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German Pages 509 [510] Year 2017
Manuel Illi Sprache in Wissenschaft und Dichtung
Literatur- und Naturwissenschaften
Publikationen des Erlangen Center for Literature and Natural Science/ Erlanger Forschungszentrums für Literatur und Naturwissenschaften (ELINAS) Herausgegeben von Aura Heydenreich, Christine Lubkoll und Klaus Mecke Editorial Board Jay Labinger, Bernadette Malinowski, Arkady Plotnitsky, Dirk Vanderbeke
Band 4
Manuel Illi
Sprache in Wissenschaft und Dichtung Diskursive Formationen von Mathematik, Physik, Logik und Dichtung im 17. und 18. Jahrhundert
Publiziert mit freundlicher Unterstützung des Studiengangs ‚Ethik der Textkulturen‘, der Ilse und Dr. Alexander Mayer-Stiftung, der Ludwig Sievers Stiftung sowie des Evangelischen Studienwerks e.V. Diese Arbeit wurde 2014 als Dissertationsschrift an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg im Fach Neuere deutsche Literaturwissenschaft eingereicht und für die Drucklegung leicht überarbeitet und ergänzt.
ISBN 978-3-11-046423-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-046425-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-046443-6 ISSN 2365-3434
Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercialNoDerivatives 4.0 International Lizenz. Weitere Informationen finden Sie unter http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Manuel Illi, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Dieses Buch ist als Open-Access-Publikation verfügbar über www.degruyter.com. Coverabbildung: Joseph Reinthaler Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Danksagung Für den intensiven Austausch, für alle inhaltliche und praktische Unterstützung sowie für die eine oder andere ‚heilige Nacht‘ möchte ich mich herzlich bei Agnes Bidmon, Eberhard Finckh, Peter Mirsch, Harald Neumeyer und Stefan Scholz bedanken. Ebenso dankbar bin ich Alexander Engel, Anna Hampel, Renate Kellner, Julia Landgraf, Bettina Lindner, Christina Martin, Julia Schumacher, Timo Sestu und Stephanie Waldow für alle Hilfe, ohne die an eine Fertigstellung und Drucklegung der Arbeit nicht zu denken gewesen wäre. Ebenso wichtig und notwendig war in den Jahren des Schreibens der unschätzbare Rückhalt, den mir meine Freunde und meine Familie gaben. Mein tiefer Dank gilt besonders Christine Lubkoll und Christian Thiel, die mir in den letzten Jahren weit mehr als nur wissenschaftliche Mentoren waren. Vielen Dank für das entgegengebrachte Vertrauen, das gemeinsame Nachdenken und den langen Atem. Wichtige fachliche Impulse verdanke ich dem Erlanger Center for Literature and Natural Science (ELINAS) – vor allem den Gesprächen mit Aura Heydenreich und Klaus Mecke – sowie dem Evangelischen Studienwerk e.V., das mehrfach den Rahmen für einen intensiven fachlichen Austausch bot. Nicht zuletzt möchte ich mich für die gute Zusammenarbeit bei Manuela Gerlof, Stella Diedrich und Olena Gainulina vom De Gruyter-Verlag bedanken.
DOI 10.1515/9783110464252-002, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
Inhalt Einleitung | 1
Teil I:
Theoretische Grundlagen
1
Methodik | 9
2 2.1 2.2 2.3
Begriffsklärungen | 13 Diskurs, diskursives Feld und diskursive Formationen | 13 Dichtung als Gegendiskurs | 17 Sprache | 20
3 3.1 3.2 3.3
Perspektivierungen | 23 Disziplinäre Perspektive | 23 Historiographische Perspektive | 24 Systematische Perspektive | 26
Teil II: Sprachphilosophische Positionen des 17. und 18. Jahrhunderts Hinführung | 33 1 1.1 1.2
Zwei Referenzpunkte der Sprachphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts | 34 René Descartes (1596–1650) | 34 John Locke (1632–1704) | 36
2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Rationalistische Sprachkonzeptionen | 44 Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) | 44 Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) | 50 Georg Friedrich Meier (1718–1777) | 53 Johann Georg Sulzer (1720–1779) | 61 Zusammenfassung rationalistischer Sprachkonzeptionen | 67
3 3.1
Empiristische und sensualistische Sprachkonzeptionen | 70 George Berkeley (1685–1753) | 71
VIII | Inhalt
3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7
4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6
David Hume (1711–1776) | 74 James Harris (1709–1780) | 78 Adam Smith (1723–1790) | 81 Étienne Bonnot de Condillac (1714–1780) | 83 Denis Diderot (1713–1784) | 91 Zusammenfassung empiristischer und sensualistischer Sprachkonzeptionen | 97 Sprachkonzeptionen jenseits rationalistischer und empiristischer Positionen | 98 Giambattista Vico (1668–1744) | 99 Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) | 110 Immanuel Kant (1724–1804) | 120 Johann Georg Hamann (1730–1788) | 133 Johann Gottfried Herder (1744–1803) | 144 Zusammenfassung weiterer Sprachkonzeptionen | 155
Resümee | 160
Teil III: Diskursive Formationen von Physik, Mathematik und Logik Hinführung | 165 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
Mathematisierung der Physik | 167 Symbolisierung und Formalisierung der Physik | 167 Axiomatisierung der Physik | 169 Kritik der mathematisierten Physik | 177 Entliterarisierung der Physik | 182 Gehlers Physikalisches Wörterbuch | 185
2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6
Formalisierung und Axiomatisierung der Mathematik | 191 Entwicklung des mathematischen Symbolismus | 191 Ontologischer und operativer Symbolismus | 197 Die imaginären Zahlen | 208 Axiomatisierung und Kalkülisierung der Mathematik | 212 Der ontologische Status mathematischer Gegenstände | 224 Entrhetorisierung der Mathematik | 231
Inhalt | IX
3 3.1 3.2 3.3
Formalisierung der Logik | 239 Entwicklungen der neuzeitlichen Logik | 239 Traditionelle Logik und Rhetorik | 245 Traditionelle Logik und Mathematik | 255
4 4.1 4.2 4.3
Neuzeitliche Rationalität | 267 Ursprünge abendländischer Rationalitätskonzepte | 268 Verengung des Rationalitätsverständnisses | 269 Krisenmomente neuzeitlicher Rationalität | 276
Resümee | 279
Teil IV: Diskursive Formationen des literarischen Diskurses Hinführung | 287 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
Verhältnisbestimmungen von Dichtung und Wissenschaften | 289 Konsolidierung von Dichtung und Philosophie | 289 Verhältnisbestimmung durch Analogien und Differenzen | 302 Überschreitung des Analogie-Differenz-Verhältnisses | 324 Autonomisierungstendenzen des literarischen Diskurses | 333 Absolutsetzung des literarischen Diskurses | 342
2 2.1 2.2 2.3
Gegenstände der Dichtung: Ebene der Gehalte | 361 Nachahmung | 361 Unbegreifliches, Unvorstellbares und Unerforschliches | 374 Selbstreflexivität | 381
3 3.1 3.2
Sprache und Dichtung: Ebene der Darstellungsformen | 386 Poetische Sprache und Repräsentation | 387 Die Krise der sprachlichen Repräsentation | 397
Resümee | 401
X | Inhalt
Teil V: Goethe zwischen Wissenschaft und Dichtung Hinführung | 413 1
Goethes Zur Farbenlehre | 414
2 2.1 2.2 2.3 2.4
Die zeitgenössische Rezeption der Farbenlehre | 415 Kritikpunkt 1: Quantifizierung und Metrifizierung | 418 Kritikpunkt 2: Axiomatisierung und Formalisierung | 420 Kritikpunkt 3: Symbolisierte Darstellung | 427 Kritikpunkt 4: Entliterarisierung und Entrhetorisierung | 429
3 3.1 3.2
Goethes Sprachverständnis und Sprachkritik | 435 Goethes Sprachskepsis | 435 Das Unerforschliche und das erkenntnisstiftende Symbol | 440
4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5
Goethes Die Wahlverwandtschaften | 442 Das Unerforschliche der ‚fast magischen Anziehungskraft‘ | 443 Die Wahlverwandtschaft als erkenntnisstiftendes Symbol | 446 Sprachreflexive Momente | 453 Dynamische semantische Felder und Variationen | 455 Das Verfahren der fortgesetzten Einkreisung | 460
Resümee | 462
Schluss und Ausblick | 467 Literaturverzeichnis | 473 Register | 497
Einleitung Die Reflexion des wechselseitigen Verhältnisses von Wissenschaften und Literatur im 20. Jahrhundert hat mit dem Briten Charles Percy Snow (1905–1980) und seiner Rede Lecture aus dem Jahr 1959 einen prominenten Kronzeugen. Die dort formulierte two cultures-These prägte nicht nur die Diskussionen der anschließenden Jahre und Jahrzehnte, sie avancierte auch zu dem maßgeblichen Bezugspunkt in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Betrachtung dieses spannungsvollen Verhältnisses: [D]as geistige Leben der gesamten westlichen Gesellschaft spaltet sich immer mehr in zwei diametrale Gruppen auf […]: auf der einen Seite haben wir die literarisch Gebildeten, die ganz unversehens, als gerade niemand aufpaßte, die Gewohnheit annahmen, von sich selbst als von ‚den Intellektuellen‘ zu sprechen, […] auf der anderen Naturwissenschaftler, als deren repräsentativste Gruppe die Physiker gelten. Zwischen beiden eine Kluft gegenseitigen Nichtverstehens, manchmal – und zwar vor allem bei der jungen Generation – Feindseligkeit und Antipathie, in erster Linie aber mangelndes Verständnis. Man hat ein seltsam verzerrtes Bild voneinander.1
Die mehr als fünfzig Jahre, die seit Snows Lecture vergangen sind, haben gezeigt, dass die two cultures-These selbst ein leicht verzerrtes Bild zeichnet. Snow war das offensichtlich bewusst, ging es ihm doch nicht um die kritischdeskriptive Darstellung der Verhältnisse, sondern darum, einen provokativen Impuls der Annäherung zu liefern: „Die Feststellungen in meinem Vortrag hatte ich so einfach wie nur möglich formuliert. Jede Feststellung, die auf praktische Maßnahmen abzielt, muß einfach sein.“2 Es ist vermutlich gerade jener plakative Dualismus, der die Prominenz von Snows These begründete, schließlich reflektierten Wilhelm Dilthey (1833–1911), Ludwik Fleck (1896–1961) und Gaston Bachelard (1884–1962) bereits vor Snow und teils differenzierter die spannungsreichen Vernetzungen naturwissenschaftlicher, geisteswissenschaftlicher und künstlerischer Diskursfelder, ohne vergleichbare Resonanz hervorzurufen. Für die seit der Jahrtausendwende zunehmend intensivierte Forschung bezüglich des Themenfelds Wissenschaften und Literatur wurde die two culturesThese auch deswegen – wie Nicolas Pethes feststellt – zum diskursiven Referenzpunkt, weil sie die „Frage nach der Relation zwischen Wissenschaft und
|| 1 Charles P. Snow: Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Stuttgart: Klett, 1963. S. 11f. 2 Charles P. Snow: Die zwei Kulturen. S. 62. DOI 10.1515/9783110464252-004, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
2 | Einleitung
Literatur […] nur aufgerissen, nicht beantwortet“3 hat. In dem Bemühen, Antworten auf Snows Frage zu formulieren, haben sich in den letzten 20 Jahren besonders die ‚neueren‘ literatur-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Theoriemodelle als produktiv erwiesen. Mit Hilfe von Diskurs-, System- und Wissenschaftstheorie sowie Wissenschaftsgeschichte konnten so bislang eher selten untersuchte Themen für die literaturwissenschaftliche Forschung erschlossen werden.4 Bernhard Dotzler stellt bei der Sichtung des Forschungsfeldes im Jahr 2002 eine Tendenz beobachtbarer Themenschwerpunkte fest: Bisher konzentrierte sich das literaturwissenschaftliche Interesse an Wissenschaftsgeschichte […] naheliegenderweise vor allem auf den Inhalt von (im engeren Sinne) Literatur […]. Will man über dergleichen Motivgeschichte hinaus, empfiehlt es sich nicht nur, die ‚Gegenprobe‘ zur literarischen Verarbeitung von Wissenschaft anzustellen, das heißt die wissenschaftliche Verarbeitung von Literatur in den Blick zu rücken. Vor allem gilt es, die Funktion von Literatur als Literatur gegenüber den Wissenschaften anders denn als bloßes Reflexionsmedium zu bestimmen. Stattdessen könnte eine strukturvergleichende Korrelation beider Seiten angestrebt werden […].5
In den Jahren, die seit dieser Beobachtung vergangen sind, hat sich die beschriebene Situation grundlegend verändert. Inzwischen ist die Zahl der Publikationen, die Dotzlers Hinweis ernst nehmen, rasant gestiegen. Hierbei rücken auch zunehmend Aspekte der sprachlichen Verfasstheit von Wissenschaften
|| 3 Nicolas Pethes: Poetik/Wissen. Konzeption eines problematischen Transfers. In: Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Hrsg. von Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004. S. 341–372; S. 343. 4 Exemplarisch sei auf einige neuere Arbeiten und Sammelschriften hingewiesen: Thomas Lange und Harald Neumeyer (Hrsg.): Kunst und Wissenschaft um 1800. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2000; Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Internationales Hamburger Kolloquium zu Problemen der Literaturinterpretation und Literaturgeschichtsschreibung. Tübingen: Niemeyer, 2002; Andrea Albrecht: „Überall wird in Naturwissenschaft gemacht.“ Die Diskussion um Kultur, Bildung und Mathematik in den Kulturzeitschriften der Jahrhundertwende. In: Europäische Kulturzeitschriften um 1900 als Medien transnationaler und transdisziplinärer Wahrnehmung. Hrsg. von Ulrich Mölk und Susanne Friede. Göttingen: V&R, 2006. S. 197–213; Monika Schmitz-Emans (Hrsg.): Literature and science. Literatur und Wissenschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2008; Andrea Albrecht, Gesa von Essen und Werner Frick Werner (Hrsg.): Zahlen, Zeichen und Figuren. Mathematische Inspirationen in Kunst und Literatur. Berlin, New York: De Gruyter, 2011; Olaf Breidbach und Roswitha Burwick (Hrsg.): Physik um 1800. Kunst, Naturwissenschaft oder Philosophie? München: Fink, 2012. 5 Bernhard J. Dotzler: Explorationen. Literaturforschung und die Geschichte des Wissens und der Wissenschaften. In: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Berichte und Abhandlungen. Bd. 9. Berlin: Akademie, 2002. S. 311–327; S. 320.
Einleitung | 3
und Literatur ins Blickfeld, beispielsweise rhetorische Aspekte wissenschaftlicher Publikationen6, Fiktionalität7 und Metaphorik8. Auch aus linguistischer Perspektive wurden literarischer und wissenschaftlicher Sprachgebrauch einzelner Disziplinen erschlossen.9 Was jedoch bislang ein Desiderat darstellt, ist die Untersuchung von Sprache als grundlegender Gemeinsamkeit von Wissenschaften und Literatur hinsichtlich ihrer wechselseitigen diskursiven Bestimmung und ihrer historischen Entwicklung. Die vorliegende Arbeit möchte diese Forschungslücke für den Zeitraum des 17. und 18. Jahrhunderts schließen. Ausgangspunkt ist dabei die Frage, wie Sprache im angegebenen Zeitraum poetologisch, sprach-, erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch konzipiert wurde und welche Konsequenzen die jeweiligen Konzepte für die wechselseitige Verhältnisbestimmung und Abgrenzung von Literatur und Wissenschaften hatten. Mit Physik, Mathematik und Logik werden hierbei drei Disziplinen im Bereich der Wissenschaften als Untersuchungsgegenstand gewählt, die im 17. und 18. Jahrhundert eine paradigmatische Funktion einnahmen. Durch die axiomatische Systematik, die symbolische Darstellung und die Formalisierung ihrer Operationen galt die Mathematik spätestens seit dem 15./16. Jahrhundert als Vorbild methodischer Strenge und gesicherter Erkenntnis. In der Physik – speziell der Mechanik – wurde versucht, mathematische Methodik und Systematik zu implementieren und gleichzeitig mit Methoden der Empirie zu synthetisieren. Die Physik konnte so zum Leitbild gesicherter, empirischer Erkenntnis avancieren, das prägend für weitere Disziplinen wie z.B. die Chemie oder die Biologie wurde. Die Logik schließlich spiegelt in ihrer Entwicklung nicht nur das Bestreben wider, durch eine ‚Mathematisierung‘ die Methodik und Systematik mathematischer Erkenntnis auf weitere Diskursbereiche übertragbar zu machen, sie stellt auch einen wesentlichen Aspekt des neuzeitlichen Rationalitätsverständnisses dar. Die drei genannten Disziplinen zeichnen sich darüber hinaus durch eine besondere Disziplinierung und Regulierung im Sprachgebrauch aus. Deswegen ergeben sich einerseits besonders auffällige Kontrastie|| 6 Vgl. Alan G. Gross: Starring the text. The place of rhetoric in science studies. Carbondale: Southern Illinois University Press, 2006. Vgl. auch die Zeitschrift Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und Wissenschaften. Hrsg. von Lutz Danneberg u.a. 7 Vgl. Thomas Klinkert: Epistemologische Fiktionen. Zur Interferenz von Literatur und Wissenschaft seit der Aufklärung. Berlin, New York: De Gruyter, 2010. 8 Vgl. Christina Brandt: Metapher und Experiment. Göttingen, Braunschweig: Wallstein, 2004; Lutz Danneberg (Hrsg.): Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. Wiesbaden: Harrassowitz, 2009. 9 Vgl. z.B. Lothar Hoffmann u.a. (Hrsg.): Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. HSK Bd. 14. Berlin, New York: De Gruyter, 1998.
4 | Einleitung
rungen zu den in Sprachtheorie und Poetik stattfindenden Konzeptionierungen einer ‚poetischen Sprache‘, andererseits werden erstaunliche Analogien, Parallelen und Gemeinsamkeiten sichtbar. Die Untersuchung beider Aspekte macht deutlich, dass die Differenzen von poetischem und wissenschaftlichem Sprechen nicht unmittelbar gegeben und evident waren, sondern vielmehr unter großem theoretischem Aufwand konstruiert und verhandelt werden mussten. Es handelt sich um einen dynamischen Prozess, der immer auch Rückschlüsse auf die wechselseitige Abgrenzung der Diskurse zulässt. Das 17. und 18. Jahrhundert erweisen sich unter diesen Gesichtspunkten als besonders relevanter Zeitraum, da einerseits die Konsequenzen der revolutionären Entwicklungen in Naturwissenschaften, Mathematik und Logik ihre volle Tragweite entfalteten und gleichzeitig wegweisende Umbrüche und Neuausrichtungen im literarischen Diskurs vollzogen wurden. Beide Prozesse erforderten immer wieder eine Neuordnung des diskursiven Feldes insgesamt, aber auch eine erneute Reflexion der Möglichkeiten, Grenzen und Funktionen von Sprache in den jeweiligen Diskursen. In der literarischen Praxis, Poetologie und ästhetischen Theorie sind sowohl Tendenzen zu erkennen, die Dichtung am Ideal der ‚strengen Wissenschaften‘ – und d.h. auch an deren Sprachverständnis – ausrichteten, als auch gegenläufige Tendenzen, die beide Diskurse als konträre und inkommensurable Phänomenbereiche konzipierten. In dieser polyphonen Auseinandersetzung wurden maßgebliche Ansätze entwickelt, an die die einschlägigen Diskussionen des 19. und 20. Jahrhunderts dann anknüpfen konnten. Die historische Fokussierung ist daher durch eine weitere Überlegung motiviert. Jene markante Zäsur in der europäischen Geistesgeschichte um 1800, die Foucault als ‚epistemologischen Bruch‘ beschreibt, die Luhmann als Beginn der ‚funktionalen Ausdifferenzierung‘ charakterisiert und die Koselleck als ‚Sattelzeit‘ bezeichnet, kann ohne die fundamentalen Entwicklungen des 17. und 18. Jahrhunderts nicht adäquat erfasst werden. Dies gilt insbesondere für die Relationen von Literatur und Wissenschaften, da literarische Phänomene des 19. Jahrhunderts, wie beispielsweise die offensive Abgrenzung der Autoren des Naturalismus von der romantischen Ästhetik, erst durch ein grundlegendes Verständnis der historischen Voraussetzungen und Transformationsprozesse um 1800 möglich wird. Wenn im Folgenden von ‚den Wissenschaften‘ die Rede ist, sind damit jene ‚strengen‘ Disziplinen gemeint, die erst im Verlauf des Untersuchungszeitraums ihre disziplinäre Eigenständigkeit erhalten. So firmierten Physik und Logik noch lange unter dem disziplinären Oberbegriff ‚Philosophie‘ – so nennt Newton sein Hauptwerk 1687 Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. Die
Einleitung | 5
Logik wiederum spaltete sich erst im 19. Jahrhundert in eine ‚philosophische‘ und eine ‚mathematische‘ Logik auf, obwohl bereits Leibniz Aspekte beider Disziplinen entworfen hatte. Mit der Bezeichnung ‚Philosophie‘ werden daher hauptsächlich jene an Logik und neuzeitlicher Rationalität orientierten Ausprägungen der Philosophiegeschichte benannt, die im engeren erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Kontakt zu den Disziplinen Physik, Mathematik und Logik standen. Damit werden terminologisch zwar gewissermaßen die Resultate einer diskursiven Ausdifferenzierung, die sich am Ende der Arbeit zeigen, vorweggenommen, dies ist allerdings pragmatischen Gründen geschuldet. So ermöglicht diese Engführung eine einfache und dennoch präzise Differenzierung von philosophischen und literarischen Texten, ohne ‚literarische Formen der Philosophie‘10 auszuschließen, die gerade hinsichtlich ihrer sprachlichen Darstellungsformen im Grenzbereich von begrifflich-szientistischem und literarischem Sprachgebrauch liegen. Betrachtet werden in dieser Arbeit solche Texte, in denen poetologische, erkenntnis-, wissenschafts- und sprachtheoretische Aspekte der Sprachreflexion erkennbar werden. Hierbei handelt es sich um im engeren Sinn sprachphilosophische Abhandlungen, aber auch um poetologische oder wissenschaftliche Fachtexte und nicht zuletzt um literarische Texte. Notwendig ist eine derart breite Textgrundlage deshalb, weil gerade im 17. und 18. Jahrhundert sprachtheoretische Ansätze in Abhandlungen eingebettet waren, die andere inhaltliche Schwerpunkte setzten. Häufig war die theoretische Reflexion von Sprache thematisch eng mit Erkenntnistheorie, Anthropologie, Poetik usw. verschränkt. Vor dem Hintergrund dieser Ausgangssituation gliedert sich die folgende Untersuchung in vier Teile. Zunächst wird eine methodische Grundlegung in kritischer Auseinandersetzung mit Foucaults diskurstheoretischen Arbeiten der 1960er Jahre erarbeitet (Teil I). Sprache kann und soll hierbei nicht als isoliertes Moment diskursiver Formationen begriffen, sondern im Kontext unterschiedlicher Faktoren der Diskursbildung charakterisiert werden. Außerdem findet in diesem Teil die Klärung der terminologischen und historiographischen Ausrichtung der Arbeit statt. Mithilfe des erarbeiteten theoretischen Instrumentariums wird anschließend in Teil II das Spektrum sprachtheoretischer Reflexionen des 17. und 18. Jahrhunderts untersucht. Da René Descartes’ und John Lockes Positionen hier wichtige Bezugspunkte darstellen, wird mit einer knappen Skizze der beiden Positionen ein zeitlich vorgelagerter Ausgangspunkt gewählt. Die Vielzahl teils
|| 10 Vgl. Gottfried Gabriel (Hrsg.): Literarische Formen der Philosophie. Stuttgart: Metzler, 1990.
6 | Einleitung
heterogener sprachphilosophischer Ansätze wird anschließend aus heuristischen Gründen in drei Gruppierungen dargestellt. Zum einen sind dies rationalistische, zum anderen empiristisch-sensualistische Sprachkonzeptionen und schließlich solche Ansätze, die sich keiner der beiden Gruppen zuordnen lassen. In Teil III werden die im Untersuchungszeitraum stattfindenden Entwicklungen in Physik, Mathematik und Logik eingehender beleuchtet und in Bezug zu dem zuvor entworfenen sprachphilosophischen Spektrum gesetzt. Die Schwerpunkte sind hierbei Symbolisierung, Formalisierung und Axiomatisierung der genannten Disziplinen sowie die mit ihnen verbundenen Tendenzen der ‚Entrhetorisierung‘ bzw. ‚Entliterarisierung‘. Die Einzelaspekte dieser Betrachtung werden in einer Charakterisierung des neuzeitlichen Rationalitätsverständnisses gebündelt und verallgemeinert. Hiervon ausgehend eröffnet Teil IV eine neue Perspektive auf die enge Vernetzung des literarischen Diskurses mit der Sprach- und Wissenschaftstheorie des 17. und 18. Jahrhunderts. Zunächst wird dazu rekonstruiert, wie in zeitgenössischen Diskussionen Dichtung im Verhältnis zu Physik, Mathematik, Logik und den Wissenschaften allgemein verortet wurde. Aufgrund des Entwicklungsvorsprungs der Naturwissenschaften handelte es sich hierbei zu Beginn des Untersuchungszeitraums meist um Strategien, die auf eine retrospektive Konsolidierung im Kanon der septem artes liberales abzielten. Da sich die Tragfähigkeit dieser Strategien schnell erschöpfte, wurden mit dem Übergang zum 18. Jahrhundert zunehmend Legitimationsstrategien entworfen, die die ebenbürtige Eigenwertigkeit der Dichtung dadurch zu begründen versuchten, dass sie Analogien zwischen beiden Bereichen (re-)konstruierten und so Poesie und Dichtung als analogon rationaler Erkenntnis installierten. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts werden Tendenzen erkennbar, durch die Dichtung schließlich zu einem autonomen oder gar absolut gesetzten Diskurs geformt wurde, der entweder als inkommensurabler oder als die wissenschaftlichen Disziplinen umspannender Diskurs galt. Bei allen Unterschieden eint die verschiedenen Strategien, dass sie in ihrer Argumentation ein je eigenes Konzept sprachlicher Darstellungsformen im literarischen Sprechen und Schreiben entwerfen. Im abschließenden Teil V werden anhand einer Untersuchung von Goethes Farbenlehre und Die Wahlverwandtschaften sowie eines der ersten physikalischen Lexika, Johann Samuel Traugott Gehlers Physikalisches Wörterbuch, die zusammengetragenen Ergebnisse exemplarisch illustriert.
| Teil I: Theoretische Grundlagen
1 Methodik Untersuchungen zum Thema ‚Literatur und Wissen/Wissenschaften‘ weisen nicht selten eine ähnliche Grundstruktur auf, die Olav Krämer folgendermaßen charakterisiert: „Sehr grob gesprochen, beschreiben Arbeiten aus dem Gebiet ‚Literatur und Wissenschaft‘ so gut wie immer Ähnlichkeiten und/oder Differenzen zwischen literarischen und wissenschaftlichen Texten eines Zeitraums […]“.1 Doch ist bereits die Unterscheidung von ‚literarischen‘ und ‚wissenschaftlichen Texten‘ eine keinesfalls evidente und gegebene Differenzierung. Sie bedarf einer systematischen Klärung, welche die historische Entwicklung des Verständnisses davon berücksichtigt, was literarische und wissenschaftliche Texte auszeichnet. Ein geeigneter Ausgangspunkt kann hierbei – so die Grundannahme dieser Arbeit – der für literarische wie wissenschaftliche Diskurse zentrale Aspekt sprachlicher Verfasstheit sein. Wissenschaften im Allgemeinen und Physik, Mathematik sowie Logik im Besonderen waren und sind gleichermaßen sprachbasierte Kulturbereiche wie Dichtung und Poesie. Die pragmatische Feststellung, dass Sprache die „unhintergehbare Wirklichkeitsbedingung“2 von Literatur und Wissenschaften darstellt, mag über hundert Jahre nach dem linguistic turn beinahe ebenso evident erscheinen wie die von Krämer benannte Tatsache, dass zwischen literarischen und wissenschaftlichen Texten auch Differenzen sprachlicher Art bestehen. Die eigentliche Herausforderung gegenwärtiger Forschung stellt sich in den an diese Feststellungen anknüpfenden Fragen: Welche konkrete Gestalt haben die sprachlichen Differenzen? Wie werden sie (sprach-)theoretisch begründet? Welchen historischen Veränderungen unterliegen sowohl die Differenzen als auch ihre sprachtheoretische Reflexion? Bestehen in Wissenschaften/Wissenschaftstheorie und Dichtung/Poetik unterschiedliche Auffassungen von den Funktionen, von den Möglichkeiten und Grenzen der Sprache? Für die Beantwortung dieser Fragestellungen kann mit Michel Foucaults Diskurstheorie und Niklas Luhmanns Systemtheorie (sowie deren Kombinatio-
|| 1 Olav Krämer: Intention, Korrelation, Zirkulation. Zu verschiedenen Konzeptionen der Beziehung zwischen Literatur, Wissenschaft und Wissen. In: Literatur und Wissen. Theoretischmethodische Zugänge. Hrsg. von Tilmann Köppe. Berlin, New York: De Gruyter, 2011. S. 77–115; S. 78. 2 Jan Urbich: Der Begriff der Literatur, das epistemische Feld des Literarischen und die Sprachlichkeit der Literatur. Einleitende historische Bemerkungen zu drei zentralen Problemfeldern der Literaturtheorie. In: Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven. Hrsg. von Alexander Löck und Jan Urbich. Berlin, New York: De Gruyter, 2010. S. 9–62; S. 59. DOI 10.1515/9783110464252-005, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
10 | Methodik
nen z.B. durch Positionen des New Historicism) auf methodologische Konzepte zurückgegriffen werden, die sich in den letzten Jahrzehnten in der historischen Betrachtung von heterogenen Kulturbereichen etabliert haben. Beide Ansätze nehmen hinsichtlich der Untersuchung der Wechselwirkung von Wissenschaften und Literatur je eigene Schwerpunktsetzungen vor: Während Foucault in seinen frühen Texten (etwa in Die Ordnung der Dinge, 1966) mit der Annahme einer grundlegenden ‚epistemologischen Schicht‘3 die grundsätzlichen Gemeinsamkeiten heterogener Bereiche betrachtet, werden in Luhmanns Bestimmung der ‚autonomen autopoietischen Systeme‘4 die kategorischen Differenzen vergleichbarer Bereiche betont. Gilles Deleuze verweist in diesem Zusammenhang auf eine der zentralen Leistungen der Foucault’schen Diskurstheorie: Das Wesentliche besteht nicht in der Überschreitung der Dualität Wissenschaft – Poesie, mit der sich das Werk von Bachelard noch schwertat. Ebenso wenig besteht es in der Entdeckung eines Verfahrens zur wissenschaftlichen Behandlung literarischer Texte. Es liegt in der Entdeckung und Vermessung jenes unbekannten Landes, in dem eine literarische Fiktion, eine wissenschaftliche Proposition, ein alltäglicher Satz, ein schizophrener Unsinn usw. gleichermaßen Aussagen sind, wenngleich ohne gemeinsames Maß, ohne jede Reduktion oder diskursive Äquivalenz.5
Der Vorteil diskurstheoretischer Ansätze ist, dass sie literarische und mathematisch-naturwissenschaftliche Texte gleichermaßen als Elemente eines gemeinsamen Diskursraumes begreifen. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive birgt die Adaption der Foucault’schen Diskursanalyse allerdings das Risiko, dass im Rückgriff auf einen gemeinsamen Diskursraum die essentiellen Differenzen von Wissenschaften und Literatur vernachlässigt werden oder gar unberücksichtigt bleiben.6 Dieses Risiko ergibt sich aus Foucaults ursprünglichem Anliegen bei der Entwicklung einer ‚Archäologie der epistemologischen Schichten‘: Mit der Transgression von Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsge-
|| 3 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. [Les mots et les choses, 1966]. Übers. von Ulrich Köppen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991. S. 23–26. 4 Vgl. Niklas Luhmann: Die Ausdifferenzierung des Kunstsystems. Vortrag im Kunstmuseum Bern am 19. Dezember 1993 und Gespräch im Kunstmuseum Luzern am 17. Dezember 1993. Hrsg. von Gerhard J. Lischka. Bern: Benteli, 1994. S. 8. 5 Gilles Deleuze: Foucault. [Foucault, 1986]. Übers. von Hermann Kocyba. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987. S. 34. 6 Vgl. Nicolas Pethes: Poetik/Wissen. Konzeption eines problematischen Transfers. In: Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Hrsg. von Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann. Würzburg: K&N, 2004. S. 341–372; S. 350.
Methodik | 11
schichte zielt er auf eine theoretische Erschließung allgemeiner Wissensräume ab, die zuvor aufgrund der Partikularität disziplinärer Fragestellungen nicht in ihrer umfassenden Vernetzung erfasst werden konnten. Die spezifischen Charakteristika einzelner wissenschaftlicher Disziplinen und Diskurse treten hierbei, wie Foucault in Die Archäologie des Wissens (1969) einräumt, in den Hintergrund: „Was die Archäologie zu beschreiben versucht, ist nicht die Wissenschaft in ihrer spezifischen Struktur, sondern der durchaus andersartige Bereich des Wissens“.7 Niklas Luhmann dagegen rückt die internen Mechanismen sozialer Systeme stärker ins Zentrum, während die Untersuchung von Interaktionen eines Systems mit anderen Systemen als ‚Abhängigkeiten von der Umwelt‘ an die Peripherie gedrängt werden.8 Die Gemeinsamkeiten von Wissenschaften und Literatur besteht nach Luhmann darin, dass sie ihren jeweils eigenen Platz in einem gesellschaftlichen Funktionsgefüge einnehmen; ihre Differenzen erklären sich über die unterschiedlichen ‚Funktionszuständigkeiten‘ in diesem Gefüge: „[D]ie Universalität der Funktionszuständigkeit geht mit der Spezifizität der Systeme, ihrer Funktionen, ihrer Kodes, ihrer Programme zusammen. Das eine ist durch das andere bedingt.“9 Unter der Prämisse einer ‚operativen Geschlossenheit‘ sozialer Systeme können so die internen Eigenarten von literarischem System bzw. von wissenschaftlichen Systemen beschrieben werden. Problematisch für die historisch-vergleichende Untersuchung unterschiedlicher Systeme ist jedoch der Umstand, dass die wechselseitigen Interaktionen zwischen unterschiedlichen Systemen nur schwer durch die internen Eigenarten der jeweiligen Systeme erklärt werden können. Weder Luhmanns noch Foucaults Ansätze können, wie Nicolas Pethes feststellt, unbesehen für die Untersuchung von Wechselbeziehungen zwischen
|| 7 Michel Foucault: Archäologie des Wissens. [L’archéologie du savoir, 1969]. Übers. von Ulrich Köppen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1995. S. 278. 8 „Mit ‚soziales System‘ ist ein System gemeint, das sich durch eigene kommunikative Operationen selbst etabliert. Es handelt sich demnach um ein selbstreferentielles System oder, wenn man auf die Operationen der ‚Reproduktion‘ (der Produktion aus eigenen Produkten) abstellt, um ein autopoietisches System. Solche Systeme werden auch als operativ geschlossene und in diesem Sinne als autonome Systeme bezeichnet. Das heisst: sie erzeugen alle Operationen, die sie zu ihrer Fortsetzung benötigen, selbst. Es gibt, bei voller kausaler Abhängigkeit von der Umwelt, weder einen Input noch einen Output von Einheiten. Dabei kann das System ‚freie‘ Kausalitäten nutzen, um seine Abhängigkeiten/Unabhängigkeiten im Verhältnis zur Umwelt zu organisieren. Es setzt sich dabei strengen Ordnungszwängen aus, aber eben: selbsterzeugten Ordnungszwängen.“ Niklas Luhmann: Die Ausdifferenzierung. S. 8. 9 Niklas Luhmann: Die Ausdifferenzierung. S. 22.
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Literatur und Wissenschaften übernommen werden: „Wenn Literatur und Wissenschaft strikt getrennt werden, ist dieses Unterfangen aussichtslos. Wenn Wissenschaft und Literatur gleichgesetzt werden, ist das Problem getilgt, nicht gelöst.“10 Pethes plädiert daher für eine behutsame und reflektierte Aneignung: „Anstatt der scheinbar unausweichlichen Alternative zu folgen, die Differenz entweder zu leugnen oder zu perpetuieren, wird […] vorgeschlagen, sie zu beobachten und sie zugleich als Produkt einer Beobachtung zu begreifen […].“11 In diesem Sinn sollen in den folgenden Abschnitten zentrale Begriffe der Foucault’schen Diskursanalyse für die anschließende Untersuchung methodisch fruchtbar gemacht und mit einem auf die Untersuchungsgegenstände zugeschnittenen Begriffsinstrumentarium verschränkt werden. Zunächst werden die Begriffe ‚Diskurs‘, ‚diskursives Feld‘, ‚diskursive Formation‘ und ‚Gegendiskurs‘ im Kontext von Foucaults frühen Texten erläutert, problematisiert und ihre Verwendung in der vorliegenden Arbeit geklärt. Anschließend wird der von Pethes benannten Gefahr einer „simplifizierenden Generalisierung“12 entgegengewirkt, die immer dort gegeben ist, wo unter Rückgriff auf Foucault Wissenschaften und Dichtung unter dem Aspekt der ihnen gemeinsamen Sprachbasiertheit betrachtet werden. Hierzu wird der von Foucault bisweilen undifferenziert gebrauchte Begriff ‚Sprache‘ mit Blick auf die diskursspezifischen Besonderheiten von Physik, Mathematik, Logik und Dichtung explikativ geschärft. Schließlich fließen Aspekte des Foucault’schen Ansatzes auch in die disziplinären, historiographischen und systematischen Perspektivierungen der Arbeit ein, wobei ebenfalls eine Präzisierung und Konkretisierung vorgenommen wird, um ein deskriptives Schema interdiskursiver Relationen zu entwickeln.
|| 10 Nicolas Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht. In: IASL 28.1 (2003). S. 181–231; S. 231. 11 Nicolas Pethes: Poetik/Wissen. S. 368; vgl. außerdem Olav Krämer: Intention, Korrelation, Zirkulation. S. 78. 12 „Wenn der Nachweis der Diskursivität des Wissens in die Feststellung einer diskursiven Kultur mündet, kommt es zu einer simplifizierenden Generalisierung des linguistic turn, der seine Legitimität stets aus der aufrechterhaltenen Spannung bezogen hat, die den Einzug des Literarischen ins Wissenschaftliche begleitete.“ Nicolas Pethes: Poetik/Wissen. S. 358.
