by hand. He has all sorts of electrical food processors at his disposal, but for some reason he chooses to rasp the beetroot by hand. Which is why you watch him every week and he clearly enjoys the audience. There is a point soon after he begins when the deep red juice of the beetroot is splattering everywhere, bubbling and streaming from his wrists and fingers into an unnameable river. The sweet, earthen smell that fills the air between you makes up for the lack of verbal communication. He lives in the neighbouring village, but that is as much as you need to know about him. Over time you come to realise the reason for this increasingly committed viewing every week: it is the one moment in which you are able to embrace the constant dull pain emanating from your left leg, or where you think it is, and your mind loosens its embargo on the memory of the accident. It occurred on one of your factory visits, a potential new supplier near the northern border. It was a vast compound specialising in all variants of thermoplastics, a company which had originally cornered the niche market of medical prosthetics and had then decided to expand into furniture production. You were being shown their recent acquisition of second-hand injection-moulding machines, each roughly the size of a bus, while workers were being trained on them, possibly in anticipation of your forthcoming contract. You had not been yourself that day, having forgotten the obligatory bottle of single malt as a gift to your host, and your anxiety from this unforgivable oversight only heightened your increasing confusion caused by the already overbearing fumes throughout the factory. In a sequence of events which you later read in the incident report (since your own memory has rejected it much like a foreign body) you must have stepped backwards into an open mould of a large vacuum-forming machine just as it was closing around the heated polypropylene plastic. You have every reason to suspect that the prosthetic splint which now takes the place of your limb was most likely manufactured in the very same factory. Somewhere on the inside of this splint is the manufacturerʼs seal which you have never seen but feel like an incurable itch.
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Your ritual lunch is always followed by a long, meandering walk through the inner bowels of the mall. It helps to balance that delicate moment of selective recollection while watching your meal being prepared, an experience you recoil from in quiet distress and yet continue to return to like a moth to its light. The walks allow you to empty your mind, to reset the inner coil. This is what the mall provides you with, the luxury of exercising your forgetting – your goldfish treadmill, as you like to think of it. The vast complex seems to be laid out on a perfectly symmetrical plan, so much so that wherever you happen to be, it never fails to unfold symmetrically in front of you. Occasional encounters with those illuminated panels displaying the floor plan leave you none the wiser as they have not been customised to include the little red dot indicating your present location. Most appear to be alternately caked in by a layer of greasy dust or remain wrapped by the fabricators to avoid just such fate, both producing an altogether not unpleasant effect of ancient hieroglyphs speaking to you across distant time. What you are left with is the repeated image of a headless insect wholly encompassed by the network of its spidery limbs. On this particular day, you find yourself at a junction of passageways which you have not traversed yet, though you cannot be sure. You got distracted earlier while walking down another set of junctions, absentmindedly wiping your mouth and looking with resigned surprise at the remnants of your beetroot lunch across the right sleeve of your shirt. Although you go to great lengths to pretend otherwise, you devise ever more self-deceiving tactics to miss a turn or two, since you relish this moment of being lost perpetuating the impression of the infinite configuration of walks open to you. Earlier today you had halfconsciously neglected to wipe your mouth after lunch so as to create an opportunity, an opening, to distract yourself at this later point. So once again, you have schemed yourself into getting lost. A peculiar smell hangs in the air and draws you down a set of corridors; it is a heavy note of fermentation, not without a hint of untreated sewage and possibly a dead rodent or two, but unusually, with a distinctly inorganic, mineral edge to it. A pungent smell, both wet and dry, that is appalling, and yet irresistibly drawing you into its orbit, providing you with a certain criteria, an alibi, to walk down one amongst many seemingly identical corridors. Over time, of course, you have learned to savour the subtle nuances of these countless arteries like the whiskey you forgot on that cruel day. The bouquet of stale air, varying in its composition of dust, humidity, grease, interacting with the occasional flourish of brightly coloured discarded plastic, variations in lighting and the ripe, lingering body of organic waste providing the finishing note. The corridor you find yourself in today shares many of these qualities, qualities which provide you with the perfect receptacle for your empty thoughts: row upon row of
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vacant retail spaces, bare concrete hulls with their utility services exposed like some hollowed carcass of a dead beetle on the insatiable forest floor. The passage in front of you seems unusually dark, with some of the light fixtures already hanging precariously from the suspended ceiling which is itself in advanced stages of disintegration. This particular tableau reminds you of a programme you recently watched on television featuring an ancient galleon at the bottom of the sea, the robotic camera aboard the mini-submarine tracking slow sequences along the abandoned berths of a once proud vessel. There is no algae growing in these corners, however, just occasional small piles of rubbish, little altars of polystyrene bowls and bamboo chopsticks whose hot contents once sated the urgent hunger of a construction worker or security guard. Never a cleaner, though; not because the cleaners are conscientious about their rubbish, but because no cleaner ventures this far into the maze, not since the grand opening two years ago. Unlike those small organic shapes which normally break the geometric lines enveloping you, you find yourself increasingly surrounded by orderly piles of timber, breeze blocks, lighting fixtures and floor tiles. It remains unclear to you whether these have yet to be installed or are in the process of being reclaimed. As you move on, increasingly large patches of untiled floor, exposing the bare concrete substrate underneath, produce in you an anxious sense of approaching one of those dead ends which you had always assumed existed but have never so far actually come across. You are now walking through a barely lit tunnel of rough, unfinished concrete, the sharp surface holding the texture of its formwork. The option of turning around was left several junctions back, there is now only a single objective: to touch the wall that ends the tunnel. You almost walk into it thinking it is yet another intermittent spell of darkness. You turn around, realising the corridor is now barely wide enough to fit your shoulders, and you notice a rectangular shape by your left foot, a shoebox. It seems utterly out of place, here in your cavity, with a patina, an age that is different to the accelerated ruin around you. A brand you do not recognise, a distinctly old-fashioned swirl to the font, a quality cardboard visibly made from real wood pulp, a pulp that speaks of the forest it once came from. It is just a shoebox, and yet you cannot help yourself and proceed to open it.
SARAH SCHMIDT
ODRADEK ODER DIE RACHE DES OBJEKTES? „PHANTOM LIMBS“ VON BERND BEHR
Als sich Walter Benjamin den Passagen des 19. Jahrhunderts zuwendete, war ihre Zeit bereits abgelaufen, und Benjamin betrieb in der Auseinandersetzung mit ihnen eine Archäologie des Konsums und der Dingwelt, die gleichwohl einen paradigmatischen Erklärungsanspruch für die Moderne erhob. Mit dem Text „Phantom Limbs“ des deutsch-taiwanesischen Künstlers Bernd Behr steht ein Nachfahre jener Passagen im Zentrum der Aufmerksamkeit, eine Shoppingmall, deren Lokalität nur vage im asiatischen Raum zu verorten ist. Auch das Prinzip „shopping mall“ scheint in dieser Blicknahme schon längst überholt, auch wenn die Konstruktion der Lokalität baulich noch nicht einmal fertiggestellt ist. Durch die leeren Gänge flanieren keine Kunden, sondern ein vereinzelter Verkäufer zieht in einem Labyrinth ohne Waren seine Kreise. Die Mall, die in einer simplen Verdoppelung auch „Center Center“ heißt, befindet sich in einer Stadt, ebenso neu, beständig „under construction“ und minimal belebt wie der leere Konsumtempel in ihrem Innern. Konstatierte Jean Baudrillard bereits 1968 in Le système des objets einen Prozess zunehmender Miniaturisierung und Virtualisierung unserer Lebenswelt und mit ihm ein „Verschwinden der Dinge“1, so verdichtet sich diese Prognose in seinen späteren Schriften wie Les strategies fatales, Mots de passe oder L’Autre par lui-même zu einer dunklen Prophetie, in der auch der Mensch zu verschwinden droht. Das Verschwinden des Menschen bezieht sich dabei nicht allein auf seine zunehmend virtuelle Existenz, seine materielle Immobilität vor den Bildschirmen, sondern es resultiert aus einem Machtverhältnis zwischen Subjekt und Objekt, in dem sich eine „Rache des Objektes“2 anzeigt. Diese perfekte „Rache“ am Subjekt ist jedoch kein offener Kampf eines „aufständischen“ Objektes, sondern ist eine Figur der „Reversibilität“, in der das Subjekt in seinem Bemühen um vollständige Unterwerfung des Objektes am Ende auch sich selbst zu verlieren droht.3 1 2
3
Vgl. Baudrillard 1991, Das System der Dinge, 68. Vgl. Baudrillard 2002, Passwörter, 47: „Letzten Endes hätten wir es nicht mit einer Aneignung des Weltobjektes durch das Subjekt zu tun, sondern mit einem Duell zwischen Subjekt und Objekt. Und in diesem Spiel sind die Würfel noch nicht gefallen ... Man gewinnt den Eindruck, daß es eine Art Rückschlag, Revanche oder Rache des für passiv gehaltenen Objektes gibt, das sich entdecken und analysieren ließ und plötzlich zu einem seltsamen Attraktor und in gewisser Weise zu einem Gegner wurde.“ Vgl. Baudrillard 1985, Die fatalen Strategien, 99: „Das Objekt entgeht dem Subjekt überall und verweist es auf seine undefinierbare Subjektposition. Es überwältigt nicht nur durch seine
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Der Protagonist in „Phantom Limbs“ arbeitet als Möbelverkäufer in einem Zwischenhandelsunternehmen, das sich auf qualitativ hochwertige Kopien von Designklassikern des 20. Jahrhunderts spezialisiert hat. Die Kunden aus aller Welt besuchen und bestellen ihre Ware auf virtuellen Plattformen und die Stadt braucht in der fast vollständig virtualisierten Finanzwelt zu Beginn des 21. Jahrhunderts keine Mieter, denn Investitionsrenditen halten sie am Leben. Diese Geisterstadt erfüllt alle Merkmale einer „Heterotopie“, wie sie Foucault in einem 1966 gehaltenen Radiovortrag beschreibt4, nur dass die Gesellschaft, zu der sie als „Gegenort“ oder „Gegenlager“ auftritt, im virtuellen Raum verschwunden zu sein scheint. Das „Außerhalb“ bleibt undeutlich, es ist eine mit „your client countries“ betitelte Welt, die der Protagonist nie betritt. Der spezifische Zeitmodus dieser Heterotopie ist die ewige Wiederholung, ein endloser Loop. Den Bauarbeitern dieser Stadt steht eine Armee aus Reinigungskräften gegenüber, die den Staub, den die Konstruktionsarbeiten produzieren, tagtäglich wegwischen. Zusammen mit dem Wachpersonal stellen sie den größten Teil der kaum sichtbaren Bevölkerung („you feel their presence though you never see them“5). In diesem Zustand beständiger Transformation lässt sich, wie der Protagonist feststellt, keine Richtung mehr erkennen, Konstruktion wie Destruktion scheinen gleichwertige Lesarten des Prozesses. Wir folgen dem Möbelverkäufer in jedem einzelnen Schritt seines ritualisierten Gangs. Der verbleibende Konsum in der leeren architektonischen Hülle des Konsums ist sein Mittagessen in einem der zwei bestehenden Imbisse der Mall, der banalste Kreislauf des Menschlichen also, seine tägliche Nahrungszufuhr. Aber das Abschreiten der Gänge ist zugleich eine mnemotechnische Übung: Der Protagonist erinnert sich an den Verlust seines Beines in einer Möbelfabrik oder an den Versuch eines Kollegen, ein Möbelstück nach einer schlechten Fotokopie nachzubilden. Diese Erinnerungswanderung geht über in eine Übung des Vergessens, des Sichverlierens („the luxury of exercising your forgetting“6), und so entsteht nicht nur auf organischer, sondern auch auf mentaler Ebene eine ewige Wiederholung: Ein Kreislauf aus Erinnern und Vergessen, der durch eine zirkelhafte narrative Struktur errichtet wird. Denn beim Öffnen einer Schuhschachtel am Ende der Geschichte zeigt sich eine Fotografie, die auf die Bildbeschreibung zu Beginn verweist und die Erzählung erwächst aus jedem Ende, jeder geöffneten Schachtel immer wieder von Neuem, die Vergangenheit wird zur Zukunft, die Zukunft ist bereits vergangen.
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Komplexität, sondern annulliert gleichsam die Fragen, die das Subjekt ihm stellen mag. [...] Von der Analyse in die Enge getrieben, machen sich die Objekte reversibel, genau wie sich der Schein, der vom Sinn in die Enge getrieben wird, in die Metamorphose flüchtet. Das Subjekt der Analyse ist überall angreifbar geworden, und die Rache des Objekts steht erst am Anfang. Diese Rache ist selbst Teil einer allgemeinen Reversibilität.“ Foucault 2006, Von anderen Räumen. Bernd Behr, „Phantom Limbs“, in diesem Band, S. 125. Ebd., S. 128.
ODRADEK ODER DIE RACHE DES OBJEKTES?
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„Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße, wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Café-Terassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben“7, schreibt Franz Hessel in seinem Buch „Spazieren in Berlin“ von 1929. Und Walter Benjamin unterstreicht in seiner Reflexion auf Hessels Text das Flanieren als eine Form des historischen Weltbezugs, die auch dann noch gültig bleibt, wenn der Typus des Flaneurs schon 1929 – zumal im Berlin mit seinem ausgeprägten „Wirklichkeitssinn“ – als ein überholter Typus gelten konnte.8 In Bernd Behrs „Centre Centre“, jener allzu real wirkenden Dystopie, scheint keine Stadtlektüre, kein historischer Weltbezug mehr möglich. Wie Symbole für das im Modus der Wiederholung eintretende Sinnvakuum erscheinen die unter Baustaub unkenntlich gewordenen Orientierungstafeln der Mall, deren verkrustete Erhebungen nur noch anzeigen, dass sie lesbar waren, wie Inschriften aus einer früheren Zeit. In dieser ding- und menschenarmen Welt geraten Mensch und Ding in eine fatale Verschmelzung, die einen ganz anderen Charakter trägt, als die Gleichwertigkeit mit der Ding und Mensch dem Flaneur als Gegenüber begegnen. Die Grenzen zwischen anorganisch und organisch, zwischen Mensch und Ding, zwischen innen und außen beginnen sich langsam aufzulösen. Paradigmatisch ist eine erinnerte Episode, in der Mensch, Prothese und Möbelstück miteinander verschmelzen: Die Fabrik, in der der Möbelverkäufer ein Bein verlor, war zunächst spezialisiert auf medizinische Prothesen, erweiterte dann aber das Sortiment auch auf Möbel und kann schließlich, nachdem der Verkäufer sein Bein durch einen ungeschickten Schritt in einer Möbelmaschine zerstört, den benötigten Gliederersatz zur Verfügung stellen. Zugleich erhalten die Stadt und ihre Mall organische Qualitäten: Das „Centre Centre“ ist das „Herz“ der Stadt, die zwei Bistros der Mall − ihr belebter Teil − der „Magen“, die Gänge ihre „Eingeweide“. In dieser Beschreibung transformiert sich die Stadt, die „man“ nie verlässt, zu einem einzigen großen Phantomglied („phantom limb“), zu einer Prothese des eigenen Körpers, als würde der Protagonist in seinen Erinnerungspromenaden am Ende in seinen eigenen Gedärmen spazieren gehen.9 Mit seinen emotionslosen Beschreibungen jenseits der persönlichen Wertung scheint sich der Verkäufer in sein Schicksal zu fügen. Und doch regt sich in der Zuwendung zum Detail, in der akribischen Verzeichnung aller zur Verfügung stehenden sinnlichen Daten ein Widerstand des „Flaneurs“, als ließen sich die ausbleibenden Reize mit einer gesteigerten mikroskopischen Aufmerksamkeit kompensieren. So wird die mit Hand geschälte und geriebene ro7 8 9
Hessel 1984, Ein Flaneur, 145. Benjamin 1980, Die Wiederkehr des Flaneurs, 194 f. Zum städtischen Körper als groß angelegtes Verdauungssystem vgl. den Beitrag von Barbara Thums „Im Zweifel für die Reste“ im vierten Kapitel. Zur Verbindung von Magen und Gedächtnis im Prozess des Lesenlernens vgl. die Ausführungen von Mona Körte „Vom Ding zum Zeichen“ im ersten Kapitel.
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te Beete im Mall-Restaurant zu einem Gemetzel, einer von Hand und Auge genossenen körperlichen Angelegenheit, der fast eine erotische Qualität zukommt. Doch die gesteigerte sinnliche Aufmerksamkeit und die sich in ihr anzeigende Sehnsucht nach einem realen Ding, das uns „anblickt“ und zu einer Begegnung herausfordert, führt den Suchenden am Ende seiner Wanderung in eine Falle.10 Denn die zufällig erscheinende Schuhschachtel, unbekannt, mit Patina und nach alter stabiler Manier hergestellt, ist eine Büchse der Pandora, der die ewige Wiederholung entschlüpft insofern sie uns an den Anfang des Textes verweist. Ist die Rache des Objektes perfekt? Dem Text voran steht eine Fotografie. Das abgebildete Objekt stammt aus der Installation „Quasicrystal Compass“ (2009-10) von Bernd Behr, einer von drei mit verschaltem Beton bearbeiteten Stahlrohrstühlen aus der „Serie 7“ des klassischen Designers Arne Jacobsen.
1 − Bernd Behr, Quasicrystal Compass 1-3, 2009-2010, Glasfaser verstärkter Beton, Arne Jacobsen Serie 7, Stahlrohrstuhlbeine. Installationsansicht, Bloomberg Space, London
Die Funktionalität dieses Designklassikers erscheint in diesen Möbelobjekten nur noch in der Form des Zitates. Für sich genommen sind sie dysfunktional: Der Versuch auf ihnen zu sitzen wäre ein akrobatischer Akt oder zumindest sehr unbequem. Genau genommen zeichnen sie sich auch nicht durch Dysfunktionalität aus, denn die Funktion dieser Objekte bleibt rätselhaft. Mit ihrer 10
Ganz im Gegensatz zu dieser Sehnsucht nach der Begegnung mit dem Ding, drohen die Protagonisten in W. G. Sebalds Prosa in der Fülle der von den Dingen ausgehenden „Blicke“ unterzugehen, vgl. dazu den Beitrag von Dominik Finkelde „Der nicht aufgehende Rest“ im ersten Kapitel.
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Figuration aus verschaltem Beton erinnern sie an architektonische Bauelemente, als wären sie kleine Behausungen auf Beinen. Behrs künstlerische Arbeiten wenden sich der Verschränkung von sozialer Dimension, historischen Fakten und architektonischen Formen zu. Seismographisch spüren sie Zweckentfremdungen, Transformation und Verschiebungen auf und thematisieren dabei immer wieder auch Bauten der klassischen Moderne. In der Installation im Bloomberg Space in London (2010) korrespondieren die drei Objekte mit der Videoarbeit, „Weimar Villa (Unreconstructed)“ (2010), in der eine im Entstehen begriffene chinesische Siedlung in Anting (eine Satellitenstadt eine Stunde nördlich von Shanghai) des Architekten „AS&P“ zu sehen ist. Mit ihren klaren, weißen, rektangulären Kompositionen erinnert die Siedlung nicht nur an die funktionalen Formen, die zu einer Art Exportschlager des internationalen Bauhausstils wurden, sondern sie orientiert sich ganz konkret an den Meisterhäusern in Dessau.
2 − Bernd Behr, Videostill von Weimar Villa (Unreconstructed), 2010, 9 Min. 22 Sek., High Definition Video, Farbe, Stereo
Das Video folgt der Konstruktion in der Zeit rückwärts, so als wohnten wir einer archäologischen Unternehmung bei11, ist jedoch als Loop geschaltet, so dass wir bei längerer Betrachtung in einem Schwebezustand zwischen Konstruktion und Destruktion, Aufbau und Abbau verharren. Auch das reale Bauprojekt, das sich den Ruf der Reformschule des neuen Bauens auf seine Fahnen schreiben wollte, verharrt in einem unfertigen Bauzustand und blickt einer ungewissen Zukunft entgegen. Als seltsame Ironie der Geschichte dieses 11
Vgl. dazu den Essay von Rob Tufnell, online unter: http://www.bloombergspace.com/content/ uploads/sites/2/2012/12/Bernd-Behr-COMMA17-Essay.pdf, zuletzt aufgerufen am 01.09.2015.
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scheiternden Bauprojektes erscheint der Umstand, dass es ausgerechnet Albert Speer Junior (AS&P) war, Sohn des berüchtigten Hausarchitekten Hitlers, Albert Speer, an den der Auftrag erging. Geht man in der Lektüre des Textes „Phantom Limbs“ den Weg über Behrs künstlerische Arbeiten im Bloomberg Space, so stehen die Stadt Anting und die asiatische Stadt im Text ohne Namen in einer assoziativen Korrespondenz. In dieser Korrespondenz erhält der Text eine zusätzliche historische Dimension, in der die Diskrepanz zwischen reformerischem Anspruch eines aus den 1920er Jahren importierten Projektes und der sozialen und ökonomischen Realität der Gegenwart besonders deutlich aufscheint. In die Installation ist der Text jedoch nicht integriert und das Foto im Text zeigt weder eine Installationsansicht noch ist es als Kunstobjekt des Autors ausgewiesen, so dass es ebenso legitim erscheint, das Bild-Text-Ensemble für sich zu betrachten. Die immanenten Verbindungslinien, die sich zwischen dem Text und der Fotografie entfalten, sind vielfältig und assoziationsreich, ohne dass sie sich festschreiben ließen. Zeigt das Foto einen Ausschnitt aus dem Zwischenlager, in dem die qualitativ hochwertigen Kopien der Designklassiker auf ihren Versand warten? Der Raum, in dem das Objekt steht, macht jedoch weder den Eindruck eines Lagers noch ist es für das Kundenauge arrangiert, eher wirkt es wie eine Abstellecke. Der Boden ist aus Beton, eine Stellwand und Bretter lehnen an der Wand, Leisten liegen auf dem Boden. In einem starken Schlagschatten vervielfachen sich die Linien der angelehnten Bretter, Platten und Leisten als setzten sich die Faltungen des Stuhls in einem visuellen Echo im Raum fort. Vielleicht handelt es sich bei diesem seltsamen, abgestellten Möbelwesen aber auch um jene Fehlkonstruktion, die ein Arbeiter der Möbelfabrik nach der Vorlage einer Fotokopie einer Fotokopie einer Abbildung einer Originalkopie eines Möbel-Designklassikers herstellte? Der potenzierte Kopiervorgang, so erinnert sich der Protagonist bei seinen Wanderungen durch die Mall, hatte eine Vorlage geschaffen, in der das Möbel nicht mehr von seinem Schatten zu unterscheiden war, und der Konstrukteur hatte im Versuch einer Reproduktion gemäß der Kopie den Schatten mitkonstruiert.12 Aber möglicherweise zeigt das Bild auch jene zu Beginn der Erzählung im Schuhkarton vorgefundene schwarz-weiß Fotografie, in der der Protagonist sein „future self“ zu erkennen meint: Ein „future self“, in dem die Verschmelzung von Mensch und Ding zu einem seltsamen Möbelwesen vorangeschritten ist oder ein Ding, das als Phantomglied des Menschen zum „future self“ geworden ist. Ist es ein Ohr, das sich aufgestellt hat, um zu horchen oder eine Muschel, die auf den nächsten Einsiedler wartet, der sich in ihr einnistet? 12
Auf das kreative, abweichende Potential der Kopie, die niemals zur „totalen“ Kopie werden kann, vgl. den Beitrag von Judith Kasper „Was nach dem Sammeln bleibt“ im vierten Kapitel sowie die künstlerische Arbeit von Jaqueline Baum und Ursula Jakobs „Connected in Isolation“ (siehe Tafelteil) und den Essay über dieses Projekt von Sarah Schmidt im ersten Kapitel.
ODRADEK ODER DIE RACHE DES OBJEKTES?
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Durch die Kombination seriell-industrieller Herstellung des Stuhlgestells wie auch in der Fertigungsart des béton brut mit einer höchst individuellen Formfindung entsteht eine Anwesenheit; mit seinen ausgestellten Faltungen erinnert das Objekt an einen versteinerten Falter auf vier dünnen Beinen, ein Origami aus Beton, fragil und massiv zugleich. Das seltsame Wesen, im Text platziert, bleibt ein großes Fragezeichen. Wie ein postmoderner Odradek13, jenes Kafkaʼsche Zwitterwesen, entzieht es sich jeder Kategorisierung, ist unkonsumierbar und stellt Fragen.
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Kafka 1983, Die Sorge des Hausvaters.
MONA KÖRTE
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Be careful of the words you say, keep them short and sweet. You never know, from day to day, which ones you’ll have to eat.1
Lesen versteht man in der Regel als Resultat eines komplexen Zusammenspiels von Auge, Kopf und Hand, was bedeutet, dass im Lektürevorgang geistig-kognitive wie sinnlich-materielle Anteile zusammenwirken.2 Dabei liegen im lateinischen Wort „leggere“, das neben „lesen“ auch „sammeln, auswählen, durchwandern“ meint, der Vorgang des einen Text-mit-den-Augen-und-demVerstand-Erfassens und der des Auflesens und Aussonderns von Materie nahe beieinander. Es scheint, als sei der mühsame Prozess des Entzifferns und Unterscheidens, der das Buchstabieren als Vorbedingung des Lesens begleitet, durch diesen Fächer an Bedeutungen gleichsam harmonisiert. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen bilden reformpädagogische Versuche der Aufklärung, die sinnlich-materiellen Anteile im Zusammenspiel von Auge, Kopf und Hand zu unterstreichen und ihren spezifischen Einsatz im Prozess des Buchstabierens zu stärken. Dabei geht das Bemühen, die Lettern des Alphabets über ihre greifbare Physis als zu unterscheidende Teile einer endlichen Sammlung zu exponieren, weit über alle bis dahin unternommenen Leselern-Anleitungen hinaus. Epistemologisch begründen lässt sich dieses im 18. Jahrhundert neu erwachte Interesse über die nicht immer explizit formulierte Frage, ob Buchstaben im Prozess des Lesen- und Schreibenlernens als Dinge oder als Zeichen aufzufassen sind, ob Begreifen also eine seiner Wurzeln im sinnlich-haptischen Be-greifen haben könnte. Diese in Dienst genommene Gegenständlichkeit gilt es zunächst kulturhistorisch zu verorten, um im Anschluss die Versprechen zu fassen, die sich an die physische Materialität von Buchstaben heften. Ausdrücklich wird hier die Auffassung geteilt, dass sich hinter der zunehmenden Aufmerksamkeit für die Physis der Lettern im Laufe ihrer Kulturgeschichte eine List verbirgt, die darauf aus ist, den noch Leseunkundigen den Schrecken vor der „raue[n] Urgestalt des Buchstabens zu nehmen“. In Wahrheit seien, so Walter Benjamin, die Buchstaben nämlich „die Säulen eines Tores, über dem ganz gut geschrieben stehen könnte, was Dante über den Pforten der Hölle las“.3 Dabei geht es Benjamin 1 2 3
Abgabiaka 2011, A Time to Talk, 5. Gross 1994, Lese-Zeichen, XI. Benjamin 1972, ABC-Bücher vor hundert Jahren, 619.
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nicht um das buchstäblich aus Buchstaben gebildete Motto am Eingang, sondern um die Metapher vom Buchstaben als Säule eines Höllentors. Dieser Bildlogik entsprechend nennt Benjamin den einzelnen Buchstaben einen „Pilaster“, ein pfeilartiges Architekturelement mit Stütz- oder Dekorfunktion, dessen Infernalisches durch Arabesken und Zierformen zu mindern versucht wird. Weniger dramatisch gesprochen markieren die Buchstaben einen Einund Übergang, sie führen hinüber in eine Welt lesbarer Zeichen, aus der es kein Zurück gibt. Der Gedanke einer Dinglichkeit der Buchstaben hat seinen Ort also in einer Propädeutik des Lesens, denn hier müssen sie – damit sich das Bild der Buchstabenform einprägt – als je singulär begriffen werden, weil sie gleichsam auf der Kippe vom abgebildeten Ding zum Zeichen stehen. Noch gehen sie, wie es verdinglichte Buchstaben im Spiel oder in Abc-Büchern veranschaulichen, gewissermaßen fremd, indem sie sich anderen Systemen als der Sprache anschließen, und oft genug sind sie dort von Sachen umgeben, die insinuieren, der Buchstabe habe sich gleichsam aus dem Ding entwickelt, oder sie erinnern in ihrer Gestalt an den abgebildeten Buchstaben.
1 − Die Buchstaben A und B des Fibel’schen Alphabets, der Erstausgabe von Jean Pauls in Nürnberg 1812 erschienenem Roman Leben Fibels
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2 – Petit Alphabet des arts et métiers. Paris F. F. Ardant, 1867, 14 cm x 9 cm.
Dabei ist ihre Körperlichkeit eine ephemere, die sich im Prozess des Lesens oder Lesenlernens fortwährend gegen die Auflösung des Buchstabens in ein Zeichen behaupten muss. In einem ersten Schritt greift der Beitrag einzelne Empfehlungen zum Buchstabieren sowie die didaktischen Hilfsmittel sinnlich-haptischer Art heraus, die aufgeklärte Reformpädagogen im 18. Jahrhundert hierfür bereitstellen; ein zweiter Teil erweitert diese Anregungen zur sinnlichen Aneignung des Abc um (spielerische) Empfehlungen zu seiner oralen Einverleibung und greift so das damit verbundene Metaphernfeld von Einspeisen, Memorieren und Wiederkäuen auf. Ein dritter Teil stellt der linearen Darstellung und Aneignung des Abc frei flottierende Letternsammlungen wie die Buchstabensuppe gegenüber. Weil die Buchstaben hier nicht stillstehen, lädt dieses Bild – wie ein letzter Teil zeigt – in ironischer Erweiterung alles Didaktischen zu (poetischen, soziolinguistischen oder politischen) Experimenten ein, die nicht zuletzt als Einsprüche in die Norm des Einsprachigen gelten können.
Der Griff nach den Buchstaben Im Allgemeinen entzündet sich die Frage nach dem Buchstaben als Ding oder Zeichen dort, wo es um die in das Lesen und Schreiben initiierende Tätigkeit
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des Buchstabierens im Sinne einer Zuordnung von Laut und Buchstaben geht. Diese Offenheit oder Unentscheidbarkeit in der Auffassung manifestiert sich auch entsprechend handgreiflich, in den didaktischen Instrumenten der reformpädagogischen Bewegung des 18. Jahrhunderts − dem durch den Pädagogen Johann Peter Hundeiker entwickelten „Lesekasten“ − und den bereits seit dem 16. Jahrhundert beliebten, hier jedoch neu konzipierten Abc-Büchern.4 Während der Lesekasten aus kombinierbaren und dem gesprochenen Wort des Lehrers gemäß auf einer Leiste anzuordnenden Buchstabentafeln besteht, und damit also Auge, Ohr und Hand zusammenwirken5, handelt es sich bei dem Abc-Buch um ein nach dem Alphabet geordnetes Elementar- bzw. LeselernBuch, mit welchem Schriftunkundige das Abc erlernen sollten. Seinen mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Vorgänger hat das Abc-Buch oder die Fibel im sogenannten Abecedarium nach Art eines verräumlichten Versammlungsorts des Abc, das seinen Lernstoff auf faltbaren Pergament- oder Papierblättern vermittelte. In beiden Erfindungen bildet, ausgehend vom Ordnungsprinzip des Alphabets, der einzelne Buchstabe den Mittelpunkt, wodurch so etwas wie eine Autonomie und Eigenwertigkeit des Buchstabens entsteht. Gerne werden sie ikonisch dargestellt (siehe Abb. 2)6, in dem Sinne, dass sie Eigenschaften des Gegenstandes, den sie darstellen, teilen oder auch wie im Barock figürlich bzw. biomorph nach Art eines Menschenalphabets präsentieren.7 In den Hilfsmitteln zur Erlernung der Buchstaben ist es also nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten, die im Lesevorgang in der Regel übersehenen materiellen Aspekte des Buchstabens als eines Zeichens zu betonen und sie typographisch hervorzuheben. Wie um die Differenz zwischen Zeichen und Objekt zu kaschieren, regiert hier das Prinzip, Buchstaben und Worte dem „Bereich von physis, nicht von thesis zuzuordnen“.8 Recht kritisch verhandelt dies der Theologe und Schriftsteller Carl Gottlieb Horstig, obschon er in seiner 1796 erschienenen Anweisung für die Lehrer in den Bürgerschulen die Auffassung des Buchstabierens als vergleichsweise „leeres und trockenes“ Unternehmen mit dem Argument begründet, dass „die Buchstaben nicht so wie andre Gegenstände sich in die Händ nehmen, und von
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Zwischen 1780 und 1790 entstehen allein 46 „neue“ deutsche Abc-Bücher von Schriftstellern und Pädagogen wie Christian G. Salzmann, Christian Felix Weiße und Karl Philipp Moritz. Vgl. Teistler 2003, Fibel-Findbuch. Dass dem Zusammenwirken von Auge und Hand auch im Prozess poetischer Produktion eine große Bedeutung zukommt, betont Herta Müller für die Arbeit an ihren Collagen; vgl. den Beitrag von Sarah Schmidt „Fremdeigene Wortreste“ im vierten Kapitel. Zur Bildvalenz der Buchstaben, die sich die Leselern-Pädagogik gerne zu eigen macht, vgl. Gross 1994, Lese-Zeichen, 49 f. Benjamin zufolge sind die Fibeln des 17. Jahrhunderts in Richtung auf einen solchen Biomorphismus der Lettern besonders weit gegangen: Den Abgrund zwischen Sache und Zeichen trickhaft zu überwinden, war eine Aufgabe, die für den Menschen des Barockzeitalters die ungeheuerste Faszination haben musste. Benjamin 1991, Chichleuchlauchra, 267. Gross 1994, Lese-Zeichen, 52.
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mehrern Seiten besehen und untersuchen lassen“.9 Er verwirft die leselernpädagogischen Versuche seiner Zeit, die Buchstaben über ihre spielerische Erkundung mit der Hand (in einem anderen als dem Sprachenregister also) zu zähmen versuchen, indem diese zwecks geschickterer Aufnahme „bald in Soldaten, bald in Spielkarten“ verwandelt würden.10 Die Aneignung der Buchstaben über ihre dreidimensionale Form oder ihr Bild, so ließe sich der Vorwurf pointieren, entfremde sie ihrem eigentlichen Zweck als Zeichen und verstelle den Sinn und die eigentliche Leistung von Buchstaben. Ihre unterhaltsame Verdinglichung eröffne – so ein impliziter Vorwurf – ein Spiel auch mit der Frage nach dem logischen Zusammenhang zwischen der Gestalt eines Buchstabens und dem Laut. Zu sehr fürchtete Horstig, dass Kinder mit einer „spielenden Methode“ daran gewöhnt würden, den wesentlichen Nutzen einer Sache für gering zu halten, kurz Buchstaben hier für etwas anderes zu nehmen als sie sind: konventionalisierte Zeichen, die in einer Ordnungsrelation stehend das Alphabet ergeben und deren Funktion allein darin besteht, den Weg zu einer immateriellen Bedeutung zu ebnen. Anstelle handfester Anthropomorphisierungen und spielerischer Instrumentalisierungen also entwickelt Horstig seine „Methode des sinnlichen Unterrichts“ zur Verbesserung der Schule als Bildungsanstalt. Bezeichnend nicht nur für Horstigs Anweisung, sondern für das ausgehende 18. Jahrhundert ist hier das Wort „sinnlich“ im Kontext der Leselern-Pädagogik der Aufklärung, das eine konträre Positionen überbrückende Funktion einzunehmen scheint. Denn das Wort, das hier die visuelle, auditive, olfaktorische und gustatorische Wahrnehmung/Aufnahme vereinigt, zeigt uns, dass die Lehre vom Alphabet als einer Bedingung der Möglichkeit des Lesens genau in dem historischen Moment auf ihr didaktisches Vermögen hin befragt wird, wo das Lesen als Kulturtechnik sozial überformt wird. Bedeutsam für diese das Feld von Buchstabieren und Lesen, Sprachtheorie und Erkenntnis im 18. Jahrhundert umgebende Spannung ist Karl Philipp Moritz‘ 1790 erschienenes Das neue ABC-Buch. Moritz, der sich zeitweise als Erziehungsschriftsteller verstand, scheint sich auf den ersten Blick an den üblichen Mustern der meisten Abc-Bücher zu orientieren. Zunächst sind ihm das kleine und das große deutsche Alphabet in der gedruckten und handschriftlichen Variante sowie das lateinische Alphabet vorangestellt, ebenso die arabischen und lateinischen Zahlen. Dann jedoch folgen neun mehrfach unterteilte Kupfertafeln, deren Einzelbilder je mit einem Leitwort und einem Reim(paar) versehen werden (siehe Abb. 3 und 4). Der erste Abschnitt der ersten Kupfertafel bildet unter dem Buchstaben „Aa“ ein Auge ab, das Leitwort hierzu lautet „Gesicht“ und ihm folgt der Satz „Das offene Auge sieht ins Buch“; das zweite zeigt unter „Bb“ einen Jungen, der ins Buch sieht und das Leitwort lautet hier ebenfalls „Gesicht“. Ihm folgt der Satz: „Das Buch macht
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Horstig 1796, Anweisung für die Lehrer in den Bürgerschulen, 47 f. Ebd.
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junge Kinder klug“.11 Das Buch beginnt also selbstreferenziell, im Verbund von Bild und Text „wird die erste Fibel-Lehrstunde zur inszenierten transzendentalen Erfahrung, indem das lesende Kind sich selbst zunächst als sehend, dann als lesend und schließlich als denkend entdeckt“.12
3 − Karl Philipp Moritz, Neues ABC-Buch. Faksimile der Ausgabe von 1794 mit den kolorierten Illustrationen von Peter Haas, Frankfurt/M, 1980, o. S.
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Moritz 1980, Neues ABC-Buch. Mergenthaler 2002, Sehen schreiben – Schreiben sehen, 36.
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4 − Karl Philipp Moritz, Neues ABC-Buch. Faksimile der Ausgabe von 1794 mit den kolorierten Illustrationen von Peter Haas, Frankfurt/M, 1980, o. S.
Insgesamt ist sein Büchlein weder mit den üblichen Leseregeln, noch mit einer Sittenlehre versehen, es konzentriert sich allein auf das Bilder-Abc13: Beginnend mit dem Gesichtssinn, der in der nahezu zeitgleich erschienenen Kantʼschen An13
Zum Aufbau vgl. Jahnke 2010, Zwei Anleitungen zum Denken für die „kleinere Jugend“.
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thropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) an der Spitze der Sinnespyramide steht, führt Moritz über die fünf Sinne in die Beziehung von Mensch, Tier und Ding untereinander ein und vollzieht in seinem Aufbau den Weg von der Anschauung und der Fasslichkeit des Buchstabens zum Gedanken nach. Der Reihe nach „werden die fünf Sinne durchbuchstabiert, aber nicht nach ihren Initialen, sondern in einer hierarchischen Reihenfolge“14 ihrer Valenz entsprechend.
5 − Karl Philipp Moritz, Neues ABC-Buch. Faksimile der Ausgabe von 1794 mit den kolorierten Illustrationen von Peter Haas, Frankfurt/M, 1980, o. S. 14
Utz 1990, Das Auge und das Ohr im Text, 25.
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Beginnend mit dem distanzierenden Auge als höchstem Sinnesorgan, folgen die Sinne „Gehör“, „Geruch“, „Geschmack“ und Gefühl. Sich durch die Welt zu buchstabieren wird im Verlauf der absteigenden Sinneshierarchie bei Moritz ganz offensichtlich zu einem immer gefährlicheren Unternehmen: Der „Leistungs“-Hierarchie der Sinne läuft „eine Angsthierarchie der Sinnlichkeit“ entgegen15, wie die Buchstabenseite von „D wie Duft/Geruch“ zu „F wie Feuer/ Gefühl“ zeigt (siehe Abb. 5). Überdies erhält der Buchstabe durch sein Verweisungsverhältnis zum Leitwort und zum Bild selbst einen Geschmack oder Geruch; die drei Ebenen bilden Relationen, so dass sich über den Buchstaben Gesten, Konsistenzen und Töne, aber auch Tugendkataloge („Genügsamkeit“) oder abstrakteres, darunter physikalische Verhältnisbestimmungen wie Bewegung, zu Einheiten verdichten. Seinem komplexen und voraussetzungsreichen Aufbau gemäß versteht Moritz seine Fibel als „Anleitung zum Denken für Kinder“.16 Der einzelne Buchstabe gibt Anlass zu philosophischen Kleinststudien, mit dem Ziel, über ein Bündel sinnlicher Informationen Basisoperationen wie Unterscheiden, Vergleichen und Kategorisieren zu erlernen. Interessant ist hier die Gegenüberstellung der implikationsreichen Fibel mit der in Moritzʼ empfindsamen Roman Anton Reiser erwähnten Szene, in der der Vater seinem bald achtjährigen Sohn zwei kleine Bücher zum Lesenlernen überreicht, „wovon das eine eine Anweisung zum Buchstabieren und das andre eine Abhandlung gegen das Buchstabieren enthielt“.17 In dem ersten Buch muss Anton „größtenteils schwere biblische Namen, als: Nebukadnezar, Abednego usw., bei denen er auch keinen Schatten einer Vorstellung haben konnte, buchstabieren“, ohne dass ihnen ein Signifikat zugeordnet werden könnte. Bald kommt er jedoch in den Genuss der sich ihm über die „zusammengesetzte[n] Buchstaben“ mitteilenden Ideen, um dann in dem zweiten, wesentlich trockeneren Büchlein zu seiner großen Verwunderung zu lesen, „daß es schädlich, ja seelenverderblich sei, die Kinder durch Buchstabieren lesen zu lehren“.18 Stattdessen optiert die Abhandlung für die sogenannte Lautier- und gegen die Buchstabier-Methode, was bedeutet, den einzelnen Lauten und Lautverbindungen den Vorzug über das Alphabet und den Buchstabennamen zu geben. Der zeitweise als Erzieher an Basedows reformpädagogischem „Philanthropin“ in Dessau tätige Moritz zeigt hier aber auch, wie schnell eine Anweisung zum Buchstabieren in sein Gegenteil, in eine Abhandlung gegen das Buchstabieren kippen kann: Die Anweisung nämlich wimmelt nur so von „Lautungeheuern“, die nach Benjamin typisch für die Fibeln des 16. und 17. Jahrhunderts sind: „Wir lesen: Xakbak, zauzezizau oder spisplospruspla und brauchten gar nicht in solcher Nachbarschaft auf Fibelworte wie Hratschin, Jekutiel oder 15 16 17 18
Ebd. Moritz 1980, Neues ABC-Buch. Moritz 1972, Anton Reiser, 15. Ebd.
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Nebukadnezar zu stoßen, um zu erkennen, daß das Spritzer der Gischt Hofmannswaldauscher und Lohensteinischer Alexandriner sind, die sich in die zeitgenössischen Fibeln verirrt haben“.19 Benjamin bezieht sich hier auf die Praxis der Einübung sinnloser Lautverbindungen wie sie die Buchstabiermethode lange vorgab: Sie lauten „Kixkux, Tititiittitit, Kozkozkuzkiz“ oder auch „röchsts“ oder „auchtz“.20 Lesewut und ebenso ihre Beschränkung durch eine propagierte „Lesediätetik“ sind Phänomene des ausgehenden 18. Jahrhunderts, deren Begrifflichkeit den Vorbehalt vor der Vielleserei als eines schädlichen Zeitvertreibs reflektiert. Beizukommen sei dieser Lesewut allein durch eine maßvolle Regulierung. Buchstabieren und Lesen, genauer das „Zeichen erkennen und mit Bedeutung füllen“21, sind, so zeigt dieser die Tätigkeit des Lesens ethisch, politisch und sozial überformende historische Abschnitt, selbst Kulturtechniken, die mit dem Alphabet als ihrer Basis die Voraussetzung für aus ihnen abgeleitete Kulturtechniken bilden.22 Denn bekanntermaßen kann das Alphabet als Strukturprinzip von Nachschlagewerken oder als Generator poetischer Gattungen fungieren.23 Das Buchstabieren soll in eben dem Moment, wo das Bürgertum lesen lernt, gerade nicht „leer“ und „trocken“ sein. Horstig, der im Übrigen durch die Bereitstellung einer geregelten Abbreviatur zu den Erfindern der Stenografie gehört, macht hier Vorschläge zu einem „zweckmäßigen“ Unterricht durch geeignete Lehrer und empfiehlt Lesen und Schreiben als eine „Verstandesübung“.24 Dabei sollen Schüler auf ihrem Weg zu „junge[n] Weltbürger[n]“ seinem ausdrücklichen (und bis heute keineswegs selbstverständlichen) Lernziel zufolge idealer Weise „ihres Lebens froh […]“ werden.25 Seinem pädagogischen Bemühen um die Vorgänge des Buchstabierens, Lesens und Schreibens, die er übrigens als simultane bzw. ineinanderfließende Vermögen verstand, ist anzusehen, dass er Buchstaben im Zustand ihrer Unlesbarkeit durchaus als im Wortsinne Gegen-ständliche begriff. Bei Horstig bereits zu 19 20 21 22 23
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Benjamin 1991, Chichleuchlauchra, 267. Vgl. zu dem Zusammenhang Keck 2007, Buchstäbliche Anatomien, 26 f. Rein 1906, Lese-Unterricht, seine Geschichte, 610. Hier finden sich immer wieder Aufzählungen von Wortungeheuern, über die der Verfasser fassungslos ist. Stöllinger 2007, Leselust und Lesewut, 5. Schneider 2014, Wozu lesen? In dem Fall greift, jenseits der sich aus der Buchstabenkombination ergebenden Möglichkeit zur Wortbildung, die Logik des Abc als eine Art Matrix, die jüngst auch im Zusammenhang mit dem Umbau des Google-Konzerns verfing: Im Oktober 2015 stellten die Verantwortlichen Google unter ein Mutterdach mit dem Namen „Alphabet“ und verleibten sich damit gleichsam selbst dem neuen Konzern ein. Dabei äußert sich Larry Page im Zuge der veränderten Namengebung wie folgt: „For Sergey and me this is a very exciting new chapter in the life of Google − the birth of Alphabet. We liked the name Alphabet because it means a collection of letters that represent language, one of humanityʼs most important innovations, and is the core of how we index with Google search!“ Horstig 1796, Anweisung für die Lehrer an Bürgerschulen, 25 und 75. Ebd., 45 und 15.
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ahnen ist die Idee einer Resistenz der noch unsemantisierten Buchstaben, denn um die Sprache, wie es an einer Stelle heißt, „in seine Gewalt zu bekommen“, solle der junge Schüler nicht nur fortwährend Silben, Wörter und Redensarten nachsprechen, sondern den Buchstaben in seiner je unterschiedlichen Gestalt begreifen. Zu eigenständigen, sinnlich präsenten Objekten werden die Lernbuchstaben insbesondere im 20. Jahrhundert, hier gilt es, sie einzusammeln und offensiv zu erobern. In seinem Essay „Grünende Anfangsgründe“ bemisst Benjamin die Stärke von Abc-Lernbüchern gerade an der Freiheit, dem Spielenden die Souveränität über seinen Lehrgegenstand zu lassen und damit „das Grauen zu bannen, mit dem die ersten Ziffern oder Lettern so gern als Götzen vor dem Kinde sich aufbauen“.26 Hier, wie in seinem zu Beginn erwähnten Dante-Gleichnis, geht es um die symbolische Last der Buchstaben, die wie ein Zauber gebrochen werden muss. Aufgabe neuer Abc-Bücher sei gerade die Darstellung einer übertriebenen Ausgelassenheit der Lettern, mittels derer Buchstaben andere Sinnhorizonte durchqueren, ohne ihre ‚eigentliche‘ Leistung zu schmälern. Was Horstig zwischen den Zeilen seiner Anweisung an Wissen um die Gegenständlichkeit der Buchstaben zu erkennen gibt, dass ihr Aus-, Auf- und Zusammenlesen nämlich einem kämpferischen Akt oder gar einer Unterwerfung gleichkommt, formuliert der kurze Eintrag „Buchstabieren“ im Grimm’schen Wörterbuch explizit. Gleich zu Beginn zeigt dieser eine Parallele zu sehr spezifischen Wortbildungen auf, wenn es heißt: „buchstabieren […] gebildet wie drangsalieren, maulschellieren […], zuerst verzeichnet bei Stieler, doch sicher vor ihm, im laufe des 17 jh. eingeführt“.27 Durch seine spezifische Nachbarschaft zu Wörtern wie Drangsalieren wird dem Buchstabieren alle Mühe zugeschoben, obgleich das Buchstabieren ja nicht einfach als eine durch das Lesen abgelöste Tätigkeit zu betrachten ist; auch Lesekundige können unvermittelt über „Wörter“ wie „spisplospruspla“ oder „Kozkozkuzkiz“ stolpern. Den im Wort leggere/lesen (= sammeln, auswählen, durchwandern) selbst vergessenen Anfang, jenes uneinholbare Moment des Buchstabierens als einer in das Lesen übergehenden Operation, fasst Benjamin in der paradiesischen Erinnerung an den Lesekasten als Buchstabierhilfe seiner Kindheit: Und weil das, was mein eigenes angeht, Lesen und Schreiben waren, weckt von allem, was mir in früheren Jahren unterkam, nichts größere Sehnsucht als der Lesekasten. Er enthielt auf kleinen Täfelchen die Lettern, einzeln, in deutscher Schrift, in der sie jünger und auch mädchenhafter schienen als im Druck. Sie betteten sich schlank aufs schräge Lager, jede einzelne vollendet und in ihrer Reihenfolge gebunden durch die Regel ihres Ordens, das Wort, dem sie als Schwestern angehörten. Ich bewunderte, wie soviel Anspruchslosigkeit vereint mit soviel Herrlichkeit bestehen könne. Es war ein Gnadenstand. Und meine Rechte, die sich gehorsam um ihn mühte, fand ihn nicht. Sie mußte draußen wie der 26 27
Benjamin 1991, Grünende Anfangsgründe, 314. Online unter: http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&hitlist=&pa tternlist=&lemid=GB12667, zuletzt abgerufen am 10.12.2015.
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Pförtner sitzen, der die Erwählten durchzulassen hat. So war ihr Umgang mit den Lettern voll Entsagung. Die Sehnsucht, die er mir erweckt, beweist, wie sehr er eins mit meiner Kindheit gewesen ist. Was ich in Wahrheit in ihm suche, ist sie selbst: die ganze Kindheit, wie sie in dem Griff gelegen hat, mit dem die Hand die Lettern in die Leiste schob, in der sie sich zu Wörtern reihen sollten. Die Hand kann diesen Griff noch träumen, aber nie mehr erwachen, um ihn wirklich zu vollziehen. So kann ich davon träumen, wie ich einmal das Gehen lernte. Doch das hilft mir nichts. Nun kann ich gehen; gehen lernen nicht mehr.28
Der Vollzug des Lesens hat hier den Vorgang des Buchstabierens absorbiert und dies ist ein Prozess, der unumkehrbar ist. Ist der „semiotische Trieb […], der Objekte und Markierungen in Zeichen verwandelt“29, einmal erwacht, lässt sich der Kundige nicht zurück in einen Unkundigen verwandeln; Einzelbuchstaben, die wie in der Fibel zu Protagonisten mit einem Leib, einer Form und Kontur werden, verfehlen ihren Effekt, der unwiderruflich verloren ist.
Essbuchstaben Im Ganzen sind die diätetischen Methoden sinnlichen Unterrichts eine Reaktion auf ein lektüreversessenes 18. Jahrhundert. Begriffe wie ‚Lesehunger‘, ‚Lesewut‘ und ‚Lesesucht‘ werden im ausgehenden 18. Jahrhundert pathologisiert; die Verurteilung der Vielleserei durch verschiedene Kritiker der Aufklärung stigmatisiert die Tätigkeit auf zweierlei Weise: Sie trifft die Frauen als einen neuen Leserkreis sowie die Gattung Roman, die ihre Entstehung nicht zuletzt der Ausbreitung der Lesekultur in bürgerliche Schichten hinein verdankt. Gefährlich ist der Roman, weil er zerstreut, individualisiert und nach wollüstiger Einverleibung verlangt. Ungeachtet all dieser Ambivalenzen war es ein reformpädagogisches Ziel, möglichst viele Kinder in Leser zu verwandeln. Hierfür schöpfte man aus einem Sammelsurium an Buchstabierhilfen und Leseanleitungen. Dabei können letztere nicht ganz so leichtfertig als „muffigste Spekulationen der Pädagogen“ der Aufklärung abgetan werden, die „[p]edantisch über Herstellung von Gegenständen – Anschauungsmitteln, Spielzeug oder Büchern – die sich für Kinder eignen sollen“, grübeln.30 Denn neben den herkömmlichen Lernmethoden in den Fibeln werden auch ungewöhnliche Wege in der Empfehlung von Leselern-Material beschritten, vor allem durch Philanthropen wie Johann Bernhard Basedow, der das Lernen idealiter als fröhliches Spiel begriff. So enthält sein Elementarwerk (1770) die Anregung, den Kleinen am Ende gelungener „Buchstabier-, Silben- oder Reimspiele“ eine „schmackhafte Belohnung“ in Form einer „Rosine oder einem Stücke von einer Baumfrucht“ zu reichen und darüber hinaus, in dem Abschnitt über den Lesekasten und das 28 29 30
Benjamin 1972, Berliner Kindheit, 267. Gross 1994, Lese-Zeichen, 46. Benjamin 1955, Einbahnstraße, 21.
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Lesen, die Schüler ihr eigenes Unterrichtsmaterial herstellen zu lassen. Um sich selbst einen Lesekasten zu basteln, sollen sie „von jedem Buchstaben etwa zwanzig groß genug abdrucken lassen, und einen jeden auf sehr dickes Papp-Papier kleben“.31 Die Emphase seiner Lesepropädeutik liegt offenbar darin, den Buchstaben als das den Schülern Entgegenstehende nicht zu zähmen, sondern diese sich selbst in den Stand der Dinge versetzen zu lassen. Dies ist hier bereits Teil ihrer Aneignung, so suggerieren diese selbst ermächtigenden Methoden der Herstellung. Noch weiter geht Basedow in seiner Anweisung zum Lesenlernen (1787), wo er das Backen von Buchstaben als Veranschaulichungsmittel pries und zu diesem Zwecke eine Buchstabenbäckerei auf Staatskosten einzurichten empfahl.32 Ironisch kommentiert dies der 1809 unter dem Pseudonym Spiritus Asper (altgr. für „rauer Hauchlaut“) schreibende Friedrich Ferdinand Hempel in seinen Nachtgedanken über das A-B-C-Buch: Auch die Methode hat meinen Beyfall, nach welcher den schwerlernenden Kindern Buchstaben, AUS BUTTERTEIG GEBACKEN, gereicht werden. Denn dann wird das ganze Alphabet, in succum et sanguinem vertiret, und die Systeme werden a priori und a posteriori gehörig verbunden. Ach! wenn es doch angehen könnte, daß man die Bücher, wie die Buchstaben, durch essen und trinken sich aneignen könnte.33
Allerdings beginnt die Geschichte essbarer Buchstaben nicht erst mit der pädagogischen Reformbewegung des 18. Jahrhunderts, vielmehr ist der Einsatz essbarer Buchstaben Teil einer seit der Antike belegten, kulturellen Praxis. Auf der Suche nach didaktischen und propädeutischen Zugängen soll die buchstäbliche Einverleibung von Buchstaben Kindern Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben erleichtern, ihnen die Mühen der Alphabetisierung versüßen. Hier und da dient der Einsatz von Essbuchstaben bis heute zur Leseförderung an den Schulen. Entsprechend heißt es beim Philologen Franz Dornseiff: Im Altertum übte man das Alphabet vor- und rückwärts ein, gab den Kindern Kuchen, worauf das Alphabet stand: Wir kennen Russische Buchstaben und Suppennudeln in Buchstabenform. Essbare Buchstaben zur Erleichterung für die Kinder, schlug Erasmus von Rotterdam vor. Ähnliche Verfahren des Elementarunterrichts beschreibt noch Rabelais in Gargantua und Pantagruel.34
Von zeitgenössischen Riesenchroniken über unersättliche Fresser inspiriert, erzählt François Rabelais die Geschichte einer sich onomatopoetisch aus dem altfranzösischen Wort „gargante“ (Gurgel) entwickelnden Riesendynastie. Das 31 32 33
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Basedow 1847, Elementarwerk, 20. An anderer Stelle fügt Basedow − vermutlich nicht ironisch − hinzu: „Mehr als vier Wochen bedarf kein Kind des Buchstabenessens.“ Hempel 1809, Nachtgedanken über das A-B-C-Buch, 8. Der Untertitel lautet: „für alle, welche buchstabiren können“. „In Succum et sanguinem vertere“ meint in Saft und Blut umwandeln, ganz in sich aufnehmen. Dornseiff 1925, Das Alphabet in Mystik und Magie, 17.
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Essen von Schrift entfaltet sich als gastronomisches Paradigma bei Rabelais nach allen Seiten: in Richtung einer Theologie des Essens und seinen geistigspirituellen Implikationen in Abendmahl und Eucharistie, in Richtung der monastischen Tradition des Mittelalters, die die Speisung mit göttlicher Schrift nach dem Vorbild des essbaren Buches der Apokalypse als Allegorie auf das Lesen der Bibel verwendet und diese in der ruminatio als dem Wiederkäuen der Verse der heiligen Schrift fortführt. In der jüdischen Tradition werden den Kindern am ersten Schultag mit Honig überzogene Buchstaben bereitet, an denen sie lecken sollen, um auf immer die Erinnerung an die Erfahrung des Lesens und die damit verbundene Süße zu bewahren.35 Durch gebackene Lettern sollen Kinder Buchstaben in ihrer Zwittergestalt als Zeichen und gegenständliches Ding, als Bedeutung und Substanz, wahrnehmen, um etwas von dem Vermögen des Buchstabens als Einheit von materiellem Bezeichnendem und immateriellen Bezeichneten zu erahnen: Nicht nur wird den Buchstaben durch figürliche Buchstabenalphabete ihre ikonische Dimension dezidiert zugestanden, Kinder dürfen sie zunächst „begreifen“, bevor sie ihnen zu Zeichen der Sinnerschließung werden. Während Lesen auf dem Versuch beruht, „die Materialität der Signifikanten zu ignorieren und auf ihre Signifikate hin durchsichtig zu machen“36, mischt sich die Materie hier noch fortwährend ein. Bedeutsamt ist die Spannung, die durch das direkte Angebot einer Materialität der Buchstaben entsteht und die Abstraktion von dieser Materialität, auf der der Vorgang des Lesens beruht. Während der Geschmack der Buchstaben nach Art einer sensorischen Erinnerung der Initiation in das Reich der Buchstaben anhaftet, eröffnet die Metaphorik vom Lesen als Essen ein größeres, über die Leselern-Didaktik hinausgehendes Feld.37 Denn gegessene Schrift hat Teil an einer reichen Speisemetaphorik, die den Leseprozess als Einverleiben metaphorisiert und dazu analog das Gedächtnis als Magen versinnbildlicht.38 Durch den Mund wird all jenes gesammelt, das der Erkenntnis wert ist, weshalb auch andere „Körperfunktionen“ miteinbezogen werden: das Wiederkäuen und Ausspeien etwa als Versinnlichungsmomente im Prozess von Wissensaneignung, die wiederum an den Komplex von Rhetorik und Erinnerung gebunden sind. Augustinus etwa dachte den Magen als dem Gedächtnis analog, verglich das Heraufholen von Erinnerung mit dem Vorgang des Wiederkäuens, bei dem die Speise wieder aus dem Magen kommt.39 Quintilian beschreibt den Vorgang der Aneignung von Lektüre nicht nur als Vorzug gegenüber der vorgetragenen Rede, sondern als einen körperlichen Prozess des Memorierens durch Rückgriff und Wiederholung, wodurch die Lektüre vergleichbar der Einnahme von Speise zerkaut, zer35 36 37 38 39
Busi 2004, Buchstaben mit Honig, 73-90. Gross 1994, Lese-Zeichen, 57 f. Vgl. zum größeren Kontext Körte 2012, Essbare Lettern, brennendes Buch. Zum Magen als Gedächtnis vgl. auch den Beitrag von Bernd Behr „Phantom Limbs“ und Sarah Schmidt „Odradek oder die Rache des Objektes?“ im ersten Kapitel. Augustinus 1986, Bekenntnisse, 262 f.
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kleinert und leicht verdaulich dem Gedächtnis zugeführt werde.40 Produktives Lesen, das dem eigenen Schreiben vorangeht, wird in der Renaissance als Aufnehmen, Verdauen und intertextuelles Umformen dieser Nahrung verstanden: „Reading is a process of nutrition and digestion; it appropriates earlier texts, recycles them and remakes them in order to feed the new works“.41 Wie das Lesen ist das Essen von Buchstaben ein referentielles Verfahren, das auf Verstehen zielt, indem es vom materiellen Signifikanten zum immateriellen Signifikat voranschreitet. Im gedankenschnellen Prozess des Verstehens fällt hierbei das Materielle dem Immateriellen zum Opfer42, ein metaphorischer Leseprozess, den das Essen darstellt. Allerdings umgehen gebackene Lettern systematisch den Entzifferungsprozess und sind daher dem Lesen nicht nur nicht analog, sie weisen dazu in eine andere symbolische Richtung: Sie wollen uns sagen, dass Wörter nicht nur sinnliche Erfahrungen wie Geschmack beschreiben können, sondern auch selbst einen Geschmack haben. Wörter und Buchstaben als Elemente des Symbolsystems Sprache werden hier ganz dinglich als etwas Materielles vorgestellt, das von der Zunge in den Magen oder zurücktransportiert wird. Worte liegen uns je nach Umstand „auf der Zunge“ und schmecken je nach Botschaft bitter oder süß. Das Essen von Schrift widerruft also die fundamentale „Entsinnlichung, die sich im Akt der Verschriftlichung und beim Lesen vollzieht“43, in dem nicht nur ein anderer als der Sehsinn mit dem Medium in Berührung kommt, sondern die Transformation in den Körper (oder zumindest in dessen Mundöffnung) verlegt wird. Mithin optiert die Einverleibung von Schrift für ein Wissen des Körpers, das als ein zeichenhaft codiertes für andere Rezeptions-/Aneignungsformen entworfen wurde. Die Aggression des Kauens und Zermahlens beschwört die Umkehrbarkeit von Kultur in Natur, der Begriff des Geschmacks kann, sobald er sich von seinem ursprünglichen Gebiet als Zungen-/Gaumenphänomen entfernt, in Konzepte ästhetischer Theoriebildung übergehen. Über ihre Beweglichkeit und Anschlussfähigkeit hat die Metapher einen kommunikativen, transsubstantialisierenden, magischen und usurpatorischen Wert. Der Bedeutungsraum des Textes als Speise ist jedoch auch „interessant als Teil eines literarischen Feldes, als Movens und Stimuli, Metapher bestimmter Verhältnisse wie der Umgang mit Vorbildern, Einflusstheorien, ist poetologische Metapher für die Arbeit des Autors.“44
40 41 42 43 44
Quintilian 1975, Ausbildung des Redners, 19. Jeanneret 1991, A Feast of Words, 129. Assmann 1988, Die Sprache der Dinge, 241. Mattenklott 1983, Der übersinnliche Leib, 144. Lutz 2005, Aufess-System – Jean Pauls kannibalistische Poetik im Komet, 64 .
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Buchstabensuppe, Buchstabensalat Wie bereits angesprochen ist der Prozess des Lesens unumkehrbar, unmöglich kann man sich – und sei es probeweise – in den Stand eines Nicht-Lesers versetzen, was heißt, dass wir, was wir an Zeichen sehen, auch lesen müssen oder zu lesen versuchen. Nur im Traum oder im Zustand des Wahns ist dieser „Mechanismus“ des Lesenmüssens mitunter außer Kraft gesetzt. Wir lesen die Zeichen gleichsam hinter unserem Rücken, unfreiwillig, ‚vorbewusst‘ oder automatisch, wodurch „Lesewut“ hier um ihre unwillkürliche Dimension erweitert wird. Nicht einmal der – noch in der Fibel – alleinstehende Buchstabe ist mehr unschuldig, wie Roland Barthes in Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn befand. Für Barthes prägen sich ethische Maßstäbe wie Schuld und Vergehen aus, „sobald man Buchstaben aneinanderreiht, um Wörter aus ihnen zu machen“.45 Die Narrative der Bildungsgeschichte rund um den Buchstaben verdanken sich offenbar der Spannung, die aus dem Vorgang einer „Unterwerfung unter die Buchstaben“ auf der einen Seite, und dem Versuch, den Buchstaben in seine Gewalt zu bringen auf der anderen Seite, resultiert. Die Verdinglichung der Buchstaben als Nahrung ist Teil dieses Narrativs, genauer scheint es in diesem Narrativ um die List zu gehen, sich auf andere als lesende Weise Gewalt über die Buchstaben zu verschaffen. Denn entscheidende Quelle der Einverleibung ist „die Vorstellung, durch den Verzehr Macht über all die Wörter und Namen zu gewinnen, die sich aus den Buchstabensuppen und Russisch-Brot-Tüten kombinieren lassen.“46 Die Buchstabensuppe, wie sie auch der Philologe Dornseiff anführt, kann hier als Referenz auf semantisch unklare und ungeordnete, eben wilde, Buchstabenmengen gelten. Mitverantwortlich hierfür ist, dass das „Trägermedium“ der Buchstaben nicht das statische Buch, sondern bewegliche Materie ist: Sie lässt die Buchstaben kreisen, zueinander finden und wieder auseinandergehen. Beides Komposita (Abc-Buch sowie Buchstabensuppe oder auch alphabet soup) liegt ihnen eine je andere Auffassung der Spannung zugrunde, die zwischen der den Buchstaben und Wörtern innewohnenden Macht der Benennung besteht und der Tatsache, dass sie arbiträr sind.47 Die Buchstabensuppe bildet auch einen Gegenpol zu der Errungenschaft des Alphabets als einer willkürlichen Folge, indem sie ein bewegliches Buchstabenchaos simuliert, was auch Auswirkungen auf die Idee vom Buchstaben als Teil und dem Alphabet als Ganzem hat. Anders der dem sogenannten Buchstabensalat zugrunde liegende Gedanke: Hier handelt es sich, wie in der auch „Suchsel“ genannten Rätselform, augen45
46 47
Barthes 1990, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, 125. Barthesʼ Imagination eines Zustandes vor dem Lesen, wie er sie in der Begegnung mit fremden – japanischen – Zeichen in seinem Buch L’empire des signes um ihrer physis Willen heraufbeschwört, steht hierzu nicht im Widerspruch. Schmidt-Hannisa 2003, Jetzt eß ich das Buch, 232. Gross 1994, Lese-Zeichen, 51.
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scheinlich ebenfalls um eine wilde Sammlung, wenn auch nicht im Sinne flottierender und driftender Buchstaben. Sie besteht aus einem Buchstabenchaos oder -meer, dies jedoch nur auf den ersten Blick, denn in ihr verbergen sich nicht nur lineare, sondern auch diagonale Wörter. Suchsel hinterfragen unsere Verpflichtung auf Linearität sowie die starke Gewöhnung an gliedernde Wortabstände zur Generierung von Sinn. Suchsel wollen unsere Fähigkeit zur Worterkennung und unser Vermögen für richtige Wortbilder prüfen, weshalb häufig die Übung „letter salad“ in Büchern zu Grundwissen in englischer oder anderer Grammatik eingebaut wird. Von Interesse ist hier auch, dass der Terminus „word salad“ zur Charakterisierung einer schizophrenen Sprache verwendet wird, die eine falsche Verwendung linguistischer Vereinbarungen anzeigt.48 Wenn aus dem Buchstabensalat nicht nur Einzelworte herausgelesen werden sollen, sondern dieser sich auf ganze durch Abstände getaktete Wortreihen erstreckt, so hängt lesendes Verstehen vom Vertauschungsgrad ab. Es gibt also gewissermaßen Buchstabensalat auf höherem und durch die Linearität der Buchstaben dem Leser zugleich entgegenkommendem Niveau, in dem Chaos einschränkend als Vertauschung begriffen wird. Denn der geübte Leser liest nicht wie ein Grundschüler Buchstabe für Buchstabe, sondern erkennt das Wort und seine Bedeutung als Ganzes. Die Lektüre des Satzes: Die Bcuhstbaenrehenifloge in eneim Wrot ist eagl „belegt, dass wir beim Lesen nicht Wortbilder erfassen, sondern phonologische Einheiten. Wir dekodieren „Bcuh“ zu „Buch“, „stbaen“ zu „staben“, „reheni“ zu „reihen“ und „floge“ zu „folge“, indem wir die Segmente zu uns bekannten Sprecheinheiten umwandeln. Dabei ist die Silbe die kleinste Einheit des melodischen Sprechens“. 49 Lesen beginnt hier nicht beim Wort, sondern bei der Decodierung der Silbe als Element des Wortes. Allerdings korrigieren wir, wo die Folge falsch ist, lesen aber auch gerne falsch, wo sie richtig steht; dieses Verlesen gehört ja zu den scheinbar absichtslosen Verrichtungen, mittels derer sich die Buchstaben glücklich im Sinne der Wunscherfüllung fügen. Die Buchstabensuppe weckt die Vorstellung flottierender, driftender, sich tummelnder, über- und nebeneinanderliegender Buchstaben; ein Aufsammeln und Aneinanderreihen der Buchstaben, ein Stillstellen zum Zwecke der Bildung von Worten läuft ihr entgegen. Es gibt hier keinen Autor, eher vielleicht so etwas wie eine écriture automatique schwebender Buchstaben, sofern in der Buchstabensuppe tatsächlich zu lesen versucht wird. Auf zufällige, nichtintentionale Weise bilden sie flüchtigen Sinn. Damit verweist die Buchstabensuppe als Bildspender auf einen noch flüssigen, nicht feststehenden möglichen Sinn. Ein durcheinander geworfenes Alphabet erhebt vielleicht Anspruch auf 48 49
Benson 1979, Aphasia, Alexia, and Agraphia. online unter: http://www.nzz.ch/buchstabensalat-1.14126491, zuletzt aufgerufen am 30.11.2015; Schnabel 2006: Bnuter Bchutsabensalat, online unter: http://www.lernserver.de/meldungen/zei gen/article/bvl-kongress-2014-die-bcuhstbaenrehenifloge-in-eneim-wrot-ist-eagl.html, zuletzt aufgerufen am 30.11.2015.
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einen Ausbruch nicht aus der Konventionalität der Zeichen, aber aus dem Sinn ihrer Zusammenstellung, hier produziert der Zufall Sinn oder Un-sinn. Die Realisierung des Zeichens als konsumierbare Suppennudel führt zu „wilder Semiose“: „Die Materialität wird zur Resistenz und blockt die Semantisierung des Zeichens ab“.50 Als ungeregelter Letternhaufen, in der jeder Buchstabe zwar öfter, aber auch nicht unendlich oft vorhanden ist, kopfsteht oder seitlich liegt, verspricht die Suppe, auch in der Assoziation zu „Ursuppe“ als eine Art biologischem Entstehungsdispositiv, Sprache in potentialis zu sein, nie dagewesene, anarchische Wörter zu generieren oder vielleicht gar so etwas wie einen Idiolekt. In der Buchstabensuppe überlagern sich genau genommen zwei Operationen: die des Lesens, dem die Vorstellung eines hierfür nötigen Zusammensuchens und -sammelns der Buchstaben vorausgeht und die des Verzehrs, durch den die ungeordneten Buchstaben ohne jede Hierarchie, Logik vom Mund auf die Zunge und von der Zunge in die Speiseröhre und schließlich in den Magen gelangen. Die Vorstellung von der Buchstabensuppe legt sich über den komplizierten Prozess des Zusammenlesens und -ziehens der als monolingual gedachten Buchstaben. Denn ihr pädagogischer oder propädeutischer Einsatz zielt, wo er, wenn auch ironisch, zur Unterstützung beim Buchstaben- und Buchstabierenlernen eingesetzt wird, auf den Erwerb einer, der Erstsprache. Sie beschwört einen Zustand vor jeder Unterscheidung, erinnert ein Babel der Sprache, weshalb sie sich für interkulturelle Szenarien eignet; als ungeordneter Letternhaufen lädt sie zum Nachdenken über Sprachenhierarchien, Diglossie und Polyglossie ein.
‚Nudelverse‘ – Mehrsprachigkeit – Sprachpolitik Was passiert, wenn dieses interesselose bzw. anarchische Driften der Buchstaben für ein Experiment in einer traditionell mehrsprachigen Region verwendet bzw. mit der Sphäre der Sprachenpolitik zusammengeführt wird? Genauer, wenn wilde Lettern in Form einer ‚zweisprachigen BUHŠTABENZUPE‘ auf unseren Teller gelangen?51 Das Bild von der Buchstabensuppe stellt die Ressource für ein offenbar schwer zu verordnendes Sprachgeschehen bereit; ihre buchstäbliche Realisierung als zu erwerbende Tütensuppe führt hier einmal nicht über Kopf und Verstand, sondern über den Magen. Ein „lehrreiches Mahl“ verspricht die in Müllnern/Mlinare bei Villach, in einem traditionell zweisprachigen Gebiet, ansässige Finkensteiner Nudelfabrik, die die vom Universitätskulturzentrum UNIKUM Klagenfurt entwickelte Idee der Herstellung von Hatschek-Teigwaren bzw. schen“ Buchstabensuppe mit slowenischen Zischlauten, realisierte und kom50 51
Assmann 1988, Die Sprache der Dinge, 228. Online unter: http://www.unikum.ac.at/, zuletzt aufgerufen am 30.11.2015.
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6 − Projekt BUHŠTABENZUPE, UNIKUM 2007, www.unikum.ac.at
merziell nutzte. Diese Aktion ist sicher beeinflusst von der langwierigen Kontroverse um die Anzahl zweisprachiger Ortstafeln und Wegweiser, lebt doch im Bundesland Kärnten eine anerkannte slowenischsprachige Minderheit, der von der österreichischen Verfassung eine ortsnamenbezogene Ausschilderung in ihrer Muttersprache garantiert wird. BUHŠTABENZUPE fungiert hier als Transliteration des im Deutschen geläufigen Wortes Buchstabensuppe durch eine ,slowenisierte‘ Schreibweise. Das Alphabet in der Suppe ist nun nicht mehr mono-, sondern bilingual. Was das Zentrum UNIKUM als einem Ort angewandter Kulturarbeit, künstlerischer Praxis und kreativer Forschung umtreibt, ist der Gedanke mundgerecht servierter (linguistischer) Hybridität. Ironisch hebt die Initiative auf das satirische Konzept des „Makkaronischen“ als einer Propädeutik der Zweisprachigkeit ab. Dafür lohnt ein kurzer Rückblick auf die von Johann Fischart auch „nuttelverse“ (Nudelverse) genannte makkaronische Dichtung, die sich die Idee einer karnevalesken Aufnahme mischsprachiger Idiome zu eigen macht. Eloquent formuliert dies der Literaturhistoriker Wilhelm Friedrich Genthe: Die Macaronische Poesie […], welche ihren Namen von dem Lieblingsgerichte der Italiäner, den Macaroni, hat, um sie gleich durch den Namen als sehr ergetz-
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liche und lustige Dichtung zu bezeichnen, ward in dem funfzehnten Jahrhundert, wo die Sucht, die Muttersprache mit fremden zu mischen, den höchsten Gipfel erreicht hatte, zur Verspottung der Pedanten, als Parodie der Pedantesca, erfunden.52
In der sogenannten Makkaronischen Dichtung eines Rabelais oder Teofilo Folengo bildet die Metapher vom Text als Speise einen poetologisch wirksamen Zusammenhang aus. Ihre Hochzeit hat sie im 15. und 16. Jahrhundert. In seinem Opus Maccaronicum (1530) definiert Folengo seine ars poetica nach den Maccaroni, einem sämigen und rustikalen Gericht aus Mehl, Käse und Butter, weshalb makkaronische Verse in Analogie dazu nur Grobes und Ungeschliffenes beinhalten sollen, durchsetzt mit ordinären Worten.53 In seinem komischen Epos wird der Dichter von den Musen mit Gnocchi und Maccaroni gefüttert, die sie aus einem „lagus suppae“ schöpfen. Aus diesem See entsteht die makkaronische Sprache, in der das Lateinische und das Italienische zu einer Mischsprache zusammenrücken.54 Die ‚Makkaroniker‘ parodieren den Purismus der Humanisten, indem sie in ihren Dichtungen syntaktisch einwandfreies Latein mit italienischen bzw. volkssprachlichen Wörtern vermengen, die ihrerseits lateinisch flektiert werden. Eine komische Wirkung erzielen die Verse durch die Beibehaltung von Versmaß und Struktur eines Vergilʼschen Epos etwa, versehen allerdings mit trivialen Inhalten und vulgärer bis obszöner italienischer Lexik. Aus dem geschlossenen Sprachhaushalt einer toten Sprache treibt makkaronische Dichtung einen explodierenden Wortschatz und eine bewegliche, sich ständig verändernde Sprache hervor. Sie möchte Sprache rückbeziehen auf ihre physische Verbindung mit der Zunge und produziert mitunter reinen Klang, indem sie das Reich verständlicher Sprache verlässt. Die Verwendung des wiederholten Wortes „kuchaten“ zeigt, dass auch in der Kärntner Buchstabennudeln-Aktion die Flexion, also die Änderung eines Wortes zum Zwecke seiner grammatischen Verwendung, maßgebend ist: Während das slowenische „kuhati“ kochen meint, wird es in der Wendung zu „kuchaten“ deutsch flektiert, noch unterstrichen durch das „ch“, damit es nicht als stummes „h“ gelesen wird.55 Zudem wird Anderssprachigkeit, genauer die Voraussetzung hierzu, den Konsumenten über „fremde“ diakritische Zeichen gleichsam auf die Zunge gelegt. Die konsequent zweisprachige „Konsumenteninformation“ verspricht, „dass, wer sich die BUHŠTABENZUPE einverleibt, Toleranz buchstäblich mit Löffeln isst. Ein regelmäßiger Konsum von Hatscheks wirke – so versichert der Text – „krampflösend, angstmindernd und stimmungsaufhellend“. In der Folge würden Sprachbarrieren abgebaut und die Bereitschaft zum Gebrauch bzw. zum Erlernen der zweiten Kärntner Landessprache steige: „ZWEISPRACHIG SCHMECKT BESSER“.56 Die käuflich zu 52 53 54 55 56
Genthe 1836, Geschichte der Macaronischen Poesie, 72. Jeanneret 1985, ,Ma patrie est une citrouille‘. Knauth 2004, Weltliteratur, 82 f. Diesen Hinweis verdanke ich dem Lektor Peter Wieser vom Drava Verlag, Klagenfurt, Celovec. Online unter: http://www.unikum.ac.at/, zuletzt aufgerufen am 30.01.2016.
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erwerbenden Buchstaben in Nudelform bilden hier so etwas wie einen ironischen Kommentar auf eine „heteroglossic resource“57, die in der Einverleibung Sprachenvermengung unter Ausschaltung jeden Vorbehalts erzeugt. Gedacht als Beitrag zur Inthronisierung peripherer Mehrsprachigkeit in Grenzgebieten, bildet die Kampagne jedoch das ideologische Moment bzw. die Sprachendominanz im Clash zweier Sprachen noch einmal ab, wenn es auf dem Etikett heißt: „Gewürzt und veredelt mit slowenischen -, Š-Eiernudeln“. So würden die diakritischen Zeichen hier zur Arabeske, bildeten das Surplus zu einer dominanten, einer Kern-Sprache, wären da nicht die Versuche nach Art der konkreten Poesie, aus diesem Nudelalphabet tatsächlich Wörter und mischsprachige Verse zu formen. In der Lyrik Jani Oswalds, zeitweiser Herausgeber und Chefredakteur der slowenischen Literaturzeitung mladje, entstehen aus einem mischsprachigen Alphabet assoziative anstelle konventionalisierter Wortbilder, die sich deutlich am Laut orientieren. Wörter werden wie in der Pfanne gewendet (Stabenbuch), und Buchstaben mit und ohne diakritische Zeichen ‚eingerührt‘ und ‚aufgewühlt‘58, um mit ihnen – wie hier in dem Gedicht Zwischen den Zeilen – die Zubereitung von Gerichten weniger zu beschreiben als vielmehr zu unterminieren.
Zwischen den Zeilen Die Zucchini waschen & wischen halbieren die dreckigen Zucchini speckigen in feine Streifen schneiden Heidensterz mein Herz und Mais abtropfen lassen sowie weiteres Aufsehen vermeiden Buchstaben Suppentopf mit Gemüse Stabenbuch Topfen Sumpf stumpf olle in einer Kasserolle erhitzen in Öl darin dünsten und die dicksten 57 58
Vgl. hierzu Pietkäinen/Holmes 2013, Multilingualism and the Periphery, 12 und Busch 2013, The Career of a Diacritical Sign, 214 ff. Zum Prinzip der Verkehrung vgl. auch die Gedichte von Regina Hilber und den Beitrag von Mona Körte und Sarah Schmidt „fortgehen – aufsammeln – weglassen“ im ersten Kapitel.
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halbierten hinigen Zucchinigen mit einem halben Doppelliter auffüllen Suppenbuchstaben einrühren eine aufwühlen die ABC-ehs tripplen Eh’s Ü-hsis Susis Ösis niken mit Konsonanten und Dissonanten in silvernen Vokalen zusammenfügen geh-fügig machen kuchaten kuchaten immer weiter kochenden zerkochen den Buchstabenbrei und pürieren sowie erkaltet in Formen gegossen servieren. Am besten zwischen den Zeilen zu essen.59
In dem für Rezepte typischen Verbmodus des Infinitivs (oder Imperativs?) lautet die leise, „weiteres Aufsehen meidende“, fast heimliche Empfehlung, mit dem Waschen, Säubern und Zerschneiden dreckiger und speckiger Zutaten zu beginnen und das Gemüse in Öl zu erhitzen. Dies sind Vorgänge, die durch die Eigenmächtigkeit der im Gebrauch befindlichen gedrehten Silben oder mischsprachigen Worte unterbrochen werden, um auch konventionalisierte Einheiten für das Volumen von Flüssigkeiten zu verunsichern („halben Doppelliter“). Hier geraten sowohl die Sprachen als auch die einzelnen Verrichtungen in den Sog des Nonsenses, der mit dem auf Eindeutigkeit zielenden Sprachduktus des Rezepts nach Art einer Anleitung konkurriert. Die nun eingerührten Suppenbuchstaben fügen sich zusammen ohne gefügig zu sein, kurz sie bilden mitunter, ohne sich wie in dem Vers „ niken“ zu verstehen, ein neues Gesicht der Sprache und der Schrift aus, werden jedoch im Weiteren zerkocht und erstarren zu einem unkenntlichen erkalteten Einerlei. Die List besteht hier in der gegossenen (konventionellen) Form, in der der mehrsprachige Brei serviert wird, das Gewicht liegt hier nicht auf dem Ver59
Oswald 2007, Frakturen, 66 f.
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zehr, sondern der mundgerechten Zubereitung. Buchstabennudeln in Suppenform sind hier nicht wie noch im 18. Jahrhundert Buchstabierhilfe, sondern in der Mischung von Alphabeten nur von jenen aufzunehmen, die sich auf deren Aneignung „zwischen den Zeilen“ verstehen. Das Rezept ist letztlich eines, das sich von seinem Anspruch entfernt und ein Gelingen fortwährend infrage stellt.
Ende Verdinglichte, haptisch oder sinnlich durch eine elaborierte Körperhaftigkeit erfahrbare Buchstaben gehören zum Grundbestand einer Bildungsgeschichte des Lesenlernens. Ihr bevorzugter (situativer) Einsatzort ist der Übergang, die Initiation; kaum erkannt, verflüchtigen, entfernen sie sich aus den Kontexten, die sie mitbegründen helfen, und werden zu Bedeutungsträgern. Vor dem Hintergrund eines noch impliziten Wissens um die in der Professionalisierung des Lesens ausgeblendete Materialität des Zeichens kreiert die pädagogische Reformbewegung der Aufklärung einen Katalog an Empfehlungen zur sinnlichen Aufnahme von Buchstaben: Wird ein Kind in das Universum der Buchstaben eingeführt, so sollen sie gerade in ihrer „physischen Erscheinungsweise“ wirken60, damit man nicht über sie hinwegsehen oder -lesen kann. Dabei ist das In-die-Hand-Nehmen der Lettern(tafeln), wie es der Lesekasten erlaubt, Ausdruck einer Verfügungsgewalt über Buchstaben, die ihren Anfang bei der Herstellung von Buchstabierhilfen durch Schülerhand nimmt. Weniger fasslich sind Abc-Bücher nach Art von Karl Philipp Moritz: Hier ist das komplexe Zusammenspiel von Buchstabe, Phänomenwort, Abbildung und Reimpaar Ausdruck einer intellektuellen Praxis, die das Buchstabieren als Prozess des Gliederns und (An-)Ordnens von Welt begreift. Deshalb legt Moritz auch eine Art von Abc des Denkens vor, für die der Buchstabe und die Ordnung des Alphabets als einer akzeptierten und zugleich arbiträren Ordnung (nur) den Anlass geben. Generell ist es in den Hilfsmitteln zur Erlernung der Buchstaben geradezu geboten, die im Lesevorgang später übersehenen, materiellen Aspekte des Zeichens zu betonen. Erst nach Überwindung dieser Lernphase ist das zu lesende „mit einer Eindämmung des anarchischen Potenzials von Zeichen und Texten verbunden“.61 Denn ihre materiell-sinnliche Fasslichkeit bildet gerade die Brücke zu einem immateriellen Begreifen, das den Weg über Finger und Hand, Zunge und Magen nimmt. Anders die driftenden Lettern der Buchstabensuppe, die, wiewohl (ironisches) Beiwerk einer Propädeutik des Lesens, durch die fehlende Stillstellung der Buchstaben an einen Zustand vor der Sinnbildung erinnern. Als ungeregelte begeben sie sich in willkürliche und zufällige Nachbarschaft zu anderen Buchstaben und stellen wie in der ‚zwei60 61
Schabert 1994, Das Doppelleben der Menschenbuchstaben, 96. Gross 1994, Lese-Zeichen, 3.
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sprachigen BUHŠTABENZUPE‘ ein Bild für Hybridität bereit. Damit rühren die Buchstaben in der Aktion des Universitätskulturzentrums UNIKUM im Verein mit der Finkensteiner Nudelfabrik in Reaktion auf umstrittene Sprachenregelungen und Sprachpurismus in Kärnten an basale Vereinbarungen von Ein- oder Mehrsprachigkeit und an das soziokulturelle Gefälle zwischen den räumlich aneinander stoßenden Sprachen und ihren Sprechern.
JUDITH KASPER
VOM AUSSCHEREN UND EINSAMMELN DER BUCHSTABEN. SAUSSURES ANAGRAMM-STUDIEN UND FREUDS FEHLLEISTUNGEN
1. Buchstaben werden gemeinhin als materielle Grundlage von geschriebenen Wörtern, der Laut als kleinste Einheit des gesprochenen Wortes aufgefasst. Wörter haben eine oder mehrere Bedeutungen; Buchstaben sind – im Unterschied zu Piktogrammen und sofern sie nicht als Monogramm oder Symbol dienen – zunächst noch vor jeder Bedeutung. Erst in ihrer Zusammenfügung versammeln sie sich zu Sinneinheiten. Dem logos, der ursprünglich Lesen, Sammeln, Erzählen und Zählen gleichermaßen umfasst1, liegt das phonetische Alphabet zugrunde. Aristoteles nennt dessen kleinstes sprachliches Element stoicheîon: Element (stoicheîon) wird dasjenige genannt, woraus als aus Immanentem, der Art nach nicht weiter in Verschiedenartiges teilbarem Grundbestandteil etwas zusammengesetzt ist; Elemente der Sprache (phoné) z. B. nennt man dasjenige, woraus die Sprache zusammengesetzt ist und worin sie zerlegt wird als die letzten Bestandteile, die sich nicht wieder in verschiedenartige Laute auflösen lassen, sondern selbst wenn man sie teilte, gleichartige Teile ergeben, wie vom Wasser jeder Teil wieder Wasser ist, aber nicht so von der Silbe.2
Zwei Aspekte dieser Definition will ich hier hervorheben: Zunächst die Feststellung, dass das sprachliche stoicheîon – schwankend zwischen phoné und gramma, Laut und Buchstabe – die kleinste und nicht weiter zerlegbare Einheit sei. Mit anderen Worten: Es gibt für die Menschen, die sich sprachlich artikulieren, nichts kleineres als den Laut, wenn die sprachliche Äußerung sich mündlich realisiert, nichts kleineres als den Buchstaben, wenn sie sich schriftlich artikulieren. Die kleinste, nicht weiter zerlegbare Einheit erscheint nichtsdestoweniger schon in sich selbst geteilt. Auch Aristoteles’ Vergleich der sprachlichen Elemente mit dem Wasser gibt allerdings zu denken. Es geht ihm dabei nicht um die chemische Zersetzung des Wassers, sondern um das Verhältnis von Teil und Ganzem. Wenn ich vom Wasser einen Teil nehme und zum Beispiel in ein Glas fülle, dann habe ich immer noch Wasser. So ein1 2
Ich beziehe mich hier auf die aufschlussreichen Ausführungen von Cassin 2004, Logos, 727740. Aristoteles 2007, Metaphysik, 5. Buch, 3. (I.a.) 1014a.
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JUDITH KASPER
leuchtend dieser Vergleich sein mag, so beunruhigend wird er sich doch erweisen, wenn er sich auf metaphorischer Ebene bewahrheitet, weil dann nämlich der Buchstaben als flüssiges, das heißt nicht fest umrissenes sprachliches Element auftaucht. Womit auf eine Situation vorausgegriffen ist, die sich im Laufe dieses Beitrags noch abzeichnen wird. Bleiben wir zunächst noch bei Aristoteles. Seine Definition impliziert des Weiteren die Vorannahme, dass die kleinsten sprachlichen Elemente immer schon auf ein Zusammengesetztes – nämlich den logos – ausgerichtet sind. Genau darum neigen auch einzeln stehende Buchstaben stets dazu, bedeutungsvoll zu sein, wenn sie zum Beispiel zu konventionalisierten Symbolen werden. Unsere moderne Spracherfahrung zeugt davon, wenn wir zum Beispiel ein X für die Unbekannte lesen und das L als lateinisches Zahlensymbol auffassen. Unsere Tendenz, lesend beständig Sinn herzustellen und wo es nötig ist zu ergänzen, bestätigt zunächst einmal Aristoteles’ Grundannahme. Doch da Sprache bei Aristoteles von ihrem Sinn und von den Referenten her immer schon als Repräsentation gedacht wird3, bleibt letztlich die gedankliche Möglichkeit ausgeschlossen, dass sich Buchstaben unter bestimmten Umständen nicht darein fügen; dass sie sich nicht mehr lesen und zu einem logos versammeln lassen, sondern nur mehr als zersprengte Elemente aufgefunden werden und jeder Versuch, sie zu versammeln, nur noch ein großes Durcheinander, einen bunten Buchstabensalat ergeben könnte; dass Buchstaben zwar „staben“ – d. h. etwas bekräftigen –, aber dabei eventuell doch stumm bleiben; d. h. dass ihre Stäbe oder Stämme nichts mehr versammeln, sondern höchstens noch stammeln und auf diese Weise Bedeutung wesentlich verzögern oder gar verunmöglichen können.4 Literatur, die sich per definitionem durch ein spezielles Verhältnis zur littera (lat: Buchstabe) auszeichnet, weiß etwas von dieser Widerständigkeit des Buchstabens. Sie fordert auf, unser Lesen literal auszurichten: d. h. als ein Nachdenken über die komplex gegenwendige Rolle des Buchstabens im Leseprozess selbst. Denn Buchstaben tragen nicht nur das Lesen, sie tragen es immer auch schon fort. Sie fügen sich nicht nur dem Lesen, sie verstören es auch, insofern sie das Lesen zwar stumm, aber doch beständig herausfordern, sich dem Anderen, dem Fremden, dem Stimm- und Wortlosen in der Sprache, dem was die Sinnbildung verunsichert, aussetzen. Als Ausgangspunkt meiner Überlegungen möchte ich darum der aristotelischen Bestimmung des Buchstabens einen Vers gegenüberstellen, der für den Buchstaben ein anderes Gesetz formuliert. Es handelt sich um einen Vers aus Paul Celans Gedicht Flutender. Er lautet:
3 4
Vgl. zu Saussures und Aristoteles’ Sprachauffassung Weber 1978, Rückkehr zu Freud, 25 f. Vgl. zu „Stab“ und „staben“ den ausführlichen Artikel „Stab“ in Grimm 1999, Deutsches Wörterbuch.
VOM AUSSCHEREN UND EINSAMMELN DER BUCHSTABEN
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„Es scheren die Buchstaben aus“5.
Mit diesem Vers ist eine Spannung benannt: Ein Ausscheren, eine Art Auseinandertreten, ein Abstand, eine Deviation, die das Verhältnis der Buchstaben zu den Wörtern, die sie formen, zu prägen scheint. Wie aber antwortet das Lesen auf ausscherende Buchstaben? Wie könnte sich das Lesen zum Ausscheren der Buchstaben anders verhalten denn als Eingrenzung, Bezähmung, ja Korrektur dieses Ausscherens? Dass diese Fragen im Rahmen der Thematik des Sammelns formuliert werden, lässt sich aus dem sprachimmanenten Bezug erklären, den das Lesen zum Sammeln unterhält. Dieser zieht sich durch: vom griechischen to legein über das lateinische collectio und dessen romanische Abwandlungen bis zum deutschen Verb „lesen“, das – man denke an die „Blütenlese“ und die „Nachlese“ – auch die Geste des Aufsammelns und Erntens impliziert.6 Wir können sagen, dass Sammeln einerseits, insofern es eine Lese ist, einen Leseprozess stets impliziert, andererseits, dass Lesen die sammelnde Tätigkeit in Bezug auf die Sprache ist.7 Der Vorzug, Lesen als eine Ausprägung der Sammeltätigkeit aufzufassen, liegt darin, dass auf diese Weise die materielle Seite der Sprache stärker in den Vordergrund gerückt wird.8 Damit wird innerhalb des abendländischen Antagonismus zwischen Buchstabe und Geist eine Akzentverschiebung vorgenommen. Wenn Buchstaben in ihrer schieren Materialität und Anhäufung wahrgenommen werden, droht der Geist zu (ver-)schwinden. Umgekehrt jedoch nimmt der Geist stets die Materialität der Zeichen in Anspruch, um sich bemerkbar zu machen. Dabei dringt Materie selbst in den Geist ein. Generiert sie darin Bedeutung, kommt es zum Witz; unterbricht sie indessen als stumme Materie den Geist, droht Pathologisches. Die Diagnosen heißen dann Aphasie, Legasthenie, Dislexie oder auch einfach schierer und unbestimmter Wahnsinn.9 Lit(t)eratur – ich denke hier insbesondere an Mallarmé, Lautréamont, Valéry, Joyce, die Faktura-Dichter der russischen Avantgarde, 5
6 7 8
9
Celan 2014, Flutender, 183. Hier das Gedicht als ganzes, dessen Lektüre hier leider sehr begrenzt bleiben muss: „Flutender, groß- / zelliger Schlafbau. / Jede Zwischenwand von / Graugeschwadern befahren. // Es scheren die Buchstaben aus, / die letzten traumdichten Kähne – / jeder mit einem / Teil des noch / zu versenkenden Zeichens / im / geierkralligen Schlepptau.“ Vgl. Cassin 2004, Logos, 727-740. Vgl. zum Zusammenhang von Sammeln und Lesen insbesondere auch Heidegger 1983, Was heißt Lesen?, 111 und ders. 1983, Die Kunst und der Raum, 203-210. Als eine solche sammelnde Nachlese der eigenen Prosa und Essays können Herta Müllers Collagen aufgefasst werden; vgl. dazu den Aufsatz von Sarah Schmidt „Fremdeigene Wortreste“ im vierten Kapitel. Wichtig in diesem Zusammenhang sind Jakobsons Studien zur Aphasie, gerade weil er zu verhindern weiß, dass Aphasie als pathologische Anormalität ausgegrenzt wird. Er zeigt vielmehr, dass das Studium von aphasischen Erscheinungen für das Studium der Struktur von Sprache von ausgezeichnetem Erkenntnisinteresse ist. So hat Jakobson scharf kritisiert, dass innerhalb der medizinischen Aphasie-Forschung die naheliegende Tatsache, dass „Störungen im Sprachverständnis immer auch etwas mit der Sprache zu tun [haben]“, ungedacht bleibe, vgl. Jakobson 1960, Aphasie als linguistisches Problem, 50. Vgl. dazu auch Kasper 2014, Sprechen unter der Bedingung konstanter Abweichung, 172-188.
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Celan, Perec, aber auch an Schwitters, Jandl, Pastior – haben diese vom Logos ausgegrenzten Formen des Sprachbezugs zu ihrer Poetik ernannt. Von dieser Literatur geht eine beständige Provokation an unsere Lesegewohnheiten aus. Sie fordert uns auf, unser Lesen dem prinzipiell instabilen Verhältnis von Buchstabe, Signifikant und Signifikat auszusetzen, was nicht zuletzt zur Folge hat, die normativen Grenzen, die nicht nur die Bereiche Normalität und Pathologie voneinander scheiden, sondern auch vorgeben, dass es eine klare Trennlinie zwischen beiden gäbe, radikal zu hinterfragen. Es gilt, den Graubereich dazwischen zu erkunden und für ihn einen angemessenen Ausdruck zu finden. Anfang des 20. Jahrhunderts haben zwei Wissenschaftler – ein Linguist und ein Arzt – besonders empfindlich auf die Spannung zwischen Buchstabe und Bedeutung reagiert: Ferdinand de Saussure, der Begründer der modernen Linguistik – vor allem in seinen postum veröffentlichten Anagramm-Studien – einerseits; andererseits Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse – vornehmlich in Die Traumdeutung (1900), Zur Psychopathologie des Alltaglebens (1904) und Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905).10 Freud knüpft in diesen Schriften die Entdeckung des Unbewussten aufs Engste an sprachliche Erscheinungen, die die Vorstellung von einer vollständigen Beherrschung der Sprache obsolet machen.
2. 1964 hat der Schweizer Gelehrte Jean Starobinski einen Essay mit dem Titel „Les anagrammes de F. de Saussure“ im Mercure de France veröffentlicht. 1971 folgte unter dem Titel Les mots sous les mots. Les anagrammes de Ferdinand de Saussure die Publikation eines großen Teils der unveröffentlichten Manuskripte der von Saussure in den Jahren 1906 bis 1909 leidenschaftlich betriebenen Anagramm-Studien.11 Die Veröffentlichung hat einen anderen, zum Cours de linguistique générale gleichsam gegenläufigen Saussure bekannt gemacht. Vor dem Hintergrund der Idee, dass Sprache nicht als Repräsentation, sondern als Artikulation aufzufassen sei, eine Idee, die sowohl den Cours als auch die Anagramm-Studien prägt, problematisieren letztere in radikaler Weise die Linearität und Einheit des sprachlichen Zeichens, die für den Cours hingegen grundlegend sind. Die Gründe für die Kluft zwischen Cours und Anagramm-Studien, für das Ausscheren der Anagramm-Studien, sind vielfältig. Der Cours ist im Wesentlichen eine Kompilation aus Schülermitschriften der Vorlesungen über die Sprache im Allgemeinen, die Saussure 1910-11 an der Universität Genf gehal10
11
Saussure und Freud sind Zeitgenossen, haben sich aber nicht gegenseitig gelesen. Erst Lacan – vermittelt über Jakobson – wird die beiden in eine fruchtbare Beziehung stellen. Vgl. Lacan 1986, Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten, 28. Starobinski 1980, Wörter unter Wörtern.
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ten hat – „une synthèse sur la base du troisième cours“, wie die Herausgeber Charles Bailly und Albert Séchehaye in ihrem Vorwort zur ersten Ausgabe 1915 schreiben.12 Die Anagramm-Studien sind hingegen betriebene Studien antiker und germanisch-mittelalterlicher Dichtung; sie gehen den Vorlesungen zeitlich voraus. Saussure vermutet, dass die älteste germanische, griechische und lateinische Dichtung „unter der Herrschaft des Anagramms“ verfasst worden sei. Er geht davon aus, dass sich die früheste Dichtung aus Gebeten und Zaubersprüchen entwickelt hat – erst zur Lyrik, dann zum Epos –, und er versucht nachzuweisen, dass das kryptisch eingeschriebene Anagramm durchgehend als Initialpunkt und Antrieb, als geheimes Fabrikationsprinzip für die Dichtung, gleich welcher Gattung, zu gelten hat. Ein thematisches Wort, oft ein Göttername, schreibe sich kryptisch als Anagramm in ein ausgedehntes Text- oder Redestück ein und entfalte darin eine „zweite Seinsweise“ in Form von zerstreuter und zerstückelter Anwesenheit der leitenden Phoneme desselben Namens.13 Saussures Dilemma ist jedoch, dass er trotz seiner erstaunlichen Funde keine weiteren Beweise für die Existenz eines solchen poetologischen Prinzips zu formulieren vermag. Er geht davon aus, dass sich dieses poetologische Prinzip aus dem kultischen Kontext – einer zunächst stimmlich vorgestellten Artikulationssituation – entwickelt hat. Es geht dabei also um eine doppelte Umschrift: von einer mündlichen, kultisch eingebundenen Vortragssituation in eine schriftliche, poetische Praxis. Das phonetische Anagramm würde dabei als graphisches Anagramm um- und fortgeschrieben werden. Genau darin scheint jedoch ein Problem geborgen. Denn mündliche und schriftliche Artikulation können nicht einfach in einem Verhältnis der Analogie gedacht werden, die schriftliche Artikulation geht nicht in der Repräsentation einer mündlichen auf, so wie der Buchstabe nicht nur das schriftliche Symbol für ein Phonem ist. Dass die Anagramme für Saussure aber auch schon im mündlichen Vortrag ihre Wirkung zeitigen, zeigt, inwiefern Mündlichkeit bei ihm mitnichten einfach phonozentristisch als in sich selbst identische, präsente Rede gedacht wird, sondern dass immer schon etwas Anderes in sie eingeschrieben ist und mithin von innen heraus Mündlichkeit in die Nicht-Präsenz der Schrift treibt. Artikulation – das wird im Verlauf meiner Argumentation noch deutlicher – müsste also, mit und gegen Saussure, immer schon gedacht werden als eine Form der Desartikulation. Nicht zuletzt weil Luft durch eine Ritze gehen muss, damit ein Laut sich formt. Durch die Stimmritze wird der Laut ebenso hervorgebracht und gezeichnet: eingeritzt, markiert. Die unerhörte Proliferation von aufgelesenen Anagrammen, von denen der Wissenschaftler Saussure überwältigt, ja geradezu heimgesucht wird, hat vermutlich mit dem ungelösten Verhältnis zwischen Stimme und Schrift zu tun. Im Verschwimmen beider geht die Möglichkeit verloren, innerhalb der unbe12 13
Saussure 1972, Cours de linguistique générale, 9. Starobinski 1980, Wörter unter Wörtern, 25.
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herrschbaren Fülle, mit der sich Saussure konfrontiert sieht, eine Logik zu erkennen. Dies führt bis an jenen Punkt, an dem er selbst nicht mehr zu sagen weiß, ob die von ihm erkannten Anagramme wirklich da stehen oder nicht vielmehr halluzinierte Gebilde sind: eine Wunscherfüllung, die von einer Angstvorstellung untrennbar ist.14 Die unaufhörliche Vermehrung von Belegstücken bestätigt gerade nicht Saussures Hypothese, sondern bringt immer stärkere Zweifel an ihr auf. Eindrücklich lässt sich dies anhand folgender Passage nachvollziehen (es handelt sich um die Seite eines vermutlich nicht abgeschickten Briefes an einen unbekannten Empfänger): Wenn ein 1. Anagramm erscheint, scheint es, dies sei die Erleuchtung. Wenn man dann sieht, dass man ihm ein 2., ein 3., ein 4. hinzufügen kann, dann ist man weit davon entfernt, sich von allen Zweifeln befreit zu fühlen, sondern beginnt, nicht mehr das gleiche absolute Vertrauen zu haben wie bei dem ersten: weil man dazu kommt, sich zu fragen, ob man nicht letztlich alle möglichen Wörter in jedem Text finden kann, ohne sich zu fragen, bis zu welchem Punkt jene, die sich anboten, ohne dass man sie gesucht hätte, wirklich von charakteristischen Garantien umgeben sind und eine größere Summe von Koinzidenzen als das zuerst gekommene Wort enthalten oder als dasjenige, auf das man nicht geachtet hat. [...] Ich wollte Ihnen den Grund des Zweifels nicht vorenthalten, der gerade aus der Überfülle herrührt, welche sich im Faktum der Anagramme darbietet.15
Ein geübter Anagramm-Sammler, der Anagramme finden will, findet immer mehr davon. Genau das wird als Problem formuliert. Ein Zuviel taucht auf, mit dem die wissenschaftliche Forderung nach Objektivierung und Systematik nicht zurechtkommt. Der ungeheuren Flut von Anagrammen müsste aus wissenschaftlicher Perspektive zum Beispiel ein Nachweis für die Existenz eines explizit formulierten poetologischen Prinzips, dem die Dichter zu folgen hatten, entsprechen. Doch genau dieser bleibt unauffindbar. Es gibt keine übergeordnete Instanz, die von außen die von Saussure entdeckten sprachlichen Erscheinungen zu objektivieren wüsste. Unentschieden bleibt daher, ob die Anagramme auf ein geheimes poetisches Gesetz, auf eine rein statistische Wahrscheinlichkeit der Buchstabenver14
15
Eindrücklich dazu der erste Brief von Ferdinand de Saussure an seinen Schüler Antoine Meillet vom 12.11.1906, in dem er sich dringend Rat erbittet: „Me rendriez-vous le service, d’amitié, de lire des notes sur l’Anagramme dans les poèmes homériques que j’ai consignées, entre autres études, au cours des recherches sur le vers Saturnien; et à propos desquelles je vous consulte confidentiellement, parce qu’il est presque impossible à celui qui en a l’idée de savoir s’il est victime d’une illusion, ou si quelque chose de vrai est à la base de son idée, ou s’il n’y a que moitié vrai. En cherchant partout quelqu’un qui puisse être le contrôleur de mon hypothèse, je ne vois depuis longtemps que vous“ (Jakobson 1971, La première lettre de Ferdinand de Saussure à Antoine Meillet sur les anagrammes, 16). Auf einen allgemeinen Überblick über seine Recherchen, den Saussure Meillet zuschickte, reagierte Letzterer in bestätigender Weise, wobei er den Grund für die Abwehr in der modernen Kunst- und Wissenschaftsauffassung selbst sah: „Je vois bien qu’on aura un doute pour ainsi dire a priori. Mais il tient à notre conception moderne d’un art rationaliste“ (zitiert nach ebd., 20). Starobinski 1980, Wörter unter Wörtern, 105.
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teilung in einem Text oder auf eine Wunschprojektion des Lesenden zurückzuführen sind. Wenn man zu wenige Anagramme findet, dann kann der Fund einem reinen Zufall geschuldet sein; wenn man zu viele davon findet, dann scheint man sie allzu leicht finden zu können, dann sind sie womöglich das bloß wahrscheinliche Produkt von Kombinationshäufigkeiten der 24 Buchstaben des Alphabets.16 Auch Saussures Terminologie gerät durch diese Unsicherheit ins Schwanken. Abgesehen von einem ständigen Hin und Her zwischen phoné und gramma – Anaphonie und Anagramm – führt er die Bezeichnungen Hyper- und Hypogramm, Paronomasie, Paraphrase, Logogramm, Antigramm oder Paragramm für diese rätselhaften Texterscheinungen ein.17 Wenn Jonathan Culler schreibt, dass die Anagrammatik ein „infinite pattern of echoes and repetitions“18 ausbilde, dann wird hier erkennbar, wie davon auch Saussures Konzepte selbst erfasst werden. In der Tat kann diese Sammlung unter keinen festen Begriff mehr gebracht werden. So zutreffend Cullers Beobachtung ist, so allgemein bleibt sie jedoch auch. Zudem suggeriert sie, dass das Anagramm nur wiederholt, was der Text sowieso schon sagt, dass Anagrammatik und Bedeutung also letztlich einander zuarbeiten und entsprechen. Auch Saussure versucht, das Anagramm in dieser Weise zu fassen, wenn er zum Beispiel nachweist, dass in das Proömium von Lukrez’ De rerum natura, in dem die Liebesgöttin Venus angerufen wird, der griechische Name derselben – Aphrodite – anagrammatisch eingeschrieben ist.19 Wenn die manifeste Apostrophe der Venus mehrfach durch das Anagramm APHRODITE verdoppelt wird, so scheint der griechische Name nichts anderes zu sein als das Echo des lateinischen Textes, das über den Text verteilt in der Invokation der Venus mitklingt und das Gesagte aufnimmt, wiederholt und vervielfacht.20 Doch genau im Echo wird auch die Leere dieser Anrufung hörbar: Das unter dem manifesten Text von Saussure entdeckte Anagramm zielt auf einen gegenstrebigen, defigurativen Akt der Sprache: auf ein Zergliedern in Buchstaben, auf die Entstellung der Figuration im mannequin, das jetzt nicht mehr das (griechische) Modell der (lateinischen) Venus ist, sondern deren phonetischer Körper, eine Wiederholung desselben mit anderem Klang.21
16 17 18 19 20 21
Vgl. ebd., 124. Ebd., 23 ff. Haverkamp spricht treffend vom Anagramm als einem „hybriden Wildwuchs zwischen Laut und Schrift“ (Haverkamp 2000-2005, Anagramm, 144). Culler 1990, Saussure, 11. Vgl. Starobinski 1980, Wörter unter Wörtern, 63-81. Vgl. Wild 2015, Anagramm (Ferdinand de Saussure), 130-135. Ebd.
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Saussures Studien erliegen der Faszination, dichterische Verschlüsselung in gleichsam detektivischer Manier wieder entschlüsseln zu wollen,22 sie zeugen trotz aller Dispersion von dem Zwang, die Buchstaben, wie zerstreut sie auch immer sein mögen, zu einer Bedeutung zu versammeln. Und zwar nicht zu irgendeiner Bedeutung, sondern zur gleichen: Anagramme sollen „staben“, d. h. buch-stäblich die Bedeutung eines Textes wiederholend bekräftigen und bestärken. Genau dieser Wunsch nach Wiederholung zersetzt jedoch zunehmend die Lektüre.23 Gerade in dem Moment, wo das Anagramm gezwungen wird, die gleiche Bedeutung noch einmal zu wiederholen, blicken Wörter und Syntagmen als lose Buchstabengefüge fremd zurück. Die Identität von Bedeutung, die stets nach ihrer Bestätigung verlangt, geht verloren. Dies ist am deutlichsten ersichtlich, wenn sich die Einheit des Wortes bzw. einer Wortgruppe, eines Syntagmas, auflöst, um nur mehr als „mannequin“ zu fungieren: als verrenkte Gliederpuppe oder auch – wie das französische Wort „manne“ suggeriert – als Sammelkörbchen für Buchstaben, die wie Manna vom Himmel fallen.24 Artikulation, mit der Saussure zunächst den konkreten Akt der Äußerung – la parole – indiziert, wird im Bild der Gliederpuppe zur konkreten Gelenkstelle, an der ein Körper zusammengehalten, aber auch als ein in sich vielfach getrennter erkennbar wird. Artikulation wird denkbar als in sich gespaltener Binde22
23
24
Das bemerkt Starobinski kritisch in seinem Kommentar, wenn er schreibt: „Die Analyse gibt nicht vor, etwas anderes zu tun, als den Weg in umgekehrter Richtung zurückzulegen, dem die Arbeit des Dichters gefolgt ist (Starobinski 1980, Wörter unter Wörtern, 125). Starobinski überschreibt das erste Kapitel der veröffentlichten Studien mit „Le souci de la répétition“, einem Zitat, das von Saussure selbst stammt. „Souci“ darf dabei in seiner Zweischneidigkeit gelesen werden: einerseits die Sorge als Wunsch, andererseits die Sorge als Beunruhigung und Angst. Ebd., v. a. 34 ff. (Kap. Diphon und Gliederpuppe). Der Petit Robert vermerkt zu „mannequin“ folgende Bedeutung, die durch die Identifizierung des Wortes mit der weiblichen Modepräsentatorin in den Hintergrund geraten ist: „Statue articulée, à laquelle on peut donner diverses attitudes“. Nicht uninteressant für die Frage des Sammelns ist, dass sich „mannequin“ vermutlich über „manne“ (Manna, das Himmelsbrot, das den Israeliten auf ihrer 40-jährigen Wanderschaft durch die Wüste als Nahrung diente (vgl. 2. Moses, 16)) ableitet. Als „manne“ wird im Französischen ein kleiner Korb des Gärtners bezeichnet, mit dem dieser in seinem Garten Kostbares einsammelt. Die den aus Ägypten ausziehenden Juden in der Wüste wie durch Wunder zufallende Nahrung als „petit panier d’horticulteur“ – also ein Gefäß, das es erlaubt, Kostbares einzusammeln. Die genaue Bedeutung des Wortes Manna (hebräisch: /man) ist unklar, bezeichnet aber vermutlich im Hebräischen „Was ist das?“ (hebräisch /hu man), was sich auf das plötzliche, unerwartete Erscheinen des Mannas in der Wüste beziehen soll. Mit „mannequin“ wäre mithin bei Saussure nicht nur das Wort als Gliederpuppe benannt, sondern auch ein Fund, der aus heiterem Himmel kommt, von dem man nicht sagen kann, was es eigentlich ist, sondern nur fragen kann: „Was ist das?“ Aber auch die Herleitung von frz. „mannequin“ aus „Mann“ lässt aufhorchen, steht „mannequin“ doch schließlich vor allem für das weibliche Modell. An dieser Stelle lugt in Saussures Rede Sexuelles hervor, das den Buchstaben betrifft. Wenn Saussure in einer Nachlassnotiz fragend vermerkt: „Warum hätte ein Buchstabe durch ein Stäbchen bezeichnet werden sollen?? Geheimnis“ (Saussure 1997, Linguistik und Semiologie. Notizen aus dem Nachlass, 453), dann scheint darin die Frage nach der Geschlechtlichkeit und Potenz des Buchstabens mitzuschwingen. Ist der Buchstabe nur ein Stäbchen oder ein Stamm? Ist das „mannequin“ als Zusammensetzung von Stäbchen nurmehr ein kastrierter logos?
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und Trennungsmoment, als jener Zwischenraum zwischen den einzelnen Buchstabenelementen, an dem der körperliche Umriss eines jeden Buchstabens zur Frage wird. Ist der Buchstabe noch festes Element? Oder ist er nicht vielmehr Platzhalter für die leere Stelle, die ihn umgibt, Symptom für das, was er, wenn er für ein festes Element gehalten wird, ausschließt? Nicht nur das Wort wird anagrammatisch verunsichert, auch der Buchstabe bleibt davon nicht unberührt: Wenn bei Saussure der Buchstabe ebenso wie der Signifikant allererst von seiner Umgebung bestimmt wird, von der her ihm ein Wert zukommt, dann ist er von einer Differenz durchquert, die es unmöglich macht, den vermeintlich positiven Buchstaben und die vermeintlich leeren Leerstellen, die ihn umgeben, klar voneinander zu unterscheiden. Saussure, obgleich er stets aristotelisch denkt, spaltet, malgré lui, das kleinste Element auf, zertrümmert es. Aus dieser „Atomspaltung“25 entsteht eine extrem bewegliche, gleichsam „flüssige“ Situation, die schlechterdings nicht mehr einsammelbar ist. Kurioserweise kippt dadurch rückwirkend auch Aristoteles’ Vergleich der sprachlichen Elemente mit dem Wasser, durch den er die Unteilbarkeit der Elemente belegen will, in eine ja Metapher für eine flüssige Situation, die entsteht, wenn die kleinsten Elemente von den Leerräumen um sie herum ununterscheidbar werden. Kein Gefäß kann mehr fassen, was hier entsteht; etwas ist aus den Fugen geraten. An den Artikulationsstellen klafft Desartikuliertes auf: Die Buchstaben sind nicht nur nicht mehr auf Signifikation ausgerichtet, sondern, aus dem logos entbunden, gerät ihr Status als Element überhaupt in Frage. Wie bei der Atomzertrümmerung werden hier in der Sprache ungeheure Energien freigesetzt.26 Nach etwa drei Jahren intensiver Beschäftigung mit den Anagrammen, während der Saussure eine Unmenge von Notizen angehäuft hat, bricht er seine Recherchen ab.27 Dass die fortwährende buchstäbliche Bestätigung seiner Hypothese eben diese kollidieren lässt, ist nicht zu verkraften. Zurück geblieben ist keine Systematik, keine Sammlung, die es Saussure ermöglicht hätte, eine Antwort zu finden, sondern eine Papierhalde, eine Anhäufung, von der nichtsdestoweniger anhaltend Fragen ausgehen, um die bis heute vor allem 25
26 27
Walter Benjamin spricht im Zusammenhang mit dem Passagen-Werk und der darin angedachten Methode, die im Wesentlichen Montage ist, davon, dass diese vergleichbar der Methode der Atomzertrümmerung sei: „Es war im Zusammenhange eine Gesprächs [mit Ernst Bloch; J. K.], in dem ich darlegte wie diese Arbeit – vergleichbar der Methode der Atomzertrümmerung – die ungeheuren Kräfte der Geschichte freimacht, die im ,Es war einmal‘ der klassischen Historie gebunden liegen. Die Geschichte, welche die Sache zeigt, ,wie sie eigentlich gewesen ist‘, war das stärkste Narkotikum des Jahrhunderts. [N, 3,4] (Benjamin 1982, Gesammelte Schriften. Das Passagen-Werk, Band V/1, 578). Repräsentation – Darstellung, „wie es eigentlich gewesen ist“ – wird hier verabschiedet durch eine Artikulation, die als Zertrümmerung dieser Repräsentation erfahren wird – und, indem sie als Atomzertrümmerung gefasst wird – eben die kleinsten Teilchen dieser Repräsentation – die Buchstaben – betrifft. Vgl. dazu den Begriff des sprachlichen „Radikals“ in der Einleitung zu diesem Kapitel von Mona Körte & Sarah Schmidt. Zur Manuskriptlage vgl. die Hinweise von Starobinski im Vorwort seiner Edition, die nur eine kleine Auswahl dieser Notizen umfasst.
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eine psychoanalytisch informierte, poststrukturalistisch geprägte Philologie kreist.28 Denn sie hat erkannt, dass Saussure, freilich auf unbewusste Weise, indem er Sprache als Artikulation – und hier sind alle Implikationen des Wortes mitzuhören – gedacht hat, die Gelenkstellen zu „Einbruchspforten“29 hat werden lassen für eine hinter dem logos drängende Masse, für ein Gedränge, das sich nicht mehr lesen lässt.30 Genau diese „Einbruchspforten“, durch die diese schiere Menge in die Sprache eindringt, sind auch die Türen, durch die ein Denken der unbewussten Determination von Sprache gehen muss. Doch bietet diese Tür keinen Durchgang, denn sie ist selbst eingebrochen; anders gesagt: Wo unlesbare Massen drängen und die Pforte zum Einbruch gebracht haben, ist auch nicht mehr bestimmbar, wo diese Pforten zu verorten gewesen wären. Das Gedränge bricht von allen Seiten in die Artikulation und/oder drängt von allen Seiten in der Artikulation. Auch das bleibt letzthin unentscheidbar.
3. 1905 erscheint Freuds Fallsammlung Zur Psychopathologie des Alltaglebens. Ihr stehen als Epigraph zwei Verse aus Goethes Faust II voran: Nun ist die Luft von solchem Spuk so voll, daß niemand weiß, wie er ihn meiden soll.31
Die Eingängigkeit von Metrum und Reim trägt zur Überzeugungskraft der Verse bei: unmöglich, den Spuk zu vermeiden, schwierig, ihm nicht zu verfallen. Als Nachwort zu Saussures Anagramm-Studien würden diese Verse das Auffinden der Überfülle von Anagrammen als bloßen Spuk vereindeutigen und damit auch entwerten. Als Epigraph zu Freuds Vorhaben jedoch wird der Spuk als Phänomen ernst genommen, auf das es eine Antwort noch zu finden gilt: Es geht um jene merkwürdigen Zwischenfälle, die den Fluss einer geäußerten Rede ins Stocken bringen. Sie kommen alltäglich vor, auch und insbesondere bei Menschen, denen keine aphasische oder sonstige Gehirnstörung 28
29 30
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Zur Rezeption der Anagramm-Studien, vgl. v. a. Wunderli 1972, Ferdinand de Saussure und die Anagramme, 113 ff. (er verweist vor allem auf die Arbeiten von Tel Quel, Julia Kristeva, Roman Jakobson, Jacques Derrida und Roland Barthes). Für Forschungen, die nach dem Erscheinen von Wunderli entstanden sind, stehen hier beispielhaft Ahl 1985, Metaformations; Culler (Hg.) 1988, On Puns. The Foundation of Letters; Greber 2002, Textile Texte, 169-225. Vgl. Freud 1975, Das Unbewußte, 143. Hier entsteht eine traumatische Situation in der Sprache, die an die Großstadterfahrung Baudelaires, wie sie von Benjamin herausgearbeitet worden ist, gemahnt (Benjamin 1974, Über einige Motive bei Baudelaire). Michael G. Levine hat in trefflicher Weise gezeigt, wie die Menschenmasse und -menge, das „Drängen“ und „Gedränge“ in Benjamins Text über Baudelaire insistiert und, als Problem der Reizabwehr, aber auch schon als Sprach- und Leseproblem gedacht wird. Vgl. Levine 1994, Writing through Repression, 91-113. Freud 1986, Zur Psychopathologie des Alltagslebens, 3.
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nachgewiesen werden kann. Über Freuds Faszination für solche Momente hat Lacan folgende treffliche Bemerkung gemacht: Ein Anecken, Mißlingen, ein Knick. Im gesprochenen wie im geschriebenen Satz kommt etwas ins Straucheln. Freud ist magnetisiert, und er sucht in diesen Erscheinungen das Unbewußte. Hier drängt ein anderes darauf, sich zu realisieren. Eine Störung, eine Kluft manifestiert sich. Was sich in dieser Kluft produziert, im vollen Wortsinn von sich produzieren, stellt sich dar als Trouvaille. Die Trouvaille, die gleichzeitig Lösung ist – nicht unbedingt die vollendete, aber doch, wie unvollständig immer, mit jenem gewissen Etwas, das uns so seltsam berührt – die Überraschung – also das, worin das Subjekt sich übergangen sieht, wo es zu gleicher Zeit mehr aber auch weniger vorfindet, als es erwartete – jedenfalls etwas, das im Verhältnis zur Erwartung unvergleichlich wertvoll ist.32
Die erste Fallbeschreibung der Psychopathologie – sie ist eine der ausführlichsten und beansprucht geradezu paradigmatischen Charakter – mag veranschaulichen, was Lacan hier als eine unvollständige, aber seltsam berührende, überraschende Trouvaille versteht. Während einer Zugfahrt unterhält sich Freud mit einem Mitreisenden und möchte an einer bestimmten Stelle seiner Rede den toskanischen Maler erwähnen, der im Dom zu Orvieto die Fresken des Jüngsten Gerichts gemalt hat. Doch der Name des Künstlers will ihm nicht einfallen. Anstelle des richtigen Namens tauchen Ersatznamen auf – Botticelli, Boltraffio –, von denen Freud genau weiß, dass sie die falschen sind, ohne dass er indessen den richtigen – nämlich Signorelli – zu nennen wüsste.33 Der Ausfall des Namens wird von Freud nicht einfach fallen gelassen, sondern Gegenstand einer ausführlichen Analyse. Er nimmt an, dass sich das dieser Konversation vorangehende Thema – die Sitten der in Bosnien-Herzegowina lebenden Türken, ihr Vertrauen und ihre Schicksalsergebenheit in die Ärzte und ihre Verzweiflung bei nachlassender sexueller Potenz – in das nachfolgende Thema eingeschoben und darin eine Störung verursacht habe. So würde „Bosnien-Herzegowina“ als eine Art Bindeglied, aber auch Sperre – als Artikulationsstelle im wahrsten Sinne – zwischen dem vergessenen Namen Signorelli (in dem qua Übersetzung die erste Silbe von „Her(r)-zegowina“ nachklingt) und den Ersatznamen Botticelli bzw. Boltraffio (in denen die erste Silbe von „Bo-snien“ nachwirkt) fungieren. Dass es zu einer solchen Interferenz kommt, sei aber noch einem anderen Thema geschuldet, das selbst latent, weil nicht artikuliert, in der Rede über die Sitten der Türken mitgeschwungen habe. In Freud drängt sich nämlich der peinliche und darum unterdrückte Gedanke an einen seiner Patienten auf, der 32
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Lacan 1978, Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XI, 31 [Herv. i. O.]. „Trouvaille“ – der Einfall – trägt das Loch (trou) im Wort: das Loch, in das das Wort, das fehlt, das nicht einfallen will, gefallen ist. Vgl. Freud 1986, Zur Psychopathologie, 5-12 (Kap. 1: Vergessen von Eigennamen). Wichtige Auseinandersetzungen mit diesem Fall finden sich bei Lacan 1978, Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XI, 33, ders. (unveröffentl.), Seminar XII (1964-1965), Sitzung vom 6. Januar 1965; Weber 1978, Rückkehr zu Freud, 79 ff.
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aufgrund sexueller Störungen Selbstmord beging – eine Nachricht, die ihn während eines Aufenthalts in Trafoi, in zeitlicher Nähe zu dieser ReiseUnterhaltung, erreicht hat. Freud hat versucht, diese Zusammenhänge in folgendem berühmt gewordenen Schaubild darzustellen34:
Auffällig ist, vor allem vor dem Hintergrund der eben erörterten AnagrammStudien Saussures, dass auch hier allerlei Buchstaben und Silben ausscheren und in andere Wörter verschoben wieder auftauchen. Im Unterschied zu Saussure geht es aber nicht nur um das Auffinden eines Schlüsselworts, das hinter den Wörtern hervorlugt, sondern vor allem darum, zu zeigen, wie ein verdrängter Gedanke die Rede determiniert. Das Schaubild macht sichtbar, wie Freuds Methode die Linearität der Sprache aufbricht und die Rede als eine geschichtete offenlegt. Sie ist von Kräften durchwirkt, die mit Pfeilen markiert sind, die nicht so sehr von links nach rechts in Leserichtung weisen, sondern vor allem von oben nach unten und von unten nach oben. Was in der Gesprächssituation nacheinander erscheint, wirkt auch ineinander. Die Oberfläche der Rede ist nicht glatt, sondern in sich eingefaltet, von kryptischhomophonen Vor-, Rück- und Seitenbezügen durchzogen, die um das vergessene Wort Kreise ziehen. Der Grund für diese Einfaltung ist ein Loch, das den Fortlauf der Rede stört und die Rede mehr und mehr auf sich selbst zurückwirft.35 34 35
Freud 1986, Zur Psychopathologie, 9. Ähnlich wie der Prozess des Verdrängens, ist auch der des Entwerfens von einer in Vor-, Rück- und Seitenbezügen kreisenden Rede bzw. Schrift bestimmt. In seinem Beitrag
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Für Freud ist der vergessene Name ein Symptom, das an die Stelle der verdrängten Erinnerung an den Selbstmord eines seiner Patienten getreten ist. Dieser Sachverhalt findet im Schaubild in den untersten Schichten seine Darstellung. „Tod und Sexualität“ sind jedoch nicht einfach verdrängt, sie sind, von dem zu verdrängenden Gedanken an den Suizid des Patienten dissoziiert, Thema in der Konversation, während deren Verlauf der Name des toskanischen Renaissancemalers Signorelli – der Maler der „letzten Dinge“ – vergessen wird. Lacan meinte im Vergessen von „Signorelli“ das Begehren nach dem Tod des Herrn (des Gotts) und damit auch nach dem Verschwinden des Todes zu erkennen.36 Wie oft bei Lacan ist dies sicherlich ebenso weitsichtig wie allzu verknappt dargestellt. Ich möchte nun auch gar nicht so sehr den Akzent auf die Spekulation setzen, was da eigentlich verdrängt worden ist, sondern vielmehr fragen, was in dem Schaubild geschieht, in dem „Signor“ an erster Stelle – nämlich oben links – wieder zu stehen kommt. Denn, so meine These, wo das Schaubild als eine Art Sammelbehälter für das Unbewusste eine abschließende Deutung vorgibt, verweist es doch zugleich auf seinen prekären Konstruktionscharakter und zeigt auch die Löchern, aus denen das eingesammelte Unbewusste schon wieder auszulaufen droht. Sicherlich geht es bei der Setzung von „Signor“ an oberster Stelle nicht um die Wiedereinsetzung eines christlichen Gottes, der das Gedicht37 abhält; wohl eher schon um die Restitution von Freuds ärztlicher Autorität, die durch den
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„Schriftbildlichkeit oder Bildschriftlichkeit“ im vierten Kapitel unternimmt Alexandre Métraux anhand eines Manuskriptes von Pessoa den Versuch, einem im Entwurf noch „eingefalteten“ Denken auf die Spur zu kommen. Lacan 1978, Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XI, 33: „Der Ausdruck Signor, Herr taucht unter – damit ist der absolute Herr, wie ich gelegentlich gesagt habe, und um alles zu sagen: der Tod verschwunden. [...] Der Mythos des Gott ist tot [...] dieser Mythos ist möglicherweise nur ein Schutz vor der Drohung der Kastration. Wenn Sie sie zu lesen verstehen, erkennen Sie die Kastrationsdrohung auch auf den apokalyptischen Fresken der Kathedrale von Orvieto. Wenn nicht, lesen Sie Freuds Unterhaltung in der Eisenbahn – in der es um nichts anderes geht als um das Nachlassen der Geschlechtskraft.“ Natürlich muss es heißen „Gericht“. Es handelt sich um eine Fehlleistung, die sich während der Niederschrift ergab und bei meinen Korrekturlesern Lachen hervorgerufen hat. Alexandre Métraux, dem an dieser Stelle für seine kritischen Bemerkungen und profunden Ergänzungen gedankt sei, schrieb dazu: „„Gedicht“ – ein wunderbarer, ein großartiger Verschreiber, es geht tatsächlich um das Signifizieren, um die Semiose: und an dieser Stelle löst sich das Problem des Ursprungs der Semiose bei einem Gott, der dichtet. Wunderbar. Bitte, streiche die Stelle nicht, sondern verwende sie als Beispiel, das durch Selbsttat und -beobachtung die Ausführungen zu Freud ergänzt.“ – Wenn ich diese Stelle also nicht streiche, sondern als Fehlleistung stehen lasse, dann stellt sich nicht nur die Frage, was mit dem Tippfehler und daraus folgenden Einfall, dass das jüngste Gericht als ein Gedicht Gottes aufzufassen sei, anzufangen sei, sondern es zeigt sich eben, dass auch in dieser Lektüre Parasitäres mitgelesen wird, das die Argumentation von innen her aufstört. Ganz gleich ob wir es rationalisieren (also einen triftigen Grund für den Zusammenhang von Gericht und Gedicht mitliefern) oder aber korrigieren, ausstreichen und dadurch zum unterdrückten Ausschuss des hier Gelesenen und Versammelten machen – es lässt sich nur bedingt bezähmen.
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Selbstmord seines Patienten radikal infrage gestellt worden war.38 Dessen instabile ärztliche Autorität, die nicht zuletzt instabil ist, weil sie ohne institutionelle Absicherung aus der Neurologie und Psychiatrie heraus ein gänzlich neues Wissensfeld – das der Psychoanalyse – entwickelt, stabilisiert sich im und durch das Schaubild, das eine geschlossene Erklärung des Falls repräsentieren soll. Freud nützt dabei aus, dass die (Des-)Artikulation, von der der Fall zeugt, nachträglich immer noch einen Effekt von Repräsentation zeitigt.39 Für die Konsistenz des Schaubilds steht „Signor“; die Verkleinerungssilbe „elli“ muss abgeschnitten werden, um diesen wortwörtlichen Herrensignifikanten hervorzubringen.40 Garant kann nur ein „Herr“ sein – kein Signorelli, kein „Herrchen“41 –, was uns nicht zuletzt darauf hinweist, dass Deutung nicht nur von intersubjektiver Nachvollziehbarkeit getragen wird, sondern auch von der Autorität ihrer Äußerung.42 Die Deutung wird in der Hervorbringung eines Herren-Signifikanten durch Abschneiden der kastrierenden Verkleinerungssilbe, d. h. durch seine Abtrennung von der Idee des Todes, stabilisiert. Abgeschnitten verspricht er mit sich selbst identisch zu sein; abgeschnitten gibt er vor, begründend zu sein. Weil er sich selbst begründet, bedarf er selbst keiner anderen Begründung und ist mithin letztbegründend. Wenn dem so ist, dann veranschaulicht das Schaubild also nicht nur einen Dechiffriervorgang, sondern markiert auch die unausgesprochenen Bedingungen dafür, dass dieser Dechiffrierungsvorgang überhaupt stattfinden und als in sich geschlossenes und stabiles Bild repräsentiert werden konnte. Die Bedingungen für die erfolgreiche Deutung der Fehlleistung sind mithin selbst nichts weniger als Fehlleistungen – Fehlleistungen, die nun unmittelbar die Deutung betreffen.
4. Die Ähnlichkeiten zwischen Saussures und Freuds Vorgehensweise sind frappierend. Beiden zerfällt unter der Hand das Wort als Einheit; sie ergreifen es 38
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41 42
Die Angst vor dem eigenen Versagen als Arzt ist in Freuds Werk ein rekurrentes Motiv, vgl. vor allem den Traum von Irmas Injektion (Freud 1972, Die Traumdeutung, 126-140). In diesem Traum koinzidieren ärztliches Versagen und Geburt der Traumdeutung in vergleichbarer Weise wie hier das ärztliche Versagen mit der Entdeckung der Fehlleistung. Vgl. dazu Weber 1978, Rückkehr zu Freud, 32. Das Problem, das auch innerhalb des Feldes der Psychoanalyse nicht unbekannt ist, besteht darin, aus dem Signifikant sein eigenes Signifikat zu machen, ihn als mit sich selbst identisches, transzendentales Prinzip zu hypostasieren. Vgl. dazu ebd., 56. Weber weist auch darauf hin, dass sich Lacan gegen diese Tendenz aufgelehnt hat. „Herrchen“ gemahnt an Saussures „Stäbchen“, vgl. Fußnote 24. Vgl. dazu vor allem Foucault 1969, Archéologie du savoir, 68, wo Foucault gerade am Beispiel des Arztes deutlich macht, wie die Macht seines Diskurses an institutionelle Absicherungen gebunden ist, die im Falle Freuds, der den medizinischen Diskurs zugunsten eines nicht etablierten, noch zu begründenden Diskurses der Psychoanalyse verlässt, nicht gegeben ist.
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nur noch, um in ihm eine Einhängevorrichtung oder ein Sammelkörbchen für einzelne Silben und Buchstaben zu empfangen. Da dies unbefriedigend ist, werden aus dem Sammelsurium göttliche Instanzen hervorgezaubert, an die die Texte appellieren, um das in ihnen entstandene Wirrwarr noch einmal zu einem kohärenten Ganzen zu fügen. Dies gelingt nur als provisorische Konstruktion. Während Saussure seine Forschungen verwirft, weil er die darin aufgeworfenen Widersprüche nicht zu lösen vermag, gelingt Freud eine raffinierte Kompromisslösung: Er stellt die Deutung als eine in sich runde, geschlossene vor und lässt darin doch zugleich die Ungereimtheiten lesbar werden, die eine Deutung stets braucht, um überhaupt in sich stimmig zu sein. So bricht in die vermeintliche Abgeschlossenheit des Schaubilds eine nicht weiter kommentierte Redewendung der Türken – „was ist da zu sagen etc.“ – als gleichsam ironischer Selbstkommentar ein, der über die stabilen Grenzen der Darstellung in etwas Unabgeschlossenes, weil letztlich nicht Artikulierbares hinausweist. Dem entspricht auch die Spannung zwischen dem apodiktischen Schaubild und dem vorsichtigen Nachsatz dazu, der im Futur II formuliert: „Wir werden den Sachverhalt vorsichtig genug dargestellt haben, wenn wir aussprechen: Neben dem einfachen Vergessen von Eigennamen kommt auch ein Vergessen vor, welches durch Verdrängung motiviert ist.“43 Mit dieser durch Zurücknahme erreichten Öffnung verabschiedet Freud die Vorstellung, dass das Ziel einer Analyse in der Wiederherstellung einer „eigentlichen“ Bedeutung und folglich in der Hervorbringung eines in sich gesammelten Subjekts zu bestehen habe. Anstatt auf der Rekonstruktion eines Herrn zu bestehen, der im eigenen Hause wieder regiert – wie das berühmte Diktum „Wo Es war, soll Ich werden“ häufig (miss-)verstanden wurde44 –, wird Freud seine Aufmerksamkeit zunehmend auf die Widerstände beim Sprechen selbst legen und diese auch durch die eigene Deutung nicht zu glätten versuchen, sondern vielmehr den ausscherenden Buchstaben, die ausscherenden Silben als Reste von Bedeutung valorisieren. Dabei gibt er sie weder einfach zum Abfall noch versammelt er sie zu einer neuen festen Bedeutung.45 Was eigentlich gesammelt, zerstreut und wieder eingesammelt wird, wenn Buchstaben gesammelt werden, bleibt rätselhaft. Ungenügend ist es, die 43 44
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Freud 1986, Zur Psychopathologie, 12 [Herv. J. K.]. Michael G. Levine hat zu diesem Diktum formuliert: „Vielmehr sind Es und Ich durch eine zeitlich flektierte Ersatzstruktur miteinander verbunden. [...] Dass das Ich als Es-Ersatz zu verstehen ist, bedeutet einerseits, dass das Ich den Platz des Platzhalters einnimmt und durch diese Deplatzierung das Es verdrängt; andererseits, dass das Ich, gerade indem es an der Stelle des Es steht, seine Interessen teilweise und in entstellter Form vertritt“ (Ex tempore: Apollinaire, Rilke und Celan unter den Zeitlosen, Vortrag, gehalten am 10. Juni 2015 an der Ludwig-Maximilians-Universität München). Wichtig ist also zu unterstreichen, dass Freuds berühmter Satz keine Restitution eines in sich gesammelten, selbstreflexiven Ichs verspricht, sondern eine grundsätzliche Verschiebung und Entstellung ahnen lässt. Zum Zusammenhang von Buchstabe und Abfall – englisch „letter“ und „litter“, vgl. Lacan 1971, Lituraterre, 3-10.
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kleinsten Teilchen in ihrer festen Materialität zu fassen, als seien sie Kieselsteinchen; genauso ungenügend scheint es, sie immer schon als prinzipielle Bedeutungsträger zu verstehen. Selbst bedeutungslos, agiert der Buchstabe im Feld der Bedeutung. Das, was Bedeutung materiell überhaupt erst möglich macht, gefährdet – weil es dem Zufall zugehört – die Bedeutung, die nicht zufällig sein darf. Die Grundlage für Bedeutung bildet also zugleich ihre Bruchstelle, durch die eine andere in sie immer schon verwickelte Rede einfällt, die aber nie ganz ausbuchstabiert werden kann. Inwiefern diese andere Rede schlechterdings kontingent ist oder aber innerhalb der postulierten Arbitrarität von Sprache dennoch den Buchstaben immer schon, gleichsam sprachontologisch mitgegeben ist, bleibt unentschieden. Denn die Antworten darauf, die meinen, dies entscheiden zu können – die rationalisierende Beseitigung der Erscheinungen als bloß zufällige auf der einen Seite, ihre überdeterminierende Erhöhung als magische auf der anderen Seite – bleiben ungenügend. Am Interessantesten sind Saussures und Freuds Ausführungen in der Tat dann, wenn sie mit gleichschwebender Aufmerksamkeit dem Staben der Buchstaben, dieser merkwürdig stummen Art des Wahrsprechens, Versicherns und Erhärtens, Gehör schenken, ohne aus den Stäbchen einen Stamm aus Bedeutungen errichten zu wollen. Was in diesem Staben allerdings bekräftigt wird, bleibt entzogen; es ist, als handele es sich um ein Bekräftigen als schiere Unterbrechung. Wenn ein Buchstabe stabt, bekräftigt er vielleicht nur seine störrische Existenz, ohne dadurch je mit sich selbst identisch zu werden. Bezüglich jeden Sich-selbstSammelns (von Bedeutung, von subjektiver Identität qua selbstreflexiver Rede etc.) bildet der Buchstabe einen Abhub, einen Rest, der als Zufall, noch ehe er einfach ab-fällt oder aus der Betrachtung herausfällt, einem im besten Falle zufällt. Alle hermeneutischen Fragen des Lesens müssten eigentlich bei einem solchen Zufallen beginnen. Der Buchstabe ist also jener Ort, an dem Anderes insistiert und Bedeutung destabilisiert und irritiert. Bei Saussure und Freud finden wir Buchstabensammlungen als Fallsammlungen von Buchstaben, die anagrammatisch, d. h. gegenläufig und quer zum logos stehen. Es sind nicht nur wilde Anhäufungen, die wir da vor uns haben, sondern gleichsam Ana-Sammlungen, in denen sich der Fall aufspaltet in eine Ansammlung unterschiedlicher Fälle: Zwischenfall, Ausfall, Zufall, Abfall, Einfall, Unfall etc., von denen keiner fallengelassen werden kann, wenn ein Fall auftaucht. In die Fallsammlungen ist mithin eine Vielzahl von Fallarten eingeschrieben, die sich voneinander nur schwer unterscheiden lassen. Genau diese Dispersion von Fällen treibt die Fallsammlung auseinander, macht ihren Sammlungsstatus fragwürdig, macht sie zur AnaSammlung. Die Ana-Sammlung wäre die Sammlung eines nicht mehr gesammelten Subjekts, eine ex-zentrische Sammlung, eine Sammlung, die sich weder aus ihrer Syntax noch aus ihrer Semantik her erschließen würde, eine Sammlung ohne Zentrum, in der stets etwas – gleichsam gegen den Strich laufend – parasitär mitgesammelt wird, das sich selbst nicht mehr zu sammeln
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weiß, das sich nicht mehr als feste, greifbare Elemente fassen lässt, das zu keinem Bewusstsein seiner selbst, zu keiner Selbstreflexivität gelangen kann. Aufgrund des untergründigen Wirkens dieses Anagrammatischen in jeder Sammlung – zumindest in jeder Sammlung von sprachgebundenen Gebilden – wäre die Sammlung stets nur als eine vorübergehende Version einer wesentlich flüssigen, ungreifbaren, sprich: nicht-phänomenalen Situation zu denken. Es ginge somit nie um eine Sammlung, sondern um eine irreduzible Menge in der Sammlung, um zerstreuende Kräfte, die im Logos der Sammlung am Werk sind. Sie dezentrieren die Sammlung und verhindern, dass sie je zu einer definitiven Form, geschweige denn zu einem Abschluss kommt.
REGINA HILBER
BRANDENBURG-ZYKLUS tagwerk X
land ruft sich nicht selbst aus die schreie der möwen über dem schwarm der sardinen die fortlaufende permutation aller geschlechter aller spalten sparten obst gestein und nonsens symmetrisch angeordnet so ruht das auge rothes meer* * Straßenname in Jüterbog/Brandenburg
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REGINA HILBER
2)
. trouvaille
das gesetz kennt künftig das dritte unbestimmte geschlecht und gleichsam mit ihrem glanz begann er zu laufen (wurde rot und roter war dung und wunder) in brandenburg die nächte ein augenverschieben die mähdrescher fahren nicht mehr die goldgelben stoppeln färben sich ocker nach wenigen stunden in den raumgewinn schütten wir kisten aus mit schrott und plunder während drum herum die dörfer ausrinnen und keiner fragt wann kommst du wieder häusliche schwellen tragen keine namen mehr und rhythmisch findet jeder seine stelle auf angrenzenden feldern schiebt ein pflug die gekappten halme unter die erde hat keine eile hat keinen geruch von sterben im altenheim gleich gegenüber alles ist ruine die flasche chantré im auto vor dem reinsdorfer treff die flasche chantré im regal wie eine urne
BRANDENBURG-ZYKLUS – tagwerk X
3) . das betreten des spielplatzes ist bis sonntag verboten wir brauchen keine betten in den fundus der wortverliebtheiten apodiktisches geflecht ein leeres geburtenbuch schreibt in den tag F M
die anblumen der kabinettgehilfe
das tagwerk
X
misurato streng im takt kann ich zweifeln woran ich zweifeln will die warnschreie des rehs bei dahme die kleinen frösche die wegspringen vor unseren sandalen es wäre ein ufer ein uferversuch nur wozu fragen wir dann haben wir den himmel aufgezogen manchmal schlafen wir mit den elefanten, die unsere träume sind (während unsere sehnsüchte doch nur von vergangenen gesten berichten) im frachtflieger zwischen leipzig und lippe brennen vierzigtausend küken gelb wie die gewalzten strohballen muss so ein feuer sein der kabinettgehilfe legt den ersten stein: das leben hat über den tod gesiegt auf eine mir unbekannte weise* *daniil charms
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4 ) . der duft des endsommers im zwiebelfeld zwischen wiepersdorf und nonnendorf vorbei am konsum vorbei an archäophyten einen schönen tag wünscht die echte kamille beschlafen wir die angelegenheit der vollmond geht vorüber wie alle monde vorüber gehen gezeiten bestimmen und pausen notieren vor aufkommen des weltweiten verkehrs um fünfzehnhundert vor aufkommen des resignativen moments um jetzt herum warst du schon heimisch hier camilla die anblume zum trost zu groß die traktoren für gekehrte anliegerstraßen zu klein um die lücken zu füllen hinter dem endlosen ackermeer
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9 ) . lipogramm aus streichholzwald roch harzstelle die chlorlache weltzahl der reichsoder roch salz tierwaschzelle weiches hirschleder ich zerteilte stachel roch holzdiele die zahl der eichel wich wehrziel roch die rehleiche stolz war das waldohr streichholzwaldwesen roch wildheit zeder loecherte erst deiche dort wo docht teer weicht die warte der rohrstaebe entzwei storch und stoerteich strahlte wo teleloch raststelle schrieb leerzeit wich die leere zeit waelzte colorierte weste las teilrede drei roch rotwildweide roch wiesel horchte wer roch die restworte zahlte waldzoll ich reizte hoelle schlichtete holzschicht zwei striche weiter
Erstpublikation in Regina Hilber, Landaufnahmen. Gedichte, Innsbruck, 2016. Wiederabdruck der Ausschnitte aus dem Gedicht-Zyklus mit freundlicher Genehmigung des Limbus Verlags, Innsbruck.
MONA KÖRTE & SARAH SCHMIDT FORTGEHEN – AUFSAMMELN – WEGLASSEN. ZUM BRANDENBURG-ZYKLUS TAGWERK X VON REGINA HILBER
Die Arbeit an ihren Gedichtzyklen ist bei Regina Hilber eng an den Ort ihres Entstehens gebunden, an Orte, die sie in Spaziergängen erkundet und deren räumliche, geographische, historische und soziale Gegebenheiten sie auf sich wirken lässt, wie den Landkreis Teltow-Fläming in Brandenburg. Hier war Regina Hilber 2013 mit einem Autorenstipendium auf Schloss Wiepersdorf zu Gast, wo der hier in Auszügen veröffentlichte Brandenburg-Zyklus tagwerk X entstand.1 Wie Natur und Ortschaften – das „rothe meer“ in Jüterbog, ein Blutbad der kaiserlichen Truppen im 30-jährigen Krieg – durchforstet Regina Hilber die Zeitungen der Region, und die Suche nach nouvelles und trouvaille wird so auch zu einem Streifzug durch die Sprache. Die Gedichte im Zyklus tagwerk X sind ebenfalls als Streifzüge angelegt und reflektieren über die (Un-)Möglichkeit, das Gesammelte zu listen, zu zählen, zu kategorisieren und zu ordnen. Das „tagwerk“ – ein altes Flächenmaß für jene Landfläche, die an einem Tag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang bestellt werden kann – kündigt sich dabei selbst als neben, zwischen oder über den gängigen Kategorien liegend an; es ist vom dritten Geschlecht X, das, so konnte man in der Zeitung im August 2013 lesen, im Pass all jener Menschen stehen darf, die sich nicht eindeutig einem der beiden Geschlechter, dem Männlichen oder Weiblichen, zuordnen lassen: „das gesetz kennt künftig das dritte / unbestimmte geschlecht“. Wie lässt sich X als das bestimmte Unbestimmte, die zum Kennzeichen gewordene Variable (in Sprache) fassen? Und wie misst man mit einem Maß vom dritten Geschlecht – „misurato streng im takt“? Im Gedicht „.das betreten des spielplatzes ist bis sonntag verboten“ erscheint „das tagwerk X“ graphisch wie das Ergebnis einer Gleichung, eine Konklusion oder wie ein Eintrag ins Geburtenregister: Mutter: die anblume, Vater: der kabinettgehilfe, Kind: das tagwerk. Allerdings schreibt in schrumpfenden Orten, in denen „keiner fragt / wann kommst du wieder“, niemand mehr in das Gebur-
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Der Brandenburg-Zyklus tagwerk x ist mit anderen Zyklen, die während Schreibaufenthalten in Slowenien, Italien und der Slowakei entstanden, als umfassender vierter Gedichtband erschienen, vgl. Hilber 2016, Landaufnahmen. Gedichte, sowie die Gedichtbände Hilber 2014, schanker – ein bericht aus wien, dies. 2005, Ich spreche Bilder und dies. 2011, im schwarz blühen die schönsten Farben.
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tenbuch. Das Novum der Kennzeichnung des „dritten Geschlechts“ und das Ende der sprachlichen Zweigeschlechtlichkeit werden so zunächst mit der fehlenden Möglichkeit konfrontiert, diese Neuerung praktisch umzusetzen. Das lyrische Ich trifft auf seinen Streifzügen durch ‚ausrinnende dörfer‘ auf ein „leeres geburtenbuch“, das ein zusätzliches Feld für das X überflüssig erscheinen lässt. Dabei verweisen „ruine“, „leerstand“, unbearbeitetes ‚heimisches harz‘ und fehlende Namensschilder auf die unbestellte Fläche dieser Gegenden, die mit dem neu hinzugewonnenen Datenfeld des unbestimmten Geschlechts in eine Korrelation tritt. Anstelle der Kinder werden nur Tage ,geboren‘ und das Geburtenbuch wartet nicht auf Einträge, sondern „schreibt in / den Tag“. Welche Logik generiert tagwerk X? Zwei Zeilen zuvor scheint „apodiktisches geflecht“ eine Antwort auf diese Frage zu geben, das Syntagma ist jedoch in sich ein Rätsel, vereint Unvereinbares, denn wie kann ein Geflecht eindeutig, unumstößlich und unmissverständlich sein? Auch Mutter und Vater als Erzeuger sind nicht einerlei Art, eine Blume und ein Mensch, so dass tagwerk X zu einem sonderbaren Bastard wird. Folgerichtig bestimmen die Vereinigungen des (kategorial) Unterschiedlichen, Zeugung, Vermehrung und Mischwesen den Gedichtzyklus tagwerk X: wir schlafen „mit den / elefanten, die unsere träume sind“, „beschlafen [...] die angelegenheit“, sehen einen „mischlingsköter“ am Flughafen wanken, kategorisieren „sirenen“ und denken über „strammen jürgen im butter“ nach. Mit X scheint nicht der-die-das ausbuchstabiert, wie wir es im Deutschen kennen, sondern eine „permutation aller / geschlechter aller / spalten sparten / obst gestein und nonsens“ in Gang zu treten, die auch auf der Ebene der Wortkomposita seltsame Wesen schafft: wir lesen „reichsoder“ und „weltzahl“ und solche schwierigen Wörter wie „paraphilanthropie“, die nur so klingen, als stünden sie in einem Fachwörterbuch. Das Gedicht „.lipogramm aus streichholzwald“ enthält schon im Titel einen geographischen Bezug und einen poetologischen Hinweis: Während der Streichholzwald die gleichförmige Kiefernbewaldung im Landkreis TeltowFläming aufruft, handelt es sich bei dem Lipogramm um eine Textbildungsregel nach Art eines Buchstabenspiels, das sich nicht gleich zu erkennen gibt, sich tarnt. Denn Lipogramm bedeutet „einen Buchstaben weglassen“, einen x-beliebigen gleichsam, dessen Fehlen man nicht merkt, weil der Text den Sinn um diesen Buchstaben herumlenkt, Sinn nicht von ihm, diesem einen Buchstaben, abhängig macht. Wir beobachten die Sprache im Grunde bei dem, was sie ohne ihn zu tun in der Lage ist. In diesem Gedicht fehlt das nicht sehr häufige, dafür im Zyklus umso bedeutsamere „x“, aber auch das „ä“ oder „ö“. Statt des Umlautes lesen wir „loecherte“ und „rohrstaebe“ und „hoelle“, Zweilaute also, die dem Wort wie im Ausland einen Vokal hinzuaddieren, es zerdehnen und dem Rhythmus eine Brücke bauen. Regina Hilber lässt aber noch viel mehr fort: das b beispielsweise und auch das f, g, j, k, m, p, q, v und das y. Es scheint, als hielte sich das Aus- und Einlesen der Lettern aus der geordneten und abgeschlossenen Menge des Alphabets die
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Waage. Damit kippt aber das Lipogramm in ein Anagramm, das sich von anagraphein = „umschreiben“ ableitet und die Umstellung der Buchstaben eines Wortes oder Ausdrucks zur Bildung eines neuen Wortes oder Ausdrucks meint. Das heißt also, dass nicht der Wegfall, sondern die Permutation der Buchstaben dafür sorgt, dass Geographisches und Poetologisches zusammenfallen: Aus einem einförmigen Wald aus Kieferstämmen, dem „streichholzwald“, generiert das Gedicht Worte nach Art poetischer Mischkulturen: „streichholzwaldwesen“, „rotwildweide“. Die strenge Textbildungsregel des Anagramms hält ihre Signifikanten gerade nicht in Schach, sondern lässt sie los oder gar frei; in selbst gewählter Beschränkung entscheidet ein kleines Inventar an Buchstaben (über) den Geruch des Waldes, bis die generierten Worte selbst zu riechen beginnen – also von dem affiziert sind, was sie benennen.2 Die künstlerische Verknappung auf ein kleines ABC lässt Hilbers Verfahren äußerst konzentriert erscheinen. Durch die immer neue Auswahl und Buchstabenfolge ist jeder Vers ein Anfang und bildet eine der endlichen Möglichkeiten eines Ganzen. Die Sprache sammelt sich: das o sucht einen Konsonanten, kurz bleibt das Paar beieinander, etwas Unsichtbares zieht auch andere Buchstaben an, bis sie alle auseinanderdriften, um sich anschließend neu zu begegnen. Letternverkehr meint sowohl Verkehrung als auch Umgang, Begegnung von ‚Charakteren‘ als einem veralteten Synonym für Schriftzeichen. Doch ist es ein Umgang, der ohne uns stattgefunden hat, wir sehen nur ihr Resultat. Ihr Schriftbild erinnert uns lediglich daran, dass jedes Wort eine intentionale Einhegung willkürlicher Buchstaben ist und ein Vertrauen in sie nicht immer begründet. In Schreibweise und Typographie nimmt Hilber eine Egalisierung vor, die ,Hauptwörter‘ verlieren ihre kennzeichnende Majuskel, durch die konsequente Kleinschreibung enthält sie sich einer Prägnanzbildung durch Unterscheidung. Hier und da hierarchisieren eingelassene Klammern das Mitgeteilte, mitunter wird der Sinn einer Wortfolge oder die Herkunft eines Satzes als Zitat mittels eines Sternchens nachgetragen. Jedes Wort zählt gleich und ist offen für das Spiel mit Komposition, Alliteration und Anagramm, in dem sich Wahrscheinliches und Unwahrscheinliches, Existierendes, Mögliches und frei Erfundenes einfinden und ihre Zusammengehörigkeit erproben. Was stammt aus dem „fundus der wortverliebtheiten“ und was wird im Wörterbuch von Dornseiff gelistet? Unversehens wird in Regina Hilbers Gedichten aus dem Wörterbuch und dem Wörterschatz ein „wörterschatzbuch von dornseiff“, das nicht mehr nur Wörter, sondern Wortschätze enthält. Nach welchen Sachgruppen aber wären Wortschätze zu ordnen? Regina Hilbers poetologischer Gestus ist der des Einsammelns, des Setzens und des versuchsweisen Ordnens, nur um das Zusammengefügte sogleich wieder auseinanderzunehmen und aufzulösen: Figuration – Defiguration. So wird
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Zu Saussures psychoanalytisch gewendeten Anagrammstudien vgl. Judith Kaspers Aufsatz „Vom Ausscheren und Einsammeln der Buchstaben“ im ersten Kapitel.
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mit dem neu geborenen Maß vom dritten Geschlecht auch das vermeintlich eindeutige wieder fragwürdig. Denn was ist „sie“, „die anblume“, die noch keinen Eintrag im Wörterbuch erhalten hat? Sächlich oder weiblich oder findet sie nicht eher bei „angelegenheit“ und „anliegerstraße“ ihresgleichen?3 Die Spurensuche nach dem, was am Tag geschafft wurde oder was vom Tage bleibt, verortet sich durch die Interpunktion der Überschriften ein wenig im Abseits. Die Titel beginnen mit einem Punkt, was auf den Punkt folgt, das ist das Unabgeschlossene, was auch noch zu sagen wäre, die Ergänzung, die Restworte: „wer roch die Restworte“.
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Zur geschlechtsspezifischen Codierung der Dinge vgl. den Aufsatz „Gendered objects“ von Ulrike Vedder im ersten Kapitel.
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DIE AURA DER KOPIE ODER DAS ALPHABET DER KLONE – JACQUELINE BAUMS UND URSULA JAKOBS KÜNSTLERISCHES PROJEKT CONNECTED IN ISOLATION (2014-2015)1
In ihrer künstlerischen Forschungsarbeit Connected in Isolation2 (2014-2015) untersuchen die Schweizer Künstlerinnen Jacqueline Baum und Ursula Jakob wissenschaftliche und künstlerische Abbildungen als De- und Rekontextualisierungsprozesse und greifen dabei u. a. auf fotomechanische Druckverfahren zurück. Ihre Untersuchung kann als Reflexion über die Bedingungen der Möglichkeit von Wahrnehmung im künstlerischen Medium technischer Reproduktion gelesen werden und ist auch eine Reflexion über das, was Walter Benjamin ab Ende der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts mit dem schillernden Begriff der Aura zu fassen versuchte. Der unter den Bedingungen moderner3 Massenmedien und Massengesellschaft von Walter Benjamin konstatierte (und seither ebenso massenhaft zitierte) „Auraverlust“ hängt weder dem Medium technischer Reproduktion selbst noch der Kopie als einer ihrer Eigenschaften an. Es ist also auch nicht das „Ding“, sondern allenfalls die medial vermittelte, dem Medium aber nie allein anheimfallende, wahrnehmende Beziehung zum Ding, die seine auratische Qualität zeitigt. Aura, so formuliert Benjamin in notizenhafter Dichte in der späten Fragmentsammlung „Zentralpark“, sei die „Projektion einer gesellschaftlichen Erfahrung unter Menschen in die Natur: der Blick wird erwidert“4. Der auratisch wahrnehmende Mensch ist in Erwartung einer Replik, die sich im Blick des Dinges ankündigt und zugleich entzieht. Es ist ein wahrnehmendes Bewusstsein für die „Authentizität“, das Spuren-Ziehen eines Dinges in der Geschichte, seine flüchtige Präsenz, die seine Nicht-Verfügbarkeit als „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“5 ausmacht. Und es ist u. a. der instrumentelle Umgang mit den Dingen in ihrer vollständigen Verfügbarkeit als
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Im Tafelteil dieses Bandes finden sich die Abbildung 3 sowie eine Detailansicht dieser Abbildung im Vierfarbdruck. Ausgestellt in: Neues Museum Biel, 16.10.2014 bis 18.1.2015; Stadtgalerie Bern, 5.3.2015 bis 4.4.2015, ERES Stiftung, München, 6.5.2015 bis 27.6.2015. Zu den Bedingungen medialer Reproduktion im Postmodernen Zeitalter vgl. den Beitrag von Harald Kraemer „Sammeln ohne Zugriff: Sammeln ohne Sinn!“ im zweiten Kapitel. Benjamin 1980, Gesammelte Schriften, Band I/2, 670. Ebd., 479.
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Ware, viel mehr noch als Massenware, der keine Spuren ihres je eigenen Produktionsprozesses mehr anhaften, der das Auratische gefährdet oder im werbenden Ausstellungsakt als auratische Hülle verklärt. Für Benjamin ist der Auraverlust daher nicht zwangsläufig zu bedauern, sondern kann und muss auch als Befreiungsschlag, als „Schock“ verstanden werden, für den die Kunst als „empfindlichster Kern“6 des in der Moderne stattfindenden Umbruchs seismographisch zahlreiche Beispiele gibt. Ein Auraverlust als „einer der Namen für den modernen Erfahrungsverlust“7 muss jedoch nicht als irreversibel, sondern kann durchaus auch als Möglichkeit einer Reauratisierung unter anderen Vorzeichen verstanden werden. In diesem Sinne liest der Kunstwissenschaftler Boris Groys den benjaminschen Auraverlust als De- und Rekontextualisierungsprozess in den Künsten. Während das Original einen Ort besitzt, so kommt der Kopie nach Boris Groys zunächst eine „Ortlosigkeit“ zu, sie ist das Ergebnis einer „Deterritorialisierung“ des Originals, das in den Künsten neuer Medien durchaus eine „Rekontextualisierung“, eine „Reterritorialisierung“8 erfahren kann.9 Auf den ersten Blick erinnern die „Blumenbilder“, die in aufwändigem Vierfarbdruck erstellten Heliogravuren einzelner Wiesenpflanzen aus der Forschungsarbeit Connected in Isolation an wissenschaftliche Studien und Lehrabbildungen, wie sie mit den Bildbeiträgen botanischer Zeitschriften, Lehrbücher oder Enzyklopädien ein immer breiteres Publikum fanden und zu Studien- und Lehrzwecken in der Fachliteratur der Botanik nach wie vor üblich sind.10 Ähnlich einer botanischen Bestandsaufnahme wurde die Pflanze dazu zunächst von ihrem natürlichen Umfeld der Wiese isoliert. Der von Baum und Jakob vorgenommene künstlerische Delokalisierungsprozess achtet jedoch auf die physische Unversehrtheit der Pflanze und inszeniert nicht durch Schnitt und Abtransport ins Labor, sondern stellt die Pflanze wie in einem Fotostudio vor einer weißen Leinwand frei.11 Folgt der botanischen Isolation ein Abstraktionsprozess, an dessen Ende ein Prototyp mit idealtypischen Merkmalen steht, der im Kontext seiner botanischen Klassifikation aufgeht, so entstehen in dem künstlerischen Labor von Baum und Jakob individuelle Pflanzenportraits (Heliogravuren, 30 cm x 42 cm), die sich als Ensemble wie eine Galerie (oder, wie die Künstlerinnen formulieren, wie ein „Bildergarten“) präsentieren.
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Ebd., 477. Elo 2005, Die Wiederkehr der Aura, 118. Groys 2003, Topologie der Kunst, 33-36. Ebd., 39. So z. B. die Bildtafeln in Albrecht von Hallers Untersuchungen der Schweizer Alpenlandschaft: Enumeratio methodica stirpium Helveticae indigenarum von 1742 oder Historia stirpium Helvetiae von 1768. Zum Eigenleben der im Naturstudio in ähnlicher Freistellung vorgenommenen ethnographischen Fotografien vgl. Bärbel Küsters Beitrag „Gesten des Dokumentierens – Archive des Scheiterns“ im dritten Kapitel.
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1 − Heliogravure, Karthaeusernelke, 30 cm x 42 cm, aus dem Projekt Connected in Isolation, Ausstellung „Bildergarten“, Neues Museum Biel, 2015
Die Portraits von Klatschmohn, Kratzdistel und Karthäusernelke der Walliser Alpenlandschaft, deren Fortbestand durch starke Düngung bedroht ist, stellen Baum und Jakob in ihrer Installation des Forschungsprojektes Connected in Isolation kontrastiv botanische Mikroskopiertische und Präparate von Pflanzenquerschnitten gegenüber, die von der Züricher Hochschule für angewandte Wissenschaften zur Verfügung gestellt wurden, und als Stellvertreter eines naturwissenschaftlichen Laboratoriums einen wissenschaftlichen Isolationsprozess repräsentieren.12
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Zugleich ist auch das Mikroskop Arbeitsinstrument der beiden Künstlerinnen, beispielsweise um die Dichte des Aquatintakorns auf der Kupferplatte zu prüfen.
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2 − Installationsansicht des Projektes Connected in Isolation im Atelier, Fabrik Burgdorf, Februar 2015
In der kontrastiven Gegenüberstellung verschiedener Isolationsprozesse der Installation Connected in Isolation findet sich noch eine weitere künstlerische Arbeit, es ist ein 220 cm x 120 cm großes Fotogramm, das die Monokulturen einer massenhaften Pflanzenproduktion thematisiert. Denn die Möglichkeiten technischer Reproduzierbarkeit haben in Form von Klonen längst den Bereich des Lebendigen erobert. Liegt der Wert massenhafter Produktion in der Quantität einer identischen Qualität und trägt ihre Ansammlung austauschbarer Elemente in der Regel den Charakter eines in sich unbestimmten Haufens, so überführen die Schweizer Künstlerinnen 200 in Deutschland und Thailand produzierte Orchideensetzlinge in ihrem fotografischen Arrangement wieder in eine Sammlung. Voraussetzung ist auch hier ein Isolationsprozess – diesmal eine Isolation aus der Masse – indem sie ein Schnurgitter als Rasterverfahren verwenden, wie es in der Wissenschaft zum Vermessen von Objekten üblich ist.13 Ohne Maßstab wird dieses Schnurgitter zu einer Art Setzkasten, in dem die Setzlinge ohne das Zwischenmedium Kamera direkt auf dem lichtempfindli-
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Zu diesem Verfahren der vermessenden Fotografie in Bezug auf menschliche „Objekte“ vgl. die Beiträge von Susanne Scholz „Typus, Taxonomie, Text“ und Bärbel Küster „Gesten des Dokumentierens – Archive des Scheiterns“ im dritten Kapitel.
DIE AURA DER KOPIE ODER DAS ALPHABET DER KLONE
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chen Material positioniert werden und an Stelle eines Negativs in der Belichtung eine „authentische“ Spur als Schattenriss generieren.14 In ihrer serialen Anordnung erinnern die einzelnen Setzlinge auf den ersten Blick an die Bewegungsstudien von Muybridge, ohne dass sich jedoch eine Bewegungsabfolge generieren ließe. In ihrer fragil wirkenden, je eigenen Krümmung scheinen die Setzlinge der durch das Klonen verordneten Identität entkommen und wirken in der strengen Anordnung, die jedem Setzling seinen Platz zuweist, eher wie Schriftzeichen eines unbekannten Alphabetes. Mit dem Orchideen-Fotogramm ist Baum und Jakob ein in seiner Einfachheit bestechendes Sinnbild für das Ineinander von De- und Rekontextualisierung gelungen, in der es das Isolierte neu zu entdecken, neu zu lesen gilt. Denn eine „reine Isolation“, so könnte man das künstlerische Plädoyer von Connected in Isolation formulieren, gibt es ebenso wenig wie eine „totale Kopie“15. Lässt man sich auf diesen Gedanken ein, so wäre eine Begegnung mit dem Ding möglich, auch wenn es sich „nur“ als eine Kopie erweist; im künstlerischen Medium technischer Reproduzierbarkeit – gerade auch die in ihm mögliche befreiende Verfremdung – hätte eine Reauratisierung stattgefunden.
3 – Installationsansicht: Fotogramm Orchideenklone aus dem Projekt Connected in Isolation, 220 cm x 120 cm, Ausstellung „Bildergarten“, Neues Museum Biel, 2015 14
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Eine zentrale Eigenschaft des Mediums Fotografie, seine endlose Reproduzierbarkeit im Abzug, wie sie Roland Barthes in Die helle Kammer beschreibt, gilt nicht für das Fotogramm (Barthes 1989, Die helle Kammer, 12). Vgl. dazu den Beitrag „Was nach dem Sammeln bleibt“ von Judith Kasper im vierten Kapitel.
II. DYNAMIK UND ORDNUNG DER SAMMLUNG. STRATEGIE, SPIEL UND VERLUST
CHRISTINE BLÄTTLER & ULRIKE VEDDER
DYNAMIK UND ORDNUNG DER SAMMLUNG − STRATEGIE, SPIEL UND VERLUST. ZUR EINLEITUNG
In diesem Kapitel liegt die Aufmerksamkeit weniger auf der Ebene der Dinge – dem, was gesammelt werden kann – als vielmehr auf den Beziehungen sowohl der gesammelten Dinge untereinander als auch zu ihren Sammlungskontexten. Welcher Logik folgen diese Beziehungen, wie sind ihre Entstehung und ihr Verlust zu begreifen? An welchen Stellen und mit welchen Folgen lässt eine Sammlung von Dingen sich von einer reinen Aufbewahrung oder Anhäufung verschiedener Dinge unterscheiden? Damit stellt sich die Frage nach Ordnungsmustern und Sammlungssystematiken, nach Konstellationen, Serien und Rahmungen, nach der Rolle von Sammlungsräumen und -medien, nach den Funktionen von Kontextualisierung und Dekontextualisierung. Auch wenn Sammlungsordnungen mit der Fixierung, ja Mortifizierung von Dingen assoziiert werden, stehen sie doch zugleich im Zeichen dynamischer und dynamisierender Prozesse. Entscheidend dafür ist nicht zuletzt die Ebene der Rezeption – wie wird eine bestehende Sammlung gesehen, genutzt und dadurch aktualisiert, aber auch diskursiviert? In welchem Verhältnis stehen Display und Depot, stehen Suchen, Habenwollen, Besitzen und Zeigen? Gerade auf synchroner Ebene lassen Sammlungsordnungen sich anschaulich erschließen, doch auch die diachrone Dynamik ist in den Blick zu nehmen: Eine Sammlung entsteht in der Zeit, qualifiziert Zeit und speichert sie in gewisser Weise; sie soll Vergangenes bergen und Künftiges integrieren; sie ist vergänglich und verspricht Dauer, auch wenn sie offen gehalten wird und das letzte abschließende Objekt jeder Sammlung immer zu fehlen scheint.
Ordnungsfragen Ordnung ist eine umstrittene Sache, einerseits verspricht sie Sicherheit und Orientierung und andererseits droht sie mit Disziplinierung und Ausschluss. Es erstaunt deshalb nicht, dass Ordnung oft kritisiert und stattdessen Chaos, Unordnung, Anarchie favorisiert werden. Nicht nur durch mythische Götter, genauso durch Begriffe und Klassifikationen wurden logisch-ontologisch hierarchische Ordnungen etabliert, die seit der Neuzeit zunehmend Ordnung überhaupt infrage stellen oder sogar verdächtig werden lassen. Im Gegenzug findet sich die Forderung nach der Zerstörung von Ordnungen, ja eine Vorliebe für das Chaos,
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nicht erst in poststrukturalistischen Ansätzen. Aber stellt nicht gerade Unordnung die Regel dar, während Ordnung eine Ausnahme bildet, insofern diese viel unwahrscheinlicher ist, selten wie eine Insel im grenzenlosen Ozean des Chaos?1 Ordnung ist das Produkt eines Schaffensaktes, und dieses Produkt ist ‚zwielichtig‘2: Ordnung ermöglicht und verunmöglicht Erfahrungen, baut sie auf und ab; sie grenzt aus, indem sie eingrenzt, wählt aus, indem sie ausschließt. Das antik-griechische Chaos gilt als Inbegriff des Unerkennbaren, Unnennbaren, Unbegreiflichen, aber auch des Unbeherrschbaren. Historisch wurde es als bedrohliche und destruktive Macht wahrgenommen und spornte im Gegenzug zu kulturellen Ordnungsanstrengungen an. So kam dem Mythos die Aufgabe zu, die Angst der Menschen vor dem Unbestimmbaren durch Bestimmung zu bannen3, aber auch die Metaphysik übernahm diese Rolle. Beide gelten als Strategien zur Angstbewältigung, und indem sie versuchen, das Chaos zu überwinden, verfolgen sie ein doppeltes Ziel: „[D]ie Welt verständlich zu machen und gleichzeitig in ihr sicheren Halt zu gewinnen“4. Beide tun dies auf sprachliche Weise, auch wenn der Mythos Bilder schafft und Metaphysik gar nicht so selten auf Bilder zurückgreift, und beide schaffen ihrerseits Sprachen des Ordnens, die bis heute als Modelle rezipiert werden. Sammlungen stiften überhaupt erst einen Zusammenhang zwischen einzelnen Dingen, die diese von sich aus nicht haben. Sie können eine Logik ausdrücken oder diese erst schaffen. Neben programmatischen Strategien oder klassifikatorischen Kriterien, die eine Sammlung bestimmen, finden sich Serien und Konstellationen, die auf das Spiel der zwischen den Dingen entstehenden Kräfte setzen. Das Verfahren der Konstellation fragt nicht nach kausallogischen Zusammenhängen wie ‚Einflüssen‘, vielmehr stellt es Bezüge erst her und setzt auf wechselseitige Reflexivität und konstitutive Nachträglichkeit.5 Ein konstellierendes Verfahren exponiert Gegenstandsbildung.6 Es ermöglicht, scharfe Grenzziehungen zwischen einzelnen Dingen, aber auch zwischen Dingen und Betrachtern infrage zu stellen, den Prozess wechselseitiger Konstituierung in den Blick zu nehmen und die darin auftretende Spannung keineswegs aufzuheben, sondern als wesentlich oder sogar als Motor zu thematisieren. Mit der Konstellation teilt die Serie, wie Christine Blättler in ihren philosophischen Ausführungen zum Ordnungsprinzip der Serie deutlich macht, dass die einzelnen Elemente nicht über ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis gefasst werden, also nicht in einer kausalen Relation stehen, wie beispielhaft in mathematischen Reihen. Während bei der Konstellation die Reflexivität betont wird, rückt bei der Serie der Fokus auf einen gern als unabhängig beschriebenen ‚objektiven‘
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Vgl. Serres 1981, La distribution. Waldenfels 1987, Ordnung im Zwielicht. Blumenberg 1979, Arbeit am Mythos, 10-12. Angehrn 1996, Die Überwindung des Chaos, 204, vgl. auch 142-159. Vgl. Schuller 1997, Moderne, Verluste. Vgl. Krauß 2011, Lenz unter anderem.
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Vorgang, auf einen Mechanismus, eine Regel oder gar ein subjektunabhängiges Gesetz der Serie. Die in diesem Kapitel versammelten Beiträge befestigen keineswegs einen Gegensatz zwischen Ordnung und Unordnung. Vielmehr erkunden sie Spannungen zwischen diesen beiden Polen und interessieren sich für den Moment des Ineinanderkippens; auf je verschiedene Art und Weise lassen sie eine Dialektik von Ordnung und Unordnung des Sammelns thematisch werden, indem sie auf die Dynamik der wissenschaftlichen Welterfassung, die Konkurrenz unterschiedlicher Sammlungslogiken, das Verhältnis von Schauseite und Depot einer Sammlung oder subversive Spiele mit Sammlungsstrukturen verweisen. So demonstriert das groß angelegte Unternehmen einer Vermessung der Welt, wie sie die Kartographie dokumentiert, nicht nur auf sinnfällige Weise die Macht einer einmal etablierten Ordnung. Sie zeugt genauso davon, dass die Sammlungs- und Ordnungsprinzipien, die zur Aneignung von Himmel und Erde entworfen wurden, einem wissenschaftlichen Wandel unterliegen, in dem sich die Prinzipien letztlich selbst unterminieren können. Mit diesem Fokus untersucht Marion Picker in ihrer Auseinandersetzung mit der Kartensammlung der Medici das Ineinandergreifen von irdischen Machtstrukturen und kosmischer Ordnung, an deren Genese sich auch eine Krise der Kosmographie und Kartographie im 16. Jahrhundert ablesen lässt. Auch kleiner dimensionierte Sammlungen, wie die Portraitminiatur-Sammlung der englischen Königin, werden durch machtpolitische Strategien konturiert, wie Susanne Scholz zeigt. In der Portraitsammlung der Höflinge spiegelt sich die Dynamik der höfischen Hierarchie, zugleich konfligiert sie mit einer anderen Ordnung, die den persönlichen Vorlieben der Regentin und das heißt einer „Herzenshierarchie“ folgt. Ein spannungsreiches Verhältnis von Ordnung und Unordnung entsteht auch im Verhältnis einer Sammelinstitution zu ihrem Depot. So geht Ingrid Streble in ihrer Lektüre von Serge Rezvanis Roman L’origine du monde der Frage nach, wie sich hierarchische Ordnungen ästhetischer, praktischer und ökonomischer Natur, die sich in der Schauseite der großen Gemäldegalerie eingerichtet haben, in der Rückseite des Museums, den „Bleikammern“ der Bildermagazine, geradezu verkehren. Klassifikationen, die auf Ordnungsprinzipien beruhen und ihrerseits Ordnung schaffen, kommt eine diskursive Macht zu, die immer wieder kreativen Widerspruch herausfordert. Literarische und künstlerische Arbeiten präsentieren vielfältige Möglichkeiten, Ordnungsschemata zu parodieren und zu übertreiben, zu variieren und zu verändern, zu unterwandern und auszuhebeln. Und es gelingt ihnen auch immer wieder, die einzelnen Dinge in ihrer jeweiligen Besonderheit vor dem klassifikatorischen Zugriff zu ‚retten‘. So experimentieren die KünstlerInnen Heidemarie von Wedel und Matthias Megyeri auf je eigene Art mit der Neuordnung ihres Archivs. In ihren Essays zu beiden künstlerischen Beiträgen verfolgt Bärbel Küster, wie unter Einbeziehung einer assoziativ inspirierten „schwebenden Aufmerksamkeit“ als Ordnungspraxis und der Gestaltung von Leerstellen und Lücken eine neue narrative Ordnung
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entstehen kann, die sich in Form von Bücherrücken (Heidemarie von Wedel) oder Bilderclustern (Matthias Megyeri) präsentiert.
Dynamisierungen Gegen die vermeintliche Fixiertheit von Sammlungen ist ihre Beweglichkeit – sowohl in der Dimension des Raums als auch in der der Zeit – zu setzen. Am offensichtlichsten ist diese Mobilität in jenem Wechsel, dem Sammlungsgegenstände unterliegen, die zu bestimmten Anlässen aus dem Depot in die Showrooms der Sammlungen geholt werden; andere werden zeitweise oder endgültig aus Ausstellungen ausgemustert und in die Unsichtbarkeit eines bloßen Speichers ohne Display verbannt. Hier artikuliert sich eine spezifische Spannung zwischen Aktualisierung und Latenz, Zeigen und Verbergen, Präsentieren und Verstauen. Aber auch, wenn die Sammlungsgegenstände beständig sichtbar bleiben, sogar immer am selben Fleck, verändern sich doch ihre Besitzer, Nutzer, Besucherinnen und Besucher, ihre Kontexte, Verweisungsmanöver, Bedeutungshorizonte. Wenn beispielsweise Museen immer wieder neue Inszenierungskonzepte einsetzen, so sagt das jenseits von Kulturkonsum eben auch etwas über das Dynamisierungspotential von Sammlungen. Ausdruck dieses Dynamisierungspotentials ist auch die Rezeption einer Sammlung, denn mit jeder Aktualisierung der Sammlung im Rezeptionsprozess verschieben sich Korrespondenzen und Konstellationen. Die Sammlung in Nathaniel Hawthornes Erzählung „A Virtuoso’s Collection“, die Mona Körte untersucht, scheint auf den ersten Blick ungeordnet, zusammengeworfen, einer offensichtlichen Sammlungsstrategie oder Klassifikationslogik entzogen. In der je eigenen Choreographie durch die Sammlung, die sich im Gespräch zwischen dem Virtuosen und dem Besucher entwickelt, entsteht jedoch eine durchaus konzise narrative Ordnung, die – insofern sie von jedem Besucher immer wieder von Neuem vorgenommen wird – auch wieder infrage gestellt werden kann. Aus einer diametral entgegen gesetzten Perspektive – nämlich nicht der des Besuchers, sondern der der gesammelten, in Sammlungen ein- und austretenden Dinge – verfolgt Michael Niehaus die Dynamik von Sammlungen und erstellt dabei nebenher eine Typologie unterschiedlichster Sammlungsinstitutionen. Sind Sammlungen Orte oder Stationen von Dingen, die ein gewisses raumgreifendes Volumen haben, so ist eine „ästhetisch reflektierte und ästhetisch intendierte Ordnung der Dinge in einem Raum“7 erforderlich. Ob gewollt oder unbewusst, unterliegt sie beständigen Veränderungen, insofern sie räumliche Bewegung provoziert, sowohl der Dinge als auch der sie wahrnehmenden und mit ihnen umgehenden menschlichen Subjekte. Zugleich verweisen diese konkreten dreidimensionalen Räume wiederum auf andere Räume: auf Herkunfts7
Korff 2000, Speicher und/oder Generator, 47.
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räume aus der Vorgeschichte der gesammelten Objekte oder ihrer Betrachterinnen und Betrachter8, auf utopische Räume eines anderen Lebens durch die Dinge, auf heterotopische Räume, wo sich kulturelle Platzierungen entwerfen, reflektieren und umkehren lassen.9 Kurz, Räume agieren als „der große Transformator“10 in den zugehörigen Prozessen der Homogenisierung und Dynamisierung heterogener Objekte. Dies gilt interessanterweise auch dann, wenn Sammlungen in virtuellen Räumen angesiedelt – das heißt als Dateien geordnet und gespeichert – werden. Zeichnen sich virtuelle Sammlungen, wie die vor über 20 Jahren auf unterschiedlichen Trägermedien entworfenen multimedialen Museums- und Sammlungsführer, durch den Charakter einer potentielle Unendlichkeit ihrer ,Räume‘ und ihre vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten aus, so können sie aber auch in technischer, in repräsentativer oder in epistemologischer Hinsicht dysfunktional werden, wie Harald Kraemer in seinen Recherchen anmahnt. Was die Dimension der Zeit betrifft, so erscheinen Dinge in Sammlungen aus jener Zeitlichkeit, der die Besitzerinnen und Betrachter unterworfen sind, herausgenommen – gleichgültig, ob sie in einem historistisch-rekonstruktiven Rahmen oder in einem vermeintlich zeichenlosen white cube ausgestellt sind. Sie erscheinen gegenwärtig, während die Welt, der sie angehörten, ebenso vergangen ist bzw. vergeht, wie die Welt derer vergeht, die sie betrachten. Dinge in einer Sammlung sind demnach präsent, nah und gegenwärtig; zum anderen aber sind sie fern und fremd, weil sie Spuren einer verlorenen Zeit aufweisen und so als „Zeitspeicher“11 fungieren. Sammlungen konservieren und tradieren, aber durch die Dekontextualisierung der Objekte transformieren und zerstören sie deren Vergangenheit auch. Wenn die erste Signifikanz eines Objekts in einer Sammlung darin besteht, dass es an einem anderen Ort fehlt12, dann ist jedem einzelnen Ding schon durch seinen Weg in die Sammlung, durch seine De- und Rekontextualisierung, seinem damit einhergehenden Bedeutungsverlust und -gewinn eine ungeheure Dynamik eigen.
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So formuliert Adorno in seinem Aufsatz „Valéry Proust Museum“ (1953), der Betrachter erkenne die ‚toten‘ Museumsobjekte als „ein Stück des Lebens dessen, der sie betrachtet“ (ders. 1997, Valéry Proust Museum, 187). Vgl. Foucaults Kennzeichnung von Bibliotheken und Museen als Heterotopien: „L‘idée de tout accumuler, l‘idée de constituer une sorte d‘archive générale, la volonté d‘enfermer dans un lieu tous les temps, toutes les époques, toutes les formes, tous les goûts, l‘idée de constituer un lieu de tous les temps qui soit lui-même hors du temps, et inaccessible à sa morsure, le projet d‘organiser ainsi une sorte d‘accumulation perpétuelle et indéfinie du temps dans un lieu qui ne bougerait pas“ (ders. 1994, Des espaces autres, 759). O’Doherty 1996, In der weißen Zelle, 121. Ammann 2000, Das Museum als Zeitspeicher. „Daß es woanders weg ist, fehlt, also der Hinweis auf einen anderen Ort und eine andere Zeit, ist die erste Signifikanz, die dem Stückchen Materie zufließt, das da im Museum zu sehen ist. Das ist der Beginn der Konstruktion von Bedeutung entlang der Frage nach dem Sprung, den das Objekt gemacht hat, nach dem Ursprung. So ist das Sammelstück ein Signifikant“ (Pazzini 1998, Das kleine Stück des Realen, 314).
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Je nach Narrativierung kann ein und dasselbe Objekt in unterschiedlichen Kontexten ganz verschiedene Bedeutungen entfalten, Geschichten entbinden, Affekte auslösen, die in Sammlungen gebündelt erscheinen. Wenn es die Bedeutungsfülle ist, die den gesammelten Dingen ihre ‚Physiognomie‘ gibt und sie damit zu things that talk macht13, so ist doch auf der anderen Seite hervorzuheben, dass Dinge – auch in Sammlungen – opak sind, sich der Sinngebung und Versprachlichung entziehen können und so daran erinnern, dass es „Dinge ohne uns“14 gibt, ohne dass wir wüssten, auf welche Weise sie „ohne uns“ existieren. Auch daher rührt wohl der Furor der Inbesitznahme oder der Zerstörung von Sammlungen, wie sie Ulrike Vedder in unterschiedlichen kinematographischen Darstellungen von Sammlungszerstörungen unter die Lupe nimmt. Ob es die einzelnen filmischen Visionen der Zerstörung auf die Deutungshoheit einer Sammlung abgesehen haben oder ihren Anspruch auf Ewigkeit dementieren – sie tun dies im Medium des bewegten Bildes und stellen so indirekt auch eine Opposition von Museum und Film zur Diskussion.
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Vgl. Daston 2004 (Hg.), Things that Talk, 24. Vgl. Macho 2011, Dinge ohne uns.
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DIE SERIE ALS ORDNUNGSMUSTER
Serien dienen sowohl räumlich wie zeitlich als Ordnungsmuster. Die „phänomenal nächste Erfahrung von Ordnung“ ist die Orientierung im Raum, da der Raum mit seiner Dimension des Nebeneinanders „die elementarste Grundlage für das Identifizieren, Auseinanderhalten und Verbinden“1 schafft. In ihnen gibt es kein Früher und Später, und die einzelnen Elemente einer Serie sind nicht über eine Kausalrelation verbunden. Doch auch diachrone Serien müssen nicht einer kausalen Linearität folgen, was sich gerade bei der Praxis des Sammelns zeigt. Während sich eine Sammlung Stück um Stück erweitert, kann sie als abgeschlossene die serielle Form ihrer Entstehung zeigen oder nach anderen Kriterien zu einer Serie geordnet werden. Bei Sammlungen stellt sich jeweils die Frage nach ihrer Ordnung, deshalb sollen im Folgenden Aspekte der Serie als Ordnungsmuster sowie als methodisches Verfahren beleuchtet und zur Diskussion gestellt werden. Die Serie ist kein Bild und keine Metapher, sie transportiert weder eine bestimmte Hierarchie von oben/unten, noch einen Ursprung oder ausufernde Vielheit, sie bedeutet nichts, und sie referiert auf keinen Inhalt – sie bezieht sich allein auf eine Form, die eine Mannigfaltigkeit ordnet und strukturiert. Als Muster symbolisiert sie keinen Inhalt, vielmehr realisiert sie eine Struktur: In der Struktur der Reihung realisiert sich das Muster der Serie. Strukturell lässt sie sich als das formale Grundelement oder die Mikrostruktur anderer Ordnungsmuster beschreiben, die nicht nur bildlich, sondern ein-, zwei- oder mehrdimensional angelegt sind, wie etwa bei Stufenleiter, Netz, Baum oder Karte, die auch aus Naturgeschichte und Biologie bekannt sind. Wenn taxonomische Tableaus als Serien von Serien bezeichnet werden2, legt dies nahe, die Serie anders als die Bilder von Kette, Leiter, Netz, Karte oder Baum zu verstehen, die ihre serielle Grundstruktur mit einem bestimmten Bild überziehen. Michel Serres bezeichnete die serielle Ordnung gerade hinsichtlich des Tableaus und Netzes als „,atomistisches‘ Element der Ordnung“3. Die Serie stellt als einfaches Ordnungsmuster nicht nur das Grundelement komplexerer Ordnungsmuster dar, Aneinanderreihen lässt sich überdies als einfache und grundlegende Ordnungstätigkeit verstehen; in diesem Sinne wurde die Serie schon „the most elementary technology of history“4 genannt. 1 2 3 4
Angehrn 1996, Die Überwindung des Chaos, 284. Vgl. Foucault 1969, Archéologie du savoir, 19 Anm. Serres 1968, Le système de Leibniz et ses modèles mathématiques, 31. Fisher 1991, Making and Effacing Art, 97.