Diskurs, diskursives Feld und diskursive Formationen | 13
2 Begriffsklärungen 2.1 Diskurs, diskursives Feld und diskursive Formationen Eine Herausforderung, mit der die literaturwissenschaftliche Forschung bei der Adaption des Foucault’schen Ansatzes in den letzten Jahrzehnten konfrontiert war, ist die Tatsache, dass Foucault selbst den Ausdruck ‚Diskurs‘ in verschiedenen (Kon-)texten sehr unterschiedlich gebraucht und ihn begrifflich nicht immer scharf konturiert.13 Häufig wurde daher heuristisch ein weitgefasster und ein eng gefasster Diskursbegriff in Foucaults Texten unterschieden. Der „weichere[], bewußt weitgefaßte[] Begriff des Diskurses“14 findet sich in Foucaults frühen Beiträgen, vor allem in Die Ordnung der Dinge (1966), und bezeichnet hier die Gesamtheit kultureller Zeichen und deren Repräsentationsmechanismen. Mit seiner Hilfe versucht Foucault das zu beschreiben, was die Wissens- und Erkenntnisproduktion auf einer basalen Ebene und damit vor aller theoretischen Explikation strukturiert. Der Diskursbegriff erfüllt hierbei eine primär „explikative Funktion“15: „Ich setzte voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und Gefahren des Diskurses zu bändigen […].“16 Der Diskurs (auffälliger Weise erscheint das Wort ‚Diskurs‘ in diesem weiten Sinn fast ausschließlich im Singular) und die ihn strukturierenden Mechanismen werden durch die sog. epistemologische Schicht (auch episteme) bedingt, die Foucault als Schicht zwischen den fundamentalen kulturellen Codes einer Kultur und den hochspezialisierten wissenschaftlichen Theorien und Methoden einzelner Wissenschaften verortet. Dieser epistemologischen Schicht gilt sein Interesse in
|| 13 Vgl. zu den Problemen mit Foucaults Begrifflichkeit siehe Detlef Kremer: Die Grenzen der Diskurstheorie Michel Foucaults in der Literaturwissenschaft. In: Vergessen. Entdecken. Erhellen. Literaturwissenschaftliche Aufsätze. Hrsg. von Jörg Drews. Bielefeld: Aisthesis, 1993. S. 98– 111; S. 104f.; Detlef Kremer: Text und Medium. In: Der unfeste Text. Perspektiven auf einen literatur- und kulturwissenschaftlichen Leitbegriff. Hrsg. von André Bucher und Barbara Sabel. Würzburg: K&N, 2001. S. 23–53; S. 31f.; Tilmann Köppe und Simone Winko: Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler, 2008. S. 99f.; Harald Neumeyer: Diskurs. In: Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hrsg. von Roland Borgards und Harald Neumeyer. Stuttgart: Metzler, 2013. S. 32–36; S. 33. 14 Detlef Kremer: Text und Medium. S. 33. 15 Harald Neumeyer: Diskurs. S. 33. 16 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France. [L’ordre du discours, 1971]. Übers. von Walter Seitter. München: Hanser, 1974. S. 7. DOI 10.1515/9783110464252-006, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
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Die Ordnung der Dinge: „In einer Kultur, und in einem bestimmten Augenblick, gibt es immer nur eine episteme, die die Bedingungen definiert, unter denen jegliches Wissen möglich ist [...] und diese fundamentalen Notwendigkeiten des Wissens müssen wir sprechen lassen.“17 An anderer Stelle relativiert Foucault jedoch die historiographisch problematische Absolutheit, mit der er hier die Einheit und Homogenität der epistemologischen Schicht postuliert: „Seit dem 19. Jahrhundert zerstückelt sich das epistemologische Feld oder vielmehr: es springt in verschiedene Richtungen auseinander.“18 Manfred Frank beschränkt daher die Gültigkeit des weitgefassten Begriffs ‚discours‘ auf die ‚Episteme des klassischen Zeitalters‘, also auf den Zeitraum des 17. und 18. Jahrhunderts.19 Doch selbst mit dieser Einschränkung bleibt Foucaults Aussage, es gebe nur eine episteme zu einer Zeit, problematisch, da – wie die folgenden Untersuchungen zur Entwicklung der Sprachkonzeptionen zeigen werden (vgl. Teil II) – teils sehr heterogene Positionen im Bereich der Sprachreflexion auch auf sehr divergente epistemologische Schichten des genannten Zeitraums schließen lassen. Eine konzeptionelle Schärfung und Engführung des Diskursbegriffs nimmt Foucault mit der Archäologie des Wissens (1969) und seiner Antrittsvorlesung Die Ordnung des Diskurses (1970) vor. Zunächst holt er hier die Explikation des Wortgebrauchs im Kontext seiner früheren Untersuchungen nach. Anschließend konturiert er den ‚älteren‘ weitgefassten Diskursbegriff, um ihn terminologisch enger zu fassen. Dies ergibt sich nach Foucault aus der neuen ‚Aufgabe‘, die er mit der Archäologie des Wissens lösen möchte: Eine Aufgabe, die darin besteht, nicht – nicht mehr – die Diskurse als Gesamtheiten von Zeichen (von bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen), sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.20
‚Diskurs‘ bezeichnet in diesem Sinne jene Bedingungen, Regelungen und Praktiken, die das determinieren und strukturieren, was zu einer bestimmten Zeit innerhalb eines abgegrenzten gesellschaftlichen Bereichs (z.B. einer wissenschaftlichen Disziplin) als Wissen anerkannt wird, d.h. als Wahrheit existieren kann: Ein „Diskurs […] wird durch eine begrenzte Zahl von Aussagen konstitu-
|| 17 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. S. 213. 18 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. S. 415. 19 Vgl. Manfred Frank: Zum Diskursbegriff bei Foucault. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Hrsg. von Jürgen Fohrmann und Harro Müller. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988. S. 25–44; S. 33. 20 Michel Foucault: Archäologie des Wissens. S. 74.
Diskurs, diskursives Feld und diskursive Formationen | 15
iert, für die man eine Menge von Existenzbedingungen definieren kann.“21 Diskurse sind für Foucault demnach nicht ontologisch bestimmt, sondern rekonstruierte Bestandteile einer „Heuristik, die ebenso vorläufig wie ausbaufähig ist“22. Die ‚Archäologie des Wissens‘ erscheint nun als ein Verfahren, das in der Vielzahl von Aussagen, Konventionen und Praktiken – Foucault nennt dies das ‚diskursive Feld‘ – Strukturen und Regelmäßigkeiten identifiziert – sie nennt er ‚diskursive Formationen‘: In dem Fall, wo man in einer bestimmten Zahl von Aussagen ein ähnliches System der Streuung beschreiben könnte, in dem Fall, in dem man bei den Objekten, den Typen der Äußerung, den Begriffen, den mathematischen Entscheidungen eine Regelmäßigkeit (eine Ordnung, Korrelation, Positionen und Abläufe, Transformationen) definieren könnte, wird man übereinstimmend sagen, daß man es mit einer diskursiven Formation zu tun hat [...]. Man wird Formationsregeln die Bedingungen nennen, denen die Elemente dieser Verteilung unterworfen sind (Gegenstände, Äußerungsmodalitäten, Begriffe, thematische Wahl). Die Formationsregeln sind Existenzbedingungen [...] in einer gegebenen diskursiven Verteilung.23
Ein Diskurs im engeren Sinn ist also die Rekonstruktion einer konkreten Konstellation von Regeln, Modellen, Aussagen und Praktiken, die wiederum von einer anderen Konstellation abgegrenzt werden kann. Das bedeutet, dass mit der Rekonstruktion der Bedingungen, Regelungen und Praktiken eines Diskurses nicht nur die Mechanismen offengelegt werden, durch die die Gegenstände innerdiskursiv ‚erzeugt‘, sondern durch die auch die Grenzen zwischen verschiedenen Diskursen festgelegt werden. Durch diese begriffliche Modifikation verleiht Foucault der Grenzziehung zwischen Diskursen ein dynamisches Moment. Es wird möglich, das Entstehen, Abspalten und Verschwinden von Diskursen im diskursiven Feld auch jenseits der großen Umbrüche zu beschreiben. In der folgenden Untersuchung soll der Begriff ‚Diskurs‘ – in Anlehnung an Foucaults enger gefassten Diskursbegriff – spezifische historische Konstellationen (diskursive Formationen) der Sprachkonzeption, der Sprachkonvention und des Sprachgebrauchs bezeichnen. Unter dem Begriff ‚Sprachkonzeption‘
|| 21 Michel Foucault: Archäologie des Wissens. S. 170. Mehrfach wurde darauf hingewiesen, dass dieses engere Diskurskonzept auch problematische und kritische Aspekte hat. Siehe dazu Detlef Kremer: Text und Medium. S. 31; Manfred Frank: Zum Diskursbegriff bei Foucault. S. 41f. 22 Clemens Kammler: Die Abwesenheit der Theorie. Zur Frage der Anwendbarkeit des Foucaultschen Diskursbegriffs auf die Literatur. In: Die Abwesenheit des Werkes. Nach Foucault. Hrsg. von Klaus-Michael Bogdal und Achim Geisenhanslüke. Heidelberg: Synchron, 2006. S. 231–241; S. 232. 23 Michel Foucault: Archäologie des Wissens. S. 58.
16 | Begriffsklärungen
werden hierbei Aspekte der theoretischen Beschreibung bzw. Modellierung des Phänomens Sprache zusammengefasst, wie z.B. Zeichentheorie, Sprachfunktionen oder Überlegungen zur Sprachentstehung. Mit ‚Sprachkonvention‘ sind explizite oder zumindest explizierbare Regeln benannt, die festlegen, welche sprachlichen Mittel als zulässig bzw. unzulässig erachtet werden. So werden etwa im Zuge der ‚Entrhetorisierung‘ der Naturwissenschaften die Mehrheit der klassisch-rhetorischen Argumentationsmuster (z.B. das argumentum ad hominem) zu nicht-adäquaten Mitteln von wissenschaftlichen Darstellungen erklärt (vgl. Kap. III.2.6 und V.2.4). ‚Sprachgebrauch‘ bezeichnet schließlich die konkrete sprachliche Gestaltung eines Textes, also z.B. die Definition eines Begriffs oder die mathematisch-symbolisierte Darstellung. Zwei Diskurse erscheinen dann als separate Konstellationen, wenn in den Aspekten Sprachkonzeption, Sprachkonvention und Sprachgebrauch differenzierende Momente rekonstruiert werden können. Dies bedeutet jedoch nicht, dass gleichzeitig auch analoge oder einende Momente bestehen. In einer diachronen Perspektive werden durch den Wechsel der differenzierenden Momente die historischen Verschiebungen des Grenzverlaufs zwischen den Diskursen sichtbar gemacht. So fasst beispielsweise Julius Caesar Scaliger (1484–1558) im 16. Jahrhundert die philosophisch-wissenschaftliche und die poetische Sprache unter einem gemeinsamen funktionalen Prinzip zusammen, und zwar dem der überredenden Belehrung. Das funktionale Prinzip stellt somit ein analoges bzw. einendes Moment dar. Das differenzierende Moment beider Sprachformen verortet er auf einer inhaltlichen Ebene, d.h. Wissenschaft und Dichtung werden von ihm aufgrund dessen unterschieden, worüber sie überredend belehren (nach Scaliger über das ‚Notwendige‘ einerseits und über das ‚Angenehme‘ andererseits; vgl. Kap IV.1.1).24 Auch Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) unterscheidet – gut 200 Jahre nach Scaliger – zwei Sprachtypen: die ‚langue de géomètres‘ und die ‚langue de poéte‘.25 Er entwirft diese jedoch als ein Oppositionspaar, deren konträre Stellung er nicht aus inhaltlichen Aspekten entwickelt, sondern aus „der Anteriorität der Affekte vor dem Verstand“26 (vgl. Kap. II.4.2). || 24 Vgl. Julius C. Scaliger: Poetices libri septem [1561]. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Hrsg. und übers. von Luc Deitz. Stuttgart: Frommann-Holzboog, 1994. S. 58 und S. 63. 25 Jean-Jacques Rousseau: Essay über den Ursprung der Sprachen, worin auch über Melodie und musikalische Nachahmung gesprochen wird [Essai sur l’origine des langues où il est parlé de la mélodie et de l’imitation musicale, 1781]. In: derselbe: Musik und Sprache. Übers. von Dorothea Gülke und Peter Gülke, hrsg. von Richard Schaal. Wilhelmshaven: Heinrichshofen, 1984. S. 99–168; S. 104. 26 Raymund Wilhelm: Die Sprache der Affekte. Jean-Jacques Rousseau und das Sprachdenken des siècle des Lumières. Tübingen: Narr, 2001. S. 164.
Dichtung als Gegendiskurs | 17
Sowohl bei Scaliger als auch bei Rousseau wird also eine sprachreflexive Abgrenzung von Wissenschaften und Dichtung vorgenommen, die man als Diskursdifferenzierung bezeichnen kann, jedoch wird die Differenzierung durch unterschiedliche sprachliche Aspekte begründet. Die Untersuchung verschiedener Abgrenzungsentwürfe erlaubt gleichzeitig, die historische Entwicklung der Verhältnisbestimmung von Wissenschaften und Dichtung zu rekonstruieren: Scaliger ist bemüht, Philosophie, Rhetorik und Dichtung als gleichwertige und gleichrangige artes zu modellieren, die in ihrer Sprachform analog zu verschiedenen Bevölkerungsgruppen (Soldaten, Senatoren und Bürger) unterschiedliche, aber gleichwertige Funktionen erfüllen. Nach Rousseau besteht zwischen Wissenschaften und Dichtung ein hierarchisches Gefälle, da er die langue de géomètres als eine defizitäre Schwundstufe der unumkehrbaren Sprach- und Menschheitsentwicklung begreift. Die langue de poéte besitzt nach Rousseau dagegen das Potenzial, an die poetische Ursprache und damit an einen nicht-entfremdeten Urzustand des Menschen anzuknüpfen. Erscheinen Philosophie (also Wissenschaften) und Dichtung bei Scaliger als gleichgestellte Diskurse, werden sie bei Rousseau in ein Gefüge der Über- bzw. Unterordnung gebracht. Häufig werden aus den Abgrenzungen und Verhältnisbestimmungen diskursive (Sprach-)Normen abgeleitet. Bei Rousseau ist dies beispielsweise die Forderung, in der Poesie die musikalisch-affektiven Aspekte der Sprache mit den begrifflich-referenziellen zu synthetisieren. Die wahre Dichtung kann – nach Rousseaus idealisiertem Verständnis –, Gefühl und Verstand gleichermaßen affizieren, und wird so zu einem die Wissenschaften weit überragenden Diskurs.
2.2 Dichtung als Gegendiskurs Auch Michel Foucaults emphatisches Literaturverständnis wurde von literaturwissenschaftlicher Seite häufig kritisiert. Man warf ihm vor, er wähle seine literarischen Bezugsgrößen zu einseitig (Hölderlin, Mallarmé, Artaud, Bataille, Kafka, Baudelaire) und erhebe die ästhetische Selbstbezüglichkeit und Selbstreferenzialität ihrer Texte auf problematische Art und Weise zu dem entscheidenden Charakteristikum der Literatur seit 1800.27 Hierdurch werde ‚Literatur‘ zum diffusen Label, das nicht nur die ästhetischen Eigenheiten poetischer Texte
|| 27 Vgl. Ulrich J. Schneider: Michel Foucault. Darmstadt: WBG, 2004. S. 158; Clemens Kammler: Historische Diskursanalyse. In: Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Hrsg. von KlausMichael Bogdal. Opladen: Westdeutscher, 1997. S. 32–56; S. 41.
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vernachlässige, sondern diese auch zu inkommensurablen Größen stilisiere. Ihren Kristallisationspunkt findet dieses Literaturverständnis in dem Ausdruck ‚Gegendiskurs‘, den Foucault in Die Ordnung der Dinge wie folgt einführt: Während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts und bis in unsere Zeit […] hat die Literatur nun aber nur in ihrer Autonomie existiert, von jeder andern Sprache durch einen tiefen Einschnitt […] losgelöst, indem sie eine Art „Gegendiskurs“ [‚contre-discours‘] bildete und indem sie so von der repräsentativen oder bedeutenden Funktion der Sprache zu jenem rohen Sein zurückging, das seit dem sechzehnten Jahrhundert vergessen war.28
Foucault verortet Literatur hier in einem Raum jenseits aller anderen Diskurse, wodurch in letzter Konsequenz eine Vergleichbarkeit mit wissenschaftlichen Diskursen unterminiert ist. Nicolas Pethes stellt daher fest, dass „[e]in solches Modell seinen Leser mit einigen Aporien, wenn nicht Widersprüchen zurück[lässt], und die Frage nach der Rolle der Literatur für Wissensordnungen […] kaum zu klären [vermag] […]“29. In später geführten Interviews ist Foucault sehr darum bemüht, die in Die Ordnung der Dinge emphatisch betriebene Verklärung der Literatur zu relativieren bzw. sogar ganz aufzuheben. Sein Ziel sei gewesen, die Literatur vom Mythos des „expressiven Charakters“30 zu befreien und auf die „Auslöschung der alten Aufteilung der Sprachen“31 zwischen Wissenschaften und Dichtung hinzuweisen: „Die Literatur gehört in denselben Bereich wie alle übrigen kulturellen Formen und alle sonstigen Äußerungen des Denkens einer Zeit.“32 Die Modifikationen, die Foucault nachträglich am seinem Begriff ‚Gegendiskurs‘ vornahm, erschweren jedoch dessen Gebrauch in literaturwissenschaftlichen Untersuchungen, erfordern sie doch aus Gründen der Transparenz zusätzlich eine Erläuterung der ursprünglichen Kontexte, in denen Foucault ihn verwendet. Dies ist bedauerlich, da der Begriff durchaus das Potenzial besitzt, spezielle literaturhistorische Konstellationen im Verhältnis von Dichtung und
|| 28 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. S. 76f. 29 Nicolas Pethes: Poetik/Wissen. S. 347. 30 Michel Foucault: Funktionen der Literatur. Interview mit Foger Pol-Droit. In: Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Hrsg. von Eva Erdmann, Reiner Forst und Axel Honneth. Frankfurt a. M.: Campus, 1990. S. 229–234; S. 231. 31 Michel Foucault: Über verschiedene Arten, Geschichte zu schreiben. Gespräch mit R. Bellour. In: Dits et écrits. Schriften in vier Bänden. Bd. 1 (1954–1969). Hrsg. von Michael Bischoff und Daniel Defert. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001. S. 750–769; S. 762. 32 Michel Foucault: Ist der Mensch tot? Gespräch mit C. Bonnefoy. In: Dits et écrits. Schriften in vier Bänden. Bd. 1 (1954–1969). Hrsg. von Michael Bischoff und Daniel Defert. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001. S. 697–703; S. 701.
Dichtung als Gegendiskurs | 19
Wissenschaften zu erschließen. Auch hier scheint folglich eine begriffliche Präzisierung und Schärfung vonnöten zu sein. Für den Zeitraum des 17. und 18. Jahrhunderts ist festzustellen, dass bisweilen versucht wurde, Dichtung als gleichwertigen und gleichrangigen Bereich an der Seite der Naturwissenschaften zu etablieren (vgl. Kap. IV.1). Häufig wurde hierzu eine austarierte Balance von analogen Momenten einerseits und differenzierenden Momenten andererseits konstruiert. In derartigen Ansätzen erscheint Dichtung als ein Diskurs im Feld der unterschiedlichen (auch wissenschaftlichen) Diskurse. Dichtung wird daher in den folgenden Kapiteln nur dann als ‚Gegendiskurs‘ bezeichnet, wenn sie in einer historischen Situation dezidiert als mit Physik, Mathematik und Logik inkompatibler Diskurs rekonstruierbar ist. Das ist immer dann der Fall, wenn historisch die differenzierenden Momente stärker gewichtet wurden als analoge bzw. einende Momente. Hierbei markiert ‚gegen‘, dass die historische Relationsbestimmung von Dichtung einerseits und Physik, Mathematik und Logik andererseits die Form eines einseitigen oder gar wechselseitigen Ausschlusses annahm. So erschien beispielsweise vielen Naturwissenschaftlern des 18. Jahrhunderts, wie Jan Ulbrich zeigt, Dichtung als hochgradig defizitär: Aufgrund mangelnden Erkenntnisgewinns (‚ontologisches Defizit‘), aufgrund mangelnder Wahrheitsfähigkeit (‚referenzielles Defizit‘) und aufgrund beschränkter Funktionalität (‚autonomistisches Defizit‘)33 galt ihnen wissenschaftlicher und poetischer Sprachgebrauch als unvereinbar (vgl. Kap IV.3 und V.3). Viele literarische Autoren wiederum lehnten ebenso vehement die von wissenschaftlicher Seite vertretene Präsupposition ab, Sprache sei ein lediglich auf begriffliche Repräsentation ausgelegtes Instrument, durch dessen rationale Optimierung eine sprachliche Darstellung der Wirklichkeit in allen relevanten Facetten möglich sei (vgl. Kap. II.3). Auch sie konzipieren Dichtung und Wissenschaft als inkompatible Diskurse. Pointiert bringt dies Friedrich Schlegel zum Ausdruck, wenn er schreibt: „Streng genommen ist der Begriff eines wissenschaftlichen Gedichts wohl so widersinnig, wie der einer dichterischen Wissenschaft.“34 Doch auch dort, wo eine derart konträre Konstellation historisch rekonstruierbar ist, wird Dichtung im Folgenden als integraler Bestandteil des diskursiven Feldes einer Zeit begriffen. Denn selbst die Abgrenzung der Dichtung als mit den Wissenschaften inkompatibler Ausdruck menschlicher Tätigkeit erfolgt stets unter Bezugnahme auf die Sprachtheorie, die Sprachkonventionen und || 33 Vgl. Jan Urbich: Der Begriff der Literatur. S. 28f., S. 33f. und S. 40f. 34 Friedrich Schlegel: Lyceums-Fragmente. In: derselbe: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 2. Hrsg. von Hans Eichner. München, Paderborn, Wien: Schöningh, 1967. S. 147–163; S. 154.
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den Sprachgebrauch in Physik, Mathematik und Logik. Friedrich Schlegel etwa begründet sein Konzept einer absolut gesetzten Poesie (vgl. Kap. IV.1.5) im Rekurs auf die „militärische[] Kunstsprache“35 der Logik. Dichtung kann historisch nur dann als Gegendiskurs inszeniert werden, wenn ihre sprachliche Charakteristik im Kontrast zu denen anderer Diskurse – im Speziellen zu den Wissenschaften – konstruiert werden. Insofern bleiben dem Gegenentwurf Dichtung die Diskursregeln der Wissenschaften als Negativfolie eingeschrieben. Gerade die frühromantischen Verhältnisbestimmungen von Dichtung und Wissenschaften machen die Notwendigkeit deutlich, die abgrenzende Bezugnahme innerhalb eines diskursiven Feldes zu berücksichtigen und den Begriff ‚Gegendiskurs‘ nicht essentialistisch zu missdeuten. Bei Novalis und Friedrich Schlegel erscheint Dichtung ausschließlich im Bezug zur zeitgenössischen Gestalt der Wissenschaften als inkompatibler Gegendiskurs. Für die Zukunft des kommenden ‚goldenen Zeitalters‘ erwarten beide jedoch, dass Dichtung und Wissenschaften sich zu einer neuen, wissenden Mythologie vereinen lassen.
2.3 Sprache Eine ausreichend genaue und dennoch knappe Definition des Begriffs ‚Sprache‘ scheint in Anbetracht der zahlreichen und teils divergierenden Ansätze in Philosophie, in den Philologien und Kulturwissenschaften nahezu aussichtslos – die unterschiedlichen Erfordernisse der diversen Disziplinen widersprechen einer Minimaldefinition.36 Da im Folgenden neben natürlichen Verbalsprachen auch künstliche Idealsprachen, ideographische Notationssysteme und Formalsprachen thematisiert werden, soll der Begriff ‚Sprache‘ relativ weit im Sinne eines ‚Systems von Zeichen‘ gebraucht werden, was auch unterschiedliche Ar-
|| 35 Friedrich Schlegel: Athenäums Fragmente. In: derselbe: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 2. Hrsg. von Ernst Behler. München, Paderborn, Wien: Schöningh, 1967. S. 165–254; S. 177. 36 So leisten die meisten Lexika keine Begriffsdefinition im engeren Sinne, sondern verweisen auf den Wortgebrauch in historischen oder theoretischen Kontexten bzw. bei bestimmten Autoren oder problematisieren die Möglichkeiten einer Begriffsdefinition (vgl. z.B. Helmut Glück: Sprache. In: Metzler-Lexikon Sprache. Hrsg. von Helmut Glück. Stuttgart: Metzler, 2005. S. 611–612 oder auch Karl-Otto Apel: Sprache. In: Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Eine Selbstdarstellung der Philosophie der Gegenwart. Hrsg. von Hermann Krings, Hans Baumgartner und Christoph Wild. Berlin: Xenomos, 2003. S. 109f.). In der Routledge Encyclopedia of Philosophy fehlt bezeichnenderweise das zusatzfreie Lemma ‚language‘.
Sprache | 21
ten von Zeichen umfasst (Laute, graphische Zeichen, mathematische Symbole, Gebärden etc.). Die Untersuchung in den folgenden Kapiteln steht vor der Herausforderung, dass die Begrifflichkeit der untersuchten sprachtheoretischen Texte mit der auf der Untersuchungsebene verwendeten Begrifflichkeit interferiert (z.B. das ‚innere Merkwort‘ bei Herder oder das ‚Symbol‘ bei Kant). Diesem Umstand wird Rechnung getragen, indem die beschreibende Terminologie an der gegenwärtigen sprachwissenschaftlichen Terminologie ausgerichtet wird (z.B. Bezeichnendes, Bezeichnetes, Signifikant, Signifikat) und die historische Begrifflichkeit – soweit nötig – kurz erläutert wird. Eine besondere Stellung kommt in der Untersuchung der ‚Sprache der Mathematik‘ zu, nicht nur insofern sie zu großen Teilen in die Fachsprachen vieler anderer wissenschaftlicher Disziplinen integriert ist, sie zeichnet sich außerdem durch einen extrem hohen Anteil formaler Elemente aus. Herbert Mehrtens differenziert in seiner Untersuchung Moderne, Sprache, Mathematik daher drei Sprachbereiche der Mathematik: Grob gesagt, sind es drei Sprachen, die hier [in der Mathematik, M.I.] gesprochen werden. Im Zentrum der Arbeit, im Produkt Text, gibt es die Sprache Mathematik, ein System von Worten und Symbolen mit formal strikten Gebrauchsregeln. Dazu kommt der Mathematikerjargon, eine Mischung der Sprache Mathematik mit weniger formal regulierten Elementen und mit der Alltagssprache. Dies ist im disziplinären Diskurs die Metasprache zur Sprache Mathematik. Zum dritten bedienen sich die Mathematiker, wenn sie miteinander kommunizieren, selbstverständlich auch der natürlichen Sprache […]. Der Diskurs dreht sich um die Sprache Mathematik, wird aber keineswegs ausschließlich in ihr geführt.37
Mehrtens’ Differenzierung berücksichtigt also drei Teilaspekte mathematischen Sprachgebrauchs: Erstens die ‚Sprache Mathematik‘ – sie ist theoriegebunden, weitgehend formalisiert und fast ausschließlich eine Schriftsprache.38 Was Mehrtens als ‚formalisierte Elemente‘ bezeichnet, wird in Anlehnung an Sybille Krämer im Folgenden auch ‚operativer Symbolismus‘ der Mathematik genannt, da in Teil III zwischen ‚Formalisierung‘ und ‚Symbolisierung‘ von Wissenschaftsbereichen genauer differenziert werden soll.39 In Abgrenzung zu diesem
|| 37 Herbert Mehrtens: Moderne, Sprache, Mathematik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990. S. 410. 38 „Die Sprache Mathematik ist als symbolisches Regelgebilde zwingend; wer sich darauf einläßt, sie zu sprechen, kann sich den Diktaten der Regeln nicht entziehen.“ Herbert Mehrtens: Moderne, Sprache, Mathematik. S. 477. 39 Vgl. Sybille Krämer: Kalküle als Repräsentation. Zur Genese des operativen Symbolismus in der Neuzeit. In: Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur. Hrsg. von Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagner und Bettina Wahrig-Schmidt. Berlin: Akademie, 1997. S. 111–122; S. 111.
22 | Begriffsklärungen
Wortgebrauch soll der symbolische Sprachgebrauch in Dichtung und Literatur als ‚poetisches Symbol‘ bzw. ‚poetische Symbolisierung‘ bezeichnet werden (vgl. auch Goethes Konzept eines ‚erkenntnisstiftenden Symbols‘, Kap. V.4.2). Zweitens unterscheidet Mehrtens das ‚Sprechen der Mathematiker‘ – es ist weniger formal und weist alltagssprachliche Anteile auf, beispielsweise bei einem mündlichen Austausch oder einem Brief. „Gedacht und gesprochen verwandelt sie [die Sprache Mathematik, M.I.] sich und verliert an Formalität.“40 Schließlich kann drittens der natürliche Sprachgebrauch mit Günther Eisenreich als „fachliche Umgangssprache“41 benannt werden, also der lockere Austausch unter Mathematikern. Die Transformation von nicht-symbolisierten fachsprachlichen (seltener von gemeinsprachlichen) Elementen in den Symbolismus und/oder Formalismus von Mathematik und Logik wird häufig als ‚Übersetzung‘ bezeichnet.42 An dieser Stelle sei lediglich auf eine geringe Bedeutungsdifferenz zum umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes hingewiesen. Eine derartige ‚Übersetzung‘ weist zwar gewisse Ähnlichkeit mit Übersetzungsprozessen zwischen zwei natürlichen Verbalsprachen auf, ist aber doch von diesen insofern unterschieden, als bei ihr einerseits die ‚Zielsprache‘ ein künstlicher, kaum oder nur schwer verbalisierbarer Symbolismus ist und andererseits die Grenze von einem alphabetischen zu einem logographischen Schriftsystem überschritten wird. In ähnlicher Weise wird im Folgenden von der ‚Deutung‘ bzw. ‚Interpretation‘ formaler Kalküle die Rede sein. Hiermit ist jedoch nicht – wie der umgangssprachliche Gebrauch der beiden Ausdrücke nahelegt – der semantische Spielraum polysemantischer Zeichen gemeint, sondern die Tatsache, dass solche Kalküle bisweilen in unterschiedlichen wissenschaftlichen Bereichen Anwendung finden, dass also unterschiedliche Beschreibungen und Strukturen in einen Kalkül ‚übersetzt‘ und ‚ausgerechnet‘ werden können. Hilbert spricht von der geregelten Zuordnung einer Größe zu einem mathematischen Gebilde durch einen analytischen Apparat (vgl. Kap. II.1.2). || 40 Herbert Mehrtens: Moderne, Sprache, Mathematik. S. 433. 41 Günther Eisenreich: Die neuere Fachsprache der Mathematik seit Carl Friedrich Gauß. In: Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. HSK Bd. 14.1. Hrsg. von Lothar Hoffmann, Hartwig Kalverkämper und Herbert Wiegand. Berlin, New York: De Gruyter, 1998. S. 1222–1230; S. 1229. 42 Vgl. z.B. Brigitte Falkenburg: Das Verhältnis von formalen Sprachen und verbalen Fachsprachen in den neueren Naturwissenschaften. In: Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. HSK Bd. 14.1. Hrsg. von Lothar Hoffmann, Hartwig Kalverkämper und Herbert Wiegand. Berlin, New York: De Gruyter, 1998. S. 910–921; S. 911.
Disziplinäre Perspektive | 23
Häufig werden im Folgenden auch die Formulierungen ‚poetische Sprache‘, ‚Sprache der Poesie‘ oder ‚Sprache der Dichtung‘ verwendet. Mit diesen Ausdrücken wird nicht eine der Sprache Mathematik ähnlich regulierte Fach- oder Spezialsprache bezeichnet. Dies ist schon deswegen nicht möglich, da es, wie Lutz Danneberg feststellt, kein Darstellungsmittel [gibt], das per se literarisch oder nichtliterarisch ist. Solche Prägungen erfolgen nicht unabhängig von den epistemischen Situationen sowie den dort entwickelten und wandelbaren Vorstellungen darüber, was angemessene Darstellungsmittel zu einem bestimmten Zweck sind.43
Die genannten Formulierungen beziehen sich also stets auf historische Konzepte und Auffassungen davon, welche sprachlichen Darstellungsformen in Dichtung Verwendung finden, finden sollen oder nicht finden sollen.
3 Perspektivierungen 3.1 Disziplinäre Perspektive Die Frage nach der disziplinären Perspektivierung einer Untersuchung wird immer dann virulent, wenn ein gemeinsames Themenfeld von mehreren unterschiedlichen Disziplinen untersucht wird. Die Relationen von Wissenschaften und Dichtung sind gleichermaßen Gegenstand von wissenschaftshistorischen, erkenntnistheoretischen, soziologischen, sprachwissenschaftlichen und nicht zuletzt literaturwissenschaftlichen Untersuchungen. Nicolas Pethes stellt fest, dass es hier keinen ‚neutralen Boden‘ gibt: Konkrete Untersuchungen von Wissenspoetik finden kaum auf einem neutralen Boden zwischen Literatur und Wissenschaft statt. Sie werden immer das Ergebnis eines disziplinären Zugangs sein, und dieser ist für die vorliegende Fragestellung deutlich markiert: Das Problem der Konstellation von literature and science ist ein Problem der Literaturwissenschaft, nicht der Naturwissenschaft.44
|| 43 Lutz Danneberg und Carlos Spoerhase: ‚Wissen in Literatur‘ als Herausforderung einer Pragmatik von Wissenszuschreibungen: sechs Problemfelder, sechs Fragen und zwölf Thesen. In: Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Hrsg. von Tilmann Köppe. Berlin, New York: De Gruyter, 2011. S. 29–76; S. 48. 44 Nicolas Pethes: Poetik/Wissen. S. 357. DOI 10.1515/9783110464252-007, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
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In diesem Sinn ist auch die vorliegende Arbeit als literaturwissenschaftliche Untersuchung zu verstehen, die primär ein literaturhistorisches Erkenntnisinteresse verfolgt. Ihr Ziel ist es, durch die Rekonstruktion der Wechselverhältnisse von Wissenschaften und Dichtung in ihrer Sprachlichkeit eine neue Perspektive auf Dichtung und Poetologie des 17., 18. und teils auch des frühen 19. Jahrhunderts zu eröffnen. Auf dieses Erkenntnisinteresse hin ist folglich auch die Betrachtung der wissenschaftlichen, philosophischen und sprachtheoretischen Texte in den folgenden Kapiteln ausgerichtet. Hierbei werden die Darstellungen und Ergebnisse der oben genannten Disziplinen berücksichtigt, sie können und sollen jedoch, wie Roland Borgards und Harald Neumeyer feststellen, eine Lektüre unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten nicht ersetzen: Eine wissensgeschichtliche Lektüre läßt sich die Quellenarbeit nicht von Historikern oder Kulturwissenschaftlern abnehmen. Nur in einer philologischen Lektüre des historischen Materials ergeben sich wissensgeschichtlich brauchbare Schlüssel zur Interpretation bestimmter Textgruppen. Im interpretierenden Zugriff auf die wissenschaftlichen Texte werden Argumentationsfiguren lesbar, die dem Blick der Historiker mitunter entgehen.45
3.2 Historiographische Perspektive An dem literaturwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse muss konsequenterweise auch die historiographische Perspektivierung ausgerichtet sein. Michel Foucault kritisiert in Archäologie des Wissens einen Prototypus der Geschichtsschreibung, der historische Entwicklungen als (mono-)lineare Genese begreift. Foucault problematisiert nicht nur die diesem Typus inhärenten Kausalitätskonstruktionen, sondern vor allem eine mit ihnen verbundene Teleologie der Epochen und Jahrhunderte. Nicht selten werden mit diesen ‚großen Einheiten‘ die vielschichtigen Entwicklungen, die in Wissenschaften und Dichtung teils zeitversetzt vonstattengehen, nur unzureichend oder gar nicht erfasst. Foucault versucht diese Gefahr zu umgehen, indem er mit seinem wissensarchäologischen Gegenentwurf gezielt die historischen Umbrüche in den Blick nimmt: Nun hat sich […] in den Disziplinen, die man Ideengeschichte, Wissenschaftsgeschichte, Philosophiegeschichte, Geschichte des Denkens und auch Literaturgeschichte nennt […], in jenen Disziplinen, die trotz ihres Namens zum größten Teil der Arbeit des Historikers und seinen Methoden sich entziehen, im Gegenteil die Aufmerksamkeit von den großen
|| 45 Roland Borgards und Harald Neumeyer: Der Ort der Literatur in einer Geschichte des Wissens. Plädoyer für eine entgrenzte Philologie. In: Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Hrsg. von Walter Erhart. Stuttgart: Metzler, 2004. S. 210–222; S. 221.
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Einheiten, die man als ‚Epochen‘ oder als ‚Jahrhunderte‘ beschrieb, zu Phänomenen des Bruches verlagert.46
Bereits in Die Ordnung der Dinge entwirft Foucault ein Beschreibungsmuster, das historische Entwicklungen als Wechsel von Umbruchsphasen und Phasen relativer Kontinuität zu beschreiben erlaubt. Doch birgt auch das Konstrukt der drei großen Kontinuitätsphasen (Renaissance, Klassik, Moderne), das Foucault in Die Ordnung der Dinge entwirft, noch das Risiko, die heterogenen Entwicklungen in unterschiedlichen Diskursen zu nivellieren, da er wie bereits erwähnt davon ausgeht, dass zu einer Zeit „immer nur eine episteme [existiert], die die Bedingungen definiert, unter denen jegliches Wissen möglich ist“47. Mit der Weiterentwicklung seines Ansatzes in Archäologie des Wissens verabschiedet Foucault diese historiographische Uniformierung zugunsten einer differenzierteren Betrachtung, die, wie Ulrich Schneider festhält, diachrone und synchrone Heterogenität zulässt: Die Archäologie beschreibt […] eine Schicht von Aussagehomogenität, die ihren eigenen zeitlichen Schnitt hat […]. Und auf dieser Ebene errichtet sie eine Anordnung, Hierarchien, eine ganze Verästelung, die eine grobe, amorphe und ein für allemal global gegebene Synchronie ausschließen. In jenen so verschwommenen Einheiten, die man ‚Epochen‘ nennt, läßt sie ‚Aussageperioden‘ mit ihrer Spezifität auftauchen […].48
Durch diese Modifikation wird es möglich, die unterschiedliche Eigendynamik historischer Entwicklungen in mehreren Diskursen und sogar auf unterschiedlichen Ebenen eines einzelnen Diskurses zu beschreiben (vgl. zum letztgenannten Aspekt den folgenden Abschnitt). Für die folgende Untersuchung erweist sich dieser differenziertere Ansatz deswegen als fruchtbar, weil prägende Umbrüche in Wissenschaften und Dichtung zeitlich durchaus versetzt stattfanden und doch auch miteinander korrespondieren. Während beispielsweise die Naturwissenschaften bereits zu Beginn der Frühen Neuzeit durch eine inszenierte Abkehr vom antiken Natur- und Wissenschaftsverständnis gekennzeichnet waren, setzte eine vergleichbare Abkehr von ästhetischen Prinzipien der Antike in Dichtung und Poetik erst mit der Querelle des Anciens et des Modernes um 1700 ein. Diese ‚Phasenverschiebung‘ (vgl. Kap IV.1.6) kann nicht plausibel aus globalen Umbruchsphasen erklärt werden, sondern verlangt eine Betrachtung im Kontext der Entwicklungen des jeweiligen Diskurses. Ebenso differenziert
|| 46 Michel Foucault: Archäologie des Wissens. S. 9–11. 47 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. S. 213. 48 Ulrich J. Schneider: Michel Foucault. S. 211f.
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müssen auch Entwicklungen auf unterschiedlichen Ebenen innerhalb eines Diskurses betrachtet werden. Aus diesem Grund wird die historische Untersuchung der Umbrüche und Kontinuitäten nicht in Form großer Makroepochen dargestellt, sondern erfolgt in drei Schritten. Zunächst wird das gesamte diskursive Feld von Physik, Mathematik, Logik und Dichtung unter sprachtheoretischen und sprachphilosophischen Gesichtspunkten abgesteckt (Teil II). In einem zweiten Schritt werden die Ebenen der Axiomatisierung, Formalisierung und Symbolisierung in den Disziplinen Physik, Mathematik und Logik in den Fokus gerückt (Teil III). Auf diesen Ausführungen aufbauend werden im dritten Schritt unterschiedliche Ebenen des literarischen Diskurses untersucht und in Beziehung zu den Ergebnissen der vorhergehenden Kapitel gesetzt (Teil IV). Durch dieses Vorgehen ist es möglich, die Charakteristik von Kontinuitäten und Umbrüchen innerhalb der einzelnen Diskurse zu erfassen und gleichzeitig die literaturhistorischen Entwicklungen in ihrem Verhältnis zu anderen Diskursen als parallele, überlappende aber auch antizyklische oder abweichende Prozesse zu beschreiben. Der Komplexität im Falle der untersuchten Diskurse Physik, Mathematik, Logik und Dichtung wird durch eine systematische Perspektive Rechnung getragen, die berücksichtigt, dass zwischen mehreren Diskursen je nach untersuchter Ebene auch unterschiedliche Relationen rekonstruiert werden können.
3.3 Systematische Perspektive Bereits mehrfach wurde der Versuch unternommen, die Relationen zwischen Dichtung und Wissensdiskursen bzw. zwischen Dichtung und einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen systematisch zu erfassen. Meist steht bei diesen Ansätzen der Aspekt des Wissenstransfers im Zentrum, von dem ausgehend eine mehrgliedrige oder tabellarische Systematik entwickelt wird.49 Da hierbei
|| 49 Exemplarisch sind hier die drei Ansätze von Thomas Klinkert, Nicolas Pethes und Ralf Klausnitzer zu nennen. Klinkert unterscheidet „vier Grundtypen der Relationierung von Literatur und Wissen“: 1) Import von Wissen in die Literatur, 2) Diskurs und GegendiskursVerhältnis, 3) in und durch Literatur generiertes Wissen, 4) die Problematisierung des Wissensbegriffs in Bezug auf Literatur; vgl. Thomas Klinkert: Literatur und Wissen. Überlegungen zur theoretischen Begründbarkeit ihres Zusammenhangs. In: Literatur und Wissen. Theoretischmethodische Zugänge. Hrsg. von Tilmann Köppe. Berlin, New York: De Gruyter, 2011. S. 116– 139; S. 118–120. Pethes führt drei Aspekte eines Wissenstransfers zwischen Wissenschaften und Literatur an: 1) Rezeption von wissenschaftlichen Inhalten durch Autoren (Kausal-/Wirkrelation), 2) Strukturanalogie und Koevolution von Wissenschaften und Literatur (Gleichur-
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Sprachtheorie, Sprachkonvention und Sprachgebrauch lediglich nachgeordnete Aspekte sind, können diese Modelle für die nachfolgende Untersuchung nicht ohne weiteres übernommen werden. Die systematische Perspektivierung sollte zudem berücksichtigen, dass die genannten Aspekte der Sprachlichkeit, auch wenn sie den Hauptaspekt der folgenden Kapitel darstellen, mit Diskursfaktoren auf anderen Ebenen – etwa Fragen der Erkenntnistheorie oder der Institutionalisierung – auf das engste verknüpft sind. Und schließlich sollte eine zu entwickelnde Systematik ermöglichen, die historische Wandelbarkeit der Relationen von Wissenschaften und Dichtung zu beschreiben. Aus diesem Grund erscheint es notwendig, in der systematischen Perspektivierung zwei Dimensionen zu unterscheiden: Die erste Dimension beschreibt das ‚Wie‘ der Relation zwischen Dichtung und Wissenschaften, also die Formen ihres Verhältnisses als historische Prozesse. Die zweite Dimension berücksichtigt das ‚Was‘ der Relationen, also die unterschiedlichen Ebenen des Verhältnisses von Dichtung und Wissenschaften. Erst in der Kombination beider Dimensionen kann die Komplexität der Wechselverhältnisse von Dichtung und Wissenschaften in ihren Gemeinsamkeiten und Differenzen erfasst werden. Die erste Dimension umfasst vier Relationsformen, die auf der bereits erläuterten Grundstruktur von Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Physik, Mathematik, Philosophie und Literatur beruhen: I. Relative Persistenz von Gemeinsamkeit bzw. Ähnlichkeit: In Wissenschaften und Dichtung ist eine Ähnlichkeit oder Gemeinsamkeit zu erkennen
|| sprünglichkeit und Wechselwirkung) und 3) Transformation, Transmutationen und translatability (Adaptions- und Übernahmeprozesse); vgl. Nicolas Pethes: Poetik/Wissen. S. 352–354. Ralf Klausnitzer entwirft ein tabellarisches Schema, das zwischen ‚vermittelten‘ und ‚unmittelbaren Verhältnissen‘ und gleichzeitig zwischen formalen und inhaltlichen Aspekten differenziert; vgl. Ralf Klausnitzer: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen. Berlin, New York: De Gruyter, 2008. S. 50: 1) Thematische Gestaltung, motivische Formierung, ästhetische Modellierung spezifischer Wissensbestände in literarischen Texten
2) Wissenskulturell induzierte Entwicklungen literarischer Genres und Textverfahren (die auf Wissensproduktion und -präsentation zurückwirken können)
3) Auf- bzw. Übernahme poetischer Formen und Formelemente in Wissenschaften und anderen Wissenskulturen
4) Aufnahme und Gestaltung übergreifender Ideen und diskursiv entwickelter Problemlagen durch die Literatur und andere Wissenskulturen
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(analoges oder einendes Moment) und dieses Verhältnis erweist sich hinsichtlich eines abgrenzbaren Zeitraums als persistent. II. Prozess der Differenzierung bzw. der Separation: Hinsichtlich eines Aspekts besteht entweder zunächst eine Gemeinsamkeit bzw. Ähnlichkeit beider Bereiche, diese wird dann aber einseitig bzw. wechselseitig aufgegeben. Aus einem analogen/einenden Moment wird ein differenzierendes oder ein neues Phänomen erscheint in einem bzw. beiden Bereich(en) und führt zu einer neuen Differenz, zu einem neuen differenzierenden Moment. III. Prozess der Kohäsionierung bzw. Identifizierung: Hinsichtlich eines Aspekts besteht zunächst eine Differenz beider Bereiche, diese wird einseitig bzw. wechselseitig aufgegeben (einer der beiden Bereiche übernimmt, adaptiert oder transformiert ein Moment, das zuvor nur in dem jeweils anderen Bereich auffindbar war; beide Bereiche nähern sich einander an). Möglich ist auch, dass ein neues Phänomen in beiden Bereichen erscheint, was zu einer neuen Gemeinsamkeit oder Ähnlichkeit in einem Aspekt führt. IV. Relative Persistenz der Differenz: Zwischen beiden Bereichen besteht hinsichtlich eines Aspekts eine Differenz und dieses Verhältnis erweist sich für einen abgrenzbaren Zeitraum als relativ persistent. Mit der Berücksichtigung zeitlicher Prozessualität bzw. relativer Persistenz in der Beschreibung der vier Relationsformen ist ein Aspekt berücksichtigt, den andere Systematisierungsversuche häufig nur implizit beachten.50 Diesen zeitlichen Aspekt in der Heuristik der Formung des Verhältnisses von Wissenschaften und Literatur zu explizieren, ist notwendig, weil der Untersuchungszeitraum sowohl durch persistente Differenzen/Ähnlichkeiten, wie auch durch signifikante Prozesse der Differenzierung/Kohäsionierung geprägt ist. Die Formen I. bis IV. sind dabei zweifach als relative Bestimmung zu begreifen: Zum einen zeitlich, da ein Aspekt innerhalb einer Zeitperiode sich persistent erweist, hinsichtlich einer anderen sich jedoch in einem Prozess der Entwicklung befinden kann. Zum anderen bleibt jede Formung hinsichtlich der zweiten Dimension des Schemas auf eine Ebene bezogen. Drei solcher Ebenen werden in der zweiten Dimension unterschieden51:
|| 50 Sowohl der ‚Import von Wissen in die Literatur‘ (Klinkert), als auch die ‚Transformation‘ (Pethes) und schließlich auch die ‚wissenskulturell induzierten Entwicklungen literarischer Genres‘ (Klausnitzer) setzen eine zeitliche Reihung voraus. Andererseits werden mit dem ‚Diskurs und Gegendiskurs-Verhältnis‘ (Klinkert) sowie der ‚Strukturanalogie‘ (Pethes) Momente relativer Persistenz benannt. 51 Auch in dieser Dimension des Schemas finden die von Klinkert, Pethes und Klausnitzer genannte Aspekte eine Berücksichtigung: poetische Formen und Formelemente, Genres und
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A. Ebene der Darstellungsformen: Diese umfasst sprachliche Mittel, Textverfahren, Schreibweisen, Formalismen, Symbole und Metaphern etc. Beispiele dieser Ebene sind die narrative Darstellung von Geschehnissen, der operative Symbolismus der Mathematik oder der metaphorisch bzw. allegorische Sprachgebrauch. B. Ebene der Gehalte: Mit dieser Ebene sollen beispielsweise wissenschaftliche Inhalte, mathematische Gegenstände, der fiktionale Status aber auch der ontologische Status von Gegenständen und Gehalten bezeichnet werden. C. Ebene der Formationen: Unter ‚Formationen‘ sollen Diskurs- und Formationsregeln, diskursive Praktiken, Strukturen und Kodes zusammengefasst werden. Man könnte mit Foucault von all jenen Aspekten sprechen, die „unterhalb dessen, was manifest ist“52, zu finden sind – also nicht konkrete Darstellungsformen oder Inhalte, sondern vielmehr abstrakt-theoretische Bedingungen und Faktoren, unter denen diese gebildet werden und Anwendung finden. Auf dieser Ebene werden beispielsweise historische Grenzziehungen zwischen Wissenschaften und Dichtung in Poetiken oder erkenntnistheoretischen Texten verortet. Darüber hinaus können auch Wertungen und Bewertungen – etwa des diskursiven Gefüges – auf dieser Ebene angesiedelt werden. In der Kombination von Relationsformen (I. bis IV.) mit den Ebenen (A. bis C.) kann nun für einen Zeitraum präzise beschrieben werden, hinsichtlich welcher Aspekte welche Relation rekonstruierbar ist. Beispielsweise wird in vielen Poetiken der Aufklärung eine relativ persistente Gemeinsamkeit von Wissenschaft und Dichtung, nämlich die rhetorisch-sprachtheoretische Trennung von res und verba, erkennbar (Kombination I.C.), während in demselben Zeitraum eine kategorische Differenz zwischen wissenschaftlich-logischer und poetisch-sinnlicher Erkenntnis entwickelt wird (Kombination II.C.) Es handelt sich folglich stets um eine dreistellige Relation: Relationsform – Gegenstandsebene – untersuchter Aspekt.
|| Textverfahren (Klausnitzer) unter A.; Erkenntnisse oder Wissensgehalte (Pethes) oder die ‚Gestaltung übergeifender Ideen‘ (Klausnitzer) unter B.; die diskursive Relation in ‚Diskurs – Gegendiskurs‘ (Klinkert) unter C. 52 Michel Foucault: Archäologie des Wissens. S. 43.
| Teil II: Sprachphilosophische Positionen des 17. und 18. Jahrhunderts
Hinführung Betrachten wir die natürliche Sprache als ein auf See befindliches Schiff, so können wir unsere Situation auch folgendermaßen darstellen: Wenn es kein erreichbares Festland gibt, muß das Schiff schon auf hoher See gebaut sein; nicht von uns, aber von unseren Vorfahren. Diese konnten also schwimmen und haben sich – irgendwie aus etwa herumtreibendem Holz – wohl zunächst ein Floß gezimmert, dieses dann immer weiter verbessert, bis es heute ein so komfortables Schiff geworden ist, daß wir gar nicht mehr den Mut haben, ins Wasser zu springen und noch einmal von vorn anzufangen.1 Paul Lorenzen: Methodisches Denken
Das Vermögen zu sprechen gilt nicht nur als anthropologisches Charakteristikum, es scheint auch Einvernehmen darüber zu herrschen, dass „das Vermögen zu sprechen in der Tat unhintergehbar ist, also ein formales Apriori für Weltverstehen genannt werden könnte“2. Texte wie Platons Gorgias, Sophistes und Kratylos oder Aristoteles’ Organon lassen erkennen, dass bereits in der Antike Sprache, ihre Funktionen und unterschiedlichen Formen reflektiert wurden. So selbstverständlich Sprache auf den ersten Blick wirkt, zeigte und zeigt sie sich dennoch als ein Faszinosum und Rätsel, wenn etwa Fragen nach ihrem Ursprung, ihrem Wesen, ihren unterschiedlichen Formen und Funktionen gestellt werden. Die Beobachtung, dass der Gebrauch der Sprache in Philosophie, Wissenschaften und Dichtung sich darüber hinaus teilweise sehr unterschiedlich gestaltet, warf ebenfalls früh weitere sprachtheoretische Fragen auf und befeuerte so die Reflexion. Dabei wurde und wird bis heute Sprache nie als isoliertes Phänomen begriffen, ist sie doch aufgrund ihres universellen Charakters mit einer Vielzahl weiterer Themenbereiche verbunden. Die Frage nach der Funktion sprachlicher Zeichen führt unweigerlich zu der Frage nach der Verbindung von Sprache und Denken und damit auf erkenntnistheoretisches Gebiet. Die Frage nach poetischen Sprachformen lenkt wiederum den Blick schnell auf allgemeinere, ästhetische Fragestellungen. Und nicht zuletzt berührt die Frage nach dem Sprachursprung Kernbereiche von Evolutionsbiologie, Anthropologie, Theologie und Philosophie. Wenn im Folgenden die Frage nach der Rolle von Sprache in den diskursiven Formationen von Mathematik, Physik, Philosophie und Dichtung im 17. und 18. Jahrhundert gestellt wird, so werden auch hier solche thematischen Vernetzungen von Bedeutung sein. Die Verknüpfung mit z.B. erkenntnistheoretischen || 1 Paul Lorenzen: Methodisches Denken. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1969. S. 28f. 2 Kuno Lorenz und Jürgen Mittelstraß: Die Hintergehbarkeit der Sprache. In: Kant-Studien 58.2 (1967). S. 187–208; S. 204. DOI 10.1515/9783110464252-008, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
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oder anthropologischen Fragestellungen halten in Erinnerung, dass diskursive Relationen nicht auf sprachliche Aspekte zu reduzieren sind. Sie rücken die Sprachthematik in einen weiteren Horizont diskursiver Merkmale, die für die Bestimmung des Verhältnisses von Wissenschaften und Dichtung relevant sind. Zunächst soll der Blick auf sprachtheoretische Aspekte in René Descartes’ und John Lockes Texten gerichtet werden, die für das 17. und 18. Jahrhundert Referenzpunkte der Sprachtheorie sind. Viele der rationalistischen Positionen knüpfen an Descartes’ Überlegungen zur Sprache an. Umgekehrt greifen empiristische und sensualistische Sprachtheoretiker – wie z.B. Condillac – Lockes Erkenntnistheorie auf, um sie sprachphilosophisch weiterzuentwickeln. Im genannten Untersuchungszeitraum ist außerdem eine dritte Gruppe sprachtheoretischer Positionen zu beobachten, die weder der rationalistischen noch der empiristisch-sensualistischen Gruppe zugerechnet werden kann. Da diese Positionen die Grundannahmen der beiden anderen Gruppen hinterfragen bzw. negieren, sollen sie im Folgenden trotz ihrer Heterogenität als eine Gruppe von Sprachkonzeptionen zusammengefasst werden, die jenseits von Rationalismus und Empirismus entwickelt wurden.
1 Zwei Referenzpunkte der Sprachphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts 1.1 René Descartes (1596–1650) Die explizite Thematisierung von Sprache nimmt in René Descartes’ Schriften keine exponierte Stellung ein und steht im Zeichen eines durch die Scholastik geprägten Aristotelismus. Im engeren Sinn kann daher nicht von einer ‚cartesianischen Sprachphilosophie‘ gesprochen werden. Dennoch impliziert Descartes’ rationalistische Erkenntnistheorie in ihren zentralen Punkten sprachphilosophisch relevante Aspekte; hier sei besonders auf den fünften Teil des Discours de la méthode (1640) hingewiesen, in dem Descartes Sprache (bzw. die Verwendung bedeutungstragender Zeichen) als das Merkmal des Menschen schlechthin herausstellt. Sein für die europäische Philosophie einflussreicher Dualismus von res extensa und res cogitans beruht auf der Annahme, dass die erkennende Seele strikt vom physisch-körperlichen Teil des Menschen getrennt ist. In den Meditationes de prima philosophia (1641) hinterfragt Descartes systematisch alle vermeintlichen Gewissheiten menschlicher Erkenntnis. Nachdem sich hierbei selbst die Annahme der Existenz eines materiellen Körpers als unsicher erweist,
DOI 10.1515/9783110464252-009, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
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folgert Descartes, dass allein eine immaterielle Existenz des erkennenden Ichs (cogito) unbezweifelbar sein kann.3 Sprachlaute ordnet Descartes aufgrund ihrer notwendigen Verknüpfung mit den sie hervorbringenden Organen der res extensa zu. Diese Zuordnung begründet er mit Verweis auf das Tierreich, wo ganz unterschiedliche Laute erzeugt werden. Aber selbst Tiere, die wie etwa Papageien vermögen menschliche Sprachlaute nachzuahmen, könnten, so Descartes, nicht auf Fragen antworten oder selbständig Zeichen ‚erfinden‘. Hieraus folgert er, dass Tiere nicht nur wenig, sondern gar keine Vernunft besäßen. Menschen wiederum, deren Sprechorgane nicht funktionsfähig seien, vermögen dagegen alternative Zeichen zu entwickeln.4 Sprachlaute gleich welcher Art bedürften daher unabdingbar der Vernunft und damit der res cogitans, um zu sinnvoller sprachlicher Rede gefügt zu werden. Beide Fähigkeiten – die sinnvolle Beantwortung von Fragen und die ‚Erfindung‘ neuer Zeichen – besäße kein Tier, jedoch selbst der einfältigste Mensch. Insofern ist Sprache für Descartes hauptsächlich ein materieller Beweis für die immaterielle Vernunft des Menschen, eine konstitutive Funktion für das menschliche Denken und Erkennen kommt ihr in seiner Philosophie nicht zu. Er nimmt vielmehr an, dass das menschliche Denken mit dem Bedeuteten operieren würde, nicht mit den Wörtern selbst, die durch Konvention festgelegt würden und daher einzelsprachlich verschieden sein könnten, ohne die Universalität des Denkens aller Menschen in Frage zu stellen.5
Dem Dualismus von res extensa und res cogitans korrespondiert der bereits in der antiken Rhetorik angelegte Dualismus von res und verba. Worte sind die materielle Repräsentation immaterieller, mentaler Gehalte. Sprache ist folglich ein der Vernunft unterstelltes, nachgeordnetes und strikt von ihr getrenntes Instrument. Besonders dieser Aspekt sollte sich als wegweisend für eine ganze Reihe von sprachtheoretischen Positionen erweisen:
|| 3 „Ich bin ein wahres und wahrhaft existierendes Ding; welcher Art Ding aber? Ich sagte es bereits, ein denkendes. Was weiter? Ich werde mir vorstellen: Ich bin nicht das Gefüge jener Körperteile, das menschlicher Körper genannt wird“, René Descartes: Meditationes de prima philosophia [1641]. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Übers. und hrsg. von Christian Wohlers. Hamburg: Meiner, 2008. S. 53. 4 René Descartes: Entwurf der Methode. Mit der Dioptrik, den Meteoren und der Geometrie. [Discours de la méthode, 1637]. Übers. und hrsg. von Christian Wohlers. Hamburg: Meiner, 2013. S. 50. 5 Gerda Haßler und Cordula Neis: Lexikon sprachtheoretischer Grundbegriffe des 17. und 18. Jahrhunderts. Bd. 1. Berlin, New York: De Gruyter, 2009. S. 21.
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Die Einbeziehung der Sprache in die philosophischen Systeme solcher Denker wie Descartes, Arnauld, Malebranche, Leibniz und Spinoza beruht vor allem auf der Annahme einer Analogie der Beziehung von Sprache und Denken zum Verhältnis von Körper und Geist. [...] Während Wörter eine unterschiedliche, willkürliche Lautgestalt haben, sind die Begriffe weder griechisch noch lateinisch, sondern universell und von sinnlichen Gegebenheiten.6
Die von Antoine Arnauld (1612–1694) und Claude Lancelot (1615–1695) publizierte Grammatik (Grammaire générale et raisonnée contenant les fondements de l’art de parler, expliqués d'une manière claire et naturelle, 1660, auch Grammatik von Port Royal genannt) führt die cartesianische Position fort. Auch wenn sie die Grammatik an vorhandenen natürlichen Sprachen (u.a. Latein, Griechisch) erläutert, liegt der gesamten Unternehmung doch die Annahme einer vor- bzw. außersprachlichen Grundstruktur in Form logischer Prinzipien zugrunde. Sprachen erscheinen in der Grammaire als „hybrides Produkt“7 von ahistorischen, universellen Prinzipien und konventionsgebundenen Regeln. Wie bei Descartes wird Sprache als sekundäres, dem Denken nachgeordnetes Instrument beschrieben.
1.2 John Locke (1632–1704) Die sprachphilosophischen Implikationen der cartesianischen Philosophie lehnt John Locke radikal ab. Sein Essay Concerning Human Understanding erscheint als Kurzfassung 1688 auf Französisch und in erster englischer Auflage 1690.8 Gleich zu Beginn des ersten Buches greift Locke die antike Metapher der tabula rasa, der unbeschriebenen Wachstafel, auf.9 Wie der Wachstafel werden auch der menschlichen Seele erst nach der Geburt die Erkenntnisse eingeschrieben. Die zum Teil polemische Ablehnung der cartesianischen Annahme angeborener Ideen begründet er ex negativo: Wenn dem menschlichen Geist Ideen von Geburt an eingeschrieben wären, müsste der Geist auch eine Kenntnis oder Wahrnehmung von diesen Ideen haben. Da Kinder jedoch keine Kenntnis von den angeborenen Ideen erkennen ließen, könnten sie in ihrem Geist auch nicht vorhanden sein. Nähme man latente, also unbewusste Ideen || 6 Gerda Haßler und Cordula Neis: Lexikon sprachtheoretischer Grundbegriffe. Bd. 1. S. 18. 7 Eugenio Coseriu: Geschichte der Sprachphilosophie. Von den Anfängen bis Rousseau. Tübingen: Francke, 2003. S. 334. 8 Weitere veränderte Auflagen erschienen 1694 und postum 1706. 9 „Nehmen wir also an, der Geist sei, wie man sagt, ein unbeschriebenes Blatt, ohne alle Schriftzeichen, frei von allen Ideen […].“ John Locke: Über den menschlichen Verstand. [An Essay Concerning Human Understanding, 1690]. Bd. 1. Berlin: Akademie, 1962. S. 107.
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an, so könnten gleich alle Erkenntnisse und Fähigkeiten als angeboren angenommen werden, da dann kein Kriterium mehr existiere, angeborene von erworbenen Erkenntnissen zu trennen: „Denn wenn es keine von Natur eingeprägten Begriffe sind, wie können sie dann angeboren sein? Sind es aber eingeprägte Begriffe, wie können sie dann unbekannt sein?“10 Locke schließt aus dieser Überlegung, dass jegliche Erkenntnis über den Weg der Sinne erworben werden müsse. Zwei Quellen bilden für ihn die Grundlage jeglicher Erkenntnis, die Erfahrungen der äußeren Sinne (sensations) und der inneren Sinne (reflections). Die Wahrnehmungen dieser beiden Sinne werden dem Verstand unmittelbar und direkt zugeführt, so dass dieser bewusste Ideen von den Gegenständen, Sachverhalten und Operationen bildet. Dabei gehen die äußeren den inneren Wahrnehmungen zeitlich voraus; gegenüber ihnen verhält sich der Verstand „rein passiv“11. Ferner differenziert Locke die Menge der Ideen in einfache und komplexe. Die einfachen Ideen sind elementare, unmittelbar evidente Wahrnehmungen wie Festigkeit, Farbe, Bewegung usw. Komplexe Ideen werden aktiv durch den Verstand aus den einfachen Ideen gebildet und zwar durch drei Verfahren: durch Kombination mehrerer einfacher Ideen, durch simultane, relationale Wahrnehmung bzw. Erinnerung und schließlich durch die Abstraktion einer allgemeinen Idee aus dem Kontext verschiedener anderer Ideen.12 Diese drei Operationen sind anders als die einfachen Ideen nur bedingt durch die äußere Wirklichkeit determiniert, was relevant für ihre sprachliche Repräsentation ist. Die komplexen Ideen teilt Locke wiederum in drei Klassen: erstens die Modi (komplexe Ideen, die von einer Substanz abhängen und entweder einfach oder gemischt sein können), zweitens die Substanzen (die „Darstellung bestimmter, selbständig bestehender Einzeldinge“13) und drittens die Relationen zwischen verschiedenen Ideen. Eine Idee, unabhängig davon, ob es sich dabei um eine einfache oder komplexe handelt, bezeichnet er als klar, „wenn der Geist von ihr eine so vollständige und augenscheinliche Wahrnehmung hat, wie sie zu entstehen pflegt, wenn ein äußerer Gegenstand in richtiger Weise auf ein wohlbeschaffenes Organ einwirkt“14. Dunkel ist eine Idee, wenn das Organ bzw. der Sinn getrübt ist. Dunkle Ideen erscheinen somit im Vergleich zu klaren Ideen als defizitär. Des
|| 10 John Locke: Über den menschlichen Verstand. Bd. 1. S. 31. 11 John Locke: Über den menschlichen Verstand. Bd. 1. S. 126. 12 Vgl. John Locke: Über den menschlichen Verstand. Bd. 1. S. 186. 13 John Locke: Über den menschlichen Verstand. Bd. 1. S. 188. 14 John Locke: Über den menschlichen Verstand. Bd. 1. S. 457.
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Weiteren gliedern sich Ideen in deutliche und verworrene. Das für diese Differenzierung ausschlaggebende Kriterium, das Locke – wie später auch Leibniz – allerdings nicht abstrakt, sondern lediglich anhand der sprachlichen Bezeichnungen (also den ‚Namen‘) erläutert, ist die hinreichende Unterscheidbarkeit von anderen Ideen. Die Trennung von klar-deutlichen und klar-verworrenen Ideen sollte über Leibniz, Wolff und Baumgarten ihren Weg bis in die Ästhetik der Aufklärung finden (vgl. Kap. II.2.3 und II.2.4). Dichtung wird hier als sensitive Erkenntnis eben jener klar-verworrenen Ideen konzipiert. Eine Idee ist deutlich, so wiederum Locke, wenn man sie hinreichend von jeder anderen Idee differenzieren kann. Dass eine Idee verworren ist, zeigt sich wiederum am offensichtlichsten an der fehlerhaften Bezeichnung von Gegenständen und Sachverhalten. Die Verworrenheit bzw. Ununterscheidbarkeit resultiert aus einem Mangel an distinkten Merkmalen. ‚Verworren‘ und ‚deutlich‘ sind Ideen also stets in Relation zu anderen Ideen. Locke führt drei weitere Differenzierungen der Ideen ein, die deutlich machen, dass für ihn nicht jede Idee und damit nicht jede Erkenntnis unmittelbar aus der sinnlichen Erfahrung gewonnen wird: Erstens die Differenzierung real vs. phantastisch: Reale Ideen weisen eine Übereinstimmung mit den Gegenständen der Wirklichkeit auf, Locke beschreibt diese Übereinstimmung auch als Urbild-Abbild-Verhältnis.15 Alle einfachen Ideen seien real, da sie unmittelbar und passiv im Verstand gebildet würden. Bei komplexen Ideen ist es nur hinsichtlich einer der drei Teilklassen, nämlich den Substanzen, sinnvoll, reale von phantastischen zu trennen, denn nur Substanzen „sind sämtlich in bezug auf die außer uns existierenden Dinge gebildet“16. Phantastisch sind solche Substanzen, die in der Wirklichkeit nach aller Beobachtung unvereinbare Ideen kombinieren. Die zwei anderen Teilklassen (gemischte Modi und Relationen) werden willkürlich vom Verstand gebildet und haben – das ist nun eine sehr bedeutende Annahme Lockes – gar keine Entsprechung in der Wirklichkeit. Modi und Relationen repräsentieren keine wirklichen Sachverhalte, sondern sind selbst Urbilder. Zweitens die Differenzierung adäquat vs. inadäquat: Adäquat sind nach Locke alle Ideen, die die Urbilder, die sie repräsentieren, vollständig darstellen. Bei einfachen Ideen ist dies folglich immer der Fall. Nachdem Modi selber Urbilder ohne Repräsentationsrelation sind, sind auch sie stets adäquat. Substanzen als Kombination von einfachen Ideen, die in der Erfahrung häufig zusammen wahrgenommen werden können, sind daher keinesfalls adäquat, denn es sei ein Fehler, eine Substanz in den wirklichen Dingen anzunehmen, die dann || 15 Vgl. John Locke: Über den menschlichen Verstand. Bd. 1. S. 468. 16 John Locke: Über den menschlichen Verstand. Bd. 2. S. 30.
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Träger aller anderen Eigenschaften wäre, da sie nicht als konkrete einfache Idee wahrnehmbar sei. Drittens die Differenz wahr vs. falsch: Locke stellt zunächst fest, dass die Prädikate ‚wahr‘ und ‚falsch‘ genau genommen nur Aussagen zugesprochen werden können. Wenn Ideen ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ genannt würden, so seien meistens in ihnen verschwiegene Aussagen gemeint, nicht die Idee an sich. Als eine solche Aussage fasst Locke auch die Repräsentationsrelation von Ideen auf Gegenstände der Wirklichkeit auf. Der Geist fällt also das Urteil, dass ein mit der Idee real übereinstimmender Gegenstand oder Sachverhalt tatsächlich existiere. In diesem Sinne ist die Idee ‚Mensch‘ wahr, die Idee ‚Zentaur‘ falsch. Falsch können komplexe Ideen, speziell Ideen von Substanzen, aber auch dann sein, wenn von den in ihnen enthaltenen Ideen auf die vollständige Wesenheit der Gegenstände geschlossen wird. Auch wenn Locke die Repräsentationsrelation zwischen Idee und Gegenständen als Aussage bzw. Urteil bezeichnet, ist Wahrheit in seiner Erkenntnistheorie vorsprachlich und sprachunabhängig konzipiert. Genau betrachtet ist die Annahme der Übereinstimmung einer Idee mit der Wirklichkeit zwar ein Urteil, das als sprachliche Aussage formuliert werden kann, ein primäres Kriterium ist die Formulierbarkeit jedoch nicht. Deutlich zeige sich dies bei Kindern im Alter vor dem Spracherwerb, die mit Ideen als Repräsentation von Gegenständen operieren, ohne jedoch diese mentalen Vorgänge verbalisieren zu können. Mit der Eingrenzung der Wahrheitsfähigkeit auf Aussagen und Urteile spricht Locke implizit solchen Texten die Wahrheitsfähigkeit ab, die wie fiktionale und poetische Texte keine Ideen repräsentieren, die wiederum real Existierendes repräsentieren, und/oder keine Ideen repräsentieren, die klar und deutlich sind. Festzuhalten ist, dass Locke lediglich bei einfachen Ideen und Substanzen eine direkte Repräsentation von Gegenständen und Sachverhalten der Wirklichkeit für möglich und sinnvoll hält. Anders als in Leibniz’ Replik auf den Essay concerning Human Understanding sind die Ideen kein Spiegel der Realität, oder nur in sehr eingeschränktem Maße, da die gemischten Modi und Relationen auf sich selber bezogen sind und keine Wirklichkeit repräsentieren. Sie stellen jeweils ein mögliches, d.h. arbiträres Arrangement von einfachen Ideen dar, das sich mit pragmatischen Bedürfnissen der Sprachgemeinschaft erklären lässt. Daraus folgt ein im Verhältnis zu rationalistischen Entwürfen eingeschränktes Konzept von Erkenntnis. Begriffliche Erkenntnis ist nicht unmittelbar Wirklichkeitserkenntnis, sondern, so Locke:
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Die Erkenntnis scheint mir nichts anderes zu sein, als die Wahrnehmung des Zusammenhangs und der Übereinstimmung oder der Nichtübereinstimmung und des Widerstreits zwischen irgendwelchen von unseren Ideen. Allein darin besteht die Erkenntnis.17
Erkenntnis geschieht also vermeintlich allein im ‚Reich der Ideen‘ – entweder intuitiv-unmittelbar (zwei Ideen erscheinen direkt als übereinstimmend) oder demonstrativ-beweisend (zwei Ideen werden mittels vermittelnder Ideen als übereinstimmend erwiesen). Neben intuitiver und demonstrativer Erkenntnis führt er eine dritte Art, die sensitive Erkenntnis, ein, die letztlich die Relation von Ideen und Wirklichkeit darstellt. Dass Ideen existieren, ist dem Verstand unmöglich zu leugnen. Diese Feststellung allein ist jedoch nicht notwendig und hinreichend für die Schlussfolgerung, dass die Gegenstände, die die Ideen hervorrufen, auch tatsächlich existieren. Die Existenz endlicher Wesen außer uns kann nicht mit derselben Evidenz erkannt werden wie die Existenz unserer Ideen. Dennoch ist Locke aus einem einfachen Grund kein Solipsist: Bei Träumen oder Erinnerung seien Ideen im Verstand präsent, von denen man annehme, dass sie nicht direkt externe Entitäten repräsentierten. Diese Ideen ließen sich von Ideen unterscheiden, die durch eine Wahrnehmung realer Gegenstände hervorgerufen werde (es ist ein „sehr großer Unterschied […], ob man träumt, man befinde sich im Feuer, oder ob man tatsächlich darin ist“18). Mit anderen Worten: Es ist aufgrund der Einwirkungen auf unsere Sinne nur plausibel, von der Existenz äußerer Entitäten auszugehen – „darüber hinaus aber kann uns Wissen und Existenz gleichgültig sein“19. Diese Überlegungen sind von besonderer Relevanz für Lockes Sprachkonzeption: Bei näherem Einblick finde ich aber, daß zwischen den Ideen und den Wörtern ein so enger Zusammenhang besteht und daß unsere abstrakten Ideen und unsere allgemeinen Namen sich so beständig aufeinander beziehen, daß ich unmöglich klar und deutlich von unserer Kenntnis reden kann, die ausschließlich aus Aussagen besteht, ohne zuvor Beschaffenheit, Verwendung und Bedeutung der Sprache zu untersuchen.20
Sprachliche Zeichen sind nach Locke Repräsentationen ‚innerer Vorstellungen‘, also die Repräsentationen von Ideen, und sie entspringen einer göttlichen Bestimmung, nach der „das hauptsächliche Werkzeug und das gemeinsame Band der Gesellschaft werden sollte“21. Historisch habe sich eine zunehmende Abs|| 17 John Locke: Über den menschlichen Verstand. Bd. 1. S. 167. 18 John Locke: Über den menschlichen Verstand. Bd. 1. S. 184. 19 John Locke: Über den menschlichen Verstand. Bd. 1. S. 184. 20 John Locke: Über den menschlichen Verstand. Bd. 1. S. 507. 21 John Locke: Über den menschlichen Verstand. Bd. 1. S. 1.
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trahierung der Bezeichnungen vollzogen: Zunächst wären Namen für sinnliche, einfache Ideen, später auch für allgemeine Ausdrücke, unter die mehrere Ideen fallen, entstanden (eine These, der Leibniz vehement widersprechen sollte). Lockes Sprachkonzept lässt als ein semiotisches Dreieck von Gegenstand, Idee und Sprachzeichen begreifen, wobei er jedoch – anders als Rationalisten – auf der strikten Trennung von Ideen und realen Gegenständen beharren muss. Da nur ein Teil der Ideen direkt die Wirklichkeit repräsentiert, liegt im Bereich der Ideen eine der größten Fehlerquellen der Kommunikation und damit der fehlerhaften Erkenntnis verborgen. Einerseits könne, so Locke, aufgrund gemeinsamer Bezeichnungen die irrige Annahme aufkommen, die eigenen komplexen Ideen fänden sich auch im Geist der anderen wieder, andererseits sei die Gefahr groß, fälschlich aus der Referenz der Wörter auf die Realität der Dinge und den natürlichen Zusammenhang zwischen verschiedenen Ideen zu folgern. Insofern erhält die Sprache bei Locke eine viel größere Bedeutung für die menschliche Erkenntnis als etwa in Leibniz’ oder Wolffs Erkenntnistheorie, denn die komplexen Ideen sind bereits im Individuum durch die existierenden Namen und Ausdrücke im Spracherwerb angelegt.22 Die kommunikative Funktion wird also nicht nur als reine Mitteilung mentaler Gehalte, sondern auch im soziologischpragmatischen Kontext bestimmt, insofern die komplexen Ideen auch nach den pragmatischen Bedürfnissen einer Sprachgemeinschaft entwickelt werden. Locke folgert aus diesen Feststellungen, dass in sprachlichen Bezeichnungen folglich das nominale, individuelle Wesen (nominal essence), d.h. die Bedeutung, von der wirklichen Beschaffenheit von Gegenständen und Sachverhalten (real essence) abweichen könne. Auch hier stellten einfache Ideen die einzig verlässliche Ausnahme dar, da bei ihnen stets nominal essence und real essence evident zusammenfielen. Substanzen hätten, da sie nicht unmittelbar Wirklichkeit repräsentierten, keine real essence. Die Differenz beträfe folglich die Bezeichnungen gemischter Modi und Relationen. Locke betrachtet es als eine zentrale Aufgabe der Philosophie und der Wissenschaften, die real essences freizulegen. Dies könne durch eine Analyse der kombinierten Ideen geschehen, „die der Geist schon vorher besaß“23 und die als solche wieder sprachlich benannt werden könnten. Ein recht einfaches Konzept, das Siegfried J. Schmidt als ein Modell charakterisiert, „das zugleich unhistorisch, a-hermeneutisch, undialektisch und dogmatisch gehandhabt wird und von dem naturwissenschaftlichen Pathos mechanisch-abbildhafter Erkennensarbeit des menschlichen Geis-
|| 22 Vgl. Gerda Haßler und Cordula Neis: Lexikon sprachtheoretischer Grundbegriffe. Bd. 1. S. 21. 23 John Locke: Über den menschlichen Verstand. Bd. 1. S. 36.
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tes lebt“24. Wie pessimistisch Locke die Möglichkeiten von Sprache aufgrund ihrer Einschränkungen einschätzt, wird an folgender Stelle des Essay deutlich: Unmöglich können die Menschen je ernsthaft nach der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Ideen selbst suchen und sie mit Gewißheit feststellen, solange ihre Gedanken […] sich lediglich an Laute von zweifelhafter und unsicherer Bedeutung heften. Die Mathematiker haben sich daran gewöhnt, ihr Denken von den Namen frei zu machen. Sie stellen sich die Ideen […] selbst vor ihren Geist, nicht aber Laute statt der Ideen.25
Leibniz wird in seiner Locke-Replik darauf insistieren, dass es gerade in der Mathematik eine Vielzahl von Gegenständen gäbe, die der menschliche Geist sich nicht als klar-deutliche Ideen, sondern nur symbolisch vorstellen könne (z.B. ein Tausendeck). Aber auch unabhängig von Leibniz’ Kritik erscheint Lockes Verweis auf die mentalen Operationen der Mathematik an der zitierten Stelle bedenklich, denn gerade der operative Symbolismus der Mathematik ermöglichte überhaupt erst eine Reihe neuzeitlicher Erkenntnisse, die ohne eine symbolisierte Darstellung vermutlich nicht oder verspätet gewonnen worden wären (vgl. Kap. III.2). Verbunden mit der Vorstellung eines sprachbereinigten Denkens erhält auch bei Locke die Sprache den Charakter eines Instruments bzw. eines Werkzeuges, dessen primärer Zweck die gesellschaftliche Kommunikation ist. Ihre Rolle für die menschliche Erkenntnis ist zentral, aber nicht konstitutiv. Stets schwingt Vorsicht und Misstrauen gegenüber ihren potenziellen Fehlerquellen in Lockes Ausführungen mit. Da er mit den gemischten Modi und den Relationen eine Klasse von Ideen konzipiert, die mehr oder minder frei vom Verstand gestaltet werden und Wirklichkeit repräsentieren, erhalten diese sprachlichen Fehlleistungen ein größeres Gewicht als in rationalistischen Sprachkonzeptionen. Nachdem gemischte Modi und Relationen nur als Ideen existieren, und zwar als die Ideen eines Individuums, kann jegliches Wissen über sie nur sprachlich gewonnen und ausgetauscht werden. So wie das erkennende Subjekt durch sprachliche Bezeichnungen bei der Bildung komplexer Ideen fehlgeleitet werden kann, kann auch der intersubjektive Austausch über diese fehlschlagen. Obwohl Locke Erkenntnis beinahe ausschließlich als Operation mit Ideen charakterisiert, erscheint in seiner Argumentation die Wirklichkeit als ontologische Größe. Dies ist, wie Eugen Coseriu anmerkt, nicht unproblematisch:
|| 24 Siegfried J. Schmidt: Sprache und Denken als sprachphilosophisches Problem von Locke bis Wittgenstein. Den Haag: Nijhoff, 1968. S. 14. 25 John Locke: Über den menschlichen Verstand. Bd. 2. S. 215.
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Die sprachliche Gestaltung der Welt bedingt also die Gestaltung der ‚Welt an sich‘. Dieser Gedanke wird später in vielfältiger Form wieder auftauchen; häufig, wie bei Locke, in Form eines Zirkelschlusses: Wer zeigen will, daß die Sprache die ‚hinter ihr‘ befindliche Welt verstellt, sollte sich dabei nicht auf sprachliche Beispiele berufen.26
Dieser Zirkelschluss ist jedoch keine Nachlässigkeit, sondern entspringt Lockes Wahrheitsbegriff. Ideen sind nicht wahrheitsfähig, Locke erläutert dies im dritten Buch des Essay: Wahrheit im eigentlichen Sinne des Wortes scheint mir nun nichts anderes zu bedeuten als die Verbindung oder Trennung von Zeichen, je nachdem die durch sie bezeichneten Dinge miteinander übereinstimmen oder nicht. Unter Verbindung oder Trennung von Zeichen verstehe ich hier das, was man mit einem andern Namen Satz nennt. Demnach kommt die Wahrheit eigentlich nur Sätzen zu.27
Es erscheint widersprüchlich, dass Locke einerseits ‚Erkenntnis‘ als Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung von Ideen und damit als vorsprachliches Phänomen beschreibt und andererseits ‚Wahrheit‘ als Verbindung und Trennung von Zeichen. Er ist bemüht, diesen Widerspruch aufzulösen: Von diesen [Sätzen, M.I.] gibt es zwei Arten: gedachte und ausgesprochene; ebenso gibt es im gewöhnlichen Gebrauch auch zwei Arten von Zeichen: Ideen und Wörter. [...] Denn ein gedachter Satz ist nichts anderes als eine bloße Betrachtung von Ideen, so wie sie von den Namen losgelöst in unserem Geist existieren. Er büßt aber sofort die Eigenart als bloß gedachter Satz ein, sobald er in Worte gekleidet wird.28
Die Bestimmung von Wahrheit als syntagmatische Kombination von Zeichen ermöglicht eine Aufspaltung in eine verbale Wahrheit (Wörter repräsentieren Ideen) und eine mentale Erkenntnis (Ideen repräsentieren Gegenstände der Realität). Nur wenn beide Repräsentationsverbindungen gesichert sind, spricht Locke von einer ‚realen Wahrheit‘. Indem die Repräsentation der Wirklichkeit durch Ideen drastisch eingeschränkt wird, schrumpft der Bestand an ‚real wahren Aussagen‘ immens. Dies ist der Preis, den Locke dafür zahlt, dass eine vermittelte Referenz von sprachlichen Zeichen über Ideen auf reale Gegenstände und Sachverhalte hergestellt wird. Locke nimmt also eine Binnendifferenzierung der Dualität von res und verba vor. Umfassten nach traditionell rhetorischem Verständnis die res noch Gegenstände und mentale Gehalte gleichermaßen, trennt er die res in Gegenstände und Ideen. || 26 Eugenio Coseriu: Geschichte der Sprachphilosophie. S. 208. 27 John Locke: Über den menschlichen Verstand. Bd. 2. S. 233. 28 John Locke: Über den menschlichen Verstand. Bd. 2. S. 233.
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Locke nimmt damit eine Position zwischen dem älteren Thomas Hobbes (1588–1679), der Wahrheit als ausschließlich sprachlich konzipierte versteht, und dem jüngeren George Berkeley (1685–1753) ein, nach dessen Ansicht ausschließlich Ideen wahrheitsfähig sind (vgl. Kap. II.3.1). Alle drei Positionen sind für Gottfried Wilhelm Leibniz nicht akzeptabel. Er argumentiert in seinen Nouveaux essais sur l’entendement humain, die er als direkte Entgegnung auf Lockes Essay concerning Human Understanding verfasst, für eine sichere und eindeutige Repräsentationskette von Gegenständen, Ideen und Zeichen.