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Nicht nur Mathematik Ernst Cassirer betont den formalen und abstrakten Reihencharakter von Serien. Er orientiert sich am mathematischen Zahlbegriff: Dessen Reihenformen musste ein Prinzip vorausgehen, das die Abhängigkeit zwischen den einzelnen Gliedern bestimmt und sie in eine notwendige Relation bringt. „Die Verknüpfung der Glieder wird in jedem Falle durch irgendein allgemeines Gesetz der Zuordnung geschaffen, kraft dessen eine durchgängige Regel der Abfolge festgestellt wird.“5 Cassirer bindet die Reihenbildung an eine Regel der Progression, wodurch die verschiedenen Glieder auseinander hervorgehen und innerhalb der Reihe eine „feste Stelle“6 einnehmen; gemäß der mathematischen Progression fasst er die Beziehung zwischen den Elementen eindeutig, transitiv und asymmetrisch. Der springende Punkt schien ihm darin zu liegen, dass der Reihenbegriff eine Alternative zum Gattungsbegriff bietet, um Einzelnes in einen „übergreifenden Gesamtzusammenhang“7 einzuordnen. Zwei Punkte Cassirers sollen hier hervorgehoben werden: Zum einen verbindet er die Reihenbildung mit der nicht nur mathematischen, vielmehr allgemeinen Begriffsbildung, indem er die Zahlenreihe „zum Grundtypus eines begrifflich erkannten und beherrschten Zusammenhangs überhaupt“8 macht. Und zum anderen betont er ausdrücklich die Form: Er insistiert darauf, dass die in einer Reihe sichtbare Ordnung nicht an den Elementen als solchen haftet, „sondern an der Reihenrelation, durch die sie verknüpft sind“9. So kann es sich auch nicht um eine zeitliche Reihenfolge handeln, es zählt „nicht das physische oder psychologische Früher oder Später, sondern ein reines Verhältnis der begrifflich systematischen Abhängigkeit“10. Im Unterschied zu einer nachträglichen Abstraktion, die von der Mannigfaltigkeit der Dinge ausgeht, sieht Cassirer einen „eigene[n] Akt des Denkens, eine freie Produktion bestimmter Relations-Zusammenhänge“ hervortreten: Die Mannigfaltigkeit wird erst geschaffen, „indem aus einem einfachen Akt der Setzung durch fortschreitende Synthese eine systematische Verknüpfung von Denkgebilden hervorgebracht wird“11. Die Serie, verstanden als grundlegendes Muster, übernimmt von den besonderen mathematischen Reihen das Charakteristikum der Relation, aber nicht die strenge Progressionslogik; diese stellt lediglich eine technische und damit verengte Bedeutung des Serienbegriffs dar.12 Was man alltagssprachlich eher als
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Cassirer 1980, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, 21. Ebd., 196. Ebd., 303. Ebd., 57. Ebd., 49. Ebd., 52. Ebd., 15. Im Englischen und in den romanischen Sprachen steht für die mathematische Reihe series, série etc. Zur Verengung auf einen spezifischen Terminus technicus, vgl. Devlin 1997, Muster
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Reihe bezeichnen würde, diese aneinandergereihten einzelnen Terme, heißt in der Mathematik Folge, während die mathematische Reihe Summe heißt, nämlich die Summe einer Reihe, bestehend aus Summanden als Termen. Um den Wert einer Reihe berechnen zu können, wird in der Mathematik „die Aufmerksamkeit vom Prozeß des Zusammenzählens der einzelnen Glieder auf das die Reihe beherrschende Muster“13 oder ihre Regel gelenkt. Am Beispiel einer geometrischen Reihe, bei welcher der jeweils nächste Term mit dem jeweils vorangegangenen und einer fixen Zahl r multipliziert wird, sieht das so aus: S = a + ar + ar2 + ar3 + ...; das Muster, das sich daraus ziehen oder ‚manipulieren‘ lässt: S = a/1-r (allerdings nur, sofern r < 1). Mathematische Folgen, englisch sequences und französisch suites, sind durch große Regelmäßigkeit gekennzeichnet, sowohl in ihrem Verhältnis zueinander gemäß einer Regel oder eines Musters als auch in ihrer Reihenfolge, die festgelegt und nicht verrückbar ist. Das mag Anlass dazu geben, Serialität vornehmlich mit Zeitlichkeit zu verbinden; allerdings funktioniert die zeitliche Abfolge von Früher und Später nur, wenn von einer linearen Zeit ausgegangen wird. Gerade die mathematischen Reihen können darauf hinweisen, dass es nicht um konkrete Zeitlichkeit geht, sondern um (abstrakte) Relationen. In diesen Reihen werden die einzelnen Glieder durch ein ‚Gesetz‘ verbunden, das die Regelmäßigkeit der Serie ergibt. Für das weitere Nachdenken über die Serie als Ordnungsmuster empfiehlt es sich trotzdem, das enge mathematische Reihenverständnis hinter sich zu lassen, sogar beim Mathematiker und Philosophen Leibniz, in dessen Schriften die Serie „ein elementarer Terminus des Systems“14 ist. Seine Serien können sowohl unter dem Aspekt einer Vielheit wie eines Ordnungsgesetzes betrachtet werden: [E]ine Serie ist ein Aggregat und ein Ordnungsgesetz. Daher die Bedeutung und die Reichweite des Pluralismus: Ensemble zahlreicher monadischer Elemente, gewiß, und es gibt eine wesentliche Multiplizität; aber auch Ensemble von Ordnungen, und der Pluralismus affiziert die Methode.15
Auch Cassirer sieht in der Zahl nicht nur eine „logische Abfolge von Denksetzungen“, sondern auch den „Ausdruck der Vielheit“16. Serres zieht sogar den Schluss, dass Leibniz einen ontologischen Pluralismus mit einer „méthodologie des lois de séries“17 verbindet.
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der Mathematik, 135: „Das ist wieder so ein Fall, wo Mathematiker ein alltägliches Wort nehmen und ihm eine bestimmte technische Bedeutung geben, die mit dem täglichen Sprachgebrauch oft nur wenig zu tun hat.“ Ebd., 137. Serres 1968, Le système de Leibniz et ses modèles mathématiques, 30 [Übers. Ch. B.]. Serres unterscheidet zwei Dimensionen der seriellen Ordnung: einmal die permutierbare Verteilung von Elementen gemäß einer Serie, dann die gekreuzte Verteilung von Serien, wobei er die zweite für signifikanter hält und betont, dass man sie auch deutlich in verschiedenartigen mathematischen Problemen wiederfinde, wie beispielsweise in der Spieltheorie (vgl. ebd., 31 f.). Ebd., 32 [Herv. i. O.; Übersetzung Ch. B.] Cassirer 1980, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, 53. Serres 1968, Le système de Leibniz et ses modèles mathématiques, 33.
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Zeitlichkeit Phänomenologische Ansätze unterscheiden zwischen messbarer und erfahrbarer Zeit, entsprechend sucht George Kubler nach einer anderen als der kalendarischen Zeit, die nur eine Dimension aufweist, in der die Ereignisse nacheinander angeordnet werden, eine Zeit, die problemlos gemessen werden kann. Auf der Suche nach einer Art der Dauer, die für Artefakte spezifisch ist und sich von der biologischen oder physikalischen Zeit unterscheidet, bezeichnet er die charakteristische Zeitspanne der von Menschen gemachten Dinge als formale Sequenz.18 Diese funktioniert mit früheren und späteren Positionen der Elemente, die bei Kubler Ereignisse heißen. Dabei bezieht er allerdings Dauer und Verläufe ein, baut die Zeit des Betrachters und der Betrachterin und damit eine selbstreflexive Ebene ein. Diese betrifft das Selbstverständnis des Historikers, denn mit seiner Tätigkeit ordnet er Dinge und Formen, kann damit eingreifen und sie genauso verändern. Die Geschichte der Dinge, wie der Untertitel seines Buches The Shape of Time lautet, reflektiert nicht nur die Entstehungsgeschichte von Artefakten, sondern genauso deren ‚Lebens‘-, Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte. In ihren ästhetischen Formen lässt sich eine spezifische Zeitlichkeit entziffern.19 Fragen, die Werke aufwerfen, laden zur erneuten Beschäftigung unter anderen Bedingungen ein, können „reaktiviert“ werden, worin Kubler eine offene Form seiner Sequenzen sieht, während die Sequenzen geschlossen werden, wenn die einstmals gestellten Fragen entweder nicht mehr interessieren oder als beantwortet gelten. Grundsätzlich stellt Kublers Sequenz eine offene Form bereit, und sie bietet ihm ein ‚Gerüst‘, um formale Beziehungen zu fassen: Sie „setzt einen inneren Zusammenhang der Ereignisse voraus und erweist dabei gleichzeitig das Sporadische, Unvorhersehbare und Unregelmäßige ihres Eintretens“20. Kubler definiert die Sequenz als „ein historisches Maschenwerk von graduell veränderten Wiederholungen desselben Merkmals“21 und schafft damit auch eine eigene formalästhetische und diachrone Klassifikation. Philip Fisher nimmt Kublers Sequenzansatz auf und entwickelt eine „strategy of the future’s past“: „[T]he work of art must become, at some moment of the future, a step within a sequence that anyone living at that moment of the future
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Dazu beruft er sich auch auf die mathematische Unterscheidung von Reihe und Folge. „Daher impliziert eine Reihe eine in sich geschlossene Gruppierung, eine Sequenz (engl. sequence) hingegen stellt sich als eine offene, expandierende Kategorie dar. Es ist für die weitere Erörterung sinnvoll, diese mathematische Unterscheidung beizubehalten.“ Kubler 1982, Die Form der Zeit, 72 [Herv. i. O.]. Wenn Kubler auf die Form fokussiert, stellt er sich gegen die kunsthistorischen Ansätze von Stilkunde und Bio- bzw. Monographien. Ebd., 74. Ebd., 76.
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will think of as its past.“22 Dies kommt anschaulich im Museum als einem spezifischen gesellschaftlichen Ort zum Ausdruck, an dem es um ein intellektuelles wie öffentliches Ordnen von Dingen geht. „The museum recoins and designs new uses for and access to, already existing objects, or, to be more precise, for already existing parts of social worlds of conflicting or alien uses.“23 Was ein Ding ausmacht, ist schon bei Kubler seine Position in der Reihenfolge – keine Frage der Essenz, vielmehr der Form. Dafür formuliert Kubler ein law of the series24, das verlangt, dass „jede Position für die ihr entsprechende Zeit besetzt wird, bevor die nächste Position eingenommen werden kann. [...] Jedes Einzelteil beanspruchte seine Zeit innerhalb der Ökonomie der zeitlichen Sequenz“25. Jede Abfolge gehorcht bestimmten Voraussetzungen, welche die Position betreffen und sich auf weitere mögliche Positionen auswirken. Dabei hat jedes Ding eine einzigartige Position, die „durch das Koordinatensystem des Ortes, des Alters und der Sequenz“26 gekennzeichnet ist. Artefakte wie Kunstwerke oder Texte wirken dabei nicht nur in die Zukunft, sondern auch in die Vergangenheit, verknüpft durch den immer wieder neu belebenden Blick der Betrachter und Betrachterinnen. Das auf Dinge zugreifende Ordnen verändert deren vergangene wie zukünftige Geschichte. Wie bei einer Bilderserie die räumliche Position der einzelnen Bilder Bedeutung generiert, geschieht dies auch mit der zeitlichen Position. Dem Alter kommt nicht nur ein kalendarischer, sondern auch ein systematischer Wert zu, nämlich dadurch, wie das Ding in der Reihenfolge positioniert ist. Da Dinge komplexe Gebilde sind, reicht eine Dimension nicht aus, sie weisen neben ihrem systematischen Alter ganze „Bündelungen von Merkmalen oder Aspekten“ auf, „die jeweils ein eigenes Alter haben wie andere Organisationsformen von Materie“27. Die Beziehungsbündel legen terminologisch einen strukturalistischen Zugriff auf Zeitlichkeit und Geschichte nahe, ohne diesen jedoch konzeptuell zu erörtern.
Diskontinuität Zwischen den einzelnen Elementen einer Serie bestehen nicht notwendig Verbindungslinien, wie das bei einem Netz der Fall ist, in dem die aneinandergereihten Elemente nicht nur direkt verbunden, überdies zu Kreuzungspunkten werden. Wie bei einer Karte können sich einzelne Elemente berühren, und sie 22 23 24
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Fisher 1991, Making and Effacing Art, 91. Allerdings berücksichtigt er Kublers Unterscheidung von series und sequence nicht. Ebd., 93. Kubler lässt hier Reihe und Folge zusammenfallen, insofern erstere die (geschlossene) Außenperspektive, letztere die (offene) Innenperspektive betreffe; vgl. Kubler 1982, Die Form der Zeit, 96. Ebd., 97 f. Ebd., 158. Ebd., 159.
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können durch Ähnlichkeiten oder bestimmte Wiederholungen Zusammenhänge anempfehlen. Eine Serie ist jedoch insbesondere durch Zwischenräume, Lücken und Leerstellen zwischen den einzelnen Elementen, also durch Diskontinuität gekennzeichnet; gerade sie erlaubt es, neue Zusammenhänge zwischen den Elementen zu stiften oder diese in eine andere Reihenfolge zu bringen. Die serielle Diskontinuität wird von einem Bild wie dem Baum mit einer bestimmten kontinuierlichen Narration überzogen, denn der Baum ist organisch gebaut und vermittelt mit Stamm oder Ast kontinuierliche Zusammenhänge; bei ihm findet sich Diskontinuität in der Tatsache, dass es mehrere Stämme bzw. Äste parallel geben kann und einzelne Äste enden, aber auch fast endlos weiter gehen können. Damit vermittelt das Baummuster ein lückenloses, wenn auch nicht notwendig starres Bild. Die Serie hingegen benötigt die Lücken zwischen den Elementen und stellt als Ganzes eine diskontinuierliche Einheit dar. Damit räumt sie als Muster Unterbrechungen, Sprünge und Zäsuren zwischen allen Elementen Raum ein, erlaubt den ‚Sprung auf die Bühne‘, etwa auch den Sprung einer taxonomischen Art auf die Bühne der Natur. Foucault nennt die Emergenz den „Punkt des Auftauchens“: „Die Emergenz, das ist also der Auftritt von Kräften; das ist ihr Einbruch, der Sprung, mit dem sie aus der Kulisse auf den Schauplatz springen“. Die Emergenz „ereignet sich immer im Zwischenraum“28. Zwischenräume gehören wesentlich zur Serie, die damit Raum lässt für (noch) Unerfasstes und somit aus Erfasstem wie Unerfasstem besteht. Wenn Ordnungsmuster mit ihrer spezifischen Anordnung einzelner Elemente bereits über ihre Form ein bestimmtes Wissen präsentieren, gesteht gerade die Serie mit ihren nicht definierten Zwischenräumen auch dem Nicht-Wissen von Anfang an einen Ort zu. Darin gleicht die Serie der Liste, auch wenn diese bedeutend stärker das Nacheinander betont. François Jullien hält in seiner Kunst der Liste fest, dass diese „zugleich autonom und sich selbst genügend“29 sein kann, nicht eingebunden in eine bestimmte Narration.30 Die Liste als nicht näher definiertes Muster scheint zunächst eine freie Aufzählung und Aufreihung zu erlauben, doch Jullien geht beispielsweise von der Verwirrung aus, welche Listen in literarischen Werken aus Asien in Europa auslösen können; man denke etwa auch an Borges’ chinesische Enzyklopädie31, die eine ungewohnte Taxonomie präsentiert. Jullien fragt danach, was hinter dem Reiz steckt, den der scheinbare „Mangel an Logik durch die Freude am Nichtzusammenpassenden, durch fröhliche Unordnung und Feinsinnigkeit kompensiert“32, und macht, gerade gegenüber der Kausallogik, auf andersartige Formen von Logik aufmerksam. So weist er auf die Wirksamkeit von Anordnungen hin und nimmt die „praktische Wirkkraft der
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Foucault 2001, Nietzsche, la généalogie, l’histoire, 1011 f. Jullien 2004, Die Kunst, Listen zu erstellen, 8. Zur Listenbildung im Umgang mit geerbten Dingen in der Gegenwartsliteratur vgl. Gisela Ecker „Aufgesparte gummiringe nie benutzte griffel“ im vierten Kapitel. Vgl. Borges 1992, Die analytische Sprache von John Wilkins, 115 f. Jullien 2004, Die Kunst, Listen zu erstellen, 11.
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Liste“33 in den Blick: „[E]in bestimmtes Dispositiv, das wirksam gemacht werden soll, indem man in strategischer Weise die Beziehungen des Antagonismus und der Korrelation nutzt, um die Erneuerung der Dynamik und ihre Kontinuität zu sichern.“34 Wie bei der Serie gilt auch hier: Die Liste ist statisch und dynamisch, und sie kann als unterdrückendes Ordnungsmuster fungieren, indem sie auf jede Rechtfertigung verzichtet und sich autoritär durchsetzt. Aber sie kann sich auch „am anderen Pol, dem des Reichtums“ realisieren, „offen für die freie Inspiration, das Vergnügen und die Schöpfung“35. Wenn Gilles Deleuze in seinem Foucault-Buch danach fragt, was ein Diagramm ist, kommen ebenso das statische wie das dynamische Moment zum Tragen: als „Ausstellung der Kräfteverhältnisse, die die Macht konstituieren“36. – „Die moderne Macht funktioniert wesentlich diagrammatisch.“37 In einem Diagramm werden die einzelnen Elemente untereinander in Beziehung gesetzt, ohne dass sie eine personale oder juristische Repräsentation verkörpern, weshalb sich von einer „Defigurierung der Macht“38 sprechen lässt. Im Hermes-Band III, Übersetzung, bezeichnet Serres Kette, Baum und Netz als geordnete Folge, wobei er das Netz die „Ordnung der Ordnungen“ nennt: „Nicht in der Zeit des Fortschritts, sondern in der Form des Wissens.“39 Wenn er davon spricht, aus dem Netz einen Baum herauszuschneiden und aus dem Baum eine Kette40 – die beiden paradigmatischen Musterbilder für die klassische Wissenschaft –, dann macht er diese zu ‚Schachtelformen‘, Verschachtelungen ähnlich den Matrjoschkas, „eine Projektion des Baumes, eine andere Art, den Baum zu zeichnen“41. Entsprechend deklariert er die Kette zum einfachsten Ordnungselement, doch damit wird immer noch ein Bild transportiert. Wenn jedoch diese Grundstruktur betont werden soll, ohne ihr schon ein Bild oder eine Bedeutung zu verschaffen, ist der Terminus der Serie vorzuziehen, da er das Augenmerk rein auf die Form richtet, Einzelelemente betont, die gerade nicht wie etwa in einer Kette miteinander als Kettenglieder fest, nämlich genau auf diese eine Art und Weise verknüpft sind, obwohl sie in Relationen zueinander stehen beziehungsweise gesetzt werden.
33 34 35 36 37 38 39 40
41
Ebd., 12. Ebd., 12 f. Ebd., 13. Deleuze/Foucault 1986, Collection „Critique“, 44. Balke 1996, Fluchtlinien des Staates, 169. Ebd., 170 [Herv. i. O.]. Serres 1992, Hermes, 31. „Was ist nun die klassische Wissenschaft? Sie besteht darin, einen Punkt des Netzes festzulegen, eine Kette mit nur einem Anfangsglied, einen Baum mit einem einzigen Gipfel [...]. Einen Baum aus dem Netz herausschneiden und in der spezifischen Differenz die Wege des Baumes, das heißt dessen Relationen definieren. Aus dem Baum eine Kette herausschneiden. So ist denn die geordnete Folge: Kette, Baum, Netz“, ebd., 31 f. [Herv. i.O.]. Ebd., 46.
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Serialität in künstlerischer Produktion, Präsentation und Rezeption Die bisherigen Überlegungen machen offensichtlich, dass die Serie nicht primär als ein Gegenstand zu verstehen ist, sondern als eine Art und Weise der Produktion, Präsentation und Rezeption.42 In der künstlerischen Praxis entstehen Serien durch die Aneinanderreihung von meist mehr als zwei Elementen, die Wiederholungen sein können, aber nicht müssen. In literarischer Hinsicht können Serien aus einzelnen Erzählungen wie etwa in den Erzählungen aus 1001 Nacht entstehen, aber auch aus Text- oder sogar lediglich Sprachelementen, die durch Aneinanderreihung eine Struktur und eine Narration generieren.43 Serien in der bildenden Kunst bringen besonders anschaulich eine serielle Praxis bzw. eine Praxis in Serie zum Ausdruck, die etwa auch durch Wiederholungen Motive umkreisen, variieren und damit einen Gegenstand auf vielfältige Weise einzufangen suchen.44 Von einer weiter gefassten künstlerischen Praxis, mit der Serien produziert werden, lassen sich serielle Verfahren als künstlerische Methoden unterscheiden. Programmatisch statuiert Mel Bochner in den Serial Sixites: „Serial order is a method, not a style“.45 Mit diesem Akzent wird der Produktionsaspekt eines Kunstwerks in den Vordergrund gerückt. Anschauliche Beispiele liefern – neben Pop Art – Minimal Art und Farbfeldmalerei, die nach mehr oder weniger strengen Regeln entstehen und sich folgendermaßen unterscheiden lassen: Variation (Abwandlung innerhalb gesetzter Parameter), Permutation (radikalisierte Methode der Variation: jede mögliche Änderung der Ordnung innerhalb gesetzter Parameter wird ausgeführt), Progression (gemäß einer oft mathematischen Regel, z. B. Fibonacci-Reihe), serielle Reihung (meist Wiederholung standardisierter, gleicher und damit austauschbarer Elemente in gleichem Abstand), Rotation (Achsenumdrehung) und Reversion (Inversionsdrehung).46 Auch wenn hier der Produktionsaspekt im Vordergrund steht, ist die ausgewählte Regel oder das zugrunde gelegte Konzept, das den Gang der Realisierung bestimmt, auch am abgeschlossenen Werk noch zu sehen. Sowohl die programmatische serielle Konzeption eines Werkes als auch die systematische Durchführung orientieren sich an einer mathematischen Objektivität, die in der Kunst als ein „Antidot gegen zuviel Innerlichkeit und Expressivität“47 gesehen wurde. Andererseits führt die mit seriellen Verfahren auch oft verbundene technisch-industrielle Herstellung, gerade in den Industrieobjekten der Minimal Art, 42 43
44 45 46 47
Vgl. Blättler 2003, Überlegungen zu Serialität als ästhetischem Begriff; dies. (Hg.) 2010, Kunst der Serie. Die Serie in den Künsten. Barbara Natalie Nagel untersucht in ihrem Beitrag „Enjambement des Rests“ im vierten Kapitel die Rahmenerzählung von Scheherazade und dem König Schahrayâr unter dem Aspekt des Enjambements eines Restes, der die immer folgende Erzählung generiert. Vgl. Schneede/Heinrich (Hg.) 2001, Monets Vermächtnis (Ausstellungskatalog). Bochner 1967, The Serial Attitude, 28. Vgl. van Lil 2001, This and this and this; Bochner 1967, The Serial Attitude, 31. Heinrich 2001, Serie – Obsession und Ordnung, 11.
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nicht nur dazu, dass sich individuelle Kreativität und technische Reproduktion verbinden, sondern durch paradigmatische Repetition auch eine Ablösung von repräsentierender Gegenständlichkeit zu beobachten ist.48 In der Präsentation von Serien wird, zunächst unabhängig von ihrer Produktion, eine geordnete Gleichzeitigkeit evoziert und zwischen Elementen, die auch unabhängig voneinander entstanden sein können, ein Zusammenhang behauptet. Ausstellungen machen dies besonders deutlich. Für Bertrand Rougé geht es denn bei der Serie vornehmlich darum, „dass sie kein Objekt ist, vielmehr ein Modus der Präsentation“49. In der Art und Weise der Präsentation macht Rougé den Diskurs aus, der den einzelnen Elementen durch ihre Anordnung auferlegt wird.50 Die Präsentation einer Serie kann auch auf ihre Produktion im Sinne ihrer „inneren Struktur“51 zurückweisen, sie kann jedoch genauso ‚falsche‘ Fährten legen. Ein Ordnungsmuster kann seinen Elementen eine „Rhetorik der Macht“52 einschreiben und die „Gewalt serieller Ordnungsmuster“53 thematisieren, die gebannt werden könne, indem sie reflektiert und problematisiert wird. Genauso kann jedoch eine bestimmte Serie auf reflexive Weise einen oder mehrere Diskurse evozieren und eine plurale Rezeption ermöglichen. Gegenüber der räumlichen Anordnung in einem Museum können Text- und Schriftserien nur als zeitliche Aneinanderreihung rezipiert werden. Im rezeptiven Akt lässt sich jedoch gerade über serielle Methoden trotzdem Simultaneität provozieren. Das lineare zeitliche Nacheinander kann durch Wiederholungsmuster aufgebrochen, zeitlich Getrenntes in gleichzeitiger Wahrnehmung in Beziehung gesetzt werden. Literarische Beispiele hat etwa Gilles Deleuze dahingehend erkundet, wie sie serielle Ordnung herstellen und entsprechend für Denkprozesse relevant werden können. Nicht überraschend stehen immer schon differente Wiederholungen, die sich nicht auf ein Erstes beziehen und somit auch nicht als Thema mit Variationen zu verstehen sind, im Zentrum des Interesses, wie er u. a. an den beiden „grands répétiteurs de la littérature“54 – Raymond Roussel und Charles Péguy – erläutert. Paradigmatisch sieht Deleuze das „moderne Kunstwerk“ dadurch gekennzeichnet, dass es eines Sinnzentrums entbehrt und mit konvergierenden, nicht auseinander folgenden und in diesem Sinne gleichzeitig erzählten Geschichten eine dezentrale Einheit divergenter Serien herstellt. In Logique du sens entwickelt er eine ganze literarisch-philosophische Strategie der Serie, die sich auch in der Struktur dieses ‚Romans‘ ausdrückt, der nicht in Kapiteln, sondern in
48 49 50 51 52 53 54
Vgl. Attali 1977, Bruits, 166-168. Rougé 1994, Splitting Cicadas, 155 [Herv. i. O.]. „[L]a série est un mode de présentation que sous-tend ou qui sous-tend un discours“ (ebd.). Giesenfeld 1994, Serialität als Erzählstrategie in der Literatur, 1. Vgl. Chave 1998, Minimalismus und die Rhetorik der Macht. Zitko 1998, Der Ritus der Wiederholung, 180. Als Beispiel verweist er auf Bruce Naumann, der verschiedene serielle Strukturen verwendet. Deleuze 2000, Différence et répétition, 34.
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Serien von Paradoxen angelegt ist. Die einzelnen Paradoxe wie die Serienkapitel entwickeln sich nicht gemäß einer kausalen Logik argumentativ auseinander, sondern erkunden immer wieder von Neuem das Wechselspiel von Sinn und Nicht-Sinn bzw. Unsinn, indem sie auf unbewusste Relationen einer Traumlogik setzen oder topische Figuren inszenieren. Wenn Serien unter dem Aspekt einer Konstellation betrachtet werden, gerät weniger ein automatisches als vielmehr ein setzendes Verfahren in den Blick. Eine Konstellation fragt genauso wenig wie eine Serie nach kausallogischen Zusammenhängen (‚Einflüssen‘), vielmehr ist es die Zusammenstellung, die Bezüge stiftet. In einer Konstellation liegt der Akzent bewusst auf der Seite eines Subjektes, das bestimmte Elemente in eine Beziehung setzt und damit ausdrücklich die Gestaltung eines Objektes, eines Gegenstandes zum Thema macht, was dialektische Reflexivität erfordert und Nachträglichkeit konstitutiv werden lässt. Als „theoretische Figur“ spannt die Konstellation ein Bezugsgeflecht auf, „das sich unter dem unumgänglich nachträglichen Blick erzeugt. […] Denn das Gegenwärtige ist nicht einfach Resultat einer Vergangenheit, sondern es bildet sich in dem Licht, das aus der Zukunft des Vergangenen auf diese fällt.“55 Ein derartiges Verständnis unterscheidet sich von einer Konstellationsforschung, die darauf zielt, denkgeschichtliche Kontexte und Beziehungen von Gedanken und Personen zu rekonstruieren und diese synthetisch zu betrachten, wie dies philosophiehistorisch etabliert ist.56 „Aspekte einer Theorie der Konstellation“ ermöglichen nicht nur der Literaturwissenschaft, sondern auch der Philosophie eine metatheoretische Reflexion über die Frage der Darstellung, die auch für ein Ordnungsmuster wie die Serie bedenkenswert ist. So hebt diese Art der Konstellationsforschung die „(Selbst-)Reflexion der Gegenstandsbildung“ und den „konstruktiven Charakter[]“57 gerade in formaler Hinsicht hervor.
Serielle Mechanismen und Spielräume Bei Serien wird der Fokus gern vom Subjekt weg auf einen davon oft als unabhängig beschriebenen ‚objektiven‘ Vorgang gelenkt, auf einen Mechanismus, eine Regel oder gar ein Gesetz der Serie. Dass auch diese durchaus durch Entscheidungen seitens eines Subjekts entstanden sind, nämlich durch die Auswahl und Festlegung bestimmter Parameter, wird dabei oft vergessen oder sogar unterschlagen. Von anderen gesetzte Ordnungsregeln werden rasch als Zwang, auch als Sachzwang wahrgenommen. Deshalb wird vielleicht bei der Serienfi-
55 56 57
Schuller 1997, Moderne, Verluste, 10. Vgl. Henrich 1991, Konstellationen; zuletzt: ders. 2005, Konstellationsforschung zur klassischen deutschen Philosophie. Krauß 2011, Lenz unter anderem, 78 Anm.
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gur gern der Wiederholungszwang betrachtet, da hier ebenfalls das über die Regel verfügende bewusste Subjekt wegfällt, vielmehr unbewusst diesem Zwang unterliegt und ihn ausagiert. Jean Baudrillard macht in Le système des objets von 1968 das jeweils letzte Element der Serie als die Person aus, die sammelt, und lenkt so den Blick auch auf die psychologische Ebene und die Beziehung, die der Sammler mit seiner Sammlung unterhält. Im Mittelpunkt stehen hier Wiederholungen, die laut Baudrillard Sicherheit geben sollen, wie im neurotischen Wiederholungszwang. Auch Serien haben es nach Baudrillard mit Ordnung und Obsession zu tun.58 Sein Sammler hat die Macht, seinen eigenen Kosmos zu schaffen und diesen mit seinen eigenen Regeln zu überblicken. Gleichzeitig hat er aber auch Angst, diese Macht zu verlieren. Damit es immer so weiter geht, scheut er sich vor dem letzten Element, das diesen Rhythmus abbrechen würde, da es der Serie – und auch seinem Sammlerleben − ein Ende setzte.59 Letztlich macht der Sammler bei Baudrillard seinen Wiederholungszwang fruchtbar, indem er diesem zwar unterliegt, aber dennoch mit ihm etwas schafft. Dies gilt bekanntlich genauso für die Literatur, in der sich ein Text in ‚subjektloser Produktivität‘60 artikulieren kann. Ob ein Subjekt nun einem Wiederholungszwang unterliegt oder sich einer Regel unterwirft, in beiden Fällen verliert es seinen Status als verfügender Schöpfer − auch in diesem Zusammenhang drängt sich die Rede vom Tod des Autors auf.61 Dass die Hand eines Subjekts jedoch immer mit im Spiel ist, wird leicht vergessen, dabei ist sie es, welche die Parameter festlegt und das Material bestimmt. So bemerkt Baudrillard treffend, es gebe keine „größere Koketterie für die Subjektivität, als sich dem seriellen Automatismus zu verschreiben“62. In einer Regeln unterworfenen eigenständigen Mechanik im Kombinationsspiel können sich eine unerwartete Sinnhaftigkeit oder eine unvorhergesehene Wirkung zeigen, die das Bewusstsein voller Absicht so nicht hätte erreichen können.63 Exemplarisch praktiziert wurde das kombinatorische Spiel in der Gruppe Oulipo, dem Ouvroir de la littérature potentielle, zu dem unter anderen Oskar Pastior, Raymond Queneau, Italo Calvino und Marcel Duchamp zählten. Oulipo übte in einer Art Werkstätte die „contrainte“, die kreative Beschränkung. Darunter ist ein Formzwang zu verstehen, der durch das Verhindern bestimmter und bekannter Formen neue, bisher vernachlässigte Darstellungsformen ermöglicht bzw. zum Vorschein bringt. Die Struktur eines Textes steht im Zentrum, und sie soll auch dem Leser und der Leserin bewusst werden, allerdings nicht durch ein Autor-Subjekt. Damit wird Roland Barthes’ Diktum vom „Tod des Autors“ Rechnung getragen, das die Vorstellung von der völligen Kontrolle eines Schriftstellers über seine eigene Schöpfung zugunsten eines textuellen 58 59 60 61 62 63
Vgl. Baudrillard 1968, Le système des objets, 120-150. Vgl. ebd., 128. Vgl. Barthes 1973, Le plaisir du texte. Vgl. Barthes 1968, La mort de l’auteur, 61-67. Baudrillard 1972, Pour une critique de lʼéconomie politique du signe, 124. Vgl. ebd., 22 und 214 f.
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„Eigenlebens“ verabschiedet hat – dies nicht nur in produktions- oder rezeptionsästhetischer Hinsicht, sondern genauso bezüglich der Darstellung. So reflektiert Italo Calvino darüber, was es heißt, literarisch zu schreiben, und welche Rolle der Autor darin einnimmt. Ausgehend von der Erfahrung, dass sich das Autor-Subjekt beim Schreiben auflöst oder fragmentiert, fasst Calvino – selber Mitglied von Oulipo – den Schriftsteller als schreibende Maschine: Literatur entstehe aus einer Reihe hartnäckiger Versuche, ein Wort hinter das andere zu bringen und dabei gewisse festgelegte Regeln zu befolgen. Häufiger handelt es sich weder um definierte noch um definierbare Regeln, vielmehr sind diese aus einer Reihe von Beispielen, Protokollen oder Regeln extrapolierbar, die der Autor eigens dafür erfunden hat. Im Wortspiel sollte sich durch die eigenständige Mechanik im Kombinationsspiel eine neue Darstellung, aber auch eine unerwartete Sinnhaftigkeit oder eine unvorhergesehene Wirkung zeigen, die das Bewusstsein absichtlich nicht hätte erreichen können64: [D]ie Literatur ist insofern ein kombinatorisches Spiel, als sie den impliziten Möglichkeiten ihres eigenen Materials folgt, unabhängig von der Persönlichkeit des Dichters, aber es ist ein Spiel, das sich an einem bestimmten Punkt von einem unerwarteten Signifikat angezettelt findet.65
Das Ausprobieren und die sprachlichen Versuche können aus all den Kombinationsmöglichkeiten Unvorhersehbares herauslösen, und zwar auf Produktionswie Rezeptionsseite, beim Schreiben wie beim Lesen. In Cibernetica e fantasmi schreibt Calvino 1967 von einer Serie von Versuchen – wie er versuchte, sich an diverse bestehende und selbst gemachte Regeln zu halten. Das Systematische, Endliche und Diskrete erleichtere und beruhige ihn, nehme ihm das Schwindelgefühl angesichts eines unendlichen Kontinuums und der unzählbaren Möglichkeiten. Ein anderes Mitglied von Oulipo, Raymond Quenau, verfasste Cent mille milliards de poèmes, das sich nicht als Gedichtband präsentiert, sondern als rudimentäres Modell einer Maschine zur Konstruktion unterschiedlicher Sonette und ein Beispiel dafür gibt, was Calvino die „macchina letteraria“66 nennt. Die zehn Sonette à 14 Zeilen sind nach demselben Reimschema gebaut, so dass jede beliebige erste mit jeder beliebigen zweiten Zeile etc. kombiniert werden kann. Die Originalausgabe ermöglicht dies auch auf haptischer und optischer Ebene, denn die Sonette sind zeilenweise eingeschnitten und können beliebig umgeblättert werden. Auch die konkrete Poesie arbeitet in vergleichbarer Weise an der visuellen und phonetischen Darstellung, jede Repräsentation bzw. Verweisfunktion sollte wegfallen und die Sprache sich selbst präsentieren. Sprachspielerische und konkrete Literaturen zielen damit auf die Darstellung des Experiments im Sprachmaterial selbst ab. 64 65 66
Vgl. auch die ausgewählten Gedichte von Regina Hilber aus dem Brandenburg-Zyklus tagwerk X im zweiten Kapitel. Calvino 1995, Cibernetica e fantasmi, 214 f. Ebd., 215.
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Calvinos literarische Maschine lässt die Serie in Form des Experiments in verschiedenen Facetten zum Tragen kommen: Es macht bestehende Diskurse sichtbar, indem es sie bestätigt oder erst entdeckt; und es wagt einen Versuch, dessen Ausgang unsicher und ungewiss ist – dies im Unterschied zu Queneaus strenger Sonettmaschine. Aus Calvinos literarischer Maschine resultiert keine vordeterminierte Literatur. Die sprachlichen Versuche lösen aus dem Meer der Kombinationsmöglichkeiten Unvorhersehbares heraus, und zwar sowohl auf Produktions- wie Rezeptionsseite, beim Schreiben wie beim Lesen. Darin liegt auch der vorsichtig optimistische Schluss, den Calvino zieht: Die Kombinationsversuche, welche die Probe aufs Exempel machen, eröffnen ungeahnte Freiheitsgrade, ästhetisch und ethisch. So bringt Calvino auch semantisch, nicht nur akustisch, sperimento, das Experiment, mit der Hoffnung, la speranza, zusammen. Auch an diesem Beispiel wird die Ambivalenz von Serien deutlich. Eine damit dargestellte Ordnung kann eine Lesart zwingend vorgeben oder verschiedene mögliche Lektüren anstoßen; die serielle Ordnung exponiert eine Spannung zwischen Teil und Ganzem, die konstitutiv ist, aber auch nach der einen oder anderen Seite hin gewichtet werden kann. Serien können offen wie geschlossen sein, je nachdem ob und inwiefern dies methodisch angelegt ist; und formal stellt die Serie ein Paradox dar, da sie aus Diskontinuitäten Kontinuität herstellt, und mit ihrem je spezifischen Rhythmus von disparater Polyphonie über einfache Redundanz bis zu Suggestion reichen kann.
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DIE FINGER IM VORHANG DES ARCHIVS UND ANDERE ZAUNGÄSTE – MATTHIAS MEGYERI: HANGINGS (SEIT 2009)1
Ist die Benutzung eines Archivs der Klassifikation der Ablage ausgeliefert, oder überschreitet das menschliche Assoziieren permanent jede Klassifikation? Matthias Megyeri montierte in einer einwöchigen Aktion an der Akademie Schloss Solitude (2008) alle Fotos aus seinem persönlichen künstlerischen Archiv in einem 300 m2 Wandfläche messenden Ausstellungsraum, dem sogenannten Oberen Hirschgang. 20.000 Fotos aus den letzten fünf Jahren mussten binnen sechs Tagen gehängt werden. Daraus ergab sich inklusive der Wege kreuz und quer, die Leiter treppauf und treppab, ein errechneter Rhythmus von ca. fünf Bildern, die pro Minute an elf Stunden pro Tag gehängt werden mussten. Der dichte Takt machte langes Nachdenken unmöglich und verlagerte die Logik der Hängung auf spontan entstehende Zusammenhänge dieser Einzelfotos, die sowohl künstlerische Fotografien wie auch zahlreiche ‚geknipste‘ Fotos von großer Beiläufigkeit und uneindeutigem Interessenfokus umfassten. Nach und nach entstanden wachsende Bäume aus assoziativ miteinander verbundenen Bildern, zwischen denen Verästelungen durch Ähnlichkeiten, durch Assoziierbares oder Erinnerungen wuchsen. Während eine ikonische Landkarte der Bewegungen eines Menschen im Raum auf der Galeriewand entstand, konnten die Zuschauerinnen und Zuschauer – geographische Zusammenhänge, farbliche oder thematische Bezüge herstellend – sukzessiv mitverfolgen, wie die Fotos sich in Inseln und Stalaktiten bis unter die Decke ausbreiteten. Die Ansicht in der Krümmung der Galerie vermittelte den Eindruck einer potentiell unendlichen Fortsetzbarkeit der Installation. Die Stuttgarter Arbeit war der Ausgangspunkt für Megyeris seither definierte künstlerische Arbeitsweise und fortlaufende Serie der Hangings – ephemere Fotoinstallationen vorwiegend in städtischen Außenräumen.2 Auf Reisen durch Europa entstanden in Großstädten wie Warschau, Straßburg, Budapest, in Berlin oder London zahlreiche Fotos von Orten und Begegnungen, festgehalten beim Erleben der Stadt in einer schwebenden Aufmerksamkeit. Für die Installationen dieser Fotos kehrt Megyeri in die jeweilige Stadt mit Hunderten bis Tausenden Fotos im Gepäck zurück. Diese Fotos sind keine 1 2
Im Tafelteil dieses Bandes finden sich beide Abbildungen dieses Beitrags im Vierfarbdruck. Eine künstlerische Neuordnung des eigenen Archivs nimmt auch die Künstlerin Heidemarie von Wedel vor (siehe Tafelteil), vgl. dazu auch das Essay von Bärbel Küster über die Künstlerin im zweiten Kapitel.
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Erinnerungsstücke, es sind auch nicht nur Eindrücke von Reisen, keine ästhetisch durchkomponierten Kunstwerke, sondern Schnappschüsse ebenso wie Dokumentationen: Sie entziehen sich einer genauen Klassifizierung und sollen als Fotos etwas Beiläufiges, Unartifizielles auch Belangloses behalten. Deshalb werden für Hangings nur einfache Standardabzüge verwendet. Für Megyeri stehen sie als bewusst gewähltes Medium für die Trillionen jährlich geknipster Fotos unserer Zeit, die oft erst durch den Papierabzug die persönliche Wertschätzung der festgehaltenen Situation zurückerhalten. Bei den Hängungen reagiert Megyeri mit ‚kognitiver Leichtigkeit‘3 auf gedankliche oder visuelle Zusammenhänge zwischen den Fotos und den Orten, die er oft spontan findet. Im Zustand schwebender Aufmerksamkeit reagiert er auf städtische Räume wie auch auf die Zusammenstellung aus seinem eigenen Archiv der Bilder. Manchmal erweitert es sich zum Labor eines ‚isochronischen Archivs‘, aus dem während des Aufenthaltes weitere Bilder vom Ort eingespeist werden. Mehr als mit ‚Dokumenten‘ arbeitet Megyeri hier mit Spuren seiner künstlerischen und menschlichen Existenz, die Absichten der Bildproduktion werden ausgeblendet, die Evidenz für den Betrachter zunächst auf die Sichtbarkeit reduziert. Man sieht Menschen in Gärten oder auf der Straße, manchmal Freunde des Künstlers, aber auch Bilder von öffentlichen Orten, Werbung, Ausschnitte, Details, Szenen, Straßen und Häuser. Von den Installationen bleiben später nur die Fotos.4 Diese Fotos sind keine Dokumentationen, sondern eigenständiges Kunstwerk: durchkomponierte Fotografien als Bild einer Situation im öffentlichen Stadtraum.
1 − Matthias Megyeri, Hanging #30, Strasbourg, 2010 3 4
Kahnemann 2011, Schnelles Denken, 2011; zur kognitiven Leichtigkeit vgl. hier 81-95, zum assoziativen Gedächtnis bes. 91 f. Megyeri hat auch wenige Filme der Hängungen erstellt, die aus der Montage vor Ort dann mehr Performances machten, die mit aufgebauten Kameras und einem ganzen Team mehr Aufmerksamkeit erregten. Gerade deshalb aber ist die überzeugendere Variante alleine und im Stillen zu arbeiten.
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In Straßburg, einer Stadt der Street Art − bekannt für ihre frühe Entwicklung der stencils −, die in einigen Gegenden voller Graffiti ist, suchte er sich eine Hauswand mit bröckelndem Verputz aus, die Spuren verschiedenfarbiger Bemalung zeigt. Darauf hat ein Sprayer in unbekannter Zeit mit violetter Blockschrift die Parole gesprüht: „PAS DE GUERRE ENTRE LES PEUPLES, PAS DE PAIX ENTRE LES CLASSES“ – „Kein Krieg unter den Völkern, kein Frieden zwischen den Klassen“. Die Schrift ist zeitlos, sie ist stilistisch weder einem Graffiti-Künstler noch einer bestimmten Mode des Sprayens zuzuordnen. Gleichwohl trägt sie selbst Spuren der Verwitterung im Putz und in den Farbschichten, die sich mit dem rissigen Mörtel der Wand aufwerfen. Die Parole überlagert einige ältere Schichten der Wand, wie zum Beispiel die Löcher in der Bildmitte, die an Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg erinnern, dessen Spuren in vielen Städten bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts sichtbar blieben. Der Kampf für den Frieden und der Klassenkampf gehen also weiter, indem Megyeri sich in diese Parole mit seinen Fotos einschreibt, indem er zwischen die Buchstaben, die Farbinseln und Schrunden der Wand seine Fotos hängt. Es sind Fotos des Unterwegsseins. Einen Reisebus erkennt man, aber auch etliche Fotos von bunten Graffitis in städtischen Räumen, Werbung, Straßenfotos, bemalte Hauswände und Menschen. Mit den eingeschleusten Fotos einer eigenen Zeit installiert er eine Momentaufnahme, die die Aktualität der Parole noch einmal herausfordert.
2 − Matthias Megyeri, Hanging #24, Budapest, 2010
In Budapest wurde eine Auswahl an Fotos auf die Scheiben eines Bürogebäudes gehängt. Der Bildausschnitt zeigt uns ein Triptychon grau gerahmter, geschosshoher Glasscheiben über einem schmalen Sockel. Unten sehen wir die schlecht sitzenden Blendsteine in Schwarz und ein nur halb verschlossenes Lüftungsgitter. Das Büro hat, um den Einblick in die Arbeitsräume zu verhindern – aller gläsernen Bürohausästhetik zum Trotz –, eine Lamellengardine angebracht, die
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offenbar schon geraume Zeit hier hängt. Jedenfalls haben die Büropflanzen begonnen, sich den Weg zum Licht durch die Schlitze der Lamellen zu suchen. Die Palme rechts umfängt und verformt mit ihren Blättern das senkrechte Raster, und auch sonst sind die Lamellen irgendwie in Unordnung geraten. Nicht nur schieben sich von innen die Finger der Palmblätter nach außen hindurch, sondern in umgekehrter Richtung können nun auch die Blicke der Passanten nach innen dringen. Im Foto des Büroraums spiegelt die doppelte ‚Fassade‘ von Lamellen und Fensterglas so stark, dass die Szenerie der Aufnahme auf der Straße sichtbar wird: Der Fotograf steht in der Bildmitte und fängt seine Installation ein, gegenüberliegende Leuchtreklamen scheinen auf, ein Passant blickt interessiert auf das Dutzend aufgehängter Fotos von Hausansichten, Straßenszenen, Schaufensteransichten, Detailaufnahmen von Utensilien. Die „Finger“ von Megyeris Installation öffnen visuelle Prozesse zwischen Ein- und Ausschlussmechanismen als Durchlässe zwischen Öffentlichem, Halböffentlichem und Privatem. Das Glas wird zur öffentlichen ‚Wand‘, die Glasscheiben zum Bildträger, und der Künstler macht sich selbst zum Zaungast im ‚Archiv‘ der fortgesetzten Welterfahrung, die den Raum fortlaufend verändert.
Response to the archive Megyeris Arbeit mit dem eigenen Archiv befreit sich von den künstlerischen Formen „archivarischer Praktiken“, insofern er die Fiktion des Archivs, das notgedrungen mit einer Taxonomie arbeiten muss, wiederholt über seine persönlichen Assoziationen neu konfiguriert. Zwischen den drei realen Speichern seiner Bilder – zum einen das „Living Archive“, ein physisches Archiv von ca. 150.000 Fotoabzügen, für das er ein von allen Seiten benutzbares hölzernes Archivmöbel designt hat, zum zweiten eine digitale Archivierung nach Jahresdaten der Fotos und zum dritten persönliche, mentale Assoziationen und Erinnerungen an Bilder – entstehen unvorhersehbare Kombinationsmöglichkeiten, die jedoch weder nach Strukturprinzipien noch nach Klassifikationen gewonnen werden. Dass er dafür auch den Stadtraum als Installationsort, Erlebnisraum und Bezugspunkt benötigt, stellt das Persönliche und Private in den Kontext der Vergesellschaftung und der sozialen „Raumproduktion“.5 Die Vorgänge in Megyeris Auseinandersetzung mit der Archivierung konterkarieren die Prämisse, die Beatrice von Bismarck für künstlerische archivarische Praktiken aufgestellt hat: „Es bedarf einer Distanzierung gegenüber der eigenen aktuellen und nicht abgeschlossenen Praxis, um sie der Archivierung zu unterziehen.“6 Es ist gerade nicht die distanzierende Ablage im Archiv, die seine Arbeit ermöglicht, sondern der physische Umgang mit Bild und Raum. Und so überführt Megyeri die Fotos seines Archivs, ohne an Ordnungen oder Klassifizierungen zu 5 6
Lefebvre 1974, Espace; vgl. hierzu: Shields 2011, Henri Lefebvre, 281 f. Von Bismarck 1997, Arena Archiv, 116. Vgl. ebenfalls von Bismarck 1998, Perspektiven.
DIE FINGER IM VORHANG DES ARCHIVS UND ANDERE ZAUNGÄSTE
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arbeiten, in eine performative Praxis, die sich in ihrer Offenheit auch auf die polymorphe Utopie eines öffentlichen Raumes und die sozialen Möglichkeiten seiner Aneignung einlässt. Megyeri, der auch mit einer eigens gegründeten Sicherheitsfirma und der Marke „Sweet Dreams Security®“ als Designer mit dem öffentlichen Raum arbeitet, bringt mit der Serie Hangings Fotos aus seinem Archiv in den „Raum aller möglichen Äußerungen“ zurück.7 Anders als in den Fotoarbeiten von Jörg Sasse, der stärker auf zufallsgenerierte Strukturen und Variationen des Archivs setzt, anders als Taryn Simon, die mit ihren Archivarbeiten das Unbekannte und (politisch) Verdrängte aufstöbert, oder auch anders als z. B. in den Fotoarchivierungen der RAF-Bilder durch Hans-Peter Feldmann, Peter Pillers real-skurrile oder Zoe Leonhards fiktive Archive setzt Megyeri auf eine skulpturale Rückführung des privaten Künstlerarchivs in die Öffentlichkeit durch die Physis. Die Verbindungen durch die assoziative Vorgehensweise sind radikal individualisiert – sowohl beim Künstler als auch beim Betrachter. Denn Megyeris eigentliches Thema sind die beschriebenen permanenten Grenzübertritte zwischen Öffentlich und Privat, die aber keine vorgegebene Logik des Künstlers nachvollziehen, sondern deren Anspruch es ist, ins Offene zu spielen. Er tippt den sich vorbeibewegenden Menschen, den Flaneuren und Gehenden leicht auf die Schulter und zeigt ihnen andere Räume, deren Charakter ein dialektisches Private Public bestimmt.8 Megyeris Serie der Hangings eignet sich nicht nur Räume an, sondern erweitert den persönlichen Eingriff auch in den Stadtraum: Die Fotos bleiben hängen, flattern im Aufwind der Hochhäuser, Vorbeikommende können sie mitnehmen, sie sind dem Wetter ausgesetzt und vergehen wie das Herbstlaub, das vor der Straßburger Wand auf dem Boden liegt. Die Wand, die Farbe, das Glas, die papiernen Blätter, die Schrift und die Fotos – jedes Material dieser Installationen hat seine eigene Zeit und Perspektive.
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Foucault 2006, Von anderen Räumen. Otterbach 2011, Private Public.
MARION PICKER
KARTOGRAPHIE ALS SAMMLUNG. DIE KOSMOLOGISCHE KONZEPTION DES KARTENSAALS IM FLORENTINER PALAZZO VECCHIO
For of Meridians, and Parallels, Man hath weaued out a net, and this net throwne Vpon the Heauens, and now they are his owne. Loth to goe vp the hill, or labour thus To goe to heauen, we make heauen come to vs. We spur, we raigne the stars, and in their race They’re diuersly content t’obey our p[...]ace, But keepes the earth her round proportion still? Doth not a Tenerif, or higher Hill Rise so high like a Rocke, that one might thinke The floating Moone would shipwracke there, and sinke?1
Mit grimmigem Humor stellt John Donne in diesem kurzen Ausschnitt aus „Die Anatomie der Welt“ das immer noch gültige Verfahren kartographischer Sammlung dar: Jedem Ort der Erdoberfläche oder des Himmelsrundes werden geographische Breiten- und Längengrade zugeordnet. Die Bildlichkeit für die Aneignung des Himmels und der Erde verschiebt sich bei ihm dabei vom Auswerfen eines Netzes hin zur schwierigen Beherrschung eines Pferdegespanns. Was sich nicht verschiebt, ist die Bewertung dieser Erfassung: Kartographie erscheint als das Werk von faulen und gottlosen Stümpern, die sich den mühsamen Weg zum Heil oder auch nur zu einem günstigen Aussichtspunkt ersparen, indem sie den Himmel auf seine Darstellung nach empirischen Vorgaben reduzieren. Die Welt selbst kommt dabei auch nicht gut weg. Die Kanarischen Inseln, stellvertretend für sie der über 3000 Meter hohe Vulkan Pico del Teide auf Teneriffa, beherbergten der Sage nach die Säulen des Herakles, die das Himmelsgewölbe stützten.2 Hier, ganz wie in der aristotelischen Tradition3, sind sie das Mal der Unvollkommenheit der irdischen Rundung und verdeutlichen die Fragilität der kosmischen Navigationsordnung. Donne erweist sich in alledem aber nicht nur als Kritiker seiner Epoche, sondern im gleichen Zug als gut unterrichtet über die Wissensrevolution, deren Zeitgenosse4 er ist: Es geht um die 1 2 3 4
Donne 1611-1612, The First Anniversarie, Vers 278-288. Auch der Nullmeridian, am westlichen Ende der Oikoumene, verlief Ptolemaios zufolge durch die insulae fortunatae, die kanarischen Inseln. Vgl. Cosgrove 2000, Extra-Terrestrial Geography, 9. Koyré sieht Donnes erschütterte Reaktion auf diese Umwälzungen jedoch schon als verspätet („attardée“) an: Koyré 1973, Du monde clos à l’univers infini, 47-48.
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Revision der himmlischen Sphärenordnung, die scheinbaren und tatsächlichen Bewegungen der Planeten, die Korrespondenz von theoretischen Modellen und neuen Entdeckungen. Interessanterweise jedoch hat Donnes Langgedicht in einem bestimmten Sinn Teil an der Kartographierlust seiner Zeit. Schon der programmatische Titel – eine Anatomie der Welt – verklammert Mikro- und Makrokosmos5, bildet lehrhaft eine Bestandsaufnahme der Welt auf einen sezierten Körper ab. Mich interessiert hierbei jedoch weniger der kartierende Aspekt dieses poetischen Verfahrens als das verzerrende Bild, das Donne von der geographischen und kartographischen Sammlung zeichnet: nämlich Aneignung durch Anhäufung. In der Tat waren Kartographen seit der Wiederentdeckung der ptolemäischen Geographie durch Maximus Planudes um 12956 und den ersten Entdeckungsfahrten oft identisch mit den ersten Sammlern im neuzeitlichen Sinn – oder sie handelten zumindest in deren Auftrag. Diese Periode der Entdeckungen und Wiederentdeckungen, für die die Herausgeber der History of Cartography einen sehr weit gefassten Renaissancebegriff verteidigen7, ist für die Kartographie in besonderer Weise markiert von dem Bewusstsein, die Antike als Maßstab zu setzen – und sie im gleichen Zug zu übertreffen. Die etwa 8.000 Orte umfassenden Koordinatentabellen des Ptolemaios wurden nicht nur wieder als Karten gezeichnet, sondern auch korrigiert und gewaltig ergänzt. Das Eintreffen einer Welt von neuen Daten sowie alten oder neuen Objekten führt eben nicht zu einer bloßen Anhäufung – dem Grenzwert des Sammelns −, sondern birgt den Moment einer taxonomischen Krise.8 Nachdem eine kritische Menge an Bestand erreicht ist, wird eine neue Organisation des Bestandes nötig, die jedoch die Grundlage der Ordnung selbst infrage stellt. Für diese Vorgänge ist die Guardaroba nuova, der Kartensaal im Florentiner Palazzo Vecchio, mehr als nur ein Beispiel. Die Familie der Medici stand durch ihr mehr oder weniger kontinuierliches Mäzenatentum, die Förderung oder auch den Schutz von Gelehrten wie Plethon, Pico della Mirandola, Marsilio Ficino und später Galileo Galilei im Brennpunkt all jener Tendenzen, die aus der Stärkung der italienischen Städte gegenüber Rom hervorgingen. Was die Bezeichnung Guardaroba betrifft, so war damit in der Tat eine Reihe von Kleiderkammern für den gesamten Hofstaat gemeint.9 Das Sammeln über Kleidung im engeren Sinne hinaus (also Schmuck, Waffen, Gerät) und das Ordnen nach Materialien und Funktion sind aber schon angelegt. Die Sammlung, die dann ab 5
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Die ersten Lichtmikroskope wurden 1608/1609 mehr oder weniger unabhängig voneinander von Johannes Lipperhey, Zacharias Janssen und daraufhin auch von Galileo Galilei vorgestellt; die Welt als Mikrokosmos wird im Gedicht explizit genannt. Vgl. Stückelberger 2000, Klaudios Ptolemaios, 206. Vgl. Woodward 2004, Cartography and the Renaissance, 5-7. Zum Umkippen einer „totalen Sammlung“, die nichts auslassen will, in einen Haufen vgl. Ingrid Streble „Das totale Museum“ im zweiten Kapitel. Vgl. Himmel 2000, Die Venus von Urbino, 26; zur Lage der Guardaroba im Palast und weitere bibliographische Hinweise vgl. Gregg 2008, Panorama, Power, and History, 112, Fußnote 88.
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1563 unter der Leitung des Architekten Giorgio Vasari zur Neugestaltung der Guardaroba als Kartensaal führt, war jedoch zunächst in Schreib-und Studierzimmern beherbergt, die hauptsächlich im ersten Obergeschoss des Palastes verstreut lagen. Es handelt sich um Studioli, über deren Enge, bedingt durch die Anhäufung von Gerät und verstaubter Gelehrsamkeit, sich noch Goethes Faust in der Szene „Studierzimmer“ so beklagt − eine Klage, die auf die Studioli im Palazzo Vecchio jedoch nur bedingt zutrifft. Trotz des eher inoffiziellen Charakters der Studierzimmer muss im Falle der Medici grundsätzlich eine repräsentative Funktion vorausgesetzt werden, selbst im Falle des intimen tesoretto, dessen Einrichtung – ebenfalls durch Vasari – etwa vier Jahre vor der des Kartensaals stattfand.10 Das scrittorio von Lorenzo il Magnifico aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts lässt zwar bereits enzyklopädische Züge erkennen, die Funktionen von Sammeln und kontemplativer Betrachtung, die im Studiolo vereint sind, werden jedoch im Kartensaal ordnend auseinandergezogen. Der Kartensaal dient zudem auf eine neue Art als Ort der inneren Sammlung angesichts einer äußeren, denn als neue Funktionen kommen das Zeigen, also die Zurschaustellung, und eine universelle Klassifikation hinzu.11 Diese Klassifikation wird zunächst und vor allem durch die von Egnazio Danti, einem Dominikanermönch, in Öl gemalten Regionalkarten gewährleistet, die die Türen von umlaufenden Wandschränken schmücken. In diesen Wandschränken sollten die Sammelobjekte aus den so bezeichneten Gegenden untergebracht werden. Der Auftraggeber, Herzog Cosimo I., legte Wert darauf, dass es sich um mathematisch präzise ptolemäische Karten nach dem neuesten Wissensstand handelte und vor allem, dass auch der neu entdeckte Doppelkontinent möglichst akkurat dargestellt wurde. Die Sammelstücke aus Mittelamerika, die seit der Eroberung des Aztekenreiches durch Cortes 1519 bis 1520 in Florenz eintrafen, als diplomatische Geschenke oder über Mittelsmänner, gelten als einer der auslösenden Faktoren für die Konzeption des Raumes. Cosimo besaß beispielsweise einige mexikanische Tierköpfe aus Edelstein, einen Rohrstock, Federschmuck und Mosaikmasken.12 Die Besonderheit des Raumes besteht in der innovativen Kombination von Sammlung und Kartographie, die so weder in gezielter zusammengestellten oder größeren Sammlungen (München, Prag, Wien, Madrid) noch in der Kartengalerie des Vatikans vorliegt. Die Karten von den italienischen Regionen, die diese Galerie schmücken, wurden ebenfalls von Danti gefertigt, bilden oder
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Die genaue Funktion zwischen Kleiderkammer, Bibliothek, Sammlungs-, Rückzugs-, Arbeitsund Empfangsraum ist schwer zu bestimmen: vgl. Turpin 2006, The New World Collections of Duke Cosimo I de’Medici, 75. Vgl. Liebenwein 1977, Studiolo, 154. Vgl. Markey 2008, The New World in Renaissance Italy, 92-93; 208; vgl. auch Turpin 2006, The New World Collections of Duke Cosimo I de’Medici.
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organisieren jedoch keine Objektsammlung in engerem Sinne. In der Guardaroba sind die Karten Ausstellungsmaterial und Sammelobjekte13, sie stellen aber zugleich eine visuelle Taxonomie bereit für das, was in der Tiefe des Archivs – hier ganz konkret die räumliche Tiefe der verschlossenen Wandschränke – zunächst nicht sichtbar ist. Diese Systematik der Anordnung verändert ebenfalls den Stellenwert des so gesammelten Objektes. Die gebräuchliche Bezeichnung „Wunderkammer“, in ihrem Anschluss an mittelalterliche Formen des Sammelns, spricht es aus, dass die in ihr versammelten Gegenstände einzigartig sind, Ausnahmezustände, die – Wundern gleich – den Einbruch einer höheren Ordnung in die sinnliche Welt markieren und nach staunender Betrachtung verlangen. In der kartographischen Anordnung bereitet sich jedoch eine epistemologische Verschiebung vor: Das Objekt erhält erst durch seine Erfassung in der Logik der Karte, der zweidimensionalen auf den Wandschränken und der dreidimensionalen des Kartensaals, eine spezifische Bedeutung als Sammelgegenstand. Das Objekt ist nicht mehr Inbegriff schlechthin, Wunder und Ausnahme, sondern es wird zum Beispiel für eine Region. Oder, rhetorisch gewendet: Es funktioniert weniger als Symbol denn als Synekdoche.14 Walter Ong formulierte dies für den Status des Buches. Es sei seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert weniger Zeugnis und stärker Objekt, d. h. Sammelobjekt. Ong bringt diesen Umstand nicht nur in Verbindung mit der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern – also mit einer Vermehrung der verfügbaren Bücher –, sondern auch mit der kartographischen Logik des Besitzergreifens. Die Epoche Gutenbergs fällt Ong zufolge zusammen mit dem großen Zeitalter der Kartographie und der Entdeckungen, was ihn für den amerikanischen Kontinent folgern lässt: „The New World was a world of objects as nothing before had ever been“15. Freilich ist damit nur eine Tendenz benannt, denn beide Funktionen, die symbolisch-transzendente und die innerweltlich repräsentierende, treten in wechselnden Verhältnissen gemeinsam auf: Auch dem banalsten Mineral kommt allein durch den Umstand, dass es Teil einer Sammlung wird, eine Sonderstellung zu, die seiner Beliebigkeit als Stellvertreter widerspricht. Im konkreten Fall des Kartensaals war zunächst geplant, vor allem wertvolle Exotika zu zeigen, allen voran jene aus der Neuen Welt, die meist allein schon aufgrund ihres Materials und ihrer Verarbeitung eine herausragende Stellung innehatten, was durch den kartographischen Ausweis ihrer Herkunft aus der Ferne allenfalls verstärkt wurde. Das ändert jedoch nichts daran, dass sich die Bedeutung der Sammelstücke in der Anordnung gemäß geographischer Kriterien vorrangig
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Kartenausstellungen lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. George Tolias nennt ebenfalls Hugues de Saint-Victor und die karolingische Renaissance (vgl. Tolias 2004, Maps in Renaissance Libraries and Collections, 638). Ausstellungen von Karten deuten auch darauf hin, dass Karten Objekte von Sammlungen waren, wenn auch aufgrund ihrer Rarität sicherlich nicht von speziellen Kartensammlungen. Vgl. Gregg 2008, Panorama, Power, and History, 113, spricht von „representative samples“. Ong 1956, System, Space and Intellect in Renaissance Symbolism, 229-230 und 238.
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eben durch die Konstellationen ergibt, in die Objekte zu anderen Objekten treten, und – was mindestens ebenso wichtig ist – durch ihre Rückwirkung auf die kartographische Darstellung. Die Karten auf den Wandschränken ordnen die in ihnen aufbewahrten Stücke, diese Sammelstücke „sammeln“ jedoch auch stellvertretend die dargestellten Regionen, insofern sie einen repräsentativen Besitz gewährleisten. Territorien und Sammelobjekte sind aufs Engste miteinander verknüpft. Für ein Verständnis der Figur des Fürsten als Kosmographen, der die Welt vermessend und repräsentierend einsammelt, ist die Disposition des Raumes ebenso bedeutend wie der Umstand, dass der Kartensaal nie vollendet wurde.16 Nach dem Tod Cosimos I. 1574 stellten seine Nachfahren das Projekt nach und nach ein; Francesco I. ersetzte Danti 1576 durch Buonsignori und lagerte die Sammlung ab 1581 in die Uffizien aus. Von den geplanten 56 Karten wurden zumindest 54 vollendet – allerdings entspricht ihre tatsächliche Anordnung eher praktischen Kriterien als dem ursprünglichen Plan. Über diesen gibt Vasari in seinen Künstlerbiographien – den Vite – Auskunft, in denen er zum Schluss auch auf sein eigenes Werk eingeht. Dieser Plan sieht vor, dass die kartographische Anordnung der Sammlung als Welttheater verstanden werden muss, das alle Wissensbereiche umfasst, oder auch, mit leicht verschobener Akzentsetzung, als Kosmographie. Die Karten sollten in zwei Reihen übereinander angeordnet werden, rechts von der Eingangstür 14 Karten von Europa, in den Fächern darüber entsprechend die Karten von Afrika, links jeweils 14 Karten von Asien und Amerika. Direkt rechts und links von der Tür waren vier Hemisphären vorgesehen, die des Himmels und die der Erde. Die Basis der Schränke sollte ebenfalls mit zwei umlaufenden Bildreihen übereinander geschmückt werden: je 24 Tier- und darunter Pflanzenbilder, die den dargestellten Erdregionen entsprachen. Ebenfalls den dargestellten Regionen zugeordnet sollten zwölf Marmorbüsten von Weltherrschern auf den Schränken aufgestellt werden; für die Wandfläche zwischen Schränken und Decke waren 300 Porträts von geistlichen und weltlichen Fürsten, Künstlern, Entdeckern, Literaten, in drei thematisch gegliederten Reihen vorgesehen. Die Decke des Raumes ist in zwölf Fächer gegliedert, welche je einer Marmorbüste zugeordnet werden und vier Sternbilder zeigen sollten. Die beiden mittleren Deckenkassetten waren zu öffnen, damit aus ihnen zwei Globen herabgelassen werden konnten, ein Himmels- und ein Erdglobus.
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Zur höfischen Machtstruktur als Sammlung vgl. Beitrag von Susanne Scholz „Der Hof in der Kiste“ im zweiten Kapitel.
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1 − Der Erdglobus der Guardaroba Nuova im Palazzo Vecchio
Der Erdglobus, den Danti fertigstellen konnte, ist noch heute zu sehen. Gegenüber von der Eingangstür sollte die zweite Version der astronomischen Uhr stehen, die 1484 für Lorenzo il Magnifico von Lorenzo della Volpaia angefertigt wurde. Anhand des großen Ziffernblattes wurden die Stunde, die Position der Sonne im Tierkreis und der Tag im Monat angezeigt. Es enthielt sieben kleine Zifferblätter, an denen Mondphasen und Planetenpositionen abzulesen waren. Die Drehung des kleinen Himmelsglobus wurde vom gleichen Mechanismus angetrieben.17 Selbst in dieser summarischen Auflistung wird deutlich, dass eine Inszenierung geplant war, oder genauer: die Bereitung jenes natur- und kulturgeschichtlichen Schauplatzes, auf dem der Herzog seinen Auftritt haben sollte. Der Wahlspruch „Cosmos cosmoi Cosmos“, der Kosmos gereiche Cosimo zur Zierde, ist hierfür Programm – und sollte es für die Dynastie der Medici bleiben, immerhin nannte Galileo unter Cosimo II. vier neu entdeckte Jupitermonde die „Sterne 17
Die Beschreibung des Raumes ist Gregg 2008, Panorama, Power, and History, 113-115, entnommen; vgl. Vasari 1878-1885, Opere, 633-635 sowie, in einer kürzeren Übersicht, Fiorani 2004, Cycles of Painted Maps, 818-820. Die Zahl der fertiggestellten Karten ist nach mehreren anderslautenden Quellen (v. a. Fiorani 2005, The Marvel of Maps, 32) hier korrigiert, auch wenn sich in der Literatur weitere widersprüchliche Angaben finden. Insgesamt fertigte Danti 31, Buonsignori 23 Karten an.
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der Medici“.18 Im Kartensaal sind es die vom figürlichen Himmel herabgelassenen Globen, die gemeinsam mit der astronomischen Uhr den Gesamtbestand der irdischen und himmlischen Welt in Raum und Zeit hierarchisch ordnen, und zwar absteigend: von den das Weltgefüge und alles Geschehen bestimmenden Himmelssphären über die Weltherrscher-Büsten mit den 300 Porträts großer Persönlichkeiten und den regionalen Sammelstücken bis zur Flora und Fauna in Bodennähe.19 Als ästhetisches Programm des frühen Absolutismus ist diese Disposition schlüssig, ja paradigmatisch.20 Sie erlaubt es dem Herzog, sich aus dem Zentrum des Raumes heraus sinngebend und -empfangend auf die versammelte Schöpfung einzulassen und als Maschinist des Welttheaters die beiden Globen herabzusenken, die es ermöglichen, jedem Sammelstück qua Regionalkarte seinen Platz auf dem Erdglobus und im astronomisch-astrologischen Zusammenhang zuzuweisen.21 Der gelehrte Fürst wird dabei zu demjenigen, dessen Aufgabe es ist, zwischen den himmlischen Sphären und den irdischen Gegebenheiten zu vermitteln: Er wird zum Kosmographen. Diese Vermittlungsaufgabe wird sinnfällig auf dem Frontispiz der von Mercator herausgegebenen Tafeln des Ptolemaios.22 In dieser Abbildung ist die Vermessung der Erde über die Gestalt des antiken Geographen auf den Himmel bezogen, insofern Ptolemaios mit dem Zirkel in der Linken auf den Erdglobus weist, der ihm zu Füßen liegt, mit der rechten Hand jedoch auf den Himmelsglobus über ihm zeigt, der die Szene bekrönt. Er wiederholt damit in seiner Geste die Öffnung des der Vermessung und Übertragung dienenden Zirkels in seiner Hand (Ptolemaios gegenüber findet man übrigens eine Darstellung des Marinus von Tyr, welcher Vorläufer des Ptolemaios und ‚Erfinder‘ des Koordinatensystems war).
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Biagoli 1990, Galileo the Emblem Maker, 241; auf ebd. 240 steht: „The analogy between ‚Cosimo‘ and ‚cosmos‘ (which Galileo would bring up again a few years later while negotiating the dedication of the Sidereus nuncius to Cosimo II) had been an important part of Medici mythology since the mid-sixteenth century. Names incorporating the element ‚cosmos‘ proliferated.“ Die Portraits waren übrigens Kopien aus der Portraitsammlung des Kardinals und Historikers Paolo Giovio, der mit Cosimo I. u. a. mexikanische Sammelinteressen teilte und mit ihm in Korrespondenz stand. In seiner erstmals ‚Museo‘ genannten Sammlung am Comer See dekliniert sich das humanistische Projekt dreifach: als Antikenbelebung, als Hereinragen des Mittelalters, als politische, technologische, philosophische Innovation. Vgl. Ferrara 1993, Le Musée de portraits de Paolo Giovio à Borgo Vico, 87. Auch wenn Andreas Grote in seinem Beitrag zu Macrocosmos in microcosmo 1994 mutmaßte, dass schon der Sohn Cosimos es aus einer abweichenden Auffassung von Machtrepräsentation und Wissenschaft bei einer „rein geographisch-astronomischen Lehrveranstaltung“ stagnieren ließ (Grote 1994, Die Medici, 224). Cosimo I. besaß umfassende medizinisch-alchemistische Kenntnisse. Vgl. Perifano 2000, Culture et savoirs, 75. Vgl. Besse 2003, Face au monde, 65.
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2 − Das Frontispiz von Mercators Tabulae geographicae, Köln 1578
Zur umspannenden Geste tritt ergänzend der alternierende Blick des Kosmographen, den Hendrik Hondius 1639 in seiner Vorrede zum Nouveau théâtre du monde beschreibt. Dieser Blick erlaubt es, die Erde nach den Gesetzmäßigkeiten des Himmels zu erfassen, also in der bewundernden Betrachtung der „machine des Sphères célestes“ und der anschließenden Vermessung der Erde die Tätigkeit des Astronomen und des Geographen auf sich zu vereinen. Erst dadurch werde der Mensch zu einem würdigen Weltbewohner, einem „digne habitant du monde“23. Die Figur, Körper und Geste des Kosmographen stehen also ein für die Erfassung eines Sinnganzen, die notwendig aufgelöst ist in eine Abfolge. Die im Kartensaal des Palazzo Vecchio gebildete Konstellation erfordert 23
Hondius, Vorrede des Nouveau théâtre du monde, ou Nouvel atlas comprenant les tables et descriptions de toutes les régions de la terre, Amsterdam 1639, zitiert nach ebd., 62.
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eine Choreographie, um die Gesamtheit der kosmographischen Sammlung in den Blick zu bekommen. So wie der Kosmograph zu einem alternierenden Blick gezwungen ist, muss auch der Souverän, um seine Regionalia zu betrachten oder ihnen ihren Platz auf dem Globus zuzuweisen, den zentralen Platz räumen und zwischen dem kosmischen Maßstab und dem irdischen vermittelnde Schritte tun. Die Schwierigkeit, die sich hier abzeichnet, und die die gesamte Repräsentationskunst des Barock unterfüttern wird, kennzeichnet die Krise der Kosmographie – und damit auch Kartographie – im 16. Jahrhundert. War deren doppeltes Erbe – also die antike mathematische Geographie und die im wahrsten Sinne „erfahrenen“, großmaßstäbigeren Portulankarten mit ihren detaillierten Küstenverläufen – um 1450 noch unproblematisch, als die bekannte Welt weitgehend mit der antiken Oikoumene übereinstimmte, so stellte sich mit der Entdeckung des neuen Kontinents und der immensen Weiten des Pazifiks die Frage, wie sich die ungeheuer erweiterte Welt kohärent erfassen ließe. Die Kartographie hielt in Gestalt eines Medienwechsels eine innovative Antwort bereit, indem sie zu einer neuen Form von Sammlung führte – dem neuzeitlichen Atlas, dessen Konzeption durch Ortelius und Mercator in engem Zusammenhang steht mit der Idee des Guardaroba-Kartensaals. Der Atlas ist gedacht als fiktives Abschreiten der Welt vom Typus orbis terrarum bis in die Regionen hinein, und er löst in seiner Frühzeit zudem die Probleme des Maßstabswechsels und der noch existierenden Wissenslücken elegant durch den Hiatus zwischen den Atlasseiten. Positiv gewendet ließe sich sagen, dass in dieser Sammlungsform der Fortschrittsgedanke erste Keime treibt, insofern kartographisch abgesteckt wird, was noch unbekannt ist, und der Gedanke aufkommen kann, dass die Natur keine abgeschlossene Schöpfung ist, sondern in ihren Kontinuitäten und Affinitäten eine eigene Geschichtlichkeit nahelegt.24 Dabei überdeckt die Figur des Kosmographen, die Mercator und Ortelius durchaus noch verkörpern, nicht mehr das Kollektiv, welches notwendig jeder komplexen Karte zugrundeliegt, und dessen oft widerstreitende Informationen zur Überprüfung anstacheln. Der historische Atlas als Sammlung eines überwundenen Wissensstandes markiert hierbei den schon zurückgelegten Weg. Die Kosmographie – als Wissenssammlung Vorläuferin des Atlas, jedoch eine universelle Sammlung, die nicht nur Karten und geographische Erläuterungen, sondern alle Wissensgebiete umfasst – verschwindet jedoch. Die Periode, in der die Guardaroba konzipiert und geschaffen wurde, fällt ziemlich genau zusammen mit dem Höhepunkt der Kosmographie. Die Vervollkommnung des exakten mathematischen ‚Einfangens‘ der Sterne und damit der geographischen Koordinaten, welches Donne ins Bild des widerspenstigen Pferdegespanns brachte, führte nicht zu einem neuen Universalwissen, sondern zu einer zunehmenden Spezialisierung, die eine stete und ostentative Bezugnahme auf den 24
Vgl. Lestringant 1991, Le déclin d’un savoir, 248; vgl. auch Bredekamp 2000, Antikensehnsucht, 16-17.
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Himmel als für jeden Wissensbereich maßgebliche Bezugsgröße unnötig werden ließ. Kopernikus wie auch Galileos Fernrohr hatten die himmlische Perfektion fraglich werden lassen. Für die anbrechenden Jahrhunderte der Landvermessungen war der gestirnte Himmel nicht mehr das universelle Ordnungsprinzip.
SUSANNE SCHOLZ
DER HOF IN DER KISTE: SAMMLUNGSDYNAMIKEN AM HOF VON ELIZABETH I.
Diese kleine Miniatur handelt von einer kuriosen Begebenheit aus der frühen Regierungszeit von Elizabeth I., in deren Zentrum eine Portraitminiatur ihres Favoriten Robert Dudley (ab 1564 Earl of Leicester) steht. Es geht dabei in gewisser Weise um Elizabeth als Sammlerin, um die Wechselwirkung von königlichem Blick und höfischem Raum und um die Wertstiftung und den Transfer von Sammlerstücken. Wir befinden uns im Jahr 1564, Elizabeth steht in Verhandlungen mit ihrer Cousine Maria Stuart, die gerade aus Frankreich auf den schottischen Thron zurückgekehrt ist und für Elizabeth eine massive (katholische) Bedrohung darstellt. Noch ist der Umgangston friedlich, es sind noch sechs Jahre bis zu Elizabeths Exkommunikation, und es wird über eine Verheiratung Marias mit Elizabeths Favoriten Robert Dudley nachgedacht, die Schottland de facto unter den direkten Einfluss der englischen Krone bringen würde. Mittel der Eheanbahnung sind neben diplomatischer Reisetätigkeit auch Miniaturen, die die beiden prospektiven Partner darstellen. Tatsächlich ist dies einer der Hauptzwecke der frühneuzeitlichen Miniaturmalerei.1 Hier nun der Bericht des schottischen Botschafters Melville über seinen Besuch bei der englischen Königin: She took me to her bed-chamber and opened a little cabinet, wherein were divers little pictures wrapt within paper, and their names written with her own hand upon the papers. Upon the first that she took up was written: ,My Lord’s picture.‘ I held the candle, and pressed to see that picture so named. She appeared loath to let me see it; yet my importunity prevailed for a sight to carry home to my Queen; which she refused, alleging that she had but that one picture of his. I said, your Majesty hath here the original; for I perceived him at the farthest part of the chamber, speaking with Secretary Cecil. Then she took out the Queen’s picture, and kissed it; and I adventured to kiss her hand, for the great love therein evidenced to my mistress. She showed me also a fair ruby, as great as a tennis-ball. I desired that she would either send it, or my Lord Leicester’s picture, as a token unto the Queen. She said, if the Queen would follow her counsel [i.e. to marry Robert Dudley; S. Sch.], that she would in process of time get all she had; that in the meantime she was resolved in a token to send her with me a fair diamond.2
Ich möchte diesen Brief, der offenbar minutiös die Choreographie einer diplomatischen Annäherung beschreibt, als Anwendungsfall einer Sammlung lesen, 1 2
Coombs 1998, Portrait Miniature, 13. Memoirs of Sir James Melville 1930, 92 ff.
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der einerseits Elizabeths intime Beziehung zu ihrer umfangreichen Portraitminiaturenkollektion vorführt, der gleichzeitig aber auch – vermittelt über die Identifizierung von Abbild und Abgebildetem – die Sammlungslogik hinter ihrer Hofpolitik offenlegt. Zunächst einige Worte zum Gegenstand: Miniaturen werden am elisabethanischen Hof von den 1560er Jahren an sehr populär. Sie sind ein durch und durch aristokratisches Objekt, werden zunächst anlässlich von Heiratsverhandlungen angefertigt und unterliegen daher auch einem – wenn man das so nennen darf – Realismusgebot, d. h., anders als die eher symbolisch darstellende Portraitkunst im Großen sollen sie den Abgebildeten erkennbar darstellen.
1 − Links: Hans Holbein, Mrs Jane Small, formerly Mrs Pemberton, ca. 1536, Wasserfarbe auf Pergament, Durchmesser 52 mm; rechts: Levina Teerlinc, Lady Katherine Grey, ca. 1555; Wasserfarbe auf Pergament, Durchmesser 35 mm; beide: Victoria & Albert Museum, London
2 − Unbekannter Künstler, Christopher Hatton 1589, oil on panel; National Portrait Gallery, London, NPG 2162
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In den 1580er und 1590er Jahren kann man geradezu von einer Miniaturenmanie reden. In dieser Zeit fungieren Miniaturen, besonders solche der Königin, als Loyalitätszeichen, d. h. man trägt sie an der Kleidung und möchte sich damit als loyaler Hofmann darstellen.3 Auch unter den Neujahrsgeschenken an die Königin befinden sich große Mengen an Miniaturen, die sie in ihrem ‚Schatzkästlein‘ verwahrt. Die Frage nach dem Aufbewahrungsort der Miniaturen berührt nun die räumliche Struktur nicht nur der Sammlung, sondern auch des Hofes.4 Wenn vom elisabethanischen Hof die Rede ist, dann meint das nicht einen bestimmten Palast, der die Königin und ihre Höflinge beherbergt, sondern eine Struktur konzentrischer Räume, in deren Zentrum die Königin steht. Alle Höflinge, so könnte man sagen, richten ihre Selbststilisierung auf den Blick der Königin aus, es herrscht ein permanentes Klima der Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Königin.
3 − Sir Henry Wriothesley, Earl of Southampton, unbekannter Künstler, c. 1594; National Portrait Gallery, London, NPG L114
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Vgl. Scholz 2010, The Queen’s Eye, 562 f. Inwiefern sich eine höfische Macht- und Weltordnung als Sammlung in der Raumarchitektur des „Studierzimmers“ im Palast der Medici niederschlägt untersucht Marion Picker in ihrem Beitrag „Kartographie als Sammlung“ im zweiten Kapitel.
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SUSANNE SCHOLZ
4 − Sir Robert Dudley, Earl of Leicester, c. 1575, unbekannter Künstler, National Portrait Gallery, London, NPG 447
5 − Sir Philip Sidney, unbekannter Künstler, c. 1576, National Portrait Gallery, London, NPG 5732
Dieses Blickregime, bei dem die Ordnung aller Akteure auf dem Parkett durch den Blick der Königin geschaffen und permanent neu sortiert wird, und in der Werthierarchien durch Nähe oder Ferne von der Zentralgestalt ausgehandelt
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werden, legt eine Analogie zum Privatsammler nah und hat mich veranlasst, die Höflinge als eine Art ‚Männersammlung‘ zu betrachten. Elizabeth verfügt demnach über eine ‚Sammlung‘ lebendiger Hofmänner, die sich durch das Tragen einer Elizabethminiatur quasi selbst inventarisieren und einen permanenten petrarkistischen Liebesdiskurs um die Gunst der Königin führen5, und sie verfügt auch über eine Sammlung ihrer miniaturisierten Abbilder, die im cabinet der Königin aufbewahrt werden und von denen wir annehmen können, dass sie sie in der Heimlichkeit dieses innersten Hofraums betrachtet und auch gelegentlich neu hierarchisiert.6 Elizabeths Favorit in den 1560er Jahren, das wissen wir spätestens aus Shekhar Kapurs Filmen, ist Robert Dudley.7 Wenn wir uns das räumliche setting der beschriebenen Schlüsselszene anschauen, so wird deutlich, dass die Königin dem schottischen Diplomaten Zugang zu ihrem innersten Sanktum gewährt. Um ins closet der Königin zu gelangen, muss er vorher die große Halle, das presence chamber mit dem Thron und das privy bzw. secret chamber durchquert haben und erreicht schließlich das bed chamber, in der als geheimster Ort das kleine Kabinett steht, in dem Elizabeth ihre Miniaturen und andere kostbare Stücke aufbewahrt. Es wird eins der Stücke entnommen, und nun stellt sich die Wertfrage: Wie erstellt sich der Wert eines Sammelobjekts? Wie subjektiv ist diese Einschätzung, wie verbindlich ist der Wert? Geht es um das Artefakt oder die Dargestellten? Miniaturen sind nicht besonders kostspielig in der Herstellung, eine Miniatur ohne Fassung kostet im Workshop von Nicholas Hilliard ca. drei Pfund. Das ist zwar mehr als der Jahreslohn einer Zofe, aber angesichts der Tatsache, dass Elizabeth ca. 5.900 Pfund pro Jahr für Kleidung und Schmuck ausgibt ist es verschwindend wenig.8 Nun können wir beobachten, wie der Wert dieser Miniatur inszeniert wird. Schon der Eintritt in den Aufbewahrungsraum zeigt eine besondere Wertschätzung für den Schotten, denn die Sammlung markiert den Ort der größten ‚Privatheit‘ der Königin – und auch diese ist, wie das Schriftstück offenlegt, inszeniert. Sie ziert sich, das Bild zu zeigen, der Gesandte besteht darauf, wenigstens einen Blick mit nach Hause zu nehmen, das Ganze ist ein diplomatisches Spiel. Die Miniatur ist außerdem eingepackt und mit der Aufschrift ‚My Lord’s Picture‘ ausgezeichnet. Im Herzen dieses privatesten Innenraums der Königin bewahrt sie also ein sehr privates Gesicht auf: das von Robert Dudley. Diese Inszenierung der Miniatur geschieht für die Augen des Diplomaten, der sein Seherlebnis wiederum seiner Auftraggeberin kommunizieren muss, und sie erfolgt klar in wertsteigernder Absicht.
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Dornhofer 2012, Petrarkistischer Diskurs. Die hier beschriebene Menschensammlung dient als (dynamisches) Abbild höfischer Machtverhältnisse. Reale Menschensammlungen, wie sie an den Rändern der Gesellschaft entstehen, thematisiert Sarah Schmidt im Anschluss an Foucault im dritten Kapitel „Existenzen sammeln − Existenzen schreiben“. Zum Phantasma dieser Beziehung vgl. Scholz 2016, Dancing Queen? Picard 2003, Elizabeth’s London, 322 ff.
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Aber worum geht es eigentlich? Die Miniatur soll einer besonderen Bestimmung zugeführt werden und wird damit in einen machtpolitischen Kontext eingefügt. Das Bild soll die Besitzerin wechseln, Maria soll das Abbild bekommen, denn Elizabeth hat ja schließlich das Original bei sich. Hier wird der Miniatur eine Statthalterfunktion zugeschrieben, die auf den Realismus der Portraitdarstellung zurückverweist. Elizabeth hingegen weigert sich, die Miniatur abzugeben – weil sie die Einzige ist, auch das ist wertsteigernd. Sie nimmt stattdessen, in einer Art Übersprungshandlung, eine weitere Miniatur aus dem cabinet, die der schottischen Königin, d. h. der prospektiven Adressatin der Miniatur.
6 − Mary Queen of Scots, unbekannter Künstler ca. 1565, 251 mm x 191 mm, oil on panel, National Portrait Gallery, London, NPG 1766
Sie küsst diese – ein Zeichen der Loyalität – und zeigt dem Botschafter, den diese Loyalitätsgeste offenbar überzeugt, einen großen Rubin, der sich ebenfalls im Schatzkästlein befindet. Der Botschafter will nicht mit leeren Händen gehen, ersetzt die Miniatur durch den Rubin und bittet nun um dieses Geschenk – vielleicht, weil der Rubin in der Gemmographie für das Herz steht.9 Wieder stellt sich die Wertfrage, denn der Rubin muss erheblich wertvoller sein als die Miniatur. Elizabeths Reaktion ist eigenartig unsubtil und legt den politischen Kern dieses Sammel- und Tauschspiels offen: Sie gibt dem Gesandten einen guten, wenn auch leicht kryptischen Rat für die Königin mit auf den Weg. Wenn sie
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Evans 1976, Magical Jewels, 172.
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Robert Dudley heirate, werde sie in absehbarer Zeit alles besitzen, was sie, Elizabeth, jetzt habe: den Mann, die Miniatur und Elizabeths Herz. Bis dahin werde sie ihr einen Diamanten schicken – ein Wartegeschenk. Noch einmal die Frage: Was wird hier anhand der Gegenstände in Elizabeths Privatsammlung eigentlich verhandelt? Es geht offenbar um den Transfer eines Mannes aus Elizabeths in Marias ‚Sammlung‘, wobei der Gemeinte, Robert Dudley, in der Verhandlung in zwei Gestalten erscheint, einmal als realer Höfling und einmal als Portraitminiatur. Hier schachteln sich also eigentlich zwei Sammlungen ineinander, wobei jeder Höfling doppelt präsent ist: als Mann aus Fleisch und Blut und als Portrait, oder, anders gewendet, einmal als Subjekt und einmal als Objekt. Elizabeths Höflingspolitik, so könnte man sagen, folgt einer Sammlungsdynamik, bei der häufige Aufnahmen und Austritte, Positionswechsel, Wertsteigerung und Wertverlust zentral sind. Erstaunlich ist an dieser Doppelung aber, dass gerade da, wo über die Positionierung ‚realer‘ Männer verhandelt wird, diese einer umfassenden Verdinglichung unterworfen sind, geradezu als Schachfiguren auf dem Spielbrett des Hofes und der europäischen Beziehungen verschoben werden, während sich umgekehrt in Elizabeths Umgang mit der Portraitsammlung ein Widerstand gegen diese Machtdynamiken manifestiert. Mittels der zum Bild gewordenen Männer stellt sie hier eine Herzenshierarchie auf, die Abbilder bleiben dabei aber Sinnbilder für Menschen. Das mag einer der Gründe dafür sein, dass Übergänge von einer zur anderen dieser ‚Sammlungen‘ heikel sind und erklärt möglicherweise Elizabeths geradezu irrationale Reaktion auf Marias ‚Transferbegehren‘, das sich ja nur auf die Miniatur, nicht auf den Mann richtet. Im Übrigen wird der Fortgang der Geschichte zeigen, dass die Vorliebe für die falschen Männer Maria Stuart zunächst den Thron und dann das Leben kosten wird. Zurückgekehrt aus Frankreich als Witwe von Francois II. bestieg sie 1560 den schottischen Thron, heiratete dort Henry Stuart Lord Darnley, von dem sie ein Kind hatte, den späteren König James VI., verliebte sich dann offenbar in den Earl of Bothwell, der Darnley 1567 tötete und den sie unmittelbar danach heiratete. Darauf wurde sie vom Thron verbannt, suchte ausgerechnet in England Exil, wo sich hochrangige katholische Adelige wie etwa der Duke of Norfolk um ihre Hand bemühten, um damit Elizabeth vom Thron zu stürzen. Das alles findet nach unserer kleinen Episode statt. Elizabeths Angebot, ihren Favoriten Dudley zu übergeben, ist klar von machtpolitischem Kalkül motiviert: Elizabeth verfügt hier sozusagen über ein Exemplar ihrer Männersammlung und hofft damit ihre Blick- und Einflussachse auf Schottland auszuweiten. Maria lehnt diese Gabe ab und streicht damit auch die Wertzuweisung an die Miniatur durch. Elizabeth behält also sowohl den Mann als auch sein Abbild und schenkt ihr statt des Rubins ein kaltes Herz, den Diamanten. Die Beziehung der beiden Königinnen kühlt sich merklich ab, drei Jahre nach den beschriebenen Ereignissen wird Maria Stuart in England festgesetzt und wir wissen, dass die Geschichte kein happy end hat: Weder der große noch der kleine Robert wechselt die Besitzerin, keine der Königinnen heiratet
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ihn, die Miniatur bleibt in Elizabeths cabinet, Robert bleibt am Hof bis er die falsche Frau heiratet und die Inszenierung schwesterlicher Liebe zwischen den beiden Königinnen endet mit der Hinrichtung der einen durch die andere.
MICHAEL NIEHAUS
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1. Was ist ein Sammelpunkt? In seinem dankenswerten Buch Sammeln. Ein philosophischer Versuch unterscheidet Manfred Sommer zwei Räume, die es geben muss, wenn sich Vorgänge des Sammelns oder Sich-Sammelns ereignen können sollen: Er nennt sie den Streuungs- und den Sammlungsraum.1 Der Sammlungsraum müsse trivialerweise irgendwie kleiner sein als der Zerstreuungsraum, in dem sich die verstreuten Dinge befunden haben, bevor sie in den Sammlungsraum eingingen. Um zu klären, wie das Verhältnis dieser beiden Räume zueinander beschaffen sein kann, unterscheidet Sommer verschiedene Konstellationen. Der Sammlungsraum kann sich außerhalb des Streuungsraums befinden (etwa der Boden, auf dem sich im Herbst die welken Blätter unter einem Baum ansammeln) oder innerhalb (das Regal, in dem ich die Bücher in meiner Wohnung sammle); wenn Letzteres der Fall ist, können sich die beiden Räume trotzdem ausschließen (die Spülmaschine, in der das schmutzige Geschirr, das dort eingeräumt wird, vorher nicht gewesen sein kann) oder auch nicht (der Dachboden, wo sich bereits verschiedene ausrangierte Sachen befinden, wenn ein neuer Schwung nach oben gebracht wird); zwischen dem Streuungsraum und dem Sammlungsraum kann sich ein dritter Raum als Niemandsland befinden (wenn etwa jemand in Deutschland ägyptische Bierdeckel sammelt) muss es aber nicht (wenn er deutsche Bierdeckel sammelt); der Sammlungsraum kann durch die Sammlung wachsen (wenn neue Bücherregale gekauft werden müssen) oder konstant bleiben (wenn das Portemonnaie vom Kleingeld befreit werden muss, weil es zu platzen droht), es kann aber auch der Streuungsraum wachsen und der Sammlungsraum konstant bleiben (wie im Frühjahr der Dispersionsraum des Bienenvolks auf der Suche nach Nektar mit der Höhe der Temperaturen wächst, die Größe des Bienenstocks jedoch nicht), oder aber es können beide gemeinsam wachsen (wenn etwa eine Bibliothek vergrößert werden muss, wenn nun auch ingenieurswissenschaftliche Bücher gesammelt werden sollen). Nimmt man noch den Parameter hinzu, dass sich Sammlungsraum und Streuungsraum in einer relativen Bewegung zueinander befinden können (wenn sich etwa die im Streuungsraum Meer befindlichen Fische gegebenenfalls von selbst in einem stationären Netz verfangen und damit sammeln), so kommt man mit Sommer schließlich auf zweiundsiebzig Kombinationsmöglichkeiten. 1
Sommer 2002, Sammeln, 138-174.
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MICHAEL NIEHAUS
Sommer versucht an dieser Stelle die „objektiven Bedingungen“2 des Sammelns zu beschreiben. Dabei geht er von einem Raummodell aus, das dezidiert topologisch-physikalisch ist und von den Akteuren, der Tätigkeit und dem Zweck des Sammelns vollkommen zu abstrahieren sucht. Daher gerät dieses Raummodell aber auch auf eine merkwürdige Weise dezisionistisch. Es kennt nur zwei disjunkte Zustände: Etwas kann Teil einer Sammlung sein oder nicht. Und es gibt zwei disjunkte Räume: Der Sammlungsraum und der Streuungsraum sind eindeutig gegeneinander abgegrenzt. Interessant ist in dieser Hinsicht der Fall, dass der Sammlungsraum auf eine einschließende Weise im Streuungsraum liegt (also Teil des Zerstreuungsraums ist). Was sich unter dieser Voraussetzung zufällig im Sammlungsraum befindet, „das kann gleich bleiben, wo es ist“. Aber daraus resultiert ein Problem: „[G]ehört es, wo es sich doch gar nicht von der Stelle gerührt hat, mit zu denen, die sich hier angesammelt oder versammelt haben?“3 Menschen etwa wollen sich möglicherweise nicht zu denen zählen und vor allem nicht zu denen gezählt werden, die sich irgendwo zusammengerottet haben. Gehört die Sammlung alter Gläser, die ich im Küchenschrank aufbewahre, zur Menge der Gegenstände, die im Alltagsgebrauch zum Einsatz kommen dürfen? Während dieser problematische Fall von Einschluss und Dazugehören von Sommer noch kurz angesprochen wird4, bleibt ein zweiter, ebenso nahe liegender, problematischer Fall unbeachtet: Es ist keineswegs so, dass es eine klare Grenzziehung zwischen dem Sammlungs- und dem Zerstreuungsraum geben muss. Gerade das von Sommer selbst gewählte Beispiel der Menschenansammlung zeigt dies. Es kann eine Zone der Unbestimmtheit zwischen Sammlungsraum und Streuungsraum geben. Innerhalb des topologisch-physikalischen Modells lässt sich das wohl nicht angemessen beschreiben. Insofern stößt eine Beschreibung der „objektiven Bedingungen“ des Sammelns hier an ihre Grenze. Die institutionelle Dimension des Sammelns lässt sich nicht ausblenden. So wird insbesondere auf der institutionellen Ebene darüber bestimmt, was dazugehört haben wird und was nicht. Diese Vorüberlegungen sollen als Begründung dafür dienen, dass im Folgenden von Sammelpunkten gesprochen wird. Der Terminus deutet an, dass die Sammlung als Vorgang und Ergebnis hier aus einer anderen – nämlich exzentrischen und damit befremdenden – Perspektive betrachten werden soll: unter einem anderen Aspekt und auf einer anderen Ebene.
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Ebd., 101 [Herv. i. O.]. Ebd., 141 f. Das Problem tritt, wie Sommer selbst ausführt, auch in Hinblick auf das Verhältnis von Zerstreuungs- und Sammlungsraum selbst auf: „Oft bleibt […] unklar, ob nun der umschlossene Raum ein Bestandteil des ihn umschließenden ist oder nicht. Da geometrisch beides möglich ist, muß zusätzlich festgestellt oder festgelegt werden, wie das Verhältnis aufgefaßt werden soll. Häufig geschieht dies durch rechtliche Regelungen“ (Sommer 2002, Sammeln, 140). Sommer verwendet hier den Begriff „geometrisch“; „topologisch“ wäre jedoch passender.
SAMMELPUNKTE
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Als Sammelpunkt wird bekanntlich oft ein festgelegter Punkt bezeichnet, an dem sich Leute sammeln, bevor es in irgendeiner Weise ‚losgeht‘. Dabei ist erstens nicht genau definiert, in welcher Entfernung vom Sammelpunkt man sich aufhalten darf, um noch dazugehören zu können – der Sammelpunkt ist eben durch einen Punkt definiert und nicht als Raum. Zweitens ist der Sammelpunkt ein Ort, wo man sich zwar sammelt, wo man aber nicht bleibt – er ist eine Durchgangsstation. Und drittens stellt sich unter dieser Voraussetzung die Frage nach den Akteuren und den Aktanten anders: Weder lässt sich sagen, dass sich der Vorgang des Sammelns an einem Sammelpunkt von selbst ereignet, als ein naturwüchsiges Sich-Sammeln, noch kann man behaupten, dass es ein souveränes Subjekt gibt, das die Sammlung vornimmt. Das Subjekt etwa, das sich durch ein hochgehaltenes Schild als menschlicher Sammelpunkt zu erkennen gibt, fungiert nicht im gewöhnlichen Sinne als Sammler. Das, was am Ende zur Sammlung kommt, sammelt sich zwar nicht von selbst, ist aber dazu ‚disponiert‘, sich sammeln zu lassen. Bis zu einem gewissen Grad kann man daher sagen, dass die Kategorie des Sammelpunktes der Akteur-Netzwerk-Theorie entspricht.
2. Sammlungen als Sammelpunkte Die Sammlung stellt sich als Sammelpunkt dar, wenn man die Sache aus der exzentrischen Perspektive des Gesammelten betrachtet – und zwar wirklich aus der Perspektive von Gesammeltem und nicht dessen, was sich ‚von selbst‘ sammelt. Es gibt also jemanden, der sammelt (ein Subjekt, eine Instanz). Aber diese Instanz kann, wenn die Perspektive des Gesammelten eingenommen werden soll, nicht der alleinige Akteur sein. Gegenstand des Sammelns ist, wie Sommer ausführlich darlegt, stets Dinghaftes: Man kann erstens unmittelbar Dinge sammeln, zweitens kann man mittelbar mithilfe von Dingen wie Datenträgern etwas Undingliches sammeln wie etwa Informationen und drittens kann man im übertragenen Sinne zum Beispiel Erfahrungen sammeln, denen man dann etwas Dinghaftes unterstellt. „Auf drei Weisen also kann sich oder läßt sich etwas sammeln: direkt als Dinge, indirekt durch Dinge und metaphorisch wie Dinge.“5 Das Dinghafte impliziert für Sommer „Volumen, Gestalt und Dauer“6. Wie stellt sich also die Sammlung aus der Perspektive des Dings dar? Die Dinge müssen trivialerweise, so ebenfalls Sommer, beweglich sein.7 Die Hände müssen sich sozusagen darum schließen kön-
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Ebd., 127 [Herv. i. O.]. Ebd., 112. Vgl. ebd., 120 [Herv. i. O.].
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nen. Nicht die unnahbaren Sterne in ihrem Zerstreuungsraum kann man sammeln, aber die Taler, zu denen sie geworden sind.8 Nach Maßgabe seiner dinglichen Eigenschaften kann das Gesammelte (oder Eingesammelte) sein Gesammeltwerden überdauern (wenn auch, wie im Falle der gesammelten Beeren oder Pilze, manchmal nur um ein Weniges). Aus der Perspektive der Dinge – der beweglichen, der wandernden Dinge9 – lassen sich Sammlungen daher, so soll hier argumentiert werden, als Sammelpunkte auffassen. Das heißt erstens: Die Dinge geraten in eine Sammlung oder in eine Ansammlung – die Sammlung wird in erster Linie nicht als ein Raum, sondern als ein Ort gedacht. Und zweitens: Wenn das, was gesammelt wird, beweglich ist, kann es die Sammlung möglicherweise auch wieder verlassen – die Sammlung ist nur eine Station. Anders formuliert: Die Sammlung wird nicht unter einer teleologischen Perspektive betrachtet, sondern aus einer Perspektive der Kontingenz. Ganz gleich, welcher Bestimmung das Gesammelte auch immer zugeführt werden soll, es kann etwas anderes mit ihm geschehen (die gesammelten Beeren können verschüttet, die Briefmarkensammlung gestohlen, das Archiv zerstört werden).10 Unter dieser Perspektive werden im Folgenden – zum Zwecke der schlichten Erkundung, zugleich aber mit einem theoretischen Interesse – einige Sorten von Sammlungen betrachtet, insofern sie innerhalb von Abläufen und Geschichten, in denen Dinge wandern, zu Sammelpunkten werden können. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der Frage, wie der jeweilige Ort der Sammlung eingerichtet ist – das heißt, er gilt der institutionellen Dimension. Diese Dimension definiert nicht zuletzt die Art des Beisammenseins der gesammelten Dinge. Und diese Gemeinschaft der Dinge vermag – wie sich zeigen wird – auf ganz verschiedene Weise unsere Imaginationstätigkeit anzureizen.
2.1 Museum Das Museum ist ein Musterbeispiel für eine Sammlung. Warum eigentlich? Das Museum ist nicht nur der Ort einer Sammlung, sondern auch des Zeigens einer Sammlung. Wenn man mit Manfred Sommer zwischen dem ökonomischem gathering und dem ästhetischen collecting als den Polen des Sammelns unterscheidet, so gehört das Zeigen vor allem zu Letzterem: Das ästhetische Sammeln ist das Sammeln von Sehenswertem. Das gesammelte sehenswerte Objekt ist per se „Ausstellungsstück“, es ist „an sich exhibitionistisch“11. Zwischen
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Zur Sammlung der Sterne als Vermessung der Welt bzw. des Weltraumes in Form von Kartographien vgl. Marion Pickers Miniatur „Katographie als Sammlung“ im zweiten Kapitel. Vgl. Zur Theorie des wandernden Dings: Niehaus 2009, Das Buch der wandernden Dinge, 942 und 364-396. Zur Wanderschaft der Dinge unter dem Vorzeichen der Shoah vgl. den Beitrag von Dörte Bischoff „Vom Überleben der Dinge“ im ersten Kapitel. Sommer 2002, Sammeln, 61.
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Sammlung und Zeigen einer Sammlung besteht daher eine Affinität. Die Sammlung hat gewissermaßen eine Tendenz zur Vorzeigbarkeit. Gerade in diesem Umstand ist die (von Sommer nicht thematisierte) institutionelle Dimension besonders greifbar. Der Besitzer, der eine Sammlung zeigt, exponiert sich damit zugleich selbst als ihr rechtmäßiger Eigentümer (man nennt dies auch die Publizitätsfunktion des Besitzes: Weil es riskant ist zu zeigen, was man nicht rechtmäßig erworben hat, darf unterstellt werden, dass das Gezeigte ein rechtmäßiger Besitz ist12). Damit zeigt sich der Sammler zugleich als jemand, der etwas zu zeigen hat. Das gilt für private ebenso wie für öffentliche Sammlungen. Andererseits freilich ist zwischen dem Vorzeigen einer öffentlichen und einer privaten Sammlung kategorial zu unterscheiden. In der öffentlichen Sammlung wird jedem gezeigt, der sehen will. Bei der privaten Sammlung kann es – darüber ließe sich noch mehr sagen – als eine Vergünstigung ausgegeben werden, sie gezeigt zu bekommen (etwa die sprichwörtliche Briefmarkensammlung). Im Museum als einer öffentlichen Sammlung – von was auch immer – werden die gezeigten Dinge bekanntlich neutralisiert.13 Sie sind von den Betrachtern getrennt und voneinander isoliert. Unzugänglich geworden, verlieren sie ihre Kraft. Sie können nichts mehr ausrichten. Sie sind aus dem Verkehr gezogen und auf diese Weise stillgestellt. Und zwar möglichst auf immer. Das Museum rechnet sich seiner Logik nach zu den Institutionen mit Ewigkeitsanspruch (die dem Verfall der Dinge mithilfe von Konservatoren Einhalt zu gebieten versuchen). Es versteht sich nicht als Sammelpunkt. Daher der Aufschrei bei jeder Erwägung, Stücke einer Sammlung zu verkaufen.14 Die öffentliche Sammlung wird daher in den Geschichten, die von wandernden Dingen handeln, in ausgezeichneter Weise als der Endpunkt dieser Geschichte eingerichtet. In Robert Louis Stevensons kleinem Zyklus Der Diamant des Radschas ist davon die Rede, dass dieser ‚sechstgrößte Diamant der Welt‘, der schon viel Unheil angerichtet hat, eigentlich in eine „fürstliche Sammlung“ oder in den „Staatsschatz einer großen Nation“ gehöre. Dass der Edelstein nicht länger von einer Privatperson besessen wird, soll die Gewähr dafür sein, dass er dauerhaft aus dem Verkehr gezogen ist.15 Da der Stein jedoch einst durch die Schenkung eines fragwürdigen Potentaten zum Privateigentum eines Abenteurers geworden ist (und der Rechtsstaat das Privateigentum schützt), gibt es für 12 13 14
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Vgl. Gerhardt 1976, Mobiliarsachenrecht, 4 ff. „Museumsdinge sind Dinge ohne Gebrauchswert […] Das Museumsding muss nicht mehr funktionieren, sondern Sinn stiften […]“ (Thiemeyer 2014, Museumsdinge, 230). Von einer ‚Tötung‘ im Sinne von Boris Groys (vgl. Groys 1997, Logik der Sammlung, 7-62) sollte man schon deshalb nicht sprechen, weil diese Metaphorik ein vorangegangenes Leben voraussetzt; insofern dieses ‚Leben‘ hier nur darin bestehen kann, dass die Dinge zirkulieren, Funktionen haben und Effekte zeitigen, hat auch keine ‚Tötung‘ stattgefunden, da die Museumsdinge aus dem Museum wieder verschwinden und erneut in die Zirkulationssphäre eintreten können. Museumsdinge wären in diesem Sinne allenfalls ‚scheintot‘. Gerade dieser Aspekt erschließt sich, wenn man das Museum als ‚Sammelpunkt‘ beschreibt. Stevenson 1979, Der Diamant des Radschas, 181 f.
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den Helden, den Prinzen Florizel, in dessen Hände er über Umwege gelangt ist, nur eine Alternative zur fürstlichen Sammlung: Er muss den Diamanten endgültig unzugänglich machen, indem er ihn von der Brücke in die Seine wirft.16 Vor allem dann, wenn die öffentliche Sammlung die Form eines Kuriositätenkabinetts annimmt, endet die Geschichte, die zu den dort ausgestellten Objekten erzählt werden kann, regelmäßig damit, wie sie – mehr oder weniger zufällig, da die Dinge ja nicht selbst tätig werden können – in die Sammlung geraten sind. Es ist, als müsste das Ding seine eigene Geschichte erzählen können (die dann auf komplexe Weise mit der Geschichte derer verknüpft wäre, durch deren Hände es gegangen ist). Denn es hat ja – irgendwie – überdauert wie alle Ich-Erzähler. Da es aber stumm ist, muss ihm ein anderer Erzähler seine Stimme leihen. Ob dessen Geschichte allerdings wahr ist, kann man nicht wissen. Zumal wenn es sich um eine unerhörte Geschichte handelt. Solche Geschichten beherbergt das Museum der unerhörten Dinge, das eine Art künstlerische Fortbildung des Kuriositätenkabinetts zum Gebrauch in der Jetztzeit ist. Es ist ein ganz kleines Museum, das sich seit dem Jahre 2000 in der Crellestraße in Berlin-Schöneberg befindet, zwischen den Hausnummern 5 und 6. Es gibt dieses Museum auch im Internet und zu Teilen im gleichnamigen Buch. Dort hat der Direktor des Museums, Roland Albrecht, notgedrungen mehr die Geschichten als die dingliche Präsenz der Exponate betont. Man liest beispielsweise über „Zwei Teile der Schreibmaschine, auf der Walter Benjamin seinen berühmten Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit schrieb“ oder darüber, wie der Stein gefunden wurde, auf den sich Petrarca einst auf dem Mont Ventoux gesetzt hat. Einige Glanzstücke des Museums, wie der „Rote Faden, der durch das Leben des Marquis de Mallet führte“, enthält das Buch leider nicht. In seinem Nachwort gibt Roland Albrecht einige Hinweise, wie er zu den unerhörten Geschichten dieser Dinge in seiner Sammlung gekommen ist. Wenn es sich bei den Dingen nicht gerade um „Plappermäuler“ handle, müsse man ihnen ihre Geschichte ablauschen. Die Dinge schweigen manchmal Jahre vor sich hin, müssen erst Vertrauen schöpfen, Sicherheit bekommen, machen oft mehrere Anläufe, um dann wieder in Schweigen zu verfallen und dann doch noch, zuerst bruchstückhaft und langsam, bald aber immer mehr von ihrer Geschichte preiszugeben und mir anzuvertrauen. So sammeln sich die eigentlich wahren unerhörten Dinge im Depot des Museums an.17
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Ein ‚Staatsschatz‘ oder eine ‚fürstliche Sammlung‘ ist natürlich nicht unbedingt ein Museum, aber diese Institutionen haben insofern eine Affinität zum Musealen, als die dort gesammelten Dinge erstens aus dem Verkehr gezogen und zweitens vorzeigbar sind, weil sie ‚zu Recht‘ an ihrem Ort sind. Albrecht 2005, Museum der unerhörten Dinge, 114. Durch ein ähnliches Museum unerhörter Dinge der Kulturgeschichte führt uns Nathaniel Hawthorne in seiner Erzählung „A Virtuosoʼs Collection“, vgl. dazu Mona Körtes Miniatur „Ohne Mühe und Anordnung zusammengeworfen“ im zweiten Kapitel.
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2.2 Depot Nicht nur das private Museum der unerhörten Dinge, auch staatliche Museen haben ein Depot. Unter diese Kategorie lassen sich zunächst einmal formal alle Orte subsumieren, wo etwas Gesammeltes, das gezeigt werden könnte, nicht gezeigt wird: Das, was gezeigt wird, setzt einen nicht einsehbaren Teil und einen nicht frei zugänglichen Ort voraus.18 Der unsichtbare Teil, der sich im Depot (oder im Magazin befindet) kann den gesamten Bestand umfassen: Was im Archiv liegt, wird nur auf Verlangen gezeigt.19 Im Depot befinden sich die Dinge in einem anderen Aggregatzustand. Sie rücken in unserer Vorstellung näher aneinander. Zwar können wir nicht wissen, wie es um die Ordnung des Depots bestellt ist, doch stellen wir uns die Dinge hier dicht auf dicht vor, ohne einen Raum um sich herum, der sie zur Geltung bringt. Hier wären die Dinge unter sich, in ihrer eigenen Gesellschaft, unbeobachtet. Hier fügte es der Zufall, dass Ungleichartiges in Nachbarschaft zueinander geriete, hier könnte es unvorhersehbare Kommunikationen zwischen den Dingen geben. Das sind natürlich romantische Vorstellungen. Aber diese Vorstellungen sind eben Effekt der Unzugänglichkeit des Depots. Das Depot kann – in seinen verschiedenen Erscheinungsweisen – ein Ort für die Imagination werden. Das Depot ist also in besonderer Weise ein Sammelpunkt – kein Bestimmungsort, sondern ein Wartezustand. Keinem beweglichen, keinem wandernden Ding kann unterstellt werden, es sei ihm beschieden, in einem Depot zu enden. Vielmehr muss es entweder der endgültigen Vernichtung oder Konsumption anheimfallen oder es muss zu neuer Sichtbarkeit aufsteigen.20 Ein Blick muss darauf fallen. Es muss – wenn es sich um das Depot eines Museums handelt – ausgewählt und erneut gezeigt werden. Und so erweist sich auch das Museum nicht als ein wirklicher Endpunkt der sammelbaren Dinge, da es strukturell bestimmt ist durch ein eigentümliches Hin- und Herwandern zwischen dem sichtbaren und dem unsichtbaren Teil der öffentlichen Sammlung. 18
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„Museumsdinge kennen […] zwei Aggregatzustände: Als Archivalien lagern sie als materielle Speicher des kulturellen Gedächtnisses in den Sammlungsräumen, als Exponate zeigen sie sich in Ausstellungen als Quellen oder Anschauungsobjekte“ (Thiemeyer 2014, Museumsdinge, 230). Zu den Depots des „großen Museums“ als „Bleikammern“ in Serge Rezvanis Roman LʼOrigine du monde und dem Traum der Konservatoren, die Dinge und insbesondere die Kunstwerke vor dem Verfall zu retten vgl. Ingrid Strebles Überlegungen „Das totale Museum“ im zweiten Kapitel. In der Archäologie heißen alle Funde von Dingen, die seinerzeit niedergelegt (und nicht etwa verloren) worden sind, Depotfunde. Das sind in der Regel Orte, wo mehrere gesammelte Dinge gefunden werden (Verwahrfunde, Rohstoffdepots, rituelle Niederlegungen, Horte), aber im Grenzfall werden auch Einzelfunde als Depotfunde bezeichnet (vgl. Eggert 2002, Prähistorische Archäologie, 48), weil das Ding allein durch sein Niedergelegtwordensein einen Ort (einen Sammelpunkt) definiert. Solche archäologischen Depotfunde sind gute Beispiele für die Logik des Sammelpunkts. Denn die Dinge, die in einem solchen Depot entdeckt werden, bleiben eben nicht in diesem Depot, sondern werden nun an einen anderen Ort (in ein anderes Depot) gebracht.
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Das Depot eines Museums ist natürlich ein – mehr oder minder prosaischer – Sonderfall. Das Depot eines Theaters zum Beispiel heißt Fundus. Auch dort befinden sich die Dinge in einem Wartezustand. Nur sind es hier Dinge, die ihren Wert nicht in sich tragen und nicht in dem, was sie repräsentieren. Dem Theaterfundus ist die Kontingenz – vor allem in der Heterogenität des Deponierten und in der Vorläufigkeit seines Deponiertseins – in besonderer Weise eingeschrieben. Ein Requisit ist ja dem lateinischen Wortsinn nach ein erforderliches Ding. Es ist schon einmal erforderlich gewesen, und eine Aussicht auf erneute Erforderlichkeit – auf eine Art Nachleben – ist alles, was das im Fundus Versammelte oder Angesammelte gemeinsam hat. Was es erhoffen kann, ist einerseits mehr als bloße Sichtbarkeit, insofern die wieder herausgeholten Requisiten ja Teil der Handlung sind; sie sind es freilich andererseits nur zum Schein, weil die Handlung selbst lediglich vorgezeigt wird.
2.3 Rüstkammer und Verwandtes Auch fürstliche Sammlungen und öffentliche Museen müssen innerhalb von Geschichten nicht als sichere Orte fungieren. Sogar die Mona Lisa war zwischen 1911 und 1913 verschwunden. Der Raub der britischen Kronjuwelen ist ein beliebtes literarisches und filmisches Motiv. Interessanter jedoch sind Geschichten, in denen es nicht bloß um die – kaum Rätsel aufgebende – Entwendung eines wertvollen Objektes aus einer staatlichen Sammlung geht. Erst dann, wenn die Sammlung nicht nur – aus der Perspektive der Begehrlichen – als abgeschlossener und widerrechtlich zu öffnender Raum in die Geschichte eintritt, kann die Logik solcher Sammlungen hervortreten. Solche Geschichten können den institutionellen Status einer fürstlichen Sammlung als etwas Zweifelhaftes erscheinen lassen: Auch der Fürst kann als Privatperson agieren; auch ein Staatsschatz kann durch Raub angehäuft worden sein. Man könnte sogar fragen: durch was sonst? Jedenfalls braucht die Rüstkammer eines Fürsten kein rechtmäßiger Ort zu sein. Dem Prolog zum Roman The Moonstone von Wilkie Collins aus dem Jahr 1868 zufolge ist der titelgebende Diamant von seinem rechtmäßigen Platz, an dem er eine Statue der indischen Mondgöttin zierte (und somit kein Teil einer Sammlung war), geraubt und dem Staatsschatz des Sultans Tipu einverleibt worden. Von dort raubt ihn ein britischer Kolonialoffizier und bringt ihn ins Mutterland des Empire, wo er als interkulturelles Ding21 allerlei Unheil anrichtet, bis er im Epilog des Romans wieder die indische Mondgottheit schmückt. In der Geschichte des wandernden Dings muss das Ding am Ende dahin gelangen, wo es hingehört. Überdies sind natürlich auch Mitglieder eines ‚fürstlichen Hauses‘ Privatpersonen, die das Ding einer erneuten Außenwirkung zuführen können. Dadurch 21
Vgl. Niehaus 2010, Interkulturelle Dinge, 37 ff. Innerhalb von Geschichten, in denen interkulturelle Dinge aus einer Kultur in eine andere wandern, fungiert die Kultur, in die sie geraten (meist die koloniale), in der Regel nur als Station.
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kann das Ding beispielsweise seine genealogische Dimension unter Beweis stellen. In Ludwig Tiecks Trauerspiel Karl von Berneck (1795) fällt dem – in langjähriger Abwesenheit des Vaters – von Mutter und Bruder zurückgesetzten und melancholisch veranlagten Sohn Karl in der Rüstkammer des Schlosses eben jenes Schwert zur Ausführung seiner Rache am Liebhaber der Mutter (und dann auch an der Mutter selbst) in die Hände, mit dem schon der Vorfahr seinen Bruder getötet und damit den Fluch auf das Haus geladen hatte. Ein Ding, das in dieser Weise von der Sammlung für eine Wiederverwertung bereitgehalten wird, nennt man bekanntlich Schicksalsrequisit. Und tatsächlich setzt die theatralische Aufführung, die hier agiert wird, den Fundus voraus, als welcher die fürstliche Sammlung in genealogischer Perspektive angesprochen werden kann. Die Rüstkammer wird nur dann als endgültig neutralisierender Endpunkt der Geschichte eines wandernden Dings fungieren können, wenn dieses keinen Kurswert mehr außerhalb des Herrscherhauses hat und keine symbolische Bedeutung mehr innerhalb des Herrscherhauses transportiert. Die Erzählung streicht dann die Rüstkammer als Sammelpunkt gewissermaßen durch. Kein Leser wird daran zweifeln, dass die verhängnisvolle Schürze in Clemens Brentanos Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl (1817), mit der die Großmutter den abgeschlagenen Kopf des Jägers Jürge bedeckt und Annerl ihr Kind erstickt hat, in der herzoglichen Kunstkammer für immer unschädlich gemacht worden ist.22 Sie ist keine Requisite mehr, sondern ein Relikt. So auch die altmodischen Hosen des Herrn von Bredow aus dem gleichnamigen Roman (1846) von Willibald Alexis, die am Ende der Romanfortsetzung Der Werwolf (1848) noch einmal unversehens dem Kurfürsten Joachim aus einer peinlichen Situation helfen, bei dieser Gelegenheit in dessen Besitz übergehen und in seiner Rüstkammer aufgehängt werden. Höchstens die Nachgeschichte seiner volkskundlichen Musealisierung kann einem solchen Relikt noch bevorstehen. Alexisʼ historischer Roman aus der Reformationszeit deutet sie an, wenn er zum Verbleib der Hosen noch hinzufügt: „Aus der Rüstkammer kamen sie nachmals in das Zeughaus zu Berlin, wo sie noch heutzutage hangen und für jedermann zu sehen sind. Man verwundert sich, wie stark damals die Leute gewesen sein müssen, die solche Hosen tragen konnten.“23 Das ist natürlich implizit poetologisch – denn die genauere Geschichte dieses anstößigen Dings erzählen ja die beiden Romane. Die Rüstkammern von heute sind ohnehin schon deshalb Museen von morgen, weil das Rüstzeug, das sich zunächst einmal darin befunden hat, notwendigerweise veraltet. Das gilt allen voran für die Waffen, seien es die eigenen oder die zu Trophäen gewordenen Waffen der Gegner. Dass sie gleichwohl noch zu gebrauchen sind (wie in Tiecks Karl von Berneck zu sehen), macht eine
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Auch diese Schürze ist ein Schicksalsrequisit – aber eben eines ohne Bezug zur Genealogie des Herrscherhauses. Deshalb kann sie in der Kunstkammer neutralisiert werden. Alexis o.J., Der Werwolf, 426.
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der Ambivalenzen der Rüstkammer aus. Hier ließe sich eine weitere Unterscheidung einführen. Bei dem Ort, an dem sich Waffen zuhauf befinden, spricht man nicht von einer Sammlung, sondern von einem Arsenal. Ein Arsenal (das ebenso gut vorgezeigt wie verborgen gehalten werden kann) ist insofern in ausgezeichneter Weise lediglich eine Station, als die Waffen klassischerweise ihre Daseinsberechtigung in ihrem zukünftigen Gebrauch haben. Ein Arsenal muss nicht unbedingt eine Sammlung sein, weil die Dinge, die sich dort befinden, theoretisch durchaus dort hergestellt worden sein können und sich insofern nie in einem Zerstreuungsraum befunden hätten. Wer hingegen Waffen bloß sammelt, hat nicht mehr vorzüglich ihre instrumentelle Funktion im Sinn: Auch Waffensammler nehmen ein ästhetisches Verhältnis zu den Objekten ihrer Sammlung für sich in Anspruch. In der Geschichte einer Waffe wäre das Arsenal bestenfalls ein Sammelpunkt.
2.4 Schatzhöhle versus Reliquar Im Depot eines Museums herrschen, so wollen wir hoffen, geordnete Verhältnisse (es soll dort nicht drunter und drüber gehen wie in unserem Unbewussten). Den Fundus und die Rüstkammer kann man sich als Sammlungen von begrenzter Ordnung vorstellen, in der eher nur die gleichartigen Dinge dicht an dicht beisammen liegen, stehen oder hängen. Der Schatzhöhle traut man noch größere Auflösungserscheinungen zu. Die Kisten mit Schmuck und Juwelen, die uns in den Märchen geschildert und in Comics abgebildet werden, quellen über. Goldstücke sind auf dem Boden verstreut. Wer hier unerkannt eindringt, wird etwas an sich raffen können, ohne dass es bemerkt wird. Aber auch dann, wenn einigermaßen Ordnung herrscht, sind die hier angehäuften Dinge durch ihre Abstandslosigkeit gekennzeichnet: Goldstücke zu Goldstücken, Edelsteine zu Edelsteinen usw. In der Schatzhöhle herrscht – wenn man die nur auf den ersten Blick einfache Unterscheidung bemüht – das akkumulierende gathering vor, nicht das differenzierende collecting: Man möchte von allem möglichst viel haben, nicht aber möglichst viel Verschiedenes.24 Bevor Schatzkammer und Schatzhöhle kurz betrachtet werden, soll die Abstandslosigkeit der dort gesammelten oder besser gehäuften Dinge jedoch noch dem Gegenstück gegenübergestellt werden, in der jedem einzelnen Ding ein eigener Ort eingeräumt wird. Bis zu einem gewissen Grad ist dies beim Ausstellungsstück im Museum der Fall, zumal wenn es sich um Kunstwerke handelt, die ihre Aura entfalten müssen. Aber hier ist der den Exponaten zugestandene Raum kein ihnen zukommender Ort, da sie jederzeit ins Depot verschwinden können. Was die Logik des Sammelns betrifft, ist das Gegenstück von Schatzkammer und Schatzhöhle vielmehr die Aufbewahrung der Reliquie.
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Manfred Sommer, der diese Unterscheidung zugrundelegt, diskutiert selber deren Problematik; vgl. Sommer 2002, Sammeln, 27 ff.
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Reliquiare dienen dazu, Dingen einen dauerhaften Ort und damit einen Platz einzuräumen. Aber eben nur einem einzigen Ding. Christliche Reliquien dulden keine unmittelbare Berührung mit ihresgleichen. Wenn man sie sammelt, muss man sie samt ihrer Reliquiare sammeln. Aber kann man Reliquien überhaupt sammeln? Ist beispielsweise die Unterscheidung zwischen gathering und collecting auf Reliquien anwendbar? Auf jeden Fall sind Reliquien zunächst einmal als Mangelware definiert. Im Frühchristentum wurden die Kirchen gewissermaßen um eine Heiligenreliquie herum errichtet, die im Altar aufbewahrt wurde. Nach einem Beschluss des Konzils von Nicäa im Jahr 787 musste sogar jeder geweihte Altar eine Reliquie enthalten. Karl-Heinz Kohl führt in seinem Buch über die Geschichte und die Theorie sakraler Objekte mit dem Titel Die Macht der Dinge aus, der Brauch, Kirchen mit Nebenaltären zu versehen, gehe darauf zurück, dass die Kirchengemeinden „für jede Reliquie, die sich in ihrem Besitz befand, einen eigenen Ort der Verehrung haben wollten“25. Das Reliquiar – das kostbare Gefäß für die einzelne Reliquie – ist die Schrumpfform dieses notwendigen eigenen Platzes, an dem die Reliquie von ihresgleichen abgeschirmt und identifizierbar ist, zugleich aber ausgestellt wird. Insofern wäre die Reliquie der Idee nach die einzige Form der Aufbewahrung, die die als eine endgültige konzipiert ist, weil es das für die Sammlung typische Oszillieren zwischen Gezeigtwerden und Verschwundensein nicht mehr geben muss. Die Reliquie wäre gewissermaßen vollständig instituiert. Und dies ist auch die Voraussetzung für die erwartete Entfaltung ihrer Wirksamkeit – für ihre Außenwirkung. Von der Reliquie erwartet man sich ja Wunderdinge. Aber dass man sie sich von ihr erwarten darf, kann man ihr nicht ansehen. Ihre Wunderkraft liegt in ihrer Herkunft begründet; diese ist aber stets zweifelhaft. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass Reliquien in den Zeiten, in denen man sich viel von ihnen versprach, häufig geraubt wurden, dass man schwunghaften Handel mit ihnen trieb oder sie zweifelhafter Weise als herrschaftliche Gaben verwendete.26 Es liegt also nicht nur am Dunkel der Geschichte und an der langen Zeitspanne, die der Bericht von ihrer Herkunft zu überbrücken hat. Die sogenannten Authentiken – Pergamentstreifen, auf denen der Name des betreffenden Heiligen zwecks Beglaubigung verzeichnet war – führen nur das konstitutionelle Problem vor Augen: dass die Reliquie nicht sagen kann, was sie ist (oder nicht ist). An und für sich betrachtet sind Reliquien eben Überreste, die gewöhnlich als wertloser Abfall, Plunder, Fetzen, Gebein beiseite geräumt oder verscharrt werden. In einer Schatzkammer oder Schatzhöhle ohne ordentliche Buchführung wären sie rettungslos verloren. Institutionell gesehen besteht das Sammeln nicht nur darin, Dinge in einem Raum zu versammeln, sondern darin, ihnen dort einen Ort zuzuweisen. In dieser Hinsicht sind die Reliquien Paradigma und Ausnahme. Wenn man sie entwendet, nimmt man ihren Ort mit. Oder umgekehrt: Da man Reliquien nur in ihren Behältnissen 25 26
Kohl 2003, Die Macht der Dinge, 57. Vgl. etwa Legner 1995, Reliquien in Kunst und Kultur, 45-48.
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sammeln kann, sammelt man eigentlich die Reliquiare. In gewisser Weise sammelt man also Orte mittels Dingen. Doch nun zu den märchenhaften Orten Schatzkammer und Schatzhöhle. Dort können die Dinge in Haufen herumliegen, weil sie keinen Raum um sich herum benötigen, um zu wirken. Was sich dort befindet, ist eben kein Plunder, sondern wertvoll. Das heißt: Man sieht ihm an, dass es einen Tauschwert hat. Abgesehen davon kommt es aufs Einzelne ohnehin nicht an, sondern darauf, dass man ins Volle greifen kann. Der Unterschied zwischen Schatzkammer und Schatzhöhle ist dabei – was das Märchen angeht – einfach zu bestimmen: Die eine ist dem Fürsten zugeordnet, die andere dem Räuber. Die eine ist ein unzugänglicher, aber bekannter Ort (in der heutigen Schrumpfform etwa das Bankschließfach), die andere ein unzugänglicher und unbekannter Ort (in unserer profanen Welt die verscharrte Beute) – ein nicht instituierter Ort und insofern ein Nicht-Ort, an dem die Dinge nicht bleiben können. Insofern Schatzkammer und Schatzhöhle keine Bestimmungsorte sind, sondern Orte des Entzugs, ist der Unterschied zwischen ihnen aber nur relativ. Aus der Sicht des Gesammelten gilt: In beiden Fällen ist dem Verkehr der Welt entzogen, was ihm (weil es einen Marktwert hat) nicht entzogen sein sollte – sei es durch legalisierten oder durch illegalen Raub. Dies gilt freilich ganz im Allgemeinen. Von der besonderen Seite des einzelnen wandernden Dings aus betrachtet verdient etwas anderes Beachtung: Das Ding geht in der akkumulierenden und entdifferenzierenden Schatzkammer bzw. Schatzhöhle gewissermaßen verloren. Es wird unsichtbar in der Fülle der Dinge, in der Fülle des Gesammelten. Vom Standpunkt der Geschichte aus, die von einem wandernden Ding erzählt werden kann, befindet sich dieses in der Schatzkammer bzw. Schatzhöhle daher in einer Wartestellung, bis es entdeckt wird – bis entdeckt wird, dass es in ausgezeichneter Weise nicht hierher gehört, dass es sich von den anderen Dingen unterscheidet und nur durch Zufall hierher geraten ist.27 Ein Beispiel hierfür ist Aladin aus den Erzählungen aus den Tausendundein Nächten: Der kundige Zauberer schickt den ahnungslosen Jungen in die Schatzhöhle, um aus der Fülle der Dinge genau diese Lampe heraufzuholen – das unscheinbare Wunderding, das von anderer Art ist als alle anderen Dinge und ohne das Wissen des Zauberers in der Fülle der Schatzhöhle verloren gehen würde. Ein zweites Beispiel vermag die Funktion der Schatzhöhle als zeitweiliger Haltepunkt noch deutlicher vor Augen zu stellen. In Richard Wagners Ring des Nibelungen befinden sich Ring und Tarnkappe die längste Zeit in dem von Fafner gehüteten Nibelungenhort, der übrigens – da in gewissem Sinne ‚rechtmäßig‘ erworben – ein Hybrid aus Schatzhöhle und Schatzkammer darstellt. Die Wartezeit, die diese beiden Dinge, aus dem Verkehr gezogen, im Verborgenen liegen, ist genau jene
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Die Perspektive eines wandernden Dings einnehmen, heißt immer: ein bestimmtes Ding auszeichnen, es von den anderen Dingen zu unterscheiden.
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Frist, die den Göttern eingeräumt ist, die Welt zu ordnen, bevor es an die Götterdämmerung geht. Eine weitere Bedingung ist, dass der Hüter des Schatzes, der zum Lindwurm gewordene Riese Fafner, um die Kräfte dieser Dinge nicht weiß. In der Schatzkammer bzw. der Schatzhöhle tritt eine strukturelle Eigenschaft von Sammlungen hervor: Es ist in einer Sammlung stets möglich, nicht zu wissen, was man besitzt. Es ist möglich, dass der Schatz einen Schatz birgt.28 Das hängt damit zusammen, dass der Begriff der Sammlung – wie oben bereits angedeutet – logisch gesehen zwei Beschreibungsebenen aufruft: die physikalische und die topologische. Aus der (notwendigen) Überlagerung dieser Beschreibungsebenen entsteht das latente Spannungsverhältnis zwischen Eingeschlossensein und Dazugehören. Dem Ding, das in eine Sammlung eingeschlossen ist, aber (aus einer bestimmten Perspektive) nicht wirklich dazugehört, wird ein anderes (erzählenswertes) Schicksal zuteil. Ein Ding kann in einer Sammlung nicht nur in der Fülle der gesammelten Gegenstände verloren gehen, sondern auch in der Gleichartigkeit ihres Aussehens. So gilt bekanntlich für Bibliotheken die Warnung, dass verstellte Bücher verlorene Bücher sind. In der Erzählung Das Sandbuch von Jorge Luis Borges etwa erwirbt der Erzähler das titelgebende Buch, von dem sich herausstellt, dass es unendlich viele Seiten hat. Auf der Suche nach einem Ort, wo er sich von dieser immer mehr von ihm Besitz ergreifenden „Ungeheuerlichkeit“ befreien kann, ohne sie jemand anderem aufzubürden, verfällt er auf die Idee, das Buch an einer entlegenen Stelle der Nationalbibliothek zu deponieren: „Mir fiel ein, daß das beste Versteck für Blätter der Wald ist.“29 Freilich wird auch dieser Ort – wie jedes Depot – möglicherweise nur eine Zwischenlösung, ein Sammelpunkt, gewesen sein. Aus der Sicht der Bibliothek sind verstellte Bücher verlorene Bücher. Aber was verloren ist, kann wiedergefunden werden. Das Verlorengehen von Dingen in Sammlungen hängt damit zusammen, dass differenzierendes Sammeln grundsätzlich zwei Ausrichtungen haben kann: Entweder kann die paradigmatische oder syntagmatische Ausrichtung im Vordergrund stehen. Gewiss denkt man bei Sammlungen, die gezeigt werden sollen, vornehmlich an Paradigmatisches (man sammelt Bilder, Briefmarken, Bierdeckel), aber es gibt auch museales Sammeln mit einer syntagmatischen Komponente (z. B. alles, was mit einer Person, einer Epoche, einem Gewerbe oder einer Technologie zu tun hat). Das paradigmatische Sammeln weist nun, was die Verlierbarkeit der Gegenstände angeht, eine Ähnlichkeit zum akkumulierenden Sammeln nicht-differenzierter Gegenstände auf, insofern es sich um Reihen ähnlicher Gegenstände handelt. Eine sehr wertvolle Briefmarke zum 28
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Bei Wagner im Ring des Nibelungen wird diese Eigenschaft durch die zusätzliche Bedingung flankiert, dass nur derjenige diese beiden Gegenstände nach der Tötung Fafners mit sich nehmen darf, der nicht weiß, was man mit ihnen anstellen kann. Die Stimme des Waldvogels informiert den ahnungslosen Siegfried genau so weit, dass er die Dinge an sich nimmt, ohne zu wissen warum. Vgl. Wagner 1994, Der Ring des Nibelungen, 222 f. Borges 2001, Das Sandbuch, 182.
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Beispiel sieht ungefähr so aus wie eine sehr gewöhnliche und kann daher zwischen diesen schwer auffindbar sein (daher bedarf es der Zuweisung von Plätzen). Beim syntagmatischen Sammeln hingegen hätte im Idealfall alles seinen angestammten Platz im präsentierten Syntagma – etwa bei einem in den Originalzustand versetzten Arbeitszimmer eines Dichters. Im Grenzfall bedürfte das syntagmatische Sammeln des Depots nicht, weil das Gezeigte zur Reliquie geworden wäre.
2.5 Antiquitätengeschäft und Verwandtes Man könnte noch einige weitere Formen der Sammlung im Hinblick auf ihre ‚Sammelpunkthaftigkeit‘ unterscheiden. Zum Beispiel das Antiquitätengeschäft in seinen verschiedenen Schattierungen, das sich als einen Hybrid aus Museum, Depot und Schatzhöhle beschreiben ließe. Es ist trivial, dass die Dinge im Antiquitätengeschäft nur einen Sammelpunkt haben – schließlich sollen sie an den Mann gebracht werden. Trotzdem wird man kaum abstreiten wollen, dass der Besitzer eines solchen Geschäftes einer Sammeltätigkeit nachgeht, in der sich akkumulierendes und differenzierendes Sammeln auf komplexe Weise überlagern. Antiquitätengeschäft und Trödelladen sind daher ebenfalls Orte der Imagination. Es ist aber eine andere Form der Imagination als beim unzugänglichen Depot eines Museums. Sie speist sich unter anderem daraus, dass die Dinge hier zwar einerseits gezeigt werden, gleichwohl aber andererseits verborgen sein können. Das unübersichtliche Antiquitätengeschäft ist der Aggregatzustand der Sammlung, der sich in besonderer Weise für das Imaginieren eines Fundes eignet – also ein Ort der Kontingenz. Man kann es betreten in der Hoffnung, zwischen dem Gleichgültigen etwas Wertvolles zu entdecken, einen verborgenen, unerkannten Schatz. In den Geschichten, die in der Literatur erzählt werden, können aber auch Dinge ins Auge fallen, die das Leben verändern. Der Hauptmann von Köpenick etwa kommt zu der Uniform, die schon von Anfang an durch das Drama Zuckmayers gegeistert ist, in „Krakauers Kleiderladen in der Grenadierstraße“30. Dem lebensmüden jungen Protagonisten in Balzacs Chagrinleder wird – nach der emblematisch ausladenden Beschreibung eines mythischen Antiquitätengeschäftes – im obersten Stockwerk schließlich das merkwürdige Wunderding gezeigt, das sich dann mit jedem Wunsch, den es erfüllt, zusammenzieht und die Lebenszeit des Helden verkürzt.31 Der Trödelladen hat natürlich eine gewisse Ähnlichkeit mit dem heterogenen Sammelsurium, das sich auf den Dachböden und in den Kellern von Privathäusern angesammelt hat. Soll man als Sammlung bezeichnen, was sich offenbar nicht dem Willen etwas zu sammeln verdankt, sondern dem Wunsch, etwas aus 30 31
Zuckmayer 2003, Der Hauptmann von Köpenick, 103. Vgl. Balzac 2007, Das Chagrinleder, 23-45.
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dem Wege zu räumen, in eine Sphäre der Unsichtbarkeit zu verbannen, als Vorstufe der endgültigen Entsorgung? Gerade hier erweist sich der Vorteil der Kategorie Sammelpunkt. Denn ein Sammelpunkt ist der Dachboden ganz gewiss und sogar auf ausgezeichnete Art und Weise: Erstens gibt es hier weder ein souveränes Subjekt mit der Intention zu sammeln noch sammelt sich das Ausrangierte ‚von selbst‘ an; und zweitens ist der Dachboden gewiss transitorisch, da er ja das enthält, was man vorerst noch nicht wegwerfen oder vernichten will. Der Dachboden ist ein Sammelsurium, das ausrangierte Sammlungen beherbergen mag, die bei Bedarf wieder hervorgeholt werden, das wie der Laden eines Altkleiderhändlers als Fundus alter Sachen fungieren kann, und das auch Züge einer bürgerlichen Rüstkammer hat, mit der dazugehörigen genealogischen Dimension. Und schließlich zeigt die Ansammlung auf dem Dachboden in besonderer Weise die Sammlung als einen Ort, bei dem sich die Frage nach dem Verhältnis von Einschluss und Dazugehören stellt.32 Denn der Dachboden ist ein Sammelpunkt, der nur in einer gleichsam mythischen Anfangszeit einmal jungfräulich und leer gewesen ist. Wer etwas auf dem Dachboden abstellt, der stellt etwas dazu. Genau darin besteht die genealogische Dimension: Das, was ich dort ansammle, vermischt sich mit dem, was meine Vorgänger oder Vorfahren dort angesammelt und mir überlassen haben (gehört es dann zu dem, was ich dort angesammelt habe?). Oder ich stelle das, was andere vor mir gesammelt haben, nunmehr auf den Speicher (hätte es damit aufgehört, eine Sammlung zu sein?). In der Einrichtung des Speichers, des Dachbodens stellt sich also die Frage nach dem Subjekt des Sammelns und damit nach der institutionellen Dimension auch der privaten Sammlung noch einmal anders. Auf der einen Seite hängt diese institutionelle Dimension mit der Affinität der Sammlung zum Vorzeigen zusammen – dafür steht das Museum. Auf der anderen Seite zeigt sie sich darin, dass die Sammlung etwas sein kann, was man übernimmt oder in seinem Besitz hat, ohne es genau zu kennen und zu überblicken – dafür steht der Dachboden. Die räumliche Metaphorik des Sammelpunkts – so das Ergebnis dieser schlichten Erkundung – stellt erstens vor Augen, dass Sammlungen nur relativ geschlossene Räume sein können, weil sie Einrichtungen dieser Welt sind. Aus dem gleichen Grunde sind sie zweitens für die Dinge, die sie beherbergen, keine wirklichen Endpunkte. Endpunkte haben die Dinge nur durch ihre reale Zerstörung oder innerhalb von Geschichten, die ihnen einen Platz zuweisen. Und damit ist die Sammlung schließlich drittens unaufhebbar heterogen, da sie den Akteur-Status des Gesammelten nur auf den ersten Blick zu neutralisieren vermag.
32
Vgl. dazu Ulrike Vedders Untersuchungen zur genealogischen Funktion der „gendered objects“ auf dem Dachboden in Stifters Erzählung „Die Mappe meines Urgroßvaters“ im ersten Kapitel.
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OHNE MÜHE UND ANORDNUNG ZUSAMMENGEWORFEN: „QUEER ANALOGIES“ IN NATHANIEL HAWTHORNES „A VIRTUOSO’S COLLECTION“
It is the wishing-cap of Fortunatus. Will you try it on? Nathaniel Hawthorne, „A Virtuoso’s Collection“, 1842
Wer sehnt sich nicht nach der Möglichkeit, Kulturgeschichte nicht nur auf ihr Nachleben in Texten zu untersuchen, sondern ihre materiellen Überbleibsel in Augenschein oder gar in die Hand zu nehmen, den goldenen Schenkel des Pythagoras zu berühren, die Sandalen der Diane mit dem ehernen Schuh des Empedokles zu vergleichen, die blutverkrustete Stahlfeder des Faust zu inspizieren, mit der er den Teufelspakt unterschrieb und sich anschließend in den Ruhesessel François Rabelais’ zu werfen. Mit anderen Worten, alle Gegenstände aus ihrem Raum und ihrer Zeit herausgelöst in einem bunten Nebeneinander auf den Grund ihres Überlebens, auf ihre aktuelle Gültigkeit, ihre Mitteilungen durch die Zeit hin zu befragen und sie, wenn sie stumm bleiben, auszusondern. Es gibt immerhin eine Sammlung, in der eine solche Haltung den Dingen gegenüber erlaubt zu sein scheint, aber eben nur fast: In Nathaniel Hawthornes Erzählung „A Virtuoso’s Collection“1 aus dem Jahre 1842 bietet die Titelfigur, der Virtuose, dem Besucher die angehäuften Artefakte und Überbleibsel der Geschichte zu seiner Verfügung an: Er darf sie berühren, probieren, in der Hand wiegen und mit Ähnlichem vergleichen. Zugleich aber warnt der „ganz besondere Blick“/„a peculiar glance“2 des Virtuosen entschieden davor, dieses Angebot wörtlich zu nehmen, in dem Fall also an der Lampe des Aladin zu reiben, die Wunschkappe des Fortunatus zu probieren oder an einer mit Lebenselixier gefüllten Urne zu nippen. Rede und Blick des Virtuosen, der durch ein Museum voller „wunderliche[r] Verbindungen und absurde[r] Entsprechungen“/„whimsical combinations and ludicrous analogies“3 führt, eröffnen und schließen,
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Vgl. Hawthorne 1894, Collection, 410-427; dt. vgl. ders. 1995, Sammlung, 84-104 und 221226. Hawthorne 1995, Sammlung, 97, engl. ders. 1894, Collection, 421. Hawthorne 1995, Sammlung, 101, engl. ders. 1894, Collection, 425.
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erlauben und sanktionieren die möglichen Umgangsweisen mit gesammelten Dingen.4 Dieser sonderbare Text, der nicht zu den bekannten Texten Nathaniel Hawthornes gehört, ist für die Engführung von Ordnung und Sammlung, von toten Dingen und sprechenden Räumen wesentlich und dies auf gleich mehreren Ebenen: Zunächst ist die Erzählung selbst Teil einer Sammlung, eines Bandes kürzerer Geschichten mit dem Titel Mosses from an old Manse, in dem sie ein eher unbeachtetes Dasein führt und in ihrem Verhältnis zu den anderen Exemplaren der Sammlung bisher nicht recht gewichtet wurde. Dies mag daran liegen, dass diese Erzählung keinen Plot hat und von nichts anderem berichtet als vom Gang durch ein Museum; sie besteht fast ausschließlich aus dem Reden über Dinge, aus dem Identifizieren, Zuordnen und Kontextualisieren von Artefakten und der Verzeichnung ihres ramponierten Zustands. Wortreich in Bewegung versetzt wird diese Sammlung durch die Titelfigur des Virtuosen, der den einzigen Besucher und Ich-Erzähler anstelle eines „beschreibenden Katalog[s]“5 durch seine Sammlung führt. Er ist jedoch nicht nur ein Katalog in Person, sondern diktiert durch sein besonderes Verhalten, genauer seinen besonderen Blick, die Vorsichtsmaßregeln in einem Museum, die vor einer Berührung der Gegenstände durch den Besucher warnen. Der Führer verkörpert gleichsam die für eine kostbare Sammlung einzuhaltenden Maßnahmen und Regelungen und bietet sich als Such- und Findehilfe des ins Museum stolpernden Besuchers an. Auf der Ebene der histoire begnügt sich der Text damit, durch eine geräumige Halle, die Nebenräume und das Geheimzimmer der Sammlung zu führen, und die wachsende Ungeduld des Besuchers angesichts des scheinbar planlosen Zusammentragens gleichartiger Dinge zu zügeln: „Wenn Sie mir nichts wirklich Besonderes zeigen können, möchte ich nicht weiter in Ihrem Museum bleiben!“6 und „Zeigen Sie mir etwas anderes“7 lauten die an den Museumsführer gerichteten Forderungen des Besuchers. Gleichsam quer zu der Hast des Besuchers und seinem Wunsch, die Räume zu durcheilen, vollzieht sich auf der Ebene der narration eine Retardation, die diese Bewegung aufhält oder gar torpediert. Schnell wird deutlich, dass die Aussagen über die Sammlung und ihre Objekte in einem besonderen Verhältnis zur Art und Weise des Erzählens stehen. Zunächst muss der Führer das Auge des Besuchers auf die Objekte einstimmen, denn sie sprechen nicht per se. Erst die Sicht auf die Anordnung und Präsentation der Gegenstände fordern zu einem Gespräch über sie heraus, das sich seinerseits auf den Fortgang und die Zeitstruktur der Narration auswirkt. 4
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Eine ähnlich kurios zusammengestellte Ausstellung kulturgeschichtlicher Zeugen, die es gilt zum Sprechen zu bringen, findet sich in dem kleinen, aber realen „Museum der unerhörten Dinge“, vgl. dazu den Beitrag von Michael Niehaus „Sammelpunkte“ im zweiten Kapitel. Hawthorne 1995, Sammlung, 85, engl. Hawthorne 1894, Collection, 411: „descriptive catalogue“. Hawthorne 1995, Sammlung, 90, engl. ders. 1894, Collection, 415: “Unless you can show me something really curious, I care not to look further into your museum.“ Hawthorne 1995, Sammlung, 91, engl. ders. 1894, Collection, 416: „Show me something else.“
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Animiert, belebt werden die Dinge allein durch das Sprechen über sie, denn aus sich selbst heraus halten sie einem schnellen und flüchtigen Blick des Besuchers nicht stand. Um die Ordnung dieser Sammlung zu begreifen, müssen wir dem Besucher folgen, der diese Sammlung offenbar nur findet, weil er sie nicht sucht: Es ist nur ein kleiner Schritt vom besonnten Gehweg in den Eingang zu einer düsteren Treppe, die in das Museum führt und dessen Eintrittssumme bei einem hageren Türwächter mit fadenscheinigem und altmodischem Überzieher in verschiedenen, alten und neuen Währungen zu entrichten ist. Wächter und Währung verraten uns, dass wir es hier mit einem auf Dauer gestellten Museum zu tun haben; obschon es sich in den Worten des Ich-Erzählers um ein „new museum“8 zu handeln scheint, können ihm raum-zeitliche Kategorien offenbar nichts anhaben. Fast wirkt es, als ob hier ein ganzes Inventar untoter Objekte auf einen erlösenden Blick durch den einzigen Besucher hofft. Dieser jedenfalls betritt eine geräumige Halle und trifft sogleich auf ein erstes Objekt, die „echte Statue der Trefflichen Gelegenheit“ aus der Hand des Bildhauers Lysippus, die den Eintritt des Besuchers gleichsam interpretiert. Denn sofort beeilt sich der Führer zu erklären, dass „einem nicht zu allen Zeiten der Zutritt zu solch einer Sammlung gewährt wird“9. Die kurzen Dialoge zwischen dem Virtuosen und dem Besucher scheinen sich aus der Anschauung der Objekte heraus zu entwickeln und haben stets ein Objekt oder eine Objektgruppe zum Ausgangspunkt, Inhalt und Zweck. Die Sammlung selbst besteht aus verschiedenen in sich abgeschlossenen Abteilungen und folgt in ihrem Arrangement eben genau dem Prinzip „wunderliche[r] Verbindungen und absurde[r] Entsprechungen“10: Gleich zu Beginn wird der Besucher zu einer Abteilung ausgestopfter Tiere geführt, die nach Wölfen, Rössern, Hunden, Katzen, Kühen geordnet ist, in einer weiteren befindet sich eine Kollektion ausgestopfter Vögel von Dichtern und Denkern, für die eine gewisse Sorgfalt in der Inszenierung ihrer Lebenswelt angewandt wurde. Folgendes Zitat beleuchtet die Anordnung und Ausstellung der Objekte ebenso wie die Genese des Dialogs aus den Gegenständen heraus: Wir gingen nun zum nächsten Nebenraum der Halle, in dem eine Vielzahl ausgestopfter Vögel untergebracht war. Sie waren hübsch ausgestellt, einige auf den Ästen von Bäumen, andere brüteten auf Nestern, und andere waren so kunstvoll durch Drähte aufgespannt, daß man annehmen konnte, sie befänden sich gerade im Flug. Es war unter ihnen eine weiße Taube, die einen verwelkten Ast mit Olivenblättern in ihrem Schnabel trug. ,Ist dies tatsächlich die Taube‘, fragte ich, ‚die den sturmerprobten Gästen der Arche die Botschaft des Friedens und der Hoffnung brachte?‘ ,Genauso ist es‘, sagte mein Begleiter. ,Und dieser Rabe, denke
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Hawthorne 1894, Collection, 410. Das Adjektiv „neu“ fehlt in der deutschen Übersetzung. Hawthorne 1995, Sammlung, 85, engl. ders. 1894, Collection, 411: „[I]t is not at all times that one can gain admittance to such a collection“. Hawthorne 1995, Sammlung, 101, engl. ders. 1894, Collection, 415: „whimsical combinations and ludicrous analogies“.
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ich‘, so fuhr ich fort, ,ist der, der Elia in der Wildnis versorgte.‘ ,Der Rabe? – nein‘, sagte der Virtuose, ,er ist ein Vogel aus der neuen Zeit‘.11
Im nächsten Raum stößt der Besucher auf Regale voller Wunschutensilien, auf ihnen liegen Zauberkappen neben Aladins Wunderlampe sowie Prosperos in drei Teile zerbrochener Zauberstab und Cornelius Agrippas Zauberglas. Anschließend werden dem Gast die „bedrohlichen Überbleibsel“12 politischer Auseinandersetzungen gezeigt: darunter die Eiserne Maske sowie Pfeile und Dolche aus zuvor königlichem Besitz, des Weiteren die Perücke Ludwig XIV., berühmte Reiterhosen und in Spiritus bewahrte Herzen von Königinnen sowie haarige Ohren und Brotstücke, die sich in der Hand von Monarchen in Gold verwandelten. Die hier mitausgestellte Locke der Helena ist im Übrigen das einzige pars pro toto, das dem Besucher in die Hand zu nehmen erlaubt wird. Die Anordnung und Präsentation der Dinge durch den Virtuosen macht immer deutlicher, dass er nicht als ehrgeiziger Sammler, sondern lediglich als unpassionierter Bewahrer gelten möchte. Wie der Führer, dem vom Ich-Erzähler fehlendes Mitgefühl für das Erhabene bescheinigt wird und der überdies als hartherzige Person „mit einem Händedruck wie Eis“ beschrieben wird, erscheint auch seine Sammlung zunächst als eine „kalte“.13 Erst durch das mitleidige Auge des Betrachters werden die teils lädierten und „ohne viel Mühe“/ „without much attempt at arrangement“14 zusammengeworfenen Objekte animiert. Dabei ist dieses ‚Ordnungsprinzip‘ verantwortlich für die im Text vorherrschende Uneindeutigkeit über den Wert der Sammlung. Rostende Schwerter unterschiedlicher Epochen liegen hier wie in einem Depot scheinbar achtlos durcheinander: Wir untersuchten als nächstes eine Sammlung von Schwertern und anderen Waffen, die unterschiedlichen Epochen angehörten, aber ohne viel Mühe und Anordnung zusammengeworfen worden waren. Hier war Arthurs Schwert Excalibar (sic!) und das des Cid Campeador, und das Schwert des Brutus rostete zusammen mit Cäsars Blut und seinem eigenen, und das Schwert der Jeanne d’Arc und das von Horaz und das, mit dem Virginius seine Tochter erschlug und das, das Dionysos über dem Kopf des Damokles schweben ließ [...]. Ich weiß nicht, aufgrund welchen Zufalls es geschah, aber das Schwert eines unserer Milizgeneräle hing zwischen Don Quijotes Lanze und der braunen Klinge von Hudibras.15 11 12 13
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Hawthorne 1995, Sammlung, 87 f. Hawthorne 1995, Sammlung, 90. „Abgesehen von der Laune, die ihn dazu bewegt hatte, so viel Zeit, Mühe und Kosten der Sammlung dieses Museums zu widmen, beeindruckte er mich als einer der härtesten und kältesten Männer der Welt, denen ich jemals begegnet war.“ Hawthorne 1894, Sammlung, 93, engl. ders. 1894, Collection, 418: „Apart from the whim that had led him to devote so much time, pains, and expense to the collection of this museum, he impressed me as one of the hardest and coldest men of the world whom I had ever met.“ Hawthorne 1995, Sammlung, 92, engl. ders. 1894, Collection, 416. Ebd.: „We next examined a collection of swords and other weapons, belonging to different epochs, but thrown together without much attempt at arrangement. Here was Arthur’s sword Excalibur, and that of the Cid Campeador, and the sword of Brutus rusted with Caesar’s blood
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Im Inneren des Museums reiht sich an die Tonne des Diogenes, Medeas Kessel, Psyches Behältnis der Schönheit und die Büchse der Pandora ohne Deckel, in die der Gürtel der Venus wie zufällig hineingeworfen wurde. Der Virtuose gruppiert Schwert zu Schwert also, Behältnis zu Behältnis, zugleich findet jedoch auch ein Sortieren und Ausstellen nach Material und Konsistenz statt: Auch wenn der Besucher zunächst meint, in einem Regal seien einzelne Beine gesammelt, muss er dieses Ordnungsprinzip der Form und Funktion zugunsten einer Gruppierung nach Material bzw. Beschaffenheit korrigieren: Nicht Bein, sondern Gold ist das Kriterium, denn neben dem goldenen Schenkel des Pythagoras liegt beispielsweise ein Rest des Goldenen Vlieses und ein echter Teil des goldenen Astes, durch den Äeneas Eintritt in Plutos Reich gewann. Der Ich-Erzähler und Besucher nun, der verschiedene Dinge in die Hand nimmt, sie untersucht, betastet und riecht, findet verschiedene Worte für diese, um sie in ein Kontinuum von Genealogie und Geschichte zu stellen: Nur selten bleiben sie undefinierbare Überbleibsel, weitaus öfter werden sie als Erbstücke und Andenken bezeichnet, wodurch er sie in eine immer neue Beziehung zu sich selbst stellt. Besucher und Führer sind sich zwar einig über den Charakter dieser Dinge als Relikte, allerdings zeigt sich der Besucher beeindruckt von der Beharrungskraft und Sturheit ihrer Materialität, während der Virtuose sie in betonter Teilnahmslosigkeit als Stückwerk und Abfall, als etwas Abgerissenes und Überlebtes betrachtet. Einen erkenntnisfördernden Überschuss gewährt die Sammlung aber gerade über die Zusammenschau, die rostige Summe an aus der Zirkulation herausgefallenen Artefakten und Utensilien. Denn erst die ansehnliche Menge der, in Gattung oder Material gleichen Exemplare erlaubt es, im Gleichartigen die Unterschiede herauszustellen und die je eigene Geschichte dieser Dinge abzurufen.16 Führer und Besucher entwickeln ihr Gespräch jedoch nicht nur aus den vor ihnen liegenden Dingen heraus; Rede und Gegenrede entstehen auch im Nachdenken über die Ränder, die Grenze, das missing link einer Sammlung; so z. B. wenn der Besucher in der Abteilung außergewöhnlich begabter Tiere vergeblich nach dem geflügelten Pferd Pegasus sucht und zur Antwort erhält, dass die Sammlung nur Totes enthalte: „Er ist noch nicht gestorben“17, erwidert der Virtuose, aber er hoffe darauf, Haut und Skelett des Pegasus bald in seiner Sammlung zu haben.
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and his own, and the sword of Joan of Arc, and that of Horatius, and that which Virginius slew his daughter, and the one of which Dionysius suspended over the head of Damocles […]. I know not by what chance, but so it happened, that the sword of one of our own militia generals was suspended between Don Quixote’s lance and the brown blade of Hudibras.“ Diese je eigene Lektüre kollektiv-kulturellen Gemeinguts, mit ihren Lücken und individuellen Schwerpunktsetzungen thematisiert die Künstlerin Heidemarie von Wedel in ihren Fotografien der Bücherschichtungen und individuellen Ablagesysteme (siehe Tafelteil), vgl. auch das Essay zu Heidemarie von Wedel von Bärbel Küster im zweiten Kapitel. Hawthorne 1995, Sammlung, 87, engl. ders. 1894, Collection, 413: „,He is not yet dead‘, replied the virtuoso; ,but he is so hard ridden by many young gentlemen of the day that I hope soon to add his skin and sleketon to my collection.“
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Der Virtuose präsentiert seine Sammlung als eine kontingente, die zugleich ihre Kontingenz zu überwinden versucht: In der kombinierenden Anordnung und Reihung der Dinge folgt er dem Prinzip der Wunderkammer der Renaissance und des Barocks, in der zwischen Realien und Artefakten nicht unterschieden wird und die in ihrer Strategie der Aneignung kulturellen Wissens und der Klassifikation und Präsentation dieses Wissens auf Staunen und Anschauung als Erkenntniskategorie setzte. Er bricht aber auch mit ihrem Prinzip, genauer der Maxime, die Welt im Kleinen trotz ihrer Vielfalt als Einheit abzubilden, indem er Gleichartiges häuft und akkumuliert und damit einem Modell von Geschichte als ewiger Wiederkehr verpflichtet ist. Die im Text präsentierte Sammlung des Virtuosen schwankt in ihrer Bewertung zwischen Auratisierung und totaler Entwertung der Relikte zu absichtslos gehäuftem Material. Damit unterliegt die sich darbietende Sammlung großen Schwankungen bis hin zum Bedeutungsverlust und entspricht so gesehen zunächst jenen Resultaten, die für den Wissens- und Sammlertyp des titelgebenden Virtuosen charakteristisch sind.18 Der Virtuose hat eine reichhaltige Begriffsgeschichte hinter sich; er changiert zwischen Fachmann und Dilettant, geistreichem Arrangeur und Pedant und wird im 19. Jahrhundert als Bewahrer falschen Wissens und unnützer Objekte diskreditiert. Als Wissenstyp bezeugt er mit einem Wort von Aleida Assmann eine Destabilisierung der Kriterien eines als wahr und gültig anerkannten Wissens; er sammelt, so der häufig vorgebrachte Vorwurf, Nebensachen als Zeugnisse fehlgeleiteter Aufmerksamkeit. In der Konzentration auf das Unbedeutende verschließe er gar Wissenshorizonte anstatt sie zu öffnen.19 Hawthorne allerdings lässt sich auf die fundamentalen Beschränkungen dieses Typus nicht ein, indem er deutlich macht, dass die scheinbaren Nebensächlichkeiten ihren Wert aus der Aufgabe beziehen, zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren, vergangenen Welt zu vermitteln. Ungeachtet der mit dem Wort des Virtuosen aufgerufenen Typologie ist in die Erzählung eine Hermeneutik der Sammlung eingelassen, die unterstreicht, dass alles, was gleich ist, in vielem auch ungleich ist. Zudem verdeutlicht sie in der Reihung, dass die Sammlung nach Art einer Liste stetig erweiterbar wäre. In ihr sammelt sich Totes, um es im keineswegs „flüchtigen“20, sondern wärmenden Blick des Betrachters ins Leben zurückzuholen. Hierbei erweist sich
18
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Bei dem Virtuosen handelt es sich um einen eingeführten Sammlertyp vor allem des 17. Jahrhunderts. Allerdings ist die Wort- und Begriffsgeschichte relativ verworren. Einerseits ist der Virtuose ein Natur- und/oder Kunstkundiger, der seine Kunst, sein Handwerk meisterlich versteht, dabei aber nicht frei ist von einer gewissen Effekthascherei. Abwertend wird er des Öfteren als ein Sammelwütiger ohne Bezug zur Lebenspraxis charakterisiert. Andererseits vereint er viele Typen bzw. Zugriffe auf die zu sammelnden Dinge in sich: Er ist Kunstkenner, gebildeter Laie, Dilettant. Vgl. Stadler 2005, Liebhaber, 19-35. Vgl. Assmann 1998, Der Sammler, 263. Mehrmals wird der Blick des Besuchers als ein flüchtiger übersetzt. Siehe im Englischen „glance“/„glanced“. Hawthorne 1995, Sammlung, 84; 86; 101, engl. ders. 1894, Collection, 410; 412; 425.
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gerade der interesselose Sammler als der ideale, weil er die Dinge unterschiedslos bewahrt und in jener kalten Ordnung präsentiert, die die Imagination des Besuchers und seine Ars combinatoria überhaupt erst in Bewegung versetzt. Dabei werden Wahrnehmung und Anschauung in der hier auf verschiedenen Ebenen geltenden und wirksamen Verstehenslehre der Sammlung geschieden: Während Wahrnehmung sich auf jene Eigenschaften des Gegenstands beschränkt, die es uns erlauben, ihn unter einen bestimmten Begriff zu subsumieren, meint Anschauung (lateinisch intuitus) in ihrer Ableitung aus dem Verbum tueri, das in Augenschein und in Obhut nehmen, also observation und preservation.21 Mit Blick auf die Sprachlichkeit und Literarizität dieser Erzählung lässt sich sagen, dass Hawthornes Sprache sich selbst immerzu mit dem Sondieren, Sondern und Scheiden befasst, wenn sie sich von Raum zu Raum zunehmend mit Wörtern wie „eigentümlich“, „kurios“ und „absonderlich“ beschäftigt zeigt: Das Abgesonderte und Weggeschlossene wird hier als Bestaunenswertes und Seltsames noch einmal erprobt, aufgeführt und erzählend in Umlauf gebracht. Dabei sind es neben historischen Relikten überwiegend materielle wie immaterielle Dinge der Weltliteratur, die hier gleichsam noch einmal erzählt werden: Sie entstammen u. a. den Märchen der Brüder Grimm oder Charles Perraults, Edmund Spensers The Faerie Queen, Miguel de Cervantes‘ Don Quixote, William Wordsworths Peter Bell, Adelbert v. Chamissos Peter Schlemihl22 oder sind Sprichwörtern und Schlafliedern entnommen. Literarisch und erzähltechnisch macht der Text ein Angebot, Sammlung und Literatur, Anordnung und Unordnung, Dinge als Mittler zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren überhaupt erst einmal zu denken, indem der Text das Nebeneinander der Sammlungsstücke notwendig als lineares, sukzessives Nacheinander literarisiert, ohne dabei jedoch stehen zu bleiben: Denn Hawthorne arbeitet mit dem Kunstgriff, collection und recollection aufeinander zu beziehen und mithin die Sammlung als eine nicht in, sondern durch die lückenhafte Erinnerung des Ich-Erzählers begrenzte darzustellen. Der additiven Reihung von Räumen und kontingenten, durch wunderliche Analogien gehäuften Gegenständen einer nach uneinsehbaren Gesetzen sich vollziehenden Geschichte wird die Bewegung der individuellen Auswahl nach Art der selektiven Erinnerung des Besuchers gegenübergestellt. Die Erzählung arbeitet zu Beginn nach Art einer Liste, die in Kategorien und Subkategorien sortiert ist und zunächst Gruppen wie Esel, Katze, Vogel nennt, um diese dann durch den Genitiv („Dr. Johnson’s cat“, „Byron’s tame bear“23) jemandem zuzuweisen, sie ‚jemanden anzuhängen‘, wenn man so will. Das ist ein Prinzip, das im erzählenden Verlauf aufgegeben wird, weil das an sich Gleiche zu schnell in seine Unterschiede zerfällt bzw. die Dachbegriffe 21 22 23
Vgl. Sommer 2002, Sammeln, 60. Bei dem auffallend unruhigen und suchenden Türwächter handelt es sich um Schlemihls Schatten, der Einlass und Fortgang gewährt und somit die Erzählung rahmt. Hawthorne 1894, Collection, 412, dt. ders. 1995, Sammlung, 87.
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schon bald nicht mehr taugen angesichts der disparaten Phänomene, die sie zu fassen versuchen. Da die sprachlichen Kategorien endlich sind, stößt die Beschreibung und damit die Ordnung der Dinge offenbar an eine Grenze, die in der Erzählung durch Unausgesprochenes, etwa durch beunruhigende Blicke von Seiten des Virtuosen markiert wird. Blicke und Gesten geben zu verstehen, dass viele Dinge nur den Anschein von Gleichheit aufweisen bzw. einer Gruppe zugehörig wirken, weil sie sich sprachlich nicht weiter ausdifferenzieren lassen. Weil der Signifikant fehlt, lässt sich der materielle Bestand nur bis zu einem gewissen Grad erfassen; und es ist dieses Fehlen, das den Eindruck erweckt, es mit einer Sammlung nach dem Muster verquerer Analogien zu tun zu haben. Aufschlussreich hierfür ist, dass sich dem sorglosen Besucher ein Ding in den Weg stellt, das seinen Weg aus der Sprache in die Sammlung gefunden hat: Beinahe stolpert er über einen riesigen Haufen, der sorgfältig verschnürt und mit einem Seil versehen, „wie das Bündel eines Hausierers“ aussieht: Es handelt sich hierbei um die „christliche Sündenlast“24, um eine materialisierte Allegorie, die der nun neugierig gewordene Besucher aufschnüren will, aber mit dem strengen Hinweis, die ,Liste‘ an Sünden in seinem eigenen „Gewissen und Gedächtnis“25 aufzusuchen, davon abgehalten wird. Über den Führer in seiner Titulierung als Virtuose hinaus, finden sich im Text akzeptierte und diskreditierte Figuren des Sammlers, pejorativ mit dem Vergleich zum (in aller Regel jüdischen) Hausierer aufgerufen, der im 19. Jahrhundert mit dem geschickten Akkumulieren und zudringlichen Feilbieten von Waren assoziiert wird. Die materialisierte Sündenlast erinnert den Ich-Erzähler, noch bevor er sie als solche erkannt hat, an „das Bündel eines Hausierers“, wodurch die Materialisierung einer Allegorie jene Gruppe heraufbeschwört, zu deren Profession angeblich die schnelle Zirkulation von Waren gehört und die mit dem Standardvorwurf materialistischer Gesinnung und der Verdinglichung von Werten konfrontiert sind. Der in der Erzählung entwickelte Dialog über die Sammlung ist aber vielleicht nicht das einzig mögliche Sprechen über sie; vielmehr ist zu vermuten, dass der Führer mit jedem seiner potenziellen Besucher einen immer neuen Pakt über ein mögliches und unmögliches, ein erlaubtes und unerlaubtes „Be-Sprechen“ der Sammlung schließt, der die Möglichkeit der Berührung und Benutzung der Dinge einbegreift. So verstanden wäre die Virtuosität des Virtuosen auch eine sprachliche, die sich auf den Modus und die situative Gerichtetheit seines Sprechens erstreckte. Einerseits ist die Sammlung komplexer als der zur Verfügung stehende Bestand an Worten, andererseits kann das Sprechen über sie die Statik ihrer Ordnungsmuster und Logiken womöglich aufweichen, verschieben oder gar erweitern. Die Sammlung jedenfalls lässt sich als ganze nicht ermessen oder in den Griff bekommen und dies vordergründig, weil es den Ich-Erzähler weiterdrängt in neue Räume mit noch größeren Wundern. Die ihm „kurz zuvor dargebotenen, 24 25
Hawthorne 1995, Sammlung, 95 engl. ders. 1894, Collection, 419. Ebd.
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unterschiedlichen Gegenstände“26 kann erin seinem verwirrten und aufgeregten Verstand nicht alle gleichzeitig erfassen. Viele Objekte lässt er deshalb „unbeschrieben“27, trifft also in dem, was er uns an Begegnungen mit Objekten mitteilt, eine Auswahl der Auswahl. Überprüfen oder gar neu erzählen kann der Ich-Erzähler die geschaute Sammlung nicht, es ist zwar nur ein kleiner Schritt vom besonnten Gehweg bis zur düsteren Treppe des Museums, der Zutritt wird einem jedoch – wie es heißt – „nicht zu allen Zeiten“28 und offenbar auch nicht wiederholt gewährt.
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Hawthorne 1995, Sammlung, 101, engl. ders. 1894, Collection, 424 f.: „But the deep simplicity of these great works was not to be comprehended by a mind excited and disturbed, as mine was, by the various objects that had recently been presented to it. I therefore turned away with merely a passing glance“. Hawthorne 1995, Sammlung, 101, engl. ders. 1894, Collection, 424: „I shall therefore leave them undescribed.“ Hawthorne 1995, Sammlung, 85, engl. ders. 1894, Collection, 411: „[B]ecause it is not at all times that one can gain admittance to such a collection.“
BÄRBEL KÜSTER
OBSOLESZENZ DER ABLAGE. HEIDEMARIE VON WEDELS BUCHBLOCK LIBRARY (2012-2014)1
Die Stuttgarter Künstlerin Heidemarie von Wedel schleicht sich mit ihren Fotos in den Alltag hinein. Sie produziert ein ständig wachsendes Archiv von Bildern, deren Ziel nie das Einzelbild, nie die Präsenz eines essentiellen, ikonischen Tafelbildes bekommt, sondern eher ein assoziatives Rauschen im Ablauf einzelner Momente des Gesehenen, Erlebten, Erhaschten ist. Ihre Arbeit als Fotografin umfasst für sie deshalb nicht nur das Auslösen der Kamera, sondern auch die spätere Auswahl der Fotografien in Bildkonstellationen, Bilderfolgen und Tableaus aus ihrem Archiv. Diese Montagen sind dabei nicht an einer Erzählstruktur orientiert, gleichwohl Heidemarie von Wedel mit den oft rätselhaften Konstellationen durchaus ‚Erzählungen‘ bei der Betrachtung evoziert. Die Fotos loten das Seltsame des Alltags aus, halten das Zufällige und Arbiträre fest und geben momenthaften Aufnahmen einen möglichen Ort in der Zeit, die Heidemarie von Wedel als einen immer wieder neu zu beginnenden Erzähl- und Imagniationsfluss versteht. Auch Leerstellen spielen in den Bewegungen zwischen den Bildern eine wichtige Rolle.2 Der Buchblock Library ging aus einer grundlegenden Revision und Neuordnung ihrer bisherigen künstlerischen Arbeit hervor.3 Dafür wurde nicht nur das Fotoarchiv in Form von Archivabzügen nach Schlagworten neu geordnet, sondern von Wedel unterzog auch ihre Bibliothek und ihr bisheriges Leben mit (Kunst-)Büchern einer Bilanz. Library ist eine Künstlerpublikation bestehend aus drei auf Naturpapier gedruckten „Bildblöcken“ („notes“, „storage“, „readings“) von 2012-14, die mit Fadenheftung zu einem ‚Buchblock‘ von insgesamt 84 Seiten zusammengefasst sind. Die materielle Präsenz des Papiers spielt in der Originalpublikation eine große Rolle, ebenso wie die Abfolge der Seitenkompositionen.4 1 2 3
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Im Tafelteil dieses Bandes finden sich beide Abbildungen dieses Beitrags im Vierfarbdruck. Vgl. Vogel (Hg.) 2001, ,Ich kann viele Flüsse bauen‘. Ein Gespräch, 7. Eine künstlerische Neuordnung des eigenen Archivs unter den Vorzeichen einer durch Assoziationen geleiteten Anordnung nimmt der Künstler Matthias Megyri vor (siehe Tafelteil), vgl. dazu auch das Essay von Bärbel Küster über den Künstler im zweiten Kapitel. „Block 1 (notes)“ zeigt die Gebrauchsreste des Lesens, „Block 2 (storage)“ das Arbeitsinstrument der Büchersammlung, welche die Fotos der Bücher zu „abstrakten Speichervolumina, zu Sedimenten aus Papier“ transformiert (von Wedel), „Block 3 (readings)“ dokumentiert die Buchrücken so wie sie im Regal gereiht gewesen waren, einige Titel sind lesbar, andere sind über weiße Leerstellen gelöscht. Von Wedel versteht diese Fragmentierung analog zu ihrem
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BÄRBEL KÜSTER
Das ‚große Aufräumen‘ ihrer Bibliothek und die Durchsicht der im Regal abgelegten Bücher war ein Rückblick, eine materiale Zusammenstellung des bisher Gewesenen oder auch des nur Erinnerten. Die Rückschau auf die Bücher, deren äußere Erscheinung nicht nur mit den Leseerlebnissen, sondern auch mit Lebenszeit, Orten und Personen, intellektuellem Austausch und Diskussionen verbunden war – so führte es Walter Benjamin in seinem Aufsatz „Ich packe meine Bibliothek aus“ für den umgekehrten Fall des Einsortierens vor – war Heidemarie von Wedel ein Anlass, nach der Präsenz der Bücher als materiellen Trägern von Gedanken und Erinnerungen zu fragen.5 In der Ablage, in der die Bücher gerade nicht gelesen werden, sind sie wie Pausenzeichen im Regal des musikalischen Tonflusses hinterlegt, Bücher verändern sich nicht nur durch die Benutzung und Durcharbeitung nach dem Rhythmus des eigenen Lebens, Denkens und Notierens, sondern auch in der Ablage (und zwar in einem unbestimmten Maße). Die manuelle Handhabung der Bücher, Hervorholen und Ablegen, produziert Stapel, und mit jeder Bewegung verändert sich der erinnerte Inhalt, neue Kontexte ergeben sich im Ablauf der Zeit zu neuen Perspektiven auf das Gelesene. Die jeweilige Konstellation ermöglicht sowohl imaginäre Re-Lektüren wie auch das Erinnern an Orte, an Geschmäcker und an Inhalte der Lektüre, an die Haptik des Einbandes, Bilder und Gedanken. Die Bücher bewegen sich ebenso wie die Fotos aus dem Alltag zwischen Obsoleszenz und Fluoreszenz, zwischen dem Aufgeladensein der Bücher als Objekte und den Prozessen des Vergessens. Die Fotos der abgelegten Bücher nähern sich den Leseinhalten und den materiellen Leseresten – etwa wenn in „Block 1 (notes)“ (siehe Abb. 2) man ein aus dem Buchstapel herausragendes Druckstück „la collection“ mit einzelnen Notaten der Autorin in Verbindung zu bringen versucht, während sich helles Sommerlicht an den Buchkanten bricht. Oder wenn in „Block 3 (readings)“ auf der vertikalen Struktur der Buchrücken ein „Materialienbuch“ über „Kindheitsmuster“ und auf dem Kopf stehenden „Ordnungsmustern“ weiterführt zu „Flush“, „Zwischen den Akten“, „Orlando“ und „Leidenschaft“. Die verschiedenen Titel der Serien öffnen auch vielfältige mögliche Perspektiven auf die Buchstapel, die das Bewahren ebenso aufrufen wie das Vergessen: Meine Büchersammlung war nie leidenschaftslos. Mit einem Buch vereinnahme ich seinen Inhalt, verfüge ich frei, beginne Dialoge zu führen. Manche Buchtitel waren immer mehr als nur das Buch: Sie eröffnen ein Denken, spiegeln eine Welt, eine Zeit, sie inspirieren. Manchmal entsteht dabei so eine zeitlose Zeitlichkeit wie beim Lesen, die mich im Moment mit Zeiträumen und Menschen verbindet, gleich einem Eintauchen in die Zeilen, Worte und Bilder der aufgeschlagenen Seiten. Ich erinnere Bücher in ihrer Form und in ihrer Haptik, ihrem Geruch, in ihrem Gewicht, aber auch, wo ich sie gelesen, mit wem ich sie geteilt habe, in welchen
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sporadischen Auftauchen als Erinnerungsmomente. Heidemarie von Wedel im Gespräch mit der Autorin, Stuttgart, 19. Dezember 2015. „Alles Erinnerte, Gedachte, Bewußte wird Sockel, Rahmen, Postament, Verschluss seines Besitztums“ (Benjamin 1972, Ich packe meine Bibliothek aus, 389).
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Taschen ich sie getragen, wo gezeigt, ausgetauscht, verschenkt, und wo ich sie ins Regal gestellt habe. Manche wurden Teil von mir.6
In einigen Fotos von „Block 3 (readings)“ hat Heidemarie von Wedel Teile der lesbaren Titel durch Leerstellen ersetzt. In der Buchpublikation sind diese Stellen nicht in Weiß gedruckt, sondern durch die Abwesenheit von Druckfarbe erzeugt: Papier erobert sich hier in seiner jeweiligen Materialität den Buchrücken zurück. Das Obsoletwerden, die Abnutzung und die Entsorgung sind den Prozessen des Erinnerns und Verstehens als eine Art Selbstzensur komplementär. Die Materialität der gelesenen Bücher wird abgewogen gegen den Umfang ihrer bleibenden Werte. Zugleich weisen die Leerstellen ins Reich der Abstraktion, denn es sind nicht nur diese konkreten Worte, die die ‚Poesie‘ der Fotos ausmachen, sondern auch ihre fotografisch präzise Schichtung abstrakter Farbstreifen, die insbesondere in den gezoomten, auschnitthaften Aufnahmen der Stapel in den Vordergrund treten. Durch den komprimierten Bildausschnitt erreichen die Fotos eine hohe Konzentration auf die Materialität der Bücher, ihre Schwere, das Papier und die glänzenden Einbände. Auf einigen Fotos, vor allem in „Block 2 (storage)“ (siehe Abb. 1), ist nur die Schnittseite der Bücher zu sehen und die Farben entsprechend auf Papiertöne reduziert. In der Abfolge der Fotos wiederholt sich vor allem das Motiv der Schichtung, selbst schon Metapher der Erinnerung. Einer allzu nostalgischen Vorstellung entgegenarbeitend überführt von Wedel diese Schichtungen in eine farblich fein abgestufte und ausgeleuchtete Abstraktion von Streifen und kartiert das Feld der Erinnerung als konkrete, ungegenständliche Kunst. Fotografie nähert sich so den Farbfeldern eines Camille Graeser an, während andere Fotos zurück zu den Texturen grober Leinwandeinbände und abgegriffener Rückseiten führen. Der Kippeffekt zwischen einem lesbaren Objekt der Fotografie und einer Abstraktion von Farbstreifen kann wie ein Kommentar zu gleichzeitig stattfindenden Prozessen des Vergessens und Erinnerns verstanden werden, wie sie beim Transformieren eines Objektes in eine Ablage vor sich gehen: Titel und Nicht-Titel, Namen und Leerstellen sind dialektisch verbunden. Die „Beweisführung“ wie sie auf der abgebildeten Seite aus einem verknitterten Zeitungsartikel ins Auge springt – spannt ihren Bogen von den am unteren Bildrand gesichteten Künstlerstars wie Andy Warhol bis zum „Fluch über Eva“, öffnet aber in doppeldeutiger Weise auch viele Zeilen unlesbaren Textes.
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Heidemarie von Wedel im Gespräch mit der Autorin, Stuttgart, 19. Dezember 2015.
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1 − Heidemarie von Wedel: Seite aus „Library. Vom Verschwinden der Bücher in einem Buch und vom Verbleib einiger Titel“, Serie „storage“ (Block 2), 2014, Fotografie, BUCHBLOCK, offene Fadenheftung, 23 x 32 cm, 84 Seiten, Digital Fine Art Print auf Cyclus Offset, Epreuve d’artiste, Stuttgart: UND EINS, 2014
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2 − Heidemarie von Wedel: Seite aus „Library. Vom Verschwinden der Bücher in einem Buch und vom Verbleib einiger Titel“, Serie „notes“ (Block 1), 2014, Fotografie, BUCHBLOCK, offene Fadenheftung, 23 x 32 cm, 84 Seiten, Digital Fine Art Print auf Cyclus Offset, Epreuve d’artiste, Stuttgart: UND EINS, 2014
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Heidemarie von Wedel studierte unter anderem bei Ernst H. Gombrich in London Kunstgeschichte. Gombrich war einer der ersten Kunsthistoriker, die sich bereits in den 1970er Jahren mit dem heute berühmten, damals noch ‚verkannten‘ Kunsthistoriker Aby Warburg befasste.7 Gombrichs Auseinandersetzung mit Warburgs Bilderatlas spielte deshalb für Heidemarie von Wedel für ihre fotografische Produktion immer wieder eine große Rolle: Das Sortieren und Umsortieren, die Beweglichkeit der Bilder im Atlas, bringen eine ‚Erzählung‘ hervor, die auf eine visuelle Evidenz vertraut, eine unmittelbare Einsichtigkeit. Aby Warburgs Atlas lenkte die Aufmerksamkeit auf die Lücken zwischen den abgebildeten Kunstwerken und Transformationsprozesse, die zwischen einer Bildfindung und ihrer Bedeutung (Ikonologie/Ikonographie), der Überlieferung eines Bildes und den Neuinterpretationen durch spätere Generationen und Kulturen bestehen. Warburg glaubte daran, dass auch weit voneinander entfernte Kulturen ähnliche Symbole für bestimmte psychische Sachverhalte entwickelten.8 Mnemosyne, die Göttin der Erinnerung, Titanin, Tochter des Uranos und der Gaia, gab ihren Namen für Warburgs Atlas-Projekt. Das Erinnern ist bei Warburg nicht nur ein Akt individueller Tätigkeit, sondern ein kollektiver Vorgang der Aktualisierung im Rahmen einer anthropologischen Fähigkeit der Symbolbildung. Library versteht Heidemarie von Wedel im Sinne einer Hommage der materiellen Bücher und zu den Gedanken aus Büchern, welche jenseits des Datenstroms bleiben werden. Die Obsoleszenz der Ablage eines materiellen Buches schichtet auf, was vom Einzelnen und was vom Kollektiv vergessen, erinnert und transformiert wird.9
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Gombrich 1981, Aby Warburg. Warburg 1995, Schlangenritual; Diers/Warnke/Bredekamp 2000, Aby Warburg. Nathaniel Hawthornes „A Virtuoso’s Collection“ thematisiert jene immer wieder von Neuem vorgenommene Lektüre kollektiv-kulturellen Gemeinguts als individuellen Gang durch ein Museum der Kulturgeschichte, vgl. Mona Körtes Essay „Ohne Mühe und Anordnung zusammengeworfen“ im zweiten Kapitel.
INGRID STREBLE
DAS TOTALE MUSEUM ODER VERSUCHSANORDNUNG LITERATUR – EINE LEKTÜRE VON SERGE REZVANIS ROMAN LʼORIGINE DU MONDE
Mit L’Origine du monde. Pour une ultime histoire de l’art à propos du „cas Bergamme“. Roman1 (2000) hat der französische Autor, Maler und Chansonschreiber Serge Rezvani einen kunstkritischen Krimi vorgelegt, in dem die Auswüchse postmoderner Museumsindustrie parodistisch auf die Spitze getrieben werden. Sein fiktives „Großes Museum“ erscheint als Symbol einer geistig-kulturellen Krise, vor deren Hintergrund der im Untertitel anklingende historiographische Topos vom „Ende der Kunst“ (Arthur C. Danto2) bzw. dem „Ende der Kunstgeschichte“ (Hans Belting3) eine eigenwillige Interpretation erfährt. In ebenso überraschender Weise werden Gedanken Walter Benjamins zur „technischen Reproduzierbarkeit“4 des Kunstwerks auf die Gemäldesammlung des 21. Jahrhunderts übertragen. Literatur erweist sich hier als Reflexionsmedium auf die Gegenwart, von Rezvani als alexandrinisches Zeitalter verstanden, in welchem das Sammeln nicht mehr nur den Königsweg im Umgang mit dem bildkünstlerischen Erbe darstellt, sondern zum Selbstzweck geworden ist. Darüber hinaus steht L’Origine du monde (Der Ursprung der Welt) im Kontext einer heftigen Kontroverse um Gegenwartskunst, wie sie im Frankreich der 1990er Jahre in verschiedenen Episoden aufflammte5, und liest sich über weite Strecken geradezu wie ein kunstkritisches Pamphlet. Aus der romaninternen Polemik heraus entsteht ein kausaler Zusammenhang zwischen dem als epochenprägend erkannten Phänomen exzessiven Sammelns als solchem und einer aus dem zeitgenössischen Museumskult erwachsenden künstlerischen „Ästhetik der Konservierung“6, wie Rezvani sie herausarbeitet und durch seinen Romanhelden letztlich ad absurdum führen lässt.
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Der sperrige Titel lässt sich im Deutschen wiedergeben mit: Der Ursprung der Welt. Ein endgültiges Ende der Kunstgeschichte im Hinblick auf den „Fall Bergamme“. Roman. Bei allen Romanzitaten handelt es sich um Übersetzungen der Autorin des vorliegenden Artikels. Danto 1991, Die Verklärung des Gewöhnlichen; ders. 1993, Die philosophische Entmündigung der Kunst; ders. 1996, Kunst nach dem Ende der Kunst; ders. 1999, Das Fortleben der Kunst. Belting 1995, Das Ende der Kunstgeschichte. Benjamin 1980, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Ein Überblick über die Kontroverse findet sich bei Michaud 1997, La crise de l’art contemporain sowie bei Jimenez 2005, La querelle de l’art contemporain. Rezvani 2000, L’Origine du monde, 94.
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Ein paar Worte zu Inhalt, Form und literarischen Verfahren. Bei L’Origine du monde handelt es sich um einen Kriminalroman analytischen Typs, der im Jahr 2020 mit einem unfassbaren Verbrechen einsetzt: dem Brand des „Großen Museums“ der Kunst.7 Die drei folgenden Teile des Werkes bestehen in dem Versuch, die Vorgeschichte der Katastrophe zu rekonstruieren. Der Roman nimmt dabei die Form einer klinisch-forensischen Studie an, in welcher ein „Kunstethologe“8 die Zeugenaussage des im Sterben liegenden einzigen Überlebenden und zugleich Hauptverdächtigen des Feuerinfernos wiedergibt. Der Leser erhält auf diesem Wege Einblick sowohl in die Seele eines potentiellen Schwerverbrechers als auch in Funktionsmechanismen zeitgenössischer Museums- und Kulturindustrie. Hauptcharakteristika des Werkes sind ein ausgeprägter Debattenstil, sprachliche Bildlichkeit und ironische Wortspiele sowie der Einsatz literarischer Mittel wie Satire, Übertreibung, Groteske, Kontrast, obsessive Wiederholung und Analogieschluss.
Im Megamuseum: Sammeldispositive im Roman Mit dem Großen Kunstmuseum der nahen Zukunft schafft Rezvani ein literarisches Universum, das nicht nur zentraler Romanschauplatz ist, sondern das Handlungsgeschehen gleichsam aus sich selbst heraus generiert. Es trägt sowohl mythische als auch realistische sowie genuin fiktive Züge. So ist es einerseits Echo eines uralten Menschheitstraums vom Sammeln und fungiert andererseits als Spiegel kruder zeitgenössischer Museumswirklichkeit; nicht zuletzt stellt es eine fiktionale Versuchsanordnung dar, die es dem Autor ermöglicht, seine museologischen Gedankenexperimente bis zum Äußersten zu treiben. Die fiktive Sammelanordnung zeichnet sich dabei durch Zeit- und Ortsgebundenheit, aber ebenso durch Universalität und den Anspruch auf Überzeitlichkeit aus. Denn ist Rezvanis Großes Museum in mancherlei Hinsicht im Hier und Jetzt verankert, weist es doch zugleich permanent über sich hinaus auf einen globalisierten Museumskontext sowie auf nichts Geringeres als die „Ewigkeit“9. Vom institutionellen Standpunkt her handelt es sich um eine öffentliche Einrichtung, wie sie für die westliche Welt der Gegenwart typisch ist. Kollektive sammelnde Instanz im engeren Sinne ist der französische Staat, dessen nationale Eigenarten im Roman wiederholt durchscheinen. In konkreter Gestalt präsentiert sich das Große Museum jedoch als eine phantastische Fusion existierender Pariser Kunstmuseen, welche in der Fiktion zu einer Art Megamuseum der Postmoderne verschmelzen.
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Zum Motiv des brennenden Museums vgl. Ulrike Vedders Essay „Visionen der Sammlungszerstörung“ im zweiten Kapitel. Rezvani 2000, L’Origine du monde, 14. Ebd., 31.
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Die hieraus erwachsende „Festung alter und moderner Künste“10 besitzt einen umfassenden, unbegrenzten und letztlich utopischen Sammelanspruch, ganz wie vor Zeiten die berühmte Bibliothek von Alexandria. Die superlativische Wendung „größtes Museum der Welt“11 muss durchaus wörtlich genommen werden, ebenso wie Rezvanis Pinakothek symbolhaft den „wunderbarsten Teil des künstlerischen Erbes der Menschheit“12 unter ihrem überdimensionalen Dach vereinigt und somit quasi in den Rang einer ‚Kunstsammlung der Kunstsammlungen‘ erhoben wird, die im Roman stellvertretend für die Kunstmuseen der westlichen Welt stehen kann. Vor allen Dingen aber lässt sich das Große Museum als Ausdruck und Symptom einer umfassenden zivilisatorischen Krise dechiffrieren, wie sie im Roman diagnostiziert wird. Hintergrund einer solchen Lesart bildet die romaninterne Prämisse, derzufolge die Geschichte der bildenden Kunst und diejenige der Menschheit in engem Wechselverhältnis zueinander stehen und das Schicksal des Menschen unentrinnbar mit dem der Kunst verbunden ist. Bei Rezvani scheint die bildende Kunst in eine Ära des ‚Sammelns um des Sammelns willen‘ eingetreten und damit in eklatanten Widerspruch zu sich selbst geraten zu sein, in der sie auch den Menschen hinter sich gelassen hat. In diesem Sinne präsentiert der Autor ein narratives Sammeldispositiv, welches in vielerlei Hinsicht unter den Vorzeichen einer verkehrten Welt steht. Das altbewährte literarische Kunstmittel dient einer Verfremdung vertrauter musealer Sachverhalte, denen auf diesem Wege eine eigenwillige und überspitzte Logik zugeschrieben wird. Zusätzlich schöpft Rezvani bei der Ausgestaltung des musealen Schauplatzes und seiner Figuren nicht nur aus der ‚Normalität‘, sondern auch aus Extremen und Exzentrizitäten der zeitgenössischen Kunstwelt, die im verdichtenden Mosaik des Romans mitunter wie erfunden wirken mögen. Darüber legt der Autor seine literarisch-philosophische Reflexion, seine schriftstellerische Phantasie und nicht zuletzt seinen Zynismus.
Verkehrungen: Die räumliche Ordnung des Großen Museums Zunächst wird im Roman die klassische Prioritätensetzung des Kunsttempels auf den Kopf gestellt. Unversehens wird nicht mehr die Schauseite, das heißt die öffentliche Gemäldegalerie, sondern die Rückseite, also das verborgene Bildermagazin zum Mittelpunkt und eigentlichen Herzstück des Großen Museums erklärt und auch dementsprechend exponiert. Solcherart dreht der Autor nicht nur die traditionelle Hierarchie der musealen Raumordnung um, sondern verkehrt zugleich den gewohnten musealen Blickwinkel in sein exaktes Gegenteil: Das Museum ist nicht das, „was man sieht“, sondern das, „was man nicht 10 11 12
Ebd., 60. Ebd., 29. Ebd., 13.
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INGRID STREBLE
sieht“13. Auf einer höchst ungewöhnlichen Museumsführung wird der Leser durch das unbekannte Territorium „hinter dem Spiegel der Kunst“14 geleitet, welches sich als „die furchtbare Kehrseite der Welt der Konservierung“15 entpuppt. Wie die Metaphorik in den betreffenden Passagen zeigt, könnte die Kluft zwischen den beiden Sphären der Galeriesammlung und der Speicherräume tatsächlich tiefer nicht sein. Die erste ‚Stufe‘ des Bilderdepots stellt sich als ein gewaltiger „Haufen“16 verrottender Werke aus der Frühzeit der Malerei bis zur Gegenwart dar, die als solche indessen nicht mehr erkennbar sind. Einem Schrottplatz der zeitgenössischen Wegwerfgesellschaft nicht unähnlich, setzt diese unablässig weiter wachsende „Mülldeponie“17 sich somit aus einer unglaublichen Summe „namenloser ‚Dinge‘“18 ganz ohne den adelnden Vorsatz ‚Kunst-‘ zusammen. Auf der Suche nach Stücken, die sie einer „‚Reanimation‘“19 für würdig erachten, stoßen Trupps von Museumskonservatoren Tag und Nacht in die Tiefen des unermesslichen Speichers vor. In der Gesamtökonomie des Museums handelt es sich hier um einen Ort, der kunstwissenschaftlichen Selektionszwecken und genauer der Scheidung musealer ‚Werte‘ vom definitiv ‚Unwerten‘ dient. Die dramatische Bildlichkeit der Müllkippe wird erweitert durch den Anthropomorphismus der Restaurationswerkstätten: In der technologisch hochgerüsteten, an „modernste Krankenhäuser“20 erinnernden „‚Notaufnahme‘“21 werden „moribunde“22 Exponate unter Gewaltanwendung und in permanenter Schwerstarbeit ganz wie Lebewesen behandelt und frisch aufgespritzt23, bevor sie für ein neues „Leben“24 auf der Galerieseite des Museums bereit sind.25 Hierin wiederum dem Gesetz der Umkehrung folgend, liegt das Magazin des Großen Museums nun nicht etwa im Keller unterhalb der Schauseite der Sammlung26, sondern im Gegenteil darüber im grenzenlosen Dachgeschoss des Gebäudes. Der Fußmarsch zur zweiten, zur ‚Endstufe‘ des Magazins gestaltet sich folglich als ein Aufstieg zum ebenso unzugänglichen wie superlativischen
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Ebd., 81 [Herv. i. O.]. Ebd., 38 [Herv. i. O.]. Ebd., 80. Ebd., 81. Ebd. Ebd. Ebd., 82. Ebd., 74. Ebd. 82. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., 47. Zum Depot als Sammlungsort vgl. auch den Beitrag von Michael Niehaus „Sammelpunkte“ im zweiten Kapitel. So z. B. stellt Bachelard in seiner Poetik des Raumes den Keller eines Hauses als Topographie des Unbewussten vor, vgl. Bachelard 1987, Poetik des Raumes.
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„Dachboden der Dachböden“, was im Französischen mit „combles des combles“27 augenzwinkernd ebenfalls im Sinne von ‚das ist nun wirklich der Gipfel‘ gelesen werden kann, eine für Rezvani typische Wort- und Sinnspielerei. In dieser Zone, die in Anlehnung an den berühmten venezianischen Kerker auch „‚Bleikammern‘“28 genannt wird und deren räumliche Dimensionen unabsehbar sind, schmachten zahllose Bilder vor sich hin, manche seit Jahrhunderten. Stammen viele von ihnen auch von großen Meistern und stellen äußerst wertvolle Ruinen dar, werden sie in diesem streng geheim gehaltenen „Friedhof“29 doch unweigerlich „sterben“30, zu Staub zerfallen, ohne jemals registriert oder inventarisiert worden zu sein. Es handelt sich bei den „Bleikammern“ um einen rechtsfreien Raum, dem jegliche Funktionalität im Rahmen des offiziellen Museumsbetriebs abgeht, wo deshalb auch keinerlei Ordnungssystem mehr greift, keine Suche nach Sinn und Zusammenhang mehr stattfindet. Nicht einmal von ‚Dingen‘ kann noch die Rede sein. In diesen „senkrecht aufgestellten“ „Blätterteig“31 aus Leinwänden, in dem ewiger Halbschatten herrscht, haben die Museumsangestellten ohne Rücksicht auf Verluste labyrinthische Gänge und zahlreiche „Grotten“32 gegraben. Diese dienen als „‚Liebesnester‘“33, in denen eine über dem Museum liegende unerträgliche sexuelle Spannung ausgelebt werden kann. Offensichtlich stellt dieser im Dämmer liegende „Ort des Vergessens“34 so etwas wie das kollektive Unbewusste unserer Gesellschaft dar.
Parasiten und Gefangene: Die Angestellten des Großen Museums Auch im Hinblick auf die Hüter der Kunstsammlung lässt sich bei Rezvani ein Umkehrungseffekt nachweisen, der dieses Mal das traditionelle Genre des Künstlerromans betrifft. Die literarische Gattung wird in L’Origine du monde in der Tat komplett umgekrempelt. Das Bild, das Rezvani dabei von den Angestellten des Großen Museums zeichnet, ist alles andere als schmeichelhaft. Allesamt sind sie Maler, die nie gemalt haben, verhinderte Künstler, die es nicht gewagt haben, die Herausforderungen des Schöpfertums anzunehmen.35 Indem sie den Beruf eines Konservators, Kurators, Restaurators, Hygrometers oder Kunsthistorikers ergriffen haben, ist ihnen, um mit Lacan zu sprechen36, die Ein-
27 28 29 30 31 32 33 34 35 36
Rezvani 2000, L’Origine du monde, 84. Ebd. Ebd., 345. Ebd. Ebd., 350. Ebd. Ebd., 84. Ebd., 350. Vgl. ebd., 123. Vgl. Zima 2008, Der europäische Künstlerroman, 48-58.
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gliederung in die symbolische Ordnung des Vaters und der Gesellschaft gelungen: Anstatt aus ihrer Neurose heraus selbst bildende Kunst zu schaffen, sind sie zu offiziellen Verwaltern derselben geworden. Oder auch zu ihren ‚Schmarotzern‘37, wie das Museumspersonal im Roman über sich selbst sagt. Kommentar, Konservierung und Restaurierung werden als parasitäre Tätigkeiten am schöpferischen Werk beschrieben. Diesem wird nur insofern Verehrung entgegengebracht, als es die Illusion vermittelt, man würde von ihm gebraucht. Auf die Dauer führen Analysieren, Kommentieren, Klassifizieren, Einordnen, Sezieren, Restaurieren, kurz eine intensive wissenschaftlich-kunsthistorische Annäherung allerdings zu völligem Unverständnis des anvertrauten Sammelobjekts und schlagen sogar in Hass um. Die „mysteriöse Sprache“38 der bildenden Kunst ist den Fachleuten völlig entglitten; in ihren Augen ist das Museum „trostloser“ geworden „als eine Kirche ohne Gott“39, was eine wie auch immer geartete transzendente Dimension der Kunst fortan ausschließt. Hinzu gesellt sich die totale Überforderung der Museumsleute durch Ausmaß und Aussichtslosigkeit ihrer Aufgabe, die sie als „übermenschlich“40 empfinden. Der zermürbende Kampf gegen die Zeit und den abstoßenden Alterungsprozess der Unmengen an Meisterwerken resultiert in Melancholie und Depression sowie einer bisher unbekannten „‚museösen Pathologie‘“41. Beim Museumspersonal löst diese kunstbezogene Geisteskrankheit starke ikonoklastische Impulse aus, welche jedoch durch übermächtige gesellschaftliche und zivilisatorische Verbote sowie das Gewicht dessen, was man „‚Schönheit‘“, „‚Risiko‘“ oder „‚Neuerung‘“42 nennt, im Zaum gehalten werden. So sehen die inhibierten Bilderstürmer sich von dem großen künstlerischen Erbe, dessen „Gefangene“43 sie sind, zu „bewundernder Passivität“44 verurteilt. Und tun ihre Beamtenpflicht, wie eine parodistische mise en aybme des Museumsalltags in Analogie zu modernen Trivialmythen verdeutlicht: „Feige wie wir sind, föhnen wir [die Meisterwerke] und setzen sie auf ein kleines Samtkissen, damit man nur ja glaubt, sie seien lebendig. Das kleine Hündchen mit dem Namen Malerei ist
37 38 39 40 41
42 43 44
Vgl. Rezvani 2000, L’Origine du monde, 383: „[N]ous parasitons l’œuvre créatrice, que ce soit par le commentaire, la conservation ou sa restauration.“ Ebd., 124. Ebd., 70. Ebd., 59. Ebd., 57. Die französische Wortschöpfung „maladie“ oder „pathologie muséeuse“ geschieht in Anlehnung an das Adjektiv „nauséeux“, das sich mit „Übelkeit oder Brechreiz erregend“ übersetzen lässt. Auch diese sprachspielerische und bildkräftige Annäherung der Worte „Museum“ und „Brechreiz erregend“ kann als typisches Beispiel für Rezvanis Stil und literarische Verfahren in diesem Roman gelten. Ebd., 101. Ebd., 122. Ebd., 76.
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eines natürlichen Todes gestorben [...], wir aber tun so, als wüssten wir nicht Bescheid.“45
‚Produzierbarkeit‘: Die Kunstwerke im Großen Museum An dieser Stelle kommt erneut das Prinzip der verkehrten Welt zum Tragen, das einen der Grundpfeiler des Romans bildet. So entwickelt Rezvani die Idee eines ‚konservierenden Ikonoklasmus‘, bei dem es sich um eine besondere Form der contradictio in adjecto handelt. Die Museumsleute, deren sehnlichster Wunschtraum sich mit der Formel ‚einmal restauriert – immer restauriert‘ umschreiben ließe, arbeiten an einer ‚wissenschaftlich-technischen‘46 Maschine zur „Unsterblichmachung“47 von Werken der bildenden Kunst. Denn ein „riesiges Volk, ja die gesamte Menschheit“48 steht vor den Toren des Großen Museums und wartet auf Einlass in die Welt der künstlerischen Ikonen. Und wie jede öffentliche Sammlung befindet sich das Große Museum in der paradoxen Situation, einerseits die Ausstellungsräume permanent mit Besuchern füllen und andererseits die Kunstwerke vor erheblichen Schäden bewahren zu müssen.49 Bei dem digitalen Wundermechanismus handelt es sich nun um eine Vervielfältigungsmaschine, die nicht etwa Kopien oder fotografische Reproduktionen, sondern Klone von Werken der bildenden Kunst herstellt. Das heißt, dass der gesamte Körper eines Gemäldes in seiner ursprünglichen Materialität mit Farbpigmenten, Rahmen, Leinwand und sogar typischem Geruch bis in seine verstecktesten Atome zerlegt und dann beliebig oft vollkommen identisch „produziert“50 (und nicht etwas reproduziert) werden kann. Womit die „totale Duplikation“51 und die „Ewigkeit“52 der Bilder erreicht wären. Der „Nachteil“53 ist jedoch, dass das „Original“ dabei „aufgelöst“54 wird bzw. in der bloßen Zahl der ‚echten‘ Repliken untergeht und sich damit faktisch abgeschafft sieht − die perfekte Rache der Museumsleute am Originalkunstwerk und in diesem Sinne ein 45 46 47 48 49
50 51
52 53 54
Ebd., 101 f. Vgl. ebd., 22: Im Roman ist die Rede von „les technosciences de l’art“. Ebd., 47. Ebd., 143. In gewisser Weise bieten die komplex gestalteten multimedialen Museumsführer eine (Teil-) Lösung für dieses Problem. Allerdings sind diese multimedialen Klassiker selbst dem Verfall ausgesetzt wie Harald Kraemer in seiner Untersuchung „Sammeln ohne Zugriff – Sammeln ohne Sinn“ im zweiten Kapitel deutlich macht. Zur Restauration im Umgang mit historischen Zeugnissen vgl. auch den Beitrag von Dörte Bischoff „Vom Überleben der Dinge“ im ersten Kapitel. Rezvani 2000, L’Origine du monde, 41 [Herv. I. S.]. Ebd., 74 [Herv. i. O.]. Zur Aura der Kopie und zur Unmöglichkeit einer „totalen Kopie“ vgl. die künstlerische Arbeit Connected in Isolation (2014-2015) von Jacqueline Baum und Ursula Jakob (siehe Tafelteil) sowie das Essay über dieses Projekt von Sarah Schmidt im ersten Kapitel. Rezvani 2000, L’Origine du monde, 41. Ebd., 143. Ebd.
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Bildersturm der konservatorischen Art. Um es mit Nelson Goodman auszudrücken, würde die Malerei damit von einer „autographischen“ zu einer „allographischen“ Kunst.55 In Walter Benjamins Terminologie klingt das sehr viel dramatischer, denn das Gemälde verlöre damit seine berühmte „Aura“56 des „Hier und Jetzt“57. Genau diese aber macht Rezvani zufolge die Daseinsberechtigung des bildkünstlerischen Werkes aus, mitsamt seiner Zerbrechlichkeit, Verletzlichkeit und Individualität. Den Museumsleuten, die das Originalkunstwerk vollkommen dinghaft ‚technisch reproduzierbar‘ machen wollen, wird ein „intellektuelles Verbrechen“58 an der Malerei vorgeworfen, die „das letzte Refugium der Einzigartigkeit“59 darstellt. Die Parallele zum Menschenklonen und dem Anbruch eines dystopischen „goldenen Zeitalters“60 — jetzt wo „die Künste außer Atem sind“ und „die Wissenschaft sie abgelöst hat“61 — liegt nahe, präfiguriert in der Welt der Kunst selbst. In einer Vision der schönen neuen Kunstsammlung der Zukunft finden sich die berühmtesten Gemälde der Menschheit als durch die Maschine des Großen Museums ubiquitär gewordene Multiples in ihrer vermeintlichen Einzigartigkeit an den unterschiedlichsten Orten der Welt und des Universums in alle Ewigkeit und für ein Milliardenpublikum ausgestellt. An anderer Stelle mokiert sich Rezvani aber auch über den Rummel um das „Original“62, die große Ikone, den künstlerischen Fetisch, und verrät, dass die Museumsbesucher in Wahrheit einer Illusion materieller Originalität bzw. Authentizität aufsitzen. Denn sowohl an alten als auch an neueren Gemälden, welche bereits durch zahlreiche Restauratorenhände gegangen sind, ist auf der Vorder- wie auf der Rückseite so gut wie kein Atom mehr „authentisch“63. Das liegt nicht nur darin begründet, dass die Romanrestauratoren oft der Versuchung nicht widerstehen können, Meisterwerke unauffällig in ihrem Sinne zu verändern und zu verfälschen, sondern generell auch daran, dass die Restaurierung einerseits eine Grundbedingung für die Konservierung darstellt, andererseits aber zwangsläufig immer auch Denaturierung bedeutet.
Sammeln nach dem Ende der Kunstgeschichte Im Roman kommen vielfach Wut und Trauer über den Verlust jedes transzendenten Anspruchs der bildenden Kunst spätestens seit dem „Ende der Kunst“ 55 56 57 58 59 60 61 62 63
Goodman 1995, Sprachen der Kunst. Benjamin 1980, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 477. Ebd., 475. Rezvani 2000, L’Origine du monde, 188. Ebd., 22. Ebd., 42. Ebd., 67. Ebd., 41. Ebd., 40.
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(Arthur C. Danto64) bzw. dem „Ende der Kunstgeschichte“ (Hans Belting65) zum Ausdruck. Eine kurze Erklärung zur Begrifflichkeit: „die Kunst“ und „die Kunstgeschichte“ müssen hier im Sinne des traditionellen kunsthistorischen Denkmodells einer autonomen, linear fortschreitenden Entwicklung der bildkünstlerischen Ausdrucksmittel seit der Renaissance und damit im Sinne einer Meistererzählung („grand récit“, Jean-François Lyotard66) westlichen Zuschnitts über die eine Kunst verstanden werden. In den 1980er Jahren zeigen jedoch der Philosoph Danto und der Kunsthistoriker Belting auf unterschiedlichen Wegen, dass das jahrhundertelang bewährte Schema dieser durch Vasari begründeten stilgeschichtlichen Großerzählung über „die Kunst“ bzw. „die Kunstgeschichte“ durch die künstlerischen Entwicklungen der Postmoderne ab 1950-1960 schlichtweg außer Kraft gesetzt, ungültig wurde, so nicht weitererzählt werden konnte, ‚zu Ende‘ war. Was natürlich nicht heißt, dass seitdem keine Kunst mehr produziert würde, sondern nur, dass es ab diesem Zeitpunkt keine dominante ‚Richtung‘ mehr in Bezug auf Inhalte, Stile und künstlerische Ausdrucksmittel sowie keine allgemeingültigen Definitionen des ‚Wesens‘ der Kunst mehr gibt. Das Erzählmuster einer autonomen und linear aufsteigenden „Geschichte der Kunst“ löst sich damit in Nebeneinander und Gleichzeitigkeit unterschiedlichster bildkünstlerischer Formen und Konzeptionen auf. Hans Belting zieht daraus vor allen Dingen Konsequenzen für die „Kunstgeschichte“ als akademische Disziplin, deren altbewährte Lektüre- und Analysewerkzeuge der pluralistischen Kunst der postmodernen Gegenwart nicht mehr gerecht werden, was konsequenterweise die Forderung nach Entwicklung neuer wissenschaftlicher Betrachtungs- und Interpretationsinstrumente sowie neuer Erzählrahmen für Kunst und Kunstgeschichten im Plural nach sich zieht.67 Historisch gesehen fällt dieses philosophisch und kunsthistorisch definierte „Ende der Kunstgeschichte“ mit dem beginnenden Zeitalter der ‚totalen Sammlung‘ bildender Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusammen, eine Ära des internationalen Museumsbooms, die Rezvani in seinem Großen Museum für die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts symbolhaft inszeniert und auf ihren phantastischen Höhepunkt zusteuern lässt. Hinterfragt wird hierbei die Tätigkeit des Sammelns als solche, insofern diese seit dem „Ende der Kunstgeschichte“ zum Selbstzweck und zur Signatur einer ganzen Epoche geworden ist. Und somit einer neuen „konsekrierten Form“68 zugrunde liegt. Auf der einen Seite geht es Rezvani dabei um die konkrete ‚Form‘ der Sammlung, das heißt der Ausstellung und Vermittlung bildender Kunst auf der Schauseite des Großen Museums der Postmoderne. So scheint die Darbietungsweise 64 65 66 67 68
Vgl. Fussnote 2 des vorliegenden Artikels. Vgl. Fussnote 3 des vorliegenden Artikels. Lyotard 2009, Das postmoderne Wissen. Vgl. Belting 1995, Das Ende der Kunstgeschichte, 21 ff. Rezvani 2000, L’Origine du monde, 17.
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der Sammlungsexponate gänzlich unter dem wissenschaftlich-historischen Diktat der inzwischen selbst Geschichte gewordenen Meistererzählung von der „Kunstgeschichte“ zu stehen – was eine Mortifizierung der Bildkunstwerke zur Folge hat. Denn in der historischen Aufreihung dienen diese faktisch nur noch als typische Vertreter im Rahmen des vergangenen „grand récit“ und werden somit ganz auf ihre Funktion als Beweis- und Anschauungsmaterial desselben reduziert. In ihrer vieldeutigen ästhetischen Individualität können sie hingegen nicht mehr wahrgenommen werden. Sie sind tot.69 Und was im Großen Museum in Wahrheit ausgestellt wird, ist die kanonische Form der abgeschlossenen wissenschaftlichen Großerzählung der „Kunstgeschichte“ selbst. Selbst die geheimnisvollen „Bleikammern“, in denen die Gemälde bis dato noch in Ruhe zu Staub zerfielen, bleiben von der Invasion der Kunst durch die Kunstwissenschaft auf Dauer nicht verschont. Da die Menschheit nunmehr in eine „Ära der Konservierung und Sakralisierung noch der kleinsten von Künstlern hinterlassenen Bruchstücke“ eingetreten ist, eröffnet der Museumsfriedhof plötzlich „ungeheure Perspektiven für zukünftige Generationen von Restauratoren und Historikern einer definitiv abgeschlossenen Kunstgeschichte“: Diese können aus den „Bleikammern“ „schöpfen wie aus einem antiken Steinbruch“, ohne dabei doch „jemals die Elemente einer ‚Relektüre‘ des langen Weges zu erschöpfen“, welcher die Menschheit dahin geführt hat, „einen Schlussstrich unter das zu ziehen, was ‚Malerei‘ genannt wurde“70. Im Zeitalter der totalen Sammlung und der totalen Ausdeutung kann es kein kollektives Unbewusstes mehr geben. Auf der anderen Seite befasst Rezvani sich in seinem Roman auch mit den Konsequenzen des ‚totalen Sammelns‘ für das Schöpferische. Er zeichnet ein düsteres und tragisches Bild der zeitgenössischen condition artistique, die von der Last des kulturellen Erbes und der Unmöglichkeit der Kreativität geprägt ist. Heutzutage „erstickt“ „die Gesamtheit der Malerei, die sich wie ein immenses Ruinenfeld“ vor dem Künstler ausbreitet, „jeden schöpferischen Versuch, der von diesem kulturellen Vermächtnis unabhängig sein möchte“.71 Dem Gegenwartskünstler bleiben lediglich zwei Möglichkeiten: Er kann entweder „das Vermächtnis zurückweisen oder aber es ironisch und in Form von Andeutungen in sein Werk einführen.“72 In beiden Fälle bedeutet dies allerdings den Abschied von einer visionären Kunst. Rezvani benutzt hier ein dramatisches Bild, das an den „Engel der Geschichte“73 erinnert, wie Walter Benjamin ihn in einem Gemälde Paul Klees erkannte: „Im einen wie im anderen Falle wird [der 69
70 71 72 73
So argumentiert schon, zeitgenössisch zur Louvre-Gründung, Quatremère de Quincy gegen die „chronologie moderne“: „[C]’est tuer l’Art pour en faire l’histoire“ (de Quincy 1989, Considérations morales, 48). Rezvani wiederholt also unter postmodernen Vorzeichen einen Topos der Moderne des Museums. Rezvani 2000, L’Origine du monde, 350 f. Ebd., 77. Ebd. Benjamin 1980, Über den Begriff der Geschichte, 697 f.
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Künstler] den Rücken der Zukunft zugewandt kämpfen müssen, um sein Kunstbedürfnis zu behaupten. Zwangsweise wird er gegen die so schrecklich invasiven Werke des großen Vermächtnisses anmalen, und nicht als Visionär einer anderen Menschheit, die eine Trägerin anderer Werte wäre“74, auftreten. Rezvani diskutiert in L’Origine du monde darüber hinaus die Kunstproduktion der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, wodurch er sich in die französische „Querelle de l’art contemporain“ der 1990er Jahre einschaltet. In dieser Kunstfehde, während derer sich die Gegner und die Befürworter der „zeitgenössischen Kunst“ gegenseitig als Faschisten u. Ä. bezeichneten, ging es um die Bewertung der in französischen Museen vorrangig ausgestellten, das Kunstgeschehen dominierenden Künstler und Formen der bildenden Kunst. Rezvani sieht hier eine „Ästhetik der Konservierung“75 am Werke, welche aus den Konsekrationsmechanismen zeitgenössischer Kunst durch das Kunstmuseum entsteht. Die Sammlungs- und Ausstellungspolitik des Großen Museums, wo Werke des „‚künstlerischen Erbes‘“ gemeinsam mit „sogenannten ‚modernen‘ Werken“ ausgestellt werden, hat seiner Ansicht nach einerseits einen Zwang zur Nivellierung zur Folge. Denn alles, was in diesem Rahmen ausgestellt wird, „wird automatisch zu Kunst“76. Andererseits scheint bei der zeitgenössischen Kunstproduktion das Prinzip der „Transgression“77 vorzuherrschen, wobei eklatante Tabubrüche der Kunstgeschichte wie Gustave Courbets Origine du monde (Ursprung der Welt) oder das ebenso berühmte Pissoir (Fontaine) von Marcel Duchamp den Künstlern als Referenzen dienen, um zum Beispiel gebrauchtes Klopapier, plastinierte echte Kadaver, Prostitution oder gar einen Selbstmord auszustellen. Im Roman werden Museumskonservatoren und Kuratoren „internationaler Megaausstellungen“78 bezichtigt, in ihrem Sinne willkürlich die Richtung der Kunstgeschichte umzudrehen, indem die Existenz von Werken der Vergangenheit sich plötzlich durch Werke der Gegenwart gerechtfertigt sieht. Überhaupt erscheinen Museumskonservatoren und internationale Ausstellungskuratoren aus dieser Perspektive heraus als die wahren zynischen „Erfinder“79 der zeitgenössischen Kunst und ihrer Künstler.
Das ultimative Kunstwerk Doch Rezvani wäre nicht Rezvani, würde er die kulturpessimistische Sichtweise seines Romans nicht durch die Einführung einer grotesken Figur parodieren und zugleich die Idee einer „Ästhetik der Konservierung“ ad absurdum führen. 74 75 76 77 78 79
Rezvani 2000, L’Origine du monde, 77 [Herv. i. O.]. Ebd., 94. Ebd., 30. Ebd., 162. Ebd., 325. Ebd.
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Bei dem Romanhelden Bergamme handelt es sich um einen weltbekannten Extremfall „museöser“ Geisteskrankheit. Dieser hochneurotische und schizophrene Zwerg, der durch Wände gehen und durch bloßen Wunsch töten kann, stiehlt in den Kunstmuseen Gemälde, die er in seiner Mansarde „fortsetzt“80 und „entvollkommnet“81, um sie vor dem sicheren Tod durch Konservierung zu retten, wobei sie allerdings häufig zerstört werden und nicht etwa an der Wand, sondern auf dem Bilderfriedhof unter dem Bett landen. Mit seiner „,Sammlung‘“82 und der selbst gewählten Rolle eines „Wiederherstellers der Einzigartigkeit“83 erscheint Bergamme als Parallele und zugleich Karikatur der Museumsleute und des Großen Museums. Er hält sich mal für Gott, mal für Nietzsche oder Hölderlin und betritt das Große Museum mit der fixen Idee, Courbets Ursprung der Welt zu rauben, um das Gemälde dem Verborgensein sowie der Nicht-Vollendung wiederzugeben und durch diesen Akt die Malerei zu retten. Unter permanentem Redezwang stehend, verdammt er lautstark neue Formen der Kunst wie Videos, Installationen oder Performances, welche die Malerei abgelöst hätten. Dabei ist er sich amüsanterweise nicht darüber im Klaren, dass die Museumsleute sein zorniges Herumgehopse vor dem Ursprung der Welt nicht nur als äußerst unterhaltsam, sondern darüber hinaus als höchst „artistisch“84 ansehen und ihn mit dieser ‚originellen‘ Kunstperformance in das zeitgenössische „artistische Spiel“85 innerhalb des Großen Museums einbeziehen. Ohne es zu wollen, ist Bergamme auf einmal selbst zu einem der ihm verhassten „Anartisten“ (Marcel Duchamp) der Gegenwart geworden. Die Museumsleute betrachten ihn gar als „ein Phänomen der Kunst“86. Mit seiner Freiheit, der Impulsivität und der Wut, mit denen er gegen die absolute Konservierung und ihre Ästhetik anschreit, verkörpert Bergamme hinter den Kulissen des Großen Museums die ‚andere Hälfte‘, die ‚dunkle Seite‘ der Museumsangestellten sowie auch ihre unterdrückten ikonoklastischen Triebe. Und schließlich wagt dieser „geniale“ Bilderdieb, der „durch die Schaffung einer neuen Form“ ursprünglich ein „großer Künstler der Zerstörung“87 hatte werden wollen, die ultimative künstlerische Tat88: Wie andere große Künstler vor ihm greift er die „konsakrierte Form“89 an. Im Zeitalter der totalen Sammlung erscheint nun aber das Große Museum selbst als die konsakrierte 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89
Ebd., 225 [Herv. i. O.]: Bergamme sagt, „[J]e poursuis les œuvres des peintres, je les continue“. Ebd., 24 [Herv. i. O.]: Im Roman ist wortspielerisch die Rede von „inachever“ = entvollkommnen. Ebd., 89. Ebd., 18 [Herv. i. O.]: Bergamme sieht sich wortspielerisch als einen „retourneur à l’unicité“. Ebd., 116. Ebd. [Herv. i. O.]. Ebd., 117. Ebd., 17 f. Zu weiteren Formen der Sammlungszerstörung vgl. den Beitrag „Visionen der Sammlungszerstörung“ von Ulrike Vedder im zweiten Kapitel. Rezvani 2000, L’Origine du monde, 17.
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Form. Weshalb der Zyniker Rezvani seinen Helden Bergamme in einer grandiosen künstlerischen Performance die zeitgenössische museale Logik der Überschreitung und des permanenten Tabubruchs auf die Spitze treiben lässt: Der gewaltige Brand des Großen Museums und damit die Zerstörung des „wunderbarsten Teil des künstlerischen Erbes der Menschheit“ erscheinen in der einzigen poetischen Ekphrasis des Roman als „die schrecklichste und zugleich heiterste aller Katastrophen.“90
90
Ebd., 272.
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VISIONEN DER SAMMLUNGSZERSTÖRUNG
Mit ihren Narrativen, Arrangements und Sinngebungsverfahren etablieren Sammlungen eine Ordnung der Dinge, die gegen Chaos und Kontingenz aufgeboten wird, die allerdings, so hat es Walter Benjamin in seiner „Rede über das Sammeln“ (1931) pointiert gefasst, äußerst fragil ist: „Jede Ordnung ist gerade in diesen Bereichen nichts als ein Schwebezustand überm Abgrund“.1 Um gegen den Abgrund zu bestehen, arbeiten Sammlungen ständig gegen die Destruktivität, die sich von innen und von außen gegen sie richtet – während sie zugleich dem Verdacht unterstehen, ihrerseits destruktiv zu sein, indem sie ihre Objekte dekontextualisieren, stillstellen, begraben. Museen und Sammlungen konservieren und tradieren also, aber durch die Dekontextualisierung der Objekte transformieren und zerstören sie deren Vergangenheit auch. Diese vielfältige Destruktivität und die gleichzeitigen Versuche, ihr zu trotzen, erzeugen eine Dynamik in Bezug auf Sammlungen, die sich Literatur und Film zunutze machen. Denn die Bedrohung, ja Zerstörung von hochkulturell sanktionierten oder subjektiv-passioniert codierten Sammlungen erzeugt in Texten und Filmen nicht nur spannungsreiche Plots, sondern auch Reflexionsmöglichkeiten: sowohl für Funktionen und Strategien von Sammlungen als auch für die Struktur und Medialität literarischer und filmischer Darstellung.
Destruktive Sammlungen: Das Museum als Grab und als Friedhof Der Topos von der mortifizierenden Kraft des Museums findet sich in der Geschichte der Museumskritik von Beginn an.2 So erscheinen im Jahr 1815 Quatremère de Quincys berühmte Considérations morales sur la destination des ouvrages de l’art. Darin äußert sich Quincy nicht etwa lobend zu der unerwarteten Rettung vorrevolutionärer Kunstwerke durch revolutionäre Museumsgründungen (z. B. des Louvre 1793) und zur gleichzeitig einsetzenden kunstwissenschaftlichen Geschichtsschreibung. Vielmehr beklagt er die Musealisierung der Kunst mit dem Argument, dass angesichts der Dekontextualisierung der Kunstwerke im Museum nur deren leere Materialität ohne Aura übrig bleibe. Schlimmer noch: Indem die Kunstwerke nicht länger in ihrem singulären Wert betrachtet würden, sondern nur noch in ihrer historischen Positionierung
1 2
Benjamin 1972, Ich packe meine Bibliothek aus, 388. Vgl. dazu Vedder 2005, Museum/Ausstellen.
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innerhalb einer „chronologie moderne“, würde die Kunst im Museum sogar ‚getötet‘ bzw. zum Grabmal gemacht: „[C]’est tuer l’Art pour en faire l’histoire; ce n’est point en faire l’histoire, mais l’épitaphe.“3 Ähnlich radikal, aber in ganz anderen politischen Kontexten, argumentiert ein Jahrhundert später das „Manifest des Futurismus“ (1909) in sehr grundsätzlicher Weise gegen die Beschäftigung mit der Vergangenheit, um Raum für Fortschritt, Zukunft und Bewegung zu gewinnen. Dabei nutzt Filippo Tommaso Marinetti, Verfasser des „Manifests“, den Topos des Museums als Friedhof: Die überfüllten Kunstmuseen werden mit „Friedhöfen vergeblicher Anstrengungen“, „Kalvarienbergen gekreuzigter Träume“ und „Registern gebrochenen Schwungs“4 gleichgesetzt, in denen sich eine vergangenheitsbezogene, auf Bewahrung setzende Kultur ihr eigenes Grab schaufelt. Diesen ebenso polemischen wie effektvollen Topos nimmt Francesco Rosis Film Cadaveri eccellenti/Die Macht und ihr Preis (1976, nach Leonardo Sciascias Roman Il Contesto) auf, der in einer Leichengruft beginnt und im Museum endet, um von den politischen Abgründen einer erstarrten Gesellschaft zu erzählen. Angesichts dieser Überlegungen ist es wohl kein Zufall, dass Thomas Harris’ Roman Hannibal – Fortsetzung von Das Schweigen der Lämmer und verfilmt durch Ridley Scott 2001 – den Serienkiller Hannibal Lecter als Kurator nach Florenz versetzt, um ihn dort bestialisch weitermorden zu lassen; im Lichte dessen nimmt Peter Sloterdijks Bemerkung, der passionierte Museumsbesucher lebe „vielleicht schon im Kernsog der Gräber“5, durchaus brutale Züge an. Dass mithilfe von Sammeln und Musealisieren letztlich die Destruktion des zu Bewahrenden betrieben wird, ist dabei einerseits ein polemischer Vorwurf, dessen rhetorische Zerstörungswut gegenüber dem Museum auf die Positionierung der eigenen Kunst- und Moderneauffassung zielt. Andererseits rekurriert diese Kritik auf die grundsätzliche Funktionsweise von Museen bzw. Sammlungen. Denn in ihnen unterliegen die bewahrten Objekte neuen Wahrnehmungs- und Gebrauchsweisen und damit neuen Sinngebungsprozessen, die ihre vormalige physische und kulturelle Identität verändern, ja zerstören können: „[D]er Verwandlungsprozeß ins Historische [zieht] das ‚reale Nichtsein‘ des Verwandelten notwendig nach sich“6. Wenn man aber Sammlungen als dynamische Narrative begreift, in denen Dinge (re-)kontextualisiert und (re-)signifiziert werden, dann hat andersherum auch jede Einreihung eines neuen Objekts eine veränderte Bedeutung der gesamten Sammlung sowie der bereits eingereihten Objekte zur Folge.7 Dies kann zur Infragestellung und Auflösung der bisherigen Sammlungsordnung führen, ja bis zur Verwüstung ganzer Sammlungen reichen, wie etliche Texte und Filme sie ausphantasieren: sei es in Form einer aus dem Inneren der Sammlungen, ihrer Objekte und ihrer Logiken selbst 3 4 5 6 7
de Quincy 1989, Considérations morales, 48. Vgl. dazu Belting 2002, Das Museum. Marinetti 1998, Manifest des Futurismus, 186. Sloterdijk 1990, Weltmuseum und Weltausstellung. Fliedl 1990, Testamentskultur, 173. Vgl. Bal 1994, Telling Objects, 111 f.
VISIONEN DER SAMMLUNGSZERSTÖRUNG
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kommenden Zerstörung (durch das Vergehen der Zeit, durch chemische Prozesse oder Schädlingsbefall, durch schiere Unordnung oder den Aufstand der gesammelten Objekte), sei es in Form einer sich von außen vollziehenden Destruktion (durch feindselige oder verführerische Eindringlinge, durch Agenten der Zerstörung wie Feuer, Wasser, Erdbeben). Dafür nun einige Filmbeispiele.
Zerstörte Sammlungen: Museum vs. Kino Wenn in Visionen der Sammlungszerstörung immer wieder das Feuer zum Einsatz kommt, so geschieht das nicht nur, weil Feuer ein enorm destruktives Element ist, sondern auch dank seiner Erinnerungsfunktion an mythische Szenen wie etwa den Brand der Bibliothek von Alexandria. Darüber hinaus ermöglicht es die Ikonographie des Feuers, die seine lebendigen und seine todbringenden Seiten hervorhebt, Fragen der Mortifizierung und Destruktivität in Museen und Sammlungen zur Darstellung zu bringen.8 Dafür ist das Motiv des brennenden Wachsfigurenkabinetts – das in einer ganzen Reihe von Filmen inszeniert wird – in besonderer Weise geeignet, zielt es doch darauf, sowohl Spannung bis hin zum Horror zu erzeugen als auch den Leben/Tod-Komplex des Museums zu thematisieren und zu visualisieren. In Michael Curtiz’ Film Mystery of the Wax Museum (USA 1933) ebenso wie im Remake House of Wax (USA 1953, Regie: André de Toth) vernichtet ein Feuer die Sammlung der geradezu lebendig erscheinenden Wachsfiguren.
1 − House of Wax (USA 1953, Regie: André de Toth)
Diese changieren zwischen Mortifizierung und Verlebendigung, bestehen doch die menschengroßen Wachspuppen aus einem Material, das die menschliche 8
Zum Motiv des brennenden Museums siehe Ingrid Strebles Überlegungen „Das totale Museum“ im zweiten Kapitel.
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Haut in Konsistenz und Farbe imitiert. Dies verdankt sich der Tatsache, dass das Wachs nicht vollkommen opak ist, sondern leicht transparent. Auf diese Weise erzeugt es nicht nur eine schimmernde Oberfläche, die den Blick sofort zurückwirft, sondern der Blick kann ein Stück weit in das Material eindringen – und gewinnt so nicht zuletzt erotische Qualitäten. Darüber hinaus wird die Verlebendigung der Objekte des Wachsmuseums im Moment der Zerstörung inszeniert, wenn schmelzendes Wachs wie Tränen über die Gesichter rinnt, wenn die Wachsfiguren in der Hitze zu glänzen beginnen, sich bewegen und verformen, bis sie in die Deformation übergehen und im Amorphen enden.9 Die Sammlung wird also vernichtet und gerade in diesem Prozess vorübergehend verlebendigt, was in den ausgedehnten spektakulären Feuerszenen so präzise wie suggestiv zu sehen gegeben wird. Dass der liebende ‚Vater‘ dieser Puppen und der Sammlung über solch frappierenden Bildern so wahnsinnig wird, dass er fortan aus lebenden Menschen auszustellende Puppenkörper fertigt, das heißt zugunsten seines Wax Museum zum Mörder wird, setzt die Leben/Tod-Thematik konsequent fort. Während diese zwischen Schaulust und Feuerfaszination changierende Szenerie mit der aus dem Puppendiskurs bekannten Verstörung der Grenzziehung zwischen Leben und Nicht-Leben spielt, zelebriert Tim Burtons Film Batman (GB/USA 1989) eine anders gelagerte Lust an der Zerstörung musealer Sammlungen: Batmans Gegenspieler Joker (gespielt von Jack Nicholson) inszeniert die Gewalt des Ikonoklasmus als grotesken Tanz.
2 − Batman (GB/USA 1989, Regie: Tim Burton)
Nach dem Song „Party Man“ von Prince, der den amerikanischen Traum des come together als Gleichheit von „red, green and brown“ thematisiert, tanzt der
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Vgl. dazu auch Urs Fischers Installation, bestehend aus langsam qua Docht herunterbrennenden lebensgroßen Figuren aus Wachs, die er 2011 auf der Biennale in Venedig gezeigt hat.
VISIONEN DER SAMMLUNGSZERSTÖRUNG
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grinsende Joker mit seiner Bande durchs Museum, dessen Gäste er mit Gas getötet hat, und beschmiert berühmte Gemälde, die für das ‚alte Europa‘ stehen, mit roter und grüner Farbe. Dass er ein Bild von Francis Bacon, ein mit Verzerrungen arbeitendes Porträt, verschont – möglicherweise weil er sein eigenes stümperhaft umoperiertes Gesicht darin gespiegelt findet, aber auch und vor allem als Witz –, ist Ausdruck seiner Macht und der an sie gekoppelten Lust, eine hochkulturell sanktionierte Kunstwerksammlung und das diese rahmende bürgerliche System kulturellen Kapitals zu zerstören. Dies geschieht nicht durch elementare oder mythisch aufgeladene Waffen wie das Feuer, sondern durch banale, kunstlose Graffiti und Farbkleckse. Die Ironie dieser Szene akzentuiert die Spiegelfunktion zwischen einerseits der Joker-Figur mit ihrer Mordlust und ihrem ‚künstlerischen‘ Anspruch, durch das Zerschneiden der Gesichter seiner Opfer diese zu gestalten, und andererseits dem Museum als einer Institution der bürgerlichen Moderne mit ihrem universalen Bildungsanspruch und ihren gewaltsamen Zurichtungen – eine Spiegelfunktion, die auf die intrikate Kopplung von Tod und Kunst bzw. Kunstsammlung aufmerksam macht. Aus einer wiederum anderen Perspektive thematisiert ein weiterer Film das Vergnügen am Ruin des Museums und damit dessen Systematik von Leben und Tod, von Bewegung und Stillstand: In Howard Hawks’ außerordentlich dynamischem Film Bringing up Baby/Leoparden küsst man nicht (USA 1938) wird die Spannung zwischen Bewegung und Erstarrung im Museum anhand des riesigen Skeletts eines Brontosauriers inszeniert.
3 − Bringing up Baby (USA 1938, Regie: Howard Hawks)
Nach vierjähriger Arbeit fast fertig gestellt, bricht es in der spektakulären Schlussszene zusammen, wenn – und weil – der unbeholfene Museumspaläontologe (Cary Grant) sich für die Liebe der ungestümen Millionärsnichte Susan (Katherine Hepburn) entscheidet. Susan klettert zu ihrem Geliebten hinauf, um ihm das letzte noch fehlende Knochenstück anzureichen, gerät auf der hohen Leiter ins unkontrollierte Schwingen und droht abzustürzen. Der Paläontologe
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ULRIKE VEDDER
hält und rettet sie, während das Saurierskelett zerbricht. Diese Verabschiedung einer verstaubten, lebensfernen Museumsarbeit fungiert nicht nur als Kritik an einer antiquierten Institution, sondern in der dezidierten Form einer Screwball Comedy auch als lustvolle Selbstinszenierung des Kinos, das als Bewegungsund Verlebendigungsmedium präsentiert wird – auch wenn es seinerseits als „Mortifikationsunternehmen“10 vielfach kritisiert worden ist: „Das Kino setzt sich als Herausforderer des Museums ein. Es thematisiert, was das Museum zu vermeiden sucht: die Bewegung.“11 Hawks’ Film bringt also die Medienkonkurrenz zwischen Museum und Kino ins Bild und entscheidet parteilich: qua Zerstörung des zentralen Sammlungsobjekts, um Bewegung in jeglichem Sinne freizusetzen. Die drei Filme nutzen also unterschiedliche Materialien – Wachs, Farbe auf Leinwand, Knochen –, die nicht nur auf drei kulturell sanktionierte, sammlungsfähige Artefakte verweisen (Wachspuppen, Gemälde, Saurierskelett), sondern auch auf je eine Geschichtsvorstellung rekurrieren, die in der bürgerlichen Moderne Zeichenfunktion übernimmt: historische Persönlichkeiten, Kunstgeschichte, Prähistorie. Diese werden in drei Sammlungs- und Bewahrungsinstitutionen (Wachsfigurenkabinett, Gemäldegalerie, Naturkundemuseum) konserviert, deren Fragilität sich in den Filmen zeigt und deren Zerstörung mit fortgeschrittenen Formen des Wahnsinns verknüpft wird, ob in Form von Horror (House of Wax), Groteske (Batman) oder Screwball (Bringing up Baby). Das in Bewegung versetzte Sammlungsobjekt, das die Systematik von Sammlung und Museum in grundsätzlicher Weise attackiert, richtet sich damit auch gegen die Ordnungen und deren Wissenssysteme, in die sie integriert werden. Der Zerfall sämtlicher gesammelter Objekte wird auch in Shawn Levys Film Night at the Museum (USA 2006) imaginiert, und zwar außerhalb des Museums: Wenn es dem Museumswächter (gespielt von Ben Stiller) nicht gelingt, am Ende der Nacht alle verlebendigten Sammlungsobjekte wieder an ihren Platz zu bringen, dann zerfallen sie bei Sonnenaufgang draußen zu Staub. Solcher Zerfall am Ende der Nacht gehört bekanntlich zum Zubehör des Vampirmythos und spielt auf das Unheimliche der Museumsobjekte, auf ihren Status des Untotseins an.12 Doch der drohende Zerfall außerhalb und die Rettung vor ihm innerhalb des Museums sind zugleich museale bzw. konservatorische Realität – wobei die Dinge ja auch vergehen, obwohl sie im Museum sind, in lichtgeschützten Behältnissen aufbewahrt und Restaurierungen unterzogen werden. Prozesse der Zerstörung sind demnach in vielfacher Weise den Sammlungsordnungen und -institutionen inhärent, während sie diese zugleich bedrohen.
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Engell 2011, ,Leoparden küsst man nicht‘, 114. Mattl 2003, Film versus Museum, 62. Vgl. dazu Vedder 2014, Aus der Nacht des Museums.
HARALD KRAEMER
SAMMELN OHNE ZUGRIFF: SAMMELN OHNE SINN! ÜBER DEN ZUNEHMENDEN VERLUST HYPERMEDIALER WISSENSRÄUME IM ZEITALTER IHRER ELEKTRONISCHEN SPEICHERBARKEIT
Gesamtkunstwerk Multimedia – die reproduzierte Reproduktion als Original Seit über 25 Jahren vereinigen Produkte der Hypermedia-Technologie Text, Bild, Video, Animation und Sound zu interaktiven Gesamtkunstwerken. Diese silbernen Scheiben (Laserdisc, Photo-CD, CD-I, CD-ROM und DVD-ROM) sind nicht nur Vermittler unseres kulturellen Erbes, sondern künden als zeithistorische Dokumente auch von der Steinzeit des Multimedia-Zeitalters. Als Produkte einer bestimmten Gattung innerhalb der angewandten Kunst zeugen sie sowohl vom Glauben an Interaktivität und Usability als auch vom kreativen Esprit des Interface Design und Storytelling jener Jahre.1 Mag heutzutage zwar der Hype um den Begriff Multimedia nachgelassen haben und durch andere Moden ersetzt worden sein, so sind die in den 1990er Jahren errungenen Meriten des Hypertextes, des Hyperlinks und der Hypermedia nach wie vor allgegenwärtig und prägen sämtliche Entwicklungen, heißen diese nun App oder Augmented Reality, Crossmedia oder Transmedia. Aufgrund der Geschwindigkeit technologischer Entwicklungen, der zeitbedingten Probleme der Entmaterialisierung der Daten wie auch fehlender Strategien der Archivierung drohen – neben Datenbanken und den in Datenbanken enthaltenen Daten – auch diese Werke angewandten Hypermedia-Designs verloren zu gehen.2 Wie die Zunahme der Fehlermeldungen beweist, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die neuesten Computertechnologien keinen Zugriff mehr auf die hypermedialen Klassiker erlauben; unabhängig davon, ob die MultimediaAnwendungen online oder offline angeboten werden. Im Folgenden soll an einigen Beispielen die vielschichtige Problematik des schleichenden Todes dieser für die Geschichte des digitalen und immateriellen kulturellen Erbes so wichtigen Werke angewandter interaktiver Kunst untersucht und dabei vor allem die Problematik des Sammelns in den Blick gerückt werden. Denn welchen Sinn 1 2
Vgl. Kraemer 2001, Interaktivität; ders. 2007, Hypermediale Wissensvermittlung; ders. 2008, Interaktive Impulse. Vgl. Hauser 2011, Kulturelle Überlieferung, 20 ff.; Nestor (Hg.) 2004, Bewahrung digitaler Daten.
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HARALD KRAEMER
hat eigentlich ein Sammeln dieser digitalen Relikte, wenn es keinen technologischen Zugriff mehr darauf gibt? Sammeln hat hierbei doppelte Bedeutung, denn einerseits geht es um das gezielte Sammeln von Multimedia-Anwendungen unterschiedlichster Speicherund Trägertechnologien durch institutionelle Sammler. Andererseits ist jede einzelne Multimedia-Anwendung an sich bereits eine Sammlung digitaler Daten, die in ihrer Vielfältigkeit auf die Programmierung, Navigation und Gestaltung der ihr zugrunde liegenden Einzelteile Text, Bild, Film und Sound zurückgreift. Im Zusammenspiel dieser Faktoren liegen der Wert und der Mehrwert dieser Meisterwerke angewandter Kunst. Der Wert bezieht sich hierbei nicht so sehr auf die Inhalte an sich, die teilweise auch als Bild, Text, Sound oder Film in anderer Form vorliegen, sondern in einem noch viel stärkeren Maße auf die Gestaltung, die Navigation, die Dramaturgien und die Einsatzbereiche dieser Anwendungen. Hypermedia-Anwendungen sind aufgrund der Vielschichtigkeit ihrer unterschiedlichen Formen, Funktionen und Inhalte schwer zu klassifizieren. Ihre Beziehungen sind komplex. Durch Gliederung nach Form (online vs. offline, stationär vs. mobil), Funktion (faktenreiches Nachschlagewerk vs. E-Learning, Werkzeug vs. animierte Infografik) oder Inhalt führen diese interaktiven Anwendungen zu gänzlich unterschiedlichen Zuschreibungen.3 So bieten die sichtbare Oberfläche des Screendesigns, die Navigation und das Interfacedesign, das Sound- und Sensorydesign, die zur Vermittlung des Wissens eingesetzten Dramaturgien und Storyboards wie auch die als Informationsarchitektur bezeichnete dahinterliegende Struktur eine unglaubliche Vielzahl denkbarer Kombinationsmöglichkeiten, die als ein Gesamtkunstwerk zu verstehen sind. Ruft man sich Walter Benjamins folgenreiche, nunmehr 80 Jahre zurückliegende Reflexionen über die technische Reproduzierbareit von Kunstwerken und seinen Begriff des Originals ins Gedächtnis, so haben sich angesichts multimedialer Anwendungen fundamentale Vorzeichen verändert. Ausgangslage seiner Beobachtungen war die Gegenüberstellung der fotografischen Reproduktion mit dem originalen Kunstwerk und die in der orts- und zeitgebundenen Wahrnehmung fußende Einmaligkeit und Echtheit der Betrachtung – Benjamin spricht hier von „Apperzeption“ –, die dem Original seine Authentizität und Autorität verleiht. Hieraus entwickelte Benjamin schließlich den Gedanken des Verkümmerns der Aura des Kunstwerkes im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.4 Was aber geschieht mit dem Begriff der Aura, wenn sich der Begriff des Originals erst aus dem Gestaltungprozess einer Reproduktion heraus bildet?5 Angesichts dieser erweiterten Lesart des Begriffs Original, der im indi3 4 5
Zur Problematik der Dokumentation von Hypermedia-Anwendungen s. Kraemer 2014, Multimedia Classics; ders. 2011, Grammar of Hypermedia; ders. 2011, De-Construction. Benjamin 1980, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 477. Zur Aura der Kopie vgl. den künstlerischen Beitrag von Jacqueline Baum und Ursula Jakob im Tafelteil sowie das Essay von Sarah Schmidt über die Künstlerinnen im ersten Kapitel.
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viduell gestalteten und programmierten Zusammenfügen digitaler und digitalisierter Vorlagen besteht, wird der von Benjamin gebrauchte Begriff der Reproduktion ad absurdum geführt. Zwar wird die erste fehlerfreie Version einer programmierten Multimedia-Anwendung als ,Master bezeichnet, doch ist jede weitere digitale Reproduktion dieses originalen digitalen Ausgangsmaterials gleichwertig. Die „reproduzierte Reproduktion“6 ist zum Original geworden, die – solange die Applikation gestartet werden kann – keinen Verlust der virtuellen Präsenz der digital manifestierten Aura nach sich zieht, da diese in ihrer virtuellen Präsenz stets permanent ist.7 Erst indem auf die Multimedia-Anwendung zugegriffen wird, kann die Aura als werkkonstituierendes Element sichtbar gemacht werden. Sollte jedoch der Zugriff auf die Inhalte der Anwendung teilweise oder gänzlich nicht mehr erfolgen können, ist die Wahrnehmung eingeschränkt, auch wenn die silbernen Scheiben immer noch über die auratische Präsenz ihrer schillernden Oberflächen verfügen.8
Hoffnungsträger musealer Vermittlung „Objects are for perception, works of art for emotion and media for fun. Media are – first of all – for fun.“9 Mit dieser Aussage machte Krzysztof Pomian beim Workshop „Exhibiting Europe“ den Stellenwert von Multimedia-Anwendungen im Museum deutlich. Für ihn, den Museologen alter Schule, haben Medien im Gegensatz zur seriös-fundierten Wahrnehmung und zur Kraft einer von Emotionen getragenen Kunstbetrachtung in erster Linie einen kommunikativen, unterhaltenden Charakter. Neue Medien dienen in Pomians Sicht der musealen Vermittlung, sind jedoch im Bereich der Unterhaltung, des Spiels und des kurzweiligen Vergnügens einzuordnen. Dabei haben zahlreiche, Mitte der 1990er Jahre entstandene Multimedia-Anwendungen auf mitunter recht experimentelle Art und Weise die Möglichkeiten dieses neuen Mediums für den Bereich der Dokumentation und Vermittlung von Kunst und Kulturgeschichte ausgelotet. Viele dieser Pioniere wurden unter den Stichworten ,Edutainment‘ und ,Infotainment‘ im Rahmen von Ausstellungen zum Zweck interaktiver Kommunikation mit den Besuchergruppen produziert und kamen für, von und in Museen
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Vgl. Lettner/Kraemer 1998, Dialog. Die im virtuellen Raum bestehende Originalität der Kopie wird im Roman LʼOrigine du monde von Serge Rezvani als Vision auf den Bereich materieller Kunstwerke übertragen, vgl. dazu Ingrid Streble „Das totale Museum“ im zweiten Kapitel. Zu Benjamins Reflexion zur technischen Reproduktion im Zeitalter digitaler Medien vgl. den Beitrag von Sarah Schmidt „Die Aura der Kopie oder das Alphabet der Klone“ zum Projekt von Jacqueline Baum und Ursula Jakobs Connected in Isolation (2014-2015). Krzysztof Pomian am 4. Juni 2009 im Rahmen des Workshops „Exhibiting Europe“ in der Hala Stulecia in Breslau.
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HARALD KRAEMER
und Kulturinstituten zum Einsatz.10 Ab 1995 gewann die interaktive Multimedia-Technologie auch in den Museen zunehmend an Bedeutung. Institutionen wie die Réunion des Musées nationaux waren Vorreiter und trugen in Frankreich wesentlich zur Verbreitung und Beliebtheit von Multimedia als Medium der Vermittlung musealer Bildung bei. In Deutschland war man zunächst eher skeptisch, hier wurde die CD-ROM in erster Line als willkommenes Medium zum Ausspielen und Bereitstellen von Daten aus Datenbanken verstanden. Doch das Scheitern der Bereitstellung von auf Sammlungsobjekte bezogenen Daten für die Forschung, das zögerliche Abwarten von Seiten der Museumspädagogik, Multimedia als Werkzeug der Vermittlung zu nutzen und nicht zuletzt die Skepsis gegenüber Computerspielen an sich, führten letztendlich zu einer ablehnenden Einstellung gegenüber Multimedia. Pomian brachte mit seiner Aussage Vorbehalte zur Sprache, die bis heute, 25 Jahre nach dem Beginn der ersten Multimedia-Anwendungen, im deutschsprachigen Raum noch präsent sind. Dies zeigt sich auch im Fehlen geeigneter Archive, denn während die Medienkunst mit Institutionen wie dem Zentrum für Kunst- und Medientechnologie Karlsruhe, dem Haus für elektronische Künste in Basel, der Initiative Preservation of Digital Art an der Hochschule der Künste Bern, dem Ars Electronica Center in Linz und dem in Krems angesiedelten Archive of Digital Art über eine starke Lobby verfügt, fehlt nach wie vor ein Archiv, welches gezielt die multimedialen ,Klassiker sammelt, bewahrt und so vor dem Vergessen rettet.11 Auch Suzanne Keene, Pionierin digitaler Museumsdokumentation, hatte lange Zeit starke Vorbehalte gegenüber dem Einsatz neuer Medien im Museum. Sie bezeichnete 1998 in ihrem wegweisenden Buch Digital Collections: Museums and the Information Age Multimedia als „whirlwind tour“ und erklärte: „Multimedia productions are the perfect place to apply my lifelong motto, one that has never let me down: ,When in doubt, leave it out. “12 Dennoch gehören mittlerweile Online- und Offline-Anwendungen in Museen, Archiven und Bibliotheken zum Alltag. Keine Institution hat sich der digitalen Entwicklung entziehen können, auch wenn bei zahlreichen Veranstaltungen der Museumspädagogik, die sich in den 1990er Jahren wachsender Beliebtheit erfreuten, Euphorie 10
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Der Verfasser verfügt über ein Archiv von etwa 400 Photo-CDs, Laser-Discs, CD-Is, CDROMs und DVD-ROMs und eine Datenbank mit derzeit 800 Datensätzen zu Online- und Offline-Applikationen. Ansatzweise wurde dies beim Institut für Museumsforschung der Staatlichen Museen zu Berlin versucht. Da das Archiv auf Schenkungen angewiesen war, ist die Ansammlung jedoch unsystematisch und unvollständig. Vgl. Prehn 1998, CD-ROM-Angebot; Schuck-Wersig/Wersig/ Prehn (Hg.) 1998, Multimedia-Anwendungen. Die meisten Bibliotheken von Museen und kunsthistorischen Instituten verfügen über kleinere Ansammlungen von Multimedia-Anwendungen diverser Formate. Über größere Konvolute verfügen die Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn und die Mediathek des ZKM. Dass auch die Medienkunst mit dem Vergessen ringt, zeigt sich am Schicksal der einst hochgelobten Online-Archive wie netzspannung.org oder Medien Kunst Netz, die mittlerweile mangels finanzieller Unterstützung und dank ihrem befristeten Projektcharakter zu eindrücklichen Datenfriedhöfen geworden sind. Keene 1998, Digital Collections, 65.
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und Befürchtungen offen aufeinander trafen.13 So standen kritische Äußerungen der einen Seite dem Hype der anderen gegenüber. Letztendlich traf ein, was Christoffer Richartz 1995 vorausgeahnt hatte: Die neuen Informationstechniken werden im Zweifelsfalle den Museen aufgezwungen werden, auch wenn sie sich ihnen verschließen wollen: die sich in der Gesellschaft entwickelnden Standards der Informationsvermittlung werden Erwartungshaltungen bei dem Besucher herausbilden, denen auch das Museum auf Dauer wird entsprechen müssen.14
Richartz erkannte des Weiteren, dass die Teilnahme an dem Entwicklungsprozeß der Kommunikationsmedien für die Museen von großer Bedeutung [sei], wenn den Museen der Bereich allgemeiner Bildung, damit aber auch tendenziell der Unterhaltungs- und Freizeitwert nicht auf Dauer entgleiten soll, denn die Publikumserwartung wird sich den entwickelten Informationstechnik-Standards anpassen.15
Insbesondere der letzte Satz ist hier von Bedeutung, denn die sogenannte Publikumserwartung wird von den Entwicklern oftmals vorgeschoben, um den neuesten technologischen Firlefanz zu rechtfertigen. Zwar wurde man in jenen fruchtbaren Jahren der Multimedia hin und wieder durch veraltete Systemanforderungen wie „Any macintosh computer that supports a 13-inch (640 x 480), 256-color, 4MB RAM, System 6.0.7.“16 darauf aufmerksam gemacht, dass die nächste Stufe der Computertechnologie erklommen worden war, doch in den späten 1990ern liefen die meisten Anwendungen noch nahezu stabil.
Geschichten vom Scheitern In den 1990ern, der Frühzeit des digitalen Multimedia-Zeitalters, war es eine ganze Reihe falscher Entscheidungen, sowohl Hardware und Software als auch überzogene Erwartungen an die Qualität der Daten bzw. die Interaktion mit den
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Beispielhaft sollen hier genannt sein: International Cultural Heritage Informatics Meetings ICHIM, 1991-2007, online unter: http://www.archimuse.com/conferences/ichim.html, zuletzt aufgerufen am 09.01.2016; „New Strategies of Communication in Museums“, ICOM/Committee for Education and Cultural Action Wien, 1996; Museumsdienst Köln (Hg.) 1998, Vermittlungsarbeit an Kunstmuseen; Museumspädagogisches Zentrum München (Hg.) 1998, Berufsfeld Museumspädagogik; Kraemer/John (Hg.) 1998, Bedeutungswandel der Kunstmuseen; Gemmeke/John/Kraemer (Hg.) 2001, Euphorie digital. Damals war der Autor dieser Zeilen auch stark vom Multimedia-Virus erfasst und dementsprechend missionarisch unterwegs. Hierzu: Kraemer 1994, Trauen Sie ihren Augen; Kraemer 1998, Museumsvermittler und Neue Medien; Kraemer 2001, Interaktivität. Richartz 1995, Musentempel, 332 f. Ebd., 333. Art Gallery. The Collection of the National Gallery London, CD-ROM (London: National Gallery; Brighton: Cognitive Applications; Microsoft Corporation, 1994).
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Nutzern betreffend, die zum Misserfolg mancher Produktionen geführt hat. Einige dieser Fehlentscheidungen und ihre Auswirkungen für die Sammlungsproblematik sollen nun vorgestellt werden.
Kunst und Wissenschaft (1994) Geradezu legendär ist die Geschichte der CD-ROM Kunst und Wissenschaft. Gemälde und Buchmalerei im Laboratorium. Das im Rahmen des EU-Projekts Network of Art Research Computer Image Systems in Europe (Narcisse) in gemeinsamer Kooperation mit zahlreichen prominenten Museen unter der Leitung der Direction des Musée de France erstellte multimediale Werk in acht Sprachen enthielt „ein elektronisches Lexikon“17, dessen Kernstück die bei der Auswertung von fotografischen und radiographischen Dokumenten von 120 Gemälden und Buchmalereien verwendeten Schlüsselworte waren. Während die Textinformationen mittels der Software WinAIRS der französischen Firma EURITIS erschlossen werden konnten, benötigte man für die mit einer recht hohen Auflösung digitalisierten Abbildungen eine weitere spezielle Software namens SCOPYR der Firma AVELEM, die zum stolzen Preis von 3.500 USDollar dazu gekauft werden musste. Außerdem wurde ein zweiter Monitor mit Farb- und Dekompressionskarte benötigt. Da sich kein Forschender die Bildsoftware leisten wollte oder konnte, wurde die CD-ROM anlässlich diverser Konferenzen großzügig verteilt. Ein einziges Exemplar soll an Getty verkauft worden sein.
DISKUS-Reihe (1995-1997) Auch den CD-ROMs der vom Bildarchiv Foto Marburg und dem Verlag K. G. Saur in Zusammenarbeit mit diversen Museen, Archiven und Forschungseinrichtungen herausgegebenen DISKUS-Reihe war kein wirtschaftlicher Erfolg beschieden. Die Produkte hatten Titel wie Gedruckte Porträts 1500-1618 (Graphische Sammlung, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg), Das politische Plakat der DDR (1945-1970) (Deutsches Historisches Museum, Berlin), Russische Avantgarde Sammlung Ludwig (Museum Ludwig, Köln) oder Italienische Zeichnungen vom 14. bis 18. Jahrhundert (Kupferstichkabinett, Berlin).18 Da alle Daten der CD-ROMs mittels derselben Software HiDA erstellt und dank derselben Datenbankstruktur MIDAS strukturiert wurden, boten alle Produkte dieselben Zugriffsmöglichkeiten und dank des Erschließungssystems ICONCLASS ein Angebot zur ikonographischen Recherche. Alle hatten demnach identische Systemanforderungen und dasselbe nüchterne Interface-Design. Um möglichst viele Abbildungen auf den CD-ROMs unterzubringen, wurde die 17 18
Kunst und Wissenschaft. Gemälde und Buchmalerei im Laboratorium, CD-ROM (Paris: Direction des Musées de France; Euritis, 1994), hier Booklet, o. P. Vgl. Zahn 1996, Sammlungskataloge; Karasch 1997, Museumskataloge.
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Qualität der Abbildungen niedrig gehalten, so dass insbesondere bei den druckgraphischen Werken kaum geeignete Abbildungen für die Forschung zu finden waren. Die DISKUS-Reihe wurde weder von den Forschenden noch von den Museumsbesuchenden angenommen und war ein Fehlschlag. Bereits zwei Jahre nach dem hoffnungsvollen Start wurde der Verkaufspreis der CD-ROMs von 148,- DM auf 88,- DM reduziert; später wurden die Restbestände verschenkt.
Österreichische Nationalbibliothek, Multimediale Enzyklopädie (1996-1998) Auch die Österreichische Nationalbibliothek engagierte sich in den Neuen Medien und produzierte gleich drei Philips CD-Is bzw. Compact Disc Interactive.19 Beim seit 1991 existierenden CD-I-Player hielt sich der Grad an Interaktivität in Grenzen und konzentrierte sich auf das Ansteuern einzelner Videos, Karaokesongs oder Musikstücke. Da die Auflösung der Filme auf den CD-Is mit MPEG-1 bescheiden war, hing der Erfolg maßgeblich von der Qualität der Drehbücher, Filme und Vertonungen ab, und diese sind im vorliegenden Beispiel hervorragend gelungen. Buch und Idee zur Multimedialen Enzyklopädie der Österreichischen Nationalbibliothek stammten von Hans Petschar, der einen außergewöhnlichen Querschnitt durch Geschichte, Architektur und Sammlungen geschaffen hat. Während sich auf der ersten Scheibe ,Prunksaal und ,Impressionen wiederfinden und die zweite den ,Sammlungen gewidmet ist, nimmt die dritte Scheibe mit ihrem Titel ,Apokalypse in gewisser Weise das Scheitern des Projekts vorweg. Denn die Österreichische Nationalbibliothek setzte mit dem Philips CD-I-Player, der seinerzeit mit über einer Millionen verkauften Playern in den USA einigermaßen gut vermarktet worden war, leider auf die falsche Hardware. In Europa war Philips weit entfernt von den in Amerika erreichten Verkaufszahlen. Die mehrfach mit Preisen ausgezeichnete CD-I wurde noch eine Zeit lang beworben und fristete dann an einem einsamen CDI-Player im Lesesaal ein Nischendasein.
Apples Büchse der Pandora I Vereinzelte Fehlermeldungen in der Anwendung von Multimediaprodukten irritierten, doch diese waren eher die Ausnahme als die Regel. Auch gab es damals keine Notwendigkeit, von den unterschiedlichen Einzelfällen auf Probleme des Zugriffs generell zu schließen. Mit der Weiterentwicklung der Betriebssysteme und Software begannen sich allerdings die Fehlermeldungen zu häufen. Um CD-ROMs auf Apple-Macintosh-Computer laufen zu lassen, wurden die Classic (Mac OS 9) und QuickTime benötigt. Da die meisten Produk-
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Österreichische Nationalbibliothek. Multimediale Enzyklopädie, 3x CD-I (Wien: Österreichische Nationalbibliothek; Houdek und Kurek, 1996).
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tionsfirmen sicherheitshalber die für ein optimales Abspielen der CD-ROM geeignete QuickTime-Version auf der CD-ROM mitbereitgestellt hatten, war es noch möglich, die neuere QuickTime-Version zu deinstallieren und die ältere Version zu installieren, um die Filme auf der CD-ROM zum Laufen zu bringen.20 Seit Apple Macintosh im Jahr 2009 mit Snow Leopard (OSX 10.6) die schnelleren Intel-Prozessoren benutzt, ist die Installation von Classic jedoch nicht mehr möglich, so dass sämtliche CD-ROMs, die nur für Apple Macintosh produziert worden waren und Classic benötigen, seit dem Wechsel nicht mehr gestartet werden können.21 Nur auf sogenannte hybride CD-ROMs, die für die Anwendung auf Apple und PC produziert worden waren, konnte zugegriffen werden, da Apple-Rechner nun auf Windows zugreifen konnten.
Atlas der Frühgeschichte. Von den Anfängen der Menschheit bis zur Antike (1998-2009) Gelangte man beispielsweise nach mehrfachem Öffnen der zahlreichen ,Windows‘ der CD-ROM Atlas der Frühgeschichte endlich auf die Ebene der hellenistischen Welt, so erfuhr man: „Not enough memory to load bitmap form file: MEDIA:EU:HW:EM:EUHWEM1G.MVP.“22 Dass Umfang, Tiefe und Gehalt der klassischen Antike den Speicherplatz zu sprengen vermögen, hat immerhin einen gewissen Witz. Der Bildungshungrige tröstete sich mit den anderen Inhalten der im Stil des Steinʼschen Kulturfahrplans gestalteten CD-ROM, die problemlos abrufbar waren. So blieb beim Nutzer der Eindruck bestehen, die Zugriffshoheit über das mannigfaltig angebotene, aber oberflächliche Wissen zu haben.
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Auf Musée dʼOrsay. Interaktiver Spaziergang im Herzen der Kunst des 19. Jahrhunderts: 1818-1914, CD-ROM (Paris: Réunion des Musées nationaux; Montparnasse Multimédia, 1996) kam es zu folgender Fehlermedlung: „Die QuickTime Version, die in dem von Classic verwendeten Mac OS 9 Systemordner installiert ist, wird nicht empfohlen. Das beste Ergebnis erhalten Sie, wenn Sie QuickTime 6.0.3 oder neuer für Mac OS 9 installieren. Sie finden die neueste Version von QuickTime für Mac OS 9 auf der QuickTime Website.“ Gravierender ist jedoch folgende Fehlermeldung, welche der CD-ROM Museum Schloss Kyburg: Lustvolle, tragische und lehrreiche Geschichten, CD-ROM (Zürich: Verein Museum Schloss Kyburg, Transfusionen, 2004) entstammt: „You canʼt open the application ,XYZ‘ because PowerPC applications are no longer supported.“ Zu CD-ROM Museum Schloss Kyburg siehe Kraemer 2007, Systemisches Design; ders. 2008, Interaktive Impulse. „How to run Classic (pre OS X) apps on Intel Macs“, online unter: http://hints.macworld.com/ article.php?story=20060509180914879, zuletzt aufgerufen am 09.01.2016. Atlas der Frühgeschichte. Von den Anfängen der Menschheit bis zur Antike, CD-ROM (München: United Soft Media, 1998). Atlas of the Ancient World, CD-ROM (Richmond, Surrey, UK: Maris Multimedia, 1998).
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Art Gallery. National Gallery London (1993-2009) Die Fehlermeldung „Sorry, there was a problem playing the animation“, die man beim Abspielen der recht simplen Animation der Darstellung einer symmetrischen Achse in Piero della Francescas Taufszene Christi erhält, mag einen erheitern.23 Immerhin finden sich weitere Animationen als Beispiele einer frühen Augmented Reality bei den anderen Guided Tours der CD-ROM Art Gallery zu den Themen „Composition and Perspective“, „Making Paintings“, „Paintings as Objects“ und „Beneath the Varnish“. Wenn sich die Probleme mit den Animationen dann aber häufen, wird rasch sichtbar, dass dieses wesentliche Qualitätskriterium der CD-ROM fehlt, die 1993 von Cognitive Applications als transportable Form der legendären Micro-Gallery der Londoner National Gallery erstellt wurde.
Arktis Antarktis (1998-2009) Eine andere Fehlermeldung erwartet den Nutzer beim Gebrauch der 1998 von der Bonner Kunsthalle im Rahmen der gleichnamigen Ausstellung erstellten CD-ROM Arktis Antarktis: „You canʼt open the application ,(null)‘ because it may be damaged or incomplete.“24 Diese Meldung stellt ein ernsthaftes Problem dar. Letztendlich handelt es sich beim Trägermedium der CD um eine Schutzschicht aus Polycarbonat, darüber folgt die Daten-Trägerschicht, die von einer Lackschicht geschützt wird, die oftmals noch bedruckt ist.25 Das Fassungsvermögen einer CD beträgt zwischen 650 und 700 MB. Was also in diesem Zusammenhang „damaged“ und was genau „incomplete“ bedeutet, lässt sich nicht genau sagen. Hier zeigen sich bereits deutlich die Schwächen der silbernen Scheiben, die einerseits in ihrem Trägermedium an sich, andererseits in der begrenzten Speicherkapazität liegen.
Josef Albers. Interaction of Color (1993-1998) Nach wie vor darf die CD-ROM Josef Albers als eine der interaktivsten Anwendungen bezeichnet werden.26 Der Betrachter wird vom passiv Lesenden des Farblehrbuchs zum aktiven Gestalter, wenn er die Aufforderung zur Mitgestaltung aufgreift, denn diese CD-ROM kombiniert sowohl den Text als auch die Tafeln des Farblehrbuchs mit einem integrierten Graphikprogramm als einem
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Art Gallery. The Collection of the National Gallery London, CD-ROM (London: National Gallery; Brighton: Cognitive Applications; Microsoft Corporation, 1994). 2009 erfolgte ein Relaunch der CD-ROM. Vgl. Kraemer, 1994, Trauen Sie ihren Augen; ders. 2001, Interaktivität. Arktis Antarktis, CD-ROM (Bonn: Kunst und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, 1998). Nestor (Hg.) 2004, Bewahrung digitaler Daten, zum Thema CD siehe 37-41. Vgl. Kraemer 2001, Interaktivität, 200 ff.
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Werkzeug zur kreativen Veränderung und Neugestaltung des Gelesenen. Allerdings erscheint seit einigen Jahren die stets wiederkehrende Fehlermeldung: „Could not create a new document because the selected printing resource could not be found. Use „Chooser“ to select a printer and try again.“27 Selbst wenn man einen Printer auswählt, so kann dieser von der CD-ROM nicht identifiziert werden und die Fehlermeldung erscheint kontinuierlich.
documenta 1-9 (1997-2009) Auch ein Zugriff auf die umfangreiche und gut gestaltete Dokumentation der ersten neun documenta-Ausstellungen war ab 2009 nicht mehr möglich, denn die „Datenbank konnte nicht geöffnet werden!“28 Gelang es dennoch zu den Inhalten vorzudringen und wollte man diese ausdrucken, so kam die Meldung: „Fehler beim Erzeugen des Objekts PrintOMatic.“ Doch wurden diese Daten vom documenta-Archiv für die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts bereitgestellt und sind mittlerweile online abrufbar. Somit hat zumindest eine der Institutionen den Wandel erkannt und die notwendigen Maßnahmen zu einer längerfristigen Sicherung der Daten ergriffen.29
Lichtblick Emulationen Neben den meisten Fehlermeldungen findet sich ein Button auf dem „OK“ oder „Fortfahren“ steht. So kommen die Nutzer nun auch noch in die Verlegenheit, ihre Zustimmung zum verwehrten Zugriff geben zu dürfen. IT-Experten heben gerne hervor, dass Emulationen künftig all die bestehenden Zugriffsprobleme lösen würden. Vereinfacht gesagt, imitieren Emulationen, wie sie beispielsweise in der VirtualBox oder mit dem Open-Source-Programm DosBox angeboten werden, die originale Anwendung innerhalb einer aktuellen Systemumgebung. Als eine Strategie zur Sicherstellung einer einzelnen CD-ROM oder eines einzigen Games, sind Emulationen ein denkbarer und erfolgreicher Weg, wie Jens-Martin Loebel es angesichts der Restaurierung eines Virtual-RealitySimulators für das Computerspielemuseum Berlin eindrücklich vorgeführt hat.30 Bedenkt man jedoch die Fülle der Systemanforderungen, die verschiedenen Versionen von QuickTime, Macromedia Director, Flash, um nur die gängigsten zu nennen, von den Programmen der Marke Eigenbau ganz zu schweigen, so
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Josef Albers. Interaction of Color, CD-ROM (New Haven, CT, London: Yale University Press, 1994). documenta 1-9. Ein Focus auf vier Jahrzehnte Ausstellungsgeschichte 1955-1992/Profiling Four Decades of Exhibition History, CD-ROM (Kassel: Stadt Kassel − Kulturamt documenta Archiv; Würzburg: CIS GmbH, 1997). Online unter: http://documentaarchiv.stadt-kassel.de/miniwebs/documentaarchiv/13511/, zuletzt aufgerufen am 09.01.2016. Vgl. Loebel 2011, Virtual-Reality-Simulator.
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wird recht schnell deutlich, dass eine Emulation aller Multimedia-Anwendungen erhebliche Kosten nach sich ziehen würde. Hinzu käme noch die individuelle Einholung der Werknutzungsrechte, da die Daten dem Datenträger entnommen werden müssen und somit ein Verstoß gegen die Urheberrechte vorliegt. Dies bedeutet, dass neben den Abgeltungsgebühren auch die Kosten für das Ausforschen der damaligen Produktionsfirmen treten. Angesichts dieser kaum abschätzbaren Kosten ist es verständlich, dass Archive und Bibliotheken sich in ihrem Bemühen zurückhalten, ältere Multimedia-Anwendungen für die Nachwelt zu bewahren. Auch benutzen die meisten der Institutionen, die für eine Archivierung von CD-ROM, CD-I oder gar Laserdisc infrage kämen, keine Geräte mehr, die den alten Systemanforderungen entsprechen. Da es keine Abspielgeräte mehr gibt, wurde selbstverständlich auch der gezielte Ankauf eingestellt. Dennoch verfügen die meisten Archive, Museen und Bibliotheken über einen Fundus unterschiedlicher Multimedia-Anwendungen. Je nach Institution fanden die Produkte ihren Weg in die eigenen Datenbanken oder schlummern – wie in einem Regal der Medienhochschule in Köln entdeckt – in ihrer Originalverpackung. So sind es neben dem unaufhaltsamen technologischen Fortschritt auch das befristete Management der Projekte und die mangelhafte Weitsicht vonseiten der geldgebenden Institutionen, welche die Machtlosigkeit der Archive eindrücklich zum Ausdruck bringen.
Apples Büchse der Pandora II Eine nächste Etappe im schleichenden Verlust multimedial gestalteter Wissensräume markiert das Jahr 2010. Damals beschloss Apple-Despot Steve Jobs, dass Adobe Flash nicht mehr auf iPhone, iPad und iPod laufen soll. Diese Entscheidung sollte massive Auswirkungen haben, denn nicht nur zahlreiche CDROMs, sondern auch Webseiten nutzten Flash als günstiges und frei zugängliches Plug-in, um animierte Slideshows und Filme zu erstellen. Im Februar 2015 beschloss dann YouTube, mittlerweile ein Subunternehmen von Google, der Argumentation von Jobs zu folgen und kündigte an, Videos nur noch mit HTML5-fähigen Browsern zu zeigen. Flash wird in nächster Zukunft gänzlich bedeutungslos und als Folge hiervon die filmbasierenden Medien zahlreicher Webseiten nach dem nächsten Relaunch verschwinden.31 31
Erste Auswirkungen zeigen sich in Fehlermeldungen wie diesen: „This site requires Flash 4 and QuickTime 4 to be installed on your browser. The following plugin(s) could not be detected: Get Shockwave Flash4. Click to get Flash 4.“ Art as Experiment, Art as Experience: An Exploration of Fifteen Works from the Anderson Collection, CD-ROM (San Francisco, CA: San Francisco Museum of Modern Art, 2000). Vgl. Samis 2001, Points of Departure: „File Not found (404). Sorry, but the page you were trying to view does not exist. It looks like this was the result of either: − a mistyped address − an out-of-date link.“ Die bisherige URL des SFMOMA führt zu den genannten Fehlermeldungen; auf der neuen Webseite der Anderson Collection at Stanford University fehlen hingegen die vom SFMOMA entwickelten interaktiven Anwendungen. Online unter http://www.sfmoma.org/multimedia/interactive_features/21 resp. https://anderson.stanford.edu, zuletzt aufgerufen am 09.01.2016.
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Art as Experiment, Art as Experience: An Exploration of Fifteen Works from the Anderson Collection (2000-2015) Seit die Anderson Collection ihre Heimstatt an der Stanford University gefunden hat, darf die vom SFMOMA im Jahre 2000 aufwändig produzierte interaktive Anwendung weder auf der Webseite des SFMOMA noch auf der Webseite der Stanford University gezeigt werden. Übrig geblieben ist somit nur die CDROM mit ihrem informativen und feinen Booklet. Insofern birgt auch der Einsatz von Open-Access-Software seine Risiken, wie bereits Chun, Jenkins und Stein bei ihrer Untersuchung des Einsatzes von Flickr für die museale Wissensvermittlung hervorhoben: Finally, open access software is provided and supported by a company. If this company dissolves or significantly changes its strategic direction, support of the soft ware on which an organization depends may be terminated. Open access and grassroots methods also bear the risk of a lack of long-term support for the soft ware product.32
Doch es sind nicht immer technologische Entwicklungen, welche die Änderungen nach sich ziehen; auch das zeitgeistige Design fordert seine Tribute. Erst durch einen Relaunch wird bei manchen Online-Anwendungen sichtbar, welchen Verlust die neu gestalteten Webseiten nach sich ziehen.
The Crystal Web (2001-2004) „thecrystalweb ist ein Zwischenraum: Angesiedelt zwischen Museum und Spielplatz, zwischen Alltag, Wissenschaft, Kunst und Technik, zwischen Kultur und Kommunikation, zwischen Tradition und Innovation, ist thecrystalweb der Versuch einer Neuordnung der Dinge.“ So stand es auf der Webseite von The Crystal Web einst zu lesen.33 Mit großem Aufwand wurde dieses aus dem universitären Bereich hervorgegangene und mit österreichischen Bundesmitteln geförderte digitale Museum zur Erforschung des Kristallinen durch den Wiener Verein Polygon (Verein zur Förderung der wissenschaftlichen und künstlerischen Beschäftigung mit dem Kristallinen) realisiert. Daten aus über 350 Museen, Archiven und Sammlungen wurden zusammengetragen und in einer umfangreichen Datenbank manuell indiziert und hinterlegt. Das Besondere war der jeweils neu entstehende Kontext durch ein exploratives und assoziatives Erkunden des Geflechts aus Beziehungen und Verknüpfungen, Daten und Inhalten.34 32 33
34
Chun/Jenkins/Stein 2007, Open Source, 138. Vgl. Kraemer/Kanter 2004, Dramaturgie Navigation Interaktivität. Der Domainname TheCrystalWeb.com wird mittlerweile für 2.495 US-Dollar zum Kauf angeboten. Online unter: http://www.hugedomains.com/ domainprofile.cfm?d=thecrystalweb&e=com, zuletzt aufgerufen am 09.01.2016. Infos zu The Crystal Net sind online unter: http://netzspannung.org/cat/servlet/CatServletcmd= netzkollektor&subCommand=showEntry&entryId=150073, zuletzt aufgerufen am 09.01.2016.
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Der gestalterische Akt des Erkundens lässt den Nutzer, der sozusagen zum Kurator wird, neue Zusammenhänge entdecken. Erst wurde die in ihrer Navigation und im Umgang mit Wissenswelten bahnbrechende Anwendung gefeiert, dann vom Hauptsponsor Swarovski vereinnahmt, und nun steht der Domainname zum Verkauf.
Virtueller Transfer Musee Suisse (2002-2014) Vom Verschwinden ist auch das Projekt Virtueller Transfer Musee Suisse betroffen.35 Ursprünglich 2002 als Web-Preview-Edition auf einer CD-ROM produziert, sollte diese innovative Kommunikationsstrategie ab 2004 dazu dienen, wöchentlich neue interaktive Geschichten online zu senden. Somit sollte die ursprünglich geplante dreijährige Schließzeit des Schweizerischen Landesmuseums von 2005 bis 2008 während der Sanierung des Altbaus und der Erstellung des Neubaus überbrückt werden. Der Virtuelle Transfer war kein virtueller Ersatz eines Museums, sondern das Konzept diente der Entwicklung experimenteller Strategien einer interaktiven Vermittlung und erzeugte als öffentlichkeitswirksame Maßnahme eine permanente Aufmerksamkeit. Mit diesem Prestigeprojekt, das sich durch seinen hohen Innovationsgrad, seine Mehrsprachigkeit und die Einbindung barrierefreier Internetmaßnahmen auszeichnete, gelang es, eine neue Qualität in der Vermittlung des kulturellen Erbes zu entwickeln. Zum Zeitpunkt seiner Entstehung war der in den vier Schweizer Landessprachen und in Englisch zugängliche Virtuelle Transfer mit 140 Flashanimationen, 30 Videos und 28 Hörstücken, welche interaktive Geschichten zu rund 600 Objekten der umfangreichen Sammlungen vorstellten, ein international beachtetes und mehrfach kopiertes Vorbild. Mittlerweile ist die Eröffnung des Museumsneubaus in greifbare Nähe gerückt, die Webseite zum dritten Mal relauncht und der Virtuelle Transfer im digitalen Nirgendwo verschwunden.
Artcampus (2002-2013) Dass auch prominente Online-Angebote vor Verlust nicht gefeit sind, zeigt das Schicksal des preisgekrönten E-Lernprojekts Artcampus. Federführend vom Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern in Kooperation mit den Universitäten Jena, Marburg, Fribourg, Neuchâtel und New York konzipiert und realisiert und vom Swiss Virtual Campus, einem Bundesprogramm der Schweizer Hochschulen, mit einem siebenstelligen Betrag gefördert, galt diese zweisemestrige Einführung in die Kunstgeschichte und ihre Methodik als Vorzeigeprojekt,
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Vgl. Jaggi/Kraemer 2004, Virtual Transfer; Kraemer 2007, Systemisches Design; Kraemer 2008, Interaktive Impulse, online unter: http://www.virtualtransfer.com, zuletzt aufgerufen am 02.05.2015.
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welches u. a. auch dazu dienen sollte, „die Studierenden zur fortwährenden Benutzung des Internets auch nach Kursende anzuregen.“36 Der ersten Phase (2002-2004) mit der Produktion von ca. 400 Textseiten, 500 Abbildungen, neun Lernspielen und acht Quizzen zu bildanalytischen Verfahren folgte eine zweite Phase (2005-2008) mit Vertiefung und Erweiterung durch Lernkurse. Nun kamen interaktive Einführungen in Ikonographie und Ikonologie, in Verfahren der Zuschreibung und Restaurierung und zur Baugeschichte des Berner Münsters hinzu. Ein Bilderquiz mit Werken aus dem Kunsthaus Zürich, den Kunstmuseen Basel und Bern rundete das Angebot ab.37 Nach dem Ende des Projekts 2008 gab es zwar von Seiten des Berner Instituts für Kunstgeschichte einen Link auf Artcampus, doch wurden weder die Inhalte weiter gepflegt noch die Lernkurse in das Curriculum eingebunden. Die externe Webseite verwaiste, und als schließlich die Instituts-Webseite in das universitätsinterne System eingebunden wurde, beschloss die Institutsleitung aus Kostengründen, den Artcampus nicht mehr zu transferieren.38
Zur Sammlungsproblematik: Erwachen und Handeln ,ein produkt ist immer ein zeichen, und zur produktqualität gehört, dass das produkt signalisiert, was es ist. produktgestaltung hat neben der technischen qualität, neben der gebrauchsqualität auch eine kommunikationsqualität herzustellen, nämlich das produkt transparent, verständlich, einsichtig zu machen, was herkunft, fertigung, materialien, konstruktion und gebrauch betrifft. ein wirklich gutes produkt zeigt sich so, wie es ist.‘39
Legt man Otl Aichers vielschichtige Definition der Kennzeichen eines guten Produkts den Anwendungen des digitalen kulturellen Erbes zugrunde, so sieht es mit der Qualität schlecht aus. Um die technische Qualität, die Gebrauchsqualität wie auch die Kommunikationsqualität beurteilen zu können, muss diese sichtbar sein und bleiben, doch genau hierin liegt das Dilemma. Aufgrund der Probleme der Entmagnetisierung und Dematerialisation der Daten und Datenträger, der Geschwindigkeit technologischer Entwicklungen bei Hardware, Software und Betriebssystemen, bewusster marketingstrategischer und unternehmerischer Entscheidungen, die durch Übernahmen zur Schließung von Unternehmen und somit zum langsamen Produktsterben führen, wie auch aufgrund fehlender Strategien der Archivierung drohen diese Meisterwerke angewandten Hypermedia-Designs verloren zu gehen. Wie die vorangegangenen
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Online unter: http://www.virtualcampus.ch/display03d2.html, zuletzt aufgerufen am 09.01.2016. Vgl. Bracht 2002, Artcampus; Kraemer 2005, Artcampus. Der Domainname artcampus.ch wird nun mit den Worten angepriesen: „Boost your online business. artcampus.ch instantly available“ und kann für 1.990 EUR erstanden werden. Aicher 1991, Welt als Entwurf, 71.
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Beispiele gezeigt haben, sind die Gründe überaus vielschichtig und die damit einhergehenden Probleme schwierig zu lösen. Auch die derzeit im Fokus stehenden Digital Humanities werden sich in absehbarer Zeit mit dem Problem unleserlicher Daten beschäftigen müssen. Hierbei stehen jedoch weniger multimediale Anwendungen im Mittelpunkt als der Zugriff auf Datenbanken und die in den Datenbanken gesammelten Informationen. Ebenso wie bei Multimedia ist auch hier eine „unzugängliche Datenbank [...] eine unbrauchbare Datenbank. Diese nicht weiter zu unterhalten kommt der Zerstörung wissenschaftlicher Ergebnisse gleich.“40 So scheint es nur eine Frage der Zeit, bis die neuesten Rechner keinen Zugriff mehr auf die hypermedialen Klassiker und die Datenbanken erlauben. Wie also können interaktive Geschichten, digitale Werkkataloge, ELernkurse oder virtuelle Stadtführer als, wie eingangs erwähnt, spezifische Sammlungsformen selbst gesammelt und katalogisiert werden? Wie sollen jene digitalen Medien der Vermittlung und des Wissenstransfers so dokumentiert und archiviert werden, dass ihr Wert auch nachfolgenden Generationen als Gegenstand der Inspiration und der Forschung dient? Werken der Medienkunst, Videokunst oder der Performance Art nicht unähnlich, manifestieren sich Hypermedia-Anwendungen zunehmend in einem transitorischen Geschehen, von dem beim Versuch der Dokumentation oftmals nur Spuren in Form von Screenshots und Transkriptionen in Form von Beschreibungen zurückbleiben.41 Hypermedia-Anwendungen erfordern in ihrer Komplexität eine Dokumentation in einem erweiterten Sinne, wenn sie auch noch späteren Rezipienten und Forschenden zum Gegenstand wissenschaftlicher Befragung und Historisierung werden sollen. Hypermediale Werke zeichnen sich somit durch ihre Transdisziplinarität, Multimedialität, Prozessualität, Ereignishaftigkeit, Interaktivität, Konzept- bzw. Kontextbezogenheit aus. Mit den herkömmlichen Mitteln der Dokumentation, die noch immer primär als Grundlage wissenschaftlicher und musealer Forschung gelten, sind diese Werke nur unzureichend zu erfassen. Hypermedia-Anwendungen bedürfen einer besonderen Aufmerksamkeit, denn sie können in ihrer Gänze nur mittels prozessualer Formate und Medien dokumentiert werden. Wie der Pionier des Interfacedesigns Gui Bonsiepe als wesentliches Kennzeichen von Multimedia schreibt, geht es nicht nur „um die Kopplung von Bild,
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Lukas Rosenthaler, Leiter des ehemaligen Daten- und Dienstleistungszentrums (DDZ) für die Geisteswissenschaften der SAGW im Gespräch mit Daniel Saraga. Saraga 2015, Schutt, 21. Nach Projektende des DDZ ist es gelungen, die fortlaufende Finanzierung bis 2020 sicherzustellen. Aus dem DDZ wurde das DaSCH (Data and Service Center for the Humanities). Online unter: http:// www.sagw.ch/sagw/laufende-projekte/DaSCH.html, zuletzt aufgerufen am 24.02.2016. Beispielhaft seien hier genannt: Kunstmuseum Wolfsburg (Hg.) 1995, Videokunst; Rihl 2007, Kreativstrategien; Tallon/Walker (Hg.) 2008, Digital Technologies; Dekker 2010, Archive 2020; Serexhe (Hg.) 2013, Preservation.
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Grafik, Animation, Text, Klang und Videosequenz, sondern um die Netzstruktur der Dokumente.“42 Doch diese „Netzstruktur“ ist „ein sehr schwacher, gegenüber der Vielfalt seiner besonderen Ausformungen unspezifischer Begriff.“43 So kann sich „die Verlinkung auf dem Display – je nach Programmierung oder Einstellung des Browsers – etwa als Sukzession oder als Nebeneinander, als Verhältnis der Inklusion oder gar als ein perspektivisches Hintereinander von visuell wahrnehmbaren Einheiten manifestieren.“44 Felix Thürlemann, der sich intensiv mit dem Begriff des Hyperimage als Herausforderung für die kunstgeschichtliche Hermeneutik beschäftigt hat, fordert „eine Theorie und präzise Analysen der spezifischen Formen der syntagmatischen Artikulation“ ein, „die auf der Grundlage der totalen Verlinkbarkeit aller Dateien im einzelnen realisiert werden oder grundsätzlich realisiert werden können.“45 Jede hypermediale Anwendung hat ihre eigene durch eine ‚liquide Informationsarchitektur‘ gestaltete und durch ein System von Hyperlinks strukturierte, unverwechselbare Erscheinung, welche sich aus visuellen, akustischen und nicht zuletzt den interaktiven Elementen ergibt. Dieser oftmals als ‚Look and Feel‘ bezeichnete Klang besteht aus sequenziell angeordneten unterschiedlichen Rhythmen, die in ihrer Gesamtheit die audiovisuelle Grammatik der Hypermedia-Anwendung bilden. An dieser Stelle soll nochmals das Wesentliche der Dokumentation dieses Gesamtklangs zur Sprache kommen. Im fiktionalen Film wird der Rhythmus der Handlung und somit auch dessen Dynamik von der Länge der Szenen bestimmt. Ebenso wie das Auge wiederkehrende Einstellungen als visuell langweilig erkennt, stellt sich auch bei Hypermedia-Anwendungen die Frage nach abwechslungsreicher Gestaltung. Die besondere Herausforderung hierbei liegt in der gestalterischen Differenzierung einzelner Module bei gleichzeitiger Beibehaltung eines übergeordneten visuellen Gesamtkonzepts um das Prinzip einer konstanten und variablen Gestaltung auf Inhalt und Navigation als auch Design und Sound zu übertragen. Um diese Vielschichtigkeit systematisch zugänglich zu machen, ist eine eigene Sprache des Sammelns zu entwickeln; eine Sprache, welche der unterschiedlichen multimedialen ‚Dialekte‘ der Gestaltung und Kommunikation Rechnung trägt. Der Reiz einer solchen Sammlung besteht weniger im Anhäufen aller jemals geschaffenen Produkte oder aller denkbaren Konstellationen, sondern im gezielten Aufbau eines Kanons, der aus den genannten Konstanten und Variablen einer audiovisuellen Grammatik besteht. Erst so lassen sich Ordnungsmuster ausmachen und miteinander vergleichen, so dass die stilbildenden Anwendungen als Vorreiter kenntlich werden. Hierbei gilt es die komplexe Informationsarchitektur ebenso zu dekonstruieren wie den audio-visuellen Gesamtklang des einzelnen Werks zu
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Bonsiepe 1996, Designer im Netz, 467. Thürlemann 2012, Hyperimage, 23. Ebd. Ebd.
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erfassen.46 Abschließend bleibt festzuhalten, dass das Terrain kultureller Hypermedia-Anwendungen auch 25 Jahre nach dem Multimedia-Hype für die kunstgeschichtliche und bildwissenschaftliche Forschung nicht bzw. kaum erschlossen ist und angesichts des bevorstehenden Verlustes des zu beforschenden Gegenstandes dringende Notwendigkeit zum Handeln geboten ist.
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Zum Vorschlag einer Methodik zur Analyse komplexer Hypermedia-Anwendungen s. Kraemer 2011, Grammar of Hypermedia; ders. 2011, De-Construction; ders. 2012, Pendantsystem; ders. 2014, Multimedia Classics.
III. TAXONOMIEN DES MENSCHEN – ARCHIVE DES HUMANEN
BÄRBEL KÜSTER, ARMIN SCHÄFER & SUSANNE SCHOLZ
TAXONOMIEN DES MENSCHEN – ARCHIVE DES HUMANEN. ZUR EINLEITUNG
1. Der Mensch im Fokus Wenn der Mensch sich sammelnd die Welt aneignet, macht er keineswegs vor sich selbst Halt. Als homo collector sammelt er seine Geschichte, er legt Menschenarchive an, wie sie etwa im Kontext der Kriminalanthropologie oder in der Registrierung von Verrückten und Geisteskranken in den psychiatrischen Krankenakten entstehen. Er fragmentiert und konserviert Körper, setzt sie stückweise wieder zusammen und untersucht sie als Exempel einer ‚Rasse‘ oder ‚Spezies‘. Im folgenden Kapitel steht der Mensch als Gegenstand der Sammlung im Mittelpunkt. Menschensammlungen werden oft an und mit denjenigen geübt und praktiziert, deren Subjektstatus infrage gestellt und deren Grundrechte eingeschränkt sind: Straftäter, „Wilde“, Fremde oder „Verrückte“. Die weitreichende Implikation des Menschensammelns zeigt sich jedoch nicht nur in der drohenden Verdinglichung des Menschen im Moment seiner Bestimmung als Sammlungsobjekt. Wissenschaftliche Taxonomien stehen in vielfältigen Wechselwirkungen mit gesellschaftlichen und kulturellen Phänomenen und Entwicklungen, sie strukturieren und reflektieren ethische und ideologische Wertstellungen; sie bestimmen die Position des Menschen im Gefüge der belebten Welt und der gesellschaftlichen Ordnungen; und sie reflektieren und produzieren Binnendifferenzierungen der Kategorie ‚Mensch‘. In wissenschaftlicher Klassifikation und Taxonomie des Menschen sind nicht zuletzt Handlungsoptionen angelegt. Damit kündigt sich das an, was schließlich als ein biopolitisches Programm das 20. Jahrhundert prägen wird, nämlich das Sammeln als Menschenselektion: Die biologische Unterscheidung des Menschen in verschiedene Arten wird zur Ideologie des Rassismus, der im Wesentlichen darin besteht, die biologische Differenz mit einer Wertehierarchie und mit Handlungsoptionen zu verbinden. Politik ereignet sich in direktem Zusammenschluss mit „biologischen Erkenntnissen“ und greift direkt auf das menschliche Leben zu. Das Sammlungsobjekt Mensch stellt Objektivierung und Verwissenschaftlichung des Sammelns infrage. Eine wichtige Scharnierstelle und ein wesentlicher ‚Beschleunigungsfaktor‘ der wissenschaftlichen bzw. taxonomischen Entwicklung ist die Darwinʼsche ‚Revolution‘, sofern mit der Durchsetzung des Evolutionsgedankens das Individuum als Exemplar der Spezies und Teil
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einer Population in den Blick gerät. Damit kommen neue Sammlungstaxonomien zum Tragen, die sich nun einerseits auf die Dokumentation der unterschiedlichen Varianten menschlicher Existenz, andererseits auf die Erfassung von Pathologien und Abweichungen vom gesetzten Standard und letztlich auf das Ziel der Normalisierung und Normierung richten. Die Medien des Sammelns, die für die Erfassung, Reproduktion und Dokumentation der Exponate gewählt werden und zu einer offenen und latenten Rationalisierung des menschlichen Sammlungsguts beitragen, haben für die Taxonomien des Humanen eine Schlüsselstellung inne. In den Beiträgen dieses Kapitels kommt den Formen und Praktiken der wissenschaftlichen Visualisierung und ihrer Wechselspiele mit Schrift und Sprache eine besondere Aufmerksamkeit zu. Sie richten ihr Augenmerk insbesondere auf Prozesse, in denen die Eigendynamik des Mediums sich einem intendierten (kolonialen oder sozialen) Blickregime widersetzt. Die Verfahren und performativen Strategien, die eine „Sprache des Sammelns“1 konstituieren, werden nicht zuletzt in Kunst und Literatur aufgenommen und erprobt. Die literarischen Werke tragen zur Aushandlung einer kulturellen Problemstellung oder einer kulturellen Befindlichkeit bei und können dabei hegemoniale Positionen komplizenhaft unterstützen, aber auch unterminieren. Denn Literatur und visuelle Produktion können zu einer Plattform werden, auf der Zweifel an der Gültigkeit physiognomischer Lektüren zur Sprache kommen, die die typenhafte Lesbarkeit von Gesichtern dementieren. Wie ist das menschliche Sammlungsobjekt jenseits seiner Vergleichbarkeit, Exemplarizität und Typenhaftigkeit beschaffen? Die Beiträge breiten nicht zuletzt Aspekte einer mit großem Aufwand betriebenen Rhetorik der Taxonomie aus, die auf etwas reagierte, was Sigmund Freud die zweite große Kränkung der Menschheit nannte. Mit Darwin hatte der Mensch seine Stellung als Krone der Schöpfung durch die wissenschaftlich nachweisbare Abkunft aus dem Tierreich verloren.2
2. Epistemologische Schwellen Das Wissen vom Leben war lange Zeit in eine Vielzahl von Geschichten verstreut: Es gab eine Geschichte der Vögel, eine Geschichte der Blumen, der Monster oder eine Geschichte der Drachen und Schlangen. Unter dem Namen des Lebewesens wurde mit enzyklopädischem Anspruch in diesen Geschichten alles versammelt, was über es gewusst wird, ohne dass zwischen Beobachtung, historischem Dokument und Fabel unterschieden wird.3 Im 17. Jahrhun1 2
3
Vgl. die Einleitung in den Sammelband. Die erste dieser Kränkungen war die von Kopernikus vorgenommene Dezentralisierung der Erde im Sonnensystem, die dritte die Entdeckung Sigmund Freuds, dass „das Ich nicht Herr sei im seinem eigenen Haus“. Freud 1978, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, 11. Foucault 1971, Die Ordnung der Dinge, 169.
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dert entstand dann eine Naturgeschichte, die erstmals eine historische und systematische Beschreibung der gesamten, unbelebten wie belebten Natur unternahm. Die Beschreibungen der belebten Natur, wie immer sie auch von der unbelebten Natur unterschieden wird, gründeten auf einem spezifischen Begriff der Art. Erst mit dem Begriff der Art, der sich ab 1700 durchsetzte, wird Naturgeschichte möglich: Man erkannte, dass Lebewesen immer nur solche Lebewesen hervorbringen, die ihnen in hohem Maße ähnlich sind.4 Die Vertreter einer Art zeugen immer nur Lebewesen, die derselben Art angehören. Und deshalb lässt sich das Leben auch mittels des Begriffs der Art beschreiben: Während die geschichtliche, diachrone Ordnung des Lebens sich daran zeigt, dass es Arten überhaupt gibt, erweist sich die systematische Ordnung des Lebens daran, dass sich Lebewesen in Arten zusammenfassen lassen. Das erfordert wiederum eine Beschreibung, welche die individuellen Besonderheiten der einzelnen Lebewesen vernachlässigt. Carl von Linné ging davon aus, dass alle Vertreter einer Art bestimmte sichtbare Merkmale aufweisen. So wurden etwa für die Bestimmung und Klassifikation einer Pflanze deren Geschlechtsmerkmale beschrieben, also die Staubgefäße gezählt und die Form der Stempel benannt. Die sonstigen Unterschiede zwischen den Individuen galten als praktisches Wissen. Unterhalb der Art gab es scheinbar keine Wissenschaft. Gegenstand der Wissenschaft waren die Arten, die voneinander unterschieden und in übergeordneten Einheiten, in Gattungen, Familien, Ordnungen und Klassen zusammengefasst werden mussten. Erst Linnés taxonomisches System sowie die Einigung auf ein einheitliches Verfahren, nach dem die Arten bestimmt und mit Namen versehen wurden, und die eingeführte – lateinische – Nomenklatur ermöglichten kumulative und internationale Forschung und schließlich den Aufstieg der Wissenschaften vom Leben im 18. Jahrhundert. Strittig blieb jedoch, welche Klassifikation sich überhaupt eignete. Georges Louis Leclerc, Comte de Buffon hatte in seiner Allgemeinen und speziellen Geschichte der Natur die Auffassung vertreten, dass die Natur sich einer solch strikten Taxonomie entzieht, stattdessen sollte die Wissenschaft auf geschichtlicher Entwicklung der Natur und empirischer Beobachtung aufbauen. Darwin stellte die Klassifikation schließlich auf eine neue Grundlage. Der Artbegriff, der den Klassifikationen zugrunde lag, war fragwürdig geworden: Die Art ließ sich nicht mehr dadurch definieren, dass deren Vertreter fruchtbare Nachkommen zeugen, sondern vielmehr schränkt die fortschreitende Spezifikation die Reproduktionsfähigkeit ein. Darwin zog schließlich den Begriff des Organismus mitsamt seiner Klassifikation auf das Feld der Genealogie: Jede wahre Klassifikation ist zugleich eine Genealogie, die erklärt, wie die bestehende Ordnung entstanden ist. Die Darwinʼsche ‚Revolution‘ schlug auf die wissenschaftliche bzw. taxonomische Entwicklung durch. Der Mensch
4
Vgl. Jacob 2002, Die Logik des Lebenden, 52-60.
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wurde zum wissenschaftlichen Sammlungsobjekt, sofern er einer Art angehört und Teil einer Population ist. Im 19. Jahrhundert haben Wissenschaften vom Menschen wie z. B. Medizin, Ethnologie, Psychologie oder Psychiatrie empirische Forschungsprogramme auf den Weg gebracht. Mittels systematischer Beobachtung und Experimenten wurden Daten erhoben bzw. gewonnen, die wiederum auf statistischen Grundlagen verarbeitet und ausgewertet wurden. Man konnte nicht mehr nur punktuell Symptome und typische Stadien, sondern Verläufe und Verlaufsformen miteinander und wiederholt vergleichen. Diese Möglichkeit der Rekursion, die erst durch das Archiv geschaffen wurde, spielte mit einer Praxis der Datenverarbeitung zusammen, welche der Aufzeichnung und Archivierung von (klinischen) Beobachtungen aufruhte. Diese Aufzeichnungen werden zunächst gefiltert und in vergleichbare Daten transformiert. Dann wurden diese Daten unablässig verglichen und gruppiert, bis sie schließlich vermeintlich sinnvolle und stabile Einheiten bildeten. Man könnte vielleicht zugespitzt formulieren: Die Normbildung um 1900 war nicht mehr von Archivoperationen zu trennen: Mittels statistischer Verfahren konnten aus fluktuierenden Datenbeständen flexible Normen konstruiert werden.5 Die Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen der Mensch zu einem wissenschaftlichen Gegenstand wurde, waren einerseits nicht von diesen Prozeduren abzulösen. Sie konstituieren eine epistemologische Schwelle, die zwischen allgemeinen und wissenschaftsfähigen Aussagen verlief. So lag die epistemologische Schwelle, an der z. B. eine Krankheit zu einem Erkenntnisgegenstand wurde, zunächst oberhalb des Individuums: Krankheiten galten als objektive Entitäten in der Natur, die den Arten im Tierreich vergleichbar schienen. Der Patient war Repräsentant der Krankheit, so wie ein einzelnes Tier ein Vertreter einer Art war; die verschiedenen Formen einer Erkrankung waren wie die Varietäten einer Art. Die statistische Durchdringung von Sammlungen hielt im Laufe des 19. Jahrhunderts Einzug in Medizin und Psychiatrie, auch wenn die Ärzte herausstellten, dass sie eine Kunst ausüben, die auf Erfahrungen beruhe. Armin Schäfer zeigt, dass der historische Wandel der Nosologie auch von unterschiedlichen Erzählstrategien bedingt ist, die aus empirischen Elementen jeweils neue Krankheitseinheiten herstellen. Der Austausch zwischen wissenschaftlicher Begriffsbildung und biographischen Erzählungen bestimmt maßgeblich die Konzeption und Veranschaulichung des pathologischen Subjekts. Erst nachträglich entsteht eine hermeneutische Perspektive, aus der heraus die Genese und der Verlauf einer Erkrankung als ein sinnvolles Geschehen gedeutet und verstanden werden kann. Die Regelhaftigkeit dieses Erzählens kann aber weder nur aus der Erzähltheorie noch aus den psychiatrischen Konzepten erklärt werden, sondern muss in der Verfasstheit der Erzählungen selbst samt deren Darstellungs- und Inszenierungsweisen aufgezeigt werden. Sue Watermans Beitrag durchstreift in 5
Vgl. Link 1997, Versuch über den Normalismus.
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diesem Sinne die Schriften früher Geologen, Zoologen und Biologen auf der Suche nach Erzählstrategien ihres Sammelns, die die Schriftstellerin selbst, wie Marion Picker in ihrem Essay schreibt, als die „qua Zitat gesammelten ‚Exponate‘“6 nebeneinanderstellt: Das Faktum oder das Artefakt, um Faktum zu sein, bedarf einer minimalen Fiktion.7 In der Form der Collage, in der die Stimme der Autorin vor allem in der Choreographie der Textpassagen präsent ist, werden das sammelnde Subjekt und die Frage nach der Kontextualisierung der Exponate ebenso problematisch wie das Verhältnis vom Partikulären zum Allgemeinen, vom einzelnen Sammlerstück zur Kategorie, die es vertreten soll. Sue Watermann unterstreicht, dass jede Akquisition eine einmalige Konjunktion von Sammlersubjekt, gefundenem Objekt, Ort und Moment darstellt: „Every acquisition; whether crucial or trivial, marks an unrepeatable conjecture of subject, found object, place and moment. In its sequential evolution, the collection encodes an intimate narrative“8. Wie aber kann dieser narrativ gefasste, intime Moment einer individuellen Konstellation in ein wissenschaftlich valides Allgemeines überführt werden? Raum und Zeitpunkt des Funds sind nicht nur Koordinaten für die wissenschaftliche Einordnung des Fundstücks, sondern prädisponieren auch den Sammler in seiner Einordnung; warum hat er dieses Stück zur Aufbewahrung ausgewählt und nicht jenes? Was im Narrativ des Privatsammlers einen Teil des Zwecks der Sammlung darstellt – zum Teil der Selbstdarstellung des Sammlers wird – lässt sich auch aus der wissenschaftlichen Sammlung nicht ‚herausrechnen‘: die ‚Exemplarizität‘ der Exponate und der Allgemeinheitsbzw. Objektivitätsanspruch wissenschaftlicher Sammlung werden fragwürdig.
3. Das Archiv und die Infamie des Humanen Das Archiv erzeugt die Möglichkeit der Rekursion: Man kann auf das Aufbewahrte wiederholt und immer wieder aufs Neue zugreifen. Das Archiv und die Sammlung folgen vorgängigen Taxonomien von Objekten, Bildern, Papieren, Wörtern, welche für eine zukünftige Benutzung konzipiert wurden und damit ihre Bedeutung in der Zukunft vorwegnehmen. Archive und Taxonomien werden auf eine (retrospektive) spätere Lesbarkeit hin konzipiert, denn „jedes Wirkliche kann durch Speicherung zum Schatz eines Wissens werden“9. Die Vorstellung eines Archivs der Menschheit versprach nicht nur ein enzyklopä6 7
8 9
S. 452 in diesem Band. Vgl. dazu Elsner 1997, A Collector’s Model of Desire,155-156: „Collecting is inherently a cult of fragments, a sticking together of material bits that stand as metonyms and metaphors for the world they may refer to but are not. Its desire, then, the inspiration for its enlivening and obsessional dynamic, is for the plenitude of objects that once – in some imaginary world – were all together and so did not need to be collected.“ S. 422 in diesem Band. Ebeling/Günzel 2009, Einleitung, 21.
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disches Wissen, sondern auch eine Bewältigung der proliferierenden und oft widersprüchlichen Wissensproduktion über den Menschen. Mit dem Archiv wurde ein Modell der Ordnungsstiftung geschaffen, das eine phantasmatische Qualität annahm, indem es versprach, das gesammelte Weltwissen panoramatisch an einem Ort ausbreiten zu können und den Blicken der Initiierten verfügbar zu machen. Zwei Konzeptionen von Michel Foucault waren für die Beiträge dieses Kapitels von grundlegender Bedeutung. Foucault bezeichnet zum einen mit dem Singular archive, der seit dem 16. Jahrhundert im Französischen kaum mehr verwendet wird, ein theoretisches Konstrukt, das die Ebene konkreter empirischer Archive unterläuft und die verzweigte Struktur von Diskurs- und Machtpraktiken in den Blick nimmt. Er bestimmt das archive als „das allgemeine System der Formation und Transformation von Aussagen“10. Diese Definition zielt weder auf ein empirisch gegebenes Korpus noch auf eine Totalität von Dokumenten, Spuren und Artefakten, noch gar auf einen Aufbewahrungsort oder eine Institution. „Ich werde“, so erläutert Foucault seinen Begriff, als Archiv nicht die Totalität der Texte bezeichnen, die für eine Zivilisation aufbewahrt wurden, noch die Gesamtheit der Spuren, die man nach ihrem Untergang retten konnte, sondern das Spiel der Regeln, die in einer Kultur das Auftreten und Verschwinden von Aussagen, ihr kurzes Überdauern und ihre Auslöschung, ihre paradoxe Existenz als Ereignisse und Dinge bestimmen.11
Das archive ist wie ein Netz, das sich zwischen Welt und Anschauung legt und sowohl Klassifikationen wie auch die archivische Struktur der Wirklichkeit erst sprachlich fassbar macht.12 Foucault schrieb zum anderen Das Leben der infamen Menschen13 als Einleitung für eine Sammlung von kurzen Dokumenten zur Geschichte der Internierung im 17. und 18. Jahrhundert. Grundlegend für die Auswahl der Schriftstücke ist der Begriff einer doppelten „Infamie“ ihrer ‚Schreiber‘ oder Protagonisten; denn als Verbrecher, Versager, Kriminelle und ‚Primitive‘ sind sie nicht nur marginal in der gesellschaftlichen Nomenklatur, sondern ebenso marginal in den Archiven, indem ihre Existenz nur mit einem einzigen Dokument, einer einzigen Spur angezeigt wird. Ausgehend von der Sammlung die-
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Foucault 1992, Archäologie des Wissens, 188. Foucault 2001, Über die Archäologie der Wissenschaft, 902. Ernst 2000, Das Rumoren der Archive, 24: „Tatsächlich aber tritt zwischen vergangene Welt und aktuelle Lektüre das Archiv nicht als Autor, sondern als Strukturierung und Präfiguration; das Wissen von Wirklichkeit ist eine Funktion ihrer Klassifikation, das sich wie ein Netz zwischen Welt und Anschauung legt und beide erst sprachlich faßbar macht. Es ist nicht so, daß wir die Wirklichkeit in eine Klassifikation übersetzen, sondern die klassifikatorische Form selbst gibt uns über die archivische Struktur der Wirklichkeit Aufschluß.“ Foucault 2001, Das Leben der infamen Menschen.
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ser kurzen Schriftstücke oder nouvelles14, die in Knappheit und Disparatheit das Leben dieser gesellschaftlich marginalisierten Menschen wie „befremdende Gedichte“15 berühren, reflektiert Foucault darüber, in welcher Form menschliche Existenzen Spuren hinterlassen, wie diese gesammelt und bewahrt werden können und welche Bedeutung der Sprache und insbesondere der Literatur für diese Sammlungen des Humanen zukommt. Ausgehend von Foucaults Das Leben der Infamen Menschen, insbesondere auf jene ästhetische Qualität der Schriftstücke befragt, wendet sich Sarah Schmidt Kempowskis Monumentalwerk Echolot und Felicitas Hoppes Erzählband Verbrecher und Versager zu. Während Kempowski in der Choreographie seiner Textcollage die Schriftstücke der Täter, Opfer, Mitläufer und Oppositionelle aus den Kriegsjahren des Zweiten Weltkrieges wie zu einem Stimmenchor vereinigt, das Infame wieder zu integrieren sucht, erkundet Felicitas Hoppe angesichts der fragmentarischen Überlieferung infamen Lebens die grundsätzliche Verwobenheit von Geschichtsschreibung und Geschichten Schreiben, von Dokumentation und Fiktion. So tragen Schriftsteller wie Kempowski, Hoppe oder Waterman absichtsvolle „Leerstellen“16 ein: Das Zentrum von Sue Watermans Beitrag bildet ein heute leerer Schrank der botanischen Sammlung von Jean-Jacques Omalius d’Halloy. Aus solchen Leerstellen heraus sind die Spielregeln des Archivs zu vollziehen, aufzudecken, umzuwidmen oder neu zu interpretieren. Der Bewegung des Archivs hin zu Vollständigkeit und Totalität produziert zugleich Objekte, die unter den taxonomischen Vorzeichen aus systematischen Gründen außen vor bleiben. Der beständigen Herausforderung, das abseits oder außen Stehende theoretisch und klassifikatorisch den Wissenschaften wieder zuzuführen, gehen Alexandre Métraux und Charles Wolfe in ihrem Beitrag über das Monströse nach. Gibt es etwas, was sich der wissenschaftlichen Sammlung vollständig entzieht, etwas, was sich vielleicht sogar als ein wesentliches Element des spezifisch Menschlichen erweisen könnte? Métraux und Wolfe stellen den wissenschaftlichen Diskursen einen Traum von Baudelaire gegenüber, in dem sich das Monster gegen seine Dinghaftigkeit wehrt, kein „epistemisch beruhigte(s) Objekt(e) mehr“17 ist und so zu einem Mitspieler wird. Wie lässt sich aber die Kontingenz und Singularität von Ereignissen, die Partikularität menschlicher Existenz sammeln? Das Sammeln des Menschlichen unterliegt einer doppelten Perspektive zwischen retrospektiver und proskriptiver Fiktion einer archivalischen Wahrheit. Die Dokumente und Spuren im Archiv jedoch, die Zeugen wider Wil14
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Novellen sind im Französischen literarische Kurzstücke oder Nachrichten. Die ersten Zeitungen im Paris des 18. Jahrhunderts waren eben solche „nouvelles“, handgeschriebene Blätter, die kursierten, und die mehr und mehr Macht als öffentliche Meinung entwickelten, vgl. Darnton 2002, Poesie und Polizei. Foucault 2001, Das Leben der infamen Menschen, 8. Siehe dazu auch die Einleitung in diesen Band. S. 494 in diesem Band.
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len18, können sich zu einem Material wandeln, mit dem literarisch und künstlerisch, auch gegen vorherrschende Taxonomien, operiert werden kann. Leerstellen und die ‚Monster‘ des Archivs werden im besonderen Maße in der Spannung zwischen visuellen Produkten und den ihnen zugeordneten Texten produziert, sowohl hierbei als auch für die Taxonomien kam der Fotografie als Medium eine Schlüsselstellung zu.
4. Visualisierung und die Lesbarkeit der Fotografie Bereits die Physiognomie des 18. Jahrhunderts hatte mit Johann Christian Lavaters Forschungen Grundlagen für die visuelle Interpretation von Körperund Gesichtsformen des Menschen geschaffen, die zwar auch kritisiert worden waren, aber dennoch in den physiognomischen Diskursen um 1900 mit den Formen der fotografischen Visualisierung in den Wissenschaften und Künsten neue Bedeutung erhielten. Ein alter taxonomischer Diskurs parallelisierte sich nun mit anthropologischen Forschungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Dass einer der heute wenig bekannten, in seiner Zeit jedoch einflussreichen Kulturphilosophen, Max Picard, in seinem physiognomischen Buch über das Menschengesicht von 1929 und in Die Grenzen der Physiognomik von 1937 allerdings ganz bewusst auf Fotografien von Zeitgenossen verzichtet, ist sein Bekenntnis gegen die Moderne. Damit wendet er sich auch gegen das technische Bild, welches eine Welt des falschen Abbildes erzeuge, so arbeitet der Beitrag von Susanne Komfort-Hein heraus. Picards konservative Skepsis eines Kulturphysiognomikers, die seiner Epoche die humane Ganzheit des Ebenbildes Gottes und die großen Charaktere vergangener Epochen entgegenhält, trifft sich mit der Skepsis Walter Benjamins, dass ein Gesicht, von der fotografischen Linse in der ,realen Welt‘ festgehalten, nicht mit sich identisch bleibe, sondern in der Fotografie zu einem anderen werde. Die Fotografie betreibt eine Entwirklichung der Welt – bei Picard als Kritik, bei Benjamin als eine notwendige Wende zur Moderne und zur modernen Massengesellschaft verstanden. Beide Positionen stehen der wissenschaftlichen Zuversicht objektiver fotografischer Datenerhebung diametral gegenüber, welche für zahlreiche Wissenschaften nicht nur das Material ihrer Untersuchungen herstellte, sondern auch ihre epistemische Grundlage bildete. Die seit dem 18. Jahrhundert systematisierte Ethnologie und Anthropologie biologisierte sich im 19. Jahrhundert zunehmend und bildete den eigenen Zweig der Anthropometrie aus, die sich auf die Vermessung des Menschen spezialisierte und damit ältere physiognomische Diskurse aufgriff. Der empirische Imperativ der Wissensproduktion des 19. Jahrhunderts zielte auf eine 18
Vgl. Bloch 2002, Apologie der Geschichtswissenschaft, Kapitel 2, beschreibt jene Quellen des Historikers, die für die Bezeugung ihrer Inhalte sich nicht an einen spezifischen Rezipienten richten.
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breite Datenerhebung, das Problem bestand jedoch in der Auswertung der Daten und in ihrer Weiterbearbeitung. Menschen lassen sich nicht sammeln wie Schmetterlinge. Die Logik der Menschensammlung spitzte sich erst mit der Fotografie zu: Im Fall der fotografischen Abbilder vom Menschen in den Datensammlungen der Anthropologie und besonders der Anthropometrie werden die Fotografierten auf den Papierabzügen zu Objekten, aus denen man die verschiedenen Rassen, Menschenvarianten herauslesen oder in sie hineininterpretieren konnte. Bekannt sind die Versuche, wie sie Susanne Scholz in ihrem Beitrag vorstellt, eine anthropometrische Vergleichbarkeit durch technische Hilfsmittel herzustellen, so z. B. die als Raster im Hintergrund aufgespannten Seidenfäden bei John Lamprey. Mit ihrer Hilfe sollten Vermessungen durchgeführt werden, die sich aus ethischen, kolonialen oder auch praktischen Gründen ‚am lebenden Exemplar‘ verboten. Diese Bildproduktion hatte auch literarische Konsequenzen. So unterstreicht Susanne Scholz, dass kein viktorianischer Roman ohne physiognomische Darstellungsverfahren auskomme, etwa in den seriellen Anordnungen und spezifischen Blickführungen in den Subgenres der Fallerzählung, z. B. R. L. Stevensons Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde, E. A. Poes The Case of M. Valdemar oder H. P. Lovecrafts The Case of Charles Dexter Ward, die auch wissenschaftliche Techniken des 19. Jahrhunderts wie die Kompositfotografie wieder aufleben lassen. Ein zweites methodologisches Problem betraf die taxonomischen Operationen, die die Einzelstücke der Sammlung als Basis wissenschaftlicher Aussagen nutzbar machen sollten, d. h. die Kategorisierung und Klassifikation der Daten. Alle ‚biologisch-zoologischen‘ und viele der anthropologischen Sammlungen menschlicher Varietäten folgten einer evolutionären Logik. Offenbar liegt diesen Anordnungen zunächst einfach eine metonymische Sammlungslogik zugrunde, nach der ein ‚Exemplar‘ als pars pro toto für die ausgestellte Volksgruppe, Kultur oder ‚Rasse‘ stehen konnte. Wie exemplarisch dieses typisierte Exponat dann wirklich war, konnte empirisch im Grunde nicht nachvollzogen werden. Jedoch lag der Klassifikation der ‚Rassen‘ ein Katalog von Ähnlichkeiten zugrunde, der bestimmte Charakteristika als zentrale Merkmale einer Gruppe zu identifizieren vorgab und es so ermöglichte, das Bildmaterial nach Typen zu ordnen. Hier spielte auch die bereits lange vorher vor allem in Charakterdiskursen gebräuchliche Lektüretechnik der Physiognomik eine Rolle, denn sie stellte ein semiotisches Schema bereit, nach der äußerlich wahrnehmbare Merkmale als Zeichen innerer Dispositionen lesbar gemacht werden konnten. Auf der Basis dieser Zuordnungen entstanden wissenschaftliche Archive des Menschen, die von visuell wahrnehmbaren Unterschieden ausgehend eine Typisierung und Hierarchisierung der Rassen erstellten. Typen sind nur in der Re-Iteration erkennbar, Evidenz wird durch die visuelle Reihung erst produziert, und die Serialität der Abbilder trägt wesentlich zur Naturalisierung der auf diese Weise entstehenden Hierarchie der ‚Rassen‘ bei. Dazu leistete auch die grundsätzliche Dekontextualisierung der auf diese Weise Aufge-
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nommenen ihren Beitrag. Entkleidet und vor dem gleichen Hintergrund aufgenommen, wurden die Fotografierten dabei ihrer historischen, kulturellen und zeitlichen Kontexte beraubt. Rekontextualisiert wurden sie durch Bildunterschriften, die die individuellen Umstände der Aufnahme ignorierten und lediglich die Exemplarizität des Abgebildeten hervorhoben. Die serielle Anordnung dieser Abbilder in Sammlungen beförderte die Bildung (und letztlich die Naturalisierung) von Menschen- bzw. Rassentypen, die dann wiederum nach einer evolutionären Logik sortiert – und das heißt hierarchisiert – werden konnten. Insgesamt kann man hier also mit Susanne Regener von einer Bildwerdung als „inferiorer Mensch“ sprechen.19 Zugleich offenbaren viele dieser fotografischen Sammlungen in Fotoalben der Kolonialzeit wie der Beitrag von Bärbel Küster zeigt, dass die epistemisch-taxonomischen Ansprüche oft nicht erfüllt werden, sei es, weil der Fotograf sie nicht erfüllen konnte oder wollte, sei es, dass die vor dem Objektiv des Fotografen Positionierten eigene Bildinterpretationen hineinbrachten, oder weil sie neben den anthropometrischen Absichten bei der Vermarktung und Popularisierung von Fotografien auch anderen (erotischen, exotischen) Bedürfnissen entsprechen sollten. In zahlreichen Alben und Sammlungen mischen sich kulturelle und rassische Darstellungen. Erst die Beschriftung der Fotografien macht aus ihnen Zeugnisse der einen oder der anderen Art. Hier begegnet uns die Infamie im Medium der Fotografie. In der visuellen Inszenierung, aber auch in der Beschriftung der Fotografien zeichnet sich die Strategie einer vermeintlichen Objektivierung ab. Obwohl Produkt und Element eines normierenden Diskurses, sind jedoch auch andere Lesarten dieser visuellen Dokumente der Infamie möglich, eine abweichende Narration oder Mikrogeschichte. Das Lektüreformat des Atlas, das Umblättern der Seiten und ihr Neuansetzen, wird als unhierarchische Form der Zusammenstellung sowohl in der Literatur als auch in den bildenden Künsten eingesetzt.20 Der südafrikanische Fotokünstler Santu Mofokeng verwendet in diesem Sinne sein recherchebasiertes „Black Photo Album“ als fiktiven Ort, mit dem latente und manifeste Taxonomien und Normierungen des Mediums wie auch unseres Blicks hinterfragt werden können. Dem Verhältnis von Text bzw. Sprache zum Bild kommt in der Logik der hier vorgestellten Menschensammlungen eine zentrale Rolle zu, insofern als in zahlreichen Fällen der Text beschreibt, was man sehen soll. Gleichwohl sind die Beispiele zahlreich, in denen die Sprache nicht die Deutungsmacht über das Bild aufrechterhalten kann, sondern das Medium des Bildes zum einen und das Handeln der Subjekte zum anderen Rassen- und Kulturtypologien zu 19 20
Regener 2010, Visuelle Gewalt, 24. Vgl. dazu auch den Beitrag „Kartographie als Sammlung. Die kosmologische Konzeption des Kartensaals im Florentiner Palazzo Vecchio“ von Marion Picker in Kapitel 2 dieses Bandes. Sowie den von Aby Warburg ausgehenden Ausstellungskatalog Didi-Hubermann (Hg.) 2010, Atlas. How to Carry the World on Oneʼs Back? sowie ders. 2015, Atlas oder die unruhige Fröhliche Wissenschaft.
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unterlaufen und zu unterminieren vermag. Die Verdinglichung des Menschen, seine ‚Objektivierung‘, Entindividualisierung und Abwertung zu einem Sammlungsgegenstand ist so nicht notwendige Folge einer klassifikatorischen Herangehensweise – auch hier bleiben Spielräume durch die Rekursionsmöglichkeiten des Archivs in verschiedenen historischen Schichten. Auch die Bildwerke von Maria Hanl21 thematisieren solche Verschiebungen zwischen sprachlicher und visueller, bildhafter Lesweise, ein „Körper gewordener Diskurs über den Körper“. Ihre Objekte sind, wie Sarah Schmidt in ihrem Essay über Hanls „Faltenröcke“ darlegt, Sprachskulpturen ebenso wie körperhaftes Archiv der Polyphonie von Sprachäußerungen.
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Die Abbildungen zum künstlerischen Werk von Maria Hanl finden sich im Tafelteil.
ARMIN SCHÄFER
ORDNUNGSVERSUCHE IM GEBIET DES WAHNSINNS: ARCHIVE, AKTEN, BIOGRAPHIEN
1. Emil Kraepelins empirisches Forschungsprogramm Im 19. Jahrhundert wurde die Verwissenschaftlichung der Psychiatrie an die Pathologie gekoppelt: Der Nachweis der Krankheitsursache oblag der Obduktion. Diese sollte nachträglich in der Sektion der Leiche aufzeigen, welche Veränderungen im Gehirn des Erkrankten stattgefunden hatten. Auch wenn die Symptome des Patienten in den Krankenakten aufgezeichnet und in den Publikationen angeführt wurden, war der krönende Abschluss einer Fallgeschichte der Sektionsbericht. Jedoch wurde die Erwartung der Psychiatrie, dass die Sektion die ätiologischen Fragen klären würde, oftmals nicht erfüllt. Die Pathologie konnte für zahlreiche Erkrankungen keine aussagekräftigen Ergebnisse liefern. Eine Erforschung der Ätiologien kam nur in winzigen Schritten voran. In den Kliniken und Anstalten herrschte unterdessen der therapeutische Nihilismus: Die meisten schweren Erkrankungen konnten nicht therapiert werden. Den Psychiatern wurde seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts zunehmend klar, dass die Pathologie nicht der Königsweg zur Verwissenschaftlichung des Fachs war. Und Pathologie und ätiologische Forschung konnten auch nicht die drängenden Probleme der Kliniken und Anstalten lösen, die immer mehr Patienten aufnehmen und versorgen mussten. In dieser Ausgangssituation formulierte der Psychiater Emil Kraepelin (1856-1926) ein empirisches Forschungsprogramm. Kraepelin hatte seine Karriere zunächst in den psychologischen Laboratorien in Leipzig begonnen, die von Wilhelm Wundt (1832-1920) geleitet wurden. Die weiteren Stationen seiner Laufbahn waren die Universität Dorpat (1886-1891), die Klinik der Universität Heidelberg (1891-1903) und die Universität München bzw. die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie (1903-1926). Das Forschungsprogramm sah vor, „ausser den körperlichen Zuständen der Hirnrinde auch die psychischen Erscheinungen gesondert zu erforschen. Wir erhalten auf die Weise“, so erklärt Kraepelin, „zwei Reihen innig mit einander verbundener, aber ihrem Wesen nach unvergleichbarer Tatsachen, das körperliche und das psychische Geschehen. Aus den gesetzmässigen Beziehungen beider zu einander geht das klinische Krankheitsbild hervor.“1 Auch Kraepelin hielt an der Erforschung der Krankheitsursachen durch die Pathologie fest: 1
Kraepelin 1896, Psychiatrie, 6 f.
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Wenn die einzige Ueberzeugung, welche heute wohl von allen Irrenärzten rückhaltlos geteilt wird, richtig ist, wenn wirklich alle Psychosen an krankhafte Prozesse in der Hirnsubstanz gebunden sind, dann dürfen wir den Nachweis pathologischer Spuren daselbst mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit von einer besser gerüsteten näheren oder ferneren Zukunft erwarten.2
Während sein Lehrer Bernhard Gudden (1824-1886), der Münchner Psychiater und Leibarzt von König Ludwig II., noch forschte, indem er tagtäglich Kaninchenhirne sezierte, aber die Funktion der Klinik auf die Pflege beschränkte, holte Kraepelin die Patienten ins Labor bzw. das Labor in die Klinik und setzte technische Medien zur Aufzeichnung von Phänomenen ein: Die Verbalisierung der Beobachtung mit bloßem Auge sollte durch automatische Registrierverfahren, durch Fotografie3, Grammophonaufnahmen und zuletzt auch durch den Film ergänzt werden. Die psychiatrische Forschung sollte auf drei Säulen beruhen: auf der Pathologie, auf den Ergebnissen der experimentellen Psychologie und auf der klinischen Beobachtung. Es wurden mikroskopische Präparate des Gehirns und Rückenmarks hergestellt und umfangreiche neuropathologische Sammlungen angelegt4; die Methoden der Experimentalpsychologie zogen in die Psychiatrie ein5; und die klinischen Untersuchungsmethoden wurden systematisiert und verbessert.6 Die neuen psychiatrischen Untersuchungsmethoden galten als „der eigentliche Wendepunkt in der Entwicklung der klinischen Psychiatrie bei ihrer Umwandlung zu einer methodischen Wissenschaft.“7 Kraepelin beschränkte die methodisch angeleitete Aufzeichnung von Phänomen und Sammlung von Daten keineswegs auf das psychologische Labor, sondern zielte insbesondere auf methodische Strenge am Krankenbett. Allerdings waren die in der psychiatrischen Klinik beobachteten Phänomene bzw. Symptome unklar und vieldeutig. Kraepelin betonte in seinen Vorlesungen immer wieder diese für den Anfänger verwirrende Schwierigkeit: Während Sie sich mit den aus der allgemeinen Pathologie gewonnenen Begriffen sonst ohne Schwierigkeit in einem neuen Fache der Medizin zurechtfinden können, stehen Sie hier zunächst ratlos den grundsätzlich so andersartigen Krankheitszeichen gegenüber, bis Sie allmählich die besonderen Erscheinungsformen der Geistesstörungen einigermaßen zu beherrschen gelernt haben.8
In den Vorlesungen und Patientenvorstellungen demonstrierte Kraepelin unablässig, dass die Krankheitszeichen opak, der Augenschein trügerisch und die meisten Ursachen unbekannt waren. Die Psychiatrie war zumeist auf eine Be2 3
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Ders. 2003, Richtungen, 59f. Zur Fotografie als Medium wissenschaftlicher Dokumentation und Sammlung des kranken Menschen vgl. die Beiträge von Susanne Scholz („Typus, Taxonomie, Text“) und Bärbel Küster („Gesten des Dokumentierens – Archive des Scheiterns“) im dritten Kapitel. Vgl. Spielmeyer 1924, Technik. Vgl. Kraepelin 1896, Versuch, 4. Vgl. Sommer 1899, Lehrbuch. Ebd., 2. Kraepelin 1901, Einführung, 1.
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obachtung der Phänomene und Symptome zurückgeworfen und musste offenlassen, wie die Zustände von Gehirn und Nerven mit den körperlichen und psychischen Symptomen der Erkrankten zusammenhingen.9 Die Phänomene und Symptome aber bildeten eine unübersichtliche Gemengelage und konnten heterogene Ursachen haben. Die Diagnosestellung wurde erschwert, weil nicht nur kein Schluss von den Krankheiten auf ihre Ursachen, sondern auch kein unmittelbarer Schluss von Symptomen auf Krankheitseinheiten möglich war: Obwohl Phänomene wie Verwirrtheit, Halluzination, Delirium und Demenz gute Indikatoren einer psychischen Erkrankung waren, konnte etwa ein Delirium durch ein entzündliches Fieber, durch eine Alkoholvergiftung, durch einen Hirntumor usw. bewirkt werden.10 Die Ordnung der psychischen Krankheiten war also nicht auf einmal zu erkennen. Der momentane Blick auf den Patienten konnte immer nur trügerische, transitorische und unklare Zeichen erhaschen. Deshalb musste der Beobachtungszeitraum ausgedehnt und der Wandel der Zeichen und Zustände protokolliert werden. Jedoch konnte der Psychiater im Gegensatz zum Pathologen nicht abwarten, wie der einzelne Fall verläuft und ausgeht, sondern musste aus der Anamnese und aktuellen Beobachtungen Anhaltspunkte für Diagnose und Therapie gewinnen. Insofern mussten Daten aufgezeichnet und gesammelt, weiterverarbeitet und Ordnungen im Gebiet des Wahnsinns unternommen werden: Hierfür wurden Archive eingerichtet, welche die Möglichkeit der Rekursion schufen, Techniken der Strukturierung und Verarbeitung der Datensätze erprobt und verschiedene Darstellungsoptionen genutzt. Ziel war eine Taxonomie von Krankheiten, denen die einzelnen Fälle subsummiert werden konnten.
2. Das Archiv und die Akten Im 19. Jahrhundert setzte sich in den psychiatrischen Kliniken die patientenbezogene Dokumentation durch. Aus der Registratur der Klinik wurde das Aufschreibeverfahren der Ärzte ausgegliedert. Die Dokumentation fand nunmehr in Form einer Krankenakte statt, die zu einem Teil des Aufschreibesystems der Psychiatrie wurde. Die Akte besaß die offene Struktur eines Hefts, eines Albums oder einer Blattsammlung: Zwischen den Deckeln konnten unterschiedlichste Schriftstücke (und Objekte) versammelt werden. Eine Titelseite verzeichnete zumeist die Personalien, die Daten von Aufnahme und Entlassung, die Diagnose usw. Die Akten selbst waren heterogene und unübersichtliche Dossiers: Sammlungsort von Äußerungen und Materialien jeglicher Art, die durch ihren „Bezug zum Patienten“11 vereinigt wurden. Solch eine Krankenakte geriet zur „Schnittstelle zwischen medizinischem Wissen und in9 10 11
Vgl. Foucault 1998, Geburt, 105; Eckart 1998, Zeichenkonzeptionen, 1703. Zum Begriff des Symptoms siehe Sebeok 1983, Symptome, 37-52. Hess 2008, Wandel, 45.
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dividueller Erkrankung eines Menschen“12: Sie dokumentierte Verlauf, Anamnese und Therapie eines Patienten. Die Verwissenschaftlichung der psychiatrischen Untersuchungsmethoden ging mit einem Wandel der Aktenführung einher. Zum einen wurde die Quantität der gesammelten Daten gesteigert, so dass die Krankenakten in ihrem Umfang stetig zunahmen. Zum anderen wurden die Aktendeckel mit Diagnosen versehen, die auf den ersten Blick zu erkennen waren. Schließlich gab es verschiedene Versuche zur Rationalisierung, Normierung und Standardisierung der Aktenführung mithilfe von Vordrucken.13 Insbesondere sollten die Angaben der Patienten exakt aufgenommen und sämtliche Äußerungen, die als charakteristisch für die Eigenart des Falles galten, wortgetreu niedergeschrieben werden.14 Die Aktenführung sollte mit den neuen Standards korrespondieren, die für klinische Beobachtungen am Krankenbett galten. Der Gießener Psychiater Robert Sommer (1864-1937) erläuterte in seinem Lehrbuch der psychopathologischen Untersuchungsmethoden diese Standards wie folgt: Die Aufzeichnungen in den meisten Krankenakten würden lediglich eine triviale Beschreibung dessen bieten, was der Arzt beobachtet und von seinen Patienten gehört hat.15 Die Krankenakte dürfe aber keine bloße Aufzeichnung von begrifflich unscharfen, subjektiven und zufälligen Beobachtungen sein, die während der ärztlichen Visite erhoben und dann mit den Berichten des Personals angereichert werden. Sommer forderte eine „Umwandlung“ der Psychiatrie „zu einer methodischen Wissenschaft“16. Weder die Erzählung des Patienten noch der bloße Augenschein dürften genügen, um eine zuverlässige Diagnose zu stellen. Die Psychiater, so sein Vorwurf, stellten zumeist vorschnell eine Diagnose, die dann den zukünftigen Verlauf der Krankengeschichte bestimme: Die reine Beobachtung wird sofort durch eine Menge von Schlüssen, Betonungen, Auslassungen verunstaltet, so dass schließlich etwas ganz anderes schriftlich festgelegt wird, als in der Natur, das heisst in dem Kranken vorgegangen ist. […] Der anfänglich gefasste diagnostische Begriff wird dabei oft zur Richtschnur der weiteren Beobachtung, indem alles, was zur vorgefassten Meinung nicht passt, vernachlässigt wird.17
Der Wandel der Aktenführung korrespondierte mit einer erhöhten Aufmerksamkeit für die Krankheitszeichen, die gegenüber dem pathologischanatomischen Befund aufgewertet wurden; die Aufwertung ging – sowohl in den Krankenakten als auch in den publizierten Fallgeschichten – mit einer Trennung von subjektiven Krankheitsschilderungen aus der Sicht der Patien12 13 14 15 16 17
Ebd., 44. Zur Diskussion über den Einsatz von Formularen in psychiatrischen Erhebungsverfahren siehe Sahli 1894, Lehrbuch, Anhang. Vgl. Seelert 1926, Anleitung, 174. Vgl. Sommer 1899, Lehrbuch, 2 f. Ebd., 2. Ebd., 154.
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ten und der fachlichen Expertise einher. An die Stelle des nachträglichen hirnanatomischen Befunds, der vielfach gar kein Ergebnis erbrachte, trat die Beobachtung der Krankheitszeichen, die zu klinischen Einheiten zusammengefasst wurden. Während zuvor die pathologische Anatomie die Grundlage der psychiatrischen Krankheitslehre bildete, wurde jetzt die Klinik zum Ausgangspunkt der Nosologie. Kraepelin errichtete in der Heidelberger Universitätsklinik ein Archiv von Krankenakten. Diese Akten versammelten zwar eine Fülle von Daten und Phänomenen; Kraepelin konnte in seiner Forschung aber zunächst keinen systematischen Überblick über die Vielzahl der Erkrankungen gewinnen. Er bemerkte, dass trotz methodisch angeleiteter Beobachtung und sorgfältiger Aktenführung zahlreiche klinische Beobachtungen und empirische Daten „ungenutzt in der Vergessenheit der Aktenschränke versink[en]“18. Die Beobachtungen und Daten gingen zwar in den Erfahrungsschatz des Klinikers ein und wurden Teil seines impliziten Wissens, aber sie spielten im Forschungsprozess selbst keine Rolle, weil sie übersehen, nicht mehr erinnert oder vergessen wurden. Die Psychiatrie schöpfte das Potential der Akte nicht aus. Kraepelin führte eine weitere Neuerung in das psychiatrische Aufschreibesystem ein: die sogenannte Zählkarte.19 Die Zählkarte war eine Karteikarte, auf der für jeden aufgenommenen Patienten die „Personalien in knappster Form“ sowie „die wichtigsten Angaben über Ursachen und Entstehungsgeschichte, Erscheinungen, Verlauf und Ausgang seines Leidens“ verzeichnet wurden.20 Das Vorbild waren Zählkarten, die die statistischen Ämter des Reiches und der deutschen Länder für ihre Erhebungen verwendeten. Es haben sich aus einem Bestand unbekannten Umfangs etwa 180 Karten erhalten, die aber nur einen kleinen Teil einer weitgespannten Forschungsinfrastruktur ausmachten. Die Karten gehörten zu einem Aufschreibesystem, das Aufnahmebücher, die Krankenakten selbst, Laborbücher usw. umfasste. Die Grenzen dieser Infrastruktur sind nicht anzugeben: Sie erstreckte sich auf der einen Seite weit in administrative Vorgänge der Ministerien und Universitäten und verästelte sich auf der anderen Seite in statistische Methoden, Laborroutinen und Rekrutierungsstrategien für Ärzte und Pfleger. Die Zählkarte wurde parallel zur Krankenakte geführt oder nachträglich aus einer Akte erstellt, indem die wichtigsten Daten aus der Krankengeschichte exzerpiert wurden, aber deren Interpretation, d. h. die Diagnose, hintangestellt wurde. Die Karte war ein mobiler Datenträger und fungierte einerseits als ein Filter, der aus einer Krankengeschichte eine prägnante Struktur zurückbehielt. Andererseits übersprang die Karte ein diagnostisches Wissen, das eingeklammert wurde: Die Abschattung der Diagnostik suspendierte nicht so sehr die Er-
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Kraepelin 1919, Erforschung, 239. Siehe Weber/Engstrom 1997, Diagnostic, 375-385. Kraepelin 1919, Erforschung, 239.
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fahrung des Klinikers, sondern erzeugte einen Raum mit vorgeordneten Daten, dem eine neue Struktur aufgeprägt werden konnte. Das Aufschreibesystem der Psychiatrie verfügte mit den Zählkarten über so etwas wie eine äußerst einfache, relationale Datenbank, die beliebige Vergleiche ermöglichte. Unter der hypothetischen Annahme, dass die psychischen Störungen organische Ursachen und deshalb auch einen sehr regelmäßigen Verlauf nehmen, begann Kraepelin mit einem umfangreichen Vergleich von Fällen. Er spielte mit den Karten, so darf vermuten werden, immer wieder mögliche Gruppierungen der Fälle durch. Dieses Spiel führte schließlich auf klinische Einheiten und Untereinheiten sowie einen Rest von Fällen, der sich der Gruppierung entzog und in der weiteren Forschung bearbeitet wurde. In der Heidelberger Universitätsklinik, in der Kraepelin seine Nosologie ausarbeitete, stieß sein Forschungsinteresse mit einem sozialpolitischen Kostenkalkül zusammen.21 Die Forschung erforderte einen möglichst hohen und schnellen Durchsatz von Patienten in der Klinik, weil nur eine Vielzahl von Fällen die Grundlage für aussagekräftige Ergebnisse bereitstellte.22 Allerdings wollte der Heidelberger Ordinarius diejenigen Patienten, die unheilbar schienen, gar nicht erst in der Klinik behandeln, sondern sogleich an die öffentlichen, vom badischen Land getragenen Irrenanstalten überweisen. In der Psychiatrie galten um 1900 etwa 70 Prozent aller Patienten als unheilbar.23 Diese Gruppe umfasste sowohl Fälle, für die eine Ursache anzugeben war, wie die Syphilitiker, die Hirnverletzten, die Urämiekranken usw., als auch Fälle mit unklarer Ätiologie. Die psychiatrische Universitätsklinik war ein Ort, der die Funktion einer Durchgangsstation und eines Filters innehatte: In der Klinik wurden die Patienten in Klassen von Fällen aufgeteilt; es wurde die Aufteilung mit einer Prognose über die Heilungschancen verknüpft; und es wurde ein neues Kostenkalkül sowie eine gesundheitspolitische Planung angestoßen. Die administrativen Regeln und politischen Vorgaben behinderten die Forschung in der Universitätsklinik. So entschieden über die Aufnahme von Patienten lange Zeit gar nicht die Psychiater. Wenn ein Patient verlegt wurde, nahm er seine Krankenakte mit. Kraepelin erstritt sich das Recht, dass Psychiater statt Juristen entschieden, ob ein Patient in seine Klinik aufgenommen wurde oder nicht. Und er setzte gegen heftigen Widerstand von Seiten der badischen Behörden durch, dass die Krankenakten in der Klinik verblieben und nur eine Kopie an die aufnehmende Anstalt weitergegeben wurde. Die Reorganisation des Aktenflusses war eine entscheidende Voraussetzung für die praktische Arbeit des Sammelns, Vergleichens und des Sortierens von Krankengeschichten. 21 22 23
Siehe hierzu Engstrom 2003, Psychiatry, 121-146; ders. 2005, Ökonomie, 219-240. Vgl. Roelcke 2003, Unterwegs, 169-188. 1877 gab es im Deutschen Reich 93 öffentliche Anstalten mit knapp 32.000 Insassen; 24 Jahre später hatte sich die Zahl der Anstalten auf 164 gesteigert, während die Zahl der Insassen um nahezu 200 % auf 98.954 angestiegen war. Siehe Engstrom 2003, Psychiatry, 30 f.
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Kraepelin erstellte ein Archiv seiner experimentellen und klinischen Arbeiten, das ihm eine statistische Durchdringung der Fälle ermöglichte und einen synoptischen Überblick gewährte. Das Archiv wurde zum unerlässlichen Hilfsmittel und bildete die Voraussetzung für die Klassifikation von Erkrankungen durch deren Zusammenfassung nach Ähnlichkeiten in Symptomatik und Verlauf bzw. durch Aussonderung der Fälle, die sich der Einordnung in Gruppen entzogen. Die neue Nosologie, die Kraepelin errichtete, schloss eine Prognose des Krankheitsverlaufs ein und erlaubte damit, die Kosten für die Heilung bzw. Pflege abzuschätzen; sie war Grundlage einer effizienten Auslastung von medizinischen Infrastrukturen, weil sie Kriterien für eine Verlegung von chronisch und unheilbar Erkrankten in Pflegeheime an die Hand gab; nicht zuletzt diente sie als Handlungsanleitung für die ambulante und klinische Versorgung der Patienten. Kraepelins Ordnung und Klassifikation der psychischen Krankheiten war das Resultat einer empirischen Forschungsarbeit, die ohne die Möglichkeit der Rekursion, wie sie die archivierten Akten eröffnet, nicht durchführbar gewesen wäre. Allerdings musste die Sammlung der Akten gewisse Voraussetzungen erfüllen: Das Archiv sollte übersichtlich und leicht zugänglich sein.24 Es konnte seine wissenschaftliche Funktion erfüllen, wenn es den abgelegten Akten eine nur schwache Struktur aufprägte. Die Akten wurden getrennt nach Geschlechtern und dem Datum der Aufnahme abgelegt und durch sogenannte Find- und Diagnosebücher erschlossen. Es ging im psychiatrischen Archiv ausdrücklich nicht um eine Sicherung und Dokumentation von abgeschlossenen Erkenntnissen, sondern um eine Ansammlung von möglicherweise relevanten Informationen und Materialien, die ihr Potential erst zusammen mit spezifischen Fragestellungen freisetzen.25
3. Die epistemologische Schwelle Im 19. Jahrhundert wurde die Definition des Wahnsinns, die ihn durch seine verfehlte Relation zur Vernunft kennzeichnete, durch eine neue Definition und anderweitige Kriterien ersetzt. Kraepelins Umbau von der Paranoia zu Dementia praecox erfolgte über mehrere terminologische Zwischenschritte. Er definierte Paranoia als eine aus inneren Ursachen erfolgende, schleichende Entwicklung eines dauernden, unerschütterlichen Wahnsystems, das mit vollkommener Klarheit und Ordnung im Denken, Willen und Handeln einhergeht. Seine neue Definition der Dementia praecox zielte hingegen auf die Entwicklung, also den Beginn, Verlauf und das Endstadium der Erkrankung. Selbst wenn Patienten ein Wahnsystem ausgebildet hatten, war die Wahnbildung nicht mehr ausschlaggebend für die Diagnose. Vielmehr war entscheidend, 24 25
Vgl. Zeitschrift für Krankenanstalten, Sp. 137-147 und 481-489. Vgl. te Heesen/Spary (Hg.) 2001, Sammeln; Brüning 2003, Wissenschaft, 87-113.
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dass die Erkrankung vorzeitig begonnen hatte und in der Demenz enden würde. Zwar erklärte Kraepelin, dass die Prognose nicht das einzige Criterium für die Classification sei, sie sei aber doch in practischer Beziehung das allerwichtigste. Auch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus sei es zu fordern, dass man dahin gelangt, von den Endzuständen aus einen sicheren Rückschluss auf den früheren Verlauf ziehen zu können.26
Das Problem, das der psychiatrische Krankheitsbegriff aufwarf, war mit dem der Klassifikation der Tiere vergleichbar, über deren Grundlagen seit dem 18. Jahrhundert in Naturgeschichte und Biologie gestritten wurde27: Man kann immer nur den Vertreter einer Art herzeigen, aber niemals die Art selbst. Es war jedoch unklar, welchen ontologischen Status die Art besitzt: Ist sie eine Einheit, die es in der Natur selbst gibt und die von ihren Beschreibungen unabhängig ist? Oder ist die Art nur ein Konstrukt, das keine von ihren Beschreibungen unabhängige Wirklichkeit besitzt? Wenn das Objekt der Psychiatrie eine natürliche Krankheitseinheit war, die sich im einzelnen Patienten nur individuierte, dann musste die psychiatrische Erkenntnis entweder zu den biologischen Ursachen vordringen oder in ihren Beschreibungen zu einer inhaltsärmeren Empirie übergehen, um Oberbegriffe bilden zu können, die das bloß Individuelle, Akzidentielle und Zufällige der individuellen Erkrankungen nicht mehr bezeichneten. So wie die Biologen wohlfundierte Arten konstruieren konnten, so sollten auch die Krankheiten zu Einheiten und Gruppen zusammengefasst werden: Der individuelle Fall einer Erkrankung schien im Oberbegriff der Krankheit aufgehoben. Die Erkrankten waren Vertreter einer Spezies. Die verschiedenen Formen einer Erkrankung – etwa die hebephrenische, katatonische und paranoische Ausprägung der Dementia praecox – waren Varietäten einer Art. Die Erkrankung folgte der Logik eines allgemeinen Verlaufs, die sich im Patienten individuell profilierte. Nicht das erkrankte Individuum definierte die basale Einheit des psychiatrischen Wissens, sondern die natürliche Krankheitseinheit, die durch ihre Ätiologie und Symptome beschrieben wurde. Die Schwelle, auf der um 1900 in der Psychiatrie die wissenschaftliche Erkenntnis begann, verlief oberhalb des erkrankten Individuums, das Träger und Repräsentant einer Krankheit war: Es gab voneinander abgrenzbare Krankheiten, wie es Arten in der Natur gab – und nicht nur fluktuierende Symptomgruppen, die nicht weiter geordnet werden können. Die Voraussetzung dafür, dass überhaupt eine klinische Einheit konstruiert und begrifflich fixiert werden konnte, war eine Abstraktion vom Individuum. Die Psychiatrie musste einen Übergang von der Realität des einzelnen erkrankten Individuums zur Krankheit leisten und von den empirisch gegebenen Symptomen zu einer inhaltsärmeren Empirie aufsteigen, die den Typus der Krankheit repräsentierte. 26 27
Kraepelin 1899, Bericht, 584 [Herv. i. O.]. Vgl. Foucault 2002, Situation, 37-82.
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Kraepelin grenzte 1896 in seinem Lehrbuch der Psychiatrie die Gruppe der Dementia praecox und die Gruppe des manisch-depressiven Irreseins gegeneinander und von allen anderen Krankheiten ab. Er nahm damit eine Einteilung des Gebiets der psychischen Krankheiten vor, die lange Zeit als „der bedeutsamste Fortschritt“ galt, „den die systematische Psychiatrie je gemacht hat“28. Das manisch-depressive Irresein war eine Erkrankung, in der die Symptome der Manie und der Depression periodisch und zyklisch auftreten. Weil die Symptome mit Regelmäßigkeit wiederkehrten und einander abwechselten, nährte dieser Verlauf die Hypothese einer Ursache von naturgesetzlicher Regelhaftigkeit: So wie der gesunde Organismus der Schauplatz von periodischen und zyklischen Abläufen ist, so drückt sich die biologische Ursache der Erkrankung in periodischen und zyklischen Zuständen aus. Die Dementia praecox war eine Erkrankung, die bereits im Kindesalter oder der Pubertät ausbricht und in der Verblödung, d. h. mit einem Verlust kognitiver Fähigkeiten, endet. Die zwei Großgruppen wurden also durch ihren zeitlichen Verlauf definiert: Ungeachtet der Kontingenz des einzelnen Falls schienen diese psychischen Erkrankungen von so hoher Regelmäßigkeit zu sein, dass ihre Verlaufsform zum entscheidenden Kriterium ihrer Klassifikation erhoben werden konnte. Die klinische Einheit der Dementia praecox ersetzte die Paranoia, die vormals etwa 80 Prozent der Erkrankten umfasste. Die alte klinische Einheit der Paranoia war eine Sammelbezeichnung für funktionelle Psychosen, als deren Hauptsymptome Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen galten. Die Krankheit war durch ein Wahnsystem definiert, das vom Maßstab der Vernunft abwich. Dieses Kriterium erwies sich als untauglich. Zwar waren Sinnlichkeit und Verstand anfällig für Störungen aller Art, der schlimmste Fall war aber, dass jedes Vermögen in sich störungsfrei funktionierte, aber ihr Zusammenspiel insgesamt gestört war. Dieser Wahnsinn war rätselhaft: Die Verstandestätigkeit war unbeeinträchtigt, das Gedächtnis hatte nicht nachgelassen; es lagen keine Halluzinationen vor und noch nicht einmal größere Störungen des Affekts. Während in den meisten Wahnformen ein oder mehrere Vermögen in sich gestört waren, war in dieser spezifischen Wahnform ihr Zusammenspiel gestört. Die Definition des Wahnsinns als neben der Vernunft liegend, warf also das Problem auf, dass die Unvernunft von der Vernunft selbst ununterscheidbar sein konnte.
4. Die biographische Darstellung Kraepelins Nosologie bot zwar eine plausible Ordnung der klinischen Einheiten. Insofern die Nosologie eine plausible empirische Ordnung klinischer Einheiten errichtete, vereinfachte sie die Diagnosestellung. Die Darstellung der 28
Bleuler 1918, Lehrbuch, 286.
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Fälle konnte abgekürzt werden. Die Diagnosen funktionierten wie starre Bezeichnungsausdrücke: Sie verrieten über den Gegenstand nichts, was man nicht schon wusste, wenn man die Gebrauchsregeln kannte, die seiner Verleihung zugrunde lagen. Der Name übte seine Erkenntnisfunktion umso besser aus, je mehr über das Bezeichnete bekannt war. Die Namen der Krankheitseinheiten funktionierten im Alltag der Klinik wie kürzelhafte Beschreibungen. Sie übten eine designative Bezeichnungsfunktion aus, die in der Diagnostik genutzt wurde, aber ins Leere lief, sofern der Fall die Ordnung der Krankheiten infrage stellte. Wenn auch Kraepelins Nosologie bahnbrechend war, blieben die Kriterien, die der Gruppierung zugrunde lagen, fragwürdig: Eugen Bleuler formulierte eine grundsätzliche Kritik der neuen klinischen Einheit Dementia praecox, die zwar die ätiologische Hypothese, dass es eine verborgene Ursache gebe, nicht angriff, aber neue diagnostische Kriterien einführte. Bleuler schlug als neue Bezeichnung für die klinische Einheit den Namen Schizophrenie vor. Er zog nicht nur, wie bereits andere Psychiater vor ihm, die Finalität des Krankheitsverlaufs in Zweifel29, sondern ergänzte die Symptombeschreibung: Es komme aufgrund des Zerfalls der Persönlichkeit zu einem Bruch mit der Realität, einer Abkehr von der Welt und einer Vorherrschaft des Innenlebens. Die für die Diagnose relevanten Symptome waren nicht nur die primäre Störung der Persönlichkeit, die schleichend oder in Schüben dissoziiert, sondern die Störungen von Assoziationen und Affektivität, die Ambivalenzen von Affekt, Willen und Intellekt sowie der Autismus, der eine Ablösung des Patienten von der Wirklichkeit und die Vorherrschaft seines psychischen Binnenlebens bezeichnete. Bleuler bestritt nicht, dass die Schizophrenie eine endogene Psychose sei, die eine biologische Ursache besitze30, sondern hielt, mit anderen Worten, an der regulativen Idee der biologischen Krankheitsursache fest, auch wenn ihm so wenig wie anderen Psychiatern und Neurologen deren Nachweis gelang. Das empirische Forschungsprogramm der Psychiatrie forderte in seiner konsequenten Verwirklichung eine ausführliche Beschreibung von Fällen: Einerseits sollte die Psychiatrie ihre Erkenntnisse auf einer statistisch abgesicherten Grundlage produzieren, so dass die einzelne Erkrankung ihre Bedeutung erst im Vergleich mit anderen Fällen gewann. Andererseits diente die Kasuistik zur Wissensproduktion. Der einzelne Fall nahm insofern, wie der Heidelberger Psychiater Karl Jaspers (1883-1969) betonte, eine herausgehobene Stellung in der Forschung ein: Man kann sich in der Psychiatrie nicht verständigen ohne die Schilderung einzelner Fälle. Diese sind die Ecksteine, ohne die unsere Begriffsgebilde zusammenfallen. Das zeigt sich an der Wirkungslosigkeit so mancher älterer Arbeiten,
29 30
Vgl. Bleuler 1908, Prognose, 436-464. Zu Bleulers Arbeiten zur Schizophrenie siehe Bernet 2000, Assoziationsstörung, 169-193.
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die, weil die Fälle ja allgemein bekannt seien, auf die pedantische und überflüssige, dazu arg raumfüllende Beigabe verzichten.31
Die bestehende Nosologie musste immer wieder an einzelnen Fällen überprüft und gegebenenfalls infrage gestellt werden. Jaspers plädierte für eine konsequente Fortsetzung des empirischen Forschungsprogramms: „Die Gewinnung ganzer Lebensläufe, von Kraepelin immer gefordert, ist seitdem eine Grundlage empirisch-klinischer Forschung geworden.“32 Je vollständiger eine Krankengeschichte ist, desto nützlicher sei sie für die Forschung: „Kurze Krankengeschichten erscheinen meist als ganz wertlos und überflüssig.“33 Die Forderung nach umfänglichen Krankengeschichten trage der Forderung nach einem gestiegenen Objektivitätsstandard Rechnung: „Wir bemerken noch ausdrücklich“, erklärt Jaspers, daß die Krankengeschichten in keiner Beziehung für die angeschlossenen theoretischen Bemerkungen zurechtgestutzt sind. Vielmehr verfolgen wir das Ziel, ganz unabhängig von diesen ein auch für andere eventuell brauchbares objektives Material zu bringen. Wir möchten es als einen Vorteil angesehen wissen, daß die Krankengeschichten nicht Illustrationen einer bestimmten Auffassung sind. Sie sind vielmehr ausgearbeitet im Sinne der Worte Kraepelins: „Die gewissenhafte Zersplitterung der Formen in ihre kleinsten und anscheinend unbedeutendsten Wandlungen ist die unerläßliche Vorstufe für die Gewinnung wirklich einheitlicher, der Natur entsprechender Krankheitsbilder.“34
Knapp gehaltene Fallgeschichten waren für die Forschung ungeeignet, weil sie zur schematischen Subsumption unter den Krankheitsbegriff verleiteten und die Eigentümlichkeit eines Falls in seiner Ähnlichkeit mit anderen Fällen verschwamm. Die nosologischen Einheiten büßten ihre Erkenntniskraft ein, weil sie nur mehr einen Mechanismus zur Subsumption von Phänomenen antrieben. Darstellungen, die auf eine Bestätigung der Nosologie hin angelegt waren, waren für die Forschung nahezu wertlos. Sie musste ihre Datenbasis nicht allein durch eine Häufung von Fällen erweitern, sondern sollte neuartige Darstellungsweisen erproben. Man kann Erörterungen naturgemäß auf Krankengeschichten stützen, die in der Literatur niedergelegt sind, aber wo diese nicht ausreichen oder dem betreffenden Autor nicht klar genug sind, muß er sich bequemen, eigene Fälle aufzuführen, auch wenn er in Gefahr ist, nur „Bekanntes“ zu geben. „Bekannt“ ist, was in der Literatur niedergelegt ist, alles andere ist unbekannt, mag es auch durch persönliche Aussprache noch so große Verbreitung haben.35
Die Krankengeschichten mussten dergestalt verfasst sein, dass sie auch diejenigen Beobachtungen und Daten präsentierten, die scheinbar funktionslos und 31 32 33 34 35
Jaspers 1910, Eifersuchtswahn, 568. Ebd., 569. Ebd. Ebd., 570. Ebd., 568.
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nebensächlich waren und nicht im Begriff der Krankheit aufgingen. Die Darstellung in der Krankengeschichte umfasste mithin auch die Reste, die für eine mögliche, spätere Verwertung ebenfalls mitgeführt wurden. Japsers zog mit seiner Forderung, die Fallgeschichten auszuweiten, auch die Konsequenz aus einer Archivpraxis, die nicht vorsah, dass die Psychiater ihre Akten außer Haus gaben: Die Publikationen sollten so weit Einblick in einen Fall gewähren, dass die scientific community ihn nachvollziehen konnten, als ob die Akte selbst vorläge. Weil die Archive und Krankenakten nicht öffentlich zugänglich waren, bestimmten die veröffentlichten Auszüge aus den Akten sowie die Arten und Weisen, wie Krankengschichten verfasst wurden, maßgeblich das Forschungsgeschehen. Jenseits des etablierten Lehrbuchwissens nahm der einzelne Fall also eine zentrale Stellung ein. Je umfangreicher eine Krankengeschichte geriet, desto größer war die Chance, dass etwas Neues an ihm aufschien und desto höher wurde auch die Wahrscheinlichkeit bloßer Redundanz. Die Schwierigkeit lag darin, dass man nicht wusste, was man suchte, aber die Triebfeder der Suchbewegung durch irgendetwas angespannt werden musste: Hierfür waren Fälle unerlässlich, die nicht umstandslos einem Krankheitsbegriff zu subsumieren bzw. zu klassifizieren waren. „Wir brauchen“, forderte Jaspers, nach dem jetzigen Stand unserer Anschauungen unbedingt Biographien, und soll das Material nicht nur zur vorübergehenden Stütze eigener Thesen, sondern auch für andere brauchbar sein, eine Mitteilung der Symptome in extenso, soweit man sie beobachten und davon erfahren konnte.36
Die Falldarstellung sollte zur Krankengeschichte und die Krankengeschichte zur veritablen Biographie ausgeweitet werden37: Es ist ein großer Unterschied von der übrigen Medizin, daß der Psychiater sich immer mit dem ganzen vergangenen Leben in allen Beziehungen persönlicher und sozialer Natur beschäftigt, während der somatische Mediziner es meistens mit einer vorübergehenden Krankheit, nicht mit der ganzen Persönlichkeit zu tun hat.38
Jaspers hatte aus der ergebnislosen Debatte über die Ätiologie der Demenetia praecox bzw. Schizophrenie und der Diskussion über die diagnoserelevanten Symptome zwei Schlussfolgerungen gezogen. Erstens trennte er die Symptombeschreibung von der ätiologischen Diskussion ab und supponierte aus der Regelmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit der Symptome keine regulative Idee. Die Klinik blieb an eine Phänomenologie der Störungen angeschmiedet und jeder Schluss auf mögliche organische Ursachen konnte nur fehlgehen. „Die 36 37
38
Ebd., 569. Zur Möglichkeit und Unmöglichkeit Biographien zu sammeln vgl. den literarischen Beitrag von Sue Waterman „The Empty Cabinet“, das Essay von Marion Picker über diesen „literary nonfiction“-Roman sowie Sarah Schmidts Beitrag „Existenzen sammeln − Existenzen schreiben“, alle im dritten Kapitel. Jaspers 1913, Psychopathologie, 21.
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Hoffnung“, so resümiert Jaspers die Grenzen der psychiatrischen Erkenntnis, „gewissermaßen den Hirnanatomen vorzuarbeiten, hat sich nicht erfüllt“39. Und umgekehrt konnte aber von den Störungen und Schädigungen des Gehirns auch nicht auf die effektuierten Phänomene geschlossen werden. Die ätiologische Lücke in der Psychopathologie bezeichnete eine Grenze der Erkenntnis, der sich die Psychiatrie von zwei Seiten her annähern sollte: trotz der unleugbaren innigen Einheit des Seelischen und Körperlichen ist jedoch nicht zu vergessen, daß beide Untersuchungsreihen sich nie in einer Weise begegnen, daß man von einer Zuordnung von bestimmten seelischen zu bestimmten körperlichen Vorgängen, von einem Parallelismus seelischer und körperlicher Erscheinungen reden könnte. Es ist so, wie wenn ein unbekannter Kontinent von zwei Seiten her erforscht wird, aber die Forschungsreisenden sich nicht treffen, weil immer ein breites undurchdringliches Land zwischen ihnen bleibt.40
Die zweite Folgerung betraf den Verlauf der Schizophrenie bzw. Dementia praecox. Während Bleuler bezweifelte, dass die Dementia praecox zwangsläufig in der Demenz enden müsse, nahm Jaspers die Genese der Erkrankung in den Blick. Der Zeitpunkt der Erkrankung lag zumeist vor dem Zeitpunkt, an dem der Arzt konsultiert wurde: Die Erkrankung beginnt schleichend, und es ist, vor allem in deren Anfängen „schwer, das Gesunde vom Kranken zu trennen. [...] Dem Laien fallen solche Kranke überhaupt nicht als verrückt auf, wie sie ja auch noch viel später, wenn die Krankheit unverkennbar geworden ist, vielen noch als gesund gelten.“41 Einerseits war fraglich, welche Definition und Unterscheidung von gesund und krank überhaupt angemessen wäre42; andererseits zwang das Ineinander von Gesundheit und Krankheit zur Herausbildung von Kriterien, die Aufschluss darüber gaben, wann eine Erkrankung vorlag: „Leicht wäre es, einfach nur die späteren ganz groben Symptome zu nennen, die Krankheit zu diagnostizieren und den Anfang in eine unbestimmte Vergangenheit zu setzen. Aber das wäre auch wenig interessant.“43 Jaspers entwickelte zunächst am Eifersuchtswahn eine Unterscheidung zwischen der „Entwicklung einer Persönlichkeit“ und einem „Prozeß“, der dadurch definiert ist, daß wir mit dem Prozeß nicht alle psychischen Krankheitsvorgänge, sondern nur die zu einer dauernden unheilbaren Veränderung führenden bezeichnen. Es muß der Persönlichkeit etwas Heterogenes aufgepfropft sein, das sie nicht wieder los wird und das eventuell als Grundlage einer neuen Persönlichkeit, die sich nunmehr vielleicht analog einer ursprünglichen „entwickelt“ betrachtet werden kann.44 39 40 41 42 43 44
Ebd., 261. Jaspers 1973, Psychopathologie, 8. Jaspers 1998, Strindberg, 67. Zur Unterscheidung von ontologischen und physiologischen Krankheitskonzepten siehe Temkin 1977, Health, 419-440. Jaspers 1998, Strindberg, 68. Jaspers 1910, Eifersuchtswahn, 607.
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Der Prozess ist weder Anfall noch Reaktion. So ist etwa eine in der Haft ausgelöste Psychose kein Prozess: „Hier haben wir etwas vor uns, was der Persönlichkeitsentwicklung als etwas Fremdes ,aufgepfropft‘ wird, ohne daß wir von einem ,Prozeß‘ reden. Wir nennen den Vorgang je nachdem einen ,Anfall‘ oder eine ,Reaktion‘.“45 Die Beispiele, die Jaspers in seiner Analyse des Eifersuchtswahns vorstellte und kommentierte, konvergierten in dem Befund, dass die Patienten in ihrem Leben eine wahnhafte Eifersucht entwickelt hatten, deren Genese völlig rätselhaft war: „Der von jeher eigensinnige, aber bis dahin nicht eifersüchtige K. fängt im 54. Lebensjahr ohne äußeren Anlaß an, geradezu absurde Eifersuchtswahnideen zu bilden.“46 Oder: Ein Lehrer, der früher zu verschiedenen, vielleicht abgegrenzten Zeiten durch reizbares Selbstbewußtsein und offensives Verhalten bei großer Erregbarkeit vielfach sein ganzes Dorf in Verwirrung brachte, dann wieder im Gegenteil als vorzüglicher, friedenstiftender Pädagoge belobigt wurde, bildet im 43. Lebensjahr ein kompliziertes Eifersuchtswahngebilde und logisch damit zusammenhängende Verfolgungsideen. Er gibt plastische Schilderungen ungeheuerlicher ehebrecherischer Akte seiner Frau, schwerer Vergiftungszustände, bei völlig geordnetem Verhalten, das höchstens eine Nacht in einem Kulminationspunkt seiner Störung einen akut psychotischen Eindruck macht. Die Wahnideen werden dauernd festgehalten, teilweise ergänzt und in ihrem Sinne durchaus sachgemäß und konsequent, nun seit 7 Jahren, gehandelt. Neue Anknüpfungspunkte werden nicht gefunden. Er lebt getrennt von seiner Frau, ist geordnet und erfolgreich in seiner Lebensführung, obgleich er, aus dem Schuldienst entlassen, sich durch Privatstunden ernährt.47
In den Beispielen war nicht nur keinerlei rationaler Anlass für die Eifersucht auszumachen. Nach dem Ausschluss sämtlicher für eine Erklärung relevanter Faktoren, wie z. B. Störungen des Denkens oder der Wahrnehmung, anderweitige psychische Erkrankungen oder Alkoholismus, die den Eifersuchtswahn erklären könnten, vermag die psychologische Interpretation der Biographie keinerlei Anhaltspunkt zu finden, der die Veränderung des Patienten nachvollziehbar werden lässt: „Eine auslösende äußere Ursache (irgendeine Veränderung der Lebensverhältnisse oder auch nur ein geringfügiges Ereignis) für den ganzen Vorgang ist nicht vorhanden.“48 An den Grenzen des Verstehens taucht die neue Definition einer Krankheit auf, die nicht mehr nur durch objektivierbare Symptome (wie etwa die Eifersucht) und deren begriffliche Zusammenfassung, sondern dadurch definiert wird, dass jedes Verständnis und jede Erklärung aussetzt. Die Begriffe „Entwicklung einer Persönlichkeit“ und „Prozeß“ sind also im Verstehen bzw. Nicht-Verstehen einer Persönlichkeit samt deren Entwicklung fundiert. Die Krankheit beginnt in einem Grenzgebiet des
45 46 47 48
Ebd. Ebd, 588. Ebd., 599 f. Ebd., 600 [Herv. i. O.].
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Normalen, jenseits dessen die Hypothesen, Vermutungen und Erklärungen nicht mehr greifen, welche die Psychologie anbietet: Die Persönlichkeit bleibt, soweit sich das überhaupt beurteilen läßt, unverändert, geschweige denn, daß man irgendwo auch nur von einer Spur von Verblödung reden könnte. Es hat eine wahnhafte Verrückung stattgefunden, die gewissermaßen in einem Punkte fassbar ist und mit der die alte Persönlichkeit nun sinngemäß mit den alten Gefühlen und Trieben arbeitet.49
Jaspers überträgt den Begriff des Prozesses auf die Schizophrenie. Sie ist kein Merkmal einer Persönlichkeit, das mit dem Ausbruch der Krankheit aus seiner Latenz hervortritt und sich ins Krankhafte steigert. Der Prozess ist kein Derivat des Ich, sondern ein Eintritt in eine fremde Ordnung; er ist keine bloße Veränderung der Subjektivität, sondern deren radikale Umwandlung. Der Begriff bezeichnet ein Phänomen, das mit den traditionellen Begriffen von Persönlichkeit und Ich-Entwicklung nicht mehr erfasst werden kann. Und er markiert die Grenze von Einfühlung und Verstehen: „Wo uns das einheitliche Erfassen der Entwicklung einer Persönlichkeit nicht gelingt, da statuieren wir etwas Neues, etwas ihrer ursprünglichen Anlage Heterogenes, etwas, das aus ihrer Entwicklung herausfällt, das nicht Entwicklung, sondern Prozeß ist.“50 Die Definition des Prozesses zielt auf einen unerklärlichen Bruch in der Persönlichkeits- entwicklung: Zusammenfassend können wir nun definieren: Prozesse sind unheilbare, der bisherigen Persönlichkeit heterogene Veränderungen des psychischen Lebens, die entweder einmal und isoliert, oder wiederholt und allgemein und in allen Übergängen zwischen diesen Möglichkeiten in dasselbe eingreifen.51
Ungeachtet möglicher biologischer Ursachen einer Wahnbildung können aus deren Auftreten keine Gesetzmäßigkeiten mehr abgeleitet werden, die das Eintreten eines Prozesses und die Veränderungen, die er in der Persönlichkeit auslöst, erklären: „Es ist zufällig, wahl- und sinnlos, wo und wie oft und welcher Art ein störendes oder zerstörendes Eingreifen des sonstwie verursachten und in einem ganz heterogenen Kausalzusammenhang stehenden physischen Gehirnprozesses in das Seelenleben erfolgt.“52 Wenn die Erkrankung also ein Prozess ist, verliert die regulative Idee der biologischen Ursache ihr heuristisches Potential. Auch wenn es physische Gehirnprozesse gibt, die Regeln und Gesetzmäßigkeiten unterstehen, folgen die von ihnen effektuierten Phänomene nicht mehr Regeln und Gesetzmäßigkeiten, die auf die Gehirnprozesse zurückzubeziehen sind. Die Welt der Ursachen ist nach dem Eintritt eines Prozesses von der Welt der Wirkungen entkoppelt und durch eine Kluft getrennt, die nicht zu über49 50 51 52
Ebd., 601. Ebd., 606. Ebd., 608. Ebd., 610.
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winden ist. Selbst ein Begriff wie Ausdruck, der die Heterogenität von Ursachen und Wirkungen, Physischem und Psychischem zusammenschmiedet, vermag nicht zu kaschieren, dass die Ätiologie der Erkrankung völlig unbekannt ist. Jenseits des ätiologischen Wissens beginnt ein Feld des Empirischen, auf dem die Erkrankungen nur mehr Beispiele sind, die keiner anderen Ordnung unterliegen als der Ähnlichkeit von Phänomenen und der Vergleichbarkeit von Symptomen. „Eine generelle Schilderung dieser Fälle, ähnlich wie man sonst ein Krankheitsbild schildert, läßt sich nicht geben. Man kann nur ähnliche Fälle zusammenstellen und Typen bilden.“53 Diese Typen aber sind nicht mehr wie der Artbegriff zu fundieren: Man kann nicht mehr voraussetzen, dass Krankheiten, deren Ursachen unbekannt sind, ebenso natürliche Einheiten sind wie die Arten in der Natur. 1913 veröffentlicht Jaspers unter dem Titel Allgemeine Psychopathologie einen Leitfaden für Studierende, Ärzte und Psychologen.54 Der Leitfaden plädiert für eine gestufte und zweigleisige Methodik: Die Methode des psychologischen Verstehens solle dort einsetzen, wo die naturwissenschaftliche Methode keine Ergebnisse vorzuweisen hat und keine biologischen Ursachen der Erkrankungen gefunden werden. Der Begriff des Verstehens erteilt der naturwissenschaftlichen Erkenntnis also keine grundsätzliche Absage, sondern ist deren Grenzbegriff. Die neuen Krankengeschichten lösten „das Problem des Eintritts des Individuums (und nicht mehr der Spezies) in das Feld des Wissens“55. Sie brachten eine Entwicklung zu einem vorläufigen Abschluss, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts vorangetrieben wurde. In der Psychiatrie wurde, wie Michel Foucault schreibt, „die epistemologische Blockade der Wissenschaften vom Individuum aufgehoben“56 und es erfolgte „die Umkehrung der politischen Achse der Individualisierung“57, so dass der „Kranke mehr als der Gesunde, der Wahnsinnige und der Delinquent mehr als der Normale“ individualisiert wurde. Das Individuum wurde im Feld des psychiatrischen Wissens zum Fall, der „nicht mehr wie in der Kasuistik oder in der Jurisprudenz ein Ganzes von Umständen“ ist, „das eine Tat qualifiziert und die Anwendung einer Regel modifizieren kann; sondern der Fall ist das Individuum, wie man es beschreiben, abschätzen, messen, mit anderen vergleichen kann – und zwar in seiner Individualität selbst“58. Die biographische Darstellung hatte vermutlich eine Rückwirkung auf die Nosologie. Allerdings reichen die Aufwertung und Ausweitung der Darstellung nicht hin, um die Transformation der psychiatrischen Epistemologie nach 1900 zu erklären: Die verschiedenen Faktoren, die hierbei zusammenwirkten, sind kaum voneinander zu isolieren und ihre jeweilige Gewichtung fraglich. 53 54 55 56 57 58
Jaspers 1913, Psychopathologie, 231 [Herv. i. O.]. Ebd. Foucault 1976, Überwachen, 246. Ebd. Ebd. Ebd.
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Die Transformation, die Japsers anstieß, hat, so lässt sich vermuten, dazu beigetragen, die epistemologische Schwelle in der Psychiatrie abzusenken: Der erkrankte Patient und die Krankheit wurden nicht mehr auf zwei verschiedenen ontologischen Niveaus angesiedelt und durch eine ontologische Schwelle getrennt. Die Erkenntnis der Krankheit begann mit dem Individuum und die epistemologische Schwelle, an der die wissenschaftliche Erkenntnis begann, verlief nicht mehr oberhalb des Individuums, sondern mitten durch das Individuum. Man konnte statt absoluter Diagnosen, die einzig auf gesund und krank erkennen, Differentialdiagnosen erstellen; man konnte statt der vorab katalogisierten Symptomatik komplexe Mischformen von Symptomen beschreiben; und man konnte Patienten als Subjekte präsentieren, die nicht mehr nur unter dem psychiatrischen Blick schwiegen und durch ihren Körper antworteten, sondern eine Biographie besitzen und selbst sprechen. So rückte die Individualität von Erkrankungen ins Zentrum des Interesses. Jenseits des ätiologischen Wissens begann ein Feld des Empirischen, auf dem die Erkrankungen keiner anderen Ordnung unterlagen als der Ähnlichkeit von Phänomenen und der Vergleichbarkeit von Symptomen. „Eine generelle Schilderung dieser Fälle, ähnlich wie man sonst ein Krankheitsbild schildert, lässt sich u. E. nicht geben. Man kann nur ähnliche Fälle zusammenstellen und Typen bilden.“59 Diese Typen aber waren nicht mehr wie der Artbegriff zu fundieren. Man konnte nicht mehr voraussetzen, dass Krankheiten, deren Ursachen unbekannt sind, so natürliche Einheiten sind wie die Arten in der Natur: Die psychiatrische Nosologie wurde nunmehr auf einer neuen Grundlage errichtet.
59
Jaspers 1913, Psychopathologie, 231.
SUSANNE SCHOLZ
TYPUS, TAXONOMIE, TEXT: MENSCHEN SAMMELN IM BRITISCHEN EMPIRE
Sammlungen menschlicher ‚Varietäten‘ sind ein wichtiger Bestandteil der entstehenden Wissenschaften vom Menschen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Vor dem Hintergrund der Evolutionslehre und im Licht eines positivistischen Fortschrittsgedankens traten sie an, quasi enzyklopädisch die Vielfalt der menschlichen Art zu erschließen. Besonders in Großbritannien, wo das Empire eine solide empirische Basis für die Erforschung unterschiedlicher Menschenvarietäten anzubieten schien, war man von dem Versprechen einer Universalvision der ganzen Welt geradezu berauscht.1 Britische wissenschaftliche Sammlungen des 19. Jahrhunderts wie etwa die des Pitt Rivers Museum in Oxford oder Sir Henry Wellcomes medizinhistorische Sammlung in London verfolgten dieses Ziel mit einem geradezu übersteigerten Totalitätsanspruch. Dieses Phantasma der Totalität, welches das Ziel verfolgte, die ganze Welt quasi panoramatisch an einem Ort ausbreiten zu können, speiste sich wiederum aus einer Mischung von wissenschaftlichem Fortschrittsoptimismus und Angst vor der zunehmenden Unübersichtlichkeit der Welt. In der Fiktion einer geordneten Welt setzte das Archiv der zunehmend unübersichtlich werdenden Fülle der Dinge und Eindrücke eine Vision der Ordnung entgegen. In seiner Studie über das britische Empire als ‚Wissensmaschine‘ bzw. „knowledge-making project“ nennt Thomas Richards das imperiale Archiv eine Projektionsfläche totalen Wissens: The archive was not a building, not even a collection of texts, but the collectively imagined junction of all that was known or knowable, a fantastic representation of an epistemological master pattern, a virtual focal point for the heterogeneous local knowledge of metropolis and empire.2
Richards spricht hier von einer panoramatischen Konzeption des Empire, das er als Wissensformation begriffen sehen will. Im Rahmen solcher universaler (und phantasmatischer) Archivvorstellungen sollten nicht nur Objekte gesammelt werden, die (wie im Pitt Rivers Museum und in Sir Henry Wellcomes Sammlung) Wissen über fremde Kulturen und (in Sir Henrys Fall) ihre Heilpraktiken vermitteln sollten. Im Rahmen einer Konzeption, die Sammlungen 1
2
Frances Larson spricht in diesem Zusammenhang über „the allure of a universal vision of the whole world [which] was intoxicating the academic community.“ Larson 2009, Infinity of Things, 34. Richards 1993, Imperial Archive, 11.
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und Archive als Datenmaterial für wissenschaftliche Studien betrachtete, sollten auch Menschen gesammelt werden, um anhand dieser Exemplare Wissen über die Entstehung, Geschichte und Entwicklung der Menschheit bzw. der menschlichen Spezies zu erwerben.