2 Rationalistische Sprachkonzeptionen 2.1 Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) Anders als Descartes, der neben den angeborenen Ideen auch solche Ideen kennt, die durch Sinne erworben werden, legt Leibniz den Ursprung aller intellektuellen Ideen sowie die aus diesen resultierenden Wahrheiten in den menschlichen Geist selbst; er spricht von ‚eingeborenen Ideen‘. In seinem Nouveaux essai sur l’entendement humain (1704) verteidigt er diese Grundannahme gegen die von Locke geäußerte Kritik an Descartes angeborenen Ideen, indem er die Position des Franzosen modifiziert und eingeborene Ideen im Sinne eines besonderen begrifflichen Vermögens des Verstandes konzipiert, das a priori die Grundlage von Erkenntnis darstellt, da es die auf der Anschauung aufbauende Bildung von klar-deutlichen Ideen ermögliche. Nach Leibniz korrespondiert in Gottes Bewusstsein jedem Gegenstand ein absoluter Begriff (eine Idee) dieses Gegenstandes, der den Gegenstand schlechthin bestimmt. Das menschliche Erkennen beschränkt sich auf Begriffe, die lediglich approximativ in die Nähe der göttlichen Begriffe gelangen können, wie Leibniz bereits in den Meditationes de cognitione, veritate et ideis (1684) näher erläutert. Göttliche Begriffe sind Realdefinitionen als Setzungen der Dinge, menschliche Begriffe bleiben auf Nominaldefinitionen der Gegenstände beschränkt, die möglichst viele Bestimmungen (notiones) berücksichtigen sollten.29 Der Begriff oder die Idee eines Gegenstands ist also nicht einfach nur ein sinnlicher Eindruck oder eine innere Wahrnehmung, sondern bereits eine || 29 Vgl. Gottfried W. Leibniz: Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen. [Meditationes de cognitione, veritate et ideis, 1684]. In: derselbe: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Bd. 1. Übers. von Artur Buchenau und hrsg. von Ernst Cassirer. Hamburg: Meiner, 1966. S. 22–29. DOI 10.1515/9783110464252-010, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
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merkmalsrelevante Fügung von Bestimmungen zu einem Ganzen, und sie ruht im Geiste auch dann, wenn dieser sie noch nicht bewusst erkannt hat: Ideen sind nicht „eine Art Abbildchen, sondern […] Beschaffenheiten oder Bestimmungen unseres Geistes“30. Erkenntnis ist demnach eine Art Freilegung der eingeborenen Ideen, die – anders als bei Locke – die Voraussetzung für die Bildung von Allgemeinbegriffen und damit auch für das Sprechen über Arten und Abstrakta sind. Ideen sind an die Bedingung geknüpft, dass sie keine widersprüchlichen Bestimmungen beinhalten können bzw. dürfen – in diesem Sinne gibt es nach Leibniz auch nur wahre Ideen (idea vera). Leibniz’ Zeichenkonzept ist ebenfalls dreigliedrig: Gegenstand (res) – Begriff/Idee (notio/idea) – sprachliches Zeichen (signum). Sein Zeichenkonzept unterscheidet sich allerdings in einem zentralen Punkt von dem Locke’schen Konezpt: Den sprachlichen Zeichen kommt, wie Leibniz in Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache (1717) ausführt, eine zweifache Repräsentationsfunktion zu, sie sind Repräsentanten der Begriffe/Ideen und gleichzeitig Repräsentanten der Gegenstände: Es ist aber bei dem Gebrauch der Sprache auch dieses sonderlich zu betrachten, daß die Worte nicht nur der Gedanken, sondern auch der Dinge Zeichen seien, und daß wir Zeichen nötig haben, nicht nur unsere Meinung anderen anzudeuten, sondern auch unsern Gedanken selbst zu helfen. Denn gleich wie man in großen Handels-Städten, auch im Spiel und sonsten nicht allezeit Geld zahlet, sondern sich an dessen Statt Zettel oder Marken bis zur letzten Abrechnung oder Zahlung bedient; also tut auch der Verstand mit den Bildnissen der Dinge, zumal wenn er viel zu denken hat, daß er nehmlich Zeichen dafür braucht, damit er nicht nötig habe, die Sache jedesmal so oft sie vorkommt, von neuem zu bedenken. Daher wenn er sie einmal wohl gefaßt, begnügt er sich hernach oft, nicht nur in äußerlichen Reden, sondern auch in den Gedanken und innerlichen Selbstgespräch das Wort an die Stelle der Sache zu setzen. […]. Daher braucht man oft die Worte als Ziffern oder als Rechenpfennige anstatt der Bildnisse und Sachen, bis man stufenweise zum Fazit schreitet und beim Vernunftschluß zur Sache selbst gelangt. Woraus erscheint, wie ein Großes daran gelegen, daß die Worte als Vorbild und gleichsam als Wechselzettel des Verstandes wohl gefaßt und unterschieden, zulänglich, häufig, leichtfließend und angenehm seien.31
Die doppelte Repräsentationsfunktion ermöglicht dem Verstand mit sprachlichen Zeichen in gleicher Art und Weise zu operieren wie mit Begriffen und || 30 Gottfried W. Leibniz: Betrachtungen über die Erkenntnis. S. 29. 31 Gottfried W. Leibniz: Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache. In: derselbe: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Bd. 2. Übers. von Artur Buchenau und hrsg. von Ernst Cassirer. Hamburg: Meiner, 1966. S. 519– 555; S. 520f.
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Ideen. Dies ist ein wichtiger Umstand für Leibniz’ Überlegungen zu einem universellen Symbolismus und Kalkül als Erkenntnisinstrument (vgl. Kap. III.2). Dass Sprachzeichen aber mehr als nur eine Erleichterung mentaler Prozesse darstellen, wird an anderer Stelle deutlich: „Allerdings; – ja, wir würden sogar, wenn es keine Zeichen gäbe, niemals etwas Deutliches denken oder schließen.“32 Sprache wird von Leibniz insofern als notwendige Voraussetzung klarer und deutlicher Erkenntnis begriffen. Eine Herausforderung für Leibniz’ Konzept ist allerdings die Arbitrarität sprachlicher Zeichen, denn willkürliche Zeichen können auch ‚falsch‘ gebildet werden und somit vielleicht fehlerhaft gebildete Begriffe, aber keine Gegenstände repräsentieren. Vor diesem Hintergrund ist der im vorhergehenden Zitat ausgeführte Vergleich von Sprachzeichen und Schuld-/Wechselscheinen bemerkenswert. Wechselscheine erleichtern den Handel, haben aber anders als Kurantmünzen, bei denen Nominal- und Materialwert (nahezu) identisch ist, lediglich einen Nominalwert. Ihr Wert beruht auf einer Konvention, die den Scheinbesitzer darauf vertrauen lässt, dass er den Schein jederzeit ‚in bare Münze‘ wechseln kann.33 Die Gestalt, Form und Beschaffenheit des Wechselscheines ist im Prinzip für den Wechsel in Münzen oder Waren an sich völlig irrelevant, solange sich Schuldner und Schuldiger auf den Wert des Scheines einigen können. In ähnlicher Weise ist für Leibniz die Arbitrarität des sprachlichen Zeichens irrelevant, solange die eindeutige Repräsentation von Gegenständen und Begriffen gewährleistet ist. Wie Wechselscheine können, so legt der Vergleich nahe, auch Worte ‚gefälscht‘ sein. Diese Unvollkommenheit sei, so Leibniz, in allen natürlichen Sprachen anzutreffen. Ist nun die Sprache unvollkommen, derer sich der Mensch beim Denken bediene, sei folglich auch die Erkenntnis unvollkommen. Die Arbitrarität stellt auf der anderen Seite auch eine Chance dar, denn gerade weil arbiträre Zeichen formbar sind, bietet sich die Möglichkeit, die bestehenden unvollkommenen Sprachen zu optimieren oder gar eine ideale lingua universalis künstlich zu erschaffen. Leibniz äußert sich, was die Möglichkeit einer eindeutigen sprachlichen Repräsentation von Gegenständen betrifft, durchgehend sehr optimistisch. Denn wenngleich die Charaktere [Zeichen, M.I.] als solche willkürlich sind, so kommt dennoch in ihrer Anwendung und Verknüpfung etwas zur Geltung, was nicht mehr willkürlich ist: nämlich ein Verhältnis, das zwischen ihnen und den Dingen besteht, und da|| 32 Gottfried W. Leibniz: Dialog über die Verknüpfung zwischen Dingen und Worten. In: derselbe: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Bd. 1. Übers. von Artur Buchenau und hrsg. von Ernst Cassirer. Hamburg: Meiner, 1966. S. 15–21; S. 19. 33 Zur sprachtheoretischen Wechselschein-/Geldmetaphorik siehe Kap. III.2.1 und Kap. V.2.1.
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mit auch bestimmte Beziehungen zwischen all den verschiedenen Charakteren, die zum Ausdruck derselben Dinge dienen. Und dieses Verhältnis, diese Beziehung ist Grundlage der Wahrheit.34
Eben weil Sprachzeichen nicht natürlich mit den Gegenständen verbunden sind, muss ihre Repräsentationsfunktion durch Definition, Explikation und Kontextualisierung sichergestellt werden. Sprachliche Repräsentation bleibt der erkennenden Repräsentation durch Begriffe also abhängig nachgeordnet. Deutlicher wird dies an einer Stelle der Meditationes de cognitione, veritate et ideis, an der Leibniz die hierarchische Abstufung menschlicher Erkenntnis erläutert. Es ist also eine Erkenntnis entweder dunkel oder klar, die klare wiederum entweder verworren oder distinkt [deutlich]; die distinkte entweder adäquat oder inadäquat, symbolisch oder intuitiv; die vollkommene Erkenntnis endlich wird die sein, welche zugleich adäquat und intuitiv ist. Dunkel ist eine Vorstellung, wenn sie nicht genügt, um vorgestellte Sachen wiederzugerkennen […]. Betrachte ich etwas irgendeinen Terminus […], wovon man keine bestimmte Definition besitzt, so wird auch das Urteil, in das eine solche Vorstellung eingeht, dunkel. Klar hingegen ist eine Erkenntnis, wenn sie es mir ermöglicht, die vorgestellte Sache wiederzuerkennen, und eine solche Erkenntnis ist wiederum vorworren oder deutlich. Verworren ist sie, sobald ich nicht imstande bin, die Merkmale einzeln aufzuzählen, welche hinreichen, die Sache von anderen zu unterscheiden […]. Eine deutliche Vorstellung aber ist eine solche, wie sie die Goldscheider vom Golde haben, auf Grund von Merkmalen nämlich und Untersuchungen, die hinreichen, die Sache von allen anderen ähnlichen Körpern zu unterscheiden. Wir haben sie gewöhnlich von Vorstellungen, die, wie die der Zahl, Größe, Gestalt, mehreren Sinnen gemeinsam sind, ebenso von vielen seelischen Affekten […] – mit einem Worte von all dem, wovon wir eine Nominaldefinition haben, die nichts anderes als ein Aufzählung der zureichenden Merkmale ist. […]. In zusammengesetzten Vorstellungen jedoch werden die einzelnen Elemente bisweilen zwar klar, aber doch in verworrener Weise erkannt, wie die Schwere, die Farbe […]; eine solche Erkenntnis […] ist dann zwar deutlich, trotzdem aber inadäquat. Wird hingegen jeder Bestandteil, der in einen deutlichen Begriff eingeht, wiederum in deutlicher Weise erkannt, wird also die Analysis bis ans letzte Ende durchgeführt, dann ist die Erkenntnis adäquat. Freilich weist unser menschliches Wissen hierfür vielleicht kein vollkommenes Beispiel auf; doch kommt ihr die Erkenntnis der Zahlen sehr nahe.35
Je mehr und je besser die Merkmale eines Gegenstands benannt werden können, desto vollkommener erweist sich die Erkenntnis des Gegenstands. Sinnliche, nicht explizierbare oder nur dunkel und/oder unklar formulierbare Vorstellungen werden konsequent abgewertet. Ästhetische Vorstellungen erhalten hierbei einen Platz weit unten in der Hierarchie, insofern sie klar, aber nicht
|| 34 Gottfried W. Leibniz: Dialog über die Verknüpfung zwischen Dingen und Worten. S. 20. 35 Gottfried W. Leibniz: Betrachtungen über Erkenntnis. S. 22–24.
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deutlich sind (cognitio clara confusa). Kriterium ist die Unbenennbarkeit der distinkten Merkmale: So vermögen wir Farben, Gerüche, Geschmäcke und andere besondere Sinnesobjekte zwar mit hinlänglicher Klarheit zu erkennen und voneinander zu unterscheiden, doch geschieht dies auf das einfache Zeugnis der Sinne, nicht aber durch angebbare Merkmale. Darum können wir auch einem Blinden nicht erklären, was ‚rot‘ ist […]. In ähnlicher Weise können wir beobachten, daß Maler und andere Künstler ganz vortrefflich erkennen, was richtig und was fehlerhaft gemacht ist, häufig aber nicht imstande sind, von ihrem Urteil Rechenschaft zu geben […].36
Genau das Phänomen, von einer Beobachtung nicht Rechenschaft geben zu können, ist es, was die ästhetische Wahrnehmung aus dem Bereich der Erkenntnis ausschließt. Die höchste Form der Erkenntnis, die klare, deutliche und adäquate Vorstellung (clara distincta adaequata) entspricht letztlich der (göttlichen) Realdefinition eines Gegenstandes. Eine der göttlichen vergleichbare Erkenntnis kann der Mensch nur im Bereich mathematischer Gegenstände erreichen. Sie ist eine ‚blinde‘ und ‚symbolische‘ Erkenntnis, weil bei vielen mathematischen Gegenständen aufgrund ihrer Komplexität der menschliche Verstand keine adäquate Vorstellung hervorbringen kann und daher ausschließlich mit Zeichen operieren muss. Aber auch bei solchen mathematischen Gegenständen, von denen eine Vorstellung gebildet werden kann, erlauben Zeichen die Vielzahl von Merkmalen symbolisch zusammenzufassen, ohne sie im Einzelnen explizieren zu müssen. Die Bezeichnung „Tausendeck“ oder eine adäquate formale Notation erlaubt beispielsweise das mentale Operieren, ohne permanent die Idee eines solchen Körpers präsent zu halten. Der mathematische Symbolismus ermöglicht – vor allem in der Algebra – ein von Bedeutungen völlig unabhängiges Operieren (vgl. Kap. III.2.2). Für Leibniz’ Verständnis verbaler Sprachen ergeben sich hieraus zwei zentrale Funktionen: eine kommunikative Funktion (Zeichen als signa) und eine kognitive Funktion (Zeichen als notae); im Fall von logographischen Symbolsprachen (z.B. die Notation der symbolischen Algebra oder die von Leibniz entworfene lingua universalis) kommt mit der operativen Funktion eine weitere hinzu. Auch Christian Wolff (1679–1754), einer von Leibniz’ wichtigsten Nachfolgern, thematisiert meist im Kontext erkenntnistheoretischer Fragen die Themen Sprache und Sprachlichkeit. Der rationalistischen Erkenntniskonzeption verpflichtet, sieht Wolff die Grundlage menschlicher Erkenntnis in der Selbstgewissheit der Seele begründet. Aus dieser leitet er den Grundsatz vom ausge|| 36 Gottfried W. Leibniz: Betrachtungen über Erkenntnis. S. 23.
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schlossenen Widerspruch ab, um so die Logik zu fundieren. In Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (1720) schreibt er: Indem wir erkennen, daß wir uns unserer und anderer Dinge bewußt sind, und nehmen es vor gewiß an; so geschiehet solches in der Tat deswegen, weil wir uns unmöglich gedenken können, daß wir uns zugleich unserer sollten bewußt sein und auch nicht bewußt sein.37
Gleichermaßen elementar ist der Satz vom zureichenden Grund: „Denn so lange eine Sache einen Grund hat, warum sie ist, kan man erkennen, wie sie seyn kan, das ist, man kan sie begreiffen, und indem man es andern sagt, verständlich erklären.“38 Erkennen (‚begreiffen‘) und sprachliche Explikation werden somit in ein reziprokes Verhältnis gesetzt: „Was nicht begreiflich ist, lässet sich auch nicht verständlich erklären.“39 Begriffe von Dingen sind nach Wolffs Verständnis mentale Repräsentationen, ‚Vorstellungen‘ der Dinge, die der sprachlichen Fassung oder Explikation vorausgehen. Diese Vorstellungen (teils auch als ‚Gedanken‘ bezeichnet) werden von Wolff in ‚klare‘ und ‚dunkle‘ unterteilt. Klare Gedanken zeichnen sich durch Differenzierbarkeit der Vorstellungen aus und lassen sich wiederum in ‚deutliche‘ und ‚undeutliche‘ unterscheiden. Bei deutlichen Vorstellungen lässt sich die Differenz zu anderen Vorstellungen zudem genau bestimmen und vor allem benennen: Somit sind „Wörter nichts als Zeichen der Gedanken“40. Sprachliche Zeichen übernehmen allerdings nicht nur eine kommunikative Funktion für die menschliche Erkenntnis, sondern wirken in einer Art Rückkopplungseffekt zurück auf die gewonnenen Vorstellungen und Begriffe. So kann die intuitiv-anschauende Erkenntnis durch sprachliche Bezeichnung in eine ‚figürliche Erkenntnis‘ überführt werden. Wörter können die Vorstellungen von Differenzen und Ähnlichkeiten präzisieren und „so zeiget sich in der figürlichen Erkäntniß der Unterscheid der Urtheile und blosser Begriffe klärer, als in der anschauenden und ist demnach die Deutlichkeit grösser“41. Mit Leibniz betont Wolff die Notwendigkeit, Wörter bzw. ihre Bedeutung eng mit den Begrif-
|| 37 Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. In: derselbe: Gesammelte Werke. Abt. 1. Deutsche Schriften, Bd. 2.1. Hrsg. von Jean Ecole und Joseph E. Hofmann. Hildesheim: Olms, 1983. S. 6. 38 Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von Gott. S. 37. 39 Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von Gott. S. 46. 40 Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von Gott. S. 160. 41 Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von Gott. S. 178.
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fen zu verknüpfen, um Irrtum und leeres ‚Wortgeplänkel‘ zu vermeiden, denn die intuitive Bedeutung der Wörter sei nur die erste Stufe sprachlicher Inhalte, den eigentlichen Inhalt machten die Begriffe aus.42 Dabei vertraut er „offensichtlich der Sprache, indem er annimmt, in der Abgrenzung der sprachlichen Bedeutungen spiegele sich eine sinnvolle Abgrenzung der wirklichen Dinge wider“43.
2.2 Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) Alexander Gottlieb Baumgarten adaptiert Wolffs graduelle Abstufung der Erkenntnisse und differenziert bzw. präzisiert diese.44 Er stimmt zwar zu, dass die ersten Empfindungen dunkle Vorstellungen hervorbrächten, ist aber gleichzeitig bemüht zu betonen, dass diese dennoch bereits eine Wahrheit besäßen, die sich in klare und deutliche Vorstellungen überführen ließe. Dunkle sowie klarverworrene Vorstellungen nennt Baumgarten ‚sinnliche Vorstellungen‘; sinnlichen Vorstellungen, die durch die niederen Erkenntnisvermögen aus den Empfindungen erworben werden, nennt er ‚poetische Vorstellungen‘.45 Explizit grenzt Baumgarten in den Philosophischen Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes (1735) diese poetischen Vorstellungen von den oberen Erkenntnissen ab: „Deutliche Vorstellungen, vollständige, adäquate, durch alle Stufen tiefgehende Vorstellungen sind nicht sensitiv, folglich nicht poetisch.“46 Die Leibniz’sche Hierarchie der Erkenntnisse wird zwar im Ansatz übernommen, aber gleichzeitig umgewertet und gewissermaßen aufgebrochen. Bei Leibniz sind die dunklen und verworrenen Vorstellungen einseitig durch ein Defizit an Deutlichkeit im Verhältnis zu den klar-deutlichen Vorstellungen ausgezeichnet. Baumgarten spricht ihnen dagegen auch eine genuine Qualität zu, || 42 Vgl. Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von Gott. S. 59–61. 43 Eugenio Coseriu: Geschichte der Sprachphilosophie. S. 323. 44 Vgl. im Folgenden: Dagmar Mirbach: Einführung. In: Alexander G. Baumgarten: Ästhetik. [Aesthetica, 1750/1758]. Hrsg. und übers. von Dagmar Mirbach. Hamburg: Meiner, 2007. S. I– LXXX; S. XXXVII. 45 „Vorstellungen, die durch den niederen Teil des Erkenntnisvermögens erworben worden sind, sollen sensitiv heißen. [...] Sensitive Vorstellungen sind Bestandteile eines Gedichts [...], folglich poetisch [...]. Da aber die sensitiven Vorstellungen dunkel oder klar sein können, so sind die dunklen und die klaren Vorstellungen poetisch […].“ Alexander G. Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus [1735]. Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes. Hrsg. und übers. von Heinz Paetzold. Hamburg: Meiner, 1983. S. 9–11. 46 Alexander G. Baumgarten: Meditationes philosophicae. S. 15.
Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) | 51
nämlich ihre Sinnlichkeit und Poetizität, die wiederum ein Defizit der klardeutlichen und erst recht der abstrakten klar-deutlichen und adäquaten Vorstellungen markieren. Zweitens werden sinnlichen und nicht-sinnlichen Vorstellungen in Anlehnung an Wolffs Psychologie zwei unterschiedliche Erkenntnisvermögen zugeordnet (facultas cognoscitiva inferior und facultas cognoscitiva superior). Dies ermöglicht Baumgarten, Dichtung und andere Künste als ‚analogon rationis‘, d.h. als ein Analogon der Logik bzw. Rationalität zu konfigurieren (vgl. Kap. IV.1.2). Baumgartens Ästhetik ist daher, wie im Folgenden noch genauer dargestellt wird, ein wichtiges Indiz für die diskursive Gleichstellung von philosophisch-wissenschaftlichen und poetisch-künstlerischen Diskursen in der Zeit der Aufklärung. Baumgarten erweitert auch das Konzept der Klarheit, indem er neben der Qualität (intensiv-klar) auch die Quantität der Merkmale einer Vorstellung (extensiv-klar) unterscheidet und so die Ebenbürtigkeit beider Erkenntnisarten unterstreicht. Während definitorisch-explikative (intensive) Klarheit durch die möglichst deutliche Bestimmung weniger distinkter Merkmale erreicht wird, sucht die sinnliche Erkenntnis eine möglichst große Fülle an Merkmalen einer Vorstellung zu erschließen, auch wenn diese definitorisch nicht bestimmbar sind. Dagmar Mirbach leitet daraus eine wichtige Schlussfolgerung für die Bestimmung von philosophisch-wissenschaftlicher und künstlerischer Erkenntnis durch Baumgarten ab: Die sinnliche Erkenntnis ist mithin ‚keine Vorstufe zur Deutlichkeit‘ der Vorstellungen der logischen Erkenntnis, sondern ihre ‚Zielrichtung‘ ist gerade umgekehrt: Während sich die deutliche Erkenntnis – abstrahierend und analysierend – ‚auf die mehreren Dingen zukommenden, gleichen Merkmale‘ konzentriert, ‚um aus der Menge der Gleichen die Spezies zu bilden‘, achtet die sinnliche Erkenntnis – konkretisierend und synthetisierend – ‚auf die möglichst reichhaltige Menge von Merkmalen, die das Eigentümliche und nicht Vergleichbare‘ des Gegenstands ausmachen.47
Ist die logische Erkenntnis auf die Abstraktion und das Allgemeine gerichtet, fokussiert die sinnliche Erkenntnis das Individuelle und Singuläre eines Gegenstands – wobei die Gewichtung von Qualitäten und Defiziten reziprok ist. Auf dieser Differenzierung beruht auch die systematische Trennung von Philosophie und Poesie, die Baumgarten in seiner Metaphysik (1739) mit jeweils unterschiedlichen Arten von Vorstellungen verknüpft:
|| 47 Dagmar Mirbach: Einführung. S. XLII.
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Ich nehme Zeichen zusammen mit dem Bezeichneten wahr; also habe ich das Vermögen, Zeichen und Bezeichnetes in der Vorstellung zu verbinden; dieses kann das Bezeichnungsvermögen [facultas characteristica] genannt werden […]. Und da in dieser Welt ein Bezeichnungszusammenhang besteht […], werden die Vorstellungen des Bezeichnungsvermögens durch die Kraft der Seele, das Universum vorzustellen, verwirklicht […]. Der Bezeichnungszusammenhang wird entweder deutlich oder undeutlich erkannt, folglich wird das Bezeichnungsvermögen entweder sinnlich […] oder intellektuell sein.48
Im Umgang mit Vorstellungen wird also bereits immer mit Zeichen oder auch Darstellungen operiert – entweder deutlich-intensiv oder undeutlich-extensiv. Ähnliche sprachtheoretische Aspekte finden sich auch in Baumgartens Aesthetica (1750), sie sind aber eher von der Auseinandersetzung mit der rhetorischen Tradition geprägt. Baumgarten erweitert die Unterscheidung von res und verba zu der Unterscheidung von Erkennen (cognoscere) und allen Formen des Darstellens (proponere). Die Erweiterung ist jedoch, wie Mirbach festhält, mit einer entscheidenden Modifikation verbunden: „Erkennen und Darstellen sind in der Definition der Ästhetik als scientia sensitive cognoscendi et proponendi nicht konjunktiv einander nebengeordnet, sondern sie bezeichnen denselben Vorgang: Erkennen [...] ist [...] Darstellen […].“49 Im Bereich der Dichtung bedeutet dies, dass sprachliche Darstellung und Erkenntnis des Schönen, res und verba in eins fallen. Innere wie äußere Darstellung begreift Baumgarten als angemessene Repräsentationen durch Zeichen, die auf dem Prinzip des aptum, also der Angemessenheit beruhen. Dies gilt auch für sprachliche Rede, die wiederum Vorstellungen bezeichnet. Res und verba sind zwar mittelbar, aber trotzdem sicher über die Vorstellungen verbunden – insofern wird das aptum sowohl auf die Repräsentation der Dinge durch Vorstellungen als auch für die Repräsentation der Vorstellungen durch Sprachzeichen bezogen: „Unter einer Rede verstehen wir eine Reihe von Wörtern, die zusammenhängende Vorstellungen bezeichnen. [...]. Aus einer Rede sind zusammenhängende Vorstellungen zu erkennen.“50 So ist es nur konsequent, dass Baumgarten analog zu den zwei Erkenntnisarten (cognitio intellectualis und cognitio sensitiva) auch zwei unterschiedliche sprachliche Darstellungsformen bestimmt: Eine Rede, die aus sensitiven Vorstellungen besteht, sei sensitiv genannt. [...]. Eine vollkommene sensitive Rede ist eine solche, deren Bestandteile in ihr dazu beitragen, sensitive Vorstellungen anzureizen. [...] Eine vollkommene sensitive Rede ist ein Gedicht. Der Inbe-
|| 48 Alexander G. Baumgarten: Metphysik. [Metaphysica, 1739]. Übers. und hrsg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl. Stuttgart: Frommann-Holzboog, 2011. S. 327. 49 Dagmar Mirbach: Einführung. S. LVIII. 50 Alexander G. Baumgarten: Meditationes philosophicae. S. 7f.
Georg Friedrich Meier (1718–1777) | 53
griff der Regeln, denen ein Gedicht entsprechen muß, heißt Poetik. [...] Die Fähigkeit des Gedichtemachens ist die Dichtung, und wer sich dieser Fähigkeit erfreut, ist ein Dichter.51
Der Philosoph (und Wissenschaftler) dagegen „stellt seinen Gedanken so dar, wie er ihn denkt. Er hat daher beim Darstellen keine oder sehr wenige besondere Regeln zu beachten. Die Ausdrücke, sofern sie artikulierte Laute sind, kümmern ihn nicht.“52 Bemerkenswert an Baumgartens zwei Sprachformen ist, dass die eine sozusagen in ihren rhetorischen Effekten aufgeht, die andere dagegen von allen rhetorischen ‚Regeln‘ frei zu sein scheint. Ist Sprache in Dichtungen als Darstellung gleichzeitig auch das Material der Erkenntnis, so wird sie in Philosophie und Wissenschaft zu dem völlig transparenten Medium einer vorsprachlichen Erkenntnis.
2.3 Georg Friedrich Meier (1718–1777) Georg Friedrich Meier übernimmt zentrale Aspekte seines Lehrers Baumgarten, beispielsweise die besondere Bedeutung der ‚unteren Erkenntnisart‘ und der ‚sinnlichen Vorstellungen‘. In einigen Punkten entwickelt er aber auch die junge Disziplin der Ästhetik selbständig weiter. Er bleibt hierbei zwar im Wesentlichen der rationalistischen Tradition treu, versucht aber ebenso Aspekte der empiristischen Sprach- und Erkenntnistheorie zu berücksichtigen, so dass Manfred Beetz hinsichtlich Meiers Semiotik von dem Schöpfen „aus diametralen Quellen“ spricht.53 Meiers Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (1754/55) führen die bereits in Baumgartens Aesthetica erkennbare Gleichstellung von wissenschaftlich-philosophischen und künstlerisch-poetischen Diskursen fort. In seiner theoretischen Fundierung dieser Gleich- und Nebenordnung findet sich eine für die Aufklärung typische Argumentationsstruktur, die mit dem Nachweis von Analogien und Differenzen ein Tableau menschlicher Fähigkeiten und Erkenntnisse erstellt: Einerseits betont Meier die Eigenheit sinnlicher Vorstellungen und wertet sie weiter auf, um der ästhetischen Erkenntnis einen genuinen Erkenntnisstatus zuweisen zu können. Hierdurch bereitet er der „Begründung des Bereichs des Schönen und des Künstlerischen als eines diskreten ontologischen || 51 Alexander G. Baumgarten: Meditationes philosophicae. S. 9ff. 52 Alexander G. Baumgarten: Meditationes philosophicae. S. 87. 53 Manfred Beetz: Georg Friedrich Meiers semiotische Hermeneutik. In: Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung. Hrsg. von Manfred Beetz und Giuseppe Cacciatore. Köln: Böhlau, 2000. S. 17–30; S. 25.
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Bereichs durch Immanuel Kant“54 den Weg. Andererseits ist Meier aber darum bemüht, Künste und Dichtung mit Blick auf die Ähnlichkeit zwischen den Erkenntnisformen als Analogon von Philosophie und Wissenschaften auszuweisen. Den begrifflichen Vorstellungen entsprechen demnach in den Künsten sinnliche Vorstellungen, den Repräsentationen der realen Welt entsprechen Repräsentationen möglicher Welten, den Vernunftregeln entsprechen ästhetische Regeln und den arbiträren Sprachzeichen entsprechen möglichst natürliche Zeichen. Die nähere Betrachtung dieser Äquivalenz-Konstruktion ist bedeutsam, denn sinnliche Vorstellungen werden in den Anfangsgründen – und hier bleibt Meier ganz im Rahmen rationalistischer Erkenntnistheorie – den klar-deutlichen Begriffen hierarchisch untergeordnet. Gleiches gilt für das entsprechende Erkenntnisvermögen. Die ‚Unterordnung‘ ist aber keine Wertung, sondern ergibt sich aus der Genese menschlicher Erkenntnis, und wird zudem dadurch relativiert, dass Meier wie Leibniz auch die deutliche Erkenntnis nur als eine Annäherung an ein Ideal begreift. So führt Meier in Das Streben nach den philosophischen Grundsätzen einer neuen deutschen Dichtung aus: Wir Menschen können unmöglich zu vollkommen deutlichen Begriffen gelangen. Unsere deutlichsten und vernünftigsten Begriffe sind aus Theilen zusammengesetzt, die aus dunkeln und verworrenen Vorstellungen herstammen. Folglich reichen die untern Erkenntnißvermögen der Vernunft und dem Verstande den Stoff und die Materie dar, woraus diese ihre Begriffe zusammensetzen.55
Aus dieser Verknüpfung von unteren und oberen Erkenntnisvermögen leitet Meier eine Parallelität von Vernunftlehre und Ästhetik ab, die er anschließend funktional differenziert. Vernunftlehre und Ästhetik kommen darin mit einander überein, daß sie beyde Regeln vorschreiben, wie wir eine Erkenntnis erlangen und volkommen machen sollen. Sie sind aber darin unterschieden, daß die eine die Volkommenheiten der vernünftigen, und die andere die Schönheiten der sinlichen Erkenntnis zum Zwecke hat. [...]. Die Vernunftlehre setzt die Empfindungen voraus,
|| 54 Ekaterini Kaleri: Ästhetische Wahrheit. Transformation der Erkenntnistheorie in der Ästhetik Georg Friedrich Meiers. In: Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen. Hrsg. von Jörg Schönert und Friedrich Vollhardt. Berlin, New York: De Gruyter, 2005. S. 365–402; S. 369. 55 Georg F. Meier: Das Streben nach den philosophischen Grundsätzen einer neuen deutschen Dichtung. Frühe Schriften zur ästhetischen Erziehung der Deutschen in 3 Teilen. Bd. 1. Hrsg. von Hans-Joachim Kertscher. Halle a.d. Saale: Hallescher, 1999. S. 66.
Georg Friedrich Meier (1718–1777) | 55
und lehrt nur, wie wir sie auf eine philosophische Art anwenden sollen. Die Ästhetik muss also der Vernunftlehre den Stoß zubereiten [...].56
Während Meier die oberen Erkenntnisvermögen am Ideal der Deutlichkeit, also an der Erkenntnis klar-deutlicher Merkmale, ausrichtet, erscheint Schönheit als das Ideal der sinnlichen oder ästhetischen Vorstellungen, wobei vier Faktoren die Schönheit einer Vorstellung bestimmen: 1. Die ‚Mannigfaltigkeit‘ der Eigenschaften eines Dinges in der Vorstellung. 2. Die Größe des ‚Bestimmungsgrundes‘, also der ‚Zweck‘ der Schönheit. 3. Die gemeinsame Ausrichtung der ‚Mannigfaltigkeit‘ bzw. der Fokus auf den jeweiligen ‚Bestimmungsgrund‘/‚Zweck‘. 4. Die ‚Undeutlichkeit‘ der Vorstellung.57 Dort, wo Meier die je spezifische ‚Vollkommenheit‘ der beiden Erkenntnisvermögen erläutert, wird erkennbar, dass er sie als gleichwertig und gleichrangig begreift. Er differenziert hierzu das Konzept der Klarheit noch weiter aus: Wird die Klarheit einer Vorstellung intensional gesteigert, werden also die distinkten Merkmale weiter in klare, deutliche und distinkte Merkmale analysiert, erhält man einen deutlichen, idealiter einen vollständigen Begriff eines Gegenstandes (Meiers lateinische Bezeichnung für ‚Deutlichkeit‘ ist dementsprechend claritas intensive major). Wird die Klarheit einer Vorstellung extensional durch die zahlenmäßige Zunahme an Merkmalen gesteigert, erhält man einen lebhaften, d.h. schönen Begriff (‚Schönheit‘ wird analog als claritas extensive major bezeichnet).58 Durch die Gegensätzlichkeit der Erkenntnisvermögen und den ihnen zugeordneten Idealen der Deutlichkeit und Schönheit evoziert Baumgarten auch
|| 56 Georg F. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Bd. 1. Hildesheim, New York: Olms, 1976 [1754–1755, 1759]. S. 8. 57 ‚Undeutlichkeit‘ meint hier die nicht-deutliche aber klare Vorstellung, also eine zusammengesetzte Vorstellung, die nicht in ihre distinkten Merkmale zerlegt werden kann; vgl. Georg F. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Bd. 1. S. 40. 58 „Die Klarheit kann auf doppelte Art zunehmen. Einmal, wenn die Merkmale zwar nicht der Anzahl nach vermehret werden, doch aber der Klarheit nach, dergestalt, daß in diesen Merkmalen immer neue Merkmale, und in diesen wiederum andere entdeckt werden. Und hierher gehören die deutlichen, volständigen, ausführlichen, und bestimmten Begriffe [...] (claritas intensive major). Es kan aber, zum andern, die Klarheit noch auf eine andere Art vermehrt werden, wenn die Merkmale einer Vorstellung zwar nicht klärer werden, ihre Anzahl aber vermehrt wird, dieses kan man die Ausdehnung oder Ausbreitung der Klarheit nennen (claritas extensive major). Ein Begriff, welcher auf diese Art klar, und dabey undeutlich ist, ist lebhaft [...] folglich schön.“ Georg F. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Bd. 1. S. 55f.
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eine Bipolarität von Philosophie bzw. Wissenschaften und Künsten bzw. Dichtung. Meier unterstreicht diesen Dualismus, indem er jeweils eine spezifische Form der Wahrheit entwirft, die er als Referenz der Vorstellungen und Begriffe auf Gegenstände und Sachverhalte begreift.59 Die logische bzw. metaphysische Wahrheit einer klar-deutlichen Erkenntnis bedarf der Widerspruchsfreiheit der Begriffe untereinander60, der Korrespondenz von Vorstellung und Gegenständen sowie deren Vorhandensein in der Wirklichkeit: Wenn von endlichen Dingen die Rede ist, so pflegt man alles das im engsten Verstande wahr zu nennen, was in dieser Welt würklich ist, alle übrige einzelnen Dinge, und solten sie auch noch so möglich seyn, werden im allerweitläufigsten Verstande falsch genennet.61
Vor dem Hintergrund der rationalistischen Erkenntniskonzeption verwundert es nicht, dass Meier die Übereinstimmung von Vorstellung und Wirklichkeit fordert. Ganz anders konzipiert er jedoch die ästhetische Wahrheit, also die undeutliche und zugleich schöne Erkenntnis. Zwar bedürfe auch sie der inneren und äußeren Widerspruchsfreiheit62, denn sobald die einzelnen Teile einer auch noch so mannichfaltigen Erkenntnis sich widersprächen, so Meier, sei diese nicht vollkommen und folglich nicht schön.63 Allerdings genüge es hierbei, wenn lediglich die ‚unteren Kräfte der Seele‘ unabhängig von Verstand und Vernunft keinen Widerspruch feststellen könnten. Hieraus folgt, dass die Maßstäbe der ‚Vernunftlehre‘ und Metaphysik nicht auf die ästhetische Erkenntnis angewandt werden könnten, so Meier weiter, da sonst ein Großteil der ‚schönsten Gedanken‘ der Künstler und Dichter als unstimmig verworfen werden müsste. Zur Illustration führt er Vergils Beschreibung des Sonnenaufgangs an. Die optische Vorstellung des Aufgangs als ein Heraufsteigen der Morgenröte aus dem Meer sei sinnlich wahr, begrifflich-logisch jedoch falsch, da die Sonne
|| 59 Vgl. Ekaterini Kaleri: Ästhetische Wahrheit. S. 385. 60 Vgl. Georg F. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Bd. 1. S. 53. Die ‚innere Widerspruchsfreiheit‘ der Gedanken gilt für logische wie sinnliche Wahrheiten gleichermaßen. 61 Georg F. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Bd. 1. S. 246. 62 Meier spricht einerseits von „ästhetischer Wahrscheinlichkeit schlechthin“, das ist die innere Widerspruchsfreiheit verknüpft mit einem hinreichenden Grund (etwa ein vernünftig redender Mensch), und andererseits von einer „hypothetischen Wahrscheinlichkeit, das ist Widerspruchsfreiheit“ der Vorstellungen mit den mit ihr verknüpften Gegenständen und Sachverhalten; vgl. Georg F. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Bd. 1. S. 211–213. 63 Vgl. Georg F. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Bd. 1. S. 54.
Georg Friedrich Meier (1718–1777) | 57
feststehe und lediglich die Drehung der Erdkugel den Eindruck eines Heraufsteigens für Erdbewohner erwecke.64 Aus dem Beispiel des Sonnenaufgangs folgt eine Konsequenz, die für Meiers Zeit bemerkenswert ist: Die ästhetische Wahrheit erscheint nicht in allen Facetten als überzeitlich und allgemein, sondern ist zumindest teilweise auch kulturell, geographisch und implizit auch historisch relativ.65 Dies zeigt sich an Meiers weiteren Ausführungen, denn für Bergvölker ohne Zugang zum Meer sei das Aufsteigen der Sonne aus dem Meer weder sinnlich noch logisch-metaphysisch wahr. Neben der relativen benennt Meier auch eine absolute ‚ästhetische Falschheit‘. Er hält fest, „1) daß nicht, eine jede metaphysische und logische Wahrheit, auch zugleich eine aesthetische sey. [...] 2) Daß nicht, eine jede metaphysische Unrichtigkeit, zugleich eine aesthetische sey“66, gleichwohl es auch solche ‚doppelten Wahrheiten‘ geben könne. Da selbst die wenigsten deutlichen Erkenntnisse absolut gewiss sind, kann Meier unumwunden zugeben, dass die ästhetischen Erkenntnisse überhaupt einen anderen Status der Gewissheit haben: „so wird die aesthetische Wahrheit überhaupt, eine aesthetische Wahrscheinlichkeit genent (verisimilitudo aesthetica [...]).“67 Die Frage der Wahrscheinlichkeit ästhetischer Gebilde ist daher eng mit der Frage nach dem ontologischen Status dichterischer Nachahmung verbunden (vgl. Kap. IV.3.1). Besondere Aufmerksamkeit widmet Meier in den Anfangsgründen der ästhetischen Wahrheit von ‚Erdichtungen‘ (fictiones), die den größten Teil der schönen Vorstellungen ausmachen. In einem allgemeinen Verständnis handle es sich bei diesen Fiktionen um sinnliche Vorstellungen, die nicht durch eine sinnliche Wahrnehmung erworben wurden. Im engeren Sinn handle es sich um Vorstellungen, die in dieser Welt ‚nicht möglich‘ seien und in Zukunft auch nicht – aller Wahrscheinlichkeit nach – möglich werden könnten.68 Diese Gegenstände einer „bloß möglichen Welt“69 hätten naturgemäß eine geringere Wahrscheinlichkeit, da ihre innere und äußere Widerspruchsfreiheit sich aus Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten ergeben müssten, die teils gravierend von denen der Erfahrungswelt abweichen. Diese ‚Erdichtungen aus einer anderen Welt‘ müssen, um als wahrscheinlich und darin als schön zu gelten, in der er-
|| 64 Vgl. Georg F. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Bd. 1. S. 188. 65 Vgl. Georg F. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Bd. 1. S. 189. 66 Georg F. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Bd. 1. S. 191. 67 Georg F. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Bd. 1. S. 202. 68 Vgl. Georg F. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Bd. 1. S. 205–207. Meier selbst thematisiert, wie unbestimmt und subjektiv diese Grenzziehung ist, vgl. S. 224. 69 Georg F. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Bd. 1. S. 221.