Sammlungstechnik Fotografie Eine solche anthropologische Varietätensammlung stellte die damit befassten Wissenschaftler vor verschiedene Probleme. Erstens war es natürlich ganz praktisch nicht möglich, lebende Menschen zu sammeln und sie (anders etwa als in Hagenbecks Völkerschauen) als wissenschaftlich dokumentierte paradigmatische Exemplare ihrer ‚Rasse‘ und als Varietät der Spezies Mensch auszustellen. Hier kam die Fotografie den Anthropologen zu Hilfe, die schon seit den 1860er Jahren als Technik der wissenschaftlichen Dokumentation eingesetzt worden war, z. B. in den entstehenden Disziplinen der Ethnologie und Anthropologie, die damit ihre Messergebnisse bezeugten, oder in der Kriminalistik und der anthropologischen Kriminologie. Fotografische Sehprotokolle strukturierten und organisierten dabei das visuelle Feld auf eine Weise, die eine unmedialisierte Beziehung von Sehen und Wissen unterstellte und so vermeintlich unmittelbare Evidenzen erzeugte. Dies geschah durch die Einführung bestimmter Darstellungskonventionen, die die Vergleichbarkeit des Abgebildeten gewährleisten sollen, z. B. eine Rasterung oder Messlatte im Hintergrund. Mit ihrem dokumentarisch nutzbaren Evidenzversprechen bot sich die Fotografie als die perfekte technische Unterstützung der Humanwissenschaften an. Indem die Kamera als gleichsam mechanisches Auge visuelle Daten erfasste und festhielt, versprach sie objektiv, ohne menschlich-subjektive Beimischung, Phänomene wahrzunehmen und damit Evidenz zu produzieren. Ethnologische Fotografien gab es bereits seit den 1850er Jahren. Ethnologen nahmen die Kamera mit ins Feld, um ihre Ergebnisse zu dokumentieren; sie gaben auch bei befreundeten Missionaren, mit denen sie ausführliche Korrespondenzen unterhielten, Fotografien in Auftrag. Die Fülle der unterschiedlichen ethnologischen Fotografien allerdings generierte Probleme bei der Vergleichbarkeit von Daten. Nicht jedes Foto war als Dokument bzw. Datensatz einsetzbar, besonders mit der Wendung weg von einer an ‚manners and mores‘ interessierten hin zu einer stärker evolutionsbiologisch ausgerichteten Anthropologie und Ethnologie schienen die bekannten Fotografien, die etwa Mitglieder verschiedener Völker in ihrer traditionellen Tracht oder bei traditionellen Praktiken zeigten, nicht mehr aussagekräftig. In Großbritannien machte sich hier besonders Thomas Henry Huxley, Freund Darwins und zeitweise Präsident der Ethnological Society of London, des Royal Anthropological Institute wie auch der Royal Society, verdient. Als ausgebildeter Biologe und überzeugter Empiriker setzte sich Huxley besonders mit den taxonomischen Implikationen des neuen Wissenschaftszweigs auseinander: „Taxonomy
TYPUS, TAXONOMIE, TEXT
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should be a precise and logical arrangement of verifiable facts, and there is no little danger of throwing science into confusion if the taxonomist allows himself to be influenced by merely speculative considerations.“3 Auf Bitten seiner Mitethnologen, die ihn auf die Problematik unterschiedlicher Kameraperspektiven, Aufnahmewinkel u. Ä. aufmerksam machten, setzte Huxley das Nachdenken über vergleichbare Standards der ethnologischen Fotografie 1869 auf die Agenda und überlegte sich auch selbst eine Art Protokoll, nach dem die zu Fotografierenden aufgenommen werden sollten und das zuverlässige Daten liefern sollte. Nach seinen Angaben sollte das unbekleidete Subjekt neben einem Maßstab platziert und in ganzer Länge, frontal und in Profilansicht, fotografiert werden. Der Maßstab sollte die Vergleichbarkeit der Längen gewährleisten. In der Profilansicht sollte die Rückenkontur sichtbar sein, der Arm sollte im Ellenbogen gebeugt und der Handrücken zur Kamera gerichtet sein. In der Frontalansicht sollte der rechte Arm ausgestreckt und die Handfläche zur Kamera gerichtet sein. Auch diese Längen wurden durch einen Maßstab erfasst. Die Knöchel sollten in Habachtstellung („in the attitude of attention“) stehen. Außerdem wurden Fotografien des Gesichts im Profil wie auch frontal empfohlen.4
1 − Vier Ansichten einer Südaustralierin (Ellen, 22), ca. 1870 3 4
Huxley 1876, Classification of the Animal Kingdom, 199. Edwards 1990, Photographic ,Types‘, 246.
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Huxley war indes nicht der Einzige, der an einer solchen Standardisierungsvorgabe arbeitete. Der Ethnologe John Lamprey bediente sich eines Verfahrens, das aus der Malerei bereits bekannt war und platzierte seine Subjekte vor einem Raster gespannter Seidenfäden, die Quadrate von zwei Inch Seitenlänge bildeten. Maler hatten das Raster schon seit Jahrhunderten benutzt, um die Proportionen dreidimensionaler Objekte perspektivisch auf die zweidimensionale Leinwand zu reduzieren, darüber hinaus ermöglichte es nicht nur die Vergleichbarkeit von Höhen und Längen, sondern auch von Proportionen. Auch Lamprey fotografierte seine Subjekte dann frontal und im Profil.5
2 − Nackter Mann, für John Lamprey, 1868
Wegen seiner besseren Anwendbarkeit wurde schließlich Lampreys System 1869 der Ethnological Society zur Anwendung empfohlen. Aber auch hier hörten die Schwierigkeiten nicht auf. Die Missionare, denen diese Anweisun5
Zu dieser Methode der vermessenden Fotografie vgl. auch Bärbel Küster „Gesten des Dokumentierens – Archive des Scheiterns“ im dritten Kapitel. In dem Fotogramm des Projektes Connected in Isolation (2014-2015) der Künstlerinnen Jacqueline Baum und Ursula Jakob (siehe Tafelteil und den Essay von Sarah Schmidt über dieses Projekt im ersten Kapitel) transformiert sich eben jenes fotografische Raster zu einem überdimensionalen Setzkasten.
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gen geschickt wurden, ließen Huxley unmissverständlich wissen, dass es sich um unerfüllbare Vorgaben handelte, schließlich habe man den frisch Missionierten gerade mit Mühe beigebracht, dass zivilisierte Menschen Kleider trügen, nun könne man sie nicht nackt vor die Kamera stellen. De facto ist daher die Bildausbeute aus diesen Versuchen nicht allzu groß, auf keinen Fall so enzyklopädisch wie das Projekt anmutete, und die abgebildeten Menschen sind oft solche, denen fundamentale Rechte entzogen waren, etwa Gefängnisinsassen. Zusätzlich erwies sich die weitere Verarbeitung der so gewonnenen Daten als Problem. Eine solche ‚Menschen-Sammlung‘ musste auf praktischer Ebene notwendig reduktionistisch vorgehen, und zwar im Rahmen einer exemplarischen, d. h. letztlich metonymischen Logik. Die taxonomische Basisoperation, die notwendig war, um die Fülle dessen, was das Empire an Menschenvarianten beherbergte, auf ein wissenschaftlich untersuchbares Maß zu reduzieren, war die Typenbildung. Im Rahmen einer darwinistischen Betrachtung von Populationen bündeln Typen die möglichen Variationen der Spezies; anthropologisch gesprochen etablieren sie damit nicht nur eine Differenzierungskategorie, sondern auch einen normativen Standard, an dem sich die einzelnen Angehörigen der Gruppe messen lassen müssen. Auf diese Weise stellen diese Verfahrensweisen schließlich Instrumente der ‚rassischen‘ wie auch der sozialen Differenzierung zur Verfügung. Sie dienen darüber hinaus auch der Ausgrenzung bedrohlicher Devianzen wie etwa in den Methoden der kriminologischen Anthropologie. Typenbildungen sortieren eine Fülle von Phänomenen nach vorwiegend äußerlichen Merkmalen: In broad nineteenth-century anthropological usage, the ,type‘ represented the general form or character which distinguishes a given group and was accepted as standard; it was also the person or thing which exhibits these qualities, or at least some of them. Within a Darwinian context, ,types‘ expressed a range of variation within a race or population, the development of variants being central to the process of evolution. Although many anthropologists did in fact acknowledge that the ,type‘ represented an essence of race, not every feature being present in every specimen, they felt the ,type‘ established the parameters of a race.6
Im Rahmen eines empirischen Wissenschaftsverständnisses etablierten die genannten Verfahren eine Ordnung des Sichtbaren, d. h. die hier vorgenommenen Typenbildungen waren immer visuell (und damit von einem spezifischen Blick abhängig) und bedienten sich, wie gezeigt, auch visueller Medien wie etwa der Fotografie.7 Die genannten fotografischen Protokolle dekontextualisierten das aufgenommene Subjekt, entkleideten es seiner kulturellen Kontexte und seiner Geschichte und fügten es in einen neuen Kontext, nämlich den der 6 7
Ebd., 240. Zur Problematik der Typenbildung in der Psychiatrie mittels Schrift verwendender, nichtbildlicher Aufschreibesysteme vgl. Armin Schäfers Beitrag „Ordnungsversuche im Gebiet des Wahnsinns“ im dritten Kapitel.
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Sammlung ein. Mittels einer Bildunterschrift wurde diese Rekontextualisierung endgültig wirksam; erst sie machte den Abgebildeten bzw. die Abgebildete zum Exemplar und damit zum wissensbildenden Objekt. Darüber hinaus erlaubte diese Kombination von Bild und Text eine Einübung des wissenschaftlichen Blicks, der über die ‚typischen‘ Rassemerkmale hinaus keine weiteren individualisierenden Merkmale erkannte. Ethisch gesehen ist also diese Reduktion des Menschen aufs Exemplar, die der biologisch-anthropologischen Sammlung zugrunde liegen muss, damit sie überhaupt als Sammlung funktionieren kann, hochgradig problematisch. In Szene gesetzt und handhabbar gemacht wird diese Objektifizierung des Menschen bereits durch die fotografischen Protokolle, die die Vergleichbarkeit der wissenschaftlichen Datensätze von Menschen anderer ‚Rassen‘ gewährleisten sollten. Sie inszenieren etwas, das Susanne Regener als „Bildwerdung [...] als inferiorer Mensch“ und damit als einen Akt „visueller Gewalt“ beschrieben hat.8 Der/die auf diese Weise Fotografierte kann nur als de-humanisiert wahrgenommen werden, d. h. als Objekt eines Blicks der ihn/sie aufs Exemplar einer aus der Perspektive des betrachtenden Wissenschaftlers untergeordneten ‚Rasse‘ (oder eines anderen taxon: dieselben Mechanismen kommen bei ‚Wahnsinnigen‘, Kriminellen und Kranken zum Einsatz) reduziert. Während Typenbildungen in allen Bereichen der Wissenschaften vom Menschen erscheinen, kam es vor allem im Bereich der entstehenden Ethnologie, befördert auch durch die medialen Protokolle der wissenschaftlichen Fotografie, sehr schnell zu einer Verfestigung der Vorstellung ‚rassischer‘ Typen zu Stereotypen, bei denen spezifische, meist äußerlich wahrnehmbare Charakteristika generalisiert und fotografisch als Essenz der jeweiligen ‚Rasse‘ ins Bild gesetzt wurden. In potentiell endlosen Katalogen konnte sodann exemplarisch das Aussehen einer jeden ‚Rasse‘ beschrieben werden, wobei der fotografisch Dargestellte als Exemplar dieser Rasse und nicht mehr als individueller Mensch gefasst wurde: The specimen is in scientific isolation, physically, and metaphorically, the plain background accentuates physical characteristics and denies context. The meaning and ,reality‘ of the subject can be given only by those who interpret the visual evidence. The appropriation of the subject as a specimen was thus legitimised through science and achieved through the control of another science, photography. Through photography the specimens, ,types‘, were neutralized and objectified for scientific use to be interpreted and reinterpreted.9
Vom Typ zum Stereotyp ist es dabei nicht besonders weit. Im Bereich der Anthropologie geht diese nominalistische Klassifizierung äußerer Zeichen häufig mit semiotischen Zuordnungen einher, die die äußerlichen Klassifikationsmerkmale als Zeichen für ‚innere‘ Dispositionen lesbar werden lassen. Die Ableitung von Charaktereigenschaften aus bestimmten äußerlichen Merkma8 9
Regener 2010, Visuelle Gewalt, 24. Edwards, Photographic ,Types‘, 241.
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len scheint Viktorianern als geradezu naturwüchsig, so schreibt z. B. Francis Galtons Biograph Karl Pearson: „Galton was a traveller, and every traveller is accustomed as he passes along to notice that the racial mentality changes with the change of the physical characters. The conception therefore naturally arises that physique and mentality are highly correlated.“10 Zur Einübung dieser Lektürefähigkeit standen verschiedene kulturell spezifische Raster zur Verfügung: Auf dem Gebiet der Wissenschaften vom Menschen, so wie sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildeten, sind dies besonders die Physiognomie, Kraniologie bzw. Phrenologie und weitere anthropometrische Verfahren, die jeweils in differenzbildender Absicht eingesetzt wurden. Gerade Stereotypisierungen sind durch ihren generalisierenden Impetus in besonderem Maße normativ und wirklichkeitserzeugend – eine Produktion von Realität, die noch durch den dokumentarischen Anspruch der wissenschaftlichen Fotografie unterstützt wurde.11
Gesichtslektüren in der Metropole Typologische Vermessungen der anthropologischen Erfahrungswelt hatten nicht von ungefähr um 1900 Konjunktur, da sie im Zuge eines umfassenden kulturellen Umbruchs und krisenhafter sozialer Verunsicherungen, besonders im urbanen Feld, ein Register der Reduktion von Komplexität und der Bewältigung respektive der Ordnung von Chaos versprachen. Die ‚heimische‘ Typenbildung konzentrierte sich in besonderer Weise auf das menschliche Gesicht, d. h. auf seine physiognomische Lesbarkeit. Angesichts moderner Krisenerfahrungen erschien die physiognomische Vorsortierung der unübersichtlichen Flut von Eindrücken hilfreich, auch sie erforderte jedoch spezifische Lektürekompetenzen, die mithilfe etwa von Handbüchern, fotografischen ‚Atlanten‘ (z. B. John Beddoes The Races of Britain 1862, Joseph Barnard Davis/ John Thurmans Crania Britannica 1865 u.v.a.) oder auch anhand literarischer Texte verbreitet und eingeübt wurden. Wenn etwa Sherlock Holmes’ Gegenspieler, Professor Moriarty, mit den Gesichtszügen des ‚criminal type‘ beschrieben wird, oder wenn Professor Challenger, der skurrile Wissenschaftler aus The Lost World (der Vorlage für Spielbergs Jurassic Park-Imaginationen) seine Mitmenschen durch einen physiognomisch-klassifizierenden Blick wahrnimmt („,Round-headed,‘ he muttered. ‚Brachycephalic, grey-eyed, black-haired, with suggestion of the negroid. Celtic, I presume?‘ ‚I am an Irishman, sir‘. ‚Irish Irish?‘ ‚Yes, sir.‘ ‚That, of course, explains it.‘“)12, dann sind das Wissensbestände, die vom Fortgang der Geschichte unterstützt und 10 11
12
Pearson 1924, Life, Letters and Labours, II, 301. Zur Frage der Lesbarkeit fotografischer physiognomischer Studien von Max Picard und August Sanders vgl. den Beitrag von Susanne Komfort-Hein „Zur physiognomischen (Un)lesbarkeit des Menschen“ im dritten Kapitel. Conan Doyle 2001, The Final Problem, 492 und ders. 2001, The Lost World, 31.
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damit als gültig bestätigt werden. Auch hinter diesen Gesichtslektüren steht zumindest virtuell eine Sammlungs- bzw. Archivfiktion. Die besondere Konzentration der Typenbildung auf das menschliche Gesicht ist auch deshalb so interessant, weil sie eine Zuspitzung der inhärenten Problematiken und Widersprüche des Diskurses der Typisierung beinhaltet, denn Gesichter gelten gemeinhin als individualisierendes Merkmal schlechthin, als die ‚Signatur‘, an der die Welt den Einzelnen bzw. die Einzelne erkennt. Typen hingegen sind per definitionem anonym und entindividualisierend. An der besonderen Vorliebe typisierender Verfahren für Gesichter lässt sich daher auch eins der zentralen Dilemmata der anthropologischen Typenbildung untersuchen: die Spannung zwischen biologischem Determinismus und individueller Selbstbestimmung, die es notwendig macht, das Kausalverhältnis zwischen geprägter Form und prägendem Inhalt immer neu zu thematisieren. Methodisch gesprochen sind die Mittel der Typenbildung Analogie und Vergleich; der Blick auf Ähnlichkeiten, die in einer Serie von Gesichtern wahrgenommen werden, bewirkt eine Komplexitätsreduktion, die die Mannigfaltigkeiten der individuellen Gesichtszüge in Gruppen bündelt.13 In England hat besonders die zunehmende Biologisierung des Diskurses vom Menschen in der Folge der Evolutionstheorie Implikationen für den physiognomischen Blick- und Bedeutungshorizont. Zum einen fügt sie dem hermeneutischen Spektrum eine diachrone, generationelle Dimension hinzu (Heredität), zum anderen verspricht sie eine wissenschaftliche Erfassung und Klassifizierung der sichtbaren Merkmale und stellt damit die physiognomischen Lektüren, die bislang auf Menschenkenntnis und einem geübten Blick basierten, auf eine systematische, quasi statistische Basis. Als Beispiel dafür mag ein Index der Kopfmaße dienen, den die British Anthropological Association (BAAS) 1883 unter der Überschrift „comparative physiognomy“ verbreitete und der der wissenschaftlichen Analogiebildung bzw. dem Vergleich zwischen Exemplaren unterschiedlicher Typen dienen sollte: Features
A
B
C
a Forehead
Vertical, square
Receding
Vertical, rounded
b Supra-orbital ridges
Oblique
Prominent, continuous across brows
Smooth
c Cheeks
Tapering to chin
Long
Wide, full
d Nose
Straight, long
High-bridged projecting
Short, bulbed
13
Nancy Armstrong hat das für die Fotografie des 19. Jahrhunderts vorgeführt: ein reduktionistischer Blick, der bestimmten Taxonomien folgt. Armstrong 1999, Fiction, 1-31.
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e Mouth
Lips thick, unformed
Lips thin, straight long
Lips well-formed
f Chin
Small, fine
Pointed, projecting
Heavy, rounded
g Ears
Rounded, lobed
Pear-shaped, channelled lobules
Oval, with full lobes
h Jaw
Narrow
Large, square
Heavy, wide
i Eyes
Dark
Blue-grey, sunk
Blue, prominent
j Hair
Very dark, crisp curling
Light-brown, slightly waved
Light, limp
Skull
Dolichocephalic
Sub-Brachycephalic SubDolichocephalic
Average height
5 feet 3 inches (m. 1.600) Slight
5 feet 9 inches (m. 1.753) Bony, muscular
Habit
5 feet 7 inches (m. 1.702) Stout, well-covered
3 − BAAS Report 1883, [Table 39: ,comparative physiognomy‘]
Die bereits erwähnte Biologisierung des Diskurses vom Menschen affiziert auch den Blick: Wer Ähnlichkeit sieht, denkt an ‚Verwandtschaft‘ und vom gemeinsamen Phänotyp wird auf gemeinsames Erbmaterial geschlossen, wobei dies nicht nur familiäre, sondern auch ‚rassische‘ Verwandtschaft bedeuten kann. Der Terminus ‚race‘ jedenfalls steht in vielen Texten sowohl für die Familie als auch für ethnische Zusammengehörigkeit. Er bezeichnet zunächst jede biologisch begründbare Verbindung, die visuell in ähnlichen Gesichtszügen und Körpermerkmalen erkennbar ist. Um die Erforschung und Systematisierung dieser Menschentypen hat sich besonders Francis Galton bemüht. Darüber hinaus ist er auch ein gutes Beispiel dafür, wie viktorianische Wissenschaftler die neuen technischen Möglichkeiten mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen verbanden und damit besonders das drängende Problem der Klassifikation des Humanen vorantrieben. In seiner Technik der Kompositfotografie gehen Ähnlichkeit, Visualität und Typenbildung eine spezifische Verbindung ein, die auch deshalb von Bedeutung ist, weil die hier angelegte Konjunktion von quasi-fotografischem Blick und evolutionärer Motivation ins Feld des Hereditätsregimes und damit auch der wissenschaftlichen und politischen ‚Nutzanwendung‘ der Produktion von ‚Typen‘ führt.14 Typenbildung bedeutet immer Abstraktion vom Partikulären, man könnte auch sagen Idealisierung. Die Kompositfotografie eignet sich daher auch des14
Zu Galtons Kompositfotografie vgl. auch Schmidt 1991, Mischmenschen und Phantome; Meyer 2006, Kartographien der Ähnlichkeit sowie Scholz 2013, Phantasmatic Knowledge, 110-114.
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halb so gut dafür, weil es sich dabei streng genommen um das Paradox einer idealistischen Bildproduktion mit fotografischen Mitteln handelt – im Grunde das Gegenteil des dokumentarischen Versprechens der Fotografie. Ihre Ergebnisse zeichnen sich dadurch aus, dass es für sie gerade keinen Referenten in der Realität gibt, es handelt sich vielmehr um die Visualisierung eines unsichtbaren Ideals. Ich möchte das typenbildende Potential dieser visuellen Praxis an zwei Beispielen vorführen; das erste unternimmt den Versuch, im positiven Sinn ein Idealbild der englischen ‚Rasse‘ zu produzieren, das als Vorlage für tatsächliche eugenische Versuche – zumindest theoretisch – nutzbar gemacht werden sollte. Das zweite Beispiel ist auf zweierlei Weise lesbar; einerseits als Produktion eines Bildes des Anderen; andererseits als selbstaffirmative Behauptung rassischer Reinheit über viele Jahrhunderte. In beiden Fällen wird ganz deutlich die Erzeugung generischer Bilder oder ‚Typen‘ mit einem Narrativ rassischer Reinheit verbunden und verweist damit auch auf den größeren Kontext des eugenischen Projekts, das Francis Galton im Sinn hatte. Gleichzeitig sollten beide Ergebnisse als ideale Exemplare in einem Archiv der menschlichen Varietäten lesbar sein.
4 − Galtons britisches Ideal-Komposit: „Health“
Francis Galton, ein Cousin Darwins, hatte Medizin und Mathematik studiert, hatte Afrika bereist und anthropometrische Forschungen betrieben, bevor er in den 1870er Jahren anfing, im Rahmen seiner biometrischen Studien mit Fotografie zu experimentieren.15 Er entwickelte eine Technik der Vielfachbelichtung, bei der er ausgewählte Fotografien mit fragmentierten Belichtungszeiten übereinander legte und so idealtypische Bilder erzeugte, die wie Individualfotografien aussahen. These ideal faces have a surprising air of reality. Nobody who glanced at them for the first time would doubt its being the likeness of a living person, yet, as I have said, it is no such thing; it is the portrait of a type and not of an individual.16
15 16
Zum Leben und zur Karriere von Francis Galton vgl. Gillham 2001, Life of Sir Francis Galton sowie Brookes 2004, Extreme Measures. Galton 1907, Inquiries, 222.
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Sein Werk Inquiries into Human Faculty von 1883, in dem er diese Technik erstmals ausführlich vorstellte, zeigt deutlich, wie sehr sein fotografischer (typenbildender) Blick auf den Menschen und ein eugenisches Denken Hand in Hand gingen. Für Galton steht diese Technik eindeutig im Dienst einer eugenischen Logik: Wenn er die Kompositfotografien von zwölf Offizieren und elf Gefreiten übereinander blendet, um ein Bild von „English vigour“ herauszupräparieren, dem er den Titel „Health“ gibt (siehe Abb. 4 rechts), so geht es ihm darum, zu zeigen, wie sich die ‚Englische Rasse‘ im Idealfall weiterentwickeln könnte: „[T]he direction in which the stock of the English race might most easily be improved“. So behauptet er weiter: It is only necessary to encourage as far as practicable the breed of those who conform most nearly to the central type, and to restrain as far as may be the breed of those who deviate widely from it. Now there can hardly be a more appropriate method of discovering the central physiognomical type of any race or group than that of composite portraiture.17
Die Kompositfotografie dient hier der Erzeugung eines visuellen Typs, der als Vor-Bild für die Modellierung der ‚Rasse‘ dienen soll.18 Das in diesem Fall technisch durch eine Mischung von optischen und statistischen Mitteln erzeugte Bild kann also den Prototyp des Englishman, das Ideal von Galtons eugenischen Bestrebungen, visualisieren. Im Rahmen seiner evolutionären Denkweise bringt Galton das so auf den Punkt: „What Nature does blindly, slowly, and ruthlessly, men may do providently, quickly and kindly.“19 Ein weiteres signifikantes Beispiel argumentiert innerhalb derselben eugenischen Logik, ist aber, weil hier Bilder eines Anderen produziert werden, doppelt semantisierbar. 1884 hatte der jüdische Ethnologe Joseph Jacobs bei Galton eine Reihe von Kompositfotografien von jüdischen Jungen in Auftrag gegeben. Die vorliegenden Komposita wurden dann in verschiedenen Artikeln in Photographic News (1885) und Journal of the Anthropological Institute (1886) von Jacobs sowie auch von Galton ausgewertet.
17 18
19
Ebd., 10. Hier wird also, um das noch einmal festzuhalten, über Subjekte als Träger bestimmter biologischer und ihr Leben und ihren Charakter determinierender Faktoren gesprochen; der Staat oder die Nation, die aus solchen Subjekten besteht, ist in diesem Sinne als sozialer Organismus zu verstehen. Was diese Nation im Innersten zusammenhält, das scheint diese Bilderreihe zu suggerieren, ist also abbildbar im „type“, der mit den Mitteln der Fotografie erzeugt werden kann bzw. muss, da er in körperlicher Form nicht vorliegt. Galton 1909, Eugenics: Its Definition, Scope and Aims, 42. Es handelt sich dabei um eine Rede, vorgetragen vor der Sociological Society bei einem Treffen in der School of Economics and Political Science, London University, 16. Mai 1904.
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5 − The Jewish Type; Jewish Free School for Boys, Bell Lane
Hier ist Joseph Jacobs Bewertung dessen, was die Bilder darstellen: If these Jewish lads, selected almost at random, and with parents from opposite parts of Europe, yield so markedly individual a type, it can only be because there actually exists a definite and well-defined organic type of modern Jews. Photographic science thus seems to confirm the conclusion I have drawn from history, that, owing to social isolation and other causes, there has been scarcely any admixture of alien blood amongst the Jews since their dispersion. […] As the spectroscope has bridged over the abysms of space and has told the composition of Orion’s Belt, so the photographic lens seems, in these composites, to traverse the aeons of time and bring up into visible presentment the heroes of the past. In these Jewish composites we have the nearest representation we can hope to possess of the lad Samuel as he ministered before the Ark, or the youthful David when he tended his father’s sheep.20
Jacobs’ Lesart der Kompositfotografien unterstellt somit – in einem eugenischen Sinn –, dass die Reinheit des Typs, die die Fotos für ihn abbilden, nur erreicht worden ist, weil es nicht zu ‚rassischer Vermischung‘ zwischen Juden und Nicht-Juden gekommen ist (damit haben sie etwas geschafft, wovon Galton noch träumt).21 Sie ist ganz klar fiktiv; es handelt sich um die Visualisie20 21
Jacobs 1885, The Jewish Type, 268 f. Zu den Bemühungen anglo-jüdischer Wissenschaftler, diese ‚Reinheit‘ der jüdischen Rasse seit der babylonischen Gefangenschaft empirisch zu dokumentieren vgl. Dornhofer 2013, Palestine Reclaimed.
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rung eines Idealtyps, den es eben in der Realität nicht gibt, der im ‚richtigen Leben‘ nur in Form unterschiedlicher, niemals ganz reiner Materialisierungen vorkommt. Die Kompositfotografie hingegen erlaubt es, diesen ‚reinen Typ‘ sichtbar zu machen. In beiden vorgestellten Beispielfällen handelt es sich um Typenbildungen, die gleichzeitig diachrone Linien unterstellen. Die Ähnlichkeit der Gesichter folgt hier einer Logik der Heredität und ist damit – sehr viel stärker als etwa Prägungen durch Milieu – biologisch (in heutiger Diktion: genetisch) definiert. In beiden Fällen ist aber die wahrgenommene Einheitlichkeit eine artifiziell hergestellte: fotografisch durch Dekontextualisierung und Rekontextualisierung, durch Vorauswahl der übereinander projizierten Fotografien, durch Statistik und Bildunterschriften. Im Rahmen einer (imaginären) Sammlung britischer Menschen, oder menschlicher Varietäten überhaupt, bieten die hier fotografisch isolierten Typen normative Vorbilder für die weitere Entwicklung der ‚Rasse‘. Innerhalb der Sammlung fungieren sie somit als partes pro toto, als visuelle Stellvertreter, die sich dem Blick des wissenschaftlichen Betrachters in ihrer Exemplarität, aber auch in ihrer Differenz von allen anderen Objekten darbieten.
Dr Jekyll and Mr Hyde Der fotografische Optimismus von Francis Galton (dass man innere Dispositionen am Äußeren des Menschen ablesen könne, oder sie zumindest sichtbar machen könne) wird indes nicht von allen Viktorianern geteilt, im Gegenteil: gegen Ende des Jahrhunderts nimmt die Skepsis gegenüber dem Anspruch, auf diese Weise Essenzen des Humanen visualisieren zu können, massiv zu. Im Kontext des Nachdenkens über Typologien und Typisierungen des Menschen stellt sich die Frage nach den Lektüren des Gesichts auch als ein medientheoretisches, vielleicht noch präziser als medienanthropologisches Problem dar: Wenn es sich beim Gesicht um ein Medium und damit bei der Gesichtsschau um eine faziale Kommunikationsleistung handelt, was wird hier kommuniziert? Welche Informationen aus dem Inneren bilden sich in den äußeren Zügen ab – Intellekt, Moral, Temperament, Charakter, hereditäre Determinanten? Wie verhalten sich Milieu und Anlagen, Synchronie und Diachronie zueinander? Wenn Physiognomie (hier als Gesichtslesetechnik verstanden) den Gegensatz von Innen und Außen ‚bespielt‘, dann markiert sie ihn damit immer auch als prekär. Im späten 19. Jahrhundert zumindest scheint der ‚fotografische‘ Optimismus der Mitte des Jahrhunderts einer Skepsis gewichen, wie vertrauenswürdig dieses indexikalische Abbildverhältnis sein kann, ob dem Gesicht überhaupt zu trauen sei. Dem ‚sprechenden Bild‘ des Gesichts (und auch des Körpers) begegnet nun ein forensischer Blick, der auch das ‚Ungesagte‘ ergründen will und damit aber gleichzeitig die Angst vor Unlesbarkeit mit artikuliert.
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Dies wird besonders auf dem Feld der Literatur ausgetragen, auf dem sich proto-modernistische Subgenres ausbilden, die eben jene Skepsis zum Gegenstand haben, wie etwa die Phantastik. Und dabei geht es nicht nur darum, in Bezug auf wissenschaftliche Wissensbestände Besorgnis zu artikulieren; in der Dekonstruktion physiognomischer Lektüren steht auch die Zuverlässigkeit literarischer Verfahren der Figurenzeichnung auf dem Spiel. Kein viktorianischer Roman kommt ohne physiognomische Darstellungsverfahren aus; es handelt sich dabei um eine Form der Informationsvergabe, die Figuren auf quasi-fotografische Weise einführt, indem ein ‚Bild‘ der Figur der Leserin bzw. dem Leser vor Augen gestellt wird, anhand dessen diese – aufgrund ihres Erfahrungswissens und der tradierten physiognomischen Wissensbestände – sich eine Vorstellung vom Charakter dieser Figur machen sollen. Hier wird also das Gesicht als Chiffre, und damit im Sinne einer erzählerischen Komplexitätsreduktion, als Medium eines Innen inszeniert, in das die Leser nicht in allen Fällen zuverlässigen Einblick bekommen. Wieder fällt damit also der Blick auf die Schnittstelle zwischen Innen und Außen und markiert diese damit wiederum als eine prekäre Schwelle, eben weil die Dualität, die sie überspannt, nicht immer entzifferbar ist. Im letzten Teil des Artikels möchte ich daher ein literarisches Beispiel dafür vorführen, wie diese Gewissheit der visuellen Erkennbarkeit literarisch als Irrweg inszeniert wird. In Robert Louis Stevensons Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde geben typisierende Lesarten des Gesichts keinerlei Aufschluss über den Charakter des Verfolgten und auch das Muster der Degeneration, in das diese semiotischen Versuche eingebettet werden, führt keinen Wissenszuwachs herbei. Stevensons Erzählung gehört dem sogenannten urban gothic an und damit einem Genre, dem das Misstrauen gegenüber der sinnlichen Wahrnehmung generisch ist und das gleichzeitig die Unübersichtlichkeit der Großstadt als Horrormoment (oder zumindest Angst erzeugendes Moment) einsetzt. Im Großstadtdschungel dient die Physiognomik vermeintlich als Navigationshilfe und daraus ergibt sich folglich für das urban gothic die Frage, ob das phantastische Narrativ die visuelle Information der Physiognomik unterstützt oder ob es gegenläufig operiert und damit den wissenschaftlichen Wissensbestand dekonstruiert (Beispiele für unterstützende Lesarten finden sich z. B. bei Conan Doyle). Gesichter spielen in phantastischen Erzählungen eine wichtige Rolle, wohl aus demselben Grund, aus dem sich Puppen und Masken gut zur Erzeugung eines Horroreffekts eignen – weil unlesbare Gesichter als destabilisierend empfunden werden, weil das typologische Orientierungswissen an ihnen abprallt. „Faces in the crowd“ sind bereits seit E. A. Poes „The Man of the Crowd“ (1840) ein bekanntes Motiv in der Darstellung städtischer Entfremdung; Poes Erzählung endet signifikanterweise mit dem Satz „[E]s läßt sich nicht lesen“22.
22
Poe 1977, Man of the Crowd, 109.
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Robert Louis Stevensons Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde bedient sich des Referenzrahmens eines wissenschaftlichen Genres, der Fallstudie.23 Die Bezugnahme auf wissenschaftliche Wissensbestände betrifft damit nicht nur die Motivebene des ‚mad doctor‘, sondern auch die Art und Weise, wie der Fall narrativ gestaltet ist. Er beginnt mit der Darstellung einer unerklärlichen Begebenheit, die in eine Spurensuche mündet. Gesucht wird ein gewisser Mr. Hyde, von dem die Erzählinstanzen Utterson und Enfield annehmen, dass er der Reputation ihres Freundes Dr. Jekyll schaden könnte. Die Suche erweist sich auch deshalb als schwierig, weil niemand Mr. Hyde präzise beschreiben kann. Gabriel Utterson, Jekylls Anwalt und Testamentsverwalter, ist daher von Mr. Hydes Gesicht geradezu besessen: [T]here sprang up and grew apace in the lawyer’s mind a singularly strong, almost an inordinate, curiosity to behold the features of the real Mr. Hyde. If he could but once set eyes on him, he thought the mystery would lighten and perhaps roll altogether away, as was the habit of mysterious things when well examined.24
Diese Obsession geht so weit, dass Utterson von Menschen ohne Gesicht träumt; Hydes Gesichtslosigkeit, als Zeichen der Unlesbarkeit und damit der Bedrohung, wird für ihn zum hermeneutischen und sozialen Alptraum. Möglicherweise noch schlimmer sind allerdings seine Angstprojektionen des unentzifferbaren Gesichts, deren Horrorpotential noch größer ist: „[A]t least it would be a face worth seeing: the face of a man who was without bowels of mercy: a face which had but to show itself to raise up, in the mind of the unimpressionable Enfield, a spirit of enduring hatred.“25 In Uttersons Vorstellungen spricht also das Gesicht vom Charakter eines Menschen und er tritt an, der Herausforderung mit einem forensischen Blick zu begegnen: „If he is Mr Hyde, I shall be Mr Seek“26. Als er Hyde dann wirklich trifft, bittet er ausdrücklich darum, sein Gesicht sehen zu dürfen: „[W]ill you let me see your face?“27. Dies allerdings führt nicht zur erhofften Klärung des ‚Falls‘, so dass Utterson wiederum mit verschiedenen Deutungsangeboten jonglieren muss und schließlich zu dem Ergebnis kommt: „[I]f ever I read Satan’s signature upon a face, it is on that of your new friend“28. In Uttersons Deutungshorizont zielt der physiognomische Blick auf Unverwechselbarkeit, und so wird der forensische Blick spätestens nach dem von Hyde begangenen Mord an Danvers Carew auch eingesetzt, allerdings ohne Ergebnis: Es gibt nicht mal ein Foto von Hyde und es kann daher auch 23 24 25 26 27 28
Für eine Lesart der Erzählung als Fallstudie vgl. Scholz 2013, Phantasmatic Knowledge, 7792. Stevenson 2003, Strange Case, 15. Ebd. Ebd. Ebd., 16. Ebd., 17.
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kein Steckbrief erstellt werden, wie es der ermittelnde Polizeikommissar vorschlägt. Der Alptraum vom Gesichtsverlust ist hier natürlich doppelt signifikant: Uttersons Ängste um die Reputation von Jekyll strukturieren seine Suche nach Spuren von Hydes Identität genauso wie die nach dem wirklichen Verhältnis von Jekyll und Hyde. Hydes Gesicht zu sehen ist für ihn der Weg, Jekylls Gesicht zu wahren, denn dies ist Uttersons oberstes Ziel, wie auch – so erfahren wir aus Jekylls abschließendem Memorandum – das von Jekyll selbst, der die Sorge um seine Reputation als zentrales Motiv für die Selbstspaltung angibt: And indeed, the worst of my faults was a certain impatient gaiety of disposition, such as has made the happiness of many, but such as I found it hard to reconcile with my imperious desire to carry my head high, and wear a more than commonly grave countenance before the public.29
Und auch das Ergebnis des Trennungsversuchs wird in Gesichtsbildlichkeit beschrieben: „Even as good shone upon the countenance of the one, evil was written broadly and plainly on the face of the other“30. Jekylls Gesicht funktioniert in der Erzählung in bewährter Manier als ,Visitenkarte‘: Er wird eingeführt als „a large, well-made, smooth-faced man of fifty, with something of a slyish cast perhaps, but every mark of capacity and kindness – you could see by his looks that he cherished for Mr Utterson a sincere and warm affection“31. Lässt man sich von physiognomischen Wissensbeständen leiten, so muss man also glauben, dass ‚Gentleman‘ drin ist, wo ‚Gentleman‘ draufsteht, dass sein Charakter einlöst, was sein Gesicht verspricht. Genau das aber stellt die Erzählung infrage, indem sie – vom Ende her gelesen – zumindest unterstellt, dass dieses Gesicht eine Maske gewesen sein könnte − he „wears“32 his countenance. In der Blickleitung des Textes wird die Unterschiedlichkeit der Gesichter als Beweis für die Unterschiedlichkeit der beiden Personen eingesetzt. Solange die Verfolger physiognomisch denken, können sie nicht Jekyll und Hyde für dieselbe Person halten. Medientheoretisch umformuliert könnte man also sagen: Utterson versteht sein menschliches Gegenüber als Bild bzw. Fotografie. Jekyll aber ist, wie er selbst angibt, ein Komposit. Die anthropologische These, die seinem Experiment zugrunde lag, ist die von der dualen Natur des Menschen. In visuellen Termini ist er damit kein ‚Bild‘ (d. h. kein historisch konkreter bzw. kontingenter Abzug eines generischen Idealbilds), sondern das, was Gunnar Schmidt als anamorphotisches Bild bezeichnet hat.33 Anamorphotische Bilder sind aber physiognomisch nicht lesbar und – so zeigt das Beispiel – ihre Trennung in die Einzelkomponenten hat katastrophale Folgen, nicht nur für die Entzifferbar29 30 31 32 33
Ebd., 47 f. Ebd., 51. Ebd., 19. Ebd., 48 [Herv. S. Sch.]. Schmidt 2001, Anamorphotische Körper.
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keit der Welt. Wenn der Mensch ein Komposit mit mindestens zwei Gesichtern ist, dann kann man den gängigen Verfahren der Gesichtslektüre nicht trauen. Am Ende laufen alle physiognomischen Lektüren ins Leere, Utterson schaut ins Gesicht des sterbenden Mr. Hyde, als er die Labortür schließlich aufbrechen lässt, und dass Dr. Jekyll ein Mann mit zwei Gesichtern ist, erfährt am eigenen Leib nur Dr. Lanyon, den dieser Horrormoment das Leben kostet. Die Erzählung, so könnte man abschließend sagen, stellt die Unzulänglichkeit des physiognomischen Optimismus dar, in der Figur von Utterson, dessen Lektüren zu keinem Ergebnis führen. Sie verweist dabei gleichzeitig auf den Innen-Außen-Gegensatz, der der Physiognomik genauso zugrunde liegt wie der von Jekyll praktizierten ‚transzendentalen Medizin‘ und dessen bildanthropologische Aussage dann wohl ist, dass das Äußere des Menschen nicht als einfaches Bild verstanden werden darf, sondern als Komposit. Dies wiederum erfordert andere hermeneutische Maßnahmen als physiognomische Lektüren eines einfachen Abbildverhältnisses. Schließlich, und das ist viel gravierender, unterminiert diese Unlesbarkeit auch die optimistische Vision einer Abbildbarkeit der Welt im Rahmen eines phantasmatischen Archivs, das es erlaubt, die Welt als große und potentiell entzifferbare Oberfläche zu lesen, die vom Blick des initiierten Wissenschaftlers klassifiziert, geordnet und erklärt werden kann. Ans Ende dieses Artikels möchte ich eine zeitgenössische Visualisierung dieser Vorstellung des Menschen als Komposit stellen, eine Studiofotografie des Schauspielers Richard Mansfield, der 1888 im Londoner Westend in der Bühnenversion von Stevensons Erzählung brillierte:
6 − Richard Mansfield als Dr Jekyll and Mr Hyde
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Was die fotografische Darstellung von Jekyll and Hyde auf Richard Mansfields ‚Comp Card‘ angeht, so ist natürlich genau die Wandlungsfähigkeit über das physiognomische Casting hinaus Grundlage seines schauspielerischen Erfolges: Er kann mit demselben Gesicht beide spielen − sagt das nicht alles über unsere physiognomische Imagination?
BÄRBEL KÜSTER
GESTEN DES DOKUMENTIERENS – ARCHIVE DES SCHEITERNS. FOTOALBEN DER KOLONIALZEIT
Arlette Farge und Michel Foucault berichten in der Untersuchung der Lettres de Cachet (dt. „Familiäre Konflikte“) von Fällen, in denen im 18. Jahrhundert erwachsene Kinder in die nordamerikanischen Kolonien verschickt werden sollten, weil sie durch ihr kriminell-nonkonformes Verhalten die Ehre der Familie verletzt hatten – ein frühkolonialer Extremfall, der den Autoren zufolge „den Wunsch nach einem vollständigen und endgültigen Bruch zum Ausdruck“1 bringt. Die Kolonie bietet einen „tiefen Resonanzraum“ für die Phantasie der Leute aus dem Volk: „Unsichtbar, aber vorhanden, ist die Kolonie ein ,Nicht-Ort‘, wo der Makel des Verbrechens stillschweigend schwindet.“2 Im 19. Jahrhundert verlagerte sich dieser tiefe Resonanzraum nach Afrika – der vermeintliche „Nicht-Ort“ Afrika beflügelte die Phantasien gleichermaßen geographisch, ökonomisch und anthropologisch. Obwohl die kulturellen Kontakte Europas mit afrikanischen Fürsten, z. B. im europäischen Goldhandel mit dem malischen Reich und der Sklavenhandel bis auf das 15. Jahrhundert zurückgehen, entstand während der Kolonialzeit ein Diskurs der rassischen Inkriminierung und Diskriminierung.3 Zahlreiche Fotografien sind aus der Kolonialgeschichte überliefert, und die europäische Perspektive auf diesen vermeintlichen „Nicht-Ort“ Afrika wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend mit Bildern gefüllt. Bei Farge/Foucault ist dieser „Nicht-Ort“ auch einer, der anderen (juristischen) Gesetzen gehorcht, einen Freispruch möglich macht, der sonst nicht möglich wäre.4 Die Ausbildung einer Bildwelt in den Kolonien folgt unterschiedlichen Taxonomien, die aus der Rassenlehre entstanden, in anthropologische und ethnologische Wissenschaften ebenso wie in die populäre visuelle Kultur migrierten. Dabei spielte die Fotografie eine höchst ambivalente Rolle. Das Nachleben der Kolonialfotografie in verschiedenen Formen der Dokumentation und 1 2 3 4
Vgl. Farge/Foucault (Hg.) 1982, Le désordre des familles; dt. dies. (Hg.) 1989, Familiäre Konflikte, hier das Kapitel: Die Verschickung in die Kolonien, 136. Ebd., 138. Vgl. Bhabha 1983, Difference, Discrimination, 200; Gilman 1992, Rasse, Sexualität und Seuche; Gilman 1985, Black Bodies, White Bodies. Im französischen Text wird das Wortspiel „non-lieu“ verwendet, das sowohl „nicht-Ort“ als auch „Einstellung eines gerichtlichen Verfahrens, Freispruch“ bedeutet. Vgl. Farge/Foucault (Hg.) 1989, Familiäre Konflikte, 138.
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heutigen Interpretationen erlitt von der Entstehung bis heute zahlreiche Wissensverluste in der Überlieferung, ebenso wie man verschiedene Grade des Scheiterns taxonomischer Ansprüche ausmachen kann, in denen das Medium Fotografie seine dokumentarischen Schwächen zeigt, sich aber auch gegenüber einer strikten Interpretation durch den Text des kolonialen Dispositivs entzieht. Im Folgenden soll dem „multiplen Leben der Fotografien“5 nachgegangen werden, das sich zwischen der archivalisch-dokumentierenden Absicht des Fotografen, der Absicht des Betrachters, des Fotografierten, der Tätigkeit des Sammlers und des Archivars entwickelt. Roland Barthes unterscheidet in seinem Buch Die helle Kammer den operator, den spectator und das spectrum, um zu verdeutlichen, dass sie alle Teil an einem überlieferten fotografischen Abzug haben und dass sie jeweils neue Aspekte entwerfen.6 Die Gesten des Sammelns und Archivierens bringen jedoch weitere Agenten ins Spiel, die, wie ich zeigen möchte, bereits bei der Produktion von Fotos vorweggenommen werden und in eigenem Recht mitwirken am Bild: der collector und der registrator. Sie partizipieren an der Fotografie, insofern als die Fotos für bestimmte Zwecke aufgenommen wurden, denen die Geste des Dokumentierens entsprechen kann oder auch nicht. Prozesse des Umschreibens auf allen Ebenen sind nicht gefeit vor produktiven ‚Fehlleistungen‘, die die Fotografien umso interessanter machen, in dem Maße wie man von heute aus anders auf diese Fotos schaut.7 Mit dem Dokumentieren hängen komplexe Prozesse zusammen, die vor und nach dem Eingang in ein Archiv liegen, denn die Produktion von Aufzeichnungen einer Epoche, der Umgang mit Dokumenten, Meinungen und Objekten erfassen die gesamte Kultur. Foucault wies mit seinem Archivbegriff auf diese weitreichenden und grundlegenden Vorgänge hin: archive ist für ihn gegenüber der Institution „das allgemeine System der Formation und Transformation von Aussagen“8. Foucault bezieht sich damit nicht in erster Linie auf Prozesse der Speicherung und Ablage von Material, sondern bewusst auf die Vorgänge des permanenten Umschreibens von Geschichte, die er als „Spiel der Regeln, die in einer Kultur das Auftreten und das Verschwinden 5 6 7
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Garb (Hg.) 2011, Figures & Fictions, 13. Barthes 1989, Die helle Kammer, 17-18. Zu Fehlleistungen vgl. Freud 1986, Psychopathologie des Alltagslebens. Fehlleistungen werden in Freuds Sinn als ein unbeabsichtigtes Fehlinterpretieren verstanden, welches auf einer neuen Ebene – hier für die Rezeption der Fotos – neue, unbeabsichtigte Interpretationen herstellt. Auch bei Freud ist die Fehlleistung eine „geglückte Handlung“, was sich in der englischen Übersetzung besser ausdrückt: einer „parapraxis“. Vgl. hierzu: Laplanche/Pontalis (Hg.) 1972, Vokabular der Psychoanalyse, 153 f. Freud selbst schlug vor, dies auf „Verzerrungen“, die in der Wissenschaft entstehen, zu übertragen und „die gleichen Gesichtspunkte auch auf die Beurteilung der ungleich wichtigeren Urteilsirrtümer der Menschen im Leben und in der Wissenschaft auszudehnen.“ Freud 1986, Psychopathologie des Alltagslebens, 255. Foucault 1992, Archäologie des Wissens, 188.
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von Aussagen, ihr kurzes Überdauern und ihre Auslöschung, ihre paradoxe Existenz als Ereignisse und Dinge“ beschreibt.9 In besonderer Weise veranschaulichen Fotografien diese doppelte Existenz von Ereignis und Ding: Sie sind zwar zunächst selbst Objekte, verweisen als Spur eines fotografischen Aktes jedoch auf das Ereignis der Aufnahme, und zusätzlich kann jeder Umgang mit dem Abzug selbst wieder zum Ereignis werden. Das staatliche, öffentliche und private Archiv sind Teil dieser Umschreibungsprozesse, an denen auch das Objekt und seine Materialität selbst mitarbeiten. Dabei produziert die Ablagerung in einem mehr oder weniger institutionalisierten Archiv nicht nur die Speicherung von Wissen, sondern auch Unwissen. Das Vergessen, aber auch unterbrochene Prozesse der Codierung und die Anonymität der Spuren im Archiv entwickelten sich mit dem Medium der Fotografie − oder in ihm − auf mindestens zwei Ebenen: Zum einen beherbergen die Bildarchive der ethnographischen Museen und Sammlungen in Europa eine immense Fülle von Menschenfotos aus der Kolonialzeit, bei denen die Identität der Aufgenommenen bislang nicht geklärt ist, weil sie nicht als Portraits sondern als „Typen“ für Kleidung, Gebräuche sowie als anthropometrische Typen von Interesse waren. Zum anderen blieben aber häufig auch der operator und der Produktionskontext unbekannt. Die Namenlosigkeit der abgebildeten Menschen auf diesen Fotos vervielfacht sich mit der Namenlosigkeit des materiellen Fotos, des operators und manchmal auch des collectors und registrators. Foucault und Farge brachten mit den eingangs genannten Lettres de Cachet mikrohistorisches Alltagsmaterial aus dem Archiv zutage, dem Foucault einen weiteren eigenen Text gewidmet hat. In Das Leben der infamen Menschen10 entwickelt er „den Diskurs der Infamie“11 in einer paradoxen Konstellation von Namenlosigkeit und theatralen Handlungsräumen in den schriftlich überlieferten Spuren von Menschen, die in der Geschichte namenlos und ohne Spur vergangen wären, hätten sie nicht durch unkonformes Verhalten das Raster von Recht und Ordnung im absolutistischen Staat gekreuzt.12 Nur durch ihre Beschwerden, Bittschriften, Denunziationen und Briefe übler Nachrede oder ihre kriminellen Vergehen sind sie im Archiv überliefert. Aus der Obskurität treten sie heraus durch ein „Lichtbündel“13, aber gefangen in den „gebieterischen Lügen der Spiele der Macht und der Verhältnisse mit ihr“14 – und durch eine Sprache, die sich in der Theatralität und Feierlichkeit mit derjenigen der Vertreter der Macht trifft. Über die Beschwerdebriefe allein besteht
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Foucault 2001, Über die Archäologie der Wissenschaften, 902. Foucault 2001, Leben der infamen Menschen. Ebd., 47. Mit der Genese von Aufschreibesystemen in der Psychiatrie, die mitunter derartige Dokumente der Infamie generieren, beschäftigt sich Armin Schäfer in seinem Beitrag „Ordnungsversuche im Gebiet des Wahnsinns“ im dritten Kapitel. Foucault 2001, Leben der infamen Menschen, 16. Ebd., 17.
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ihre Existenz – nur „in der zerbrechlichen Deckung jener Wörter“15 (der Briefe), die aus ihnen quasi fiktive Wesen macht, in denen das Unsagbare, Unaussprechliche der Verbrechen ihnen eine erbarmungswürdige oder erschreckende Größe gab.16 Foucault belegt diese kleinen Lichtstrahlen auf vergangene Existenzen mit dem literarischen Begriff der „nouvelle“, um ihren Anspruch auf Wahrheit und die Kürze der Schriftzeugnisse zu verdeutlichen.17 Die Lettres de Cachet sind für Foucault ein Ereignis, „in dem sich politische Mechanismen und Diskurseffekte gekreuzt haben“18. In den ethnographischen und anthropometrischen Fotos, die im Folgenden vorgestellt werden, stellt sich nun ein vergleichbarer Kreuzungsprozess zwischen Obskurität und dem Eintritt in einen Diskurs der Infamie ein19: Die Personen, die auf den Fotos im Archiv überliefert wurden, treten in das Lichtbündel (der Fotografie), weil sie im kolonialen Dispositiv als Kolonisierte die Machtbahn des Imperialismus kreuzen, in dessen Logik auch die Ethnographie und Anthropologie funktioniert. Ihr Status als Handelnde in der Geschichte (analog den Autoren der Beschwerdebriefen) oder als Handelnde im Foto ist allerdings ein ganz anderer. Im wörtlichen Sinne steckt in der Infamie im lateinischen infamis die Bedeutung des ‚ohne Nachrede sein‘ – also jene Obskurität der verlorenen Details der Alltagsgeschichte –, ebenso wie der Aspekt der Niedertracht und Gemeinheit, des ,Unaussprechlichen‘ und das namenlos Vergehen.20 So wie bei Foucault auch die Literatur selbst das Infame ästhetisieren kann, so können auch die Hersteller und Betrachter der Fotos sich sowohl eine denunziatorische Geste aneignen wie auch die Fotos selbst ‚namenlos‘ in der Geschichte vergehen können.21 Die Gesten des Dokumentierens und Sammelns von fotografischen Bildern, wie sie schon die Aufnahme als Ereignis vollzieht, produzieren ein Gewesenes und zugleich eine Spur des Vergangenen. Der operator ist als collector unterwegs und dokumentiert für einen bestimmten Zweck, das Bild des Objektes vor der Kamera als Gewesenes wird danach jeweils für jeden Zweck und von jedem Betrachter wieder aktualisiert: Bild und Gegenwart bleiben dialektisch verbunden, während das Vergangene rein zeitlich vorhergeht.22 Diese perma15 16 17 18 19 20 21
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Ebd., 19. Ebd., 15. Auch die Geschichtswissenschaft und Literatur machten sich so zum Teil einer ästhetischen Faszination des Infamen, vgl. Geisenhanslüke 2006, Tragödie und Infamie. Foucault 2001, Leben der infamen Menschen, 24. Zur fotografisch dokumentierten Infamie vgl. auch die Überlegungen von Gianluca Solla zu Eugène Atgets Fotografien der „Zonen“ im vierten Kapitel: „Nach der Sammlung“. Pfeifer (Hg.) 1989, Etymologisches Wörterbuch, 737. Sarah Schmidt befragt in ihrem Beitrag „Existenzen sammeln – Existenzen schreiben“ im dritten Kapitel insbesondere den literarischen Charakter dieser „nouvelles“ in Foucaults Schrift Das Leben der infamen Menschen. Ich beziehe mich hier auf Benjamin 1982, Gesammelte Schriften. Das Passagen-Werk, Band V/1, 578: „Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit anderen Worten: Bild ist die Dialektik im Stillstand. Denn wäh-
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nente Aktualisierbarkeit des Bildes in der Gegenwart ist Chance und Bedrohung zugleich: Sie verspricht dauernden Zugewinn am Bild und zugleich den permanenten (ungewollten oder gewollten) Verlust von Bedeutungen, die Möglichkeit von Neu- und Missinterpretationen, Verschiebungen, Fehlleistungen. Das Archiv der Bilder ist nicht nur in ethnologischen Museen voll von zweidimensionalen visuellen Zeugen, deren Zeugenschaft heute verstummt ist, weil das Bild nicht mehr aktualisiert werden kann – es sei denn auf einer ästhetischen Ebene.
1 − Anonyme Fotografie: „Central-Africa, (Belgisch Congo, Smlg. Mus. Tervuren, Blatt 10)“, Afrika-Alben, Linden-Museum Stuttgart
In Abbildung 1 überkreuzen sich zwei Arten des Wissensverlustes. Zum einen ‚entleerte‘ sich das Bild im Laufe der Überlieferung: Heute ist nicht mehr bezeugt, wer hier in Afrika stand und sein Objektiv auf eine Szene links des Bildes richtete. Zum anderen wissen wir nicht, wem oder was sein fotografisches Interesse galt, es liegt außerhalb des Blickfeldes des Fotos, das dazu keinerlei Andeutungen enthält. Das Foto aus dem Afrika-Archiv des Linden-Museums Stuttgart zeigt einen einsamen Weißen winzig klein mit seinem registrierenden Apparat in der weiten Natur der afrikanischen Savanne – ein emblematisches rend die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche ist, ist die des Gewesenen zum Jetzt eine dialektische: nicht zeitlicher sondern bildlicher Natur.“
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Bild des Forschers zweifellos. Aus ihm spricht die damalige Heroisierung des Entdeckergeistes, aus postkolonialer Perspektive wird es heute durch die Abwesenheit von Text, durch das Fehlen der historischen Bilderzählung zu einem emblematischen Exempel des Informationsverlustes und eines kritisierten kolonialen Dispositivs. Die unbekannten Umstände des Fotografen, die Unklarheit, welches abwesende Objekt er einfängt (eine für die kolonialen Ambitionen bedeutsame Gegend, Landschaft, Botanik, Menschen, Tiere, Ereignisse?) erzeugt ein Bild der Verlorenheit und entleert die Szene, nur um sie zugleich für den heutigen Betrachter zu einer Metapher der Blindheit der Kolonisatoren vor Ort zu verdichten. Auf dem Foto waltet die Abwesenheit, auch als die Abwesenheit der Perspektive derjenigen ‚kolonialen Subjekte‘, die selbst nicht fotografierten. Die Spuren der Vergänglichkeit auf der Oberfläche des fotografischen Materials, die Schrunden und Feuchtigkeitsflecken auf Negativ und Abzug scheinen den kleinen weißen Mann seinem vergeblichen Unterfangen endgültig auszuliefern. Auf den Betrachter heute überträgt sich auch wegen des fehlenden Wissens über den Kontext der Fotografie und die Umstände des fotografischen Ereignisses eine ästhetische Erzählung von der Vergeblichkeit dieser kolonialen dokumentarischen Geste. Der folgende Beitrag soll solche Verschiebungen, Entleerungen und Aufladungen von ethnographischen Fotografien im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zwischen Bildwissen und Textwissen in den Gesten des Sammelns und Dokumentierens ausloten.
1. Fotografie als Archiv – fotografische Gesten des Dokumentierens Die Sammlung von Fotomaterial hat für die Erforschung von fremden Ländern, Kulturen und Menschen einschneidende Folgen gehabt und die Ethnologie als Wissenschaft methodisch zutiefst geprägt.23 Getragen von der Zuversicht eines objektiven Mediums mit absolutem Wahrheitsanspruch wurde die naturgetreue Abbildung geradezu gleichbedeutend mit der Wahrheit der Forschung. Parallel zur geographischen Expansion der Kolonialgeschichte entstand mit der Fotografie ein unschätzbares Hilfsmittel der Sammlung, Archivierung und Dokumentation, welches ältere Verfahren – wie die Zeichnung – gänzlich ablöste. Die Fotografie wurde so zur Methode wie zugleich zum Sammlungsgegenstand und übernahm in dem Maße, wie die zunehmend handlicheren Apparate gegen Ende des 19. Jahrhunderts Missionen und Expeditionen begleiteten, fundamentale bild-konstituierende Funktionen der Kolonialära. Damit wird auch die Technik der Fotografie zum Symbol des Machtdispositivs, in dem Menschen vor der Kamera postiert werden, ihr Stillstand und die Distanz zwischen operator und spectrum mit einer Aufzeichnungstechnik produziert, in der Schwarz als Abwesenheit von Licht und somit als Mangel 23
Vgl. Edwards 1990, Photographic ,Types‘; dies. (Hg.) 1992, Anthropology and Photography; Banta/Hinsley (Hg.) 1986, From Site to Sight; Garb 2013, Figures and Fictions.
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konzipiert ist.24 Die Farbe Schwarz unterlag analog einer rassistischen Mangelvorstellung. Franz Fanon stellte 1952 das „epidermische Schema“ des Rassismus in der täglichen Konfrontation mit den Vorurteilen und der Überformung des eigenen Körpers durch Wörter wie Menschenfresserei, Zurückgebliebenheit, Fetischismus, Rassenmakel, Sklavenschiffe dar. Diese Überformungen konstituieren den schwarzen Körper als Objekt. Der Rassismus wird für ihn als Epidermisierung der Minderwertigkeit greifbar.25 Die Schrift von Fanon analysiert und schreibt gegen ein rassistisch geprägtes (visuelles) Machtdispositiv an – die Schwarzen werden gezwungen, den Weißen nachzuahmen und sich eine weiße Maske vors Gesicht zu halten. Inzwischen sehen Teile der postkolonialen Theorie neben der ‚erzwungenen Nachahmung‘, welche wiederum die ‚Opfer‘ in einen Objektstatus fixiert, auch im Aufgreifen oder Re-enactment bestimmter visueller Settings einen dem Dispositiv abgerungenen eigenen Handlungsraum.26 Der Fotograf und Fotoessayist Allan Sekula hat in einem Aufsatz von 1986 zu Körper und Archiv in der Fotografie die doppelte Funktion der Fotografie dargestellt: Sie konstituiere sowohl den kriminellen, den primitiven als auch den sozialen Körper. Sie sei inkriminierend/diskriminierend und produziere in anderen Zusammenhängen ebenso den ehrbaren Status eines Individuums innerhalb der Bourgeoisie. Die Gemeinsamkeiten verortet Sekula in einer auf Besitztum beruhenden legalistischen Auffassung des Individuums, die gleichermaßen von dem als ,demokratisch‘ gefeierten Medium getragen werde. Mit Bezug auf Foucault analysierte Sekula in der Fotografie verschiedene Modi eines (sozial) instrumentalisierenden Realismus.27 Zwischen 1880 und 1910 werde das Archiv die dominante institutionelle Basis der Fotografie, ein „optischer Empirismus“28, der historisch auf die universalhistorische Zuversicht der Encyclopédie zurückgehe. Sekulas ideologiekritischer Beitrag lässt sich jedoch weiter ausdifferenzieren, wenn man die Gesten des Dokumentierens genauer liest. Fotos sind vor allem die Herstellung einer fotografischen Realität.29 Die fotografische Geste des Dokumentierens fand in einem bestimmten Umfeld 24 25
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Doane 1991, Dark Continents; Mulvey 1989, Visual Pleasure. Vgl. Fanon 1952, Peau noir, 90 und 8 (dt. Fanon 1980, Schwarze Haut, 73 und 10). Fanon publizierte mit seinem Buch auch eine grundlegende Kritik am Konzept der „négritude“ von Léopold Sédar Senghor. Vgl. Garscha 2002, Négritude/Black Aesthetics/créolité. Zu den eigenen Handlungsräumen gehören auch die zahlreichen einheimischen Fotografen, die in den letzten Jahren von der Forschung dokumentiert wurden, zum Beispiel in Südafrika: vgl. Firstenberg 2002, Representing the Body; Enwezor 2001 (Hg.), The Short Century. Vgl. Sekula 1986, The Body and the Archive, 6 f. Sekula verweist auf Foucault 1976, Überwachen und Strafen. Sekula 1986, The Body and the Archive, 56. Vgl. Jean Baudrillard 1999, Fotografien, hier besonders 20-45. Baudrillard gewinnt einen Teil seiner Argumentation für die These, dass die Fotografen nur Komparsen in ihrer Inszenierung sind, und ein „Bild das Medium par excellence einer gigantischen Publizität“ (ebd., 21) ist, aus einem recht zweifelhaften Verständnis von Fotos der ‚Primitiven‘: „Man fotogra-
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statt, in einer sozialen Wirklichkeit als Ereignis, das in den wenigsten Fällen konkret überliefert ist. So hat die nachträgliche Interpretation der Fotografie die Tendenz, sie nahtlos in ein gesetztes Machtdispositiv einzufügen und entlang den vorgegebenen Taxonomien des Humanen zu interpretieren. Die folgenden Überlegungen werden jedoch zeigen, dass die Fotografie keineswegs im Dispositiv aufgeht. Vielmehr lassen sich in den Fotos Momente des Widerstands oder auch des Scheiterns einer autoritären Geste des Dokumentierens ausmachen, Momente des Widerstands im Dispositiv. Die Fotografien aus den Kolonien weisen eine Fülle unterschiedlicher Intentionen, Erzählungen und Erzählmöglichkeiten auf. Die vorgebliche Wissenschaftlichkeit der Taxonomien wird allerorten verfehlt, ja dekonstruiert, und transformiert sich in neue ästhetische Formen. Sowohl professionelle Fotografen als auch Laien partizipieren an ästhetischen Vorstellungen und visuellen Kulturen ihrer Heimat und übertragen diese auf neue fotografische Situationen – sie vermischen Genres und Bildgelegenheiten und machen sie so in ihrer Kultur konsumierbar. Es wird sich zeigen, dass die ethnographischen Fotos keineswegs nur Konsequenzen für die europäische Vorstellungswelt hatten, sondern auch von den Menschen in den Kolonien aufgegriffen wurden. (Pseudo-)wissenschaftliche Fotoalben schließlich, um die es hier insbesondere gehen soll, bieten darüber hinaus die Möglichkeit einer Erzählung über Textteile, mit denen die Fotografien kommentiert werden. Zwischen Bild und Text entsteht dabei ein Spannungsverhältnis, das ebenfalls nicht in der bloßen Dokumentation des „Was, Wann, Wo“ aufgeht. Auch hier überkreuzen sich Aspekte des privaten und des kollektiven Bildgedächtnisses und ihrer ästhetischen Voraussetzungen. Und schließlich soll anhand der Alben untersucht werden, wie Fotografien, die scheinbar alles genau dokumentieren, die jedoch aus ihrem Kontext gerissen wurden, nunmehr in einem Museumsarchiv über dessen institutionelle Gesten der Dokumentation hinaus ein Eigenleben entwickeln.30
2. Archive des Scheiterns: Typenfotografie und ihre Derivate Die hervorstechende Taxonomie des Humanen im ausgehenden 19. Jahrhundert war zweifellos die Herausbildung menschlicher Typen, die gewissermaßen zwei Wirkebenen besaß, die jedoch schon früh kaum mehr zu unterscheiden waren. Auf dem Gebiet der Vermessung menschlicher Körper, der Anthropometrie fügte die Typenlehre sich mit Rekurs auf ältere physiognomische Studien seit dem 17. Jahrhundert nicht nur in eine nachdarwinsche Rassenlehre ein, sondern wurde in den Status des Beweises eines normgebenden Systems
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fiert also am besten jene, für welche der ‚Andere‘ nicht oder nicht mehr existiert – Ureinwohner, Arme, Objekte. Nur das Nicht-Menschliche ist fotogen“ (ebd., 28). Sie sind es nach Baudrillard, die die Abwesenheit und die Inkongruenz des Betrachters mit der Welt am besten verdeutlichen. Vgl. Groys 2009, Der submediale Raum des Archivs.
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gehoben.31 Elizabeth Edwards hat herausgearbeitet, dass bei der Vermessung die Fotografie willkommenes Hilfsmittel war, weil so der direkte körperliche Kontakt zu den taxierten Menschen vermieden werden konnte und erst anhand der Fotos vermessen wurde. Sie wies auch darauf hin, dass die Menschen, die dieser Prozedur unterzogen wurden, meist arme Menschen, Gefangene und Prostituierte waren, die zu der Prozedur gezwungen oder gegen geringes Entgelt gebraucht werden konnten. So vermischten sich Konzepte der ‚Rassen‘ mit kulturell codierten Konzepten von Krankheit, Kriminalität und Devianz über die visuelle Vermittlung der ‚wissenschaftlichen‘ Fotografie. Für die Wahrnehmung fremder Ethnien drängte sich die rassische Wahrnehmung über Typen vor die kulturelle Erforschung.32 Zugleich ging die Typenlehre bald schon in kulturelle Settings über, die die türkische Frau mit Pluderhosen und Zigarette, den Lappländer mit Rentieren und buntgewirkten Stoffen usw. als Typenklischees herausbildete.33 An diesem Prozess einer Erweiterung taxonomischer Kriterien aus der Anthropometrie in die Kulturforschung und populäre Rezeption wirkten die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts in hohem Maße mit, die sowohl wissenschaftliche Forschung als eben auch unterhaltsames Konsumieren boten.34 Curtis M. Hinsley hat die entscheidende Verschiebung zu ,Marken‘ und marktgängigen Klischees in der Chicagoer Weltausstellung von 1893 verortet. Ironischerweise äußerten gerade an dieser Ausstellung beteiligte Anthropologen wie George Boas in der Vorbereitung massive Kritik am Typenmodell.35 Dass die ‚Typen‘ bis weit ins 20. Jahrhundert wirkten, lag unter anderem daran, dass mit ihnen die Fremdheit anderer Kulturen und Ethnien und jeder Form von Abweichung einer zugleich definierten Norm in ‚griffige‘ Bilder zu gießen war. Vor allem Fotografien spielten dabei eine ent31
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Für die Vermessung des Körpers als Grundlage für Schlüsse auf den mentalen Zustand und die moralische und zivilisatorische Verfasstheit von Menschen führte in Frankreich Alphonse Bertillon, Identification anthropométrique, Melun, 1893, Untersuchungen im Sinne einer (zweifelhaften) kriminologischen Erfassung durch; Paul Topinard und Paul Broca führten dies in Frankreich fort. In Großbritannien entwickelte unter anderem Thomas Henry Huxley die Anthropometrie (vgl. ders. 1876, On the Classification of the Animal Kingdom). Francis Galton (vgl. ders. 1909, Essays in Eugenics) übertrug sie auf die Eugenik und John Lamprey auf die Ethnologie. Vgl. Edwards 1990, Photographic ,Types‘; Dias 1994, Photographier et mesurer; Scherer 1990, Historical Photographs; Daston/Gallison (Hg.) 1992, The Image of Objectivity; Frizot 1995, Corps et délits. Die Ausstellungskataloge Theye 1990 (Hg.), Der geraubte Schatten, Banta/ Hinsley 1986 (Hg.), From Site to Sight seien hier stellvertretend für die hervorragenden Forschungen ab den 1980er Jahren genannt. Inzwischen hat sich der Schwerpunkt auf die Erforschung der Archive und ihrer kulturellen Umfelder vor Ort z. B. in Südafrika verlagert, vgl. den Ausstellungskatalog Garb 2013 (Hg.), Distance and Desire. Zur Frage der Lesbarkeit fotografischer physiognomischer Studien vgl. den Beitrag von Susanne Komfort-Hein „Zur physiognomischen (Un)lesbarkeit des Menschen“ im dritten Kapitel. Zu den Weltausstellungen vgl. Greenhalgh 1988, Ephemeral Vistas; Benedict 1983, Anthropology of Worldʼs Fairs; Karp/Lavine 1991 (Hg.), Exhibiting Cultures. Vgl. Hinsley 1991, The World as a Marketplace; bereits der französische Anthropologe Paul Topinard kritisierte die Typen: „En résumé, ni le type ni la race ne sont, dans l’état actuel de l’humanité, des réalités objectives“ ; Topinard 1891, L’Homme dans la nature, 43.
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scheidende Rolle, sie wurden auf Weltausstellungen und Völkerschauen als Postkarten, im Cartes de Visite-Format, das bereits als bürgerliches Portraitformat etabliert war, oder als fotografische Abzüge verkauft. Über sie konnte jedermann teilhaben an der Aneignung fremder und exotischer Welten. Ein unschätzbares visuelles Propagandamittel für die Akzeptanz des Kolonialismus in der europäischen Heimat.
2 − „Vorder- und Hinter-Indien“, in: Carl Dammann, Anthropologisch-ethnographisches Album in Photographien, hg. v. der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, Berlin, 1873-76, Tafel VII
Das „Anthropologische Album“, das der Hamburger Fotograf Carl Dammann (1819-1874) für die Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 1873-1874 zusammenstellte und verkaufte, zeigt beispielhaft die Vermischung kultureller und anthropometrischer Genres. Mit 642 Fotografien auf 50 Tafeln umfasste der Band alle Kontinente und war von grundlegender Bedeutung für die Entstehung der deutschsprachigen Forschung der physischen Anthropologie und Ethnologie.36 Dammann steht nun einerseits für die Wissenschaftlichkeit des ursprünglich von der anthropometrischen Vermessung unterlegten Typenkonzeptes. So findet man auf der Seite zu „Vorderund Hinter-Indien“ mittig zwei Fotografien, die wie diejenigen von John Lamprey im Hintergrund für die Vermessung ein quadratisches Raster hinterlegt haben. Das gleiche Foto mit dem nackten, stehenden Strafgefangenen findet sich auch in englischen und amerikanischen Sammlungen.37 Andererseits 36 37
Vgl. Theye 1998, Photographie, Ethnographie und physische Anthropologie; ders. 1994, Dammann, Carl (1819-1874), Dammann, Friedrich Wilhelm (1834-1894), 76-77. Vgl. die Abbildungen in Edwards 1990, Photographic ‚Types‘; ders. 1994-1995, Einige Neuigkeiten zu Leben und Werk der Brüder Carl Victor und Friedrich Damman; Spencer 1992, Some
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bezeugt die Seite aus dem Album in seinem repräsentativen Format, wie sich ein biologistisches, rassistisches Konzept in populäre Derivate transformierte und somit zwar in einer strengen Taxonomie der Wissenschaftlichkeit mit zunehmendem Bildmaterial weniger Beweiskraft hatte, in den ‚kulturellen Typen‘ aber umso erfolgreicher wurde. Denn auf der mit Bildern gefüllten Bildseite aus Südostasien werden dem asiatischen ,Typus‘, die dem Repräsentationstopos eines Bildpaares von Profil- und Frontalansicht folgen, nun Schauspielerinnen und „Minister“ ebenso wie eher bürgerliche Fotografien hinzugefügt. Mit der Vermischung verschiedenster fotografischer Genres entsteht im Album tatsächlich eine Art pseudowissenschaftliches Theater. Die Fotos stammen von verschiedenen Fotografen oder Forschungseinrichtungen und sie zeigen, dass der Fotograf Dammann das Album mehr als verlegerisches Projekt verstand, denn als eines der eigenen fotografischen Handschrift. Dammanns Album hatte beim Publikum großen Erfolg, 1875 folgte die englische Übersetzung (Abb. 2).
3 − Edmond Fortier, „Femme de Timbo“, Postkarte aus der Serie Afrique Occidentale Française, AOF, Nr. 1390 Notes; Dias 1994, Photographier et mesurer. Zu dieser Methode der vermessenden Fotografie vgl. auch Susanne Scholz „Typus, Taxonomie, Text“ im dritten Kapitel. In dem Fotogramm des Projektes Connected in Isolation (2014-2015) der Künstlerinnen Jacqueline Baum und Ursula Jakob (siehe Tafelteil und den Essay von Sarah Schmidt über dieses Projekt im ersten Kapitel) transformiert sich eben jenes fotografische Raster zu einem überdimensionalen Setzkasten.
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Als ein weiteres Derivat der Typenfotografie entwickelte sich die erotische Postkarte, die häufig unter dem Deckmantel der kulturellen Typen mit der Geste des Dokumentierens an Klassifikationen aus der Rassentheorie und anthropometrischen Taxonomien noch entfernt partizipierte. Der französische Fotograf Edmond Fortier (1862-1928) bereiste in den Jahren 1900-1910 das seit 1895 zu einer riesigen französischen Kolonie vereinigte Gebiet in Westafrika (Afrique Occidentale Française, AOF) einschließlich einer Reise in den französischen Soudan (heute Mali) 1905. Einen Großteil seiner Fotoproduktion konnte er auf Weltausstellungen als Postkarten verkaufen (Abb. 3).38 Fortier gab auf seinen Postkarten schriftliche Informationen, die auf eine ethnographisierte Weltwahrnehmung hinweisen und zugleich den Charakter einer Serie tragen, wodurch sie zum Sammeln anregen. Die Inschrift auf der Postkarte „1390. – Afrique Occidentale, Etude No. 69, Femme de Timbo (Fouta Djallon)“ beleuchtet das anschaulich. Das Verhältnis von Text und Bild ist entscheidend für die popularisierte Form des „Typenkonzeptes“, mit dem diese Frau den „Timbo“ zugeordnet wird. Ihrem Körper und ihren ‚Maßen‘ wird damit eine Typik gegeben, Haartracht, Kleidung, Schmuck und Gerätschaften ebenfalls. Nicht das Individuum zählt hier, sondern die Präsenz der Frau ist ganz dem Text untergeordnet, der eine Nummer im Archiv aufruft, das unter der Rubrik „Szenen und Typen“ die Ethnien der Welt erfasst. Die Frau als passives Objekt vor der Kamera, vom Fotografen positioniert, wurde aber durchaus mit Kunstanspruch („Etude“!) in Beleuchtung und Komposition inszeniert. Die wissenschaftliche Ordnung ist durchsetzt von einem ästhetischen Blick und dem erotisch im Licht modellierten nackten Körper. Für die eifrigen Sammler in Europa, die die Serie vielleicht vollständig sammeln wollten, beansprucht der Text zwar die Taxonomie der Nummerierung und ethnisch-geographischen Zuordnung, verbleibt aber bei einer bloßen Suggestion der besonderen Typik und damit ziemlich vage. Dies ist nur ein Beispiel unter vielen, welche die besondere Textbedürftigkeit der Fotografie belegen und die das Archiv von Fotomaterialien als besonders anfällig für vorgebliche Dokumentationen zeigen.39 Die Datensammlung ethnographischer oder anthropologischer Forschung konnte im 19. Jahrhundert als visuelle ‚Wissenschaft‘ jeder Reisende übernehmen, der mit einer Kamera unterwegs war, und per Fotografie allein konnte er den Anschein wissenschaftlicher Forschung adaptieren: Das Foto war nicht nur Beweis der eigenen Reise („ich war hier“), sondern zugleich ausreichende Begründung für die Wissenschaftlichkeit – seien es Aufnahmen von Missionshäusern, von Plantagen oder Diamantminen, Botanik oder Menschen. Die von Missionar X oder Kolonialbeamten Y geschossenen Fotos verorten sich zwischen dem schon offiziell in der Bildwelt von Presse/Publikationen und Literatur verankerten Vor-Bildern aus der anthropologischen Erforschung der Ko38 39
Vgl. David 1986-88, Inventaire générale. Die jüngste Studie hierzu liefert Axster 2014, Koloniales Spektakel in 9 x 14.
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lonien und der privaten Sicht, den privaten Erlebnissen. Im Fall der taxonomischen Einschreibungen in den Körper der in den Kolonien Unterworfenen ist vor allem die Reduktion auf den Körper immer wieder ein schmerzliches visuelles Erlebnis. Die Entindividualisierung (durch das fehlende Interesse an Namen) betrifft nicht nur die Akteure in den Kolonialfotos, die dem europäischen Typenblick unterzogen wurden, sondern paradoxerweise auch die Portraitfotografie, denen der Text fehlt. Anonyme Portraitfotografie und deren Übergänge zu Typenfotografie zeigen ihre Herkunft aus visuellen Darstellungsmustern der Vermessung, so dass sie eine vermeintliche Wissenschaftlichkeit suggerieren; zugleich entwickeln anonyme Portraits eine eigene Poesie und eröffnen Imaginationen. Die Anordnung der Apparatur kolonialer Fotografie – Menschen werden in einer bestimmten Distanz vor der Kamera aufgebaut und fügen sich in die Prozedur von Beleuchtung, Aufbau und Stillstehen – wird für die Kolonialfotografie seit Sekulas Essay als ein eindeutiges Setting innerhalb einer Machtstruktur verstanden. Fragt man jedoch nach der Situation der Aufnahme, lassen sich in vielen Fotos durchaus Spielräume erkennen. Das Foto, das ein französischer Offizier von einer Männergruppe im südlichen Kamerun 1905/6 machte, wurde 1911 auf dem Titel der Publikation der Ergebnisse einer Forschungsreise (von Antony Cottes) 1905-1908 publiziert.40 An den Rändern des sozial instrumentalisierenden Realismus der Fotografie brechen hier Widersprüche und Zufälle ein (Abb. 4).
4 − Officier Guérin, „Hommes Fong du N’Tem“, in: Antony Cottes, La Mission Cottes au Sud-Cameroun 1905-1908, Paris, 1911, Tafel XVIII 40
Cottesʼ Reise umfasste anthropologische, ethnographische und linguistische Studien, vgl. Cottes 1911, La Mission Cottes au Sud-Cameroun. Das Foto wird auf dem Titel als Ausschnitt und auf der Tafel XVIII unbeschnitten gezeigt.
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Die vier vor der Kamera Postierten sollten als typische Beispiele für Haartrachten, Körperformen und den Brauch der Fong, Holzperlenketten durch die Nase von Ohr zu Ohr zu fädeln, abgelichtet werden.41 Herausgekommen ist allerdings keineswegs ein neutrales Dokumentarbild, sondern eines, auf dem sich vier eng in einer Reihe stehende junge Männer über irgendetwas lustig machen, das außerhalb des Bildes passiert. Die vier Männer, die ganz offensichtlich vom Fotografen disponiert wurden, konnten dem Ernst der wissenschaftlichen Aufgabe offenbar nicht unterworfen werden. Vielleicht reagieren ihre belustigten Mienen auf den zweiten von rechts, der seinen Mund einfach nicht halten konnte und noch schnell etwas sagte, so dass der vom Fotografen angewiesene Blickpunkt zwar gerade noch fixiert, aber das Lachen kaum unterdrückt werden konnte. Hier entstehen vor der Kamera Handlungsräume der Dargestellten, die nicht mit der archivalischen Absicht übereinstimmen, insofern sie aus einem strengen Machtdispositiv ausbrechen und andere Bildaussagen und Erzählungen produzieren. Gleichwohl wählte Cottes sie als Titelbild seiner Publikation aus – man könnte meinen, um die Harmlosigkeit seines Unterfangens zu unterstreichen.
3. Album als Archiv Das Bilderalbum blickt auf eine lange Tradition zurück. Kupferstiche und Zeichnungen in Sammlungen wurden vom 15. Jahrhundert bis weit ins 19. Jahrhundert hinein in Büchern gebunden und geordnet aufbewahrt. Das „Album amicorum“, Freundschaft-, Stamm- und Poesiealben dienten der Sammlung von Begegnungen. Im Album wurden inkohärente Dinge versammelt, die allein durch ihre gemeinsame Präsenz zu einer Erzählung vereint werden konnten. Das Album erlebte im 19. Jahrhundert mit der Fotografie eine neue Blüte und war einer der bedeutendsten Vermittler zwischen kollektivem und privatem Bildgedächtnis.42 Das Album symbolisiert im 19. Jahrhundert für die Fotografie eines der vielfältig einsetzbaren gesellschaftlichen Formen der Erinnerung und Produktion von visuellem (Welt-)Wissen. Schon früh wurden von Expeditionen Alben zur Dokumentation und für den Handel produziert. So gab zum Beispiel der Stabsarzt Dr. Julius Falkenstein, Fotograf der Loango-Expedition nach Kamerun, unter seinem Namen ein ‚populärwissenschaftliches‘ Album heraus, Die Loango-Küste in 72 Original-Photographien (35 Blatt) nebst erläuterndem Texte, Berlin 1876. Zugleich erschien eine aus41 42
Vgl. ebd., 128; die Bildunterschrift lautet: Hommes Fong du N’Tem. Zum Album aus literaturwissenschaftlicher Sicht vgl. Kramer/Pelz 2013 (Hg.), Album, die eine ganze Aufstellung verschiedener Arten von Alben geben. Didi-Huberman stellt dort die These auf, das Album stelle vor allem eine Abstraktion her, mit der die versammelten Fotos in eine „Einheit“ gebracht würden, während der Atlas die Disparatheit betone (Didi-Huberman 2013, Album vs. Atlas). Für die Fotografie betont dagegen die Disparatheit im Album Bann 2011, The Photographic Album as a Cultural Accumulator.
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führlichere wissenschaftliche Dokumentation für die Mitglieder der AfrikaGesellschaft.43 Oben wurde bereits das gemischte Album von Dammann besprochen, in dem sich ebenfalls ökonomische, wissenschaftliche und populäre Interessen verschränkten. Alben verbanden sich eng mit dem Phänomen der Reisefotografie. So produzierte die Hapag-Lloyd AG schon um 1900 für ihre Nordlandfahrten nicht nur Werbealben mit den entsprechenden Fotos der Reiseroute nach Spitzbergen, sondern nach der Rückkehr konnten die Reisenden auch Fotoalben ihrer Fahrt erwerben.44 Reise und Expedition überschnitten sich vielfach wie das Beispiel des privaten Albums eines Münchener Kaufmanns Conrad Bullnheimer „Typen und Trachten aus Westafrika“ aus den 1880er Jahren zeigt.45 Das Familienalbum der Amateurfotografie fand um 1890 größte Verbreitung und wird hier auf eine Populäranthropologie erweitert: Die Fotos vermischen sich mit den Trophäen der Reisefotografie.46 Aber die offene Sammlungsform des Albums war seit Jahrhunderten auch archivalische Geste des Museums. Hier konnten unterschiedliche Taxonomien zum Einsatz kommen. Im Pitt Rivers Museum in Oxford befinden sich zum Beispiel zusammengestellte Fotoalben derart nach Themen sortiert, dass sie dem Vorbild des nach London emigrierten Kunsthistorikers Aby Warburg in Bibliotheksordnung und den thematischen Reihen aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen aus seinem Bilderatlas folgten.47 Im Linden-Museum Stuttgart befinden sich mehrere Alben, die den fotografischen Grundstock der Afrika-Abteilung bilden. In sie sind sowohl vielfältige Schenkungen und Ankäufe von süddeutschen Forschern, Privatleuten, Kolonialbeamten und Militärs eingegangen als auch fotografische Bestände anderer Museen. Karl Graf zu Linden (1838-1910) war seit 1882 Vorsitzender des „Württembergischen Vereins für Handelsgeographie und Förderung Deutscher Interessen im Ausland e.V.“. Er nahm in den 1880er Jahren, unter Einsatz seines Privatvermögens, die gesamte Planung einer ‚völkerkundlichen Sammlung‘ in einem Museum für Stuttgart in die Hand, das schließlich 1911 eingeweiht wurde.48 Ende der 43 44 45
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Vgl. Schneider/Röschenthaler/Gardi (Hg.) 2005, Fotofieber, 33. Vgl. den Ausstellungskatalog Kinzler/Tillmann (Hg.) 2010, Nordlandreise. Vgl. die Ausstellung der Alben in der Walther Collection, Neu-Ulm. Ich danke Artur Walther für die Einsicht in die bislang noch gänzlich unerforschten Alben. Vgl. den Ausstellungskatalog Garb 2013 (Hg.), Distance and Desire. Vgl. Frizot 1998, Neue Geschichte der Fotografie, 679. Vgl. Morton 2012, Photography and the Comparative Method. Hier werden auch direkte Kontakte zwischen der Bibliothek Warburg in London über Gertrud Bing und dem Pitt Rivers Museum in Oxford dargelegt. Der Vorläufer des Linden-Museums war in der Stuttgarter Gewerbehalle als Handelsgeographisches Museum untergebracht. Am 28. Mai 1911 wurde daraus mit einem Neubau das Linden-Museum Stuttgart, das zu diesem Zeitpunkt eine Sammlung von über 60.000 Objekten besaß. Graf zu Linden starb 1910 noch vor Fertigstellung des Gebäudes. Das Museum ging somit aus einer privaten Initiative hervor, die zunächst wirtschaftlich orientiert war. Zur Afrika-Sammlung des Linden-Museums siehe Zwernemann 1970, Short Survey on African Art, 14-23 und 90.
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1920er Jahre begannen Mitarbeiter des Linden-Museums, die Fotoarchive zu orden und legten die Alben an, die im Folgenden besprochen werden sollen. In den meisten Fällen ist nicht dokumentiert, wer die Aufnahmen machte, manchmal ist nur die Herkunft überliefert (zum Beispiel aus dem „Kolonialmuseum Berlin“, dessen Bestand 1917 auf verschiedene Völkerkundemuseen in Deutschland verteilt wurde).49 Auch private Sammlungen sind nachweisbar: z. B. gibt es aus den Händen des Kolonialbeamten Adolf Diehl ein Konvolut von Fotos aus Togo (1884-1914 Deutsches „Schutzgebiet“) und Nigeria. Diehl war Generalbevollmächtigter der Gesellschaft „Nord-West-Kamerun“, die in Berlin ansässig war. Die Fotosammlung Diehl wurde in der Klassifikation des Museumsarchivs analog der Geographie einsortiert, die Alben des Archivs sind insgesamt analog der Systematik des Museums geographisch nach Ländern geordnet. Damit wird der persönliche Zugriff der Fotografien der landeskundlichen Ordnung im archivalischen Album untergeordnet und als Aussage über die entsprechende Gegend der Sammlung eingegliedert. Mit dem Vermerk der Sammlung ist jedoch noch nicht bekannt, wer die Fotos machte und ihre Entstehungsumstände. Eigenhändige Fotos stehen auch in den privaten Sammlungen neben erworbenen Fotos oder Postkarten, die man vor Ort oder in Europa (bei Fotohändlern oder auf Weltausstellungen) kaufen konnte. Aus den Fotos der Sammlung der Gräfin zu Linden wurden mehrere Seiten mit Fotos und Postkarten aus dem belgischen Kongo montiert – pittoreske Ausschnitte, deren Bildrhetorik äußerst plakativ war: die legendäre (brutale) Elfenbeinausbeute im Kongo oder der von den Trägern in einer Sänfte durch den Urwald geschaukelte „Colon“. Aufnahmen von Schießständen und Großwildjägern gehörten in den Kolonien zum gängigen Bildvokabular.50 Warum und wie die Fotos in die Sammlung der Gräfin kamen, bleibt ungewiss. Im Archiv des Lindenmuseums bleiben sie Teil des kolonialen Dispositivs und seiner imperialen Imaginationsfläche Afrika, Fotograf und fotografierte Weiße teilen offenbar eine gemeinsame Perspektive (Abb. 5).
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Ich danke Hermann Forkl für die Informationen zu den Fotografien. Das Kolonialmuseum in Berlin ging aus einer Gewerbeausstellung von 1896 hervor, die für die deutschen Kolonien werben sollte und bestand von 1899 bis 1915. Vgl. van der Heyden 2012, Kolonialmuseum in Berlin, sowie ders./Zeller 2002, Kolonialmetropole Berlin. Die Herkunft der Fotos ist unklar, vermutlich stammen sie aus dem Nachlass der 1914 verstorbenen Gattin (geb. Marie Beck) des Grafen Karl Heinrich von Linden, möglich könnte eventuell auch eine Herkunft aus einer allerdings unbekannten Sammlung von Gräfin Maria Anne von Linden sein, einer Nichte, die 1910 in Bonn zur ersten Titular-Professorin der Naturwissenschaften in Deutschland ernannt wurde. Keine von ihnen war je in den Tropen.
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5 − Seite mit anonymen Fotografien: „Centralafrika (Belg. Congo, Blatt 44, Sammlung Gräfin Linden)“, Afrika-Alben, Lindenmuseum Stuttgart
Anders jedoch scheint der Fall bei den Fotografien der Einheimischen zu liegen. In den wenigsten Fällen sind Namen der fotografierten Einheimischen dokumentiert. Die ersten Fotostudios eröffneten Weiße in den 1860er Jahren in großen Städten und Handelsmetropolen wie Accra, Lagos, Freetown, Kapstadt, in Port Said am Suezkanal oder auf Sansibar. Schon in der zweiten Generation kamen auch einheimische Fotografen hinzu ebenso wie Wanderfotografen. Über die ersten schwarzen Fotografen bestehen noch immer große Forschungsdesiderate, der togolesische Fotograf Alex A. Akolatse (1880-1975)
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zum Beispiel eröffnete sein Studio in Lomé bereits 1914. Die „Photographische Gesellschaft“ von Lomé vereinte zu dieser Zeit togolesische und eingewanderte Fotografen.51 Portraitieren ließen sich keineswegs nur die Kolonialbeamten, sondern auch Einheimische – Händler, Könige und andere, die es sich leisten konnten. Die Gelegenheiten und die Umstände der Entstehung dieser Studiofotografien sind nach wie vor im Einzelfall zu klären.52
6 − Zwei Anonyme Fotografien: „König Akufo in Akropong, (Nordwestafrika II, Goldküste, Sammlung Lang, Blatt 18)“, Afrika-Alben, Lindenmuseum Stuttgart
Auf einer Fotoseite eines Albums im Lindenmuseum ergänzen sich zwei in einem der Fotostudios der Goldküste (dem heutigen Ghana, damals unter britischer Kolonialherrschaft) aufgenommene Häuptlingsportraits mit einer Außenaufnahme, die den König Akuffo (Akufo) in seinem Hauptlager in Akropong zeigt (Abb.6). „Studiofotografie“ heißt insofern nicht vielmehr als ein posiertes Foto vor einem mehr oder weniger gestalteten Hintergrund. Die Bilder finden sich auch im Fundus der Basler Mission und müssen vor 1907 entstanden sein.53 Die Inschriften auf der Seite des archivarischen „Albums“ im 51 52 53
Vgl. Saint Léon 1999, Anthology of African and Indian Ocean Photography, 46 und das Foto auf Seite 42. Einführend hierzu Oguibe 1996, Photography and the Substance. Akuffo demissionierte 1907, es existieren im Fundus der Basler Mission auch Fotos des Leibpagen von Akuffo, die vor dem gleichen Hintergrund geschossen wurden. Vgl. das im Internet verfügbare Fotoarchiv der University of Southern California: http://digitallibrary.usc.edu/cdm/
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Lindenmuseum verweisen auf die „Sammlung Lang“ und auch auf den Besitz von Glasnegativ-Platten, für die eine weitere Nummer vermerkt ist. Ein Mitarbeiter der German Factory Chevalier & Co., mit Sitz in Addah (Goldküste/Ghana) und Stuttgart, Otto Lang, sammelte oder schoss vermutlich selbst Fotos auf seinen Reisen für seine Handelsfirma. Sie waren Beweismittel und Dokumentation im ökonomischen System, konnten aber auch zugleich persönliche Erinnerung sein. Von einem vielleicht achtjährigen Jungen gibt es zwei Fotos, eines in europäischer Livrée und Dienstmütze neben dem Pult mit Schreibarbeit posierend, im Hintergrund die europäische Staffage aus gefältelten Vorhängen und Landschaftsausblick, sowie ein zweites Foto (ein „Schnappschuss“?), auf dem er die Bücher auf seinem Kopf balanciert und somit als kleiner Gehilfe des Kontoristen imaginiert werden kann. Auch er bleibt namenlos. Damit ergibt sich nach Foucault gleich eine ganze Staffel von „infamen Menschen“, die an der heutigen Erscheinung dieser Alben und ihren Gesten des Dokumentierens beteiligt sind: die Fotografierten, der Fotograf sowie der Sammler, Käufer oder Auftraggeber von Fotos und schließlich die nachfolgenden Archivare, die beschriften. In manchen Fällen blieben alle Beteiligten in allen Stationen der Überlieferung anonym und allein das Bild ist Zeuge, es ist die „nouvelle“, mit der diese Menschen im Netz der Geschichtsschreibung hängenblieben. Das Wiedererkennen von Gesichtern auf verschiedenen Fotos im Archiv erzeugt beim Betrachter sofort Ansätze zur Bildung von Geschichten: eine Abfolge wird imaginiert, die Bilder scheinen sich gegenseitig zu kommentieren, selbst wenn der Name nicht überliefert ist, entsteht der Ansatz einer Vorstellung einer individuellen Erzählung. Die zwei Fotos des achtjährigen Jungen kommentieren und relativieren sich gegenseitig. Das Wiedererkennen von Individuen führt die Aufnahme für den Betrachter zurück in das bürgerliche Genre der Portraitfotografie. Die Frage danach, wer hier dargestellt ist, könnte uns nur ein überlieferter Text beantworten, der in zahllosen Fällen wie diesem eben nicht existiert. Was der Anlass des Fotos war, lässt sich nur aus solchen Reihungen herauslesen und durch Archivrecherche, die im Fall Otto Lang bislang ohne Ergebnis verlief, rekonstruieren.
4. Text und Bild Es ist vielfach betont worden, wie textbedürftig die Fotografie ist. Gerade weil Fotografien eine Fülle ungesteuerter visueller Informationen übermitteln, ist sie für multiple bis hin zu diametral entgegengesetzten Interpretationen offen. Fotografie als Medium der Archivierung trägt also dessen Scheitern schon in sich. Auch im Album spielt der Text, der die Fotos begleitet, ein große Rolle, singleitem/collection/p15799coll123/id/7121/rec/2, zuletzt aufgerufen am 18.05.2015) Es existieren m. W. keine Informationen über das Fotostudio.
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sei es als persönlich gesprochene Erzählung der Erinnerung oder als schriftlicher Kommentar. Ich möchte zeigen, dass die Bilder den Text nicht illustrieren. Vielmehr ist es, wie Roland Barthes formulierte, der Text, der die Fotos „parasitär besiedelt“, so dass bestimmte Lesarten favorisiert, andere weitgehend ausgeschlossen werden.54 Dieses Verhältnis zwischen Bild und Text ist für die weitere Archivierung der Fotografien grundlegend. Die gängige Praxis war bei den meisten Alben, die auf der Rückseite des Fotos notierten Informationen über das „Was, wann, wo“ oder die eigenen Interessen am Motiv auf die Seiten des Albums zu übertragen. Auf diesen Informationen baut jede weitere Überlieferung auf. Der Text erschließt die Absicht seines Autors und den Erwartungshorizont der Gesellschaft. Die Beschriftung des Fotoalbums ist, mit Maurice Halbwachs gesprochen, ein Versuch, individuelle Spuren der Erinnerung in Formen kollektiver Erinnerung zu überführen, der Text arbeitet an einer Kommunizierbarkeit der Erfahrungen, schreibt sich Wahrnehmungsmustern ein und objektiviert das Fotografierte oder verallgemeinert es zumindest. Diese Besiedelungsstrategien im Rahmen einer Kollektivierbarkeit möchte ich an einigen Beispielen ausführen.
7 − Anonyme Fotografie: „Togo-Weib. Frau eines Europäers (Nordwestafrika I, Togo, Smlg. Diehl, Blatt 44)“, Afrika-Alben, Lindenmuseum Stuttgart 54
Barthes 1961, Le message photographique, 134: „[L e texte constitue un message parasite, destiné à annoter l’image, c’est-à-dire à lui ‚insuffler‘ un ou plusieurs signifiés seconds. Autrement dit, et c’est là un renversement historique important, l’image n’illustre plus la parole; c’est la parole qui, structurellement, est parasite de l’image“ (dt. Barthes 1990, Fotografie als Botschaft).
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Im Fall des Expeditionsreisenden oder des ethnographisch-botanisch Interessierten, wie im Fall des deutschen Kolonialbeamten Diehl, findet sich das Foto einer halb bekleideten Frau, frontal vor einem Zelteingang. Es trägt nicht nur eine Inventarnummer „A.C. 91.1796“ – die auf ein Negativ im Archiv verweist, sondern auch einen Titel, dessen Informationsgehalt eine Fülle von möglichen Geschichten aufruft: „Togo-Weib, Frau eines Europäers“ (Abb. 7). Einerseits wird hier durch den Text etwas in den Körper der Dargestellten eingeschrieben: der sexuelle Kontakt zu einem Europäer, eine Art Besitzverhältnis. Das Foto bekommt allein dadurch etwas Denunziatorisches. Zudem ist die Haltung der Frau vor der Kamera ganz offensichtlich durch den Fotografen bestimmt. Sie ist denen der Anthropometrie durch Standpunkt der Kamera und Position der Fotografierten noch entfernt ähnlich. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass der Text hier in die individuelle Erinnerungskultur zurückgeht und der Fotograf selbst vielleicht jener genannte Europäer ist – damit erhielte das Foto womöglich den Status einer im Rahmen des kolonialen Dispositivs positiv besetzten ‚Trophäe‘, getarnt durch den Text und sein anthropologisierendes Setting.
8 − Anonyme Fotografie: „Boraginaceae. Trichodesma Dekindtianum (m. Gürke), (Westafrika I, Angola, Botanik, Blatt 4)“, Afrika-Alben, Lindenmuseum Stuttgart
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Eine Seite aus der Abteilung Botanik, dem Paradebeispiel der Buffon’schen Taxonomie für Foucault55, zeigt eine Zusammenstellung von Fotos aus dem Kolonialmuseum in Berlin mit fotografisch dokumentierten Pflanzen. Der Text zum Foto „No. 297“ lautet: „Borraginaceae. Trichodesma Dekindtianum (m. Gürke)“. Zusätzlich zur botanischen Klassifikation zu den Borretschgewächsen (Boraginaceae) jedoch schreibt sich die fotografische Technik in das „epidermische Schema“ (Fanon) ein: Die Aufnahme der weißen Lilien ist nur möglich, weil mehrere der Begleiter sich hinter die weißen Blüten gesetzt haben und quasi mit ihrer schwarzen Haut den für die Apparatur nötigen Kontrast abgeben. Geradezu paradigmatisch wird der Körper der Schwarzen als entindividualisierte schwarze Folie interpretiert, die hier der europäischen Botanik zu Diensten gemacht wird. Ohne den Kontext verliert sich die archivierende botanische Lesart des Fotos nunmehr in der kolonialen Geste – der Text hat die Macht über das Bild verloren –; das Foto stammt aus dem Fundus des Botanikers Hugo Baum von der Kunene-Sambesi-Expedition von 1899 bis 1900 durch Angola. Es wurde in seinem Forschungsbericht 1903 publiziert und sogar auf den Tag genau datiert.56 Baum fokussiert auf seine botanischen Interessen. Auch in anderen Fällen werden die Einheimischen, die man zur Begleitung einer Expedition angeheuert hat, zwar deutlich ins Bild genommen, neben Bäumen und vor Flusslandschaften, sind in der Sprachregelung der Zeit und aus dem Interessenhorizont von Expeditionen jedoch nicht formulierbar. Ein solches Foto folgt zwar den ästhetischen Traditionen des europäischen Portraits, im Vordergrund der Dargestellte, im Hintergrund üppige Vegetation am Flussufer. Die Lesweise des Botanikers weicht von der des Fotografen ab. Sollte der Begleiter der Expedition mit ins Bild, um der Vegetation eine menschliche Maßstäblichkeit zu geben? Oder wollte er vielleicht ins Bild, weil ihm der Akt der Fotografie gefiel? Welchen Anteil hatte der Fotograf, welchen der Fotografierte? Es ist der Text, der hier entscheidet, ohne jedoch den Fragen nach dem Ereignis der Fotografie, dem fotografischen Akt, Antwort geben zu können (Abb. 8).57
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Foucault 1971, Ordnung der Dinge. Vgl. Heintze 2007, Deutsche Forschungsreisende, 121-124. Heintze vermutet, dass die Fotografien von Pieter van der Kellen stammen, der die Expedition leitete (ebd., 121). Baum/Warburg 1903, Expedition, 348, schreiben zu dem Foto: „Zerstreut auf trockenem Moorboden, in der Maramba bei Kuelleis, 1400 m ü. M., (Nr. 234, blühend am 5. Oktober 1899). Eine Staude von 20-40 cm mit zart hellblauen Blüten. Verbreitung: Afrika (Benguella).“ Baum war einer der bedeutendsten deutschen Botaniker, er lebte von 1867 bis 1950. Sein Auftrag war die ökonomische Ausbeutbarkeit des südlichen Angola zu bewerten, so finden sich umfangreiche Schilderungen über die Kautschukgewinnung in Baums Bericht. Neuere Forschungen haben sich der Präsenz und biographischen Recherche der Helfer und Begleiter der europäischen Wissenschaften zugewandt, die im Fotomaterial meist namenlos bleiben. Vgl. Shepard 2003, ‚When the Hand that Holds the Trowel is Black ...‘.
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5. Santu Mofokeng: „The Black Photo Album/Look at me“ Der südafrikanische Fotograf Santu Mofokeng (1956*) führte Anfang der 1990er Jahre eine Archivrecherche in einem Forschungsprojekt an der University of Witwatersrand in Johannesburg durch. Es ging darum, sowohl Portraitfotografien von schwarzen Bürgern Südafrikas aus der Zeit von 1890-1950 zu recherchieren als auch ihre Identitäten wieder zu finden. Bei Familien, bei Nachfahren und in öffentlichem Besitz wurden Fotos recherchiert, die zu einem Großteil in die Zeit vor der Apartheidspolitik Südafrikas zurückführten. Dabei ging es darum, sowohl das Bild des in Slums oder Strohhütten lebenden afrikanischen ‚Eingeborenen‘, das vor allem durch die Fotografie der Kolonisatoren entstanden war, zu korrigieren als auch der Zeit vor der Apartheid eine wichtige visuelle Facette zurückzugeben: Es gab bereits um 1900 eine städtische, wohlhabende Schicht von dunkelhäutigen Südafrikanern, die sich der Rassenideologie entzogen, indem sie ihre Zivilisiertheit betonten – und zwar gerade in den Formen der europäischen Fotografie. Viele dieser Menschen aus der kleinen Bourgeoisie waren in Missionarsschulen ausgebildet, sie hatten es zu etwas gebracht und lebten ein Leben, das sich nicht allzu sehr von demjenigen der europäischen ‚Immigranten‘ unterschied. Die Fotografie und ihr Schatten haben in den südafrikanischen Sprachen Sotho und Zulu eine Bandbreite von Bedeutungen, die sich im Verständnis der Fotos spiegeln.58 Was in der älteren Sicht der Forschung vielleicht allein als eine Unterwerfung unter das fotografische Schema des kolonialen Machtdispositivs interpretiert wurde, ist in der neueren Forschung (und in der südafrikanischen Perspektive) nunmehr auch eine aktive Aneignung der Technik und des bürgerlichen Standards sowie ein erworbenes soziales Kommunikationsmittel. Die Kenntnis derartig alter Fotos hat in etlichen Ländern vor dem Hintergrund der besonderen Geschichte der Fotografie in Afrika (in der das Fotoalbum bis heute große kommunikative Bedeutung hat) den Status einer Art Gründungslegende. Sie spiegeln zugleich für Santu Mofokeng seine eigene schizophrene Biographie („jener bizarre Cocktail“ aus katholischem Glauben, heidnischen Riten und spiritistischen Einflüssen), um somit auch allegorische Bedeutung zu bekommen für die aktuelle Lebenswirklichkeit.59 Mofokeng hat der 1997 fertiggestellten Präsentation seiner Fotorecherche mit Absicht die originalen Abzüge entzogen und sie stattdessen in eine digitalisierte Form gebracht, die in einer Diaprojektion von schwarz hinterlegten Zwischentiteln unterbrochen werden. Er wollte mit seiner Arbeit nicht in die Nähe einer Wiedergutmachung geraten. Die Zwischentitel thematisieren eben jene Fragen, die er trotz der Recherche in den meisten Fällen kaum beantworten konnte und auch in den europäischen Archiven eine leere Folie bilden: 58 59
„Shadow“ bedeutet: „Aura, presence, dignity, confidence, strength, spririt, essence, prestige or wellbeing, experience of being loved or feared.“ Mofokeng 2011, Chasing Shadows, 108. Ebd.
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„Who’s gazing? What was the occasion? Who were these people? What were their aspirations? What is going to happen to those aspirations at the end of twentieth century South Africa? Are these images evidence of mental colonisation or did they serve to challenge prevailing images of ‚The African‘ in the Western World?“60 Es gelang ihm nur teilweise die Namen der Dargestellten und ihre Familien zu identifizieren und nur selten diese alles entscheidenden Fragen für die Geste des fotografischen Dokumentierens zu beantworten. Sahen Enwezor und Firstenberg noch vor allem die Diversität der Portraits, so kommt Jennifer Bujorek zu dem Ergebnis, dass in der Installation des Black Photo Album, nicht die Stimme der Fotografen und der Fotografierten zu hören sei, sondern diejenige Mofokengs selber (Abb. 9).61
9 − Santu Mofokeng, Seite aus: „The Black Photo Album“, 1997 60
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Mofokeng 2013, The Black Photo Album; Jennifer Bajorek wies darauf hin, dass die wenigsten der recherchierten Fotografen schwarze Südafrikaner waren, vgl. Bajorek 2013, Then and Now, 218. „It follows that the most conspicuous authorial hand and voice in the project is not that of any of the photographers, but it is instead Mofokeng’s“ (ebd.).
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6. Der leere Blick und das fotografische Ereignis Die Rezeptionsgeschichte der Fotos zeigt, wie offen sie für neue diskursive Formationen sind. Parasitäre Besiedelungen eröffnen die Resonanzräume jeder Zeit und für jeden ‚Autor‘ neu, sie sind in historischer Perspektive geradezu ein Aufruf dazu, die eigene Zeit kritisch zu hinterfragen und im Sinne von Foucaults Rettung des großen Unternehmens „Aufklärung“ die Archivmaterialien mit neuen Forschungen und Interpretationen zu aktualisieren. Weniger auf die legalistische Auffassung des Individuums, die Sekula im Anschluss an Foucault hinter der Fotografie situierte, sollte hier abgezielt werden, als vielmehr auf die Möglichkeit des selbstinszenierten Spektakels im Sinne dessen, was Foucault als theatralen Aktionsraum der infamen Menschen in den Lettres de Cachet gefunden hatte.62 Dessen konkreter Ort ist in den wenigsten Fällen am Foto ablesbar, allerdings in einem Foto dokumentiert, das den fotografischen Akt eines Fotografen als Portraitist auf spektakuläre Weise zeigt.
10 − Anonym: „Antonio Freitas, premier photographe à la minute Congolais à Bena Mulumba (Kasaï)“, 1930er Jahre
Das Foto schaut dem in Angola geborenen Antonio Freitas (1919-1990), der ab 1935 als erster kongolesischer Wanderfotograf tätig war, bei der Arbeit zu.63 Man sieht sowohl den operator mit seiner Kamera als auch links eine repräsentativ positionierte Gruppe von vier Frauen, die sich für die Aufnahme 62 63
Foucault 2001, Das Leben der infamen Menschen, 24-26 und 40-41 sowie zur Theatralität der Infamie Geisenhanslüke 2006, Tragödie und Infamie, 100-104. Bouttiaux/Pivin/Saint Léon/DʼHooghe 2003 (Hg.), L’Afrique par elle-même, 26-29. Freitas war von einem europäischen Missionar ausgebildet.
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herausgeputzt hat. Ganz links, hinter ihnen, kann man einen drapierten Hintergrund erkennen, den der Fotograf der zeitgenössischen Mode entsprechend verwendet: Arkadenbögen einer antikisierenden Neo-Renaissance-Kulisse mit Landschaftsausblick, ein europäisches Historismusvokabular, das eng mit der Portraitfotografie verbunden war und auch eine Würdeformel für Fotograf und Fotografierte darstellte. Als Ort des fotografischen Ereignisses sieht man jedoch kein abgeschiedenes Fotostudio, sondern das ganze Dorf, das dem fotografischen Akt beiwohnt. Fotografie findet hier als Gemeinschaftsereignis statt, die Inszenierung besteht keinesfalls nur für das Foto, sondern der Fotograf und die Fotografierten spielen ihre Rolle in einer komplexen sozialen Situation, von der wir angesichts des späteren fotografischen Ergebnisses – einem Gruppenfoto von vier Frauen vor Kulisse – nichts mehr werden ahnen können. Stellt man sich dieses (unbekannte) Foto, was hier gerade entsteht, vor, kommen ähnliche Fragen auf, wie sie von Mofokeng gestellt wurden: Wer fotografierte? Wer schaute? Was war die Bildgelegenheit? Wie sehr sind die Fotografierten der mentalen Kolonisierung unterworfen? Einige dieser Fragen können hier am Bild beantwortet werden, weil das eigentliche Bildthema der fotografische Akt ist (Abb. 10). Die In-Famie, im Sinne des „keine Nachrede erhalten“, und der Marginalisierung aus dem Text von Foucault verweisen uns auf die Infamie des Fotos: die Fotos folgten im Schatten der Anonymität des spectrums dem Blick der Inkriminierung von Unbekannten. Ihre Produktionsbedingungen dokumentierte man nur in den seltensten Fällen, ihre Auftraggeber, Sammler und Dokumentaristen bleiben häufig im Dunkel der Geschichte verloren. Die Fotografien in den Alben der Kolonialzeit sind sowohl Ort der Spur einer Dokumentation von Individuen wie auch Mahnmal der so zahlreich verloren gegangenen historischen Namen des spectrums, des operators, des collectors. Sie sind Dokumente „wider Willen“64 und ein „Nicht-Ort“, der visuell den Raum des Sagbaren – über die mit Text bereits besiedelten Gebiete hinaus – öffnet und anderen Gesetzen folgt. Jede dem Album folgende Geste des Sammelns, jede Geste des Dokumentierens wird diesen Raum neu interpretieren.
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Vgl. Paul Ricoeurs Weiterentwicklung dieser Formulierung Marc Blochs (Ricoeur 2009, Archiv, Dokument, Spur).
TAFELTEIL
JACQUELINE BAUM & URSULA JAKOB CONNECTED IN ISOLATION (2014-2015)
Tafel 1: Detailansicht: Fotogramm Orchideenklone aus dem Projekt Connected in Isolation, 220 cm x 120 cm, Ausstellung „Bildergarten“, Neues Museum Biel, 2015. Tafel 2: Installationsansicht: Fotogramm Orchideenklone aus dem Projekt Connected in Isolation, 220 cm x 120 cm, Ausstellung „Bildergarten“, Neues Museum Biel, 2015.
MATTHIAS MEGYERI HANGINGS (SEIT 2009)
Tafel 3: Matthias Megyeri, Hanging #30, Strasbourg, 2010. Tafel 4: Matthias Megyeri, Hanging #24, Budapest, 2010.
HEIDEMARIE VON WEDEL LIBRARY, 2012-2014
Tafel 5: Heidemarie von Wedel: Seite aus „Library. Vom Verschwinden der Bücher in einem Buch und vom Verbleib einiger Titel“, Serie „storage“ (Block 2), 2014, Fotografie, BUCHBLOCK, offene Fadenheftung, 23 x 32 cm, 84 Seiten, Digital Fine Art Print auf Cyclus Offset, Epreuve d’artiste, Stuttgart: UND EINS, 2014. Tafel 6: Heidemarie von Wedel: Seite aus „Library. Vom Verschwinden der Bücher in einem Buch und vom Verbleib einiger Titel“, Serie „notes“ (Block 1), 2014, Fotografie, BUCHBLOCK, offene Fadenheftung, 23 x 32 cm, 84 Seiten, Digital Fine Art Print auf Cyclus Offset, Epreuve d’artiste, Stuttgart: UND EINS, 2014.
MARIA HANL „FALTENRÖCKE“ (2013) AUS DER SERIE OPTIMIZE ME
Tafel 7: „Faltenröcke“ aus der Serie optimize me, Installation Wuk, Projektraum/Wien, 2013.
GEORGE STEINMANN MINDMAPS (1995-)
Tafel 8: „Nachweispapier“ 2000/2001, Heidelbeersaft, Kugelschreiber auf Papier, Format A4. Tafel 9: „The Knowledge of Art“ 2013, Heidelbeeersaft, Antiseptikum, Zitronensaft, Tempera mit Heidelbeersaft, Kugelschreiber auf Papier, Format A4. Tafel 10: mindmaps 1999-2002, Installationsansicht im Helmhaus Zürich 2007, 189 Blätter, Format je A4; Heildelbeersaft, Brombeersaft, Himbeersaft, Zitronensaft, Antiseptikum, Leinöl, Wilde Rebe.
SUSANNE KOMFORT-HEIN
ZUR PHYSIOGNOMISCHEN (UN)LESBARKEIT DES MENSCHEN ZWISCHEN „EIGENTLICHSTEM WESEN“ UND FOTOGRAFISCHER SERIE: MAX PICARDS MENSCHENGESICHT UND AUGUST SANDERS ANTLITZ DER ZEIT
1929 erscheint Max Picards physiognomische Studie Das Menschengesicht, die in ihrem zeitgenössisch diskursiven Umfeld eine eigentümlich ambivalente Position einnimmt: einerseits in ihrem theologisch-spekulativen Duktus merkwürdig unzeitgemäß, gar ignorant gegenüber der „visuellen Kultur der Zeit“1, andererseits zugleich symptomatisch für eine seit der Jahrhundertwende stetig wachsende „Konjunktur der Sichtbarkeit“2 beziehungsweise der Physiognomik in den 1920er Jahren. Picard sucht, im Anschluss an die alte Physiognomik Lavaters, das „Menschengesicht“ in seiner vermeintlichen Gottesebenbildlichkeit gleichsam gegen seine zeitgenössischen Medialisierungen aufzubieten und seine physiognomische Lesbarkeit durch das menschliche Auge (gegen das der Kamera) noch einmal zu beschwören. 29 Bildtafeln mit Reproduktionen historischer Portraits großer charismatischer Individuen (u. a. Herrscher- und Künstlergesichter von Caesar, Spinoza, Paracelsus, Bach, Mozart, Hölderlin, Flaubert, Droste-Hülshoff etc.) formieren sich zu einer exklusiven Galerie des Menschengesichts, das bei Picard unweigerlich zu einem geschichtlichen geworden ist, seine Gegenwärtigkeit im 20. Jahrhundert verloren hat. Im selben Jahr publizierte der Fotograf August Sander seinen Fotoband Antlitz der Zeit. Sechzig Aufnahmen deutscher Menschen des 20. Jahrhunderts mit einem Vorwort Alfred Döblins, die erste Auswahl an Fotografien im Rahmen eines unvollendet und zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen großen fotografischen Projekts über Menschen des 20. Jahrhunderts, das sich im Hinblick auf die technisch-medialen Möglichkeiten der physiognomischen Archivierung des Menschen auf der Höhe seiner Zeit bewegt und mit seinem Fokus der typenbildenden Inventarisierung des Menschen im Kontext einer verwissenschaftlichten und institutionalisierten physiognomischen Konjunktur zu betrachten ist. Aus 60 Aufnahmen zeitgenössischer Menschen unterschiedlicher sozialer Zugehörigkeit und Lebensräume wird im Tafelteil ein „Antlitz der Zeit“ montiert, das sich der weitgehend anonymisierenden, typisierenden 1 2
Löffler 2002, ,Ein Dichter sieht aus wie ein Chemiker‘, 154. Person 2005, Der pathographische Blick, 190.
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Zusammenschau von Einzelportraits verdankt und im individuellen Einzelnen das Exemplarische entdeckt. Auch bei Sander gehorcht das, was zu sehen ist, einer normierenden Auswahl, ist das, was genaue empirische Beobachtung suggeriert, in erster Linie auch als Resultat einer spezifischen künstlerischen Gestaltung zu betrachten. Picards und Sanders Verhandlungen physiognomischer Lesbarkeit des Menschen sind sich in mancher Hinsicht ähnlicher als es auf den ersten Blick sichtbar ist: Die auf Abwehr der Moderne eingestellte Rückwärtsgewandtheit in Picards Menschengesicht entzieht sich ebenso wenig einer (kulturkritischen) Inventur der Gegenwart wie Sanders Bilderfolge umgekehrt seine fotografische Katalogisierung des zeitgenössischen Menschen einer Erzählung folgen lässt, die wiederum auch ‚vor‘ den aktuellen Ausdifferenzierungen und Umbrüchen der modernen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts nach einem Ursprünglichen, allgemein Menschlichen sucht, womit seine u. a. von Döblin als avantgardistisch gefeierte Soziologie in Bildern auch in einem überraschend konservativen Licht erscheint.3 Ob im Glauben an eine physiognomische Hermeneutik, die die Lesbarkeit des Menschen wie bei Picard allein dem menschlichen Auge zutraut, oder im Zeichen eines optischen Evidenzversprechens der fotografischen Bilder: In beiden Fällen muss den Bildern buchstäblich erst zur Sprache verholfen werden.
Die (alte) neue Physiognomik: Zu einer Konjunktur um 1900 Physiognomik scheint für das beginnende 20. Jahrhundert das Versprechen mit sich zu führen, auf einem krisenhaften, unübersichtlichen Terrain gesellschaftlicher Modernisierung, sozialer Desorientierung und kulturellen Umbruchs, in der flüchtigen, dissoziierten menschlichen Wahrnehmungswelt eine ordnende wie Orientierung sichernde Deutungshoheit zurückzugewinnen. Der physiognomische Zugriff rückt den Menschen in ein Spannungsfeld konkurrierender Vergegenwärtigungen seiner Sichtbarkeit(en): So wird das spekulative Vokabular der Lesbarkeit der Welt bemüht, das sich noch auf das Subjekt richtet, wird das auf politisch praktische Konsequenzen zielende rassistisch perfektionierte „Projekt der Auslese“4 betrieben, werden unveränderlich statische Merkmale physiognomischer Differenzen gesucht oder Physiognomien als bewegliche, dynamische und soziokulturell geprägte lesbar gemacht. Die obsessiven Bemühungen um eine Lesbarkeit des Menschen befördern eine Inflation der Zeichen, die den Fremden, den Anderen in dem Maße transparent zu machen und im Bild zu fixieren suchen, in dem sie zugleich ein Wissen um die Performativität von Identitäten zur Schau stellen. 3
4
Als „Grundanliegen“ seines großen enzyklopädischen Projekts stellen Susanne Lange und Gabriele Conrath-Scholl diesen Aspekt heraus: Sander 2002, Menschen des 20. Jahrhunderts, 26. Dazu u. a. auch Nusser 2014, ,Das Menschengesicht ist heute ohne Gegenwärtigkeit‘ und Brückle 2000, Kein Portrait mehr? Schmölders 1995, Das Vorurteil im Leibe, 33.
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Die Hochkonjunktur der Physiognomik betrifft jedoch nicht allein das Interesse an einer Archivierung des ‚lesbaren‘ Menschen. Vor allem in den 1920er Jahren zeigt sich Physiognomik in einer kulturdiagnostischen Perspektive, in hermeneutischen Lektüren eines ‚Ganzen‘, das hinter den bruchstückhaften, heterogenen Phänomenen der Gegenwart aufgesucht wird, sei es in Gestalt konservativer oder linksintellektueller Kulturkritik. Die seit Ende des 19. Jahrhunderts wachsende Konjunktur des Sammelns menschlicher Physiognomien und anthropometrischer Klassifikationen steht insofern im Zusammenhang mit einem sich ausweitenden Gegenstandsbereich der Physiognomik, die sich von der einst auf das Einzigartige in der Gestalt eines Menschen gerichteten Aufmerksamkeit zu einer Erkundung der fragmentierten Oberflächen gesellschaftlicher Gegenwart verlagert hat, um letztlich das Antlitz der eigenen Epoche in der „Wechselbeziehung zwischen geprägter Form und prägendem Inhalt“5 zu entziffern. Bei Georg Simmel liest man bereits im Jahr 1903 die notwendigen Koordinaten physiognomischer Renaissance in der Moderne: Die „ganze Aufgabe dieser Betrachtungen“ sei es, „daß sich von jedem Punkt an der Oberfläche des Daseins, so sehr er nur in und aus dieser erwachsen scheint, ein Senkblei in die Tiefe der Seelen schicken läßt.“6 Das physiognomische Sehen ist in Simmels kulturtheoretischen Überlegungen von der Aufmerksamkeit auf die Oberflächen einer von grenzenloser Funktionalisierung durchdrungenen Welt ohne Zentrum geprägt, in der „die Farblosigkeit und Indifferenz“ des Geldes sich zum „Generalnenner aller Werte aufwirft“7. Die anschaulich metaphorische „Farblosigkeit“ des Geldes bereitet nicht nur sein Argument eines „Überwuchern(s) objektiver Kultur“ vor, die auch das Individuum zu einer „quantité négligeable herabdrückt“8. Der kulturhermeneutische Zusammenhang weist zugleich auf die „sinnestheoretische Fundierung“9 seiner Soziologie, die den taxierenden wie distanzierenden Augensinn zur methodisch privilegierten Kategorie in einer auf gesteigerte Visualität gepolten Moderne erklärt.10 Indem das Vermögen des Auges, so Simmel, in der Lage sei, aus „Menschen, die wir nur sehen, […] einen Allgemeinbegriff“ zu bilden, begünstige das die „unmittelbare Herstellung sehr abstrakter, unspezifischer Sozialgebilde“11. Fabrikhalle und Versammlung der Massen sind für Simmel paradigmatische Orte, an denen dieses anthropologische Vermögen des Sehens unter den geschichtlich kulturellen Bedingungen der Moderne mit spezifischen Herausforderungen verbunden ist: „Hier erst, wo man
5 6 7 8 9 10 11
Löffler 2002, ,Ein Dichter sieht aus wie ein Chemiker‘, 136. Simmel 1995, Die Großstädte und das Geistesleben, 120. Ebd., 121 f. Ebd., 129 [Herv. i. O.]. Stäheli 2011, Materialität der Sinne, 260. Simmel 1992, Soziologie, 722-742. Ebd., 732.
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Unzählige sah, ohne sie zu hören, vollzog sich jene hohe Abstraktion dessen, was all diesen gemeinsam ist“12. Damit tritt gewissermaßen auch als Auge des modernen Soziologen die (alte) Physiognomik als eine neue, erweiterte und auf historisch-kulturelle Phänomene übertragene Physiognomik auf den Plan.13 Indem Simmels physiognomische Lektüre als kritische Zeitdiagnostik das Verschwinden des Substantiellen und der Einzigartigkeit von Menschen und Dingen in einer Gemengelage der Indifferenz, zwischen Individuellem und „äußeren Mächten“, Oberfläche und Tiefe, aufsucht, verschränkt sie den menschlichen Körper mit dem „Körper der Kultur“14. Soziologie als Physiognomik und Physiognomik als Soziologie gehen eine Allianz ein, die gerade das in Bewegung befindliche, Gegenwärtige einer fragmentierten Kultur in ihren vervielfältigten Phänomenen typologisch lesbar zu machen sucht. Die modernen „Physiognomiker der Dingwelt“15 nach Simmel, wie unter anderem etwa Walter Benjamin und Siegfried Kracauer, folgen der hier eröffneten Perspektive als Kulturphysiognomiker, mit Blick auf die hermeneutische Deutung ihrer gegenwärtigen Zeit aus ihren schon erwähnten Oberflächenphänomenen, mithin als interpretierende Sammler eines „subkutanen Sinnzusammenhangs“16 und als gleichsam kulturkritische Konstrukteure einer Ordnung des Sichtbaren. Mit ihrer physiognomischen Zeitdiagnostik werden sie selbst zum repräsentativen Phänomen der 1920er Jahre, in denen sich Physiognomik vor allem als Kulturphysiognomik ausprägt. Fotografie und Film spielen als neue technische Medien physiognomischer Erkenntnis eine entscheidende Rolle, ja zeichnen geradezu für die Hochkonjunktur der Physiognomik in den 1920er Jahren verantwortlich, und zwar nicht allein durch deren verheißungsvolles Evidenzversprechen: die vermeintlich unsichtbar bleibende Zeichenhaftigkeit im dokumentarischen Abbild. Dem Film hat etwa Béla Balázs offensiv eine neue, technisch generierte Sichtbarkeit des Menschen zugetraut, gegen dessen Verschwinden in der begrifflichen Sprache und im Gutenbergzeitalter des Buchdrucks, die „mit der Zeit das Gesicht der Menschen unleserlich gemacht“17 hätten. Darüber hinaus kann die Typologie, die zur Reduktion von Komplexität in der hermeneutischen Auslegung der Welt auf den Plan tritt, als signifikante Form des technisch-medialen, physiognomischen Auges von Fotografie und Film bezeichnet werden.18 Typenbildung bedarf der seriellen Reihung und verschiebt den hermeneutischen Blick der Physiognomie von der Suche nach dem signifikant Individuellen zur Klassifikation, Inventarisierung und Analyse des 12 13 14 15 16 17 18
Ebd., 733. Vgl. dazu u. a. Mattenklott 1983, Der mythische Leib. Simmel 1995, Die Großstädte und das Geistesleben, 116. Benjamin 1972, Ich packe meine Bibliothek aus, 389. Christians 2000, Gesicht, Gestalt, Ornament, 85. Balázs 1982, Der sichtbare Mensch, 51. Vgl. Lethen 1997, Neusachliche Physiognomik, 12.
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Gleichartigen. Physiognomische Typisierung richtet sich auf die Lektüre identifizierbarer, wiederkehrender Muster, die den Einzelfall paradigmatisch werden lassen. Ihre Aufmerksamkeit gilt insbesondere dem menschlichen Gesicht, womit dieser Diskurs zugleich einen untilgbaren Widerspruch mit sich führt, nämlich ausgerechnet dort zu entindividualisieren, wo gemeinhin eigentlich der Ort unverwechselbarer Individualität vermutet wird. Die Präsenz des menschlichen Gesichts in den Künsten, im psychologischen, medizinischen und biologischen Wissen sowie der Alltagskultur hat zu Recht die Einschätzung einer „Gesichtlichkeitsobsession der Weimarer Zeit“19 befördert. Des gegenwärtigen, flüchtigen und anonymen Zeitgesichts in der Sammlung menschlicher Physiognomien habhaft zu werden, wie es etwa August Sanders fotografisches Projekt Antlitz der Zeit 1929 mit soziologischer Ambition versucht, stellt eine mögliche Perspektive dar. Um die Rettung des ‚auratisch‘ menschlichen Antlitzes aus seiner abgeschliffenen technisch-industriellen Physiognomie der Zeit ist es Max Picards kulturkonservativem Anschluss an die ‚alte‘ Physiognomik Lavaters im selben Jahr zu tun.
In der Nachfolge Lavaters: Max Picards Menschengesicht Das Menschengesicht Picards ist einerseits eine Studie über Physiognomik, die das Pathos der Physiognomik Lavaters fortschreibt und zugleich auch eine philosophisch-kulturkritische Absage an ihre zeitgenössischen Bedingungen und Transformationen formuliert.20 Sie gibt sich andererseits als ein letztes bewahrendes Archiv dessen, was in der eigenen Gegenwart unwiederbringlich verloren scheint. Bei den bereits erwähnten 29 Bildtafeln der Galerie von charismatischen Menschengesichtern, den Reproduktionen von historischen Gemälden, Federzeichnungen, Stichen, Plastiken, nicht zu vergessen zwei fotografische Portraits (aus dem 19. Jahrhundert), handelt es sich im doppelten Sinne um eine Galerie von Vorbildern. Picards Komposition orientiert sich damit nämlich selbst an einem Vorbild, an Lavaters Physiognomischen Fragmenten, die Musterreihen großer charismatischer Individuen veranschaulichen, etwa unter dem Titel „Gelehrte, Denker, vom Sammlergeiste an bis zum höchsten Genie“ oder „Künstler, Mahler, Bildhauer“.21 Dient Lavater allerdings noch das überlebensgroße geniale Individuum als mustergültige Handreichung für eine scharfsichtige physiognomische Lektüre, die auch „das Schöne und Große in meinem Nebenmenschen, meinen Brüdern, mir entdecken“22 soll, so kann diese Übertragung bei Picard vor dem Hintergrund seines 19 20 21
22
Schmölders/Gilman 2000, Vorwort, 8. Vgl. dazu Spinnen 1995, Ebenbild und Bewegung. Lavater 1984, Physiognomische Fragmente, 166 ff. und 214 ff. Dass sich u. a. auch Max Kommerells kulturkonservative Physiognomik einer ähnlich restaurativen Strategie verdankt, hat Port 2006, Literaturgeschichte als Körperschau, gezeigt. Lavater 1991, Von der Physiognomik, 44.
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kulturkritischen Befundes einer gesichtslosen Moderne und eines seines ‚eigentlichen‘ Ausdrucks beraubten zeitgenössischen Menschengesichts nicht mehr gelingen. Nicht auf Wiedererkennen setzt seine physiognomische Operation, sondern auf die Entdeckung einer Fragmentierung, wenn nicht gar Abwesenheit eines ehemals Essentiellen, Ganzen. Das Menschengesicht zeugt vom zeitgenössischen Schauplatz seiner fundamentalen Gefährdungen – dort, wo das Bild der Einheit, Selbstidentität und der Autonomie des modernen Subjekts zerrissen ist. Mit ihm – dem gleichsam abgeschliffenen Gesicht der Moderne – ist für Picard zugleich das Vertrauen in einen vermeintlich ewiggültigen Text des Menschengesichts endgültig erschüttert.23 Er sucht seine Physiognomik als eine metaphysische aus dem Empirischen und Zeitgenössischen zu retten.24 Was es zu retten gilt, ist im menschlichen Antlitz das „Ebenbild Gottes“, das auch dem Betrachter im erwidernden Akt des Anblickens vermittelt, „daß er ein ganzes Wesen ist“.25 Picard formuliert gerade keine physiognomischen Anwendungsregeln für eine semiotische Lesbarkeit des Innen über das Außen des menschlichen Gesichts. Was ihn interessiert, ist vielmehr die Bewahrung eines Vor- und Idealbildes des Menschen im Zeitalter seines Verschwindens und des generellen Verfalls, soweit Picards theologisch fundierte kulturpessimistische Diagnose. Sie wird vom Anspruch einer final gültigen physiognomischen ‚Wahrheit‘ kontrolliert und versichert sich einer physiognomischen Tradition, die mit dem Namen Lavater verbunden ist. Für Lavater waren Druckgraphiken, Portraits und vor allem Schattenrisse das Material physiognomischer Entzifferung. Seine Ausführungen zur physiognomischen ‚Wahrheit‘ des Schattenrisses enthüllen zugleich dessen paradoxe Medialität: So sei das „Schattenbild von einem Menschen, oder einem menschlichen Gesichte, […] das schwächste, das leereste, aber zugleich, […] das wahreste und getreueste Bild, das man von einem Menschen geben kann; […] das getreueste, weil es ein unmittelbarer Abdruck der Natur ist.“26 „Natur“ verhüllt das Medium, um die behauptete Transparenz zwischen Gesicht (als Oberfläche) und Charakter (als Inhalt) nicht als Zuschreibung zu enthüllen. Die hermeneutische Pointe dabei lautet, dass die Physiognomik „nur lesen“ kann, „was sie selbst geschrieben“27 beziehungsweise medial hervorgebracht hat. So leugnen Lavaters Schattenrisse mit ihrer Unmittelbarkeitsbehauptung ihre Medialität ebenso wie ihre mediale Nachfolgerin – die Fotografie in Picards Zeitalter – mit ihrem verführerischen Versprechen, „des 23 24 25
26 27
Vgl. Christians 2000, Gesicht, Gestalt, Ornament. Vgl. Spinnen 1995, Ebenbild und Bewegung, 255. Picard 1955, Das Menschengesicht, 11. Dass Picards „ebenso extensive wie unspezifische Rede von ‚Gott‘ oder dem ‚Göttlichen‘ […] Merkmale protestantischer, katholischer und jüdischer Gottesdarstellungen“ assimiliere, darauf hat Karsten Lichau aufmerksam gemacht: Lichau 2014, Menschengesichte, 428. Lavater 1984, Physiognomische Fragmente, 152. Geitner 1996, Klartext, 358.
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Gegenstands aus nächster Nähe […] im Abbild habhaft zu werden“28. Mit seinem Evidenzversprechen verhilft, davon war oben schon die Rede, das Foto der Physiognomie ja noch einmal zu einer neuen Hochkonjunktur. Das geschieht allerdings mit der Neuformierung jener Ordnung des Wissens, die sich zuvor auf den physiognomisch geschulten Blick des menschlichen Auges gestützt hat. An seine Stelle tritt das fotografische Archiv des Menschengesichts, in dem „das einzelne Gesicht nur Bestand hat als Funktionswert in einer Reihe vergleichbarer Gesichter“29 oder eben in der Musterserie aufeinander verweisender Zeichen. Bei Picard finden wir nun keine Fotografie eines zeitgenössischen Menschengesichts, das zu dokumentarischen Zwecken herangezogen würde. Das hat einen medienkritischen Grund, von dem noch zu sprechen sein wird. Hier sei vorerst angedeutet, dass er das ins Foto gebannte menschliche Antlitz als ein abgeschliffenes Gesichts der Moderne und der zunehmenden Indifferenz deutet. Das steht aber im eigentümlichen Widerspruch zu der Tatsache, dass überhaupt fotografische Abbildungen eingefügt sind. Seine 1937 nachfolgende Studie Die Grenzen der Physiognomik30 zeigt hingegen keine fotografischen Dokumente mehr und artikuliert somit noch konsequenter den Anspruch, mit einem tradierten physiognomischen Wissen gegen die eigene Zeit anzuschreiben, es gewissermaßen auch visuell gegen die Zeit zu immunisieren. Diese zeitgenössische Gegenwart Picards hat mittlerweile schon die Abgründe der technischen Perfektion physiognomischer Auslese des Menschen über die nationalsozialistisch akademische ‚Rassenlehre‘ bewiesen. Die Architektur von Picards physiognomischer Galerie des Menschengesichts bietet eine immer wiederkehrende stereotype Konfrontation des Urbildes, der „Schöpfung Gottes […] im Menschengesicht“31 mit seinem modernen Verfallsbild. Seine theologisch begründete physiognomische Lektüre des menschlichen Urbildes kennt nur das Prinzip der Ähnlichkeiten in einem Raum des noch Ungeschiedenen, vor der Herrschaft der Vernunft und aller modernen funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft. So heißt es etwa: „Jedes Gesicht war das Ebenbild Gottes, das war der Hauptgrund der Ähnlichkeit“32, an anderer Stelle wird konstatiert, es sei „das Bild der Schöpfung nur dann richtig in der Seele, wenn der einzelne Mensch verbunden ist mit den anderen Menschen. […] Eine Seele, die nicht im Zusammenhang mit anderen Seelen ist, vermag nicht, ihr Wesen bildhaft im Gesicht auszudrücken.“33 Deren Sichtbarkeit ist in wahrnehmbarer Nähe zugleich fern und entzogen: „Wie Gott sich an keiner Stelle zeigt, aber er ist doch überall, so ist auch die Seele
28 29 30 31 32 33
Benjamin 1991, Kleine Geschichte der Photographie, 379. Löffler 2002, ,Ein Dichter sieht aus wie ein Chemiker‘, 148. Vgl. Picard 1937, Die Grenzen der Physiognomik. Picard 1955, Das Menschengesicht, 164. Ebd., 207. Ebd., 101.
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im Menschengesicht […]. Es ist nicht möglich, einen Ausdruck der Seele an einem bestimmten Teil des Gesichtes zu fixieren.“34 Analog dazu ist – vom sogenannten „Absolut-Religiösen“35 her gedacht – das einzelne Menschengesicht in einer gleichsam organischen Gemeinschaft des Ähnlichen im doppelten Wortsinn aufgehoben. Bedeutet Gemeinschaft als vormodernes Moment mehr als „bloß die Summe der Einzelnen“36, so schlägt sich das Picard zufolge auch noch in jenem menschlichen Gesicht nieder, das vor aller modernen Differenzierung und Fragmentarisierung des Daseins von der gemeinschaftsstiftenden Kraft eines ‚ursprünglichen Ganzen‘ geprägt ist: „Das einzelne Gesicht wurde festgehalten in der Gemeinschaft und kontrolliert. Das Maß war in der Gemeinschaft der Gesichter aufbewahrt“37. Nicht von ungefähr bescheinigt eine zeitgenössische Rezension: „Picard lehrt uns im Menschengesicht wieder ein sinnvoll geordnetes Ganzes begreifen“38. An diesem Punkt setzt nun Picards philosophische Kulturkritik ein, die als repräsentativ für ein ganzes diskursives, zeitgenössisches Umfeld gesehen werden kann, indem sie die Moderne als Phänomen der zunehmenden Verflüssigung alles Substantiellen, allgegenwärtiges Prinzip des Transitorischen, der Kontingenz und des Relativismus betrachtet, was u. a. ja auch schon Simmels kultursoziologische Diagnosen artikulieren. Zum paradigmatischen physiognomischen Schauplatz der industrialisierten, technisierten Moderne wird Picard das fragmentierte Menschengesicht: Keine sichere Fläche verbindet heute mehr Auge, Mund, Ohr. Jeder Teil ist isoliert. Auge, Mund, alles, – jedes ist wie für sich da. […] Aber heute, wo die Gemeinschaft des Menschen fehlt, wo der Einzelne abgelöst ist und wieder von einem Abgelösten betrachtet wird, heute werden im Gesicht gerade die Zeichen der Ablösung und der Vereinzelung deutlich.39
So ist auch von jenen zerstörten Gesichtern die Rede, die „in den Weltkrieg geholt“ oder vom „Abgerissene[n], Eckige[n], Zerhackte[n] des großstädtischen Rhythmus“40 zerstückelt wurden. Die kulturkritischen Befunde Picards bescheinigen seiner zeitgenössischen Epoche als einer ‚gottfernen Zeit‘ insgesamt Totalitätsverlust, Atomisierung des Daseins sowie unlesbar flüchtige Physiognomien im Sog allgegenwärtiger Beschleunigung des Lebens.41
34 35 36
37 38 39 40 41
Ebd., 67. Ebd., 113. Ebd., 110. Es heißt dort weiter: „[E]s war mehr in ihr, als die Einzelnen in sie gebracht haben, und darum konnten die Einzelnen in der Gemeinschaft sich erneuern. Das Leben des europäischen Menschen heute kann nicht anders als dürftig sein: es ist kein Allgemeines da, aus dem der Einzelne sich erneuert.“ Ebd., 103. Aron, Rezension zu Picards Menschengesicht, 352. Picard 1955, Das Menschengesicht, 47 und 109. Ebd., 92 und 201. Vgl. Port 2006, Literaturgeschichte als Körperschau, 404.
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Die Menschengesichter heute sind nicht zum Bleiben eingerichtet, sie sind wie fortgejagt, auf der Flucht. […] Dieses Fliehende ist in allen Gesichtern, es macht die Gesichter nicht nur einander ähnlich, sie erscheinen dadurch auch wie vertauschbar. Ein Feldherr sieht heute aus wie ein Industrieller oder wie ein Professor, und ein Dichter sieht aus wie ein Chemiker.42
Das moderne Gesicht gehorcht Picard zufolge einer Wahrnehmung im Modus des Abstrakten, Seriellen und mithin der zunehmenden Indifferenz.43 Ähnlichkeit ist nun der Effekt einer im Namen der Relativität zirkulierenden, eben entindividualisierenden Vergleichbarkeit aller Dinge. Funktionale Ausdifferenzierung und Rationalisierung verdrängen als entseelter physiognomischer Ausdruck der typisierenden Verdinglichung im modernen Gesicht Seele und Gottesebenbildlichkeit: „[U]nd wir wundern uns darum nicht, daß das Gesicht eines Chemikers heute aussieht wie eine Tafel mit chemischen Formeln […], alles so unkonkret, wie abwischbar auf der Tafel des Gesichts“44. Und um bei dieser Metaphorik zu bleiben: Das moderne Gesicht wird Picard ebenfalls zur stets abwischbaren und neu zu beschriftenden Oberfläche, auf der sich der Warencharakter der Dinge einzeichnet. Ein Beispiel gibt etwa der mit Kaffee handelnde Kaufmann, dessen Gesicht man früher noch – im Zeichen eines Eigentlichen, Substantiellen und eben synästhetisch zu erfahrenen Ganzen – „den Kaffee angerochen“ habe, jetzt bezeugt es für Picard die Anverwandlung an den Tauschwert der Ware: Heute ist der Kaufmann nicht mehr mit dem Kaffee als Substanz in Beziehung, der Kaffee ist geruch- und geschmacklos, unwesenhaft, nur ein Ding, das wie ein anderes im Preise fällt oder steigt, und eben nur mit diesem Bewegungshaften ist der Kaufmann in Beziehung, und eben nur dieses rein Bewegungshafte geht in das Gesicht hinein.45
Das aus konservativer Sicht einen generellen Werteverlust indizierende „rein Bewegungshafte der Oberfläche“ wird Picard zum Ausdruck der Epoche schlechthin. Hier zeigen sich markante Verschiebungen im physiognomischen Diskurs: Picards Gegenwartsdiagnose offenbart ein menschliches Gesicht, das zur flüchtigen, beweglichen Einschreibfläche eines gewaltsamen Außen und zur Signatur einer ebenso flüchtigen, ‚entwirklichten‘ Welt geworden ist, welche im Sog ihrer Beschleunigung die „Diversität der Erscheinungen“46 zu Ähnlichkeiten abschleift: Nichts ist mehr ohnegleichen. Der feste, physiognomisch deutbare Text des einzelnen Menschengesichts, auf den sich noch Lavater verlassen wollte, ist durch seinen kulturellen Kontext bedroht, durch einen Text, der permanent in Auflösung begriffen und nicht mehr stillzustellen ist. Die physiognomische Deutung kann die Körperoberfläche bzw. das individu42 43 44 45 46
Picard 1955, Das Menschengesicht, 188. Vgl. dazu Löffler 2002, ,Ein Dichter sieht aus wie ein Chemiker‘, 149. Picard 1955, Das Menschengesicht, 207. Ebd., 209 [Herv. i. O.]. Weihe 2004, Die Paradoxie der Maske, 299.
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elle Gesicht nicht mehr isolieren und als eine feste Größe fixieren, wie es Lavaters Lektürevorschriften zur Identifizierung des Subjekts jenseits seiner Umwelt vorsahen. Das „Feste in dem Character“, das Lavaters Physiognomiker vom „Habituellen“ und „Zufälligen“ zu trennen hatte, um den Menschen „blos nach sich selbst“47 zu beurteilen, scheint in Picards fragmentierten, flüchtigen Oberflächen des modernen, menschlichen Gesichts, das auf nichts mehr dahinter verweist, ausgelöscht.48 Damit wird aber auch eine grundlegende Aporie der physiognomischen Zeichenlehre Lavaters sichtbar, die sich um eine Stabilisierung des Subjekts bemühte, um die „materielle Existenz von Gottes Ebenbild“49 zu beweisen und die statischen, unveränderlichen Züge des Gesichts in ein – anschauliche Evidenz garantierendes – physiognomisches Alphabet einzupassen suchte. Das Problem, das sich Lavaters Bemühen um hermeneutische Kontrolle über das vermeintlich Ganze des menschlichen Äußeren in den Weg stellt, ist die generelle Unzuverlässigkeit der Zeichen sowie die unmögliche Suche nach dem ‚authentischen‘ Subjekt jenseits seiner kulturell codierten Körperzeichen und Masken.50 Schon Goethes Kritik, die textintern die Physiognomischen Fragmente Lavaters mit einer „Zugabe“ versieht, fragt: „Aber was ist das Aeußere am Menschen?“ und beantwortet die Frage unmittelbar mit dem Zweifel am hermeneutischen Gelingen physiognomischer Lektüre des Menschen: „Stand, Gewohnheit, Besitzthümer, Kleider, alles modificirt, alles verhüllt ihn.“51 Das Außen ist damit als ein ebenso verhüllender wie unabschließbarer, eben auch sozial und kulturell äußerst beweglicher, kontingenter Text in den Blick gerückt. Von hier aus gedacht ist die Verschränkung von menschlichem und kulturellem Körper, der Weg zu Simmels Zeitdiagnostik und den Kulturphysiognomikern der 1920er Jahre, nicht mehr weit, die den Gegenstandsbereich der Physiognomik erweitern. „Physiognomik in einem ganz weiten Sinne zu brauchen“ gibt bereits Goethe zu bedenken: „Was den Menschen umgiebt, wirkt nicht allein auf ihn, er wirkt auch wieder zurück auf selbiges, und indem er sich modificiren läßt, modificirt er wieder rings um sich her. So lassen Kleider und Hausrath eines Mannes sicher auf dessen Charakter schließen.“52 Sichtbares und Unsichtbares, Oberfläche und Inneres verschränken sich, und das zu lesende Menschengesicht ist um eine kulturelle Umgebung in den Dingen erweitert. 47 48
49 50 51 52
Lavater 1984, Physiognomische Fragmente, 96. Zur Ästhetisierung von Gesichtern, die auf nichts mehr verweisen, durch die gegenwärtige Schönheitsindustrie vgl. den Künstlerbeitrag von Maria Hanl „Faltenröcke“ aus der Serie optimize me (siehe Tafelteil) und den Beitrag von Sarah Schmidt über die Künstlerin im dritten Kapitel. Weissberg 2000, Der Mensch, physiognomisch betrachtet, 329. Vgl. Port 2006, Literaturgeschichte als Körperschau, 388. Lavater 1984, Physiognomische Fragmente, 24. Vgl. dazu die Anmerkungen von Christoph Siegrist, ebd., 350. Ebd.
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Mit dem Befund, dass der zu lesende Text des menschlichen Gesichts kein isolierbarer mehr sei, sondern in die Bewegungen eines großen kulturellen Kontextes hineingesogen, öffnet sich auch Picards Studie dieser Perspektive; denn trotz der entschiedenen Abwehr, die menschliche Physiognomie soziologisch und politisch lesbar zu machen53 – im Bemühen um eine zeitenthobene, theologisch fundierte Wesensschau –, schreibt sie dem Gesicht unweigerlich doch eine zeitgenössische Physiognomie zu, die zum epochalen Typus geschliffen ist. Die Pointe seines kulturpessimistischen Horizonts ist in dem Befund zu sehen, dass das in seiner Gottesebenbildlichkeit verletzte moderne Gesicht in seiner allgegenwärtigen visuellen Verfügbarkeit eben zu sichtbar sei. Der Anspruch physiognomischer Lesbarkeit des Gesichts wird dementsprechend zurückgewiesen, da – so Picard – ihm noch sein letztes Geheimnis entrissen zu werden drohe. Denn: „Im unsichtbaren Teil hat ein Gesicht seine Reserven. […] Heute ist um den Menschen keine Atmosphäre mehr. Losgelöst vom Unsichtbaren steht der Mensch im Sichtbaren isoliert, er steht zu hell da, […] er ist zu sichtbar“54. Die Zerstörung seines verhüllenden Schutzes, der sogenannten „Atmosphäre“ des Menschengesichts, liest er als Effekt einer über die Medien Fotografie und Film technisch hergestellten, beliebig reproduzierbaren Sichtbarkeit seiner Oberfläche und erinnert auf den ersten Blick an Benjamins Diagnose des Auraverlusts: „Das Menschengesicht früher war ferne und nahe zugleich.“55 Picards Überlegungen stehen allerdings im Zeichen der generellen Abwehr einer technisch medialisierten Welt. Das ins Foto gebannte menschliche Antlitz zirkuliert in seiner Perspektive immer schon auf einem gefährlichen politischen Terrain, denn – so lässt sich mit dem konservativen Vorbehalt folgern – der mediale Entzug seiner „Atmosphäre“ führt das Menschengesicht über die fotografische Autopsie dem sezierenden Fahndungsblick des ordnenden, verfügenden Wissens zu sowie dem Korsett der normierenden Macht.56 Der Affekt gegen die visuelle Kultur seiner Zeit kann sich auf den Befund berufen, dass die Omnipräsenz der neuen technischen Bildmedien das Menschengesicht in die beschleunigte Zirkulation der Bilder einspeist und damit in die Zirkulation eines Wissens, das sich aus der physiognomischen Evidenzbehauptung konstituiert und legitimiert. Picards Abwehr trifft einen neuralgischen Punkt: die Frage nach dem Repräsentationsvermögen der Fotografie. Die Welt der Fotografie gilt seiner fundamentalen Medienkritik als Welt des „falschen Abbildes“: „So ein photographiertes Gesicht ist wirklich abgenommen von der realen Welt, im ursprünglichen Sinne des Wortes: abgenommen, getrennt von ihr, es lebt in der Photographierwelt“57. Picard unterfüttert das mit einer medientheoretischen Differenz, die 53 54 55 56 57
Vgl. Picard 1955, Das Menschengesicht, 112. Ebd., 125 f. Ebd., 35. Vgl. Lethen 1997, Neusachliche Physiognomik, 7 f. Picard 1932, Menschliches Auge, 174.
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dem vom menschlichen Auge und der Kameralinse Erblickten gilt. Das Gesicht, das die fotografische Linse der „realen Welt“ abnimmt, bleibt nicht mehr mit sich identisch, es ist ein anderes.58 Seine Unverletzlichkeit behält es allein im Angeblicktsein durch das menschliche Auge. Die Fotografierbarkeit der zeitgenössischen Welt zeigt sich so als „Maßstab der irreversiblen ‚Entwirklichung‘“59, der fortschreitenden Abstraktion und Abtrennung von einem ehemals ‚substantiellen Ganzen‘. Auch bei Siegfried Kracauer ist die Rede von einem „Photographiergesicht“ der zeitgenössischen Welt; beides bildet hier jedoch eine ganz spezifische soziale und kulturelle wie mediengeschichtliche Konstellation, die es für Kracauer zu entziffern gilt. Die moderne Welt gibt sich in ihrer technisch reproduzierbaren Oberfläche zu erkennen: „Denn die Welt selber hat sich ein ‚Photographiergesicht‘ zugelegt; sie kann photographiert werden, weil sie in dem räumlichen Kontinuum aufzugehen strebt, das sich Momentaufnahmen ergibt.“60 Die von den technischen Reproduktionsmedien erzeugte Welt steht für Kracauer in einem strukturellen, wechselseitigen Verweisungszusammenhang mit dem Zerfall tradierter Sinnstiftungen und sozialer Ordnungen, der Entindividualisierung und der „Fragmentarisierung von Raum und Zeit“61. Seine kulturphysiognomischen Lektüren schulen sich gleichsam am Auge des technischen Sehens und suchen sich unmittelbar in ihrer Zeit zu positionieren. Picards Schrift Das Menschengesicht ist hingegen der rückwärtsgewandte Versuch, hinter die moderne „Photographierwelt“ zu sehen und mit der sammelnden Konservierung des verlorenen menschlichen Antlitzes ein Archiv seines metaphysischen Urbildes aus dem Lauf der Zeit zu retten.
Den Typus lesen: August Sanders Antlitz der Zeit Steht Picards Physiognomik im Zeichen bewahrender Erinnerung des sich einst vermeintlich nur dem menschlichen Auge als unveränderlich und einzigartig zeigenden menschlichen Antlitzes, so versuchen sich die zeitgenössischen, fotografisch-seriellen Repräsentationen des Menschen an der Taxonomie des in Bewegung befindlichen Sichtbaren, an der Visualisierung des Vergleichbaren und der nicht auf das Individuelle rekurrierenden Differenzen. Explizit gilt das vor allem für August Sanders Projekt Antlitz der Zeit. Sechzig Aufnahmen deutscher Menschen des 20. Jahrhunderts. Es ist zugleich der erste Teil einer größeren und unvollendet gebliebenen Soziographie (der Deutschen). Sanders Projekt sucht als „Antlitz der Zeit“ nicht das individuelle 58
59 60 61
Auf diesen Umstand weist auch Walter Benjamin: „Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht“ (Benjamin 1991, Kleine Geschichte der Photographie, 371). Christians 2000, Gesicht, Gestalt, Ornament, 102. Kracauer 1977, Das Ornament der Masse, 34. Mülder-Bach 2004, Der Cineast als Ethnograph, 78.
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Frontalgesicht und sein Charaktergeheimnis im physiognomischen Blick auf, sondern die vergleichende Reihung von Typen, die sich zu einer Ordnung des Sichtbaren, zu einer Zusammenschau der zeitgenössischen Massengesellschaft fügen sollen. Die 60 Aufnahmen bieten eine strukturierte Sammlung verschiedener sozialer Schichten, Berufsgruppen und Generationen, beginnend mit dem Bauern. Es folgen u. a. Handwerker, Arbeiter, weitere bürgerliche Berufe, Künstler, Dorfbewohner, Kleinstädter, am Ende Menschen des großstädtischen Milieus, das letzte Portrait zeigt einen Arbeitslosen. Die meisten der Portraitierten sind anonym. Die Einzigartigkeit des menschlichen Gesichts verschwimmt hier in der Physiognomie des vermeintlich aufeinander Abbildbaren in einem archivarisch eingefrorenen geschichtlichen Augenblick, der das Individuum, eben auch das der Portraitfotografie, in der seriellen Reihung bereits als eine Leerstelle aufführt, sich stattdessen um die Sichtbarkeit eines gesellschaftlichen Antlitzes in der Serie fotografischer Menschenbilder bemüht. Ort, Posen, Gesten, Kleidung und Dinge, die mit den Portraitierten zu sehen sind, spielen eine zentrale Rolle und verstärken im Zusammenspiel mit der seriellen Reihung und Ordnung der Aufnahmen den Effekt, dass sich das für die soziale Position Typische in die Gesichter eingezeichnet habe.62 Der menschliche Körper ist im fotografischen Portrait Teil eines zeitgeschichtlichen physiognomischen Ensembles und auf diese Weise in den Verweisungszusammenhang der „sechzig Aufnahmen deutscher Menschen des 20. Jahrhunderts“ eingebunden, aber in eben jenen Verweisungszusammenhang, den erst die Auswahl und inventarisierende Ordnung der „sechzig Aufnahmen“ generiert. Und diese Ordnung lässt auch in der publizierten Auswahl jene Erzählung erahnen, die Sanders unvollendet gebliebenes, enzyklopädisches Fotoprojekt mit einem Entwicklungsgedanken strukturiert.63 Indem Sander an den Anfang seiner Serie von zeitgenössischen Menschentypen den Bauern rückt, als Archetypus bzw. „Urtypus“ des „erdgebundene[n] Mensch[en]“64, mobilisiert die Bilderfolge auch gegen seine zeitgenössische Gegenwart eine rückwärtsgewandte Suche nach einer Konstante, einem allgemein menschlichen Ursprung, und öffnet sich einer Lesart, die darin eine Geschichte des Verfalls aufscheinen sieht.65
62 63
64 65
Vgl. Somaini 2015, Übungsatlas, 90 f. Somaini verweist hier auch auf die emblematische Qualität der mit den Menschen abgebildeten Dinge. Vgl. dazu besonders die editorischen Vorbemerkungen von Susanne Lange und Gabriele Conrath-Scholl in Sander 2002, Menschen des 20. Jahrhunderts, 7 f. Diese Neuedition folgt dem Konzept Sanders, sein „Kulturwerk in Lichtbildern“ in sieben Gruppen einzuteilen: „Der Bauer“, „Der Handwerker“, „Die Frau“, „Die Stände“, „Die Künstler“, „Die Großstadt“, „Die letzten Menschen“ (Alter, Krankheit und Tod betreffend), ebd., 20 f. Ebd., 26 f. Vgl. dazu u. a. Brückle 2000, Kein Portrait mehr?, insb. 148 ff. Brückle ist zudem nicht der Einzige, der darauf verweist, dass Sander in seinen fotografischen Portraits weitgehend auf zeitgemäße Einstellungen wie Großaufnahme und Nahsicht verzichtet (ebd.).
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Die Strategie der Visualisierung gesellschaftlichen Umbruchs in der fotografischen Menschenserie Sanders dokumentiert ein „Zeigen des Zeigens66, eine sorgfältige Verweisstruktur, welche die Details in einen das Einzelbild übergreifenden, montierten Zusammenhang rückt, nicht zuletzt durch kontextualisierende Bildunterschriften. So merkt auch Benjamin in seiner Kleinen Geschichte der Photographie mit Blick auf die zeitgenössische Konjunktur des Mediums fragend an: „Wird die Beschriftung nicht zum wesentlichsten Bestandteil der Aufnahme werden?“ Diese Frage ist für Benjamin keine beiläufige, sondern eine medientheoretisch grundsätzliche, so bleibe nämlich ohne jene, „welche die Photographie der Literarisierung aller Lebensverhältnisse einbegreift“, die „photographische Konstruktion im Ungefähren stecken“67. August Sander selbst attestiert der Fotografie für sein Archivierungsprojekt eine geradezu ideale Komplizenschaft mit der Physiognomie und schreibt dieser Liaison die Qualität einer universalen Sprache zu, einer der verbalen Sprache in puncto Verständlichkeit überlegenen fotografischen Bildsprache sowie einer physiognomischen Sprache für den sozialen Typus jenseits des Individuums.68 Ähnlich euphorisch begrüßt Alfred Döblin die dokumentarisch objektivierende Leistung der Fotografie und feiert Sanders Galerie zeitgenössischer Menschen mit dem alten physiognomischen Versprechen der Selbstevidenz des – jetzt fotografisch fixierten – Phänomens: „Wer blickt, wird rasch belehrt werden, besser als durch Vorträge und Theorien, durch diese klaren, schlagkräftigen Bilder“69. Beide blenden zugunsten des erkennenden, physiognomischen Sehens jedoch jene Beziehung zwischen Sehen und Belehren aus, die bereits bei Lavater zu bemerken war: dass nämlich die Physiognomik nur das sieht, was sie sich zu sehen eingerichtet hat. Umgekehrt müsste die Losung also lauten: „Erst wer belehrt ist, vermag zu blicken.“ Zum Typus des zeitgenössischen Menschen wird bei Sander dementsprechend das, was die wohlkalkulierte Architektur seiner physiognomischen Galerie zu sehen beziehungsweise eigentlich zu lesen aufgibt. Ihr verborgenes hermeneutisches Wissen lautet, dass nur sieht, wer weiß, was er sieht. Oder − besser gesagt − sehen soll: Die kollektiv geteilten soziohistorischen Bedingungen, die das Dasein des Einzelnen mit ihren Spuren zeichnen.70 Die „klaren, schlagkräftigen Bilder“, von denen Döblin spricht, sind ein abgeleitetes Phänomen, bedürfen des herme66 67 68
69 70
Öhlschläger 2008, ‚Antlitz der Zeit‘, 252. Benjamin 1991, Kleine Geschichte der Photographie, 385. Sander 1978, From the Nature and Growth of Photography. Kritische Vorbehalte gegenüber dem Repräsentationsvermögen der Fotografie zur soziologischen Dokumentation äußern hingegen Brecht, Benjamin und Kracauer sowie aus ganz anderer Position, wie oben gezeigt, Picard. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Nusser 2014, ,Das Menschengesicht ist heute ohne Gegenwärtigkeit‘, 337: „Die allgemeinverständliche Sprache der Fotografie erweist sich als ein Sortierungs-, Auswahl- und Anordnungsprozess, den Sander in seinen Überlegungen genauso wenig reflektiert wie die Fotografie an sich als ein ikonisches Zeichensystem.“ Döblin 1990, Von Gesichtern, Bildern und ihrer Wahrheit, 15. Vgl. Gray 2004, About Face, 377.
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neutischen Umwegs über die verbale Sprache und werden erst in der interpretierenden Lektüre der den Bildern beigefügten Texte und Betitelungen erzeugt. Anders gesagt: Erst die Explikationskraft des Wissens, das die Bildunterschriften narrativ entfalten, ermöglicht hier die Lesbarkeit einer Ordnung des Sichtbaren in der fotografischen Menschenserie und unterwandert so die vermeintliche Selbstevidenz des fotografisch Dokumentierten. Die Bildunterschriften leisten im vergleichenden Verfahren der Serie dem Verschwinden des individuellen Gesichts Vorschub und bezeichnen eine Maske.71 Fotokunst und als Wissenschaft verstandene Physiognomie treten in eine „einzigartige Symbiose“72. Die typisierte Reihe aufeinander verweisender Zeichenkörper verlangt ein anderes physiognomisches Sehen – oder wie Alfred Döblin und Walter Benjamin als begeisterte Rezensenten des Fotobandes übereinstimmend betonen: den „wissenschaftlichen Gesichtspunkt“73 – sei es in Analogie zur vergleichenden Anatomie, die Döblins Vorwort zu Sanders Fotoserie hervorhebt, oder als ein „Übungsatlas“74 für eine Zeit der politischen „Machtverschiebungen“, für die Benjamin die Neuformierung des physiognomischen Wissens als historisch notwendiges, politisches Instrumentarium einfordert: physiognomische Praxis im Zeichen der politischen Kritik. Machtverschiebungen, wie sie bei uns fällig geworden sind, pflegen die Ausbildung, Schärfung der physiognomischen Auffassung zur vitalen Notwendigkeit werden zu lassen. Man mag von rechts kommen oder von links – man wird sich daran gewöhnen müssen, darauf angesehen zu werden, woher man kommt. Man wird es, seinerseits, den andern anzusehen haben.75
Erkenntniskraft spricht Benjamin der Fotografie bei Sander als einer ästhetischen Konstruktion zu, die „Entschälung des Gegenstands aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Aura“ leistet. Eine revolutionäre Dimension des Mediums, die er im konsequenten Abschied vom Auratischen sieht, als „Signatur einer Wahrnehmung, deren Sinne für alles Gleichartige auf der Welt so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt.“76 Auch Döblin legitimiert Sanders fotografisches Archiv als zeitgemäße Ersetzung des physiognomischen Blicks, und zwar mit dem Hinweis auf fundamentale gesellschaftliche Umbrüche: „[E]inzelne Originale sind noch vorhan-
71
72 73 74 75 76
Zum Bild-Text-Verhältnis in der Fotografie sowie zur Verbindung von Fotografie und Physiognomie vgl. auch den Beitrag von Bärbel Küster im vierten Kapitel: „Gesten des Dokumentierens – Archive des Scheiterns“ sowie zur Re-Kontextualisierung des fotografierten Subjekts als Exemplar der Sammlung mittels Bildunterschrift den Beitrag von Susanne Scholz: „Typus, Taxonomie, Text“ im dritten Kapitel. Weissberg 2000, Der Mensch, physiognomisch betrachtet, 326. Benjamin 1991, Kleine Geschichte der Photographie, 380. Ebd, 381. Ebd. Ebd., 379.
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den, aber schon bereiten sich neue Typen vor.“77 Für Döblin geht es darum, den historischen Augenblick einer „Transformation des Individuums in die Masse“ als „objektives Resultat der Modernisierung“78 und einer normierenden „Abflachung der Gesichter“79 fotografisch zu inventarisieren sowie in eine lesbare Ordnung der Klassifizierung zu übersetzen – oder wie sein Vorwort vermerkt: „Wie man Soziologie schreibt, ohne zu schreiben, sondern indem man Bilder gibt.“80 Die „Abflachung“, den Verlust von Einzigartigkeit der ins Foto gebannten Gesichter sieht Döblin als Resultat „zweier Gewalten, des Todes und der menschlichen Gesellschaft“. Radiere der Tod die „ganze Unmasse des Momentanen, Beweglichen“81 der Gesichter, die sich im Tod durch eben diese Negativität ähnlich seien, so schreibe sich andererseits in die noch Lebenden die „Kollektivkraft der menschlichen Gesellschaft, der Klasse, der Kulturstufe“82 ein. Picards metaphysischer Rettungsversuch des Menschengesichts und seine kulturpessimistische Medienkritik artikulieren demgegenüber die Grenze physiognomischer Lesbarkeit seiner zeitgenössischen Medialisierungen. Er sieht hier wesentlich den Zerfall des Angeblickten, das durch jene technische Operation nicht mehr ohnegleichen ist, sondern in einer Serie des Typisierten, reduzierter Komplexität, im wahrsten Sinne des Wortes sein Gesicht verliert: Es „ist […], als würde beim Wegblättern auch die Grenze, die ein Gesicht vom andern trennt, wegfallen, man sieht das einzelne Gesicht gar nicht für sich […], wie auf dem Kinostreifen rollen die Gesichter an einem vorbei.“83 Denn hier ist für Picard die Auflösung der physiognomischen Signatur des Gesichts (die Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe wird unscharf) mit seiner fotografisch seriellen und filmischen Repräsentation verbunden, die dem Menschengesicht zugleich das Leben entzieht, da es dieses ja allein in der wechselseitigen Beziehung zum anderen, nämlich im Angeblicktwerden durch das menschliche Auge, zu bewahren vermag.84 Picards Inbegriff des zeitgenössischen Menschengesichts ist das „Kinogesicht“, das erscheine, „ohne Gegenwärtigkeit zu haben. Es ist gerade so lange da, als es sich bewegt“85. Es zeigt sich ihm als charakterologisch unlesbar gewordenes, in unendliche Bewegung aufgelöstes, modernes Gesicht par excellence. Das sieht Picard auch in Sanders fotografischer Serie, und mehr noch: die zerstörerische Unterwerfung des Menschen unter die normierende „Photo77 78 79 80 81 82 83 84 85
Döblin 1990, Von Gesichtern, Bildern und ihrer Wahrheit, 15. Kenkel 2000, Das Gesicht der Masse, 215. Döblin 1990, Von Gesichtern, Bildern und ihrer Wahrheit, 7. Ebd., 13. Ebd., 7 und 9. Ebd., 10. Picard 1932, Menschliches Auge, 174. Ebd., 176. Picard 1955, Das Menschengesicht, 147.
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graphierwelt“. Eigentümlicherweise setzt sich Picards Medienkritik diesbezüglich nicht mit einem anderen, in den 1920er Jahren populären Bildband auseinander, der zu einem, im Laufe des Jahrzehnts immer dominanter werdenden, physiognomischen Diskurs gehört und dem soziologischen Unternehmen August Sanders ideologisch entgegengesetzt ist: Hans F. K. Günthers Rassenkunde des deutschen Volkes.86 Dessen anthropometrisch normierende fotografische Bildergalerie ist ebenso sammelnde und typisierende Dokumentation invarianter körperlicher Kennzeichen wie, um Benjamins Kommentar auf Sanders Fotosammlung noch einmal zu zitieren, im Gegensatz zu Sanders Unternehmen ein aggressiver „Übungsatlas“ im propagandistischen Dienst sogenannter ‚Rassenhygiene‘. Wurde Sanders fotografisches Archiv der Menschenbilder bereits 1934 konfisziert und ein großer Teil dessen vernichtet, so vermag es gerade nicht zuletzt angesichts dessen im Schatten einer Rassenkunde des deutschen Volkes von den auch abgründigen, durch die Fotografie noch einmal medial befeuerten Obsessionen seiner Zeit in der Entwicklung einer wissenschaftlich fundierten physiognomischen Taxonomie zu zeugen.87 Das dokumentiert aber zugleich auch noch einmal grundsätzlich das Dilemma der vermeintlichen Selbstevidenz der physiognomisch fixierten Phänomene. Ein „Übungsatlas“ zum Sehenlernen ist die physiognomische Sammlung in ihrer Geschichte medialer Umbrüche seit Lavater, so scheint es, vor allem im Hinblick auf jene − gerne für unsichtbar erklärte − Dimension ihres jeweiligen Medienwissens geworden. Und so trägt sich letztlich auch der Kampf um die konkurrierenden Sichtbarkeiten beziehungsweise Unsichtbarkeiten des Menschen auf jenem Feld aus, als dessen Effekt sich erst das Unmittelbarkeitsversprechen des Bildes zeigt: in den das physiognomische Wissen generierenden Beschriftungen. Diese enthüllen und verbergen zugleich das Bild des Menschen. Sie geben sich als wirkmächtige Regie der Bilderpolitiken um den Menschen.
86 87
Der Band erscheint erstmals 1922, bereits 1933 in 16. Auflage. Vgl. Gray 2004, About Face, 380.
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FALTEN SAMMELN – FALTEN LESEN: DISKURSIVE MATERIALITÄT IN MARIA HANLS OBJEKT „FALTENRÖCKE“ (2013) AUS DER SERIE OPTIMIZE ME1
Die menschliche Falte, Indikator unserer unhintergehbaren Vergänglichkeit, scheint keine rein physische Angelegenheit. Als eine Figur des Offen-Legens und zugleich des Verbergens, wird sie in der Kulturgeschichte immer wieder als Teil eines semiotischen Systems verstanden, das es zu lesen gilt. In der Stirnlesekunst (Metoposkopie) wie sie Hieronymus Cardanus (1501-1576) oder Johannes Praetorius (1630-1680) entwickeln, korrespondieren die Stirngestalten mit den Himmelsgestirnen, die das persönliche Schicksal und den Charakter beeinflussen und in der Linienführung oder in den ausbleibenden Linien lesbar werden.2 Bei Lavater sind sie Teil einer Physiognomie, die aus dem äußeren Erscheinungsbild Charaktereigenschaften ableitet und für die er in Form von Gesichtsstudien auch Faltensammlungen anfertigte.3 Lavaters physiognomische Klassifikationen, die im 19. Jahrhundert unter rassenorientierten, pathologischen sowie kriminalistischen Wissenschaften eine fragwürdige Nachfolge fand4, ernteten freilich auch Spott und Gegenwehr, so zum Beispiel bei Georg Christoph Lichtenberg oder Friedrich Schiller.5 Gleichwohl trifft die Kritik am vermeintlich objektiven Merkmal Falte nicht ihre Lesbarkeit schlechthin, denn anstelle eines klassifikatorischen Merkmals kann sie auch als individuelle Spur gelesen werden, die ein gelebtes Leben mit zunehmenden Alter im Körper hinterlässt; Freude, Grießgram, Geiz, Kummer oder Witz scheinen sich in einer wiederholten Mimik zu materialisieren und die Beschreibung der vernetzten Faltenlandschaft wird so zum Sinnbild für die Kartographie des einzelnen, kontingenten Lebens.6 1 2 3 4
5
6
Im Tafelteil dieses Bandes findet sich die Abbildung 3 im Vierfarbdruck. Vgl. Cardanus 1658, Metoposcopia libris und Praetorius 1661, Metoposcopia seu prosopomantia. Vgl. Lavater 2013, Physiognomik, 150 f. Vgl. die Beiträge von Susanne Scholz („Typus, Taxonomie, Text“), Bärbel Küster („Gesten des Dokumentierens − Archive des Scheiterns“) und Susanne Komfort-Hein („Zur physiognomischen (Un)lesbarkeit des Menschen“) im dritten Kapitel. Lichtenbergs Kritik findet sich zum Beispiel in dem satirischen Fragment von Schwänzen (1777/1783), in dem er Lavaters Physiognomie auf Schweineschwänze überträgt oder in der Streitschrift Über Physiognomik; wider die Physiognomen (1777/78); zu Schiller vgl. zum Beispiel das Spottgedicht „Grabschrift eines gewissen Physiognomen“ (1782), Sämtliche Werke, 72. Vgl. z. B. Simmons 2001, Lebensfalten.
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Auch Gilles Deleuze’ philosophische Reflektion Die Falte7 reiht sich in diesen deutenden Umgang des Lesens und Explizierens der Falte ein, die er jedoch nicht als Signatur oder Zeichen, sondern als Denkfigur untersucht. Ausgehend von der Falte als dem spezifischen Beitrag des Barocks zur Kunst und Mode und in Rückgriff auf Leibniz’ Monadologie mündet Deleuzes Reflexion über die Falte als Denkfigur des Ein- und Auswickelns in ein Plädoyer für eine Philosophie der Vielheit. Im Französischen versinnbildlicht sich das auch auf sprachlicher Ebene, denn das französische Wort „ex-pli-quer“, erklären, aufdecken, lesen, schließt auch das französische Wort „pli“ für Falte mit ein. Die große Aufmerksamkeit auf Falten unserer von der Schönheitsindustrie und dem Wunsch nach ewiger Jugend dominierten Gesellschaft konzentriert sich, so scheint es, auf das rein physische, entindividualisierte entsemiotisierte Faktum des Älterwerdens. Vor dem Hintergrund einer noch zu schreibenden, hier nur angedeuteten Kulturgeschichte der Falte ließe sich dieses Schönheitsideal ewiger Jugend so auch als Ideal der „Unbeschriebenheit“, der „Geschichtslosigkeit“ oder als Wunsch dekonstruieren, nicht „lesbar“ zu sein. Dass diese vermeintlich rein physische Perspektive auf die Falte jedoch in erster Linie ein Diskurs über den Körper ist, reflektiert Maria Hanl mit ihrem Objekt „Faltenröcke“ aus der Serie optimize me, einer Serie unterschiedlicher Objekte und Installationen, in der Normierungsstrategien der Schönheitsindustrie im Zentrum stehen.8 Die in Wien lebende Künstlerin widmet sich den Themen Gewalt, Begehren und Konsum, die sie auch als diskursive Phänomene untersucht und deren Funktionsstrategien sie immer wieder ironisch durchbricht. Hanl arbeitet dabei mit Materialverfremdungen so z. B. in der Installation „states of exhaustion“ (2014), einer Runde aus kleinen Stücken wieder zusammengeflickten, mit Stoff verbundenen, einknickenden Stühlen. Auch die Installationen „lines of beauty“ (2014) aus der Serie optimize me, eine überdimensionale Reproduktion, ein Blow-up von Gesichtslinien, die die Schönheitsforschung als Linienregime der Schönheit ausgerechnet hat, oder das aus Schulterpolstern angefertigte Mobile „lean on me“ (2014), dessen verzweigte Konstruktion dem Titel zum Trotz fragil im Raum schwebt, verwenden Techniken der Materialverfremdung.
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Deleuze 2000, Die Falte. Weitere Arbeiten aus dieser Serie sind u. a. die als Loop geschnittene Videoanimation von 88 Aquarellen (29,7 cm x 42 cm) von 2013, auf denen die Künstlerin die eigene ästhetische Optimierung beim Schminken in Autoportraitform festhält, oder die weiter unten erwähnte Arbeit „lines of beauty“ (2014).
FALTEN SAMMELN – FALTEN LESEN
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1 – „lines of beauty“ − aus der Serie optimize me, Kammerhofgalerie Gmunden, 2014
Ein bevorzugtes Arbeitsmaterial sind Textilien, deren Verflechtungen und Verwebungen Hanl in ihrer Analogie zur Sprache (texere: ‚weben‘, ‚flechten‘) nachgeht.9 Der textile Körper erweist sich als diskursives Feld, „reine“ Materialität als Fiktion, die immer schon diskursiv durchzogen, diskursiv konstruiert ist. Für die Arbeit „Faltenröcke“ sammelte Maria Hanl Falten oder vielmehr das, was Menschen über Falten zu sagen haben: Ängste über Falten, Fachausdrücke für Falten und die Ratschläge der Experten, wie sie zu vermeiden seien. Sammlungsträger sind drei Faltenröcke, auf denen die gesammelten Faltensätze fortlaufend im Siebdruckverfahren auf die in hautfarben gehaltenen Baumwollstoffe aufgetragen wurden. Hatte Deleuze vor allem die kunstvoll drapierten Falten barocker Mode vor Augen, die die Körperformen umspielen und verbergen, so folgt hier der Faltenwurf einem strengen vertikalen Regime. In den Röcken kreuzen sich Falten- und Schriftverlauf, Material und Diskurs wie Schuss und Kette, und versinnbildlichen die diskursive Konstituiertheit von Körpern, aus der, wie Judith Butler in ihrem Buch Bodys that Matter eindringlich zeigt, die vermeintlich „reine“ Materialität nicht herausgerechnet werden kann.10 9
10
So z. B. auch die Arbeit sexcollection von 2010 (Siebdruck auf Baumwollmolino), in der Hanl die Textilien einer eigenen Kleiderkollektion mit von Weitem nur als dekorative Muster wahrzunehmenden Sexspams bedruckte. Vgl. Butler 1985, Köper von Gewicht, 16.
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2 − Detailansicht „Faltenröcke“ aus der Serie optimize me, Installation Wuk, Projektraum/Wien, 2013
Würde man die Falten auseinanderziehen, könnte man Fachbegriffe wie „Nasolabialfalten“, „Glabellafalten“ oder „Perioralfalten“ entziffern, die sich zwischen die nur fragmentarisch gegebenen Bekenntnisse der „von Falten Betroffenen“ schieben. Ohne Rücksicht auf syntaktische Anschlüsse folgt auf der Siebdruckvorlage Fragment an Fragment und formt eine Kakophonie, ein Kauderwelsch der Falten: Die Faltenbehandlung, für die ich mich entschieden Praxis ohne jeglichen blauen Flecken, einfach sofort Richtung ist los, Du siehst so ausgeruht und glücklich aus! Hält die Schönheitsideal verpflichtet. Augenfalten Ich bin Frauen, die sich ihre Falten wegspritzen lassen, aussehend beurteilt Falte ist nicht gleich Falte!
In den vertikal fallenden Falten wird das Geschriebene ebenso exponiert wie verborgen, lesbar bleibt eine Folge von Buchstaben, Syntax und Semantik gehen im Bruch jedoch verloren. Anders als in Fragmentierungsverfahren durch Vergessen und Verdrängung, deren Leerstellen als sinnhafte Geschichte des Verdrängens noch lesbar sind11 entstehen hier die Wortbrüche durch ein mechanisches Verfahren. 11
Vgl. hierzu den Beitrag „Vom Ausscheren und Einsammeln der Buchstaben“ von Judith Kasper im ersten Kapitel.
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Der als Diskurs gesammelte Wunsch begehrenswert zu sein, nach geschichtsloser ewiger Jugend, verkehrt sich in dieser Materialisierung in sein Gegenteil: Es sind unattraktive, strenge Kleidungsstücke, nicht gemacht für Frauen, die schön sein wollen. Wie der barocke Faltenwurf verbergen sie die eigentlichen Körperformen, nicht jedoch in einem Spiel der Falten, sondern in einem Faltengitter; der Körper erscheint so nicht als ein Geheimnis, sondern als ein Gefangener. Die Faltenröcke sind ein Körper gewordener Diskurs über Körper, ein Archiv, das geisterhaft im Raum schwebt. Sie sind leicht überdimensioniert denn mehr als knöcheltief geschnitten, als gäbe es keinen Menschen, dem sie passen und ohne Verschluss, als wären sie nicht zum An- und Ausziehen gemacht. Mit den Farbtönen, die die Hautfarben der Künstlerin zitieren, wirken sie wie eine zweite Haut. Ist sie nie abzustreifen oder hängt sie bereits wie eine Schlangenhaut nach der Häutung in der Luft?
3 – „Faltenröcke“ aus der Serie optimize me, Installation Wuk, Projektraum/Wien, 2013
SUE WATERMAN
THE EMPTY CABINET CHAPTER ONE: ROCKS
It’s no metaphor to feel the influence of the dead in the world, just as it’s no metaphor to hear the radiocarbon chronometer, The Geiger counter, amplifying the faint breathing of rock, fifty thousand years old … It is no metaphor to witness the astonishing fidelity of minerals magnetized, even after hundreds of millions of years, pointing to the magnetic pole, minerals that have never forgotten magma whose cooling off has left them forever desirous. We long for place; but place itself longs. Human memory is encoded in air currents and river sediment. Eskers of ash wait to be scooped up, lives reconstituted.
Fugitive Pieces. Anne Michaels
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SUE WATERMAN
In 1822, the Belgian stratigrapher J.J. d’Omalius d’Halloy, working for the French government, put a name on the chalk of Europe which would come to represent an ungainly share of geologic time. Collectively, d’Halloy called the English downlands and the white sea cliffs and the bottom of the Channel and Dry Champagne – and so forth – Le Terrain Crétacé. Chalky it surely was, and soon the word not only made the jump from adjective to adjectival noun but also from geologic system to geologic period – from rock to time. With the arguable exception of the Carboniferous, the Cretaceous is the only period in the forty six hundred million years of the earth’s history that was directly named for a rock.
Silk Parachute. John McPhee
******* One can leave home countless times, travel thousands of miles, wander across many landscapes, and spend the better portion of one’s life traveling, and discover the true destination of each voyage out is not so much the foreign countryside, not the heretofore unknown city, but simply home. The map he kept of his travels graphically proves this: an average of 45 kilometers a day on foot over the course of 71 years, all the paths he took − over the Alps to Italy, through Poland and Hungary, to Russia, to Norway, and England, south to the Pyrenées − all lead inexorably back to Halloy: Halloy, a blackened spot at the center of a map, the alpha and omega of all his travels, so that the map, pasted into the back of one of the books from his great library, resembles at a glance a large spider, with legs reaching out across Europe, and its great body centered on the province of Namur, in south central Belgium: the chateau d’Halloy. Home. The place to which he returned time and time again. He is known for another map, the first colored geological map of Europe in 1813, which predated William Smith’s more famous one by two years. It represented northern France, the territory he knew best, the terrain he traversed countless times in the course of his long life: the space between home and Paris. Sketch of a geological map of France, the Pays-Bas, and some other neighbouring countries. by J.J. d’Omalius d’Halloy from materials collected conjointly with Baron Coquebert de Montbret. 35 x 36 cm, folded to 20 x 10 cm, hand col. London : W. Philips, 1824.
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THE EMPTY CABINET − CHAPTER ONE: ROCKS
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******* It was a matter of telling the story over and over again, until they got it right. As Buffon had prescribed in 1778, contemporaneously with the appearance of the word geology as a unified field of study, the task was to: fouiller les archives du monde, tirer des entrailles de la terre les vieux monuments, recueillir leurs débris, et rassembler en un corps de preuves tous les indices des changements physiques qui peuvent nous faire remonter aux différents âges de la nature.(1)
Excavate, remove, collect, and reassemble the physical evidence, the documents of the archive that was the earth itself, and write the grand narrative that would explain the fossils, the layers of rocks, the sequence and inclination of strata, and the very nature and depth of time. But what story could they write that would explain the archive? The task was made much more difficult since the physical evidence could be made to prove one or another theory or system, depending on who was reading it. For a while it seemed no one was
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right, and no one was wrong. The truth that rocks held was legion, shifting, mendacious, arbitrary, and unyielding. Why were the remains of creatures bearing no resemblance to anything living found buried in rock? Why were large layers of rock tilted at odd angles in the earth, even completely uplifted and perpendicular to the surface? What could account for the different kinds of fossil remains found in different layers of the earth? The “obsessional image”(2) of the earth as a great ruin of a formerly perfect world as described in the Bible, gradually faded during the 19th century − the vision of a lost paradise unmade by a cataclysm. But just what explained the changing, unstable earth, the how and the when and the why, would be much more difficult to discern. Theories contradicted each other and geologists disagreed, even though the same evidence was there, for all to see. Some of the early geologists, Werner, Hutton, Buffon, Cuvier, Lyell, wrote the history of things that never happened. ******* The soil on which the city stands is various. On the south of the river it is calcareous free stone, frequently intermixed with shells; while on the north, as far as the streets that rise in the skirts of Mont Martre, it consists of alluvial sand to a considerable depth, followed by the gypsum of Mont Martre already mentioned. It is a well known singularity in geology that the banks of rivers are often composed of different substances, owing, probably, to some natural incoherence, which afforded an easier course for the water to penetrate. But the theory of the earth presents difficulties, which will probably ever remain insoluble by the limited knowledge and understanding of man. The fossil bones found at Mont Martre are, by the celebrated naturalist Cuvier, supposed to belong universally to different species and sizes of an animal now extinct, but approaching nearest to the Tapir of America. And the seashells, some of them unknown at present in the Atlantic, discovered at Grignon, to the west of Versailles, in a bed of sand, under a layer of solid lime stone, indicate changes in the globe which theory labours in vain to illustrate. Recollections of Paris. J. Pinkerton 1806
******* It has been called the Golden Age of Geology, and his name registers a mention in early accounts of the period, but is nearly ab-
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sent from more recent ones. Known in Belgium as the Father of Geology and throughout the 19th century as one of its giants, Jean Julien d’Omalius d’Halloy has all but disappeared from historical accounts of geology’s heyday, the heady years of the early 19th century. In spite of the brilliant work he accomplished, from his arrival in Paris in 1801 to his departure for Halloy, Belgium in 1814, work that earned him the respect of great men such as Cuvier and Brongniart whom he knew as his teachers at the Muséum, he became separated from the main current of geological activity, adrift in the countryside of Halloy. There he took an administrative post in the local government until 1830, while the great currents of geological debate passed over him. He would publish a standard text on geology (Eléments de géologie, 1st edition 1831) that would go through many editions during the 19th century; he would write on ethnology and would support transformism, or evolution, far in advance of Darwin and against the prevailing opinions of his time, but he would never again know such a time as he had known in Paris as a student, when he, and geology, and the century, were so young. ******* En ce temps là, Paris était une ville qui correspondait à mes battements de cœur. Ma vie ne pouvait s’inscrire autre part que dans ses rues. Il me suffisait de me promener tout seul, au hasard, dans Paris et j’étais Quartier perdu. Patrick Modiano heureux.
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Among the many attractions of the Museum d’Histoire Naturelle, still known as the Jardin des Plantes in Paris, including several galleries, greenhouses, and a zoo, the Labyrinth is one of the most famous and familiar features. One enters it by way of a shaded opening in an ornate iron fence on the northwest side of the great park, and then follows a winding path up a small hill overgrown with a multitude of species of trees. The path spirals up, criss-crossed by other paths and interrupted by steps that go off in confusing directions, until the visitor seems lost in a dense forest, until it seems he will never arrive at the Labyrinth’s center, a high belvedere above the twisting paths and tangled trees, with a clear view of the city of Paris spreading out below.