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dachten Welt zunächst als möglich denkbar sein, des Weiteren dem Satz vom hinreichenden Grund genügen und schließlich den Gegebenheiten der realen Welt möglichst nahe kommen.70 Sowohl die vage (genau genommen unmögliche) Grenzziehung zwischen möglichen und unmöglichen Gegenständen in der realen oder in möglichen Welten als auch der kulturrelativistische Aspekt ästhetischer Wahrheit unterwandern letztlich Meiers Bestreben, diese von ‚utopischen Phantastereien‘, ‚Chimären‘ und ‚Hirngespinsten‘ abzugrenzen. Das mag eine Schwachstelle seiner Argumentation sein, berührt allerdings nicht den zentralen Punkt der bipolaren Trennung zwischen ästhetischer und logischmetaphysischer Wahrheit.71 Anders als Wolff und Baumgarten ergänzt Meier seine Ästhetik mit einem semiotischen Teil, der die Überschrift „Von der aesthetischen Bezeichnung der Gedanken“ trägt. Weitere zeichentheoretische Überlegungen führt er in Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst (1757) aus. An beiden Stellen wird deutlich, dass Meiers erkenntnistheoretische Überlegungen ebenso wie seine Sprachauffassung immer wieder von bereits vorgestellten rationalistischen Positionen abweichen.72 Zunächst ist sicherlich die Schnittmenge mit den Gemeinplätzen rationalistischer Sprachkonzeptionen augenfällig: Die semiotische Dreiecksbeziehung von Zeichen, Vorstellung und Gegenstand wird übernommen; Vorstellungen repräsentieren Wirklichkeit, indem sie wie ein Spiegel die sichtbaren Gegenstände in der Seele abbilden73; Worte, Gesten, Mimik usw. gelten als Repräsentanten unserer Gedanken.74 Allerdings erweitert Meier in diesem Bereich behutsam die Vorstellung sprachlicher Zeichen und greift er hierbei auf die im 18. Jahrhundert allgemein verbreitete Unterscheidung von natürlichen und arbiträren Zeichen zurück. Natürliche Zeichen seien durch die direkte Verbin|| 70 Ausnahmen von dieser Bestimmung stellen u.a. die so genannten ‚analogischen Erdichtungen‘ dar. Dabei handelt es sich um Inhalte, die zwar unmöglich oder unwahrscheinlich sind, aber aufgrund ihrer langen Tradition und Überlieferung dennoch als wahrscheinlich gelten (beispielsweise Ovids Metamorphosen). 71 Vgl. Ekaterini Kaleri: Ästhetische Wahrheit. S. 379. 72 Vgl. Manfred Beetz: Georg Friedrich Meiers semiotische Hermeneutik. S. 27. 73 „Ein Zeichen (signum, character) ist ein Mittel, wodurch die Wirklichkeit eines anderen Dinges erkannt werden kann. Ein Ding, insofern seine Wirklichkeit aus einem Zeichen erkannt wird, wird eine bezeichnete Sache (signatum) genannt; und sie heißt die Bedeutung des Zeichens (significatum), insofern ihre Wirklichkeit aus dem Zeichen erkannt werden kann. Da nun allemal von dem Grunde auf die Folge desselben geschlossen werden kann, so kann man allemal schließen: wo das Zeichen ist, da muß auch die Wirklichkeit der bezeichneten Sache sein.“ Georg F. Meier: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Hrsg. von Axel Bühler. Hamburg: Meiner, 1996. S. 7. 74 Vgl. Georg F. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Bd. 2. S. 615.
Georg Friedrich Meier (1718–1777) | 59
dung mit dem Bezeichneten für die Kunst die „allerfruchtbarsten“75, da hier das Bezeichnete naturgegeben und deshalb klar sei. Aus der Unterscheidung von natürlichen und arbiträren Zeichen folgert Meier eine entscheidende Differenz von begrifflich-philosophischer und poetischer Sprachverwendung: Sie [die schönen Zeichen, M.I.] sind das Kleid der Gedanken, und schöne Gedanken durch häßliche ausgedruckt, sind einem schönen Frauenzimmer ähnlich, welches in den Kleidern und dem Schmutze einer Bettlerin einhergeht. […] Sie [die schönen Zeichen, M.I.] sind als Canäle zu betrachten, durch welche die schönen Gedanken aus [e]inem schönen Geiste in den andern fliessen. Verlieren nun die Gedanken unter Wegens etwas von ihrer Schönheit, oder bekommen sie einen ganz fremden Zusatz, so taugen diese Durchgänge nichts.76
Dem ersten Zitat liegt die der Rhetorik entstammende Trennung von res (Frau) und verba (Kleidung) zugrunde, aus der traditionsgemäß – und so auch bei Meier – das aptum-Prinzip entwickelt wird: Der Schönheit der Frau muss die Schönheit des Kleides angemessen sein, der Stil der Worte muss den Gedanken entsprechen. Das zweite Zitat entwirft das Bild eines Kanalsystems, in dem Gedanken gleich einer Flüssigkeit von einem Individuum zum anderen fließen. Dieser Vergleich steht gewissermaßen quer zu Leibniz’ Wechselschein-Vergleich, denn anders als bei dem definitorischen Wechseltausch, der Zeichen und Begriffe zu äquivalenten Elementen mentaler Operationen macht, transportieren die ästhetischen Zeichen die ästhetischen Vorstellungen direkt und unmittelbar. Sie sind lediglich ‚Durchgänge‘, deren oberste Qualität der verlustfreie Transport des Gehaltes ist. Es ergibt sich folglich eine Parallele zwischen rationaler und ästhetischer Erkenntnis: So wie in der deutlichen Erkenntnis die Begriffe sind in der ästhetischen Erkenntnis die ästhetischen Vorstellungen ihrem Wesen nach vorsprachlich und erst die Notwendigkeit der Kommunikation erfordert eine angemessen gestaltete Verbalsprache. Aus seinem Verständnis natürlicher Zeichen und dem Prinzip des aptum entwickelt Meier eine Art Gesetz des Gebrauchs ästhetischer Zeichen: [D]ie Zeichen müssen nicht nur vor sich betrachtet schön seyn, sondern sie müssen auch, in Beziehung auf die schönen Gedanken, welche sie ausdrucken sollen, dergestalt beschaffen seyn, daß aus ihnen und durch sie die ganze Schönheit der Gedanken in aller ihrer Stärke und Schönheit könne erkant werden.77
|| 75 Georg F. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Bd. 2. S. 19. 76 Georg F. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Bd. 3. S. 336f. 77 Georg F. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Bd. 3. S. 337.
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Ästhetische Zeichen sollten demnach den natürlichen möglichst nahe kommen und wie diese „wesentliche Zeichen“ sein, die mit den „bezeichneten Sachen in einem hohen Grade ähnlich sind“.78 Die Ähnlichkeit von Bezeichnetem und Bezeichnendem ist folglich für die sinnliche Erkenntnis von zentraler Bedeutung – anders als für die deutlich-begriffliche Erkenntnis. Für die Dichtung bedeutet dies: Je schöner der Gedanke ist, desto schöner ist der sprachliche Ausdruck.79 Vier Qualitäten bestimmen demnach die Schönheit eines poetischen Ausdrucks: die Reinigkeit, die Füglichkeit, die Zierlichkeit und die Schicklichkeit.80 Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich Meiers Konzept von Dichtung auf drei Ebenen rekonstruieren. Dichtung ist erstens durch die Gegenstände, die sie zum Ausdruck bringt, bestimmt – nämlich die sinnlichen und schönen Vorstellungen und Gedanken; zweitens durch den ontologischen Status Gedanken und Vorstellungen und drittens durch die besondere Sprachverwendung, also die auf Ähnlichkeit (Nähe zu natürlichen Zeichen) und Schönheit (verdichtete Form) beruhende ‚poetische Schreibart‘. Besonders der letztgenannte Aspekt ist poetologisch relevant, denn so wie die sinnliche Erkenntnis trotz ihrer Undeutlichkeit klar ist, muss auch der sprachliche Ausdruck klar sein. Klar ist die poetische Rede, wenn sie dem Rezipienten die Erkenntnis des Sinns ermöglicht, wobei Meier den Sinn als die Gesamtheit der Bedeutungen, also die Vorstellungen der in der Rede verbundenen Wörter, begreift. Meiers Konzept ist sowohl auf epistemologischer als auch auf sprachtheoretischer Ebene durch eine Spiegelsymmetrie ausgezeichnet. Auf dichterischer wie philosophisch-wissenschaftlicher Seite werden dieselben Kategorien entwickelt (Vorstellungen/Gedanken, Wahrheit/Wahrscheinlichkeit, Vollkommenheit/Klarheit, Zeichen, Rede, Schreibart), die anschließend in ihrer spezifischen Eigenart differenziert werden. Daraus folgt für beide Bereiche eine angemessene poetische bzw. vernünftige Sprachverwendung, wobei er dennoch kein bipolares Konzept zweier distinkt getrennter Sprachsysteme entwirft, sondern Sprache viel mehr als ein Kontinuum möglicher Stile und Verwendungsarten begreift. Gerade hierin weicht Meier von Johann Georg Sulzers Ansatz ab. An die Stelle sinnlicher Vorstellungen treten bei Sulzer die Empfindungen, die kategorial von
|| 78 Georg F. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Bd. 3. S. 23. 79 Gottsched, den Meier nicht nur in diesem Punkt hart kritisiert, wirft er vor, sich nur auf das schöne Denken und nicht ausreichend auf die schönen Worte konzentriert zu haben. Vgl. Georg F. Meier: Beurteilung der Gottschedischen Dichtkunst. Hildesheim: Olms, 1975 [1747– 1749]. S. 218. 80 Vgl. Georg F. Meier: Beurteilung der Gottschedischen Dichtkunst. S. 214.
Johann Georg Sulzer (1720–1779) | 61
begrifflichen Vorstellungen geschieden sind und daher auch eine eigene distinkte Sprache erfordern.
2.4 Johann Georg Sulzer (1720–1779) Dem Ansatz des Schweizer Mathematikers, Theologen und Philosophen Johann Georg Sulzer (1720–1779) kommt in der Untersuchung sprachphilosophischer Entwicklungen im 18. Jahrhundert mit Blick auf die Differenzierung von Philosophie, Mathematik, Physik und Dichtung besondere Bedeutung zu. Und dies, obwohl die Allgemeine Theorie der schönen Künste (1771/1774) von Zeitgenossen aufgrund des enzyklopädischen Aufbaus und des synkretistische)n Charakters weitgehend abschätzig aufgenommen wurde. Sulzer war Schüler Johann Jakob Breitingers (1701–1776) und Johann Jakob Bodmers (1698–1783) und damit ein intensiver Rezipient der rationalistisch geprägten Philosophie, die er nicht modifiziert, sondern auch mit Aspekten des Empirismus auf geradezu wegweisende Art zu kombinieren versucht. Wolfgang Riedel bezeichnet Sulzer daher als „Grenzgänger zwischen Rationalismus und Empirismus“ und als „exemplarische Übergangsfigur zwischen Früh- und Spätaufklärung“.81 Bereits Sulzers eigenständige Ausrichtung der Erkenntnistheorie ist bemerkenswert: Erstens bricht Sulzer mit dem rationalistischen Paradigma des LeibSeele-Dualismus, reformiert zweitens das epistemologische Vorstellungskonzept, indem er drittens neben dem Erkennen das Empfinden als gleichwertige, aber kategorisch geschiedene Fähigkeit des Menschen entwickelt. Infolge dieser dreifachen Distanz zur rationalistischen Tradition entwickelt er seine Sprachtheorie, die nicht nur in Idealismus und Romantik Berücksichtigung fand. Schließlich ergeben sich aus den erkenntnistheoretischen und sprachphilosophischen Überlegungen auch weitreichende Konsequenzen für die Charakterisierung, Wesensbestimmung und Funktion von Dichtung. Was Sulzer aus dem Bestand rationalistischer Theorie übernimmt, ist die Annahme, menschliche Erkenntnis beruhe auf möglichst klaren und deutlichen Begriffen von Gegenständen. Allerdings begreift er Erkenntnis nicht mehr als hierarchisches Kontinuum, das von dunkel-sinnlichen Vorstellungen aufsteigt zu klar-deutlich-adäquaten Begriffen. Empfindungen erscheinen bei Sulzer nicht mehr lediglich als ‚dunkler Grund‘, Auslöser und Ausgangspunkt von
|| 81 Wolfgang Riedel: Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer. In: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Hrsg. von Hans-Jürgen Schings. Stuttgart: Metzler, 1994. S. 410–439; S. 411.
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Vorstellungen, sondern sie sind „etwas, dem mit dem Vorstellungsbegriff schlechterdings nicht mehr beizukommen ist“82. Sinnliches Empfinden und Bildung von Begriffen als Fähigkeiten sowie Empfindungen und begriffliche Erkenntnisse als Resultate dieser Fähigkeiten sind, so Sulzer, einander kategorisch entgegengesetzt. Erkenntnis ist das bewusste Erfassen der Beschaffenheit und der Merkmale eines Gegenstands. Diese Beschaffenheit lässt sich referenziell-sprachlich benennen und kommunizieren. Eine Empfindung ist die im Subjekt verursachte Reaktion auf ein Objekt und als solche subjektiv und folglich nicht referenziell-sprachlich kommunizierbar. Empfindungen lassen sich zwar begrifflich mit Wörtern und Ausdrücken benennen (‚lebhaft‘, ‚schwach‘ etc.) und so kann der deutliche Begriff einer Empfindung sprachlich transportiert werden, die direkte Hervorrufung der Empfindung bedarf allerdings einer ‚anderen Sprache‘. Dieser Dualismus von Erkenntnis und Empfindung wird in einer längeren Passage der Allgemeinen Theorie (Lemma Empfindung) dargelegt: In dem erstern [psychologischen, M.I.] Sinn, der allgemeiner ist, wird die Empfindung der deutlichen Erkenntnis entgegen gesetzt, und bedeutet eine Vorstellung, in so fern sie einen angenehmen oder unangenehmen Eindruk auf uns macht, oder in so fern sie auf unsre Begehrungskräfte würkt, oder in so fern sie die Begriffe des Guten oder Bösen, des Angenehmen oder Widrigen erwekt; da die Erkenntnis eine Vorstellung ist, in so fern sie auf die bloße Vorstellungskräfte würkt, oder in so fern sie uns die Beschaffenheit der Dinge mit mehr oder weniger Deutlichkeit erkennen läßt. Bey der Erkenntnis sind wir mit dem Gegenstand, als einer ganz ausser uns liegenden Sache beschäftiget; bey der Empfindung aber geben wir mehr auf uns selbst, auf den angenehmen oder unangenehmen Eindruk, den der Gegenstand auf uns macht, als auf seine Beschaffenheit, Achtung. Die Erkenntnis ist hell oder dunkel, deutlich und ausführlich, oder confus und eng eingeschränkt; die Empfindung aber ist lebhaft oder schwach, angenehm oder unangenehm.83
Sulzer nimmt hier eine für das ausgehende 18. Jahrhundert paradigmatische Neuausrichtung der Ästhetik vor. Ihr Bezugspunkt ist nunmehr eine Form der Subjektivität, die das bereits bei Baumgarten und Meier entworfene Tableau der Differenzen und Identitäten von Wissenschaften und Künsten überschreitet. Noch deutlicher zeigt sich Sulzers kategoriale Trennung an anderer Stelle in der Allgemeinen Theorie: Dieses ist der Unterschied zwischen Empfinden und Erkennen. In so fern nun ein Gegenstand auf die Empfindung würket, oder das Empfinden verursachet, wird er sinnlich ge|| 82 Wolfgang Riedel: Erkennen und Empfinden. S. 415f. 83 Johann G. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzeln nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Bd. 1. Leipzig: Weidemann und Reich, 1771. S. 312.
Johann Georg Sulzer (1720–1779) | 63
nennt, und in so fern er uns zum Erkennen, zum Erforschen anreizt, wollen wir ihn erkennlich nennen. Man siehet hier sogleich, daß ein und eben derselbe Gegenstand sinnlich, oder erkennlich ist, je nachdem er auf uns würket.84
Ein und derselbe Gegenstand kann demzufolge sowohl Erkenntnis als auch eine Empfindung anregen, bisweilen sogar in einem beides synthetisierenden Zustand gipfeln, dem „Zustand der Betrachtung (contemplation)“, wie es an anderer Stelle heißt.85 Sinnliche Gegenstände wirken unmittelbarer und direkter. Sie erfordern keine Analyse und Benennung ihrer Beschaffenheit in Form distinkter Merkmale, viel mehr kann eine Empfindung als zusammengesetztes Ganzes einen ‚sinnlichen Begriff‘ bilden.86 Aber nicht nur sinnliche Gegenstände können Empfindungen hervorrufen (z.B. die den Finger stechende Nadel), sondern auch „die lebhafte Darstellung oder Vorbildung der Gegenstände, worauf die Empfindung unmittelbar geht“87 (z.B. das Stechen oder Verletzen eines anderen Menschen) sowie die Darstellung der Empfindungen (beispielsweise auf einer Theaterbühne). Empfindungen sind nach Sulzers Verständnis elementar an die Leiblichkeit des empfindenden Subjekts gebunden, insofern auch ihre Gegenstände sich besonders durch ihren sinnlichen Charakter auszeichnen. Hiermit ist ein wesentlicher Schritt über den cartesianischen Dualismus von Seele und Leib hinaus getan.88 Auch Sulzers Sprachkonzeption lässt ihn als eine Übergangsfigur erscheinen. Zunächst begegnen dem Leser auch hier die rationalistischen Grundannahmen: Wörter fungieren als Repräsentationen von Vorstellungen bzw. Begriffen und syntaktische Einheiten wiederum repräsentieren komplexe Begriffsrelationen.89 Neben der kommunikativen Funktion sprachlicher Zeichen betont er
|| 84 Johann G. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Bd. 2. S. 1084. 85 Johann G. Sulzer: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen, und des Vermögens zu empfinden, befindet. In: derselbe: Vermischte philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. Leipzig: Weidmanns, 1773. S. 225–243; S. 236; vgl. auch Andrea Bartl: Im Anfang war der Zweifel. Zur Sprachskepsis in der deutschen Literatur um 1800. Tübingen: Francke, 2005. S. 48f. 86 Vgl. Johann G. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Bd. 2. S. 1084f. 87 Johann G. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Bd. 1. S. 314. 88 Vgl. Wolfgang Riedel: Erkennen und Empfinden. S. 417f. 89 „Es sind Wörter, deren jedes besonders genommen, das Zeichen einer Idee ist, einfache Redensarten, welche sehr einfache Verhältnisse zwischen zwo Ideen anzeigen; endlich Sätze, die aus mehrern Redensarten zusammengesetzt sind, und eine Folge von Verhältnissen ausdrücken. Dies ist der algebraischen Rechnung völlig gleichförmig, wo jeder Buchstabe, besonders genommen, eine Quantität anzeiget; zwei, vermittelst eines Zeichens ihres Verhältnisses,
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besonders die enge Verquickung von Vernunft und Sprache, da Wörter mentale Prozesse enorm erleichtern oder überhaupt erst ermöglichen: Auf der einen Seite glaubet man gewahr zu werden, daß die Sprache eine bis auf einen gewissen Grad angebaute Vernunft voraussetze, und auf der anderen Seite begreift man nicht, wie die Vernunft ohne Hülfe einer Sprache habe fortschreiten können. Diese beyden Vermögen scheinen zu gleicher Zeit die Ursache und die Wirkung von einander zu seyn.90
Sulzer nimmt hier Bezug auf die im 18. Jahrhundert intensiv geführte Sprachursprungs-Debatte, in der klassisch-rationalistische Sprachkonzepte zunehmend mehr in Bedrängnis kamen. Stellte sich doch die Frage, wie eine hochentwickelte vorsprachliche, an Begriffen ausgerichtete Erkenntnis nicht nur phylo-, sondern auch ontogenetisch entstehen konnte, ohne dass bei der Entwicklung bereits auf Sprachzeichen zurückgegriffen werden konnte. Den von Leibniz, Wolff und Baumgarten gebahnten Weg verlässt Sulzer hier, indem er Überlegungen des französischen Ästhetikers Charles Batteux (1713–1780)91 aufgreift, diese in seine Empfindungskonzeption integriert und darauf aufbauend eine ‚Sprache der Empfindung‘ entwickelt. Prototyp dieser ‚Sprache der Leidenschaften‘ ist die Musik, da sie Empfindungen unmittelbar – ohne die Repräsentation durch Zeichen – hervorrufen kann. Wie bei den Gegenständen der Empfindung trägt auch die ‚Sprache der Empfindung‘ das Wesensmerkmal der Sinnlichkeit. Aus der gemeinsamen Betrachtung von Erkenntnistheorie und Sprachkonzeption leitet Sulzer eine weitere Differenzierung ab: Philosophie und Wissenschaften zielten, so führt er in der Allgemeinen Theorie aus, auf das Erkennen von ‚erkenntlichen‘ oder ‚spekulativen‘ Gegenständen mittels deutlicher Begriffe ab und bedienten sich dazu der Verbalsprache in erklärender Art und Weise.92 Die ‚schönen Schwestern der Philosophie‘, Musik, Poesie und Malerei, richteten sich auf die Hervorrufung von Empfindungen, die sie mittels der ‚Sprache der
|| mit einander verbundene oder von einander getrennte Buchstaben eine Art von einfachem Satze ausmachen.“ Johann G. Sulzer: Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß der Vernunft in die Sprache und der Sprache in die Vernunft. In: derselbe: Vermischte philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. Leipzig: Weidmanns, 1773. S. 166–198; S. 166f. 90 Johann G. Sulzer: Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß. S. 166. In dieser Äußerung ist die Nähe zu Herders Sprachursprungs-Abhandlung erkennbar (vgl. Kap. II.4.5). 91 Vgl. Charles Batteux: Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. [Les Beaux-arts réduits à un même principe, 1747]. Übers. von Johann A. Schlegel. Leipzig: Weidmann, 1759. 92 Vgl. Johann G. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Bd. 1. S. 349.
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Empfindung‘ sinnlich ‚einpflanzten‘ und so wichtige Wahrheiten fühlbar machten.93 Eine Sonderstellung unter den schönen Künsten erhält dabei, wie Wolfgang Riedel herausstellt, die Dichtkunst, da sie die Verbalsprache und die Sprache der Empfindung in sich synthetisiert: Die Entdeckung des Sprachcharakters der Musik führt die Entdeckung des Musikcharakters der Sprache im Gefolge. Das an der Vokalmusik zutage tretende Phänomen, daß hier gleichsam in zwei Sprachen zugleich geredet wird, in der Sprache der Wörter oder der Vorstellungen und in der Sprache der Töne oder der Empfindungen, überträgt Sulzer auf die Dichtung und gelangt so zu der Erkenntnis, daß das Poetische an der Poesie gerade das sei, was an ihr nicht Sprache ist, sondern ‚den Charakter der Musik an sich hat‘.94
Diese Doppelnatur der Dichtkunst ist ein zentraler Aspekt für die Untersuchung des epistemologischen Bruchs um 1800, denn Sulzer leitet aus dieser eine genuin poetische Sprache ab, die sich nicht in der Repräsentation ästhetischer Vorstellungen erschöpft. Dichtung wird nicht nur von den übrigen Künsten, sondern auch von der sprachlich verfahrenden Philosophie und Rhetorik kategorisch geschieden, obwohl ihr gemeinsames Mittel die Verbalsprache ist. Die Verbalsprache wird von Sulzer in zwei völlig unterschiedliche, wenn auch nicht immer trennscharf bestimmbare, Dimensionen aufgespalten. Die Philosophie diene der Entdeckung neuer Wahrheiten, sie „vermehret den Vorrath unsrer Kenntnisse durch erweisliche Vernunftschlüsse“95 und muss die poetisch-musikalischen Aspekte der Sprache völlig vernachlässigen. Aufgabe der Poesie und Rhetorik sei es dagegen, „jede nützliche Wahrheit faßlich und mit eindringender Kraft begleitet vorzutragen und weiter auszubreiten, als die Philosophie es vermag […].“96 Die Dichtkunst ihrerseits ist von der Rhetorik durch ihre ästhetische Formung der Sprache unterschieden: Auch der Ausdruk des Redners ist von des Dichters seinem stark unterschieden. Jener nimt ihn aus der gewöhnlichen Sprache der Menschen, dieser findet den gemeinen Ausdruk selten stark genug; ungewöhnliche Figuren und Versetzungen, kühne Metaphern,
|| 93 „Zwar liegt die Erforschung und Entdekung der Wahrheit außer der Kunst; sie ist der Zwek der Philosophie; aber wichtige Wahrheiten fühlbar zu machen, ihnen eine würkende Kraft zu geben, sie dem Geist unauslöschlich einzuprägen, dies ist die edelste Anwendung der Kunst. Es ist noch zweifelhaft, ob der Philosoph, der wichtige Wahrheiten entdeket, oder der Künstler, der sie der Menge fühlbar macht, und sie zum Gebrauch ausbreitet, dem menschlichen Geschlecht einen wichtigern Dienst leiste.“ Johann G. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Bd. 2. S. 1262. 94 Wolfgang Riedel: Erkennen und Empfinden. S. 434. 95 Johann G. Sulzer: Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß. S. 191. 96 Johann G. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Bd. 2. S. 1087.
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Bilder, die dem anschauenden Erkenntniß mahlen, was der Redner dem Verstand entwikelt, sind des Dichters gewöhnliche Mittel zum Ausdruk.97
Als zentrale Ausdrucksmittel der Poesie nennt Sulzer Metaphorik, Allegorie und poetisches Symbol. Sie könnten sich, so führt er weiter aus, unter didaktischen Gesichtspunkten selbst in der Vernunfterkenntnis als hilfreich erweisen: Es giebt aber eine Classe von Wörtern, welche eine besondere Aufmerksamkeit verdienen, und deren Einfluß in die Vernunft noch wichtiger ist. Es sind dieses diejenigen Redensarten, welche vermöge ihrer ursprünglichen Bedeutung natürliche Zeichen der Ideen werden, welche sie ausdrücken. Durch natürliche Zeichen verstehe ich die Wörter, welche wirkliche oder metaphysische Aehnlichkeiten zwischen zwo Sachen ausdrücken, davon die eine dem eigentlichen Sinne des Wortes, die andere seinem figürlichen Sinne entspricht. […]. Daraus entstehen die metaphorischen Ausdrücke, vermittelst welcher die dunklen Ideen Leuten von geringern Fähigkeiten klar werden.98
Neben Metaphern, Allegorien und weiteren tropischen Figuren sind vor allem die musikalischen Qualitäten, „Wolklang, und das Empfindsame des Tones, nämlich das Feyerliche, Pathetische, Zärtliche, Fröhliche desselben“99, genuin poetische Sprachmittel. Bezeichnenderweise jedoch ist die Versform nicht notwendiges Merkmal poetischen Sprechens („Den eigentlichen förmlichen Vers rechnen wir nicht hieher; weil er aus überlegter Kunst entstanden ist; und weil die Sprach auch ohne ihn sehr poetisch seyn kann“100). Vernünftige Verbalsprache und tropisch-klangliche Formung in der poetischen Sprache setzt Sulzer in ein analoges Verhältnis von Körper und Kleid: Aber wir müssen nicht vergessen, anzumerken, daß das Poetische der Sprache nur das Kleid der Gedanken sey, dessen nur die Gedanken, die in ihrer nakenden Gestalt nicht genug ästhetische Kraft hätten, bedürfen; daß die Vorstellungen, die ohne diesen poetischen Schmuk Lebhaftigkeit genug haben, auch ohne Poesie der Sprache poetisch sind.101
Mit dieser Ausrichtung an der Musik bricht Sulzer auch mit einem Paradigma, das seit der Antike Dichtung an die Darstellung der bildenden Kunst band (ut pictura poesis erit).102 Mit der Umdeutung zu ‚ut musica poesis erit‘ wird die
|| 97 Johann G. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Bd. 1. S. 250f. 98 Johann G. Sulzer: Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß. S. 187. 99 Johann G. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Bd. 2. S. 1087. 100 Johann G. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Bd. 2. S. 910. 101 Johann G. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Bd. 2. S. 913. 102 Eine für die Mitte des 18. Jahrhunderts typische Wendung, vgl. Hubertus Kohle: Ut pictura poesis non erit. Denis Diderots Kunstbegriff. Hildesheim: Olms, 1989.
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nichtreferenzielle Dimension der Verbalsprache als poetisch begriffen. Sie stellt eine semiotische Dimension dar, die Wissenschaften und Philosophie nur bedingt oder überhaupt nicht zur Verfügung steht.
2.5 Zusammenfassung rationalistischer Sprachkonzeptionen Bei aller Disparatheit weisen die erläuterten rationalistischen Sprachkonzeptionen einige zentrale Gemeinsamkeiten auf, die stichpunktartig zusammengefasst werden sollen: Die Trias Gegenstand – Vorstellung/Idee/Begriff – sprachliches Zeichen: In enger Verflechtung von Sprach- und Erkenntnistheorie werden die drei Entitäten in einer speziellen Repräsentationskonstellation konfiguriert. Die Gegenstände der Wirklichkeit, die Vorstellungen, Ideen und Begriffe sind mentale Repräsentationen (Zeichen) der Gegenstände – die sprachlichen Zeichen (Worte) und deren Kombination (Rede) sind ihrerseits Repräsentationen der Vorstellungen, Ideen und Begriffe bzw. deren Relationen. Weder die autonome, objektive Existenz der Gegenstände, noch die Möglichkeit einer eindeutigen Referenz mittels adäquater Zeichen werden infrage gestellt. ‚Wahrheit‘ wird daher primär im Sinne von ‚wahrer Erkenntnis‘ als vorsprachliche Übereinstimmung von Vorstellungen/Ideen mit ‚der Wirklichkeit‘ verstanden. Erst Sulzer führt mit den Empfindungen eine weitere Größe ein, die nicht als Repräsentationsgehalt von Sprachzeichen transportiert, sondern vielmehr als Affekt durch Sprachzeichen im Subjekt hervorgerufen wird. Die Trennung von res und verba: Der rhetorisch-logischen Tradition verpflichtet bleiben res und verba die zwei Grundkategorien der Zeichenkonzeption, aus denen sich die Notwendigkeit einer korrekten und optimierten Bezeichnung der mentalen Inhalte durch sprachliche Zeichen ergibt. Jedoch werden die res in Gegenstände und mentale Gehalte differenziert. Da beide Repräsentationsschritte (Gegenstände – Vorstellungen, Vorstellungen – sprachliche Zeichen) unter bestimmten Bedingungen als eindeutige Relation entworfen werden, wird eine (wenn auch mittelbare) Repräsentation der Wirklichkeit mit sprachlichen Zeichen möglich. Lediglich zwei Faktoren wirken dabei limitierend: die natürliche Beschränktheit der menschlichen Erkenntnis und die Unzulänglichkeit der natürlichen Sprachen. Auch hier nimmt Sulzers Konzept der Empfindungen eine Grenzposition ein, da poetischer Effekt und Empfindung unmittelbar verbunden sind. Repräsentation durch Zeichen: Die korrekte Repräsentation ist der Garant von Wirklichkeits- und Welterkenntnis. In der Repräsentation sind Bezeichnendes und Bezeichnetes getrennte Entitäten, die entweder notwendig (natürliche
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Zeichen) oder willkürlich verbunden sind (verbalsprachliche Zeichen). Da arbiträre Zeichen in Einführung und Gebrauch der Gestaltung des Menschen unterworfen sind, bedarf es gewisser Regeln und Maßstäbe für diese Art der Repräsentation. Das utopische Ideal rationalistischer Sprach- und Zeichenkonzeptionen ist hierbei das Erreichen einer eindeutigen Abbildung; jeder Gegenstand und jedes seiner Merkmale wird durch eine Vorstellung repräsentiert, jede Vorstellung wird durch eine sprachliche Einheit repräsentiert. Mit diesem Ideal wären Vernunft/Logik und Sprache zur Deckung gebracht, objektive Welterkenntnis und sprachliche Weltbeschreibung werden möglich. Vor diesem Hintergrund ist es einleuchtend, dass Äquivokationen, Homonymien und Polyvalenzen, metaphorische oder allegorische Rede eine Abwertung in dem Sinne erfahren, dass sie eine rational-begriffliche Erkenntnis erschweren. Der Instrumentcharakter der Sprache: Sprache hat in der rationalistischen Philosophie den Charakter eines Instruments, und zwar in dreifacher Weise. Zunächst sind Instrumente nicht göttliche Geschenke, sondern Resultate der menschlichen Kulturtätigkeit. Dies wird ausführlich in den unterschiedlichsten Sprachursprungstheorien des 18. Jahrhunderts diskutiert. Dabei treten zunehmend säkular-anthropologische an die Stelle theologischer Erklärungen. Der Mensch hat das Vermögen, das Organon Sprache nach seinen Bedürfnissen bzw. den Anforderungen der Wirklichkeit zu formen, und er soll, so die feste Überzeugung, diese Optimierung auch vollziehen. Menschlicher Ursprung und menschliche Gestaltung widersprechen zweitens dem mystischen Ideal einer adamitisch-paradiesischen Sprache, bei der Bezeichnetes und Bezeichnendes ontologisch untrennbar in eines fallen. Nicht die Rückkehr zu einer göttlichmythischen Ursprache, sondern die Optimierung natürlicher Sprachen oder gar die Entwicklung einer idealen Universalsprache sind das erklärte Ziel rationalistischer Sprachreflexion (die Konzepte einer Ideal- und Universalsprache werden in Kap. III.2 und III.3 ausführlich thematisiert). Untersucht man die metaphorische Bestimmung von Sprache in den genannten Texten, so fällt drittens auf, dass es sich bei den bildgebenden Bereichen durchgehend um Kulturprodukte handelt, die ausschließlich oder zumindest primär einem konkreten Zweck untergeordnet sind. Rechenpfennige/Wechselscheine sollen das Rechnen bzw. den Handel erleichtern, besitzen jedoch keinen Eigenwert; Kleidung schützt den Körper; Wasserkanäle dienen dem möglichst verlustfreien Wassertransport. Die Sprachfunktionen: Der sprachliche Gebrauchswert ist durch zwei zentrale Funktionen bestimmt: die kognitive und die kommunikative Funktion. Kognitiv dienen sprachliche Zeichen der Repräsentation mentaler Bilder und damit der begrifflichen Erkenntnis, eine korrekte Repräsentation ermöglicht zudem eine Beschleunigung mentaler Erkenntnisprozesse. In kommunikativer Hinsicht
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wird Sprache durch pragmatische, diskursive und didaktische Funktionsaspekte bestimmt. Die Arbitrarität verbalsprachlicher Zeichen verlangt nicht nur Regeln und Maßstäbe bei der Einführung neuer sprachlicher Repräsentationen, sie rückt zunehmend hermeneutische Fragestellungen ins Blickfeld, die durch die traditionelle Rhetorik nicht mehr oder nur unzureichend beantwortet werden.103 Transparenz sprachlicher Zeichen: Wesentliches Merkmal der ideal funktionierenden Sprache ist ihre Transparenz für die von ihr transportierten Inhalte. Sprachliche Zeichen sind nicht nur den eigentlichen Erkenntnisgegenständen nachgeordnet, sie treten auch hinter das zu Kommunizierende zurück. Diese Transparenz wird meist auch von der dichterischen Sprachverwendung gefordert. Erst Ende des 18. Jahrhunderts wird die an der Rhetorik orientierte Sprachkonzeption u.a. bei Sulzer modifiziert und eine eigene ‚Sprache der Leidenschaften‘ bestimmt, die nicht nur durch Rhythmisierung, Reim etc. von der Alltags- und ‚Philosophiesprache‘ abweicht, sondern auch in ihrer Funktion anders bestimmt wird. Zwar bleiben auch in der Konzeption der poetischen Sprache sprachliche Zeichen und repräsentierte Inhalte strikt getrennt, doch „[d]ie nachgeordnete Stellung der Zeichen gegenüber dem Bild gerät ins Wanken“, wie Waldemar Fromm festhält, so „wird die Intransparenz der Sprache zum Thema ästhetischer Fragestellungen, das Unsagbare tritt deutlicher in den Vordergrund“104. Die Grenzen der Sprache: In der rationalistischen Sprachphilosophie verlaufen die Grenzen der Sprache entlang der Erkenntnisgrenzen des menschlichen Verstandes. Dabei kann es sich um eine dem Menschen kategorisch unzugängliche Form der Erkenntnis handeln, die etwa nur einem allwissenden Gott verfügbar ist, oder um eine Form der Erkenntnis, die dem Menschen grundsätzlich möglich, aufgrund seiner Endlichkeit jedoch unerreichbar bleiben muss. Diesseits dieser Grenzen ist jedoch alle klar-deutliche Erkenntnis auch sprachlich repräsentier- und kommunizierbar. Erst nachdem das niedere Erkenntnisvermögen gleichwertig neben das höhere, begriffliche Erkenntnisvermögen gestellt wird, entwickelt sich die Möglichkeit einer Erkenntnis, die zu Recht als solche bezeichnet wird und dennoch nicht sprachlich-propositional repräsentiert werden kann. Die daraus resultierende Unsagbarkeit ist nun allerdings keine des
|| 103 Vgl. Hendrik Birus: Zum Verhältnis von Hermeneutik und Sprachtheorie im 18. Jahrhundert. In: Sprachtheorie. Der Sprachbegriff in Wissenschaft und Alltag. Hrsg. von Rainer Wimmer. Düsseldorf: Schwan, 1987. S. 143–174. 104 Waldemar Fromm: An den Grenzen der Sprache. Über das Sagbare und das Unsagbare in Literatur und Ästhetik der Aufklärung, der Romantik und der Moderne. Freiburg i. Br.: Rombach, 2006. S. 173.
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Verstummens, sondern im Gegenteil die Basis, auf der eine neue, gänzlich andere Sprache entworfen werden kann (vgl. Kap. IV.3.2). Der Sprachgebrauch in Dichtung und Poesie: Die rationalistische Reflexion des Sprachgebrauchs von Dichtung und Poesie entwirft diese meist in Abgrenzung zum philosophisch-wissenschaftlichen Sprachgebrauch. Unter dem Primat der Trias Gegenstand – Vorstellung/Begriff – Sprachzeichen und der idealerweise transparenten sprachlichen Repräsentation werden dieselben Strukturen und Mechanismen auch für die poetische Sprache angesetzt. Unter diesen Bedingungen erscheint Literatur als defizitäre Repräsentation – Jan Urbich bezeichnet dies als das ‚referenzielle Defizit der Literatur‘: Wo Wahrsein an Propositionalität und gelingende Referentialität geknüpft ist, d.h. an eine Behauptungs- und eine Übereinstimmungsbedingung mit dem „der-Fall-Sein“ von Sachverhalten, und weiterhin als Teil eines Konzepts von theoretischem Wissen verstanden wird, das neben der Wahrheitsbedingung auch eine Überzeugungsbedingung und eine Begründungsbedingung einfordert, da muss Literatur (zumindest im engen Sinn fiktionale) als Kandidat des epistemischen Diskurses ausscheiden: Literarische Sätze behaupten nichts in Form von referentiell verifizier- oder falsifizierbaren Propositionen.105
Auf den Ästhetikern des 17. und 18. Jahrhunderts lastet daher ein gewisser Legitimationsdruck. Sie müssen nachweisen, dass Künste und besonders die Dichtung in Dignität und Relevanz den wissenschaftlich-philosophischen Diskursen in nichts nachstehen. Ein argumentativer Ausweg wird hierbei in dem Postulat gesucht, dass beide Diskursbereiche auf einer gemeinsamen Basis ruhten und lediglich in Funktion, in ihren Gegenstände und Darstellungsformen unterschieden werden könnten bzw. müssten.
3 Empiristische und sensualistische Sprachkonzeptionen Die an Descartes anknüpfende Entwicklung einer rationalistisch-universalistischen Sprachreflexion war sehr schnell der Kritik seitens empiristischer, später sensualistischer Positionen ausgesetzt. Die sprachphilosophischen Überle-
|| 105 Jan Urbich: Der Begriff der Literatur, das epistemische Feld des Literarischen und die Sprachlichkeit der Literatur. Einleitende historische Bemerkungen zu drei zentralen Problemfeldern der Literaturtheorie. In: Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven. Hrsg. von Alexander Löck und Jan Urbich. Berlin, New York: De Gruyter, 2010. S. 9–62; S. 33f. DOI 10.1515/9783110464252-011, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
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gungen wurden hier wie dort als Teilgebiet der Erkenntnistheorie betrachtet. Insofern sind die kontroversen Auseinandersetzungen häufig solchen Differenzen geschuldet, die primär aus erkenntnistheoretischen Grundannahmen resultieren. Dies erklärt sich aus der sowohl dem Rationalismus wie auch dem Empirismus eigenen Annahme, dass menschliche Erkenntnis wesentlich vorsprachlich zu denken ist und Sprache erkenntnistheoretisch als „potenzieller Störfaktor“106 erscheint.