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******* THIS celebrated botanical garden is situate at the south-east extremity of Paris, while the fashionable parts of the city are in the west and north-west. As early as the reign of Louis XIII, the first seeds were sown, but the plant did not prosper till Buffon came to water it. This spot of ground had long belonged to the crown, for that jealous despot, Louis XI, had a barbican, or tower, perhaps one of his state-prisons, on this site, and the small mount, on which now stands the handsome pavilion of bronze, is partly composed of the ruins of this tower, and partly of the artificial mound on which it originally stood. Other small elevations appear in this quarter of the garden, all, as is said, composed of the same materials. On entering this noble garden from the south, there first appears an ample space, resembling a parade. In the extremity on the right hand is a large house, formerly inhabited by Buffon, and now by some of the professors. In the middle is the grand cabinet, an edifice of great length, but now found to be inadequate to the extensive collection which daily accumulates. Recollections of Paris. J. Pinkerton 1806
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It was against his parents’ wishes that Omalius studied at the Muséum National d’Histoire Naturelle in Paris after his arrival in 1801. They had sent him there at the age of eighteen, in the company of his drawing master, not to undertake any specific course of study, but to simply soak up what Paris had to offer a young man of his background: the exposure to society, the experience of the theater, the chance to acquire polish, an indescribable but terribly necessary attribute that the countryside of Belgium did not hold for him. Henri Pirenne wrote of the attraction of Paris for Belgians at this period: “Everyone with talent was drawn to the great city that held all resources and that alone could bestow renown.”(3) There was no place else to go; it was that simple. After the traditional education he had received in Liège and at Halloy (his schoolbooks attest to it: rote copying of history lessons and catechism), he had to “go up” to Paris. One said monter à Paris, no matter where it was one started from. Why was Omalius so drawn to geology once he settled in Paris in the very early 19th century? Passions rarely have rational explanations. What is known is that he was hooked almost from the outset, to the great dismay of his parents who saw such an avocation as a definite impediment to a brilliant social and administrative career. They did their best to dissuade him, while he wrote to them from Paris in vain attempts to explain his chosen course. Geology was not the path to a glorious career and la renommée that they wanted for him, being a relatively new field, without prestige and without any prospect of a future. Even its language was seen as a barrier; he would speak with a rarified vocabulary, further separating himself from the society so necessary to his advancement. In the end, they simply gave up, silently acquiesced, while he, in the letters he wrote home, no longer mentioned the lectures he enthusiastically attended, given by men such as Cuvier, Lamarck, Häuy, Jussieu, Lacepède, Saint-Hilaire, Fourcroy, in zoology, chemistry, comparative anatomy, mineralogy. Omalius decided to walk the entire way home the first time he returned to Halloy from Paris, gathering rock specimens and studying the landscape and formations he encountered. He carried several hammers and chisels of various sizes, and wore heavy, thicksoled boots; he carried a leather bag to hold his specimens, and paper and cotton wadding to protect the more fragile ones, and glass vials and small boxes for soil and sand and tiny samples. In addition, he had his notebooks and writing implements. Traversing the landscape, he carefully chose the spots where he stopped, and collected;
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chiseling out of solid rock or from the ground samples approximately six inches in size and fossils of varying sizes, being careful to get the whole artifact. He would wrap or box his specimens and carefully load them into his leather bag, carrying them with him for the rest of the day and only relinquishing his burden at nightfall. So he chose carefully, which rocks to dislodge, which fossils to try to extricate, because he knew he would have to carry it all on his back.(4) ******* The verb collectionner appears for the first time in a French dictionary in 1840. COLLECTIONNER v. tr. (1840; de collection). Réunir pour faire une collection (2o) V. Accumuler, amasser, grouper, réunir. Collectionner des objets d’art; des bibelots.(a) *******
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The collections of Renaissance Europe were quite different from 19th century collections such as that of Omalius, in scope if not in size. Known by various names – Wunderkammer or wonder cabinet, cabinet of curiosities, Kunstkammer, studiolo, treasury, museum − by whatever name we call them, these early modern collections were encyclopedic in scope and attempted to represent within their walls a complete inventory of the physical world: archeological and ethnological specimens, works of art, natural history specimens (animal, vegetable and mineral), artificial curiosities (such as mechanical toys and intricate timepieces), coins and medals, shells. As specimens of nature, minerals and fossils were always included; fossils valued as unusual objects, mysterious in origin and purpose, and minerals prized for their intricate beauty. This kind of universal collecting waned late in the 17th century, and mineral collections, as well as collections of other natural history specimens, began to be formed for their own sake, as tools for scientific inquiry. The unorganized jumble of the curiosity cabinets gradually gave way to objects organized into classes, into categories, into layers, and so the grand collections flattened out, and one could begin to read their individual strands. ******* The most renowned geologist of the late 18th century, Horace Bénédict de Saussure, author of Voyages dans les Alpes (1779), left his geological collection mostly intact at his death in 1799, and it resides now in the Muséum d’Histoire Naturelle de la Ville de Genève. While the collection does include some fossils, it consists mainly of rocks; that is, not of the unusual and beautiful, but of the ordinary and the utilitarian. There are over twelve hundred specimens, stored in wooden trays, each with a printed label bearing several layers of information: first, its number, then its composition, then an indication of where it was picked up, followed by the caption Collection H.-B. de Saussure, and finally, a reference to the paragraph in Voyages dans les Alpes where it is mentioned or used.(5) Each specimen is thus defined by order, place and content, but also situated textually, in relationship to an 8-volume printed work. *******
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To collect is to launch individual desire across the intertext of environment and history. Every acquisition; whether crucial or trivial, marks an unrepeatable conjecture of subject, found object, place and moment. In its sequential evolution, the collection encodes an intimate narrative, tracing what Proust calls ‘le fil des heures, l’ordre des années et des mondes’ – the continuous thread through which selfhood is sewn into the unfolding fabric of a lifetime’s experience.(b) ******* The city of Paris experienced two great shocks in the late 1700’s, not long before the great upheaval of its Revolution. The first one occurred as one and then another section of the Left Bank began to collapse under the weight of the buildings above ground, revealing gaping caverns of hollowed out earth that had been precariously supporting the city above. For centuries, beginning with the Gauls and the Romans and continuing into the Middle Ages, massive deposits of limestone, gypsum and sand had been mined and removed to construct buildings, and to fabricate glass and plaster for their decoration. Built on top of an ever-increasing void, the city had devoured its own substructure, until the weight above was too great for the empty chambers below to support. In 1786, ten years after the collapses, as workers continued to toil at shoring up the fragile walls and vaults supporting the layers of emptied space, northward across the river, another catastrophe occurred. The Cimetière des Innocents, the site where Paris had buried its dead for over 900 years, finally reached critical mass. Overcrowded, over-filled and overflowing, the cemetery began to leak out into the ground, and into neighboring houses and surrounding streets. To quickly contain the threat of contagion and pollution posed by the intrusion of the dead into the domestic spaces of the city, it was decided to move them into the recently discovered spaces south of the river, filling in the ancient quarries with the bones and still-putrefying remains of the dead, until the population below ground was many times that of the living above.(6) *******
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The collecting of minerals required the naturalist to observe firsthand the landscape in all its details, for context was everything in the gathering of rocks.(7) The composition of the soil, the other rocks found in the area, the presence of strata and their relative positions, the entire landscape was part of the picture afforded by a single rock, and most geologists, as they would have called themselves by the 19th century, took copious notes as well as prepared detailed labels for their specimens in order to preserve as much as possible of the context from which their representative specimens were taken. The labels that would forevermore accompany the specimens, until one or the other or both were lost, stood in for the lost context, filled in the blanks of provenance, were a kind of miniature landscape translated into words. “Il n’est rien de moins anodin que la rédaction d’une étiquette.”(8) There is nothing less trivial than the inscription on a label. ******* Early in 1810, Napoleon conscripted into the army all young men of the northern provinces of the Empire who had managed thus far to avoid service, naming them sous-lieutenants. His parents were frantic: how to keep Omalius out of the army? The retreat from Russia was a mere two years away. What saved him was the very thing they had opposed for years; what kept him out of Napoleon’s army was what they once saw as a threat to his future − geology. An influential friend in the Ministry of the Interior (Coquebert de Montbret, who happened to be Alexandre Brongniart’s father-in-law) saw to it that his name was opportunistically left off the military rolls, and facilitated an appointment to map the whole of France’s mineralogical resources. The next several years were spent, not in the army criss-crossing Europe, but on foot exploring France itself, preparing his great map that, once finished, was forgotten for nine years, an insubstantial victim of the unmaking of the First Empire. ******* Tous ces souvenirs ajoutés les uns aux autres ne formaient plus qu’une masse, mais non sans qu’on pût distinguer entre eux – entre les plus anciens, et ceux plus récentes, nés d’un parfum, puis ceux qui n’étaient que les souvenirs d’une autre personne de qui je les avais appris – sinon des fissures, des failles véritables, du moins ces veinures, ces bigarrures de
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coloration qui, dans certaines roches, dans certains marbres, révèlent des Combray. Marcel Proust différences d’origine, d’âge, de « formation ».
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******* A formation, or terrain in French, was accepted as a fundamental concept of geology: a structure consisting of layers of rock strata that are related in terms of composition. A formation though remains purely theoretical, since no one can actually see the entire thing.(9) Except in places that had been cut, such as mines, roads, or later the railroad, or naturally exposed along coasts or
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cliffs, the sequence and positions of strata had to be guessed at, based on what one found in the way of exposed rocks. No one could say for sure that, because this outcrop shows the same sequence of strata as one several miles away that they are, somehow, connected, continuous. It was a leap of faith, to connect one outcropping with another, without knowing what was going on under the surface. All that could be made was a reconstruction in words and drawings. A reconstruction in the shape of a geological map is of a largely unseen system of formations and their respective strata. From bits and pieces, and occasional glimpses, huge subterranean structures were drawn, connected, arranged, defined. So the whole enterprise of drawing formations on a map, while not a fiction, is still a fashioning of an unseen, theoretical whole from fragments and conjecture.(10) ******* Rocks remember … Rocks are the record of events that took place at the time they formed. They are books. They have a different vocabulary, a different alphabet, but you learn how to read them. In Suspect Terrain. John McPhee
******* Omalius, in his memoir published with his geological map in the Annales des mines (1822), stated: “It must be confessed, that our means of judging of the relative age of rocks are in the end reduced to the superposition of beds.”(11) So it had to be understood that the upper layers were younger than the layers beneath, that a succession of layers of rocks and of the fossils in them represented a kind of history. It had to be understood that time piled up, layer upon layer, and that the strata visible in cross sections of the earth, actually corresponded to periods of time. With this principle firmly established, geologists could begin to map and correlate formations, to read the chronology of the rocks, and to establish the great geologic time scale, for each layer was a chapter in the vast narrative. *******
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75. We find many remains of living beings in the solid crust of our planet, and even though the study of these remains is part of zoology and of botany, the results of this study are of great importance to geology as well, so that we cannot fail to make them known in a summary fashion here. 76. The first striking thing in examining these bodies is that most of them belong to species that no longer exist. 77. If we then examine these bodies in relationship to their position, we would notice that the deeper we go into the earth’s crust, the more these species differ from actual living ones. So that each system of layers is, so to speak, characterized by particular fossils.
Eléments de la géologie. J.J. d’Omalius d’Halloy
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His geological map was a translation of what Omalius had seen on the ground into an engraved and hand-colored image. It was a translation, not from one language into another, but from three dimensions into two, from vast distances into a square of 22 centimeters, from landscape into bands of color. The drawing of a geological map, seeking to portray the earth itself, translated rock into paper. The map that Omalius published in 1822, in the Annales des mines (Carte géologique de la France, des Pays-Bas et de quelques contrées voisines), is an amalgam of print and manuscript. The actual map portion was printed from engraved copper plates (the outlines of countries, the names of cities and rivers, mountain ranges, etc.), and the geological features, being the real object of the map, were colored in by hand by women hired for the project. The task of color schemes and choice and placement of symbols was not insignificant. The legend, a box placed in a lower corner, was the key to reading the map: triangles and dots, tiny squares and wavy lines, in red and green and purple and yellow, that had been carefully drawn on the printed map, which is itself already an interpretation of landscape. The hand-coloring adds another layer of uncertainty and of variation, for the women who painted the bands of color and the tiny symbols, using watercolors that can fade over time, were individuals more or less skilled, more or less patient,
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more or less accurate, who read the exemplar map in their own way. Each individual copy of the map is some ways a unique object. *******
******* At the end of the day they were panting under the weight of their specimens, but courageously bore them back home. They placed them along the steps, on the staircase, in the bedroom, the dining room, the kitchen, and Germaine bewailed the amount of dust they made.
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It was no light task, before sticking on the labels, to discover the names of the rocks. The diversity of color and graining made them confuse clay with marl, granite with gneiss, quartz with limestone. Also, the names vexed them. Why Devonian, Cambrian, Jurassic, as if the soils denoted by these words existed only in Devon, in Wales and in the Jura. It was impossible to know one’s way. What is a system for one is a stage for another; for a third merely an assize. The beds are lost in confusion; but Omalius d’Halloy warns you not to believe in geological classification. This statement relieved them ... Bouvard and Pécuchet. Gustave Flaubert
******* During Omalius’ lifetime the whole of the past opened up behind him, almost endless oceans of time. The question of how much time had elapsed since the beginning of the earth was debated as much as what exactly had transpired during its history. From a mere 4000 years according to the Biblical account to the millions upon millions necessary for Darwin’s theory, the very picture of time was constantly shifting. Another shifting piece of the puzzle was the question of extinction: could there be creatures that had lived in past eras but that no longer existed? If a species could disappear somehow, if other species could arise, then the earth was not a static place; life was not stable and so had not been created at one and only one time. The evidence of this change, of instability, was deeply troubling, and well into the 19th century men of science denied the process of extinction and change in life. Even Thomas Jefferson, believing that these so-called extinct creatures were yet to be found in unexplored regions of the earth, hoped that Lewis and Clark would bring back news of a mastodon sighting from their great expedition into the West. ******* For my part, I look at the geological record as a history of the world imperfectly kept, and written in a changing dialect; of this history we possess the last volume alone, relating only to two or three countries. Of this volume, only here and there a short chapter has been preserved; and of each
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page, only here and there a few lines. Each word of the slowly changing language, more or less different in the successive chapters, may represent the forms of life which are entombed in our consecutive formations, and which falsely appear to us to have been abruptly introduced. On the Origin of Species by Means of Natural Selection. Charles Darwin
******* And then comes a break in Omalius’ lifeline, a real caesura. In 1814, with the defeat of the Empire and the invasion of Belgium by foreign troops, chaos threatened. His father worked to convince him it was too dangerous to continue his work on the geological map of France, walking through the terrain of a country in turmoil. Omalius, his father insisted, should come home, once and for all, and accept an administrative post with the new authorities. And perhaps because he remembered his parents’ generosity in granting him the freedom to study in Paris as he pleased, perhaps because he really did see danger in his pursuits, he acquiesced. One of his colleagues accused him of “desertion”: Omalius d’Halloy, after having made giant leaps in the twin sciences of geology and mineralogy, after having dedicated his efforts to these two fields and given them hope and led them to believe they could count on him, has shown himself to be guilty of the crime of desertion … You have been found guilty, but with justification.(12)
The “crime” was perhaps as great as that. However, he did not entirely cease his scientific activities, and actively participated in the publication of his geological map of the French Empire in 1822. Omalius also actively refused to cooperate with Coquebert de Montbret, his former mentor, in publishing a later version of the same map, and actively complicated the attempts to make another geological map of Belgium in the years leading up to the Revolution of 1830.(13) He also became a member of the Académie Royale de Bruxelles in 1816 and submitted papers to the Académie des Sciences in Paris. But so much of his energy went to his administrative duties during this period, such as school reform and vaccination programs, that pursuit of his passion for geology must have been relegated to whatever time was left over, and to the outer edges of his world. A lifelong conservative, marked perhaps by his boyhood experience of the French Revolution, Omalius opposed the regime
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change in 1830, when Belgium was granted independence from the Netherlands. Having actively opposed the movement for independence, he was forcibly removed from office and returned to his private life at Halloy, where he found himself outside the main current of geological activity in Europe as well. ******* Je dis souvent à mes collègues: voulez-vous faire de brillants systèmes? Voulez-vous étonner par la profondeur de vos conceptions, la hardiesse de vos idées? Demeurez à Paris; ne voyez la nature que dans votre cabinet; envoyez à la borne les échantillons qui contrarient votre manière de voir; montrez, ce qui n’est pas difficile, en quoi vos prédécesseurs se sont trompés, et vous êtes sûrs qu’on vous admirera et même qu’on adoptera une partie de vos opinions, parce que nous avons besoin d’idées générales pour lier les faits. Mais ensuite gardez-vous de voyager, car vous seriez comme ce minéralogiste allemand qui, visitant l’Auvergne il y a trois ou quatre ans, s’est écrié dans un moment d’effusion: C’est bien dommage que la nature ne veuille pas se conformer au beau système de WerLetter to his Mother c. 1811. J.J. d’Omalius D’Halloy ner!
******* The turmoil in geological theory had been going on for decades, and when Omalius left administrative duties in 1830 and returned to geology, Lyell was on the verge of publishing his Principles that would add yet another story to the debate. It would have been foolish to enter into the fray, to choose sides, to argue into a maelstrom. Instead, the year after Lyell published his Principles, Omalius published his Eléments de la Géologie, over five hundred pages of nearly pure description, stripped of theory or speculation. He meticulously tells the reader exactly what he sees in the earth, terrain by terrain. … I thought that, instead of writing a general description of each formation, it is often preferable to describe samples from these formations, taken from locations that could, in some way, be seen as typical, and that I collected, as often as possible, from my own region; if this approach makes for less complete descriptions, it has the advantage of keeping them independent of anyone’s particular system; for, whatever changes scientific opinions might undergo, the places themselves and the things remain the same …(14)
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******* Life was always a divided affair. Summer in the country, at the unheated and drafty chateau in Halloy, winter overlooking a busy street in the house in Liège. It had been so since his childhood. “Home” was always two. Then there was the twinning of his cities, Brussels, his political capital, where he served as senator and where he participated in scientific activity at the Académie Royale, and Paris, capital of his youth, to which he returned each year, in order to stay in touch with that part of himself he loved best. Paris was both a place and a time in his memory, and each trip back was a tiny return to lost youth and glory, even as he participated in the learned societies there and filled his days with conferences, writing, and booksellers. He served two masters for most of his life – science and service. His father had pressed him into service when he abandoned Paris all those years ago. Then in 1848, another watershed year, his countrymen, the wealthy landowners of his province, persuaded him to run for senator in spite of his deep and oft expressed reluctance. When asked to run again in 1851 he wrote: “Now, even more than in 1848, I prefer the tranquility of my private life to the agitations of political life.”(15) But again he was elected, and then again in 1859 and in 1867, serving in the Senate up until the age of 90, traveling to Brussels several times a year, leaving Halloy and Liège, and geology, behind him. It might have been the easier path though, to have closed that book and not have been haunted by past glory, haunted by a past passion; not to have juggled the demands of geology and political duty, and so weakened his commitment to each. He remained a conflicted man for most of his long life. Politics and geology, his twin constellations, the magnetic poles that pulled him in opposing directions and from which he could not escape. *******
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******* There was one area though where Omalius took a stand, and defended it stubbornly against the majority opinions acrimoniously lined up against him, the strongest voice against him that of his former professor, Cuvier. The question was transformism, or what Darwin would cause to be known as evolution. As early as 1831, at the very end of the Éléments, twenty eight years before the Origin of Species, Omalius wrote on the succession des êtres vivants,(16) and again in 1846, 1850, 1858 and 1873. He did not waver from believing that species were not fixed, that changes occurred over eons, and that humans even were descended from previous species. Darwin, recognizing in him a kindred spirit and early precursor, cited him in the 6th edition of the Origin, where he carefully, and defensively, gives an account of the “progress of opinion on the origin of species previous to the publication of the first edition of this work”: In 1846 the veteran geologist M.J. d’Omalius d’Halloy published in an excellent though short paper (“Bulletin de l’Acad. Roy. Bruxelles”, tom. xiii, page 581) his opinion that it is more probable that new species have been produced by descent with modification than that they have been separately created: the author first promulgated this opinion in 1831.(17)
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A practicing Catholic, Omalius was able to uphold the dangerous doctrine of transformism because the scientific was, for him, completely separate from the religious. God may have created man in his image, but this image was of God’s soul and not his body. What we call soul (âme) could have been originally placed in creatures very different from human beings: we do not after all know what Adam looked like. This soul could have passed from species to species, as species evolved, gradually, toward the human. This however was not his theory of the evolution of life, it was part of his religious beliefs. The Bible, he wrote, is an account of our grand principles and the basis of our religious faith, not a treatise of natural science. There were few among his contemporaries and his peers who could achieve this delicately balanced divorce of science from religion. ******* Time, suddenly, seemed to give way at the back, and what had been thought the ultimate horizon was found to be nothing but a painted backdrop; lifted, it revealed a wild and unfamiliar landscape, fabulously populated and receding into a perspective unbelievably deep. Green Laurels: the Lives and Achievements of the Great Naturalists. Donald Culross Peattie
******* The cabinet in the library at Halloy held more than just rocks. A portion was dedicated to Omalius’ zoological specimens, such as they were: petrified. A drawer too for instruments and one for writing utensils, but mostly the cabinet held rocks, from Russia, from Scandinavia, from Italy and England, from France, Hungary and Greece. Long since dispersed, the lot of them, the cabinet too, lost and forgotten. What remains, a single sheet of paper. There is no way to tell from the plan how large it was, or how many specimens it once held. He titled this piece of paper Explication du Meuble où sont les Collections: meuble, furniture. It is not called a cabinet, simply a piece of furniture. It seems to have contained twenty shelves, or drawers, each one divided in two, so that there were forty compartments in all. What the plan does make clear is that the objects were not placed there haphazardly. For the layers from which they had been removed (and to which perhaps they eventually returned) existed in a system, and it was this system
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that was brought indoors to inhabit the cabinet, placed amongst the books, in the heart of the great library. A metonymic system, where a single rock could stand for an entire terrain, and the cabinet itself became a miniature geological landscape. There was nothing unusual about Omalius’ cabinet of geological specimens. Like Saussure’s, it contained the most ordinary of rocks, not the splendid mineral specimens collected in previous centuries, and its purpose was not to impress or evoke wonder. Its purpose was to incarnate, on a much smaller scale, the grand spectacle he explored outside the walls of the library which held it. He brought it all inside, and there arranged and labeled and stored the pieces of the puzzle so that it all somehow seemed, at last, possessable. *******
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******* Collecting is inherently a cult of fragments, a sticking together of material bits that stand as metonyms and metaphors for the world they may refer to but are not. Its desire, then, the inspiration for its enlivening and obsessional dynamic, is for the plenitude of objects that once – in some imaginary world – were all together and so did not need to be collected.(c) ******* Omalius continued his travels on foot, and his travel journals, in spite of his parliamentary duties, once a year setting out to gather rocks, to follow formations, to describe strata. His travels could be said to have killed him. His last trip was in February 1874, days after his ninety-first birthday, a solitary excursion to the outskirts of Brussels to study limestone deposits on the now vanished river Senne. Chipping at a riverbed, clawing at the rocks he loosened and leaning over to pick them up and put them into the bag slung over his shoulder, he felt dizzy, lost his balance, stumbled a bit on the gravel, stumbled again trying to get up the steep incline. Somehow he found himself on the bank, upright and, seeing a coach approaching, was able to give his address to a passenger, whereupon he fell backwards and landed on the ground, looking up at an empty gray sky. Blackness closed in and he could not see, the last thing he remembered, that sky, and the smell of cold, damp dirt and wet rocks. He was brought back to Brussels, then taken home to Halloy, where he lay in bed for eleven months. At times, he was awake and could talk to his son-in-law, Edmond, his grandsons and granddaughter who visited, and his wife Caroline. At other times, he slumbered, deeply, lost to those around him; did he dream? It took him 11 months to die, and they must have been months spent in pain and terribly weakened. His death must have seemed merciful when it came at last, for all that they loved him. At what point did his collections disappear? Did he have time and lucidity during those last terrible months to settle his affairs and dispose of his possessions? Or, at his death, did his wife, in her grief, dump the lot of them out in the fields of Halloy, seeing those dull and dusty rocks as agents of his death, and were they sold to private collectors, and did his grandsons salvage some for their own
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amusement, and did his son-in-law attempt to interest the Académie in Brussels in preserving them, and did they end up as paperweights in his houses and as bookends in his library? No trace remains of them today, save a scrap of paper, their exact nature, size and importance lost, as were so many geological collections. ******* The noble science of geology loses glory from the extreme imperfection of the record. The crust of the earth with its embedded remains must not be looked at as a well-filled museum, but as a poor collection made at hazard and at rare intervals. On the Origin of Species by Means of Natural Selection. Charles Darwin
*******
******* French, which prizes abstract terms over concrete ones, abandons pointed reference and analogy for tenuousness. … It prefers to interpret rather than describe reality, to express ideas, not just to relate facts. Accordingly,
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it tends to lead its user to attribute less importance to the what of things, acts, or events and more importance to the why. Peasants into Frenchmen. Eugen Weber
******* Never, in the successive editions and rewriting of his geological texts, would he enter into the geological controversies. The how and the why will remain outside his field of vision; the what and the where will prevail. The rest, the Lyell’s and the Cuvier’s, who argued sometimes bitterly over the exact nature of time and of its workings, he left to their romans de la science. Not for him was the telling of stories, the weaving of intricate and ultimately fragile theories of cause and effect. He wrote in a letter to Louis Agassiz: Even though I am a geologist, I do not ascribe any importance to geologic hypotheses. I see in them only novels made from science. They are like the love affair between Corinne and Oswald, that Madame de Staël invented in order to make her descriptions of Italy more interesting.(18)
******* They continued their studies, but without passion, having grown weary of the Eocene and the Miocene, of Mount Jorullo and the Island of Julia, of the mammoths in Siberia, and of fossils that every author inevitably compared to “medallions that provide authentic evidence” – to the point where Bouvard threw his rucksack to the ground one day and refused to go any further. Geology had too many flaws! They barely knew a few small areas of Europe. There were so many other lands they would never know, let alone the ocean floor. Finally, when Pécuchet used the term “mineral kingdom”: “I don’t believe in the mineral kingdom! Organic matter was instrumental in the formation of flint, limestone, and maybe gold! Weren’t diamonds once carbon? Coal an assemblage of vegetable matter? If you heat it to I don’t remember what temperature, you get sawdust. Everything passes away, everything crumbles, everything changes. Creation is fleeting and unstable – we’d be better off spending our time on something else!” Bouvard and Pécuchet. Gustave Flaubert
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******* In French, to express a moment in time, one uses the word où – where − a place in space. Le moment où, le temps où, l’âge où – the moment when, the time when, the age when – but in French the when becomes where, and time and place are one. This is the paradox of memory: that the point in time where a memory was formed − a minute, a year, an hour, a day − is rooted in a point in space, a geographical place to which we can return, again and again. And memory will drive us back there, to reencounter that part of our past that continues to haunt us. But each return is farther from the place we started, with each trip back we are farther away in time from memory’s beginning. We feel this distance as a layering, as a vertical stack of repetition, and we know we are in the same place but what we came to see is buried far beneath us, forever out of reach. We have marked the place but we have not arrested time’s flowing over it, over us, changing the same into the lost. ******* C’était une manie de vouloir connaître tout ce qui avait occupé, au fil du temps et par couches successives, tel endroit de Paris. L’Herbe des nuits. Patrick Modiano
******* How many coup d’états did Omalius witness? And how many times was his land occupied by foreign troops, threatened by battle, passed back and forth from one country to another? News from how many battles made their way to him, and what must he have felt, as armies triumphed, as thousands of men fell for causes they never understood, as blood washed over Europe, again and again? He had known Louis XVI and experienced the French Revolution; lived through Napoleon’s reign, return, and final downfall; watched Austrian, French, and Dutch regimes come and go in Belgium; survived royal, imperial, and republican systems of
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government; and died in an independent Belgium. That he was skeptical and suspicious of political life is not surprising, nor that he held fast to religion. Less obvious might be his passion for rocks, and for wandering over the landscape. But it is easy to imagine what solace he found there, the peace he felt gazing at a wall of solid rock towering over him, its strata waiting, patiently, to be read. Something solid, something entirely without nationality or even language, something that would resist easy translation, and something that would prevail long after he was dust. While he lived in Paris, how many antique shops did he pass on the streets that he walked, and how many did he visit where he saw the jumble of objects for sale: books, jewelry, paintings, furniture, figurines, silver, watches, shoes, dishes, clocks, combs, perfume bottles, pipes, rugs, curtains, snuff boxes, that once belonged to princes to priests, to duchesses to queens? He must have seen the whole of the Ancien Régime for sale in the shops of Paris, the whole of the past exploded and its debris settled onto shelves and bookcases, stuffed into cupboards and on display in glass-fronted cabinets; its ruins precipitated into layers of sedimentation, and all of it for sale to anyone with money. Titles had not saved them, nor wealth, nor power, and their possessions had been confiscated and dispersed to the crowds who cried out for their heads on a pike. Is it any wonder he turned to rock formations? The center had not held. Things had fallen apart. And what was left then was earth, was sky, was rivers, and time. ******************************************* “I have made a great mistake. I have wasted my life with mineralogy, which has led to nothing. Had I devoted myself to birds, their life and plumage, I might have produced something myself worth doing. If I could only have seen a hummingbird fly,” he went on, with a wistful smile, “it would have been an epoch in my life.” A Conversation with Mr. Ruskin at Brantwood. John Ruskin
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NOTES
(1) Leclerc, Georges Louis, comte de Buffon, “Epoques de la nature.” Œuvres choisies de Buffon. Paris: Librairie de Firmin-Didot et cie, 1881, 64. [To dig into the archives of the world, drawing ancient monuments from the entrails of the earth, collecting their debris, and gathering together in one body of proofs all the clues of physical changes which can enable us to go back in time to the different ages of Nature.]
(2) Faivre, Antoine, “Entre l’Aufklarung et le romantisme: A. G. Werner ou la géognosie.” Philosophie de la nature: physique sacrée et théosophie XVIIIe – XIXe siècle. Paris: Albin Michel, 1996, 260. (3) Pirenne, Henri, Histoire de Belgique. Vol. 6. Brussels: Maurice Lamertin, 1926, 194. [Tous les talents se dirigent vers la grande ville qui concentre en elle toutes les ressources et seule dispense la renommée.]
(a) Robert, Paul, Dictionnaire alphabétique & analogique de la langue française. Paris: Société du Nouveau Littré, 1973, 301. (4) Taylor, J.E., Notes on Collecting and Preserving Natural-History Objects. London: W. H. Allen, 1883, 6-10. (5) Decrouez, Danielle and Edouard Lanterno, “La Collection géologique d’Horace-Bénédict de Saussure.“ Les Plis du temps: mythe, science et H.-B. de Saussure. Geneva: Musee dʼethnographie, Annexe de Conches; Annency: Conservatoire d’art et d’histoire de Haute-Savoie, 1998, 213.
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(b) Cardinal, Roger, “Collecting and Collage-Making: The Case of Kurt Schwitters.” The Cultures of Collecting. London: Reaktion Books, 1994, 68. [Un homme qui dort tient en cercle autour de lui le fil des heures, lʼordre des années et des mondes. Il les consulte dʼinstinct en sʼéveillant et y lit en une seconde le point de la terre quʼil occupe, le temps qui sʼest écoulé jusquʼà son réveil; mais leurs rangs peuvent se mêler, se rompre …
Peut-être l’immobilité des choses autour de nous leur est-elle imposée par notre certitude que ce sont elles et non pas dʼautres, par lʼimmobilité de notre pensée en face dʼelles. Toujours est-il que, quand je me réveillais ainsi, mon esprit s'agitant pour chercher, sans y réussir, à savoir où j'étais, tout tournait autour de moi dans lʼobscurité, les choses, les pays, les années.] Proust, Marcel, Du côté de chez Swann, 11-12.
(6) Robb, Graham, Parisians: an Adventure History of Paris. New York: W. W. Norton & Co., 2010, 39-40. (7) Bourguet, Marie-Noelle, “La collecte du monde: voyage et histoire naturelle (fin XVIIème siècle – début XIXème siècle).“ Le Muséum au premier siècle de son histoire. Claude Blanckaert et al eds. Paris: Archives, 190. (8) Decrouez and Lanterno 1998, 213. (9) Albritton, Claude C., Jr., The Abyss of Time: Changing Conceptions of the Earth’s Antiquity after the 16th Century. San Francisco, CA: Freeman, Cooper & Co., 1980, 130. (10) Laudan, Rachel, From Mmineralogy to Geology: the Foundations of a Science, 1650-1830. Chicago, IL: University of Chicago Press, 1987, 162. (11) Omalius d’Halloy, J.J. de, “Observations on a Sketch of a Geological Map of France, the Pays-Bas, and Neighbouring Countries.” Selection of the geological memoirs contained in the Annales des Mines. Ed. H. T. De La Beche. London: William Phillips, 1824, 299.
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[Il faut convenir, en effet, que nos moyens pour juger de l’âge relative des terrains se réduisent en dernière analyse aux superpositions des couches.]
Omalius d’Halloy, J.J. de, “Observations sur un essai de carte géologique de la France, des Pays-Bas et de quelques contrées voisines.” Annales des mines. 1822, 359-360. (12) Dupont, Ed., «Notice sur la vie et les travaux de Jean-BaptisteJulien d’Omalius d’Halloy». Annuaire de l’Académie royale de Belgique. 39 (1876), 252. [Omalius d’Halloy, après avoir fait des pas de géants dans la géologie et dans la mineralogie, après avoir voué ses pensées à ces deux sciences et leur avoir fait naître des espérances sur lesquelles elles devaient compter, s’est rendu coupable du crime de désertion… Vous avez été jugé coupable, mais excusable.]
(13) Laboulais, Isabelle, “Cartographier les savoirs géologiques dans le premier tiers du XIXe siècle: l’exemple des travaux d’Omalius d’Halloy (1783-1875).” Les usages des cartes (17e-19e siècle). Strasbourg: Presses Universitaires de Strasbourg, 2008, 119-168. (14) Omalius d’Halloy, J.J. de, Éléments de géologie. Paris: F. G. Levrault, 1831, iv-v.
[… j’ai pensé qu’au lieu de faire des descriptions générales de chaque terrain, il était souvent préférable de décrire des exemples de ces terrains, pris dans des lieux qui pouvaient, en quelques manière, servir de type, et que je choisissais, le plus que possible, dans mon voisinage; si cette marche rend les descriptions moins complètes, elle a l’avantage de les rendre plus indépendentes de tout esprit de système; car, quels que soient les changements que subissent les opinions scientifiques; les lieux et les choses demeurent les mêmes …]
(15) Lenaerts, J. et al., Jean-Baptiste-Julien d’Omalius d’Halloy 1783-1875. Ciney: Athénée Royal J. Delot, 1984, letter transcribed on p. 105.
[Aujourd’hui, plus encore qu’en 1848, je préfère la tranquillité de la vie privée aux agitations de la vie parlementaire …]
(16) Omalius d’Halloy 1831, Eléments, 526-530.
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(17) Darwin, Charles, The Origin of Species by Means of Natural Selection, or, The preservation of Favoured Races in the Struggle for Life. 6th ed., with additions and corrections to 1872. London: John Murray, 1876, xvii. (c) Elsner, John, “A Collector’s Model of Desire: the House and Museum of Sir John Soane.” The Cultures of Collecting. Ed. John Elsner and Roger Cardinal. London: Reaktion Books, 1997, 155-156. 18. Dupont 1876, 273 (there is no further note saying where this letter is).
[Quoique géologue, je ne mets aucune importance, pour ne pas dire davantage, aux hypothèses géogéniques. Je n’y vois que le roman de la science. Ce sont les amours de Corinne et Oswald que madame de Staël crée pour donner plus d’intérêt à sa description d’Italie.]
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COUNTERTEXTS
Michaels, Anne, Fugitive Pieces. New York: Vintage International, 1998, 53. McPhee, John A., Silk parachute, New York: Farrar, Straus, Giroux, 2010, 22. Pinkerton, John, Recollections of Paris, in the Years 1802-5. Vol. 1. London: Longman, Hurst, Rees & Orme etc., 1806, 6-7. Modiano, Patrick, Quartier perdu. Paris: Gallimard, 1984, 130.
[At that time, the city of Paris corresponded to the beating of my heart. My life could not be written anywhere else but in its streets. It was enough to wander alone around Paris, and I was happy.]
Pinkerton 1806, 81-82. Proust, Marcel, Du côté de chez Swann Vol. 1. A la Recherche du temps perdu. Ed. P. Clarac, A. Ferre. Paris: Gallimard, 1962, 186.
[All these memories added to one another now formed a single mass, but one could still distinguish between them – between the oldest, and those that were more recent, born of a fragrance (or taste), and then those that were only memories belonging to another person from whom I had learned them – if not fissures, if not true faults, at least that veining, that variegation of coloring, which in certain rocks, in certain marbles reveal differences in origin, in age, in “formation”.]
Swann’s Way. In Search of Lost Time. Vol. 1. Ed. Christopher Prendergast. Trans. Lydia Davis. New York: Viking, 2003, 190.
McPhee, John A., In Suspect Terrain. New York: Noonday Press, 1991; 1983, 18-19.
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Omalius d’Halloy, Jean Julien d’, Eléments de la géologie. Paris: F.G. Levrault, 1831, 74-75.
[75. On trouve beaucoup de débris dʼêtres vivants dans lʼécorce solide de notre planète, et quoique lʼétude spéciale de ces débris fasse partie de la zoologie et de la botanique, les résultats de cette étude sont dʼune si grande importance pour la géologie, que nous ne pouvons dispenser de les faire connaître ici d'une manière sommaire. 76. La première circonstance qui frappe dans lʼexamen de ces corps, cʼest que la plus grande partie dʼentre eux appartient à des espèces qui ne vivent plus maintenant. 77. Si nous examinons ensuite ces corps sous le rapport de leur position, nous remarquerons que plus on sʼenfonce dans lʼécorce du globe, plus le changement de composition devient complet, et plus les espèces deviennent différentes de celles qui vivent actuellement. De manière que chaque système de couches est, pour ainsi dire, caractérisé par des fossiles particuliers.]
Flaubert, Gustave, Bouvard and Pécuchet: The Last Novel of Gustave Flaubert. Trans. Mark Polizzotti. Normal, Ill.: Dalkey Archive Press, 2005, 76-77.
[A la fin du jour, ils haletaient sous le poids de leurs échantillons, mais intrépides les rapportaient chez eux. Il y en avait le long des marches dans lʼescalier, dans les chambres, dans la salle, dans la cuisine; et Germaine se lamentait sur la quantité de poussière. Ce n’était pas une mince besogne avant de coller les étiquettes, que de savoir les noms des roches; la variété des couleurs et du grenu leur faisait confondre l’argile avec la marne, le granit et le gneiss, le quartz et le calcaire. Et puis la nomenclature les irritait. Pourquoi devonien, cambrien, jurassique, comme si les terres désignées par ces mots n’étaient pas ailleurs qu’en Devonshire, près de Cambridge, et dans le Jura? Impossible de s’y reconnaître! ce qui est système pour l’un est pour l’autre un étage, pour un troisième une simple assise. Les feuillets des couches, s’entremêlent, s’embrouillent; mais Omalius d’Halloy vous prévient qu’il ne faut pas croire aux divisions géologiques. Cette declaration les soulagea – ]
Bouvard et Pécuchet. Livre de Poche Classique. Paris: Librairie générale française, 1999, 134-135.
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Darwin, Charles, On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or, the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life. London: J. Murray, 1859, 311. Omalius d’Halloy, Jean Julien d’, „Letter to his Mother c.1811.“ Published in Dupont, Ed. «Notice sur la vie et les travaux de JeanBaptiste-Julien d’Omalius d’Halloy». Annuaire de l’Académie royale de Belgique. Vol. 39, 1876.
[I often say to my colleagues: do you want to create brillants systems? Do you want to astonish with the profundity of your concepts, the boldness of your ideas? Stay then in Paris; only look at nature in your cabinet; banish those specimens that contradict your way of seeing; demonstrate, which is not a difficult task, how your predecessors were wrong, and you are sure to be admired and even to have some of your opinions adopted, we need general ideas to connect to facts. But afterwards, beware of traveling, for you will be like those German mineralogists who, when visiting the Auvergne 3 or 4 years ago, exclaimed in a moment of effusion: It is indeed too bad that nature does not wish to conform to Werner’s beautiful system!]
Peattie, Donald Culross, Green Laurels: the Lives and Achievements of the Great Naturalists. New York: Simon and Schuster, 1936, 151. Darwin 1859, 487. Weber, Eugen, Peasants into Frenchmen : the Modernization of Rural France, 1870-1914. Stanford, CA: Stanford University Press, 1976, 93. Flaubert 2005. 83-84.
[Ils continuèrent leurs études, mais sans passion, étant las de l’éocène et du miocène, du Mont-Jorullo, de l’île Julia, des mammouths de Sibérie et des fossiles invariablement comparés dans tous les auteurs à “des médailles qui sont des témoinages authentiques”, si bien qu’un jour, Bouvard jeta son havresac par terre, en déclarant qu’il n’irait pas plus loin. La géologie est trop défectueuse! A peine connaissonsnous quelques endroits de l’Europe. Quant au reste, avec le fond des Océans, on l’ignorera toujours.
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Enfin, Pécuchet ayant prononcé le mot de règne minéral: “Je n’y crois pas, au règne minéral! puisque des matières organiques ont pris part à la formation du silex, de la craie, de l’or peut-être! Le diamant n’a-t-il pas été du charbon? la houille un assemblage de végétaux? – en la chauffant à je ne sais plus combine de degrés, on obtient de la sciure de bois, tellement que tout passe, tout coule. La création est faite d’une matière ondoyante et fugace. Mieux vaudrait nous occuper d’autre chose!”]
Bouvard et Pécuchet 1999,134-135.
Modiano, Patrick, L’Herbe des nuits. Paris : Gallimard, 2012, 83.
[It was madness, to want to know everything that once occupied, over the course of time and in successive layers, some place or another in Paris.]
Spielmann, M. H., “Ruskiniana – Conversations (A Conversation with Mr. Ruskin at Brantwood).” The Works of John Ruskin. Vol. 34. London : George Allen, 1908, 670.
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ILLUSTRATIONS
Alexander Humboldt, Voyage de Humboldt et Bonpland. Part 2. “Atlas physique et géographique.” 1805-34. The George Peabody Library, The Sheridan Libraries, The Johns Hopkins University. Raphaël de Selys Longchamps, photograph (Château dʼHalloy); reproduced by permission of the Musée de la Photographie, Charleroi, Belgium (Collection Musée de la Photographie de la Communauté française à Charleroi). Map of Jardin des Plantes from a Baedeker Guide. Author’s collection. “A reconstruction by Rosamund Purcell of the museum of Ole Worm, Copenhagen, 1655”, originally commissioned by the Santa Monica Museum of Art, as part of the exhibition “Two Rooms”, 2003. Photograph by Dennis W. Purcell. [Postcard purchased at the exhibition “Bringing Nature Inside: 17th Century Natural History, Classification, and Vision.” Curated by Rosamund Purcell and Sara Schnechner. Harvard Collection of Historic Scientific Instruments, Cambridge, MA, October 2004 to January 2005.] Strata: Plate from book (unknown): Author’s collection J.J. d’Omalius d’Halloy, “Essai d’une carte géologique de la France, des Pays Bas, et de quelques contrées voisines”, Annales des mines tome 7, (1822). Raphaël de Selys Longchamps, photograph (Reflection of building in canal); reproduced by permission of the Musée de la Photographie, Charleroi, Belgium (Collection Musée de la Photographie de la Communauté française à Charleroi). J.J. dʼOmalius dʼHalloy, photograph (“Explication du meuble ou sont les collection.” With special authorization of the “Archives of
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l’Académie Royale de Belgique. Fonds Omalius d’Halloy.” (Right number 8877). Raphaël de Selys Longchamps, photograph (Ruins of building); reproduced by permission of the Musée de la Photographie, Charleroi, Belgium (Collection Musée de la Photographie de la Communauté française à Charleroi).
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DIE ZEIT DES STEINS. ZU SUE WATERMANS THE EMPTY CABINET
Autobiographisch ist an The Empty Cabinet einiges, so auch der Bericht über den ersten Anstoß, dieses Buch zu schreiben: Vor vielen Jahren erschloss Sue Waterman, Bibliothekarin und Schriftstellerin, für die Library of Congress in Washington Dutzende von Kartons voller Verlagsprospekte und ähnlicher Papiere aus dem 19. Jahrhundert. Die archivalische Arbeit brachte sie auf die Spur einer Familie aus dem wallonischen Adel, einer Sammlerfamilie in der dritten Generation: dem Geologen Jean-Julien Omalius d’Halloy, seinem Schwiegersohn Michel-Edmond de Selys Longchamps, einem Naturforscher und Zoologen, sowie zwei Enkeln, Walter und Raphaël, letzterer ein Fotograf. Auf Walter de Selys Longchamps hingegen geht die Sammlung der Dokumente zurück, welche die Library of Congress erwarb. The Empty Cabinet, aus dem hier das erste Kapitel „Rocks“ als Leseprobe gegeben wird, erscheint bisweilen wie eine persönliche Meditation (auch über die eigene Bindung an eine ‚andere‘ Sprache, an einen ‚fremden‘ Ort, nämlich Paris), bisweilen wie eine verblasste Familiengeschichte aus dem europäischen 19. Jahrhundert; dann wieder überwiegen theoretische Überlegungen zur Sammlung, ihrem Verhältnis zur individuellen und kollektiven Geschichte, zu Vergänglichkeit und Gleichzeitigkeit, zu Klassifikations- und Aufzeichnungsspielarten, zur Benennung als Archivierung, zur französischen Sprache. Die Stimme der Erzählerin bleibt zurückhaltend, das auktoriale Ich tritt hinter den vielen angeführten und zitierten Personen in den Hintergrund und ist oft nur an der Schriftart erkennbar. Das ‚Eigene‘ wird also anders gewonnen als über eine chronologisch-autobiographische Erzählhaltung, vielmehr erscheint es in der Art und Weise wie Sinnzusammenhänge erschlossen werden. Das, was jemandem von seiner Lebensgeschichte bleibt, tritt als Sinnstruktur auf, die sich nur nachträglich und flüchtig am Fremden und Anderen, in seiner mitunter gewaltsamen Auflösung und erneuten Zusammensetzung, erweist. Dieser konjizierte Zusammenhang umfasst in The Empty Cabinet allerdings zwei Sprachen, zwei Kontinente und drei Jahrhunderte – genauer: ganze Erdzeitalter. Die Analogien von Lese- und Schreibprozess einerseits und Sammlung anderseits sind programmatisch. Das Buch beginnt mit einer Reflexion über die interpretatorische Disziplin der französischen „explication de texte“. Sue Waterman begnügt sich jedoch nicht damit, auf die Dialektik von Zergliederung und Sinngewinn, auf die labyrinthische und anachronistische Struktur des Verfahrens hinzuweisen – es sei unerheblich, wo man beginne, am Faden zu ziehen
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– sie erklärt diese arrangierende Lesepraxis zu einer Form des Schreibens. Eine momentane Koinzidenz der beiden Sprachen des Buches bleibt dabei implizit: composition bedeutet im Englischen wie im Französischen nicht nur die Erzeugung eines Ganzen aus Einzelteilen, sondern unter anderem auch das Verfassen eines Schriftstücks. Augenfällig wird die Parallele von Sammlung und Schreiben durch die säuberliche Trennung der qua Zitat gesammelten ‚Exponate‘ voneinander, wobei Stimm- und Blickwechsel jeweils durch eine Reihe von sieben Sternen markiert sind. Das Siebengestirn der Plejaden verweist nicht nur auf die maßgebliche Sammlung klassischer Bildung in französischer Sprache, die ‚bibliothèque de la pléiade‘, sondern enthält auch eine Aufforderung, das lineare Lesen durch ein konstellatives zu ergänzen. Denn die Menge des mitgeschleppten Faktenmaterials, gewonnen aus jahrzehntelanger Archivarbeit, wird begleitet, umgeleitet, vermehrt, kommentiert oder auch infrage gestellt. Dies geschieht einerseits durch Abbildungen, andererseits durch Zitate in Absatzlänge, ausgewiesen nur durch eine andere Schriftart, bevor eine kurze Quellenerwähnung die klare Anweisung gibt, den Perspektivismus des gerade Gelesenen nachträglich mit zu bedenken. Das abschließende Verzeichnis dieser Quellen ist denn auch entsprechend „Countertexts“ betitelt: ein in der Dramaturgie üblicher Begriff für eine intertextuelle Praxis; ein Begriff, der in The Empty Cabinet jedoch das volle Gewicht des Gegenübers und der Auseinandersetzung mit dem Anderen trägt: mit seinen Hinterlassenschaften, mit seinen Texten – mit seinem vergangenen Leben. Worauf das mit Verweisen konfrontierte erzählerische Mäandrieren hinausläuft ist allerdings kein Mehr oder Weniger an Literatur oder an Wissenschaftlichkeit, an Fiktion oder an Fakten. Sondern es ist der Nachweis, dass Literatur, die sich als Sammlungsmedium, als Empty Cabinet versteht, die Unterscheidung von Fakten und Fiktion unterläuft – und damit auch das Gattungsetikett ‚literary nonfiction‘, das sich seit einiger Zeit auf den Buchmärkten einer großen Beliebtheit erfreut. Das Faktum oder das Artefakt, um Faktum zu sein, bedarf einer minimalen Fiktion, nämlich die, diskret zu sein, eine Stelle in einem gedachten Ganzen inne zu haben. Das Dokument tritt erst im Zusammenhang mit anderen ausgewählten Dokumenten aus seinem unbedeutenden So-Sein heraus und ordnet sich in einen – immer nur möglichen, wahrscheinlichen, oft impliziten – Zusammenhang ein (man könnte diese Art der Literatur auch als besonders umsichtige oder ehrliche Form der Geschichtsschreibung betrachten). Gerade das nicht Gesagte, der fehlende Übergang, die Leerzeile – oder der leere Raum zwischen einem Sammelobjekt und dem nächsten – erscheinen als das, was aus dem vorhandenen Gegenstand oder Zitat ein Sammelobjekt macht. Im Fall von The Empty Cabinet tragen diese Zwischenräume nicht nur die Sammlungslogik, sondern – über „Leerstellen“ – auch Literarizität ins Material ein. Sammeln als literarisches Schreiben wird zum Überschuss oder Rest einer
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anordnenden Intention, eines Willens zum Machen, ob man diesen nun als ‚fingierenden‘ oder als ‚poetischen‘ veranschlagt.1 An The Empty Cabinet wird auch der Preis ersichtlich, den eine Autorin zu entrichten hat, die als Sammlerin auftritt. Die Frage nach der Ganzheit oder Geschlossenheit der Sammlung, die in diesem Fall auch das Einsammeln der Elemente der ‚eigenen‘ Lebensgeschichte ist, stellt sich in der Gestalt der Nachträglichkeit. Kann die Sinnhaftigkeit eines derart erzählten Lebens immer nur aufgelesenen Objekten und Zitaten nach Maßgabe einer möglichen Sammlungslogik entnommen werden, so setzt eben diese Logik der Sammlung auch voraus, dass alle ihre Objekte und Elemente als endliche und begrenzte erscheinen, also an sich unveränderlich, vollendet, ja „tot“ sind, auch wenn sich ihr Sinn nachträglich durch Hinzufügung anderer Elemente noch verändern lassen mag. Das, was durch Literatur und Sammlung unsterblich werden soll – ungeachtet allen besseren Wissens um die Probleme der Bewahrung von Sammelobjekten und Archivdokumenten –, stirbt zunächst im besten Fall einen symbolischen Tod. Das Thema des Todes und des Sterbens ist in The Empty Cabinet sehr präsent. Im zweiten Kapitel des Buches, „Wings“, erfahren wir auf Grundlage überlieferter Dokumente peinlich genau, wie Michel-Edmond de Selys Longchamps Vögel tötet, um sie in seine Sammlung von einheimischen Spezies einzugliedern. Das dem fotografierenden Enkel gewidmete dritte Kapitel „Glass“ legt wiederum nahe, dass sein Begehren, sich dieser Kunst zu widmen, mit einem traumatischen Verlust in Zusammenhang stand. Die Kamera erscheint insofern als Sammeldispositiv, als sie die bewegte Welt auf Abstand bringt und sie in eine manipulierbare Vergangenheit verwandelt. Das erste Kapitel „Rocks“ zeigt hingegen, dass das Buch der Natur etwas anderes als ,nur‘ eine Metapher ist; dass Natur selbst in ihrer leblosesten, kargsten und fundamentalsten Form, nämlich als Gesteinsbrocken, qua Sammlung lesbar wird. „Die Beschriftung eines Etiketts ist alles andere als belanglos“: Gerade die Beschriftung ordnet den stummen Brocken zu, stellt ihn in eine multiple Anordnung von Informationen wie Fundort, Zusammensetzung, Klassifikation und den Ort weiterführender Kommentierung in Buchform durch den Sammler, und an dieser Stelle führt Sue Waterman Horace Bénédict de Saussure an.2 Was bei dieser Erwähnung Pointe sein könnte, unterbleibt, oder genauer, sie besteht in dieser Unterlassung: Der Leser muss sich selbst einen Reim machen auf so viel angehäuftes Material, das ebenso gut wieder zerstreut und in Belanglosigkeit zurückfallen kann. Sue Waterman buchstabiert es nicht aus, dass der Urenkel dieses Sammlers von zum Sprechen gebrachten steinernen 1
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Die literarische Reflexion auf diese Schnittstelle von Geschichten-Schreiben und Geschichte-Schreiben untersucht Sarah Schmidt in ihrem Beitrag „Existenzen sammeln – Existenzen schreiben“ im dritten Kapitel bei W. Kempowski und F. Hoppe. Vgl. Bourguet 1997, La collecte du monde, 190, zitiert nach Sue Waterman „The Empty Cabinet. Chapter one: Rocks“, 421.
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MARION PICKER
Zeugen eben jener Ferdinand de Saussure war, dessen Lehre von der linguistischen Differenz im 20. Jahrhundert ganze Theoriekontinente in Bewegung setzen sollte. Die Familiengeschichte der Omalius d’Halloys und De Selys Longchamps, die Sue Waterman erzählt, indem sie uns, den Lesern, das Konjizieren anträgt, ist weniger eine von Ideen, die von einer weiteren Generation aufgenommen und adaptiert worden sein könnten, als eine von Diskontinuitäten und losen Enden, von gebrochenen Lebensläufen, vergessenen Forschern und verlorenen Sammlungen. Anders als die Gesteins- und Mineraliensammlung von Horace Bénédict de Saussure existiert die von Jean-Julien Omalius d’Halloy nicht mehr. Alles, was von ihr bleibt, ist nicht einmal der leere Wandschrank, der sie einst beherbergte, sondern lediglich ein Blatt mit einer Beschreibung seiner Disposition. Und ein weiteres Blatt, das die Leser im Gegensatz zum ersten nicht als Buchillustration zu sehen bekommen, das aber ebenfalls eine Art Plan zur Sammlung bildet. Es zeigt eine Karte, in die Omalius seine Wanderungen durch Europa eintrug: eine schwindelerregende Zahl von Kilometern, die er im Laufe seines langen Lebens zu Fuß zurücklegte, um Gesteinsbrocken aus so vielen Gegenden wie möglich zusammenzutragen. Sue Waterman beschreibt die Zeichnung, die sich dadurch auf dem Kartengrund ergibt, als einer fetten Spinne ähnlich, die vom Schloss von Halloy aus ihre langen Spinnenbeine in die umliegenden Provinzen, Länder und Regionen ausstreckt. Diese Karte korreliert eine Lebenszeit mit möglichen Fundorten und konjizierten Erdzeitaltern, sie korreliert eine zur Zeichnung erstarrte, obsessive Bewegung mit dem Desiderat der geologischen Wissenschaft. Dieser Wissenschaft erschließt sich das enorme Archiv der geologischen Formationen über eine Mimesis, eine Angleichung in Form eines zweiten Archivs, welches dieses erste Archiv der steinernen Erdgeschichte in einer Mineraliensammlung zu rekonstruieren versucht. Das Ziel der historischen Geologie besteht in nichts Geringerem als den stummen Stein in der sammelnden Gegenüberstellung mit anderen Steinen zu beleben, ihn zum Sprechen zu bringen, damit er uns sein Alter, seine Herkunft verrate, und damit auch etwas über uns selbst, über die Spuren des Lebens, die er in Form von Fossilien birgt. Darwin ist einer der prominenten Autoren, die Omalius zitieren, allerdings als einen Gewährsmann für die Transmutation der Arten, denn in der Geologie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Omalius schon halb dem Vergessen anheim gegeben. Die Gründe dafür wiederum deutet Sue Waterman nur an, wie auch die Karte seiner Wanderungen eine lediglich vorgestellte bleibt – auch hier schafft die Fiktion den Grund der Tatsachen. Wir erfahren, dass Omalius nicht mehr für das System sammelte, sondern den großen Ideen und der offiziellen Welt der Wissenschaft den Rücken kehrte. Seine Steinsammlung scheint sich um ihrer selbst und ihres Sammlers willen zu konstituieren, die grundlegende Idee des Sammelns wird opak. Der schwarze Fleck auf der Karte, das Zentrum der Besessenheit eines Sammlers heißt „Home“3, wobei
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Ebd., 414.
DIE ZEIT DES STEINS
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eins das andere gibt: die Suche nach dem Heim, dem Eigenen, durch das Abarbeiten am Anderen – und die Heimsuchung durch die Unlesbarkeit des Eigenen. Das im wahrsten Sinne des Wortes ‚Idiotische‘ des Sammelns erweist sich nicht nur daran, dass auch ein weiterer prominenter Autor des 19. Jahrhunderts, Flaubert, Omalius zitierte: Die Hobbygeologen Bouvard und Pécuchet trösten sich im dritten Romankapitel mit seiner Auskunft, dass den geologischen Einteilungen nicht zu trauen sei. Kurz darauf geben die beiden Romanhelden die Geologie auf; was sie sammeln, ist letztendlich etwas anderes als Steine.4 Omalius hingegen – Sue Watermans Omalius – findet an ihnen seinen Tod.
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Zu den sammelnden Kopisten des Romans Bouvard et Pécuchet von Flaubert vgl. den Beitrag von Judith Kasper „Was nach der Sammlung bleibt“ im vierten Kapitel.
SARAH SCHMIDT
EXISTENZEN SAMMELN – EXISTENZEN SCHREIBEN: ÜBERLEGUNGEN ZU M. FOUCAULT, W. KEMPOWSKI UND F. HOPPE
1. Vorüberlegungen: Menschen sammeln an den Rändern der Gesellschaft Kann man die Gesellschaft als eine erste und grundlegende Sammlung des (lebendigen) Menschen ansehen? Eine solche These hat einiges für sich und derjenige, der sie vertritt, könnte sich z. B. auf die in einer Gesellschaft etablierte Klassen- und Schichtenhierarchie berufen, in der die einzelnen Menschen nach bestimmten Kriterien „einsortiert“ werden und durch diese Zuordnung auch eine bestimmte Verdinglichung erfahren. Dieser klassifikatorische Charakter ist dabei nicht nur jeder Klassen- oder Schichtenhierarchie eigen, die weniger durchlässig oder dynamisch ist, sondern tritt besonders in administrativ durchrationalisierten Gesellschaften auf, in denen Eigenschaften und Funktionen der Menschen normiert, im großen Stile registriert und in Form einer statistischen Auswertung für eventuelle regulative Maßnahmen verwaltet werden.1 Selbst wenn sich Anlage und Funktionsweise einer Gesellschaft nicht unter der Perspektive einer Menschen-Sammlung hinreichend beschreiben ließe, so wäre zu fragen, ob sich Sammlungspraktiken, die mit einer Verdinglichung des Menschen einhergehen, nicht verstärkt an den Rändern der Gesellschaft abspielen und in diesem Sinne nicht nur zur ,administrativen Pflege‘, sondern zur Grenzverstärkung gegenüber einem (inneren oder äußeren) Andern beitragen. Solche inneren, weil innerhalb einer Gesellschaft liegenden Ränder gesellschaftlicher Normierung hat Foucault u. a. in Wahnsinn und Gesellschaft (frz. 1960) und später in Überwachen und Strafen (frz. 1975) in den Blick genommen; sie betreffen diejenigen, die aus dem Werte- und Normensystem einer etablierten Gemeinschaft herausfallen. Mit einem Herausfallen (oder Ausfallen im Sinne einer nicht-erfüllten Funktion) entsteht eine Art ,Rest‘ und mit diesem Rest auch eine Sammlungssituation bzw. aus der Perspektive der administrativen Macht ein Sammlungsauftrag.2 Der Rand der Gesellschaft, an dem sich eine 1
2
Für Foucault bündelt sich eine solche Verwaltbarkeit im Begriff der „Bevölkerung“: „Die Bevölkerung ist eine Gruppe, die nicht einfach nur aus vielen Menschen besteht, sondern aus Menschen, die von biologischen Prozessen und Gesetzen durchdrungen, beherrscht und gelenkt sind. Eine Bevölkerung hat eine Geburtenrate, eine Alterskurve, eine Alterspyramide, eine Sterblichkeitsrate und einen Gesundheitszustand.“ (Foucault 2005, Die Maschen der Macht, 231). Vgl. dazu auch die Reflexionen von Gianluca Solla zur „Zone“, in der die Lumpensammler ihrem Geschäft nachgehen, im dritten Kapitel („Nach der Sammlung“).
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Sammlungssituation als Frage nach der Verwaltung des Anderen aufdrängt, kann aber auch an den äußeren geographischen Rändern der Gesellschaft oder Gesellschaftsverbänden (wie Europa) liegen und ein kulturell Anderes betreffen. Ein historisches Beispiel für eine Verdinglichung des Menschen im Moment seines Herausfallens aus der Gesellschaft bzw. im Moment seines „GesammeltSeins“ nach diesem Herausfall, findet sich z. B. in Arlette Farges und Michel Foucaults Auswahl der Lettres de cachet aus dem 18. Jahrhundert. In einem Bericht eines Gouverneurs, zuständig für die Insel La Désirade3, der die Aufsicht über die durch ihre Eltern in die Kolonien verbannten jungen Menschen führt, werden die Verbannten wie Gegenstände klassifiziert. Zugleich fällt dem Gouverneur auch der „unmenschliche Zustand“ auf, der den Status ihrer gegenwärtigen Verdinglichung als Verbannte jedoch noch einmal unterstreicht: Hier ist die Liste von 45 üblen Subjekten, die ich in drei Klassen eingeteilt habe; wenn die in der ersten und ein Teil von denen in der zweiten sich weiterhin anständig betragen, sind sie meines Erachtens in der Lage, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern, aber wenn ihre Eltern weiterhin so unmenschlich mit ihnen verfahren, sehe ich nicht ab, Monsigneur, wie sie hier überleben könnten, denn nur wenige erhalten Unterstützung; was die in der dritten Klasse betrifft, so haben sie, glaube ich, nicht die Möglichkeiten, daß man auf eine Besserung hoffen könnte. Alle diese jungen Leute müssen hier ein großes Elend ertragen, die Verpflegungsration der Soldaten und die Unterstützung des Königs reichen nicht aus, so etwas bringt einen gewöhnlich nicht auf anständige Gedanken.4
Es fragt sich, ob sich neben solchen, von einer Ordnungsmacht ausgehenden, verdinglichenden Sammlungspraktiken auch andere Formen des Auflesens und Sammelns denken lassen, die nicht die Klassifizierbarkeit und Verdinglichung des Menschen, sondern seine Lebendigkeit, seine Individualität und Eigentümlichkeit auflesen und bewahren können. Zu diesem Zweck möchte ich im Folgenden drei Texte bzw. Werke miteinander in Dialog treten lassen: Einen kleinen Text von Michel Foucault: Das Leben der infamen Menschen, der − 1977 separat in einer Zeitschrift publiziert5 − als Einleitung zu einer Sammlung von Dokumenten aus Polizeiakten gedacht war, Walter Kempowskis kolossales Echolot-Projekt6, ein in zehn Bänden angelegtes sogenanntes „kollektives Tagebuch“ der Kriegszeit des Zweiten Weltkrieges und das Prosawerk von fünf Erzählungen der Gegenwartsautorin Felicitas Hoppe Verbrecher und Versager.7 Obgleich sehr unterschiedlich in Form, Sujet und Stil, kreisen die drei Texte um drei zentrale Problemkomplexe, die sie als Gesprächspartner wechselseitig füreinander prädestinieren:
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Es scheint das Wort „desir“ (Verlangen, Sehnsucht) aber auch das Wort „desiderata“ (Desiderat) mitzuklingen. Farge/Foucault (Hg.) 1989, Familiäre Konflikte, 139. Foucault 2001, Das Leben der infamen Menschen. Kempowski 1993-2005, Echolot, Bd. 1-10. Hoppe 2006, Verbrecher und Versager.
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a) Sie wenden ihr Interesse denjenigen Menschen zu, die aus der Gesellschaft herauszufallen drohen, indem sie Ausschnitte aus dem Leben von „Infamen“ (Foucault), „Verbrechern und Versagern“ (Hoppe) oder Opfern in den Katastrophenjahren (Kempowski) sammeln. Diese Sammlungssituation wird nicht nur konstatiert und beschrieben, sondern auch als eine subversiv oder alternativ zu gestaltende reflektiert. b) Da alle drei Texte sich in der Geschichte rückwärts wenden, steht zugleich die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Erinnerns und Geschichteschreibens im Raum, die ebenfalls als eine Form des Aufsammelns reflektiert wird. c) Alle drei Texte untersuchen dabei (explizit oder implizit) die Rolle der Literatur als spezifisches Medium der Geschichtsschreibung sowie als Medium des Sammelns.
2. Michel Foucault: Das Leben der infamen Menschen – ein Herbarium der Existenzen? Der Text Das Leben der infamen Menschen (franz.: La vie des hommes infâmes) ist 1977 in der Zeitschrift Les Cahiers du chemin erstmals erschienen und war als Einleitung zu einer Sammlung von Dokumenten gedacht, die Foucault während seiner Recherchen in zwei Archiven, dem Archiv der Bastille und dem der geschlossenen Abteilung des Hôpital général in Paris, aus dem 17. und 18. Jahrhundert zusammengetragen hatte. Im Gegensatz zu Dokumenten, die von ‚großen‘ Infamen der Geschichte erzählen, solchen also, die von einer Mythenbildung begleitet werden und sogar Kindern im Gedächtnis sind, legt Michel Foucault in dieser geplanten Sammlung den Fokus auf die „echten“ Infamen, jene kleinen, unwichtigen (vermeintlichen) Verbrecher oder Wahnsinnigen, die in einem doppelten Sinne marginalisiert sind, insofern sie auch innerhalb der Gruppe des gesellschaftlichen Aussch(l)usses keine Berühmtheit erlangt haben. Von diesen Existenzen trennen uns einige Jahrhunderte, so dass die doppelte Randständigkeit dieser Existenzen gerade durch ihr Verschwinden zum Vorschein kommt, denn sie fallen als unwichtige „Nummern“ nicht nur nicht aus der Mythenbildung, sondern auch aus der Geschichtsschreibung heraus, ihnen droht das komplette Vergessen, das Verschwinden in der Zeit.8 In den Texten, die als Einleitung in eine Sammlung geschrieben wurden, finden wir gewöhnlich Aufschluss darüber, wie diese Sammlung zu benutzen ist,
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Mit der Genese der Aufschreibesysteme in der Psychiatrie, die mitunter derartige Dokumente der Infamie generieren, beschäftigt sich Armin Schäfer in seinem Beitrag „Ordnungsversuche im Gebiet des Wahnsinns“ im dritten Kapitel.
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sie gibt Hinweise über Auswahlkriterien und Genese der Exponate, über Präsentation und Struktur der Sammlungsordnung.9 Das Besondere an dieser foucaultschen Einleitung ist nun nicht nur, dass sie den gängigen Erwartungen an den klassifikatorischen Charakter dieser Textsorte nicht erfüllt, sondern auch, dass die Sammlung, zu der sie einleitet, nie zustande gekommen ist und so den Charakter eines nicht-eingelösten Verweises trät. Der Versuch, sich eine Vorstellung von den Dokumenten dieser geplanten Sammlung zu machen, ist nicht einfach. Foucault führt nur wenige Beispiele in seiner Einleitung an, so z. B. folgenden Text aus einem Internierungsregister zu Beginn des 18. Jahrhunderts: „Jean Antoine Touzard, eingeliefert ins Schloss von Bicêtre am 21. April 1701: ‚Abtrünniger Franziskaner, aufrührerisch, fähig der größten Verbrechen, Sodomit, Atheist, wenn man das sein kann; das ist ein Greulmonster, das zu ersticken weniger ungelegen käme als es freizulassen.‘“10 Neben solchen Einträgen aus dem Internierungsregister sind es vor allem Briefe an den König, die in diese Sammlung Eingang finden sollten. Lettres de cachet sind Eingaben oder Geheimbriefe an den König (oder deren polizeiliche Stellvertreter), die die Bitte zur Ausübung seiner Macht in einem bestimmten Fall enthalten; sie werden nicht nur von den oberen Schichten, sondern ebenso vom gemeinen Volk genutzt. In den meisten Fällen dieser Eingaben aus den niederen Schichten handelt es sich um Familienangehörige – Eheleute, Eltern oder Kinder –, die den unsittlichen Wandel, Wahnsinn oder die gewalttätigen Übergriffe eines Verwandten anklagen und um Schutz vom Souverän durch Internierung des betreffenden Familienangehörigen bitten. Einen Eindruck dieser Texte konnte auch die bereits erwähnte, 1982 zusammen mit Arlette Farge herausgegebenen Sammlung der Lettres de cachet11 vermitteln, in die auch einige Dokumente der geplanten unrealisierten Sammlung eingegangen sind. Die einleitenden und erläuternden Texte dieser Auswahl von Lettres de cachet aus dem 18. Jahrhundert sind von ganz anderer Art als der auf seine Sammlung wartende Einleitungstext Das Leben der infamen Menschen. Auch wenn für Farge und Foucault nicht die Geschichte der Mächtigen, sondern Alltagsgeschichte und die historische Dimension des „einfachen Volkes“ im Zentrum des Interesses stehen, für das es nur eine dünne Basis historischer Dokumentation gibt, so geht es in den einleitenden Texten der Lettres de cachet darum, dieses Material historisch zu deuten, und dies bedeutet Aussagen auf
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Ein klassisches Beispiel: das von Diderot verfasste „Prospekt“ zur Enzyklopädie von 1750, das über Sammeln als Wissensgenerierung reflektiert und in der Kritik bisheriger Wissenssammlungen seine eigene Ordnungsstruktur präsentiert. Zur Spezifik der in eine Sammlung einleitende Texte vgl. auch den Beitrag von Philip Ajouri „Zu einigen Sammlungs- und Ausschlussprinzipien beim Publikationstyp der ‚Gesammelten Werke‘“ im vierten Kapitel. Foucault 2001, Das Leben der infamen Menschen, 9. Als ein weiteres Projekt ist die Buchreihe Les vies parallèles zu nennen und die darin von Foucault herausgegebenen Ausschnitte der Autobiographie von Herculine Barbin (vgl. Foucault/Schäffner 1998, Über Hermaphrodismus).
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Generalisierung hin zu prüfen: Sie geben historische Informationen zum Kontext, stellen statistische Auswertungen zur Verfügung und begründen die Auswahl von zwei Jahrgängen (1728 und 1758) aus den Archiven mit der „Repräsentativität“12 des Materials. Im Fokus steht nicht die Singularität der durch das Dokument angezeigten Existenz, sondern wie im wissenschaftlichen Diskurs üblich, die Frage danach, welche allgemeinen Schlüsse sich über die gesellschaftlichen und familiären Strukturen, über Geschlechterverhältnisse13, Polizeiapparat und nachbarschaftliche Kontrolle ziehen lassen. Foucaults Einleitung in Das Leben der infamen Menschen, obgleich inhaltlich im engen Bezug zur Sammlung der Lettres de chachet, verwehrt sich gleich im ersten Satz gegen eine Vereinnahmung durch die Geschichtswissenschaft. Ist es kein wissenschaftlicher, so vordergründig auch kein ethischer Impuls, der Foucault zur Idee dieser Sammlung der Existenzen veranlasst. Was ihn zur Sammlung antreibt, kommt lapidar daher, ist ein gewisser intensiver „Effekt“, der sich nur bei der Lektüre spezifischer Dokumente aus diesen Archiven einstellte. Mein Traum wäre es gewesen, ihre Intensität in einer Analyse zu rekonstruieren. [...] Doch die ersten Intensitäten, die mich motiviert hatten, blieben draußen. Und da sie nicht in die Ordnung der Rationalität eintreten wollten, da mein Diskurs sie nicht gehörig zu begründen vermochte, so war es wohl das Beste, sie in der Form zu belassen, die sie für mich so spürbar gemacht hatten.14
Aufgrund der Flüchtigkeit dieses Effektes, bezeichnet Foucault die Dokumente als nouvelles, was als Begriff im Französischen zugleich das literarische Genre „Novelle“, aber auch die „Nachricht“ umfasst. Mit dieser Bezeichnung wird zum einen auf die Schnelligkeit und Kürze des Berichtens, auch auf die Wirklichkeit des Berichteten, aber ebenso auch auf die Bedeutung und Funktion der literarischen Form bzw. des Literarischen angespielt. Schauen wir uns im Folgenden die Beschreibung des Lektüre-Effektes der nouvelles, um den es Foucault geht, genauer an. Eine Sammlung, die keine Ansammlung ist, entsteht nicht zufällig, sondern verfährt nach gewissen Regeln. Seine Sammelregel nennt Foucault abschwächend „keine bedeutendere Regel“ und verweist auf „Geschmack, mein Vergnügen, eine Rührung, das Lachen, die Überraschung, ein gewisser Schauder oder sonst ein Gefühl“15. Ausgehend von der Beschreibung dieser „unbedeutenden“ Sammelregeln möchte ich drei Eigenschaften oder Qualitäten herausgreifen, die den nouvelles nach Foucault zukommen, und die Analyse, gegen die sich Foucault wehrt, und gleichwohl gibt, somit ein Stück vorantreiben: „Radikalität“, „Fiktionalität“ und „Disparatheit“.
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Vgl. Farge/Foucault (Hg.) 1989, Familiäre Konflikte, 22. Farge und Foucault stellen einige geschlechtsspezifische Besonderheiten heraus (vgl. ebd., 36 ff.), stellen aber auch fest, dass „gegen alle Erwartungen und der vorgefaßten Meinung zum Trotz [...] Mann und Frau an diesem Ort möglicher Unterdrückung gleich sind“ (ebd., 28). Foucault 2001, Das Leben der infamen Menschen, 10. Ebd., 7.
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Auffällig ist, dass Foucault zur Beschreibung dieser spezifischen Texte immer wieder vergleichend auf die Literatur und insbesondere die Dichtung zurückkommt. Sie seien „befremdende Gedichte“16, es gäbe eine „karge Lyrik des Zitierens“17, man solle sie wie Literatur lesen.18 Somit liegt ein erster Akzent auf dem Moment der Verdichtung, die ihre „Biographiewürdigkeit“19 infrage stellt und ihnen in der Komprimiertheit „Radikalität“ verleiht. Radikalität bezieht sich dabei nicht auf den Inhalt, sondern auf die Form und ist metaphorisch der Chemie entnommen: Die kleinen Texte wirken wie chemische Radikale, wie hoch reaktionsfähige Moleküle oder Atome, mit mindestens einem ungebundenen Elektron – hoch reaktionsfähige Fragmente also mit kurzer Lebensdauer und großer Sprengkraft: „Ich war auf die Suche nach jenen Teilchen ausgegangen, deren Energieladung um so größer ist, je kleiner und unscheinbarer sie selber sind.“20 Ein zweiter Akzent liegt auf der Authentizität oder Echtheit der nouvelles, mit der Foucault den Moment der Fiktionalität, der der Literatur eigen ist, zunächst explizit ausschließt.21 Trickreich ist jedoch bei dieser geforderten Authentizität, dass es außerhalb dieser Schriftstücke keinerlei Spur dieser Existenzen gibt; es gibt, für uns nachprüfbar jedenfalls, kein ,Dahinter‘ einer Existenz, auf die diese Texte anspielen. D. h. bei der gesuchten Authentizität geht es zunächst nicht um die Realität der menschlichen Existenz, sondern um die Authentizität und Realität des Schriftstückes, in dem sich Leben gefangen hat, wie in einem Schmetterlingsnetz.22 Diese Texte selbst sind Teil eines (Macht-)Diskurses, haben eine Wirkung erzielt, sind als Texte Instrumente geworden, haben als Texte oder Ausschnitte eines Diskurses eine Geschichte gewonnen.23 Auch wenn es nicht um die menschliche Existenz, sondern um ihre schriftliche Spur geht, so ist die Authentizität des Schriftstückes an die Authentizität der menschlichen Existenz gebunden – denn Foucault verweist immer wieder darauf, dass diese Diskursdokumente „wirkliche Leben“ durchkreuzt haben.24 16 17 18 19
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Ebd., 8. Ebd., 11. Vgl. ebd., 48. Um eine Biographie schreiben zu können, muss sie „biographiewürdig“ sein, d. h. es müssen überhaupt genügend Dokumente und Quellen vorhanden sein, aus denen sich eine Biographie entwickeln lässt. Zum Stichwort der „Biographiewürdigkeit“ vgl. Schweiger 2009, Biographiewürdigkeit. In seinem Aufsatz über Das Leben der Infamen Menschen weist Schweiger auf Versuche hin, eine Biographie aus ganz wenigen Dokumenten zu rekonstruieren, so z. B. Carlo Ginzburgs Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600 oder Alain Corbins Auf den Spuren eines Unbekannten (vgl. Schweiger 2011, Die Macht der Archive, 280). Foucault 2001, Das Leben der infamen Menschen, 15. Vgl. ebd., 13. Die Spur dieses Lebens hat sich nur erhalten, weil es in einem entscheidenden Moment mit der Macht zusammengestoßen ist: „[O]hne diesen Zusammenstoß wäre gewiß kein Wort mehr da, um an ihren flüchtigen Durchgang zu erinnern.“ (Foucault 2001, Das Leben der infamen Menschen, 16). Vgl. ebd., 14. Vgl. ebd., 14 f.
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Man könnte argumentieren, dass diese Texte den Effekt eines ,Dahinter‘ erzeugen; und indem sie auf etwas verweisen, was definitiv nicht mehr lesbar ist, markieren sie eine Leerstelle, ein nur an einen Dokumentenzipfel im Netz der Geschichte hängenden Menschen. Als Diskursfragment können sie – im Vergleich zu diesen gelebten Leben, die hinter dem Diskurs stehen und nur angezeigt werden – fiktiven Charakter haben. Eine Verleugnung hat einen fiktiven Charakter und ist als Verleugnung jedoch real oder wirklich im Sinne von wirksam. Aus diesem Grund gesteht Foucault ihnen doch einen fiktionalen Charakter zu, der jedoch genau umgekehrt zum fiktionalen Charakter von Legenden oder Literatur funktioniert.25 Denn mit der offenen Fiktionalität der Literatur ist ihre mögliche Realität verbunden – ein Als ob, das immer auch als ein Destillat der Realität betrachtet werden kann. In den nouvelles besteht jedoch eine Indifferenz zwischen Fiktion und Realität. Denn die realen Existenzen als gelebte Leben haben „keine berichtenswerte Spur nach sich gezogen“, sie werden „auf immer Existenz nur haben in der zerbrechlichen Deckung jener Wörter. Und Dank der Texte, die von ihnen sprechen, gelangen sie bis zu uns, ohne mehr Realitätsindiziens (sic!) aufzuweisen als irgendwelche Figuren aus der Goldenen Legende oder aus einem Abenteuerroman.“26 Der emotionale Effekt des „Schauerns“ und der „Schönheit“27 dieser spezifischen Texte aus dem 17. und 18. Jahrhundert ist für Foucault in ihrer „Disparatheit“, jenem dritten Aspekt der nouvelles, zu suchen, die sich in sprachlichen Brüchen anzeigt: Disparatheit zwischen Adressat und Schreiber, den erzählten Dingen und der Art sie zu erzählen, zwischen der Winzigkeit des Problems und der Größe der Macht.28 Eine Disparatheit, die sich im Stil bemerkbar macht, die in sprachliche Verzierung gekleidete Ungeschicktheit, die zu einer unfreiwilligen Komik führt, die einen berührt.29 Alle drei Eigenschaften des gesuchten flüchtigen Effektes verweisen auf je eigene Art auf etwas Abwesendes, Aufgegebenes, nicht oder noch nicht zur Sprache Gekommenen: Es ist die Leerstelle der nur in seiner wörtlichen Spur bewahrten menschlichen Existenz, es ist das im Informationsverlust entstandene Radikal, das wie ein Fragment eines nicht mehr herzustellenden Puzzles frei im Raum flotiert, es ist der „Modus der Disparatheit“30, in dem die Stimme des Infamen, Niedrigen nur ab und zu in den Rissen der von einem bezahlten Schreiber diktierten Sprachfloskeln durchzublitzen scheint. In diesem dreifachen Modus des Abwesenden wird die nouvelle aus der Perspektive des Historikers zu einem Störfaktor, der Unruhe erzeugt, die Diskrepanzen zur Schau
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Vgl. ebd., 18. Ebd., 19. Ebd., 12. Vgl. ebd., 40. Vgl. ebd., 37 f. Ebd., 40.
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stellt ohne sie zu vermitteln. Indem sie nur andeuten, nicht ausführen und durchdeklinieren, stören sie in gewisser Weise eine historische Sortierung, sie werfen mehr Fragen auf, als dass sie Antworten geben und fungieren so wie eine Art Motor eines nicht zur Ruhe kommenden (historischen) Denkens. Welche Funktion kommt dabei der Literatur zu? In seinen frühen Schriften wie der Ordnung der Dinge (frz. 1966) oder Wahnsinn und Gesellschaft (frz. 1960) führt Foucault die Literatur in einer Funktion des „Gegendiskurses“31 ein, in dem das ‚Andere der Vernunft‘32, das durch herrschende diskursive Praktiken einen Ausschluss erfährt, wieder ins Spiel gebracht wird. In den späteren Schriften wie Überwachen und Strafen (1975) oder das Projekt der Geschichte der Sexualität steht Foucault der Institution Literatur wesentlich skeptischer gegenüber, versteht sie als Teil des herrschenden Diskurses, denunziert ihre Komplizenschaft mit diskursiven Machtstrategien und sieht widerständige Praktiken vor allem in den kleinen, unscheinbaren, nicht-literarischen Dokumenten33 Zugleich ändert sich sein Verständnis von Widerstand, den er nicht mehr als ein Außen des Diskurses, sondern als einen Teil des Diskurses selbst versteht. Obwohl Foucault in der Schrift Das Leben der infamen Menschen bei dem Versuch der Beschreibung jenes spezifischen „Effektes“ immer wieder den Vergleich zur Literatur sucht, ist er keine genuin literarische Qualität.34 Aber auch wenn er der Literatur nicht eigen sein muss, so kann er es nach Foucault zumindest und die Literatur ab dem 18. Jahrhundert habe sogar eine Affinität zum Infamen, in ihr zeichne sich eine Ethik des Niedrigen, Marginalen, Flüchtigen35 ab. „Mehr als jede andere Form der Sprache bleibt sie [die Literatur; S. Sch.] der Diskurs der ‚Infamie‘: Ihr obliegt es, das Unsagbarste zu sagen, das Übelste, das Geheimste, das Unerträglichste, das Unverschämte.“36 In dieser Formulierung hört es sich so an, als gäbe es bereits eine formierte Stimme des Infamen. Die ethische Aufgabe der Literatur bestünde dann darin, zum Anwalt eines bisher Ungehörten zu werden. Dabei ist der „Gegendiskurs“ nicht nur als bestimmte Negation oder bereits formierte andere Form des Diskurses zu verstehen, sondern als ein Hinweis auf ein Schweigen, einen Nicht-Diskurs, eine Leere, die nicht oder noch nicht diskursiv besetzt ist.37 Man kann die ethische Dimension daher noch eine Ebene „tiefer“ ansetzen, insofern sie bereits da besteht, wo sich das Infame nur in den Modi der Abwesenheit anzeigt – also weit 31
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Der Begriff des „Gegendiskurses“ stammt aus Die Ordnung der Dinge (Foucault 1971, Die Ordnung der Dinge, 76); ich folge hier den Ausführungen von Geisenhanslüke in seiner überarbeiteten Dissertation von 2008, Geisenhanslüke 2008, Gegendiskurse. Rückblickend bezeichnet Foucault in Die Ordnung der Dinge den dort geführten Diskurs als „Geschichte des Gleichen“, während es in Wahnsinn und Gesellschaft um die Geschichte des Anderen gehe (Michel Foucault 1971, Die Ordnung der Dinge, 34). Geisenhanslüke 2008, Gegendiskurse, 96. Bärbel Küster untersucht in ihrem Beitrag im dritten Kapitel „Gesten des Dokumentierens − Archive des Scheiterns“ visuelle nouvelles in Form von Fotografien aus der Kolonialzeit. Foucault 2001, Das Leben der infamen Menschen, 47. Ebd., 47. Vgl. Geisenhanslüke 2008, Gegendiskurse, 93.
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davon entfernt ist, als konkrete Kritik aufzutreten. Eine ethische Dimension in ihrer minimalsten Form erwüchse dann aus dem Umstand, dass die Existenz dieser Menschen nur noch in einer winzigen wörtlichen Spur, quasi einem Punkt angezeigt ist, die sich nicht deuten, nicht vereinnahmen lässt und somit die Singularität der Existenz zum Ausdruck bringt.38 Kann es überhaupt eine Sammlung geben, in der jene Radikalität und mit ihr die Flüchtigkeit der Sammlungsexponate erhalten bleibt? Schafft nicht jede Sammlung eine wie auch immer geartete „Logik“ oder „Grammatik“ der Sammlung, in der jene Radikale eine neue Kontextualisierung erfahren, in der sich die spezifische Fiktionalität wieder zu einer plausiblen Realität verdichtet? Es wäre „wohl das Beste“, so schreibt Foucault zu Beginn, diese nouvelles „in der Form zu belassen, die sie für mich so spürbar gemacht hatten“39. Jene erste Form ist jedoch die Lektüre im Archiv, in der aus der Masse der gesichteten, durchstreiften Dokumente einige herausstechen und zu einer Begegnung werden. Diese erste flüchtige und in ihrer Flüchtigkeit fragile Begegnung ähnelt in vielen Punkten der Wahrnehmung des Flaneurs, wie sie Walter Benjamin im Kontext seiner Arbeit am Passagen-Werk (1927-1940) beschreibt und die er als „Stadtlektüren“ immer auch mit dem Vorgang des Lesens gleichsetzt. Im Gegensatz zum Reisenden, der mit dem Reiseführer in der Hand die vorgegebene Lesart oder Auslegeordnung (kultureller, künstlerischer, historischer oder politischer Art) nachbuchstabiert, reißt der Flaneur die Dinge aus ihrem gewöhnlichen Zusammenhang heraus, er ‚radikalisiert‘ sie. „Flaneur optisch, Sammler taktisch“40, notiert Benjamin in aller Kürze im Konvolut H („Der Sammler“) des Passagen-Werkes eine grundlegende Entsprechung. Das wahrnehmende Flanieren ist jedoch nicht nur ein visueller Vorgang, sondern vor allem ein performativer Akt, der sich als solcher nicht wiederholen lässt. Foucault nennt seine unrealisierte Sammlung eine „Anthologie von Existenzen“, an anderer Stelle spricht er von einem „Herbarium“41. Ein Herbarium ist eine meist in Buchform, auf beständige Erweiterung angelegte Sammlung getrockneter Pflanzenexemplare, die biologischen Bestimmungszwecken dient. Einem möglichen Bestimmungszweck eines solchen Herbariums der Existenzen, die historisch-wissenschaftliche Analyse, erteilt Foucault eine Absage. Nehmen wir den Entschluss, jenen Text ohne Sammlung zu publizieren, als bedeutungsvoll an, so inszeniert Foucault auf der Ebene seines Textes eine unerfüllte Verweisstruktur, die der unerfüllten Verweisstruktur der nouvelles entspricht: Verweisen die nouvelles auf eine Wirklichkeit, die uns nur noch in Form ihrer wörtlichen Existenz vorliegt, so verweist Foucault auf eine Samm38 39 40 41
Einen Ansatzpunkt für eine solche, jedem ethischen Diskurs vorgelagerte ethische Dimension ließe sich beispielsweise bei Emmanuel Levinas finden. Foucault 2001, Das Leben der infamen Menschen, 10. Benjamin 1982, Gesammelte Schriften. Das Passagen-Werk, Band V/1, 274. Foucault 2001, Das Leben der infamen Menschen, 8.
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lung, die (und mit ihr auch deren ästhetische Effekte) nur als Reflexion vorliegen. Die Unterordnung der Reflexion unter die Präsentation der Sammlung, die Foucault zu Beginn ausspricht, wird so durch deren Wegfall wieder zur Diskussion gestellt. Könnte der Einleitungstext selbst mit seiner unerfüllten Verweisstruktur als Sammlung jener nouvelles angesehen werden? Vielleicht als einzig mögliche theoretische Form, die die Radikalität bewahrt, gerade indem sie sie nur als Konzept ausspricht?
3. Walter Kempowskis Echolot-Projekt: die doppelte Geste – zwischen historischem Dokument und Literatur Als ein Form für eine moderne Sammlung von nouvelles mag das umfangreiche Projekt Echolot von Walter Kempowski erscheinen, ein gigantisches CollageUnternehmen, das Kempowski im Untertitel als „kollektives Tagebuch“ bezeichnet und das von einem ersten Teil in vier Bänden (Januar und Februar 43, 1993), einem zweiten ebenfalls in vier Bänden (Fuga furiosa. Winter 1945, 1999), einem dritten einbändigen Teil (Barbarossa 41, 2002) bis zum letzten und vierten Teil als Band 10 (Abgesang 45, 2005) erschien. Den Anstoß zu diesem Werk beschreibt Walter Kempowski in seiner der ersten Textsammlung vorangehenden, einem Vorwort ähnlichen, Bemerkung: Jahre später, als ich in Göttingen studierte, sah ich einen Haufen Fotos und Briefe auf der Straße liegen, die Menschen traten darauf: es war die letzte Hinterlassenschaft eines gefallenen Soldaten, Fotos aus Rußland und Briefe an seine Braut. Das gab mir einen Stich, und ich sammelte die Sachen ein.42
Auch wenn diese Dokumente nicht 200 bis 300 Jahre von uns entfernt sind und somit beim Aufsammeln sicherlich noch Menschen lebten, die diesen gefallenen Soldaten erinnerten, so hängt das Schicksal dieser Erinnerungsdokumente, die sprichwörtlich mit Füßen getreten werden, an einem seidenen Faden. Die verlorenen oder weggeworfenen, auf jeden Fall besitzlos gewordenen Heimatbriefe des toten Soldaten können in einigen Jahren die letzte Spur sein, mit der sich eine menschliche Existenz anzeigt und somit geht die Thematik des Verschwindens prominent dem zehnbändigen Werk voran. Sein kurzer Text „Statt eines Vorwortes“ wird jedoch von einem Initialerlebnis aus seiner Zeit als Gefängnisinsasse in Bautzen eröffnet43, und dieses Erlebnis wird zu einer akustischen Metapher für die von Kempowski intendierte Rezeption der Textsammlung: 42 43
Kempowski 1993, Das Echolot 1.1.-17.1.43, 7. Kempowski wurde wegen Spionage für die Amerikaner verhaftet und saß bis zu seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik acht Jahre in Bautzen. Entgegen Kempowskis eigenen Angaben hat sich nach Einsicht in die Akten gezeigt, dass der Vorwurf der Spionage der Sachlage entsprach. Vgl. dazu das Interview des Germanisten und Freundes Kempowskis Alan F. Keele, dem der erste Band des Echolotes gewidmet ist, in der FAZ vom 04.05.2009, online unter: http://www.faz.net/
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An einem Winterabend des Jahres 1950 wurde ich in Bautzen über den Gefängnishof geführt, und da hörte ich ein eigenartiges Summen. Der Polizist sagte: ‚Das sind Ihre Kameraden in den Zellen, die erzählen sich was.‘ Ich begriff in diesem Augenblick, daß aus dem Gefängnis nun schon seit Jahren ein babylonischer Chorus ausgesendet wurde, ohne daß ihn jemand wahrgenommen oder gar entschlüsselt hätte, und es wurde mit bewußt, daß ich der einzige Zuhörer war: ein kleiner Häftling und zwar für knappe zwei Minuten.44
Dass Kempowskis Werk den Anspruch erhebt, die polyphone Kakophonie des Denkens, Fühlens und Wünschens, jenen „babylonischen Chor“, der in jeder Epoche und zu jeder Zeit erklingt, für ein aufmerksames Horchen zu präparieren, darauf verweist der Titel Echolot. Er suggeriert, dass es eine Tiefe zu vermessen gilt, in der wir auf herkömmliche Verfahren und Techniken keinen Rückgriff mehr nehmen können. Die den Meeresbewohnern und nachtfliegenden Fledermäusen abgeguckte Schalltechnik verspricht Orientierung und ein Hörbarwerden des Nicht-Vernehmbaren: „Wer eine Formel für den Krebsgang der Menschheit sucht – mit dem Echolot holt er sie aus der Tiefe.“45 Die von Kempowski zusammengetragenen und komponierten Texte sind allesamt als „authentisch“ zu bezeichnende Schriftstücke. Sie sind vorrangig Dokumente des sogenannten „life writing“, d. h. Briefe, Tagebucheinträge, Memoiren, Erinnerungen, denen Kempowski jedoch auch Einträge aus Geburtenund Sterberegistern zur Seite stellt, sowie Pressenotizen, Klassenbucheinträge, Polizeiberichte oder Gerichtsurteile. Er greift dabei sowohl auf unveröffentlichte als auch auf bereits publizierte Quellen zurück.46 Trotz der kurzen Zeitspanne, die uns von diesen Kriegsexistenzen trennt, trotz der Einwohnermelderegister und bedrohlich lückenlosen Erfassung der Bevölkerung im Dritten Reich, ist es Kempowski und seinen Helfern nicht immer gelungen, die Identität der Schreibenden zu ermitteln. Ohne verbürgte Identität und registriertes Geburtsdatum werden diese Briefe zu einem Verweis, dem außerhalb der Literatur keine verbürgte Referenz mehr zukommt und so tragen einzelne Elemente dieser Sammlung jenen Charakter der Indifferenz von Realität und Fiktion, die Foucault als spezifische Fiktionalität der nouvelles bezeichnete. Dies gilt in besonderer Weise auch für die administrativen Geburtsvermerke des jüdischen Krankenhauses, die aufgrund ihrer Kürze wie Stecknadeln tatsächlich einen Punkt der Existenz verzeichnen. Sie zeigen die Geburt eines Kindes jüdischer Mutter an, bürokratisch verzeichnet ist Gewicht und
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aktuell/feuilleton/buecher/2.1719/gespraech-mit-dem-germanisten-alan-keele-walter-kempowskiwar-doch-ein-spion-1803432.html, zuletzt aufgerufen am 30.08.2015. Kempowski 1993, Echolot 1.1.-17.1.43, 7. Ebd. In ihrem Roman The Empty Cabinet, der die Lebensgeschichte einer Sammlerfamilie in den Blick nimmt, arbeitet Sue Waterman mit der Montage gedruckter und ungedruckter Dokumente und reflektiert mit ihrer Collagetechnik über die Möglichkeit, Biographien zu sammeln und zu (be)schreiben. Vgl. dazu auch den Essay von Marion Picker über Sue Waterman im zweiten Kapitel.
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Körpergröße, eine Erfassung einer menschlichen Existenz in Zahlen. Die Namenlosigkeit des Kindes, das nur als Kind von yx eine Identität erhält, produziert unweigerlich ein großes Fragezeichen: Welche Überlebenschancen hatte ein in einem jüdischen Krankenhaus im Kriegs- und Vernichtungsjahr 1943 geborenes Kind? Gerade das Wegfallen jeglicher Informationen macht diesen Text zu einem „Radikal“, das mehr Fragen aufwirft als Informationen gibt. Im Gewaltgehege der NS-Ideologie bereits von Geburt an infam, kreuzen diese kleinen Existenzen mit ihrer Geburt den Bereich der Macht. Anders als in den von Foucault untersuchten Briefeingaben, wird die Existenz jedoch vollkommen formalisiert. Wie liest man nun diese ungeheure Fülle an zusammengetragenen Dokumenten? Eine erste Versuchung besteht darin, sich ordnend über dieses Stakkato zu beugen und nach klassifizierenden Eckpfeilern zu suchen: Geht man dieser Lust nach, dann wird man als Leser/in selbst zum Sammler in der Sammlung, zu ihrem Reorganisator: Wie viele Neugeborene, wie viele Männer, wie viele Frauen, wessen Brief wird als der Brief eines Toten angezeigt, wer hat überlebt, wer nicht etc.? Das Material verleitet dazu, sich ein Bild zu machen, das Nebeneinander zu strukturieren, allgemeine Aussagen zu treffen – d. h. wie ein Historiker vorzugehen. Kann das Echolot wie ein historisches Material behandelt werden, das es wissenschaftlich zu durchdringen gilt? Walter Kempowski prophezeite seinem Werk eine problematische Rezeption hinsichtlich seiner disziplinären Zuordnung.47 Dieser Prophezeiung entspricht zumindest der Umstand, dass Das Echolot kaum von Historikern wahrgenommen wurde.48 Innerhalb der Literaturwissenschaft fand jedoch eine ausführliche Rezeption statt, die sich nicht zuletzt demjenigen widmet, was sich in Kempowskis Prophezeiung anzeigt: dem Problematischwerden des Literaturbegriffs und der Frage nach dem Grenzverlauf zwischen historischem Dokument und Literatur. Sein wiederholtes Urteil über die von ihm ausgelöste disziplinäre Irritation ist m. E. weniger als ein Tatbestand, sondern als Teil einer (literarischen) Strategie zu beurteilen, die als doppelte Geste dem ganzen Projekt eigen ist und mit der Kempowski gezielt zwei Formen von Signalen aussendet, in denen er sich als Autor setzt und zugleich aufhebt. Die umfangreichen Vorarbeiten für das Zusammentragen des Materials erforderten viele Jahre und vieler Menschen Recherche, die in einer Redaktionsnotiz dem Werk vorangehend ähnlich einer wissenschaftlichen Forschungsgruppe namentlich genannt werden.49 In der eben-
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Vgl. Kempowski 2005, Culpa, 351. Vgl. Cornelißen 2005, Geordnete Erinnerungen, 33; Kerstin Dronske übernimmt Kempowskis Urteil vgl. dies. 2005, Vorwort, 8. Über die Auswahl des Materials und seine Selektionsmechanismen gibt Kempowski in dem Werk selbst keine Auskunft. Kempowski schildert in einem Interview, wie schwer die Beschaffung von polnischen Zeugnissen war, dass in manche Archive kein Einblick gewährt wurde (z. B. in Sammlungen von Erinnerungen und Tagebüchern französischer SS-Männer) oder dass
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falls vorangestellten editorischen Notiz wird verzeichnet, unter welchen Umständen Eingriffe in den Texten vorgenommen wurden, ob Namen und Lebensdaten der Personen vorliegen und wie Auslassungen, Anonymisierungen sowie fehlende Angaben gekennzeichnet sind: Alles in allem wird ein sorgfältiger editorischer Umgang angezeigt, aufgrund dessen man Kempowski die Funktion eines Herausgebers zuschreiben könnte. Der Buchdeckel weist Kempowski klar als Autor aus, ebenso scheint dies auch der bedeutungsschwere Titel Echolot, wäre da nicht der Untertitel, „Ein kollektives Tagebuch“, der die Autorschaft einer Gemeinschaft anzeigt. Der editorischen Notiz folgt eine Danksagung an die Zeitzeugen, Archive und Mitarbeiter und der kurze, bereits erwähnte Text „Statt eines Vorwortes“, der die für den Herausgeber prädestinierte Textsorte des Vorwortes nennt und zugleich streicht.50 Bei einer genaueren Untersuchung der Prätexte zeigt sich, wie stark der von Kempowski vorgenommene Eingriff ist51, der nicht nur in der Auswahl und der Fragmentierung von Elementen besteht, sondern auch die Datierung der Dokumente betrifft, die Kempowski zugunsten der Komposition verändert und mit dem – aus wissenschaftlicher Perspektive – fragwürdigen Begriff der „Transposition“ belegt.52 Die stakkatoartige Abfolge der Stimmen, in der nach Walter Struck „die Einheit der Person durch die Zeit auf[gelöst wird], um die Splitter in der Einheit eines Zeitpunkts wieder zusammenzufügen“53, folgt einer komplexen Choreographie. Sie enthält gezielte Kontraste zwischen Tätern und Opfern, alt und jung, zwischen „hoch“ und „tief“ in der gesellschaftlichen Nomenklatur: Der Eintrag eines Tadels im Klassenbuch steht neben der Anzeige eines Selbstmordes, der Überlebenskampf neben banalen Alltagsreflexionen. Die Gegenüberstellung der Geburt eines namenlosen Säuglings im jüdischen Krankenhaus mit dem Selbstmord vier erwachsener Menschen jüdischen Glaubens ist nicht zufällig, enthält eine Aussage und ist dennoch statistisch nicht zu verwerten, denn eine genau verbürgte Anzahl von Geburten und Selbstmorden gibt es nicht. Folgt der erste Band stur der Tagesabfolge, so enthält doch jeder Tag
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einzelne Archive zwar Einblick, aber keine Veröffentlichung erlaubten (so z. B. bei einzelnen britischen Archiven). Die Auswahl des Materials für den ersten Band „Barbarossa 41“ enthält nach Kempowski über ein Drittel russische Quellen, dafür führte ein russischer Offizier Interviews für Kempowski mit ehemaligen Partisanen, vgl. Dronske/Kempowski 2005, Als ob ich, 11. Vgl. dazu Bittel 2005, Beschreibung eines Kampfes, 364, der darauf hinweist, dass er ein Vorwort haben wollte, Kempowski aber nicht. Vgl. dazu Lethen 2010, Das Echolot des Geschichtszeichens, der sich in seinen Aufsatz u. a. auf die quellenkritischen Studien seines Doktoranden beruft und die starke Bearbeitung der Prätexte nachweist. „Das Zauberwort heißt Transposition. Ich habe hin und wieder Texte auf ein zeitlich nahes Datum verschoben. Ich habe diese Stellen aber kenntlich gemacht, indem ich den Ort oben in der Titelzeile in Klammern setzte. Das bedeutet immer: Achtung, hier differiert es um einen Tag.“ (Dronske/Kempowski 2005, Als ob ich, 16). Struck 2005, Textarchitekturen, 24 [Herv. S. Sch.].
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eine Art Rahmung, denn die Tage beginnen mit dem Protokoll des Gesundheitszustandes von Hitler und enden mit den Zu- und Abgängen aus Auschwitz-Birkenau und schlagen so eine Art Bogen zwischen Tätern und Opfern.54 Auch Anfang und Ende sowie die interne Struktur der Echolot-Bände sind symbolisch bedeutend und folgen nicht dem Kriterium der Repräsentativität (was Foucault und Farge für ihre historische Sammlung der Lettres de cachet in Anspruch nahmen): Der erste Band setzt nicht zu Kriegsbeginn ein55, sondern markiert im Tagesrhythmus den Wendepunkt Stalingrad, beginnend jedoch nicht am 10. Januar als Tag der sowjetischen Offensive gegen Stalingrad, sondern am 1. Januar, der als Neujahrstag immer auch Hoffnung und Verheißung enthält.56 Waren die ersten Bände durch die Fülle der Notizen der Tag-für-TagChronologie gewidmet, deren Komposition auf Kontraste setzte, so konzentriert Kempowski die Zusammenstellung im letzten Band Abgesang 45 auf fünf Tage im Frühling, denen eine paradigmatische Bedeutung zukommt: der 20.4. (Hitlers letzter Geburtstag), der 25.4. (das Zusammentreffen der alliierten Truppen in Torgau) und der 30.4. (Hitlers Todestag) sowie der 8. und 9. Mai (Kapitulation des Deutschen Reiches). In diesen vier Tagen wird das Chaos und Inferno des Kriegsendes präsentiert, Fluchten, Todesmärsche, Selbstmorde, Hinrichtungen, Endkämpfe und Vergewaltigungen.57 Kempowskis durchdachte Leserführung führt für den Historiker Cornelißen zu einer „emotionalen Betroffenheit“58 und er würdigt sie als eine Form der Geschichtsschreibung, die gegen eine anonymisierende Wissenschaftssprache das Leben und Erleben in den Vordergrund stellt, denn es gehe auch in der Geschichtswissenschaft darum, den Opfern aber auch den Tätern ein Gesicht zu verleihen.59 Als historisches Werk gelesen, fällt Echolot für Cornelißen jedoch hinter die Standards gegenwärtiger Geschichtsschreibung zurück, die wesentlich transparenter mit der nicht wegzudiskutierenden Perspektivität des Wissenschaftlers umgeht: Während Historiker in ihren geschichtlichen Darstellungen heute grundsätzlich darum bemüht sind, ihren Standpunkt, von dem aus sie Geschichte schreiben und die Methoden, mit denen sie dies tun, explizit offen zu legen, verstieß und verstößt Kempowski im ‚Echolot‘ elementar gegen diese Grundregel moderner Geschichtsschreibung. Noch weitergehend: Er verstößt bewusst gegen diese Regel, indem er sein eigenes Selbst fast vollständig auslöscht.60
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Vgl. ebd., 23. Kempowski verweist in einem Interview darauf, dass er keine Kriegseuphorie zeigen wollte (Dronske/Kempowski 2005, Als ob ich, 19). Vgl. dazu Helbig 2010, Kompilator Kempowski, 205. Kempowskis Erklärung, dass das Material zu reichhaltig gewesen war und eine Selektion der Tage notwendig, spielt diese symbolische Auswahl eher herunter, vgl. Dronske /Kempowski 2005, Als ob ich, 16. Cornelißen 2005, Geordnete Erinnerungen, 36. Ebd., 37. Ebd., 33 f.
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Liest man das Werk jedoch nicht als wissenschaftliches Werk, dann spricht die formale literarische Komposition für sich und muss nicht noch durch eine diskursive Explizität ergänzt werden.61 Dass diese doppelte Geste der Gratwanderung zwischen Geschichtsschreibung und Literatur als eine Reflexion über jene Grenze bzw. die Bedingungen der Möglichkeit von Geschichtsschreibung zu verstehen ist, belegen auch die zahlreichen Stellen, in denen die Protagonisten dieses „kollektiven Tagebuchs“ über Geschichtsschreibung und Zeugenschaft schreiben, welches man als einen regelrechten internen Diskurs über Geschichte verstehen kann.62 So z. B. bei André Gide, der im Hafen von Tunis am 3. Januar 1943 den Gerüchten nachgeht, es läge ein italienisches Schiff im Hafen und schließlich reflektiert: „Ich kann hier aber nicht das Echo aller Gerüchte aufzeichnen, die im Umlauf sind“63. Und wenig später: „Man tappt in Mutmaßungen herum; Tatsache ist, daß das Duzend (sic!) Eier hundertzwanzig Francs kostet.“64 Zu diesem Diskurs über Geschichte und Zeugenschaft zählen auch Reflexionen Paul Valérys, die Kempowski aus Valérys Tagebuch entnommen und in den kollektiven Stimmenchor des Echolot eingefügt hat. Moritz Baßler wendet sich diesen ValéryFragmenten zu, rekontextualisiert sie und liest Kempowskis Echolot als den Versuch, mit dem „bewährten Avantgarde-Muster des Readymade“65 eine literarische Form der Geschichtsschreibung umzusetzen, die Valérys skeptischen, nicht-linearen Geschichtsbegriff und der collageartigen Hintereinanderschaltung von Gedanken in Valérys Cahiers entspricht.66 Diese literarische Form der Geschichtsschreibung sei ein Archiv in Buchform, die Authentizitätsdebatten hinter sich lasse67 und zu einer „Preisgabe des Auktorialen“ und Narrativen führe. Als perfektionierte Form dieser im Echolot angelegten literarischen Geschichtsschreibung imaginiert Baßler ein elektronisches Textarchiv.68 Baßler entgegenzuhalten wäre nicht nur, dass Valéry zwar eine zentrale Stimme dieses internen Geschichtsdiskurses ausmacht, nicht jedoch die einzige ist, 61
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Auf die Frage „Schriftsteller, Sammler, Archivar. Als was fühlen Sie sich?“, antwortet Kempowski im Interview mit Kerstin Dronske: „Ein Sammler bin ich nicht. Das ist etwas ganz anderes. Das ist so ähnlich wie der Umstand zwischen Trinker und trinken. Ich bin Schriftsteller.“ (Dronske/Kempowski 2005, Als ob ich, 14). Moritz Baßler fragt sich, wie diese Dichte an kommentierende Geschichtsschreibung reflektierenden Passagen zu deuten ist: „Wollen wir die hohe Rekurrenz von Stellen, in denen über die Schwierigkeiten historischer Verifizierung reflektiert wird, dem historischen Diskurs 1943 zurechnen oder einer hochselektiven und kompositorisch verdichteten Textstrategie?“ (Baßler 2010, Geschichte, 18). Kempowski 1993, Echolot 1.1.-17.1.43, 128. Ebd., 129. Vgl. auch ebd., 232: „Erstens ist nicht einfach zu sagen, was heute zu sagen ist.“ (Hans Lilje, 5.1.1943). Baßler 2010, Geschichte, 21. Vgl. ebd., 20. Vgl. ebd., 23: „Die Wahrheit besteht allein darin, dass es geschrieben steht, sie ist ein schriftabhängiger Wert, und die Überprüfung findet im Vergleich mit den anderen Stimmen statt.“ [Herv. i. O.]. Vgl. ebd., 22.
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sondern dass Kempowskis Textkomposition durchaus narrative Elemente enthält. So weist Helbig darauf hin, dass die fragmentierten Dokumente als Biographien, Briefe oder Tagebücher beinahe ausnahmslos eine narrative Struktur besitzen, dass wir einzelne Stimmen in Abständen immer wieder hören und er zeigt in der Konfrontation der Protagonisten „erzählerische Bögen“ und „erzählerische Anschlüsse“69. Der gewünschte und erzielte Effekt der Polyphonie, den Baßler unterstreicht, entsteht jedoch nicht allein in der Geste des Zur-Verfügung-Stellens einer Textmasse. Synchrone Rezipierbarkeit von Texten – findet sie nun im Medium des Buches oder im elektronischen Archiv statt – kann nur mittelbar erreicht werden, denn primär bleibt die Rezeption von Text immer eine sukzessive. Aufgrund des inszenatorischen Charakters plädiert Helbig anstelle des Archivs für den Begriff des Museums70, in dem Kempowski das historische Wissen ausstellt71 und verweist auch auf Kempowskis Aussagen in seinem Tagebuch „Auch das ‚Echolot‘ ist ein Museum“72. Ist der kompositorische Eingriff der Montage der historischen Fundstücke derart stark, so verwundert es nicht, dass sich Kempowski im Werk aber auch in Interviews73 mehrfach zu einer „Absicht“ bekennt und explizit eine ethische Intention für sein Werk formuliert. In seinem, dem Echolot vorangestellten einleitenden Text beschreibt er seine eigene Bewegung beim Lauschen des zusammengestellten Stimmenchors als eine Form der Liebe und setzt auf eine versöhnende Wirkung des Werkes: „Das Zuhören kann es möglich machen, daß wir endlich ins reine kommen miteinander.“74 Dass eine solcher Effekt jedoch nicht per Einleitung angewiesen werden kann, zeigen die vielen kritischen Stimmen, die Kempowskis Stimmenchor, der Opfer wie Täter, Welt und Regionalgeschichte, Alltägliches wie Grausames nebeneinander schaltet, Ungleiches zu Gleichem erklärt, eine „Flucht in die Harmlosigkeit“75 bescheinigen. Der Historiker Cornelißen formuliert, dass die „kommentarlose Aneinanderreihung heterogener Quellen mit nur vager Herkunftsbezeichnung“ eine Tendenz befördere, wie sie in den 1950er Jahren der deutschen Geschichtsschreibung vorherrschte und welche bemüht war, die Deutschen als Opfer darzustellen, so dass 69
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Helbig 2010, Kompilator Kempowski, 213. Ähnlich urteilt auch Damiano 2005, Walter Kempowski’s ‚Das Echolot‘, 29. Ebenso wie Jörg Drews in der Baseler Zeitung vom 15.12.1993 und Kyora 2005, Weltgeschichte in der Nähe, versucht sogar diese so entstehenden Portraits nachzuzeichnen. Vgl. Helbig 2010, Kompilator Kempowski, 214 f., vgl. auch ebd., 215: „Zeigen und behaupten, das ist, was Kempowski mit dem Echolot getan hat. Sammeln, ordnen und präparieren, das ist, was er für das Echolot getan hat.“ [Herv. i. O.] Dem entspricht Hans Maiers Interpretation, der Kempowskis Werk als explizite Geste des Zeigens versteht. Kempowski deutet wie ein Lehrer mit dem Zeigestock, vgl. Maier 1994, Chronos im Originalton, 9. Helbig 2010, Kompilator Kempowski, 209. Kempowski 2003, Alkor, 167. So z. B. beschreibt er den Antrieb für diese „wahnsinnige Arbeit“ in dem Interview mit Kerstin Dronske als „Gefühl für Gerechtigkeit und aus Mitleid“ und konstatiert: „Das Menschenelend hat mich bewegt“ (Dronske/Kempowski 2005, Als ob ich, 10). Kempowski 1993, Echolot 1.1.-17.1.43, 7. Struck 2005, Textarchitekturen, 25.
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„sich Fragen nach Schuld und Verantwortung“ verlören, der Anspruch „einer konkreten historischen Analyse“76 erlösche. Es bleibe am Ende der Eindruck zurück, dass „die Opfergemeinschaft des Typs, wie sie Kempowski in seinem ‚Echolot‘ konstruiert, keine klare Differenzierung mehr zwischen Ursachen und Folgen zulässt“77. Dieses Unbehagen, ohne das sicherlich keine juristische Aufarbeitung von Schuldfragen möglich ist, mag ein, muss jedoch nicht der letzte Lektüreeffekt sein, den das Werk hervorruft. So unterstreicht Struck, dass man bei diesem Effekt nicht stehen bleiben muss, und dass „er sich auch verstehen ließe als die notwendige Vorstufe für die Erkenntnis, wie leicht gerade Harmlosigkeit in Grauen umschlagen kann“78. In der stakkatoartigen Hintereinanderschaltung der Ausschnitte entsteht ein enormes Tempo, in dem die Menschenschicksale auf einen „Minutenauftritt in der kollektiven Katastrophengeschichte“79 reduziert werden. Im Unterschied zur großen Zeitspanne, die uns von dem Leben der Internierten aus dem 17. Jahrhundert trennt, sind wir emotional stark involviert in die Kriegsjahre des Zweiten Weltkrieges. Hinter den Fundstücken und Dokumenten stehen unaufgefordert die Schuldfragen der Deutschen. Kempowski geht es jedoch nicht um eine analytisch urteilende, sondern um eine zusammenschmelzende Lektüre, die aus dem Hintereinander der disparaten Dokumente einen Stimmenchor werden lässt. Der Erkenntniswert dieser Lektüre besteht nicht im analytischen Durchdringen, sondern im quasi musikalischen Durchlesen und -leben der Komplexität singulärer Positionen, die eine emotionale Disposition schaffen soll. Da wir uns im sukzessiv zu rezipierenden Medium des Buches befinden, kann der Effekt der Synchronisierung nur durch Verdichtung entstehen. So wie Paul Virilio den Umschlag von Geschwindigkeit in Stillstand beschreibt und dabei auf ein sich drehendes schwarz-weißes Rad verweist, das irgendwann zu einem flimmernd-stehenden Kreis wird80, entsteht hier durch den schnellen Wechsel des Gefühls von heiß und kalt, dem der Leser ausgeliefert ist, irgendwann eine Art emotionales Flimmern, eine Verschmelzung, ja sogar eine Art Stilllegung von
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Cornelißen 2005, Geordnete Erinnerungen, 41. Ebd. Zur Debatte um den Opferstatus der Deutschen in der Literaturwissenschaft vgl. auch die Diskussion um W. G. Sebalds Essay über die Luftangriffe der Alliierten (1997) oder Günter Grass „Im Krebsgang“ (2002). Vgl. Struck 2005, Textarchitekturen, 25. Cornelißen 2005, Geordnete Erinnerungen, 42. Kempowski selbst äußerst sich enttäuscht, aber auch ein wenig unrealistisch angesichts des Umfangs seines Werkes zur selektiven Lektüre seiner gigantischen Echolot-Bände: „[L]eider habe ich erfahren, dass viele Menschen das „Echolot“ nur durchblättern. Und das zu hören, ist für mich nicht erfreulich.“ (Dronske/Kempowski 2005, Als ob ich, 13). Vgl. Virilio 1992, Rasender Stillstand.
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Geschichte.81 Man kann in diesem schnellen Wechsel des Ungleichen und miteinander Unvereinbaren jedoch auch einen Effekt der „Disparatheit“ erkennen, wie ihn Foucault in den Lettres de cachet zwischen Adressat und Schreiber konstatiert und der als sich steigerndes Unbehagen einer versöhnlichen Verschmelzung entgegenwirkt. Eine als Effekt gewollte „Disparatheit“ und ein Unbehagen entsteht jedoch nicht nur zwischen den Stimmen, sondern auch in der oben beschriebenen doppelten Geste, die das Werk auf der Grenzlinie zwischen Geschichtsschreibung und Literatur ansiedelt. Anzeichen dafür, dass Kempowskis Echolot gegen eine Klärung von Schuldfragen antritt, lassen sich meines Erachtens dem Werk nicht entnehmen, gleichwohl bleibt dies eine Gefahr möglicher Lesarten. In diesem Kontext scheint es mir wichtig, den Blick auf einen Epitext zu wenden, ein Gedicht von Hermann Broch, das Kempowski seiner kurzen Einleitung voranstellt. In dem Gedicht wird die Sprache der Opfer imaginiert im „kalten Schweiß der Hinrichtung“, die, würde sie stattfinden, in einer „fürchterlich neuen Sprache“ zu sprechen wäre, „in der kein Wort dem andern mehr ähnelt“. Diese Sprache wäre für uns, die wir die gewöhnliche Sprache sprechen, stumm „ein schrilles Glucksen der Zerstörung / darum hat uns, die wir es hören müssten, das Schicksal die Ohren verstopft“82. Diesem Gedicht folgen nun die Stimmen der Opfer und Täter, in einer Sprache, die wir verstehen, mal ungeschickt, mal ekelhaft aufgesetzt, arrogant und menschenverachtend, mal bestechend genau und in ihrer Einfachheit durchdringend. Wo finden sich die Stimmen dieser vollkommen neuen Sprache, in der jedes Wort eine Singularität darstellt, als hätte sich der semantische und grammatische Zusammenhang aufgelöst, als ließen sich nur noch sprachliche Entitäten oder „Wortdinge“ sagen? Eine Sammlung, so umfangreich und komplex sie auch sein mag, verweist immer auch auf das, was nicht in ihr aufgenommen ist. Der „Ort“ oder „Raum“, in dem sich diese Stimmen sammeln, ist der Zwischenraum, zwischen dem Anwesenden. Vor dem Hintergrund dieser Lektüreanweisung, die das Gedicht nahelegt, wäre Kempowskis Echolot eine ebenso große Sammlung der nicht gehörten wie der gehörten Stimmen. Regt Kempowskis Text „Statt eines Vorwortes“ eine verschmelzende Lektüre an, so wird mit Brochs Gedicht das sich drehende Rad aus heiß und kalt wieder angehalten, um das Ohr für diejenigen Stimmen zu schulen, die aus der sich drehenden Zentrifuge der Versöhnung herausgefallen sind.
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Beschreibt Iris Radisch in ihrer Rezension 2005 in Die Zeit den Lektüreeffekt als würde man durch die Zeit zappen und nirgendwo verweilen können, so müsste man, um den von Kempowski erwünschten Effekt zu erzielen, die Geschwindigkeit noch weiter aufdrehen. Kempowski 1993, Echolot 1.1.-17.1.43, 8.
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4. Felicitas Hoppe: Verbrecher und Versager − eine metafiktionale Portraitsammlung Felicitas Hoppes Erzählband Verbrecher und Versager ist auf den ersten Blick recht weit entfernt von Foucaults Anliegen und scheint auch wenig gemeinsam zu haben mit Kempowskis Monumentalwerk. Es handelt sich um eine kleine Erzählsammlung, in der unverkennbar die literarische Handschrift der Autorin waltet, und nicht um eine Sammlung authentischer schriftlicher Spuren. Die Erzählungen werden sprachlich durch die Überschrift und intermedial durch ein je vorangehendes Bild als „Portraits“ ausgezeichnet, und Hoppe tritt so mit einem Anliegen auf, das Foucaults Insistieren auf Flüchtigkeit, Kürze und Radikalität entgegengesetzt zu sein scheint, ist doch das Portrait landläufig der Inbegriff einer wesenhaften Erfassung eines Menschen.83 Allerdings geht es in Hoppes Erzählungen um das Leben marginalisierter Existenzen und das damit verbundene „Sammlungsverhalten“ der Gesellschaft, sie reflektieren auf die Bedingung der Möglichkeit ihrer historischen Erfassung und auf die Unhintergehbarkeit ihrer Fiktionalität, mithin auch auf die Grenze zwischen Geschichtsschreibung und Literatur.84 Mit vergleichendem Blick auf Foucault und Kempowski werde ich zunächst die gesellschaftliche Flucht der „Verbrecher“ und „Versager“ in ihrer Konsequenz für die Sprache untersuchen, um dann Hoppes metafiktionalen Diskurs85 insbesondere mit Blick auf eine mögliche Sammlung von Portraits sowie auf die Zentralmetapher der Post nachzuzeichnen. Verbrecher und Versager ist eine Sammlung von fünf Erzählungen, in denen bis auf eine Ausnahme ein historisch verbürgter Protagonist im Zentrum steht. Die Portraits reichen vom 17. bis ins 20. Jahrhundert, sind in sich abgeschlossene Erzählungen, werden jedoch zugleich auf reflexiver Ebene sowie durch ein dichtes intertextuelles Verweisnetz miteinander verbunden.86 Was alle diese 83 84
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Zum Portrait in Miniaturform als Stellvertreter des Menschen in der politischen Sammlung der Königin am englischen Hof vgl. Susanne Scholz „Der Hof in der Kiste“ im dritten Kapitel. Ob Hoppe die kleine Schrift von Foucault kennt, konnte ich nicht eruieren, deutlich ist jedoch, das unterstreicht Felicitas Hoppe in ihren Augsburger Vorlesungen, dass Foucaults Schriften einen Hintergrund ihrer literarischen Reflexion bilden, u. a. Foucaults Schriften zur Literatur wie die „Über den Autor“, Hoppe 2009, Sieben Schätze, 213. Ich verwende den seit den 1980er Jahren prominenten Begriff der Metafiktionalität im Sinne einer literarischen Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit von Fiktionalität und ihre Grenze zur Realität, indem sie insbesondere die Textualität von Realitätsbezügen thematisieren, und so zuerst von Patricia Waugh in die Diskussion gebracht wurde (Waugh 1984, SelfConscious Fiction). So wird wie in einer Art Vorschau gleich zu Beginn in der ersten Erzählung „Meister: Marathon“ ein Blick auf die weiteren Kapitel geworfen und damit eine indirekte Verbindung der jeweiligen Erzählinstanzen geschaffen (vgl. Hoppe 2006, Verbrecher und Versager, 18) oder in der zweiten Erzählung „Kapf: Hombre“ mit dem Hinweis auf das dreizehnte unerwünschte Kind auf Hagenbucher angespielt, den Protagonisten der vierten Erzählung (vgl. ebd., 45). Verbindungen zwischen den Erzählungen ergeben sich auch durch die gleichen Zentralmetaphern wie Schatten, Muttererde, das Kartenspiel Hombre, Post, Briefe und das Paradies, durch eine ähnliche „Besetzung“ der Nebenfiguren z. B. der Soldaten- und Seelenfänger, auf sprachlicher Ebene durch eine wiederholende Permutation idiomatischer Wendungen (z. B.
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Protagonisten gemeinsam haben, ist ihr Außenseitertum, ihre Unfähigkeit oder ihr Unglück, in der Gesellschaft keinen Platz zu finden, sie flüchten, als Verbrecher oder Versager in der herrschenden gesellschaftlichen Nomenklatur verurteilt, hinaus aufs Meer. Als Miniaturausgabe der Gesellschaft − Labor oder Arche, Narrenschiff oder Galeere − ist das Schiff eine hochbeladene Metapher87 und so flüchten auch die Meerreisenden mit mehr kulturellem Gepäck als ihnen lieb ist und erleben Heimat und Flucht als Dynamik von Freiheit und Gefangenschaft, als Gleichzeitigkeit von „Draußen-“ und „Drinnen-Sein“.88 Alle Protagonisten leben dabei im Schatten eines oder mehrerer wichtiger Personen, die nicht nur das Leben überschatten und einen zentralen Antrieb zur Flucht darstellen, sondern auch den Lichteinfall auf das Nachleben, die historische Spur, die diese Personen hinterlassen, mindern: Der Schiffsgärtner Georg Meister steht im Schatten der nicht explizit genannten „großen Männer“ seiner Epoche, der Lebemann Kapf im Schatten seines Zimmergenossen Friedrich Schiller, der das von Kapf vorgelebte Leben einfach nur noch aufschreibt und damit Ruhm erntet. Der ungebildete, aber passionierte Naturforscher Junghuhn lebt als Sohn im Schatten und Terror seines Vaters, in historischer Perspektive im Schatten Luthers, der das Andenken der Geburtstadt Mansfeld okkupiert, in wissenschaftlicher Hinsicht jedoch im Schatten Alexander von Humboldts, der aufgrund seines adeligen Standes aus seiner Leidenschaft und den Reisen anderer Profit und einen anderen Platz in der Geschichte erobern konnte. Der drittgeborene Sohn der Tierpark-Dynastie, John Hagenbeck, findet neben der zentralen Figur seines älteren Bruders keine Rolle auf der Familienbühne89, und Hagebucher steht im Schatten seiner Geschwister, der als dreizehntes Kind weder gewollt ist noch ernährt werden kann und dessen Auswanderung ohne Rückfahrkarte der Vater in Stoßgebeten sich erwünscht. Und schließlich sind alle Erzählungen dieser Verbrecher und Versager keine Selbstzeugnisse, sondern werden von einem Erzähler entworfen, der den Akt des Aufschreibens und Nachzeichnens in seiner subjektiven Überblendung selbst thematisiert. Alle Protagonisten sind bis auf die literarische Figur Hagenbucher, die Raabes Erzählung Abu Telfan (1867) entstammt, historisch verbürgte Personen. Als Flüchtende sind sie marginalisiert, hängen aber, anders als die echten Infamen
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„die Zeit totschlagen“) und nicht zuletzt durch die sich durchkreuzenden und wiederholenden Reiseparcours der Protagonisten. Nach Foucault ist das Schiff die „Heterotopie par excellence“, vgl. ders. 2006, Von anderen Räumen, 327. Das Meer als flüssiger, schwankender Zufluchtsort der Möglichkeiten, das Schiff als Übergangszuhause ist eine Thematik, die fast ausnahmslos in allen Werken Hoppes eine literarische Bearbeitung findet, so in Pigafetta, ihrem ersten Roman von 1999, den Hoppe nach einer Reise auf einem Frachtschiff schrieb und in dem Roman Paradiese, Übersee von 2003, ein Jahr vor Verbrecher und Versager, aber auch dem autofiktionalen Roman Hoppe von 2012; zur Thematik des Reisens bei Hoppe vgl. die Beiträge des Sammelbandes von Homscheid/Nyström 2012, Geschichten des Reisens. Vgl. Hoppe 2006, Verbrecher und Versager, 110.
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im foucaultschen Essay nicht nur mit einem einzigen Lebenszeugnis in der Geschichte und haben immerhin in heutiger Zeit einen Eintrag in Wikipedia geschafft, denn sie gehören nicht zu jenen Existenzen, die „dazu bestimmt sind, ohne Spur vorüberzugehen“90. Es sind die Herren aus der zweiten, dritten oder vierten Reihe, eben jene, die im Schatten stehen oder selbst zu einem Schatten geworden sind, deren Umriss man aber immerhin noch feststellen kann. Allerdings treffen wir, indem wir den sprung- und lückenhaften Versuchen folgen, diesen Männern der zweiten und dritten Reihe nachzuschreiben, immer wieder auch solche Existenzen, die man im foucaultschen Sinne als „echte Infame“ bezeichnen könnte: Beispielsweise die namenlose Menschenware, die von diversen Soldatenhändlern eingefangen wird, und deren einfache Spur sich vielleicht in Akten der Fremdenlegionen finden ließe. Der Blick Hoppes richtet sich somit nicht nur auf den Extremfall, auf ein ‚banales‘ Leben, das, weil es in einem Fall die Fäden der Macht durchkreuzt hat, an diesem einen Faden im Netz der Geschichte hängt, sondern auch auf besser belegte, gesellschaftliche Randständigkeit, denn auch hier wird die historische Auf- und Nachlese von Spuren problematisch. Das Meer als ein flüssiges, noch undefiniertes Medium scheint zumindest das Versprechen zu geben, dass man sich in einem Neuanfang jenseits der verhassten Position in den nicht selbst geschaffenen Strukturen noch einmal neu erfinden kann. Die Flucht erweist sich, wenn nicht vollends als gescheitert, so doch nur als bedingt gelungen, denn die Gesellschaft „greift nach“ und lässt die Flüchtenden nicht so schnell entkommen. Eine konkrete Form dieses Rückrufes sind die in allen Erzählungen präsenten Menschenhändler, die den verzweifelten Wunsch nach Flucht und Neuanfang zum Köder auswerfen und jene, die die Gesellschaft wie einen nicht verwertbaren ,Rest‘ ausgespuckt hat, wieder einsammeln. Sie werden mit Alkohol, Drohungen und Versprechen ihrer Stimme beraubt, verdinglicht als Kriegs- und Kampfware zu einer neuen Sammlung zusammengestellt, entwurzelt, verkauft und im Dienste des Vaterlandes verschifft. Auf diese Art für die Gesellschaft ,recycled‘, fahren sie bis zum Verschleiß als deren mobile Einsatztruppe auf dem Meer herum und sichern die Grenzen von Land, Macht, Ökonomie und Wissenschaft.91 Zu diesen Menschenhändlern gehört der Soldatenhändler Hund aus der ersten Erzählung, er „reist in Seelen“92. Der Protagonist Meister ist zu intelligent für die Bodensatzware jenes Soldatenhändlers, gerät jedoch in die Fänge eines „Leutnants aus Frankfurt“93, der mit 90 91
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Foucault 2001, Das Leben der infamen Menschen, 15. „Die Ecken der Stadt sind mit Werbern gestopft, der Herzog braucht Geld und muss weiter Soldaten nach Holland verschachern“ (Hoppe 2006, Verbrecher und Versager, 44). Die Werber sind gekonnte Spieler und Betrüger (vgl. ebd., 47), versichern den Opfern, sie seien ein „Klotz am Bein seiner Heimat“ (ebd., 45), da sie wissen „der Herzog nimmt alles“ (ebd., 50) und was sich auch als körperlicher Ausschuss zeigt, wird von bestochenen Ärzten für den Kriegseinsatz wieder gesund gestempelt (vgl. ebd., 53). Schiffe sind die Sammelbehälter für den gesellschaftlichen Ausschuss, „die Fremdenlegion nimmt sie alle“ (ebd., 83). Hoppe 2006, Verbrecher und Versager, 10. Ebd., 11.
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Teufelsattributen belegt den höheren Menschen-Aussch(l)uss bearbeitet. Beschneidet der Gärtner Hecken und Pflanzen zur Kultivierung, so tritt jener Leutnant als Schattenschneider auf, der Schattenexistenzen wieder kultiviert – oder aber bei Untauglichkeit und Ungehorsam auch ganz zerkleinert wieder dem Meer übergeben wird. 94 Aber auch diejenigen, die diesen Menschenfängern entkommen oder im Spiel mit ihnen ab und zu die Oberhand gewinnen, reisen nie ohne Gepäck und werden selbst zu kleinen Archen der Werte und Normen, die sie hinter sich zu lassen hofften. Eindringlich ist dieses Gepäck in der Metapher der mitgeführten Heimaterde des Schiffsgärtners Georg Meister in der ersten Erzählung, die in großen gezimmerten Kästen mitreist. Im Verlauf der Reise wird die heimatliche Erde ins Meer gekippt und landet dort zusammen mit den einzelnen Gliedern der zerstückelten menschlichen Kampfware, die zwischenzeitlich immer wieder über Bord geht. Das Überbordwerfen von Erde und Menschenware ließe sich im Zeichen der Flucht als Kappen der letzten Taue zur Gesellschaft begreifen oder aber – und das ist die fatale Kehrseite dieses Bildes – als fortwährende Landnahme. Die Flüchtenden sind Erde und Leben los, diese ist jedoch nicht einfach verschwunden, sondern vermischt sich mit dem Meer, so dass es auf dem Meer kein Entrinnen vor der Heimat mehr gibt, man fährt sozusagen auf ihr, sie ist in flüssiger Form in gewisser Weise noch fataler geworden, unbegrenzt und unkontrollierbar.95 Besitzen sie auch selbst nichts mehr, was der Heimat angehört, so entdecken sie sich selbst als seelisch-körperliches Material, in das die Gesellschaft ihre Spuren in Form von Komplexen, Wunden, imaginierten Vorwürfen und Wünschen hinterlassen hat. So nimmt Junghans, der erstklassige Naturwissenschaftler und drittklassige Mediziner die Vorwürfe des Vaters mit auf Reisen. Es ist ein seltsames Stück Heimat, das er mitführt („in jeder Falte des Reisemantels steckt der Vater samt Drohung, Gesicht, Befehl“96), denn es ist genau das, was ihn aus der Heimat ausschließt, und, dadurch dass er es mitführt, immer weiter forttreibt, ohne es loszulassen. Mitgenommen werden jedoch nicht nur der Ärger und die Wut, sondern auch ein väterliches Verhaltensmuster, das er an seinen Untergebenen reproduziert97, sowie die fortbestehende Kränkung, die alle Flucht einem Profilierungszwang unterwirft. Am ausgeprägtesten zeigt sich jene Ambivalenz von Drinnen und Draußen jedoch in der Sprache, jenem Medium, in dem ein Normen- und Wertsystem Ablage und permanente Aktualisierung findet. Hier wird besonders deutlich, dass man das mitgeführte Gepäck nicht einfach über Bord werfen kann, denn das käme einem Verstummen gleich. Dieses sprachliche Gepäck zeigt sich vor allem in den vielen Redensarten und idiomatischen Ausdrücken, in denen mehr 94 95
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Vgl. ebd., 15. Zu Wasser als spezifisches Sammelmedium, in dem (auch menschliche) Abfälle ebenso abgeführt wie einer neuen Verwendung zugeführt werden vgl. die Beiträge von Nina Jürgens und Barbara Thums im vierten Kapitel. Hoppe 2006, Verbrecher und Versager, 76. Ebd., 77.
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noch als in einzelnen Begriffen oder Wörtern ein Wertesystem und eine angeratene Verhaltensform Mitnahme findet. Kann man also nicht wirklich von einer gelungenen Flucht reden, insofern es kein eigentliches Außen, keinen wirklichen Neuanfang, keine neue Form menschlichen Zusammenlebens gibt, so ist das, was auf dem Meer bzw. das, was auf dem Schiff passiert jedoch auch keine schlichte Reproduktion alter Strukturen. Schaut man sich das sprachliche Gepäck genauer an, mit dem gereist wird, so scheint es sich auf dem Meer zu verflüssigen: Es hat, wie das Medium auf dem gereist wird, keinen festen Zusammenhang mehr. Redewendungen sind als Redewendungen erkennbar, werden jedoch minimal variiert, unauffällig kombiniert oder so rekontextualisiert, dass auf den ersten Blick keine, auf den zweiten eine sehr große Irritation entsteht. Denn in der minimalen Verschiebung, quasi einem leichten Schwanken, wird die Gewohnheit der Sinnstiftung gestört. So werden Soldaten nicht an der Nase, sondern an Nasen herumgeführt98, womit das eigentliche Bild – wie ein Tanzbär vorgeführt zu werden – plastisch vor Augen tritt. Der harmlose Grundton, den die Redewendung „an der Nase herumgeführt werden“ besitzt, trifft die grausame Realität der zu Kampfmaterial degradierten Soldaten. Zeit wird auf den langen Schiffsreisen nicht totgeschlagen, sondern totgeschossen oder totgeprügelt99 und unterstreicht mit dieser Minimalveränderung die Gewalt, die in der Gewohnheit der Redewendung bereits untergegangen ist. Es wird nicht auf eigene Faust, sondern auf eigene Rechnung gehandelt100, nicht etwas wird aus den Augen verloren, sondern etwas verliert sich in den Akten101, nicht jemand, sondern Zeit wird (nicht) für dumm verkauft.102 Ist die Gewohnheit der Verwendung verblasst, der feste Zusammenhang der Redewendungen einmal gelockert, steht jedes Wort für sich, ist bereit zur multiplen Sinnstiftung und eine versunkene wortwörtliche Lesart, der bildliche Charakter der idiomatischen Wendung wird wieder aktiviert. Mit dieser leichten Permutation idiomatischer Wendungen entsteht eine Radikalisierung, der ein dekonstruktivistischer Charakter eigen ist, mit der auch die vermeintliche Harmlosigkeit der idiomatischen Wendungen demaskiert wird. Weder gelingt die Flucht noch scheitert sie, sie reproduziert die alten Sprachstrukturen ebenso wie sie sie demaskiert – das Draußen ist das Drinnen103, „ eine Hälfte an Land und eine im Wasser“104.
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„Man führt hier nämlich in fremden Kostümen gerne Soldaten an Nasen herum“ (ebd., 19). „Kapf prügelt die Zeit“ (ebd., 63). 100 „[W]o jeder auf eigene Rechnung handelt“ (ebd., 21). 101 Vgl. ebd., 32. 102 „Und weil ich die Zeit nicht für dumm verkaufe, bleibe ich stehen und drehe mich um“ (ebd., 34); „Aber ich verkaufe meine Zeit nicht für dumm“ (ebd., 10). 103 Vgl. das gleichnamige Unterkapitel in Derrida 1983, Grammatologie, 77. 104 Hoppe 2006, Verbrecher und Versager, 93. 99
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Interessiert sich Foucault vor allem für das Diskursdokument, in dem Fiktion und Wirklichkeit der gelebten Existenz unlösbar ineinander verwoben sind, insofern uns von dem Leben eben nur diese eine textliche Spur bleibt, so suggeriert Hoppe durch die Verwendung der Bezeichnung „Portrait“ im Untertitel der Erzählsammlung zunächst die Vorstellung, sie wolle ein in sich kohärentes Charakterbild jener historisch verbürgten Verbrecher und Versager schreibend nachzeichnen. Unterstrichen wird diese Erwartungshaltung dadurch, dass ein Portrait allen Geschichten vorangeht und eine erste Blicknahme erlaubt. Ein historisches Portrait entsteht, so könnte man vermuten, indem die einzelnen historisch verbürgten Dokumente wieder narrative Fahrt erlangen und die Lücken zwischen den spärlichen historischen Anhaltspunkten fiktiv geschlossen werden. Die Wiedergabe historischer Fakten und deren narratives Überschreiten steht in Hoppes Prosa jedoch durch und durch im Dienste einer metafiktionalen Reflexion auf die Bedingungen der (Un-)Möglichkeit, das Portrait eines Menschen zu schreiben.105 Das Misstrauen gegenüber einer portraitierbaren Ganzheit der Person wird in Hoppes Erzählungen auf unterschiedliche Weisen inszeniert, aber auch unverhohlen verkündet: „Denn in Wahrheit“, so heißt es in der Erzählung über den Naturforscher Junghuhn, kommt es auf Tatkraft an, nicht auf Rekonstruktion, weil sich bei näherem Hinsehen als sinnlos erweist, aus Papierfetzen, flüchtigen Hinweisen und unscharfen Fotografien einen Charakter zu rekonstruieren. Charaktere existieren nicht. Sie sind, wie im Schlepptau die Biographien, immer erfunden. Dieser Glaube, ein Mensch träte uns plötzlich als Ganzes entgegen. Als wäre es wirklich interessant, wer oder was jemand ist. Nur im Verhältnis der Menschen zueinander lässt sich Kontur erkennen, die Ahnung eines Zusammenhangs. Wie sich jemand bewegt, wie er sein Bein nach links oder rechts wirft, überraschend den Absatz verliert, sich plötzlich fahrig zur Flucht fertig macht, dabei mit den Armen rudert und schüchtern die Hand nach uns ausstreckt.106
Ist die Existenz eines Menschen an sich nichts, sondern lässt sich eine Kontur nur in Form seines Verhältnisses der Menschen untereinander erkennen, wie schwer ist es dann, das Portrait einer Person zu zeichnen, die gerade aus jenen Verhältnissen austreten will und wie viele Verhältnisse braucht man, um eine einigermaßen sichere Kontur zu erfassen? Dasjenige Verhältnis, das die Autorin Hoppe ins Zentrum rückt, ist dasjenige zwischen Erzähler und portraitiertem Protagonisten. Denn die Geschichten werden nicht von den Flüchtenden selbst 105
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Vgl. auch Felicitas Hoppe in einem Interview mit Christoph Hamann: „Diesen Junghuhn, den ich begleite, werde ich zu fassen bekommen. Ich werde verstehen, worum es in seinem Leben geht. Dann folgt die Erzählerin dieser Spur und merkt, ich bekomme ihn doch nicht zu fassen. Das gleiche galt für mich. Im Schreibprozess ist mir die Unfassbarkeit des Portraitierten immer deutlicher geworden.“ (Hamann 2009, Felicitas Hoppe im Gespräch, 233). Hoppe 2006, Verbrecher und Versager, 74; vgl. ebd., 97 (Junghuhn): „Wie sinnlos es ist, aus Papierfetzen, flüchtigen Hinweisen und unscharfen Fotografien das Bild eines Menschen zu basteln, der selber nicht weiß, was später aus ihm geworden sein wird, weil er niemals erfährt, wie sehr er sich täuscht, wenn er für immer die Augen schließt, weil schon wenige Jahre nach seinem Tod die Chinarinde so prächtig gedeiht, dass der Handel der Holländer großartig blüht.“
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beschrieben, sondern von einem Erzähler, der in komplexen Textverfahren, die Hoppe auch in Pigafetta, Johanna und Hoppe107 meisterhaft anwendet, mit dem Erzählten verflochten, ja mit ihm verschmolzen. Diese Überblendung von Protagonist und Erzählerinstanz konterkariert Authentizität und Ganzheitsheitsillusion des Portraits. Der Erzähler wird als Aufleser inszeniert, dessen Lektüre zugleich einem Sich-Einschreiben in die aufgelesenen Dokumente gleichkommt, so dass die heterodiegetische Erzählinstanz zwischenzeitlich immer wieder homodiegetischen, in der Identifikation von Erzähler mit dem Protagonisten sogar autodiegetischen Charakter erhält. Eine grundsätzliche situative Gleichstellung erfahren Erzählinstanz und Protagonist, indem Hoppe immer wieder Schreiben und Reisen parallelisiert und die Meerflüchtenden denjenigen gleichstellt, der sie als Zeitreisende durch die Texte treibt.108 Die Erzähler sind den Meerreisenden auf den Fersen und ebenso auf der Flucht vor einer oder der Geschichte, die sie mehr und mehr zu vereinnahmen droht.109 Indem das Schreiben ein auflesendes Sich-Hineinschreiben ist, sind die flüchtenden Schreibenden sich selbst suchend und sammelnd auf der Jagd.110 In diesem Gestus der Überblendung werden Vergangenheit und Gegenwart ohne Signal hintereinander geschaltet, zum Teil innerhalb eines Satzes, so dass die Zuordnung der Satzteile zu den einzelnen Erzählebenen unsicher wird.111 Sprachlich wird diese Metalepse als Überblendung intradiegetischer und extradiegetischer Erzählebenen112 ebenfalls durch eine zweideutige Verwendung von Pronomen sowie durch eine dichtes Netz (zum Teil unscheinbarer) Anspielungen realisiert. So scheint der Schaffner auf der extradiegetischen Erzählebene durch das Vorzeigen des Portraits von Meister die Erzählung über Meister erst in Gang zu setzen und fragt, ob man mit Meister, dem Portraitierten,
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Die Komplexität der ineinander geblendeten Erzählebenen steigert sich insofern in Hoppes autofiktionalem Roman Hoppe, als hier neben dem/der Erzähler/in auch noch die Figur der Autorin mit ins Spiel kommt, vgl. dazu Neuhaus 1989, Metafiktion, 84 ff., Richter 2013, Land und Meer, 281 ff. sowie Krumrey 2014, Autofiktionales Schreiben, 280 ff. So gibt es ein „Geisterschiff“ der Erinnerung, mit dem der Schreibende auf Reisen geht (vgl. Hoppe 2006, Verbrecher und Versager, 51) und die Zimmerwirtin Vischer weist sich selbst als eine Reisende aus: „Aber die Zimmerwirtin bin ich, ich reise mit wem und wohin ich will, ich messe den Krieg nicht mit Schreibpapier aus“ (ebd., 62). Vgl. ebd., 94. Dieser Spiegelsituation entspricht, dass auch die Protagonisten Sammler sind: Meister und Junghuhn sind Botaniker, Hagenbeck sammelt Menschen fremder Kulturen (zur Ausstellung in einer menschenverachtenden Völkerschau) und ausgestopfte Tiere, vgl. ebd., 103. Vgl. z. B. ebd., 17: „Zwei der Marathonläufer schlafen, die anderen drei sitzen über den Karten, nächste Station ist Batavia.“ Die „Station Batavia“ ist jedoch keine Zugstation, sondern eine Station des lesend den Meerreisenden folgenden Geschichte(n)schreibers. Vgl. dazu auch Hoppes Aussage über das Ineinanderfließen unterschiedlicher Zeitebenen: „Die Zeit ähnelt für mich einem Wasserbehälter mit zwei Scheidewänden, die drei Becken voneinander abtrennt, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Im Schreiben entferne ich diese Wände, lasse das Wasser der jeweiligen Becken ineinander fließen und bewege mich selbst frei durch den gesamten Behälter“ (Hamann 2009, Felicitas Hoppe im Gespräch, 230). Die Begriffsverwendung folgt Genette.
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mitkommen möchte.113 Der Erzähler der ersten Erzählung sitzt im Zug, seine Reisebegleiter sind Marathonläufer, die zu einem Unter-Tage-Rennen in den stillgelegten Gruben von Sonderhausen unterwegs sind, und der Schattenverkäufer auf der intradiegetischen Erzählebene bemerkt, dass er Männer sucht, die unter der Erde laufen. Zugleich „rasselt“ der Atem des Pflanzensammlers Meister wie der Atem der Marathonläufer114 und die Schinderei seiner Mitarbeiter spielt mit dem Hinweis auf hohe Luftfeuchtigkeit und Trinkstationen auf den Unter-TageRennen der schlafenden Marathonläufer an.115 In der zweiten Erzählung „Kapf: Hombre“ wird die Erzählerin mal mit den Protagonisten, es sind drei an der Zahl wie das dreier Kartenspiel: Schiller, Kapf und Kronenbitter, identifiziert.116 Die Verschmelzung von Protagonist und Erzählinstanz wird sogar zu einer imaginierten körperlichen Vereinigung in der Erzählung „Junghuhn: Eis und Schnee“, in der sich der Erzähler wünscht eine Frau zu sein, die mit Junghuhn ein Kind hat.117 Ein wesentliches Moment der nouvelles, das Foucault interessiert, war die Indifferenz zwischen Fiktion und Realität eines einzigen (authentischen) Dokumentes, das als Spur der Existenz mit der Existenz zusammenfällt. Haftet aber nicht allen historischen Dokumenten immer auch diese Indifferenz von Fiktion und Realität an, die dadurch zustande kommt, dass uns erinnerte Realität eben immer nur in Form eines (textuellen) Verweises vorliegt, und somit eine unterhintergehbar „gepfropfte Wirklichkeit“118 ist? In ihrem fünffachen Versuch, das Portrait einer Person nachzuzeichnen, inszeniert Hoppe einen schwankenden Boden, als ob wir uns in unserer Realitätsrekonstruktion auf dem Meer befinden, indem Ketten der Überlieferung, des Gelesenen, Gesehenen, Geschriebenen, Gehörten vernommenen, nachgezeichnet und dabei in ihrer Polyvalenz und ihrem unendlichen Verweischarakter ausgestellt werden. Gestaltet wird dieser Verweischarakter auf metaphorischer Ebene durch die Metapher der Post, die man auch als Inbegriff der Überlieferung verstehen könnte, denn auch historische Quellen sind nichts anderes als Nachrichten aus der Vergangenheit, eine Postschrift, auf der mitunter Absender und Teile der Nachricht nicht mehr zu erkennen sind. In Verbrecher und 113 114 115
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Vgl. ebd., 13. Vgl. ebd., 29: „Meister muss weiter Pflanzen sammeln. Sein Atem rasselt, ich höre ihn keuchen, irgendetwas braut sich zusammen auf der fernen künstlichen Insel Deshima.“ Vgl. ebd., 21: „Also Pflanzen sammeln, dann Kräuter wässern, dann Kräuter bestimmen. Ein Pfahl und ein Rohr, um hier und da ein paar Sklaven zu prügeln, falls sie die Lust am Sammeln verlieren und irgendwo auf der Strecke bleiben bei Hitze und hoher Luftfeuchtigkeit. Hier und da eine Trinkstation, damit alles in Ordnung kommt, die Apotheke begeistert und den Gärtner der Festung zum Schwärmen bringt. Der Rest der Zeit steckt im Wörterbuch. Auch hier wird gesammelt, beschrieben, beschnitten und immer wieder von vorne bewässert, was aus der Feder Gottes kommt.“ Die Wirtin Vischer spricht von ihrem Zwilling Kapf, der als Zwilling Schillers eingeführt wurde. Kronenbitter, der Briefeschreiber, durch den die Wirtin ihre Informationen erhält, sortiert die Asche und legt Muster aus Scherben, ebenso die Erzählerin, die Witwe Vischer (vgl. ebd., 62). Vgl. ebd., 92. Vgl. ebd., 26.
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Versager wimmelt es von unterschiedlichen Postarten und Postboten, denen jedoch auf halbem Weg ein Teil ihrer Post verloren gegangen ist: Unleserliche Handschriften119, Flaschenpost, die das Meer viele Jahre zu spät freigibt120, oder die Nachricht vollkommen „verwässert“121, stille Post des versteckten Hörensagens, die mit jedem Ohr einen neuen Klang erhält122, Postboten, die nur als Schatten (als Untote)123 quasi telepathisch im schlechten Gewissen der Zurückgebliebenen ihre Nachrichten übermitteln, Briefe an die Mütter oder Wirtinnen, aufbewahrt in der Küchenschürze und versteckt vor den Augen des Vaters, die nur zwischen den Zeilen und wenn man an ihnen riecht das eigentliche Unglück der Briefeschreiber preisgeben.124 Insgesamt scheint alle Post den Charakter von „stiller Post“125 zu tragen, ihr unendlicher Verweischarakter ist der des Sagens eines Sagens eines Sagens oder der des Textes eines Textes eines Textes. Ist der Text jedoch eine derart „gepfropfte Wirklichkeit“, lässt sich dann noch sinnvoll zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion unterscheiden? Die Grenze zwischen Fiktion und vermeintlicher Wirklichkeit wird immer wieder überschritten, indem die Glaubwürdigkeit der Erzählinstanz systematisch untergraben wird. Die Fiktion schleicht sich ein, indem das Erzählen und Nachrichtenerhalten in fast allen Erzählungen in Schlaf und Traum übergeht126 oder sich als Reise in die Erinnerung erweist: So kniet die Wirtin Schillers und Kapfs, nachdem die einstigen Untermieter ausgezogen sind, vor der Tür, und der Blick durchs Schlüsselloch in die ehemalige Kammer der beiden Protagonisten ist ein Blick in die Erinnerung.127 Die Briefe von Kapf an die Wirtin werden von einem imaginiert nach Hause gekehrten Kapf an Frau Vischer diktiert und so als Produkt aus der Feder der Wirtin enttarnt.128 Der Erzähler Junghuhns, auf dem Balkon platziert, „Zaungast“ und „Zuschauer“, bezichtigt sich selbst der Übertreibung, denn er ist Berichterstatter einer 119 120
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Vgl. ebd., 67. „Die Tage sind kurz, und man stirbt hier so schnell, dass wenig Zeit bleibt für Briefe und noch weniger Zeit, eine Antwort zu schreiben, falls man Absender lebend erreichen will, denn das Meer ist ein langer, wässriger Postweg, der Tode vertuscht, die Trauer verzögert und jede Gemeinschaft unmöglich macht“ (ebd., 86) vgl. auch ebd., 65. Vgl. ebd., 56: „Von der Lady selbst ist nicht mehr die Rede, ihre Spur verliert sich mitten im Brief, auf den letzten Seiten wird sie schon wässrig, denn der Brief hat auf seiner langen Reise mit dem Rücken nach oben im Regen gelegen, bis Spiegelberg, Roller und Schwarz mit der Post in Stuttgart gelandet sind: Nur Kosinsky ist auf der Strecke geblieben, den haben sie unterwegs verloren, vielleicht auch an die Franzosen verkauft.“ Vgl. auch ebd., 61. In der ersten Erzählung um den Schiffsgärtner Georg Meister wird auf der japanischen Halbinsel in der Bucht von Nagasaki, Dejima, „stille Post“ gesprochen. D. h. es gibt keine direkte Kommunikation mit der Obrigkeit, alles läuft über Dolmetscher, die ihre Machtposition ausnutzen und den Sinngehalt verändern. Wirklichkeit wird „gepfropft“ (ebd., 26). In der Geschichte des Protagonisten Junghuhn ist der „Briefträger“ und Informationsbeschaffer der Tote Schwoerer, der mit einer Kugel im Kopf auf dem Balkon erscheint, vgl. ebd., 90. Vgl. ebd., 51 f. und 141. Vgl. ebd., 30. So z. B. ebd., 62. Vgl. ebd., 51. Vgl. ebd., 64.
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Begebenheit aus weiter Ferne, deren Distanz mit dem Fernrohr und Opernglas nicht überbrückt werden kann.129 Neben seinen fragwürdigen Balkonbeobachtungen bezieht der Erzähler seine Informationen aus einer „Zettelwirtschaft“ der auf dem Küchentisch hinterlassenen Nachrichten seiner Besucher.130 „Den Rest reime ich mir selbst zusammen, weil Junghuhn mir niemals erzählen wird, was in Halle und was in Berlin geschah“131. Ein Untergraben der Glaubwürdigkeit des Erzählers geschieht dabei auch auf der intradiegetischen Erzählebene und erreicht damit auch einen absurden Höhepunkt, indem sich in der vierten Erzählung „Hagenbeck: Safari“ der Erzähler als fiktionales Produkt der auf dem Schreibtisch befindlichen Bücher des Protagonisten entpuppt.132 Die gezielte Herabsetzung der Glaubwürdigkeit der Erzählinstanz steigert sich zu einem Generalverdacht und -zweifel an Schrift und Sprache schlechthin, ohne dass der Erzähler seine lesend-schreibende Reise und mithin das Medium der Schrift verlassen würde.133 Während die Spurensuche der vierten Erzählung über John Hagenbeck auf Romane und Filme sowie auf das verdrängte kollektive Gedächtnis der Familie als Quellen zurückgreift, ist die fünfte und letzte Erzählung auf den Spuren einer literarischen Gestalt, so dass Verbrecher und Versager vom Sich-hinein-Schreiben in die Geschichte auch hinsichtlich der Dramaturgie der „Portraitsammlung“ in ein Sich-hineinSchreiben in die Literatur überführt wird.
5. Abschließende Bemerkungen Das Herausfallen aus der Gesellschaft oder das riskierte Herausfallen als Randständigwerden in der Gesellschaft als Infame, Verbrecher und Versager oder Opfern und/oder Täter in den Katastrophenjahren ist in den drei Texten thematischer Ausgangspunkt. Die damit entstehende „Sammelsituation“ wird bei Hoppe in Form von Menschenhändlern in Szene gesetzt, die den verdinglichten
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Vgl. ebd., 77. Vgl. ebd., 75 f.: „Ich lege keine Kataloge an, aber ich habe alle Zettel gesammelt, die meine Besucher in den letzten Jahren auf meinem Küchentisch liegen gelassen haben und auf denen deutlich zu lesen steht, was ich aufschreiben müsste. Gesetzt den Fall, ich wäre dem Mann gewachsen.“ Ebd., 80. Vgl. ebd., 107. Dazu gehört das bereits oben erwähnte „Erriechen“ der Briefe – es bedarf eines anderen Sinns als nur das Auge, um die Nachricht zu entziffern. Kapf (der Zwilling des schreibenden Schiller, der erlebt, was Schiller schreibt) und Junghuhn füllen ihre „Seiten mit Wirklichkeit“ (vgl. ebd., 87). Junghuhns Erzähler, seinen Kraterreisen auf der Spur, reflektiert am Ende seiner schreibenden Reise: „[D]enn jetzt, da ich selber am Kraterrand liege, der unberechenbar Feuer und Steine spuckt, verschiebe ich jedes Ende auf später und meine Furcht auf den Morgen danach. Nichts ist, wie es geschrieben steht, von innen her lässt sich die Natur nicht begreifen, so wie sich niemals begreifen lässt, was man nicht selbst in den Händen hält und was man nicht selbst geschrieben hat“ (ebd., 94).
EXISTENZEN SAMMELN – EXISTENZEN SCHREIBEN
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Mensch als Kriegsware in den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang zurückführen. Bei Foucault steht sie im Hintergrund als drohende Internierung oder Verschickung in die Kolonien. In Kempowskis Collage-Projekt begegnet uns die Randständigkeit z. B. in den nur noch als Eintrag im Geburtenregister gegenwärtigen jüdischen Kindern, deren Infamie im faschistischen Deutschland bereits mit der Geburt beginnt. Allen drei Autoren gemeinsam ist, dass sie die Frage nach gesellschaftlicher Randständigkeit zu einer Frage nach dem drohenden Herausfallen aus dem (kollektiven) Gedächtnis wenden. Alle drei Texte reflektieren dabei auf je eigene Art den Grenzverlauf zwischen historisch-wissenschaftlichen und literarischen Formen dieses Auflesens: Foucaults diskursiver Text geht auf die mögliche literarische Qualität einer nicht realisierten Sammlung eigentümlicher historischer Quellentexte. Kempowskis Echolot-Projekt ist ein in literarischer Montagetechnik inszeniertes Archiv unterschiedlichster Dokumente des „life writing“, in dem er mit einer doppelten Geste, die das Werk als historische Sammlung und zugleich als literarisches Werk ausgibt, die damit verbundenen unterschiedlichen Ansprüche gegeneinander laufen lässt. Und Hoppes Erzählungen über Verbrecher und Versager sind Reflexionen im Medium der Literatur auf die Bedingungen der Möglichkeit von Geschichtsschreibung. Die Frage, wie ein Auflesen des vergangenen gesellschaftlich Randständigen stattfinden kann, ist zugleich eine Frage danach, was gesammelt werden kann. Anders als in der zusammen mit Arlette Farge eingeleiteten und herausgegebene Sammlung der Lettres de cachet, geht es Foucault in seinem kurzen Text Das Leben der infamen Menschen nicht um eine Sammlung repräsentativer Beispiele, auf deren Basis sich generalisierende Aussagen zur Alltagsgeschichte machen lassen, sondern um Spuren singulärer Existenzen. Der durch Grenzwanderung ausgelotete Vergleich zwischen historisch-wissenschaftlicher Geschichtsschreibung und literarischer Auflese erschöpft sich in den drei Texten jedoch nicht in der Gegenüberstellung von allgemein versus individuell, von verallgemeinerbarem Beispiel versus individuellem Leben. Vielmehr erscheint das Individuum als Einheit oder Entität – wie sie das Portrait als wesenhafte Charakteristik einer Person suggeriert – selbst infrage gestellt. Stattdessen insistieren alle drei Texte auf dem gelebten Leben als etwas, das sich als ein sich Entziehendes anzeigt: In Foucaults Idee einer Sammlung von nouvelles entzieht sich das gelebte Leben durch „Radikalität“ und „Disparatheit“ einer in sich schlüssigen Deutung; der Authentizitätsanspruch der nouvelles verspricht ein „Dahinter“, dem aufgrund ihrer „Fiktionalität“ als „rein wörtlicher“ Existenz nicht beizukommen ist. Sind diese Dokumente keine Literatur, auch keine „Quasi- noch Subliteratur“134, so ist ihr spezifischer Lektüreeffekt einer, den sich die Literatur in ihrer späteren Entwicklung zu eigen macht: „Es entsteht eine Kunst des Sprechens, deren Aufgabe nicht mehr ist, vom Unwahrscheinlichen zu singen, sondern das erscheinen zu lassen, was nicht erscheint – nicht 134
Foucault 2001, Das Leben der infamen Menschen, 48.
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SARAH SCHMIDT
erscheinen kann oder darf: die letzten und unscheinbarsten Stufen des Wirklichen zu sagen.“135 Mit dem Bild eines babylonischen Stimmenchors versucht Walter Kempowski nicht nur eine Auflese des infamen Lebens, sondern auch eine Art Reintegration. Dieser Stimmenchor ist jedoch alles andere als ein harmonischer Klang und erzeugt in seinem unmittelbaren Wechsel von Täter- und Opferstimmen, nazistischem Siegerton und sachlicher Beschreibung, Überlebenskampf neben Alltagsgeplänkel − Kempowski Versöhnungswunsch zum Trotz − vor allem ein großes Unbehagen. Der wohlkomponierte Wechsel des Ungleichen oder Disparaten führt einen Missklang mit sich, in dem auch das Ungelöste, Unbestrafte, Unverarbeitete und Ungesagte in seiner Abwesenheit zu Ton zu kommen scheint. Die bei Kempowski als Stimmfragmente aufgenommene Reflexion auf Modus und Form historischer Geschichtsschreibung stehen in Felicitas Hoppes metafiktionalen Erzählungen im Zentrum. Die Portraitsammlung der Verbrecher und Versager erweist sich als schreibendes Sammeln von Relationen zwischen Menschen, das weder dem Modus der Relationalität (hin zu einer Wesenhaftigkeit des Menschen) noch dem der Schriftlichkeit (hin zu einer außertextuellen Realität) entkommt. Gleichwohl bleibt in diesem einkreisenden Schreiben ein Effekt des Wesenhaften und Realen als etwas Abwesendes erhalten. Folgt man der vorgenommenen Lesart dieser drei Autoren, so erweist sich Literatur in diesen drei Fällen nicht als prädestiniertes Medium für eine Sammlung des individuellen Lebens, die als eine Art Gegensammlung zur verdinglichenden naturwissenschaftlichen Sammlung, zur funktionellen gesellschaftlichen Sammlung oder verallgemeinernden wissenschaftlich-historischen Sammlung des Menschen auftreten könnte. Sie erweist sich jedoch als ein Medium, in dem ein solches Leben als ein Sich-Entziehendes, als eine in Form der Abwesenheit zu markierende Leerstelle ins Spiel gebracht wird.
135
Ebd., 45.
ALEXANDRE MÉTRAUX & CHARLES WOLFE
MONSTER – SAMMLUNG UND ALLEGORIE
Wie abstoßend, ekelerregend, hässlich oder geheimnisvoll Monstrositäten auch aussehen, es geht bei ihnen stets mit rechten Dingen zu – nur die Kräfte der Natur bringen sie hervor. Auf einen Satz dieser Kürze lässt sich der Kerngedanke zusammenfassen, den Denis Diderot in der zweiten Hälfte des 18. und Étienne-Renaud-Augustin Serres1 in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegen den Aberglauben aufboten, dass Monster von Gott gewollt, von üppiger weiblicher Phantasie geformt oder von unordentlichen Geschlechtsdrüsensäften gezeugt seien. Die Natur nach Auffassung Diderots war aber verschieden von der Natur nach Meinung Serres’. Für jenen war sie unbändig erfinderisch, selbstgestaltend, lauter freischaffende Materie, die sich ihre Ordnung nach Lust und Laune gab. Für diesen war sie das Sein in beharrendem Bestand. Und beide beriefen sich auf Anschauungsmaterialien, um ihr Plädoyer für die Natürlichkeit organischer Verformungen zu stützen. Eine solche auseinanderbrechende Konstellation möchte erläutert sein. Beginnen wir mit Serres. In der Natur sei alles großartig und bewundernswert. Gleichviel, was einem an Unregelmäßigkeit oder Unvollkommenheit unter die Augen komme, es setze Regel und Vollkommenheit voraus, denn die „Ordnung liegt der Unordnung zugrunde“2. So behält alles stets und überall seine Ordnung – noch die ärgste organische Ausgeburt bleibt den Ordnungsformen der Naturgesetze unterworfen. Um Monster als erklärbare Erscheinung zu begreifen, müsse man die Natur und deren Gesetze (er-)kennen. Dann brauche man sich vor ihnen auch nicht mehr zu fürchten.3 Ergänzend meinte Serres: „Alles, was dieser schicklichen Einrichtung nicht genügt oder sie übertrifft, dünkt uns unordentlich, und wir beurteilen jedes Lebewesen als Monster, das sich nicht streng an die Grenzen der normalen Organisation seiner Art hält.“4 1
2 3
4
Der französische Arzt lebte von 1786 bis 1868. Seine Namen sind nicht einhellig überliefert; die biobibliographischen Datenbanken (sowohl der Bibliothèque nationale, der Académie de Médecine wie auch der BiuSanté, alle Paris) heißen Serres bald „Étienne-Renaud-Augustin“, bald „Étienne-Renaud-Auguste“. Serres o.J., Mémoire, 1: „L’ordre est dans la désordre.“ Ausführlicher als in dem hier herangezogenen Text legte Serres die Theorie der „organogenèse“ der Monstrositäten in seiner mehr als 300-seitigen Monographie über die Anatomie der Abarten dar; vgl. Serrres 1832, Recherches d’anatomie, 3-12. Übersetzung durch A. M., frz. Original: Serres o.J., Mémoire, 1: „Tout ce qui n’atteint pas et tout ce qui dépasse cet arrangement convenu, nous paroît désordonné, et nous qualifions de monstre tout ce qui ne reste pas étroitement circonscrit dans les limites de l’organisation normale de son espèce.“ [Herv. i. O.].
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ALEXANDRE MÉTRAUX & CHARLES WOLFE
Anders Diderot. In dem Aufzeichnungskorpus, das unter dem Titel Éléments de physiologie überliefert ist, findet man die anscheinend in aller Naivität gestellte Frage, ob eigentlich alle Tiere (so auch der Mensch) eine Art Monster bildeten. „Warum löscht die Natur, die in wenigen Jahren das Individuum beseitigt, nicht auch eine Art in einer langen Zeitenfolge? Das Universum scheint gelegentlich nichts als eine Ansammlung monströser Wesen zu sein.“5 Lassen wir die Zusatzfrage außer Acht, ob Diderot, als er das Wort ‚Universum‘ seiner Feder anvertraute, einem Panvitalismus avant la lettre anhing, der es ihm erlaubt hätte, auch anorganischen Gegenständen monströse Eigenschaften zuzubilligen. Begnügen wir uns also mit einigen Bemerkungen zu animalischen Abarten. Monstrositäten waren für unseren Autor, unter dem Gesichtspunkt der Begrifflichkeit betrachtet, Übergangserscheinungen in einer sich verändernden Natur. Die „Tugenden und Laster der vorangehenden Ordnung haben die bestehende Ordnung hervorgebracht, deren Tugenden und Laster die nachfolgende Ordnung hervorbringen werden“6 – hieß es in der Fortsetzung der physiologischen Aufzeichnungen. Und so war es von Anfang an und für alle Zeiten. Die Rechnung ging früher immer auf, sie würde in Zukunft auch immer aufgehen, denn die Tugenden und die Laster insgesamt hielten sich in einem – wie man heute sagen würde – Fließgleichgewicht, und sie würden es fürderhin ebenso tun. Mit der Annahme, Monster seien über die Natur verstreute, Übergänge verkörpernde Lebewesen, grenzte sich Diderot von einigen überkommenen Lehrmeinungen der Naturphilosophie und der Medizin ab. Für ihn waren Monster keine wirren Ausnahmen, keine Wunder, keine Unheil verkündende Zeichen, keine Verrenkungen der Lebensökonomie mehr. So konnte man sich denken, dass jemand, der einen monströsen Organismus in den Blick nehmen wollte, sich nur im Spiegel anzuschauen brauchte. Und wäre man zudem darauf erpicht gewesen, Beobachtungen für eine vergleichende Naturgeschichte der Monster anzustellen, hätte ein Marktbesuch genügt. Monster waren letztlich unmonströs und unsereins war schon vorletztlich monströs. In ihrer Alltäglichkeit waren sie Pferden und Magnolien ebenso gleichgestellt wie Forellen oder Narzissen. Bis ins Körperinnere verlegte Diderot die monströs-unmonströsen Übergangserscheinungen. In den Éléments de physiologie findet sich der bemerkenswerte Satz: Dem Menschen sind ebenso viele Monster eingeschrieben wie Organe und Funktionen: lebende Augen-, Ohren-, Nasenmonster, wogegen andere nicht leben; [...] 5
6
Übersetzung durch A. M., frz. Original: Diderot 1964, Éléments de physiologie, 208-209: „Pourquoi la nature qui extermine l’individu en peu d’années, n’exteminerait-elle pas l’espece dans une longue succession de tems? L’univers semble quelquefois qu’un assemblage d’etres monstrueux.“ Übersetzung durch A. M., frz. Original: Diderot, ebd., 209: „Les vices et les vertus de l’ordre précédent ont amené l’ordre qui est, et dont les vices et les vertus ameneront l’ordre qui suit“.
MONSTER – SAMMLUNG UND ALLEGORIE
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Alle Innereien vom Eingang der Speiseröhre bis zum Ausgang des Verdauungstraktes, Lunge, Herz, Magen, Milz können einer Ordnung unterworfen sein, die der üblichen zuwiderläuft (also der Ordnung, die man als natürliche bezeichnet), ohne nachteilige Wirkung für das ganze System.7
Bei seinen Überlegungen hätte Diderot sich auch auf die drei zusammenhängenden Lemmata „MONSTRE, f. m. (Botan.)“, „MONSTRE, f. m. (Zoolog.)“ und „MONSTRE (Médecine légale.)“ der Encyclopédie méthodique berufen können. Die von Jean Lafosse verfassten Artikel verwarfen zwar für alle drei Bereiche des Monströsen den Wahn von den übernatürlichen Ursachen der Monster, boten aber noch nicht einmal im Ansatz eine allgemeine Theorie des Monströsen.8 Anzumerken ist an dieser Stelle, dass Lafosse Monster aller Art als allgemein vertraute Erscheinungen deklarierte. Leitend für die Monster-Gedanken Diderots dürfte der Neo-Spinozismus gewesen sein, eine von naturtheologischen, insbesondere pantheistischen Absichten befreite Deutung von Baruch Spinozas naturphilosophischen Lehrsätzen. Gescheite materialistische Rezeptionen Spinozas gab es im 18. Jahrhundert eher selten. Die natura naturans sollte, wurde hier und dort gemeint, keine gottlose Fülle sein, aus der heraus alles käme. Natur ohne Wink des Urschöpfers, ohne Behausung für Göttliches, wurde damit zu einem Ding der Undenkbarkeit, wenn sie nicht sogar einem Denkverbot unterlag. Für Neo-Spinozisten dagegen – mag sein, dass Diderot die Bezeichnung unter womöglich fiktiver Berufung auf dʼAlembert in der Encyclopédie ou dictionnaire raisonné erstmals gebraucht hat – war die natura naturans strikt natura naturans: Natur in der Manifestation ihrer selbst ohne Zutun irgendwelcher Überwesen.9 Was also immer auch entstehen mochte, ein Genie oder ein Monster, ein homme moyen oder eine durchschnittlich aussehende Flunder, stets war es ein organisierter Körper in vollständiger Bestimmung seiner selbst, will sagen: in vollständiger Bestimmung durch natürliche Bedingungen seiner Hervorbringung. Das ist die Kurzfassung der Naturalisierung der Monster durch Diderot. Die nicht ganz so kurze Fassung müsste ungefähr den nachstehenden Ansatz entfalten: 7
8
9
Übersetzung durch A. M., frz. Original: Diderot, ebd., 209-210: „Il y a autant de monstres qu’il y a d’organes dans l’homme, et de fonctions; des monstres d’yeux, d’oreilles, de nez qui vivent, tandis que les autres ne vivent pas; [...] Tous les visceres interieurs depuis l’origine de l’œsophage jusqu’à l’extremité du canal intestinal, les poumons, le cœur, l’estomac, la rate peuvent etre dans un ordre inversé de l’ordre commun, qu’on appelle l’ordre naturel, sans consequence facheuse pour tout le sisteme.“ Jean Lafosse lebte von 1742 bis 1775; er lehrte an der Medizinischen Fakultät der Universität Montpellier. Zur Bekanntheit der Monster heißt es in der Encyclopédie méthodique von d’Alembert und Diderot: „Il n’est personne qui n’ait vu des fœtus ou des accouchemens monstrueux; les Mémoires de l’acad. des Sciences en présentent mille exemples, & les meilleurs journaux en rapportent assez souvent.“ (Es gibt niemanden, der keine monströsen Föten gesehen oder keine Geburt von Monstern beobachtet hätte; die Denkschriften der Akademie der Wissenschaften enthalten zahllose Beispiele, und die besten Zeitschriften berichten oft darüber. [Übersetzung durch die Autoren]). Vgl. Métraux 1996, Über Diderots physiologisch interpretierten Spinoza .
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Die angelsächsischen Empiristen, allen voran John Locke, definierten ‚Spezies‘ als etwas, das (wortwörtlich) keine Grenzen kenne. Man könne nämlich nicht feststellen, ob ein organisierter Körper aufgrund seiner Merkmale noch zu einer bestimmten Spezies gehöre oder bereits zu einer anderen. Ein schwarzes Schaf ist ein Schaf, ein weißes Schaf ist ein Schaf, ein Schaf mit zwei Köpfen ist ein Schaf, ein Schaf in grauem Fell ist ein Schaf, ein junges Schaf ist ein Schaf und ein altes Schaf ist ein Schaf – wer könnte noch bedenkenlos behaupten, dass ein weiß geborenes, wenn es altert, nicht grau oder schwarz würde, und wer könnte denn mit gutem Gewissen behaupten, dass die Zweiköpfigkeit eines Schafs ein widernatürliches Phänomen, die Weißheit oder die Schwarzheit von Schafen dagegen ein häufig wiederkehrendes und deshalb natürliches Merkmal sei. Rigorose Nominalisten des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts hatten es jeweils mit Exemplaren, Individuen, Einzelkörpern zu tun, nicht mit Wesenheiten, fixen Arten und wundersamen Ausgeburten. In der Langfassung von Diderots Naturalisierung der Monster würde somit die Annahme fließender und unbegrenzter Übergänge von der durchschnittlichen Architektur organisierter Körper zur veränderten Architektur organisierter Körper die Oberhand erhalten, und das würde in einem zweiten Schritt zur Gleichsetzung von Abarten mit statistisch festgestellten Seltenheiten führen. Diderot versah übrigens die Natur sozusagen mit der Vorstellungskraft von Kunstmalern und Bildhauern. Nicht, weil er für die Natur eine bequeme Metapher suchte, oder weil er es auf ihre Ästhetisierung abgesehen hätte. Seine Annahme lautete ungefähr so: Die natura naturans erzeugt organisierte Körper nach den in ihr wirkenden Kräften, die, wie die Vorstellungskraft bildender Künstler, über Altbekanntes hinausreichen. Sie besitzt das Vermögen, andere Formen zu erschaffen. Sie fingiert in ihren Prozessen Gebilde, die sie in die Realisierung entlässt. So erweisen sich Monster als natürlich programmierte Allegorien im Repertoire natürlicher Fabrikationen, wobei dieses Repertoire endlos offen, also endlos vorläufig bleibt. Oder anders: Monster sind Allegorien kommender, vorläufig noch instabiler, letztlich aber durch keine Wesenheit stillgestellter Spezies. Diderots Auffassung des Monströsen ging in derjenigen Serres’ nicht auf, obwohl beide Autoren die Naturalisierung der Monster als Hypothese für notwendig hielten. Serres’ Naturmonster waren insofern unartig, als sie sich in Gestalt von Störungen in der Entwicklung vorprogrammierter Körper offenbarten, während Diderots Monster sich zwar ebenso als unartig erwiesen, nur dass sie nicht als Störungen vorprogrammierter Körper, sondern als selbstprogrammierende Umschreibung von Körpern auftraten. Ein Monster sieht man nicht, wenn man sich im Spiegel anblickt, wie andere Menschen einen im Alltag ohne Scheu anblicken, hätte Serres gemeint. Man würde sich als monströsen Körper wahrnehmen, wenn man in den Spiegel schaut, aber das Monströse an einem Körper ist kein Makel, kein Fehl, sondern ein Selbstbildnis der wirkenden Natur, wäre Diderot zu sagen bereit gewesen.
MONSTER – SAMMLUNG UND ALLEGORIE
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Allerdings ergibt sich nun, dass Monster aus sich heraus nichts angedeutet hätten. Es waren organisierte Körper wie andere organisierte Körper auch. Erst im diskursiven Zugriff wurden sie entweder zu Übergangserscheinungen einer selbstgestalterischen Natur oder zu Störungen natürlicher Entwicklungsverläufe. Beschreibungen, oder einfacher noch: elementare Bezeichnungen machten aus diesen organisierten Körpern entweder Objekte, die nur in anatomischen oder naturhistorischen Sammlungen Aufnahme finden durften, oder Objekte, die einem mal auf dem Marktplatz oder im Boudoir, mal in Sammlungen begegneten. Wie man über Monster sprach, entschied darüber, welche Sammlung gemeint war. Und so ist es nicht verwunderlich, dass die Sprache im Traum und die Übertragung der Traumsprache in Texte von wachen Menschen für wache Menschen den Monstern als Allegorien zusätzlich Ausdruck verlieh. In der Nacht zum 13. März 1856 hatte Charles Baudelaire einen Traum.10 Er sei zu späterer Stunde spazieren gegangen und habe einen Bekannten getroffen. Da er noch etwas zu besorgen hatte, habe er nach einer Droschke gerufen und sei in Begleitung dieses Bekannten zu einem Freudenhaus gefahren, wo er ein Exemplar seiner neuesten Veröffentlichung der Hausdame habe überreichen wollten. Erst als er einen Blick in diese neueste Veröffentlichung warf, sei ihm ihr pornographischer Inhalt aufgefallen. Er habe daraufhin beschlossen, im Bordell nebenbei das zu tun, was man dort so zu unternehmen gewohnt sei. Dort angekommen, habe er im Bericht erfolgt an dieser Stelle ein traumbedingter Szenenwechsel weitläufige Räume durchschritten. An den Wänden hingen unzählige gerahmte Miniaturen, Zeichnungen und Fotografien. Nicht alle sind obszön. – Es finden sich darunter sogar Architekturzeichnungen und Abbildungen ägyptischer Figuren. Da Scheu mich zunehmend lähmt und ich mich keiner Dirne anzunähern wage, belustige ich mich bei der genauen Betrachtung all dieser Zeichnungen.11
Und Baudelaire fährt in seinem Traumbericht fort mit der Beschreibung einer sonderbaren Abteilung der Bildersammlung: In einer Menge kleingerahmter Bilder fallen mir Zeichnungen, Miniaturen, fotografische Abzüge auf. Es sind kolorierte Vögel dargestellt mit glänzendem Gefieder und lebhaften Augen. Manchmal sind nur Vögelhälften da. – Und manchmal sind auf den Bildern sonderbare, monströse, beinahe gestaltlose, Aerolithen ähnliche Wesen zu sehen. In einer Ecke jeder Zeichnung gibt es einen Vermerk. – Die
10 11
Unmittelbar nach dem Wachwerden an jedem Donnerstag um fünf Uhr schrieb er ihn für Charles Asselineau auf. Übersetzung durch A. M., frz. Original: Baudelaire 1973, Correspondance, 339: „Tous ne sont pas obscènes. – Il y a même des dessins d’architecture et des figures égyptiennes. Comme je me sens de plus en plus intimidé, et que [je] n’ose pas aborder une fille, je m’amuse à examiner minutieusement tous les dessins.“
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Dirne so und so, hat im Alter von .... in dem und dem Jahr diesen Fötus geboren; – und andere Vermerke dieser Art.12
Schließlich begegnet der Träumer einem lebenden Monster, das sich, es ist in dem von Baudelaire besuchten Haus geboren, auf einem Sockel aufhält. Obwohl am Leben, ist es also Teil des Museums. Es ist nicht hässlich. Sein Gesicht ist sogar anmutig, sehr sonnengebräunt, fast in den Farben des Orients. An ihm ist viel Rosa und Grün. Und es gibt etwas Schwärzliches, das sich mehrmals um seine Gliedmaßen windet wie eine dicke Schlange. Ich frage es, was das sei; es sagt mir, dass es ein monströser Fortsatz sei, dass ihm aus dem Kopf herauswächst etwas Elastisches wie Kautschuk und so lang, so lang, dass er, wenn es ihn wie einen Haarzopf auf seinem Kopf aufbinden tät, viel zu schwer würde, es würde ihn nicht tragen können [...].13
Dann, heißt es in dem Traumbericht, sei er durch den von seiner Frau gemachten Lärm aus dem Schlaf gerissen worden. Man kann den Traum nach diesem oder nach jenem Verfahren deuten. Davon sehen wir hier ab. So kommt es uns nicht darauf an, den manifesten Traum etwa als Maske unbewusster Gedanken und Wünsche aufzufassen, wie es eine psychoanalytisch inspirierte Vorgehensweise empfehlen würde. Unser Interesse richtet sich vielmehr auf zwei in diesem Text ineinander greifende Themen: einerseits auf das Thema der Teratologie um 1850 und andererseits auf das Thema der noch verzaubernden und zugleich beängstigenden Faszination für Monster. Wir operieren folglich mit der (wohl möglich) gewagten Hypothese, dass Baudelaire zwar genau das geträumt haben könnte, worüber er berichtete, der Bericht aber vordergründig Gedanken, die aus dem Wachbewusstsein stammten, zum Ausdruck brachte.14 Anders und annähernd im Bild gesagt: Der Traumbericht war ein Text, der sich tagträumte. 12
13
14
Übersetzung durch A. M., frz. Original: Baudelaire, ebd.: „Dans une foule de petits cadres, je vois des dessins, des miniatures, des épreuves photographiques. Cela représente des oiseaux coloriés avec des plumages très brillants, dont l’œil est vivant. Quelquefois, il n’y a que des moitiés dʼoiseaux. – Cela représente quelquefois des images d’êtres bizarres, monstrueux, presque amorphes, comme des aérolithes. Dans un coin de chaque dessin, il y a une note. – La fille une telle, âgée de ..., a donné le jour à ce fœtus, en telle année; – et d’autres notes de ce genre.“ [Herv. i. O.]. Übersetzung durch A. M., frz. Original: Baudelaire, ebd., 340: „Mais, parmi tous ces êtres, il y en a un qui a vécu. Cʼest un monstre né dans la maison, et qui se tient éternellement sur un piédestal. Quoique vivant, il fait donc partie du musée. Il n’est pas laid. Sa figure est même jolie, très basanée, dʼune couleur orientale. Il y a en lui beaucoup de rose et de vert. Il se tient accroupi, mais dans une position bizarre et contournée. Il y a de plus quelque chose de noirâtre qui tourne plusieurs fois autour de lui et autour de ses membres, comme un gros serpent. Je lui demande ce que c’est, il me dit que c’est un appendice monstrueux qui lui part de la tête, quelque chose d’élastique comme du caoutchouc, et si long, si long, que, s’il le roulait sur sa tête comme une queue de cheveux, cela serait beaucoup trop lourd et absolument impossible à porter, – que dès lors il est obligé de le rouler autour de ses membres, ce qui d’ailleurs fait un plus bel effet. Je cause longuement avec le monstre.“ Gleichgültig, was hintergründig in dem dynamischen Verhältnis zwischen Traumgedanken, Traumsprache, Traumerinnerungen und Traumbericht in der Sprache des wachen Autors sich alles hat abspielen mögen.
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Wie sich im Artikel von Serres andeutete, und wie Isidore Geoffroy SaintHilaire in seinen Arbeiten ausführlichst darlegte, waren Monster um die Mitte des 19. Jahrhunderts restlos entzauberte Objekte der Teratologie. Sie zeigten sich als Produkt wie auch immer zu erklärender Fehlentwicklungen eines intrauterin versorgten Lebewesens. Über das wissenschaftlich Festgestellte hinaus gab es zu Monstern sonst eigentlich nichts anderes mehr zu sagen. Die nicht erst seit der Renaissance überlieferten Erklärungen der Monster15 hatten sich erledigt. Auf eben diese Entzauberung der Monster spielt Baudelaires Traumbericht an. Es sei ihm bei der träumenden Betrachtung der gerahmten Vogel- und anderen Bilder der Gedanke gekommen, dass dieses Medizinmuseum in seiner Einfalt und Dummheit dem Fortschritt sowie der modernen Wissenschaft geschuldet sei, aber auf geheimnisvolle Weise doch wieder zum Guten gewendet würde.16 Die in Baudelaires Zeilen sich bemerkbar machende Ambivalenz kann als Beleg für eine Allegorisierung der Monster angesehen werden. Der traumwandelnde Baudelaire erfährt sich nämlich als Figur mit unverkennbarer Neugier, Schaulust und Faszination für Monster. Zudem erfährt er sich als eine Figur, die in der träumenden Selbstreflexion von der Musealität der Monster abgestoßen wird. Mal sind Monster kalte, aus Sammlungen der Medizinmuseen ein Leichennachleben führende Objekte, mal zwar unförmige, doch auch anmutige Sonderlinge, mit denen man sich gut verstehen kann. So sind entzaubernde Modernität und ästhetische Verzauberung in monströsen Gestalten versinnbild-
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Ein Beispiel: Paré 1579, Monstres, 922, erwähnte in seinem Traktat über Monster und Wunder folgende Kräfte, Agenten, Anlässe und/oder Zwischenfälle als Ursache der Entstehung monsterhafter Körper: „La premiere [sc. cause] est la gloire de Dieu. La seconde, son ire. La troisieme, la trop grande quantité de semance. La quatrieme, la trop petite quantité. La cinquiesme, l’imagination. La sixiéme, l’angustie ou la petitesse de la matrice. La septiéme, l’assiette indecente de la mere, comme estant grosse, s’est tenue trop longuement sur les cuisses croisees, ou serrees comme contre le ventre. La huictieme, par cheute, ou par coups donnez contre le ventre de la mere estant grosse d’enfant. La neufiesme, par mamadies hereditaires, ou accidentales. La dixiesme, par pourriture ou corruption. La onziesme, par mixtion ou meslange de semence. La douziesme, par l’artifice des meschants belistres de l’ostiere. La treiziesme, par les demons ou diables.“ (Übersetzung durch A. M.: „Die erste [Ursache] ist Gottes Herrlichkeit. Die zweite sein Zorn. Die dritte das Übermaß an Samen. Die vierte dessen Mangel. Die fünfte das Vorstellungsvermögen. Die sechste die Enge oder Kleinheit der Gebärmutter. Die siebente die anstößige Verfassung der Mutter während der Schwangerschaft, die zu lange mit gekreuzten oder mit bauchhoch gehobenen Schenkeln dasaß. Die achte ein Sturz oder Schläge auf den Bauch der kindträchtigen Mutter. Die neunte Erb- oder Krankheiten durch Ansteckung. Die zehnte Fäulnis oder Verderb. Die elfte Mischung oder Vermengung von Samen. Die zwölfte Gesindelbosheit in Wirtshäusern. Die dreizehnte Teufel oder Dämonen.“) Vgl. Baudelaire 1973, Correspondance, 340 :„En effet, me dis-je soudainement, c’est Le Siècle qui a fait les fonds de cette spéculation de bordel, et le musée médical s’explique par sa manie de progrès, de science, de diffusion des lumières. Alors, je réfléchis que la bêtise et la sottise modernes ont leur utilité mystérieuse, et que, souvent, ce qui a été fait pour le mal, par une mécanique spirituelle, tourne pour le bien.“ [Herv. i. O.].
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licht, gleichviel, ob sie ikonisch zur Darstellung gebracht sind oder ob man ihnen leibhaftig begegnet. Und dann möge man auch bedenken: Die Genese des Monströsen zog sich, geschichtlich gesehen, aus dem Verhältnis zwischen Irdischem und dem Göttlichen (oder Überirdischen) nach und nach zurück, verlegte sich zuerst in die schwangere Leiblichkeit, in die hinein noch Vorstellungsbilder formgebend einwirken konnten, um in die reine Organogenese zu münden, deren Gesetzmäßigkeiten für Missbildungen ebenso stehen sollten wie für sogenannte natürliche Geborene.17 So konnte, wohl nicht zufällig, das Träumen von Monstern gleichsam die Prosa des gelehrten Diskurses aufheben und sich in das launische, selbstgestaltende Ausleben verzaubernder, allerdings auch nur noch halbsprachlicher Erfahrungen einnisten. Wie Baudelaire in seinem Traum die Bordellmädchen, die Bilder, das im Bordell lebende knabenhafte Monster musterte, mal von Lustempfindungen angestachelt und mal Berührungen unterdrückend, musterte man Missbildungen auf offener Straße, auf Jahrmärkten oder in Sammlungen. Da waren Monster mit Sicherheit keine epistemisch beruhigten Objekte mehr, und sie waren es bestimmt noch weniger als in teratologisch prädestinierten Räumen. Baudelaires Brief an Asselineau versieht monströse Lebewesen mit ambivalenter Sinnhaftigkeit. Es ist nicht mehr zu entscheiden, ob die Schaulust des Träumers18 nächtlicher Ausgelassenheit des Vorstellungsvermögens sich verdankt oder der noch in der Moderne nicht restlos geglückten Entzauberung der Monster. Eins allerdings ist ersichtlich: gleichviel, ob Diderot einst die Monster in einem wunderbar inszenierten Diskurs durchnaturalisiert oder ob Baudelaire knapp ein Jahrhundert später die Monster wieder halbwegs denaturalisiert – ohne Sammlung verformter Körper, die erst im Vergleich zu/mit häufig vorhandenen, verwandten Körpern zeigen, worin oder wodurch sie verschieden sind, wären Monster auf diese Weise nicht zu verschriften gewesen. Die Sammlungen (Wunderkammer, naturhistorisches Kabinett, Medizinmuseum usw.) und die damit zusammenhängenden Texte (Paratexte, Etiketten, Verzeichnisse, Taxonomien usw.) schreiben an den Montrositäten-Diskursen seit dem frühen 17. Jahrhundert mit.19 Aber sie tun es auf verschiedenartige Weise. Bald malen sie das Monströse zwischen göttlichen Selbstherrlichkeiten und den Heimtücken des Teufels aus, bald zeichnen sie es als Verkörperung bloßer Vorstellungen (oder hinterhältiger Gedanken), bald verändern sie es zu statistischen Seltenheiten und bald verwandeln sie es zur Leistung erfinderischer Naturkräfte. So sagen und zeigen Monster vorerst von sich aus gar nichts – ein Umstand, der
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Siehe hierzu Wolfe 1997, Matérialisme. Die Schaulust des Träumers bildet sich in Erinnerung an den Traum durch den Nicht-mehrTräumenden. Siehe hierzu den nachgerade paradigmatischen Beitrag – diesmal für die kaum beachtete Provinzakademie von Rouen bestimmt – aus der Feder Claude Nicolas Le Cats über Hermaphroditen, die 1759 von diesem gelehrten Arzt ausdrücklich als monströse Lebewesen verschriftet wurden; vgl. Le Cat (auch „Lecat“ genannt) 1816, Hermaphrodites.