3.1 George Berkeley (1685–1753) George Berkeley wird in philosophiehistorischen Darstellungen ganz unterschiedlichen Positionen zugeordnet. Er wurde als Idealist, Nominalist und Empirist bezeichnet. Da im Folgenden hauptsächlich die sprachtheoretischen Implikationen seiner Texte relevant sind, schließt sich die vorliegende Arbeit Elisabeth Leissʼ pragmatischer Feststellung an: „Jeder, der von der Arbitrarität der Relation zwischen Welt und Sprache, aber zusätzlich von der Motiviertheit der Relation zwischen Welt und Vernunft ausgeht, lässt sich dem sprachphilosophischen Empirismus zuordnen.“107 Die in Berkeleys Notizen und in den Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge (1710) vertretenen Positionen können in diesem Sinn als empiristische Sprachtheorie bezeichnet werden. Berkeley bezieht sich unmittelbar auf Lockes Essay und kritisiert diesen in einem zentralen Aspekt, der Unterscheidung von einfachen und komplexen Ideen (‚Modi‘ und ‚Relationen‘). Berkeley akzeptiert die einfachen, direkt mit der Wirklichkeit korrespondierenden Ideen, lehnt aber die Existenz abstrakter Ideen (‚abstrakt-allgemeiner Ideen‘) kategorisch ab. Hierzu führt er ein einfaches Beispiel an: Wenn man von den einzelnen individuellen Menschen dasjenige abstrahiere, was allgemein und wesentlich für die Idee ‚Mensch‘ sei, und all das nicht berücksichtige, was nur einzelnen Individuen zukomme, so fiele etwa die Hautfarbe als nichtwesenhaftes Merkmal weg. Die Idee ‚Mensch‘ oder ‚Menschheit‘ oder auch ‚menschliche Natur‘ habe nach dieser Abstraktion das Merkmal irgendeiner Farbe, aber eben nicht einer konkreten Farbe. Gleiches gelte dann für Größe, Gewicht, Haare usw. Berkeley hält fest, dass aber eine solche abstrakte Idee in sich widersprüchlich sei, da die Idee ‚Mensch‘ sowohl die Idee ‚dunkle Hautfarbe‘ wie ‚helle Hautfarbe‘ gleichzeitig enthalte. Eine in sich widersprüchliche Idee könne nicht existieren. Was alleine existieren kön-
|| 106 Eugenio Coseriu: Geschichte der Sprachphilosophie. S. 227. 107 Elisabeth Leiss: Sprachphilosophie. Berlin, New York: De Gruyter, 2009. S. 101.
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ne, sei „die Idee eines Menschen, die ich mir bilde, die eines weißen oder schwarzen oder braunen, eines gerade oder krumm gewachsenen, eines großen oder kleinen oder mittelgroßen Menschen“.108 Berkeley resümiert: „Mit der Bildung der zuvor beschriebenen Idee [also die abstrakte Idee ‚Mensch‘, M.I.] sind meine Geisteskräfte überfordert.“109 Locke habe nur deswegen abstrakte Ideen annehmen können, weil er unausgesprochen eine hinter den Erscheinungen verborgene Substanz voraussetze, die als Träger der Merkmale fungiere, und das obwohl er explizit die Annahme einer Trägersubstanz verwerfe. Berkeleys Lösung des Dilemmas ist das Konzept einer metonymischen Repräsentation. Einfache oder konkrete Ideen dienen hierbei zunächst als Repräsentation für individuelle Gegenstände. Sie können aber zusätzlich metonymisch für eine ganze Klasse von Gegenständen stehen und in dieser Repräsentationsrelation zu allgemeinen Ideen werden: „Allgemeinheit (universality) besteht […] nicht in dem absoluten positiven Wissen oder der Denkbestimmung (conception) von irgendetwas, sondern in der Beziehung, in der etwas zu den Einzeldingen steht, die es bezeichnet oder repräsentiert.“110 Die Idee eines konkreten Menschen mit konkreter Hautfarbe, Größe, Wuchs usw. kann so für eine Klasse von Menschen oder eben die Menschheit an sich stehen. Hier ist Berkeleys Philosophie in einem radikaleren Sinne ‚empirisch‘ als Lockes Essay. Ideen bleiben für ihn stets an die Wahrnehmung und damit an eine Wirklichkeitsreferenz gekoppelt: Denn die Rede von der absoluten Existenz nichtdenkender Dinge ohne alle Beziehung auf ihr Wahrgenommenwerden scheint schlechthin unverständlich zu sein. Ihr esse ist percipi, und es ist nicht möglich, daß ihnen irgendein Dasein außerhalb der Geister oder denkenden Dinge, die sie wahrnehmen, zukäme [...] denn eine Idee haben und wahrnehmen ist ein und dasselbe.111
Auch die Annahme einer unabhängig von erkennenden Wesen existierende Wirklichkeit, auf der Locke insistiert, lehnt Berkeley kategorisch ab. Das erkennende menschliche Subjekt habe nur Ideen – keine Wirklichkeit. Ideen der realen Wirklichkeit seien lediglich spezieller Natur, da sie nicht der Willkür des Subjekts unterlägen, sie seien dem menschlichen Geist von Gott gegeben:
|| 108 George Berkeley: Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis. [Treatise concerning the principles of human knowledge, 1710]. Hrsg. von Arend Kulenkampff. Hamburg: Meiner, 2004. S. 10. 109 George Berkeley: Eine Abhandlung über die Prinzipien. S. 10. 110 George Berkeley: Eine Abhandlung über die Prinzipien. S. 15. 111 George Berkeley: Eine Abhandlung über die Prinzipien. S. 26–28.
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Die den Sinnen vom Urheber der Natur eingeprägten Ideen heißen ‚wirkliche Dinge‘, diejenigen, die in der Einbildung hervorgerufen werden und nicht so regelmäßig, lebhaft und beständig sind, werden sprachlich angemessener ‚Ideen‘ genannt oder ‚Bilder von Dingen‘, die sie nachahmen und repräsentieren.112
Diese häufig kritisierte ontologische Wendung erlaubt es Berkeley, die Existenz von realen Gegenständen anzuerkennen113 und gleichzeitig von der Erkenntnis durch ein Subjekt abhängig zu machen: Gegenstände und Ideen werden auf diese Weise identisch. Hier schließt sich der Kreis zur Ablehnung abstraktallgemeiner Ideen. Alle existierenden Gegenstände sind widerspruchsfrei und bestimmt in allen möglichen Merkmalen. Da existierende Gegenstände Ideen sind, Widersprechendes aber nicht als existent gedacht werden kann, können folglich widersprüchliche und/oder unbestimmte Ideen – und als solche begreift Berkeley Lockes abstrakt-allgemeine Ideen – nicht existieren. Berkeley geht anschließend der Frage nach, wie die irrige Annahme abstrakter Ideen überhaupt entstehen konnte, und identifiziert den willentlichen aber auch unbemerkten „Mißbrauch der Sprache“114 als Ursache der Verwirrung. Sprachliche Zeichen könnten, so seine Überlegung, einfache Ideen repräsentieren, aber auch eine ganze Klasse an Ideen, etwa so wie auch eine konkrete Idee metonymisch eine ganze Klasse ähnlicher Ideen repräsentieren könne: „Es scheint jedoch, daß ein Wort dadurch allgemein wird, daß es zum Zeichen nicht einer abstrakten allgemeinen Idee, sondern mehrerer Einzelideen gemacht wird, die es unterschiedslos im Bewußtsein wachruft.“115 Weil Locke dieses Prinzip nicht erkannt und eine allgemeine Abstraktion vom Individuellen auch bei Wörtern angenommen habe, sei er der Annahme verfallen, es gebe ‚abstrakte Ideen‘. Berkeley geht in seiner Kritik noch einen Schritt weiter. Es gebe auch Worte, die gar keine Idee bezeichneten, sondern lediglich durch eine Definition in ihrem Gebrauch geregelt seien: „Es ist eine Sache, einen Namen stets im Sinne einer bestimmten Definition zu gebrauchen, und eine andere, mit ihm überall dieselbe Idee zu bezeichnen. Das eine ist notwendig, das andere zwecklos und undurchführbar.“116 Eugen Coseriu charakterisiert Berkeleys Vorgehen als negative Definition: „In seiner Kritik definiert Berkeley die Bedeutung gewisserma-
|| 112 George Berkeley: Eine Abhandlung über die Prinzipien. S. 41. 113 „Ich bestreite nicht die Existenz von irgendetwas, das wir mit den Sinnen oder durch Reflexion erfassen können.“ George Berkeley: Eine Abhandlung über die Prinzipien. S. 42. 114 George Berkeley: Eine Abhandlung über die Prinzipien. S. 7. 115 George Berkeley: Eine Abhandlung über die Prinzipien. S. 12. 116 George Berkeley: Eine Abhandlung über die Prinzipien. S. 19.
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ßen ex negativo: Sie besteht nicht in bildlichen Einzelvorstellungen, sie ist vielmehr etwas Begriffliches.“117 Sprachliche Zeichen könnten, so Berkeley, ganz ähnlich wie Buchstaben im algebraischen Symbolismus als reine Platzhalter ohne Referenz auf eine Idee fungieren. Folglich könne es nicht die eine feststehende Bedeutung eines sprachlichen Zeichens geben. Sprachliche Repräsentation scheint nach dieser Auffassung von zu vielen variablen Faktoren abzuhängen, so dass sie als zuverlässiges Instrument menschlicher Erkenntnis disqualifiziert ist. Eine der rationalistischen Sprachtheorie vergleichbare mentale Funktion kann Berkeley der Sprache folglich nicht zusprechen. Vielmehr müsse die Sprache im Erkenntnisakt wie ein hinderndes Kleid118 abgestreift werden: „Da somit Wörter den Verstand so leicht hinters Licht führen können, werde ich mich bestreben, sämtliche Ideen, die ich betrachte, gleichsam nackt und bloß in den Blick zu nehmen [...]“.119 Es bedürfe der „völligen Befreiung von der Täuschung durch Wörter“, um nur „die Ideen rein als solche zu betrachten“.120 Diese radikale Einstellung hat auch Konsequenzen für Berkeleys Verhältnisbestimmung von Wissenschaften und Dichtung. Nachdem Ideen und Gegenstände identisch sind, müssen Fiktionen wie Träume als etwas ontologisch Defizitäres erscheinen.121 Diese Inkohärenz poetischer Elemente nennt Jan Urbich den „metaphysische[n] Vorbehalt“ oder auch „das ontologische Defizit der Literatur“.122 Dichtung kann so den Status von Erkenntnis nicht erlangen und bleibt stets ein überzähliges Versatzstück im Spektrum menschlichen Tuns.
3.2 David Hume (1711–1776) David Hume unterzieht die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Wirklichkeitserkenntnis einer radikalen Prüfung und ist hierbei bereit, vermeintlich sichere Evidenzen zu verabschieden. Prominent ist seine psychologisch ausge-
|| 117 Eugenio Coseriu: Geschichte der Sprachphilosophie. S. 233. 118 Wie Eugenio Coseriu feststellt, beruht Berkeleys Sprachkritik eigentlich auf der Ablehnung eines nicht tragfähigen Sprachverständnisses (vgl. Eugenio Coseriu: Geschichte der Sprachphilosophie. S. 230–235). 119 George Berkeley: Eine Abhandlung über die Prinzipien. S. 21. 120 George Berkeley: Eine Abhandlung über die Prinzipien. S. 22. 121 Vgl. Arend Kulenkampff: George Berkeley. München: Beck, 1987. S. 110. 122 Jan Urbich: Der Begriff der Literatur. S. 28f.
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richtete Kritik der Kausalrelation.123 Auch Berkeleys theologische Begründung sinnlicher Wahrnehmungen lehnt Hume ab, was zur Folge hat, dass Ideen und Vorstellungen nicht mehr unmittelbar mit den Phänomenen der Wirklichkeit verbunden sind, sondern zu arbiträren Repräsentationen werden. Dennoch vertritt Hume keinen allgemeine Relativismus, denn um die Wirklichkeitserkenntnis zu sichern, setzt er „eine Art prästabilierter Harmonie“ voraus, die eine Relation „zwischen dem Laufe der Natur und der Abfolge unserer Ideen“124 garantieren soll. Im erkennenden Subjekt sorgt, wie Hume in Enquiry into Human Understanding (1747) ausführt, ein innerer Trieb oder Instinkt dafür, dass die Ideen aus der Wirklichkeit ‚abgeleitet‘ werden: Es entspringt mehr der üblichen Weisheit der Natur, einen so notwendigen Akt des Geistes durch einen Instinkt oder eine mechanische Tendenz (instinct or mechanical tendency) sicherzustellen; denn diese kann unfehlbar in ihrer Wirksamkeit sein […]. Wie die Natur uns den Gebrauch unserer Glieder gelehrt hat, ohne uns Kenntnis von den Muskeln und Nerven zu geben, die sie bewegen, so hat sie uns einen Instinkt eingepflanzt, welcher unser Denken in einer Richtung vorwärts treibt, die mit jener übereinstimmt, die sie für die äußeren Dinge festgesetzt hat; obwohl wir die Mächte und Kräfte nicht kennen, von denen diese regelmäßige Reihe und Folge von Gegenständen ganz und gar abhängt.125
So pragmatisch und knapp Hume die metaphysischen Grundlagen menschlicher Erkenntnis an dieser Stelle abhandelt, so pragmatisch sind auch die sprachtheoretischen Überlegungen in seinen Texten. Allein die Tatsache, dass er der Untersuchung menschlicher Sprache weder in A Treatise of Human Nature (1739–1740) noch in Enquiry into Human Understanding ein eigenständiges Kapitel widmet, lässt die untergeordnete Rolle erkennen, die Sprache in seiner Erkenntnistheorie einnimmt: Wenn wir gefunden haben, dass mehrere Gegenstände, die uns oft begegneten, Ähnlichkeit haben, so brauchen wir für alle denselben Namen […]. Wenn dies nun für uns Sache der Gewohnheit geworden ist, so erwecket der Klang jenes Namens zunächst die Vorstellung eines jener Gegenstände und bewirkt, dass die Einbildungskraft diesen mit allen seinen bestimmten Eigenschaften und Größenverhältnissen erfasst. Wie wir voraussetzen, ist aber dasselbe Wort häufig auch auf andere Einzeldinge angewandt worden, die in manchen Beziehungen von jener dem Geiste unmittelbar gegenwärtigen Vorstellung verschieden sind. Die Vorstellungen aller dieser Einzeldinge nun vermag das Wort nicht wachzu-
|| 123 Vgl. z.B. David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. [Philosophical Essays concerning human Understanding, 1748]. Übers. von Raoul Richter, überarb. von Lambert Wiesing. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007. S. 45–48. 124 David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. S. 78. 125 David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. S. 79.
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rufen. Es berührt aber, wenn ich so sagen darf, die Seele, und ruft jene Gewöhnung wach, welche wir bei der Betrachtung derselben erworben haben. […]. Da die Hervorrufung aller Vorstellungen, für die der Name gilt, in den meisten Fällen unmöglich ist, so kürzen wir jene Arbeit durch eine bloß teilweise Betrachtung ab.126
Die Verknüpfung von Zeichen und Idee beruht auf nichts anderem als einer psychologischen Konditionierung. Bezeichnet ein Wort gewohnheitsgemäß verschiedene Einzelideen, so kann eine dieser einzelnen Ideen als allgemeine die anderen repräsentieren – die Nähe zu Berkeley ist in diesem Punkt offensichtlich. Die sprachlichen Gewohnheiten werden wie Moralvorstellungen von einer stillschweigenden gesellschaftlichen Konvention „ohne jedes Versprechen oder jeden Vertrag“127 getragen. So verschränkt Hume in An Enquiry Concerning the Principles of Morals (1751) Moral- und Sprachkonvention miteinander. „Je mehr wir mit den Menschen reden […], desto vertrauter werden wir mit diesen allgemeinen Vorlieben und Unterschieden, ohne welche unsere Unterhaltung und Rede anderen kaum verständlich zu machen wäre.“128 Wortbedeutungen sind weder allgemein noch stets eindeutig oder determiniert: „Jeder kann Wörter so benutzen, wie er will.“129 An Enquiry endet mit einem nachgestellten fiktionalen Dialog, in dem der Freund des Erzählers Palamedes von seiner Reise in das fiktive Land Fourli berichtet. Fourli zeichnet sich dadurch aus, dass dort eine völlig andere Moralvorstellung als im Heimatland des Erzählers und seines Freundes herrscht. Palamedes stellt nun die Schwierigkeiten beim Erlernen der Sprache in Fourli dar: „Zunächst mußte ich den Sinn der Wörter ihrer Sprache lernen und dann die Bedeutung dieser Wörter und wie sie mit Lob und Tadel verbunden sind.“130 Hier zeigen sich die zwei Stufen sprachlicher Repräsentation nach Hume. Zunächst muss Palamedes die gewohnheitsgemäße Bezeichnung des Wortes, seine Verknüpfung mit einer speziellen Idee erlernen – dies nennt Hume ‚Sinn‘. Anschließend kann er die konventionalisierte Verknüpfung dieser Idee mit anderen Ideen erlernen. Im Beispiel handelt es sich um die mit einem Wort
|| 126 David Hume: Traktat über die menschliche Natur. Ein Versuch, die Methode der Erfahrung in die Geisteswissenschaft einzuführen. [A Treatise of Human Nature. Being an Attempt to Introduce the Experimental Method of Reasoning into Moral Subjects, 1739–1740]. Übers. von Theodor Lipps. Berlin: Xenomoi, 2004. S. 37. 127 David Hume: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral. [An Enquiry Concerning the Principles of Morals, 1751]. Übers. und hrsg. von Manfred Kühn. Hamburg: Meiner, 2003. S. 147. 128 David Hume: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral. S. 65. 129 David Hume: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral. S. 163. 130 David Hume: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral. S. 165.
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verbundenen moralischen Konnotationen (Lob und Tadel) – dies nennt Hume ‚Bedeutung‘. Nach Hume ist es die Bedeutung, die in der Kommunikation zu Missverständnissen führt, da die Verknüpfung verschiedener Ideen zwar einem konventionalisierten Muster folgt, aber in der konkreten Realisierung durch das Subjekt assoziativ vorgenommen werden muss. Sinn und Bedeutung können sogar in Konflikt geraten; Hume fügt in diesem Punkt dem empiristischen Sprachskeptizismus eine weitere Facette hinzu. Für die Untersuchung der diskursiven Formationen von Wissenschaften und Dichtung ist der dritte mit Über die Assoziation der Ideen überschriebene Abschnitt von Enquiry into Human Understanding von besonderer Bedeutung. Hier erläutert Hume die Notwendigkeit, Ideen stets nach Plan und Ziel zu kombinieren. Die drei Prinzipien der Kombination von Ideen sind Ähnlichkeit, Berührung (in Zeit oder Raum) und Verursachung.131 Anhand dieses Aspektes und unter Verweis auf Aristoteles’ Poetik entfaltet er den Unterschied zwischen Geschichtsschreibung und (erzählender) Dichtung, deren Darstellung einer Handlung Hume als kausale Verknüpfung von Ideen deutet. In der epischen Dichtung ist die Verknüpfung zwischen den Ereignissen enger und fühlbarer; die Erzählung erstreckt sich nicht über eine so lange Zeitspanne, und die handelnden Personen eilen einem bedeutsamen Abschnitt zu, der die Neugierde des Lesers befriedigt. Dies Verfahren des Epikers beruht auf jenem besonderen Zustand der Einbildungskraft und der Affekte, der Voraussetzung dieser Schaffensart. Die Einbildung des Schriftstellers wie des Lesers ist belebter und die Affekte sind erhitzter als bei Geschichtsschreibung, Biographie oder irgendeiner Art von Bericht, der sich auf strenge Wahrheit und Wirklichkeit beschränkt.132
Die Relevanz dieser Überlegungen liegt nicht so sehr in ihrem poetologischen Gehalt begründet, sondern in der Tatsache, dass die sprachliche Gestaltung für die Differenzierung von Geschichtsschreibung und Dichtung keinerlei Berücksichtigung findet. In der Beschränkung auf den Aspekt der Ideen-Verknüpfung sind beide beinahe nicht zu unterscheiden: So wird es schwierig, wenn nicht unmöglich sein, in Worten die Schranken genau zu bestimmen, die sie [die Geschichtsschreibung und Dichtung, M.I.] voneinander trennen. Das ist mehr Sache des Geschmacks als der Schlußfolgerung […].133
|| 131 Vgl. David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. S. 44. 132 David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. S. 36f. 133 David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. S. 42.
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Aus dem siebten und achten Abschnitt, in denen Hume die prominente Trennung von mathematical science und moral sciences vornimmt, ergibt sich eine sprachtheoretische Konsequenz für den dichterischen Sprachgebrauch aus der Nähe von Geschichtsschreibung und Dichtung. Die moral sciences haben demnach Ideen zum Gegenstand, die meist der reflection, also nicht der äußeren Wahrnehmung entstammen und daher nicht klar und bestimmt sind. Dies führt zu einer Zweideutigkeit in der sprachlichen Repräsentation: „Das Haupthindernis unseres Vorwärtskommens in den Geistes- oder metaphysischen Wissenschaften ist demnach die Dunkelheit der Ideen und die Zweideutigkeit der Bezeichnungen (terms).“134 Dunkelheit und Zweideutig weisen also auch indirekt die Dichtung unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten als defizitär aus.
3.3 James Harris (1709–1780) James Harris legt – anders als die bisher erläuterten empiristischen Philosophen – großes Gewicht auf die Untersuchung der Sprache. Ein zentraler Text ist hier die 1751 erschienene Abhandlung Hermes, or a Philosophical Inquiry Concerning Universal Grammar. Drei hierarchisch geordnete Fähigkeiten stellen die Bedingung menschlicher Erkenntnis nach Harris dar: Erstens die sinnliche Wahrnehmung, zweitens die Phantasie, Imagination oder Einbildungskraft und drittens der Verstand. Die sinnliche Wahrnehmung bildet die ersten Vorstellungen von äußeren Gegenständen, die „flüchtiger und wandelbarer als die Gegenstände selbst [sind], welche sie abbilden, weil sie nicht nur von der Existenz dieser Gegenstände abhängen, sondern auch ohne ihre unmittelbare Gegenwart nicht stattfinden können“135. Da die Wahrnehmung unmittelbar an die Gegenwart gebunden ist, bedarf es der Imagination, die das Wahrgenommene über die Gegenwart hinaus so speichert, dass es wieder hervorgerufen werden kann, selbst wenn die Gegenstände der Wahrnehmung bereits entfernt wurden. Die Imagination vergleicht Harris mit einer Wachstafel, die die bewahrten Vorstellungen bzw. Ideen dem Verstand darbietet. Dieser erkennt, „was in dem Mehreren Eins, und was in dem Unähnlichen und Verschiedenen Ähnlich und Einerley ist. So gelangt er zur Betrachtung einer Art von höheren Gegenständen; einer neu-
|| 134 David Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. S. 85. 135 James Harris: Hermes oder philosophische Untersuchung über die allgemeine Grammatik. [Hermes, a Philosophical Inquiry Concerning Universal Grammar, 1751]. Übers. von Christian G. Ewerbeck [1788]. Hrsg. von Friedrich A. Wolf. Hildesheim: Olms, 1987 [1788]. S. 281.
James Harris (1709–1780) | 79
en Gattung von Vorstellungen“.136 Diese höheren Vorstellungen nennt Harris general or universal ideas. Indem Harris die Verstandestätigkeit als eine Art innere Wahrnehmung konzipiert, als eine „selbstthätige und ihm [dem Verstand, M.I.] ebenso natürliche Verrichtung, als das Sehen der Farben dem Auge natürlich ist“137, versucht er die Kritik Berkeleys an Lockes abstrakten Ideen zu entkräften. Genau genommen handelt es sich bei den höheren Vorstellungen nicht um abstrahierte Ideen, die durch ein Abtrennen oder Abziehen gewonnen werden, sondern um allgemeine Ideen, die durch die Anschauung des Allgemeinen und Unveränderlichen in den vielen einfachen Vorstellungen gewonnen werden. Durch diese Wendung kann Harris die Repräsentationskette (Gegenstände – Wahrnehmung durch Sinne – sinnliche Ideen – allgemeine Ideen) aufrechterhalten. Die Repräsentation der Wirklichkeit durch Ideen wird bei Harris als ‚Entsprechung in der Form‘ konzipiert. Eine Idee haben „heißt, eine innere Form haben, die der äußeren entspricht; nur mit dem Unterschiede, daß die innere Form des Stoffs beraubt ist, da hingegen die äußere einen solchen hat, z.B. Metall, Holz, und dergleichen.“138 In seiner Zeichentheorie greift er diesen Dualismus von Stoff und Form erneut auf, wobei ‚Stoff‘ das mehreren Dingen Gemeinsame und ‚Form‘ das Individuelle bezeichnet. Der Stoff sprachlicher Zeichen ist demnach ihre materielle Bestimmung als Schall, die sie allerdings mit Geräuschen gemein haben. Ihre Form ist der arbiträre Sinn, der sie z.B. von tierischen Lauten trennt. Sprachliche Repräsentation bestimmt Harris ex negativo auf zweifache Art. Erstens stellt er fest, dass es zwei Arten zeichenhafter Repräsentation gebe: Die erste ist die nachahmende Abbildung ‚natürlicher Attribute‘, die zweite die symbolische Darstellung durch ‚völlig willkürliche Akzidenzen‘.139 Nachdem es mittels Schall nicht möglich sei, die natürlichen Attribute der Dinge nachzuahmen, handle es sich folglich bei sprachlichen Zeichen um Symbole (Onomatopoetika berücksichtigt Harris nicht). Zweitens prüft er Humes These, dass alle Wörter zunächst Individuen, Einzelgegenstände oder einfache Ideen repräsentierten. Wäre dies tatsächlich der Fall, so Harris’ Überlegung, wären alle Wörter Eigennamen und es gäbe den Gegenständen entsprechend unendlich viele Wörter, die kein endlicher Mensch lernen könne. Außerdem müssten Sprachen unverständlich sein, da etliche Wörter ihrer Bedeutung beraubt wären, wenn
|| 136 James Harris: Hermes. S. 289. 137 James Harris: Hermes. S. 288f. 138 James Harris: Hermes. S. 301. 139 Vgl. James Harris: Hermes. S. 264.
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die Dinge, die sie repräsentierten, aus der Lebenswirklichkeit verschwunden sind. Beides sei offensichtlich nicht der Fall und so folge, dass Wörter Zeichen allgemeiner Ideen seien. Eigennamen hält Harris daher auch „kaum für Theile der Sprache“140. Zur Illustration greift er Berkeleys Beispiel ‚Mensch‘ auf. Das Wort ‚Mensch‘ bezeichne eine allgemeine Idee und könne in Kombination als ‚ein Mensch‘, ‚dieser Mensch‘, ‚der zweite Mensch‘ usw. durchaus auch konkrete Ideen bzw. Individuen repräsentieren. Auch Harris’ Sprachkonzeption ist eng mit der Frage eindeutiger Wirklichkeitsrepräsentation und folglich mit erkenntnistheoretischen Aspekten verbunden. Die Dichtung rückt er vor diesem Hintergrund in ein Abhängigkeitsverhältnis zu Logik und Grammatik. Der klassischen Einteilung der septem artes liberales folgend weist Harris der Grammatik die Funktion zu, die Sprache zu analysieren, der Logik, die sprachliche Zusammensetzung „die sich lediglich auf unsern Verstand oder unsre Vernunft bezieht“141, zu regeln und der Rhetorik und Dichtkunst die Funktion, die Einbildungskraft, Affekte und Empfindung zu erregen. Rhetorik und Dichtkunst sind daher auf Logik und Grammatik angewiesen, nicht jedoch umgekehrt. Grundsätzlich voneinander geschieden sind Dichtung und Philosophie bzw. Wissenschaften jedoch nicht, da das artesModell die unterschiedlichen Künste als ein Kontinuum menschlicher Fähigkeiten impliziert: „Doch dürfen wir diese Künste auch nicht nothwendig als verschieden und getrennt uns denken; es läßt sich vielmehr [...] leicht bemerken, wie genau sie sich an einander anschließen.“142 Allerdings scheint Harris das ontologische Defizit, das auf der Dichtung unter dem Blickpunkt einer referenziell-instrumentellen Sprachkonzeption lastet, abmildern zu wollen. Anders als Berkeley und Hume begreift er die Repräsentation wirklicher Gegenstände durch Ideen nicht als ‚sensualistische Einbahnstraße‘ (nihil est in intellectu quod non prius fuit in sensu). Stattdessen kennt er auch Beispiele einer gegenläufigen Repräsentation („Nihil est in Sensu, quod non prius fuit in Intellectu“143) und zwar immer dann, wenn einer Idee durch einen produktiven Prozess ein Gegenstand folgt. Prototypisch ist hier die Situation eines Handwerkers oder Mechanikers, der zunächst die allgemeine Idee eines technischen Geräts entwickelt, dessen Realisierung plant und es schließlich herstellt. Harris sieht in dieser gegenläufigen Repräsentation ein Spiegelbild des göttlichen Schöpfungsaktes. Auch wenn Harris diesen Gedanken nicht expli-
|| 140 James Harris: Hermes. S. 276. 141 James Harris: Hermes. S. 5. 142 James Harris: Hermes. S. 6. 143 James Harris: Hermes. S. 320.
Adam Smith (1723–1790) | 81
zit auf die Hervorbringung poetisch-fiktionaler Texte anwendet, bietet er zumindest potenziell die Möglichkeit, Dichtung vom ontologischen Defizit zu befreien.
3.4 Adam Smith (1723–1790) Auch Adam Smith beschäftigt sich unter pragmatischen Gesichtspunkten mit der menschlichen Sprache. Das Problem der Relation von Wirklichkeit, Wahrnehmung/Ideen und sprachlichen Zeichen thematisiert Smith nicht eigens.144 Das pragmatische Anliegen seiner Dissertation on the Origin of Languages, die 1759 als Supplement zu The Theory of Moral Sentiments erschien, ist eher die Untersuchung der evolutionären Entwicklungsmechanismen der natürlichen Sprachen. Bemerkenswert mit Blick auf seine Sprachkonzeption ist der Vergleich, den Smith zwischen der Sprachevolution und der Entwicklung technischer Maschinen anstellt, der an Harris’ gegenläufige Repräsentation anzuknüpfen scheint. Smith transferiert jedoch die durch die handwerkliche Produktion geprägte Sprach-Instrument-Metapher des 18. Jahrhunderts in den Kontext frühindustrieller Produktionsmechanismen: It is in this manner that language becomes more simple in its rudiments and principles, just in proportion as it grows more complex in its composition, and the same thing has happened in it which commonly happens with regard to mechanical engines. […] the machine becomes gradually more and more simple, and produces its effects with fewer wheels and fewer principles of motion. […] But this simplification of languages, though it arises, perhaps, from similar causes, has, by no means, similar effects with the correspondent simplification of machines. The simplification of machines renders them more
|| 144 „With characteristic moderation, he avoided taking a clear stance on the priority of language or thought, preferring simply to show how they are correlated in the various phases of language evolution. […] he remained faithful to the traditional Cartesian and Lockean mind → language direction of explanation. He avoided the nominalist and materialist position […]. Similarly […] he avoided the ontological issue of whether they exist ‘out there’ or are simply creations of our mental (and linguistic) efforts, and – as far as substances are concerned – he assumed, contra Locke, the former.“ Marcelo Dascal: Adam Smith’s Theory of Language. In: The Cambridge companion to Adam Smith. Ed. by Knud Haakonssen. Cambridge: University Press, 2006. S. 79–111; S. 104.
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and more perfect, but this simplification of the rudiments of languages renders them more and more imperfect, and less proper for many of the purposes of language […].145
Der von Smith vorgenommene Transfer stellt sozusagen eine Verschiebung des ‚organon-Modells‘ hin zu einem ‚mechané-Modell‘ der Sprache dar. Das traditionelle organon-Modell ruft den Kontext handwerklicher Produktion auf, deren historische Entwicklung von einer Ausdifferenzierung und Spezialisierung sowohl der Tätigkeiten als auch der dafür benötigten Werkzeuge gekennzeichnet ist. Damit ist diesem Modell die analoge Diversifizierung des Werkzeugs Sprache eingeschrieben. Eine ganz andere Implikation evoziert Smiths mechanéVergleich. Mit ‚mechané‘ wurden in der Antike Gerätschaften wie mechanische Schöpfwerke oder die Heron von Alexandria zugeschriebene Wärmekraftmaschine, der sogenannte Heronsball (ca. 200 v. Chr.) bezeichnet.146 Die Gerätschaften des 18. Jahrhunderts, z.B. Thomas Newcomens (1663–1729) Dampfmaschine zur Entwässerung von Bergwerken (1712) oder Jacques de Vaucansons (1709–1782) vollautomatischer Webstuhl (1745) weisen dagegen einen wesentlich höheren Grad der Komplexität auf. Für Smiths Vergleich sind drei Charakteristika einer gut entwickelten Maschine für die analoge Betrachtung von Sprache ausschlaggebend: Erstens die inneren Gesetzmäßigkeiten bzw. Prinzipien der Mechanik, zweitens die technische Weiterentwicklung, die Smith bemerkenswerterweise als eine fortschreitende Simplifizierung begreift, und drittens die Steigerung von Effizienz und Funktionalität. Sprache ist, dies impliziert Smiths Vergleich, wie eine Maschine ein komplexes Gebilde, das einzelne Bauteile (Schrauben, Kolben, Hebel, Zahnräder bzw. Wortarten, Satzglieder) besitzt, die zu einem großen Ganzen zusammengefügt sind und nach gewissen Gesetzmäßigkeiten funktionieren (mechanische, hydraulische Gesetze bzw. grammatische, syntaktische Konstruktionen). Smith stellt nun gerade die Vereinfachung als das Merkmal des Fortschritts sowohl von Maschinen als auch von Sprachen heraus (‚more and more simple‘). Die Funktion einer Maschine dient jeweils einem einzigen, klar definierbaren Zweck und sie ist umso effizienter, je weniger Bauteile und je weniger Prinzipien hierbei notwendig sind.147 In diesem Punkt, so Smith, unterscheide sich Sprache von Maschinen, denn sie habe nicht nur einen Zweck, sondern „many […] purpo|| 145 Adam Smith: A Dissertation on the Origin of Languages. Or Considerations concerning the first Formation of Languages and the Different Genius of original and compounded Languages. Hrsg. von Gunter Narr. Tübingen: Beiträge zur Linguistik, 1970 [1767]. S. 535. 146 Vgl. dazu Herbert Heckmann: Die andere Schöpfung. Geschichte der frühen Automaten in Wirklichkeit und Dichtung. Frankfurt a. M.: Umschau, 1982. 147 Vgl. Adam Smith: A Dissertation on the Origin of Languages. S. 535.
Étienne Bonnot de Condillac (1714–1780) | 83
ses“148. Die komplexitätsreduzierende Entwicklung der Sprache führe nun dazu, dass gewisse Zwecke zunehmend besser und andere zunehmend schlechter erfüllt werden könnten. Der Gewinn an sprachlicher Effizienz hinsichtlich eines Zwecks wird, so seine Annahme, mit dem Preis der Verarmung oder gar dem Verlust hinsichtlich eines anderen sprachlichen Aspektes bezahlt. Konkret bringt die Steigerung an Präzision eine ästhetische Verarmung der Sprach mit sich: First of all: Languages are by this simplification rendered more prolix, several words having become necessary to express what could have been expressed by a single word before. […] Secondly, This simplification of the principles of languages renders them less agreeable to the ear. […]. Thirdly, This simplification […] restrains us from disposing such sounds as we have, in the manner that might be most agreeable. It ties down many words to a particular situation, though they might often be placed in another with much more beauty [Hervorh. M.I.].149
Der mechané-Vergleich transportiert zudem auch die Konnotation einer ‚funktionalen Ästhetik‘ am Übergang zur industriellen Technisierung, die mit einer funktionalen ‚Rhetorisierung‘ der Sprache bei Smith einhergeht. Marcelo Dascal konstatiert diesbezüglich: „Unlike the dominant tendency among the rhetoricians of his time, who focused on the ‚ornamental‘ role of language, Smith viewed style as a comprehensive mirror of the mind, and redefined beauty in terms of this mirroring relation.“150
3.5 Étienne Bonnot de Condillac (1714–1780) Condillacs Überlegungen stellen gleich mehrfach eine Zäsur der Sprachtheorie des 18. Jahrhunderts dar. Zwar knüpft er als Vertreter des erkenntnistheoretischen Sensualismus an empiristische Konzepte an, eröffnet in zentralen Aspekten jedoch eine ganz eigene Perspektive. Er konzipiert das Verhältnis von Denken und Sprache völlig anders als seine empiristischen Vorgänger, er entwickelt als erster eine eigenständige Sprachgenese unter sensualistischen Voraussetzungen und schließlich bestimmt er die Differenz von Dichtung, Philosophie und Wissenschaften primär über die Differenz der Sprachformen und nicht mehr über die Differenz der jeweiligen Erkenntnisformen. Er erachtet die sprachlichen Erfordernisse der poetischen Phantasie als ebenso wichtig wie die
|| 148 Adam Smith: A Dissertation on the Origin of Languages. S. 535. 149 Adam Smith: A Dissertation on the Origin of Languages. S. 535f. 150 Marcelo Dascal: Adam Smith’s Theory of Language. S. 105.
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der begrifflich-analytischen Erkenntnis, so dass in letzter Konsequenz seine Texte Naturwissenschaften, Mathematik, Logik und Dichtung als gleichwertige Diskurse entwerfen. Eine ähnliche Bewertung wurde zwar bereits bei Baumgarten und Meier erkennbar, neu ist jedoch Condillacs argumentative Entfaltung dieser diskursiven Gleichwertigkeit. Wie weit Condillacs Ansatz von Baumgartens und Meiers Positionen entfernt ist, zeigt sich bereits in seiner Kritik an zwei grundlegenden Aspekten des erkenntnistheoretischen bzw. des ästhetischen Rationalismus. Er verwirft nicht nur die Annahme von angeborenen Ideen, sondern vor allem auch die Abwertung der unteren Erkenntnisvermögen. Gerade die sinnliche Wahrnehmung ist für ihn alles andere als dunkel und undeutlich: Es steht von vornherein fest, daß nichts klarer und deutlicher ist als unsere Wahrnehmung, wenn wir irgendwelche Sinnesempfindungen haben. Was kann klarer sein als die Wahrnehmung von Tönen und Farben? Was ist besser unterscheidbar? Haben wir jemals zwei von diesen Dingen miteinander verwechselt? [...] Bei dem, was in uns geschieht, gibt es weder Irrtum noch Unklarheit, noch Verwirrung, genauso wenig wie in der Beziehung, die wir dadurch zur Außenwelt herstellen.151
Klarheit und Deutlichkeit knüpft Condillac nicht wie Leibniz an die Erkennung und Benennung von distinkten Merkmalen und damit an Begrifflichkeit. Klar und deutlich ist eine Wahrnehmung respektive eine Idee bereits dann, wenn sie vorbegrifflich und damit auch vorsprachlich von einer anderen Wahrnehmung unterschieden werden kann. Unklarheit entstünde, so Condillac, erst durch einen fehlerhaften Umgang mit komplexen Begriffen, also auf den von den Rationalisten als ‚höhere Erkenntnisvermögen‘ bezeichneten Ebenen. Ideen als durch Wahrnehmungen gewonnene Vorstellungen seien immer klar und deutlich: Deshalb weise ich darauf hin, daß in meiner Redeweise klare und deutliche Ideen (Vorstellungen) zu haben, kurz gesagt nur heißt, Ideen (Vorstellungen) zu haben und wenn es sich um unklare und undeutliche Ideen (Vorstellungen) handelt, so ist es gleichbedeutend damit keine zu haben.152
Mit dieser Prämisse führt Condillac nicht nur die rationalistische Hierarchie der Erkenntnisvermögen ad absurdum, er demontiert auch die Grundlage von
|| 151 Étienne B. Condillac: Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis. Ein Werk, das alles, was den menschlichen Verstand betrifft, auf ein einziges Prinzip zurückführt. [Essai sur l’origine des connaissances humaines, 1746]. Übers. und hrsg. von Angelika Oppenheimer. Würzburg: K&N, 2006. S. 72. 152 Étienne B. Condillac: Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis. S. 72.