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die Aufmerksamkeit nicht zufällig auf einige Aufzeichnungen in Walter Benjamins Passagen-Werk lenken müsste.20 Als erstorbene sei die Natur im „Muschelladen der Passagen“21 aufgehoben, meinte Benjamin. Schaukästen mit Naturobjekten sind Geschwister der Muschelhandlungen. Man geht an ihnen vorbei oder betrachtet sie durch Glasscheiben. In beiden Fällen (und in zahllosen anderen) besteht dann die „wahre Methode, die Dinge sich gegenwärtig zu machen, [darin] [...] sie in unsere[m] Raum (nicht uns in ihrem) vorzustellen. (So tut der Sammler, so auch die Anekdote.) Die Dinge, so vorgestellt, dulden keine vermittelnde Konstruktion aus ‚großen Zusammenhängen‘“22. Wenn, wie das Passagen-Werk es nahelegt, wir Muscheln, aufgespießte Insekten, ausgestopfte Vögel, Mumien, Monster und so weiter in unseren Räumen ansammeln und sie uns vorstellend vergegenwärtigen, so wird alles, was über sie zu sagen ist und sonst noch zu sagen wäre, fast nur allegorisch. Zwischen dem Tagtraum-Diskurs über das Monster mit Anmut und dem Ordnungsdiskurs, das Durchschnittliches und Monströses einebnet, besteht die Differenz in der Weise des Allegorisierens. Und das erinnert, vermutlich nicht zufällig, an eine berühmt gewordene Zeile aus Baudelaires Gedicht Le cygne, eine Zeile, die inzwischen für eine wie von selbst sich verstehende gesellschaftliche Verallgemeinerung steht: „[T]out pour moi devient allégorie“23.
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Die Ambiguitäten sowohl in der Erfahrung des Monströsen wie auch in der diskursiven Verund Bearbeitung dieser Erfahrungen hat Pierre Ancel unlängst herausgearbeitet; vgl. Ancet 2006, Corps monstrueux. Wir verweisen ergänzend auf Ochsner 2010, DeMONSTRAtion, Stammberger 2011, Monster und Freaks, Wolfe 2005, Materialist Denial sowie Wolfe 2008, Anomalie du vivant. Benjamin 1982, Gesammelte Schriften. Das Passagen-Werk, Band V/1, 271. Benjamin, ebd. Baudelaire 1961, Œuvres complètes, 82. In der von uns vorgeschlagenen Deutung hieße es sinngemäß: [T]out pour nous devient allégorie. Zur Allegorie bei Benjamin und Baudelaire vgl. auch den Beitrag von Dominik Finkelde „Der nicht aufgehende Rest“ im ersten Kapitel.
IV. DIE „UNTERSEITE“ DER SAMMLUNG
JUDITH KASPER & SUSANNE KOMFORT-HEIN
DIE „UNTERSEITE“ DER SAMMLUNG. ZUR EINLEITUNG
1. Das Ausgegrenzte als Stabilisierung der Sammlung Wenn es eine Unterseite der Sammlung gibt, so liegt sie stets im Abseits: unten, daneben, danach, im Unbestimmten. Wenden wir die Sammlung um, um ihre Unterseite in den Blick zu nehmen, entdecken wir die aus ihr ausgeschlossenen und doch an ihrer Rückseite haftenden Reste: Abfall und Ausschuss. Darin ist die Vorstellung impliziert, dass wir, wenn wir uns den Resten zuwenden, der Unterseite der Sammlung habhaft werden können. Doch welcher Sache hoffen wir eigentlich habhaft zu werden? Wann ist etwas ein Rest und eben nicht ein in der Ordnung der Dinge Aufgehobenes oder etwas Singuläres? Als aus der Sammlung Ausgeschlossenes verkörpern die Reste eine diffuse, nicht zu fassende Größe, nur in unmittelbarem Bezug auf die Sammlung selbst vermögen sie sich als Marginalisiertes, als Abfall und Ausschuss zu materialisieren und garantieren vice versa erst so die Ordnung der Sammlung. Sammlung und Ausschuss trennt und verbindet eine höchst durchlässige Grenze.1 Denn Reste „erzählen vom Ganzen“2. Sie zeugen von der notwendigen Unvollständigkeit einer jeden Sammlung, mithin von einem nicht einzuholenden, nicht zu explizierenden Außen oder Unten, durch das diese erst Gestalt gewinnt, wie ebenso vom blinden Fleck der Reflexion ihrer eigenen Taxonomien. Die Reste kontaminieren in gewisser Weise immer schon den synthetisierenden Repräsentationsanspruch einer jeden Sammlung, die das Heterogene zu homogenisieren sucht.3 Das Wesen des Restes – darauf hat etwa Derrida verwiesen4 – zeichnet immer schon eine Paradoxie, steht der Rest doch für ein Singuläres und zugleich für den Teil eines Ganzen ein, in einer Beziehung der Ausnahme und der Teilhabe. Mit der Zugehörigkeit des Restes – ungeachtet seiner vermeintlich singulären Erscheinung – zu einer heterogenen Sammlung des Übriggebliebenen beschäftigt sich Barbara Natalie Nagels Beitrag. Anhand ihrer exemplarischen Lektüre von Jean Pauls Erzählung Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal reflektiert sie den dort zu entdeckenden, von der indischen 1 2 3
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Dazu etwa Assmann 2009, Erinnerungsräume, „V. Jenseits der Archive“, 383. Thums/Werberger 2009, Reste – Perspektiven auf eine Marginalie, 7. Vgl. dazu auch Dominik Finkeldes Beitrag „Der nicht aufgehende Rest – Zum Widerstreit zwischen Objekt und Ding in der Moderne “, der diesen Aspekt auch philosophisch auf die grundsätzlichen Aporien des begrifflichen Erkennens ausweitet. Vgl. Derrida 2002, Reste – le maître ou le supplément d’infini, 45.
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Kosmogonie inspirierten Gedanken vom Rest als Anfang und verhandelt ausgehend davon die grundsätzliche Frage, ob die Kontingenz des Restes in eine Sprache der Form und der Regel zu übertragen ist. Der Weg zur Unterseite der Sammlung und zum „Rest als Randphänomen“5 führt uns in der Regel zu den abgelegenen Orten unserer Kultur und Gesellschaft, seien dies die Müllhalden oder die Dachböden und Kellerräume unserer Wohnhäuser, wo vergessene Kisten lagern, in denen sich ausrangierte, nutzlos gewordene Dinge, Unveröffentlichtes und Unbearbeitetes aller Art stapeln.6 In unheimliche Nähe zu diesen Ding-Halden geraten dann jene abgelegenen Archive, in denen das Leben der aus der Gesellschaft ausgeschlossenen, infamen Menschen registriert ist ( Kapitel 3). Handelt es sich bei diesen Dingen und Karteien um Müll, der nur noch nicht entsorgt worden ist oder um Flaschenposten für eine unbestimmte Nachwelt? Sind die Dinge dem Zerfall preisgegeben oder warten sie im Stadium der Latenz auf ihr Nachleben in einer neuen Sammlung? Wenn der Rest einerseits das Abjekte7 ist, das, was (liegen) bleibt und auf das Ende seiner Brauchbarkeit verweist, so kann er andererseits offenbar ebenso zum Anfang eines Neuen werden.8 Wer sich auf den Weg zu den abgeschiedenen Orten der Kultur macht, geht davon aus, dass jede konsekrierte Sammlung – seien es Bibliotheken oder Museen, Gesammelte Werke oder Kunstsammlungen – nur auf dem Grund eines Ausgeschlossenen besteht, vom Bewusstsein getragen, dass das ‚Ganze‘ der Sammlung ebenso das Resultat einer selektierenden Aufmerksamkeitsökonomie ist wie es Phantasma bleibt, und sei es als Vorstellung von „Restlosigkeit“9. Am Beispiel der „Werkpolitik“10 Gottfried Kellers und Goethes zu Lebzeiten erörtert Philip Ajouri kritisch editionsphilologische Sammlungs- und Ausschlussprinzipien im Umgang mit dem Ganzen eines schriftstellerischen Werkes. Zur Disposition steht der Werkbegriff sowohl qualitativ als auch quantitativ: als paradoxe Einheit zwischen Begrenztheit und Unabschließbarkeit. In Bezug auf diese Verschränkung vermeintlicher Oppositionen wird schließlich
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Vgl. Becker/Reither/Spies (Hg.) 2005, Reste. Umgang mit einem Randphänomen. Zum Dachboden als Ort jener Ansammlung des persönlich Ausrangierten aus gendertheoretischer Perspektive vgl. Ulrike Vedders Beitrag „Gendered objects“ im ersten Kapitel. Zum Museumsdepot als kulturgeschichtlicher Unterseite der Sammlung, in dem die Singularität der deponierten Bilder zu einem undefinierten Haufen zusammenschmelzen vgl. den Beitrag von Ingrid Streble „Das totale Museum oder Versuchsanordnung Literatur – eine Lektüre von Serge Rezvanis Roman LʼOrigine du monde “ im zweiten Kapitel. Der Begriff des Abjekten wurde von Julia Kristeva geprägt. Sie bezeichnet damit unter anderem Figuren des Monströsen, des Ekelhaften und auch allgemein Formen der Auswerfung, für die keine Reintegration in die symbolische Ordnung mehr möglich ist. Vgl. Kristeva 1980, Pouvoirs de lʼhorreur. Essai sur l’abjection. Michel Serres etwa spielt diesen Umschlag an der Figur des Parasiten durch; ders. 1980, Le parasite. Vgl. Krajewski 2006, Restlosigkeit. Vgl. Martus 2007, Werkpolitik.
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auch die zwischen Frühromantik und Poststrukturalismus privilegierte Kategorie des Fragments in Stellung gebracht, die gleichsam die Unterseite der Sammlung gegen den Repräsentationsanspruch eines Ganzen des Werkes öffnet.11 Wenn es so ist, dass „jedem künstlerischen Akt […] etwas Fragmentarisches“12 anhaftet, dann vermag sich die Aufmerksamkeit dem Prozessualen, noch Unentschiedenen zuzuwenden, der Dynamik eines work in progress, die den Werkbegriff temporalisiert und infolgedessen das Verhältnis zwischen Ausschuss und Ganzem in Bewegung setzt. Dass darüber auch die Nachträglichkeit des Auf- oder Auslesens entscheidet, veranschaulicht Alexandre Métraux mit seinem close reading einer handschriftlichen, auf der Innenseite eines Heftdeckels nachgelassenen Aufzeichnung Fernando Pessoas. Wenn eine solche Aufzeichnung nicht als Abfallprodukt eines Textganzen, sondern als Performanz eines Schreibprozesses, auf der Suche nach Form und Inhalt, gelesen wird, avanciert der Abfall gewissermaßen zum Komplizen des Ganzen im Fokus eines work in progress. Ausgehend von Schreibnotizen, Gedankeneinfällen und Skizzen, die in einem wissenschaftlichen Prozess gewöhnlich dem wohlgeordneten Ergebnis weichen, lenkt auch der Künstler George Steinmann13 in seinen mindmaps diesen work in progress auf das entwerfende, flanierende Denken und reflektiert im Prozess einer progressiven Verdunklung auf unterschiedliche Formen des (nicht) Lesbaren, wie Sarah Schmidt in ihrem Essay ausführt. Damit eignet dem Abfall und Einfall insofern eine potentielle Widerständigkeit, als er als Spur der Textgenese sein Nachleben sichtbar hält. Diese Beispiele mögen veranschaulichen, dass Abfall und Ausschuss auf der Unterseite der Sammlung auch eine Frage „mit der Zeit verbundene[r] Identitäten“14 sind.
2. Lumpensammler zwischen Eingedenken und Ausbeutung Wer sich auf den Weg zu den Rändern der Kultur, zu den abgeschiedenen Orten begibt, den begleitet die Hoffnung, in den Halden des Ausgeschlossenen, in den Rückständen einer Vergangenheit noch etwas Wertvolles bergen zu können. Etwas, das sich zu einer wie auch immer gearteten Gegensammlung zum SchonGesammelten fügen ließe. Es scheint, als warte der Ausschuss, irgendwo abgeschoben, nur darauf, in eine neue, alternative Sammlung aufgenommen, dadurch wiederverwertet und aufgewertet zu werden. Die ethische Geste, sich dem Ausgeschlossenen, Vergessenen zuzuwenden, erkennt in den Resten eine – wie auch immer zu problematisierende – „Präsenz des Abwesenden“15, ein nichtsdestoweniger Bleibendes, das an das Vergessene 11 12 13 14 15
Vgl. dazu Fetscher 2006, Tendenz, Zerrissenheit, Zerfall. Ebd., 12. Die Abbildungen zum künstlerischen Werk von George Steinmann finden sich im Tafelteil. Esposito 2005, Die vergessenen Reste, 14. Ebd.
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als Vergessenes erinnert. Doch liegt auch dieser Geste der Aufwertung des ‚Ausschusses‘ ein ökonomisches Prinzip zugrunde, das gnadenlos sein kann und zuweilen zwei Gesichter zeigt. Denn nicht nur das Eingedenken des Versehrten und Namenlosen, der unabgegoltenen Reste des Vergangenen artikuliert sich in ihr, sondern auch eine unvermeidliche Ausbeutung des vermeintlich Wertlosesten ist in ihrem Namen am Werk. Im Zeitalter des Hochkapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts stehen dafür die Lumpen und Lumpensammler. Wenngleich sich die Lumpensammler nicht für das marxistische Projekt einer Revolution einspannen lassen, kollaborieren sie dennoch ungewollt-gewollt mit dem kapitalistischen Prinzip, sich den Lumpen, dem ärmsten Material überhaupt, zuzuwenden, um daraus noch einmal Profit zu schlagen, indem sie zur Papierproduktion eingesetzt werden.16 Der Lumpensammler bleibt freilich der Ärmste und Letzte in dieser Produktionskette, an deren anderem Ende sich andere bereichern. Er bleibt an seinen Lumpen kleben, die ihn ebenso bekleiden wie sie seine ärmliche Ware darstellen. Im Lumpensammeln kann vielleicht die Geburtsstunde des Recyclings erblickt werden; beides eint eine ambivalente ökonomische Logik: einerseits der Aufwertung des Verbrauchten, nutzlos Gewordenen sowie andererseits der restlosen Verwertung von Ressourcen. Erfordern aus aktueller Perspektive des Recyclings ökologische Notwendigkeiten und der Gedanke der Nachhaltigkeit eine Indienstnahme der Ökonomie durch Ökologie, so bleibt doch zugleich umgekehrt das Prinzip einer ökonomischen Effizienz dominant, die schon die Lumpensammler um 1900 antrieb: Unerträglich scheint offenbar der Gedanke, dass es etwas gibt, das sich der kapitalistischen Logik der Wertschöpfung zu entziehen vermöchte. Die Beiträge von Barbara Thums und Gianluca Solla nehmen sich der ökonomischen, ökologischen und hygienischen Aspekte des Lumpensammelns an. Ausgehend von Benjamins Figur des Lumpensammlers lässt Barbara Thums’ Perspektive auf „Lumpensammler und andere Archivisten der Moderne“ im Spannungsfeld ästhetischer, wissens- und kulturgeschichtlicher Dimensionen einen juridischen Umgang mit Resten und dem Verworfenen zu Wort kommen, der ihnen durch Verwendung in einer neuen Ordnung zu ihrem Recht verhelfen will, einem neuen aufwertenden Blick zuführt, während gleichzeitig die Moderne immer mehr Reste und Abfälle produziert, derer sie sich im Zeichen des unablässig Neuen zu entledigen sucht. Die ästhetische und ge-
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Karl Marx reiht die Lumpensammler in jenen „Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen“ ein, den er mit dem Begriff „Lumpenproletariat“ fasst: „neben verkommenen und abenteuernden Ablegern der Bourgeoisie Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Lazzaroni, Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler, Maquereaus ‚Zuhälter‘, Bordellhalter, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz, die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse, die die Franzosen la bohème nennen“ (ders. 1960, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, 160 f.).
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schichtsphilosophische Reflexion der Moderne finden – so etwa bei Baudelaire17 und Benjamin – im Lumpensammler eine Figuration des Poeten und des Historikers, die sich ebenso im Grenzbereich der kulturellen Ordnung bewegen, in Benjamins Lesart: „Lumpensammler oder Poet – der Abhub geht beide an.“18 Das Auflesen des Vergessenen steht hier im Dienst der Fortschrittskritik. Die Kehrseite dieses Verwendens (des Ausschusses), in dem etymologisch die Bewegung des Umwendens wie auch das Ge- und Verbrauchen steckt, nimmt Gianluca Sollas Beitrag in den Blick und akzentuiert die Perversion der kapitalistischen Ausbeutung, die mit den Lumpensammlern Ende des 19. Jahrhunderts ihre erste emblematische Figur findet. Er bringt sie in eine gedankliche und zugleich phantasmatische Verbindung mit der Musealisierung und Konservierung von Resten der Vernichtung in Auschwitz.
3. Collage, Montage Auch die Kunst setzt spätestens seit den Avantgardebewegungen der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts auf Resteverwertung, auf Ästhetiken des Restes – mit der ironischen Pointe, dass die so entstandenen Werke heute auf dem Kunstmarkt zum Teil Preise in Millionenhöhe erzielen. Man denke an den Moment der Herauskristallisierung des Wortes ‚Collage‘ selbst, das sich aus den ersten papiers collés der Kubisten ableitet. Braque und Picasso klebten die Papier- und Tapetenreste, die Zeitungsausschnitte und später auch andere Materialien in ihre Bilder. Die Technik wurde von Dadaisten und Surrealisten weiterentwickelt im Hinblick auf eine Verwandlung und Verfremdung des Bildes, nicht zuletzt durch die Einfügung von fremden, heterogenen Restmaterialien. Die antimimetische künstlerische Resonanz auf eine fragmentierte Welt richtet ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die Materialität der Dinge selbst, auf – wie Benjamin es in seinem Kunstwerkaufsatz ausführte – deren „Unverwertbarkeit“ für eine Rezeptionshaltung der „Sammlung und Stellungnahme“, indem sie auf „Entwürdigung ihres Materials“ und „allen nur vorstellbaren Abfall der Sprache“ setze.19 Auch in der Literatur wird die Collage zu einem tragenden ästhetischen Paradigma: Man denke an den Großstadtroman der Zwanzigerjahre (Aragon, Döblin, Dos Passos), der als ‚Montageroman‘ qua Collage versucht, Wirklichkeitsfragmente einer unüberschaubar gewordenen Gegenwart zu archivieren. Aber zugleich geht es auch darum, im sprunghaften Zusammenmontieren dieser Fragmente Schocks hervorzurufen, die von dem Andrängen einer nicht mehr zu bewältigenden Menge an Informationen zeugen.
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Baudelaire 1975, Le Vin des chiffonniers. Benjamin 1991, Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, 583. Benjamin 1980, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 502.
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Wenn die Welt nicht mehr verstanden werden kann, wird sie in ihren Trümmern doch noch einmal eingesammelt. Der Auflösung korrespondiert so die Geste der Bewahrung. Dies geschieht nicht ohne die Hoffnung, daraus noch einmal einen ästhetischen und oder einen Erkenntnisgewinn zu erzielen. Auch diesbezüglich ist Benjamin zu nennen, als derjenige, der die Montage als sammelnde Konfiguration von Fragmenten und Zitaten radikal denkt und mit seinem Passagen-Werk erkenntnistheoretisch für die Geschichtsphilosophie fruchtbar gemacht hat. Doch selbst dort, so argumentiert Judiths Kaspers Beitrag, wo wie in Flauberts letztem unvollendeten Roman Bouvard et Pécuchet eine unerhörte Papierhalde aufgrund eines wilden und unreflektierten Gestus des Kopierens imaginiert wird, die jegliche Möglichkeit der Lesbarkeit übersteigt, bleibt etwas: zwar kein Verstehen und Erkennen mehr (die Möglichkeit von sich darin noch abzeichnenden Konstellationen scheint hier nicht mehr gegeben), doch – wie es in einer Randnotiz heißt – eine enorme Lust am Kopieren. Eine Lust, die nicht zuletzt darin besteht, sich vom enzyklopädischen Gestus des Wissen-Sammelns, das von Flaubert in all seiner Idiotie ausgestellt worden ist, endgültig zu verabschieden.
4. Literatur als Nachlese In den Gesten des Collagierens, Montierens, Kopierens reflektieren sich Kunst und Literatur als eine Form der Nachlese. Die Nachlese ist eine arme Geste, eine Geste, die sich einem Feld zuwendet, das vom Standpunkt des Erntenden leer ist. Diese Leere gilt es nun zu lesen. Es ist eine Geste, die nicht in Besitz nimmt, die kein Feld okkupiert, sondern sich damit begnügt, an den Rändern Liegengebliebenes aufzuklauben und in seiner prekären Lesbarkeit noch diesseits der hermeneutischen Konstitution von Bedeutungen zu erkunden ( Alexandre Métraux „Schriftbildlichkeit oder Bildschriftlichkeit – ein Fall aus Fernando Pessoas Handschriften“ und Judith Kasper „Was nach dem Sammeln bleibt. Zum Status des Kopierens in Flauberts Bouvard et Pécuchet“). Die Leere scheint also nie einfach leer zu sein, aber sie kann auch nie in eine konkrete Bedeutung überführt werden. Sie manifestiert sich im Spärlichen, in vorübergehenden Spuren ebenso wie in Leerstellen, die wir indizieren können – im Text, im Bild, in den Zwischenräumen der Buchstaben und Wörter, in den vervielfachten Rändern einer Collage.20 Sarah Schmidt bezeichnet in ihrem Essay über Herta Müllers Wortcollagen die Arbeit der Nobelpreisträgerin explizit als eine Nachlese. Müller greift auf der Strecke Gebliebenes, aus dem gewohnten Sprachgebrauch herausgefallenes Wortmaterial – „Wegrandworte“ – wieder auf. Ihr Umgang mit diesen Wörtern besteht darin, sie zu materialisieren, sie zu zerschneiden und die einzelnen 20
Zum „Dinglichwerden“ der Sprache an den Rändern des Bedeutens vgl. die Einleitung in das erste Kapitel.
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Elemente zu neuen Zusammenhängen zusammenzukleben. Die zusammengesetzten Wortfolgen werden zu einer Spurenlese, in der auch dem Zwischenraum als dem Ausgelassenen, Leeren eine bedeutende Rolle zukommt. Eine Metapher für diese Leere ist das Meer. Es ist der Raum, an dem das Lesen Schiffbruch erleiden kann. Dies gilt für die Poetik Mallarmés, in der die Wörter nur noch da sind, um gleich darauf in den Abgrund ihrer Zwischenräume zu stürzen21, ebenso wie für die untergehenden Boote voller Flüchtlinge vor der Küste Lampedusas, von denen oftmals keinerlei Zeugenschaft bleibt ( Gianluca Solla, „Nach der Sammlung“). Zuweilen spuckt das Meer die Trümmer der Katastrophen, die in ihm stattgefunden haben, dann wieder aus, spült sie als Treibgut an den Strand, das Litoral. Nina Jürgens beschäftigt sich mit dem Phänomen, wie die Trümmer und Abfälle der europäischen Geschichte an den aus europäischer Perspektive abseitigen, marginalen Kontinent Australien angeschwemmt werden. Sie analysiert, wie die beiden australischen Gegenwartsautoren Murray Bail und Alexis Wright Treibgut zum Ausgangspunkt für eine erzählerische Reflexion über die postkoloniale Identität ihres Kontinents werden lassen. Das Litoral – diese nicht klar umrissene Zone zwischen Land und Meer – wird zum Ort der kulturellen Selbstbefragung ebenso wie zum Erkundungsort für das Sammeln und seiner Unterseite. In diesem Kontext erweist sich Literatur aus kulturtheoretischer Perspektive in einem sehr konkreten Sinne als das, was Jacques Lacan einmal als eine „accomodation des restes“22 bezeichnet hat: Lacan fasste – ausgehend von seinen Joyce-Lektüren – Literatur als eine Art „litterature“, in der Buchstabe (engl. letter) und Abfall (engl. litter) über ihre paronomastische Verbindung in die semantische Nähe zum Litoral rücken. Eine solche Literatur/litterature/lituraterre ist nicht Zentrum, sondern bildet jenen Rand aus, der bereit ist, das Vergessene, Ausgestoßene und Übriggebliebene aufzunehmen.
5. Heimsuchungen Der Rest ist von einem Zuwenig und Zuviel zugleich gezeichnet. Er ist zu wenig, insofern er sich nicht in materialisierten Rest-Dingen fassen lässt; er ist zu viel, insofern er eine ungestalte Menge bildet, die in jede Repräsentation von Rest- und Abfallsammlungen drängt und ihre Lesbarkeit verunsichert, ja zuweilen gar zerstört. Es ist ein gespenstischer Rest, der noch jede Restesammlung heimsucht.
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Vgl. dazu Judith Kaspers Auseinandersetzung mit Saussure und Freud „Vom Ausscheren und Einsammeln der Buchstaben. Saussures Anagramm-Studien und Freuds Fehlleistungen“ im ersten Kapitel. Lacan 1971, Lituraterre.
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Gerade die konkreten, materiellen, dinghaften Überreste einst gelebter Leben sind von solcher Art.23 Sie sind „nicht-sterbliche Überreste“, denen sich Gisela Eckers Beitrag zur literarischen Trauerarbeit in Texten der Gegenwartsliteratur, u. a. von Paul Auster, Friederike Mayröcker, Barbara Honigmann und Michael Lentz, widmet. „Überreste“ – das „über“ weist darauf hin – sind von einem „Über“ gezeichnet, das den Rest in seiner Übermacht an der Unterseite der Sammlung ausstellt, das Nachleben des Restes zum Zeugnis einer kollabierten ehemaligen Ordnung des sie besitzenden Subjekts werden lässt. Mit dessen Tod – so Ecker – werden auch die verwaisten Dinge aus ihrer taxonomischen Ordnung gerissen und für eine neue Kategorisierung zwischen entsorgtem Abfall und betrauertem Memorialobjekt, mithin für neue Bedeutungszuweisungen verfügbar gemacht. Überreste – zumal in den Überflussgesellschaften – werden oft nicht mehr als Erbe angenommen. Diejenigen, die mit dem Nachlass als Überrest konfrontiert sind, erleben ihn als überflüssigen Überschuss und Überdruss, der umsortiert, umverteilt, verschenkt, gespendet, als Erinnerungsstück aufbewahrt, verkauft, weggeworfen werden muss. Allenfalls eine verdrießliche Art von Trauerarbeit mag in solchen Entsorgungsmaßnahmen noch stattfinden. Eine Trauerarbeit, die sich selbst loswerden will, ebenso wie diese Dinge ent-sorgt werden sollen. Dass sie sich indes nicht ohne Weiteres entsorgen lassen, davon zeugt ihre Wiederkehr in zahlreichen Texten der Gegenwartsliteratur. Wo sie unlesbar und mithin unerzählbar geworden sind, erscheinen sie noch einmal in Form von Listen und Inventaren – eine Gattung, die sich als eine versehrte Form des Sammelns bezeichnen ließe, die aber kaum in der Lage ist, das Gespenstische, das denjenigen Dingen anhaftet, die nicht mehr in den Status des Erinnerungsträgers, des Souvenirs, erhoben werden können, zu bannen. Der Überfluss an Resten bzw. an Rest im absoluten Sinne bringt alle Formen des Sammelns – die institutionalisierte des Museums ebenso wie die prekärste der Listung – in Seenot. Erkennbar wird, dass jede Sammlung nur auf einem sehr unsicheren und flüssigen Grund sich erhält. Die Unterseite der Sammlung – das ist mithin die im Untergang begriffene Sammlung, die vom Übergewicht der Überreste unweigerlich nach unten gezogen wird.
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Peter Geimer spricht von einem „hagiographischen Wartemodus“ der persönlichen Dinge zu Lebzeiten, die mit dem Tod ihres Besitzers „aus der Latenz“ fallen und sich als auratische Überreste entwickeln; ders. 2005, Über Reste, 115.
BARBARA NATALIE NAGEL
ENJAMBEMENT DES RESTS − POETISCHE ÜBERLEBENSÖKONOMIEN IN JEAN PAULS WUTZ
Ein Rest, das ist üblicherweise das, was übrig bleibt: das Ende von etwas. Vielleicht sogar ein Ende, das so final ist, dass man es nicht annehmen kann, sondern verwerfen muss. Der Rest als Abjektes, das liegen bleibt – bleibt, wie die etymologische Verwandtschaft des Rests mit dem französischen rester und dem englischen to remain andeutet. In diesem etymologischen Sinne ist der Rest immer schon auf Dauer gestellt, so dass das Ende, auf das der Rest verweist, bei erneuter Betrachtung ein endloses Ende ist: ein Ende auf Dauer. Könnte man dieses Ende auf Dauer nicht aber auch als Anfang begreifen? Ja, könnte uns der Rest zum Neuanfang verhelfen? Das jedenfalls gibt Charles Malamoud zu Bedenken, Religionswissenschaftler, Indologe, Derridas Freund und Kollege am École pratique des hautes études. In Cuire le monde. Rite et pensée dans l’Inde ancienne beschreibt Malamoud, wie nicht nur Essens-, sondern Reste aller Art „innerhalb der Rituale und Sozialprozesse, in denen sie vorkommen, keineswegs nur bloße Endpunkte darstellen – [sie] bilden vielmehr die Anfangspunkte einer Handlung, die an sie anschließt, sozusagen den Beginn eines neuen Beginns.“1 Die Idee des Rests als Anfang, so Malamoud, präge die gesamte indische Kosmogonie als Glaube an Karma.2 „Ein Mann, der des Orients Breite, Höhen und Tiefen durchdrungen“, schreibt Goethe im West-östlichen Divan, „findet, daß kein deutscher Schriftsteller sich den östlichen Poeten und sonstigen Verfassern mehr als Jean Paul Richter genähert habe“.3 Auch der hinduistische Gedanke vom Rest als Anfang findet sich bei Jean Paul in dessen früher Erzählung vom Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal (1793).4
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Malamoud 1989, Observations, 13-33: 28 (alle nicht weiter ausgewiesenen Übersetzungen stammen von mir). Malamouds Text ist Derrida Anlass zur philosophischen Reflexion: Derrida 2002, Reste, 43 ff. Malamoud 1989, Observations, 29: Es sei ein Rest (reliquat) an Karma, der Wiedergeburten auslöse, weil gute und böse Taten sich nie die Waage hielten. Goethe 1988, Vergleichung, 228. Goethe begründet seine Beschreibung Jean Pauls als ‚orientalischen‘ Dichter damit, dass man beim Lesen von Jean Pauls Texten die „wunderlich aufgegebenen Rätsel zu lösen sucht, und [sich] freut [..], in und hinter einer buntverschränkten Welt, wie hinter einer andern Scharade, Unterhaltung, Erregung, Rührung, ja Erbauung zu finden“ (ebd., 229). Jean Pauls Rückgriff auf ‚orientalische‘ Motive ist von Hendrik Birus dokumentiert worden: Birus 1993, Vergleichung und kürzer bereits in: Birus 1985, Der ‚Orientale‘, 103-126. Richter 2007, Leben.
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BARBARA NATALIE NAGEL
Arm wie eine Kirchenmaus hat Wutz nicht viel zu lachen, doch genau deshalb hat er es in der Kunst, glücklich zu sein, so weit gebracht, Regeln fürs tägliche Glück zur Hand zu haben: Ein andrer Paragraph aus der Wutzischen Kunst, stets fröhlich zu sein, war sein zweiter Pfiff, stets fröhlich aufzuwachen – und um dies zu können, bedient’ er sich eines dritten und hob immer vom Tage vorher etwas Angenehmes für den Morgen auf, entweder gebackne Klöße oder ebensoviel äußerst gefährliche Blätter aus dem Robinson, der ihm lieber war als Homer oder auch junge Vögel oder junge Pflanzen, an denen er am Morgen nachzusehen hatte, wie nachts Federn und Blätter gewachsen.5
Wutz’ Schlüssel zum Glück ist, am Abend einen Rest zu lassen, damit ihm am Morgen das Aufstehen leichter fallen möge. In diesem Rat findet sich einer der gängigsten Vorwürfe gegen Jean Paul widerlegt, nämlich seine angebliche Naivität, die auch der Erzähler des Wutz als von komplexerer Natur verteidigt: „Eh ich von ihm weiter beweise, daß er [...] glücklich war: will ich beweisen, daß dergleichen kein Spaß war, sondern eine herkulische Arbeit.“6 Die Kehrseite von Wutz’ notorisch guter Laune am Morgen bildet denn auch die Depression des Aufwachens: die Sisyphusarbeit, jeden Morgen den Tag von Neuem beginnen zu müssen. Um sich das Aufstehen zu erleichtern, hebt sich Wutz täglich etwas auf – „aus Freude an der Vorfreude“7, wie der Germanist Paul Fleming pointiert. Umgekehrt bedeutet dies, dass die Welt nicht an sich Grund zur Freude bereithält. Wenn folglich Melancholie der paradoxe Motivator für Wutz’ Strategien des Selbst ist, dann verwundert es nicht, dass der erste Rest, den der Erzähler nennt – „gebackne Klöße“ –, einer ist, der nach Einverleibung verlangt; schließlich wird Inkorporation von der freudschen Psychoanalyse als typisch melancholisches Symptom verstanden.8 Grundsätzlicher argumentiert Derrida in seiner philosophischen Lektüre von Malamouds anthropologischen Reflexionen über den Rest. Das Wesen des Rests basiere als solches auf der Spannung zwischen Sterben und Nähren: „Mourir et nourrir, mourir ou nourrir“9.
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Ebd., 13. Ebd., 11. Fleming 2006, Pleasures of Abandonment bestimmt die Temporalität dieser Strategie als eine „Struktur der Antizipation“ und des „aufgeschobenen Vergnügens“ (71 f.). Im Akt der Inkorporation wird vom Trauernden ein Verlust einverleibt; dabei wird wörtlich genommen, was an sich nur im übertragenen Sinne verstanden werden kann. Jean Pauls Bild vom ‚Trauerkloß‘, den Wutz morgens gegen Trübsinn isst, wäre in diesem Sinne die literarische Literalisierung des Literalisierungsaktes wie er beschrieben wird in Freud 2000, Trauer und Melancholie, 193-212 und bei Abraham/Torok 2001, Trauer oder Melancholie, 545-559; zum Zusammenhang von Literalisierung und Inkorporation siehe Nagel 2012, Skandal des Literalen, 209 f. Zur Einverleibung als Form der Trauerbewältigung vgl. auch Gisela Ecker im vierten Kapitel „,Aufgesparte gummiringe nie benutzte griffel‘“. Derrida 2002, Reste, 41 [Herv. i. O.].
ENJAMBEMENT DES RESTS
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Doch muss es bei Jean Paul kein Trauerkloß sein, der einem das Aufstehen versüßt.10 Wutz hat eine ganze Sammlung verschiedenster Reste angelegt, die den Übergang von einem zum anderen Tag erträglicher machen sollen; er „hob immer vom Tage vorher etwas Angenehmes für den Morgen auf“. In dieser Formulierung hält Jean Paul vor Hegel mindestens drei Bedeutungen des Verbs ‚aufheben‘ in Spannung zueinander: Erstens das Aufheben eines niederen Materiellen vom Boden; zweitens eine gleichzeitige Spiritualisierung des Materials, das konserviert und zum ‚Rest‘ konzeptualisiert wird; drittens ‚Aufheben‘ in der Bedeutung von ‚außer Kraft setzen‘, weil die Zuordnung zu einem Ganzen der Singularität des Rests widersprechend einer Vernichtung desselben gleichkommt. Derrida reflektiert über dieses paradoxe Wesen des Rests als Teil und Ganzes: „Aber in Wahrheit ist der Rest immer Teil eines Ganzen, er hat Teil und nimmt Teil an einem seriellen Ganzen und zugleich beschreibt er die Ausnahme.“11 Ein jeder Rest gehört, so singulär er auch sein mag, zur Kategorie bzw. zur Idee des Rests: zu einer Sammlung von Heterogenitäten und damit trotz allem zu einem Ganzen. Teil von Wutz’ Restesammlung – dieser paradoxen Homogenität des Heterogenen – sind Federn „junge(r) Vögel“ oder Blätter „junge(r) Pflanzen“, die gegen drohenden Nihilismus wappnen sollen. Beide dienen als Versicherung, dass da etwas ist anstatt nichts, dass also die Welt über Nacht weitergegangen, der Rest vom Vortag über Nacht sogar gewachsen ist. Hier fällt nun eine gewisse verbale Redundanz auf: Wutz, heißt es, bewahrt sich „Blätter aus dem Robinson [...] oder auch junge Vögel oder junge Pflanzen, an denen er am Morgen nachzusehen hatte, wie nachts Federn und Blätter gewachsen.“ Wie die „Blätter“ ihren Namen sowohl Robinson Crusoe als auch den „Blätter(n)“ der jungen Pflanzen leihen, so teilt der junge Vogel seine „Federn“ mit der gleichnamigen Feder auf Defoes Schreibtisch. In dieser Eigenart Jean Pauls, einzelne Wörter wie ‚Blätter‘ oder ‚Feder‘ als Homonyme gleich für mehrere Dinge, das Adjektiv „jung“ gleich zweimal im selben Satz zu verwenden, zeigt sich, dass Wutz sprachlich mit dem Wenigen, das ihm zur Verfügung steht, genauso frugal haushaltet, wie der schiffbrüchige Robinson Crusoe auf seiner Insel. Aber gibt es überhaupt Reste, wo alles knapp und ergo wertvoll ist? Hört der Rest nicht vielmehr auf, Rest zu sein, wo er nicht ein Ende, sondern einen Neuanfang bildet? Könnte es sein, dass einmal kein Rest bleibt? Malamoud verneint diese Frage: „Es bleibt immer ein Rest, der – mag er auch mehrdeutig sein – seinem Wesen nach eher aktiv als inert ist.“12 Und eben weil es immer einen Rest gibt, ist kein Ende in Sicht. Das gilt auch für Wutz, bei dem der Rest zwar nicht immer derselbe, doch immer eine Sache die Position des designierten Rests einnimmt. 10
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Zu Resten in der Funktion einer traumatischen „Heimsuchung“, die durch den nicht auszulöschenden Rest immer und immer wieder von vorne beginnt, vgl. Sarah Schmidts Beitrag zu Herta Müllers Roman Atemschaukel im vierten Kapitel: „Fremdeigene Wortreste“. Derrida 2002, Reste, 45. Malamoud 1989, Observations, 32.
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Verweilen wir noch einen Augenblick beim Robinson, genauer dabei, dass sich Wutz die Antwort auf die Frage, wie die Geschichte weitergeht, für den nächsten Tag aufhebt. Poetisch ist diese Geste, weil in ihr eine andere Erzählung anklingt, in welcher das Ende bzw. der Rest einer Geschichte als Überlebenspfand fungiert: Die Rede ist von der Geschichte Scheherazades, der Rahmenerzählung der Geschichtensammlung Tausendundeine Nacht.13 Wir erinnern uns: Der gehörnte König Schahrayâr lässt sich jede Nacht aufs Neue ein Mädchen zuführen, das er erst entjungfert und am Morgen ermorden lässt. Um immer neue Vergewaltigungen und Morde an Frauen zu verhindern, meldet sich Scheherazade freiwillig, die Nächste im Schlafgemach des Königs zu sein. Unter einem Vorwand bringt das kluge Mädchen ihre Schwester Dinarsad mit ins Schlafgemach, die, nachdem sich der König an Scheherazade befriedigt hat, Scheherazade dazu auffordert, ihnen die Zeit bis zur Hinrichtung am Morgen mit einer Geschichte zu vertreiben. Schahrayâr aber lässt sich von Scheherazades Erzählen in den Bann ziehen – und bevor die Geschichte und in den folgenden Nächten jede weitere zum Ende kommt, heißt es mit verlässlicher Regelmäßigkeit beim Morgengrauen: [...] bemerkte [Scheherazade] nun den Tagesanbruch und hörte auf zu erzählen. Dinarsad sprach zu ihr: ‚O meine Schwester, wie schön und wunderbar ist deine Erzählung.‘ Schehersad erwiderte: ‚Was ist dies im Vergleich zu dem, was ich euch in der nächsten Nacht erzählen werde, wenn mein Herr, der König, mich leben läßt; es wird noch viel wunderbarer, angenehmer und entzückender sein.‘ Das Herz des Königs brannte vor Verlangen, die weitere Erzählung zu hören, und er beschloß bei sich: Bei Gott, ich lasse sie nicht umbringen, bis ich das Ende der Geschichte vernommen und gehört habe [...].14
Mögen Scheherazade und Wutz auch ein ungleiches Paar sein und in ihren Schlafzeiten alternieren – Wutz braucht den Rest, um über die Nacht, Scheherazade ihn, um über den Tag zu kommen – so haben doch beide Figuren gemeinsam, dass sie, um den Morgen zu überleben, von einer Geschichte stets einen Rest übriglassen. Damit teilen sie eine Struktur, nach der die Einheit des Tages sich nie mit jener der Geschichte decken darf: Der Tag endet, wo die Geschichte nicht endet und umgekehrt. Der Komparatist Daniel Heller-Roazen, Herausgeber der Norton Critical Edition von The Arabian Nights15, identifiziert dieses asymmetrische Schema als ein lyrisches: das Enjambement. Dabei bezieht sich Heller-Roazen auf Jean-Claude Milners These, im Enjambement trete das syntaktische Ende des Satzes in Spannung zum phonologischen Ende der Zeile – eben diese Opposition definiere Lyrik.16 Mit Milner im Hinterkopf wird sogar Max Kommerells Intuition über Jean Paul neu lesbar: „Die Prosa lernt 13 14 15 16
Christine Blättler betrachtet die Rahmenerzählung von Scheherazade und Schahrayâr unter dem Aspekt des Serialität, vgl. „Die Serie als Ordnungsmuster“ im zweiten Kapitel. Anonym 1984, Tausendundeine Nacht. Arabische Erzählungen, Kap. 4. Vgl. Heller-Roazen 2010, The Arabian Nights, xi. Vgl. Milner 1982, Réflexions, 300.
ENJAMBEMENT DES RESTS
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singen“, schreibt Kommerell, „Jean Pauls Sprache [steht] zwischen Vers und Prosa“17. Die Logik des Enjambements aber, die Prosa in Poesie überführt, ist nichts Anderes als eine Logik des Rests; ihr Ziel ist, syntaktische und metrische Struktur nicht in eins fallen zu lassen, sondern stets einen Rest zu lassen, damit das Gedicht fortschreiten kann. In diesem Sinne produzieren sowohl Scheherazade als auch Wutz einen Rest, damit ihr Leben weitergeht. Aber kann man einen Rest produzieren?18 Lässt sich die Kontingenz des Rests tatsächlich in Form und Regel übersetzen? Im Wutz zerbricht zuletzt das Modell des Enjambements als Lebensform, denn obgleich Wutz das Leben als Form behandelt, lässt es sich nicht auf seinen Formgehalt reduzieren. Jean Pauls Erzählung endet „[u]nschicklich – aber nur dem Weltsinn, nicht dem mystischen“19 mit dem Sterben seines Protagonisten. Der Tod markiert nach Ansicht von Giorgio Agamben auch das Ende des Gedichts: Denn Milners Thesen verhelfen Agamben zur Pointe20, die letzte Zeile des Gedichts sei nicht mehr lyrischen Charakters, sondern Prosa, weil sie − keinen Rest mehr lassend − zum Enjambement unfähig sei.21 Anders jedoch in Jeans Pauls Erzählung, wo bis zuletzt ein Rest bleibt, nämlich die Überreste des Verstorbenen, die in einem wundersamen Enjambement behutsam weitergetragen werden: „Um 11½ Uhr nachts kamen Wutzens zwei besten Jugendfreunde noch einmal vor sein Bette, der Schlaf und der Traum“, berichtet der Erzähler und wendet sich sodann an die Freunde mit einer Frage, die offen bleibend einen Rest lässt: Oder bleibt ihr länger, und seid ihr zwei Menschenfreunde es vielleicht, die ihr den ermordeten Menschen aus den blutigen Händen des Todes holet und auf euren wiegenden Armen durch die kalten unterirdischen Höhlungen mütterlich traget ins helle Land hin, wo ihn eine neue Morgensonne und neue Morgenblumen in waches Leben hauchen –?22
Es ist dies das letzte Enjambement: Ein Enjambement, in dem Wutz’ Überreste, auf mütterlich „wiegenden Armen“ getragen, einem Neuanfang übergeben wer17 18
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21 22
Kommerell 1977, Jean Paul, 31 und 33. Die buchstäbliche Produktivität der Einbildungskraft wird von Jean Paul immer wieder vorgeführt: Sei es, dass sich Wutz eine Bibliothek selbst verfasst (Richter 2007, Leben, 7 ff.) mit allen Büchern, die er sich zu kaufen nicht leisten kann, sei es, dass in seiner Vorschule der Ästhetik der Effekt des Lächerlichen am Beispiel eines Holländers verbildlicht wird, der, „weil er kein ganzes Landhaus erschwingen konnte, sich wenigstens eine kurze Mauer mit einem Fenster bauen ließ, aus welchem er, wenn er sich in solches legte, sehr frei und ungehindert die Landschaft vor sich hin beschauen und genießen konnte“ (ebd., 112). Kommerell 1977, Jean Paul, 286. Heller-Roazen, der mit Agambens Reflexionen übers Enjambement besonders vertraut ist, da er „La fine del poema“ ins Englische übersetzte, nennt dessen Ausführungen zum Enjambement eine „Weiterführung“ von Milners Thesen (xii). Dabei erwähnt Agamben selbst Milner mit keinem Wort – Milner bildet sozusagen den unter den Teppich gekehrten Rest von Agambens Essay. Vgl. Agamben 2005, La fine del poema, 142. Richter 2007, Leben, 44 f.
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den „ins helle Land hin, wo [..] eine neue Morgensonne und neue Morgenblumen“ ihn erwarten, ein letztes Enjambement, das den (Zeilen-)Sprung vom geformten zum ungeformten Leben vollzieht, von Wutz’ Auenland nach Scheherazades Morgenland.
PHILIP AJOURI
ZU EINIGEN SAMMLUNGS- UND AUSSCHLUSSPRINZIPIEN BEIM PUBLIKATIONSTYP DER ‚GESAMMELTEN WERKE‘. GOTTFRIED KELLERS GESAMMELTE WERKE (1889) UND GOETHES AUSGABE LETZTER HAND (1827-30)
Der ideale Editionsphilologe, so scheint es, kennt keine Reste. Alles Schriftliche, das sich im Nachlass eines Autors findet (Entwürfe, Notizbücher, Tagebücher, Briefe), zudem alle zu Lebzeiten publizierten Texte und vieles Weitere werden nach den gleichen Maßstäben kritisch ediert und finden so Eingang in die angestrebte, möglichst vollständige historisch-kritische Ausgabe. Das Ziel, das mehr als regulative Idee gedacht und kaum je wirklich erreicht wird, ist in den allermeisten Fällen der vollständige und integrale Abdruck aller authentischen oder autorisierten Textzeugen. Diese Entwicklung korrespondiert mit einer vertieften Reflexion über den Werkbegriff, wie sie am einflussreichsten vielleicht Michel Foucault in seinem Aufsatz „Was ist ein Autor?“ formuliert hat. Anhand von Nietzsches Schriften wirft er die Frage auf, was alles zu einem Werk gehöre: [I]st alles, was er [ein Autor; P. A.] geschrieben hat, alles, was er hinterlassen hat, Teil seines Werks? Ein zugleich theoretisches und technisches Problem. Wenn man zum Beispiel an die Veröffentlichung der Werke Nietzsches geht, wo soll man Halt machen? Man soll alles veröffentlichen, ganz sicher, aber was heißt denn dieses „alles“? Alles, was Nietzsche selbst veröffentlicht hat, einverstanden. Seine Werkentwürfe? zweifellos. Aphorismusprojekte? ja. Aber wenn man in einem Notizbuch voller Aphorismen einen Bezug, einen Hinweis auf ein Rendez-vous oder eine Adresse oder eine Wäschereirechnung findet: Werk oder nicht Werk? Aber warum nicht? Und so weiter ad infinitum.1
Foucault selbst hat wohl viel dazu beigetragen, dass die Editionsphilologen ihre Arbeit und die Konsequenzen für den Autor- und Werkbegriff reflektieren. Wahrscheinlich führte dieser Prozess weniger zu feststehenden Werkdefinitionen, anhand derer das Material selektiert wurde (und wird), als zu flexiblen Arbeitsrichtlinien, die im Zweifel immer für die Aufnahme eines fraglichen Dokuments in die Edition votierten und selten dagegen. Das hängt damit zusammen, dass die Editoren bei den wissenschaftlichen Benutzern dieser Ausgaben eine „Form von selektionsloser Aufmerksamkeit“2 voraussetzen, das heißt: Es
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Foucault 2009, Was ist ein Autor?, 205. Martus 2007, Werkpolitik, 10.
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wird angenommen, dass alles in gleicher Weise wichtig und interessant ist oder doch interessant sein könnte. So findet Gottfried Kellers bekritzelte Schreibunterlage den Weg in die historisch-kritische Edition seiner Werke, in der Kleist-Ausgabe finden sich „Dokumente“ wie das Besucherbuch der Dresdner Bibliothek, in das Heinrich von Kleist am 13. Juni 1803 zwischen „v. Pfuel“ und „Ludwig Wieland a. Weimar“ seinen Namen setzte. Ein besonderes Problem stellen amtliche Akten dar, an denen Autoren aus beruflichen Gründen mitgewirkt haben, deren Autorschaft aber im Einzelnen unsicher ist. Wenn der Autor durch Unterschrift bekundet, eine Akte oder ein amtliches Dokument wie ein Protokoll mitverfasst zu haben, ist das Teil eines Werks? Da sich zukünftige Forschungsfragen nur schlecht antizipieren lassen, würden wohl viele Editoren auch solche Akten und Akteneinträge aufnehmen, was aber häufig aufgrund von Budgetgrenzen oder aus Rücksichtnahme auf den Verlag unterbleibt.3 Digitale Editionen erweitern den Spielraum der Textwiedergabe, da Speicherplatz kaum ein relevanter Kostenfaktor ist und pragmatische Gründe wie Anzahl, Dicke und Preis der Bände entfallen. Das hat dazu geführt, dass die ‚Utopie der totalen Speicherung‘ weitergeträumt werden darf. Editoren historisch-kritischer Ausgaben sammeln die Werke eines Autors für den wissenschaftlichen Leser, das heißt für denjenigen Leser, der ein Forschungsinteresse hat, das man über längere Zeiträume kaum antizipieren kann. Zudem stellen sie sich nur zu gerne vor, dass auch die Autoren ihre Schriften möglichst vollständig publiziert haben wollten. Ein Beispiel ist Margit Gigerls und Barbara von Reibnitz’ Aufsatz über den Nachlass von Robert Walser. Hier wird uns der sammelnde Walser vorgestellt, der vom „Willen zur möglichst umfassenden Dokumentation der eigenen Produktion“4 getrieben worden sei. Das mag historisch so gewesen sein, ist aber eher eine zufällige Übereinstimmung von Editoren- und Autorwillen. Es wird in diesem Zusammenhang nämlich gerne vergessen, dass nicht wenige Autoren ihre Werke für Werkausgaben selbst sammelten, sichteten, redigierten, anordneten und dabei häufig auch Material ausschlossen. So gelangten sie zu Gedichtsammlungen und Erzählbänden, aber auch zu ‚Gesammelten Werken/Schriften‘ oder zu ‚Sämtlichen Werken/Schriften‘, die sie der Nachwelt überließen.5 Dieser Vorgang ist historisch sehr variabel, hoch komplex und voraussetzungsreich – und, soweit ich sehe, wenig erforscht.6 Untersucht man diese durch die Autoren selbst veranstalteten Werkausgaben, so kommt man zwar nicht zu einer Definition, was ein Werk nun eigentlich ‚wirklich‘ sei, wohl 3
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Vgl. die Auseinandersetzung von Alexandre Métraux in diesem Band mit einem solchen, nicht mit gängigen Werkkategorien fassbaren Manuskript: „Schriftbildlichkeit oder Bildschriftlichkeit“ im vierten Kapitel. Gigerl/von Reibnitz 2007, Sammeln und lesbar machen, 162. Zur Definition vgl. Mentzel-Reuters 2003, Gesammelte Werke, 235. Zur Forschung vgl. z. B. Martus 2007, Werkpolitik; Nash (Hg.) 2003, The Culture of Collected Editions; Golz/Koltes (Hg.) 2008, Autoren und Redaktoren als Editoren.
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aber zu verschiedenen Auffassungen, wie ein jeweiliger Autor seine Werksammlung konzipierte. Den hier folgenden Ausführungen liegt der Gedanke zugrunde, dass das Sammeln von Werken für eine Werkausgabe (bzw. das Ausschließen von Schriften) durch den Autor selbst eine soziale Praxis ist, die sich mit dem Wandel des literarischen Systems und seiner Stellung in der Gesellschaft verändert. Diese Praxis geht über das Ausschließen von künstlerisch als minderwertig angesehenen Werken und das Weglassen von politisch und moralisch problematischen Texten weit hinaus. Hier wird es also nicht um Zensur gehen, sondern es soll versucht werden, Kompositionsprinzipien von Werkausgaben aus epochenspezifischen Konzepten und der Stellung des Literatursystems zu anderen gesellschaftlichen Subsystemen zu erklären. Es dürfte einleuchten, dass Werkausgaben unter anderem nicht unabhängig von Autorkonzepten, von Werkbegriffen und von Gattungskonzeptionen erstellt werden, und ebenso liegt auf der Hand, dass diese Vorstellungen und Praktiken epochenspezifische Eigenheiten aufweisen. Werkausgaben werden bislang insbesondere in der Editionsphilologie erforscht, wobei der Schwerpunkt auf der Herausbildung der germanistischen Editionswissenschaft als akademischer Disziplin liegt.7 In diesem Beitrag soll hingegen eine literaturgeschichtliche Perspektive eingenommen werden, die über die Interpretation von literarischen Texten hinaus auch ein Objekt wie eine Werksammlung als interpretationswürdige Einheit betrachtet. Im Folgenden werden Gottfried Kellers Gesammelte Werke (10 Bde., 1889) auf die Regeln und leitenden Ideen hin untersucht, die für ihre Zusammenstellung konstitutiv waren. In einem zweiten Schritt soll Goethes Werkausgabe letzter Hand mit Kellers Gesammelten Werken verglichen werden, um so eine Differenz zu markieren.
Gottfried Kellers Gesammelte Werke (1889) Keller hatte erste Gedanken an eine Werksammlung schon 1854 geäußert, also noch bevor auch nur der Grüne Heinrich bei Vieweg vollständig erschienen war. Er schrieb an Hermann Hettner im Zusammenhang mit einem Verlagsangebot von dritter Seite: [A]uch muß man an die Zukunft denken und sich eine allfällige Sammlung nicht zum voraus zersplittern oder erschweren. Ich habe immer die Hoffnung, abgesehen von der dramatischen Laufbahn, eine nicht große aber gute Sammlung erzählender Schriften zustande zu bringen, zu welchem Zwecke ich auch den „Grünen
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Vgl. z. B. die Reihe Bausteine zur Geschichte der Edition, hg. v. Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta.
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Heinrich“ noch einmal umarbeiten und ihm eine gemeingenießbare Form geben würde.8
Die Verlegerwahl stand also schon für den jungen Keller neben den sicheren Einkünften, auf die er angewiesen war, im Zeichen einer Werksammlung. Hierzu aber sollte der Erstlingsroman umgearbeitet werden, ein Gedanke, der auch in einem viel späteren Brief an Ferdinand Weibert wieder auftaucht: Die Sammlung oder Gesammtausgabe meiner Erzählungen möchte ich überhaupt einstweilen noch im Hintergrund lassen mit dem Gedanken, diese Art Tätigkeit mit einer solchen zu geeigneter Zeit abzuschließen. Wenn es mir gelingt, aus dem „Grünen Heinrich“ durch die Umarbeitung ein mehr oder weniger präsentables und liebenswürdiges Buch zu machen und ihn so neu in Kurs zu setzen, so wünschte ich alsdann auch diesen in jene gesammelten Erzählungen aufzunehmen, wenn er sich erst durch eine neue Einzelausgabe bewährt hat.9
Keller wollte also den Grünen Heinrich in der Erstfassung nicht in eine Werkausgabe aufnehmen. Eine zweite Fassung hätte sich aber erst auf dem Buchmarkt behaupten müssen, bevor sie Eingang in eine Werksammlung gefunden hätte. Kellers Gesammelte Werke sind also nicht spontan oder auf Verlegerwunsch entstanden, sondern sie sind ein lange ersehntes Projekt von Keller. Darin ist er seinem Freund Paul Heyse ähnlich, der schon 1863 seinem Verleger Hertz eine Werkausgabe vorgeschlagen hatte, ein Ansinnen, das der Verleger damals noch zurückwies, weil die Einzelausgaben der entsprechenden Werke noch nicht verkauft waren.10 Die Werkausgaben bei Hertz waren nämlich so konzipiert, dass die Bände auch einzeln erhältlich waren und durch ihren geringen Preis eine breitere Leserschicht ansprechen sollten.11 Da sie aber billiger waren als die Einzelausgaben, hätte der Verlag sich selbst Konkurrenz gemacht und der Verkauf der Einzelausgaben wäre rückläufig gewesen. Keller plante seine Werksammlung, die wohl auch für ihn eine „wichtige repräsentative Funktion“12 hatte, ähnlich langfristig wie Heyse. Wie schon das Beispiel der Umarbeitung des Grünen Heinrich zeigt, lässt sich die Werkproduktion von der Idee der ,Gesammelten Werke‘ nicht loslösen. Keller schrieb schon im Hinblick auf eine Vereinigung seiner Werke. Selbst die Verlagsverträge gestaltete er entsprechend. Aus einem Brief an Wilhelm Hertz wird deutlich, dass Keller sich seit 1872 stets vertraglich zusichern ließ, „im Falle der
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Gottfried Keller an Hermann Hettner am 26. Juni 1854, in: Keller 1950-1954, Gesammelte Briefe, Bd. 1, 397 [Herv. i. O.]. Gottfried Keller an Ferdinand Weibert am 3. Januar 1876, in: ebd., Bd. 3/2, 266. Vgl. Davidis 1982, Wilhelm Hertz, 1357. Zu den belletristischen Verlagen in jener Zeit vgl. Estermann/Füssel 2003, Belletristische Verlage, zu Wilhelm Hertz vgl. bes.: 189-196. Vgl. ebd., 1357 f. Ebd., 1358.
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Veranstaltung einer Gesamtausgabe meiner Schriften oder sogenannter gesammelter Werke“13 den fraglichen Text dieser Ausgabe einverleiben zu dürfen.14 Hertz wollte dies zunächst beim Sinngedicht nicht zugestehen und schlug eine zehnjährige Schutzfrist vor. Schließlich einigte man sich auf fünf Jahre.15 Als Keller seine Gesammelten Werke zusammenstellte, standen zunächst rechtliche Fragen im Vordergrund. Bei welchem Verlag lagen welche Rechte und hatten sie noch Gültigkeit? Als diese Fragen soweit geklärt waren, schrieb er an seinen Verleger Wilhelm Herz: Es kann sich mit der Gesamtausgabe ohnehin noch eine Weile verziehen, da noch ein Band Novellen dazu kommen sollte. Mittlerweile kann ich mich auch über die Grundlagen einer solchen Unternehmung etwas orientieren; denn jetzt habe ich keine Kenntnis, wie es gehalten zu werden pflegt in jetztiger Zeit.16
Zu dem Novellenband sollte es nicht mehr kommen, aber an diesem Zitat zeigt sich, dass Keller auf reflektierte Weise und mit Blick auf die Praxis seiner Schriftstellerkollegen beziehungsweise von anderen Verlagen an die Werkausgabe ging. An der Formulierung „ein Band Novellen“ wird zudem deutlich, dass Keller auch bei der Novellenproduktion immer gleich an eine Novellensammlung dachte, nicht so sehr an eine einzelne Novelle. Diese Einstellung prägt dann auch seine Gesammelten Werke (10 Bde., 1889). Er nahm nur Werke auf, die bereits veröffentlicht waren; und auch hier wurde ausgewählt. Vertraglich ließ sich Keller in einem eigenen Paragraphen zusichern, dass nur er allein über die aufzunehmenden Werke entscheiden werde.17 Die geistige Urheberschaft dieser Werksammlung lag also bei Keller. Folgendes fand Eingang: Der grüne Heinrich (Bde. 1-3; zweite Fassung) Die Leute von Seldwyla (Teil 1 in Bd. 4; Teil 2 in Bd. 5) Die Zürcher Novellen (Bd. 6) Das Sinngedicht und Sieben Legenden (Bd. 7) Martin Salander (Bd. 8) Gesammelte Gedichte (Bd. 9 und 10)
13 14 15
16 17
Gottfried Keller an Wilhelm Hertz am 20. März 1881, in: Keller 1950-1954, Gesammelte Briefe, Bd. 3/2, 429. Vgl. Gottfried Keller an Wilhelm Hertz am 6. April 1881, in: ebd., 430 f. Vgl. Gottfried Keller an Wilhelm Hertz am 6. April 1881, in: ebd. und die positive Antwort von Hertz an Keller vom 9. April 1881 (eingesehen auf der Seite http://www.gottfriedkeller.ch/ briefe, die im Rahmen der historisch-kKritischen Gottfried Keller-Ausgabe erarbeitet wurde). Vgl. auch den § 4 des Verlagsvertrags zum Sinngedicht, abgedruckt in: Davidis 1982, Wilhelm Hertz, 1509 f. Gottfried Keller an Wilhelm Hertz am 24. Februar 1885, in: Keller 1950-1954, Gesammelte Briefe, Bd. 3/2, 448. Vgl. den Verlagsvertrag zu den Gesammelten Werken, abgedruckt in: Davidis 1982, Wilhelm Hertz, 1519-1521, hier: 1521.
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Für ein Lebenswerk, das in ca. 40 Jahren entstanden ist, ist das eine erstaunlich durchkomponierte und einheitliche Sammlung. Man sieht sofort Kellers „Vorliebe für Textzyklen“18. Jeder Novellenzyklus erhält nach Möglichkeit einen eigenen Band. Die Aufteilung eines Werks oder einer Sammlung auf mehrere Bände ist dabei herstellungstechnisch bedingt. Der entstehungsgeschichtliche Zusammenhang von Das Sinngedicht und Sieben Legenden im Galatea-Projekt bleibt gewahrt und findet Ausdruck dadurch, dass beide Werke im selben Band erscheinen.19 Die Werke und Werksammlungen sind chronologisch nach den hauptsächlichen Entstehungszeiten angeordnet. Das stimmt zumindest, wenn man als Entstehungszeit für den Grünen Heinrich die Erstfassung (1854/55) zugrunde legt und die Gedichte unberücksichtigt lässt. Dass die Gedichte in den beiden letzten Bänden abgedruckt wurden, impliziert eine Wertung, denn das wichtige Vorbild Goethe hatte seit der Cottaʼschen Werkausgabe von 1815 die Gedichte stets an erster Stelle gebracht. Keller wollte sich primär als Erzähler verstehen und hielt die Gedichte, die ja auch zum ganz überwiegenden Teil aus seiner Frühzeit stammen, für nachgeordnet. Allerdings wurde das eigens von Arnold Böcklin angefertigte Portrait von Keller nicht dem ersten Band der Werkausgabe und damit dem Grünen Heinrich beigegeben, sondern dem ersten Band der Gedichte, also Band neun der Werkausgabe.20 Die chronologische Ordnung geht freilich nicht so weit, dass die Novellen innerhalb der Zyklen entwicklungsgeschichtlich angeordnet sind. Die Ordnung der einzelnen Novellen innerhalb der Novellenzyklen bleibt gegenüber den Buchausgaben unangetastet. Und noch weniger wurde ein radikales chronologisches Konzept verwirklicht, wie es Michael Bernays in Der junge Goethe (1875) vorexerziert hatte. Hier wurde die Einteilung in Gattungen aufgelöst und Gedichte, Dramen, Prosa und Briefe wurden gemischt in streng chronologischer Reihenfolge gedruckt. Bernays’ Goethe-Ausgabe ist die avancierteste Form einer bestimmten wissenschaftlichen Werkausgabe. Sie dokumentiert, wie radikal die chronologische Anordnung von Material gehandhabt werden konnte, und verdeutlicht, dass Kellers Chronologie in seiner Werkausgabe von 1889 eine sehr moderate ist. Während Bernays die Erstfassung von Goethes Texten 18 19
20
Morgenthaler 2005, Die Gesammelten und die sämtlichen Werke, 24. Vgl. den Kommentar in: Keller 1985-1996, Sämtliche Werke in sieben Bänden, Bd. 6, 790 f. Dagegen war dem Verlagsvertrag vom 10. Februar 1889 zufolge geplant, die Sieben Legenden in die Gedichtbände zu integrieren, die dazu ausreichend Platz geboten hätten. Vgl. Davidis 1982, Wilhelm Hertz, 1520. Vgl. ebd., 1470. Keller begründete diese Platzierung, die der Sohn des Verlegers vorgeschlagen hatte, im Brief vom 10. März 1889 an Wilhelm Hertz mit dem verlegerischen Argument, dass die zweibändige Gedichtsammlung in den Einzelverkauf gehe und daher das Porträt hier am besten aufgehoben sei. Zusätzlich begleiteten die Gedichte „das ganze Leben des alten Kerls“ (Keller 1950-1954, Gesammelte Briefe, Bd. 3/2, 465), womit ein Themenkreis Goethes und der Goethe-Philologie aufgerufen war, demzufolge Gedichte (z. B. als Erlebnisgedichte) in einem engen Zusammenhang mit der Biographie eines Dichters stünden. Würde man das Portrait dem ersten Band der Gesamtausgabe, also dem Grünen Heinrich beigeben, so befürchtete Keller einen zu platten Biographismus und fand zudem den Kontrast des kindlichen und jugendlichen Heinrich mit dem Portrait des „vertrocktneten Greises“ (ebd., 466) unangemessen.
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abdruckte, zeigte Keller kein solches entwicklungsgeschichtliches Interesse. Man wird der kellerschen Ausgabe also bescheinigen dürfen, dass sie als vom Autor selbst veranstaltete Ausgabe keineswegs mit wissenschaftlichem Rigorismus durchgeführt wurde, ja in gewissem Gegensatz zu den damals modernen wissenschaftlichen Ausgaben steht. Rigoros allerdings ist der Wille, kleinere Prosa nur in Zyklen zuzulassen. Eine alleinstehende Novelle, die kein Bestandteil einer Sammlung wäre, gibt es nicht. Kellers Werksammlung ist geschlossen, einheitlich, in den einzelnen Teilen durch den Sammlungscharakter der Novellenzyklen gerundet und erscheint so insgesamt als notwendiges Ganzes. Die ‚Reinheit‘ und der offenbare Vermächtnischarakter von Kellers Gesammelten Werken haben den Herausgeber der neuen historisch-kritischen Ausgabe, Walter Morgenthaler, dazu veranlasst, diese Werkausgabe in die neue Edition hinüberzuretten. Die historisch-kritische Keller-Ausgabe enthält in ihren ersten zehn Bänden den Text der Gesammelten Werke von 1889 – in derselben Textgestalt, Anordnung und Bandeinteilung. Kellers Werksammlung wurde als historisches Dokument und eigene künstlerische Leistung ernst genommen. Diese Entscheidung war mutig, wird doch in der Editionsphilologie gemeinhin die Erstausgabe oder die Ausgabe letzter Hand als Textgrundlage privilegiert. Kellers Gesammelte Werke sind aber weder das eine noch, zumindest in den meisten Fällen, das andere. Entsprechend wurde Morgenthaler für seine Entscheidung kritisiert.21 Die Bände 11 bis 18 der historisch-kritischen Keller-Ausgabe sind dazu geeignet, den Blick auf das zu richten, was zuallererst die große Geschlossenheit von Kellers Werksammlung ermöglichte: nämlich die ‚Reste‘ – das, was Keller aus seinen Gesammelten Werken ausschloss. Von den gedruckten und veröffentlichen Werken ließ Keller u. a. die Erstfassung des Grünen Heinrich und die erste Ausgabe der gesammelten Gedichte weg, zerstreut gedruckte Gedichte, einige wenige separat publizierte Erzählungen, einige possenhafte Texte in Schweizer Dialekt (ebenfalls publiziert) und alle publizierten, nicht-fiktionalen Texte (literaturkritische Arbeiten wie die Gotthelf-Rezensionen, Aufsätze zur Kunst wie Am Mythenstein, einen kurzen autobiographischen Text etc.). Weggelassen wurde auch alles Unpublizierte (Dramenfragmente wie Therese, Notizbücher, Studienbücher usw.). Das Ausgeschlossene ermöglicht einen schärferen Blick auf das, was gesammelt wurde. In die Gesammelten Werke wurden die vollständigen, endgültigen, fiktionalen, bereits publizierten und zu Zyklen zusammengefassten Texte aufgenommen. Ausnahmen hiervon sind nur die beiden Romane, die freilich nicht in Zyklen, sondern als selbstständige Werke veröffentlicht wurden. Alles Fragmentarische, alle Vorstufen und Erstfassungen, die einen Blick auf den Prozess-
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Vgl. Oellers 2000, Gottfried Keller. Sämtliche Werke, 246.
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charakter des Schreibens geben könnten, fehlen. Des Weiteren wurde alles verstreut Publizierte, alle kritischen und sonstigen nicht-fiktionalen Arbeiten weggelassen. Man kann vermuten, dass Kellers Selektionskriterien diejenigen eines hoch ausdifferenzierten und kommerzialisierten Literaturbetriebs sind. Zwei Beispiele weisen in diese Richtung: Erstens konzentrierte Keller seine Sammlung auf die fiktionalen Texte, das heißt, seine Aufsätze zur Kunst und die literaturkritischen Arbeiten schloss er aus, obwohl doch beispielsweise seine GotthelfRezensionen heute als wichtiges Dokument für eine eigene Poetologie gelten. Das ist wohl ein Ausdruck davon, dass inzwischen Bereiche wie die Ästhetik und die Literaturkritik fest institutionalisiert und von der eigentlichen Aufgabe eines Dichters abgesondert waren. Das Lesepublikum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erwartete von einem Autor die poetische Wiedergabe der Realität und entsprechend von seiner Werkausgabe fiktionale und autonome Texte. Die Aufsätze und literaturkritischen Arbeiten Kellers entsprachen diesen Kriterien nicht. Zweitens verlangte das große Lesepublikum, auf das sich ein kommerzialisierter Literaturbetrieb richtete, zu Ende geschriebene Texte und keine Fragmente. Anlässlich seiner Überarbeitung des Grünen Heinrich schrieb Keller verärgert am 13. Juni 1880 an Theodor Storm, dass „nichts Fragmentarisches mehr gelitten“22 werde, und verwies unter anderem auf Schiller, der seinen Geisterseher als Fragment veröffentlichen konnte. Dieser Anspruch des Lesepublikums und der Verleger zwang Keller dazu, seinen Grünen Heinrich so zu überarbeiten, dass ein geschlossenes Werk herauskam. Und es ist dasselbe Prinzip der Rundung, das dafür verantwortlich war, dass Keller nicht einmal daran denken konnte, ein Dramenfragment wie Therese zu publizieren. Dass etwas aus dem Nachlass veröffentlicht werden könnte, war Keller eine höchst unangenehme Vorstellung.23 Schon angesichts der bei Hoffmann und Campe erschienenen Heine-Ausgabe, die Briefe aus dem Nachlass brachte, rief Keller erbost aus: „[W]enn nur der Teufel alle Nachlaßherausgeber holte!“24 An Julius Petersen schrieb er am 1. Juli 1883, dass er an der Redaktion seiner Gedichte und der Publikation aus dem Grund weiterarbeite, um den „NachlaßTrüffelhunden“25 den Spaß zu verderben. In einem Brief an Conrad Ferdinand
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Keller an Theodor Storm am 13. Juni 1880, in: Keller 1950-1954, Gesammelte Briefe, Bd. 3/1, 449. Trotzdem wollte Keller Jakob Baechthold, der ihm nun einmal „herausgabelustig“ schien, zu seinem Nachlassverwalter bestellen, damit er „nach Herzenslust in einem paar tausend Briefen u Papierfetzen herumwühlen“ könne (Gottfried Keller an Jakob Baechtold am 28. Januar 1877, in: ebd., 283). Doch selbst diese „Testamentseitelkeiten puncto Nachlaß“ vergingen Keller und er begann selbst „mittels Ofen und Papierkorb“ die Aufräumarbeiten. (Gottfried Keller an Jakob Baechtold am 2. Februar 1885, in: ebd., 314). Obwohl das Testament Kellers dann gar keine Bestimmung über seinen Nachlass enthielt, wurde er von Baechtold bearbeitet. Gottfried Keller an Ludmilla Assing am 14. März 1865, in: ebd., Bd. 2, 104. Gottfried Keller an Julius Petersen am 1. Juli 1883, in: ebd., Bd. 3/1, 397.
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Meyer vom 22. November 1883 verschärfte er den Ton und sprach von „Nachlaßmarder[n]“26. Während Trüffelhunde immerhin Köstlichkeiten an den Tag befördern, sind Marder bekanntlich Raubtiere, die dem Menschen schaden. Keller ging es um die Kontrolle seines Nachlasses und damit seines Werks. Er selbst wollte entscheiden, was in welcher Form veröffentlicht werden konnte – und was nicht. Dieser Umgang mit dem eigenen Werk lässt Rückschlüsse auf die Konstruktion von Autorschaft zu, die damit verbunden ist. Trotz der moderaten entwicklungsgeschichtlichen Anordnung entsteht das Bild eines Autors, der sich folgerichtig und mit größter Gestaltungskraft einen statischen, monolithischen und fugenlosen ‚Werkkörper‘ geschaffen hat. Dieses Autorbild steht in Differenz zum relativ neuen, wissenschaftlichen Interesse an der Entwicklung des Autors (Verknüpfung von Biographie und Werk, Stilgeschichte), wie sie bei Bernays und vielen anderen akademischen Wissenschaftlern, sichtbar wird.
‚Verklärung‘ und eine Strategie der skeptisch-ironischen Stellungnahme Stellt man durch Selektion Abgeschlossenheit, Rundung, Notwendigkeit und damit letztlich ‚Schönheit‘ her, dann hat dieses Prinzip in der Poetik des Realismus einen Namen: ‚Verklärung‘. Das Konzept ist als Bestandteil des programmatischen Realismus gut beschrieben.27 Aber in der Forschung ist es umstritten, inwiefern die Programmatik auch im Sinne einer Produktionsästhetik die Entstehung literarischer Texte angeleitet hat.28 Im Folgenden soll dafür argumentiert werden, Verklärung nicht nur als Konstitutionsprinzip einzelner literarischer Texte, sondern als Prinzip der Zusammenstellung einzelner Texte zu Werkgruppen oder gar zu mehrbändigen Werksammlungen zu begreifen. So kann gezeigt werden, dass Verklärung auch auf der Ebene von Textsammlungen eine Differenzierung gegenüber früheren Typen von Werkausgaben zulässt. Gerhard Plumpe sei zusammenfassend zitiert, um die Poetik des literarischen Realismus in Erinnerung zu rufen: Die Spezifik der Kunst besteht nun darin, in einem Verfahren der ,Verklärung‘ oder ,Läuterung‘ diese schönen Seiten der realen Welt von allem Nichthinzugehörigen, Belanglosen, Störenden zu befreien und gleichsam – und in der Metaphorik zu bleiben – in ,schlackenlosem Glanze‘ zu präsentieren. Die Spezifik des literarischen Systems war eine Spezifik der ,Reinigung‘ oder Selektion und Verdichtung. Was in der Wirklichkeit nur zufällig und inkohärent vorkomme – das Schöne –, das zeige die Kunst als notwendig und zusammenhängend.29
26 27 28 29
Gottfried Keller an Conrad Ferdinand Meyer am 22. November 1883, in: ebd., 338. Vgl. zusammenfassend: Plumpe 1996, Einleitung, 50-57. Vgl. Begemann 2008, Roderers Bilder – Hadlaubs Abschriften, insbes. 28-30. Plumpe 1996, Einleitung, 52.
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Die Selektion der unerwünschten Elemente spielt eine große Rolle im Konzept der Verklärung. Die selegierten Elemente müssen in der Kunst anschließend in einen neuen, poetischen Zusammenhang gebracht werden. Als notwendig erscheint hier, was in der Wirklichkeit nur zufällig vorkommt. Da Selektion und (Re-)Komposition auch Merkmale von Sammlungspraktiken sind, liegt es nahe, auch das Sammeln von Literatur in der Epoche des Realismus als künstlerischen Vorgang zu beschreiben, der durch die Verklärungsvorstellung angeleitet wurde. Natürlich reflektieren die Autoren die Normen der Verklärung auch in ihren literarischen Texten, obwohl und vielleicht gerade weil sie sich ihr verpflichtet wissen. Es gibt verschiedene narrative Strategien, wie das Störende oder eigentlich Auszuschließende in einen erzählenden Text aufgenommen werden kann, ohne dass es als Bestandteil der erzählten Welt die gleiche Präsenz wie das Übrige gewinnt.30 Aber das soll hier nicht weiter thematisiert werden. Vielmehr soll nach Verfahren des Ein- und Ausschlusses auf der Ebene der Textsammlung gefragt werden. Gibt es Anzeichen, dass Keller Verfahren der Textsammlung in dieser Hinsicht reflektierte? Der Forderung nach Geschlossenheit, Rundung und Zusammenhang, die im poetischen Realismus erhoben wurde, kam Keller durch seine Novellenzyklen auf den ersten Blick vorbildlich entgegen. Immerhin galt die Novelle als strenge Form der Prosa, und ein Erzählrahmen verschafft einer Novellensammlung zusätzlich Kohärenz. Tatsächlich gab es aber auch gegenläufige Tendenzen bei Keller, die zeigen, dass er die Normen kannte und teilweise bewusst verletzte oder doch ironisierte. Beispiele hierfür finden sich schon in Die Leute von Seldwyla. Im Vorwort zum ersten Teil wird der Charakter der Seldwyler als flatterhafte und einfallsreiche Nichtstuer entworfen. Doch an der Stelle, an der man nun auf das wartet, was gemäß dieser Ankündigung folgen sollte, z. B. eine Sammlung von Geschichten dieser Menschen, heißt es31: Doch nicht solche Geschichten, wie sie in dem beschriebenen Charakter von Seldwyla liegen, will ich eigentlich in diesem Büchlein erzählen, sondern einige sonderbare Abfällsel, die so zwischen durch passierten, gewissermaßen ausnahmsweise, und doch auch gerade nur zu Seldwyla vor sich gehen konnten.32
Zunächst wird durch die Einleitung also eine Erwartung geweckt, nämlich dass die Einleitung den typischen Charakter der Seldwyler abstrakt vorstelle und sich 30
31
32
Wichtige Verfahren wären die ästhetische Vermittlung (‚Einbettung‘) durch eine Rahmenerzählung, die Vergegenwärtigung durch Bericht, das Andeuten durch Anspielung und Symbolik oder die ‚Überwindung‘ des fraglichen Sachverhaltes durch Humor. Einleitungen, Vor- und Nachworte von Werk- und Textsammlungen spielen als eine Art (mitunter subversive) „Gebrauchsanweisung“ oder Leseanleitung für die Choreographie und Anlage der Sammlung eine bedeutende Rolle. Vgl. dazu auch die Auseinandersetzung von Sarah Schmidt mit Foucault und Kempowski „Existenzen sammeln − Existenzen schreiben“ im zweiten Kapitel. Gottfried Keller, Die Leute von Seldwyla. Erster Teil, in: Keller 1996-2013, Sämtliche Werke, Bd. 4, 12.
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die folgenden Erzählungen dann als exemplarische Geschichten darin einfügten. Was dann aber angekündigt wird, ist genau das, was gemäß der Poetik des Realismus als Belangloses eigentlich ausgeschlossen werden müsste, nämlich „einige sonderbare Abfällsel“33. Nicht das Typische und (in Seldwyla) Allgemeingültige, sondern das nur „ausnahmsweise“ Geschehene wird zum Strukturprinzip der Erzählsammlung erklärt. Das aber widerspricht der Poetik des Realismus, die ja gerade das Zufällige ausschließen wollte, um zur typischen Wirklichkeit zu gelangen. Zwischen einer captatio benevolentiae und der Ironisierung dieses poetischen Prinzips des Realismus dürfte dann auch die Bemerkung Kellers einzuordnen sein. Das Vorwort zum zweiten Teil der Leute von Seldwyla enttäuscht die Lesererwartungen in einer ähnlichen Weise. Nachdem der Erzähler die Veränderungen beschrieben hat, die inzwischen mit den Seldwylern vorgegangen sind, führt er aus, dass nun keine Geschichten folgen, die sich unter den geschilderten modernen Verhältnissen zugetragen haben, sondern dass die folgenden fünf Geschichten „eine kleine Nachernte“34 aus der guten alten Zeit seien. Auch hier also passen die Einleitung (Beschreibung des modernen Seldwyla) und die folgenden Erzählungen (die „Nachernte“ aus der alten Zeit) nicht zusammen. Ein anderes Beispiel für Kellers Versuche, die Zyklenform zu reflektieren, ist im Novellenzyklus Züricher Novellen zu finden. Dieser Zyklus besteht aus einer Rahmenerzählung und fünf einzelnen Novellen. Aber seltsamerweise endet „der Rahmen […] in der Mitte“35. Denn der Erzählrahmen rund um die Figur Herrn Jacques umschließt nur die ersten drei Erzählungen, die anderen beiden, Das Fähnlein der sieben Aufrechten und Ursula, folgen ohne jegliche Rahmung. Das lässt sich vielleicht entstehungsgeschichtlich erklären, weil das Fähnlein schon viel früher, Ursula aber erst nach dem Abdruck der drei gerahmten Novellen in der Deutschen Rundschau fertiggestellt wurde. Während die ersten vier Auflagen (1878, 1879, 1883, 1886) der Züricher Novellen jeweils zweibändig erschienen, so dass der Makel gar nicht so auffiel (der erste Band umspannte die ersten drei Geschichten mit dem Rahmen, der zweite Band enthielt die beiden anderen Erzählungen), versammelte die Werkausgabe alle Züricher Novellen in einem Band, so dass die Tatsache, dass die letzten beiden Erzählungen einfach ohne Rahmen angehängt wurden, spürbar wurde. Dass es sich hier nicht nur um eine schlampige Buchbindersynthese handelt, hat Erika Swales dadurch nahegelegt, dass sie Form-Inhalt-Korrespondenzen aufgewiesen hat: Die mangelhafte, schiefe Rahmung des Zyklus entspricht der erfolglosen Erziehung des Herrn Jacques durch seinen Paten.36
33 34 35 36
Vgl. hierzu: Vedder 2008, einige sonderbare Abfällsel. Gottfried Keller, Die Leute von Seldwyla. Zweiter Teil, in: Keller 1996-2013, Sämtliche Werke, Bd. 5, 10. Swales 1990, Kellers (un)schlüssiges Erzählen, 93. Ebd.
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Diese gewollten ‚Webfehler‘ in den Erzählrahmen der Texte belegen, dass Keller die Praxis der Zusammenstellung von Einzelwerken zu notwendigen, gerundeten Zyklen kritisch reflektierte. Die Reflexion beinhaltet eine skeptischironische Stellungnahme oder doch zumindest ein Wissen um ihre Kontingenz. Natürlich übernahm Keller die soeben zitierten Passagen auch in die Werkausgabe. Davon unabhängig finden sich aber keine vergleichbaren Hinweise, dass er die Werksammlung als Ganzes auf eine ähnliche Weise reflektierte. Paratexte, die solches hätten leisten können, wurden für die Werksammlung nicht eigens geschrieben. Dokumente, die einlässlich belegen, wie Keller die Werksammlung zusammenstellte und an welchen Vorbildern er sich orientierte, sind nicht überliefert. Ein Brief Kellers an seinen Verleger Hertz zeigt allerdings, wie sorgfältig der Autor die Bandeinteilung berücksichtigte. Da die Gedichte aus Gründen der Buchbindung auf zwei Bände aufgeteilt werden mussten, bemerkte Keller kritisch, dass der zweite Band „nicht lieblich“37 mit den Rügeund Schimpfgedichten beginne. Das ist ein Hinweis darauf, dass Keller einen Band als geschlossenes Ganzes konzipieren wollte. Darin haben Schimpf- und Rügegedichte freilich ihren Platz, nur sollte ein solcher Missklang nicht den Auftakt zu einem Band bilden. Kellers Sorge vor Veröffentlichungen aus dem Nachlass, die Unterdrückung alles zerstreut Publizierten und Nicht-Fiktionalen, die strenge Zyklenförmigkeit der Erzählungen: Alles dies spricht dafür, dass Keller sein Werk als abgerundetes und ‚schlackenloses Ganzes‘ präsentieren wollte, das mit dem Begriff ‚Verklärung‘ als Formel der „Spezialkommunikation des literarischen Systems“38 erfasst werden kann. Es ist eine Werkausgabe für eine Leserschicht, die fiktionale Prosa und Gedichte verlangt und sich für Werke der Literaturkritik nicht im selben Maß interessiert. Es ist ebenso eine Werkausgabe, die sich als vom Autor verantwortete Ausgabe deutlich von den entstehenden wissenschaftlichen Ausgaben unterscheidet und damit die Grenze von Wissenschaft und Literatur bestätigt und festigt.
Goethes Ausgabe letzter Hand als Ausdruck der Einheit von Leben und Werk Dass die Art und Weise, wie Keller seine Werke zusammenstellte, nicht selbstverständlich ist, zeigt ein vergleichender Blick auf die Werkausgaben Goethes zu Lebzeiten.39 Goethe gab mehrfach seine ,Gesammelten Werke‘ heraus, und immer wieder verstand er sie als Ausdruck seines Lebens. Von der „Summa
37 38 39
Gottfried Keller an Wilhelm Hertz am 10. März 1889, in: Keller 1950-1954, Gesammelte Briefe, Bd. 3/2, 465. Plumpe 1996, Einleitung, 52. Vgl. als Überblick: Hagen 1996-1998, Werkausgaben.
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Summarum meines Lebens“40 schrieb Goethe schon im Zusammenhang mit seiner ersten Werksammlung.41 Das ist ernst zu nehmen und beinhaltet die zweite These: Für Goethe war die Werksammlung insofern Ausdruck seines Lebens, als sie dessen Einheit, in seiner ganzen Vielfalt und zeitlichen Entwicklung repräsentierte. In einer öffentlichen Anzeige schrieb Goethe über seine Ausgabe letzter Hand, die in 40 Bänden von 1827-1830 erschien, es sei „vorzüglich darauf gesehen worden, des Verfassers Naturell, Bildung, Fortschreiten und vielfaches Versuchen nach allen Seiten hin klar vor’s Auge zu bringen.“42 Wer seine Werkausgabe in dieser Weise als gültigen Ausdruck des eigenen Lebens, seiner schöpferischen Individualität, betrachten kann, sammelt und selektiert ganz anders als Keller. Goethe nahm Fragmente auf, z. B. das Faust-I-Fragment in die Ausgabe von 1787-1790.43 In Band 2 der Ausgabe letzter Hand findet sich dann nach den Gedichten ein Fragment von Faust II (3. Akt), in Band 12 folgt Faust I und der inzwischen nachgearbeitete Teil des Anfangs von Faust II. Goethes Werkausgabe ist work in progress, sie verändert sich während der Herausgabe, sie muss sich verändern, solange das Individuum noch lebt, das sie hervorbringt. Goethes Absicht war es deshalb, jeder Auslieferung zumindest ein neues Werk beizugeben.44 Zudem konnte er, wie Walter Morgenthaler schreibt, „Bruchstückhaftes, nur summarisch Abgeschlossenes oder längst Verworfenes“45 aufnehmen. Ebenso integrierte er seit seiner vierten Gesamtausgabe (1814-1819) weitere Textgattungen. In der Ausgabe letzter Hand finden sich neben den literarischen Werken Rezensionen, Übersetzungen, autobiographische Schriften und seine naturwissenschaftlichen Werke, wobei letztere seinem Wunsch gemäß in Supplementbänden erschienen, wozu es erst nach seinem Tod kam. Dies alles gelang ihm, weil er mit seiner Vorstellung von fortschreitender Bildung Leben und Werk als Einheit dachte, eine Einheit, die Versuche, ja sogar den Irrtum als irgendwie zum Bildungsprozess gehörig denken konnte.46 Allerdings zog sein Bildungsverständnis, für das doch der Faktor Zeit eine grundlegende Vorbedingung ist, keine chronologische Ordnung der Texte nach sich. Er entschied sich angesichts einer chronologischen Werkausgabe der Schriften 40 41 42 43 44 45 46
Johann Wolfgang Goethe an Herzog Karl August am 16. Februar 1788, in: ders. 2008 ff., Briefe, Bd. 7/I, 248 [Herv. i. O.]. Vgl. Goethe 1787-1790, Goethe’s Schriften. Goethe zitiert nach: Hagen 1985, Goethes Ausgabe letzter Hand, 3. Hagen 1996-1998, Werkausgaben, 1139. Vgl. Hagen 1985, Goethes Ausgabe letzter Hand, 14. Morgenthaler 2005, Die Gesammelten und die sämtlichen Werke, 19 f. Deshalb muss Goethe nichts in seinem Leben ganz abwerten, sondern „kann alles Erlebte dadurch integrieren, daß es notwendiges Element einer Entwicklung wird, die über den geschilderten Moment hinausführt zu einem überlegenen Standpunkt. ‚Steigerung‘ bedeutet hier nicht nur, daß Goethe sein Leben als eine stete Zunahme an Einsicht, Wissen, Kultur, eben an ‚Bildung‘ beschreibt, sondern daß zugleich die überwundenen Stufen, obwohl sie überwunden sind, doch ihre eigene Gesetzlichkeit und Berechtigung haben, also notwendig und damit ‚sinnvoll‘ sind.“ (Jannidis 1996, Das Individuum und sein Jahrhundert, 142 f.). Allerdings schloss auch Goethe in dem insgesamt neun Jahre dauernden Editionsprozess der 40 Bände seiner Ausgabe letzter Hand Vieles aus.
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Schillers durch Körner (Cotta, 1812-1815) schon für seine Werksammlung von 1815-1819 explizit gegen eine solche zeitliche Anordnung.47 Während also für Goethe eine Werkausgabe die eigene Individualität umfassend zu repräsentieren vermochte (wenn auch nicht in zeitlicher Folge), so stellte sich für Keller die Lage offenbar anders dar. Das hat sicher vielerlei und unterschiedliche Gründe, von denen ein besonders wichtiger herausgegriffen sei: Keller fasste Leben und Werk nicht mehr unter dem Begriff der Bildung zusammen. Als ein prospektiver Biograph sich mit der Bitte an ihn wandte, eine Biographie über ihn schreiben zu dürfen, lehnte Keller ab und begründete dies so: Die Sache ist die: Ich bin trotz meines Alters noch nicht fertig, sondern ein Bruchstück, das in den nächsten Jahren vielleicht ergänzt wird, aber jetzt zu keinem richtigen Bilde dienen könnte. Es kommt das von den 15 Jahren Amtsleben und von vorheriger, ungeschickter Zeitverschleuderung.48
Während Goethe sein Leben und seine Werkausgabe – gerade auch in ihrer Aufnahme von fragmentarischen und somit offenen Elementen – mit dem Begriff der Bildung fassen konnte, ist dies Keller nicht mehr möglich. Aber nicht nur das. Er findet keine Semantik mehr, die zugleich das eigene Leben und die Werke gültig beschreiben könnte. Denn das Fragment, als das er sich selbst fühlt – nichts anderes bedeutet ‚Bruchstück‘ ja – darf das Werk in der Epoche des Realismus keinesfalls sein. So treten Werkausgabe und eigenes Leben auseinander: Das eine wird durch das poetische Prinzip der Verklärung zum abgerundeten und notwendigen Ganzen geformt, das andere als problematisches Bruchstück beschrieben.49 Ein Interesse für die Individualität des Autors und für seinen Bildungsgang wird von Keller nicht mehr in der Weise vorausgesetzt wie von Goethe. Das schließt nicht aus, dass Keller in seinen fiktionalen Texten häufig sein eigenes Leben ‚verarbeitete‘, wie im Grünen Heinrich.50 Es ist vielmehr eine der Koordinaten, vor deren Hintergrund diese verdeckte Form der Selbstbiographie erst verständlich wird. Die unterschiedliche Konzeption der gesammelten Werke zweier Dichter ist natürlich noch kein Beweis für epochale Unterschiede; sie kann höchstens dazu verwendet werden, im Sinne einer Heuristik nach weiteren Werkausgaben zu suchen, die ähnliche Differenzen zeigen. Dennoch ist zu vermuten, dass es solche epochalen Differenzen zwischen Werkausgaben ebenso gibt wie zwischen
47 48 49
50
Johann Wolfgang Goethe, „Über die neue Ausgabe der Goethe’schen Schriften“, in: ders. 1985-2013, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 20, 596-598: 596. Gottfried Keller an Jacob Baechtold am 28. Januar 1877, in: Keller 1950-1954, Gesammelte Briefe, Bd. 3/1, 282. Man hat hier einen latenten Gegensatz von Kunst und Leben vor sich, wie ihn Gerhard Plumpe für die Literatur des Realismus generell als typisch ansah. Plumpe deutete dabei die verklärte Kunst als ‚Kompensation‘ eines Lebens, das als unzureichend, zufällig und vielfach bedingt erfahren wurde. Vgl. Plumpe 1996, Einleitung, 82. Exemplarisch aus psychoanalytischer Warte aufgearbeitet bei: Kaiser 1981, Keller.
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den literarischen Texten selbst. Autoren und ihre Verleger ordnen in den Werksammlungen ihre Texte anders an, sie wählen eine andere Fassung als Textgrundlage, sie statten die Ausgabe anders aus und sie schließen andere Texte ein bzw. aus. Erklären kann man Unterschiede wie die hier festgestellten durch epochenspezifische Konzepte wie ‚Bildung‘ oder ‚Verklärung‘, aber ebenso durch die Ausdifferenzierung eines Marktes für Belletristik, dem der fiktionale, erzählende Text zu Kellers Lebzeiten als eigentliche Leistung eines Dichters gilt. Das hängt bekanntlich mit den Zeitungen und Zeitschriften zusammen, die für Fortsetzungserzählungen zum Teil hohe Honorare zahlten.51 Für die Reisebeschreibung, die Literaturkritik oder die (Auto-)Biographie galt das nicht im gleichen Maße. Die Identität von Kellers Sammlungstätigkeit bestimmt sich also nicht nur dadurch, dass er Leben und Werk nicht mehr einheitlich unter dem Konzept der Bildung zusammenfassen kann. Sie steht auch im Gegensatz zu den Werksammlungen, wie sie die sich herausbildende akademische Disziplin der Germanistik veranstaltet. Keller setzt bei seinem Leser nicht die selektionslose Aufmerksamkeit des wissenschaftlichen Lesers voraus, so wie ihm Nachlassausgaben überhaupt sehr zweifelhafte Errungenschaften waren. Seine Werkausgabe wurde durch einen poetischen Gestaltungswillen geformt, der wenig mit der Lebenswirklichkeit des Dichters oder den Interessen der damaligen Germanistik zu tun hatte. Dass seiner Textsammlung durch wiederholte Ironisierungen von Sammlungsprinzipien wie Notwendigkeit und Abgeschlossenheit zugleich auch poetische Alterität zukommt, verdient dabei hervorgehoben zu werden. Durch solche internen Reflexionsmöglichkeiten unterscheidet sich Kellers Werksammlung von zahlreichen anderen Sammlungstypen, etwa einer wissenschaftlichen Sammlung. Die poetische Alterität kann zusätzlich darauf hinweisen, dass die hier dargelegten Sammlungsprinzipen Kellers und das daraus resultierende Autorbild keineswegs auch in dieser Weise in den literarischen Texten selbst auftauchen müssen. Vielmehr ist hier mit einer größeren Vielfalt, mit Brechungen, Ironisierungen und Kontrafakturen zu rechnen. Gesammelte Werke müssen also als Leistung von Autor und Verleger ernst genommen werden. So notwendig und verdienstvoll historisch-kritische Ausgaben oder umfangreiche Studienausgaben sind, so kann der Rekurs auf die von einem Autor veranstaltete Werkausgabe wichtige Informationen über sein Selbstverständnis, seine Stellung im Literaturbetrieb und über sein Werkverständnis liefern.
51
Vgl.: Becker 1996, Literaturverbreitung, 125-129.
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SCHRIFTBILDLICHKEIT ODER BILDSCHRIFTLICHKEIT – EINE SEITE PESSOA ZWISCHEN EINFALL UND ABFALL
In der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Portugals in Lissabon befindet sich ein sonderbares Dokument – Fernando Pessoas Aufzeichnungen auf der Innenseite des Deckels eines Hefts aus dem Jahr 1907, das unter der Signatur BNP Esp. E3/144T-1-61 aufbewahrt wird. Kaum sonderbar, folglich kaum der Rede wert, ist der Umstand, dass diese Aufzeichnungen als mehrsprachige Äußerungen erhalten sind – der Schriftsteller hat sich bekanntlich mehrerer Sprachen zu bedienen gewusst. Sonderbar, vielleicht auch rätselhaft, mag dagegen der Umstand sein, dass sich der Inhalt der Aufzeichnungen hartnäckig allen Deutungsgewohnheiten widersetzt. Was auf der 11,2 mal 17 cm messenden Fläche an versammelten Wörtern, mathematischen Symbolen und unkonventionellen Zeichen zu sehen ist, ließe sich rasch als Abfall schriftstellerischer oder, schlichter gesagt, schreibender Tätigkeit abtun (siehe Abb. 1).
1 − Manuskript Pessoas auf der Innenseite des Deckels eines Hefts aus dem Jahr 1907
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Man kann allerdings, statt der naheliegenden Praxis zu erliegen, das Schriftstück ad acta zu legen, innehalten und (da alles ziemlich gut leserlich ist) ein close reading veranstalten. Dann stellen sich Fragen wie: Sind das Spuren eines Einfalls, der, kaum eingefallen, ins Stocken geriet und sich als zögernder Anfang mehrfach wiederholte? Sind das Schriftproben, die ihr Urheber unter einem anderen als seinem bürgerlichen Namen ausgedacht und angefertigt hat? Sind das Überbleibsel von Gedankenabwesenheit oder von Langeweile1, die durch mechanisch anmutendes Hinschreiben von Wörtern erträglicher gemacht werden sollte? Oder ist das noch etwas anderes? Eine unbedenklich sichere Antwort lässt sich für keine dieser Fragen finden. Der Anreiz zur Beschäftigung mit dieser einen Deckelinnenseite könnte allerdings darin bestehen, weniger eine besänftigende Antwort auf diese oder jene Frage zu suchen als Annahmen abzuleiten, die sich der optischen Erfahrung eben dieser Schriftspuren Pessoas verdanken. So sei zunächst die Wortwiederholung als solche besichtigt. Mit dem Terminus technicus der Anapher wird in der Figurenlehre die Wiederholung eines Wortes oder einer Wortfolge in einer zusammenhängenden sprachlichen Äußerung bezeichnet. Als Beispiel für die Anapher sei auf eine Stelle in Joseph Roths Radetzkymarsch hingewiesen: „Er warf sich dem süßen Schmerz in die Arme und wiederholte sinnlos, unter fortwährendem Schluchzen, ein paarmal hintereinander: ‚Ich will nicht, dass du stirbst, ich will nicht, dass du stirbst, ich will nicht! Ich will nicht!‘“2 Was Pessoa auf der leeren Deckelseite aufgezeichnet hat, kann in erster Annäherung als Anapher gelesen werden als Reihe von Wortwegmarken eines noch unfertigen Texts, der das Wort „Geschichte“ an unbestimmt vielen Stellen wiederholt. Gegen diese Deutung spricht aber die Tatsache, dass es sich bei den Aufzeichnungen jener Deckelinnenseite vermutlich nicht um eine zusammenhängende Äußerung handelt, es sei denn, der flächige Zeichenträger werde als zusammenhangstiftend angesehen. Die klassische Figurenlehre scheint in einer Hinsicht mit der Naturgeschichte gleichzuziehen. Wie diese widersteht sie dem sanften Klassifikationstrieb kaum. Mit einem Generaltaxon will sie sich nicht abfinden. Wiederholung eines Wortes oder einer Wortfolge in einer zusammenhängenden Äußerung derart Umgreifendes liegt ihr nicht. Deshalb kennt man aus der Figurenlehre außer der Anapher:
1
2
Langeweile bestimmte Nietzsche als „‚Windstille‘ der Seele“, eine Metapher, die zur Hypothese der Wortwiederholung als Effekt besagten Zustands passt; vgl. Nietzsche 1999, Fröhliche Wissenschaft, 409: „Für den Denker und für alle erfindsamen Geister ist Langeweile jene unangenehme ‚Windstille‘der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht“. Roth 1975, Radetzkymarsch, 106.
SCHRIFTBILDLICHKEIT ODER BILDSCHRIFTLICHKEIT
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die Epipher, die Wiederholung eines Wortes oder einer Wortfolge am Ende eines Abschnitts einer sprachlichen Äußerung3, die Epanalepse, die Wiederaufnahme eines Wortes oder einer Wortgruppe unmittelbar am nächsten Satzanfang oder mit Abstand. Als Beispiel mag Federico Garcia Lorcas Gedicht Llanto por Ignacio Sanchez Mejias4 dienen, in dessen erstem Teil jeder geradzahlige Vers nach dem dritten Vers bis zur letzten Strophe die unverändert bleibende Zeit „A las cinco de la tarde“5 verkündet, während die ungeradzahligen Verse für die Narration zuständig sind. Und in der letzten Strophe wird die Wiederholung der Zeitangabe ihrerseits durch Einbeziehung und Wiederholung anderer Wörter variiert. Außerdem gibt es: die Anadiplose, die Wiederaufnahme eines Wortes oder einer Wortfolge am Ende eines Teils einer Äußerung am Anfang des nachfolgenden Teils der Äußerung. In den vier bisher genannten Figuren ist die Bedeutung der sich wiederholenden sprachlichen Einheiten stillgestellt. Wenn die Wiederholung mit einer merklichen Bedeutungsverschiebung einhergeht, wird die entsprechende Figur in der antiken Rhetorik als (Antanáklasis) bezeichnet.6 Ein berühmtes Beispiel dieser Figur ist Pascals Satz „Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît pas.“7 Da diese Figuren, wenn nicht explizit, so doch insgeheim auf Normalsprachlichkeit aufbauen, demnach Wortfolgen in erkennbar syntaktischem Zusammenhang als Kernstück ihrer Bestimmungen ansetzen, wie unüblich der semantische Gehalt und wie gewagt die metaphorische Einkleidung dieser Wortfolgen sonst auch sein mag, ist anzunehmen, dass die scheinbare Unordnung der Wörter, die Pessoa der Deckelinnenseite seines Hefts anvertraute, die klassische Figurenlehre überfordert. Oder anders: Vielleicht hat die klassische Figurenlehre im vorliegenden Fall einfach nichts zu suchen, obwohl das Wort „Geschichte“ unzweifelhaft mindestens 20-mal wiederholt wird. So ist das Aufgeschriebene entweder unterdeterminiert, weil nicht zu erkennen ist, ob es sich um Textfragmente potentiell größeren Umfangs handelt und wo vermutbare Abschnitte beginnen und wo sie enden; oder das Aufgeschriebene ist auf unsichtbare Weise überdeterminiert, so dass man nicht sogleich (oder überhaupt nicht) zu erkennen vermag, dass es sich um nichts anderes handelt als um das Wort „Geschichte“, das wieder und wieder zu Papier gebracht 3 4 5 6
7
Bei der zuvor zitierten Stelle aus Roths Roman Radetzkymarsch könnte es sich nach dieser Definition auch um eine Epipher handeln. Siehe Lorca 1981, Divan. Federico Garcia Lorca, Llanto por Ignacio Snchez Mejias [Klage um Ignacio Sanchez Mejias], Teil 1. Das französischsprachige Lehnwort heißt „antanaclase“. Zedlers Universallexikon (Band 2, Sp. 489) definiert den Term als „[r]hetorische Figur, nach welcher zwey Wörter gebraucht werden, die von einerley Klange sind, aber nicht von einerley Bedeutung“. Pascal 1998, Œuvres complètes, Band IV [Pensées], 277.
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wurde. In letzterer Hinsicht hätte man es dann gleichsam mit Kurven eines lebenden Apparats zu tun, dessen Muskeltätigkeit nicht von einem Myographen aufgezeichnet, sondern in ein alphabetisches Regime übertragen wurde und dort die Gestalt unterschiedlicher Schriftzüge annahm. Das würde bedeuten: Unter dem Blickwinkel der Figurenlehre sind diese Aufzeichnungen Plunder oder Abfall; unter dem Blickwinkel der Schreibphysiologie sind sie entgegen ihrer Informationsarmut vermutlich nicht ganz belanglos. Sie signalisieren wohl einen unbestimmten mentalen Zustand, in dem etwas entstand, das noch in der Schwebe, noch auf der Suche nach Form und Inhalt war. Bei Pessoa kann man allerdings nie wissen, was wirklich der Fall ist. Dies hängt mit einer Neigung zusammen, die ich mit dem Terminus ‚Bovarysmus‘ belege, in Anknüpfung an Jules de Gaultier, der mit dem Neologismus bovarysme die jedem menschlichen Leben innewohnende Tendenz zum Andersseinwollen bezeichnete. Emma Bovary wollte anders und eine Andere sein, es gelang ihr nicht. Deshalb verkörpert diese Romanfigur den kränkelnden Bovarysmus, glaubt man der 1892 erschienenen ersten Version von de Gaultiers Ansatz. In späteren Auflagen wurde der Einzelfall Emmas entpathologisiert und zum unverdrängbaren Andersseinwollen des Menschseins verallgemeinert.8 Fernando Pessoa hat den Bovarysmus exzessiv ausgelebt wenn nicht im Berufsalltag, so doch in seinen Schreibszenen, wo er mit mehreren Heteronymen und in den dazugehörigen, teils um biographische Details bereicherten Existenzweisen auftrat.9 Sieht man sich nun die beschriftete Deckelinnenseite und den äußersten rechten Rand der gegenüberliegenden, vorangehenden Seite10 mit Ruhe an, erblickt man: Wörter in französischer Sprache, das marginal querstehende Wort „Geschichte“ auf der vorangehenden Seite und das gleiche Wort in zweierlei Schreibweisen auf der Deckelinnenseite, Namen ( , ) und Wörter in griechischer Sprache, mathematische Zeichen oder Zeichen, die in der Mathematik üblich sind, eine auf dem Kopf stehende „2“ (oder ein Zeichen, das stark dem Zahlzeichen gleicht), den Namen „Jones“, schließlich mehrere Schnörkel.
8 9
10
Siehe de Gaultier 1902, Bovarysme, 13. Pessoas Doppelgänger unter dem Heteronym Álvaro de Campos sehnte sich seinerseits danach, ein Anderer (oder sogar mehrere Andere) zu sein (siehe Pessoa 2007, Álvaro de Campos, 638 bzw. 639): „Domingo irei para as hortas na pessoa des outros // Contente da minha anonimidade. // Domingo serei feliz – eles, eles ... [...]“. „Sonntag begebe ich mich, in Gestalt der anderen, hinaus in die Lauben auf dem Land // Froh über mein Inkognito. // Sonntag werde ich glücklich sein – sie sein, sie [...]“. BNP Esp. E3/144T-60v.
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Das Vorhandensein von „Geschichte“ am Rand der dem Deckel gegenüberliegenden Seite legt die Vermutung nahe, dass es dort im Zusammenhang einer Notiz, einer Bemerkung, eines Verses, eines Entwurfs oder einer anderen Textsorte auftrat. Diese Vermutung wird bestärkt durch die Tatsache, dass sich im selben Heft, auf Seite 59 r, „Geschichte“ zweimal in gotischer und dreimal in lateinischer Schreibweise wiederfindet, und zwar im Zusammenhang von Notizen, die offenbar zum Projekt Degeneracy as Expressed by Algebra gehören (oder aus einem anderen Zusammenhang dorthin verlegt wurden) (siehe Abb. 2).
2 − Manuskriptseite Pessoas aus einem Heft aus dem Jahr 1907
Man findet auf derselben Seite Einträge wie11: a2b2 c3+d3=Horas=Beja Degeneracy by Algebra (a2-b2) original author Zudem ist hervorzuheben, dass der Ausdruck „Pourriture psychique“, wiederum auf der dem Deckel gegenüberliegenden Seite, vermutlich anknüpft an 11
BNP Esp. E3/144T-59 r.
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Überlegungen vom 3. September 1907.12 Dort ist unter dem Stichwort „Pourriture psychique“ die Rede von Materie, Zeitlichkeit, Vergänglichkeit, Schönheit, Geist und anderen Dingen menschlichen Lebens (siehe Abb. 3). Und dies ferner in einer Weise, die an Formen der Lyrik erinnert. Der Anfangsbuchstabe jeder Zeile bzw. jeden Verses erscheint in Großschreibung, auch wenn die Grammatik der französischen Sprache in fortlaufender Prosa die Kleinschreibung erfordern würde. Die Aufzeichnung endet mit diesen zwei Zeilen:13 Et cette pourriture de l’âme Est aussi laide que la Beauté
3 − Manuskriptseite Pessoas aus einem Heft aus dem Jahr 1907
Daraus folgt, dass die 20-fache Niederschrift von „Geschichte“ nicht unmöglicherweise im Kontext eines lyrischen (?) Projekts gestanden haben oder als Nebenprodukt eines derartigen Kontexts entstanden sein mag. Doch wer würde unter solchen Vorgaben sich anheischig machen wollen, die vielfache Verwendung von „Geschichte“ auf der Deckelinnenseite unwiderruflich diesem oder jenem Entwurf, Vorentwurf, Einfall, Nebeneinfall, Gedanken, Wortspiel und so weiter zuzuordnen?
12 13
BNP Esp. E3/144T-40 v-41r. BNP Esp. E3/144T-41 r.
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Das beobachtende Hinsehen auf das Untersuchungsobjekt soll an dieser Stelle abgebrochen werden. Die Exploration hat zur Genüge gezeigt, dass die Aufzeichnungen der Deckelinnenseite taxonomisch nicht (mehr) festlegbar sind.14 Der Versuch zur semantischen und syntaktischen Festlegung der Aufzeichnungen entpuppt sich nun seinerseits als unabschließbar. Das zu belegen, ist Zweck der abschließenden Bemerkung. Vergleichen wir kurz Marcel Proust und Fernando Pessoa. Wo ersterer mit den Mitteln des pastiche sich schriftstellerisch als Alleinautor auch fremder Stimmen vergewisserte, indem er Balzacs oder Maeterlincks Machart bis zur Unverwechselbarkeit fortführte, konstruierte Pessoa mit seinen Heteronymen ein System von Andersheiten, die teils verschiedene Genres, teils verschiedene Sprachen und teils verschiedene dichterische Programme und literarische Projekte verkörperten. Von Doppelgängern zu sprechen, wäre verfehlt. Es ging Pessoa nicht darum, sei es in dieser, sei es in einer anderen Metamorphose, zu reproduzieren. Vielmehr bestand der Zweck der teilweise systematisch betriebenen Heteronymie darin, gleichsam in namentlicher Ablage etwas zu schaffen, was in Unkenntnis der Entstehungsbedingungen als Vielheit von Autorschaft rezipierbar würde. Man hätte also (noch einmal: in Unkenntnis der Entstehungsbedingungen) beim Lesen der heteronym verteilten Texte nicht ahnen oder bestenfalls nur auf wagemutige Weise vermuten können, dass nur ein Autor am Werk war. Man hätte somit nicht auf den Gedanken verfallen können, dass Alvaro de Campos’ Lyrik in Wirklichkeit von Fernando Pessoa stammte, während umgekehrt Proust darauf erpicht war, dass man seine Balzac-Pastiches nicht Honoré de Balzac, sondern Marcel Proust zuschreibt. Teresa Rita Lopes hat bei Pessoa 72 Heteronyme gezählt. Autonymie und Heteronymie ergeben somit (nach dieser Zählung15) einen Verband von 73 schriftstellernden Figuren. Unter diesen wurde die eine oder die andere bereits zu Lebzeiten Pessoas zu Grabe getragen. So ist der 1889 in Lissabon geborene Alberto Caeiro 1915 an Tuberkulose gestorben. Ihm sind drei Gedichtsammlungen zugeschrieben.16 Das Leben des am 13. Juni 1888 auch in Lissabon geborenen Alexander Search muss dagegen im Ungewissen geendet haben. Von ihm ist schriftlich viel in englischer Sprache überliefert, sein Leben hat dagegen zunehmend weniger Spuren hinterlassen, bis diese sich vor dem Tod Pessoas vollständig verlieren. Der etwas ältere, am 18. April 1886 geborene Charles James Search hatte übrigens eine literarisch beengte Existenz: Er war lediglich 14
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Hinsichtlich der Aufgabe, verdeckte Bezüge herzustellen und Bedeutungsspuren aufzunehmen, ist die Lektüre eines Entwurfs der eines verdrängten Sprechens nicht unähnlich. Zur nicht mehr festlegbaren Lektüre in der psychoanalytischen Rekonstruktion eines verdrängten Sprechens vgl. Judith Kaspers Beitrag im ersten Kapitel „Vom Ausscheren und Einsammeln der Buchstaben“. Die Zählung muss als vorläufig aufgefasst werden, denn der gesamte handschriftliche Nachlass Pessoas ist noch nicht vollständig durchgearbeitet. Kann sein, dass irgendwo eine 73. heteronyme Figur, und dann eine 74. derartige Figur in Erscheinung treten wird. Vgl. den Artikel „Alberto Caeiro“ in: Martins 2008, Dicionário.
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ALEXANDRE MÉTRAUX
dazu vorausbestimmt, die englischsprachigen Schriften Alexander Searchs einzuleiten. Ergänzt sei, dass besagter Alexander Search als echter Doppelgänger von Charles Robert Anon auftritt, und dieser Anon stammt aus Pessoas südafrikanischer Jugendzeit. Die heteronyme und heterogene Verwaltung der Figuren durch Pessoa beruhte also es wurde in der Literaturwissenschaft bisher noch nicht hervorgehoben sowohl auf dem Prinzip der Heteronymie wie auch auf dem Grundsatz der Metaheteronymie.17 Man könnte nun die Schriftspuren auf der Deckelinnenseite und am Rand auf der gegenüberliegenden Seite entweder Pessoa oder einem Jones, womöglich noch einer anderen Figur aus dem System der Heteronymie zuschreiben. Da diese Zuschreibungen indes höchst unsicher sind, ist es wohl angebracht, Sprachspuren des besagten Dokuments ohne Namensangabe zu zitieren. Wie aber lassen sich solche Sprachspuren lege artis zitieren? Zitiere ich das Wort „Geschichte“, zitiere ich eins der mehrfach vorhandenen tokens. Den type „Geschichte“ kann ich nicht zitieren, denn ich meine nicht die Klasse, das Taxon, den Namen der tokens. Dagegen kann ich den type „Geschichte“ beschreiben, wie dies weiter oben geschah. Aber ich will nicht mehr beschreiben, sondern zitieren (aus welchen Gründen auch immer). Selbst eins der tokens mit Durchstreichung lässt sich nicht eindeutig zitieren, denn welches derselben meine ich, wenn ich „Geschichte“ als Zitat verstanden wissen möchte. Den durch die Deckelinnenseite geleisteten Widerstand könnte ich brechen, indem ich zuvor alle tokens markiere und dann angebe, welches derselben ich zitiere. Oder ich lege ein Koordinatennetz über die Deckelinnenseite und gebe den genauen token-Ort an, wie wenn ich auf einer Landkarte einen bestimmten Ort durch Längen- und Breitengrade identifiziere. Doch dann ist aus der Deckelinnenseite etwas geworden, das den reinen Textcharakter nicht mehr besitzt. Ein Text bestimmt sich nämlich unter anderem durch Gerichtetheit, durch eine unumkehrbare syntaktische Ordnung, die man lege artis rezipiert und aus der man lege artis Teilstücke übernimmt, wenn man sie in einem anderen Text (wie dem vorliegenden) wiederverwendet. Will man dagegen, eingedenk der Schriftlichkeit, in welcher die Aufzeichnungen der Deckelinnenseite überliefert sind, den Textcharakter affirmativ beibehalten, dann sind auf diesem Zeichenträger unbestimmt viele Minitexte (oder verschriftete Minifragmente von Texten) versammelt. Für welche Auslegung ich mich auch entscheide, die Problematik des Zitierens bleibt unaufgelöst. Oder anders: Das bloße Aussehen der Deckelinnenseite ist sowohl der Schriftlichkeit wie auch der schriftgebundenen Bildlichkeit geschuldet. Eine ars legendi und eine ars citandi sind für ein Dokument wie das vorliegende, auf dem Anteile der Bildlichkeit nicht mehr von Anteilen der Schriftlichkeit auseinanderzuhalten sind, nicht vorhanden.18 Das macht den Umgang mit einem 17 18
Siehe die Artikel „Alexander Search“ und „Charles James Search“ in: Martins 2008, Dicionário. Der Künstler George Steinmann untersucht in seinen mindmaps (siehe Tafelteil) jene Grenze zwischen bildhafter und schriftlicher Lesbarkeit von Notizen, vgl. dazu auch das Essay von Sarah Schmidt zu Steinmanns Arbeiten im vierten Kapitel
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solchen Dokument als Teil einer nachgelassenen Quellensammlung sowie als potentiellem Teil einer Edition (als Sammlung bereinigter Texte) zu einem Prozess mit unabsehbarem Ende.19 In einem Wort: Diese eine Deckelinnenseite ist also Abfall. Oder sie ist ein Schriftvorfall im Zustand beginnenden Einfalls. Oder sie ist Zeugnis für die schreibphysiologisch sichtbar gewordene Anwesenheit Pessoas oder eines heteronymen Stellvertreters desselben. Oder sie ist Spur eines bild-schriftlichen oder schrift-bildlichen Verfahrens im Zustand ungewisser Zuständigkeit.
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Vgl. zur Frage von Werk und Aussch(l)uss den Beitrag von Philip Ajouri „Zu einigen Sammlungs- und Ausschlussprinzipien“ im vierten Kapitel.
SARAH SCHMIDT
KARTOGRAPHIEN DES DENKENS – LESARTEN DES NOTIERTEN: GEORGE STEINMANNS MINDMAPS (1995-)1
Der Schweizer Künstler George Steinmann versteht seine Arbeiten als „wachsende Skulpturen“ – sie interagieren im sozialen Raum, schaffen Netzwerke, sind Orte der Begegnung, des Innehaltens, des gemeinsamen Denkens und Diskutierens, sind als Prozess angelegt und werden nach einiger Zeit in ihr Eigenleben entlassen: Wachsende Skulpturen sind stets im Fluss. Etwas wächst, transformiert sich, stirbt gleichzeitig auch ab. ... Ein Schlüsselbestandteil wachsender Skulpturen ist der Dialog. Wachsende Skulpturen sind eine Art Kommunikationslabor. Dass heisst, der Künstler ist Autor und Initiator, stellt aber die Vernetzung kommunikativer Beziehungen ins Zentrum.2
Auf die Einladung der Kunsthalle Tallinn, in dem heruntergekommenen Gebäude eine Ausstellung zu realisieren, antwortete George Steinmann z. B. mit einer über drei Jahre andauernden Komplettsanierung. In vielen Gesprächen mit potentiellen Geldgebern, Akteuren der Kunstszene, mit Handwerkern und Architekten, erwirkte Steinmann in beständiger Überzeugungsarbeit einen Finanzierungsplan, ein Restaurationskonzept und ein Fördernetzwerk, das den Fortbestand des Gebäudes als Haus der Kunst – es war Anfang der 1930er Jahre auf Initiative der estnischen Kunstförderung gebaut und somit auch ein Symbol der kurz andauernden unabhängigen Republik Estland – auch in Zukunft sicherte. Bei der Vernissage war ein in seiner alten Schönheit wiederhergestelltes leeres Gebäude zu besichtigen, das nach einem Monat seinen Kunstbetrieb wieder aufnahm: „Ruumi naasmine“ „Die Rückkehr des Raumes“ (1992-1995). Das langjährige Projekt „Komi. A growing Sculpture“ (1997-2007) reflektiert wie viele andere wachsende Skulpturen Steinmanns, die Möglichkeiten eines Miteinanders von Mensch und Natur und versteht sich als Beitrag zu einer „Ästhetik der Nachhaltigkeit“3. Als größtes zusammenhängendes Urwaldgebiet Europas, ist die Taiga der Teilrepublik Komi nicht nur ein Ort, an dem sich eine naturnahe Lebensform der Urbevölkerung der Komi noch erhalten hat, sondern
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Im Tafelteil dieses Bandes finden sich die Abbildungen 2 bis 4 im Vierfarbdruck. George Steinmann in Hirsch (Hg.) 2014, Call and Response, 15. Zur Ästhetik der Nachhaltigkeit in George Steinmanns Werk vgl. Schmidt 2013, Ästhetik der Verantwortung.
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auch spekulatives Objekt der Holzindustrie. Zugleich hat die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts hier ihre Spuren hinterlassen, Vertreibung und Verbannung in die dort angesiedelten Gulags haben die Bevölkerung in Zwangsgemeinschaften neu zusammengetrieben. Es ist ein Ort mit wenig Zukunftsperspektiven, die junge Bevölkerung flieht, wenn sie kann. Das Zentrum für nachhaltige Forstwirtschaft, das Steinmann hier ins Leben gerufen hat, ist daher nicht nur von ökologischer, sondern in vielerlei Hinsicht auch von hoher politischer Brisanz. Die Orte, die Steinmann für seine Intervention auswählt, tragen oft den Charakter des Peripheren, der Marginalität: Sie liegen wie die Republik Komi am politischen und geographischen Rande Russlands, jenseits der medialen Aufmerksamkeit; sie befinden sich wie die kleine Naturschutzinsel Vilm bei Rügen („Mittendrin am Rande“ seit 2014) jenseits und doch so nah des touristischen Mainstreams, sie gehören wie das Dorf Saxeten als steuerschwächste Gemeinde des Kantons Bern zu einer strukturschwachen Gegend mitten in der reichen Schweiz („Werk Saxeten“, 2002-2006) oder durchlaufen wie die Orte Schwarzwald, Itramenwald und Trogenmoos im Berner Oberland als Folgen aussterbender Alpenwirtschaften einen Prozess schleichender Vergandung („Suchraum Wildnis“ 2013). Die „wachsende Skulptur“ ist jedoch nicht allein die jeweilige architektonische Skulptur und das sie bespielende Netzwerk – sie umfasst den gesamten Prozess der Entstehung und des Wachsens, in den die Gespräche, Begegnungen und Umwege, das unermüdliche Sammeln von mündlichem und schriftlichem Wissen unterschiedlichster Herkunft mit eingeht. Eine Ausstellung im White Cube, der die Prozesshaftigkeit der Skulptur in eine Installation transformiert und präsentiert, steht der Intervention stets gegenüber. Die Dualität von Ausstellungsraum und Intervention vor Ort, durch den die marginalisierten Stimmen im White Cube eine Plattform erhalten, kann zum einen als Statement über und Eingriff in Machtverhältnisse verstanden werden, die dem Verhältnis von Zentrum und Peripherie immer eingeschrieben sind. Zum anderen wird mit der Installation im White Cube die Genese und Vermittlung des im „Kommunikationslabor“ verhandelten transdisziplinären Wissens künstlerisch reflektiert. Die mindmaps des Künstlers George Steinmann, die seine künstlerische Arbeit seit Jahren begleiten, veranschaulichen auf eine besonders eindringliche Weise die Prozesshaftigkeit des Denkens. Basis der mindmaps sind schriftliche Notizen und Gedankenskizzen, die der Künstler während der umfangreichen Recherchen und Gespräche zu seinen Kunstprojekten angefertigt und gesammelt hat. Auch in der Wissenschaft und in der Literatur gehören solche schriftlichen Dokumente des Exzerpierens und des freien und flanierenden Denkens und Wahrnehmens, die allenfalls durch die Computer in ihrer materialen Präsenz zurückgedrängt werden, zu einem wesentlichen Arbeitsschritt auf dem Weg zur schriftlichen Abhandlung. Im Gegensatz zu den elektronischen Formen des Gedankensammelns lässt sich die
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materiale Präsenz des einmal Geschriebenen nicht einfach löschen, Gestrichenes bleibt anwesend und die Schrift hat eine graphische Qualität, in die die physische und psychische Verfassung des Schreibers Eingang finden, selbst Teil des Sinnhaften werden. Derartige Schriftstücke, obgleich Dokumentationen des Gedankenangelns und entscheidende Wegmarke im Denkprozess, sind in ihrer Lesbarkeit eingeschränkt, tragen mitunter privatsprachlichen Charakter und landen im wissenschaftlichen Prozess, wenn sie ihren ,Dienst‘ erfüllt haben, in der Regel im Mülleimer, denn was zählt ist das ,Ergebnis‘.4
1 – „Die Polarität der Wirklichkeit“ 2013, Heidelbeersaft, Antiseptikum, Kugelschreiber auf Papier, Format A4 4
Für den wissenschaftlichen Leser sind solche graphisch aufgeladenen Schriftstücke dementsprechend selten zu sehen, allenfalls werden sie im Gestus eines umfassenden Bewahrens in einer historisch kritischen Editionen dem Leser zugänglich gemacht. Wie hermetisch die Lektüre eines solchen Textes sein kann, verfolgt Alexandre Metraux „Schriftbildlichkeit oder Bildschriftlichkeit“ im vierten Kapitelin einem Close-reading-Experiment einer Notizschrift von Pessoa.
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SARAH SCHMIDT
2 – „Nachweispapier“ 2000/2001, Heidelbeersaft, Kugelschreiber auf Papier, Format A4
Was in einem wissenschaftlichen Prozess in einen finalen Text mündet, erfährt in Steinmanns mindmaps eine künstlerische Transformation. Auch hier wird das Material einer Verdichtung und Klärung unterzogen, jedoch mit künstlerischen Mitteln. Steinmann, der des Finnischen mächtig ist und lange in Finnland und in den Urwäldern Komis sammelnd unterwegs war, extrahiert aus Flechten und Heidelbeeren Tinkturen, die neben ihrer starken Farbgebung – die Heidelbeere geht bis ins violette Schwarz hinein – für ihn eine starke symbolische Bedeutung haben. Denn Flechten gehören aufgrund ihres extrem langsamen Wachstums (die Flechte Rhizocarpon geographicum wächst vier Millimeter pro Jahrhundert) mit zu den ältesten Pflanzen dieser Welt und sind eine Art Zeitspeicher. Sie reagieren extrem empfindlich auf Umweltveränderungen und -verschmut-
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zungen und sind als biologische Symbiose auch eine Metapher für soziale Vernetzung.5 Die Heidelbeere hingegen enthält den Wirkstoff Myrtillin, der als Augentherapeutikum eingesetzt wird und nachweislich die Sehkraft verbessert, insbesondere die Nachtsicht. Indem er die extrahierten Tinkturen mit Spritzen in das Papier injiziert, die mindmap in punktförmigen Frottagen mit ihr abtupft und während dieser ,Behandlung‘ auch ein Antiseptikum verwendet, unterzieht George Steinmann seine mindmaps einer symbolisch aufgeladenen ,Kur‘6 oder Impfung. Die Farbe zieht entlang der Papierfasern in das Blatt wie eine Schrift der Natur ein, ,informiert‘ es mit der symbolischen Kraft der Flechte und Heidelbeere und verdichtet sich an den Einspritzstellen zu dunklen Knotenpunkten, die ein feines Gitternetzwerk verbindet.
3 – „The Knowledge of Art“ 2013, Heidelbeeersaft, Antiseptikum, Zitronensaft, Tempera mit Heidelbeersaft, Kugelschreiber auf Papier, Format A4 5
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„Flechten sind ein perfekter sozialer Verbund. Und dadurch für mich quasi eine Metapher für ein Paradigma der Vernetzungskultur, der wechselseitigen Abhängigkeit und des Dialoges“ (Steinmann 2007, Blue Notes, 145). „Bis heute ist die Verwendung dieser Tinktur, die ich natürlich stets selber herstelle, sowohl bei den Fotografien wie auch bei den anderen Papierarbeiten ein symbolischer Akt der Therapie geblieben“ (ebd.).
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Frottagen wie in der mindmap „Assuming Risk in Hope of Gain“ (2010) erwecken den Eindruck als entwickele sich auf dem Papier eine wachsende Zellkultur – die kreisrunden Zirkel in „Knowledge of Art“ (2013) wirken wie die Abdrücke einer Schröpfkur. Wortlisten und Strukturbäume und ihre nur noch bruchstückhaft entzifferbaren Schriftzüge werden in dieser Kur zu Straßen, Wegen und Orten, Bergen und Seen auf einer rätselhaften Landkarte, die mit zunehmend eingetränkter Dunkelheit auch an Sternenkarten erinnert. Sie tragen noch den Gestus der Orientierung, des Sinnhaften an sich, ohne im diskursiven Sinne aufzugehen, gleichwohl ist die Schrift im Sinne einer auf Papier aufgetragenen Tinte immer noch materiell anwesend.
4 − mindmaps 1999-2002, Installationsansicht im Helmhaus Zürich 2007, 189 Blätter, Format je A4; Heildelbeersaft, Brombeersaft, Himbeersaft, Zitronensaft, Antiseptikum, Leinöl, Wilde Rebe
Gesammelte mindmaps, wie sie Steinmann im Helmhaus Zürich 2007 als Ensemble ausstellte, haben den Charakter einer Kartensammlung des Denkens, die als Kartensammlung seine einzelnen Werke zu einem Werk verbindet.7 Der betrachtende Wissenschaftler steht vor dieser Sammlung mitunter wie im Traum: Ein Traum, in dem einem die abgeworfenen und entsorgten eigenen Notizen wie Widergänger in einer höheren, noch nicht zu entschlüsselnden Ordnung entgegenkommen und den Status der Abgeschlossenheit des fertigen wissenschaftlichen Produktes auf eine sehr beunruhigende Weise hinterfragen. 7
Zur Kartographie als Sammlung vgl. den Beitrag von Marion Picker im zweiten Kapitel.
BARBARA THUMS
IM ZWEIFEL FÜR DIE RESTE: LUMPENSAMMLER UND ANDERE ARCHIVISTEN DER MODERNE
1. Von der Papiermühle aufs Papier: Wege des Lumpensammlers in der Moderne Prozesse der Moderne und Prozesse der Archivierung von Modernen stehen in einer engen Wechselbeziehung. Mit der Hinwendung des 19. Jahrhunderts zur Geschichte, verbunden mit der Leidenschaft für das Sammeln und dem bürgerlichen Museumsboom, bekommt dieses selbstreflexive Moment von Modernisierungsprozessen eine besondere Sichtbarkeit. Davon zeugt bereits die Literatur des Realismus, die eine intensive Auseinandersetzung mit Diskursen der Moderne, mit Prozessen der Modernisierung und mit Praktiken des Sammelns, Erinnerns und Speicherns von Vergangenem sowie mit Möglichkeiten des Bewahrens von Vergessenem und Verdrängtem führt und mit Schreibweisen der Archivierung experimentiert. Durch Charles Baudelaires Bestimmung des Flüchtigen und Vergänglichen als primäres Kennzeichen von Modernität erhält diese genuin moderne Wechselbeziehung von Altem und Neuem schließlich auch für die Ästhetik der Moderne einen systematisch relevanten Stellenwert. Im Horizont solcher Reflexionen von Modernisierungsprozessen kommt den Lumpensammlern eine ausgezeichnete Funktion zu, und zwar sowohl als historische Gestalt wie als ästhetisch-geschichtsphilosophische Denkfigur.1 Im Zweifel für die Reste, damit ist gleichsam das Ethos benannt, dem sich so berühmte Lumpensammler der Moderne wie Charles Baudelaire, Walter Benjamin oder auch Siegfried Kracauer verpflichtet haben. Ersterer hat bekanntlich den Lumpensammler mit dem Dichter verglichen.2 Walter Benjamin hat dies u. a. in seinen Studien zu Baudelaire im Passagen-Werk aufgegriffen und hat die Figur des Lumpensammlers fortentwickelt zu seiner Theorie des Sammelns: Es ist dies zugleich eine Theorie des Abfalls, die für ihre geschichtsphilosophische Perspektive in Siegfried Kracauer deshalb einen ausgezeichneten Lumpensammler entdeckt hat, weil er sich im Zweifel immer zum Anwalt der Reste macht. In seiner Besprechung von Kracauers Angestellten-Roman schreibt Benjamin 1930: 1 2
Zum Chiffonnier und Lumpensammler als Denkfigur vgl. auch den Beitrag von Gianluca Solla „Nach der Sammlung“ im vierten Kapitel. Baudelaire 1975, Le Vin des chiffonniers, 106.
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So steht von Rechts wegen dieser Autor am Schluß da: als ein Einzelner. Ein Mißvergnügter, kein Führer. Kein Gründer, ein Spielverderber. Und wollen wir ganz für sich uns in der Einsamkeit seines Gewerbes und Trachtens ihn vorstellen, so sehen wir: Einen Lumpensammler frühe im Morgengrauen, der mit seinem Stock die Redelumpen und Sprachfetzen aufsticht, um sie murrend und störrisch, ein wenig versoffen, in seinen Karren zu werfen, nicht ohne ab und zu einen oder den anderen dieser ausgeblichenen Kattune „Menschentum“, „Innerlichkeit“, „Vertiefung“ spöttisch im Morgenwinde flattern zu lassen. Ein Lumpensammler, frühe – im Morgengrauen des Revolutionstages.3
Der Lumpensammler, der hier beschrieben wird, ist einer, der sich insbesondere um die Sprache und um das Subjekt kümmert. Er ist mürrisch, weil er mit dem, was er findet, unzufrieden ist: Diese Unzufriedenheit bezieht sich gleichermaßen auf den sprachlichen Müll und die stofflichen Reste einer am Ideal des Humanismus orientierten Subjektvorstellung. Auch wenn sie ihm im Moment wertlos erscheinen, sammelt er all diese Reste, um sie für eine mögliche Wiederverwertung bereitzuhalten: Diese wäre im Rahmen eines anderen Umgangs mit Sprache ebenso denkbar wie im Rahmen einer anderen Konzeption von Subjektivität. Ob der Revolutionstag tatsächlich anbrechen wird, ist ungewiss, gewiss ist aber, dass der Lumpensammler mit dem Aufsammeln der zerstreuten Reste die notwendigen Vorkehrungen getroffen hat.4 Kracauer kommt hier als geschichtsphilosophischer Denker in den Blick, aber auch die Nähe zum Lumpensammler als Dichter ist unverkennbar. „Lumpensammler oder Poet – der Abhub geht beide an“5, dies schreibt Benjamin in seinen Anmerkungen zu Baudelaires Analogisierung von Lumpensammler und Dichter.6 Dabei zitiert er auch Baudelaire selbst: Hier haben wir einen Mann – er hat die Abfälle des vergangenen Tages in der Hauptstadt aufzusammeln. Alles, was die große Stadt fortwarf, alles, was sie verlor, alles, was sie verachtete, alles, was sie zertrat – er legt davon das Register an und er sammelt es. Er kollationiert die Annalen der Ausschweifung, das Capharnaum des Abhubs; er sondert die Dinge, er trifft eine kluge Wahl; er verfährt wie ein Geizhals mit einem Schatz und hält sich an den Schutt, der zwischen den Kinnladen der Göttin der Industrie die Form nützlicher und erfreulicher Sachen annehmen wird.7 3 4 5 6 7
Benjamin 1972, Ein Außenseiter macht sich bemerkbar, 225. Vgl. ausführlicher zum geschichtsphilosophischen Kontext Thums 2010, Kracauer und die Detektive. Benjamin 1974, Charles Baudelaire, 583. Vgl. dazu auch Stenzel 2009, Dekonstruktion der Sinnstiftung. Benjamin 1974, Charles Baudelaire, 582 f.; vgl. auch Baudelaire 1993, Wein und Haschisch, 123 f.: „Betrachten wir eines jener geheimnisvollen Wesen, die sozusagen von den Abfällen der großen Städte leben. Denn es gibt sonderbare Berufe. Ihre Zahl ist unendlich. Manchmal habe ich mit Schrecken gedacht, es könnte Berufe geben, die ohne jede Freude wären. Handwerke ohne Vergnügen, Mühen ohne Erleichterung, Schmerzen ohne Entschädigung. Ich täuschte mich. Da ist ein Mann, dessen Aufgabe es ist, die Großstadtabfälle eines Tages aufzusammeln. Alles, was die Hauptstadt weggeworfen, alles, was sie verloren, alles, was sie verschmäht, alles, was sie zerbrochen hat, er katalogisiert es, er sammelt es. Er durchstöbert die
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Erkennbar ist hier erneut die Vorstellung, dass das Sammeln des vermeintlich Nutzlosen, des im Prozess der Moderne Verworfenen, Ausgeschiedenen und Ausgegrenzten selbst nicht nutzlos ist, weil in der Perspektive der Apokatastasis die Möglichkeit einer neuen ‚Verwendung‘ des Gesammelten aufscheint und deshalb diesen vermeintlichen Resten doch noch eine Bedeutung zugemessen werden könnte.8 Im Zweifel für die Reste, die Reste durch die Verwendung zu ihrem Recht kommen zu lassen, mit diesem Plädoyer für den Rechtsanspruch der Reste auf Wiedereingliederung in eine neue Ordnung lässt sich Benjamins Projekt des Passagen-Werks beschreiben. Es ist zugleich das Projekt einer ,Geschichte des Abfalls‘, die als Urgeschichte der Moderne bezeichnet wird: Ein auflesendes Sammeln all der zerstreuten kulturellen, sozialen, mentalen, literarischen und sonstigen Phänomene, die den Kehricht des 19. Jahrhunderts ausmachen; und damit zugleich die Stiftung einer neuen Ordnung, in der das Aufgesammelte neu und anders lesbar wird. Die Methode, mit der dieses Sammlungsprojekt bewerkstelligt werden soll, ist die Montage: Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde nichts Wertvolles entwenden und mir keine geistvollen Formulierungen aneignen. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Rechte kommen lassen: sie verwenden.9
Doch auch unabhängig von Benjamins lumpensammlerischer Archivierung der Moderne ist mit dem Verfahren des Sammelns und Umwertens eine Signatur der modernen Literatur und Ästhetik angezeigt. Zu denken wäre etwa an die intensive Auseinandersetzung der literarischen Moderne um 1900 mit dem, was aus der normativen Ordnung der bürgerlichen Kultur ausgeschlossen wird: der Wahnsinn, das Unbewusste, die Sexualität, populäre Künste wie die Zirkuskunst, aber auch der Primitivismus und andere Phänomene des Exotismus. Denn auch hier geht es um Aneignung des Gesammelten im Rahmen einer neuen Ordnung, einer neuen Ordnung der Kunst, die im Hässlichen das Schöne und im ausgegrenzten Anderen das grundstürzend Neue und Avantgardistische entdeckt. Man könnte sogar noch weitergehen und sagen, dass das Bestreben, den Resten, dem Abfall, dem Unnützen und Verworfenem zu neuem Recht zu verhelfen, in eben jenem Maße zu einem Anliegen im Denken der Moderne und in der Praxis moderner Literatur und Ästhetik geworden ist, wie die Moderne selbst
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Archive der Ausschweifung, die Schutthaufen des Abhubs. Er sondert aus, wählt mit Bedacht; wie ein Geiziger einen Schatz sammelt er den Kehricht ein, der, von der Gottheit der Industrie wiedergekäut, zu Gegenständen des Gebrauchs oder des Genusses Verwendung findet.“ Vgl. zum Lumpensammler im Kontext von Benjamins Geschichtsauffassung generell sowie insbesondere zum Stellenwert der Apokatastasis als messianische Wiederherstellung eines ursprünglich-einheitlichen Zustands Wohlfahrt 1984, Et cetera?, v. a. 83 ff. Benjamin 1982, Gesammelte Schriften. Das Passagen-Werk, Band V/1, 574.
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immer mehr Verworfenes und Ausgeschlossenes, immer mehr Reste und Abfälle produziert. Erkennbar wird die Kehrseite dieses genuin modernen Reinigungsbegehrens auch daran10, dass nun der neue Begriff ‚Müll‘ in Diskursen der Moderne auftaucht.11 In diesen Kontext ist auch eine weitere Beschreibung des Lumpensammlers einzuordnen, die Benjamin im Passagen-Werk gibt: „Der chiffonnier ist die provokatorischste Figur menschlichen Elends. Lumpenproletarier im doppelten Sinn, in Lumpen gekleidet und mit Lumpen befaßt.“12 Von systematisch relevanter Bedeutung für die folgenden Ausführungen ist hier die Doppelung ‚in Lumpen gekleidet und mit Lumpen befaßt‘. Diese Doppelung markiert nicht nur die niedere soziale Stellung des Lumpenproletariats, sondern ebenso die eingezogene Grenze zwischen Mensch und Ding, zwischen Mensch und Abfall. Nicht nur die nutzlosen Lumpen werden als Abfall qualifiziert, sondern auch diejenigen, die sie sammeln. Die Lumpen und der Abfall sind die andere Seite der Kultur, lässt sich doch die kulturelle Produktion von der Abfallproduktion nicht trennen. Diese Zuschreibungsoperation gilt sowohl für die Dinge als auch für die Menschen. Wo Abfall ist, sind keine wertvollen Dinge der modernen Konsumgesellschaft, und wo das Tier vom Abfall lebt, ist kein kultivierter Mensch. Zugespitzt formuliert: Die Praxis der Mülltrennung ist eine grundlegende Praxis zur Stiftung kultureller Ordnungen.13 In diesem Sinne einer auf Klassifikation, Ordnungsstiftung und Unterscheidung basierenden kulturellen Praxis will auch Bruno Latour seine These des genuin modernen Reinigungsbegehrens verstanden wissen. Die kulturelle Entwicklungsgeschichte des Menschen lässt sich demnach als eine Geschichte der Bildung von Abfällen und Resten beschreiben: Dass dabei nicht nur Dinge übrig bleiben, sondern auch mit Menschen auf eine Weise umgegangen wird, die sie den wertlosen Resten gleichsetzt, sie aus der kulturellen Ordnung verbannt und sie auf ihr bloßes, kreatürliches Leben reduziert, darauf haben Giorgio Agamben und Zygmunt Bauman immer wieder eindringlich hingewiesen.14
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Zu den auf Dauer gestellten Reinigungspraktiken der Moderne vgl. Latour 2008, Wir sind nie modern gewesen, 148. In Lexika taucht der Begriff „Müll“ erstmals um 1900 auf, und zwar als Sammelbezeichnung für Straßenschmutz und Abfall von Privathaushalten, deren Einführung „mit dem Beginn der modernen Reinigungsanstrengungen im städtischen Raum zusammenfällt“. Vgl. dazu Hauser 2001, Metamorphosen des Abfalls, 23 sowie Windmüller 2004, Die Kehrseite der Dinge, 34. Benjamin 1982, Gesammelte Schriften. Das Passagen-Werk, Band V/1, 441. Vgl. grundlegend zur Dialektik von normativem Ordnungsstreben, Reinigungspraktiken und Semantisierungen des Ausgeschlossenen als Schmutz Douglas 1966, Purity and Danger. Zu Wertungsprozessen im Umgang mit Müll vgl. auch Thompson 1981, Die Theorie des Abfalls. Giorgio Agamben spricht in seinem Homo-Sacer-Projekt von den homines sacri, wenn er die Grenzziehungen zwischen Leben und Nicht-Leben, Mensch und Nicht-Mensch oder Wert und Unwert des Lebens problematisiert. Vgl. Agamben 2002, Homo sacer. In der Sache vergleichbar, wenn auch begrifflich manchmal missverständlich, verwendet Zygmunt Bauman den Begriff wasted lives und redet von einem überschüssigen, wert- und nutzlosen „menschlichen Abfall“, der eine untrennbare Begleiterscheinung von Modernisierungsprozessen sei. Vgl. Bauman 2004, Wasted Lives, dt.: Bauman 2005, Verworfenes Leben.
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Um diese doppelte Perspektive, die neben der ästhetischen ebenso die wissens- und kulturgeschichtliche Dimension des Umgangs mit Resten in den Blick nehmen wird15, soll es im Folgenden gehen. Erst in dieser doppelten Perspektive, so die These, lässt sich die von Benjamin benannte juridische Dimension des Umgangs mit Resten angemessen erfassen.16 Hierfür soll in einem ersten Schritt der Lumpensammler selbst als outcast der kulturellen Ordnung zu seinem Recht kommen. Denn bevor, wie Benjamin sagt, die Dichter „den Kehricht der Gesellschaft auf ihrer Straße“ finden und den Dichtern mit dem Lumpensammler „in ihren erlauchten Typus ein gemeiner gleichsam hineinkopiert“17 scheint, bevor also der Dichter zu einer Hybridbildung von Genie und Lumpensammler wird und die Ästhetik der Moderne die verworfenen Reste der idealistischen Autonomieästhetik programmatisch aufwertet, musste die neue ästhetische Leitfigur des Lumpensammlers erst als soziale und geschichtliche Figur an Bedeutung verlieren. Erst nachdem ab Mitte des 19. Jahrhunderts der sozial verworfene Lumpensammler als wichtigster Grundstofflieferant für die Papierproduktion immer mehr an Bedeutung verloren hat, weil das Sammeln von Hadern und Lumpen durch das neue Verfahren des Holzschliffs überflüssig wird18, kann der Lumpensammler neu und anders ‚verwertet‘ werden: Der Lumpensammler als Recycler wird nun gleichsam selbst zum Gegenstand des Recyclings, nicht mehr das, was er sammelt, wird nun zum Material für die dichterische Produktion, sondern er selbst. Anders formuliert: Auch die ästhetische Nobilitierung des Lumpensammlers produziert Reste, denn der Aufstieg des Lumpensammlers zur Allegorie der Moderne ist vom Nutzlos-Werden und Übrig-Bleiben des historischen Lumpensammlers nicht zu trennen. Um diese Vorgeschichte des historischen Lumpensammlers als Kehricht der Gesellschaft soll es zunächst gehen. Sie ist auch deshalb interessant, weil sie in ihrer Verbindung zum Hygiene-Diskurs des 19. Jahrhunderts die historisch-materielle Ergänzung zu dem kulturtheoretischen Konzept des modernen Reinigungsbegehrens liefert.
2. Literarische Vorgeschichten: Lumpensammler bei Dickens und Raabe Diese Vorgeschichte hat es nicht zuletzt mit einer zunehmend gestörten Mensch-Umwelt-Beziehung als Folge des forcierten Industrialisierungsprozesses zu tun. Bemerkbar macht sich dies auch in dem neuen Verhältnis, das zu 15 16 17 18
Zum literarischen Umgang mit Resten im 19. Jahrhundert vgl. Thums 2007, Vom Umgang mit Abfällen, 66-84. Eine eingehendere Analyse verdiente sicherlich auch die Nähe dieser juridischen Konzeption der Reste zu Latour 2001, Parlament der Dinge. Benjamin 1974, Charles Baudelaire, 582. Vgl. hierzu z. B. Darnton 1993, Glänzende Geschäfte; bes. das Kapitel IV „Buchherstellung“, hier „Papierbeschaffung“ (ebd., 132-144); zum Lumpensammler vgl. bes. ebd., 136.
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Resten, zu Abfall, Schmutz und Ekel entwickelt wird. In zuvor nie da gewesener Intensität widmen sich die neuen Wissenschaften der gesteigerten Geruchssensibilität und im Zuge der Hygienebewegung vor allem der Bakterienfurcht, die sich natürlich auch auf die verwahrlosten Lumpensammler richtet. Ihren literarischen Ausdruck findet die zunehmend gestörte Mensch-Umwelt-Beziehung nicht zuletzt in den Umweltromanen des 19. Jahrhunderts, die von verschmutzten Flüssen und verkommenen Ufern erzählen. Dazu gehört neben Wilhelm Raabes Pfisters Mühle (1883/84) etwa auch Charles Dickens Roman Our Mutual Friend (1864/65), der nicht von ungefähr in eine zeitliche Nähe zu Baudelaires Fleurs du mal (1857 bis 1868) rückt.19 Während jedoch bei Baudelaire die Lumpensammler mit dem Dichter analogisiert werden, nimmt Dickens Roman eine gesellschaftskritische Perspektive ein, reflektiert den technisch, ökonomisch und kulturell bestimmten Umgang mit der Natur und setzt sich kritisch mit den hierfür leitenden Wissensfeldern auseinander, um Fragen zu stellen, die heute noch im Kontext der Debatten um Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit brisant sind.20 Im Zentrum des Romans steht die Geschichte von John Harmon, der Erbe eines reichen Abfallhändlers ist. Unter den zahlreichen Nebenfiguren und Lumpensammlern finden sich auch der Müllunternehmer Noddy Boffin, der Skeletthändler Mr. Venus, der übrig gebliebene Knochen neu zusammensetzt, und ein Abfallsammler namens Gaffer Hexam sowie die Puppenmacherin Jenny Wren, die ihre Puppen aus Abfällen, schadhaften Waren und sonstigen Lumpen herstellt. Über ihre Praxis der Neuverwertung heißt es an einer Stelle: „Unser Abfall kommt auf ihren rotwangigen kleinen Kundinnen in die beste Gesellschaft [....]. Sie tragen ihn im Haar und auf ihren Ballkleidern “21. In mehrfacher Hinsicht wird im Roman ein perfektes Recyclingsystem beschrieben, das die unterschiedlichen sozialen Schichten ökonomisch aneinander bindet.
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Vgl. zu einer ökopoetischen Lesart der beiden Romane Thums 2014, Wissen vom (Un)Reinen. Vgl. diesbzgl. zu Our Mutual Friend: Goetsch 1986, Dickens. Eine Einführung, 173 f.: „Die ökologischen Fragen, wie aus Abfällen Neues entstehen und wie ein Fluß regeneriert werden kann, bilden den Hintergrund der Romanhandlung, die die Erneuerungsbedürftigkeit des gesellschaftlichen Zustandes und der geistigen Einstellungen der Menschen in den Mittelpunkt rückt.“ Goetsch betont auch den Vorbildcharakter für T. S. Eliots Waste Land; vgl. ebd., 182. Zum Vergleich von Our Mutual Friend mit The Waste Land vgl. bereits Johnson 1952, Charles Dickens, 1043. Bei Dickens wie Eliot wird die Stadt mit dem öden Land assoziiert, beide erinnern mit ihren mythischen und symbolischen Bezügen an positive Bedeutungen etwa des Wassers als Ort der Erneuerung und Wiedergeburt. Vgl. zur These, dass Pfisters Mühle die seit den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts diskutierte Problematik der Nachhaltigkeit vorwegnehme Nenguié 2004, Wilhelm Raabes Reflexionen über nachhaltige Entwicklungsprozesse in Pfisters Mühle; vgl. außerdem übergreifend Grober 2010, Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Dickens 1968, Unser gemeinsamer Freund, 335.
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Our Mutual Friend22 stellt London als riesigen Organismus dar, beständig vom Erstickungstod bedroht, da der rußig schwarze Nebel die Stadt zu einem mit dumpfem Räderrasseln erfüllten Dunsthaufen macht.23 Umweltverschmutzung ist hier durch die zu einem Abwasserkanal verkommene Themse24 und durch riesige Müllhalden allgegenwärtig. Im Blick sind die Ausscheidungen des städtischen Körpers, die über den Kreislauf der Natur wieder als Gefährdung in den Organismus zurückkehren: das Trinkwasser kommt aus der mit Exkrementen verunreinigten Themse, und mit ihm kommen ansteckende Krankheiten. Der Roman kartographiert die sozialen und medizinischen Gegebenheiten Londons sehr genau: D. h. wer wo in welchen Verhältnissen wohnt, wer welchen Umweltverschmutzungen durch schlechte Luft und verseuchtes Wasser ausgesetzt ist, aber auch wer mit welchem moralischen Schmutz den sozialen Körper der Stadt gefährdet. Schmutz ist hier nämlich stets zugleich in materieller wie moralischer Hinsicht zu verstehen. Es lässt sich zeigen, dass die hier erzählte soziale Topographie der Stadt mit der kartographischen Analyse der CholeraEpidemie korrespondiert, die den Londoner Arzt Dr. John Snow 1849 zu der Entdeckung geführt hat, dass die Ursache für die Erkrankungen nicht in der Miasma-Luft, sondern im verunreinigten Trinkwasser zu suchen ist.25 Damit äußert sich der Roman zu jenem Paradigmenwechsel, der mit Snows Entdeckung zu einer sozialen Auffassung von Krankheit führt.26 Stärker als zuvor regiert nun der Staat das Leben, Müll gilt als eine das Leben verachtende, lasterhafte und mörderische Gefahr. Biopolitische Steuerungsmaßnahmen, wie die Kontrolle der körperlichen und moralischen Gesundheit durch sanitäre Überwachung, stehen nun im Kontext einer strikten Grenzziehung zwischen Sauberkeit und Schmutz sowie der Durchsetzung von Reinlichkeit als zentraler Norm im kulturellen Wertesystem.
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Dickens 1952, Our Mutual Friend. Die ins deutsche übersetzten Zitate folgen der Ausgabe ders. 1968, Unser gemeinsamer Freund. Vgl. ebd., 503. Zur Themse als zentralem Handlungsort vgl. Maack 1970, Der Raum im Spätwerk von Charles Dickens, 185; zur Raumgestaltung des Romans vgl. auch Hoffmann 1978, Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit; vgl. außerdem Goetsch 1986, Dickens. Eine Einführung, 173; vgl. auch das Kapitel „Typen des Charakterwandels in Our Mutual Friend“ in Lange 1969, Das Problem der Charakterentwicklung in den Romanen von Charles Dickens, 217. Lange betont vor allem, dass die Häufung der Symbole Wasser, Erbschaft und Abfallhaufen das überindividuell Gültige an den Schicksalen der Figuren vermittelt. Zum Symbol des Wassers im Roman vgl. Gelfert 1974, Die Symbolik im Romanwerk von Charles Dickens, 146 f.; sowie Hoffmann 1978, Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit, 340 ff. Vgl. dazu Gilbert 2005, Medical Mapping, the Thames, and the Body in Dickensʼ Our Mutual Friend, 78-102. Zur Ansteckung in Our Mutual Friend, die durch den Körper der kranken Stadt erfolgt, mit dem die Bevölkerung in einer gleichsam symbiotischen Austauschbeziehung lebt vgl. ebd., 81. Vgl. dazu Stallybrass/White 1986, The Politics and Poetics of Transgression, 125 f.
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Der Roman zeigt, wie die Stadt von der Abfallwirtschaft regiert wird27, wie der Fluss und die Müllhalden Orte des Lebens, aber auch des Todes sind. Die Themse ist zentraler Handlungsträger, die Sogwirkung ihres schlammigen Wassers gefährdet das Überleben der Stadt in jeglicher Hinsicht28: Die Themse ist einerseits ,sozialer Krankheitserreger‘, der die Leichenfledderer und Lumpensammler mit Skrupellosigkeit und Amoralität ansteckt.29 Andererseits ist sie die großzügige Spenderin, die mit ihren Abfällen für alles Lebensnotwendige sorgt.30 In den schmutzigen Uferstraßen ist es, „wo der Auswurf der Menschheit vom höheren Gelände herab wie moralischer Kot zusammengespült zu sein und zu stocken schien, bis ihn sein Eigengewicht über das Ufer trieb und in den Fluß versenkte.“31 Hier leben die outcasts der Londoner City, die Fischer, Leichenfledderer und Lumpensammler, die im Schlamm und Dreck der verkommenen Ufer zu versinken drohen.32 Noch stärker jedoch stinkt die Welt der Reichen zum Himmel: Schließlich sind sie nicht nur durch die Abfallwirtschaft reich geworden, sondern häufen auch die Abfallberge an, von denen die outlaws leben müssen. In dieser geradezu zynischen Perspektive ist der städtische Körper ein perfekt geschlossener Kreislauf, der alles recycelt und ein endgültiges Ausscheiden von Schmutz negiert.
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Zur These, dass in Our Mutual Friend das Rechtswesen durch die Abfallwirtschaft ersetzt ist vgl. Teyssandier 2005, Mud, Money, and Mystery. Vgl. Dickens 1968, Unser gemeinsamer Freund, 29. „Not a lumbering black barge, with its cracked and blistered side impending over them, but seemed to suck at the river with a thirst for sucking them under. And everything so vaunted the spoiling influences of water – discolored copper, rotten wood, honey-combed stone, green dank deposit – that the after-consequences of being crushed, sucked under, and drawn down, looked as ugly to the imagination as the main event.“ (Dickens 1952, Our Mutual Friend, 172; dt. vgl. ders. 1968, Unser gemeinsamer Freund, 204). Zur Einordnung des Romans in die zeitgenössische Moralphilosophie vgl. Rainsford 2010, Victorian Moral Philosophy and Our Mutual Friend. So gesehen ist sie der ,beste Freund‘. „,How can you be so thankless to your best friend, Lizzie? The very fire that warmed you when you were a babby, was picked out of the river alongside the coal barges. The very basket that you slept in, the tide washed ashore. The very rockers that I put it upon to make a cradle of it, I cut out of a piece of wood that drifted from some ship or another.‘“ Dickens 1952, Our Mutual Friend, 15; dt. vgl. ders. 1968, Unser gemeinsamer Freund, 11 f. Zu den Müllkreisläufen via Wasserwege (Meer und Flüsse) und der sich darin abbildenden sozialen Nomenklatur vgl. auch den Artikel von Nina Jürgens im vierten Kapitel „,One man’s trash is another man’s trea-sure‘“ sowie den Artikel von Sarah Schmidt im dritten Kapitel „Existenzen sammeln – Existenzen schreiben“. Dickens 1968, Unser gemeinsamer Freund, 29; ders. 1952, Our Mutual Friend, 20 f.: .„The wheels rolled on, and rolled down by the Monument and by the Tower, and by the Docks; down by Ratcliffe, and by Rotherhithe; down by where accumulated scum of humanity seemed to be washed from higher grounds, like so much moral sewage, and to be pausing until its own weight forced it over the bank and sunk it in the river.“ Zur Einordnung des Romans als Gegenwartsroman vgl. Borinski 1969, Dickensʼ Spätstil, 135 f.
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In moralischer Hinsicht jedoch wird dieser perfekt geschlossene Kreislauf unterbrochen. Weil etwa Hexam, der Leichenfischer, seine Existenz mit kriminellen Mitteln sichert, muss er sterben. Er verfängt sich in der eigenen Schlinge und ertrinkt im Schlamm der „fliegenden Unsauberkeiten“33 – so will es die poetische Gerechtigkeit des Romans, die alle Figuren sterben lässt, die der Reinlichkeitsnorm nicht entsprechen und den Gesellschaftskörper gefährden. Für das moralische Urteil der poetischen Gerechtigkeit gibt es also, anders als im hygienischen Wissen der Zeit, ein endgültiges Ausscheiden von Schmutz.34 Um der Reinheit willen ist die poetische Gerechtigkeit des Romans jenen Figuren wohl gesonnen, die gegen alle die Moral verschmutzenden Ansteckungen resistent sind. Das sind in erster Linie Hexams Tochter Lizzie und die bereits erwähnte Lumpensammlerin Jenny Wren sowie schließlich Betty Hidgen, die lieber in Ruhe sterben will, als von der Armenfürsorge abhängig zu sein. Insgesamt also formuliert die Öko-Poetik des Romans eine deutliche Kritik am biopolitischen Reinheitsbegehren einer Moderne, die im Verbund von darwinistischer Ideologie und Sozialhygiene bereit ist, den individuellen Körper den ökonomischen Interessen des Städtischen bzw. Staatskörpers zu opfern.35 Indem Dickens Roman diese Zusammenhänge kritisch durchdringt, erstellt er ein Archiv, in das zentrale Diskurse und Prozesse der Moderne aufgenommen und zugleich den Modernisierungsopfern ein Gedächtnis verliehen wird. Auch Wilhelm Raabes Pfisters Mühle36, der 1883/84 geschriebene, erste Umweltroman der deutschen Literaturgeschichte37, lässt sich in dieser Weise als Archivierungsprojekt der Moderne beschreiben. Dieses ist zugleich radikaler 33
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Dickens 1968, Unser gemeinsamer Freund, 209; vgl. zu den „flying impurities“ ders. 1952, Our Mutual Friend, 175. Gelfert deutet dies als Versinken in der entfremdeten Welt, von der sich Hexam nicht zu emanzipieren versucht hat. Vgl. Gelfert 1974, Die Symbolik im Romanwerk von Charles Dickens, 154; vgl. außerdem den Kampf zwischen Headstone und Riderhood, bei dem sie in ein Schleusenbecken stürzen und ertrinken: Dickens 1952, Our Mutual Friend, 777-781; dt. vgl. ders. 1968, Unser gemeinsamer Freund, 946-960. Mehr noch: Das Sterben-Lassen, das die poetische Gerechtigkeit verfügt, rückt in eine bemerkenswerte Nähe zu den skizzierten Regulationen einer Biopolitik, die, so Foucault, Leben macht und sterben lässt. Vgl. Foucault 1977, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, 165. Zum Spannungsverhältnis von Technikbegeisterung, Sozialkritik und ökologischem Denken bei Dickens sowie zur Ausbildung einer ökologischen Perspektive in seinen Romanen, allerdings ohne genauere Analyse von Our Mutual Friend, vgl. den Beitrag von Parham 2010, Dickens in the City. Raabe 1961, Pfisters Mühle. Vgl. dazu das Kapitel „Der Totenfluß als Industriekloake. Über den Zusammenhang von Ökologie, Ökonomie und Phantasie in Pfisters Mühle von Wilhelm Raabe“, in Kaiser 1991, Mutter Natur und die Dampfmaschine, 81-107; vgl. zur Einordnung als „ersten ,ökologischen Roman‘ der deutschen Literatur“ auch Detering 1992, Ökologische Krise und ästhetische Innovation im Werk Wilhelm Raabes, 10. Detering kommt es v. a. darauf an, dass „die überlieferte Ordnung humaner Wertvorstellungen, religiöser Gewissheiten, klassischer Ästhetik“ (ebd., 13) hier als ,verschmutzt‘ gezeigt wird. Insbesondere mit Rekurs auf die apokalyptische Bildlichkeit und auf die Figur des Dichters Lippoldes versteht Detering Raabes Roman als „eine Geburt der Moderne aus dem Geist ökologischer Kritik“ (ebd., 24).
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und moderner insofern, als sein kritischer Blick auf die Modernisierungsprozesse auch die realistische Ästhetik erfasst. Lumpensammler tauchen hier keine mehr auf, nur am Rande werden mit den Papiermühlen jene Orte genannt, an welche die Lumpensammler ihre Ware abliefern.38 In erster Linie handelt der Roman von den gesellschaftlichen Umbrüchen durch Naturzerstörung, Gewässerverschmutzung, Fischsterben und Geruchsbelästigung. All dies besiegelt den Niedergang von Pfisters Mühle: Sie ist ökonomisch nutzlos geworden, nicht einmal mehr als Ausflugslokal wirft sie etwas für ihre Betreiber ab. In einer den Zeitgenossen Raabes unliebsamen Klarheit wird hier geschildert, dass es um einen Umweltskandal geht, verursacht durch die Abwässer der nahe gelegenen Zuckerfabrik Krickerode. Ich will nur einige Punkte herausheben, die mir für den bereits erwähnten doppelten Blick auf die materiellen und humanen Reste in ästhetischer, aber auch wissens- und kulturgeschichtlicher Hinsicht wichtig erscheinen. Dazu gehört, dass der Roman das ästhetische Wissen des 18. Jahrhunderts von der schönen Reinheit mit dem ökonomischen, hygienischen, darwinistischen und genealogischen Wissen des 19. Jahrhunderts in einen spannungsreichen ,Kampf ums Dasein‘ treten lässt. Seine kritische Analyse und Benennung der Opfer einer industrialisierten Moderne macht er nämlich transparent, indem er Austauschbeziehungen zwischen Reinheit und Moderne problematisiert, und zwar durch eine ausgesprochen komplex arrangierte, narrative Verknüpfung von Idylle und Sündenfall-Mythos. Von besonderem Interesse ist dabei der Dichter Lippoldes, dessen idyllisierendes Dichtungsverständnis als unzeitgemäß ausgewiesen wird und sich deshalb auch nicht für die Analogisierung von Lumpensammler und Dichter eignet. Nicht mehr als Dichter, sondern als Alkoholiker wird er eingeführt, als einer, der seine Trauer über die gesellschaftliche Irrelevanz seines ästhetischen Ideals schöner Reinheit im Alkohol ertränkt, bis er selbst im verseuchten Abwasser ertrinkt.39 Man könnte auch sagen, der Dichter Lippoldes wird auf den Abfallhaufen der Geschichte gekippt und damit auch jene Poetik des Schönen, die als Poetik des reinen Schönen für das 18. Jahrhundert leitend gewesen war. Im Zentrum des Romanverlaufs jedoch steht der ehemalige Ziehsohn des alten Müllers, Adam Asche, der die idyllische Mühlenwelt verlassen hat und in Berlin als Chemiker und Industrieller lebt: Er tritt einerseits als Erlöser auf und verspricht, den Umweltskandal wissenschaftlich exakt nachzuweisen, und zwar „bis zur letzten Bakterie“40. Andererseits aber nützt er sein dabei erworbenes Wissen, um gewissermaßen als verkehrter Lumpensammler in Berlin eine Rei-
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Zur Geschichte der Papiermühlen vgl. Bayerl 1987, Die Papiermühle. Zur Funktion des Dichters Felix Lippoldes in diesem Kontext vgl. Detering, Ökologische Krise und ästhetische Innovation, 13. Raabe 1961, Pfisters Mühle, 68; vgl. zu Adam Asche als Figuration des „modernen Verwandlers“, der für das „Wechselspiel von Leben und Tod“ stehe, Zirbs 1986, Strukturen des Erzählen, 105.
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nigungsfabrik zu errichten. Sie, die im Roman auch „Erdenlappenlumpenundfetzenreinigungsinstitut“41 genannt wird, steht zusammen mit ihrem Begründer, dem neuen Adam, für den Sündenfall der Moderne. Sie produziert noch weitaus giftigere Abwässer als die Zuckerfabrik am Mühlenbach. In geradezu zynischer Verkehrung unserer heutigen Auffassungen von Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit garantieren Asches Erben, wie es heißt, dass das „wasserverderbende Geschäft am Ufer der Spree“42 auch nach Asches Tod fortbesteht und die Berliner Luft weiterhin verschmutzt wird. Insgesamt werden am Beispiel des neuen, gleichsam faustischen Adam Asche Modernisierungsprozesse zur Anschauung gebracht: Dabei verbinden sich darwinistische Steuerungsmechanismen der Anpassung und Selektion, gründerzeitliche Ökonomie und naturwissenschaftlich fundierte Hygiene zu einer Scheidekunst, die, zwischen Nutzlosem und Nützlichem trennend, Modernisierungsreste anhäuft.43 Gezeigt wird außerdem, dass es im geschichtlichen Raum der Moderne keine Reinheit, sondern nur Reinigungsprozesse gibt – und zwar auch im Hinblick auf den Umgang mit den Lumpen nur durchweg negativ konnotierte. Die Kehrseite des modernen ,Erdenlappenlumpenundfetzenreinigungsinstituts‘ ist die Produktion von kulturellem Abfall: Zu diesem kulturellen Abfall gehört fortan erstens die Vorstellung einer paradiesisch-reinen Mutter Natur im Zeichen der Idylle, zweitens die Ästhetik des schönen Reinen aus dem 18. Jahrhundert und drittens ein poetischer Realismus, der nicht bereit ist, die Hässlichkeiten der Moderne ästhetisch zu integrieren. Im Erzählen von Reinigungsprozessen und somit vom Sündenfall der Moderne archiviert der Roman also ein in ethischer Hinsicht relevantes Wissen um die Modernisierungsverluste sowie um die Ausschließungspraktiken einer darwinistischen Ökonomisierung der Ästhetik. Dickens und Raabe kann man mithin als Archivisten der hygienisch überformten Moderne bezeichnen: Ihre Romane archivieren die ästhetischen, kulturund wissensgeschichtlichen Zusammenhänge, aus denen heraus sich auch jene Ästhetik des Hässlichen entbindet, die Baudelaires Fleurs du mal ausmacht. Sie archivieren damit auch die Vorgeschichte einer Moderne, die zu jener Analogisierung des Lumpensammlers mit dem Dichter führt, die nicht nur Benjamin begeistert hat, sondern die für eine ganze Reihe von Autoren zu einem mehr oder weniger expliziten Bezugspunkt geworden ist.
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Raabe 1961, Pfisters Mühle, 141. Ebd., 126. Zum Nützlichen als ästhetisches Problem vgl. Winkler 1997, Die Ästhetik des Nützlichen in ,Pfisters Mühle‘.
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3. Etho-Poetiken des Rests im Spannungsfeld rettender und zerstörender Reinigungspraktiken Der ethische Impetus solcher Archivierungsprojekte, sei es nun Dickens’ Poetik der Gerechtigkeit oder Raabes Erzählen als Einklagen der Modernisierungsverluste und Ausschließungspraktiken, macht aber zugleich auf ein Problem aufmerksam, das mit der Allegorisierung des Lumpensammlers in der Ästhetik der Moderne auftaucht: auf das potentielle Vergessen der materiellen Gegebenheiten, die dieser Allegorisierung zugrunde liegen und damit zugleich auf den potentiellen Ausschluss des Materiellen aus einer ästhetischen Ordnung, die um der Reinheit des absoluten Kunstwerks willen materielle Reste ohne Rechtsanspruch auf Wiederverwendung produziert. Baudelaires Ästhetik, die aus den hässlichen Resten des modernen Lebens die Schönheit der poetischen Textur gewinnt, löst dieses Problem, indem sie die Spannung zwischen dem hässlichen Material und der schönen Formgebung nicht zugunsten eines schönen und unvergänglichen Ganzen einseitig auflöst, sondern indem sie die untilgbaren Reste des Schönen sowie die Prozesse der Destruktion erinnernd festhält und derart den materiellen Resten zu ihrem Recht verhilft.44 Es ist eben dieses Verfahren, aus dem die Zerstörung der ursprünglichen Ordnung nicht wegzudenken ist, das Baudelaire zu einem Lumpensammler und Archivisten der Moderne macht, der – mit Benjamin gesprochen – als Sammler und Liebhaber die Reste um ihrer selbst schätzt. Der Sammler nämlich hat nach Benjamin ein Verhältnis zu den Dingen, „das in ihnen nicht den Funktionswert, also ihren Nutzen, ihre Brauchbarkeit in den Vordergrund rückt, sondern sie als den Schauplatz, das Theater ihres Schicksals studiert und liebt“45, so Benjamin in „Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln“. Sammler sind Liebhaber jener Dinge, die sie sammeln, und dennoch zerstören auch sie die vorgängige Ordnung: Sammeln heißt nämlich, eine neue, andere Ordnung herzustellen, die neuen und anderen Kriterien gehorcht. Zerstörung wird bei Benjamin dabei als Rettung verstanden, und zwar als rettende Entfremdung aus der normierten Ordnung mit ihren eingeschliffenen Wahrnehmungsmodi. Immer wieder weist Benjamin auf diese Dialektik von Zerstörung und Rettung hin: Er macht sie geltend für die kindhafte Praxis des Sammelns, die den Dingen ein erneuertes Dasein verleiht46; er macht sie aber auch geltend für zwei weitere Sammlungspraktiken, und zwar für die Praxis des Zitierens und der Montage. 44 45 46
Vgl. dazu ausführlich Münchberg 2008, Philosophie und Poetik des Rests. Benjamin 1972, Ich packe meine Bibliothek aus, 389; vgl. ebd. auch: „Sammler sind Physiognomiker der Dingwelt“. „Und eben darin liegt das Kindhafte, das im Sammler sich mit dem Greisenhaften durchdringt. Die Kinder nämlich verfügen über die Erneuerung des Daseins als über eine hundertfältige, nie verlegene Praxis. Dort, bei den Kindern, ist das Sammeln nur ein Verfahren der Erneuerung, ein anderes ist das Bemalen der Gegenstände, wieder eines das Ausschneiden, noch eines das Abziehen und so die ganze Skala kindlicher Aneignungsarten vom Anfassen bis hinauf zum Benennen.“ Ebd., 398 f. [Herv. i. O.].
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Die Praxis des Zitierens ist Thema in Benjamins Essay über Karl Kraus aus dem Jahr 193147, in dem er Kraus’ publizistisches Schaffen im Horizont der Diskursfelder Sprache, Recht, Journalismus und Politik analysiert. Seine Kritik am Journalismus richtet sich v. a. auf ihre Sprache der Geschwätzigkeit.48 Die Geschwätzigkeit, so Benjamin, zeugt vom Sündenfall der Sprache49, der die Namenlosigkeit der Sprache hervorbringt und in der Konsequenz jene riesige Menge an Sprachmüll anhäuft, die den Inhalt der Geschichte ausmacht und die der Lumpensammler Kracauer in seinen Karren schmeißt.50 Das Zitieren als „das polemische Grundverfahren von Kraus“ gehört für Benjamin hingegen zum Bereich der Namenssprache, und die besondere Leistung von Kraus besteht nun darin, dass es ihm gelingt, „selbst die Zeitung zitierbar zu machen“, noch „im tiefsten Bodensatze der Journale“51, man möchte fast sagen, noch im letzten dreckigen Geschwätz, die rettende Funktion des Zitierens qua Zerstörung zu erweisen. Dieser rettenden Funktion des Zitierens ist – darauf weist Benjamins eigens hin – eine juridische Dimension eingetragen: „Im rettenden und strafenden Zitat erweist die Sprache sich als die Mater der Gerechtigkeit. Es ruft das Wort beim Namen auf, bricht es zerstörend aus dem Zusammenhang, eben damit aber ruft es dasselbe auch zurück an seinen Ursprung.“52 Unverkennbar arbeitet Benjamin in seiner Kraus-Lektüre eine Nähe zu seiner eigenen apokatastatisch fundierten Theorie der Geschichte und des Sammelns heraus. Für ihn ist es Verzweiflung, die Kraus zu dieser destruktiven Praxis des Zitierens bringt. Und zwar die Verzweiflung angesichts des Scheiterns eines Humanismus, der auf Reinheit abzielt und der diese durch eine idealistische Befreiung des werdenden Menschen aus dem Mythos zu erlangen hoffte. Diesem Idealismus setze Kraus die Einsicht entgegen, daß es keine idealistische, sondern nur eine materialistische Befreiung vom Mythos gibt und nicht Reinheit im Ursprung der Kreatur steht, sondern die Reinigung, das hat in dem realen Humanismus von Kraus seine Spuren am spätesten hinterlassen. Erst der Verzweifelnde entdeckte im Zitat die Kraft: nicht zu bewahren, sondern zu reinigen, aus dem Zusammenhang zu reißen, zu zerstören; die einzige, in der noch Hoffnung liegt, daß einiges aus diesem Zeitraum überdauert — weil man es nämlich aus ihm herausschlug.53
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Benjamin 1977, Karl Kraus. Kraus erläutert sein Verfahren wie folgt: „Kein Mensch, der eine meiner gedruckten Seiten absucht, wird eine Naht erkennen. Und doch war alles hundertmal aufgerissen, und aus einer Seite, die in Druck ging, sind sieben geworden. Am Ende, wennʼs ein Ende gibt, ist die Gliederung so einleuchtend, daß man die Klitterung nicht sieht und nicht an sie glaubt.“ Zitiert nach: te Heesen/Vogel 2004, Herren mit Schere, 45. „Die Erkenntnis, zu der die Schlange verführt, das Wissen, was gut sei und böse, ist namenlos.“ Benjamin 1977, Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, 152. Vgl. dazu auch Schneider 2005, Vom Versprechen zum Versprechen, 74. Benjamin 1977, Karl Kraus, 362 f. Ebd., 363. Zum Status des Zitierens als Form des Wissen-Sammelns, etwas anders beleuchtet, vgl. Judith Kaspers Beitrag „Was nach dem Sammeln bleibt“ im vierten Kapitel. Ebd., 365.
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Reinigung und Zerstörung werden hier ebenso positiv gefasst wie Schmutz und Abfall. All dies steht im Zeichen eines realen Humanismus, für den, wie auch für den Lumpensammler Kracauer, das Reinheitskonzept des Idealismus mit seinen Ideologemen der Innerlichkeit und des Humanismus zu jenen Fetzen gehört, die er im Morgengrauen des Revolutionstages aufsammelt. Die Zusammenschau des hier unternommenen Durchgangs durch die (Ästhetik-)Geschichte des Lumpensammlers und den Umgang mit Resten in der Moderne ergibt, dass zwei diametral entgegengesetzte Auffassungen von modernen Reinigungspraktiken zu unterscheiden sind: Die erste, nach der – mit Latour gesprochen – das Begehren nach Reinigung eine Antwort auf Krisen- und Umbruchsituationen ist. Reinigungspraktiken, die im Hinblick auf die Stabilisierung oder Wiederherstellung normativer Ordnungen einer drohenden Vermischung von Natur- und Kulturzustand entgegenarbeiten sollen, produzieren dabei als nutz- und wertlos qualifizierte Reste. Die zweite, nach der die zerstörende Reinigung auf die Zerstörungen der ersten mit einem Denken antwortet, das auf eine Stillstellung dieses wertlose Reste produzierenden Reinigungsbegehrens gespannt ist. Mit Benjamin gesprochen ist es ein anderer Umgang mit jenen „Zweiteilungen“ in rückständiges Negatives und zukunftsvolles Positives, die „für jede Epoche [...] nach bestimmten Gesichtspunkten“ vorgenommen werden kann: Ausgehend von einer dialektischen Verschlingung der beiden Pole gelte es, so lange immer wieder aufs Neue Teilungen des Negativen zu vollziehen, um daraus „mit einer Verschiebung des Gesichtswinkels“ immer wieder ein neues Zweigeteiltes, dessen Negatives es erneut zu teilen gilt, zu generieren, „bis die ganze Vergangenheit in einer historischen Apokatastasis in die Gegenwart eingebracht ist“54. Während also die erste Auffassung von Reinigung in keinen endgültigen Zustand der Reinheit münden kann, weil Reinheit immer nur prozessual als Reinigung gedacht werden kann, postuliert die zweite Auffassung einen Zustand der Reinheit, in dem die Logik der Ausschließung zusammen mit der Geschichte als linear ablaufende Fortschrittsgeschichte an ein Ende kommt. Doch auch dieser zweiten, u. a. mit dem Zerstörer Kraus und dem Lumpensammler Kracauer bezeugten Auffassung, die das Reinigungsverfahren an eine rettende Lektüre und Kritik bindet, sind ihre Grenzen eingeschrieben. Damit die reinigende Zerstörung in Rettung umschlagen kann, damit die aufgesammelten Lumpen in einer neuen Ordnung verwendet werden können, muss es einen Lumpensammler geben. Diese Voraussetzung ist mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus und der sich ankündigenden Vernichtungspolitik Hitlerdeutschlands nicht mehr zwingend gegeben. Wird damit aber der Lumpensammler nicht nur als Zulieferer für die Papierfabrik, sondern auch noch in seiner Funktion als zerstörender Retter zum ‚Abfall der Geschichte‘, dann wird dem geschichtsphilosophischen Sammlungsprojekt die Grundlage entzogen und es bleibt außer Zerstörung nichts mehr übrig. Oder doch? Was übrig bleibt, ist, 54
Benjamin 1982, Gesammelte Schriften. Das Passagen-Werk, Band V/1, 573.
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auch noch dieser Zerstörung im poetischen Sprechen Ausdruck zu verleihen. Gertrud Kolmar, die Cousine Walter Benjamins, die 1943 in Auschwitz ermordet wurde, stellt diesen totalen Zerstörungsprozess in ihrem Gedicht Die Lumpensammlerin aus. Das Gedicht befasst sich mit einer ganzen Reihe von vergessenen und weggeworfenen, gemeinhin als still, tot und fühllos bezeichneten Dingen, denen im Raum des Lyrischen der Status von Subjekten verliehen wird. So können diese Dinge im Text die Geschichte ihrer Ausschließung aus der Ordnung des Nützlichen erzählen, und mit dieser Konzeption der Aussageinstanz wird der Anschluss an die ästhetische Tradition einer Allegorisierung des Lumpensammlers vollzogen, der als Dichter solche Reste verwertet und das Hässliche in die Schönheit der Poesie transformiert.55 Die letzte Strophe des Gedichts aber führt eine Wendung herbei56, denn auf das Ich, das den Dingen eine Stimme gegeben hatte, kommt nun ein Schatten zu und das Ich wird selbst zum weggeworfenen Rest, zu einem wasted life der Moderne, das bereits auf die vielen verworfenen und ins Exil verbannten Leben vorauszudeuten scheint, die das brutale Reinheitsbegehren der Nationalsozialisten produziert hat. Gleichsam die gesamte Lumpensammler-Tradition nochmals aufsammelnd und neu verwertend, schreibt Kolmar in ihrer letzten Strophe: Sanft wälzt der große Schatten sich Vor meinen Fuß mit Sack und Karre, Wächst dicht und grau: und wirft, wenn ich Den heißen Stock einst stütz’ und starre, Auch mich zu unserm Müll. Auch mich.57
Kolmars Gedicht besetzt innerhalb der Geschichte und Ästhetik der Lumpensammler die Position einer erneuten Zäsur. Einerseits ist es nach wie vor die Literatur, die den Resten im Zweifel zu ihrem Recht verhilft, andererseits aber ist das geschichtsphilosophische Vertrauen in eine rettende Zerstörung verloren gegangen. Was bleibt, wenn ein anderes, nicht-lineares Denken von Geschichte im Zeichen einer rettenden Erlösung der aufgesammelten Reste unzeitgemäß erscheint, ist, die Gewaltförmigkeit jener auf Dauer gestellten Praktiken der Reinigung und Ausschließung sowie ihre unterschiedlichen Ausgestaltungen immer wieder aufs Neue literarisch zu bezeugen. Es ist dies eine Position, die für die aktuelle Exil- und Migrationsliteratur noch immer konstitutiv ist.
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Zu intertextuellen Bezügen zur Lyrik Baudelaires vgl. Schenker 1996, Die Dichterin als Lumpensammlerin. Zur Anspielung „auf die Figur des Ahasvers“ in der letzten Strophe sowie zum Übergang vom Objekt zum Abjekt vgl. Erdle 1994, 116 und 263. Kolmar 2003, Die Lumpensammlerin.
GIANLUCA SOLLA
NACH DER SAMMLUNG
1. Zeit des Sammelns In dem kurzen Text „Ich packe meine Bibliothek aus“, geschrieben 1931/32, dessen vollständiges Manuskript verloren gegangen ist und der teilweise schon zu Lebzeiten des Autors in der „Literarische Welt“ erschienen war, stellt Walter Benjamin fest, dass die eigentliche Frage der Sammlung nichts weniger als die Frage der Erbschaft bedeutet. Es geht dabei aber weder darum Dinge zu sammeln, die ver- oder geerbt werden können, noch um Dinge, die gesammelt werden, um sie jemandem zu hinterlassen. Wichtiger ist in erster Linie der testamentarische Charakter, den jegliche Sammlung besitzt: Denn die Haltung des Sammlers seinen Besitztümern gegenüber – schreibt Benjamin – stammt aus dem Gefühl der Verpflichtung des Besitzenden gegen seinen Besitz. Sie ist also im höchsten Sinne die Haltung des Erben. Den vornehmsten Titel einer Sammlung wird darum immer ihre Vererbbarkeit bilden.1
Vielleicht könnte man hinzufügen, dass erst eine Sammlung den meist verborgenen testamentarischen Charakter der Dinge überhaupt sichtbar macht. Diese Vererbbarkeit kann im Sinne des kleinen Textes „Die Aufgabe des Übersetzers“ gedacht werden, wenn es dort heißt, es dürfte von einem unvergeßlichen Leben oder Augenblick gesprochen werden, auch wenn alle Menschen sie vergessen hätten. Wenn nämlich deren Wesen es forderte, nicht vergessen zu werden, so würde jenes Prädikat nichts Falsches, sondern nur eine Forderung, der Menschen nicht entsprechen, und zugleich auch wohl den Verweis auf einen Bereich enthalten, in dem ihr entsprochen wäre.2
Die Vererbbarkeit stellt in diesem Sinne niemals eine bloße Möglichkeit dar, die realisiert oder nicht realisiert werden könnte, sondern eine Forderung. Als solche besitzt sie schon längst volle Gültigkeit, die ihr weder eine Realisierung noch eine Nicht-Realisierung abnehmen könnten. Insofern ist sie als Forderung schon real und im Sinne Benjamins wahr vor jeglicher Realisierung. So kann eine Sammlung nicht nur weiter tradiert werden, sondern sie entsteht erst auf der Grundlage des bereits Tradierten, Überlieferten und Übriggebliebenen. Sie entsteht als eine Art Vererbung von Dingen durch eine Geschichte, die zugleich eine vorausgehende und eine immer noch bevorstehende ist. Diese Vererbung tritt aber nicht nur durch einen bewussten Akt in Kraft, sie kann – so 1 2
Benjamin 1972, Ich packe meine Bibliothek aus, 395. Benjamin 1972, Die Aufgabe des Übersetzers, 10.
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meine These – auch unbewusster Natur sein, d. h. sie kann Menschen implizieren, die nicht eine bestimmte (Sammler-)Intentionalität besitzen und die als solche Träger einer größeren Geschichte werden, von der sie nichts wissen. Damit ist selbst der Sammler Benjamins eine Art Erbe, dessen Erbschaft nicht aus dem Prinzip der Familie oder Familiarität erwächst: Er muss vielmehr als Hüter der Geschichte verstanden werden und seine Aufgabe als eine Art Sendung, die Dinge vor ihrer natürlichen oder auch vor ihrer menschenbedingten Zerstörung zu retten.
2. Aus den „Zonen“ Wenn man sich aus dieser Perspektive dem Thema nähert, zeigt sich sehr schnell, wie die Frage der Sammlung als Erbschaft die Frage der Zeitlichkeit inmitten des Verlustes impliziert. Um diesen Zusammenhang auszuloten, wenden wir uns einer ersten Szene zu. Zwischen 1899 und 1913 entsteht eine Pionierarbeit der Fotografie: Eugène Atgets fotografische Darstellung der Vororte von Paris. Aus seinen Expeditionen in die Slums, die damals als „Zonen“ bezeichnet wurden, bringt Atget Bilder einer seinen Mitbürgern unbekannten Stadt zurück. Eine Stadt bestehend aus einer gänzlich verarmten Bevölkerung, zusammengesetzt aus mehr als zweideutigen Gestalten, die sich meist durch die Sammlung und Wiederverwendung von gebrauchten Gegenständen am Leben erhalten. Er zeigt eine andere Stadt, eine Landschaft aus Hütten und Hügeln von Müll, die von dunklen Präsenzen bevölkert ist, Männer und Frauen in Lumpen gekleidet, die in Wagen ihre ärmlichen Waren ziehen. Eine „Zone“ hat die Bevölkerungsdichte der Stadt, aber sie besitzt zugleich alle Merkmale eines wilden Raums, in dem Regeln gelten, die denen, die anderswo leben, unbekannt sind. Die Hauptstadt, die nicht weit ist und doch meilenweit entfernt zu sein scheint, hat diejenigen Schichten der Bevölkerung hierher verwiesen, die sie in ihrem Innern ablehnt.3 Dort sammeln sich Lumpensammler, um aus den Lumpen den Grundstoff für die Papierproduktion zu gewinnen. Ihnen hat Baudelaire das Gedicht „Le vin des chiffonniers“ gewidmet, das wahrscheinlich selbst wiederum auf einem aus Lumpen gemachten Blatt Papier geschrieben wurde. In den letzten Versen wird all der Verdammten gedacht, die dans le silence, d. h. schweigend und zugleich umgeben von Schweigen sterben. In einer dieser „Zonen“, der Porte d’Asnières, portraitiert Atget im Jahre 1913 einen chiffonnier, der auf einem großen Haufen von Lumpen sitzt.
3
Zu den gesellschaftlichen Ausschlussverfahren, aus denen eine Sammelsituation, ein „Sammelauftrag“ menschlicher „Reste“ entsteht, vgl. Sarah Schmidt „Existenzen Sammeln − Existenzen schreiben“ im dritten Kapitel.
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1 − Eugène Atget: Porte dʼAsnières: Cité Trébert − 1913 − 17.e arr (chiffonnier), Originalabzug 1024 mm x 1498 mm
Das Bild erzählt auf seine eigene Art und Weise vom Reichtum des Besitzers, der in der Mitte seines Besitztums thront, das aus Lumpen und fehlerhaften Waren besteht. Es ist das Bild eines Mannes, der immer im Begriff ist, in den Abfällen und im Staub zu verschwinden. Er ernährt sich und seine Familie durch das, was übrig bleibt, d. h. durch die Reste der Produktion und des Konsums der Reichen. Für ihn und für all die anderen Lumpensammler sollten die Reste der Gesellschaft, der Wirtschaft, die Abfälle, die Relikte der Zermürbung der Waren genügen. Er verbringt sein ganzes Leben in der Nähe einer Schwelle, als ob er ihr Schutzgott wäre: Diese Schwelle ist umso effektiver, je unauffälliger sie die Existenz der Dinge von ihrer tatsächlichen Zerstörung trennt; auf dieser Schwelle sind die Dinge immer dabei, ihren Unterschied zu verlieren und in einem Haufen zu verschwinden. Aber selbst als Teil eines Haufens besitzen sie
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immer noch eine gewisse Qualität, die sie wiederverwendbar macht. In gewissem Sinne lebt der Lumpensammler dort, wo es noch möglich ist, die unvermeidliche Zerstörung der Dinge um eine Haaresbreite abzuwenden.
3. Das Fast-Nichts der Lumpen und deren Lumpensammler4 Dass dieses erst durch die Fotos von Atget sichtbar gewordene Volk von Lumpensammlern und Trödlern von den Überresten der Fabriken und des Verbrauchs lebt, dass das Leben der Lumpensammler einzig Dank solcher Reste überdauert, bedeutet nicht, dass die industrielle Produktion großzügig ist, sondern dass auch ihre Abfälle mächtig sind. Sie besitzen eine besondere Qualität: Der Mann, der von Atget fotografiert wurde, obwohl er eine privilegierte Stellung innerhalb seiner sozialen Gruppe besitzt, wird nie reich. Der Lumpenkönig bleibt immer noch ein Bettler. Seine Existenz ist untrennbar von der Armut der ärmlichen Dinge, die er mit großer Anstrengung sammelt. Lumpensammler zu sein heißt, den Verschleiß dessen, was man sammelt, auf sich zu nehmen, als ob der tägliche Kontakt mit den Lumpen zur Anverwandlung mit der geheimnisvollen Essenz dieser Materialien führte. Dieser Verschleiß scheint eine transitive Qualität zu sein, die in der Lage ist, sich auf diejenigen, die sie sammeln, zu übertragen. So stellt der chiffonnier nicht so sehr das ständig drohende Gespenst der Armut dar und auch nicht die Bedrohung, die von dieser ausgeht, sondern eine bestimmte, schreckliche Beteiligung am Ruin der Dinge, die sich zugleich im Verfall der Leiber widerspiegelt. Kein Angebot von Freiheit scheint in der Lage zu sein, dieser Verelendung zu entgehen. Kein emanzipatorisches Projekt reicht bis hierher, zur Rettung der Letzten, die sich unter diesen zoniers befinden. In der Tat zeigt das Foto von Atget die Auswirkungen der industriellen Produktion auf das Leben der Menschen: Wie der Lumpensammler, der auf seinem Lumpenhaufen sitzt, so ist der Mensch zu einer quantité négligeable geworden – also zu einer Kleinigkeit gegenüber der Menge der industriellen Waren und Abfallprodukte. Gegenüber der produktiven Kraft, dem Werk der Maschinen und der Menschen, die dort ununterbrochen arbeiten, ist die Anwesenheit des chiffonnier ein Fast-Nichts, oder im besten Fall ist sie eine rein zufällige. So durfte er durch Atgets Foto das seltene Privileg genießen, ein einzigartiges Dokument seines Lebens zu hinterlassen und zwar ausgerechnet dank der Lumpen, die er gesammelt hatte. Es sind diese Lumpen, die zuerst das Auge des Fotografen anziehen, ihnen ist auch seine Existenz als Lumpensammler untergeordnet. Man könnte sogar sagen, dass die Lumpen sein Körper sind – der Körper des Lumpenkönigs findet in den Lumpen seinen eigentlichen Umfang, denn dieser Körper beginnt und endet dort, wo die Lumpen beginnen und enden. Wenn er 4
Zum Chiffonnier und Lumpensammler als Denkfigur vgl. auch den Beitrag von Barbara Thums „Im Zweifel für die Reste“ im vierten Kapitel.
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sprechen würde, würde er vielleicht sagen: Das ist mein Leib – so sehr ist seine Existenz an die Lumpen gebunden. Nicht nur sein Körper, sondern auch derjenige der Frauen und Kinder besteht aus Lumpen, sie sind aus dem gleichen ungewissen und prekären Material wie die Lumpen gemacht, von dem ihre Leben abhängen. Die Lumpen sind nicht so sehr das äußere Zeichen, sondern die greifbare Realität einer Produktionskette, die die Menschen aus der „Zone“ vom Genuss der Güter, die sie produziert, ausschließt. Es gibt nichts auf diesem Foto, das an die Macht des Haufens erinnern würde, wie sie von Elias Canetti in Masse und Macht beschrieben worden ist, nämlich als ein äußeres Zeichen des Triumphs eines Mächtigen gegenüber seinen Gegnern, die er besiegt und getötet hat, um ihre Leichen zu einer Art Podest für seinen Triumph zu stapeln. Eine solche Vorstellung ist eng mit der Idee einer Erhebung verbunden. In diesem Fall bildet die Anhäufung das Vorzeichen eines seltsamen Siegestraums über den eigenen Tod, der sich dem Sterben der anderen verdankt. Auf Atgets Foto scheint ein anderes Paradigma durch: Die Grausamkeit ist diejenige, die der Lumpensammler erlitten hat, und sie besteht vor allem in seiner Auszehrung als Mensch, aus der eine bloße namenlose Kreatur heraustritt.
4. Ausbeutung des Lebens In dem einzigen Dokument, das von diesem chiffonnier überliefert worden ist5, erscheint dieser inmitten seiner Lumpen, die sein einziges Vermögen darstellen, und zur gleichen Zeit ist er inmitten ihrer Anhäufung, die potentiell ins Unendliche erweiterbar ist, aber auch immer zu klein, ja ungenügend ist, um davon zu leben, verloren. Daher ist es schwer zu sagen, ob er zu den Räubern oder zu den Opfern der Gesellschaft gehört. Oder ob er sich nicht eher an der namenlosen Schnittstelle zwischen beiden befindet, denn er hat von den ersten die Grausamkeit derer, die ihr Leben auf feindliche Umgebungen ausdehnen wollen, und mit den anderen teilt er die Niederlage, die diejenigen auszeichnet, die nichts anderes können als überleben. Das Kreatürliche, das wir im chiffonnier erkennen, ist Bestandteil einer Ausbeutung, die das Grundgesetz seiner Zeit war. Er verwertet wieder, bzw. er ist Teil der großen Maschine der Wiederverwertung. Teil davon zu sein, heißt nicht nur daran teilzunehmen, sondern auch nichts anderes als ein Teil, der kleinste vielleicht, zu sein. Wiederverwertung bedeutet hier, dass das Prinzip der Produktion gleichsam restlos alles in sich aufzunehmen vermag. Das Prinzip der Wiederverwertung folgt, anders gesagt, dem Prinzip einer Einverleibung und 5
Indem das Bild die einzige uns verbleibende Spur aus dem Leben eines „infamen Menschen“ ist, trägt es den Charakter einer visuellen „nouvelle“, wie sie Michel Foucault in seinem kurzen Text Das Leben der infamen Menschen zu fassen sucht. Zu visuellen Dokumenten der Infamie vgl. auch Bärbel Küster „Gesten des Dokumentierens − Archive des Scheiterns“ im dritten Kapitel.
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Verarbeitung des Realen, das als restlos gedacht wird. Da tritt die Notwendigkeit in Kraft, auch aus den Abfällen Wert zu extrahieren, also aus dem, was als wertlos angesehen wurde, zumindest in den Augen eines Außenstehenden, der das Potential der neuen Gottheit, der Industrie und aller ihrer Maschinen und Geräte ignorieren würde. Wo andere nichts anderes als Abrieb, Verlust, Erschöpfung, wertlose Ruinen sehen, gilt es, den Wert herauszuziehen und zurückzugewinnen: Es ist eine Art ontologischer Kampf. Dies setzt die Vorstellung von einer Welt als unbedingte Verfügbarkeit voraus: Die Welt wird dadurch immer mehr zur Reserve für eine grenzenlose Ausbeutung, in der nichts unversucht bleiben darf, um sicherzustellen, dass die Überreste der Produktion und selbst die Abfälle des Verbrauches nicht verloren gehen, sondern dass sie in die allgemeine Profitmaximierung zurückgeführt werden. Dieses Prinzip der Ausbeutung kann dann gewiss auf alle möglichen Bereiche ausgedehnt werden, zumindest solange es ein Minimum an Materie gibt, die das möglich macht. Eine solche Ausbeutung der Ressourcen involviert auf sehr unterschiedliche Weisen sowohl die herrschenden als auch die dominierten Klassen. Dem elenden chiffonnier wird selbstverständlich nichts anderes angeboten als die unterste Stufe dieses Procederes. Wenn die Ausbeutung auch für die Lumpen gilt, dann deshalb, weil letztere damals den extremen Rand des Gebietes des bekannten Ausbeutbaren darstellten. Die Ausbeutung betrifft somit die gesamte Skala des technisch Nutzbaren: Mineralien, Pflanzen, Erde, Wasser, Leben, ganze Körper oder Teile davon bis hin zu den Resten und Abfällen. Sie werden wieder in den wirtschaftlichen Kreis der Produktion aufgenommen. In einem gewissen Sinn ist diese Ausbeutung eine Art Re-Produktion: Die Produktion der Produktion, ein Produzieren, das seinen Ausdruck darin hat, dass nichts verloren gehen darf, was noch Profit bringt.6 Das Leben des Lumpensammlers von Atget ereignet sich genau in dieser Zone.
5. Was von Atgets Lumpensammler übrig bleibt Betrachten wir nun noch einmal sein Portrait: Er ist dort solange sitzen geblieben, bis sein Bild auf der Platte verewigt war. Er ist den Anweisungen des Fotografen gefolgt, hat sich in Pose gestellt zusammen mit seinen Waren, denen er seinen Auftritt verdankt. Doch das Auge neigt dazu, nur das fertige Bild zu sehen. Was unweigerlich abwesend bleibt, ist die Anstrengung, die nötig war, diese Lumpen zu sammeln. Was die Fotografie darstellt – den Lumpensammler und die seiner Lumpen –, scheint dort in einer endlosen Stille stehen geblieben. In der Fotografie scheint alles still zu stehen im Einklang mit dem Gesetz der 6
Zur epistemischen Auswertung der Reste und Abfälle des wirtschaftlichen Kreislaufes unter postkolonialer Perspektive am Beispiel Australiens vgl. Nina Jürgens „,One man’s trash is another man’s treasure‘“ im vierten Kapitel.
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fotografischen Optik. Die Ruhe dieser Szene hat beinahe den Charakter einer ländlichen Idylle am Rand der Großstadt. Man vergisst dabei leicht, dass es um dieses Leben und diese Lumpen einen Wirbel gibt, der den Lumpensammler in den unerbittlichen Rhythmus aus dem Tempo der industriellen Produktion und der Zeiten des Hungers zwingt. Der Haufen besitzt etwas Formloses, das nicht auf die Arbeit und die Mühe der Menschen zurückgeführt werden kann. Es ist, als seien jene Lumpen auf dem Foto einfach angeschwemmt worden; sie haben eigentlich das Gesicht einer Landschaft nach einer Katastrophe, die alles zertrümmert hat. Nichts ist mehr wie es war, alles wurde dort verschüttet, alles ist verloren gegangen. So sprechen diese Lumpen nicht so sehr von dem wenigen Geld, das der chiffonnier für seine arme Ware erhalten wird. Sie sprechen vielmehr von einer unvergleichbaren Ruine. Dies macht jedoch Atgets Lumpensammler noch lange nicht zu einem Vertreter seiner Epoche oder Zeugen einer sozialen Situation. Er ist durchaus ein Überlebender der Katastrophe, er ist ihr stummer Zuschauer, ohne dass er die angemessenen Worte hätte, um uns davon zu erzählen. Selbst wenn für uns, die wir heute diese Fotografie betrachten, die Zeit sehr weit zurückzuliegen scheint, müssen wir dennoch anerkennen, dass wir weiterhin in diesem Zustand leben, dem ein namenloser Lumpensammler der Porte dʼAsnières einst sein Gesicht geliehen hat.
6. Dazwischen Das, was den ärmlichen und bereits halb verfallenen Dingen der Baracken an der Porte d’Asnières eine Überlebenschance verliehen hat, war zweifelsohne die Kunst von Atget. Der Kühnheit des Fotografen verdankt sich diese Chance. Gleichzeitig zeigt sich hier die moderne Überlebensform der Dinge: Einzig indem sie zu Bildern geworden sind, durchqueren sie die Zeit. Diese Bilderform ist nicht der postumen Existenz der Gegenstände gleich. Sie ist vielmehr ihr Rest, der sich dadurch auszeichnet, dass darin sowohl die Anwesenheit als auch die Abwesenheit des Gegenstandes enthalten sind. Ein Rest ist die exzessive Präsenz dessen, was zugleich fehlt. In diesem Sinne verbindet die Szene des chiffonnier zugleich die Anwesenheit des Gegenstandes als Bild und seine Abwesenheit als Gegenstand. Besser gesagt ist sie zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, zwischen Bild und Ding verortet, auf der Schwelle zwischen den beiden. Mit einer solchen phantomartigen Struktur hat die zweite Szene zu tun, die ich hier einführen möchte. Eine solche Struktur − oder besser: Erscheinung − ist mir bei meinem letzten Besuch der „Gedenkstätte Dachau“ begegnet. Ich versetze nun den Blick von Atgets Bildern auf andere Lumpenhaufen. Lumpenhaufen, die die Reste der in der europäischen KZ-Landschaft vernichteten Menschen kennzeichnen. Die Reste – Kleider, Schuhe, Koffer, Brillen usw. – einer
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als restlos gedachten Vernichtung scheinen das zu sein, was man als „Ansammlung“ bezeichnet. Was verbindet eine Sammlung mit einer Ansammlung? Und was trennt sie voneinander? Inwiefern hat die Ordnung einer Sammlung immer noch mit dem Chaos eines Haufens zu tun?
7. Von einem Besuch in Dachau Es wird hier von einem Versprecher die Rede sein. Zur Vorbereitung dieser Thesen über die Sammlung und das Prinzip der Anhäufung habe ich mich entschlossen, nach mehr als zwanzig Jahren nach meinem ersten Besuch noch einmal nach Dachau zu fahren, diesmal mit dem Fahrrad durch grüne Felder. Ich fuhr hin mit einem Erinnerungsbild im Kopf, das ganz deutlich war: Es ging um einen Haufen Schuhe, auf dessen Suche ich mich jetzt machte. In meiner Erinnerung war dieser Haufen, den ich mir im Museum der Gedenkstätte vorstellte, immer noch sehr klar vor meinen Augen: aufdringlich, unschön, abstoßend, entsetzlich. Die erste Überraschung war, dass das Museum inzwischen ein neues ist und die Ausstellungsordnung und ihre Exponate vor ein paar Jahren verändert worden sind. Auf der Suche nach den Schuhen bat ich eine Wärterin um Auskunft, deren Antwort lautete: Es gäbe keine Schuhe in Dachau, ich würde Dachau mit Auschwitz verwechseln (wo ich im Übrigen nie gewesen bin). Das, was ich damals gesehen habe, sei wahrscheinlich ein Foto aus Auschwitz gewesen, das „aus wissenschaftlichen Gründen“ – so hieß es – bei der Neugestaltung des Museums entfernt worden sei. Die Schuhe gibt es in Dachau also nicht. Und wahrscheinlich gab es sie nie, weder im alten noch im neuen Museum. Insofern erweist sich das Erinnerungsbild, das meinen letzten Besuch in Dachau geleitet hat, als Trugbild der Erinnerung, das sich, losgelöst von seinem anscheinend wahren topographischen Bezug (Auschwitz?), in einen anderen Kontext hineinprojeziert hatte. Das ist in der Tat – könnte man knapp sagen – die Struktur des Phantoms: Das Autonomwerden von Erinnerungen, die nicht mehr auf ihren ursprünglichen Kontext verweisen. Es ist der Punkt, an dem sich der bildliche Widerschein eines Gegenstandes von seinem ,realen‘ Kontext loslöst und eine eigene Realität beansprucht. Seine Eigenständigkeit ist aber niemals rein imaginärer Natur, sondern das, was uns als real gilt. Obwohl die zwei Ebenen immer heterogen bleiben, lässt sich ihr Geflecht nicht auflösen. In diesem Sinne ist jedes Bild, selbst ein Trugbild, immer mehr als nur ein Bild. Denn als solches hört es nie auf, Bestandteil des Realen zu sein. Wer denkt, dass das Phantom eine klare Sicht auf die ,Realität‘ verhindert, vergisst, dass das, was wir ,Realität‘ nennen, von der Präexistenz bestimmter Bilder abhängt. Wer behauptet, dass wir die Realität einzig durch unsere (subjektive und übersubjektive) Phantome schauen, sollte dabei nicht unberücksichtigt lassen, dass das, was die Psychoanalyse nach Sigmund Freud „Realitätsprüfung“ nennt,
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nicht das Urteil ist, ob eine Vorstellung der Realität entspricht, sondern vielmehr die Feststellung, dass der Bezug der Vorstellungen zur Realität stets ein traumatischer ist, ja dass es nicht um eine Übereinstimmung der Vorstellungen mit der Realität geht, sondern vielmehr, dass die „Realität“ einzig kraft der Gültigkeitsunterbrechung vorgeprägter Bilder und Vorstellungen erfahren wird. Das Foto oder die Fotos des Schuhhaufens waren in meiner Erinnerung von ihrem bildlichen Charakter abgelöst und avancierten zu materiellen Gegenständen. Diese Verwechselung beruht aber – möchte ich hier als Hypothese hinzufügen – auf einer Kluft, die entsteht, wenn ein Zuviel an Gegenständen auf ein Zuwenig an Sinn stößt. Hier zeigt sich ein Bedürfnis nach Bildern, das just in der Verwechselung zum Ausdruck kommt, wobei hier weder Gegenstände noch Bilder ausreichen, um so etwas wie einen Sinn zu komponieren.
8. Immer noch der Schuhhaufen Kommen wir aber auf die ,vernünftige‘ Rede der Wärterin zurück: Es gab nie Schuhe bei uns in Dachau, nur in Auschwitz. Es handelt sich hier um eine Überlappung von „es gibt“ und „es gibt nicht“, die wohlgemerkt nicht synchron ist. Darin sind Greifbarkeit und Ungreifbarkeit gleichermaßen präsent, sie fallen – wie im Traum gesehen – mit dem Konsistenzverlust von Dingen, die nirgendwo sind und dennoch sehr auf- und eindringlich werden können, zusammen. Hier scheinen die Dinge keinen eigenen Platz mehr zu haben oder zu finden. So begegnen wir ihnen immer an einer anderen Stelle als erwartet, einer Stelle, die nicht ihre eigene ist. Eine irgendwie falsche Stelle bzw. etwas Falsches behalten dadurch auch alle unsere Wahrnehmungen und Erinnerungen. Oder vielleicht geht es eher darum, dass keine Stelle mehr wahr und daher auch nicht mehr falsch ist. Es sind Orte gespenstischer Begegnungen, d. h. von Begegnungen mit etwas absolut Mobilem. Was bedeutet das genau in Bezug auf ein ehemaliges Konzentrationslager, auf eine Gedenkstätte, also auf einen organisierten Ort der organisierten Erinnerung?7 Anstelle der in der neuen Ausstellung abwesenden Schuhe finden sich in der Literatur (und selbstverständlich auch im Netz) immer wieder Bilder von Schuhhaufen. Es handelt sich also um Bilder: Aber welcher Natur sind sie? Wenn ich an meine Erinnerung an die alte Gedenkstätte denke, so irreführend sie war, merke ich, dass das Gespenstische an dieser Erinnerung darin besteht, dass offensichtlich ein Foto zum Gegenstand geworden war und an Stelle der Gegenstände, die dort hätten sein können/sollen, getreten ist. Der dort nie vorhanden gewesene Schuhhaufen drückt den Restcharakter solcher Gegenstände und der damit verbundenen Erinnerungen (selbst der Erinnerungsbilder) aus. Es
7
Vgl. dazu Marcuse 2001, Legacies of Dachau.
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sind Reste der Zerstörung, ja der Vernichtung, die sich in das gespenstisch Vorhandene der Erinnerung eingeschrieben haben, als ob sich die Vernichtung als Wende in der Geschichte über solche Haufen in unsere Gegenwart eingetragen hätte.8 Und dies unabhängig davon, ob die Museumsverwaltung sich „aus wissenschaftlichen Gründen“ für das Ausstellen oder für das Entfernen entscheidet. Wohlgemerkt: Anders als die klassische Sammlung verspricht diese Häufung keinen Sinn. Vielmehr verkörpern diese Reste zusammen mit dem Verfall, der ihnen anhaftet, die Enttäuschung aller Versprechen, deren bildlichen und materiellen Verlust. Im Unbestimmten einer zerlumpten, gehäuften Menge von Gegenständen kann das Auge auf der Suche nach Details zunächst nichts sehen. Das materiell Unbestimmte verdoppelt sich in dem visuell Unbestimmten. Aber in ihrer visuellen Unbestimmtheit füllen die Lumpen den ganzen Raum, verwischen jede Spur, jede Sichtbarkeit. Erst langsam beginnt man Details zu sichten: Kinderschuhe oder Fußabdrücke, Kratzer an einer Brillenlinse, Risse in den Kleidern ...
9. Lernen, erinnern, sortieren Wenn in einer klassischen Sammlung die Dinge von ihrer Nützlichkeit, von ihrem Gebrauchswert losgelöst werden und als solche darin einen auratischen Raum, ja eine Form der Re-Auratisierung erfahren, muss man bemerken, wie in der Kultur der KZ-Gedenkstätten die Dinge einen neuen Gebrauchswert finden: nämlich den Wert der Vorstellung (des Grundes der Vorstellungskraft), der zugleich der Wert einer didaktischen Kraft im empathischen Sinne ist und dadurch auch die Aufgabe hat, Stellvertreter dessen zu sein, was irreparabel verloren gegangen ist. Dies ist konsequent durch die Umgestaltung des KZs in einen Gedenkort realisiert worden. Hier findet eine gewisse Übersetzung der Geschichte in übertragbare ,Fakten‘, also in Daten statt. Gleichzeitig lässt sich die diskrete Präsenz des Gespenstischen, also einer anderen Logik, aus dem musealen Raum nie ganz ausschließen. Die Dinge bekommen im Gedenkort zwar eine neue Bedeutung, eine neue Rolle, aber dies, ohne aufzuhören, Reste einer Vernichtung zu sein, d. h. Gegenstände, die von der Geschichte der Vernichtung markiert bleiben. Das betrifft auch die Aufgabe einer „Vermittlung“, die selbstverständlich das Hauptinteresse der Institution einer KZ-Gedenkstätte ist, die aber so verstrickt in den Aporien bleibt, eine „Schule der Gewalt“ zum „Lernort“ zu machen, wie es offiziell heißt, dass sie noch von Bildern Gebrauch macht, die von den NS-Tätern gemacht worden sind, ohne überhaupt darauf hinzuweisen. Wenn eine gewisse „Anonymität“ der 8
Als detailloser Haufen kommt diesen Dingen eine andere Zeugenschaft, eine andere ,Stummheit‘ zu als den im Kontext der Vertreibung und Vernichtung von Besitzer zu Besitzer wandernden Dinge. Zu Letztem vgl. den Beitrag von Dörte Bischoff im ersten Kapitel „Vom Überleben der Dinge“.
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Exponate für die alte Ausstellung bezeichnend war9, tritt im neuen Museum ein Zwang zum historischen Nachweis − hier eine Musealisierung − in Kraft, die so den anonymen Rest und mithin die namenlosen letzten Besitzer dieser Reste restlos zu bekämpfen versucht. So geraten die namenlosen Opfer genauso wie die namenlosen Gegenstände noch stärker ins Abseits, in den Schatten der erzählten bzw. erzählbaren Biographien. Wie Detlef Hoffmann eindrucksvoll in seinem Buch Das Gedächtnis der Dinge zu zeigen wusste10, bestand die Alternative bei der Errichtung der Gedenkstätte entweder in einer kompletten Auflösung aller Reste des Lagers oder in einer Gestaltung der Erinnerung, die aber stellvertretend sein müsste für die verschiedenen Gruppierungen der Häftlinge (Katholiken, Kommunisten, Konservative usw.) und deren jeweilige Vorstellungen. Zwischen diesen zwei extremen Polen bewegten sich alle Maßnahmen um das KZ-Gelände mit dem Ziel, einen eindeutigen Sinn der Geschichte als Vergangenes und Nie-Wiederkehrendes zu liefern. Die museale Struktur, die auf dem KZ-Gelände entstand und sozusagen das KZ ablöste und zugleich fortsetzte, übt eine Art Exorzismus moderner Form aus, indem sie eine versöhnende Bedeutung des Ortes generierte und festgelegte.
10. Exit Viele Künstler haben sich mit dem Thema der Reste beschäftigt und haben die Reste selbst zum Gegenstand und sogar zum Prozess ihres künstlerischen Schaffens gemacht. Ich möchte mich hier aber eher auf eine Reflexion auf das spezifische Medium „Sprache/Schrift“ beziehen, nämlich auf diejenige, die in Jochen Gerz’ Arbeit „Exit. Das Dachau-Projekt“ angesprochen wird. Im Umgang der Kunst mit den „Relikten“ der Geschichte gilt es nämlich zu zeigen, wie solche Reste etwas Unumgängliches beibehalten und als solche unsere Landschaft, kulturell, aber auch materiell durchdringen. Gerz’ Projekt ist so interessant, weil es sich auf die sprachliche Ebene des Problems beschränkt: Es betrifft die sprachliche Dimension als Dimension der Reste der Vernichtung und es leistet dadurch mehr als eine bloße Zurschaustellung. Gerz’ Dachau-Projekt ist 1972, also im Jahr der Umwandlung des KZs in einen Gedenkort, entstanden. Die Baracken waren abgerissen worden, nachdem sie mehrere Jahre von Flüchtlingen und Vertriebenen bewohnt waren. So war „eine große, leere, sauber mit Stacheldraht und Wachtürmen umzäunte und bewachte Fläche entstanden“11, wie wir sie heutzutage kennen. Das umliegende Gebiet der SS-Kasernen wurde hermetisch abgeriegelt und unbetretbar gemacht, „obwohl oder weil hier mehr Spuren aus der Zeit vor der Befreiung zu
9 10 11
Vgl. dazu Rez 1995, Erinnerung für die Zukunft. Vgl. Hoffmann 1998, Das Gedächtnis der Dinge, 6-31. Hoffmann 1997, Von den Bildern auf der Leinwand, 112 [Herv. G. S.].
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sichern wären, als im leer geräumten Schutzhaftlager“12: „Kirche, Kloster, Denkmal folgen verschiedenen Strategien, das Territorium des ehemaligen Konzentrationslagers ‚sinnvoll’ zu machen.“13 Gerz’ Projekt besteht indessen darin, die in Dachau aufgenommenen Fotografien der Hinweisschilder und Beschriftungen in einer Edition zugänglich zu machen. Das Editionsprojekt versteht sich als eine Untersuchung der Sprache, die in der Gedenkstätte verwendet wird. Frappierend sind nicht nur bestimmte Ähnlichkeiten zwischen Alltagssprache und Nazisprache, sondern auch der fraglose Umgang des Museums mit dem Ort, der heute das KZ und seine Geschichte vermittelt. „Diese Sprache stellt sich selbst für den Einzelnen so dar, als würde sie nicht nur für alle gelten, sondern als käme sie von allein.“14 Selbstverständlich braucht jeder Ort ein funktionales Zeichensystem, das seine Angebote signalisiert und dadurch brauchbar macht. Auf dieser Ebene bewegt sich aber die Arbeit von Gerz nicht, vielmehr befragt das Dachau-Projekt die frappierende Ähnlichkeit zwischen Welten, die unterschiedlich hätten sein sollen. Sprache ermögliche beides, so Gerz, sowohl die „Lebensbeschränkung“ als auch das, „was allgemein als lebensbereichernd gilt (Museum/Kultur)“15. Das Projekt macht diese unheimliche Nähe spürbar. Da fängt die Latenz des KZs an, im Museum zu spuken, genauer: in der Sprache, die das Museum ungeniert verwendet, um das KZ seinen Besuchern beim Gang durch das KZ zu vermitteln. Gerz’ Projekt hat mit der Ununterscheidbarkeit von Geschichte und Imaginärem zu tun, genauer gesagt: mit dem Nachleben der Geschichte im Imaginären, indem es die in der Gegenwart vorhandenen Spuren des scheinbar Vergangenen sichtbar macht und den chronologischen Abstand der Epochen, d. h. die Abfolge als Ordnung der Geschichte infrage stellt. Die Einfachheit der chronologischen Ordnung wird abgelehnt.
11. Aus dem Museum Das Vergangene blitzt im Museum auf. Doch das ist nicht alles: Denn auch das KZ hatte sein Museum, „seinen Vorzeigekomplex“. Es geht Gerz also nicht darum, das Museum (als Ort des Gedenkens) gegen das KZ (als Ort der Vernichtung) einander gegenüberzustellen, wie dies in der Rhetorik der Nachkriegszeit der Fall war, sondern ihre tiefe Implikation auszuloten.16 So werden Worte Relikte, und die Sprache trägt Spuren der Vernichtung, als lebendiger Teil der Geschichte, der angereichert wurde durch all das, was die Sprache selbst erlitten hat. Die Sprache zeugt hier nicht so sehr vom Museum als paradoxe Verhüllung des KZs, sondern vielmehr von der Existenz einer mémoire involontaire der 12 13 14 15 16
Ebd., 113. Ebd. [Herv. G. S.]. Gerz/Levy 1978, EXIT. Das Dachau-Projekt, 137 [Herv. G. S.]. Ebd. Vgl. Material des Museums, zitiert in ebd., 21.
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Orte: Es geht um einen unbeabsichtigten Wiederholungseffekt, der sich da einnistet und stärker ist als jegliche Musealisierung. Es ist vielleicht das, was Gerz selbst später als „Realität des Verwalteten“ gegenüber der „Verwaltung der Realität“ beschrieben hat. Wir sind hier mit zwei unterschiedlichen Verfahren konfrontiert: Im musealen Dispositiv gilt die Beschriftung statt der Einschreibung. Die Beschriftung ist die Benennung, oder auch: die Übersetzung der Welt in jene kleinen Wissensteile, die „Informationen“ heißen. Vielleicht ist es das, was Gerz’ Arbeit zu zeigen gelingt: die Eingrenzung des Restcharakters, die Eingrenzung der Reste durch die museale Struktur als solche. Und ihre Ersetzung durch Informationen wird konfrontiert mit einer stärkeren, wenn auch zuerst unsichtbaren Erinnerung, die wie die Sprache selbst Restcharakter hat. Im Museum verschwindet der Lumpenhaufen als eine letzte, extreme, kaum erkennbare oder an die Grenze ihrer Erkennbarkeit gekommene Form des Menschlichen – trotz und inmitten der Vernichtung. Es verschwindet somit auch der Restcharakter jener Lumpen, der stets die Bedrohung mit sich bringt, formlos und unerkennbar zu werden. Ist heute eine solche Gedenkstätte in der Lage, die Herausforderung der Unerkennbarkeit (oder zumindest deren Gefahr) anzunehmen? Sind die Besucher, wir als Besucher, in der Lage, uns an die Grenze der Erkennbarkeit zu wagen oder ist das tiefe Begehren nach Ordnung, Erkennbarkeit und Struktur nicht eine meist unbewusste Verlängerung dessen, was wir heute als Katastrophe bezeichnen?
12. Europa als KZ-Landschaft So erscheinen die Lumpenhaufen, die Reste jener KZ-Landschaft, die Europa ist, als das Vergängliche und zugleich als eine nie aufhörende Frage. Selbst wenn sie einzig als Abfallprodukte betrachtet werden, Zufallsprodukte einer Ausbeutungsindustrie, deren Werk unvollendet blieb, wirken sie immer noch. Wenn wir Erben sind, dann von der Last solcher Abfälle, die keine Sammlung im klassischen Sinne bilden. Aus einem im Jahr 2009 in Die Zeit erschienenen Artikel über die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau entnehme ich die Auskunft, der zufolge sowjetische Soldaten über 80.000 Schuhe fanden, nachdem sie das Lager Ende Januar 1945 befreit hatten. 8.000 davon waren Kinderschuhe. Und das war nur ein Bruchteil. Denn die Viehwaggons, in denen sich auf der Hinfahrt die Menschen gedrängt hatten, waren nicht leer zurückgerollt, sondern gefüllt mit den Habseligkeiten derer, die beraubt und ermordet worden waren.17
So gehören zum Bestand des heutigen Museums in Auschwitz auch „3.800 Koffer, 120.000 Töpfe, Tausende von Brillengestellen (40 Kilogramm ineinander 17
Franz 2009, Die letzten Dinge.
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verhakte Metallgestelle und Glas – gezählt hat sie bis heute noch niemand), 460 Prothesen und fast 250 Regalmeter akribisch geführter Dokumente. Hinzu kommen 155 Gebäude, etwa 300 Ruinen, mehr als 13 Kilometer Zaun mit 3.600 Betonpfeilern, Wege, Schienen, Entwässerungsrohre und Kanalisation.“18 Jede Gedenkstätte, jeder Erinnerungsort dieser Art verfügt über ähnliche Inventare. Der Widerspruch zwischen Bauten, die für ein Ziel (die Vernichtung) geschaffen worden waren, das so schnell wie möglich zu erreichen war, und der konservatorischen Absicht des musealen Projekts ist offensichtlich. Das führt z. B. zu folgendem Paradox: Die Schuppen wurden ursprünglich als Pferdeställe aus Fertigbauteilen konstruiert. Für den moorigen Untergrund Birkenaus waren sie nie geeignet, die Wände saugen das Wasser auf wie ein Schwamm. Alle paar Jahre müssen sie erneut behandelt werden, ebenso die dünnwandigen Steinbaracken.19
Eine solche Erbschaft stellt nicht nur Konservationsfragen. Dabei muss ich an einen Satz von Georges Bataille denken: Comme vous et moi, les responsables d’Auschwitz avaient des narines, une bouche, une voix, une raison humaine, ils pouvaient s’unir, avoir des enfants [...] comme les Pyramides ou l’Acropole, Auschwitz est le fait, est le signe de l’homme. Désormais l’image de l’homme est inséparable d’une chambre à gaz.20
Nicht nur das Menschenbild ist aber von den Gaskammern untrennbar, sondern auch unsere Landschaft: untrennbar von den Gaskammern wie von den Lumpenhaufen, selbst wenn sie dort verschwunden sind, wo sie einst lagen. Deren Einschreibung in die schöne Landschaft, in die Schönheit der Städte, in die Idylle Europas ist Bestandteil einer Erbschaft, in die wir als Europäer verstrickt sind und für die noch Worte gefunden werden müssen.
13. Die Ansammlung als Parodie der Sammlung Anders als die Pyramiden oder die Akropolis sind aber die Haufen von zerlumpten Gegenständen, Schuhen, Brillen, Kleidern so vergänglich, dass es unmöglich erscheint, ihnen einen Denkmalcharakter zuzusprechen. Daher die Fragen: Wie viel testamentarische Kraft tragen und ertragen die wertlosen Lumpen? Wie verhalten sich die wertlosen Reste in Bezug auf die Frage nach Erbschaft? Wie ist der „Schicksalscharakter“ der Gegenstände, der für Benjamins Ausführungen zur Sammlung in seinem kleinen Text so zentral ist, in Bezug auf Reste zu verstehen, zumal wenn diese Reste Spuren einer Vernichtung sind?
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Ebd. Ebd. Bataille 1988, Sartre, 226-228.
NACH DER SAMMLUNG
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Wir befinden uns offensichtlich in einem anderen Horizont als demjenigen der Sammlung. Wir könnten sogar sagen, dass die Gegenwart längst nicht mehr eine Epoche der Sammlung ist, weder in der Praxis noch in der Theorie. Und dies trotz der Verbreitung des Wortes „Sammlung“ und des Rekurses auf Sammlungen als Simulakren einer Gesellschaft, die dazu neigt, die Geschichte neu zu schreiben oder zu erfinden. Die Ordnung der Sammlung fällt aus, weicht einem anderen Paradigma, das dasjenige der Ansammlung oder besser gesagt der Anhäufung ist. Von diesem Standpunkt aus ist die Frage nach der Sammlung eine anachronistische und nur als solche eine entscheidende, denn ihr Interesse liegt darin, die gegenwärtige Zeit in ihrer Unfassbarkeit zu einer möglichen Lesbarkeit zu führen. So sind Sammlungen immer auch die Parodie dessen, was sie schon waren und nicht mehr sind: die Parodie des Anspruchs, die Welt zu bewahren, zu schützen, und in ihren Bestandteilen, egal wie groß oder klein, zu ordnen und verständlich zu machen. Wie der Misserfolg eines der ersten Entwürfe des Shoah-Denkmals in Berlin – der Versuch alle Opfernamen in eine riesige Steinplatte einzugravieren – schon zeigte, kann eine Vernunft, die sich über eine solche alle Namen umfassende Leistung definiert, nur ins Absurde führen. Nicht zuletzt führt sie zum Streit über vergessene Namen und vor allem darüber, wer als Opfer genannt werden darf. Stattdessen bleibt nur die Anhäufung übrig, sie ist ein unbeabsichtigtes Denkmal der Gegenwart.
14. Heute auf Lampedusa Seit Kurzem versucht das „Museo delle Migrazioni“ auf der Insel Lampedusa, Vorposten Italiens und dadurch der Europäischen Union kurz vor der Küste Afrikas, eine andere Sicht auf die Migration und auf die alltäglich gewordene Katastrophe der Schiffbrüche der Migranten auf dem Weg nach Europa zu entwickeln. Das Museum versteht sich als Ansammlung der verschiedensten Spuren der Migration. So werden dort Schiffwracks, unbrauchbare Gegenstände, Kleiderreste, vergammelte Bücher und all das, was das Meer aus solchen Überfahrten aufbewahrt und an die Küste Lampedusas spült, angehäuft. Es geht hier offensichtlich um eine ganz andere Geste: eine Archäologie der Gegenwart, einer so nahen Gegenwart, dass uns Worte und Wissen häufig gänzlich fehlen, um die historische Wende, die sich gerade vor unseren Augen ereignet, wahrzunehmen, geschweige denn zu verstehen. Im Museum der Migration auf Lampedusa wird keine Unterscheidung zwischen edlen und weniger edlen Spuren gemacht. Hier wird jede einzelne Spur aufbewahrt, hier zeigt sich das Menschliche als Produkt seiner Reste. Die meisten Artefakte sind einfache Dingen (eine Schachtel mit Babymilch, eine beschädigte Bibel, ein Koran, verlorene Fotografien ...). Sie mögen trivial und unbedeutend erscheinen. Wo solche Artefakte kein spektakuläres Museum zu bilden ermöglichen, wird die Unterhaltungsfunktion des Museums infrage
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gestellt. Gleichzeitig bezeugt nichts wie diese Sammlung die radikale Veränderung der europäischen Landschaft, die immer noch darauf wartet, in all ihren Implikationen gedacht zu werden. Dieses Museum spricht nicht nur unseren Wissensbedarf an, es wirft auch Fragen über die Wahrnehmung der Epoche und des Raumes auf, in denen wir leben. Es weckt uns aus einer Haltung der Gleichgültigkeit gegenüber dem, was gerade in der Geschichte Europas passiert. In diesem Museum auf Lampedusa, das tausende von Kilometern entfernt vom glänzenden Europa liegt, gibt es vielleicht nicht viel zu sehen. Seine konsequente Subtraktion von Wissenselementen fordert uns auf, uns mit einer Geschichte, die nicht definiert werden kann, aber die zu den konstitutiven Teilen unserer Gegenwart gehört, auseinanderzusetzen. Die Anhäufung von Elementen besitzt hier die Kraft, auf eine andere Weise zu sagen, was heute passiert und was nicht zu sehen ist. Es ist eine Erinnerung an die Namenlosen, deren Spuren in unserer Gegenwart beharren. Diese stummen Gegenstände sprechen von verlorenen Orten, vom Verlust eines Ortes, in dem man leben könnte, sie sprechen von der riesigen Wasserfläche, auf der kein Leben möglich ist, und auf der kein Denkmal errichtet werden kann. Vielleicht ist dieses Museum der Migration das einzig mögliche, eine Art unwillkürliches Denkmal für diejenigen, die namenlos bleiben. Ein Denkmal, in dem Erinnerung und Vergessen zusammenfallen, wo aber die Spuren, die aus dem Meer zurückkehren, bewahrt werden. Vielleicht sind wir nur dank eines solchen Ortes in der Lage, eine Erinnerung an die „Namenlosen“ zu wagen, wie sie von Walter Benjamin kurz vor seinem Selbstmord auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus gefordert wurde: Eine Erinnerung, deren einzige wirkliche Aufgabe es ist, über die Geschichte nachzudenken.
GISELA ECKER
„AUFGESPARTE GUMMIRINGE NIE BENUTZTE GRIFFEL“. NICHT-STERBLICHE ÜBERRESTE IN DER GEGENWARTSLITERATUR
Die Dinge, mit denen ich mich hier befasse, sind Reste einer besonderen Art. Anders als gemeinhin als Reste verstandene Dinge verweisen sie nicht in erster Linie auf eine generalisierbare taxonomische Ordnung, an der sie ex negativo teilhaben, sondern auf eine individuelle Person und ihre private ‚Ordnung‘, die nach dem Tod der Person kollabiert. Mit den zurückgelassenen Gegenständen muss etwas geschehen, nachdem sie in neue Hände geraten sind; die Dinge werden umsortiert, umverteilt, verschenkt, gespendet, als Erinnerungsstück aufbewahrt, verkauft, ent-sorgt, weggeworfen. Das mit solchen Aufgaben befasste überlebende Subjekt, das meist selbst in Prozesse der Trauerarbeit verstrickt ist, kommt nicht selten in Entscheidungsnöte, für die es keine Lösungen gibt und an deren Ende die Aktionen der Haushaltsauflöser und Entrümpler stehen. Ausgangspunkt ist also eine anthropologische Grundsituation, die sich historisch spezifisch darstellt, denn als gesellschaftliches, ökonomisches und ökologisches Problem taucht die Frage eines solchen Ent-sorgens erst mit Entstehung der Überflussgesellschaften auf1; zuvor war es dagegen – und grob vereinfacht – sehr viel mehr um Erbschaften als Band und Botschaft zwischen den Generationen gegangen. Während die eine Praktik Fragen von Wert und Unwert aufwirft, geht es in der anderen sehr viel mehr um Kontinuität und Bewahren, mithin weniger um die Dingkategorie „Reste“. Wenn wir den Blick gezielt auf diese Dinge lenken, so eröffnet sich ein Schauplatz einer mindestens doppelten Krise, denn neben dem trauernden Subjekt sind auch die Dinge in eine Krise geraten; sie werden mit dem Tod des ihnen Wert und Nutzen zuweisenden Subjekts schlagartig zu ‚Resten‘ und in der Folge dann kategorial umgewidmet und auseinandergerissen: Ihre Dingbiographien werden durchkreuzt, die Dingensembles − oder mit Hahn formuliert „Parataxen“2 der Dinge – aufgebrochen, Sammlungen und An-Sammlungen aufgelöst oder neu eingegliedert. Ent-sorgen, dieser erst seit den siebziger Jahren entstandene euphemistische Begriff, bedeutet auch ent-sammeln; doch gleichzeitig werden ja die Dinge, wenngleich
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Zum Sammeln unter veränderten Bedingungen der Überflussgesellschaft vgl. auch den Beitrag von Barbara Thums „Im Zweifel für die Reste“ im vierten Kapitel. In Materielle Kultur greift Hans Peter Hahn auf eine von Roland Barthes geschaffene Schriftmetapher zurück und bezeichnet das Nebeneinander von Dingen als „Parataxe“. Hahn 2005, Materielle Kultur, 125.
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unter Druck und nach den Vorgaben der Verwertungsmöglichkeiten, neu zugeordnet, denn sie werden in einer Spanne zwischen Müll und Memorialobjekt kategorisiert – also neu gesammelt beziehungsweise neu versammelt. In erstaunlich vielen Texten der Gegenwartsliteratur wird nun auf einen solchen lebensweltlich basierten Fundus von Erfahrungen und Praktiken des Wieder-Sammelns oder Re-Sammelns zurückgegriffen und detailliert, oft in exzessiven Auflistungen, auf die verhandelten Dinge eingegangen. Dingtheoretisch betrachtet, kann man aus diesen literarisch vorgeführten Momenten der Krise und des abrupten Bruchs viel über Dinge und die Praktiken der Zuweisung von Bedeutung lernen, insbesondere wenn wir auf diejenigen Dinge achten, die nicht intentional weitergegeben werden, sondern der mit ihnen befassten Person als Aufgabe unvermittelt und schockartig zufallen. Jenseits der Trauerarbeit bedrücken die Dinge aufgrund ihrer Fülle, besitzen eine für das Subjekt aufdringliche Präsenz, indem sie Raum und Zuwendung (im Akt des Neusortierens) beanspruchen und Handlungen provozieren, die sich als unabschließbar erweisen. Die von mir zitierten literarischen Texte deutschsprachiger und US-amerikanischer Literaturen befassen sich in poetisch umgeschriebener, sachlich zugespitzter und nicht selten rhetorisch ausschweifender Form mit Dingen in einer solchen, durch den Tod herbeigeführten Unordnung und bieten Lesarten an, mit denen eine verallgemeinernde Rede über Reste weiter differenziert werden kann. In den von mir gewählten Texten verarbeiten die ProtagonistInnen den Tod von ihnen nahestehenden Menschen: von geliebten Partnern3, Müttern4, Vätern5, Onkel und Großeltern6. Auffällig ist, dass die von den Autoren selbst gewählten Gattungsbezeichnungen nur selten zwischen autobiographischen und nicht-autobiographischen Genres differenzieren; deutlich als Roman bzw. Erzählung ausgewiesen sind die Texte von Bergmann, Honigmann, O’Nan, Rothmann, Lahiri, Geiger und Schertenleib; wenn man auf den jeweiligen Pakt mit den Lesern achtet, sind Didions und Oates’ Bücher (die auf große Resonanz gestoßen sind) am stärksten autobiographisch ausgerichtet, und dazwischen bestehen Variationen von Durchmischung der Genres. Achtet man auf die Schreibweisen und Kunstgriffe, zum Beispiel auf die Neologismen und atemlosen Rhythmen bei Lentz, oder das, was Mayröcker „[d]ieses mein poetisches Verfahren nämlich poetisches Herzklopfen“7 nennt, erweist sich eine solche Unterscheidung ohnehin als wenig sinnvoll. 3
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Vgl. Didion 2005, Year of Magical Thinking; Mayröcker 2001, Requiem; Mayröcker 2005, Und ich schüttelte; Oates 2011, Widow’s Story; Meier 2005, Ob die Granatbäume blühen sowie O’Nan 2011, Emily Alone. Vgl. Lentz 2004, Muttersterben; Schreiner 2005, Heißt lieben sowie Rothmann 2000, Milch und Kohle. Vgl. Auster 1988, Solitude; Honigmann 1993, Eine Liebe; Lahiri 2004, Namesake sowie Schertenleib 2001, Der goldene Fisch. Vgl. Bergmann 2011, Teilacher; Dückers 2003, Himmelskörper und Geiger 2007, Es geht uns gut. Mayröcker 2005, Und ich schüttelte, 63.
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Die im Folgenden gebotene Rundschau über unterschiedliche Dingkategorien ist, wie der Untertitel anzeigt, ein Parcours durch ‚nicht-sterbliche Überreste‘. Diese Bezeichnung lehnt sich assoziativ an die Rede von den sogenannten ‚sterblichen Überresten‘ (auf Englisch mortal remains) an, einem in vielen Kontexten (zum Beispiel im Jargon der Seefahrer) eingesetzten euphemistischen Begriff für ‚Leiche‘ bzw. Teile davon, wonach ‚nicht-sterbliche Überreste‘ die Fülle der hinterlassenen Dinge bezeichnen kann. Es scheint, als ob die verfügbaren Begriffe nicht ausreichen und man sich auf die Suche nach besseren Bezeichnungen machen müsse. Gottfried Fliedl zum Beispiel hat den Begriff des „Überlebsels“ geprägt, mit dem er den Aspekt des Weiterlebens der Dinge in den Vordergrund stellt.8
„verwaiste“9 Dinge Ohne die Person, die den Dingen um sie einen Sinn gegeben hatte, werden diese „herrenlos“, sie sind nicht nur ihrer Funktionen, sondern auch ihrer kategorialen Zuordnungen beraubt. Friederike Mayröcker zitiert ihren Partner Ernst Jandl, im Text mit „EJ“ benannt, der diesen Zustand schon vorausgesehen habe: und EJ sagte, ich spüre den Tod dasz er nahe ist und ich denke er hockt irgendwo ganz in der Nähe bei uns, und dann werden die Dinge die jetzt einen Platz haben keinen Platz mehr haben also herrenlos sein und alles was jetzt noch Bedeutung für uns hat wird uns dann verlassen haben [...] die Dinge um uns herum, diese leere Weinflasche auf dem Tisch, dieser Flaschenöffner, dieser Aschenbecher, dieses Buch: es wird dann ohne Bedeutung sein ja das ganze mit uns verfilzte Chaos wird aus unserem Fleisch herausgerissen und weggeworfen werden, wird Abfall geworden sein, wertloses Zeug, und alles was uns jetzt so bedeutungsvoll so vertraut umgibt, wird weggefegt, wird verlorengegangen, wird verschwunden sein, wird sich nie wieder so zusammensetzen lassen, nicht wahr.10
Als die Protagonistin in Barbara Honigmanns Roman Eine Liebe aus nichts in die Wohnung ihres verstorbenen Vaters zurückkehrt, erkennt sie, dass „die Erinnerung aus den Gegenständen herausgefallen war; jetzt würden sie weggeworfen werden oder weggeschenkt und andere Leute können ihre Geschichte wieder neu hineinlegen, aber die Geschichte meines Vaters war darin zu Ende, in den Dingen hielt sie sich nicht mehr.“11 Der Entrümpler bei Margit Schreiner
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Fliedl 2005, Rest, Überrest, Überlebsel, Survival, 40: „Überlebsel sind nicht nur Spuren eines einstigen Lebens, sie sind, wie der Begriff ja nahe legt, nicht nur tote Dinge, sondern als Relikte weiter lebendig [...].“ Bergmann 2011, Teilacher, 7: „Der junge Mann lief im Zimmer umher, sah auf die verwaisten Bilder, Möbel, Bücher, Medikamente und Toilettenartikel und war fast ängstlich, sie zu berühren.“ Mayröcker 2005, Und ich schüttelte, 161-162. Honigmann 1993, Eine Liebe, 9 f.
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sagt: „Alles wertlos“12 und nivelliert differenziertere Zuordnungen, was die Protagonistin am Ende auch einsieht und wiederholt: „Alles ist wertlos.“13 Was erst im gelebten Alltag in einer sinnvollen Ordnung stand, wird nun zum Chaos und stürzt das mit den ‚Resten‘ befasste Subjekt in Verwirrung, wie auch bei Michael Lentz: Wer in aller welt soll das denn noch zusammendenken/-leben? Ein zettel voller namen ein unbeschriebenes namenpaket. Rezepte fotos rezepte. Und das foto mit opa im arztkittel und kleine unverbrauchte dinge die niemand mehr braucht. Aufgesparte gummiringe nie benutzte griffel. Eine welt eine unfertigungshalle. Ein pass. Ein wort. Ein nicht mehr zurückkommen. Ein hinunterfallen.14
Den Dingen ist nicht einmal mehr anzusehen, ob sie Teile von unvollständigen Sammlungen waren oder sich nur angesammelt haben; in Lentz’ atemloser Diktion: Ordnungssysteme registraturen. Denn was du nie verlierst das musst du stets beweinen. Das hätte von ihr sein können. Sie hat nichts verloren. Sie hat alles abgelegt. Sie hat nicht mal sagen können, meine ordnung sieht immer so unordentlich aus. Ihre ordnung sah aus wie alle ordnung. Ein aufzählen bloß. Ein dahinlegen. Schlüsselsysteme. Schlösser unauffindlich.15
Jenseits eines potentiellen materiellen Werts geht es um eine erneute Bedeutungszuweisung der Dinge, exemplarisch formuliert bei Oates: The challenge is, to live in a house from which meaning has departed, like air leaking from a balloon. […] The terror of mere ,things‘ from which meaning has drained – this is a terror that sweeps over the widow at such times […]. For no things contain meaning – we are surrounded by mere things into which meaning has been injected, and invested. Things hold us in thrall as in a kind of hypnosis, hallucination.16
Ohne Ordnungskategorien und ohne Bedeutungs- und Funktionszuweisung sind die „verwaisten“ Dinge zurückgeworfen in einen Zustand ohne taxonomische Ordnung, wofür Schreiner ein vielsagendes Bild findet: „Wenn die Eltern sterben, versinkt ihr Haus im Schlamm. Jeder, der einmal nach dem Tod seiner Eltern die Wohnung der Kindheit auflösen mußte, weiß, wovon ich spreche.“17
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Schreiner 2005, Heißt lieben, 72. Ebd., 73. Lentz 2004, Muttersterben, 148. Ebd., 148. Oates 2011, Widow’s Story, 227 [Herv. i. O.]. Schreiner 2005, Heißt lieben, 100. In Arno Geigers Familienroman Es geht uns gut taucht das Motiv des undifferenzierten Rests mehrfach auf: Im Dachboden als Ort der Aufbewahrung von Dingen des Familiengedächtnisses wirken die Gegenstände schon auf die Großmutter als „verklumpt“ (362), bis sie in der Gegenwart der Enkel dann durch Taubendreck „knöchel- und knietief mit Dreck überzogen“ (7) sind. Ulrike Vedder untersucht solche genealogischen Dachbodenfunde in Stifters „Die Mappe meines Urgroßvaters“ hinsichtlich ihrer geschlechtsspezifischen Codierung, vgl. „Gendered objects“ im ersten Kapitel.
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Auch die Unterscheidung zwischen belebt und unbelebt gerät durcheinander. „[A]s a widow I will be reduced to a world of things“18 und „[t]he wounded individual, the widow, has been disembodied“19, heißt es bei Oates. Für Auster nimmt der Tod eine Aufspaltung des Menschen vor: „Death takes a man’s body away from him. In life, a man and his body are synonymous; in death, there is the man and there is his body.“20 Bei Lentz wird nicht nur die tote Mutter zum Ding, sondern auch der Sohn, der selbst zum dinglichen Rest, zum „Überbleibsel“, wird: „[I]hr ganzer körper ist eine regungslose marionette, deren fäden jemand verworren hat.“21 „Jetzt wo sie tot ist, ist sie fremd. Wie kommt das, wenn einer tot ist, ist er fremd. Wo denn das wo ist. Ist ihr leben eine erinnerung, die fremd ist, fragt sich jetzt das überbleibsel.“22
„Verlassenschaftssachen“ Mit dieser Wortschöpfung benennt Mayröcker23 die letzten mit sich geführten Dinge der Toten, die den Hinterbliebenen vom Krankenhaus oder dem Bestattungsunternehmen übergeben werden. Wer oder was es ist, der/das hier verlassen wird, bleibt mehrdeutig. Bei Auster ist es der vom undertaker überreichte eingefettete Siegelring des Vaters, der dem Sohn einen Schock versetzt; in Rothmanns Roman, der gerahmt wird durch die Szene, in der die Wohnung der verstorbenen Mutter aufgelöst wird und die beiden ungleichen Brüder Simon und Triska aufeinandertreffen, überreicht Simon seinem Bruder eine Tüte: „,Was ist das? Ein Geschenk?‘ ‚Der Rest‘, sagte ich. ‚Ihr Gebiß.‘“24 Im Befühlen dieses dinglichen „Rests“ löst sich im erstarrten Triska ein Trauma. Gleichzeitig aber ist es auf erschütternde Weise ein Ding am falschen Ort, denn der Sohn erinnert sich, dass die Mutter sich niemals ohne Gebiss zeigen wollte. Die Witwe in The Year of Magical Thinking, um noch ein Beispiel anzuführen, listet fassungslos die ‚letzten‘ Dinge auf, die ihr vom New York Hospital übergeben worden sind, darunter a New York State driver’s licence, due for renewal on May 25, 2004; a Chase ATM card; an American Express card; a Wells Fargo MasterCard; a Metropolitan Museum card; a Writers Guild of America West card […]; a Medicare card; a Metro card; and a card issued by Medtronic with the legend ,I have a Kappa 900 SR pacemaker implanted‘, the serial number of the device, a number to call for the doctor who implanted it, and the notation ,Implant Date: 03 Jun 2003‘.25 18 19 20 21 22 23 24 25
Oates 2011, Widow’s Story, 63 [Herv. i. O.]. Ebd., 301. Auster 1982, Solitude, 14. Lentz 2004, Muttersterben, 143. Ebd., 148. Mayröcker 2005, Und ich schüttelte, 157. Rothmann 2000, Milch und Kohle, 202. Didion 2005, Year of Magical Thinking, 17-18.
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Über die körperliche und zeitliche Nähe zur verstorbenen Person erhält diese Gruppe von Dingen eine besondere auratische Aufladung: „Die Aura […] ist weder in den Dingen noch liegt sie in der Summe der wechselnden Zuschreibungen. Ihre Sphäre ist eher ein Vorstellungsraum, der zwischen dem Gegenstand und seinen Zuschreibungen vermittelt“26, schreibt Geimer. Zugleich verlängert sich über das Ensemble solcher aufgezählten Karten und Ausweise die Zugehörigkeit zur weiter bestehenden sozialen Lebenswelt. Wenn einmal der Blick geschärft ist, fällt auf, wie oft in der Gegenwartsprosa Listen dieser ‚letzten Dinge‘ erstellt werden.27 Gogol, der Sohn in Jhumpa Lahiris Roman The Namesake, der die am Dienstort seines verstorbenen Vaters zurückgelassenen Dinge ohne Rest entsorgen soll, registriert diese erschrocken: Gogol is given the clothes his father had been wearing, navy slacks, a white shirt with brown stripes, a gray L.L.Bean sweater vest that Gogol had gotten him for Christmas one year. Dark brown socks, light brown shoes. His glasses. A trench coat and a scarf. The items brim to the top of a large paper shopping bag. There is a book in the pocket of the trench coat, a copy of The Comedians by Graham Greene, with yellow pages and tiny print. […] In a separate envelope he is given his father’s wallet, his car keys.28
In solchen Szenen verlangsamt sich das Erzählen auf extreme Weise. Listen wie diese setzen sich an die Stelle der Kommentierung von emotionalen Reaktionen und ersetzen diese durch die Präzision der Benennung und Beschreibung.
Kram Auffällig ist, dass es nicht die besonderen Besitztümer des verstorbenen Menschen sind, die in den Texten auftauchen, etwa ein Gemälde, ein Schmuckstück, ein schönes Kleid, sondern es sind vielmehr der unbedeutende Kram, die banalen Alltagsdinge. Einerseits belasten diese das überlebende Subjekt aufgrund ihrer materiellen Fülle, andererseits aber suggeriert der ungeordnete, angesammelte Kram im Prozess des Trauerns eine Nähe, die einem intentionalen Sammeln nicht in der gleichen Weise zugeschrieben wird. „Und ich nach Hause kommen werde, sage ich, und du nicht da sein wirst, sage ich, und ich dein Zimmer betreten werde und dein Kissen berühren und ich deine Schuhe in den Regalen betrachten werde und dein Gewand und deine Schirmkappe, Brille und Schweizermesser.“29 So klagt die Verlassene in Mayröckers Requiem und versucht, die Nähe noch weiter zu intensivieren: „Mich
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Geimer 2005, Über Reste, 116 [Herv. i. O.]. Vgl. Christine Blättlers Ausführungen zur Liste in ihrem Beitrag „Die Serie als Ordnungsmuster“ im zweiten Kapitel. Lahiri 2004, Namesake, 172 f. Mayröcker 2001, Requiem, 13.
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hineinweinen ins ungefegte Nachtgewand, wilde Tröstung, mich in seine Nachtwäsche zu verweinen, auf seinem Bett, usw.“30; „habe Herzschmerzen habe seine Boxerhose hervorgeholt, sage ich zu Leo N., und übergezogen, auch meine Mutter trug die Armbanduhr meines verstorbenen Vaters und seinen Siegelring bis zu ihrem eigenen Tod, sage ich zu Leo N.“31; „ach zerrissene Zeichen, jetzt droht alles zum Fetisch zu werden, nicht wahr“32. Mayröckers Bild von einem „Trödel von Spuren“33 erfasst eine Vorstellung, nach der – spätestens seit Freud34 – Unintentionales, Versprecher und spontane Fehlhandlungen sehr viel mehr über das Subjekt aussagen als die wohlüberlegten Handlungen, die bereits Sublimierungen und Kontrollen durchlaufen haben, in diesem Sinne auch als die Unterseite von Sammlungen verstanden werden können und ungeordnete Ansammlungen von Dingen als Ergebnis wiederholter, habitualisierter Alltagshandlungen erscheinen lassen.35 „Je banaler die Gegenstände, so lautet die Botschaft, die den Dingen abgerungen wird, umso unmittelbarer ihre Zeugenschaft, umso mehr wird ein ‚Leben‘ eingefangen, umso näher und greifbarer rückt die Person“36. Solche Dinge werden erst dann als ‚Reste‘ wahrgenommen und in Texten benannt, wenn sie aus dem automatisierten Gebrauch herausgeworfen sind.
Umsortiertes − Aussortiertes Im Akt des Ent-sorgens werden in der Regel die meisten Dinge in einer anderen Kategorie als der ursprünglichen untergebracht, da das sinngebende Zentrum, um das sie versammelt waren, nicht mehr existiert. Gleichzeitig müssen sie auch Platz machen für diejenigen Dinge, die den Ort ihrer Versammlung neu einnehmen sollen. Das überlebende Subjekt hat zu entscheiden, was mit ihnen geschehen soll, und gerade weil es ein trauerndes Subjekt ist, sind dabei selten allein rationale Kriterien im Spiel. Im Akt des Trauerns geht es ja insbesondere darum, sich mit der Abwesenheit der geliebten Person zurechtzufinden, und so zeigen gerade die Blockaden und Schwierigkeiten im Wegwerfen an, dass das Sinnzentrum, wenn auch in verblassender Form, immer noch existiert. Die Literatur findet dafür ein breites Spektrum von Illustrationen, in Form von Handlungsblockaden bis hin zu überraschenden und absurden Reaktionen. So durchlebt der Sohn in Austers Text „a time of reckless and absurd decisions: sell it, throw 30 31 32 33 34 35 36
Ebd., 17 [Herv. i. O.]. Ebd., 31. Ebd., 41 [Herv. i. O.]. Ebd., 10. Freud 1986, Psychopathologie. Vgl. Schneider 2005, Versprechen, der die Fehlhandlungen als Reste und Abfall bezeichnet. Ecker 2006, Kramschubladen, 28. Vgl. auch Geimer 2005, Über Reste, 114: „Ein Gegenstand kann noch so alltäglich, abgenutzt oder gar hässlich sein: als Reliquie, Memorabilie oder Nachlass kommt er gleichwohl in Frage.“
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it out, give it away“37 und gerät schließlich völlig unerwartet aus der Fassung, als er die Krawatten des Vaters mit ihren vielen, in der Kindheit eingeprägten Mustern, an eine Charity-Institution weggibt. Die Tochter bei Schreiner wirft alle Dias der Mutter in einen Müllsack, um sie gleich wieder weinend herauszuholen und wahllos zurückzustellen: „Vielleicht, dachte ich, habe ich so eine neue Ordnung geschaffen.“38 Die langen literarisch ausgebreiteten Aufgabenlisten dessen, was aussortiert werden soll, werden durch Handlungsblockaden gestoppt, wie bei Oates und Didion: „I could not give away the rest of his shoes. I stood there for a moment, then realized why: he would need shoes if he was to return“39; ein im Titel des Buchs bereits angekündigtes magisches Denken, das auch andernorts in vielen Versionen auftaucht. Auch der kaputte Wecker und der Bücherstapel am Kamin bleiben unberührt und wie unberührbar an ihrem Ort. Oates’ Witwe gibt schließlich in einem Akt von Verschiebung anstelle der Kleider ihres Mannes ihre eigenen weg, nur um den von außen erwarteten Ritus einzuhalten. Dazu passt Mayröckers Klage: „[U]nd ich leerte meine Manteltaschen und trug die mottenzerfressenen Anzüge, seine, EJs mottenzerfressene Anzüge zur Altkleider Sammlung und es schnürt mir die Kehle“40. Über das die Dinge umwidmende Sortieren wird wenigstens einem Teil davon wieder ein Gebrauchswert zugewiesen; für Auster warten sie als „tangible ghosts“ in personalisierter Form geradezu darauf: „What is one to think, for example, of a closetful of clothes waiting silently to be worn again […] Or the stray packets of condoms strewn among brimming drawers of underwear and socks?41 Stellvertretend für viele andere Texte kann bei Auster ein Blick auf die Prozession derjenigen Institutionen und Privatpersonen geworfen werden, die sich die Reste aufteilen: Relatives swooped in, asking for this piece of furniture or that piece of dinnerware, trying on my father’s suits, overturning boxes, chattering away like geese. Auctioneers came to examine the merchandise (,Nothing upholstered, it’s not worth a nickel‘), turned up their noses, and walked out. Garbage men clumped in with heavy boots and hauled off mountains of trash. […] The real estate agent came to buy some furniture for the new owners and wound up taking a mirror for herself. A woman who ran a curio shop bought my mother’s old hats. A junkman came with a team of assistants (four black men named Luther, Ulysses, Tommy Pride and Joe Sapp) and carted away everything from a set of barbels to a broken toaster. By the time it was over, nothing was left. Not even a postcard. Not even a thought.42
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Auster 1988, Solitude, 12. Schreiner 2005, Heißt lieben, 69. Didion 2005, Year of Magical Thinking, 37. Mayröcker 2005, Und ich schüttelte, 133. Auster 1988, Solitude, 10. Ebd., 12 f.; vgl. auch Schreiner 2005, Heißt lieben, 72 f.
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Was hier nicht wieder gebraucht oder in Geld umgewandelt oder an Charity weitergereicht wird, landet im Müll. Den Akten des Kategorienwechsels entsprechen die Institutionen und Zugehörigkeiten der Gruppen, denen Dinge überlassen werden. Die Dinge als Überrest sollten sich restlos auflösen, wären da nicht die Unwägbarkeiten einer gänzlich individuellen, irrationalen neuen Bedeutungsaufladung. Dass die scheinbar wohltätigen Akte keine Gaben sind, sondern doppelt ent-sorgen, einmal rein materiell gesehen, zum anderen durch eine nach außen bequem legitimierbare sekundäre altruistische Motivation, daran lässt keiner der von mir durchgesehenen Texte einen Zweifel. Ein Teil der Reste wird produktiv gehalten, das entlastet.43 Deutlich wird, dass mit dem Tod Prozesse eingeleitet werden, die zeitlichen Schemata folgen, wie sie von psychologischen Modellen der ‚Trauerarbeit‘ erklärt werden. Emily, Protagonistin in O’Nan’s Roman, kümmert sich um Dinge auf zwei Zeitachsen, zum einen um ihre eigene Hinterlassenschaft und zum anderen um das, was sie selbst zu entsorgen hat. In ihrem alljährlichen „big spring cleaning“44 entledigt sie sich nach und nach der Dinge ihres geliebten Ehemanns, geht an die „sentimental exceptions“ ihrer Vergangenheit heran: „Hardest of all were those remnants of Henry’s she should have thrown out years ago“45. Anhand dieser kramt sie die Erinnerungen hervor und kann sich kaum dazu entschließen, die gänzlich unpraktischen Koffer einer Englandreise wegzugeben (für Charity): „She’d perform the same experiment last year, and the year before, the strength of her memories weakening her resolve, when, really, there was no compelling reason to hang on to them. […] So why did she feel like an executioner?“46 Umso entschlossener ergänzt sie fortlaufend die Vorgaben ihres Testaments mit einem stetig differenzierteren Sachinventar, das minutiös auflistet, an wen die von ihr hinterlassenen Dinge gehen sollen. Kram ist allerdings nicht enthalten.47
Fundstücke Dass der Nachlass einer verstorbenen Person erfreuliche oder unerfreuliche Fundstücke zutage bringen kann, ist einer der am häufigsten aufgerufenen Topoi, der literarische und filmische Plots strukturiert. Der Sohn in Austers Solitude findet in der Küchenschublade ein solches Stück, das den Vater endlich in einem positiven Licht erscheinen lässt; die Pflegerin im Altenheim Bergmanns
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Vgl. Krajewski 2009, Tabula Rasa, 30. O’Nan 2011, Emily Alone, 212. Ebd., 212 f. Ebd., 213 f. Emily listet auf: „[I]n her own tremulous hand, a dozen pages cataloging her jewelry, her silver and wedding china and crystal, the better furniture and Oriental rugs and artwork, even Henry’s old woodworking machinery, now valuable antiques.“ Ebd., 107.
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entdeckt einen Brief in der Tasche des Bademantels des Onkels, der die Herkunft des vermeintlichen Neffen klärt. In zwei Dokumentarfilmen, die in ihrem Umgang mit den vorgefundenen Resten und der verstorbenen Person nicht unterschiedlicher sein könnten, treffen Familienmitglieder im Akt des Aussortierens auf sorgfältig gehütete Geheimnisse: Thomas Haemmerlis Sieben Leichen und eine Mulde zeichnet die Auflösung der vermüllten Wohnung der Mutter des Dokumentarfilmers auf; dieser filmt, was ihm sensationell erscheint und zieht Familienfehden gnadenlos ins Licht der Öffentlichkeit.48 Die Wohnungsauflösung, die Arnon Goldfingers Dokumentarfilm Die Wohnung zum Gegenstand hat, fördert behutsam und akribisch Dokumente der Freundschaft zwischen den jüdischen Großeltern und der Familie eines SS-Offiziers zutage.49 Vergleichbares spielt sich in der Fiktion ab, wenn in Tanja Dückers‘ Himmelskörper die Enkelin auf dem Dachboden der Großeltern mit goldenem Papier beklebte Kästen findet, die – für sie völlig überraschend – neben Postkarten des „Führers“ viel weiteres nationalsozialistisch einschlägiges Material enthält.50 Von genau solchen ‚Resten‘ ist die deutsche Nachkriegsliteratur reichlich angefüllt und zeugt von der vielfältig manifestierten Kultur des Schweigens. Auch wenn die Suche nach Schätzen oder nachträglichen Erklärungen vergeblich bleibt, wie von Lentz formuliert, steuert sie den Umgang mit den hinterlassenen Dingen: Seit jahren vermute ich hinter den dingen und in den dingen truhen schachteln kammern einen schatz eine vertrautheit eine fotografische vollnarkose, die mich ins land meiner mutter entführt, die mich für einen weggeatmeten augenblick mal tapfer in ihrer landschaft stehen lässt.51
Dass gerade die Suche nach Fundstücken als Übertretung empfunden wird, formuliert Auster: Each time I opened a drawer or poked my head into a closet, I felt like an intruder, a burglar ransacking the secret places of a man’s mind. I kept expecting my father to walk in, to stare at me in disbelief, and ask me what the hell I thought I was doing. It didn’t seem fair that he couldn’t protest. I had no right to invade his privacy.52
In genau diese Form von Übertretung werden wir als Leser mit hineingezogen und zu Voyeuren gemacht, wenn wir in das Sammelsurium der überraschend zur Ansicht gegebenen Dinge Einblick bekommen, denn es ist vor allem der Kram, der nie zur Ansicht freigegeben worden war.
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Sieben Mulden und eine Leiche, 2007, Regie: Thomas Haemmerli. Die Wohnung, 2012, Regie: Arnon Goldfinger. Dückers 2003, Himmelskörper. Vgl. vor allem Kapitel 19, „Leere Kühlschränke, goldene Kästen“, 256-296. Lentz 2004, Muttersterben, 148 f. Auster 1988, Solitude, 11.
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Einverleibtes Auf dem Küchentisch, der als einziges noch geblieben war, standen eine Ketchupflasche, ein Glas mit Heringen, ein Glas Honig – sein Inhalt fest wie Bernstein –, ein Glas Gewürzgurken und eine Tube Meerrettichpaste. [...] Wir würden in den nächsten Wochen diese von einer Toten in den letzten Tagen vor ihrer Krankenhauseinlieferung angebrochenen Lebensmittel aufessen.53
Einverleibung ist eine der Möglichkeiten, über hinterlassene Dinge mit den Toten verbunden zu sein, wie hier bei Tanja Dückers.54 In der bereits erwähnten Szene, die Rothmanns Roman Milch und Kohle rahmt, sortiert Simon die Hinterlassenschaften seiner Mutter aus, kippt ganze Schrankfächer unbesehen in Plastiksäcke für das Rote Kreuz, desillusioniert darüber, dass die Mutter keine „persönliche Zeile“ zurückgelassen hat, bis ihm „ein Säckchen aus leicht vergilbtem Schleierstoff“ in die Augen fällt: „Es war mit einem rosa Band verschlossen und enthielt drei weiß kandierte Mandeln. Zuckermandeln.“55 Als er mit dem Ausräumen fertig ist, kommt der Bruder an, sucht erst nach dem versteckten Sparbuch, dann zerreißt er das für Simon zuvor endlich bedeutungsvoll erscheinende Säckchen und schiebt sich eine Zuckermandel in den Mund. Noch deutlicher geht es um Einverleibung in der Erzählung „Der goldene Fisch“ von Hansjörg Schertenleib. Die namenlose Protagonistin reist aus den USA in ein südfranzösisches Dorf zu ihrem sterbenden Vater. Im verlassenen Haus geht sie durch die Räume und empfindet alles fremd und abstoßend; einzig der Goldfisch erregt ihre Aufmerksamkeit. Sie erledigt nach dem Tod des Vaters alles Nötige: „Die Möbel ihres Vaters hat der Trödler abgeholt, das Haus hat sie einem Makler zum Verkauf übergeben.“56 Sie nimmt nur ein einziges Foto mit und steckt sich dann den Goldfisch in den Mund: „Der Fisch bewegt sich in ihrer Mundhöhle. Noch ist sie zu feige, ihn zu zerbeißen. Als sie das Ende des Gartens erreicht hat, breitet sie die Arme aus und schluckt den Goldfisch, ohne nachzudenken, hinunter. Sie wird ihn nach Amerika bringen.“57 Das Vorbild für einen Akt wie diesen ist die antike Artemisia aus dem vierten Jahrhundert v. Christus, die in der Trauer um ihren Gemahl Mausolos nicht nur das berühmte Mausoleum als eines der Weltwunder bauen ließ, sondern auch dessen Asche zu sich genommen hatte, um mit ihm vereint zu sein.58 Der verschluckte Goldfisch stellt einerseits Nähe zum Vater her, mit Laplanche/Pontalis gesprochen im Sinne von Einverleibung als „Matrix der Introjektion und
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Dückers 2003, Himmelskörper, 256 f. Zur Einverleibung als Form der Trauerbewältigung vgl. auch Barbara Natalie Nagel im vierten Kapitel „Enjambement des Rests“. Rothmann 2000, Milch und Kohle, 13. Schertenleib 2001, Der goldene Fisch, 207. Ebd., 208. Vgl. dazu Meise 1999, Witwe.
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Identifizierung“59, andererseits aber wird er damit als Rest aufgelöst und vernichtet.
Stellvertreter Reste, wenn sie im Museum ausgestellt werden, werfen die Frage auf, wie sie zu der Aura kommen, die sie als Exponat umgibt, insbesondere wenn es sich um unbedeutende Alltagsdinge handelt, denen man nichts Herausragendes ansieht. In Gerhard Meiers Ob die Granatbäume blühen spricht der Ich-Erzähler mit Ausnahme eines kurzen Abschnitts in der Mitte des Buchs die Verstorbene Dorli in direkter Rede an. Er rekapituliert mit ihr gemeinsam erinnernd die 60 zusammen verbrachten Jahre, die Reise-, Natur- und Kunsterlebnisse, und hält sie darüber auf dem Laufenden, was in der Zeit seit ihrem Tod in der Familie geschehen ist. Vergegenwärtigt wird sie über ihre Gartenschuhe, die er an ihrem Platz gelassen hat: [W]ie auch deine Gartenschuhe und Stiefel unter dem Schuppen stehn [...]. Diese Gartenschuhe stelle ich manchmal ein bisschen zur Seite, um herangewehtes Laub wegzuwischen, Halme, trockene Erde. Dann stelle ich sie wieder hin, deine Schuhe, unter den Tisch mit den zu kurzen Beinen, auf dem sich immer noch die goldfarbene Schuhschachtel befindet, voller Wäscheklammern, mit denen du Bettzeug, Tischtücher, Hemden festgemacht hast an der Leine im Schuppen, auch an jener im Freien.60
Wie Semiophoren61 vermitteln die Schuhe zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, doch mehr als Museumsstücke vermitteln sie die Illusion und Empfindung einer Präsenz, nicht nur durch ihre Gebrauchsspuren, sondern auch über die Nähe zum verlustig gegangenen Körper. Wenn sie Reliquien sein sollen, dann sind es Kontaktreliquien, da sie vorstellbar machen, noch kleinste Reste und Spuren des Körpers an sich zu haben, ähnlich wie bei Mayröcker: „[A]ch, sage ich zu EDITH, seine Handschrift liegt noch überall hier herum, sein Stock lehnt an der Tür ich fasse den Stock an und vermeine die Wärme seiner Hand zu spüren“62. „EJs“ Flechtschuhe sind nicht nur durch den Gebrauch gekennzeichnet, sondern zudem anekdotisch an die Faszination für das Wort gebunden: 59 60
61 62
Laplanche/Pontalis 1972, Vokabular, 128. Meier 2005, Ob die Granatbäume, 17; später wird dies wiederholt: „Dorli, zuweilen stelle ich deine Gartenschuhe ein bisschen zur Seite, wische herangewehtes Laub weg, Halme, trockene Erde. Und wenn ich durch Amrain gehe, habe ich manchmal ein Gefühl, als schritte ich durch meine Schreibe“ (45). Vgl. Pomian 1988, Museum. Mayröcker 2005, Und ich schüttelte, 228. Mayröckers „ungefegte[s] Nachtgewand“ findet eine Entsprechung in der Fortführung des väterlichen Tagebuchs durch die Protagonistin in Honigmanns Eine Liebe aus nichts, indem nur die Datumsangaben verändert werden. Vgl. Honigmann 1993, Eine Liebe, 99.
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Und er sagte die Flechtschuhe EJ sagte die Flechtschuhe und wir waren beide vernarrt in dieses Wort FLECHTSCHUHE, und er hatte sich öfter solche Flechtschuhe gekauft, aber eigentlich ging es nicht um den Kauf oder das Tragen solcher Flechtschuhe sondern einzig und allein um das Wort FLECHTSCHUHE und es hatte für uns eine ungeheure Anziehungskraft, und wir genossen es dieses Wort zu gebrauchen und ich fragte ihn am Morgen, wirst du heute wieder deine Flechtschuhe anziehen63.
Sie sind es dann auch, deren Anblick besonders berührt: „Und es stürzen die Tränen und wie ich im Fieber bin dies alles hin- und herauszuschreien und – schreiben nicht wahr, und die ledernen FLECHTSCHUHE neben unserem Lager und endlich alles voll Kläglichkeit und mir stürzen die Tränen“.64 Wie im Museum wird klar, dass die Wahl eines stellvertretenden Dings eine Setzung ist – ob es sich nun um die Schreibfeder Adalbert Stifters handelt oder den Nobelpreis-Anzug von Günther Grass (beides Beispiele, die Geimer65 nennt) – denn es hätten auch beliebig andere ausgewählt werden können. Die in der Literatur für eine ganz persönliche Beziehung gewählten Dinge, die eine solche Funktion erfüllen sollen, sind häufig überraschend und emotional höchst aufgeladen.66 Bei Schreiner werden haptische und olfaktorische Sprachbilder eingesetzt: „[U]nd an jedem Zettel, jedem Badetuch, jedem elektrischen Gerät klebt eine Geschichte, und ich bin ganz allein Tag und Nacht, immer wieder in der Kindheitswohnung allein, mit dem Geruch, der da noch haftet“67. Wenn Ulrike Vedder fragt, „in welcher Weise denn vergangenes Leben sich überhaupt an Erbstücke anzulagern vermag“68, dann ist diese Frage mit Bezug auf unbedeutende Alltagsgegenstände, die wir nicht als Erbstücke bezeichnen würden, einfacher zu beantworten, denn gerade das Übriggebliebene scheint sich wie selbstverständlich als Residuum mit Körperspuren aufgeladen zu haben.
Museales Die Unsicherheit darüber, welchen Status die sich als Ansammlung präsentierenden Dinge haben, ob sie nicht etwa Teile von Sammlungen sind, die im Aussortieren zerstört werden, drückt sich bei Lentz metaphorisch über das Museum aus: „Ob da nicht ein direktes museum ist, wenn einer seine schränke und türen, seine treppen und verliese zurücklässt, seine verschlusssache.“69 O’Nans Emily steigt von Zeit zu Zeit wie eine Ausstellungskuratorin in das Dachgeschoss ihres 63 64 65 66 67 68 69
Mayröcker 2005, Und ich schüttelte, 54 [Herv. i. O.]. Ebd., 75. Vgl. Geimer 2005, Über Reste. Zu Fragen der anthropomorphisierenden Objektbeziehungen vgl. Johnson 2008, Persons und Habermas 1999, Geliebte Objekte. Schreiner 2005, Heißt lieben, 67. Vedder 2011, Testament, 223. Lentz 2004, Muttersterben, 148.
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Hauses, um ihre memorabilia zu besichtigen und das Aussortieren voranzutreiben: „Whether she was doing penance or indulging herself, she regularly performed this rite, pawing through her horde of treasure like a curator, knowing it would change nothing.“70 Bei Lentz ist es der Kram als Ganzes, nicht das Einzelstück, der ein solches Museum ausmacht. Ulrich Krempels Blick auf das Museum aus der Perspektive der Reste bestätigt diese Sichtweise: „Das Museum sammelt. Es bringt Dinge zusammen, die in ihrem Zusammensein mehr Sinn machen als vereinzelt.“71 Ein tertium comparationis der hinterlassenen Dinge mit dem Museum ist, dass sie ein Ganzes in materialisierter Form wahrnehmbar machen.
Integriertes: neue Sammlungen Welche der hinterlassenen Dinge einen neuen Status mit Erinnerungswert bekommen, gehört zu den Überraschungsmomenten der Texte, die damit spielen, dass das Subjekt seine Motivationen für seine Wahl nicht preisgibt bzw. gar nicht preisgeben kann, da diese in Teilen unbewusst bleiben. Dem Unbewussten der verstorbenen Person, das sich in deren Kram ausdrückt, wird das Unbewusste der überlebenden Person an die Seite gestellt. Zu Schreiners mütterlicher Diasammlung, der „vielleicht“ eine neue Ordnung gegeben wurde, kommt zum Beispiel „die Knopfdose (das war die Dose mit den ersten Pralinen, die sie nach dem Krieg geschenkt bekommen hat, Brown und Haley’s, Chocolates steht darauf, ich habe die Dose noch immer und immer noch sind die Knöpfe drin)“72 – ein mit Erinnerungswert aufgeladenes Motiv der Kulturgeschichte. Bei Bergmann wird die Plattensammlung vom Neffen übernommen, die Büchersammlung wird der Bibliothek des Altenheims eingegliedert; was nicht so bemerkenswert wäre, wenn nicht gleichzeitig lange Listen der Platten und der Büchertitel und Autoren angeführt wären. Wie zwanghaft fühlt sich Emily von ihrer Memorabiliensammlung angezogen, die bereits den clutter ihrer Mutter enthält, und die Figur der Witwe bei Didion sammelt krampfhaft Immaterielles, nämlich bad omens, die ihr, früher erkannt, helfen hätten können, mit der Situation fertig zu werden.73 Dass es sich nicht immer um verehrte Reliquien handelt, zeigt sich bei Didion, die das Skandalöse der überlebenden Dinge thematisiert: „John’s mother was dead. John was dead. And I still had, of the ,Wickerdale‘ Spode, four dinner plates, five salad plates, three butter plates, a single coffee cup, and nine saucers.“74 In Didions neuem Buch, Blue Nights, kommt die Trauernde zu einem 70 71 72 73 74
O’Nan 2011, Emily Alone, 222. Krempel 2005, Reste, 157. Schreiner 2005, Heißt lieben, 65 [Herv. i. O.]. Vgl. Didion 2005, Year of Magical Thinking, 152 und 166. Didion 2011, Blue Nights, 163.
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ganz anderen Ergebnis als in The Year of Magical Thinking und lehnt es grundsätzlich ab, Dinge als Erinnerungsstücke anzusammeln: In fact I no longer value this kind of memento. I no longer want reminders of what was, what got broken, what got lost, what got wasted. There was a period [...] during which I believed I could keep people fully present, keep them with me, by preserving their mementoes, their „things“, their totems. The detritus of this misplaced belief now fills the drawers and closets of my apartment in New York. There is no drawer I can open without seeing something I do not want, on reflection, to see.75
Die Protagonistin führt uns dann von Schublade zu Schublade und präsentiert solche „objects for which there is no satisfactory resolution“76, die immer sinnloser und absurder werden, je mehr sie sich in das Öffnen von Schachteln und Schubladen hineinsteigert.
Gelistetes Bevor sich die Überlebenden der zu entsorgenden Dinge entledigt haben, diese in Wohlfahrtseinrichtungen abgeschoben, Verwandten überlassen, in Müllsäcke gestopft oder von Entrümpelungsfirmen abgeholt werden, treten die RestDinge literarisch versammelt und rhetorisch in heterogensten Listen akkumuliert auf, in Monumenten des Alltäglichen und Gewöhnlichen. Sie angemessen zu zitieren würde hier – wie schon in den Texten selbst – den Rahmen sprengen. Auffälligerweise sind es sehr viel weniger die umgewidmeten, in eine neue private Sammlung bzw. eine neue Gebrauchsfunktion aufgenommenen Dinge, sondern die wegzuwerfenden, die sich in den Texten gesammelt finden, in „Fundgrube und verschlossene[r] schatztruhe zugleich“77– mit Lentz’ Worten ausgedrückt. Die Listen sind, so Auster, „inexhaustible“, und das scheint gerade das Prinzip zu sein, sie sind unhierarchisch, scheinbar unkontrolliert, rhetorisch enumerativ und akkumulativ angeordnet. Der rhetorischen Anhäufung entspricht eine semantische, die, wenn man den performativen Aspekt der ResteListen bedenkt, Sinn macht, denn ihre rhetorische und semantische Überfülle (das Ablaufdatum des Führerscheins, die Bank der Kreditkarte, die Anzahl von Tassen und Tellern, die Farbe der zuletzt getragenen Socken, die Marke des Gebäcks im Küchenschrank und so fort) wird in eine Leere hineingeschrieben, die durch den Tod entstanden ist. Die Überlebenden haben gegen sie und mit ihnen zu kämpfen und verlieren nicht selten. Die Leistung der Literatur liegt darin, dass unbedeutende und gleichzeitig fordernde, unlösbare Fragen aufwerfende Reste die Grenzen des als literaturfähig Zugelassenen erweitern und nicht
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Ebd., 44. Ebd,. 45. Lentz 2004, Muttersterben, 148.
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explizit formulierte Sichtweisen auf die Beziehung von Subjekten zu den Dingen eröffnen. Aufgrund der Fülle und Heterogenität der aufgezählten RestDinge ist es den Lesern solcher Texte nicht mehr möglich, vorschnell von den Dingen zu symbolischen Bedeutungen zu springen.78 Genauso wie die trauernden Überlebenden werden sie mit einer (sprachlich aufgerufenen) Materialität konfrontiert, die sich im 19. Jahrhundert in der Literatur bereits angebahnt hat und in der Gegenwartsliteratur weitergetrieben wird. Eine Materialität, mit der die Überlebenden schockartig überflutet werden, eine Materialität, die der Materialisierung durch den Tod entspringt. Lösungen können nur unvollkommen und provisorisch sein: die „aufgesparte[n] Gummiringe und nie benutzte[n] Griffel“.
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Vgl. dazu die Szene, in der Gogol das Apartment seines Vaters leer räumt; zu Beginn die Inventarisierung: „He opens the cupboards, first the ones above the countertop, then the ones below. Most of them are empty. He finds four plates, two mugs, four glasses. In a drawer he finds one knife and two forks, a pattern recognizable from home. In another cupboard are a box of tea bags, Peek Freans shortbread biscuits, a fivepound bag of sugar that has not been poured into a bowl, a tin of evaporated milk. There are several small bags of yellow split peas and a large plastic bag of rice. A rice cooker sits mindfully unplugged on the counter. The ledge of the stove is lined with a few spice jars, labelled in his mother’s hand. Below the sink he finds a bottle of Windex, a box of trash bags, a single sponge.“ Lahiri 2004, Namesake, 175. Auch wenn die Dinge dieser Auflistung das einsame Leben des Vaters an seiner Universität illustrieren, gehen sie nicht in diesem Akt der Sinngebung auf; die Liste gibt überflüssige, überfließende Informationen und bedrängt den Leser.
SARAH SCHMIDT
FREMDEIGENE WORTRESTE − SPRACHE ALS SAMMLUNG IN HERTA MÜLLERS COLLAGEN
Mit dem Herausfallen aus einem semantisch-syntaktischen Kontext erfahren Worte und Buchstaben eine Verdinglichung, im Zuge derer sie auf sich selbst verweisen, Klang und Buchstabenmaterie sind und den Referenzcharakter scheinbar hinter sich gelassen haben. Ein derartiges „Desertieren“ oder „Verbannt-Werden“ aus dem Sprachsystem kann jedoch nie bis zu einem Nullwert geschehen, d. h. jedem Dingwort1 ist noch ein auf ein Minimum reduziertes Bedeuten eigen. Und jedes Bedeuten verweist auf eine vorangegangene Verwendung des Wortes. Es lässt sich also eine Spurenlese betreiben, Spuren des Gebrauchs und Spuren derjenigen Momente, in denen der syntaktisch-semantische Kontext verlassen, vergessen wurde oder zerbrach. Eine solche Lesung ist als spracharchäologische Geste, die im Anschluss an Freud ein durch Vergessen und Verdrängung verdecktes Sprechen freilegen kann2, nicht nur von sprachwissenschaftlicher oder sprachpsychologischer Bedeutung. Die Literatur nimmt seit ihren Anfängen, verstärkt jedoch mit der literarischen Moderne und angeregt durch die Psychologie, mit experimentellen literarischen Techniken wie der écriture automatique, eine solche Spurensuche unterhalb der Sinnkontrolle vor und sie erkundet und inszeniert mit Techniken wie der Collage und Montage Prozesse der Fragmentierung und des „AbfälligWerdens“3 von Sprache selbst. Im Folgenden möchte ich Herta Müllers Bild-Text-Collagen als eine Form der Nachlese verstehen, in der die zusammengesetzten Wortfolgen zu einer Spurenlese werden, in der auch dem Zwischenraum als dem Ausgelassenen, Leeren eine bedeutende Rolle zukommt. Das Produzieren von Wortresten, ihr Sammeln und Zusammenkleben ist somit nicht nur ein produktionstechnischer Trick, der in eine gewöhnliche Typographie überführt werden kann. Die aufsammelnde Geste setzt sich in den Collagen fort; diese stellen Sprache als Sammlung zur Schau, indem die Regelhaftigkeit des Gebrauchs der Sprache in den Hintergrund tritt und den Blick auf das Inventar der Sprache freigibt: auf Wörter, Buchstaben und Interpunktion. In der Sammlung dieses Sprachinventars aus ausgeschnittenen Resten wird jedoch deutlich, dass die Produktion eines neutralen Wörterbuches quasi am 1 2 3
Zur Dinglichkeit der Worte vgl. Sarah Schmidt & Mona Körtes Einleitung in das erste Kapitel. Vgl. dazu den Beitrag von Judith Kasper „Vom Ausscheren und Einsammeln der Buchstaben“ im ersten Kapitel. Vgl. dazu Schmidt/Körte, Einleitung in das erste Kapitel.
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Nullpunkt der Sprache nicht mehr möglich ist und jedes Wort als ein Fragment, als ein „Radikal“ auftritt, dem die Spuren seines Gesprochen-Seins noch anhängen. In einem ersten Schritt meiner Überlegungen konzentriere ich mich auf die Bild-Text-Collagen und untersuche Sprache als Sammlung auf drei Ebenen: im Produktionsprozess als konkretes Sammeln von Wörtern, dann als Gestaltungsprinzip der einzelnen Collagen und schließlich auf der Werkebene der CollagenSammlung als Sammlungs- bzw. Ordnungsstruktur. In einem zweiten Schritt möchte ich den Blickwinkel auf die Prosa und Essayistik Herta Müllers erweitern, um den Gründen für das Abfällig-Werden von Sprache nachzugehen, das nach Müller jedem Sprachprozess genuin eigen ist. Es darf mithin nicht nur als (subversive oder widerständische) literarische Technik verstanden werden, der ein exklusiv-literarisches Wissen innewohnt. Im Zentrum steht dabei neben Herta Müllers umfangreichem essayistischen Werk der Roman Atemschaukel, in dem die Collage in Form von Majuskelwörtern den Romantext infiltriert.
1. Hackbrett, Wörtertische und Wortschränkchen Immer dann, wenn eine Arbeitspause, ein Erschöpfungsloch nach dem Fertigstellen eines Prosawerkes auftrete – so gibt Herta Müller im Interview mit Beverley D. Eddy an − arbeite sie an Collagen.4 Scheinbar ebenso unspektakulär beschreibt sie die Entstehung der Collagen als eine kommunikative Notlösung: Viel auf Reisen nach ihrer Ausreise aus Rumänien habe sie Postkarten an Freunde schreiben wollen und sei auf Karten mit dummen Sprüchen und „grässlich missratene[n] Farben“5 gestoßen. Stattdessen entstanden, unterwegs im Zug, auf weißen Karteikarten mit Schere und Klebstift dann die ersten Collagen.6 Aus diesen bescheiden auftretenden Arbeiten in den Zwischenzeiten sind mittlerweile fünf große Sammlungen entstanden: 1993 Der Wächter nimmt seinen Kamm, 2000 Im Haarknoten wohnt eine Dame, 2005 Die blassen Herren mit den Mokkatassen und 2012 Vater telefoniert mit den Fliegen sowie die in rumänischer Sprache erschienene Sammlung Este sau nu este Ion von 2005.7 Im Vergleich zur umfänglichen Sekundärliteratur zu Herta Müllers Prosa und
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Vgl. Eddy 1999, ‚Die Schule der Angst‘, 338. Müller 2013, Das kleine Worttheater, 288. Vgl. Müller 2003, Der König, [Der König verneigt sich und tötet], 56. Ihnen sind kleinere Sammlungen wie „Unser Leben / war kompliziert in 7 Arten. 10 Collagen“ (Müller 2013) oder „Mir läuft das Land davon“ (Müller 2013) beiseitegestellt. Hinzukommen weitere Publikationen einzelner Collagen-Blätter wie Müller 2002, „Fünf Collagen“ im Band Text und Kritik oder in dem Essayband Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet von 1991.
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zum essayistischen Werk finden die über 1.000 Bild-Text-Collagen erst in jüngster Zeit eine breitere Aufmerksamkeit.8 Das Postkartenformat – bereit zum Verschicken, eine Kontaktaufnahme, ein Gruß – bleibt in allen Collagen-Sammlungen bestehen. Die weiße Karte, auf der die ausgeschnittenen Wörter und Bildelemente zusammentreten, ist dabei mehr als nur ein neutraler Bildträger, sie ist eine Bühne, ein Theater9, deren enger Raum einen Verdichtungsprozess anleitet.10 Die fünf großen Collagen-Sammlungen sind nicht nur Versammlungen postkartengroßer Bild-Text-Kompositionen, sie unterscheiden sich untereinander in der Herkunft der „gefundenen Wörter“, in ihren Sammlungskompositionen, der formalen und inhaltlichen Sprachgestaltung und in den Bild-Text-Verhältnissen. Insgesamt werden die Collagen-Sammlungen von Mal zu Mal heller11, was auch auf das verwendete Material selbst zurückgeht und sich als ein langsamer Aneignungsprozess der bunten Printwelt von westlichen Illustrierten lesen ließe. Ist die erste Collagen-Sammlung noch überwiegend in schwarz-weiß gehalten, so wird ab dem zweiten Band das Schriftbild bunter und variationsreicher in der Typographie. Auch inhaltlich findet eine „Aufhellung“ statt: Themen wie Verfolgung, Angst, Hunger, Bespitzelung und Exil, die im ersten Collagen-Band deutlichen Ausdruck finden, bleiben weiterhin präsent, sind aber nicht immer auf den ersten Blick zu dechiffrieren. Die ab dem zweiten Band eingeführte einfache, zum Teil an Abzählverse oder Kinderreime erinnernde Reimstruktur und eine oberflächliche Heiterkeit und Komik der Verse gibt den Collagen ein harmloses Gewand.12 Das Beunruhigende verlieren die Collagen in dieser Reimstruktur jedoch nicht, im Gegenteil: Es tritt lediglich später zutage, dreht das Lachen um und verweilt in der Spannung zwischen formaler Heiterkeit, Situationskomik und inhaltlichem Desaster. Ebenso wie sich ein Aufhellungsprozess beobachten lässt, werden die Collagen immer dichter, Bild und Text, Wort und Wort rücken aneinander. Wird der dominante Bildteil in den frühen Collagen nur von einem oder einigen Sätzen begleitet – die Bilder haben Scherenschnittcharakter und erinnern mit ihren dünnen Strichmännchen an Zeichnungen aus Kafkas Tagebüchern – so steigt der 8
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Zu nennen sind Growe 1997, Das Nicht-Sagbare schreiben; Eke 2002, Schönheit der Verwund(er)ung; Wertheimer 2002, Im Papierhaus, Marven 2005, ,In allem ist der Riss‘; Renneke 2007, ‚Der König verneigt sich und tötet‘; Scheidgen 2008, Fünfuhrgespräche; Moyrer 2010, Der widerspenstige Signifikant; Mitterbauer 2011, Ästhetische Hybridisierung; Moyrer 2011, ,Für mich war es ein angenehmer Geruch‘; Bauer 2011, Collage and Non-Identity; Wichner 2013,,Vergangenwart‘ und ‚Gegenheit‘; Eddy 2013, Herta Müller’s Collages; Rotaru 2013, Herta Müller’s Art of Reverberation; Marven 2013, ‚So fremd war das Gebilde‘; Julia Müller 2014, Sprachtakt. „Auf jeder Karte steigt der Text mit dem Bild auf eine Bühne, jede Karte inszeniert ihr kleines Theater.“ (Müller 2013, Das kleine Worttheater, 288). Vgl. te Heesen 2002, Interview, 176. Zur Bedeutung des engen Raums der Karte für den dichterischen Prozess vgl. auch Kapfer 2013, Die Wörter aus den Schubladen, 6:10-7:15. Zur Aufhellung vgl. te Heesen 2002, Interview, 175. Müllers Reimtechnik wird dabei von Band zu Band ausgefeilter, vgl. Eddy 2013, Herta Müller’s Collages, 177 f. u. Müller 2003, Der König, [Der König verneigt sich und tötet], 57.
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Wortanteil und die Collagen wachsen zu kleinen Miniaturerzählungen, die sich ab Die blassen Herren mit den Mokkatassen durch den fehlenden Gedichtzeilenbruch zu dichten Textblöcken formieren.13 Die Basis des aus alten Zeitungen aufgelesenen Materials sind Worte – nur ganz selten setzt Herta Müller die Worte aus Buchstabenschnitten zusammen. Ihre Aufmerksamkeit gilt dabei nicht den sprachlichen Trouvailles, gesammelt werden keine Auffälligkeiten, Wortmonster oder groteske Wortschnipsel.14 Die Wortsammlung, zunächst auf einem Hackbrett versammelt, das Zerstörung und Sammlung sinnbildlich vereint, expandiert auf den Tisch und vom Experimentierfeld des Wörtertisches breiten sich die ausgeschnittenen Reste über das ganze Zimmer aus.15 Zum Schutz der Wörter, die sich, wenn sie einstauben, nicht mehr zum Kleben eignen und im Mülleimer landen, beginnt Müller nach zwei Jahren mit „Wörterschränkchen“ zu arbeiten, deren Schubladen alphabetisch und grammatisch geordnet sind.16 Sprache wird im Herstellungsprozess somit zu einer materialen Sammlung, in der zunächst ihr grammatisch-lexikalisches Inventar in den Vordergrund rückt. Die Mobilität des Wörterinventars, die über seine Materialisierung der Hand, und nicht allein dem Kopf überlassen wird, beschreibt Herta Müller als eine Art Überlistung der inneren Gewohnheit, das Mit-der-Hand-hin-und-herSchieben als eine Art Umweg, auf dem die gewöhnliche Infrastruktur dessen, was man bisher gedacht und geschrieben hat, umgangen oder durchkreuzt werden soll. In ihrer Materialität werden Text und Bild selbst zu Mitspielern, die eine Eigendynamik entwickeln: Du schreibst nicht aus dem Kopf auf ein Papier, sondern du hast das Material vor dir liegen. Du bemerkst, wenn der Text das Wort geschluckt hat, dann spuckt er es wieder raus, und nach zwei, drei Tagen hast du einen ganz anderen Text; du siehst genau auf dem Tisch, welche Wörter der Text rausgeschmissen hat. Du bemerkst, wie der Text sich umgedreht hat und sich deinen Versuchen verweigerte.17
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Vgl. Wichner 2013, ,Vergangenwart‘ und ‚Gegenheit‘, 296 f. Zur müllerschen Arbeitstechnik in der Anfangszeit vgl. Wertheimer 2002, Im Papierhaus, 80 f. So während eines Stipendiums in der Villa Massimo in Rom, vgl. te Heesen 2002, Interview, 172. „Und in den Schränkchen mussten sie alphabethisch geordnet werden, damit ich weiß, wo ich das Wort finde, wenn ich es brauche. Von einer praktischen Notwendigkeit zur nächsten ist aus dem Ausschneiden und Sammeln von Wörtern eine regelrechte Werkstatt geworden. Denn bald gab es dann auch noch eine Schublade für Eigennamen, eine für Artikel, eine für Präpositionen“ (Müller 2013, Das kleine Worttheater, 289). Eine derartige grammatische Wortschrank-Ordnung wiederholt sich auch beim Arbeitsprozess auf dem Tisch, vgl. das Interview von Beverley D. Eddys mit Herta Müller: Eddy 1999, ,Die Schule der Angst‘, 337. te Heesen 2002, Interview, 175.
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Mitspieler wird ein Wort aber erst dadurch, dass es Eigentümlichkeit besitzt. Wo kommen die Wörter her und inwiefern steuert das Material das „Zusammenfliegen“18 der Wörter im dichterischen Prozess? Schon die häufig ins Feld geführte Assoziation, Müllers aus Druckmaterial zusammengeklebte Texte erinnerten an anonyme Drohbriefe, macht deutlich, dass sich trotz der Fremdheit und Anonymität ein Sprecher und Absender nicht ganz ausblenden lässt. Das wohlsortierte Alphabetarium der Wortschränkchen überführt die Sprache nicht in ein neutrales Wörterbuch, es ist die sinnliche Einzigartigkeit, ihr Altern-Können, das Müller interessiert und das Monika Moyrer in Zusammenhang mit Herta Müllers Aufmerksamkeit auf Dinge und in Anschluss an Anke te Heesen19 als „Materialzärtlichkeit“ bezeichnet.20 Es ist für mich mittlerweile selbstverständlich, mit gefundenen Wörtern zu schreiben. Weil sie aus ganz verschiedenen Zeitschriften kommen, macht ihre Unterschiedlichkeit die Texte sinnlich. Es ist der intensivste Kontakt mit Sprache, weil man jedes Wort einzeln auffassen muss. Überhaupt ist diese Arbeit sinnlich. Und sie ähnelt in vielem dem wirklichen Leben: der Zufall, durch den sich die Wörter treffen; mehr als die Größe der Karten ausmacht, geht nicht drauf; was einmal festgeklebt ist, kann man nicht mehr ändern.21
Beschreibt Herta Müller den Vorgang kreativer Sprachfindung, die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Ausschneiden und Hin- und Herschieben, als „Zufall“22, dann ist damit keine Beliebigkeit gemeint. In jenen Prozess heuristischen oder „epistemischen Schreibens“23 fließen selbstverständlich Strukturmodelle und Textverfahren ein, die Müller der Tradition entnimmt oder die sie mit der Tradition verbinden: dadaistische Sprachcollagen24, surrealistische und experimentelle Schreibtechniken der Künstlergruppe Oulipo (Ouvroir de Littérature Potentielle)25, der auch der literarische Weggefährte Herta Müllers, Oskar
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„Ich könnte nie ein Gedicht schreiben, mich hinsetzen, mit der Hand und mit dem Stift. Aber auf diese Art und Weise, wenn ich diese gedruckten Wörter ausgeschnitten auf dem Tisch liegen habe, fliegen sie zusammen und werden eine Geschichte“ (Eddy 1999, ,Die Schule der Angst‘, 338). Vgl. te Heesen 2006, Der Zeitungsausschnitt, 18. Vgl. Moyrer 2011, Herta Müller’s Collages, 116 f. Müller 2013, Das kleine Worttheater, 289. „Da sieht man noch mehr, als wenn man aufs Papier schreibt, wie sehr alles dem Zufall gehorcht. Sicher weiß man, was man will, aber im Augenblick wenn mans tut, wird es Zufall“ (Eddy 1999, ‚Die Schule der Angst‘, 338). Mit dem Begriff des „espistemischen Schreibens“ beschreibt Sibylle Krämer den Akt der Gedankenfindung durch den Schreibakt selbst, Krämer 2005, Operationsraum Schrift, 42 f. Vgl. Moyrer 2011, Herta Müller’s Collages, 121-122. Gleichwohl spricht sich Herta Müller gegen eine intendierte Nähe zu den Dadaisten aus, vgl. te Heesen 2002, Interview, 178. Vgl. z. B. Herta Müllers Collage 52 (von vorne nach hinten durchgezählt, denn es gibt keine Seitenzahlen) aus der Sammlung Im Haarknoten wohnt eine Dame, die mit einer für die Gruppe Oulipo typischen restriktiven Schreibregel arbeitet, indem sie ausschließlich den Vokal „a“ verwendet.
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Pastior26 angehörte, konkrete Poesie der „Aktionsgruppe Banat“, aber auch gestalterische Anleihen bei barocken Formen des Emblems27 oder der des Titelkupfers finden ein Echo in ihren Collagen. Insbesondere ist es jedoch der Reim, der im „zufälligen“ Zusammenfinden der Wörter eine Katalysatorfunktion übernimmt; es sind die lyrischen Vorbilder Oskar Pastior, Inge Müller und Theodor Kramer, die den Prozess anleiten: Im Vertrauen auf die Reime von Theodor Kramer und Inge Müller nahm ich die Reime an, für die ich nichts getan hatte, die sich zufällig auf der Tischplatte getroffen hatten. Es waren Worte, die einander kennenlernten, weil sie sich den Ort, wo sie lagen, teilen mussten. Ich konnte sie nicht wegjagen und kam auf den Geschmack des Reimens.28
Kramers Gedichte, „zugänglich“ und musikalisch29, erinnern Herta Müller „an die einfachen Melodien und abgründigen Inhalte der rumänischen Volkslieder“30. Neben der bildreichen31 und poetischen Einfachheit dieser Lieder, zeichnen sie sich auch durch eine Wiederholung der Liedzeilen aus, die an Herta Müllers Schreibtechnik der nur leicht variierten Wiederholung erinnert, aber auch durch ihre Liebe zum Detail.32 Reime haben für Herta Müller jedoch eine ambivalente Bedeutung; sie sind aus der Kindheit vertraut, von den Erwachsenen belächelt, als leiernder Schulstoff im Teppichklopfrhythmus auswendig gelernt und als stolpernder Reim der Parteipropaganda verhasst.33 Auch dieser Reim der Sprachnormierung in der Diktatur gehört zum Klang, der den Zufall anleitet.34 26
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Für die Thematik der Sammlung ist Mittelbauers Hinweis auf Pastior wertvoll, der Collage als „,mystische Zusammenschau von Vergewisserung und Deportation, Nüchternheits- und Überlebenstechnik“ bezeichnet (Mitterbauer 2011, Ästhetische Hybridisierung, 77), für seine Gedichte selbst auf den barocken Dichter Quirinus Kuhlmann (1651-1689) und seine listenartigen Gedichte verweist, dessen „stakkatohaftes Sprechen“ sich für Mitterbauer auch in Müllers Collagen zeige (ebd., 77f). Pastior sei für das annagramatische Sprechen in Die blassen Herren mit den Mokkatassen von großer Bedeutung (ebd., 87). Vgl. ebd., 77. Müller 2003, Der König, [Der König verneigt sich und tötet], 56. Müller 2011, Immer derselbe Schnee, [Die Angst kann nicht schlafen], 229. Ebd., 226. Zum Volksliedcharakter einzelner Collagen vgl. Julia Müller 2014, Sprachtakt, 247256. Vgl. Müller 2011, Immer derselbe Schnee, [‚Welt, Welt, Schwester Welt‘], 241: „In den Liedern der Maria Tânase kriegt der Liebste von der Liebsten Äpfel, Birnen, Nüsse. Das Körperliche wird mit Obst abgehandelt. Ohne Vergleiche anzustellen, weiß man, dass es um ihren und seinen Körper geht – die Liebe pflückt eben Obst auf der Haut. Das Wasser des Flusses schneidet eben die Füße ab, das Älterwerden ist eben eine schwere Jacke. Es versteht sich fast von selbst, warum die Diktatur diese Lieder nicht ertragen konnte. Sie unterwandern das Gemüt und den Verstand. Das Leben kommt als verschlossenes Gepäckstück daher, das man für sich selbst ist.“ Vgl. ebd., 239. Müller 2003, Der König, [Der König verneigt sich und tötet], 55. In diesem Sinne führt der Zufall weder zu etwas ‚ganz Neuem‘ (siehe dazu Anton G. Leitners deplazierten Vorwurf, Müller setze in den Collagen eine „abgedroschene“ und veraltete Technik ein, Leitner 2009, ,Wir sind Päbstin!‘), noch generiert er eine „écriture singulière et incomparable“ (Bary 2009, Une écriture singulière).
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Wendet man sich dem Wortinventar und der Bildersprache zu, so beschreibt Herta Müller ihre Collagen als Wort- und Satzschmieden für ihre Prosa.35 Das Verhältnis von Collage und Prosa ist jedoch keine Einbahnstraße: Auffällig ist, dass dieser Rückgang auf ein fremdes, ausgeschnittenes Wortinventar eben keinen Abstand zum inneren ABC schafft, sondern eher so wirkt, als hätte sich Herta Müller in ihrer eigenen Prosa bedient36: Es sind Zentralmetaphern und Figuren wie die Pappel als Metapher der Überwachung oder der Fuchs, der als zerschnittener Pelz, als Pelzmütze oder als gehäutete Fleischschleife um den Hals einer Dame gelegt, in den Collagen wieder auftauchen. Es ist der die Zeit messende Frisör, der König als ambivalente Instanz der Ermächtigung, der Fasan, der nationaldeutsche Frosch, es sind die ausgespuckten zerkauten Melonenoder Kürbiskerne als Sinnbild einer verlorenen Generation, die in den Wortschränkchen auf ihre Verwendung warten. Die in den Collagen entstehenden Miniaturszenarien wirken dabei in einzelnen Fällen wie Anspielungen auf Romanepisoden, wie in einer Collage aus der Sammlung Der Wächter nimmt seinen Kamm, in der es heißt: „OHNE Weg / Und die blecherne Teekanne“37. Der Bildteil zeigt zwei in der Luft baumelnde Beine und könnte auf den erhängten „Spengler“ in Der Fuchs war damals schon der Jäger anspielen.38 Das relativ begrenzte Repertoire der Bilder und Metaphern, die in ihrer Verwendung permutieren39 und die einzelnen Werke in einem dicht gestrickten Netz intertextueller Verweise zu einem umfassenden fortgeschriebenen Werk verbinden, ist kennzeichnend für die müllersche Poetik. Entscheidend für die Collagen ist jedoch, dass ihr narrativer Kontext auf ein Minimum reduziert ist und sich bedrohliche und beunruhigende Bedeutung über weite Strecken erst in einer Rückbindung an die Prosa und das essayistische Werk Herta Müllers zeigt. So erweist sich in der Rückbindung an Der Fuchs war damals schon der Jäger der Fluss nicht nur als allgemeines Motiv der Grenze, er gewinnt mit der Donau eine konkrete Gestalt, in der die Leichen der gescheiterten Fluchtversuche schwimmen. An den Fluss angrenzend das gemähte Feld, in dem die erschossenen, im Feld liegen gelassenen Flüchtigen mit der Ernte in die Mähdrescher
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So stammt der Buchtitel „Heute wär ich mir lieber nicht begegnet“ ebenso wie die Sätze „mit einer Nase schmal wie eine Tabakblüte“ aus der Collage 63 aus der Sammlung Im Haarknoten wohnt eine Dame. Auch die Zentralmetapher der „Herzschaufel“ und des „Grammophonkistchens“ aus dem Roman Atemschaukel finden sich bereits in den Collagen, vgl. Müller 2005, Die blassen Herren, [Nr. 36; die Zählung ergibt sich aus der Durchnummerierung der Collagen, da keine Seitenzahlen existieren]. Das bemerkt auch Wichner 2013, ‚Vergangenwart‘ und ‚Gegenheit‘, 295. Müller 1993, Der Wächter, Nr. 62. Vgl. Müller 1992, Der Fuchs, 50-55. Exemplarisch zeigt dies Katja Schubert in ihrem Beitrag „Das wandernde Taschentuch – Herta Müllers widerständige Sammlung “ im ersten Kapitel für die Zentralmetapher des Taschentuchs.
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geraten und Teil des im Laden zu kaufenden Brotes werden.40 Auch der Vagabundenhund41, im Mund Wörter „die / es nicht mehr gibt“ herumtragend, gewinnt in dem Essay „Lügen haben kurze Beine – die Wahrheit hat keine“ eine makabre Gestalt in den wilden Hunden auf dem Armenfriedhof in Temeswar, die das, was noch nicht begraben ist, im Maul herumtragen.42 Mit dieser starken Rückbindung der aufgelesenen „fremden“ Wörter an das eigene Wort- und Bilderrepertoire wird die Auflese zu einer Nachlese des eigenen Werkes, so als wäre Herta Müller beim Ausschneiden ihrer eigenen Prosa auf der Spur.
2. Wortkopfsteinpflaster Auch auf der Ebene der Textgestaltung arbeitet Müller mit sammelnden Techniken, in denen zunächst das Inventar der Sprache ausgestellt wird, als hätte sich die Struktur der Wortschränkchen bis in den Text hineingepaust. Voraussetzung dafür, dass das Inventar der Sprache gesammelt auftritt, ist eine starke Fragmentierung auf semantischer und syntaktischer Ebene. Zeichnet sich Herta Müllers Prosa durch Parataxe und den Rhythmus einfacher Hauptsätze aus, die Komma für Komma aneinandergereiht werden, und schon im Prosafluss den Eindruck einer Ansammlung grammatisch lose geformter Sätze hervorrufen43, so fallen in den Collagen bis auf wenige Ausnahmen die Satzzeichen ganz aus. Wort folgt Wort und formt sich zu einer Art ‚Wortkopfsteinpflaster‘, in dem man von Wort zu Wort holpert, als würde man über eine alte Dorfstraße mit ihren Unregelmäßigkeiten und Lücken fahren. Mit dieser nahe liegenden Assoziation des Wortkopfsteinpflasters, in der Gehen und Lesen miteinander verschmelzen, wird auch das Lesen zu einem von Satz zu Satz holpernden Buchstabieren, das „kein Mensch versteht außer IN DER / Mitte“44. Allerdings entsteht in den Collagen sehr selten die visuelle Assoziation eines tatsächlichen 40 41 42 43 44
Vgl. Müller 1992, Der Fuchs, 62 f. Müller, Die blassen Herren, [Nr. 46]. Müller 1995, Hunger und Seide, 112 f. Eine umfangreiche Analyse dieses Schreibstils findet sich z. B. in Julia Müller 2014, Sprachtakt. Vgl. Müller 2005, Die blassen Herren, [Nr. 77]: „DER Buchhalter auf dem Parkplatz / hin und her spaziert er buchstabiert / mechanisch den einen Satz den sowieso / kein Mensch versteht außer IN DER / Mitte“. Die enge Verknüpfung von Gehen und Lesen im Wortkopfsteinpflaster wird in dem Essay „Der Teufel sitzt im Spiegel“ um das Atmen erweitert: Schritt, Wort und Atemzug, das Schrittweise-Gehen, das In-Zügen-Atmen und In-Worten-Sprechen sind Teil eines miteinander verbundenen dem Leben eigenen Fragmentierungsprozesses, vgl. Müller 1991, Der Teufel, 77: „Wir atmen in ‚Atemzügen‘. Wir essen in ‚Bissen‘. Wir sprechen in ‚Worten‘. Wir fassen die Gegenstände an in ‚Griffen‘. Wir gehen in ‚Schritten‘. Züge, Bissen, Worte, Griffe, Schritte: in allem ist der Riß. Auch sind unsere Augen nicht immer offen. Wir sind wach, wir schauen, und unser Augenlid zuckt und zuckt. Schließt sich immer wieder in seinen eigenen Takten. Es verdeckt uns den Blick, unser Augenlid. Und wir sehen den ‚Dunkelriß‘ nicht. Auch damit betrügt uns das Auge durch den Schlag des Augenlids. Jeder längere Vorgang besteht aus zerteilten kleinen Bewegungen. Alles, was wir tun, hat die Dauer
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Weges, denn wir sehen nur einen Ausschnitt des Pflasters, das keinerlei Richtung anzeigt und eher wie ein Block, eine Insel wirkt oder wie ein Wortsetzkasten, der in den in den Collagen umfangreich verwendeten Sammelund Aufbewahrungsworten – Schrank45, Koffer46 und Kiste – eine Entsprechung zu finden scheint. Dabei werden diese Aufbewahrungswörter oder Sammlungsmetaphern häufig mit Sprache in Verbindung gebracht47, so findet sich z. B. in der Sammlung Der Wächter nimmt seinen Kamm „ihr Panzerschrank mit / seinen Gedichten“48, „Im Büro springt die Stille aus dem Schrank in den Mund / Silbe für Silbe“49, „seine Schränke sind schräg darin liegt die / Schmuggelware der souveränen Staaten ein wenig / Gold eine hölzerne Spielzeugeisenbahn, ein / paar Sprachfehler keine Fremdsprachen“50 und der „Vagabundenhund“51 in Die blassen Herren mit den Mokkatassen ist ein schnüffelnder Flaneur, der die Worte eine Weile im Mund mit sich herumträgt. Die Grammatik, deren hierarchisierende Struktur in Müllers parataktischer Prosa auf ein Minimum heruntergefahren wird, erscheint in den Collagen im wahrsten Sinne des Wortes ‚planiert‘, jedes Wort als ein gleichwertiger Baustein. Die semantisch-syntaktischen Brüche sind dabei im ersten Collagen-Band Der Wächter nimmt seinen Kamm schon auf den ersten Blick sicht- und hörbar: Ebenso wie das ‚Wortkopfsteinpflaster‘ graphisch an den Rändern ausgefranst erscheint, so scheint auch der Arbeitsprozess auf sprachlicher Ebene noch nicht abgeschlossen, als wäre das Hin- und Herschieben der Wörter an einem Punkt ratlos stehen geblieben. Die Collagen aus Die blassen Herren mit den Mokkatassen, die zunächst heiter und spielerisch erscheinen und den Kontext von Verfolgung, Gewalt und Zerstörung erst Stück für Stück freigeben, präsentieren sich graphisch als geordnete Setzkästen, die durch Reimstrukturen und Metren zusammengehalten
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eines Lid-schlags. Hinter jedem Lidschlag steht der Riß. Dahinter tun wir das gleiche wieder. Wir tun es weiter, sagen wir uns. Wir brauchen in dem, was wir tun, diese Kontinuität, um nicht zu zerfallen. Und es gäbe den Impuls nicht, der uns dazu bringt, das gleiche weiter zu tun, ohne den Riß. Wir bewegen uns dem Blick der Augen nach. Wollen die Fläche des Körperteils, mit dem wir etwas tun, überschreiten. Unsere Bissen werden größer als unser Mund. Unsere Handgriffe werden größer als unsere Hände. Unsere Schritte werden größer als unsere Füße. In allen Gesten steckt die Spanne der Unberechenbarkeit.“ Eine Verdichtung dieser Reflexion findet sich in der Collage [Nr. 56] aus Der Wächter nimmt seinen Kamm: „er / legte einen / Stein auf die / Straße / und sagte: / Atemzug“. Der Schrank als Aufbewahrungsort der sieben Sachen, Ort der gesammelten Sehnsucht, in dem man stundenlang Bus fährt und zugleich eine Art Wohnsarg, der freiwillig bestiegen wird und in dem es einem passieren kann, bei lebendigem Leibe gekocht zu werden; vgl. Müller 2005, Die blassen Herren, [Nr. 16]. Der Koffer ist ein mobiles Ich, in dem ein ganzes Zimmer verschwinden kann, vgl. Müller 2005, Die blassen Herren, [Nr. 46]. Eddy konstatiert dementsprechend die dominante Verwendung von Metaphern, die Sprache thematisieren, vgl. Eddy 2013, Herta Müller’s Collages, 178 f. Müller 1993, Der Wächter, [Nr. 34]. Ebd., [Nr. 89]. Ebd., [Nr. 26]. Müller 2005, Die blassen Herren, [Nr. 46].
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sind. Insgesamt werden auch bei graphisch-metrischer Geschlossenheit dieser Collagen Brüche und Lücken der Sprache thematisch: Grammatische Zuordnungen können nicht mehr eindeutig vorgenommen werden, idiomatischen Wendungen fehlt die Hälfte, als hätte man vergessen, wie es weitergeht, Sätze kündigen eine Fortsetzung an, die nicht folgt, oder werden in absurden Reimen in einem semantischen Salto mortale zusammengebunden. Die Ankündigung einer Fortsetzung geschieht z. B. durch die häufige Verwendung der Konjunktion „und“, die in zweifacher Weise gelesen werden kann: „ein Verkäufer rechnet Leber, Nieren und / eine Witwe verwandelt Hemden in Hosen“52; die Aufzählung „Leber, Nieren und“ lässt ein drittes Element erwarten (ein weiteres Organ? das Gehirn vielleicht?), das jedoch nicht genannt wird, zugleich lässt sich jedoch mit „und“ die folgende Zeile anschließen. In diesem Fall wird also lediglich der Verdacht evoziert, dass etwas ausgelassen wurde oder ungenannt blieb. Obgleich so viele gleichwertige Steinchen zur Verfügung stehen, unterstreichen diese gebastelten Wortketten, dass die Sammlung eine offene oder unvollständige ist, denn die richtigen Steinchen stehen nicht immer zur Verfügung, werden durch mehr oder weniger gelungene Stellvertreter ersetzt53 und verweisen auf etwas, was fehlt oder abgebrochen ist. So erhält der Zwischenraum, der visuell durch das Aneinanderkleben der Wortketten gegenüber einem herkömmlichen schriftlichen Text an Plastizität gewinnt54, auch ein semantisches Gewicht und wird Stellvertreter des verschwundenen Restes.55 Der ‚Perlenschnureffekt‘56 der Wort-Collagen entsteht jedoch nicht nur durch das bewusste Hervorheben grammatischer wie semantischer Logik oder Idiomatik, sondern auch durch sammelnde Techniken, mit denen die Collagen arbeiten und scheinbar Gleiches zu Gleichem gesellen. In diesem Sinne häufen sich rhetorische Figuren wie Wiederholungen57, Anaphern58, Akkumulationen59, 52 53 54 55
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Müller 1993, Der Wächter, [Nr. 12]. Oder spitzt man diesen Gedanken zu, so sind es vielleicht immer nur Stellvertreter, als ließe sich das mit Worten eingekreiste Abgründige nie aussprechen. In der alten Setzer- und Druckersprache wird dieser das Buchstabenbild umgebende Raum interessanterweise auch „Fleisch“ genannt. Auch in Herta Müllers Prosa spielt der Zwischenraum als das Nicht-Gesagte eine wichtige Rolle oder wird auf narrativer Ebene durch die unterschiedlichen Modi des Schweigens thematisiert. „Die Unvollständigkeit und das etwas Provisorische dieser Fügung lässt immer die Fehlstelle spürbar werden, die auf der inhaltlichen Ebene als Schweigen vor dem Undarstellbaren parallel geführt wird. In den Schnittstellen ist der gesamte Rest verborgen, der nicht ausgeschnitten oder nicht ausgewählt wurde für diese Karte.“ (Julia Müller 2014, Sprachtakt, 238). Dieser Perlenschnureffekt wird auch durch die Eigenart der deutschen Sprache unterstützt, Wortkomposita-Ketten zu bilden, vgl. te Heesen 2002, Interview, 174. Vgl. z. B. Müller 1993, Der Wächter, [Nr. 33]: „Freunde das Holz wächst / im Tisch und Stuhl das Holz / im Obst das Holz / im Argwohn der Flucht / im Trampelpfad der Ferne / in diesem Kind das Holz / macht keinen Lärm / [...]“. Z. B. Müller 2005, Die blassen Herren, [Nr. 9]: „ums Haus herum ein Vakuum / alle Bahnschranken gepaart / alle Brombeeren behaart / alle Äpfel glänzen kahl“. Vgl. z. B. Müller 1993, Der Wächter, [Nr. 34]: „Schrankwand, / eine am Fenster, / Wandschrank / Kleiderschrank / ihr Panzerschrank mit / seinen Gedichten“.
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Alliterationen60, Aufzählungen61, Reihungen und Folgen, aber auch Zählungen und Zahlen selbst sind ausgesprochen prominent in den Collagen. So stellen Müllers Collagen eine radikale Intensität der poetischen Sprache als eine überstrukturierte zur Schau. Nur sehr selten wird jedoch bis drei oder mehr gezählt, vielmehr scheint es, als wären die Collagen eine Sammlung von Einsen (einschließlich der Varianten „einmal“ oder des unbestimmten Artikels „ein“, „einsam“), was den Eindruck verstärkt, es handele sich um Wort-Einzelstücke, die in den Collagen zusammengesetzt werden. Allerdings beinhaltet eine begonnene Zählung, auch wenn sie nicht fortgesetzt wird, immer noch das Versprechen einer Folge und verkündet so immer auch etwas, was nicht vorhanden ist oder ausbleibt – zumindest die zwei. Auf der narrativen Ebene erzählt diese Eins-Sammlung von der Sprengkraft, die der Verfolgung, dem Verhör und der Gewalt eigen sind, von Isolation, Einsamkeit, Teilung der Zwei (des Paares oder der Freunde) und einer in sich zerstückelten, nicht mehr organisch zusammenhaltenden Gesellschaft, in der jeder für sich alleine ist: eins und eins macht eins.62 Einsamkeit als verlorene Zweisamkeit durch Flucht oder Auswanderung thematisiert z. B. die Collage [90] aus der Sammlung Die blassen Herren mit den Mokkatassen (siehe Abb. 1), die auch bis zwei zählt, allerdings um dem namenlosen „Du“ sein Einssein anzukündigen. Diejenigen, die zu Hause bleiben und noch zu zweit auftauchen, sind Autodiebe, alte verrückte Menschen und Krüppel – also prädestinierte Außenseiter der Gesellschaft, die als Randständige in der Zeit der Verfolgung vielleicht nicht im Fokus stehen. Der Bildteil der Collage scheint ihren Textteil unmittelbar zu kommentieren: Die Straße, auf der die beiden alten Damen wie auf einem Trampolin herumhopsen, erweist sich eher als ein dünner Draht, auf dem sich der Drahtseilakt der Flucht abspielt; auf einem Bahnübergangsschild – zwei gekreuzte Stäbe, dreht man es und zieht es ein wenig auseinander, wird es zum Totenkreuz – balanciert ein Mensch mit einem Möbelstück. Sind vom Tisch noch zwei Beine zu erkennen, so sehen wir vom Menschen nur eines, als wäre das andere zur Balance in der Senkrechten. Uns zugewandt auf der schmalen Seite des Flurs, der durch die Straße in zwei Hälften getrennt wird, kommen zwei Menschen auf 60 61
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Z. B. ebd., [Nr. 19]: „der Zahnschmelz ist ein Kinderlied geblieben / genommen / geschossen / getroffen“. Z. B. Müller 2005, Die blassen Herren, [Nr. 1]: „am kleinen Strand DA kamen wieder / die feinen Mitglieder zusammen der / Hauptvorsteher der Fremdgeher und / dessen sogenannte Tante der langnasige / Schlafgestörte der / angsthasige Taxifahrer der / unerhörte Pelzprobierer der / weißbeschuhte Flötenspieler der / ausgeruhte Rheumadoktor der / Zoovertreter und etwas später / zwei Soldaten die jeden Montag / Urlaub hatten [...]“. Vgl. z. B. ebd., [Nr. 75]: „Wo fährt das Auto mit dem Silberbuckel hin der / Fahrer hat ein Kinn aus Porzellan einmal / sagte er die Mücken hätten Morgens schwarze / Klarinetten und Abends ein bleiches Durstlied / das sei der Unterschied einmal kam er / frischgeschoren seine Ohren voll mit Schnipselhaar / einmal sagte er der Straßenname sei von einer / toten Dame einmal rasselte die Angst wie sie / nicht soll wie die Streichholzschachtel in der / Manteltasche einmal ging ich unterwegs verloren / einmal kam ich an wo ich nicht war“.
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uns zu, von denen wir nur Kopf und Rumpf sehen. Der eine, seine Augen sind mit einer Sonnenbrille verdeckt, schaut uns direkt an, der andere wird vom ersten halb verdeckt und trägt sein Gesicht zur Seite geneigt. Auf welche Seite, diesseits oder jenseits der Straße, wird geflüchtet? Und wer sind die im Zweierpack auftretenden Sonnenbrillenmänner? Gehen oder bleiben? Die Flucht ist in diesem Bild ein Balanceakt, der in der Schwebe verharrt.
1 − Collage [Nr. 90] aus der Sammlung Die blassen Herren mit den Mokkatassen
Eine Art indirekte Zählung enthalten die Collagen auch durch ihren Rhythmus. Insbesondere die Reime in dem Band Die blassen Herren mit den Mokkatassen wirken wie seltsame Abzählreime, in denen Ausschluss und Ausschuss
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produziert wird, nur dass man nicht genau weiß, wer aus diesem Spiel herausgezählt wird oder wer schon herausgezählt ist.63 Manche Miniaturerzählungen der Collagen erscheinen aber auch wie ein sorgfältig aufgestelltes Dominospiel, in dem, von einem Ereignis angestoßen, eine Kette von Folgeereignissen in Gang gesetzt wird, eine Katastrophe zieht die andere nach sich.64
2 − Collage [Nr. 12] aus der Sammlung Der Wächter nimmt seinen Kamm 63
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Vgl. z. B. ebd., [Nr. 11]: „stand ich so am Sommerrand kam ein / aufgeräumter Mann hatte kreideweiße Schuhe / dunkelblaue Hose an frag ich kann ich / mitfahren und mein Koffer war kariert pfiff / der Mann ein Möwenlied Mensch wie / grun (sic!) die Pappeln waren hab kein Zugriff / auf das Wasser und woher ein Schiff / sagt er zupft an seiner blauen Hose / und ich sage: macht JA nichts Hauptsache / Sie sind Matrose“ sowie ebd., [Nr. 96]: „der Uhrmacher Andrei hat sein Akkordeon / und den Rasenmäher umgebaut zum Fernseher / und bittet uns aufs KANAPEE / es kommt ein Film / vom glasgesiebten Regen / im flachgewälzten Klee / der Film ist alt / bald wird es kalt / dann kommt ein Film / vom Koffer aus Pappmaché / im hochgescheuchten Schnee“. Vgl. auch ebd., [Nr. 91]. Dieser Rätselcharakter der Collagen wird auch durch ein Bildelement quasi dingfest gemacht, indem im Bildteil selbst zweimal Kreuzworträtsel-Fragmente auftauchen. Vgl. auch Müller 2000, Im Haarknoten, [Nr. 17]. Vgl. z. B. Müller 2005, Die blassen Herren, [Nr. 35].
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In der Collage [Nr. 12] aus Der Wächter nimmt seinen Kamm (siehe Abb.2) entstehen durch die ähnliche Satzstruktur und die Art und Weise der Klebung unterschiedliche Listen von Artikeln, Protagonisten, von Verben und Objekten. Die Protagonisten sind durch den unbestimmten Artikel „ein“ als anonyme Vertreter einer Berufsgruppe, einer familiären oder gesellschaftlichen Rolle gekennzeichnet, sie stehen geordnet, aber beziehungslos untereinander. Strukturiert wird diese lose Sammlung in einer Art Rahmung der Zivilisten (ein Verkäufer, eine Witwe, ein Passant, ein Onkel, ein Schmeichler, ein Tischler und ein Diener) durch Militär und Politik (ein Offizier, sein Stab, ein Chef, ein Genosse – ein Lastwagen, ein Führungsoffizier). Die Verben, mit denen die Handlungen dieser anonymisierten Stellvertreter ihresgleichen beschrieben werden, sind zumeist Verben der Kommunikation und des Denkens (fragt, meldet, weiß, lacht, rechnet, meint, sagt, denkt, glaubt, befiehlt). Nur das letzte Verb, befehlen, deutet eine potentielle Macht oder Gewalt an. Auch wenn mit dieser Ansammlung von Verben alles zur Verfügung stünde, um ein Denken, Meinen und Kommunizieren zu ermöglichen, so verstecken und verdecken jene mit diesen Verben gebastelten Sätze jedoch eher dasjenige, was gedacht und gesagt zu werden verdient. Diese Verdeckungs- und Verdunkelungsstrategien entstehen u. a. durch „beschnittene“ idiomatische Wendungen, die gleichwohl den weggelassenen Teil immer noch wie ein stummes Echo mit sich führen: „Ein Offizier fragt bleibt es beim [Alten]“, und das Alte mag wohl das sein, wofür Offiziere ausgebildet sind; „sein Stab melde Leib und Leben“ – es geht um Leib und Leben, das offenbar zum Einsatz bereit steht, „ein Passant meint [seinen] Augen und Ohren [nicht zu trauen]“, „ein Genosse [das Glück] lacht unserem Volk nicht“.65 Obgleich die einzelnen Szenen scheinbar unverbunden untereinander stehen, ergibt sich beim Lesen eine Art „narrative Kontamination“, in der unwillkürlich und assoziativ die Szenen miteinander in Verbindung treten und eine gegen die syntagmatische Ordnung, gegen die Linearität der Lektüre rebellierende, räumlich ausgreifende Eigenlogik auf dem Textfeld entfalten. Verbindet man das Verwandeln von Hemden in Hosen einer Witwe beispielsweise mit einem Krieg, dann wäre die Witwe vielleicht gerade dabei, die Kleider ihres Mannes für sich umzuarbeiten. Rechnet der Verkäufer Leber und Nieren, so will der Passant vielleicht Augen und Ohren kaufen und der Onkel der Tochter vielleicht die Hörner? Handelt es sich um einen Fleischer oder geht es wie in der dritten Zeile („ein Chef weiß Knie und Ellenbogen“) um die menschlichen Fragmente, die hier trainiert, dort verkauft werden? Ist der schmale Tisch, den der Tischler montiert, eine Leichenbahre und sind die feuchten Hände des Dieners der bevorstehenden Verhaftung geschuldet? Ein zentrales Element der Gestaltung ist, wie oben für Collage [Nr. 90] aus der Sammlung Die blassen Herren mit den Mokkatassen vorgeführt, das BildText-Verhältnis. Grundsätzlich geht Müller mit Bildern ähnlich um wie mit 65
Müller 1993, Der Wächter, Nr. 12 [Herv. i. O.].
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Wörtern: Sie werden in ihre Einzelteile zerlegt und was in der Sprache ausgeschnittene Worte sind, sind im Medium Bild isolierte Dinge oder fragmentierte Körper- oder Möbel.66 Auch das aus Mensch-, Tier- oder Dingstücken zusammen-gesetzte Bildrepertoire der Collagen entspricht dem eng umrissenen Metaphernschatz der müllerschen Prosa. Für die Spurensuche eines nur zerstückelt dargebotenen Sinns und das „Lesen der Leere“ ist die Interaktion von Text und Bild von großer Bedeutung. Eben weil sie wechselseitig nicht in simpler illustrativer Abhängigkeit zueinander stehen, werden Bild und Text einander ebenso zum sinngebenden Element wie sie sich gegenseitig infrage stellen. In der Konfrontation helfen die Bildfragmente den ‚verschnittenen‘ Worten und die Wortfragmente den ‚beschnittenen‘ Bildern auf die Beine und mit der sich kreuzenden Lektüre beider lückenhafter Notationssysteme werden die Lücken zu sprechenden Lücken.67
3. Das Spiel mit Ordnungsstrukturen in Vater telefoniert mit den Fliegen Die einzelnen Collagen-Sammlungen tragen, wie anfangs kurz skizziert, ihre je eigene Handschrift, die sich auch in der Präsentation und Organisation der Sammlung selbst anzeigt. Finden sich die Collagen in der ersten Sammlung nummeriert, aber lose in einer Box, zum Versenden bereit, so erscheinen die folgenden Sammlungen in Buchform, jedoch nur Vater telefoniert mit den Fliegen besitzt nummerierte Seiten. Ein ins Auge springender Aspekt aller Sammlungen, die mal als lose Box, mal als gebundenes Buch, mit und ohne Seitenzählung auftreten, ist das Spiel mit Linearität und Zirkularität der Lektüre. In welchem Verhältnis stehen die Collagen untereinander und welche Gestaltungsund Strukturmerkmale lenken hier auf der Makroebene des Werkes als Sammlung die Spurensuche? Besonders komplex hinsichtlich ihrer Leserführung ist die letzte Sammlung Vater telefoniert mit den Fliegen, weil hier über das Andeuten typischer Merkmale unterschiedlicher Textsorten auch verschiedene Sammlungsstrukturen ins Spiel gebracht werden, die eine je eigene Lektüre generieren. Zeichnet sich Müllers Prosa durch Sprachfragmentierungs- und Montagetechniken aus, in der Absätze zu Fragmenten werden, durch die der Leser den narrativen Faden immer wieder anders und von Neuem fädeln muss, so scheinen diese Techniken in den Collagen-Sammlungen noch weiter fortgetrieben: Sehr selten ergibt sich eine offensichtliche erzählerische Folge von „Karten-
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Zum Fragmentieren von Körperteilen und zum „Heransumen“ an das Detail in Herta Müllers Prosa vgl. Marven 2005, ‚In allem ist der Riss‘; Moyrer 2010, Der widerspenstige Signifikant, 87 ff sowie Bozzi 2005, Der fremde Blick, 92. Zur Bild-Text-Interaktion vgl. die Aufsätze von Eddy 2013, Herta Müller’s Collages, 163 und Mitterbauer 2011, Ästhetische Hybridisierung, 86 f.
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Theater“ zu „Karten-Theater“.68 Dies gilt prinzipiell auch für die Collagen aus Vater telefoniert mit den Fliegen69, gleichwohl treten hier im Vergleich zu den anderen Sammlungen mehr Textmerkmale in den Vordergrund, die den Eindruck erzeugen, es handele sich bei dem Collagen-Ensemble um eine große Erzählung. Die Sprache der dichten Textblöcke ist zunächst weniger stark syntaktisch gebrochen als in Die blassen Herren mit den Mokkatassen, und der erzählerische Gestus wird mit zahlreichen einleitenden Formulierung wie „wenn“, „als“, „einmal“ oder „es war einmal“ hervorgehoben.70 Durch die fünf Zwischenüberschriften der Sammlung wird der Verdacht gesät, es handele sich um fünf „Kapitel“ oder „Akte“, und die einzelnen Collagen wüchsen, folgt man der durch die fortlaufenden Seitenzahlen numerisch bestimmten Lesefolge, zu einem Roman, einer Erzählung oder einem Theaterstück zusammen. Mit den zentralen Protagonisten „Ich“, „Mutter“, „Vater“ und „Nachbarin“ erhält dieser ,Roman‘, der auch mit dem Wort „Ich“ einsetzt, biographische Züge, die sich in einzelnen Collagen sogar zu einer Miniaturbiographie verdichtet: „Mutter ist Mutter ihr / Beruf bin ich VATER ist / Lkw-Fahrer war er seinen Beruf / fraß der SUFF Was ich / versteh unser HAUS hängt / pelztief im Gras dann / pelztief IM Schnee / aber WER wechselt das“71. Orientiert man sich an den bekannten Eckdaten aus Herta Müllers Leben und unterstellt dieser Sammlung autobiographischen bzw. autofiktionalen Charakter72, so weisen die einzelnen Lebensstationen, die sich als Bruchstücke in den Collagen wiedererkennen lassen (Dorfleben, Beisammensein mit Freunden, Verhör, Bespitzelung und Ausreise), zwar keine chronologische Reihenfolge auf, hinsichtlich der Vater- und Mutter-Collagen lässt sich jedoch eine gewisse Chronologie erkennen (Kindheit, Trennung von den Eltern, Tod des Vaters). Eine andere Ordnungsstruktur als die einer mit Vor- und Rückblenden fortlaufend gestalteten prosaischen oder dramatischen Regie entsteht, wenn man die einzelnen Collagen als Protokolle interpretiert, wozu nicht nur der häufige 68
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So z. B. bilden fünf Collagen aus der ersten Sammlung Der Wächter nimmt seinen Kamm (Nr. 4346) in der Folge eine kleine Bildgeschichte, vgl. Wichner 2013, ‚Vergangenwart‘ und ‚Gegenheit‘, 294 und eine ausführliche Interpretation dieser Bildfolge bei Julia Müller 2014, Sprachtakt, 225-232. Eine direkte inhaltliche Weiterführung von Collage zu Collage lässt sich in Vater telefoniert mit den Fliegen nur sehr selten – wie beispielsweise von der vorletzten zur letzten Collage – feststellen. „WENN der / Kuckuck / ANDERS ruft und EINER AUF / DER Flucht durchs Tabakfeld“ (Müller 2012, Vater telefoniert, 79), „Wenn ich morgens aus der Schicht / nach Hause gehe sehe ich aus müden / Bäumen“ (ebd., 93), „Als der Uhrmacher / tot war, KAMEN / Bartdiebe“ (ebd., 146), „als der / Abriss DES / Mondes / anfing“ (ebd., 152), „einmal baute mein / Vater eine / FLATTER“ (ebd., 148) oder „1 x am Zug vor 20 JAHREN“ (ebd., 11). Müller 2012, Vater telefoniert, 136 [Herv. i. O.]. Zum autofiktionalen Charakter in Herta Müllers Essays und Prosa vgl. ihre Poetikvorlesung 2009, In der Falle [In der Falle], 21). Der Lesart des Autobiographischen entgegen kommt der Umstand, dass in dieser Sammlung verstärkt auch Kursivschrift (als Schnitt, jedoch keine genormte Typographie, meistenteils Schreibschrift) in den Textblock integriert ist und sogar mit einem Handschrift-Ich beginnt.
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Hinweis auf Verhörsituationen und ein eingebautes Überwachungsprotokoll73, sondern auch der protokollarische Stil aus einfachen Hauptsätzen, die zum Teil absurd präzise anmutenden Orts- und Zeitangaben und der Hinweis auf Aufschreibesituationen74 Anlass geben. Diese Protokolle sind freilich poetisch aufgeladen und der Sachverhalt taugt nicht zur normierten Informationsvermittlung, vielmehr entziehen sie sich einem schnellen Zugriff, es sind Selbst-Protokolle oder die Form des Protokolls konterkarierende „Anti-Protokolle“75. Die Sammlungsform von Protokollen wäre dann die Akte, eine Akte, die wie Herta Müller in ihrem Essay Cristina und ihre Attrappe oder was (nicht) in den Akten der Securitate steht beschreibt, durchaus unvollständig und voller Lücken sein kann; denn zum einen wurden die zur Einsicht freigegebenen Akten vom personell unveränderten Geheimdienst nach dem Ende des Regimes ,gereinigt‘, zum anderen fehlt in ihr all das, was jenseits der manipulierten Bestandsaufnahme liegt. Eine Aktenlektüre bestünde hier im Vorwärts- und Rückwärtsblättern, auf der Suche nach Beweisstücken, die einen Vorwurf erhärten und sich langsam wie ein Puzzle zusammensetzen ließen. Eine wiederum andere Sammlungsstruktur und mithin eine andere Lesart entsteht in jenen Collagen, die sich um einen Begriff, ein Wort ranken. Hier wirkt der Textblock wie eine Definition, der ein ironischer, enigmatischer oder illustrativer Bildteil zur Seite gestellt ist76: „Angst IST / ein greller / Stoff der / beim Tragen auffällt“77, „Weisswind / weht wenn Bäume blühen“78 „Milch ist der Zwilling von / TEER“79, „Das LEBEN IST kein / RÄTSEL sagt der BUSFAHRER / sondern eine SCHACHTEL“80; „Es gibt viele Arten von Schnee den
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„unter Aktenzeichen 005/2011: / 4. Mai punkt 15 Uhr geht Element / FRANK mit dem rothaarigen Hund / ELSE in eine Kirche hinein ICH / verstecke mich in der Ecke SIE / glauben sich allein Element FRANK / bellt hastig Hund Else zündet eine / Kerze AN mir wird ES mulmig / dann Verschwinde ICH“ (Müller 2012, Vater telefoniert, 22). So beginnen zwei Collagen mit „kurz notiert“, vgl. ebd., 16 und 17. Der Auftakt der Sammlung: „ich bekam eine Nachricht die / klar wie ein Messer WAR“ könnte als Vorladung verstanden werden und mithin auch als Auftakt zu der nun folgenden Reihe an Protokollen, vgl. ebd., 7. In der Ausstellung „Der kalte Schmuck des Lebens“ 2010 im Literaturhaus München hingen Original-Collagen neben Ausschnitten aus den Verhörprotokollen, vgl. dazu auch Moyrer 2011, Herta Müllerʼs Collages, 126. Dieses inszenierte Nebeneinander unterstützt die Lesart, dass es sich bei den Collagen um poetische Selbst-Protokolle handelt. Die Assoziation eines bebilderten Wörterbuches für Kinder evoziert die Collage mit der Kuh, die die Aufschrift „Kuh“ trägt, vgl. Müller 2012, Vater telefoniert, 15. Zur Beziehung von Bild und Text in den Abc-Fibeln der Aufklärung vgl. Mona Körte „Vom Ding zum Zeichen“ im ersten Kapitel. Ebd., 139. Ebd., 58. Ebd., 77. Ebd., 95.
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morgengrauen / DER SO schimmert wie HUTSEIDE den bläulich / glänzenden“81; „ein Zucker ist / weiß WIE DER Teufelskreis“82, „ein Beispiel für / anarchisch ist eventuell die / Bahnhofsuhr“83. Vor dem Hintergrund dieser Assoziation wird die Collagen-Sammlung zu einem Wörterbuch der Angst, der Verfolgung, Ausreise und Heimatsuche, in dem auch Vater und Mutter, ja sogar „Ich“ einen Eintrag finden. Indem diese poetischen Definitionen Wörter verwenden, die an anderer Stelle selbst zum Eintrag werden, entsteht ein feingliedriges enzyklopädisches Verweissystem und mit ihm eine kreisend nachschlagende Lektüre, freilich ohne alphabetische oder allgemein bekannte systematische Struktur, die ein gelenktes Nachschlagen erlaubt. Die Anleitung zu einer ganz anderen Form der Ordnung und Lektüre geht vom Bildteil der Collagen aus: Im Vergleich zu den vorangehenden Collagen ist der Bildteil in Die blassen Herren mit den Mokkatassen klar dem Text untergeordnet, streckenweise illustrativ und gleichförmig, insgesamt ein weniger spannungsreiches Bild-Text-Verhältnis.84 Der Bildteil tritt meistens in Form einer quadratischen Komposition auf, die als großer Bildpflasterstein den Schriftblock anführt oder abschließt. Die Bilder sind überwiegend als duale Komposition aus zwei Elementen angelegt – wie ein Dominostein, der zur Reihung bereitliegt. Um eine Reihung vornehmen zu können, bedarf es gleicher Motive, und tatsächlich sind die Bildmotive der Sammlung begrenzt: Hüte, Köpfe, Vögel, Koffer, Augen, Birnen, Schatten oder Hände wechseln sich ab, so dass ein solches „Dominospiel“ durchaus denkbar wäre. Sieht man im Bildelement eine Art rätselhaftes Emblem oder eine Bildinitiale für die jeweilige Collage, so bestünde in diesen via den Bildteil vorgenommenen Reihungsversuchen auch eine Anweisung zur Lektüre der Texte. Die Motive sind jedoch nur ähnlich und im Verfolgen und Aufspüren der Ähnlichkeiten wird schnell deutlich, dass sich die familienähnlichen Züge nicht eindeutig voneinander trennen lassen: Es gibt augenförmige Vogelleiber, Hutköpfe oder Kopfobst, Schattenkoffer oder Handschatten, und so reiht sich Ähnliches an Ähnliches (und nicht Zahl an Zahl) zu einer unendlich immer wieder neu zu gestaltenden Folge. Ebenso wie das Wort auf syntaktischer und semantischer Ebene hat die einzelne Collage im Verhältnis zur Collagen-Sammlung einen „radikalen“ Charakter. Sie spielt unterschiedliche Textsorten an, ohne sich eindeutig zuordnen zu lassen, und sie kann Teil verschiedener Ordnungsstrukturen werden, die eine je eigene Lesart der Sammlung nach sich zieht: Diese kann als Autobiographie, 81 82 83 84
Ebd., 150. Ebd., 160. Ebd., 8 [Herv. i. O.]. Während Herta Müller in ihren ersten Collagen vor allem vom Bild ausging, entstehen die Bilder ab der zweiten Sammlung meist nach dem Zusammenfinden der Wörter. Vgl. Eddy 1999, ‚Die Schule der Angst‘, 338. Insgesamt nimmt die Bedeutung des Bildes im Verlauf der Collagen-Produktion ab, vgl. dazu das Interview von Herbert Kapfer mit Herta Müller: Kapfer 2013, Die Wörter aus den Schubladen, 10:30-11:00. Zur Bedeutung der graphischen Aspekte im Produktionsprozess vgl. ebd., 7:30-10:23.
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als ein Wörterbuch der Angst und des Heimwehs, ein Dominospiel, in dem es auf Familienähnlichkeiten ankommt, als eine Sammlung von Protokollen oder Postkarten gelesen werden oder einfach nur als ein Kalender mit Sprüchen und Slogans von kurzer Lebensdauer, als ein Aufruf also, aus dem Buch wieder eine lose Sammlung herzustellen, in dem man sie wie Kalenderblätter Tag für Tag abreißt. Entscheidend ist dabei zum einen, dass diese Ordnungsstrukturen insofern „Lücken“ aufweisen, als sie nur angedeutet werden und nicht auf alle Collagen durchgehend anwendbar sind, zum anderen, dass die Collagen die unterschiedlichen angedeuteten Textsorten jeweils konterkarieren und subversiv unterlaufen: Es ist ein Roman, in dem die Eigenständigkeit der Miniaturszenen dominiert, es sind poetische Anti-Protokolle, die das Ungenormte in den Blick nehmen und Wörterbucheinträge, die gerade den sperrigen, an eine spezifische Lebenserfahrung gebundenen Charakter eines Wortes zum Ausdruck bringen. Es sind Kalenderblätter, bei denen einem das Lachen im Hals stecken bleibt und Dominosteine, deren Reihung man ewig von vorne anfangen kann, denn alles ist nur ähnlich und nichts gleich.
4. Collagieren als widerständiges Schreiben? Die Schreibverfahren der Fragmentierung, Verdichtung, Entfremdung und Montage können als subversive und widerständige literarische Techniken verstanden werden, die das strenge Wortregime und die jedem Unterdrückungsapparat eigene Sprachnormierung unterlaufen und eine Vielfalt an „Komplizenschaften“ und möglichen Narrationen zulassen.85 In dieser Hinsicht sind die Collagen zwar leichter, spielerischer und spöttischer als die Prosa, schlagen von einem poetologischen Standpunkt jedoch kein radikal neues Kapitel im Werk Herta Müllers auf, vielmehr treiben sie die in der Prosa praktizierten Schreibverfahren auf die Spitze.86
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Denn der von Herta Müller beschriebene Machtapparat ist in seiner Doktrin und seinen gezielten Verhör- und Verfolgungstaktiken selbst nicht flexibel, sondern starr. Wie Herta Müller in dem Essay „Der König verneigt sich und tötet“ ausführt, gehen die Verhörer routinierte Wege und geraten aus dem Takt, wenn man unvorhergesehen reagiert, vgl. Müller 2003, Der König, 68. Darauf reflektiert u.a. Moyrer: „Unorthodoxe Fiktionen richten Schaden im politischen Machtgefüge an, denn sie tragen dazu bei, das transzendente Kleid zu enthüllen.“ (Moyrer 2010, Der widerspenstige Signifikant, 80). „Doch gerade durch die angewandten Verdichtungs- und Verfremdungstechniken gelangt Müllers zentrales Thema – die Traumatisierungen durch Terrorregimes – aller inhärenten Verschleierung zum Trotz in den Collagen besonders deutlich zum Ausdruck. Denn in Gegensatz zu Müllers Postulaten wird darin ihr Anliegen noch stärker konzentriert und ikonologisch weiter transformiert als in den Romanen. Die metaphernreiche, anagrammatische Sprache der Prosatexte erfährt in den Collagen eine visuelle Aufladung, einerseits durch die Hybridisierung von Text und Bild, andererseits durch das Kompilieren von Papierschnitzeln unterschiedlicher Qualität und Form“ (Mitterbauer 2011, Ästhetische Hybridisierung, 75). Vgl. auch Julia Müller, Sprachtakt, 257.
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So kann die Technik des enigmatischen Sprechens und des Spurenverwischens nach Mitterbauer auch als kritische Reflexion auf Manipulation, Verzerrung und Fälschung der Akten und der wörtlichen Rede im Verhör verstanden werden87, die „Technik des Zerschneidens verweist demnach auf das Schreddern von Akten und damit auf das Vernichten von Information“88. Auch die vielen Wiederholungen und Permutationen von Sätzen lassen sich als Anspielung auf die Verhörtechniken des Die-Worte-im-Mund-Umdrehens verstehen, die wie die Textsorten des Protokolls und des Drohbriefes assoziativ angespielt und zugleich ironisch gebrochen werden, indem sie viele mögliche Lesarten zulassen und dafür sorgen, dass die Rede des Verhörten sich eben nicht „festnageln“ lässt. Für Petra Renneke89 und Karin Bauer90 sowie im Anschluss an Renneke auch Helga Mitterbauer91 lässt sich Müllers in den Collagen gesteigerte Schreibpraxis sogar wesentlich allgemeiner und grundlegender als Widerständigkeit gegen den „Logos“ und eine als „westlich“ titulierte Denkstruktur lesen. Und Bauer deutet im Rückgriff auf Adorno ähnlich weitreichend Herta Müllers Schreibweisen als Poetik der Nicht-Identität, durch die die Collage zu einem „Medium einer poetischen Wahrheit“92 werde. Nicht-Identität, Fragmentierung und Verdichtung können als literarische Techniken eingesetzt zum Widerstand gegen (Sprach-)Normierung und Repression werden und als solchen kommt ihnen in Herta Müllers Werk sicherlich eine große Rolle zu. Zugleich wäre es falsch, jene Auflösungen der Sprache als exklusiv literarisches Phänomen zu verstehen, dem eine spezifisch literarische Wahrheit innewohnt und es auf der Seite des Widerstands zu verbuchen. Fragmentierungs- und Verdichtungsprozesse bis hin zum Enigmatischwerden der Sprache lassen sich sowohl als Folge gezielter Sprachzerstörung wie auch als Formen subversiven Widerstands beobachten. Weniger als um eine Eigenart der Literatur und des Schriftstellers geht es in Herta Müllers Werk grundlegender um eine Reflexion auf die Funktionsmechanismen von Wahrnehmung und Sprache überhaupt. In ihrem Essay „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ beschreibt Herta Müller das Aufbrechen eines selbstverständlichen Sprachumgangs, wie ihn das Kind in der „Dorfsprache“ noch zu besitzen scheint, und in dem „die Worte direkt auf den Dingen, die sie bezeichneten“93 lagen: „Es gab für die meisten 87 88 89 90 91
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Vgl. Mitterbauer 2011, Ästhetische Hybridisierung, 90. Ebd., 89. Vgl. Renneke 2008, Poesie und Wissen, 28 f. Vgl. Bauer 2011, Collage and Non-Identity. Mittelbauer 2011, Ästhetische Hybridisierung, 75: „In ihren Collagen sprengt Herta Müller das eurozentrische Konzept von Schriftlichkeit, indem die Dichotomie von Sprache und Bild aufgehoben wird. Dabei entsteht ein kommunikativer Experimentierraum, dessen Resultat keine einheitliche, ‚große’ Erzählung ist, sondern eine Mischform aus symbolischer Schriftund Bildzeichen.“ Bauer 2011, Editorial, 68. Müller 2003, Der König, [In jeder Sprache sitzen andere Augen], 7.
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Leute keine Lücken, durch die man zwischen Wort und Gegenstand hindurch schauen und ins Nichts starren mußte, als rutsche man aus seiner Haut ins Leere.“94 Aus jenem „für immer geschlossene[n] Einverständnis“95 zwischen Wort und Ding, das eine immer gleiche Lebens- und Sprachroutine zu garantieren schien, rutscht das Kind langsam hinaus, und auch die innere Welt, das Denken selbst, lässt sich in den zur Verfügung stehenden Sprachroutinen nicht abbilden: „Die inneren Bereiche decken sich nicht mit der Sprache, sie zerren einen dorthin, wo sich Wörter nicht aufhalten können.“96 In diesem Aufbrechen der Sprache verlieren die Wörter ihren festen Halt und werden, wie es im Essay „Der König verneigt sich und tötet“ heißt, zu unberechenbaren Mitspielern, deren assoziative Reaktionsfreudigkeit nicht mehr unter Kontrolle zu bringen ist: „Das Gewöhnliche der Dinge platzte, ihr Material wurde zum Personal.“97 Herta Müllers Prosa und Essayistik beschreibt diese Dynamik der Sprache dabei sowohl als fundamentale Gefährdung des Sprechens (und des Lebens) wie auch als Chance, die instabile Verbindung zwischen Wort und Ding erneut zu justieren. Im Fokus stehen dabei jene Konstellationen, die wie Katalysatoren das Aufbrechen der Sprache beschleunigen und herbeiführen: Den Sprachlernprozess der Kinder, die Konfrontation zweier oder dreier Sprachen, die wie das Rumänische, das Hochdeutsche und das siebenbürgische Dorfdeutsch nie ineinander aufgehen, die Verhör- und Verfolgungstaktiken der Securitate98 und Extremsituationen wie Tod und Hunger, die Herta Müller in Auseinandersetzung insbesondere mit dem Deportationsschicksal ihrer Mutter und dem Oscar Pastiors in dem Roman Atemschaukel thematisiert. Der „Fremde Blick“ als abhanden gekommene Selbstverständlichkeit99, die bereits in der Wahrnehmung ansetzt, ist dabei kein Merkmal der Literatur: Wer glaubt, er habe sich den Fremden Blick erarbeitet durch stilistische Übungen und Sprachverständnis, weiß nicht, wieviel Glück er hatte, daß er dem Fremden Blick entgehen konnte. Er weiß nicht, daß er Nichtschreibenden gegenüber verächtlich ist und seine Eitelkeit an genau der Stelle aufbläst, an der die meisten Menschen nichtschreibend zerbrochen sind. Er weiß nicht, wie dreist und ungeprüft seine Attitüde daherkommt. Der Fremde Blick hat mit Literatur nichts zu tun. Er ist dort, wo nichts geschrieben werden und kein Wort geredet werden muß: 94 95 96 97 98 99
Ebd., 7. Ebd. Ebd., 14. Ebd., [Der König verneigt sich und tötet], 49. Vgl. Herta Müllers Essay „Der Fremde Blick oder Das Leben ist ein Furz in der Laterne“ sowie Sarah Schmidt 2012, Vom Kofferpacken, 116-121. Vgl. Müller 2003, Der König, [Der fremde Blick], insbesondere 147: „Den Fremden Blick als Folge einer fremden Umgebung zu sehen ist deshalb so absurd, weil das Gegenteil wahr ist: Er kommt aus den vertrauten Dingen, deren Selbstverständlichkeit einem genommen wird. Niemand will Selbstverständlichkeit hergeben, jeder ist auf Dinge angewiesen, die einem gefügig bleiben und ihre Natur nicht verlassen. Dinge, mit denen man hantieren kann, ohne sich darin zu spiegeln. Wo die Spiegelung beginnt, finden nur noch absurde Vorgänge statt, man blickt aus jeder kleinen Geste in die Tiefe. Das Einverständnis mit den Dingen ist kostbar, weil es uns schont. Man nennt es Selbstverständlichkeit.“
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bei den Holzsohlen, beim Fleischgrillen, beim Himmel des Picknicks, bei den Kartoffeln. Die einzige Kunst, mit der er es zu tun hat, ist, mit ihm zu leben.100
So beschreibt Herta Müller das Sprechen in kryptischen und unveränderten Sätzen ihrer Mutter wie einen Verdichtungsprozess der Sprache, den sie als Kind zunächst nicht dechiffrieren kann. Erst mit dem Wissen um die Mechanismen von Sprachzerstörung und -verdichtung durch Gewalt, Hunger und Angst sieht sie, dass in diesen fast gegenstandshaften fixen Sätzen eine traumatische Erfahrung aufgehoben ist: Seit ich denken kann, sagte meine Mutter: Kälte ist schlimmer als Hunger. Oder: Wind ist kälter als Schnee. Oder: Eine warme Kartoffel ist ein warmes Bett. Von meiner Kindheit bis heute, seit über fünfzig Jahren, hat meine Mutter diese Sätze um kein Wort geändert. Sie werden immer einzeln gesagt, weil jeder dieser Sätze für sich genommen fünf Jahre Arbeitslager beinhaltet. Es ist ihre geraffte Sprache, die das Erzählen vom Lager ersetzt. Ich hatte diese kryptischen Sätze ziemlich satt. Ihr Sinn war versteinert, sie klangen schon so unerschütterlich leer wie dreimaldreiistneun.101
Derartige verdichtete Sätze, die Pastior als Folge eines „Zerbrechens der Sprache“ im Lageralltag beschreibt102, werden formelartig wiederholt zu Quasi-Gegenständen, die als eine Art Medizin103 in beunruhigenden Situationen eingesetzt werden kann. In einem gemeinsam begonnenen Projekt mit Oskar Pastior, das Herta Müller nach dessen Tod mit dem Roman Atemschaukel allein vollendete, gehen beide der „Sozialisation“ durch das Lager als „Nullpunkt der Existenz“104 und in ihrer sprachlichen Konsequenz nach.105
5. Wegrandworte in Atemschaukel – die Collage infiltriert die Prosa Der Roman Atemschaukel ist ein signifikantes Beispiel für das Einwandern der Collage in die Prosa. Das bezieht sich nicht nur auf die Übernahme von Meta-
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Ebd.,150. Müller 2011, Immer derselbe Schnee, [Gelber Mais und keine Zeit], 125. „Er sagte, die Sprache sei ihm im Lager zerbrochen. Heute weiß ich, Pastior ist die Sprache nicht nur einmal, sondern noch ein zweites Mal zerbrochen. Die Engführung der Existenz spürt man aus den Texten heraus. Im Verkleiden und Nacktmachen der Worte hat er sein Ich zurückgeholt. Die Verletztheit des Pastiorschen Humors, das Amüsement mit dem traurigen Geschmack – jetzt weiß ich, dass daran zwei Gewichte hängen.“ (Müller 2011, Immer derselbe Schnee, [Ist aber jemand abhanden gekommen], 170 f). Vgl. ebd., 155. Müller 2011, Immer derselbe Schnee, [Gelber Mais und keine Zeit], 126. Zu Oskar Pastiors und Herta Müllers gemeinsamer Reise zu den Lagerorten, an denen Pastior interniert war vgl. Pastior 2010, Meine Reise sowie Herta Müllers Essay „Gelber Mais und keine Zeit“ in Müller 2011, Immer derselbe Schnee.
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phern und Miniaturszenarien, sondern entspricht dem Herausfallen oder Sperrigwerden von Wörtern aus dem Text in Form von Majuskelwörtern, die sich graphisch aus dem Text herausheben und als Wortbrocken wie Treibgut im Satzfluss schwimmen: „Die Mutter sagt: Wir müssen einen kurzen Namen auf den Koffer schreiben. Schreiben wir doch RUTH, so heißt niemand, den wir kennen. Ich schreibe RUHT.“106 Aus dem Koffer ist so unversehens ein Sarg geworden, die Namensaufschrift zur Inschrift. Liest man diese über den Roman verteilten Majuskelwörter auf und stellt sie zusammen, so entsteht eine Art Collage, die, wie ich an anderer Stelle zu zeigen versucht habe, als ein Komprimat des Romans bzw. der Lebensgeschichte des Protagonisten Auberg aufgefasst werden kann.107 In „geraffter Sprache“, in ihrer Enigmatik und Verstümmelung, vermag sie das zum Ausdruck zu bringen, was Leopold Auberg am Ende des Romans selbst nicht gelingt aufzuschreiben. Diese Majuskelwörter fallen jedoch nicht nur graphisch aus dem Text heraus, sie tragen auch den Charakter von Sprachresten, die, orientiert an Heideggers Analyse und Begrifflichkeit in Sein und Zeit vom Zeigezeug zum Dingwort geworden sind. Sie sind, wie es im Roman selbst heißt, „WEGRANDWORTE“, auf der Strecke geblieben, aus dem gewohnten Sprachgebrauch herausgefallen108, gleichwohl das einzige, was einem bleibt. Als solche „ernähren“ sie den Häftling wie das am Wegrand wachsende „MELDEKRAUT“ ebenso wie sie eine Spur aus Worten legen, für den, der bereit ist, ihm nachlesend in die Welt des Lagers zu folgen. Eine solche verdinglichte Qualität besitzt der Satz der Großmutter „ICH WEISS DU KOMMST WIEDER“, der aus den gut gemeinten Ratschlägen und Wünschen zum Abschied alleine übrig bleibt und zur Hauptnahrungsquelle in Hungerzeiten wird. Das Schicksal Leopold Aubergs steht stellvertretend für eine ganze Generation junger Menschen der rumäniendeutschen Minderheit, die nach dem Krieg der Logik kollektiver Schuld folgend wahllos in ein sowjetisches Arbeitslager deportiert wurde. An dem Kofferpacken zu Beginn des Romans beteiligen sich ebenso hilflos wie bestimmt Angehörige und Freunde. Diese „Mitgift“ – lauter fremde Sachen, wie Leopold in einer Art Inventur zu Beginn konstatiert109 – findet im Lageralltag eine neue Funktion und wird in einem endlosen Prozess von Neudefinition und Tausch dann tatsächlich zu einem Startkapitel des Überlebens. Aber Auberg bricht nicht nur mit einer Reihe von Gegenständen ins Lager auf, er hat auch sprachliches Gepäck, dessen Brauchbarkeit sich unter den
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Müller 2009, Atemschaukel, 16. Vgl. Schmidt 2012, Vom Kofferpacken, 115-128. Nach Eddy 2013, Herta Müllerʼs Collages, 178 f. und Moyrer 2011, Herta Müllerʼs Collages, 119 verwendet Herta Müller auch in den Collagen gerne solche „Wegrandwörter“: ausgestorbene oder marginalisierte Mundartwörter wie „Mundhimmel“ (Müller 2005, Die blassen Herren, [Nr. 97]), eine deutsche Übersetzung des rumänischen Wortes für Gaumen oder „Antilopschuhe“ für Schuhe mit Absätzen, „Mokkatassen“, „Gelsenbisse“ oder „Fliederquaste“. Vgl. Müller 2009, Atemschaukel, 7.
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veränderten Vorzeichen des Lageralltags, unter Gewalt, Hunger, Halluzinationen, Erschöpfung und einem die Welt umfassenden tödlichen Heimweh wieder neu definieren muss.110 Auffällig wird diese Diskrepanz zwischen Sprache und Welt zunächst dadurch, dass Wörter aus dem gewöhnlichen Sprachgebrauch herausfallen. Denn wer kann schon distinguierte Formulierungen wie INTERLOPE GESELLSCHAFT oder Wörter wie HOTEL oder ZEITLANG gebrauchen in einer ausweglosen Situation, die quasi außerhalb der Zeit liegt? Neben den ausgefallenen Wörtern aus dem Deutschen oder Rumänischen kommen die von den Lageraufsehern zufallenden Fremdwörter oder -körper aus dem Russischen, die, obwohl täglich präsent, zugleich unverstanden sind. Dieser Abfall oder Wortzufall wird jedoch nicht einfach aussortiert. Ebenso wie sich die Häftlinge auch von Abfall ernähren, findet ein Aneignungsprozess der aus der Sprache gefallenen Worte statt, die sich mit der Zeit zu einer eigentlichen Lagersprache zusammenfügen. Wie die fremdeigenen „gefundenen“ Wörter der Collagen gleichen diese am Wegrand liegenden Worte oder „Wegrandworte“ chemischen Radikalen, die auf der Suche nach Bedeutung vielfältige Beziehungen eingehen können und auf diese Weise die noch „intakte“ Sprache langsam kontaminieren. Ist ihnen ihr Pendant in der Realität bzw. ihr Signifikat abhanden gekommen, so zeigen sie immerhin noch an, dass sie Bedeutungsträger sind und nach Ähnlichem suchen. Einen ähnlichen mimetischen Aneignungsprozess, in dem sich in sperrigen, unverstandenen Wörtern ein Raum für die eigene Erfahrung auftut, beschreibt Walter Benjamin bekanntlich in seiner Denkbildsammlung Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, jedoch mit positiven Vorzeichen. Das Noch-nicht-Verstehen von Wörtern wie „Mummerehlen“ oder „Blumeshof 12“ ist kein gänzliches Nicht-Verstehen, denn es findet suchend nach Ähnlichkeiten und in dieser mimetischen Suche webt sich die eigene Welt der Kindheit in die Worte hinein.111 Ein solch positiv besetzter Suchraum der Worte in der Kinderwelt, in dem sich (Sprach-)Selbstverständlichkeit noch nicht eingestellt hat, findet sich auch,
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Das Kofferpacken wird gleich zu Beginn vom Ich-Erzähler metaphorisch auf Sprache übertragen und macht deutlich, dass es auch um das sprachliche Gepäck und seine Überlebenstauglichkeit im Lager gehen wird, vgl. Müller 2009, Atemschaukel, 9. Vgl. Walter Benjamin, „Die Mummerehlen“, in: ders. 1972, Berliner Kindheit, 260 f.: „Das Mißverstehen verstellte mir die Welt. Jedoch auf gute Art; es wies die Wege, die in ihr Inneres führten. Ein jeder Anstoß war ihm recht.“; ebd., 262: „Das Verstehen ist entstellt; doch hat die ganze entstellte Welt der Kindheit darin Platz.“ Auch das bei Baudelaire, Benjamin und Krakauer entwickelte Denkmotiv des (dichtenden) Lumpensammlers geht auf eine Aneignung des abfällig gewordenen (Wort-)Materials, jedoch wird das Abfällig-Werden in einem ökonomischen Modernisierungsprozess verfolgt und nicht im Kontext von Gewalt und Verfolgung, vgl. den Beitrag von Barbara Thums „Im Zweifel für die Reste“ im vierten Kapitel.
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jedoch sehr selten in Herta Müllers Werk.112 Es ist der Verlust der Selbstverständlichkeit, das Brechen der Sprache, dem Herta Müller vorzüglich nachgeht und vor dessen Hintergrund sich wie in Atemschaukel der sprachmimetische Prozess als ein Überleben aus Resten zeigt. Eine solche Sprachaneignung lässt sich exemplarisch am Majuskelwort HASOWEH verfolgen, das die russische Gaskohle bezeichnet. In das aus einer anderen Sprache zugefallene Wort schreibt sich in einem assoziativen Sprachaneignungsprozess das Lagerleben auf eine eigentümliche Weise ein. In HASOWEH schwingt das Wort „Hase“ und das Wort „weh“ mit, das zusammengesetzt in Leopold Aubergs Ohren wie Hasenweh, „verwundeter Hase“113 klingt. Keinem Hasen, aber einem Erdmännchen, das Auberg hastig auf dem Arbeitsweg den Schädel spaltet, ohne es mitnehmen und essen zu können, fügt er „Weh“ zu.114 In dem kurzen Kapitel Weißer Hase, das nur fünf Sätze umfasst, wird Hasoweh zum eigenen Leiden, denn es wächst in Hungerzeit ein Hase als Hohlwange im Fleisch der Lagerinsassen: Hasoweh. Seine Augen sind Kohle, seine Schnauze ein Blechgeschirr, seine Beine Schürhaken, sein Bauch ein Wägelchen im Keller, sein Weg eine Schiene steil aufwärts zum Berg. Noch sitzt er rosa gehäutet in mir und wartet mit seinem eigenen Messer, das auch das Brotmesser von Fenja ist.115
Eine andere Fährte geht vom Wort Heimweh aus, das Hasoweh klanglich verwandt scheint und in einer kleinen Buchstabenumstellung als kindliche oder dialektale Form von Hausweh gelesen werden kann. Beide Assoziationsstränge finden zusammen, indem Auberg das Hasenweh des Hungers mit dem Heimweh verknüpft116, denn es ist ein krankmachendes Heimweh, an dem man sterben kann. Ist „Heimweh“ längst zu einem verlorenen Wort geworden, unbrauchbar im Lagerleben, so hat sich im zugefallenen Wort „Hasoweh“, die Kohle, deren Staub sich auf alles legt, das Lagerleben und der existentielle 112
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Vgl. z. B. Herta Müllers Bericht über die gemeinsame, vorbereitende Arbeit zu Atemschaukel mit Oskar Pastior in „Gelber Mais und keine Zeit“: „Oskar Pastior sagte, er glaubte als Kind, Seidelbast sei ein Mann. Er leitete es von Sebastian ab, es war der seidene Sebastian. Man kann doch als Kind nur auf solche Gedanken kommen, weil das Wort Seidelbast so schön ist. Seidelbast klingt zart. Die Pflanze blüht lila, hat silbergrüne Blätter und graues Holz. Und im Herbst kriegt sie fleischrote Beeren, eng beieinander aufgefädelt wie eine Korallenkugelkette.“ (Müller 2011, Immer derselbe Schnee, [Gelber Mais und keine Zeit], 132 f). In dem bereits oben zitierten Essay „In jeder Sprache sitzen andere Augen“ allerdings beschreibt Müller das Scheitern der kindlich mimetischen Aneignung: „Ich aß Blätter und Blüten, damit sie mit meiner Zunge verwandt sind. Ich wollte, daß wir uns ähneln, denn sie wussten, wie man lebte, und ich nicht. Ich redete sie mit ihren Namen an. Der Name ‚Milchdistel‘ sollte wirklich die stachlige Pflanze mit der Milch in den Stielen sein. Aber der Name war der Pflanze nicht recht, sie hörte nicht drauf. Ich versuchte es mit erfundenen Namen: ‚Stachelrippe‘, ‚Nadelhals‘, in denen weder ‚Milch‘ noch ,Distel‘ vorkam“ (Müller 2003, Der König, [In jeder Sprache sitzen andere Augen], 11). Müller 2009, Atemschaukel, 124. Vgl. ebd., 132. Ebd., 231. Vgl. ebd., 125.
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Schmerz um das Wissen eines anderen Lebens in einem Wort verdichtet. Der Charakter von HASOWEH als Radikal, das vielfältige Verbindungen eingeht und so zum Ausdruck des schwer Ausdrückbaren wird, bleibt auch nach der Lagerzeit erhalten. Hat auch der Kapo Prikulitsch Hasoweh, wenn er nach der Lagerzeit „erlegt“ mit gespaltenem Kopf aufgefunden wird?117 Eine ähnliche neue Zuschreibung erfährt das Wort MELDEKRAUT durch den Lageralltag, wie Herta Müller in ihrem Essay „Gelber Mais und keine Zeit“ selbst analysiert: Meldekraut, ein Unkraut, die Schutthaldenpflanze, die sich die Halbverhungerten im Frühjahr in den Kissenbezug pflückten. Im Lager ist tägliches Melden beim Abendappell. Der Pflanzenname ist, ob man will oder nicht, plötzlich ein Lagerwort. Man denkt Appellkraut, wundert sich, dass es Meldekraut und nicht Meldedichkraut heißt. Man hat von nun an ein Wegrandwort und ein Hungerwort.118
Reiht man die Majuskelwörter dieses Kapitels aneinander, wird in der collagierten Reihung genau jene Neueinschreibung sichtbar, so, als trieben die aufgelesenen Wegrandworte eine neue Lesart aus sich hervor: „LOBODA / MELDEKRAUT / MELDEKRAUT / MELDE / MELDE DICH“119. Verlässt Auberg das Lager mit neuem Fleisch auf den Rippen (denn die Häftlinge werden erst einmal aufgepäppelt und nicht als Scheintote entlassen) und mit einem Holzkoffer ausgefüllt mit neuen Dingen, als ob das Lager ihm einen materiellen Gewinn verschafft hätte, so ist das eigentliche Lagergepäck ein „Koffer aus schwarzer Haut“, in dem die Majuskelwörter den Überlebenden nachts heimsuchen – heim ins Lager suchen: Seit sechzig Jahren will ich mich in der Nacht an die Gegenstände aus dem Lager erinnern. Sie sind meine Nachtkoffersachen. Seit der Heimkehr aus dem Lager ist die schlaflose Nacht ein Koffer aus schwarzer Haut. Und dieser Koffer ist in meiner Stirn. [...] Manchmal überfallen mich die Gegenstände aus dem Lager nicht nacheinander, sondern im Rudel. Darum weiß ich, dass es den Gegenständen, die mich heimsuchen, gar nicht, oder nicht nur um meine Erinnerung geht, sondern ums Drangsalieren. [...] Gegenstände, die vielleicht nichts mit mir zu tun hatten, suchen mich. Sie wollen mich nachts deportieren, ins Lager heimholen, wollen sie mich.120
Die Lagersprache aus radikalen Sprachresten treibt ihr Unwesen auch nach der Lagerzeit und kontaminiert die wieder gefundene „Friedenssprache“: So SCHIESST bei der Lektüre eines Lexikonartikels der Baum in die Höhe, führt Aubergs Assoziationen unmittelbar zurück ins Lager und verbindet sich mit
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Ebd., 273 und 277. Vgl. Müller 2011, Immer derselbe Schnee, [Gelber Mais und keine Zeit], 129 f. Eine ganz ähnliche sinnhafte „Auflösung“ ergibt sich in der Reihung des Kapitels „Interlope Gesellschaft“: „INTERLOPE GESELLSCHAFT HOTEL ZEITLANG HOTEL HOTEL HOTEL APPELL“. Müller 2009, Atemschaukel, 33 f.
FREMDEIGENE WORTRESTE
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dem Baum als stummen Zeugen der nächtlichen Erschießungen. Auch die Bezeichnung „Schwarzpappel“, deren Widersprüchlichkeit – der Stamm ist weiß – den Onkel stört, gewinnt vor dem Hintergrund des „schwarzlackierten Himmels“ in der Nacht eine andere, eine Lagerlogik, von der sich der Begriff der SCHWARZPAPPEL nicht so schnell lösen kann.121 Seine Memoiren, für deren Hauptteil Auberg nur eine Leerstelle reservieren kann, denn über ein Vor- und Nachwort kommt er nicht hinaus, bleiben ungeschrieben. An ihre Stelle tritt eine Sammlung aus Nachtkoffersachen, eine gelegte Spur aus Wegrandworten, die ihre adäquateste Form vielleicht in jener Majuskelwort-Collage findet.122 Das „Zerbrechen der Sprache“123, mit dem die Worte aus ihrem selbstverständlichen Bedeutungs- und Gebrauchsnetz herausfallen und zu „Radikalen“ oder Dingworten werden, ist ein Phänomen, das Müller in ihrem Werk insbesondere als Folge von Gewalt, Angst und Verfolgung thematisiert, aber auch im Sprachlernprozess der Kindheit und in der Konfrontation unterschiedlicher Sprachen beobachtet. Einmal „aus der Haut ins Leere gerutscht“ und dem Eigenspiel der Sprache ausgesetzt, erscheint freilich auch das vermeintliche Einverständnis von Wort und Ding, die Vollständigkeit und Geschlossenheit der Sprache als Illusion oder als Utopie. Der Spalt, die Lücke, die Erschütterung in Extremsituationen ist als Mikrobewegung jedem Sprechen und jedem Wahrnehmen eigen. Das verdeutlicht sich in einer kleinen Szene aus dem Roman Reisende auf einem Bein, in dem das Collagieren selbst zum Thema wird. In einer Szene arbeitet die Protagonistin an einer Bild-Collage, für die zunächst ein bereits bestehendes Bild, eine Postkarte, zerstört wird. Wie ein Regisseur greift sie in die Bildkomposition ein, die Schere gehorcht den Assoziationen, die sie beim Betrachten hat und die bereits im Sehen die Komposition zerstückeln, die Schere ist nur noch Vollzug.124 Der weitere Prozess ist eine sich selbst generierende Serie an „Bildresten“, die, erneut verarbeitet, wieder Reste produzieren und so fort.125 Auffällig ist, dass die Beschreibung dessen, was auf der Collage zusammengestückelt abgebildet ist, sich von der Beschreibung der Realität im Roman nicht unterscheidet: auch die wahrgenommene Realität erscheint als eine durch den 121 122
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Vgl. ebd., 74 f. Mit Barbara Natalie Nagel („Enjambement des Rests“, viertes Kapitel) könnte man diese Heimsuchung durch diese sprachlichen Reste, diese Dingwörter auch als Enjambement verstehen, das immer wieder einen neuen Anfang − hier im Sinne eines traumatischen Rückkehrens ins Lager − provoziert. Müller 2011, Immer derselbe Schnee, [Ist aber jemand abhanden gekommen], 170 f. „Ein Mann saß abseits. Er hatte das Kinn in die Hände gestützt. Er schaute aufs Wasser. Der Photograph hatte ihn, als er das Bild der Schachspieler gemacht hatte, nicht wahrgenommen. Der Mann, der abseits saß, gehörte nicht ins Bild. Die Karte der Schachspieler war für Irene die Karte des Mannes, der abseits saß. Nur so wurde die Karte ein Geschehen, das nicht zu Ende war. [...] Irene schnitt, da, wo der Mann saß, das Ufer ab. Die Schere berührte das Schachbrett nicht. Der Mann lag gekrümmt auf dem Wasser. Irene schnitt auch das Wasser ab. Der Mann fiel in Irenes Hand“ (Müller 2010, Reisende, 48). Vgl. ebd., 50 f.
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Blick zerteilte Komposition, die sich neu zusammensetzt und Reste hinterlässt, die neue Geschichten fordern und generieren. Dementsprechend bezeichnet Müller den Schreibprozess selbst als eine Form des inneren Collagierens126 und unterstreicht die bereits im Akt der Wahrnehmung arbeitenden Fragmentierungsverfahren.127 Lösen sich Syntax und Semantik in der müllerschen Prosa tendenziell auf, beginnt das Detail das Ganze zu überwuchern, so haben wir es in den Collagen nur noch mit Resten zu tun, die aufgesammelt in einer Art Sprachinventur eine Neuordnung erfahren. Sortiert Müller im Produktionsprozess die einzelnen Wörter in Wortschränkchen, so stellen die Collagen mit zahlreichen sammelnden Techniken das Sprachinventar zur Schau. Die Reste sind jedoch alles andere als neutral, schon im Produktionsprozess werden sie zu Mitspielern, die das Zusammenfinden mitbestimmen, indem sie Spuren ihres Gesprochen-worden-Seins noch an sich tragen. Das Entstehen von radikalen Sprachresten, durch das Sinnstiftung ambivalent und „unberechenbar“128 wird, kann ebenso erlitten wie (dichterisch) generiert, zum Instrument der Zerstörung wie des subversiven Widerstandes werden. Der Literatur eigen ist, nicht nur auf diesen Umstand hinzuweisen, sondern ihn vorzuführen.
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Vgl. das Interview mit Gebhard Henke in Süddeutsche Zeitung vom 16.11.1984, 16. Vgl. das Interview mit Herta Müller in: te Heesen 2002, Interview, 172. Eddy 1999, ‚Die Schule der Angst‘, 338.
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„ONE MAN’S TRASH IS ANOTHER MAN’S TREASURE“ – ZU ABFALL UND TREIBGUT IN MURRAY BAILS HOLDEN’S PERFORMANCE UND ALEXIS WRIGHTS CARPENTARIA
Das englische Sprichwort im Titel soll als Leitmotto für das Thema dieses Aufsatzes dienen. Durch das Wortspiel ‚trash/treasure‘ hebt es die Ambivalenz materieller Wertzuschreibungen hervor und macht diese abhängig von individueller Perspektivierung. Im Zuge einer literarischen Spurensuche nach Angeschwemmtem und Abfälligem in zwei australischen Romanen, Murray Bails Holden’s Performance1 und Alexis Wrights Carpentaria2, werden diese Dingkategorien für kultur- bzw. literaturwissenschaftliche Fragestellungen ganz buchstäblich zu ‚treasures‘, anhand derer sich Aspekte postkolonialer australischer Identität diskutieren lassen. Dem unterliegt eine Ambivalenz in der Konstruktion dieser ‚imagined community‘3, da im Falle Australiens postkoloniale Identität von einer gedoppelten Binarität ausgeht, wie es zum Beispiel Anna Johnston und Alan Lawson beschreiben: In the founding and growth of cultural nationalism, then, we can see one vector of difference (the difference between colonizing subject and colonized subject: settler-indigene) being replaced by another (the difference between colonizing subject and imperial center: settler-imperium.4
Diese Vektoren bilden auch das prinzipielle Strukturprinzip dieses Beitrags, der so dynamische Dinge in der Literatur einzufangen versucht: Carpentaria beschreibt die Landschaften einer spätkapitalistischen Konsumgesellschaft, deren Auswirkungen im Falle Australiens seine ‚doppelte‘ Postkolonialität hervorheben, die der ehemaligen Kolonialisierten und die der ehemaligen Kolonisatoren. Der Roman spielt auf den ‚mudplains‘ um den Golf von Carpentaria am nordöstlichen Rand des Kontinents und sieht sich als Versuch, die narrative Ermächtigung über ‚weiße‘ Versionen nationaler und vor allem kultureller Identitäten zu unterlaufen. Die Welt um Bails ‚Australian everyman‘ Holden hingegen umreißt die des urbanen, ‚weißen‘ Australiens, das von angeschwemmten 1 2 3 4
Bail 1987, Holden’s Performance. Wright 2006, Carpentaria. Vgl. Anderson 2006, Imagined Communities. Johnston/Lawson 2000, Settler Colonies, 365. Wie die Fallbeispiele zeigen werden, ist der hier skizzierte Richtungswechsel nicht abgeschlossen, sondern kann als andauernder Prozess betrachtet werden, der mit Wrights Roman einen leicht veränderten Schwerpunkt erfährt: aus ‚settler‘‚indigene‘ wird ‚indigene‘-‚settler‘.
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Dingen belagert wird. Der Fokus auf Treibgut dient hier als thematische Brücke, die beide Werke verbindet. Angeschwemmtes dient aber auch als Anhaltspunkt, der auf weitreichende postkoloniale Paradigmenwechsel verweist, wie Paul Carter mit seiner ‚archipelagischen‘ Sichtweise auf Australien verdeutlicht.
1. Australien als Archipel: Treibgut und kulturelle Strömungsverhältnisse Paul Carter, dessen Beiträge zu australischen kulturtheoretischen Debatten von einem immer wiederkehrenden Aufruf geprägt sind, festgefahrene epistemologische Paradigmen zu durchbrechen, plädiert in einem Aufsatz mit dem ‚tongue-incheek‘-Titel „Incontinence: Australia and the Archipelago“5 für einen radikalen Blickwechsel in der Imagination des Inselkontinents. Dabei wendet er sich in erster Linie gegen die Vorstellung von Australien als geographischer und kultureller Einheit, deren Bilder von Umrissen auf einer Karte geprägt sind.6 Diese räumlich-geographische, aber auch kulturelle Abgeschlossenheit spiegele sich, so Carter, in einer Begrenzung der Wissensproduktion in und über Australien wider. Daher schlägt er vor, Australien als Archipel zu konzipieren, das an die Stelle der Vorstellung Australiens als monolithischer Landmasse tritt. Für eine postkoloniale Imagination Australiens, dessen Position sich nicht länger nur über die Verbindung zwischen Nation und postimperialistischem Zentrum bestimmen lässt, müssen diese Begrenzungen durchlässiger werden. Mehr noch, als heuristisches Instrument bedeutet der Archipel auch, Themen und Orte auf innovative Weise miteinander zu verbinden.7 An die Stelle statischer Beobachtung, Einordnung und Repräsentation (die historisch gesehen Instrumente kolonialer Herrschaftsansprüche und Machtausübung waren) tritt eine fluide, dynamische Betrachtungs- und Denkweise, die über rein visuell-geographische Prämissen hinausgeht. Wird Australien als Archipel gedacht, eröffnen sich neue Wege, dessen postkoloniale Situation in Bezug auf inner- und transnationale Veränderungen zu lesen: kulturelle, geopolitische, soziale und epistemologische Hierarchien werden in Bewegung versetzt, die Homogenität des Kontinentalen wird abgelöst von heterogener Verästelung. Mit seinem Plädoyer für eine ‚archipelagische‘ Sichtweise auf Australien setzt Carter den in der australischen Kulturbetrachtung traditionell vorherrschenden Dichotomien von ‚oben‘ (der westlichen Hegemonialmacht) und ‚down under‘, von urbanen Räumen und ruralem Zentrum, von ‚weißer‘ und indigener Bevölkerung, ein dynamisches Element entgegen. Besonders von 5 6 7
Carter 2014, Incontinence, 181 ff. Carter beschreibt Australien als „geographical and cultural entity […] [whose] images are derived from an outline on a map.“ (Ebd., 181.) „[It is] a way of relating topics and places differently. […] [A]lways exceeding unification and containment, its navigation foregrounds the role creativity plays in turning sense data into information[].“ (Ebd., 182.)