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Baumgartens Ästhetik.153 In seinem Essai sur l’origine des connaissances humaines (Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis, 1746) gibt er selbst eine alternative Ordnung geistiger Operationen, indem er die Ebenen nicht unter dem Aspekt der Erkenntnisqualitäten, sondern hinsichtlich zweier gänzlich anderer Kriterien neu hierarchisiert: erstens nach der zunehmenden Komplexität mentaler Operationen und zweitens nach dem zunehmenden Anteil, den Zeichen an diesen Operationen haben. Hierarchie geistiger Operationen Ordnungskriterium/Zeichenarten:
Mentale Operationen:
Rein semiotische Operationen (ausschließlich konventionell-arbiträre Zeichen)
réflexion – Analyse, Synthese, Vergleich
Notwendig mit Zeichen verbundene, aber mémoire – willentliches Gedächtnis nicht rein semiotische Operationen contemplation – innere Anschauung (zufällige, natürliche und arbiträre Zeichen) imagination – Vorstellungs-, Einbildungskraft Vorsemiotische Operationen
réminiscence – unwillkürliches Erinnern attention – Aufmerksamkeit conscience – bewusste Wahrnehmung perception – Wahrnehmung sensation – Empfindung, Eindruck
Diesem Schema mentaler Operationen liegt keine implizite Wertung nach qualitativen Aspekten zugrunde, sie bildet vielmehr ein Kontinuum zwischen einfachsten Empfindungen (die bereits klar und deutlich sind) und hochkomplexen Analyse- bzw. Syntheseprozessen. Anders als die rationalistische Hierarchie stellt Condillacs Kontinuum auch keine ‚mentale Einbahnstraße‘ dar, denn komplexere Operationen können auf einfachere wirken, ihnen Inhalte und Ideen zurichten. Dichtung, deren Hervorbringung und Rezeption Condillac hauptsächlich mit Vorstellungs- und Einbildungskraft verbindet, ist daher der analytisch-begrifflichen Erkenntnis nicht qualitativ untergeordnet, sondern wird lediglich an einem anderen Punkt im Kontinuum platziert. Condillac kom-
|| 153 Baumgarten bestimmt die ästhetischen Vorstellungen als extensiv-klare Vorstellungen, die auf möglichst viele, aber gerade nicht vergleichbare Merkmale an Gegenständen gerichtet ist. Derartige Vorstellungen/Ideen existieren nach Condillacs Verständnis schlichtweg nicht. Vgl. Dagmar Mirbach: Einführung. S. XLII.
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biniert im Essai das skizzierte Kontinuum mentaler Operationen und mit der Differenzierung von drei Zeichenarten: 1) Die zufälligen Zeichen oder die Gegenstände, die irgendwelche besonderen Umstände mit einigen unserer Ideen (Vorstellungen) verknüpft haben, so daß sie geeignet sind, jene wieder wachzurufen. 2) Die natürlichen Zeichen oder die Laute, welche uns die Natur als Ausdruck von Gefühlen der Freude, der Angst, des Schmerzes usw. eingegeben hat. 3) Die konventionellen Zeichen oder diejenigen, die wir selbst gewählt haben und die nur einen willkürlichen Zusammenhang mit unseren Ideen (Vorstellungen) haben.154
Anschließend charakterisiert Condillac die drei Zeichenarten in ihrer Genese, die mit der Komplexität der Operationen korrespondiert. Alle Operationen, die der unwillkürlichen Erinnerung vorhergehen, sind unabhängig von jeglicher Art von Zeichen (vorsemiotische Operationen), da sie ja mit unmittelbar gegenwärtigen Ideen operieren. Die Erinnerung (réminiscence) prägt durch das mehrmalige Wieder-Hervorrufen von Ausrufen, Lauten und Gesten, die immer wieder in Verbindung mit einer Wahrnehmung geäußert werden, diese allmählich zu natürlichen Zeichen. Natürliche Zeichen ihrerseits können in der weiteren Verwendung mit zusätzlichen Ideen verknüpft werden und so als konventionelle Zeichen fungieren. Da das Gedächtnis nicht mit Wahrnehmungen und einfachen Ideen operiert, ist es notwendigerweise an konventionelle Zeichen gekoppelt. Alle komplexeren mentalen Operationen, die Condillac als réflexion bezeichnet, sind rein semiotisch, das bedeutet sie sind essenziell von konventionell-arbiträren Zeichen abhängig. Umgekehrt kann erst auf der Ebene der réflexion Sprache als kommunikatives und mentales Zeicheninstrument reflektiert und gezielt weiterentwickelt werden. Sprache und Denken werden so von Condillac in wechselseitiger Abhängigkeit miteinander verschränkt, Sprache ist damit nicht mehr lediglich ein Kommunikationsmedium oder kognitive Merkund Operationshilfe, viel mehr erscheint sie als notwendige Voraussetzung höherer Erkenntnis. Zwar bleibt die ontologische Trennung von Ideen und Zeichen auch in Condillacs Neuordnung bestehen, aber die Ebene komplexer Erkenntnis wird enthierarchisiert und darin besteht eine der wichtigsten Leistungen seiner Sprachtheorie. Für die diskursive Formation von Wissenschaften und Dichtung ist außerdem die Herleitung ästhetischer Zeichensysteme, die Condillac im zweiten Teil des Essai entwickelt, von besonderer Bedeutung. Er entwirft die Entwicklung der Sprachen von ihren Ursprüngen bis in seine Zeit als Prozess einer funktiona|| 154 Étienne B. Condillac: Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis. S. 91.
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len Präzisierung, als deren Nebenprodukt jeweils ein ästhetisch nutzbarer Zeichenvorrat abgespalten wird. Zur Illustration seiner Sprachursprungstheorie bedient er sich eines Gedankenexperimentes. Zwei kleine Kinder unterschiedlicher Herkunft, die noch den Gebrauch von Zeichen noch nicht erlernt haben, begegnen sich verloren im Ödland und sind nun im Überlebenskampf aufeinander angewiesen. Dazu sei es nötig, erste rudimentäre Zeichen zu entwickeln, um sich über elementare Bedürfnisse auszutauschen.155 Damit die Äußerung eigener Bedürfnisse überhaupt auf Beachtung stoßen kann, nimmt Condillac eine ursprüngliche Empathie, ein instinktives Mitleid des Menschen an, das ihn veranlasse, auf die Bekundungen seines Gegenübers helfend zu reagieren. Die wiederholte Verknüpfung von Bedürfnis und entsprechender Bewegung ist der Ursprung der ersten natürlichen Zeichen (Gestik und Mimik). Die Einbildungskraft wiederum könne analog zu den natürlichen Zeichen weitere erfinden, so dass nach und nach statt nur aus Instinkt nun auch mit Überlegung Zeichen gewählt würden.156 Auf Basis der ersten Gebärdensprachen seien so sukzessive Laute und Klänge als sprachliche Zeichen verwendet worden. Mit dem Entstehen der Laut- bzw. Klangsprache hätte sich auch der Gebrauch der Sprechorgane weiterentwickelt, so dass sich die Lautbildung verfeinerte und die Sprachlaute zunehmend mehr und präziser Bedeutung tragen konnten. Die elementare Angewiesenheit des Menschen auf Sprachzeichen bei der Existenzsicherung ist demnach die primäre Kraft der Sprachentwicklung hin zu größerer semiotischer Präzision und Leistungsfähigkeit. Da Sprachlaute hinsichtlich der Präzision wesentlich effizienter seien, hätten gestische und mimische Artikulation zunehmend an Bedeutung verloren. Im pragmatisch-referenziellen Sinne überflüssig geworden, konnten sie einen ästhetischen Charakter annehmen und sich zu einem eigenen ästhetischen Zeichensystem, dem Tanz und der Pantomime, weiterentwickeln. Dies ist die erste ästhetische Ausgliederung in Condillacs Sprachgenese. Zunächst hätten die ersten Lautsprachen noch die ursprüngliche Gebärdensprache nachgeahmt: Als die Lautsprache die Gebärdensprache ablöste, behielt sie deren Charakter bei. Diese neue Art, unsere Gedanken mitzuteilen, konnte nur nach dem Muster der ersteren erdacht
|| 155 Es ist Johann Gottfried Herder, der genau dieses Gedankenexperiment sowie die Annahme kritisiert, die menschlichen Sprachen hätten sich natürlicherweise aus den Urlauten einer tierischen Signalsprache entwickelt (vgl. Kap. II.4.5). 156 Vgl. Étienne B. Condillac: Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis. S. 174–177.
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werden. So trat die Stimme, die sich in gewissen Abständen sehr deutlich hob und senkte, an die Stelle heftiger Körperbewegungen.157
Ton, Klangfarbe und Rhythmus hätten die semiotische Funktion von Gestik und Mimik übernommen, sie waren also bedeutungstragend. Doch bereits als die frühen Menschen Ton und Rhythmus noch bedeutungstragend verwendet hätten, seien auch die ästhetischen Qualitäten an diesen Zeichen bemerkt worden: Am Anfang der Sprachentwicklung war die Prosodie sehr mannigfaltig, daher konnten selbstverständlich alle Tonveränderungen vorkommen. Dabei konnte es folglich nicht ausbleiben, daß sich zufällig Passagen ergaben, die dem Ohr schmeichelten. Man bemerkte sie und machte es sich zur Gewohnheit, sie zu wiederholen; so sah die erste Idee aus, die man von der Harmonie hatte.158
Den zweiten Schritt der Sprachentwicklung stellt nach Condillac die Entwicklung einzelner Worte dar. Sie bilden den Übergang von einer gesungenen Sprache zu einer Namenssprache, denn „[m]an gewöhnte sich nur sehr allmählich daran, mit einem einzigen Wort Ideen (Vorstellungen) zu verbinden, die vorher durch eine ganze Reihe von Bewegungen ausgedrückt wurden“159. Anschließend hätten sich verschiedene Wortarten und syntaktische Gefüge entwickelt. Im weiteren Sinn stilistische Elemente wie Pleonasmus, Metaphorik und allegorisches Sprechen hätten hier die Funktionen der prosodischen Elemente übernommen, weswegen Condillac diese Sprachstufe auch als ‚poetische Sprache‘ bezeichnet. Die zunehmend ihrer kommunikativen Funktion entledigte Prosodie konnte so zu einem weiteren ästhetischen System geformt werden. In dieser zweiten ästhetischen Ausgliederung seien der Gesang und Musik entstanden. „Wenn sich die Prosodie bei der Entstehung der Sprachen dem Gesang annäherte, so übernahm der Stil, um den anschaulichen Bildern der Gebärdensprache zu gleichen, alle möglichen Figuren und Metaphern und war einem echten Gemälde vergleichbar.“160 Den dritten Entwicklungsschritt entwirft Condillac als weitere referenzielle Präzisierung der Wortsprachen, in deren Folge die stilistischen Elemente ihre Repräsentationsfunktion verloren hätten. Diese letzte, zeitgenössische Entwicklungsstufe bezeichnet er als ‚prosaische Sprache‘161, denn als || 157 Étienne B. Condillac: Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis. S. 180. 158 Étienne B. Condillac: Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis. S. 198. 159 Étienne B. Condillac: Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis. S. 210. 160 Étienne B. Condillac: Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis. S. 210. 161 Unmittelbar auf das Sprachgenese-Kapitel folgt im Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis ein Abschnitt zur Methodik, in dem Condillac auch die Möglichkeiten einer
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die Sprachen ausdrucksreicher wurden […], variierte die Stimme weniger und […] nahm auch die Neigung, Gleichnisse und Metaphern zu gebrauchen, unmerklich ab und der Stil näherte sich dem unserer Prosa an. Die Schriftsteller jedoch bedienten sich der alten Sprachform, da sie lebhafter war und sich besser dem Gedächtnis einprägte: damals das einzige Mittel, um ihre Werke der Nachwelt zu überliefern.162
Die dritte ästhetische Ausgliederung stellt folglich nichts weniger als den Beginn von Dichtung und Poesie dar, deren sprachhistorische Erklärung Condillac mit der Reflexion sozialer Funktionen verschränkt. Hätten poetische Elemente zunächst eine genuine gesellschaftliche Funktion besessen, hätten sie diese beim allmählichen Übergang zur prosaischen Sprache aufgrund der damit einhergehenden Entwicklung von Schriftsystemen verloren: Man sieht deutlich, welches der Zweck der frühesten Dichtungen war. Als die Menschen sich zu Gesellschaften vereinigten, waren sie überhaupt noch nicht in der Lage, sich mit bloß vergnüglichen Dingen abzugeben [...]. Dichtung und Musik wurden also nur gepflegt, um Religion und Gesetze bekanntzumachen und die Erinnerung an die großen Männer [...] wachzuhalten. […] Dichtung und Musik waren das einzige Mittel, das zur Verfügung stand, weil die Schrift noch nicht erfunden war. [...] Man mußte also einen Weg finden, um das ganze Volk davon zu unterrichten. Und so ersann man die Schrift. [...] Mit der Entstehung dieser neuen Kunst begann sich der Zweck von Dichtung und Musik zu verändern: war dies zunächst für beide das Nützliche und das Angenehme, so beschränkten sie sich schließlich fast nur auf das bloße Vergnügen. Je weniger notwendig sie wurden, desto mehr waren sie darauf ausgerichtet, Gefallen zu erregen, und sie machten beide beträchtliche Fortschritte.163
Dichtung in ihrer neuzeitlichen Form bestimmt Condillac primär über das Merkmal der Zweckfreiheit, das hierdurch zu dem zentralen Charakteristikum ästhetischen Gefallens stilisiert wird (hierin wird eine erstaunliche Nähe zu Kants und Schillers Ästhetik sichtbar, vgl. Kap. IV.1.5).
|| künftigen Sprachentwicklung skizziert. Er entwirft das Programm einer ‚Sprachreform‘ zum Zwecke philosophisch-wissenschaftlicher Erkenntnis, deren Produkt man als ‚reformierte Erkenntnissprache‘ bezeichnen könnte. Diese Erkenntnissprache unterscheidet sich jedoch von den Konzepten einer künstlich-formalen Universalsprache, wie sie auf rationalistischer Seite imaginiert wurde. Condillac skizziert vielmehr eine bewusste, aber behutsame Weiterentwicklung der prosaischen Sprache: „Da man bemerkt hatte, daß man, um zu wahren Erkenntnissen zu gelangen, in der Wissenschaft von vorne beginnen muß, ohne sich von allgemein geltenden Ansichten einnehmen zu lassen, schien es mir richtig, daß man ebenso, damit die Sprache genau werde, sie ohne Rücksicht auf den Sprachgebrauch reformieren müßte.“ Étienne B. Condillac: Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis. S. 262f. 162 Étienne B. Condillac: Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis. S. 210. 163 Étienne B. Condillac: Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis. S. 212f.
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Condillacs Verhältnisbestimmung von Wissenschaften und Dichtung steht im Zeichen der beiden Aspekte von Sprachentwicklung und Funktionsbestimmung und sie ist von einer semiotischen Besonderheit bestimmt. Anders als Pantomime, Tanz und Musik überschneiden sich der prosaische und der poetische Zeichenvorrat in der letzten Sprachstufe. Es handelt sich also nicht um unterschiedliche Sprach- und Zeichenformen, sondern um einen jeweils spezifischen Sprachgebrauch, wobei poetischer und prosaischer Sprachgebrauch sich zunehmend auseinanderentwickeln: „Als die Prosodie und der Stil einfacher geworden waren, wurde der Abstand zwischen Poesie und Prosa immer größer […] und [Poesie] entfernte sich dadurch von der Alltagssprache.“164 In der Kluft zwischen alltagssprachlichem und poetischem Sprachgebrauch sei, so Condillac, die Rhetorik entstanden. Da der ästhetische Sprachgebrauch besonders jene in der Prosa überflüssig gewordenen Aspekte der Verbalsprache verwende (Klang, Rhythmus, Stil etc.), zeichne er sich notwendigerweise durch ein geringeres Niveau an Präzision und Genauigkeit aus. Polysemie, Metaphorik, allegorische Darstellung etc. machen Dichtung für die begriffliche Erkenntnis ungeeignet. Condillac wertet das aber nicht als ein Defizit, denn es ist seiner Einschätzung nach auch nicht der Zweck von Dichtung, begriffliche Erkenntnis zu vermitteln. Sie zeichnet sich durch andere Qualitäten aus, denn anders als Alltags- und Wissenschaftssprache ist der poetische Sprachgebrauch in hohem Maße anschaulich, sinnlich, lebhaft und damit angenehm und vergnüglich. Er fordert die Einbildungskraft, vermag so tiefer in die Erinnerung einzudringen und ruft Ideen direkt hervor. Auf ganz andere Art als in Baumgartens Aesthetica erscheint Dichtung bei Condillac als Komplement zu Wissenschaften und Philosophie. Während aber die natürliche Sprachentwicklung, die ja durch die pragmatischen Notwendigkeiten der Präzision vorangetrieben wird, den philosophischen Sprachgebrauch befördert, behindert sie die poetische Sprachgestaltung. Für Dichtung und Poesie bedeutet das, dass beispielsweise die Vollkommenheit der antiken Prosodie in unerreichbare Ferne gerückt wird und dass die Bildhaftigkeit der orientalischen Dichtung endgültig verloren ist. Wie bei Smith ist die historische Sprachentwicklung durch einen ästhetischen Verlust gekennzeichnet: „Später konnten die Sprachen bei den Veränderungen, die sie durchliefen nur noch verlieren. Man wird sogar feststellen, daß sie sich zu den Zeiten, als sie zu ihrer größten Schönheit zu erblühen schienen, in einer Epoche des Verfalls befanden.“165 Die ästhetische Regression der Sprachen stellt für Dichter zwar || 164 Étienne B. Condillac: Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis. S. 212. 165 Étienne B. Condillac: Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis. S. 246.
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eine Herausforderung dar, aber Condillac betont, dass sich die Dichtung an sich keinesfalls in einem Degenerationsprozess befinde, denn „der Geist [macht] Fortschritte, die Dichtung fand dafür immer wieder neue Bilder“166. Um eine Ordnung synchroner Sprachformen vorzunehmen, entwirft Condillac ein weiteres lineares Kontinuum, das sich zwischen zwei hypothetischen Extremen aufspannt. Das eine Extrem sind die rein analytischen Sprachen, deren Sprecher „sich sogar noch bei ihren Vergnügen benähmen, als wären sie Mathematiker“, das andere Extrem sind Phantasie-Sprachen, deren Sprecher „ohne Unterlass Unsinn redeten“.167 Jede natürliche Sprachform findet zwischen diesen beiden Polen ihren Platz. Damit impliziert Condillac, dass das Ideal analytischer Genauigkeit und das Ideal phantasievoller Mannigfaltigkeit, wissenschaftlich-begriffliche Präzision und poetischer Effekt konträre und letztlich unvereinbare Aspekte sind. Nach Condillacs Einschätzung zeichnen sich daher jene Sprachformen durch das größtmögliche Maß an Vollkommenheit aus, die in der Mitte des Kontinuums liegen und damit von beiden Idealen gleich weit entfernt sind. In ihnen könnten sich sowohl begriffliche Analyse als auch poetische Sprachästhetik weiterentwickeln.168 In dem Plädoyer für eine ausgewogene Mittelstellung wird erneut deutlich, wie hoch er die sprachlichen Erfordernisse von Dichtung und Poesie bewertet und wie wichtig ihm die Balance zwischen prosaischem und poetischem Sprachgebrauch ist.
3.6 Denis Diderot (1713–1784) Denis Diderot ist ein bemerkenswerter Vertreter sensualistischer Sprachtheorie, da er traditionelle Aspekte der klassizistischen Poetik aufgrund sprachtheoretischer Überlegungen modifiziert und erweitert (vor allem im Brief über die Taubstummen, 1751). Die Grundstruktur der von Denis Diderot und Jean le Rond d’Alembert (1717–1783) herausgegebenen Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (1751–1780) beruht auf einer Klassifikation der menschlichen Fähigkeiten, der Verstand wird nach seinen drei Vermögen unterteilt in Gedächtnis, Vernunft und Einbildungskraft. Nach Diderots und d’Alemberts Anspruch sollen alle Wissenschaften und Künste in dieser Heuristik einen eindeutigen Platz erhalten. Diderot weist nun in dem bereits 1750 ver-
|| 166 Étienne B. Condillac: Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis. S. 212. 167 Étienne B. Condillac: Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis. S. 255. 168 Vgl. Étienne B. Condillac: Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis. S. 255f.
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schickten Prospectus der Encyclopédie Dichtung ganz ähnlich wie Condillac dem Vermögen der Einbildungskraft zu. Er begründet diese Zuordnung unter Rückgriff auf Aristoteles’ Poetik: „Die Geschichte hat die Individuen, die wirklich existiert haben oder existieren, und die Poesie die unter Nachahmung der geschichtlichen Wesen erdichteten Individuen zum Gegenstand.“169 Dichtung und Poesie werden im Prospectus primär über den ontologischen Status der dargestellten Gegenstände unterschieden:170 Unter Dichtung verstehen wir dabei nur das, was Fiktion ist. Da es Metrik ohne Poesie und Poesie ohne Metrik geben kann, haben wir angenommen, daß wir die Metrik als eine Qualität des Stils betrachten und sie in die Redekunst verweisen müssen. Dagegen werden wir Architektur, Malerei, Skulptur, Gravierkunst usw. auf die Poesie zurückführen: denn man kann mit demselben Recht vom Maler sagen, er sei ein Dichter, wie vom Dichter er sei ein Maler, und vom Bildhauer oder Kupferstecher, er sei ein Reliefmaler oder Basreliefmaler, wie vom Musiker, er sei ein Lautmaler. [Alle] […] ahmen die Natur nach; aber der eine gebraucht Wörter, der andere Farben, der dritte Marmor, Erz usw. und der letzte das Instrument oder die Stimme.171
Diderot greift hier tradierte Topoi des französischen Klassizismus auf. Mimesis wird als das Wesen aller Künste identifiziert, Dichtung wird als Malerei mit Worten begriffen und damit Horaz’ ut pictura-Diktum aufgegriffen (Kap. IV.1.2). Die Sprachform oder der Sprachgebrauch stellen dagegen kein distinktes Merkmal von Dichtung dar. Der wenig mehr als ein Jahr später anonym erschienene Brief über die Taubstummen (Lettre sur les sourds et muets) steht gewissermaßen konträr zum Prospekt der Encyclopédie. Nicht nur kritisiert Diderot hier explizit Batteux’ oberstes Prinzip aller Künste, die Nachahmung172, er stellt
|| 169 Denis Diderot: Prospekt der Enzyklopädie. [Prospectus, 1750] In: derselbe: Philosophische Schriften. Bd. 1. Übers. und hrsg. von Theodor Lücke. Berlin: Aufbau, 1961. S. 111–140; S. 138. 170 Diderot weist Prosodie, Metrik, Syntax als ‚Qualitäten des Stils‘ der Grammatik zu. In der Klassifikation des Wissens, wie er im Discours préliminaire der Enzyklopädie abgedruckt ist (vgl. Denis Diderot und Jean L. d’Alembert: Enzyklopädie. Eine Auswahl. Hrsg. von Günter Berger. Frankfurt a. M.: Fischer, 1989. S. 28), erscheint folgende Gliederung: Verstand → Vernunft → Philosophie → Wissenschaft vom Menschen → Logik → Kunst des Mitteilens. Die Kunst des Mitteilens wiederum wird differenziert in die Wissenschaft vom Instrument der Rede und in die Wissenschaft von den Qualitäten der Rede. Unter das erste wird die Grammatik (Zeichen, Prosodie, Syntax etc.) subsumiert, unter die zweite die Rhetorik sowie die ‚Mechanik der Dichtung und Versifikation‘. 171 Denis Diderot: Prospekt der Enzyklopädie. S. 138. 172 Vgl. Denis Diderot: Brief über die Taubstummen. [Lettre sur les sourds et muets à l’usage de ceux qui entendent et qui parlent, 1751]. In: derselbe: Ästhetische Schriften. Bd. 1. Übers. und
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auch die Vergleichbarkeit der Künste, die dem obigen Zitat des Prospekts zugrunde liegt, radikal infrage. Es stellt sich die Frage, welche Überlegungen Diderot zu derartig unterschiedlichen Einschätzung führten. Zunächst entfaltet Diderot im Brief über die Taubstummen das Konzept einer natürlichen Ordnung der Ideen und Benennungen. Von den sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen seien zunächst die besonders auffälligen Eigenschaftsbündel benannt worden. Allmählich habe man die wahrgenommenen Eigenschaften differenziert und anschließend gesondert benannt (Adjektive) und schließlich habe man hinter den sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften etwas allen Dingen Gemeinsames angenommen und diesem einen sogennanten ‚metaphysischen Namen‘ gegeben (das sind „fast alle Substantive“173). Die natürliche Ordnung (l’ordre naturel) der Ideen korrespondiert nach Diderot also mit der Reihenfolge des Entstehens der verschiedenen Wortarten. Ich sage ‚natürliche Ordnung der Ideen‘; denn wir müssen hierbei die ‚natürliche Ordnung‘ von der ‚gestifteten Ordnung‘ (ordre d’institution), der sozusagen ‚wissenschaftlichen‘ unterscheiden: nämlich der Ordnung der Gesichtspunkte (vues) des Geistes, wenn die Sprache vollentwickelt ist.174
Die natürliche Ordnung der Ideen werde durch die verbalsprachliche Repräsentation nur bedingt wiedergegeben, da die grammatischen und syntaktischen Regeln der Verbalsprachen die natürliche Ordnung nicht berücksichtigten. Die sprachlich geprägte Ordnung (l’ordre d’institution) könne aber aus einem weiteren Grund die natürliche Ordnung nicht adäquat darstellen, denn die Empfindung entwickelt sich in der Seele nicht nach und nach wie in der Rede, und wenn die Seele über zwanzig Münder gebieten und jeder Mund sein Wort sagen würde. […] Da wir aber nicht mehrere Münder haben, hat man folgendes getan: man hat mehrere Ideen an einen einzigen Ausdruck geknüpft. Wenn solche energiegeladenen (énergiques) Ausdrücke häufiger wären, würde die Sprache nicht stets hinter dem Geist nachhinken; vielmehr könnte die Menge der gleichzeitig wiedergegebenen Ideen dann so groß sein, daß die Sprache schneller wäre als der Geist, der ihr nun seinerseits nacheilen müßte.175
Während die natürliche Ordnung zwei Dimensionen aufweist (simultane Empfindungen und chronologische Folge von Empfindungen), ist Sprache nach
|| hrsg. von Friedrich Bassenge und Theodor Lücke. Frankfurt a. M.: Europäische VerlagsAnstalt, 1968. S. 27–97; S. 62 und 68. 173 Denis Diderot: Brief über die Taubstummen. S. 29. 174 Denis Diderot: Brief über die Taubstummen. S. 30. 175 Denis Diderot: Brief über die Taubstummen. S. 46.
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Diderots Auffassung aufgrund der linearen Sukzession ihrer Zeichen ein ungenügendes Repräsentationsmittel. Nur dort, wo Sprachzeichen mehrere Bedeutungsebenen gleichzeitig repräsentieren (z.B. mittels der zitierten ‚energiegeladenen Ausdrücke‘), scheint es ihm möglich, dass Sprache sich der natürlichen Ordnung annähern könne. Die lineare Abfolge der Wörter habe irrtümlicherweise den Eindruck erweckt, dass auch die Eindrücke und Ideen linear aufeinander folgten. Bezeichnendes (Sprache) und Bezeichnetes (Ideen) seien voreilig identifiziert worden: Vielmehr sind das alles verschiedene Dinge: der Zustand unserer Seele; der Aufschluß, den wir uns selbst oder anderen über ihn geben; die momentane Gesamtempfindung (sensation totale et instanée) dieses Zustandes; die hierhin und dorthin wandernde und alle Einzelheiten erfassende Aufmerksamkeit (l’attention successive et détaillée), die wir diesem Zustand schenken müssen, um ihn zu analysieren, ihn sichtbar und damit verständlich zu machen. Unsere Seele ist ein bewegtes Bild, nach dem wir unaufhörlich ein zweites malen: wir verwenden sehr viel Zeit darauf, es getreu wiederzugeben; aber es existiert im ganzen und gleichzeitig. Der Geist geht nämlich nicht Schritt für Schritt vor wie der Ausdruck.176
Der sprachliche Ausdruck als starres ‚zweites Bild‘, das dem bewegten ‚ersten Bild‘ nur hinterherhinken kann, gilt Diderot als defizitäres Instrument der menschlichen Kommunikation – „was für eine nüchterne Kopie von dem, was in dieser Welt geschieht, ist sogar die lebendigste Ausdrucksweise!“177 Hinsichtlich der begrifflichen Erkenntnis ist die ‚nüchterne‘ Linearität der Sprache ein Gewinn, erlaubt doch die ‚sprachliche Kopie‘ die simultanen Empfindungen besser zu analysieren und in ihren Einzelaspekten darzustellen. Das Französische gilt Diderot in dieser Hinsicht als Ideal. Er geht in seiner Argumentation so weit, dass er die französische Syntax als eine Art mentale Grundstruktur beschreibt, der selbst Cicero denkend folgte, bevor er sie in die lateinische, weniger natürliche Syntax transformiert habe. Dieser erkenntnistheoretische Vorteil mache das Französische jedoch für ästhetische Belange weniger geeignet als die alten Sprachen, das Englische oder das Italienische.178 Wie schon bei Smith und Condillac werden begrifflich-repräsentierende Präzision und ästhetische Qualität als konträre Pole der Sprachnatur beschrieben. Denn was in den alten wie neuen Sprachen der klar-linearen Ordnung widerstreite, sei das Be|| 176 Denis Diderot: Brief über die Taubstummen. S. 48. 177 Denis Diderot: Brief über die Taubstummen. S. 48. 178 „[D]er gesunde Menschenverstand würde die französische Sprache wählen; aber die Einbildungskraft und die Leidenschaften bevorzugen die alten Sprachen und die Sprachen unserer Nachbarn.“ Denis Diderot: Brief über die Taubstummen. S. 50f.
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streben nach der ‚Harmonie des Stils‘ (harmonie de style). Harmonie kann auf der Wortebene (prosodische Merkmale) und auf der Satzebene (syntaktische Ordnung) hergestellt werden. Dieser Wunsch nach Wohlklang könne so weit gehen, dass ihm die natürliche Ordnung der Ideen geopfert und die syntaktische Ordnung nach ästhetischen Gesichtspunkten umgestellt werde. Beließe Diderot die Bestimmung dichterischen Sprachgebrauchs im Rahmen der Harmonie, des Wohlklangs und des Angenehmen, verbliebe er damit immer noch im Rahmen der klassizistischen Poetik, die hierin dem delectare et prodesse-Paradigma verpflichtet ist. Besondere Aufmerksamkeit verdient nun aber ein Abschnitt des Brief über die Taubstummen, in dem Diderot einen besonderen ‚poetischen Geist‘ als das charakteristische Merkmal poetischen Sprachgebrauchs benennt: Wenn der Gedanke mit Klarheit, Reinheit und Präzision wiedergegeben wird, so genügt das für das vertrauliche Gespräch. Fügen Sie zu diesen Eigenschaften noch die Wahl der Ausdrücke sowie den Rhythmus (nombre) und die Harmonie des Satzes, so bekommen Sie den Stil, der zur Kanzel paßt, […]. In die Rede des Dichters kommt dann ein Geist, der alle Silben bewegt und belebt. Worin besteht dieser Geist? Ich habe seine Gegenwart zuweilen gefühlt, weiß aber von ihm nur eins: er bewirkt, daß die Dinge zugleich gesagt und vorgestellt werden (que les choses sont dites et représentées tout à la fois) und daß zu derselben Zeit, da sie der Verstand erfaßt, auch die Seele von ihnen ergriffen wird, die Einbildungskraft sie sieht und das Gehör sie hört.179
Bedeutsam ist besonders der letzte Satz dieses Zitats. Während alle anderen Arten des Sprachgebrauchs lediglich semiotische Repräsentationen von mentalen Inhalten sind (hier scheint erneut die Dualität von res und verba auf), zeichnet sich Dichtung durch eine zusätzliche sprachliche Dimension aus. Dichtung ‚sagt‘ und ‚bildet‘ gleichzeitig ab: que les choses sont dites et représentées tout à la fois. Der Unterschied zwischen ‚sont dites‘ und ‚sont représentées‘ erschließt sich aus Diderots anschließender Erläuterung. Im Falle der Poesie ist die Rede also nicht mehr bloß eine Verknüpfung von wirkungsvollen Ausdrücken, die den Gedanken kraftvoll und edel entfalten, sondern auch ein Gewebe von aufeinandergehäuften Hieroglyphen, die diesen Gedanken malen. In diesem Sinne könnte ich behaupten, daß alle Poesie sinnbildlich (emblématique) ist.180
Der Begriff ‚Hieroglyphe‘, der später auch im deutschen Idealismus und der Frühromantik besondere Bedeutung erhält, ist hier im Sinne eines bildlichen,
|| 179 Denis Diderot: Brief über die Taubstummen. S. 53. 180 Denis Diderot: Brief über die Taubstummen. S. 53.
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abbildenden Zeichens aufzufassen.181 Wie können nun aber beide semiotischen Prozesse (Ausdruck und Hieroglyphe) gleichzeitig ablaufen, wo Diderot doch zunächst die lineare Sukzession von Sprache betonte? Diderots Antwort ist prägnant und kurz. Beide semiotischen Prozesse können simultan ablaufen, da sie mit Verstand und Empfindung simultan zwei verschiedene Vermögen des Menschen affizieren. Der Verstand stellt die Verbindung von Zeichen und Idee her, er ergreift aktiv das Gesagte (l’entendement les saisit), während gleichzeitig der empfindsame Teil der Seele durch die Sprachzeichen passiv ergriffen wird (l’âme en est émue). In Elemente der Physiologie (Éléments de physiologie, 1774) reflektiert Diderot das im Brief über die Taubstummen nicht explizierte Verhältnis von Seele, Verstand und Einbildungskraft.182 Die Empfindungen beschreibt er hier als Einwirkungen oder ‚Modifikationen‘ der Seele, die wie im Fall von Farbe und Geruch unbewusst oder im Fall von lebhaften und ergreifenden Empfindungen bewusst erfolgen.183 Die Vermutung liegt nahe, dass Diderot an der zitierten Stelle des Briefs über die Taubstummen jene starken und lebhaften Einwirkungen vor Augen hatte, die später in Elemente der Physiologie als eine Kraft beschrieben werden, die die empfindsame Seele so ergreift, dass sie sich dessen selbst bewusst wird. Dichtung vermag nach Diderot also nicht nur Ideen im Verstand hervorzurufen, sie kann auf sprachlichem Weg das, was sonst nur Gegenstände auf dem Weg der Wahrnehmung bewirken können: Sie ruft Empfindungen, sinnliche Eindrücke und Gefühle wach.184 Für die diskursive Formation von Physik, Mathematik, Logik und Dichtung hat dies eine wichtige Folge. Dichtung kann durch den doppelten semiotischen Prozess und in der Verwendung ‚energiegeladener Ausdrücke‘ besser die natürliche Ordnung der Ideen repräsentieren als der ausschließlich referenzielle Sprachgebrauch in Physik, Mathematik und Logik. Sie ist unter analytisch-
|| 181 Die Decodierung der Hieroglyphen gelang Jean-François Champollion erst 1822 anhand des 1799 gefundenen Steins von Rosette, also 70 Jahre nach Verfassen der Lettre sur les sourds et muets. 182 Die Seele, „wenn sie überhaupt existiert“ ist „jedenfalls […] ein bewegliches, ausgedehntes, empfindliches und zusammengesetztes Wesen. Sie wird müde wie der Körper; sie ruht aus wie der Körper. Sie verliert ihre Autorität über den Körper, wie der Körper seine Autorität über sie verliert. […]. Der Unterschied zwischen der empfindsamen Seele und der vernünftigen Seele ist nur eine Sache des organischen Baus.“ Denis Diderot: Elemente der Physiologie. [Éléments de physiologie, 1773–1774]. In: derselbe: Philosophische Schriften. Bd. 1. Übers. und hrsg. v. Theodor Lücke. Berlin: Aufbau, 1961. S. 591–762; S. 713 und S. 715. 183 Vgl. Denis Diderot: Empfindungen [Artikel der Enzyklopädie]. In: derselbe: Philosophische Schriften. Bd. 1. Übers. und hrsg. v. Theodor Lücke. Berlin: Aufbau, 1961. S. 290–303; S. 302. 184 Hier befindet sich Diderot in Nähe zu Jean-Baptiste Dubos’ Poetik, vgl. Kap. IV.1.2.
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begrifflichen Gesichtspunkten nicht gleichermaßen präzise, vermag aber simultan mehrere Ideen und Empfindungen hervorzurufen.
3.7 Zusammenfassung empiristischer und sensualistischer Sprachkonzeptionen Wie bereits die rationalistischen Positionen der Sprachphilosophie, sollen auch die empiristischen und sensualistischen Sprachkonzeptionen stichpunktartig zusammengefasst werden: Die Trias Gegenstand – Vorstellung/Idee/Begriff – sprachliches Zeichen: Bei den zunächst untersuchten Autoren Berkeley, Hume, Harris und Smith zeigt sich auch in der empiristischen Sprachtheorie die Trias (Gegenstand – Vorstellung/Idee/Begriff – sprachliches Zeichen). Erst Condillac verschränkt auf der Ebene komplexer mentaler Operationen sprachliche Zeichen und mentale Prozesse. Beide setzt er in ein sich wechselseitig bedingendes Abhängigkeitsverhältnis. Ohne Zeichen sind keine komplexen Ideen, ohne Ideen sind keine arbiträren Sprachzeichen möglich. Die Trennung von res und verba: Anders als bei den Vertretern des Rationalismus zeigt sich in der empiristischen Sprachtheorie eine deutliche Abwertung sprachlicher Zeichen gegenüber der vorsprachlichen Erkenntnis. Das empiristische Grundvertrauen in die Sicherheit sinnlicher Wahrnehmung führt zu einer radikalen Skepsis hinsichtlich der Adäquatheit sprachlicher Repräsentation. Berkeleys Ideal einer namen- und wortlosen Erkenntnis ist ein paradigmatisches Beispiel dieser Skepsis. Im Grunde bleibt aber selbst bei moderateren Vertretern die ontologische Trennung von res und verba gewahrt. Der Instrumentcharakter der Sprache: Auch in der empiristisch-sensualistischen Sprachtheorie hat Sprache folglich den Charakter eines Instruments. Anders als im Rationalismus werden die Schwächen und Begrenzungen sprachlicher Repräsentation nicht allein auf den schadhaften Zustand natürlicher Sprachen zurückgeführt, den man durch künstliche Universalsprachen zu überwinden sucht. Vielmehr begreifen die Vertreter des sprachtheoretischen Empirismus die ausgeführten Mängel als inhärente Probleme des sekundären Repräsentationssystems Sprache; ihnen ist der rationalistische Bezeichnungsoptimismus fremd. Nicht die Sinneswahrnehmungen und die durch sie gewonnenen Vorstellungen und Ideen sind dunkel, verworren und uneindeutig, sondern die sprachliche Bezeichnung und die verwirrende Rückkopplung falscher Ausdrücke auf die Begriffsbildung. Adam Smith zeigt sich durch seinen Maschinen-Vergleich in diesem Punkt als ein gemäßigter Vertreter des Empiris-
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mus. Bei ihm scheint der Gedanke auf, dass Sprache wie eine Maschine nur für eine Funktion ideal geeignet sein kann. Begriffliche Präzision und ästhetische Schönheit begreift Smith – wie später auch Condillac – als Funktionen, die innerhalb einer Sprachstufe nicht gleichermaßen gut erfüllt werden können. Die Sprachfunktionen: Die primäre Sprachfunktion ist bei Berkeley, Hume, Harris und Smith die kommunikative. Erst Condillac weist sprachlichen Zeichen indirekt eine mentale Funktion zu, die in der Hervorbringung und Weiterentwicklung komplexer mentaler Gehalte besteht (in Wechselwirkung mit Ideen und Vorstellungen). Stärker als die Vertreter der rationalistischen Sprachtheorie erkennen Smith, Condillac und Diderot aber auch genuin poetische Sprachfunktionen an. Diderot entwirft mit dem ‚poetischen Geist‘ eine genuin dichterische Sprachdimension, die aufgrund ihrer Nähe zur Ordnung der Ideen höher bewertet wird als der rein referenzielle Sprachgebrauch in allen anderen Diskursen. Der Sprachgebrauch in Dichtung und Poesie: Da die älteren, empiristischen Positionen Sprache hauptsächlich unter erkenntnistheoretischen Blickwinkeln betrachten, liegt ihnen meist implizit oder explizit das Primat transparenter, eindeutiger Repräsentation zugrunde. Der Dichtung wird nicht zugetraut, dieses Ideal erreichen zu können. Erst mit Smith, Condillac und Diderot wird explizit die völlig andere Gestalt dichterischen Sprachgebrauchs thematisiert und reflektiert. Anders als bei Baumgarten, Meier und Sulzer werden Dichtung und Poesie nicht primär über mentale Gehalte und Vermögen bestimmt, sondern wie in Condillacs Essai als Sprachgebrauch mit eigenem Zeichenvorrat charakterisiert. Auch Diderot definiert Dichtung letztlich über eine besondere, sprachliche Form (den energiegeladenen Ausdruck). Besonders bei den beiden letztgenannten Vertretern erscheint Dichtung als eigenständiger und gleichwertiger Diskurs im Verhältnis zu Wissenschaften und Philosophie. Kern dieser Gleichstellung ist allerdings nicht die Legitimation durch eine der begrifflich-genauen Erkenntnis gleichwertige sinnliche Erkenntnis (vgl. Baumgarten), sondern der eigene Charakter, der sich bei Condillac z.B. in der ästhetischen Zwecklosigkeit und bei Diderot in der Nähe zur natürlichen Ordnung der Ideen zeigt.