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europäischer Warte aus sind solche Gegensätze immer noch äußerst präsent, wie Gerhard Stilz in seiner konzisen Einführung in zentrale Topoi der australischen Literatur thematisiert.8 Trotz der Klischeehaftigkeit dieses Bildes, die Stilz an dieser Stelle konstatiert, ist die Projektionsfläche Australien sowohl außen- wie auch innenperspektivisch betrachtet immer noch stark von dieser Dialektik geprägt. Australien als Kontinent binärer Gegensätze, als buchstäbliche wie diskursive Unterseite zu westlichen Wissensdiskursen, erfährt aber in Kombination mit Carters Archipel eine vielschichtige Erweiterung seiner konzeptionellen Möglichkeiten: Es wird zum Raum, in dem sich Dinge sammeln, die ‚oben‘ z. B. im Zuge westlichen Fortschrittdenkens ihren Wert verloren haben und nun, in ihrem neuen Umfeld angekommen, darauf warten, Teil einer neuen Konsumordnung zu werden.9 Wie bereits bei Carter anklingt, kommt dem Medium des Wassers in diesem Zusammenhang sowohl auflösende als auch konstituierende Funktion zu. Getragen von Strömungen, Sturmfluten oder Rinnsalen werden sie nun als Materialien ohne klaren Auftrag den Bewohnern vor die Füße gespült.10 Das heißt, nur durch Wasser kann Treibgut erst entstehen, gleichwohl kann Ersteres aber auch für die kategoriale Unschärfe dieser besonderen Dinge verantwortlich gemacht werden. In den Romanen von Bail und Wright wird dies nicht nur an den Dingen an sich verhandelt, sondern zeigt sich vor allem daran, dass Treibgut zu einer Überkategorie wird, die auch Menschen, Wörter und Diskurse umfasst. Der Umgang mit Abfälligem wird im wahrsten Sinne des Wortes zu einem zentralen Modus Operandi australischer Identitäten. Die räumliche wie konzeptionelle Durchlässigkeit des Archipels öffnet Australien nach innen wie nach außen, es wird zu einem Sammelort migrierender Dinge, anhand derer Fragen nach der Position Australiens in der Welt und sich selbst gegenüber verhandelt werden. So wird Treibgut z. B. zum Sinnbild einer fortwährend marginalisierten 8
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„It is generally assumed in Europe (and even in America) that an understanding of Australia might – dialectically – start from the notion of the ‚Antipodes‘.“ (Stilz 2010, An Introduction, 169.) Dass diese Dialektik noch weit verbreitete Lehrmeinung (vor allem im europäischen Diskurs) ist, zeigt z. B. der Artikel Eberhard Kreutzers in der von Hans Ulrich Seeber herausgegebenen englischen Literaturgeschichte (Kreutzer 2012, Die neuen englischsprachigen Literaturen, 552 ff.) Den Zusammenhang zwischen Fortschritt, Abfall und erneutem Konsum fasst Joel Burges folgendermaßen zusammen: „Progress has a dark twin. Commonly understood as an unstoppable force of historical change that forever launches us into the modern, progress is shadowed by obsolescence. Every time we advance historically, things, structures, and people are rendered obsolete, as are the cultural values, social relations, political hopes, and personal desires they embody. This does not mean that any of these vanishes. Whatever is rendered obsolete does not disappear. It accumulates, piling up both in public sites such as landfills, fleamarkets, secondhand stores, and collectorʼs markets, and in private location such as trashcans, attics, basements, and closets. It endures as the rubble of a bygone modernity in the form of abandoned industrial infrastructure and as the ruins of an ancient culture now transformed into a venerable tourist destination.“ (Burges 2010, The Television and the Teapot, 201.) Seine Aufzählung obsoleter Sammelorte kann auf anderer Ebene um den der Literatur erweitert werden. Zum Wasser als spezifischem Sammelmedium, in das (auch menschliche) Abfälle abgeführt werden, vgl. den Beitrag von Barbara Thums „Im Zweifel für die Reste“ im vierten Kapitel.
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Nation, die notgedrungen zu den Resteverwertern globaler Umbrüche degradiert wird. Auch rufen die brüchig gewordenen Abgrenzungen nach außen, u. a. repräsentiert durch den Grenzraum des Strandes, etwa bei Bail, neurotische Ängste vor dem Fremden auf. Für die Verhandlung der internen Konflikte australischer kultureller Identitäten, wie sie Wright beschreibt, repräsentieren Abfall, Müll und Rest die soziale, ökonomische und kulturelle Stellung indigener Kulturen gegenüber einer ,weißen‘ Bevölkerung. So werden gleichzeitig die konfliktbeladenen Auseinandersetzungen zwischen indigener und ,weißer‘ australischer Bevölkerung und jene zwischen Australien, Großbritannien und den USA anhand von Abfall, Müll und Rest greifbar gemacht. In den hier verhandelten Romanen wird dies auf unterschiedliche Art und Weise, jedoch mit ähnlichen Mitteln, ausgestellt und dekonstruiert: Sowohl Bails Holden’s Performance als auch Wrights Carpentaria11 lassen ihre Figuren ganz wortwörtlich im angespülten Dreck der jüngeren National- und Kulturgeschichte wühlen und stellen so verschiedene Modi des Umgangs mit Dingen aus. Im Folgenden soll in diesem Zusammenhang eine besondere Form der Dinge betrachtet werden, die sich wiederum in Rekurs auf Paul Carter nahezu aufzudrängen scheint: die des angespülten Abfalls bzw. Treibgutes. Kategorial betrachtet sind Treibgut und Abfall sich nahestehende Dingzustände, die gleichzeitig Resultat dynamischer Prozesse sind und somit eine Art Zeugenfunktion haben, aber auch als Überreste diese Prozesse überdauern können, um dann zu Bausteinen neuer kultureller, sozialer oder ökonomischer Konstruktionen zu werden.12 Anhand des Umgangs mit Dingen, und z. B. deren Einbettung in globale Warenströme der (post-)industriellen westlichen Gesellschaft, können Phänomene des modernen Wandels, Fortschritts, Weltverstehens formuliert werden, aber auch Gefühlen von Überwältigung, Angst und Entfremdung Ausdruck verliehen werden. Wie sich zeigen wird, kommt Treibgut dabei eine universale und zunächst antihierarchische Bedeutung zu, die jedem Individuum jenseits ethnischer Zugehörigkeit zur Verfügung steht. Damit bietet es sich als motivischer Baustein für alle kulturellen Ausformungen Australiens an. An Abfall lässt sich, so argumentiert der amerikanische Kultursoziologe Michael Thompson13, besonders gut die Interaktion zwischen dem sozialen menschlichen Dasein und der Welt der Dinge veranschaulichen: Die grundlegende Idee ist, daß physischen Objekten als Folge der Prozesse des menschlichen sozialen Lebens bestimmte wichtige Eigenschaften verliehen wer-
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Beide Romane sind preisgekrönt, ein Zeichen für ihre Sichtbarkeit in der kulturellen Landschaft Australiens: Holden’s Performance erhielt 1988 den „Vance Palmer Prize for Fiction“; Wrights Epos den renommiertesten Literaturpreis Australiens, den „Miles Franklin Award“ im Jahr 2007. Zur Zeugenschaft wandernder Dinge im Kontext von Vertreibung und Zerstörung vgl. den Beitrag von Dörte Bischoff „Vom Überleben der Dinge“ im ersten Kapitel. Thompson 1981, Theorie des Abfalls.
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den und umgekehrt, daß, wenn diese Eigenschaften nicht auf sie übertragen würden, menschliches Leben selbst nicht möglich wäre. Da Menschen physische Objekte sind, sind auch sie dem gleichen Prozess unterworfen.14
Betrachtet man Abfall als Resultat soziokultureller Prozesse, so eröffnet er ein Feld kreativer Neuverhandlung von Identitäten, die sich aus dem Zusammenspiel materieller und sozio-kultureller Werte herausarbeiten lassen. Treibgut steht in diesem Zusammenhang dem Abfall nahe, und eignet sich aufgrund seiner maritimen oder zumindest ‚thalassischen‘ Konnotationen besonders für die Betrachtung von Räumen, in denen das Medium des Wassers formende Funktion ausübt. In seiner englischen Übersetzung bedeutet Treibgut (flotsam und jetsam) ursprünglich eine Kategorie für Schiffsladung, die entweder in schwerer See über Bord gespült wurde, oder im Falle einer Havarie über Bord geworfen werden musste. In der englischen Umgangssprache denotieren diese Begriffe heute entweder unbrauchbare und achtlos weggeworfene Dinge, aber eben auch Menschen, die verstoßen und als wertlos erachtet werden.15 So zeigt sich bereits auf semantischer Ebene die Bandbreite möglicher damit verbundener literarischer Betrachtungsweisen, indem hier eben nicht nur Dinge, sondern auch Menschen in diese Kategorie fallen. Auch eine meeresbiologische Definition von Treibgut ist in diesem Kontext vielsagend: Marine debris can be defined as any object of plastic, wood, metal, glass, rubber, cloth, paper or other human generated item that has been lost or discarded […] [D]ebris threatens marine wildlife through entanglement and ingestion and can provide a substrate for fouling organisms that could potentially be transported into new ecosystems.16
Treibgut bekommt auch hier einen ambivalenten Status: als wertloser und für Lebewesen gar tödlicher Abfall, dessen Existenz bedrohlich erscheint, aber eben auch (fäulniserregender) Nährboden, der in neue Ökosysteme überführt wird. Diese Definition rückt Treibgut in die Nähe der bedrohlichen von außen eindringenden Kräfte, die laut Fiona Allen Ängste schürten, die grundlegend waren für die ,weiße‘ ‚settler‘-Kultur Australiens.17 Zudem weist die populärwissenschaftliche Einführung in die Welt des Treibguts von Eric Scigliano und Curtis Ebbesmeyer auf das narrative Potential dieser speziellen Dingkategorie eindrücklich hin: Der Strandläufer „finds telltale data where others see only trash – in the most literal sense. As he says, every piece of flotsam has a tale to tell – one small piece of the ocean’s great story.“18 Fasst man beide Positionen 14 15 16 17
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Ebd., 117. Im Original lautet die Defintion: „useless and discarded objects“ bzw. „people and or things that have been rejected and are regarded as worthless“ (OED). Cunningham/Wilson 2003, Marine Debris, 421. Sie stellt fest: „[a]nxieties surrounding a perception of Australia’s identity as insecure and vulnerable [which] were foundational to white settler culture.“ (Allon 2005, The Tyranny of Proximity, 70.) Scgigliano/Ebbesmeyer 2009, Flotsametrics, xiv.
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zusammen, so erscheint Treibgut als ein Fremdkörper, dessen ‚stories‘ zunächst als eindringende Störfaktoren erscheinen, die wiederum über hermeneutische Prozesse diskursiv fruchtbar gemacht werden können und so Nährboden für ein neues postkoloniales Australien werden. In Bails Roman – einem literarischen Vertreter eines dezidiert ,weißen‘ kulturellen Weltbilds – wird diese Aufgabe von einer Reihe Sammlerfiguren mit beinahe fanatischem Ordnungssinn ausgeführt, deren Sammelwut das Ziel hat, eine empirische Analyse eines Australiens im Wandel durchzuführen. Die Perspektive, die hier vorherrscht, ist klar nach außen auf Australien und seine Rolle in der Welt ausgerichtet. Besonders die ambivalenten Beziehungen zur ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien und der ‚neo-kolonialen‘ Kriegs- und Wirtschaftsmacht USA stehen im Vordergrund. Dabei wenden sich die Sammler zum einen Überresten einer mit Misstrauen betrachteten Konsumkultur zu, die den gesellschaftlichen Jetztzustand abbildet. Aber ihre Sammeltätigkeit hat auch in Bezug auf die jüngere Vergangenheit historiographische Funktion: Das an die Küsten gespülte Treibgut wird zu Versatzstücken der jüngeren Weltkriegsgeschichte, und die australischen Sammler werden somit zu Bewahrern einer europäischen Vergangenheit. Wrights Roman als zeitgenössisches Beispiel indigener Literatur hingegen ist stärker an inneraustralischen Auseinandersetzungen zwischen ,weißer‘ und indigener Kultur interessiert. Innerhalb derer erhält das Sammeln zwar teilweise ebenfalls historiographische Funktion. Der Umgang mit Dingen, die von ihrer Ursprungsbedeutung losgelöst sind, erlangt bei Wright jedoch eine viel weitreichendere Aussagekraft in Hinblick auf die Formulierung einer postkolonialen Zukunftsvision eines neu zu schaffenden Australiens. Beide Werke machen sich zu eigen, dass sie dem Umgang mit Dingen zentrale Bedeutung beimessen: Das Sammeln von Treibgut und Abfall wirft Fragen nach Besitz und Aneignung auf, die für die Konstruktion einer postkolonialen australischen Identität eine zentrale Rolle spielen. Die Idee, dass die ehemalige Strafkolonie sich vor allem über die Frage ‚Wessen Australien?‘19 konstituiert, legt nahe, sich mit den komplexen Beziehungen zwischen postkolonialen Subjekten und der materialen Welt, die sie umgibt, zu beschäftigen. Besonders die Figur des Archivars tritt dabei in den Vordergrund und bildet eine weitere Verbindung zwischen den Romanen. Der literarische Umgang mit Weggeworfenem und Angespültem spiegelt die wechselhafte, machttechnische, ökonomische, epistemologische und identitätsstiftende Rolle dieser besonderen Dingkategorien. Das Treibgut, das sich zu einem zentralen Leitmotiv etabliert, stellt die Prozesse und Möglichkeiten kultureller Kategorisierungen eindrücklich aus. Der Literatur wird hier eine zentrale Rolle zuteil, da sie ein bestimmender Faktor in der Neu- bzw. Umformulierung solcher Prozesse ist. In und mit ihr entstehen diskursive Räume, in denen Dinge in Bewegung geraten, die vormals klaren Ordnungen unterstanden. Diese 19
Vgl. West-Pavlov 2005, Who’s Australia, or, Whose Australia.
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werden so, metaphorisch und buchstäblich, zu Treibgut, und drängen sich im Rahmen des von Carter postulierten Paradigmenwechsels fast schon auf.
2. Die „Great Australian Emptiness“ füllen – Eingedrungenes und Angeschwemmtes in Holdenʼs Performance Bails Werk beschreibt auf satirische Art und Weise den Lebenslauf seines Helden Holden, der in einem ethnisch homogen-,weißen‘ Australien der Nachkriegszeit aufwächst, in dem ideelle Substanz von dem Streben nach materiellem Besitz ersetzt wird. Dinge nehmen hier kulturbildende Funktion ein: die Automarke im Titel20 gibt in dieser Hinsicht die metaphorische wie auch materielle Leitlinie vor, an der entlang sich die exzentrische Figurenschar um Holden durch den wirtschaftlichen Aufschwung der „Ära Menzies“ sammelt, bastelt und produziert. Doch materieller Wohlstand, so legt es Bails Roman nahe, geht mit kultureller Leere einher. Für Bail war die Zeit, in der er seinen parodistischen Bildungsroman anlegt, laut eigener Aussage von lähmender Langeweile und gähnender Leere geprägt.21 Diese vermeintliche Leere, die sich als Kommentar zu Patrick Whites Polemik der ‚Great Australian Emptiness‘ lesen lässt22, bietet sich so als diskursive Projektionsfläche an, auf der Bail seinen satirischen Kulturpessimismus ausbreiten kann.23 Holden’s Performance charakterisiert Australien als global isolierte und marginalisierte Nation, deren geopolitische wie auch kulturelle Herausforderungen sich in einem für alle Figuren verunsichernden ‚coming-of-age‘-Prozess spiegeln. Auf der anderen Seite führt Bail den ‚Waltzing Materialism‘24 Australiens 20
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Die Automarke Holden war zu der Zeit, die Bail beschreibt, die beliebteste Automarke Australiens. Werbeslogans bezeichneten die Marke als „Australia’s own car“, ein Zeichen für die Verquickung nationaler Identität und materieller Statussymbole. Ironischerweise wurde Holden bereits 1931 (ungefähr zu der Zeit wurde auch Bails Holden geboren) von dem US-Fahrzeugkonglomerat General Motors aufgekauft. So ist ‚Australias own‘ bereits von Geburt an eigentlich amerikanisch. So beschreibt er selber seine Jugend in Adelaide als Zeit der Langeweile und Leere: „[it was a] time of boredom and emptiness − of almost deafening emptiness“ (Lysenko/Brophy 1981, Interview, 38). In seiner Rede „The Prodigal Son“ zeichnet der Nobelpreisträger White ein düsteres Bild der Kulturlandschaft Australiens: „In all directions stretched the Great Australian Emptiness, in which the mind is the least of possessions, in which the rich man is the important man, in which the schoolmaster and the journalist rule what intellectual roost there is, in which beautiful youths and girls stare at life through blind blue eyes, in which human teeth fall like autumn leaves, the buttocks of cars grow hourly glassier, food means cake and steak, muscles prevail, and the march of material ugliness does not raise a quiver from the average nerves.“ (White 1958, The Prodigal Son, keine Seitenangabe.) Holden’s Performance kann als Bails sozialkritischster Roman gelesen werden, auch wenn solch eine Zuschreibung leicht missverständlich ausgelegt werden kann: Bails Werke wenden sich von den bis in die 1960er Jahre in Australien weit verbreiteten Postulaten des sozialkritischen Realismus eindeutig ab. Vgl. King 1978, Waltzing Materialism.
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vor, dessen Narrativ von nationalem Fortschritt und individuellem Reichtum nur schwer mit der Positionierung der Nation als marginalisierter Friedhof der Weltgeschichte in Einklang zu bringen ist. Im Zuge dessen wird das urbane Australien zu einer Art Müllhalde globaler Machtverschiebungen. Der Einfluss Europas als Heimat von Empirie und ‚common sense‘25, bildet die Grundlagen für Bails kulturelle Antipathien. Mit seinem parodistischen Bildungsroman um den ‚Australian everyman‘ Holden Shadbolt und seine Sammlerfreunde hält er dem imperialen Zentrum einen ironischen Spiegel vor. Dabei hinterfragt Bail über das Motiv des eindringenden Abfalls auch, auf welcher Basis der nationale Mythos eines ,weißen‘, kulturell wie wirtschaftlich eigenständigen Australiens fußt. Das sich aus dieser Disparatheit ergebende Spannungsfeld lässt Bail durch den Umgang seiner Figuren mit materiellen Resten ausagieren: teils neurotisch, teils opportunistisch setzen sich die Titelfigur Holden, sein Onkel Vern und dessen Freunde sowie Holdens Stiefvater Frank McBee mit Abfällen aller Art auseinander, begründet in einer nationalistisch-paranoiden Grundstimmung, die das Adelaide der Nachkriegszeit fest im Griff zu haben scheint. Die Einwohner dieser kolonialen Planstadt sehen sich mit einer verdichteten Ansammlung materialer wie menschlicher Eindringlinge konfrontiert, die die konservativen Vorstellungen gesellschaftlicher und kultureller Ordnung empfindlich stören: Adelaide had been invaded by Americans who’d landed like paratroopers and wandered the city in search parties. […] Extremes were suddenly introduced to the city. No one before had encountered such minutely cropped hair on a person; such buck teeth on another; toadfish faces puffed from all that saxophone blowing, […]. Above all the startling presence of completely black men, ,negroes‘, strangely urbanised the way they sauntered about in threes and fours.26
In Duktus und Diktion erinnert diese plötzliche ‚Invasion‘ an vergangene Kolonisierungsprozesse − nur sind dieses Mal die Rollen zwischen ,invader‘ und ,invaded‘ vertauscht – das ,weiße‘ Australien wird durch die Ankunft USamerikanischer Soldaten empfindlich gestört. Dies spielt sich vornehmlich auf kultureller Ebene ab, wie die Saxophon spielenden Jazzmusiker vermuten lassen. Die Liste körperlicher Merkmale – Haar, Zähne, Gesichter wie Kugelfische – erinnert zudem an naturwissenschaftliche Klassifizierungsmodi, die bereits in der Zeit der ‚Entdeckung‘ Australiens für epistemologische Sicherheit im Angesicht einer fundamental fremden Welt sorgen sollten.27 Bereits hier deutet sich 25
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Michael Ackland umschreibt dies wie folgt: „In particular, he [Bail] bridled at the English emphasis on empirical, commonsensical and utilitarian approaches, which produced an ,urge for classification‘. Everywhere.“ (Ackland 2011, Politics, 30.) Bail 1987, Holden’s Performance, 8. Dass dieses Unterfangen ein Trugschluss war, beschreibt Elleke Boehmer eindrücklich: „The experience of the scientific observers aboard Cookʼs Endeavour offers an example of colonial interpretative difficulty: both of the experience of obfuscation and of the attempt to resist it. [...] Joseph Banks and his colleagues soon found that the natural world they were documenting would not easily fit into existing botanical classifications. Yet they persisted in their attempt. It was important as far as possible to give this recalcitrance structure and conceptual shape.“ (Boehmer 1995, Colonial & Postcolonial Literature, 93.)
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an, dass diese Art von Ordnungsstreben vor allem die Angst, die durch das Chaos und einfliegender bzw. -schwemmender Objekte hervorgerufen wird, verarbeiten soll. Dass die Charakterisierung amerikanischer GIs erst tierischer und zuletzt dinghafter Natur ist, unterstreicht das hier besonders rassistisch ausgeprägte konservative Weltbild, auf das Bails überspitzte Repräsentation abzielt. Das gesellschaftliche und kulturelle Equilibrium gerät durch neokolonialistische Bestrebungen der USA ins Wanken. Dabei werden die amerikanischen Soldaten konzeptuell in die Nähe des materiellen Treibguts gebracht und bereiten so auf der Figurenebene vor, was später durch die Sammler auf dinglicher Ebene fortgesetzt wird: Australien sieht sich im Status der Belagerung. Dabei wird vor allem die Hilflosigkeit der ,weißen‘ Bevölkerungsgruppe gegenüber dem Unbekannten auf eklatante Weise sichtbar: Die von der Erzählstimme in objektiv-dokumentarischem Ton gehaltene Beschreibung ist ein Versuch, des unbekannten Anderen wieder Herr zu werden. Zusammen mit den militärischen ‚Eindringlingen‘ geht es hier auch um die Reinheit der kulturellen Sphäre; denn weiter heißt es: „Without warning they littered the defenseless cities with new words, […] all as fresh as the soft cigarette packs they left behind on tables or in ashtrays and gutters – Holden scored a perfect Camel pack.“28 Nun sind es eben diejenigen, deren Machtposition über Jahrhunderte hinweg durch klassifikatorische Ordnungspraktiken, Aneignung und Inbesitznahme gefestigt wurden, die sich einer Form materieller Vereinnahmung durch die Hinterlassenschaften der amerikanischen „Eindringlinge“ ausgesetzt sehen: Die amerikanische Zigarettenpackung ist Symbol eines neuen, von Konsum geprägten Lebensgefühls, das mit dem puritanischen Weltbild der Adelaider nicht vereinbar ist.29 Die Aufzählung der eindringenden Figuren gipfelt schließlich in einer Auflistung der imaginären Bewohner der Antipoden. Sie sind Überreste eines antipodischen Diskurses, der Australien als Raum der Gegensätze konzipiert, deren
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Bail 1987, Holden’s Performance, 8 f. Die ‚puritanischen Straßen‘ der Stadtbeschreibung lassen bereits erahnen, welchen Stellenwert Materialismus in dieser Gesellschaft einnimmt: Materieller Wohlstand wird zum Indikator spiritueller Erlösung. Zudem lässt diese Anspielung auf die nordamerikanische frühe Kolonialgeschichte, gepaart mit ‚plain thinking‘, ebenfalls ein Begriff aus der puritanischen Heilslehre, und dem rigiden räumlich-topographischen Organisationsprinzip aus britischem kolonialem Erbe, die engen Grenzen, in denen sich die hier vornehmlich ,weiße‘ australische ‚settler culture‘ zurechtzufinden versucht: „[E]ncouraged by the puritanical streets, the brown trams always went forward in straight lines, scattering traffic and pedestrians in like minor objections or side-issues, and somehow this suggested the overwhelming logic of plain thinking. There always seemed to be a tram opening up a clear path to the distant goal of truth. And so the people developed a certain ponderousness, a kind of nasal pedanticism.“ (Ebd., 2 [Herv.i. O.].) Die Abschaffung der Tramschienen „as if a net had been off“ scheint zunächst die Befreiung von restriktiver Denk- und Sichtlinien zu bedeuten, die „rectangular grooves“ der Schienen haben sich bereits zusammen mit dem rechteckigen Straßennetz in die Köpfe der Bewohner eingegraben.
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Existenz wiederum westliche Ordnungen reziprok festigte.30 Bei Bail füllen sie nun die Straßen und vermischen sich mit Kriegsveteranen zu einem Panorama der marginalisierten Existenzen: The streets of Adelaide had become the domain of the fabulous, the freakish and the disabled: not only dwarfs and obese waddling men or shadowless cantilevered figures, the seven-footers, pinheads and flat-earthers, or even those lonely men with eleven fingers or harelips […]: figures normally outside the body politic but now the core.31
Sie alle sind Überlebende, die ihre Existenz der Abweichung von Normen verdanken. Die mythischen Kreaturen sind kuriose Ausgeburten westlicher Imagination, die notwendigerweise ein ‚Anderes‘ brauchte, um die eigene Identität zu konstruieren. Die Kriegsveteranen bilden dank ihrer körperlichen Merkmale einen ‚Rest‘, der nun zur gesellschaftlichen Grundlage wird. Dies setzt sich auch in der Aufzählung anderer Gesellschaftsgruppen fort, die plötzlich im Stadtbild auftauchen: „[o]dd-balls [,] […] fragile bodies [,] […] drifters [,] […] discarded divorcees“32. Auch sie sind marginalisierte Beispiele von Menschen, deren gesellschaftliche und kulturelle Funktion noch offen ist. Der Stadtraum, − das ‚zivilisierte‘ Zentrum und die metaphorische Keimzelle des nationalen Körpers33 − wird so als Ort konfiguriert, dessen diskursive Textur aus sich neu zusammenfindenden Überresten besteht. Sie sind, der materiellen Seite dieses Status quo ähnlich, buchstäblich treibendes Gut, das zur Disposition gestellt wird. Zusammengeführt werden sie über das Medium des Wassers, das hier zunächst nicht reinigend wirkt. Kampfflugzeuge werden, obwohl sie einem anderen Element zugehören, als gestrandet beschrieben34, und in den Straßen Adelaides treiben Kugelschreiber und Kondome neben Hundekot und Kinotickets.35 Folgt man den Spuren des Abfälligen innerhalb des Romans weiter, so offenbaren sich manische Sammel- und Archivierungstätigkeiten, mit denen Treibgut in einen systematischen Zusammenhang gebracht werden soll, als direkte Folge der oben skizzierten Stimmungslage. Diese autoethnographischen Systematisierungsversuche werden von einer Gruppe exzentrischer ,beachcomber‘ vertreten, deren Überzeugung es ist, aus dem Abfall der australischen Konsumgesellschaft „a city’s general nervous condition“36 herauslesen zu können. Ihr Anliegen ist es, die Textur des Kontinents durch Abstraktion lesbar zu machen.
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Vgl. Armellino 2009, Ob-Scene Spaces, hier besonders: 1-20. Bail 1987, Holden’s Performance, 17. Ebd., 142. Der Metapher des ‚body politic‘ ist eine konzeptuelle Homogenität zu eigen, die sich bei Bail in der fast vollständigen Absenz aboriginaler Figuren spiegelt. „The most eyecatching relics of war were the rearing fuselage of strandet Avro Ansons.“ (Bail 1987, Holdenʼs Performance, 56.) Vgl. ebd., 84. Vgl. ebd., 83.
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Diese Informationen geben, laut des ‚beachcombers‘ (und auch ‚streetcombers‘) Wheelright mit seinem siebten Sinn für Abfall und Treibgut, Aufschluss über die Befindlichkeit der Gesellschaft.37 Mehr noch, er extrapoliert aus diesen Dingen Antworten von existentieller Bedeutung, deren Interpretation er jedoch der Leserin überlässt. Massenproduzierte Schreibgeräte symbolisieren die Modernität der Wegwerfgesellschaft, Verhütungsmittel zeugen von erwachender Körperlichkeit oder gar Emanzipation, und Eintrittskarten zu Film- und Nachrichtenvorführungen stehen für den Beginn massenmedialer Unterhaltung. Die ‚archäologischen Elstern‘38, zu denen Wheelright gehört, scharen sich um Holdens Onkel, den Korrekturleser Vern Hartnett.39 Im Laufe ihrer Explorationen werden für sie die Straßen Adelaides zu eng, stattdessen übertragen sie ihre hermeneutischen Prinzipien auf globale geopolitische Zusammenhänge, die sich ihnen in den Strandbesuchen offenbaren. Wie der Onkel des Protagonisten Holden anmerkt, ist Australien umgeben von den „world waves of history“40, deren Strömungen „foreign bod[ies]“41 anschwemmen. Sie durchdringen die ‚armseligen Schutzmauern‘ Australiens42 und werden auf dem Weg über das Meer angereichert und zu Bedeutungsträgern historiographischer Narrative: „History consisted not so much of facts as artifacts. Ordinary everyday objects are discarded or swept away by events. Each one tells a story.“43 Die Geschichten, aus denen (Welt-)Geschichte besteht, zeigen sich in einer Anhäufung von Dingen, die sich im Spülsaum des Indischen Ozeans finden, fernab des urbanen Zentrums, das bislang das Jagdrevier der Sammler bildete: Gas masks [lay] tangled among tins of regulation jam and bully. Empty life rafts sloshed with puke and inflated toadfish. There were bales of rubbers, shattered deckchairs. Names of ships stenciled on logs and cork. […] Wheelright picked up buckles and belts, and bits of the Bismarck; he kept counting and scribbled notes. […] Dresden soup plates, Tudor gables, embedded with sewing machines, carcasses of glockenspiels.44
Die aufgelisteten Teile sind allesamt Überbleibsel des Zweiten Weltkriegs, dessen Zeugnisse Australien nur in Fragmenten erreichen – via Radiowellen zum Beispiel, oder eben über das Medium Meer. Für das nationale Selbstbewusstsein war und ist die Kriegserinnerung schmerzlich, besonders die Beteiligung 37
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Wheelright „had a litmus nose for rubbish, for flotsam. […] he could ,read‘ […] the tempo and condition of a given city by its gutters and secondary, more surreptitious source, the contents of its municipal rubbish bins.“ (Ebd., 83.) Ebd., 83. Vern Hartnett ist von Berufs wegen mit der Reinheit von Sprache und Ausdruck befasst und sieht sich in der Rolle des medialen Grenzwächters. Seine Rolle als pedantischer Jäger von Tippfehlern spiegelt die Bemühungen seiner Freunde auf anderer diskursiver Ebene – auch er versucht, ‚Störungen‘ zu beseitigen. Ebd., 28. Ebd., 24. Der Erzähler spricht hier von den „pitiful defences of the island continent“ (ebd., 12). Ebd., 281. Ebd., 103 f.
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am Pazifikkrieg als Verbündete der USA und Großbritanniens gegen Japan. Der daraus resultierende Luftangriff auf die nordaustralische Stadt Darwin war der erste Angriff von außen auf die Nation seit seiner Entkolonialisierung. Gleichzeitig, so suggeriert es zumindest die Figur Wheelright, scheint sich hier eine Position zu eröffnen, die der antipoden Kultur einen Standortvorteil verschafft. Als Außenstehender, so sein Selbstverständnis, ist ihm der retrospektive und allumfassende Blick eigen, der es schafft, aus der Müllkippe Australien ein Archiv der Weltgeschichte zu machen. Die Peripherie erlangt auf diese Weise die Oberhand über ein kaputtes Zentrum, dessen Fortleben jedoch nicht gesichert ist. Dem unerschütterlichen Empiristen Wheelright wird so eine Deutungshoheit zu Teil, deren archivarischer Charakter Australien endlich die zentrale Rolle zukommen zu lassen scheint, nach der verzweifelt gesucht wird. Das von Wheelright postulierte Motto des ‚Augen offen Haltens‘ lässt jedoch bereits ironisch anklingen, wie kurzsichtig sein Leseprozess ist: Zwar findet er enorme Mengen an aussagekräftigem Material, das er für zukünftige Generationen in Pappschachteln in seiner Garage aufbewahrt. Sein Blick ist jedoch nur nach unten auf die unmittelbare Umgebung gerichtet. Seine Analyse lässt ganz buchstäblich Weitblick vermissen – ein Charakteristikum, das ihn, entgegen seiner Selbsteinschätzung, zu einem typischen Vertreter seines kulturellen Umfeldes macht. Für ihn, wie auch für seine Freunde, ist das Sammeln ein Kontrollund Kompensationsmechanismus, der ein aus den Fugen geratenes Weltbild, ausgelöst von den ‚foreign bodies‘ – und die Ambiguität dieses Ausdrucks spiegelt erneut die Engführung zwischen Mensch und Ding in Bails Roman wider − ebenso wie von den Zeugnissen einer Konsumkultur, die die Städte ‚infiziert‘, wieder ins rechte Lot bringen soll. Dies führt jedoch zu unbefriedigenden Ergebnissen; denn diese Taktik erweist sich als endlich. Ein zweiter Besuch desselben Strandabschnitts einige Zeit später offenbart ein für die ,beachcomber‘ trauriges Bild: Alle Überreste, nun von den zuständigen Behörden vermutlich als Abfall deklariert, wurden entfernt.45 Der empirisch-archivarische Sammlerimpuls wird seiner Grundlage beraubt, da das vorherrschende gesellschaftliche Klima eher an Verdrängung als an Aufarbeitung interessiert scheint. Es ist, wie Wheelright resümiert, das Ende einer Epoche: „[It is] ,the end of an epoch‘. As in collective memory, uncomfortable facts are gradually and systematically erased.“46 Ein Archiv kann nur leben, wenn es die Mechanismen des kulturellen Gedächtnisses erlauben – mit dem leeren Strand scheint sich so ein leerer Raum zu manifestieren, der einen Neuanfang in sich trägt, dessen Vorzeichen jedoch trügerisch sind. Dass nun eine ,weiße‘ australische Identität aus per se unnützem Abfall besteht, ist mit seinem satirischen Tenor traurig und tröstlich zugleich – durch die Bewegung der ‚waves of world history‘ könnte nun aus all den verlorenen Ob-
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Ebd., 135. Ebd., 134 f.
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jekten und Individuen eventuell etwas Neues entstehen. Ob dies jedoch stattfinden wird, ist ungewiss. Wie es der Kinobesitzer Screech formuliert: „Where do you fit in the scheme of things? Where do you stand? Can you pinpoint your position in the larger story? […] Some people – most people – allow themselves to be simply taken along by events. Are you one of them?“47 Diese Dynamiken, denen Bails Australien unterworfen ist, scheinen durch die permanente metaphorische Verquickung von Wasser und treibenden Gegenständen dem Einzelnen wenig Raum für individuelle wie kollektive ‚agency‘48 zu lassen. Seinen Bewohnern wird wenig Möglichkeit gegeben, den Fluss politischer, kultureller oder sozialer Entwicklungen zu beeinflussen. Auch lässt der direkte Vergleich zwischen Ding und Mensch – oder abfälligem Treibgut und den ‚drifters‘ – die Frage aufkommen, welcher Stellenwert hier der Subjektivität des Einzelnen eingeräumt werden kann. Bails Australien ist eine Nation, in der diejenigen, die von „puritanical plain thinking“49 abweichen, mit Argwohn betrachtet werden. Bereits im ersten Kapitel des Romans wird so deutlich, dass diese Stadt von einer „nasal ponderousness“50 geprägt ist, deren hauptsächliche Kulturleistung in religiösem Fanatismus und auf Präzision getrimmten Rasenstücken liegt.51 Individuen, die diese Ordnung stören, werden zurück ins Meer ‚verbannt‘52; Dinge hingegen werden manisch gesammelt und erleben so eine ironische Aufwertung in der Bailʼschen Romanwelt. Die Sammler um Holden nehmen ihren kulturarchäologischen53 Auftrag wahr, indem sie versuchen, über die Archivierung dieser aus dem Konsumkreislauf ausgeschiedenen Abfälle epistemologische Schlussfolgerungen zu ziehen. Dabei ist der archäologische Blick zugleich systemstabilisierend, als Versicherung der eigenen Diskurshoheit, führt jedoch gleichzeitig die Beschränktheit dieses Unterfangens vor – angesichts der Masse an Dingen ist jeder Versuch, sie in eine Ordnung zu bringen, hinfällig. Zudem kommen verdrängte
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Ebd., 154. ‚Agency‘ ist ein zentraler Begriff für postkoloniale Lesestrategien. Bill Ashcroft et al. definieren ihn in Bezug auf die „ability to act or perform an action. In contemporary theory, it hinges on the question of whether individuals can freely and autonomously initiate action, or whether the things they do are in some sense determined by the ways in which their identity has been constructed. Agency is particularly important in post-colonial theory because it refers to the ability of post-colonial subjects to initiate action in engaging or resisting imperial power.“ (Ashcroft/Griffiths/Tiffin 2007, Post-Colonial Studies, 6.) Bail 1981, Holden’s Performance, 2. Ebd., 3. Vgl. ebd. Der sozialistische Kinobetreiber Screech begeht Suizid, indem der er sich in den Fluten von Manly Beach ertränkt; die unerwiderte Liebe zu dem Politiker Hoadley lässt eine junge Frau von einer Brücke springen. Auch sie ertrinkt. Wie Robert Dixon beschreibt, ist „Bail […] concerned, then, with the archaeology of the period in Foucault’s sense of analyzing the operation of specific discourses of popular culture. But he also conducts a more traditional archaeology, grasping the material particularity of the period through a recovery of individual objects.“ (Dixon 1991, The Great Australian Emptiness, 28.)
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Objekte, und damit verdrängte Geschichte, immer wieder an die Oberfläche, wie sich in Alexis Wrights Carpentaria zeigt.
3. Erzählen aus Abfall – Alexis Wrights Carpentaria In ihrem zwanzig Jahre nach Bails Werk veröffentlichten Roman Carpentaria, überzieht Alexis Wright den Hauptschauplatz der Romanhandlung, das verschlafene Örtchen Desperance, mit einem Meer von Weggeworfenem und Angetriebenem. Auch in diesem Roman werden konfliktbeladene Umwälzungsprozesse über die Auseinandersetzung mit der materialen Welt verhandelt. Der Umgang mit abfälligem Material findet hier vor einem Hintergrund statt, der reale soziopolitische Missstände zwischen ,weißen‘ Anglo-Europäern und Aborigines nicht ausblendet, wie Bail es tut, sondern die Grausamkeit der ,weißen‘ Besiedlungsgeschichte und mögliche Formen indigener ‚agency‘ über die Thematisierung von Abfall und Fragen nach materiellem und kulturellem Wert und Unwert pointiert ausarbeitet. Im Gegensatz zu Bail steht hier also die Funktion von Angeschwemmtem für die inneraustralische Verhandlung von Identität im Vordergrund. Zwei unter sich verfeindete Aborigine-Clans kämpfen um die Hoheit über ihr Land: Die Gruppe um Joseph Midnight steht in Komplizenschaft mit einem global operierenden Bergbaukartell, das die Ressourcen am Golf von Carpentaria schonungslos ausbeutet. Ihnen gegenüber steht Norm Phantom mit seiner Familie, deren Verbindung zu ihrem Land und ihrer Geschichte eine spirituelle ist, Wert und Nutzen lassen sich hier nur in transzendentaler Vereinigung mit den Geschichten der Dreamtime und den ‚ancestral spirits‘ erreichen. Die dritte Gruppe der Bewohner des Golfs sind die in Uptown lebenden Nachkommen ,weißer‘ Siedler, deren Selbstverständnis von einem romantisch-sentimentalen Verständnis von Besitztum54 abhängt, die sie mit einem unsichtbaren Netz und eher halbherzigen Dokumentationsversuchen zu konstruieren versuchen. Carpentaria spielt dabei zwei konkurrierende Narrative australischer Geschichte gegeneinander aus: „There are […] two ‚histories‘ in the novel: a teleological settler history that seems irresistible, and an ancient indigenous history that will not be suppressed.“55 Das Archiv als die historiographische Praxis westlicher Erinnerungs- und Herrschaftsdiskurse per se wird hier hinterfragt56: 54 55 56
Vgl. Gelder/Salzman 2009, After the Celebration, 93. Ebd., 92. Siehe hierzu vor allem Aleida Assmann, die dem Archiv als „Sammel- und Konservierungsstelle für das Vergangene, aber nicht zu verlierende“ die Mülldeponie entgegensetzt: „Was nicht ins Archiv kommt, landet auf der Mülldeponie; und was im Archiv von Zeit zu Zeit aus Platzmangel aussortiert wird, landet ebenfalls dort.“ (Assmann 2009, Erinnerungsräume, 383.) Diese binäre Opposition zwischen zu bewahrendem und Abfalls verschwimmt sowohl bei Bail als auch bei Wright: Das Archiv von Uptown rottet, ähnlich wie Wheelrights Kartons, in einem
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Geschichte, so der Tenor aus aboriginaler Perspektive, ist immateriell, nicht linear, sie folgt keiner Teleologie, die es möglich macht, Dinge für eine Vergangenheit sprechen zu lassen. Zeitebenen verschwimmen hier zu einem Kontinuum, in dem die materiellen Zeugnisse ihrer Identität und Existenz, an denen die Uptowner festhalten, keine Relevanz haben.57 Dies hat zunächst noch einen komischen Effekt, der sich jedoch ins Gegenteil verkehrt, sobald sich das Aufbewahren von Dingen in den Kontext indigener Traumata stellt. Unter der Schicht satirisch gefasster Obsession mit der materiellen Welt kommen so Narrative zum Vorschein, deren Ziel es ist, diese zu bewältigen.58 Sie imitieren dabei den westlichen Diskurs, erreichen jedoch keine Sichtbarkeit. Der skizzenhafte Erzählstrang um den indigenen Archivar Micky bildet eine Brücke zwischen den auf den ersten Blick so unterschiedlichen Romanen von Bail und Wright. Uncle Micky wird als wandelndes Lexikon charakterisiert59 und nimmt in dieser Hinsicht besondere Bedeutung ein. Seine Sammeltätigkeit ist der Versuch einer diskursiven Appropriation. Wie bereits bei Bail die ,beachcomber‘ sucht auch Micky fieberhaft seine Umgebung nach ‚Beweisen‘ ab. Jedoch sind diese diesmal dezidiert nicht Überreste außeraustralischer historischer Prozesse, die die ,weißen‘ Bewohner des Kontinents mit postimperialer Deutungshoheit archivieren. Vielmehr deckt Mickys Sammelfieber Spuren einer australischen Vergangenheit auf, die die ‚dunkle Seite‘ der Siedlerkultur repräsentiert60: [A]ll of those forty-fours, thirty thirtys, three-o-threes, twelve gauges – all kinds of cartridges used in the massacre of the local tribes. […] Now his voices lives on in the great archive of cassettes which he left for the war trials he predicted would happen one day. But no tourists go to Micky’s museum. Maybe it was built in the wrong spot. That’s fighting for you. Fighting, fighting all the time for a bit of land and a little bit of recognition.61
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Schuppen vor sich hin: „In those yellowing pages chewed by defecating vermin lay thousands of blue-inked words describing countless years of hot-collared Shire Council meetings debating imagined threats of invasion. The countless whorled words described numerous incidents of spyglasses snooping along the unguarded coastline of crocodile-infested, mangrove mudflats lacing the northern frontier. […] Pretty good job the vermin couldn’t shit on what the Pricklebush had locked up inside their heads.“ (Wright 2006, Carpentaria, 81-82.) Das invasorische Motiv, das in Bails Treibgut bereits mitschwingt, findet auch hier Ausdruck, und auch hier wird das Streben nach Geschichtlichkeit lächerlich gemacht. So fasst Alison Ravenscroft zusammen: „[T]heir white worldview is a failure of history and of origins, theirs is a timelessness, of men and women wandering without recourse either to origin or destination, without culture, song, or sacred places, ghostly men and women arriving with no past they could remember.“ (Ravenscroft 2010, Dreaming of Others, 203.) Edwards spricht in diesem Zusammenhang von „communal narratives based on strategies of cultural coping“ (Edwards 2008, Postcolonial Literature, 133). Vgl. Wright 2006, Carpentaria, 10. Vgl. dazu Hodge/Mishra 1992, Dark Side of the Dream. Wright 2006, Carpentaria, 10 f.
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Zwar kommt hier die traditionell indigene Form von Geschichtsvermittlung als ‚oral history‘62 zum Tragen, jedoch wiederum nur in materieller Form als Audiokassette. Sammeln wird auch hier Ausdruck kompensatorischer Praktiken der Krisen- bzw. Traumabewältigung, nur dass es diesmal nicht um die Krise eines ,weißen‘ ‚settler‘-Selbstverständnisses geht. Mickys Sammlung, so lässt seine versuchte Gründung eines Museums vermuten, folgt ethnographisch-musealen Praktiken, von materiellen Zeugnissen des Genozids bis hin zu Sprachaufzeichnungen, die aus Geschichten Geschichte machen sollen. Damit stehen seine Anstrengungen denen der Bailʼschen Sammler diametral entgegen, die versuchen, aus Geschichte Geschichten zu ziehen. Die Artefakte von Massakern bilden die Unterseite eines sich hartnäckig haltenden nationalen Mythos des friedvollen Fortschritts nationaler Autonomie.63 Das Gesammelte stellt sich dieser These kritisch entgegen und repräsentiert einen konfrontativen Umgang mit einer australischen Vergangenheit, die als besonders schockierend gewertet werden kann.64 Traumatischen Kriegserlebnisse, die bei Bail nur aus der Ferne spürbar sind, wird hier historiographische Greifbarkeit und vor allem historische Unmittelbarkeit gegeben. Vergleicht man nun Wheelrights und Mickys Sammlungen, so versammeln beide zwar ähnliche Artefakte, nämlich Überreste kriegerischer Auseinandersetzungen, die jedoch unterschiedliche Funktion im kollektiven Gedächtnis Australiens haben sollen. Bails Strandgut erfährt eine kuriose Aufwertung im Wheelrightʼschen Garagenarchiv und wird immerhin medial in einem Zeitungsbericht reflektiert. Mickys professionellere Aufarbeitung der traumatischen Geschichte seiner Vorfahren scheitert: Beides, Sammler und Gesammeltes, befindet sich am falschen Ort, ungeeignet, sich in einen touristischen Diskurs einzugliedern, der aus den Resten der Massaker kulturelles Kapital oder gar Versöhnung erzeugen könnte. Dabei lässt Wright anklingen, dass die indigene Vergangenheit zwar archivierbar, aber auch im buchstäblichen Sinne so unfassbar ist, dass kein Gegenstand sie auszudrücken vermag. Der ontologische Sprung von Abfall zu Artefakt stolpert in diesem Beispiel, da hier das soziokulturelle Um-
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Die dominierende Form indigener Geschichtsvermittlung ist eine rein sprachliche: „[T]he defining characteristic of Aboriginal histories, as for other Indigenous histories, is their form which is predominantly that of oral history.“ (Attwood 2005, Unsettling Pasts, 252.) Vgl. hierzu Oliver Haag: „[T]he making of modern Australia [was described] as a ‚success story‘: the establishment of democracy, the achievement of economic prosperity, and the avoidance of revolutionary unrest were considered part of this success. Secondly, most historians of the time describe Australian history as largely peaceful [...].“ (Haag 2012, The History of an Argument, 26.) Siehe hierfür z. B. Attwood: „In societies such as Canada, New Zealand and Australia, the foundational historical narratives that settler communities previously took for granted have been discredited by new national histories. This confrontation with the colonial past has been especially shocking in the Australian case, largely because its settler peoples, especially AngloAustralians, ,are not used to thinking of [their] history as contentious, morally compromised or volatile […]‘.“ (Attwood 2005, Unsettling Pasts, 243.)
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feld nicht den nötigen Kontext bietet. Es ist kein Interesse von indigener, ,weißer‘ oder gar international-touristischer Seite zu erwarten. Dieses wäre aber vonnöten, um die Überreste der Massaker in den Status ‚auratischer‘ Objekte zu erheben, die so die Chance bekommen, ihre Geschichten zu erzählen. So bleibt Mickys Museum ein trauriger Versuch, sich einen westlichen Diskurs anzueignen, ihn zu imitieren, um indigener Souveränität eine Stimme zu geben, die ungehört bleiben muss. Die eigentliche Artikulation, so legt Wright nahe, geschieht nicht über materielle Praktiken, sondern findet in ihrem Zusammenspiel mit den Stimmen der Aborigine-Clans, den Nachfahren der ,weißen‘ Siedler in Uptown und den Geistern beider Vorfahren statt. Mickys Geschichte lässt anklingen, wie weitreichend die Beschäftigung mit abfälligen Gegenständen in australischen Romanen ist und gibt auch für Carpentaria den Interpretationszugang vor. Alexis Wrights Roman ist ein episches65 Beispiel zeitgenössischer indigener Literatur, dessen erzählerische Wirkmacht zeitliche, räumliche und epistemologische Begrenzungen zu sprengen droht. Die Darstellung indigener kultureller Identität im Angesicht spätkapitalistischer Ausbeutung, Enteignung, sozialer wie wirtschaftlicher Unterdrückung potenziert in Carpentaria noch einmal die Konzeptualisierung Australiens als marginalisiert. Wrights Roman kann ganz buchstäblich als ‚writing from the margins‘ gelesen werden, indem hier dem indigenen Australien der Post-Mabo-Gesellschaft eine karnevalesk-überbordende, reichhaltige und formal komplexe Stimme gegeben wird. Die Ambivalenz des Abfälligen wird so zum Mittelpunkt eines kulturellen Findungsprozesses, der ‚weißes‘ und aboriginales Australien vor dem Hintergrund von geopolitischem Wandel und Globalisierung gleichermaßen betrifft. Bei Wright ist es nun die innernational marginalisierte indigene Minderheit, die sich – und hier nähern sich beide Romane thematisch wieder aneinander an – über Konnotationen des Abfälligen eine Existenz aufbaut. Das Erzählen ‚from the fringes‘66, so schreibt Wright selber in einem Artikel über die Entstehung ihres Romans, ist ein direktes Resultat der physischen, kul-
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Vgl. hierzu Eleni Pavlides, die Shoemaker zitiert, der Carpentaria überschwänglich als „the greatest, most inventive and most mesmerizing Indigenous epic ever produced in Australia“ bezeichnet (Pavlides 2013, Un-Australian Fictions, 149). Der australische Kritiker und Schriftsteller Mudrooroo, auch unter dem Namen Colin Johnson bekannt, bezeichnet Romane wie Carpentaria mit dem Label des ‚fringe-writing‘ (vgl. Seran 2013, Fortunes, 2). Fringe-writing, so fasst er zusammen, ist gekennzeichnet von einem paradoxen reziproken Verhältnis zwischen Zentrum und Rand, in dem der ‚fringe‘ in den Fokus kultureller Artikulation rückt, der Einfluss hegemonialer Machtstrukturen diese jedoch immer einholt; auch die Merkmale indigener oraler Erzähltradition sowie Elemente des ‚magischen Realismus‘ als Verhandlungsform von kolonialer Vergangenheit, Trauma und Repression (vgl. ebd., 3) stellen zentrale Elemente des Genres dar, deren Stoßrichtung auf die Unterwanderung totalitärer, neokolonialer Vorstellungen von Wirklichkeitsdarstellungen abzielt. (Die kulturelle Kontextualisierung Mudrooroos/Colin Johnsons als indigener Kritiker ist umstritten, vgl. dazu Crane 2008, Der Fall Mudrooroo.)
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turellen und spirituellen Dislokation aboriginaler Kulturen und deren materieller Enteignung auf der einen Seite, und dem Versuch, kulturelle Souveränität neu zu formulieren.67 Der Zerstörung indigener Kulturen setzt sie mit Carpentaria ein überwältigendes postkoloniales Opus entgegen, dessen Hauptmerkmal das Verschwimmen sämtlicher Ordnungsformen ist. Der Roman, so Wright, lässt sich auch literaturhistorisch nicht einordnen, er unterwandert traditionelle Topoi der Eingrenzung und Abtrennung.68 Carters archipelagisches Prinzip lässt sich in dieser Hinsicht in ein poetisches und poetologisches übertragen: Der Unmöglichkeit des ‚containment‘ auf literarischer Ebene entspricht die Unmöglichkeit des Sammelns und Archivierens auf motivisch-materieller. Der Frage nach der Materialität von Kultur wird hier über den Umgang mit Dingen eine ‚Ästhetik der Unsicherheit‘69 entgegengesetzt, die (europäische) Binärstrukturen auf den Kopf stellt. Jeglicher Versuch, Kontrolle über den materiellen Diskurs zu erhalten, muss unwiderruflich scheitern. Dies tritt besonders zutage, wenn man das Zusammenspiel zwischen ‚abfälligen‘ Dingen und marginalisierten Individuen in den Blick nimmt: Die Figuren, die Carpentaria bevölkern, agieren auf unterschiedlichen Ebenen außerhalb normierter sozialer, ökonomischer oder kultureller Systeme70: Der ,Pricklebush mob‘ transzendiert westlich-einengende Vorstellungen von Ordnung durch ihre enge Verbindung zu Magie und Spiritualismus, wobei auch diese unmittelbar mit der Materialität von Kultur einhergeht. Indem das Marginale so also zum Zentrum des Geschehens wird, fordert es die Deutungs- und Ordnungshoheit der kulturellen (aber auch politischen und ökonomischen) Machtinhaber heraus. Bei Bail richtet sich 67
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Über den realen Hintergrund ihres Romans schreibt Alexis Wright: „The people of these affected communities had very little, owned nothing, but enormous poverty, but they were being bombarded by a rich multinational mining company that was backed absolutely by the state. These communities were given little choice but to argue with each other, and forced to choose how to hold on to fragile cultural interests, from a sale price that was a pittance in the scheme of things, just so that the vast interests of the company could proceed. From the side in which I was standing, it was like being in a place where a bomb had exploded, and those left in the rubble, knew that they could not depend on any real support from anyone in the social and cultural devastation they could see was their destiny.“ (Wright 2007, On Writing Carpentaria, 15.) So schreibt sie: „[The novel] would not fit into an English, and therefore Australian tradition of creating boundaries and fences which encode the development of thinking in this country, and which follows through the containment of thought and idea in the novel.“ (Ebd., 3.) Und weiter: „Carpentaria imagines the cultural mind as sovereign and in control, while freely navigating through the known country of colonialism to explore the possibilities of other worlds.“ (Ebd., 6.) „It accomplishes its political work through an aesthetics of uncertainty, a radical, irresolvable equivocality in language and form. This is not a dialectic that can be resolved: there is no unitary resolution, no dialectical synthesis.“ Und weiter: „It inscribes different worlds and representational modes in the space of a few lines or phrases; it brings different objects, different worlds, into such close proximity that their placement in a rational or magical mode is undecidable. It makes the very division into magical and rational, living and dead, body and country undecidable − at least for this white reader.“ (Ravenscroft 2010, Dreaming of Others, 205 f.) Dazu passt der Name einer der Protagonisten, Norm Phantom: Normen, so lässt sich vermuten, sind hier unsichtbar, schemenhaft.
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der satirische Blick klar auf eine ‚abfällige‘ Bevölkerungsgruppe, deren vermeintliche Diskurshoheit sich langsam aufzulösen droht, nämlich die der ,weißen‘ (von ehemaligen imperialen Zentrum ‚abgefallenen‘) Nachfahren der Siedler. Wright formuliert die Idee des ‚menschlichen Abfalls‘ in vielfacher Hinsicht politisch schärfer, in dem sie durch die von ihr initiierte Perspektive die indigene Bevölkerung sprechen lässt. Der Roman entwickelt auf literarischer Ebene durch das Durchwirken von Raum- und Zeitebenen, Stimmen und Stimmungen eine Dynamik, die sich in den Wassermassen, die die Romanlandschaft durchströmen, widerspiegelt. Am (aus westlicher Sicht) extrem abgelegenen Golf von Carpentaria entsteht eine Landschaft hybrider Natur, die sich konventionellen Festschreibungstaktiken entzieht. Die regelmäßig von Sturmfluten und Zyklonen heimgesuchte Gegend besteht abwechselnd aus Sumpf oder von der Sonne steinhart gebranntem Lehmboden: „the slippery ground of the mudflats“, „the wet clay soils of in the Gulf of Carpentaria“, „a place that is sometimes under water, sometimes bonedry“71. In diesem ‚littoralen‘ Raum kommt den angespülten, sich ablagernden Sedimenten von Zivilisationsmüll nicht nur kulturabbildende, sondern vielmehr kulturbildende Funktion zu.72 Symbolisch aufgefangen in dem imaginären Netz, das dem Aberglauben der ,weißen‘ Uptowner entspringt und so etwas wie existenzielle Sicherheit suggerieren soll, indem es Desperance vermeintlich vor bösen Geistern und Zyklonen schützt, gibt es dem Schauplatz gleichzeitig Struktur. Desperance ist nämlich auf keiner Karte zu finden, es existiert quasi außerhalb normierter Wissenssysteme und wird so gleichzeitig zu einem Auffangbecken materieller Zeugnisse globaler und lokaler Dynamiken. Besonders in den Siedlungen der ,Pricklebush people‘ markiert Abfall die ökonomische wie auch soziale Randposition der ,fringe dwellers‘. Die in Eastside und Westside unterteilte Siedlung wird als ‚menschliche Müllkippe‘ eingeführt73: living piled up together in trash humpies made of tin, cloth, and plastic too, salvaged from the rubbish dump. The descendants of the pioneer families, who claimed ownership of the town, said the Aboriginal was really not part of the town at all. Sure, they worked the dunny cart in the old days, carted the rubbish and swept the street. Furthermore, they said, the Aboriginal was dumped here by the pastoralists, because they refused to pay the blackfella equal wages.74
Der hier gezogene Vergleich lässt Mensch und Abfall zu einer symbiotischen Einheit werden, die einerseits den über Jahrhunderte kultivierten Rassismus
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Wright 2006, Carpentaria, 1 und 3. Vgl. hierzu Kluwick/Richter 2015, Twixt Land and Sea. Zur Symbiose zwischen Abfall und den sie sammelnden Menschen vgl. auch die Überlegungen von Gianluca Solla zu den Lumpensammlern der „Zonen“ im vierten Kapitel: „Nach der Sammlung“. Wright 2006, Carpentaria, 4.
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gegenüber den australischen Ureinwohnern und die bis heute sichtbaren prekären Verhältnisse prägnant veranschaulicht.75 Gleichzeitig scheint aber bereits in dieser kurzen Passage mit dem Verweis auf Abfall als Einkommensquelle diese Dingkategorie in beiden Wertesystemen zwischen wertlos und wertvoll zu changieren – der Ausschuss der einen wird so zur Lebensgrundlage der anderen. Dieses System hält die Pricklebush-Bewohner in einer ökonomischen Schleife, in der letztendlich eine aboriginale Ermächtigung durch wirtschaftliche Eigenständigkeit nicht erwünscht ist: „The criticism of resourcefulness, of the ,bad‘ Aborigine not waiting her turn and taking initiative outside of the sphere of action reserved for her in the fringe, reveals Uptown’s attempts to make Aboriginal people dependent on welfare and thus control them economically.“76 Abgesehen von der Positionierung der indigenen Bevölkerung als aussätzige Teile der Bevölkerung wird aber hier bereits die Möglichkeit von aboriginaler ‚agency‘ angelegt. Aus der ihnen oktroyierten sozialen Position heraus wird aus den Überresten einer ,weißen‘ Siedlerkultur ein neuer Raum kultureller Selbstdefinition geschaffen; besonders das ,Number One house‘, Heimat der zentralen Figurengruppe um Norm Phantom, ist ein Beispiel hierfür.77 Die Müllsäcke, die in einem immerwährenden Strom neues Baumaterial bergen, sind für die ,Pricklebush people‘ und insbesondere Angel Day voll von geheimnisvollen Gegenständen.78 Angel Day ist, ähnlich wie Micky, auch eine Abfallsammlerin, deren Ziele allerdings nicht ganz so hehr sind wie die ihres Gegenstücks: Ihr geht es um direkte Ermächtigung über ihre Mitmenschen, sie sieht sich als die Königin der Müllkippe. Bereits ihr Titel als ‚Königin der Müllkippe‘ ist ein recyceltes Stück Kolonialgeschichte. Ihr Sammeln verdeutlicht auch das ‚Oszillieren‘ zwischen den Materialien eines postkolonialen Australiens, dessen Textur über das rein stofflich-pragmatische hinausgeht und bisweilen sogar magische Qualitäten annimmt.79
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Dabei weist Justine Seran auf die Gefahr hin, dass „labelling apparently materially disadvantaged characters in Aboriginal literature as poor risks perpetuating a neo-colonial gaze and imposing classifications on the Other, or circumscribing them as victims needing to be rescued by a white saviour.“ (Seran 2013, Fortunes, 5.) Ebd., 7. Die Müllbehausung wird folgendermaßen beschrieben: „Behold the sight of welcome home, embedded in the never-ending rattling corrugated-iron shanty fortress, built from the sprinklings of holy water, charms, spirits, lures acquired from packets of hair dye, and discarded materials pinched from the rubbish dump across the road. This was Number One house.“ (Wright 2006, Carpentaria, 12.) „[M]ysteries to be discovered in the piles of fat green bags.“ (Ebd., 19.) Sie ist es auch, die aus den Abfällen des ‚white trashs‘ Uptowns, sich ‚weißer‘ Ordnungssysteme annimmt, indem die eine Marienstatue und eine Uhr aus den Müllbergen fischt und als scheinbare Insignien aboriginaler Souveränität appropriiert. Sowohl Statue als auch Uhr sind für Angel Totems, die „the luck of the white people“ auf sie und ihre Familie übertragen sollen. Vor allem die Uhr, so glaubt sie, verheißt ein „new sweet life“ von Pünktlichkeit, die es ihren Kindern ermöglichen soll, im westlichen (Schul-)Wissensdiskurs Fuß zu fassen: „off to bed at the correct time, […] then they would march off to school on time to do their school work.“ (Ebd., 22.)
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In der Kombination von Abfall mit spirituellen Versatzstücken wird abfälliger Raum zu spirituell angereichertem Ort, allerdings wird dieser Umstand in Wrights Roman äußerst kritisch betrachtet. Die anderen Bewohner des Pricklebush finden Angels Verhalten verdächtig: Die ‚Krankheit‘, mit der Angel in den Augen der anderen kontaminiert ist, rührt hier nicht nur von den ‚schmutzigen‘ Materialien, mit denen sie hantiert. Vielmehr scheint sie von einer ‚weißen‘ Obsession mit Dingen angesteckt zu sein, deren ‚handfeste‘ Materialität nicht mit indigenen Vorstellungen von Besitztum vereinbar ist. Ihr Verhalten wird zwar von oberster Stelle gutgeheißen80, nicht aber von ihrer unmittelbaren Umgebung: Angels Besitzgier löst unter den verfeindeten Pricklebush-Familien eine Fehde aus, die, so scheint es, die mühsam aufrecht erhaltene „[p]recarious modernity“81 der Fringe-Bewohner um vierhundert Jahre in die ‚primitive‘ vorkoloniale Zeit zurückwirft. Die Ironie, die sich an dieser Stelle offenbart, ist offensichtlich: Der Materialismus der Moderne ist es, der zwar imitiert werden, aber eben nicht zu vollständiger Souveränität führen kann. Das Festhalten an den Dingen der (westlichen) Moderne – hier Religion und Zeit als Paradigmen imperialer Herrschaftsformen – ist das eigentliche rückständige Verhalten. Wright beschreibt in ihrem Roman ein materiell geprägtes Weltbild als nivellierende Kritik an allen australischen Bevölkerungsgruppen: als fragwürdige Instrumente indigener Souveränität oder ,weißer‘ Macht durch kapitalistische Ausbeutung bedeuten Dinge zunächst einmal individuelle Beschränkung und Perpetuierung festgefahrener Diskurse, die einen weitreichenden Blick jenseits der materiellen Welt verhindern. Und trotzdem – oder gerade deswegen – stellt Wright nicht die materiale Welt per se infrage, sondern den menschlichen Umgang mit ihr. Am Ende ihres Romans wird Desperance von einem apokalyptischen Jahrhundertzyklon zerstört, und wieder ist Treibgut Zeuge katastrophaler Zerstörung: „What a catastrophic requiem took place in those floodwaters racing out to sea. […] The waters poured dead fish. Sodden Spinifex grasses. Sticks. Green wood. Branches. Plastic. Plastic Malanda bottles. Green bags tied up with rubbish.“82 Nur ist dieses Mal kein Mensch anwesend, der sich dieser Dinge habhaft machen will; im Gegenteil: Als der Vertreter des ‚neuen‘ Australiens, der junge Aktivist Will Phantom, hilflos im Meer treibt, ist es nun der Abfall, der sich seiner annimmt. Aus den im Meer schwimmenden Abfallteilen hat sich eine Insel aus Treibgut gebildet, die ihm nun ein neues temporäres Zuhause schenkt. Seine Position weicht von jener der Sammlerfiguren ab. Nicht er sammelt, sondern er wird von der Insel aufgesammelt. Wie ein lebender Organismus gebiert die „embryonic structure“83 einen Ort des Neuanfangs.84 Während seiner Zeit auf der als Paradies dargestellten Insel überwuchern Pflanzen das Treibgut, bis 80 81 82 83 84
Vgl. ebd., 16. Ebd., 25. Ebd., 474. Ebd., 475. Und wird direkt als „new land“ beschrieben (ebd., 476).
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nichts mehr an die ursprüngliche Materialität erinnert; aus Kultur wird wieder Natur. Am Ende verliert sich seine Spur jedoch und die Insel bleibt so reine Utopie. Zwar sagt Norm Phantom seinem Enkel voraus, dass sein Vater Will und seine Mutter Hope eines Tages zurückkehren werden. Bis dahin müssen Norm und sein Enkel jedoch weiterhin zwischen Abfall und Treibgut leben. Eine Zukunft, in der zivilisatorische Überreste zu fruchtbarem Boden für ein postkoloniales Australien werden, dessen Bevölkerung den immateriellen Wert von Gemeinschaft, Spiritualität und Erinnerung als wertvoll und wegweisend anerkennen können, scheint noch weit entfernt.
4. Treibgut im Third Space Die hier behandelten Romane bilden eine äußerst selektive Auswahl an Werken australischer Literatur. Nichtsdestotrotz sind sie exzellente Beispiele dafür, wie Carters ‚archipelagisches Australien‘ und der damit geforderte Paradigmenwechsel literarisch umsetzbar sind. Das dynamische Moment im Lesen, Schreiben und Wissen um Australien, das Carter hier einfordert, manifestiert sich bei ihm hauptsächlich räumlich, im Auflösen national-kontinentaler Grenzen, die in diesem Fall mit dem ‚littoralen Raum‘ des Strandes zusammenfallen. Das ,Littorale, der ‚litter‘, und das ‚Literarische‘ bilden eine komplex verdichtete Gemengelage, wie die hier diskutierten Textbeispiele gezeigt haben. Im Raum zwischen Meer und Land, Australien und der Welt, verschwimmen Grenzen zwischen materiellem Wert und Unwert der Dinge und finden in der Literatur zumindest zeitweise einen Sammelort.85 Ihr Zusammenspiel wird maßgeblich durch die Bewegungen der Tiden, Strömungen oder Wassermassen durch Naturkatastrophen geprägt, die ihm sowohl Substanz geben als auch nehmen. Eine hier bislang nur kurz angeschnittene Rolle spielt dabei das Meer als Raum kultureller Ambivalenz und Medium symbolischer Umordnungen, das für den Archipel auch ganz buchstäblich die Rahmenbedingungen setzt. Mit ihren Werken eröffnen Murray Bail und Alexis Wright Inseln und Passagen im literarischen Archipel Australiens, an deren kulturellen Reibungsstellen sich eine divergente Masse aus Wörtern, Gegenständen und Menschen ansammelt. Treibgut wird so zu einer materiellen Spur der Reflexionsprozesse über die komplexe Verhandlung ‚eigener‘ und ‚fremder‘ Identitäten im postkolonialen Australien. Hier spielt besonders dessen Status als ‚Abfälle‘ eine Rolle. Aus ihren ursprünglichen ökonomischen, sozialen und epistemologischen Wertesystemen herausgelöst und im Medium des Wassers angespült, wird zunächst die Verwertbarkeit und somit auch der Sinn dieser Dinge eruiert. Dieser ‚Leseprozess‘ führt zu unterschiedlichen Ergebnissen und somit Funktionen, die 85
Vgl. dazu auch Jacques Lacans Text „Lituraterre“ (3-10), in dem er ‚littoral‘, ‚litter‘ und die Literatur zusammenbringt um über arbiträre Grenzziehungen und ihre Rolle für das Entstehen von Signifikanten zu reflektieren.
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Treibgut innehaben kann. So wird Abfall zum einen in die eigene Kultur überführt, und dort sogar zur Basis materiellen Wohlstands. Gelangt er allerdings in ein statisches Archivierungsumfeld, so offenbart sich zum anderen die scheinbare Unzulänglichkeit eines empirischen und retrospektiven Zugangs zu den Dingen, sowohl im Hinblick auf Relikte der (westlichen) Weltgeschichte als auch auf die gegenwärtige Dingkultur des Alltags. Die Darstellung beider Modi, der vornehmlich konsumgesteuerte Umgang mit Dingen und der archivarische, hinterfragen kritisch den rein materiellen wie auch symbolischen Wert abfälliger Dinge. Sammeln ist in diesem Zusammenhang eine kulturelle Praxis, die eng mit dem Ausüben von Macht und der Formulierung nationaler und kultureller Identität verbunden ist. Besonders durch die Einbettung der Dinge im fluiden Medium des Wassers bildet Treibgut ein besonders fruchtbares, weil beständig wiederkehrendes Material, an dem sich australische Identitätsdiskurse herausbilden können. Die Dynamiken solcher Prozesse werden durch das Meer als einem Kulturraum ermöglicht, der für die Konstitution Australiens als Archipel von tragender Bedeutung ist, da sich an ihm seine globale Rolle manifestiert. Dieser transkulturelle Zwischenraum, so bemerkt Günther Oetzel, „steht bis heute für Unendlichkeit, d. h. in Bezug auf Abfälle aller Art für eine unendliche Aufnahmefähigkeit. […] Die Meere sind auch der eigentliche Schauplatz der Globalisierung, die globalen Ressourcen-, Waren- und Müllströme durchqueren die Welt in gigantischen Containerschiffen.“86 Die Ozeane werden so zu Repositorien, deren Inhalte, die als Treib- oder Strandgut eben jene von Carter angemahnten Grenzen markieren und bisweilen gar durchdringen.87 Ozeane und Sturmfluten, Regengüsse und Brackwasser sind aber auch Medien, sie transportieren die Dinge von einem diskursiven Raum in den nächsten – von Europa an den australischen Strand oder den urbanen Rinnstein wie bei Bail, oder von einer Bevölkerungsgruppe zur nächsten, wie bei Wright. Die dem Element eigene Dynamik ‚wäscht‘ dabei die Dinge aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen heraus und stellt sie neu zur Disposition. Für den ,Archipel Australien‘ fungiert das Meer so nicht nur als Vorhaltebecken der Dinge, es wird vielmehr zu einem „Third Space“, durch den sich kulturelle Differenz artikuliert: The intervention of the Third Space, which makes the structure of meaning and reference an ambivalent process, destroys this mirror of representation in which cultural knowledge is continuously revealed as an integrated, open, expanding code. […] In other words, the disruptive temporality of enunciation displaces the narrative of the Western nation.88
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Oetzel 2012, Das globale Müll-System, 85. Zur doppelten Funktion des Meeres als Grenze und Medium des Bewahrens bzw. Recycelns von Identität vgl. Sarah Schmidts Beitrag „Existenzen sammeln − Existenzen schreiben“ im dritten Kapitel. Bhabha 2003, Cultural Diversity, 208.
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Übertragen auf den hier diskutierten Kontext intervenieren Meer und Ding durch den ‚Auswurf‘ des Treibguts in die Abgeschlossenheit der Ordnungssysteme, nach denen die Sammler mit dem Material umgehen. Es löst brüchig gewordene Epistemologien auf, verbindet darüber aber auch die konträren Inseln, aus denen der hier skizzierte literarische Archipel besteht: Bails durchströmter, sich im Auflösen begreifender Inselkontinent wird so neben Wrights fluiden, verschwimmenden Erzählräumen in eine sich kontinuierlich verändernde literarische Landschaft gebettet, deren Grenzen sich auch im Schreiben aufzeigen bzw. auflösen. In beiden hier diskutierten Romanen spiegelt sich die Perspektive, die sich im Umgang mit der materiellen Welt zeigt, im Schreiben wider, jedoch von unterschiedlicher Seite. Bails Erzähler steht in seiner Perspektivierung den Sammlern nahe, auch wenn er sie karikiert. Gerade diese Ironie ist es, die zwischen Erzähler und Erzähltem eine Distanz aufbaut, die dem zwischen Sammler und Gesammeltem ähnelt: Bail konstruiert seine Figuren als marginalisierte Typen, denen ein komplexes Innenleben verwehrt bleibt. Allein ihre obsessive Interaktion mit der materialen Welt charakterisiert sie und macht sie zu Figuren, die ihren eigenen eingeschränkten Handlungsraum über das Sammeln und Ordnen von Dingen kompensieren.89 Gleichzeitig zeichnet sich daraus aber auch paradoxerweise ein Bedürfnis nach einer epistemologischen Stabilität ab, die trügerisch ist. Die Listen, mit denen Holden’s Performance durchsetzt ist, bilden das Inventar ab, aus dem Bails Australien besteht. Dabei verstärken sie den Eindruck einer Nation, die unter einen großen Sicherheitsbedürfnis agiert, noch: Sie ordnen die Dinge narrativ bereits vor, bringen sie miteinander in Verbindung, und ahmen durch ihre Linearität den Aufleseprozess der Treibgutsammler am Strand im Erzählen nach. So überblenden sich durch die erzählerische Strategie der Reihung lesen und auflesen, sammeln und interpretieren. Wrights Prosa hingegen fluktuiert wie das allmächtige Meer. Über den ständigen Wechsel zwischen Zeit- und Raumebenen, immaterieller Welt der Geister und Menschen, nimmt sie literarisch die Eigenschaften des Wassers auf und verwirbelt jegliche narrativen Ordnungen: Erzählzeit und erzählte Zeit befinden sich in ständigem Widerspruch zueinander; die Reise ihres Protagonisten Norm auf der Suche nach seinem Freund Elias dauert Jahre, wird aber erzählerisch knapp gerafft. Haupt- und Nebenhandlung wechseln an Wichtigkeit, Figuren gehen unter und tauchen wieder auf (wie z. B. Will Phantom und seine Frau Bala, Norm Phantom oder Mozzie Fishman). So versetzt Wright die Leserin nicht in die Rolle der Sammlerin, sondern in die des Treibguts. Bereits der erste 89
Eine einzige Figur bildet in der männlichen Welt der pseudowissenschaftlichen Sammler eine Ausnahme: Die Exil-Ägypterin Mrs. Younghusband, bei der Holden Shadbolt später zur Untermiete wohnt, hat eine nostalgische Sammlung von Stücken, die zwar im Duktus der Treibgutfunde ihrer männlichen Gegenparts aufgezählt wird, jedoch einen rein persönlichen Wert einnehmen (vgl. Bail 1987, Holden’s Performance, 148). Sie ist es auch, die den orientierungslosen männlichen Figuren emotionale Stabilität gibt. Ihr Treibgut, gesammelt als Erinnerungsstücke und damit losgelöst von dem Diktat rationaler Ordnungsmuster, signalisiert Beständigkeit.
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Satz des Romans setzt das Verhältnis zwischen Wir-Erzähler und Leserin bzw. Hörerin: Die Stimmen, die Wright evoziert, erheben sich über jegliche Grenzen, die einzige Möglichkeit, ihnen zu folgen ist, sich mit ihnen treiben zu lassen. Damit läutet sie einen kulturellen Perspektivenwechsel ein, der aus der (vornehmlich ‚westlich‘ sozialisierten) Leserin ein Anschauungsstück indigener kultureller Souveränität macht, und dabei den Blick zurückwirft: Der Umgang mit Dingen wird so zu einer Folie für jegliche Form kultureller Selbstwahrnehmung. Wrights Roman nimmt den Faden, der bei Bail brüchig geworden scheint, wieder auf und spinnt ihn weiter. In Bails Satire kann Holden nur noch die Flucht nach vorne antreten, und das mit Müll und Diskursschnipseln übersäte Australien Richtung USA verlassen. Alexis Wrights fast schon utopische Vision eines neuen Australiens hingegen, dessen indigene Stimmen nun nicht mehr überhört werden können, speist sich aus genau diesem Chaos aus Müll, Treibgut und Wasser. So wie die Wellen des Ozeans oder die Sturmfluten am Golf immer wieder neue Räume schaffen, Altes weg- und Neues anspülen, so wird auch ihr gebeuteltes Australien wieder neu entstehen: „An island can easily destroy and remake itself from its own debris.“90
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Wright 2007, On Writing, 16.
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WAS NACH DEM SAMMELN BLEIBT. ZUM STATUS DES KOPIERENS IN FLAUBERTS BOUVARD ET PÉCUCHET
„Die Welt kann nicht mehr verstanden werden, kann auch nicht mehr verändert werden. Das einzige, was man tun kann, ist die Welt zu sammeln“, schreibt am Ende des 20. Jahrhunderts der Kulturtheoretiker Boris Groys.1 Etwa ein Jahrhundert zuvor hat Gustave Flaubert mit seinem letzten und unvollendeten Werk Bouvard et Pécuchet, das 1881 postum erschienen ist, diese endzeitliche Perspektive längst überschritten. Flaubert, so meine Ausgangsthese, treibt in diesem Roman das Sammeln an den Punkt seiner eigenen Erschöpfung, um daselbst das immer schon wirksame, das Sammeln befördernde und zugleich das Sammeln zersetzende Kopieren offenzulegen. Folgen wir dafür zunächst Schritt für Schritt dem experimentum mentis, das Flaubert in seinem letzten Buch durchgeführt hat: Die beiden Protagonisten namens Bouvard und Pécuchet – sie sind keine psychologischen Charaktere, sondern bilden vielmehr eine schiere und dazu komische methodische Konstruktion – eignen sich im Eilverfahren das moderne Wissen ihrer Zeit an, ohne je einen verstehenden Umgang damit zu finden. Dem großen aufklärerischen Projekt der Encyclopédie nacheifernd, lesen und sammeln sie unerlässlich, ohne jedoch je die Früchte dieses Wissens genießen zu können. Im Laufe von neun Kapiteln, die etwa 400 Seiten umfassen, widmen sich die beiden Figuren u. a. der Landwirtschaft, dem Garten- und Landschaftsbau, der Lebensmittelkonservierung, der Destillation, der Chemie, der Anatomie, der Physiologie, der Medizin, der Hygiene, der Kosmologie und Kosmogonie, der Zoologie, der Geologie, der Mineralogie, der Anthropologie, der Archäologie, der Keltistik, der Geschichte, der Mnemotechnik, der Literatur – vom historischen Roman, über den Liebes- und Abenteuerroman zur Tragödie und Komödie, vom Rezipieren zum Rezitieren und Selberschreiben, von der Konsultation von Anekdotensammlungen zur Stofffindung zum Studium von Poetiken und Stilstudien –, schließlich der Politik, der Ökonomie, der Gymnastik, dem Spiritismus, dem Magnetismus, der Philosophie, der Theologie, der Ethik und der Pädagogik. Jede einzelne Disziplin gehen die beiden komischen faustischen Figuren, Kinder des nachaufklärerischen, positivistischen 19. Jahrhunderts, folgendem Dreischritt zufolge an: 1
Groys 1991, Logik der Sammlung, 48.
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Schritt 1: Sie ereifern sich, lesen sich Wissen an, indem sie meist auf Nachschlagewerke sowie für den bürgerlichen Hausgebrauch konzipierte Traktate zurückgreifen, die im 19. Jahrhundert eine massenhafte Verbreitung erfahren haben. Eine ihrer Hauptquellen sind z. B. die populären Handbücher der Collection encyclopédique Roret, in der rund 300 Bände zu den disparatesten Themenbereichen – von der Astronomie, Numismatik, Glasmalerei, der Nationalgarde bis zur Hexerei – erschienen sind. Schritt 2: Die Protagonisten versuchen, das angelesene Wissen in die Praxis umzusetzen. Dabei verwechseln sie die Wissenschaft mit einer Gebrauchsanweisung. Doch ihre Vorstellung, ein fertiges Wissen vorfinden zu können, ihre Wortgläubigkeit ebenso wie ihr Begehren nach Widerspruchsfreiheit vereiteln jedes Mal erneut das Erreichen befriedigender Resultate. Schritt 3: Die beiden Figuren verwerfen, sobald sie auf Schwierigkeiten und Widerstände stoßen, die jeweilige Disziplin kurzerhand als ganze. Anstatt der Ausbildung kritischer Urteilskraft und der Suche nach einem Verhältnis zu den inneren Widersprüchen einer jeden Disziplin, stürzen sich Bouvard und Pécuchet auf eine neue Disziplin (Schritt 1). Dieses Verlaufsmuster wiederholt sich im Laufe des Romans unzählige Male. Die Methode bleibt notgedrungen „ochsenhaft“ („bovin“ klingt in Bouvard ebenso an wie schon in Bovary), was bei Flaubert so viel wie „eselhaft“ meint. Solch esel- bzw. ochsenhafte Anwendung des Wissens bringt eine endlose Reihe von Abfällen und Ruinen hervor. Verdorbenes Eingemachtes, ungenießbares, weil überdüngtes Gemüse, verkümmertes Getreide und zu allem Überfluss gerät auch noch der gerade gebaute Weizenschober in Brand. Die geologischen Fundstücke stehen, nachdem die beiden dilettierenden Forscher ihr Interesse daran längst verloren haben, nur mehr als Gerümpel in ihrem Landschlösschen in Chavignolles, das sie hochtrabend ihr „Museum“ nennen (während in dem fiktiven Ortsnamen Chavignolles das Verb „chavirer“ = „kentern“ ironisch mit anklingt2). Ist es da ein Zufall, dass das Wort „déchet“ (Abfall) das buchstäbliche Bindeglied beider Namen dieser einen methodischen Konstruktion (Bouvard Pécuchet) bildet?3 Auf der erzählten Ebene (histoire) wird das Scheitern als ein einziges Feuerwerk komischer Kurzschlüsse vorgeführt, denen die beiden Figuren aufsitzen und von denen ich nur zwei beispielhaft in Erinnerung rufen möchte: Im dritten Kapitel, in dem sich die beiden Protagonisten als Hobbygeologen gebärden, dabei auf keinen grünen Zweig kommen, trösten sie sich zuletzt mit der Auskunft des heute weitestgehend in Vergessenheit geratenen Geologen Jean-Julien Omalius d’Halloy, dem zufolge den geologischen Einteilungen nicht zu trauen sei. Kurz darauf geben die beiden Romanhelden die Geologie auf. Und als sie 2 3
Der Hinweis findet sich in Warning 2005, Enzyklopädie und Idiotie, 177. In ihrem „literary nonfiction“-Roman The Empty Cabinet, von dem ein Ausschnitt im zweiten Kapitel gegeben wird, widmet sich Sue Watermann der Familiengeschichte genau dieses vergessenen Geologen. Zu ihrer Collage- und Montagetechnik vgl. das Essay von Marion Picker über diesen Roman im zweiten Kapitel.
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sich im fünften Kapitel als Literaturexperten versuchen, eine Tragödie von Marmontel deklamieren und dabei einem Lachanfall erliegen, verwerfen sie kurzerhand die Gattung der Tragödie überhaupt. In der für Flaubert typisch lakonischen Art heißt es nur: „La Tragédie tomba dans leur estime.“4 Auf der Ebene der Erzählung (discours) wird das Scheitern ihrer Methode indessen systematisch. Denn die Verknüpfung der einzelnen Wissensbereiche miteinander folgt einer in sich gespaltenen Logik: Einerseits einer retroaktiven Geste, die darum besorgt ist, durch eine weitere Disziplin die mangelnden Grundlagen der je gerade verabschiedeten zu kompensieren. Dies ist z. B. der Fall, wenn die landwirtschaftlichen Versuche von Züchtung, Pfropfung und Konservierung kläglich scheitern. Dann soll das Studium der Chemie die Lösung liefern. Andererseits dominiert eine nahezu alphabetische, sprich strikt arbiträre Abfolge der einzelnen Wissensbereiche: So folgen der agriculture im französischen Original arboriculture, chimie, diététique, géologie, histoire, littérature, magnétisme, métaphysique, philosophie, religion. Während das aufklärerisch enzyklopädische Projekt bekanntlich darum bemüht ist, die alphabetische Anordnung durch unzählige Querverweise zwischen den einzelnen Lemmata durch einen systematischen Zugriff zu überformen, ereignet sich in Flauberts enzyklopädischer Farce gerade das Gegenteil: Die alphabetische Ordnung, die einzige Ordnung, die weder eine Bedeutung noch eine Wertung impliziert, wird mit dem positivistischen Denken comtescher Prägung verschliffen, das von einer natürlichen epistemologischen Hierarchie der einzelnen Wissensbereiche ausgeht.5 In solcher Weise wird die alphabetische Ordnung mit Bedeutung aufgeladen, der comteschen Wissensanordnung jedoch, insofern diese behauptet, nach dem Verlust von Transzendenz doch noch einmal zu einer homogenen Darstellung des menschlichen Wissens zu gelangen, der Grund genommen. Beide Ordnungsvorstellungen werden mithin narratologisch durchkreuzt, aus den Angeln gehoben und so ad absurdum geführt. Ein jedes Mal, wenn Bouvard und Pécuchet feststellen wollen, was eine Sache „ist“ (französisch: „est“), auch in welchem Zusammenhang von Ursache und Wirkung sie steht, greifen sie ins Leere und bringen statt einer logischen Verbindung nur ein unvermeidliches „und“ – auf Französisch das mit „est“ quasihomophone „et“ – hervor. In dieser Verschiebung verfehlen sie einerseits das Sowohl-als-auch des Widerspruchs innerhalb einer Disziplin6, andererseits löst sich ihnen unter der Hand das enzyklopädische Sammelprojekt in eine kontingente Ansammlung auf. Anstatt der Durcharbeitung der Widersprüche und inneren Dialektik eines Wissensfeldes ereignet sich eine schiere Kumulation von schon vorgekautem, schnell angelesenem Wissen unzähliger Wissensfelder. Dies ist einer der grammato-logischen Hauptzüge des Buches, zumindest seines ersten vollendeten 4 5
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Flaubert 1979, Bouvard et Pécuchet, 207. Vgl. Comte 1949, Cours de philosophie positive. Nach Comte folgt die Anordnung des Wissens einer natürlichen hierarchischen Ordnung der Phänomene. Für Comte gibt es ein Gesamtes; ein allgemeines System, auf das jedes Einzelwissen immer schon verweist. Vgl. zur Spannung zwischen „est“ und „et“ Derrida 2005, Et cetera.
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Teils. Es darf darüber aber auch nicht verschwiegen werden, dass sich in der repetitiven Vorgehensweise nichtsdestoweniger eine Art Entwicklung abzeichnet: Eine zunehmende Desillusionierung findet statt, welche die beiden Figuren schließlich sogar in die Lage bringt, die Problematik der wissenschaftlichen Fortschrittsgläubigkeit ihrer Zeit, der sie selbst verhaftet sind, immer deutlicher zu erkennen. Verdichtet wird dies in dem berühmten Satz am Ende des achten Kapitels zum Ausdruck gebracht: „Alors une faculté pitoyable se développa dans leur esprit, celle de voir la bêtise et de ne plus la tolérer.“7 Doch verhindert auch diese Einsicht nicht, dass sich die beiden Helden, nach einem gescheiterten Selbstmordversuch, nun auch noch der Religion und der Pädagogik verschreiben. Aber auch ihr Vorhaben, Victor und Victorine, die beiden Kinder eines Galeerenhäftlings, zu erziehen, ihnen nun all das zu vermitteln, was sie sich selbst angeeignet haben, und sie für höhere Ideale zu begeistern versuchen, scheitert kläglich. Auch die im Namen doppelt aufklingende Möglichkeit eines Sieges – das ist die abschließende Pointe des ersten Teils des Romans – schlägt um in Ruin. Immer noch nicht entmutigt, wollen sich die beiden Helden nun der Erwachsenenbildung zuwenden. Damit sind wir im zehnten und letzten Kapitel angelangt, das in unvollendeten Skizzen ausläuft, in denen geschildert wird, wie sich die Dorfgemeinschaft zunehmend gegen diese beiden Sonderlinge wendet; es ereilt sie schließlich sogar ein Haftbefehl. In einer Notiz heißt es: Ainsi tout leur a craqué dans les mains. Ils n’ont plus aucun intéret dans la vie. [Sie sind hier wieder am Punkt angelangt, der sie im achten Kapitel in den Selbstmord treiben sollte, Anm. J. K.] Bonne idée nourrie en secret par chacun d’eux. Ils se la dissimulent – De temps à autre, ils sourient, quand elle leur vient; – puis se la communiquent simultanément: copier.8
Man könnte meinen, die beiden Figuren besinnen sich am Ende des Romans auf ihre einstige, am Anfang des Romans geschilderte Kopistentätigkeit zurück. Dabei würde man dadurch erstens übersehen, dass Bouvard und Pécuchet den bürgerlichen Beruf des Kopisten (Bouvard in einem Handelshaus, Pécuchet im Marineministerium9) nur scheinbar aufgaben, als sie sich entschieden, mit Hilfe einer Erbschaft einen Landsitz in der Normandie zu erwerben, um dort ihrem Wissensdrang hemmungslos nachgehen zu können. In gewisser Weise haben sie auch dort nichts anderes getan als zu kopieren, allerdings nun mit anderen Implikationen: Wenn sie sich mithilfe von Handbüchern für den Hausgebrauch, deren Inhalt selbst meist aus anderen Werken abgekupfert worden ist, ihr Wissen anlesen, um es möglichst unmittelbar anzuwenden, dann stehen sie nolens volens weiterhin in einer Logik des Kopierens. Sie können nicht anders als in der Logik des Kopierens zu verharren, selbst da, wo sie meinen, aus ihr heraus-
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Flaubert 1979, Bouvard et Pécuchet, 319. Ebd., 414. Ebd., 55.
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zutreten, um Neues zu entdecken, ja Neues zu schaffen. Auch dieser Zusammenhang ist auf der Ebene des discours streng durchgearbeitet. So steht schon die Begegnung der beiden Figuren im ersten Kapitel des Romans im Zeichen der schieren Wiederholung des Gleichen. Beide sind Kopisten und werden als Kopie des jeweils anderen eingeführt: „Ils s’assirent à la même minute, sur le même banc.“10 „[Ils ont] eu la même idée, celle d’inscrire [leurs] nom dans [leurs] couvre-chefs.“11 „[...] Pécuchet pensait de même [...] Bouvard aussi.“12 „Leurs opinions étaient les mêmes, bien que Bouvard fut peut-être plus libéral.“13 „[Et] ils avaient le même âge: quarante-sept ans.“14 Ja, selbst dann, wenn Unterschiede innerhalb dieses eigentümlichen Paares artikuliert werden, führen diese zu keiner Dialektik. Die dominierenden Signifikanten „même“, „comme ceci ou cela“ und „aussi“ führen selbst die Differenzen auf die indifferente Gleichheit zurück. Der berühmte und viel kommentierte Auftakt des Romans – „Comme il faisait une chaleur de trente-trois degrés, le boulevard Bourdon se trouvait absolument désert“15 – gibt dabei den Ton an. Anstelle der für Romananfänge des 19. Jahrhunderts üblichen Zeitangabe steht hier eine Temperatur, die selbst vor allem für ihre Zahlenverdopplung interessiert. Genauso scheint die darauf folgende Ortsangabe weniger für sich selbst zu stehen, als vielmehr für die Verdopplung der Silbe „bou“, die auch die erste Silbe des Romantitels, „Bouvard“, bildet. In der suggerierten Kausallogik („comme“ als kausale Konjunktion) wird das Streben nach Gleichheit („comme“ als Vergleichspartikel) sogleich mit artikuliert. Die seltenen Momente vollkommener Zufriedenheit in ihrem enzyklopädischen Unternehmen äußern sich denn auch vornehmlich als Tautologie: „Je comprends dit Bouvard, le Beau est le Beau [ …] enfin le goût c’est le goût“16 – „[ ...] les maîtres sont les maîtres“17. Derartige Affirmationen führen jedoch notgedrungen zum Abbruch des jeweils gerade begonnenen Forschungsunternehmens. Denn sie schließen den Raum gegen Differenz ab; diese ist aber die notwendige Voraussetzung dafür, dass es weitere Beobachtung und kritische Befragung des Gegenstandes überhaupt gibt.18 Die Selbstaufforderung zum Kopieren am Ende des ersten Teils meint keine Rückkehr zum Anfang, auch weil sich in dem geplanten zweiten Teil des Romans eine unerhörte Radikalisierung des Abschreibens abzeichnet. Flaubert hat diesen Teil schlechterdings „la Copie“ genannt; aufgrund seines plötzlichen To-
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Ebd., 51. Ebd., 52. Ebd., 52 f. Ebd., 53. Ebd., 58. Ebd., 51. Ebd., 220. Ebd., 223. Vgl. Luhmann 1987, Die Autopoiesis des Bewußtseins, 30.
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des am 8. Mai 1880 ist dieser indes skizzenhaft geblieben. Es liegt ein umfangreiches, ca. 2300 Folioseiten umfassendes Konvolut mit Materialien vor, die Flaubert im Zuge seines Verfertigens des ersten Teils gesammelt und verwendet hat und die im zweiten Teil eine Wiederverwendung hätten finden sollen: Lektürenotizen, Zeitungsausschnitte, Ausschnitte aus Literaturkritiken, ausgerissene Bücherseiten, Reklamezettel, Briefe, umfangreiche Bibliographien und sogar eigene Manuskripte – Vorarbeiten zu den eigenen Werken.19 In der Flaubert-Forschung konkurrieren im Wesentlichen zwei Hypothesen darüber, wie die Endgestalt der „Copie“ ausgesehen haben könnte20: Die erste geht von einem narrativen Rahmen aus, in den die kopierende Tätigkeit der beiden Protagonisten hätte eingebunden werden sollen. Diese Variante nennt als Schlusspunkt jenen Moment, in dem Bouvard und Pécuchet – sich selbst radikal verleugnend – schließlich auch die ärztliche Diagnose abgeschrieben hätten, die bescheinigt, dass sie „nur zwei harmlose Dummköpfe“ sind.21 Die zweite Hypothese geht hingegen von der Unhaltbarkeit dieser narrativen Einrahmung aus. Sie denkt „la Copie“ als verselbstständigten, formlosen und prinzipiell unabschließbaren Text22, der von einer „konfusen Sammlung und Wiederverwendung von altem Material“23 zeugt. Dieser Hypothese scheint mir auch die Hypertext-Edition der Dossiers unter der Leitung von Stéphanie Dord-Crouslé zu folgen, welche die Anordnung des von Flaubert angehäuften Materials radikal offen lässt. Die schier unüberschaubare Masse an Materialien verschiebt nun auch innerhalb des Begriffs der Kopie die Semantik. Während der erste Teil des Buches die „Kopie“ vor allem als „Paar“ und „Dopplung“ ausbuchstabiert (Kopie von lat. copula), betont der zweite Teil nun die Bedeutung von „Fülle“ (Kopie von lat. copia), wodurch sie in die semantische Nähe der „Farce“ (Füllung) gerückt wird. In dieser fülligen Kopie gibt es nur partiell Ordnungsstrukturen: So hätten z. B. der berühmte Dictionnaire des idées reçues sowie weitere Sammlungen von stereotypen Vorurteilen, „prêt-à-dire“ bzw. „prêt-à-penser“ in die „Copie“ eingehen sollen. Darüber hinaus ist zu vermuten, dass Flaubert seine beiden Protagonisten all jene Bücher hätte abschreiben lassen, die er selbst gelesen hat, um den ersten Band von Bouvard et Pécuchet zu verfertigen. Flauberts eigenen Angaben zufolge, die durch die Forschung inzwischen bestätigt worden sind, 19
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So finden sich im Dossier diverse handschriftliche Vorarbeiten zur Education sentimentale und Un cœur simple. Was die materielle Beschaffenheit dieses Konvoluts anbetrifft, verweise ich auf das online veröffentlichte Dossier zu Bouvard et Pécuchet (http://dossiers-flaubert.ish-lyon.cnrs.fr/; zuletzt aufgerufen am 14.01.2016), das unter der Leitung von Stéphanie Dord-Crouslé textkritisch aufbereitet wird. Eine ausführliche Beschreibung des Dossiers findet sich bei Haberl 2005, Avant la Copie. Vgl. dazu vor allem Dünne 2003, Asketisches Schreiben, 347 ff. „Imbéciles“ sind Flauberts Dictionnaire des idées reçues zufolge, das selbst in den zweiten Band hätte eingehen sollen, „tous ceux qui ne pensent pas comme vous“, was hinwiederum zu einer Öffnung führt. Siehe Flaubert 1979, Bouvard et Pécuchet, 530. Vgl. Leclerc 1988, La spirale et le monument, 67. Mouchard/Neefs 1980, Vers le second volume: Bouvard et Pécuchet, 172.
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sind es etwa 1.500 Bände gewesen. Aber selbst dem ist nicht genug: In einer Notiz zum zweiten Band heißt es, dass Bouvard und Pécuchet kiloweise Altpapier kaufen, um es abzuschreiben: Ils copièrent ... tout ce qui leur tomba sous la main, ... longue énumération ... les notes des auteurs précédemment lus, – vieux papiers achetés au poids à la manufacture de papier voisine. Ils copient au hasard tous les ms et papiers imprimés qu’ils trouvent, cornets de tabac, vieux journaux, lettres perdues, affiches, etc. croyant que la chose est importante et à conserver.24
„Tout leur a craqué dans les mains [Herv. J. K.]“, heißt es am Ende des ersten Teils. Nichts können sie in ihren Händen halten, ohne dass es darin zerbrechen würde und zu Boden fiele. Es scheint, als widmeten sie sich im zweiten Teil nun genau dem, was ihnen in den Händen zerbrochen ist. „Ils copièrent [...] tout ce qui leur tomba sous la main [Herv. J. K.]“25. Das Gefallene, das, was in ihren Händen längst zerbrochen ist, fällt ihnen nun noch einmal, und zwar in weitgehend kontingenter Weise, in die Hände, die nun nichts anderes mehr tun, als das so Zugefallene zu kopieren. Welcher Art sind nun aber die Implikationen dieser virtuellen, narrativ weitgehend entbundenen Kopie? Sie betreffen Flauberts écriture, werfen darüber hinaus aber auch allgemein literaturästhetische und kulturtheoretische Fragen auf. Beiden Aspekten soll im Folgenden nachgegangen werden, und zwar gerade an jenen Punkten – ich habe derer fünf ausgemacht –, wo sie einander berühren. 1) Vergegenwärtigen wir uns Bouvard und Pécuchet noch einmal, wie sie vor ihrem abgebrannten Weizenschober stehen. Statt Früchte und Samen finden sie einen Scheiterhaufen, in dem die Spreu vom Weizen nicht mehr getrennt werden kann. Aus der Perspektive des zweiten Bandes würden sie nun, anstatt die Ernte einzufahren, die Scheite auflesen. In diesem Auflesen würde weder eine Reparatur noch eine Restitution stattfinden. Doch würde die schiere Verwerfung, die lange ihre dominante Geste war, zurückgehalten. Nun ist dieses Bild insofern nicht ganz zutreffend, als Bouvard und Pécuchet im zweiten Band die materielle Dingwelt hinter sich lassen und sich ganz auf das Abschreiben der von ihnen gelesenen und auch nicht-gelesenen schriftlichen Äußerungen festlegen. Das so sich vollziehende Kopieren verabschiedet nicht nur den Kontakt mit der gegenständlichen Welt, verabschiedet nicht nur die Vorstellung, aus dem angelesenen Wissen konkreten Nutzen und Gewinn ziehen zu können, sondern darüber hinaus auch jegliche wertende Einstellung zum Gelesenen. Denn alles ist nun gleich wert, kopiert zu werden. Auf unerhörte Weise wird damit das bekannte flaubertsche Stilideal der impassibilité,
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Flaubert 1979, Bouvard et Pécuchet, 442 [Herv. i. O.]. Ebd.
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impartialité und impersonnalité realisiert: nämlich in einer gänzlich entpersönlichten Schreibweise, in der die beiden Protagonisten zu schieren Kopiermaschinen werden. 2) Wir wissen spätestens seit den Forschungen der critique génétique, dass Flaubert selbst nicht aufgehört hat, seine Werke immer wieder neu zu schreiben. In einem Brief an seine Nichte Caroline im Januar 1880, der in die späte Phase seiner Arbeit an Bouvard et Pécuchet fällt und sich auf die Abfassung des neunten Kapitels bezieht, schreibt er: „Mon chapitre est fini: je l’ai recopié hier et j’ai écrit pendant dix heures! Aujourd’hui, je le re-recorrige, et je le re-recopie.“26 Was Flaubert hier für seine Arbeit an seinem letzten Werk formuliert, gilt für weite Teile seines gesamten schriftstellerischen Tuns. Ich erinnere nur daran, dass wir zwei Versionen der Éducation sentimentale, drei von La tentation de Saint Antoine vorliegen haben und dass darüber hinaus vielfache Echos zwischen den unterschiedlichen Werken Flauberts bestehen. Flaubert schreibt seiner ré-écriture, die er als „copier“ und „recopier“, ja sogar als „re-re-copier“ bezeichnet, immer noch ein kreatives Potential der Umschrift zu, ohne den repetitiven Aspekt derselben zu leugnen. Inwiefern gilt dies auch für Bouvards und Pécuchets „Copie“? Offensichtlich nützen die beiden Kopisten das Abschreiben nicht für einen Korrekturprozess. Vielmehr scheint ihre Kopiertätigkeit im Zeichen einer grundsätzlichen Korrektur ihres vorgängigen Weltbezugs zu stehen. Während sie im ersten Band einer kurzsichtigen Wortgläubigkeit aufsitzen, erproben sie im zweiten Band ein strikt buchstäbliches Verhältnis zum Geschriebenen. Sie leben nun nicht mehr von Meinungen, Projektionen, Vorurteilen und Erwartungen, sondern finden im schieren Abschreiben des Vorhandenen zuletzt Distanz zur Welt ebenso wie zu sich selbst. Sie müssen die Welt nicht mehr verbessern, sie müssen in keiner Disziplin mehr reüssieren. Insofern ihr Abschreiben der schieren Kontingenz folgt, wird auch darin jede Vorstellung von sinnhafter Komposition verabschiedet; es dringt aber auch nicht zu einer surrealistischen écriture automatique vor, die immer noch behaupten kann, von der Logik des Unbewussten regiert zu sein; auch die Anordnung der Materialien innerhalb der „Copie“, wäre sie denn realisiert worden, ist nur sehr bedingt auf die Technik der Montage zurückzuführen, wie sie beispielsweise von Benjamin formuliert und in seinem Passagen-Werk praktiziert wurde. 3) Die berühmteste Aussage Flauberts über seinen Roman lautet folgendermaßen: „C’est l’histoire de ces deux bonshommes qui copient (,) une espèce d’encyclopédie critique en farce [...] . Pour cela, il va me falloir étudier beaucoup de choses que j’ignore: la chimie, la médecine, l’agriculture.“27 Der Streit der Forschung, ob nach „copient“ ein Komma zu setzen sei oder nicht28, treibt 26 27 28
Flaubert zitiert nach Leclerc 1988, La spirale et le monument, 154; Pontalis 1971, Après Freud, 292. Brief an Mme R. des Genettes, 19. August 1872, online unter: http://flaubert.univ-rouen.fr/cor respondance/conard/outils/1872.htm, zuletzt aufgerufen am 27.08.2015. Vgl. dazu Leclerc 1988, La spirale et le monument, 65 f.
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eine potentielle Äquivozität dieses Satzes hervor, der vor allem den narratologischen Status der beiden Figuren zur Frage werden lässt, aber seinerseits auch davon zeugt, wie ein geringer Fehler beim Schreiben und Abschreiben, ein Lapsus – selbst unentschieden bedeutender oder unbedeutender Abfall einer Rede – zu maßgeblichen Bedeutungsverschiebungen führen kann. Ohne Kommatrennung werden „ces deux bonshommes“ zu den Autoren der enzyklopädischen Farce, die der Roman Bouvard et Pécuchet ist. Abgesetzt durch ein Komma erscheint ihr kopierendes Tun als eine solche. In beiden Fällen darf nicht vergessen werden, dass diese Farce durch und durch mimetisch verfährt, buchstäblich vollgestopft ist mit dem Geist, über den sie sich lustig macht. Nichts weist darauf hin, dass es daneben, dahinter oder darüber etwas anderes gibt, das nicht Teil dieser Farce wäre. Narratologisch wird dies gemeistert durch die „mannigfachen Formen der Verunklarung des Subjektbezugs der Rede“29, die eine Verschleifung des Autors mit seinen Protagonisten zur Folge haben. „Pour cela, il va me falloir étudier beaucoup de choses que j’ignore: la chimie, la médecine, l’agriculture“ – der Horizont von Flauberts Schreiben ist das Sammeln und Kopieren seiner Protagonisten. Die Unpersönlichkeit dieser Erzählweise ist selbst dem positivistischen Geist abgewonnen, gegen den sie sich wendet. Die größte mimetische Nähe entbirgt den größtmöglichen Abstand. 4) Während einst Sammeln und Kopieren den Erhalt und die Steigerung kultureller Werte garantierten, werden sie im ersten Teil des Romans als sterile Gesten vorgeführt, die nur mehr Abfälle hervorbringen. Das radikale Kopieren im zweiten Teil hingegen trägt darin noch einmal eine andere Wende ein, die uns jenseits der Opposition von Wert und Unwert, Sinn und Unsinn zu führen vermag.30 Sie scheint mir in der berühmten Nachlassnotiz – „Plaisir qu’il y a dans l’acte matériel de recopier.“31 – impliziert zu sein. Etwas hat sich also im Kopieren selbst verändert: Es ist weder mit der einstigen, verhassten Kopistentätigkeit im Büro identisch; noch ist es weiterhin in das Bestreben eingebunden, Wissen anzueignen und zu applizieren. Abschließend möchte ich, in meinem fünften Punkt, einige Vermutungen darüber anstellen, was mit dieser Lust am Kopieren gemeint sein könnte. 5) Rainer Warning hat in diesem Zusammenhang von der für Flaubert typischen libidinösen Selbstbezogenheit des Schreibens als Schreibakt gesprochen.32 Wenn Bouvard und Pécuchet im zweiten Band nur noch dem Diktum folgen, „que la page s’emplisse“33, dann ist darin jeglicher Anspruch auf Form29 30
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Warning 2005, Enzyklopädie und Idiotie, 174. Eine weitere Möglichkeit bestünde darin, die beiden Kopisten im Licht des Paradigmas des Lumpensammlers zu betrachten. Zur Praxis des Zitierens vgl. auch Barbara Thums „Im Zweifel für die Reste“ im vierten Kapitel. Eine Reflexion auf die Unmöglichkeit einer „totalen Kopie“ ist das künstlerische Projekt Connected in Isolation (2014-2015) von Jacqueline Baum und Ursula Jakob (siehe Tafelteil), vgl. auch das Essay zu diesen Künstlerinnen von Sarah Schmidt im ersten Kapitel. Flaubert 1979, Bouvard et Pécuchet, 442. Warning 2005, Enzyklopädie und Idiotie, 180 f. Flaubert 1979, Bouvard et Pécuchet, 443.
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und Sinngebung, den wir gemeinhin mit „Fülle“ verbinden, verabschiedet zugunsten der Schrift als schierer materieller Seitenfüllung.34 Auch wenn das Begehren, ganz in die Materie der Schrift einzugehen, ein wiederkehrendes Motiv bei Flaubert ist (man denke hier an das Ende von La Tentation de Saint Antoine, wo Antoine sein Begehren, Materie zu werden – „être la matière“ – laut ausruft35), scheint mir in diesem kopierenden Verfahren auch noch etwas anderes im Spiel zu sein. Man bedenke, dass die „Copie“ von Bouvard und Pécuchet letztlich nichts anderes als eine gigantische Zitatanhäufung gewesen wäre. „Ce volume ne devait être presque composé que de citations“36, hat Flaubert selbst geäußert. Unsere beiden Helden würden also, anstatt weiter am Wortsinn der von ihnen gelesenen Texte zu kleben, diese lustvoll anzuhäufen beginnen. Die Akzentuierung des Zitierens dynamisiert die „Copie“ in entscheidender Weise. Sie erscheint dadurch weniger als eine kompakte Masse, sondern vielmehr als eine Ansammlung aus lauter auseinandergenommenen, dem Herkunftskontext entwendeten und neu zusammengesetzten Textstücken. Die „Copie“ wäre somit letztlich vor allem eine minimalistische und zugleich gigantische Inszenierung der Bedingungen der Möglichkeiten von Sprache überhaupt, die nicht nur den wissenschaftlichen Positivismus, sondern insbesondere auch den Begriff von Literatur als inspiriertes Werk eines Autors weit hinter sich lässt. Die „Copie“ ist als solche nicht zuletzt eine radikale Zur-Schau-Stellung der Iterabilität sprachlicher Zeichen. Iterabilität meint in erster Linie ein Abrücken: die Gabe eines Textes, sich als Zitat fortzubewegen, dem Wortsinn des lateinischen „citare“ zufolge in Bewegung zu bringen und auf diese Weise nah oder auch fern gerückt zu werden. Diese im Zitieren sich stets ereignende Ver-rückung eröffnet uns an dieser Stelle die Möglichkeit, ausgehend von Flauberts letztem unvollendeten Buch, ein anderes Verhältnis sowohl zur Materie als auch zum Wissen zu denken. Ein Verhältnis, das weder mit einem stumpfen Abkupfern dessen identisch ist, was immer schon gesagt und formuliert worden ist, noch im aufklärerischen Anspruch auf Verstehen und Verbessern der Welt aufgeht. Welcher Raum öffnet sich in diesem Weder-noch? In einer Notiz heißt es, dass Bouvard und Pécuchet – „par besoin de faire un classement“37 – ein großes Handelsregister als Schreibunterlage verwenden, das ihnen aus ihrer einstigen Kopistentätigkeit vertraut ist. Die Pointe liegt nicht so sehr im zwangsläufigen Scheitern ihres Strebens nach Klassifizierung, sondern vielmehr darin, dass auf diesem Handelsregister nun nicht mehr Gewinne und 34
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Dies gemahnt nicht zuletzt an eine Aussage, die Flaubert, freilich selbstironisch und nicht ohne Bitterkeit, in Bezug auf sein eigenes Schreiben in einem Brief an George Sand geäußert hat: „Je n’attends plus rien de la vie qu’une suite de feuilles de papier à barbouiller de noir“, Brief vom 27. März 1875, online unter: http://flaubert.univ-rouen.fr/correspondance/conard/outils/ 1875.htm, zuletzt aufgerufen am 01.09.2015. Flaubert 1990, La tentation de saint Antoine, 34. Flaubert, Brief an Edma Roger des Genettes vom 24. Januar 1880, online unter: http://flaubert. univ-rouen.fr/correspondance/conard/outils/1880.htm, zuletzt aufgerufen am 01.09.2015. Flaubert 1979, Bouvard et Pécuchet, 442.
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Verluste notiert werden, sondern alles Abgeschriebene in einen Raum der buchstäblichen Gleichgültigkeit getragen wird. Das ökonomische Paradigma, das stets auf Wertsteigerung ausgerichtet ist, wird auf Null gestellt. Der Referenzlosigkeit alles Geschriebenen entspricht der Austauschbarkeit der beiden Kopisten, die an die Stelle von Autorschaft rückt. In ihrer Kopiermanie werden die beiden Figuren, freilich ohne ein Bewusstsein davon zu haben, zu den wahren Helden eines Verfahrens, das sich Buchwissen nicht aneignet, im Glauben, die Welt dadurch verbessern zu können, sondern es vielmehr enteignet und dadurch in eine Ferne rückt. Der hier sich ankündigenden Geste geht es nicht mehr um ein methodisches Greifen, Begreifen und Sichvergreifen an Wissensbeständen. Die Vorstellung, dass es möglich sei, Wissen anzueignen, um damit die Welt zu bewegen, zu verändern und zu verbessern, wird in den Raum eines unendlichen, strikt selbstreferentiellen Kopierakts geschickt. Auch die Literatur als künstlerischer Schöpfungsakt sieht sich dadurch gänzlich unterwandert. Kopierend wird das Wissen der Welt ebenso wie die poetische Bearbeitung und Durcharbeitung existentieller Fragestellungen aus den Händen gegeben und höchstens noch mit den Fingerspitzen an ihrer buchstäblichen Materialität berührt. Als Zitatmontage und -sammlung wird damit sowohl dem Wissen als auch der Kunst für Momente die ihnen eigene schwergewichtige Bedeutsamkeit genommen. Auf diese Weise werden beide letztlich vielleicht sogar noch einmal verhandelbar.38
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Vgl. Turnheim 2009, Mit der Vernunft schlafen, 230.
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SPRACHEN DES SAMMELNS
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Filme Am Ende kommen Touristen, Deutschland 2007, 81 Minuten, Regie: Robert Thalheim. Batman, GB/USA 1989, Regie: Tim Burton. Bringing up Baby, USA 1938, Regie: Howard Hawks. Die Wohnung, Deutschland 2012, 97 Minuten, Regie: Arnon Goldfinger. Menschliches Versagen, Dokumentarfilm, Deutschland 2008, 90 Minuten, Regie: Michael Verhoeven. Mystery of the Wax Museum, USA 1933, Regie: Michael Curtiz. Sieben Mulden und eine Leiche, Schweiz 2007, 84 Minuten, Regie: Thomas Haemmerli.
ABBILDUNGSNACHWEISE
A In den Beiträgen Dominik Finkelde (S. 97-123) Abb. 1: Beispiel für Zentralperspektive online unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Bild:Zentralperspektive.png, zuletzt aufgerufen am 01.05.2016. Abb. 2: Claude Monet, „Meule au soleil“ (1891), 60 x 100 cm, Öl auf Leinwand, Kunsthaus Zürich, in: Carla Rachman, Monet (Art & Ideas), London, 1997, 159. Abb. 3: Hans Holbein der Jüngere, „The Ambassadors“ (1533), 206 cm x 209 cm, Öl auf Holz, National Gallery London, online unter: http://www.nationalgallery.org.uk/paintings/hans-holbein-the-younger-theambassadors, zuletzt aufgerufen am 01.05.2016.
Bernd Behr (S. 124-129) Abb. 1: © Foto: Bernd Behr.
Sarah Schmidt (S. 131-137) Abb. 1 und 2: © Fotos: Bernd Behr.
Mona Körte (S. 139-161) Abb. 1: Ségolène Le Men, Les abécédaires français illustrés du XIVe siècle, 1984, 14. Abb. 2: Ebd., 162. Abb. 3 bis 5: Karl Philipp Moritz, Neues ABC-Buch, welches zugleich eine Anleitung zum Denken für Kinder enthält, Frankfurt/M., 1980 (Faksimile der Ausgabe von 1794 mit den kolorierten Illustrationen von Peter Haas, 2. Aufl.) [OA 1790]. Abb. 6: Bildrechte: Projekt BUHŠTABENZUPE, UNIKUM 2007, online unter: www.unikum.ac.at, zuletzt aufgerufen am 01.08.2016.
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ABBILDUNGSNACHWEISE
Judith Kasper (S. 163-179) Schaubild S. 174: Sigmund Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens [1904], in: ders., Gesammelte Werke in 18 Bänden. Chronologisch geordnet, 6. Aufl., Band 4, hg. v. Anna Freud, Frankfurt/M., 1986, 9.
Sarah Schmidt (S. 191-195) Abb. 1 bis 3: Fotos: © Ursula Jakob. Bärbel Küster (S. 219-223) Abb. 1 und 2: Fotos: © Matthias Megyeri.
Marion Picker (S. 225-234) Abb. 1: Erdglobus aus der Guardaroba Nuova des Palazzo Vecchio in Florenz, online unter: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Firenze.PalVecchio.Globe.JPG, zuletzt aufgerufen am 01.05.2016. Abb. 2: Bildrechte: Bibliothèque nationale de France; galica.bnf.fr.
Susanne Scholz (S. 235-242) Abb. 1 (links und rechts): Victoria & Albert Museum, London. Abb. 2 bis 6: National Portrait Gallery, London, NPG 2162, NPG L114, NPG 447, NPG 5732, NPG 1766.
Bärbel Küster (S. 269-274) Abb. 1 und 2: Heidemarie von Wedel, „Library. Vom Verschwinden der Bücher in einem Buch und vom Verbleib einiger Titel“, Stuttgart, UND EINS, 2014. Copyright: Heidemarie von Wedel, 2014.
Ulrike Vedder (S. 289-294) Abb. 1: House of Wax (USA 1953, Regie: André de Toth); 0:12:56. Abb. 2: Batman (GB/USA 1989, Regie: Tim Burton); 1:02:25. Abb. 3: Bringing up Baby (USA 1938, Regie: Howard Hawks); 1:40:43.
SPRACHEN DES SAMMELNS
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Susanne Scholz (S. 345-362) Abb. 1: Elizabeth Edwards (Hg.), Anthropology and Photography 1860-1920, New Haven, CT, London, 1992, 101. Abb. 2: Martin Kemp/Marina Wallace (Hg.), Spectacular Bodies. The Art and Science of the Human Body from Leonardo to Now, Berkeley, Los Angeles, CA, London, 2000, 120. Abb. 4 links: Karl Pearson, The Life, Letters and Labours of Francis Galton. Vol. II: Researches of Middle Life, Cambridge, 1924, nach Seite 286. Abb. 4 rechts: Francis Galton, Inquiries into Human Faculty and its Development, London, 1907, nach Seite 8. Abb. 5: Karl Pearson, The Life, Letters and Labours of Francis Galton. Vol. II: Researches of Middle Life, Cambridge, 1924, nach Seite 294. Abb. 6: Susan J. Wolfson/Barry V. Qualls (Hg.), Dr Jekyll and Mr Hyde. The Secret Sharer and Transformation. Three Tales of Doubles, London, 2008.
Bärbel Küster (S. 363-388) Abb. 1: „Central-Africa, (Belgisch Congo, Smlg. Mus. Tervuren, Blatt 10)“, Afrika-Alben des Linden-Museums, Stuttgart. Abb. 2: Carl Dammann: Anthropologisch-ethnographisches Album in Photographien, hg. v. d. Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, Berlin 1873-76, Tafel VII. Abb. 3: Serie Afrique Occidentale Française, A.O.F., Nr. 1390. Abb. 4: Antony Cottes, La Mission Cottes au Sud-Cameroun (1905-1908). Exposé des résultats scientifiques, Paris, 1911. Abb. 5: „Centralafrika (Belg. Congo, Blatt 44, Sammlung Gräfin Linden)“, Afrika-Alben des Linden-Museums, Stuttgart. Abb. 6: „König Akufo in Akropong, (Nordwestafrika II, Goldküste, Sammlung Lang, Blatt 18)“, Afrika-Alben des Linden-Museums, Stuttgart. Abb. 7: „Togo-Weib. Frau eines Europäers (Nordwestafrika I, Togo, Smlg. Diehl, Blatt 44)“, Afrika-Alben des Linden-Museums, Stuttgart. Abb. 8: „Boraginaceae. Trichodesma Dekindtianum (m. Gürke), (Westafrika I, Angola, Botanik, Blatt 4)“, Afrika-Alben des Linden-Museums, Stuttgart. Abb. 9: Santu Mofokeng, The Black Photo Album. Look at me: 1890-1950, mit einem Essay v. James T. Campbell, Göttingen, 2013. Abb. 10: Revue Noire, 21, Juni/Juli/August (1996), 66 f.
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ABBILDUNGSNACHWEISE
Sarah Schmidt (S. 407-411) Abb. 1 bis 3: Fotos: © Maria Hanl.
Alexandre Métraux (S. 529-537) Abb. 1: Pessoa Manuskript, Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Portugal, BNP Esp. E3/144T-1-61. Abb. 2: und 3: Pessoa Manuskript, Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Portugal, BNP Esp. E3/144T-1-59 r.
Sarah Schmidt (S. 539-544) Abb. 1 bis 4: Fotos: © George Steinmann/ProLitteris.
Gianluca Solla (S. 561-576) Abb. 1: Bildrechte: Bibliothèque nationale de France; galica.bnf.fr.
Sarah Schmidt (S. 593-620) Abb. 1: Herta Müller, Die blassen Herren mit den Mokkatassen, Collage [Nr. 90], München, 2005. Abb. 2: Herta Müller, Der Wächter nimmt seinen Kamm, Collage [Nr. 12], Reinbeck bei Hamburg, 1993.
B Im Tafelteil Tafel 1 und 2 Foto: © Ursula Jakob. Tafel 3 und 4 Fotos: © Matthias Megyeri. Tafel 5 und 6 Foto: © Heidemarie von Wedel, 2014. Aus: dies., „Library. Vom Verschwinden der Bücher in einem Buch und vom Verbleib einiger Titel“, Stuttgart, UND EINS, 2014.
SPRACHEN DES SAMMELNS
Tafel 7 Foto: © Maria Hanl. Tafel 8 bis 10 Fotos: © George Steinmann/ProLitteris.
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ÜBER DIE BEITRÄGERINNEN UND BEITRÄGER
PHILIP AJOURI ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel (seit 2014); Redaktionsmitglied der Zeitschrift für Ideengeschichte; Feodor-Lynen Forschungsstipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung am King’s College, London (2010); Arbeitsschwerpunkte: Literatur um 1900, Darwin-Rezeption, literarischer Realismus, Ideengeschichte, Policey und Literatur. Ausgewählte Publikationen: Literatur um 1900. Naturalismus – Fin de Siècle – Expressionismus (2009); Erzählen nach Darwin. Die Krise der Teleologie im literarischen Realismus: Friedrich Theodor Vischer und Gottfried Keller (2007). JAQUELINE BAUM & URSULA JAKOB leben in Biel und Burgdorf und arbeiten seit 2009 als Kollektiv an multimedialen Projekten. Die Herangehensweise ihrer gemeinsamen Arbeit hat oft dokumentarischen Charakter; in unterschiedlichen Montagetechniken entsteht eine multiperspektivische und vielstimmige Sichtweise, die miteinander verwobene Bedeutungsebenen erfahrbar macht. Der Fokus liegt dabei auf sich verschiebenden Realitäten in beispielsweise politischen, sozialen oder persönlichen Kontexten. JACQUELINE BAUM, geb. 1966, lebte von 1996 bis 2004 in New York, wo sie am Pratt Institute mit einem Master of Fine Arts abschloss und dort 1999 den AIM Award am Bronx Museum of the Arts erhielt. Sie nahm an diversen Ausstellungen teil, z. B. am SOHO Annual. Sie war für die künstlerische Leitung der Biennale 2005 in Bern zuständig. URSULA JAKOB, geb. 1955, hatte 1985/86 einen Arbeitsaufenthalt in Glasgow und 2006 ein Stipendium als visiting artist an der Australian National University in Canberra. Sie hat seit 1990 diverse Ausstellungen, u. a. in China, Kanada und Mexiko. Baum & Jakob gewannen 2011 den SAM Art Award. BERND BEHR (www.berndbehr.com) ist ein deutsch-taiwanesischer Künstler, der in London lebt und arbeitet. 1976 in Hamburg geboren und aufgewachsen in Malaysia, studierte Behr am Goldsmiths College in London. Seine Arbeiten im Bereich Fotografie, Video, Installation und Skulptur, aber auch seine Texte unternehmen eine kulturelle Archäologie und erforschen historische Verbindungspunkte zwischen visueller Kultur und Architektur. Bernd Behr erwarb mehrere Stipendien und Künstleraufenthalte, u. a. auf der Akademie Schloss Solitude (Stuttgart), im Taipei Artists Village (Taiwan) sowie im Center for Land Use Interpretation (Wendover, Utah). Gegenwärtig ist Behr Dozent für Fotografie am Camberwell College of Arts, University of the Arts London. Ausstellungen (Auswahl): „This is Not a Taiwan Pavilion“, 55. Biennale in Venedig (2013); „A Journal of the Plague Year“, Para Site, Hong Kong
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ÜBER DIE BEITRÄGERINNEN UND BEITRÄGER
(2013); „Comma 17“, Bloomberg Space, London (2010); „House without a Door“, Chisenhale Gallery, London (2006). DOERTE BISCHOFF ist Professorin für Neuere Deutsche Literatur in Hamburg mit Leitung der Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur. Publikationen zu deutsch-jüdischer Literatur, Holocaust-Erinnerung, Diskursen des Fetischismus, Dingen in der Literatur und Aufsätze zu Heine, Büchner, Karl Kraus sowie zu Rhetorik und Gender. Mitherausgeberin des Jahrbuchs Exilforschung. Ausgewählte Publikationen: Poetischer Fetischismus. Der Kult der Dinge im 19. Jahrhundert (2013); (Mithg.) Literatur und Exil. Neue Perspektiven (2013); (Mithg.) Dinge des Exils. Exilforschung 31 (2013); (Hg.) Exil – Literatur – Judentum: Text und Kritik (2016). CHRISTINE BLÄTTLER ist Professorin am Philosophischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; Schwerpunkte in Kultur- und Sozialphilosophie, Wissenschaftsphilosophie und -geschichte: Serialität‚ lebende Dinge, Menschen-Technik-Geschichte, Medialität und Modellierung, Genesis und Geltung. Veröffentlichungen u. a.: Kunst der Serie (2010); „List der Technik“, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie (2/2013); (Mithg.) In Gegenwart des Fetischs. Dingkonjunktur und Fetischbegriff in der Diskussion (2014); (Mithg.) Der Gesandte. Alexandre Kojèves Missionen (2016). GISELA ECKER ist Professorin (em.) für Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Paderborn, Gastprofessuren in Cincinnati, Berkeley, Atlanta (Emory University) und New York (Columbia University). Buchpublikationen u. a.: ‚Giftige‘ Gaben. Über Tauschprozesse in der Literatur (2008); (Mithg.) Kulturen der Arbeit (2011); (Mithg.) In Spuren reisen. Vor-Bilder und Vor-Schriften in der Reiseliteratur (2006); (Mithg.) Dinge. Medien der Aneignung – Grenzen der Verfügung (2002). Aktuelle Forschungsprojekte liegen im Bereich der materiellen Kultur. DOMINIK FINKELDE ist Professor für Philosophie der neuesten Zeit und Erkenntnistheorie an der Hochschule für Philosophie, München. Arbeitsschwerpunkte: Politische Philosophie, Deutscher Idealismus, Strukturalismus, Erde die Reihe Lacanian Explorations im August Verlag Berlin heraus. Veröffentlichungen (Auswahl): Phantaschismus. Von der totalitären Versuchung unserer Demokratie (2016) (im Erscheinen); Exzessive Subjektivität. Eine Theorie tathafter Neubegründung des Ethischen nach Kant, Hegel und Lacan (2015). MARIA HANL (www.mariahanl.com) wurde 1969 in Oberösterreich geboren. Sie studierte an der Akademie der bildenden Künste in Wien und an der Slade School of Fine Art in London. Sie lebt als bildende Künstlerin in Wien. Werke
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von ihr befinden sich u. a. in der Artothek der Stadt Wien, in der Sammlung des BMUKK (Österreich), in der Kunstsammlung des Landes und der Arbeiterkammer Oberösterreich. Im Zentrum der meist installativen künstlerischen Arbeit von Maria Hanl steht die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Strukturen, deren vermeintliche Stabilität sie infrage stellt und die sie mit der ihnen innewohnenden Fragilität konfrontiert. Der Mensch ist dabei stets ein unabdingbarer Bezugspunkt in Hanls Herangehensweise. Ausstellungen (Auswahl) 2015: „limited systems“, Showroom Hrobsky, Wien (E); „paradis, lecube“, Rabat, Marokko (E); „bricolage“, Pavillon am Milchhof, Berlin, DE; „Augustina träumt in progressius“ G.A.S.-station, Berlin; 2014: „Systemprothesen (oder unsere Ich-Projekte)“, pendantpendant, Wien; „urbanize, Galeria Balucka“, Lodz, Polen; „[un]ordnung“, basement, Wien; „optimize me“, Kammerhofgalerie Gmunden, (E); „talk to me“, Barockschlössl Mistelbach, Niederösterreich. REGINA HILBER, geb. 1970, lebt und arbeitet als Schriftstellerin in Wien. Sie schreibt Lyrik, Essays und Prosa. Geboren in Niederösterreich, aufgewachsen in Tirol, lebte sie viele Jahre im Gebirge − ein Wechselspiel von Berg und Ebene, das sich auch in ihren mehrfach ausgezeichneten Arbeiten widerspiegelt. Ihre lyrischen Zyklen wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Sie ist ausgewählte Lyrikerin für Versopolis und viel unterwegs als Stipendiatin in Künstlerhäusern. Aktuelle Buchveröffentlichungen: Landaufnahmen (Limbus Verlag 2016); Schanker − ein Bericht aus Wien (Literaturedition Niederösterreich 2014); Im Schwarz blühen die schönsten Farben (Edition Thurnhof 2010) und zeichensetzung.zeilensprünge (Luftschacht Verlag 2009). Beiträge für zahlreiche Anthologien und Literaturzeitschriften, z. B. Mein Weinviertel (Literaturedition Niederösterreich 2016); Von Schriftstellern, Troubadixen und Heiligen Löchern (Edition art science 2016); Bewegte Sprache (Edition CH 2015); paar.weise (Edition Aramo 2014). Zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien, zuletzt das Hans-Weigel-Literaturstipendium und das Wiener Autorenstipendium. NINA JÜRGENS ist Doktorandin an der Universität Stuttgart; Arbeitsschwerpunkte: Australische Literatur und Kultur, Murray Bail, Material Culture und Literatur; Veröffentlichungen: „Telling Representations: The Postmodern/ Postcolonial Museum in Murray Bailʼs Homesickness“, in: The Museal Turn (2012), 189-206; „Travels in Postmodernism. Tourist Perception in Murray Bailʼs Homesickness“, in: Moving Images, Mobile Viewers. 20th Century Visuality (2011), 209-226. JUDITH KASPER ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanische Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Französische und italienische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Holocaust Studies, Philologie und Psychoanalyse. Veröffentlichungen (Aus-
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wahl): Der traumatisierte Raum. Insistenz, Inschrift, Montage bei Freud, Levi, Kertész, Sebald und Dante (2016); Sprachen des Vergessens. Proust, Perec und Barthes zwischen Verlust und Eingedenken (2003); (Mithg.) Rom rückwärts. Europäische Übertragungsschicksale (2015); (Mithg.) Unfälle der Sprache. Literarische und philologische Erkundungen der Katastrophe (2014). SUSANNE KOMFORT-HEIN ist Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Goethe-Universität Frankfurt, Leitung der Frankfurter Stiftungsgastdozentur für Poetik; Arbeitsschwerpunkte sind kulturgeschichtliche und kulturtheoretische Kontexte, Poetik des Exils und der Transkulturalität, Erinnerungskultur(en) und Gegenwartsliteratur. Veröffentlichungen (Auswahl): (Mithg.) Literatur und Exil. Neue Perspektiven (2013); (Mithg.) Lustmord. Medialisierungen eines kulturellen Phantasmas um 1900 (2007); (Mithg.) Aufklärungen. Zur Literaturgeschichte der Moderne (2003); „Flaschenposten und kein Ende des Endes“. 1968: Kritische Korrespondenzen um den Nullpunkt von Geschichte und Literatur (2001). MONA KÖRTE ist habilitierte Germanistin und Komparatistin und vertritt derzeit die Professur für Neuere Deutsche Literatur im europäischen Kontext an der Universität Konstanz. Arbeitsschwerpunkte: deutsch-/europäisch-jüdische Literatur der Moderne, Holocaust Studies, Materialität der Schrift, Bild-TextVerhältnisse, literarische Epistemologie der Dinge und des Sammelns und Mehrsprachigkeit im 20. und 21. Jahrhundert. Zuletzt erschienen: (mit Judith E. Weiss) Randgänge des Gesichts. Kritische Perspektiven auf Sichtbarkeit und Entzug (2016); „Unding“, in: Die GRIMMWELT – Von Ärschlein bis Zettel (2015); Essbare Lettern, brennendes Buch. Schriftvernichtung in der Literatur der Neuzeit (2012). HARALD KRAEMER ist Associate Professor an der School of Creative Media, City University of Hong Kong; Director des iGLAM (Laboratory for Innovation in Galleries, Libraries, Archives and Museums); Projekte: Digital Cultural Heritage & Multimedia in Museums − The Chinese View; Archiving Ephemeral Knowledge – Hong Kong Martial Arts as a Strategy for the Documentation of Intangible Cultural Heritage; Arbeitsschwerpunkte: Medien Archäologie, Design und Museen; Digitales Sammlungsmanagement; Veröffentlichungen: Curatorship, Arts and Exhibition Management – Handbook (2016); Christoph Dahlhausen. New Ways to Colour the Wall (2016); Beat Feller. Werke/Wanderschaft Works Wanderings (2015). BÄRBEL KÜSTER ist Kunsthistorikerin und vertritt zur Zeit die Professur Kunstgeschichte der Moderne an der Technischen Universität Berlin. Zahlreiche Publikationen zur Geschichte des Museums und Sammlungsgeschichte seit der Aufklärung, zur Kunst im öffentlichen Raum, Kunst und Kopien. For-
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schungsschwerpunkte auf transkulturellen Fragestellungen sowie Forschungsprojekt zur zeitgenössischen Fotografie in Bamako und Dakar (2014). Publikationen u. a. zu Skulpturen des 20. Jahrhunderts in Stuttgart (2006); Matisse und Picasso als Kulturreisende. Primitivismus und Anthropologie um 1900 (2003) sowie zahlreiche Aufsätze zu Museumsprojekten in Afrika, kolonialen Weltausstellungen und zur Kunst der Moderne. MATTHIAS MEGYERI, Jahrgang 1973, lebt und arbeitet in Stuttgart und London. Er studierte Grafik Design/politisches Plakat an der HfG Karlsruhe und Critical Design am Royal College of Art in London. Anschließend entwickelte er die Produktserie „Sweet Dreams Security®“ als popkulturelle Umsetzung von Sicherheitsdesigns im öffentlichen Raum. 2008/09 Fellow an der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart, 2012 Gastprofessur Ästhetische Praxis/ Kunst an der UdK in Berlin. Seine Werke sind u. a. im Museum of Modern Art, New York, und Ludwig Museum of Contemporary Art, Budapest, vertreten. Einzelausstellungen u. a.: „Acts of Sweet Dreams Security®“, gefördert von der Stiftung Kunstfond, Satelliten-Ausstellung an sieben kontextspezifischen Orten in Berlin (2013); „Strasbourg Hangings“, CEAAC Strasbourg (2010) und „Budapest Hangings. Egy sima, egy forditott“, Ludwig Museum of Contemporary Art, Budapest, Ungarn (2010). Ausstellungsbeteiligungen: „Isochronic Archive Budapest“, OFF-Biennále, Budapest (2015); „Theater Objects. A Stage for Architecture and Art“, LUMA Westbau, Zürich (2014/ 2015); „Tytul Roboczy. Working Title“, CCA Ujazdowski Castle, Warschau (2010); „20.000 Bilder“, Akademie Schloss Solitude, Stuttgart (2008); „Safety Nest“, SESC Pinheiros, Sao Paulo (2006), „Design Noir“, The Israel Museum, Jerusalem (2005), „SAFE – Design Takes on Risk“, MoMA, New York (2005). ALEXANDRE MÉTRAUX ist Mitglied der Archives Henri Poincaré der Université de Lorraine (Campus Nancy). Seine Forschungsschwerpunkte sind die Wissenschaftsgeschichte (speziell im Bereich der Hirn- und Nervenforschung) und die Geschichte wissenschaftlicher Medien. Zuletzt erschienen: „Lev Vygotsky as Seen by Someone Who Acted as a Go-Between Between Eastern and Western Europe“, in: History of the Human Sciences 28 (2015); „Die Vielheit der Gesteinsarten“, in: Diversität: Geschichte und Aktualität (2015). BARBARA NATALIE NAGEL ist Assistant Professor of German an der Princeton University. Ihr Forschungsinteresse gilt Rhetorik, Theologie, Recht, Psychoanalyse, Gender und Sexualität mit einem historischen Fokus auf dem Barock, Literatur um 1800 und dem Realismus. Zuletzt erschienen: Der Skandal des Literalen. Barocke Literalisierungen bei Gryphius, Kleist, Büchner (2012); (Mithg.) Flirtations: Rhetoric and Aesthetics This Side of Seduction (2015); „The Tyrant as Artist. Legal Fiction and Sexual Violence under Tiberius“, in:
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Law and Literature 25, 2 (2013); „Luther: Als Rom aufhörte, Rom zu sein“, in: Rom Rückwärts. Europäische Übertragungsschicksale (2014). MICHAEL NIEHAUS ist Professor für Neuere Deutsche Literatur und Medienästhetik an der FernUniversität Hagen. Arbeitsschwerpunkte: Erzählliteratur des 19. bis 21. Jahrhunderts, Literatur und Institution, intermediale Erzähltheorie, Interpretationstheorie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Macht/Phantasie. Eine Betrachtung zu J. R. R. Tolkiens „Der Herr der Ringe“ (2014); Erschöpfendes Interpretieren. Eine exemplarische Auseinandersetzung mit Heinrich von Kleists „Das Bettelweib von Locarno“ (2013); Das Buch der wandernden Dinge (2009); Das Verhör. Geschichte – Theorie – Fiktion (2003). MARION PICKER ist seit 2013 „professeur agrégé“ an der Université Paris Ouest Nanterre, zuvor Assistant Professor an der Northwestern University (IL) und am Dickinson College (PA). Neben wissenschaftlicher Tätigkeit Beteiligung an literarischen Projekten. Veröffentlichungen u. a. über Stefan George, Carl Schmitt, Fernand Braudel, Franz Rosenzweig, die kartographische Metapher, Methoden der Kulturwissenschaft und Siegfried Kracauer. Publikationen (Auswahl): Der konservative Charakter: Walter Benjamin und die Politik der Dichter (2004); (Mithg.) Exil – Transfer – Gedächtnis (2016); (Mithg.) Die Zukunft der Kartographie: Neue und nicht so neue epistemologische Krisen (2013). SARAH SCHMIDT ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sowie an der Humboldt Universität zu Berlin. Leitung des DFG-Netzwerkes „Sprachen des Sammelns“. Forschungsschwerpunkte: Frühromantik, deutsche Gegenwartsliteratur, Wechselwirkung von Literatur und Philosophie, materiale Kultur und Wissenssammlung, Interkulturalität und Fremdheitsdiskurse. Zuletzt erschienen (Mithg.) Begriff und Interpretation im Zeichen der Moderne (2015); (Mithg.) Wissen in Bewegung (2014), (mit dem Künstler G. Steinmann) Suchraum Wildnis. Positionsbestimmungen künstlerischer Forschung (2013). ARMIN SCHÄFER ist Professor für Neugermanistik, insbesondere Literatur des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart an der Ruhr-Universität Bochum. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Literatur der Moderne, Lyrik, das Verhältnis von Literatur und Wissenschaften, insbesondere Psychiatrie. Zuletzt erschienen: (Mithg.) Das psychiatrische Aufschreibesystem (2015); (Mithg.) Null, Nichts und Negation. Becketts No-Thing (2016). SUSANNE SCHOLZ ist Professorin für Englische Literatur und Kultur an der Universität Frankfurt am Main. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der englischen Literatur und Kultur des 16. bis 19. Jahrhunderts, der visual culture studies, der gender studies und der Kulturwissenschaften. Veröffent-
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lichungen u. a.: Objekte und Erzählungen. Subjektivität und kultureller Dinggebrauch im England des frühen 18. Jahrhunderts (2004); (Mithg.) Medialisierungen des Unsichtbaren um 1900 (2010); Phantasmatic Knowledge. Visions of the Human and the Scientific Gaze in English Literature, 1880-1930 (2013); (Mithg.) Spectatorship at the Elizabethan Court. Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 17 (2013). KATJA SCHUBERT ist Dozentin für Neue deutsche Literatur an der Universität Nanterre/Paris, Direktorin des Fachbereichs Deutsch. Arbeitsschwerpunkte: Literatur und Auschwitz, ostdeutsche Literatur, Herta Müller, Exil im 20. Jahrhundert, deutschsprachige Literatur von Autoren und Autorinnen nicht-deutscher Herkunft. Zuletzt erschienen: „Katastrophengebiet. Narrative aus Israel/Palästina“, in: Unfälle der Sprache (2014); (Mithg.) Störfall? Auschwitz und die ostdeutsche Literatur nach 1989 (2016) ; (Mithg.) Traduire le postcolonial et la transculturalité (2014); (Mithg.) Deutschland und Israel/Palästina von 1945 bis heute (2014). GIANLUCA SOLLA ist Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Verona, zuvor Gastdozent an der Freien Universität Berlin und am Center for Advanced Studies der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forscht zur Zeit zur Verbindung zwischen Philosophie und Psychoanalyse; publizierte zuletzt u. a.: Buster Keaton. Lʼinvenzione del gesto (2016); Memorie dei senzanome. Breve storia dell'infimo e dellʼinfame (2013); Marrani. Il debito segreto (2008); Nomi di nomi (2006); Schatten der Freiheit. Schelling und die politische Theologie des Eigennamens (2006). GEORGE STEINMANN (www.george-steinmann.ch) lebt als freischaffender Künstler und Musiker in Bern. Graphik- und Malereistudium in Bern und Basel sowie Studium der Malerei und Afro-Amerikanistik in San Francisco. Seit 1979 nationale und internationale Ausstellungen, zahlreiche Preise und Stipendien sowie Lehr- und Forschungsaufträge an verschiedenen Hochschulen und Universitäten in Europa und USA. 2011 Ehrendoktor der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern. George Steinmanns künstlerische Recherchen sind im Spannungsfeld zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Wissensgenerierung zu verorten, sie untersuchen Funktion und Bedeutung der Künste im öffentlichen Raum, insbesondere ihren Beitrag zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft. Neuste Buchpublikationen: Die Kräfte hinter den Formen (2015); Call and Response. George Steinmann im Dialog (2014); (mit Sarah Schmidt) Suchraum Wildnis. Positionsbestimmungen künstlerischer Forschung (2013). Letzte Ausstellungen und Projekte (Auswahl): Kunstmuseum Krefeld/Haus Lange (2016); COP21 Klimakonferenz, Paris (2015); Taxispalais Innsbruck (2015); Zentrum Paul Klee, Bern (2015); Galerie Bob Gysin, Zürich (2015); Kunstmuseum Thun (2014).
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INGRID STREBLE, M. A., ist Dipl.-Übersetzerin und Agrégé d’Allemand, Lehrtätigkeit in Germanistik, DaF und Vergleichender Literaturwissenschaft an den Universitäten des Saarlandes, Rouen, Cergy-Pontoise, Limoges sowie an der Ecole normale supérieure und der Ecole nationale des chartes in Paris. Gegenwärtig Lehrtätigkeit am Gymnasium und in den Classes préparatoires. Dissertationsprojekt: „Malerei und kunsthistorischer Diskurs im europäischen Roman 1975-2000“. Forschungsschwerpunkte: Literatur und bildende Kunst, Künstlerroman. Ausgewählte Publikationn (Mithg.): Verboten, verschwiegen, ungehörig? Interdit, inconvenant, inacceptable? (2009); (Mithg.): Der Spur auf der Spur. Sur les traces de la trace (2016). BARBARA THUMS ist Professorin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und -geschichte am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Mit einem Arbeitsschwerpunkt auf der Literatur im 18. Jahrhundert sowie der Gegenwart forscht sie zur Wissenspoetik, Literatur-, Kultur- und Medientheorie, zur Literatur und Anthropologie, Ethik und Ästhetik sowie zur Literatur und Ökologie. Veröffentlichungen (Auswahl): Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche (2008); (Mithg.) Was übrig bleibt. Von Resten, Residuen und Relikten (2009); „Müll- Obsessionen und Reinigungsbegehren in Rolf Dieter Brinkmanns ‚Rom, Blicke‘“, in: Entsorgungsprobleme. Müll in der Literatur (2015). ULRIKE VEDDER ist Professorin am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Literatur und materielle Kultur; Sterbenarrative; Gender und Genealogie. Veröffentlichungen u. a.: Das Testament als literarisches Dispositiv. Kulturelle Praktiken des Erbes in der Literatur des 19. Jahrhunderts (2011); (Hg.) Zeitschrift für Germanistik, 1/2012, Schwerpunkt: Literarische Dinge; (Mithg.) Handbuch Literatur und materielle Kultur (2016); (Mithg.) Das Leben vom Tode her. Zur Kulturgeschichte einer Grenzziehung (2015). SUE WATERMAN ist freie Schriftstellerin sowie Kuratorin der Modern European Collections in der Forschungsbibliothek der Johns Hopkins University. Von der Ausbildung her Literaturwissenschaftlerin und Bibliothekarin – ihre Studien schloss sie mit einem „Master of Arts in French“ an der New York University sowie mit einem „Master of Science in Library and Information Science“ an der University of Maryland ab – widmet Sue Waterman der Geschichte von Sammlungen und der Form des Fragmentes in ihren Texten eine besondere Aufmerksamkeit. Für die Jahre 2004, 2007 und 2013 gewann sie den „Individual Artists Awards (Fiction)“ des Maryland State Arts Council und erwarb mehrere Stipendien, u. a. den „Coutts-Nijoff Grant in European Studies“ (2001) sowie fünf Mal das „Writing fellowship“ am Virginia Center for the Creative Arts (2007-2011). Publikationen (Auswahl): „Literary Jour-
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nals“, in: Encyclopedia of Life Support Systems, UNESCO (2010); „Collecting the 19th century“, in: Representations 90 (Spring 2005). HEIDEMARIE VON WEDEL ist Malerin und Fotografin und lebt und arbeitet in Stuttgart. Nach dem Studium der Malerei und Kunstgeschichte in Stuttgart, ging sie 1974 nach London, studierte Film und Fotografie, Theorie und Geschichte an der Slade School of Art, University College London. Nach Lehraufträgen in den USA war sie 1991 bis 2007 Professorin für Fotografie an der Merz Akademie Hochschule für Gestaltung, Kunst und Medien in Stuttgart. Buch- und Editionsprojekte: Gründung der Edition „UND EINS“ (seit 2012); „Tres marias“, Künstlerbuch, Stuttgart (2005). Seit 1980 zahlreiche Ausstellungsbeteiligungen: CAIRN Performance Space, Paris (1984); Galleria d’Arte Moderna, Piacenza (1984); „Umgang mit der Aura“ (Leitung: Veit Loers); Kunsthaus Hamburg (1989); „Das Selbstportrait im Zeitalter der Fotografie“ (1985) und „Gullivers Reise“ (1997), „Zeichnung“ (2007) und „Zwischenstand. Unrealisierte Konzepte“ (2008) im Württembergeischen Kunstverein, Stuttgart; „,Palindrom‘ Hermes und der Pfau“, Project space for contemporary art, Stuttgart (2009); Darmstädter Tage der Fotografie, Kunsthalle Darmstadt (2010); „I never read“ art book fair, Basel (2016). CHARLES WOLFE ist Mitglied der Fachgruppe „Wijsbegeerte en Moraalwetenschap“ und des Sarton Centre for the History of Science der Universität Gent (Belgien) und dort als FWO Forscher tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Geschichte und Epistemologie der frühzeitlichen Biowissenschaften (Materialismus, Vitalismus), Teratologie, Cerebroanalyse und Biophilosophie des 20. Jahrhunderts. Veröffentlichungen u. a.: Materialism. A Historico-Philosophical Introduction (2015); (mit Sebastian Normandin), Vitalism and the Scientific Image in Post-Enlightenment (2013). Mitglieder des DFG-Netzwerkes „Sprachen des Sammelns“ waren: Philip Ajouri, Christine Blättler, Dominik Finkelde, Nina Jürgens, Judith Kasper, Susanne KomfortHein, Mona Körte, Bärbel Küster, Alexandre Métraux, Marion Picker, Sarah Schmidt, Armin Schäfer, Susanne Scholz, Ingrid Streble und Ulrike Vedder. Gäste des DFG-Netzwerkes waren: Jaqueline Baum, Bernd Behr, Doerte Bischoff, Gisela Ecker, Maria Hanl, Regina Hilber, Ursula Jakob, Harald Kraemer, Matthias Megyeri, Barbara Natalie Nagel, Michael Niehaus, Katja Schubert, Gianluca Solla, George Steinmann, Barbara Thums, Sue Waterman, Heidemarie von Wedel und Charles Wolfe.
PERSONENREGISTER
A Abgabiaka, Tinuola M. 139 Abraham, Nicolas 507 Ackland, Michael 628 Adomeit, Stefanie 51 Adorno, Theodor W. 106, 203, 612 Agamben, Giorgio 511, 548 Agassiz, Louis 437 Agrippa, Cornelius 262 Ahl, Frederick 172 Aicher, Otl 308 Ajouri, Philip 19, 23, 460, 500, 537 Akolatse, Alex A. 379 Albert, Mechthild 16 Albrecht, Roland 248 Albritton, Claude C., Jr. 441 Alexis, Willibald 251 Allon, Fiona 625 Aly, Götz 60 Ames, Kenneth L. 45, Ammann, Jean-Christophe 203 Ammer, Andreas 104 Anaximander 107 f., 119 Ancet, Pierre 495 Anderson, Benedict 621 Angehrn, Emil 200, 205 Apel, Friedmar 15 Appadurai, Arjun 60 Aquin, Thomas von 103, Aragon, Louis 503 Arendt, Hannah 79 f. Aristoteles 109, 163 f., 171 Armellino, Pablo 630 Armstrong, Nancy 352 Aron, Erich 396 Asendorf, Christoph 13 Ashcroft, Bill 633 Asman, Carrie L. 15, 102 Assmann, Aleida 22, 153, 156, 264, 499, 634 Assmann, David-Christopher 16 Assmann, Jan 59 Atget, Eugène 366, 562-567 Attfield, Judy 44-46 Attwood, Bain 636 Augustinus, Aurelius 152 Auster, Paul 506, 578, 581, 583-586, 591 Axster, Felix 374
B Bach, Johann Sebastian 389 Bachelard, Gaston 278 Bacon, Francis 293 Bader, Barbara 37 Baechtold, Jacob 520, 526 Bahr, Ehrhard 15 Bail, Murray 505, 621, 623-624, 626-630, 632-638, 642-645 Bailly, Charles 167 Bajorek, Jennifer 386 Bal, Mieke 32, 46, 290 Balázs, Béla 392 Balke, Friedrich 211 Balzac, Honoré de 256, 535 Bann, Stephen 376 Banta, Melissa 368 Barbine, Herculine 460 Barchet, Michael 13 Barker, Nicolas 14 Barthes, Roland 31 f., 43, 46, 52, 57 f., 116, 120, 154, 172, 195, 215, 364, 382, 577 Bary, Nicole 598 Basedow, Johann Bernhard 147, 150 f. Baßler, Moritz 14 f., 471 f. Bataille, Georges 574 Baudelaire, Charles 113, 115, 172, 321, 491-495, 503, 545 f., 549 f., 555 f., 559, 562, 616 Baudrillard, Jean 13 f., 20, 31, 36, 131, 215, 369 f. Bauer, Karin 595, 612 Baum, Hugo 384 Baum, Jaqueline 23, 39, 136, 191-195, 281, 296 f., 348, 373, 655 Bauman, Zygmunt 548 Bausinger, Hermann 13 Bayerl, Günter 554 Becker, Andreas 500 Becker, Christoph 14 Becker, Eva D. 527 Beddoe, John 351 Begemann, Christian 521 Behr, Bernd 23, 36, 118, 131-136, 152 Belliger, Andréa 31 Belting, Hans 275, 283, 290 Benedict, Burton 371
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PERSONENREGISTER
Benjamin, Walter 21, 26, 31, 35, 37, 54, 60, 80, 99-102, 106-108, 112-116, 122, 131, 133, 139 f., 142, 147-150, 171 f., 191 f., 248, 270, 275, 282, 284, 289, 296 f., 322, 366, 392, 395, 399 f., 402 f., 405, 465, 495, 502-504, 545549, 555-559, 561 f., 574, 576, 616, 654 Benson, D. F. 155 Berger, Alan L. 79 Berger, Arthur A. 13 Bergermann, Ulrike 22, 25 Bergmann, Michel 578 f., 585, 590 Bernays, Michael 518, 521 Bernet, Brigitta 336 Bertschik, Julia 15 Besse, Jean-Marc 231 Beyer, Andreas 13 Bhabha, Homi K. 363, 643 Biagoli, Mario 231 Bianchi, Paolo 13 Birus, Hendrik 507 Bischoff, Doerte 16, 19, 33, 45 f., 82, 246, 281, 570, 624 Bismarck, Beatrice von 222 Bittel, Karl Heinz 469 Blättler, Christine 19, 27, 33, 45, 200, 212, 510, 582 Bleuler, Eugen 335 f., 339 Bloch, Ernst 171 Bloch, Marc 322, 388 Blumenberg, Hans 200 Boas, George 371 Bochner, Mel 212 Böcklin, Arnold 518 Boesken, Gesine 38 Böhme, Hartmut 22, 35, 45 f. Boltraffio, Giovanni Antonio 173 Bonaparte, Napoleon 423, 438 Bonsiepe, Gui 309 f. Boone, Joseph A. 56 Boothby, Richard 102, 111, 121 Borges, Jorge Luis 15, 40, 118, 121, 210, 255 Borinski, Ludwig 552 Bosch, Aida 31 Botticelli, Sandro 173 Bourguet, Marie-Noëlle 451, 453 Bouttiaux, Anne-Marie 387 Bozzi, Paola 84, 87 f., 93, 95, 607 Bracht, Christian 308 Brandstetter, Gabriele 22 Braque, Georges 503 Bredekamp, Horst 14, 98, 233, 274 Brednich, Rolf W. 14
Brentano, Clemens 251 Broca, Paul 371 Broch, Hermann 24 f., 474 Brongniart, Alexandre 417, 423 Brookes, Martin 354 Brophy, Kevin 627 Browne, Thomas 118, 122 Brückle, Wolfgang 390, 401 Brüning, Jochen 14, 333 Brutus (Marcus Iunius Brutus Caepio) 262 Bühler, Philipp 62 Bujorek, Jennifer 386 Bülow, Ulrich von 16 Buonsigniori, Stefano 229 f. Burges, Joel 623 Burton, Tim 292 Busch, Brigitta 159 Buschmeier, Matthias 15 Busi, Giulio 152 Butler, Judith 50, 57, 409 Büttner, Frank 15 C Caesar, Julius 262, 389 Cancik-Kirschbaum, Eva Christiane 36 Canetti, Elias 565 Cardanus, Hieronymus 407 Cardinal, Roger 441, 443 Carter, Paul 622-624, 627, 638, 642 f. Cassin, Barbara 163, 165 Cassirer, Ernst 206 f. Ceaușescu, Nicolae 86 Celan, Paul 164-166, 177 Cervantes, Miguel de 265 Chamisso, Adelbert v. 265 Chave, Anna C. 213 Christians, Heiko 392, 394, 400 Chun, Susan 306 Clark, William 428 Collins, Wilkie 250 Comte, Auguste 649 Conan Doyle, Arthur 351, 358 Conrath-Scholl, Gabriele 390, 401 Cook, James 628 Coombs, Katherine 235 Coquebert de Montbret, Charles Etienne Baron 414, 423, 429 Corbin, Alain 462 Cornelißen, Christoph 468, 470, 472 f. Cortes, Hernán 227 Cosgrove, Denis 225 Cosimo I. deʼMedici 227, 231 Cosimo II. deʼMedici 230 f. Cottes, Antony 375 f.
SPRACHEN DES SAMMELNS
Courbet, Gustave 285 f. Crane, Kylie 637 Csikszentmihalyi, Mihaly 20 Culler, Jonathan 169, 172 Cunningham, D. J. 625 Curtiz, Michael 291 Cuvier, Georges 416 f., 418, 432, 437 D d’Alembert, Jean-Baptiste le Rond 489 d’Arc, Jeanne 262 d’Omalius d’Halloy, Jean-BaptisteJulien 414, 417, 426, 430, 432, 442, 446, 448 Damiano, Carla 472 Dammann, Carl 372 f., 377 Dammann, Friedrich Wilhelm 372 Danneberg, Lutz 22 Danti, Egnazio 227, 229 f. Danto, Arthur C. 275, 283 Darnton, Robert 321, 549 Darwin, Charles 105, 107 f., 316 f., 346, 349, 354, 370, 417, 428, 429, 432, 436, 443, 446, 454, 553-555, 632 Daston, Lorraine 13, 98, 204 ,371 David, Philippe 374 Davidis, Michael 516-518 Davis, Joseph Barnard 351 de Grazia, Victoria 14, 45 de Maupassant, Guy 33, 50-53 de Quincy, Quatremère 284, 289 f. de Saussure, Ferdinand 166, 168, 172 de Saussure, Horace Bénédict 421, 440, 453 f. de Waal, Edmund 33, 62-65, 67-69, 78-80 Decrouez, Danielle 440 f. Defoe, Daniel 509 Dehn, Wilhelm 103 f., 106 Deleuze, Gilles 408 f. Derrida, Jacques 172, 479, 499, 507-509, 649 Detel, Wolfgang 20 Detering, Heinrich 553 f. Devlin, Keith J. 206 DʼHooghe, Alain 387 Dias, Nélia 371, 373 Dickens, Charles 549-553, 555 f. Diderot, Denis 488 Didi-Huberman, Georges 324, 376 Didion, Joan 578, 581, 584, 590 Diehl, Adolf 382 f. Diers, Michael 274 Diner, Dan 60, 79 Dinteville, Jean de 117
721
Dixon, Robert 633 Doane, Mary Ann 369 Döblin, Alfred 389 f., 402-404, 503 Donne, John 226, 233 Dornhofer, Daniel 239, 356 Dornseiff, Franz 151, 154, 189 Dos Passos, John 503 Douglas, Mary 548 Drews, Jörg 472 Dronske, Kerstin 468-473 Droste-Hülshoff, Anette 389 Duchamp, Marcel 215, 285 f. Dückers, Tanja 578, 586 f. Dudley, Robert (Earl of Leicester) 235, 238 f., 241 Duke of Norfolk 241 Dümling, Albrecht 61 Dünne, Jörg 652 Dupont, Édouard 442 f., 446 Dürer, Albrecht 114-116 E Earl of Bothwell 241 Ebbesmeyer, Curtis 625 Ebeling, Knut 319 Eckart, Wolfgang U. 329 Ecker, Gisela 13, 16, 19, 33, 45, 47, 210, 506, 508, 583 Eddy, Beverley Diver 594-597, 601, 607, 610, 615, 620 Edwards, Elizabeth 368, 372 Edwards, Justin 635 Eggert, Manfred K. H. 249 Eke, Norbert Otto 16, 83, 88, 96, 595 Eliot, Thomas Stearns 550 Elizabeth I. (England) 235 f., 239-242 Elo, Mika 192 Elsner, John 319, 443 Empedokles 259 Engell, Lorenz 294 Engstrom, Eric J. 331 f. Enwezor, Okwui 369, 386 Erdle, Birgit R. 559 Ernst, Wolfgang 320 Esposito, Elena 501 Estermann, Monika Eva Christiane 516 Evans, Joan 240 Eykman, Christoph 16 F Faivre, Antoine 440 Falkenstein, Julius 376 Fanon, Franz 369, 384
722
PERSONENREGISTER
Farge, Arlette 363, 365, 458, 460 f., 470, 485 Feldmann, Hans-Peter 223 Ferrara, Thierry 231 Ferus, Katharina 35 Fetscher, Justus 501 Findlen, Paula 14 Finkelde, Dominik 15 f., 21 f., 35, 47, 59, 104, 115, 120, 134, 495, 499 Fiorani, Francesca 230 Firstenberg, Lauri 369, 386 Fischart, Johannes 157 Fischer, Kai Lars 15 Fischer, Urs 292 Fisher, Philip 205, 208 f. Flaubert, Gustave 23, 289, 428, 437, 445, 446, 455, 504, 647-656 Fliedl, Gottfried 290, 579 Foerster, Cornelia 45 Folengo, Teofilo 158 Forge, Andrew 110 Forkl, Hermann 378 Fortier, Edmond 373 f. Foucault, Michel 14, 22, 39 f., 98, 114, 132, 176, 203, 205, 210 f., 223, 239, 316, 320 f., 329, 334, 342, 363-366, 369, 381, 384, 387 f., 457-468, 470, 474-477, 480, 482, 485, 513, 522, 553, 565, 633 Fourcroy, Antoine François de 419 Francesco I. deʼMedici 229 Francois II. (Frankreich) 241 Frank, Michael C. 35, 58 Franz, Angelika 573 Frechen, Anne 26 Freitas, Antonio 387 Freud, Sigmund 20, 35, 39, 53 f., 70, 85, 97, 101 f., 105, 111 f., 117 f., 121, 163 f., 166, 172-178, 210, 316, 364, 505, 508, 568, 583, 593 Friedrich, Markus 14 Fries, Thomas 24 Frizot, Michel 371, 377 Frölich, Juliette 16 Furlough, Ellen 14, 45 Füssel, Stephan 516 G Gabriel, Markus 97 Galilei, Galileo 226 Gallas, Elisabeth 78 f. Gallison, Peter 371 Galton, Francis 351, 353-357, 371 Garb, Tamar 364, 368, 371, 377
Gardi, Bernhard 377 Garscha, Karsten 369 Gärtlinger, Johann 27 Gaultier, Jules de 532 Geffroy, Gustave 110 Gehlen, Arnold 32 Geiger, Arno 578, 580 Geimer, Peter 506, 582 f., 589 Geisenhanslüke, Achim 25, 366, 387, 464 Geitner, Ursula 394 Gelder, Ken 634 Gelfert, Hans-Dieter 551, 553 Gemmeke, Claudia 299 Genette, Gérard 481, 654, 656 Genettes, Edmar Roger des 656 Genthe, Wilhelm Friedrich 157 f. Gerz, Jochen 571-573 Geulen, Eva 16, 103 Gfrereis, Heike 16 Gide, André 471 Giehlow, Karl 114 Giesenfeld, Günter 213 Gigerl, Margit 514 Gilbert, Pamela K. 551 Gillham, Nicholas Wright 354 Gilman, Sander L. 363, 393 Ginzburg, Carlo 462 Giovio, Paolo 231 Gockel, Bettina 35, 68 Goethe, Johann Wolfgang von 15, 102, 172, 227, 398, 500, 507, 513, 515, 518, 524-526 Goetsch, Paul 550 f. Goldfinger, Arnon 586 Golz, Jochen 514 Gombrich, Ernst 274 Gomille, Monika 22 Goodman, Nelson 282 Gordon, Robert 110 Gotthelf, Jeremias 519 f. Götz, Matthias 14 Graeser, Camille 271 Grant, Cary 293 Grass, Günther 473, 589 Gray, Richard T. 402 Greber, Erika 172 Greenhalgh, Paul 371 Gregg, Ryan E. 226, 228, 230 Grey, Katherine 236 Griffiths, Gareth 633 Grimm, Jacob 149, 164, 265 Grimm, Wilhelm 149, 164, 265 Grober, Ulrich 550 Gross, Sabine 37, 139, 142, 150, 152, 154, 161
SPRACHEN DES SAMMELNS
Grote, Andreas 14, 231 Growe, Ulrike 595 Groys, Boris 14, 120, 192, 247, 370, 647 Grunert, Frank 15 f. Guattari, Félix 38 Gudden, Bernhard 328 Günther, Hans F. K. 405 Günzel, Stephan 319 H Haag, Oliver 636 Haberl, Hildegard 652 Habermas, Tilmann 60, 589 Haemmerli, Thomas 586 Hagen, Waltraud 525 Hagenbeck, John 476, 481, 484 Hahn, Hans Peter 13, 46, 577 Hainard, Jacques 14 Hanl, Maria 20, 325, 398, 407-409 Harris, Thomas 290 Haß-Zumkehr, Ulrike 15 Hatton, Christopher 236 Hauschild, Thomas 35, 58 Hauser, Robert 295 Hauser, Susanne 548 Häuy, René-Just 419 Haverkamp, Anselm 169 Hawks, Howard 293 f. Hawthorne, Nathaniel 19 f., 202, 248, 259297, 274 Heckenast, Gustav 106 Hegel, Georg W. Friedrich 100, 108, 509 Heidegger, Martin 21, 35, 38, 40, 107-109, 111 f., 115, 119, 165, 615 Heine, Heinrich 520 Heinrich VIII. (England) 122 Heinrich, Christoph 212 Hempel, Friedrich Ferdinand 151 Henke, Gebhard 620 Henrich, Dieter 214 Hepburn, Katherine 293 Hertz, Wilhelm 516-518, 524 Hess, Volker 329 Hessel, Franz 116, 133 Hettner, Hermann 515 f. Heyden, Ulrich van der 378 Heyse, Paul 516 Hilber, Regina 19, 40, 44, 159, 187-189, 216 Hillebrand, Anne-Katrin 15 Hilliard, Nicholas 239 Himmel, Amelie 226 Hinsley, Curtis M. 368, 371 Hirsch, Helen 539
723
Hitler, Adolf 470 Hodder, Ian 13 Hodge, Bob 635 Hoffmann, Detlef 551, 571 Hogrebe, Wolfram 97 Holbein, Hans 236 Holbein, Hans (d. J.) 117 f., 122, 236 Hölderlin, Friedrich 286, 389 Holm, Christiane 35 Holmes, Helen Kelly 159 Hondius, Hendrik 232 Honigmann, Barbara 506 Hooper-Greenhill, Eilean 14 Hoppe, Felicitas 321, 453, 457-459, 475482, 484-486 Horaz/Horatius (Quintus Horatius Flaccus) 262, 263 Hörisch, Jochen 22 Horstig, Carl Gottlieb 142 f., 148 f. Humboldt, Alexander von 476 Hundeiker, Johann Peter 142 Hunfeld, Barbara 16 Husserl, Edmund 109 Hutton, James 416 Huxley, Thomas Henry 346-349, 371 I Impey, Oliver 14 Ingold, Felix Philipp 16 J Jacob, François 317 Jacobs, Joseph 355 f. Jaggi, Konrad 307 Jakob, Ursula 39, 136, 191-193, 195, 281, 296 f., 348, 373, 520, 655 Jakobson, Roman 165 f., 168, 172 James, Henry 107 Jandl, Ernst (EJ) 166, 579, 584, 588 f. Janssen, Zacharias 226 Jaspers, Karl 336-343 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) 140, 153, 499, 507-511 Jeanneret, Michel 153, 158 Jefferson, Thomas 428 Jenkins, Michael 306 Jimenez, Marc 277 Jobs, Steve 305 John, Hartmut 299 Johnson, Barbara 589 Johnson, Colin (Mudrooroo) 637 Johnson, Edgar 550 Johnston, Anna 621
724
PERSONENREGISTER
Joly, Jean-Baptiste 26 Joyce, James 165, 505 Jullien, François 210 Junghuhn, Franz Wilhelm 476, 480-484 Jürgens, Nina 19, 59, 478, 505, 552, 556 Jussieu, Antoine de 419 K Kaehr, Roland 14 Kafka, Franz 137, 595 Kahnemann, Daniel 220 Kaiser, Gerhard 526, 553 Kant, Immanuel 35, 98, 109, 119, 145 Kanter, Norbert 306 Kapf, Franz Joseph Ernestus Antonius Emerentius Maria 476, 482 f. Kapfer, Herbert 595, 610 Kapurs, Shekhar 239 Karasch, Angela 300 Karl August (Herzog von SachsenWeimar-Eisenach) 525 Karp, Ivan 371 Kasper, Judith 18, 20, 23, 27, 39, 136, 165, 189, 195, 251, 410, 455, 504 f., 535, 557, 593 Keele, Alan F. 466 Keene, Suzanne 298 Keller, Gottfried 23, 500, 513-527 Kempowski, Walter 19, 24, 321, 457-459, 466-475, 485 f., 522 Kenkel, Karen J. 404 Kepler, Johannes 106 Kilcher, Andreas B. 15, 38, 78 Kimmich, Dorothee 16, 35, 58, 67 King, Jonathan 627 Kinzler, Sonja 377 Kirkham, Pat 14, 44-46 Klausnitzer, Ralf 22 Klee, Paul 284 Kleist, Heinrich von 514 Klinkert, Thomas 22 Kluwick, Ursula 639 Knauth, Alfons 158 Koch-Haag, Donata 13 Kohl, Karl-Heinz 253 Köhler, Andrea 16 Kolmar, Gertrud 559 Koltes, Manfred 514 Komfort-Hein, Susanne 19, 25, 27, 322, 351, 371, 407 Kommerell, Max 393, 510 f. König Akuffo (Akufo) 380 König James VI. (Schottland) 241 König, Gudrun M. 13
Kopernikus, Nikolaus 234, 316 Köppe, Tilmann 22 Korff, Gottfried 202 Körner, Christian Gottfried Körte, Mona 16, 18-20, 23, 27, 35, 37, 95, 133, 152, 159, 171, 202, 248, 274, 593, 609 Koschorke, Albrecht 104 Köstlin, Konrad 13 Koyré, Alexandre 225 Kracauer, Siegfried 392, 400, 402, 545 f., 557 f. Kraemer, Harald 19, 38, 203, 281, 295297, 299, 302 f., 306-308, 311 Kraepelin, Emil 327 f., 331-337 Krajewski, Markus 500, 585 Kramer, Anke 15 Krämer, Sybille 597 Kramer, Theodor 598 Kraus, Karl 21, 557 f. Krauß, Andrea 200, 214 Krauss, Nicole 33, 59, 69 f., 74 f., 78-80 Krempel, Ulrich 590 Krieger, David J. 31 Kristeva, Julia 172, 500 Kubler, George 208 f. Küster, Bärbel 19 f., 22, 27, 192, 194, 201, 219, 263, 269, 324, 328, 348, 403, 407, 464, 565 L Laboulais, Isabelle 442 Lacan, Jacques 35, 101 f., 105, 116-119, 121-123, 166, 173, 175-177, 279, 505, 642 Lacepède, Bernard Germain 419 Lachmann, Tobias 16 Lafosse, Jean 489 Lahiri, Jhumpa 578, 582, 592 Lamarck, Jean-Baptiste de 419 Lamprey, John 323, 348, 371 f. Lang, Otto 381 Langbein, Ulrike 46 Lange, Bernd-Peter 551 Lange, Susanne 390, 401 Lanterno, Edouard 440 f. Larson, Frances 345 Latour, Bruno 43, 55, 548 f., 558 Laudan, Rachel 441 Lautréamont (Isidore Lucien Ducasse) 165 Lavater, Johann Caspar 322, 389, 393 f., 397 f., 402, 405, 407 Lavine, Steven D. 371 Lawson, Alan 621
SPRACHEN DES SAMMELNS
Le Cat, Claude Nicolas 494 Leclerc, Georges-Louis Comte de Buffon 317, 440 Leclerc, Yvan 652, 654 Lefebvre, Henri 222 Legner, Anton 253 Lehnert, Gertrud 45 Leibniz, Gottfried Wilhelm 205, 207, 408 Leitner, Anton G. 598 Lenaerts, J. 442 Lentz, Michael 506, 578, 580 f., 586, 589591 Leonhard, Zoe 223 Lestringant, Frank 233 Lethen, Helmut 392, 399, 469 Lettner, Robert 297 Levinas, Emmanuel 465 Levine, Michael G. 172, 177 Levy, Francis 572 Levy, Shawn 294 Lewis, Meriwether 428 Lichau, Karsten 394 Lichtenberg, Georg Christoph 407 Liebenwein, Wolfgang 227 Linck, Dirck 16 Linden, Karl Graf von 378 Linden, Marie Gräfin von 378 Link, Jürgen 318 Linné, Carl von 317 Lipperhey, Johannes 226 Locke, John 490 Loebel, Jens-Martin 304 Löffler, Petra 389, 391, 395, 397 Long, Jonathan 16 Longchamps, Michel-Edmond de Selys 451, 453 f. Longchamps, Raphaël de Selys 448 f. Longchamps, Walter de Selys 451 Lonner, Alyssa A. 15 Lopes, Teresa Rita 535 Lorca, Federico Garcia 531 Lorenzo (il Magnifico) deʼMedici 227, 230 Louis XI (Frankreich) 416 Louis XIII (Frankreich) 418 Louis XVI (Frankreich) 438 Lovecraft, H. P. 323 Ludwig II. (von Bayern) 328 Ludwig XIV (Frankreich) 262 Lukrez (Titus Lucretius Carus) 169 Luther, Martin 476 Lutz, Cosima 153 Lyell, Charles 416, 430, 437 Lyotard, Jean-François 283 Lysenko, Myran 627 Lysippus 261
725
M Maack, Annegret 551 MacGregor, Arthur 14 Macho, Thomas 16, 43, 106, 204 MacIsaac, Peter M. 15 Mädler, Inken 14, 33 Maeterlinck, Maurice 535 Mahlke, Kirsten 58 Mainberger, Sabine 15, 34 Malamoud, Charles 507-509 Mallarmé, Stéphane 165, 505 Mansfield, Richard 361 f. Marcuse, Harold 569 Maria Stuart (Schottland) 235, 241 Marinetti, Filippo Tommaso 290 Marinus von Tyr 231 Markey, Lia 227 Marmontel, Jean-François 649 Marquis de Sade (Donatien-AlphonseFrançois de Sade) 122 Martinez, Katharine 45 Martins, Fernando Cabral 535 f. Martus, Steffen 500, 513 f. Marven, Lyn 595, 607 Marx, Barbara 14 Marx, Karl 115, 502 Mattenklott, Gert 16, 153, 392 Mattl, Siegfried 294 Mayröcker, Friederike 506, 578 f., 581584, 588 f. McIsaac, Peter M. 15 McPhee, John A. 414, 425, 444 Megyeri, Mathias 19, 201 f., 219-223 Meier, Gerhard 578, 588 Meillet, Antoine 168 Meise, Helga 15 Meister, Georg 476-478, 481-483 Melville, Herman 55 f., Melville, James 235 Mentges, Gabriele 45 Mentzel-Reuters, Arno 514 Mercator, Gerhard 231-233 Mergenthaler, Volker 144 Merleau-Ponty, Maurice 102, 109, 111 Mersch, Dieter 31 Métraux, Alexandre 20, 23, 36, 113, 175, 321, 489, 501, 504, 514, 541 Meyer, Conrad Ferdinand 521 Meyer, Roland 353 Michaels, Anne 413, 444 Michaud, Yves 275 Michler, Werner 105 Milbauer, Asher Z. 79 Miller, Daniel 13 Miller, Jacques Alain 120
726
PERSONENREGISTER
Milner, Jean-Claude 510 f. Mirandola, Pico della 226 Mishra, Vijay 635 Mitchell, W. J. T. 16 Mitterbauer, Helga 595, 598, 607, 611 f. Modiano, Patrick 417, 438, 444, 447 Mofokeng, Santu 324, 385 f., 388 Mohrmann, Ruth-E. 45 Monet, Claude 109-111, 121 Morgenthaler, Walter 518 f., 525 Moritz, Karl Philipp 142-147, 161 Morton, Christopher 377 Mouchard, Claude 652 Moyrer, Monika 595, 597, 607, 609, 611, 615 Mozart, Wolfgang Amadeus 389 Muensterberger, Werner 14 Mülder-Bach, Inka 119, 400 Müller, Heiner 92 Müller, Herta 19 f., 24, 32-34, 39, 81-85, 87-96, 142, 165, 462, 504, 509, 593603, 605-620 Müller, Inge 598 Müller, Julia 595, 598, 600, 602, 608, 611 Müller-Tamm, Pia 45 Müller-Wille, Stefan 24 Mulvey, Laura 369 Münch, Peter 61 f. Münchberg, Katharina 556 Murphy, Cullen 14 Muybridge, Eadweard 195 N Nagel, Barbara Natalie 24, 212, 499, 508, 587, 619 Nash, Andrew 514 Naumann, Bruce 213 Neefs, Jacques 652 Nenguié, Pierre Kodjio 550 Neuhofer, Monika 22 Neumann, Gerhard 16, 22 Newton, Isaac 109 Nicholson, Jack 292 Niehaus, Michael 19, 31, 43, 64, 82, 202, 246, 250, 260, 278 Nietzsche, Friedrich 120, 210, 286, 513, 530 Nusser, Tanja 390, 402 O O’Doherty, Brian 203 O’Nan, Stewart 578, 585, 589 f. Oates, Joyce Carol 578, 580 f., 584
Ochsner, Beate 495 Oellers, Norbert 519 Oesterle, Günter 16, 35 Oetzel, Günther 643 Oguibe, Olu 380 Öhlschläger, Claudia 402 Ong, Walter J. 228 Ortelius, Abraham 233 Otterbach, Juliane 223 P Page, Lary 148 Palesch, Tobias 27 Pamuk, Orhan 33 Panofsky, Erwin 114 Paracelsus (Philippus Theophrastus Aureolus Bombastus von Hohenheim) 389 Paré, Ambroise 493 Parham, John 553 Pascal, Blaise 531 Pastior, Oskar 93, 166, 215, 598, 613 f., 617 Pavlides, Eleni 637 Pazzini, Karl-Josef 203 Pearce, Susan M. 14 Pearson, Karl 351 Peattie, Donald Culross 433, 446 Péguy, Charles 213 Pelz, Annegret 15, 34, 72, 376 Perec, Georges 166 Perifano, Alfredo 231 Perrault, Charles 265 Person, Jutta 389 Person, Leland S. 57 Pessoa, Fernando 20, 37, 175, 501, 504, 529-537, 541 Petersen, Julius 520 Petrarca 248 Petroski, Henry 32 Petschar, Hans 301 Pfeifer, Wolfgang 366 Pfister, Max 93 Pfuel, Ernst von 514 Picard, Liza 239 Picard, Max 25, 322, 351, 389 f., 393-400, 402, 404 f. Picasso, Pablo 503 Picker, Marion 18-20, 24, 201, 237, 246, 319, 324, 338, 467, 544, 648 Pietkäinen, Sari 159 Piller, Peter 223 Pinkerton, John 416, 418, 444 Pinochet, Augusto 70
SPRACHEN DES SAMMELNS
Pirenne, Henri 419, 440 Pivin, Jean-Loup 387 Planudes, Maximus 226 Plethon (Georgios Gemistos) 226 Plumpe, Gerhard 521, 524, 526 Poe, Edgar Allan 358 Pointon, Marcia 52 Polaschegg, Andrea 16 Pomian, Krzysztof 14, 21, 33, 98, 297 f., 588 Ponge, Francis 15 Pontalis, Jean-Bertrand 364, 587 f., 654 Port, Ulrich 393, 396, 398 Praetorius, Johannes 407 Prehn, Andrea 298 Prince (Prince Rogers Nelson) 292 Proust, Marcel 67, 422, 424, 441, 444, 535 Ptolemaios 225 f., 231 Pythagoras von Samos 259, 263 Q Queneau, Raymond 210, 215, 217 Quintilianus, Marcus F. (Quintilian) 152 f. R Raabe, Wilhelm 476, 549 f., 553-556 Rabelais, François 151 f., 158, 259 Radisch, Iris 474 Raffler, Marlies 14 Rainsford, Dominic 552 Rathje, William L. 14 Ravenscroft, Alison 635, 638 Regener, Susanne 324, 350 Rehberg, Karl-Siegbert 14 Reibnitz, Barbara von 514 Rein, Wilhelm 148 Reither, Saskia 14, 500 Rembrandt (Rembrandt Harmenszoon van Rijn) 119, 122 Renneke, Petra 595, 612 Rez, Helmut 571 Rezvani, Serge 36, 119, 201, 249, 275-277, 279-287, 297, 500 Richards, Thomas 345 Richartz, Christoffer 299 Richter, Isabel 52 f. Richter, Jean Paul 507, 511 Richter, Steffen 481 Richter, Virginia 639 Ricoeur, Paul 388 Rieger, Dietmar 15 Rieger, Reinhold 36 Rippl, Gabriele 22
727
Robb, Graham 441 Robert, Paul 440 Rochberg-Halton, Eugène 20 Roelcke, Volker 332 Röller, Nils 56 Röschenthaler, Ute 377 Rosi, Francesco 290 Roßberg, Anne-Katrin 45 Rotaru, Arina 595 Roth, Joseph 530 f. Rothmann, Ralf 578, 581, 587 Roussel, Raymond 213 Rübel, Dietmar 35 Ruskin, John 439, 447 Russell, Bertrand 99 S Sahli, Hermann 330 Saint-Hilaire, Auguste Saint-Hilaire, Isidore Geoffroy 419, 493 Saint Léon, Pascal Martin 380, 387 Saint-Victor, Hugues 228 Salzman, Paul 634 Salzmann, Christian Gotthilf 142 Samis, Peter S. 305 Sander, August 351, 389 f., 393, 400-405 Sandgruber, Roman 16 Santner, Eric 119 Saraga, Daniel 309 Sasse, Jörg 223 Saxl, Fritz 114 Schabert, Ina 161 Schaer, Roland 14 Schäfer, Armin 18, 22, 25, 27, 56, 318, 349, 365, 459 Scheidgen, Ilka 595 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 97 Schenker, Monika B. 559 Scherer, Joanna Cohan 371 Schertenleib, Hansjörg 578, 587 Schiller, Friedrich 407, 476, 482-484, 520, 526 Schlaffer, Heinz 22 Schlegel, Friedrich 36 Schleiermacher, Friedrich 36 Schlör, Joachim 60 Schmidt, Gunnar 353, 360 Schmidt, Sarah 16, 18-20, 22-25, 36, 39, 90, 118, 136, 142, 152, 154, 159, 165, 171, 239, 281, 296 f., 321, 325, 338, 348, 366, 373, 398, 453, 501, 504, 509, 522, 536, 539, 552, 562, 593, 613, 615, 643, 655 Schmidt-Hannisa, Hans-Walter 154
728
PERSONENREGISTER
Schmieder, Falko 33, 45 Schmitt, Heiner 14 Schmitz-Emans, Monika 15 Schmölders, Claudia 390, 393 Schnabel, Ulrich 155 Schneede, Uwe M. 212 Schneider, Jürg 377 Schneider, Manfred 557 Schneider, Ulrich Johannes 15 Schneider, Ute 148 Scholz, Susanne 13, 16, 21, 23, 27, 45, 194, 201, 229, 237, 239, 323, 328, 353, 359, 373, 403, 407, 475 Schöne, Albrecht 113 Schönle, Eva 27 Schreiner, Margit 578-580, 584, 589 f. Schubert, Katja 19, 32, 34, 44, 68, 599 Schuller, Marianne 200, 214 Schulz, Christoph Benjamin 15 Schulze, Sabine 20 Schüttpelz, Erhard 31 Schwitters, Kurt 166, 441 Sciascias, Leonardo 290 Scigliano, Eric 625 Scott, Ridley 290 Sebald, Winfried G. 15 f., 21 f., 35 f., 99102, 107, 112, 115-123, 134, 473 Sebeok, Thomas A. 329 Séchehaye, Albert 167 Seelert, Hans 330 Sekula, Allan 369, 375, 387 Selves, Georges de 117 Serexhe, Bernhard 309 Serres, Étienne-Renaud-Augustin 487, 490, 493 Serres, Michel 200, 205, 207, 211, 500 Shepard, Nick 384 Shields, Rob 222 Sidney, Sir Philip 238 Sierek, Karl 13 Signorelli, Luca 173, 175 f. Simmel, Georg 31, 391 f., 396, 398 Simmons, Charles 407 Simon, Taryn 223 Sloterdijk, Peter 290 Small, Jane 236 Smith, William 414 Snow, John 551 Soane, Sir John 443 Solla, Gianluca 19, 22 f., 59, 366, 457, 502 f., 505, 545, 639 Somaini, Antonio 401 Sommer, Manfred 243 Sommer, Robert 330 Söntgen, Beate 45
Spary, Emma C. 14, 333 Speer, Albert 136 Spencer, Frank 372 Spenser, Edmund 265 Spielmann, M. H. 447 Spielmeyer, Walter 328 Spies, Christian 14, 500 Spinnen, Burkhard 393 f. Spinoza, Baruch de 389, 489 Stadler, Ulrich 264 Staël, Anne Louise Germaine de 437, 443 Stäheli, Urs 391 Stallybrass, Peter 551 Stammberger, Birgit 495 Stammen, Theo 15 Stange, Martina 13 Starobinski, Jean 166-171 Stein, Robert 306 Steiner, Uwe C. 16 Steinmann, George 18, 501, 536, 539 f., 542-544 Stenzel, Hartmut 546 Stephan, Inge 50, 54 Stevenson, Robert Louis 22, 247, 323, 358 f., 361 Stieler, Kaspar 149 Stifter, Adalbert 15 f., 21, 24, 34 f., 46 f., 49, 99-108, 115, 257, 580, 589 Stiller, Ben 294 Stilz, Gerhard 623 Stöllinger, Philipp 148 Storm, Theodor 33, 50-52, 520 Strathausen, Carsten 16 Strätling, Susanne 36 Streble, Ingrid 19, 23, 36, 119, 201, 226, 249, 291, 297, 500 Strittmatter, Ellen 16 Stuart, Henry Lord Darnley 241 Stückelberger, Alfred 226 Swales, Erika 523 Sykora, Katharina 45 T Taylor, J. E. 440 te Heesen, Anke 24, 26, 38, 353, 557, 595597, 602, 620 Teerlinc, Levina 236 Temkin, Oswei 339 Teyssandier, Hubert 552 Thalheim, Robert 61 f. Theye, Thomas 371 f. Thielking, Sigrid 15 Thielmann, Tristan 31 Thiemeyer, Thomas 247, 249
SPRACHEN DES SAMMELNS
Thompson, Michael 14, 548, 624 Thums, Barbara 19, 133, 478, 499, 502, 546, 549 f., 564, 577, 616, 623, 655 Thürlemann, Felix 310 Thurman, John 351 Tiecks, Ludwig 251 Tiffin, Helen 633 Tillmann, Doris 377 Tolias, George 228 Topinard, Paul 371 Torok, Maria 508 Toth, André de 291 Totzke, Rainer 36 Touzard, Jean Antoine 460 Tufnell, Rob 135 Turnheim, Michael 657 Turpin, Adriana 227 U Utz, Peter 146 V Valéry, Paul 165, 203, 471 van Lil, Kira 212 Vasari, Giorgio 227, 229 f., 283 Vedder, Ulrike 13, 16, 19, 24, 27, 32-34, 46 f., 51, 90, 100, 190, 204, 257, 276, 286, 289, 294, 500, 523, 580, 589 Verhoeven, Michael 59 f. Vinken, Barbara 45 Virilio, Paul 473 Vischer, Friedrich Theodor 35 Vogel, Juliane 557 Vogel, Sabine 269 Vogl, Joseph 22 Vollenbröker, Anne 26, 37 Vollhardt, Friedrich 15 Volpaia, Lorenzo della 230 W Wagner, Christian 61 Wagner, Richard 254 Waldenfels, Bernhard 200 Walser, Robert 514 Warburg, Aby 274, 324, 377 Warburg, Otto 384 Warhol, Andy 271 Warmers, Julia 26 Warning, Rainer 648, 655 Warnke, Martin 274
729
Waterman, Sue 18-20, 24, 318 f., 321, 338, 451, 453-455, 467, 648 Waugh, Patricia 475 Weber, Cornelia 14 Weber, Eugen 437 Weber, Matthias 331 Weber, Samuel 164, 173, 176 Weber, Wolfgang E. J. Wedel, Heidemarie 19, 201 f., 219, 263, 269-274 Weder, Christine 16 Weibert, Ferdinand 516 Weihe, Richard 397 Weil, Stephen E. 14 Weinstein, Amnon 60-62, 76 Weissberg, Liliane 398, 403 Weiße, Chrisian Felix 142 Wellcomes, Sir Henry Solomon 345 Werberger, Annette 499 Werle, Dirk 15 Werner, Abraham Gottlob 440, 446 Westerwinter, Margret 15, 27 West-Pavlov, Russell 626 White, Allon 551 White, Patrick 627 Wichner, Ernest 595 f., 599, 608 Wild, Cornelia 169 Wilson, S. P. 625 Windmüller, Sonja 14, 548 Winkler, Markus 555 Witte, Georg 36 Wittgenstein, Ludwig 35 Wohlfahrt, Irving 547 Wolfe, Charles 22, 113, 321, 494 f. Woodward, David 226 Wordsworth, William 265 Wright, Alexis 19, 505, 621, 623 f., 626, 634-645 Wriothesley, Henry (Earl of Southampton) 237 Wunderli, Peter 172 Wundt, Wilhelm 327 Z Zahn, Peter 300 Zedelmaier, Helmut 15 Zeller, Joachim 378 Zima, Peter V. 279 Zirbs, Wieland 554 Zitko, Hans 213 Zuckmayer, Carl 256 Zwernemann, Jürgen 377