4 Sprachkonzeptionen jenseits rationalistischer und empiristischer Positionen Vor allem im 18. Jahrhundert findet sich eine Vielzahl sprachtheoretischer Ansätze, die sich nur schwerlich oder überhaupt nicht in die Dichotomie von RatiDOI 10.1515/9783110464252-012, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
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onalismus und Empirismus bzw. Sensualismus einordnen lassen. Bedeutsam für die vorliegende Untersuchung sind sie deswegen, weil sie das Verhältnis von szientistisch-philosophischer und poetischer Sprache bzw. des jeweiligen Sprachgebrauchs meist anders konzipieren und bewerten als die zuvor untersuchten Vertreter. Die folgende Auswahl an Positionen (Vico, Rousseau, Kant, Hamann und Herder) wird hierzu lediglich aus pragmatischen Gründen gebündelt dargestellt und soll nicht suggerieren, es handle sich um ein weiteres mehr oder minder homogenes Feld sprachtheoretischer Positionen. Im Gegenteil werden neben einigen Gemeinsamkeiten, die am Schluss dieses Kapitels resümiert werden sollen, immer wieder Aspekte wechselseitiger Kritik, Distanzierung und Differenz aufgezeigt. Die Ausführungen zu den sprachtheoretischen Implikationen der Kant’schen Philosophie stellen gewissermaßen einen kontextualisierenden Exkurs dar, da bei ihm zum einen keine größeren sprachtheoretischen Reflexionen zu finden sind, zum anderen gerade diese ‚Sprachblindheit‘ ein zentraler Ansatzpunkt für Herders und Hamanns Kant-Kritik ist.
4.1 Giambattista Vico (1668–1744) Der Neapolitaner Giambattista Vico ist einer der wenigen Philosophen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der Sprache als eigenständigen Untersuchungsgegenstand der Philosophie ansieht. Aufmerksam rezipiert er Newtons, Leibniz’, Descartes’ und Hobbes’ Schriften, hebt sich jedoch von empiristischen und rationalistischen Positionen dadurch ab, dass er Sprache als zentralen Baustein menschlicher Erkenntnis begreift. Seiner Ansicht nach ist sie das gesuchte Verbindungsglied zwischen Descartes’ res cogitans und res extensa. Diese erkenntnistheoretische Schlüsselstellung der Sprache sucht Vico argumentativ durch eine imaginierte Sprachentwicklung seit der Sintflut zu stützen. Gleichzeitig leitet er aus dieser Sprachgenese das Primat der poetischen Sprachzeichen und des mythischen Sprachgebrauchs ab. Besonders überraschend ist allerdings die hieraus resultierende Bewertung von Dichtung und Poesie. Nach Vico übertreffen sie Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften in ihrer Möglichkeit, sichere und wahre Erkenntnis zu erlangen; anders als Descartes und Leibniz wertet er die unteren Erkenntnisarten massiv auf und sieht in der cognitio clara confusa sogar das Fundament aller menschlichen und philosophischen Er-
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kenntnis.185 Der zentrale Text, in dem Vico seine sprachtheoretischen Überlegungen entfaltet, ist die Scienza Nuova.186 Zunächst ist auch für Vico die Frage leitend, wie gesicherte Erkenntnis möglich ist. Zu ihrer Beantwortung unterscheidet er zwischen der Wahrheit (verum) und der Sicherheit (certum) einer Erkenntnis und definiert als Ideal den Status, in dem eine Erkenntnis gleichzeitig wahr und sicher ist. Menschliche Erkenntnis könne diesen Status jedoch ausschließlich dann erhalten, wenn das Objekt der Erkenntnis vom erkennenden Subjekt selbst hervorgebracht worden ist. Nur für den Fall, dass sich menschliche Erkenntnis auf menschliche Hervorbringungen richte wie sich das Verständnis des Handwerkers auf das von ihm hervorgebrachte Gewerk bezieht, gelte: ‚verum et factum convertuntur‘.187 Dies stellt, wie Jürgen Trabant betont, eine erkenntnistheoretische Neuerung dar: Vico beziehe die Gewissheit der Erkenntnis „nicht aus der Gewißheit des cogito, des reinen Denkens […] auch nicht, wie die Naturwissenschaft, [aus] der Gewißheit des Experiments“188, er gründet sie vielmehr auf dem kreativen Nachvollzug ‚menschlicher Dinge‘ durch das Erkenntnissubjekt. Aus dieser erkenntnistheoretischen Wendung ergibt eine Gliederung der erkennbaren Wirklichkeit in drei Gegenstandsbereiche: 1. Die natürliche Welt (mondo naturale) stellt den ersten Gegenstandsbereich dar. Da sie nach christlichem Verständnis von Gott dem Schöpfer hervorge-
|| 185 Vgl. Eugenio Coseriu: Geschichte der Sprachphilosophie. S. 280–285 und Guenter Wohlfart: Denken der Sprache. Sprache und Kunst bei Vico, Hamann, Humboldt und Hegel. Freiburg, München: Alber, 1984. S. 87–88. 186 In vollem Titel: Principi di una Scienza nuova intorno alla natura delle Nazioni per la quale si ritruovano i principi di altro sistema del diritto naturale delle genti, ein Projekt, in dem er wesentliche Gedanken seiner früheren Schriften sammelt und systematisiert. 1725 erschien die erste Ausgabe (Scienza Nuova Prima), die jedoch wenig Aufmerksamkeit erhielt. Vico überarbeitete sie radikal und sorgte so für zwei weitere Veröffentlichungen in den Jahren 1730 und 1744 (postum). Die letztgenannte Ausgabe liegt auch der deutschen Übersetzung von 1990 zugrunde, auf ihr bauen die folgenden Ausführungen auf: Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker. [Principi di una Scienza nuova intorno alla natura delle Nazioni per la quale si ritruovano i principi di altro sistema del diritto naturale delle genti, 1744]. 2 Bde. Hrsg. von Vittorio Hösle. Hamburg: Meiner, 1990. Vgl. auch Jürgen Trabant: Neue Wissenschaft von alten Zeichen. Vicos Sematologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1994. 187 Bereits 1707 in seiner das Studienjahr beginnenden Rede und 1709 in der Metaphysik nennt und erläutert Vico dieses verum-factum-Prinzip. Vgl. Markus Edler: Der spektakuläre Sprachursprung. Zur hermeneutischen Archäologie der Sprache bei Vico, Condillac und Rousseau. München: Fink, 2001. S. 43f. 188 Jürgen Trabant: Neue Wissenschaft von alten Zeichen. S. 34.
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bracht wurde, könne der Mensch als Teil der geschaffenen Welt und damit als Geschöpf kein sicheres Wissen über sie gewinnen. Der Mensch könne Wahrheiten (verum) dieser Welt erfassen (z.B. in Form von Naturgesetzen), allerdings sei diese Erkenntnis nie endgültig sicher und könne sich jederzeit als revisionsbedürftig erweisen. Den zweiten Gegenstandsbereich bilden die mathematischen Gegenstände, bei dem sich die Verhältnisse nun umkehren. Zwar seien die Mathematik und ihre Gegenstände nicht in demselben Sinne Schöpfungen des Menschen, wie die geschaffene Wirklichkeit eine Schöpfung Gottes sei. Im Erkennen mathematischer Wahrheiten aber vollziehe der Mensch für sich die Hervorbringung mathematischer Gegenstände nach. Die selbständignachvollziehende Hervorbringung garantiert nach Vico die Sicherheit (certum) mathematischer Erkenntnis. Allerdings mangele es der Mathematik an Wahrheit (verum), da ihre Gegenstände nicht Teil der konkreten, sinnlichen Realität seien.189 Sowohl wahr als auch sicher ist die menschliche Erkenntnis für Vico nur im dritten Gegenstandsbereich, im Bereich menschlicher Kultur (mondo civile). Nur der Bereich menschlicher Kultur werde vom Menschen hervorgebracht und besitze gleichzeitig auch objektive Realität.
Alle Disziplinen, die sich mit der menschlichen Sphäre beschäftigen (dies sind Philosophie, Dichtung, Künste, Philologie und Psychologie), übertreffen folglich die Naturphilosophie und Mathematik darin, dass sie Kenntnisse ihrer Gegenstände haben, die sowohl wahr (verum) als auch sicher (certum) sind. Entscheidend für diese Feststellung, mit der sich Vico gegen die zentralen erkenntnistheoretischen Positionen des 18. Jahrhunderts stellt, ist die Bedeutung der Sprache im Erkenntnisprozess. Vico trennt nicht ontologisch zwischen Denken und Sprechen, zwischen Idee und sprachlichem Zeichen (‚Charaktere‘) oder zwischen res und verba. Sprache ist daher auch nicht ein nachgeordnetes Instrument vorsprachlicher Erkenntnis, sondern ein für den Erkenntnisakt, der sich zwischen res extensa und res cogitans abspielt, notwendiger Aspekt, „da der Mensch […] nichts anderes ist als Geist, Körper und Sprache und die Sprache gleichsam in die Mitte gesetzt ist zwischen den Geist und den Körper“190. Die Gleichsetzung von Sprache und Denken ergibt sich für Vico aus ihrer Einheit im Sprachursprung. Bei der Darstellung der Sprachentwicklung seit
|| 189 Vgl. Jürgen Trabant: Neue Wissenschaft von alten Zeichen. S. 34–36. 190 Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 2. S. 566.
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diesem Ursprung übernimmt Vico ein durch Herodots Historien überliefertes Geschichtsbild, welches die gesamte Weltzeit […] auf drei Zeitalter zurückführt, nämlich das Zeitalter der Götter, das Zeitalter der Heroen und das Zeitalter der Menschen […], [und] daß durch all diese drei Zeitalter drei Sprachen gesprochen wurden, die in ihrer Reihenfolge den genannten drei Zeitaltern entsprechen, nämlich die hieroglyphische oder heilige Sprache, die symbolische oder die in Gleichnissen, welches die heroische Sprache ist, und die epistoläre oder gewöhnliche Sprache der Menschen, in Zeichen, auf die sie sich durch Konvention geeinigt hatten, um die gewöhnlichen Bedürfnisse des Lebens mitzuteilen.191
Vicos Darstellung der Sprachentwicklung stützt sich nicht auf das Studium historischer Dokumente, sondern ist – für Sprachursprungsthesen des 18. Jahrhunderts nicht untypisch – eine retrospektive Projektion zeitgenössischen Wissens.192 In diesem Sinn imaginiert Vico historische Zeitalter, die er mithilfe von drei synchron beobachtbaren Sprachformen charakterisiert: 1. Das Zeitalter der Götter, die hieroglyphische bzw. heilige Sprache und die ‚poetischen Charaktere‘: Noahs Nachkommen fielen nach der Sintflut – hier folgt Vico der Interpretation der alten Kirchenväter – in einen animalischen, sprachlosen Zustand zurück. Durch einen äußeren göttlichen Gnadenakt193 erhielten sie erste verworrene Vorstellungen des Göttlichen zurück, die sie
|| 191 Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 1. S. 101f. Zwar nimmt Vico die Existenz einer adamitischen Ursprache an, deren letzte Reste seien jedoch nach Sintflut und Babylonischer Sprachverwirrung verloren gegangen. Die von Herodot überlieferten drei Zeitalter heben demnach nach dem Ende der Sintflut mit Noahs Nachfahren an. 192 Vgl. Jürgen Trabant: Neue Wissenschaft von alten Zeichen. S. 60f. In der Vico-Forschung wird diskutiert, ob es sich bei den drei Sprachtypen um eine diachrone Genese oder um eine funktionale Differenzierung synchroner Sprachformen handelt. Die letztgenannte Perspektive stützen Passagen aus dem zweiten Buch (zweiter Abschnitt) der Scienza Nuova: „Um nun auf die sehr schwierige Bildungsweise all dieser drei Arten von Sprachen und Buchstaben einzugehen, ist dieses Prinzip aufzustellen: so wie zu gleicher Zeit die Götter, die Heroen und die Menschen entstanden […], so entstanden zu gleicher Zeit auch diese drei Sprachen […].“ Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 2. S. 223. Der vermeintliche Widerspruch lässt sich aber auflösen, wie Jürgen Trabant an genannter Stelle darlegt, wenn man akzeptiert, dass in Vicos Text eine Kopräsenz von sowohl diachroner wie funktional-synchroner Perspektive gegeben ist. 193 Nach Vico hat die Gottheit den „Wilden und Gewalttätigen“ Anlass gegeben, „sich zur Humanität zu erheben und die Völker zu gründen, indem sie ihnen eine verworrene Vorstellung der Gottheit erweckte, die sie in ihrer Unwissenheit demjenigen zuschrieben, dem sie nicht zukam [nämlich den Naturgewalten, M.I.]; und auf diese Weise, in der Angst vor einer solchen eingebildeten Gottheit, begannen sie, sich in irgendeine Ordnung zu fügen.“ Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 1. S. 102f.
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aber nicht abstrakt begriffen, sondern in die Naturgewalten wie Blitz und Donner hineinprojizierten; die Menschen schufen die Ideen nach ihrem Bilde (egli di sé fa esse cose194). Verworren ist die Vorstellung nach Vicos theologischem Verständnis deswegen, weil sie die Gottheit nicht als Schöpfer jenseits der Schöpfung, sondern in den natürlichen Phänomenen der Schöpfung verortet. In Ermangelung des intellectus war es die primitive imaginatio, die – anstatt den sinnlichen Empfindungen etwas zu entnehmen (das wäre die empiristische Erklärung der ersten Vorstellungen) – die verworrene Gottesvorstellung in Form anthropomorpher Gottheiten in die Sinnesempfindung gewissermaßen hinein dichtete.195 „Auf diese Weise schufen die ersten Menschen der heidnischen Völker […] aus ihrer Idee die Dinge […], daher wurden sie ‚Dichter‘ ‚ital.: poeti‘ genannt, was auf Griechisch dasselbe bedeutet wie ‚Schöpfer‘.“196 Diese ersten Vorstellungen waren aber keine abstrakten Ideen, sondern Gebärden, Körperbewegungen, stumme Rituale und als solche identisch mit den ersten Zeichen, denn umgekehrt erschaffen und formen erst diese Zeichen die Gottesvorstellungen, weswegen sie Vico ‚poetische Charaktere‘ (caratteri poetici197) nennt. Vorstellung und Zeichen bilden somit eine Einheit, eine ‚Zeichenvorstellung‘.198 Die Zeichenvorstellung ist ein natürliches Zeichen, da sie nachahmt, was die imaginatio in die Wirklichkeit hineingedichtet hat. Die Nachahmung durch poetische Charaktere ist also keine Repräsentation, die auf der Ähnlichkeit von Bezeichnetem und Gegenstand basiert, sie gründet in einem anthropomorphisierenden Akt. Erst nach und nach, so Vicos Mutmaßung, wurden derartige Zeichen auch zum Zweck der Kommunikation verwendet. Das Zeitalter der Heroen, die symbolische Sprache und die ‚heroischen Wappen‘: Der zweite Sprachtypus entstand in der Zeit der Heroen, also jener Menschen, die der euhemeristischen Deutung folgend durch mythische
|| 194 Vgl. Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 2. S. 191. 195 Vgl. Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 2. S. 104. 196 Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 2. S. 171f. 197 Vgl. Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 2. S. 32. 198 Vgl. Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 2. S. 197. Die Identität von Vorstellung und Zeichen begründet Vico auch etymologisch: „‚Logik‘ kommt von dem Wort λογος ‚Sprache‘, das zunächst und eigentlich ‚Fabel‘, ital.: ‚favola‘ bedeutet, was in italienischer Übersetzung ‚favella‘ ‚Sprache‘ heißt – und die Fabel hieß bei den Griechen auch μῦθος ‚Mythos‘, woher den Lateinern ‚mutus‘ ‚stumm‘ kommt; denn in den stummen Zeiten entstand die Sprache als geistige, wie denn an einer klassischen Stelle Strabon sagt, eine solche sei vor der mündlichen oder artikulierten dagewesen: weswegen λογος sowohl ‚Idee‘ als auch ‚Wort‘ bedeutet.“ Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 2. S. 189.
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Erzählungen nach ihrem Tod einen göttlichen oder quasi-göttlichen Status erhalten hätten. Die heroische Sprache ist mit der göttlichen Sprache verwandt, da auch sie zunächst poetische, d.h. stumme und abbildende Zeichen verwendet, jedoch sind in ihr Signifikant und Signifikat nicht mehr identisch. Kontext der Entstehung dieses zweiten Sprachtyps war die Notwendigkeit, das Eigentum gegenüber Fremden auszuweisen.199 Als Zeichen wurden Wappen gebraucht, die ähnlich wie heraldische Symbole das jeweilige Herrschergeschlecht repräsentierten. Aus den ersten einfachen Wappen hätten sich „aus Liebhaberei die gelehrten Wappen, die man ahnend ‚heroische‘ nannte [, entwickelt], diese [belebte] man durch ein Motto“200. In der auf Ähnlichkeit basierenden Abbildung der Wappen, in der Bezeichnendes und Bezeichnetes aber bereits getrennt und dennoch verbunden waren, zeigt sich nach Vico der Ursprung gleichnishafter und metaphorischer Rede, weswegen er diese Sprachform auch ‚poetische Sprache‘ nennt. Ihre ‚gelehrten Wappen‘ „mußten […] Metaphern oder Bilder oder Gleichnisse oder Vergleiche [simiglianze] sein, die später, in der artikulierten Sprache, den ganzen Vorrat der poetischen Sprache bilden“201. Das Zeitalter der Menschen, die epistolären Sprachen und die konventionellen Zeichen: Der dritte Sprachtypus entstand nach Vicos Darstellung ebenfalls aus einer pragmatischen Notwendigkeit, nämlich der alltäglichen Kommunikation über größere Distanzen hinweg.202 Die epistoläre Sprache realisiert dabei das poetische Verfahren der göttlichen und heroischen Sprache mit akustischen Mitteln in Form artikulierter Laute „und zwar mittels der Onomatopöie, nach der wir noch jetzt die Kinder sich glücklich ausdrücken sehen“203. Zeitgleich mit der Lautsprache seien auch die ersten logographischen Schriftzeichen entwickelt worden, die später durch alphabetische ersetzt worden seien.204
|| 199 „Die Bestimmtheit des Eigentums hatte einen großen Anteil an der Notwendigkeit, die ‚Charaktere‘ und die ‚Namen‘ zu erfinden, letztere in der ursprünglichen Bedeutung von ‚Häusern, die sich in viele Familien verzweigen‘, die mit höchster Eigentümlichkeit ‚Stämme‘ genannt wurden.“ Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 2. S. 242. 200 Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 2. S. 243. 201 Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 2. S. 215. 202 Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 2. S. 216. Vicos Bezeichnung ‚epistoläre Sprache‘ greift diesen Aspekt auf: lingua pistolare; epistolé – Botschaft. 203 Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 2. S. 223f. 204 Vgl. Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 2. S. 216f.
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Vico verfolgt mit seiner Darstellung der frühen Sprachentwicklung neben dem Ziel, mithilfe der poetischen Charaktere einen Nachweis der ursprünglichen Identität von Denken und Bezeichnen zu geben, weitere sprachtheoretische Anliegen. Er möchte einen vermeintlichen Irrtum der gängigen Sprachtheorien des 17. und frühen 18. Jahrhunderts korrigieren: Bezüglich der gewöhnlichen Sprachen jedoch haben alle Philologen mit zu viel gutem Glauben angenommen, sie hätten willkürliche Bedeutungen; denn sie müssen wegen dieser ihrer natürlichen Ursprünge natürliche Bedeutungen gehabt haben […]; und allgemein macht die Metapher bei allen Völkern den größten Teil des Wortschatzes aus.205
Der Abbildcharakter tradiert sich nach Vicos Darstellung von den poetischen Charakteren über die heroischen Symbole bis in die allgemeinen Lautsprachen. Allerdings ist damit keine Urbild-Abbild-Relation zwischen Bezeichnendem und Referent gemeint. Sprachzeichen (vox) bilden jeweils nur einen speziellen Aspekt einer Vorstellung (conceptus) ab. Vico illustriert dies anhand des ersten Gottes – einer in Blitz und Donner verorteten Gottheit, die in der Götterwelt aller frühen Kulturen zu finden sei („jedes Volk hatte seinen Jupiter“206). Die unterschiedlichen Namen des Göttervaters: ‚Ious‘, ‚Ζεύς‘, ‚Ur‘ usw. bezögen sich allesamt gleichermaßen lautlich-abbildend auf das komplexe Phänomen ‚Blitzeinschlag‘, bildeten aber jeweils nur eine Facette des Phänomens ab. Konventionelle Zeichen sind Sprachzeichen also in der Auswahl der Facette, die nachgeahmt wird, natürliche Zeichen sind sie, weil sie lautlich die Vorstellung abbilden. Jürgen Trabant, der die Trennung von Natürlichkeit und Konventionalität in der Scienza Nuova ausführlich thematisiert207, lenkt den Blick auf Vicos gesellschaftlich-pragmatisches Argument, das hinter diesen Überlegungen steht: „Das ‚Konventionelle‘ verweist auf die gesellschaftliche Instanz, die die Zeichen trägt und verwendet, während die ‚Natürlichkeit‘ sich auf die Signifikation, also die Beziehung der Zeichen zur in ihnen dargestellten Welt, bezieht […].“208 Aus dieser Opposition zu der weit verbreiteten Grundannahme, verbalsprachliche Zeichen seien konventionell-arbiträr, ergibt sich auch eine eigenständige Bestimmung und Bewertung der Dichtung in Vicos Scienza Nuova. Vico wird nicht müde zu betonen, dass Sprache ihrem Ursprung nach nicht der Ratio, sondern der Phantasie entspringe und aufgrund dessen mit Mythos und Dichtung eng verwoben sei. „Mehr noch, ursprünglich sind Sprache, Dichtung || 205 Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 2. S. 220. 206 Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 1. S. 107. 207 Jürgen Trabant: Neue Wissenschaft von alten Zeichen. S. 94–96. 208 Jürgen Trabant: Neue Wissenschaft von alten Zeichen. S. 97.
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und Mythos eins und nicht etwa drei verschiedene Formen der intuitiven Erkenntnis […].“209 Das Poetische ist folglich von Anbeginn ein Wesensmerkmal menschlicher Sprache, das lediglich nach und nach verblasst ist. Dies zeigt sich anhand der bereits erwähnten zwei Merkmale der poetischen Charaktere: Einerseits entfaltet Vico anhand der Etymologie des Wortes ποίησις (‚Erschaffung‘) die Funktion poetischer Zeichen bei der Formung von ersten Vorstellungen, andererseits betont er das der Schöpfung zugrunde liegende Prinzip der anthropomorphisierenden Übertragung – die Übertragung ist im Wesentlichen eine Formung aufgrund von nachahmender Ähnlichkeit. Poetisch sind die Charaktere also aufgrund ihrer mimetischen Eigenschaften. Die Ähnlichkeit setzt sich in den heroischen Wappen bzw. Charakteren fort, „die später“, so Vico, „in der artikulierten Sprache, den ganzen Vorrat der poetischen Sprache bilden“210. Die artikulierte Sprache realisiert die Ähnlichkeit zunächst onomatopoetisch, aber auch in Form von Tropen (Metapher, Metonymie, Synekdoche und Ironie). Die genannten Tropen sind nicht artifizielles Produkt der Schulrhetorik, sondern ursprüngliche natürliche Phänomene. Zu dem mimetischen Prinzip der Onomatopöie kommt, wenn auch sekundär, die rhythmische und musikalische Qualität der ersten artikulierten Sprachen: Die Stummen geben ihre formlosen Töne singend von sich, und die Stotternden bringen ebenfalls nur singend ihre Zunge zum Sprechen. [...] Die Menschen machen großen Leidenschaften singend Luft, wie man es an denen erfahren kann, die in höchstem Maße betrübt oder heiter sind. [...] Diese beiden angenommenen Grundsätze [geben Anlaß zur Vermutung, M.I.], daß die Gründer der heidnischen Völker ihre ersten Sprachen singend bilden mußten, [da] sie in einen tierischen Zustand stummer Bestien verfallen waren und, eben deshalb stumpfsinnig, ihrer selbst nur inne werden konnten beim Ausbruch der gewaltsamsten Leidenschaften.211
Das Unvermögen, Konsonanten zu bilden, sowie das Bedürfnis, ‚große Leidenschaften‘ auszudrücken, begründen nach Vico die rhythmisierte Form der ersten Sprachen. Zunächst seien diese in spondeischer, dann mit zunehmender sprachlicher Kompetenz in der Lautbildung und aufgrund zunehmender mentaler Agilität in daktylischer und schließlich in jambischer Rhythmisierung artikuliert worden. Die prosaische Sprache stellt also ähnlich wie später bei Condillac den Endpunkt der Sprachentwicklung dar. Vico ist sich des revolutionären Potenzials seines Modells durchaus bewusst: „Und hiermit beginnen wir jene zwei
|| 209 Eugenio Coseriu: Geschichte der Sprachphilosophie. S. 292. 210 Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 2. S. 215. 211 Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 1. S. 114.
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allgemeinen Irrtümer der Philologen zu Fall zu bringen: daß die Sprache der Prosaiker die eigentliche, die der Dichter die uneigentliche sei; und daß man zunächst in Prosa, später in Versen gesprochen habe.“212 Vico legitimiert sein Verständnis von Dichtung, indem er deren Genese aus den ersten sprachlichen Zeichen entwirft und so Dichtung in Gänze als eine natürliche Form der Sprache konzipiert, die ihre eigene, ursprünglichere Form von Wahrheit besitzt. Die ersten Dichtungen waren nach seiner Auffassung mythische Erzählungen der ersten Dichter-Priester, in denen die poetischen Charaktere in Form von Göttern oder Heroen gebildet wurden. Drei Funktionen schreibt Vico diesen Urdichtungen zu, „[…] nämlich erhabene Mythen zu finden, die dem Verständnis des Volkes zusagen, und im Übermaß zu erschüttern, damit sie das Ziel erreiche, das sie sich vorgesetzt hat, nämlich das Volk zu lehren, wie man tugendhaft handelt, […].“213 Damit sieht sich Vico selbst in Opposition zu gängigen Erklärungen des Ursprungs von Dichtung und Poesie: Durch all das, was hier bisher gesagt wurde, wird alles umgestürzt, was über den Ursprung der Dichtung zunächst von Platon, dann von Aristoteles bis zu unseren Patrizi, Scaliger und Castelvetro geäußert worden ist; denn, so hat sich gezeigt, wegen des Mangels an menschlichem Denkvermögen entstand die Dichtung so erhaben, daß durch die Philosophien, die später kamen, durch die Poetiken und Kritiken, ja gerade wegen dieser, keine andere ebenbürtige geschweige denn größere Dichtung hervorgebracht wurde;214 Auf diese Weise bildete sich die poetische Sprache bei den Völkern, zusammengesetzt aus göttlichen und heroischen Charakteren, die später mit gewöhnlichen Redeweisen ausgedrückt und schließlich in gewöhnlichen Schriftzeichen geschrieben wurden. Und zwar erwuchs sie ganz aus Spracharmut und dem Bedürfnis, sich auszudrücken. Das zeige sich bewiesen durch die ersten Glanzpunkte der poetischen Ausdrucksweise, die da sind die Hypotyposis, die Bilder, die Gleichnisse, die Vergleiche, die Metaphern, die Umschreibungen, die Redensarten, die die Dinge nach ihren natürlichen Eigenschaften ausdrücken […].215
Er verwirft vor diesem Hintergrund auch Aristoteles’ prägende Bestimmung der dichterischen Nachahmung als Nachahmung des Möglichen nach den Regeln des Wahrscheinlichen und Notwendigen. Vico meint nun, dass Dichtung ursprünglich gerade das „Unmögliche als etwas Glaubhaftes“ darstelle (che la die lei propia materia è l’impossibile credibile216). Die Menschen des göttlichen Zeit|| 212 Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 2. S. 195. 213 Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 2. S. 172. 214 Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 2. S. 177. 215 Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 2. S. 229. 216 Um die Formulierung in ihrem Kontext zu zeigen, sei der Beginn des Abschnitts 383 vollständig wiedergegeben: „Die Entstehungsweise der Dichtung wird uns schließlich bestätigt durch diese ihre ewige Eigentümlichkeit: daß ihr eigentlicher Stoff das Unmögliche als etwas
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alters erschlossen sich die Wirklichkeit durch die poetischen Charaktere und erkannten in der Natur anthropomorphisierte Gottheiten, ihnen war allerdings nicht bewusst, dass sie ihre eigenen Schöpfungen sahen. So „glaubten diese Menschen, daß alles, was sie sahen, sich vorstellten und sogar was sie selbst taten, Jupiter sei, und verliehen dem ganzen Weltall, soweit sie es fassen konnten, und allen Teilen des Weltalls das Sein einer beseelten Substanz“217. Mit anderen Worten: Das mythische Denken brachte eine mythische Welt und somit auch eine mythische Dichtung hervor. Bezogen auf die mythische Weltsicht war die Dichtung wahr. Vico führt hier ein interessantes, beinahe relativistisches Moment ein, indem er darauf hinweist, dass die Möglichkeit/Unmöglichkeit und damit verbunden die Wahrscheinlichkeit immer in Abhängigkeit von einer historischen Weltsicht begriffen werden müsse. In diesem Sinne kritisiert er auch explizit Bacons allegorische Mytheninterpretation in De sapientia veterum (Über die Weisheit der Alten, 1609). Für Bacon ist die Beobachtung, dass die alten Mythen völlig Unmögliches erzählten, der Beweis dafür, dass unter der Ebene des narrativen Gehalts eine höhere Wahrheit verborgen liegen müsse.218 Vico verurteilt dieses Verfahren, da es die Mythen in die eigene Philosophie hineinzwinge, die der mythischen Weltsicht nicht gerecht werde.219 Er ist überzeugt, „[d]aß die Mythen bei ihrer Entstehung wahre und strenge Erzählungen waren (weshalb μῦθος, der Mythos, definiert wurde als ‚vera narratio‘ ‚wahre Erzählung‘)“220. Die vermeintliche Unwahrheit der mythischen Dichtungen entpuppt sich also als eine der Neuzeit fremd gewordene Form der Wahrheit. Dasselbe Missverständnis, das sich in Bacons Blick auf antike Mythen zeigt, erkennt Vico nun auch in der zeitgenössischen Skepsis hinsichtlich des Er|| Glaubhaftes ist, so wie es unmöglich ist, daß die Körper Geist seien (und doch geglaubt wurde, der donnernde Himmel sei Jupiter); daher lassen sich die Dichter auf nichts lieber ein als darauf, die Wundertaten zu besingen, die die Zauberinnen durch Hexereien vollbringen […].“Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 2. S. 177. 217 Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 2. S. 174. 218 „Es gibt jedoch […] ein […] Anzeichen von nicht zu unterschätzender Bedeutung dafür, daß diese Sagen eine dunkle und verborgene Bedeutung besitzen, nämlich, daß einige von ihnen, betrachtet man ausschließlich die Handlung selbst, so unsinnig und geschmacklos erscheinen, daß man annehmen muß, ihnen liege eine Parabel zugrunde, von der sie nur ferne Kenntnis geben. Denn von einer Sage, die nachvollziehbar ist, kann man vielleicht vermuten, sie sei lediglich um der Unterhaltung willen in Anlehnung an die Geschichte geschaffen. Was aber von niemandem so erdacht oder erzählt worden sein kann, muß einem anderen Zweck dienen.“ Francis Bacon: Weisheit der Alten. [De sapientia veterum, 1609]. Übers. von Marina Münkler und hrsg. von Philipp Rippel. Frankfurt a. M.: Fischer, 1992. S. 11. 219 Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 2. S. 484. 220 Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 2. S. 485–487.
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kenntniswerts von Dichtungen. Poesie sei, so Vico, noch immer die Umsetzung poetischer Charaktere in Verbalsprache und folglich die Darstellung einer eigenen Denkweise und Nachahmung einer eigenen Weltsicht. Das ‚Unmögliche als etwas Glaubhaftes‘ darzustellen sei nicht nur ein Merkmal der Mythen, es sei eine „ewige Eigentümlichkeit“ 221 der Dichtung an und für sich. Poesie ist für Vico, so hält Hans Blumenberg an diesem Punkt fest, „der mühsam gerettete Restbestand eines nur gelegentlich angehaltenen bzw. durchsichtig gewordenen säkularen Verfalls in die Prosa“222. Damit ist Poesie sowohl in ihrem sprachlichen Wesen wie in ihrer Wahrheit und Weltsicht von Philosophie und Wissenschaft getrennt. Ihr ist weder mit philosophischer Reflexion noch mit begrifflicher Repräsentation beizukommen, sie zeigt sich als das völlig Andere der menschlichen Erkenntnis: [D]as Wesen der Dichtung [macht] es unmöglich […], daß jemand als Dichter und Metaphysiker gleich erhaben sei, weil die Metaphysik den Geist von den Sinnen abzieht, das poetische Vermögen den Geist ganz in die Sinne hineintauchen muß; die Metaphysik erhebt sich zu den Allgemeinbegriffen, das poetische Vermögen muß sich in die Besonderheiten vertiefen.223
Philosophie bzw. Wissenschaften einerseits und Dichtung andererseits haben ihre je eigene Form von verum und certum – wobei das dichterische verum auf die dichterisch-mythische Weltsicht bezogen ist. Dichtung und Poesie seien hierin Mathematik und Physik aber nicht nur genealogisch vorgängig, sie überträfen diese auch hinsichtlich der Möglichkeit, sichere und wahre Erkenntnis zu erlangen, da Mathematik nur sicherere (certum), Physik aber nur wahre Erkenntnis (verum) hervorbringen könne. Die Unsicherheit der Physik und die Sicherheit der Dichtung leitet sich aus Vicos Abkehr von der sowohl in Rationalismus wie Empirismus angenommenen Repräsentationskette Gegenstand → Idee/Vorstellung/Begriff → sprachliches Zeichen ab. Markus Edler charakterisiert diese Abwendung folgendermaßen: Da die Sprache nur wahr ist hinsichtlich der menschlichen Vorstellungen, ist sie nicht ‚wahr‘ in bezug auf die Naturphänomene, spiegelt sie nicht, wie die adamitische Namenssprache, die ‚natura rerum‘. Damit hat Vico eine für die Sprachtheorie wesentliche Entscheidung getroffen. Die Frage lautet nicht mehr, wie sich die Sprache, vermittelt über die Ideen, zu den Dingen verhält, ob sie Reste einer auf die Natur der Dinge gerichteten göttli-
|| 221 Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 1. S. 177. 222 Hans Blumenberg: Sprachsituation und immanente Poetik. In: derselbe: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Stuttgart: Reclam, 1996. S. 137–156; S. 144. 223 Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 2. S. 464.
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chen Ursprache enthält oder reine Konvention ist, die Frage lautet jetzt, wie sie sich zu den Ideen verhält, die ihrerseits keine Abbilder der Dinge sind. Sprache bezieht sich auf ein menschlich-politisches Universum, nicht auf ein natürlich-physisches und entsteht am Anfang aller menschlichen und göttlichen Dinge zugleich mit diesen; die poetische Physik ist älter als diejenige Newtons und Galileis.224
Vicos Scienza Nuova hat zu seiner Zeit wenig positive Resonanz gefunden, denn „[s]einen Zeitgenossen, denen er um mindestens ein Jahrhundert voraus war, hat er es leicht gemacht, ihn für einen rückschrittlichen Humanisten zu halten, der bei weitem nicht auf der Höhe seiner Zeit sei“225. Seine Progressivität zeigt sich darin, dass er der „erste Philosoph [ist], der die Sprache nicht als Instrument betrachtet. […]. Er sieht in der Sprache einen autonomen Gegenstand.“226 Jürgen Trabant bezeichnet Vicos sprachphilosophische Überlegungen in der Scienza Nouva sogar als den ersten „linguistic turn in der Geschichte der Philosophie“227. So solitär Vicos Ansatz im 18. Jahrhundert im Kontext der europäischen Aufklärung ist, so anschlussfähig war seine sprachtheoretische und ästhetische Projektierung für Autoren der epistemologischen Umbruchszeit um 1800 – die Parallelen zu Philologie und Historie des 19. Jahrhunderts sind „geradezu verblüffend“228.
4.2 Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) Ob Jean-Jacques Rousseau Vicos Sprachtheorie rezipiert hat, ist nicht geklärt. Ähnlichkeiten sind aber augenscheinlich.229 Aufgrund der Freundschaft zu
|| 224 Markus Edler: Der spektakuläre Sprachursprung. S. 109. 225 Vittorio Hösle: Vico und die Idee der Kulturwissenschaft. Genese, Themen und Wirkungsgeschichte der „Scienza nuova“. In: Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Bd. 1. S. XXXI–CCXCIII; S. XXXII. 226 Eugenio Coseriu: Geschichte der Sprachphilosophie. S. 291. 227 Jürgen Trabant: Neue Wissenschaft von alten Zeichen. S. 41. Auch Amoroso spricht von einem ‚linguistic turn‘: „Schon in Vico findet also jener linguistic turn statt, den unserem Jahrhundert zuzuschreiben, wir uns angewöhnt haben.“ Leonardo Amoroso: Erläuternde Einführung in Vicos „Neue Wissenschaft“. Würzburg: K&N, 2006. S. 101. 228 Vittorio Hösle: Vico und die Idee der Kulturwissenschaft. S. XIX. 229 Raymund Wilhelm diskutiert hierzu unterschiedliche Positionen der RousseauForschung: „In rein philologischer Hinsicht konnte die Frage von Rousseaus Vico-Rezeption bislang nicht gelöst werden. […] Dies gilt jedoch nicht nur für Rousseau, sondern für die zeitgenössische französische Vico-Rezeption überhaupt.“ Raymund Wilhelm: Die Sprache der Affekte. Jean-Jacques Rousseau und das Sprachdenken des siècle des Lumières. Tübingen: Narr, 2001. S. 179.
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Denis Diderot und Étienne Condillac war Rousseau bestens mit den empiristisch-sensualistischen Sprachkonzeptionen vertraut. Im wechselseitigen Austausch wurden die jeweiligen Positionen entwickelt und präzisiert, bevor es nach 1758 zum Zerwürfnis mit den Enzyklopädisten kam. Rousseau grenzt sich in seinen Texten explizit von Condillacs Sprachursprungstheorie ab, indem er Sprache in ihrem Ursprung nicht als pragmatisches Instrument für den Austausch über Bedürfnisse begreift, sondern als ursprünglichstes Ausdrucksmittel. Bedeutsam ist dabei seine gegen Rationalismus und Empirismus gleichermaßen gerichtete Aufwertung des Gefühls (le sentiment). Rousseau greift mit der Trennung von Seele (âme) und Körper (corps) den zentralen cartesianischen Dualismus auf und wendet ihn doch völlig anders: „Das Wesen der Seele, das dem materiellen Leib entgegengesetzte Prinzip, ist bei Rousseau nicht mehr das Denken, sondern das Fühlen.“230 An die Stelle des cogito ergo sum tritt le sentiment de l’existence, an die Stelle der ratio tritt le cœur. Rousseau steht somit in fundamentaler Weise in Opposition sowohl zu Empirismus wie zu Rationalismus, denn mit ihm wird, wie Ernst Cassirer urteilt, „das geistige Zentrum der Epoche verschoben, wird all das, was ihr innere Sicherheit und Festigkeit gab, negiert. Er bildete nicht ihre Ergebnisse um, sondern er griff an ihre geistigen Wurzeln.“231 Anders als viele Zeitgenossen ist Rousseau ein radikaler Fortschrittspessimist.232 Nicht die durch Wissenschaften und Technik verbesserte Zukunft, sondern der natürliche, kulturell ungeformte Urzustand des Menschen gilt ihm als Ideal. Diese Einschätzung ist die leitende Grundannahme sowohl in Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1755, häufig als ‚Zweiter Discours‘ bezeichnet) als auch im Essay über den Ursprung der Sprachen, worin auch über Melodie und musikalische Nachahmung gesprochen wird (entstanden ab 1755, veröffentlicht postum 1781). Im Zweiten Discours charakterisiert Rousseau zunächst den Urzustand des Menschen. Mit wenigen Sätzen verwirft er im Vorfeld sowohl die empiristische Grundannahme, der Mensch sei bei der Geburt eine tabula rasa, als auch das
|| 230 Raymund Wilhelm: Die Sprache der Affekte. S. 134. 231 Ernst Cassirer: Das Problem Jean-Jacques Rousseau. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 41 (1932). S. 177–213 und S. 479–513; S. 485. 232 Im sogenannten ‚Ersten Discours‘ (Discours sur cette question: Le rétablissement des sciences et des arts a-t-il contribué à épurer les mœurs?, 1750) verneint er entschieden die von der Akademie in Dijon formulierte Preisfrage, ‚Ob der Wiederaufstieg der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen hat‘.
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rationalistische Fundament, an dem Descartes’ kategorischer Zweifel zu einem Ende kommt – das cogito ergo sum. Wir lassen also von allen wissenschaftlichen Büchern ab, die uns die Menschen nur als das Werk ihrer selbst sehen lehren und denken über die ersten und einfachsten Regungen der menschlichen Seele nach. Dabei glaube ich zwei Prinzipien zu bemerken, die vor dem Verstand da sind. Das eine macht uns leidenschaftlich um unser Wohlergehen und unsere eigene Erhaltung besorgt. Das andere flößt uns einen natürlichen Widerwillen dagegen ein, irgendein fühlendes Wesen, vor allem unseresgleichen, umkommen oder leiden zu sehen.233
Grundlegender als alle rationale Reflexion und alle empirische Erfahrung, so Rousseau, sind die Affekte der Eigenliebe und des Mitleids: „Man beginnt nicht mit dem Nachdenken, sondern bei der Empfindung.“234 Und er fährt fort: „Gerade aus dem Zusammenwirken und der Verbindung, die unser Geist aus diesen beiden Prinzipien herzustellen imstande ist, ohne daß man notwendigerweise den Hang zur Geselligkeit hinzufügen muß, scheinen mir alle Regeln des Naturrechts zu fließen.“235 Der Mensch im natürlichen Urzustand ist nach Rousseaus Verständnis weder ein aristotelisches Zoon politikon noch ist er dem Mitmenschen ein Hobbes’scher Wolf, sondern ein auf Bedürfnisbefriedigung ausgerichteter Einzelgänger: „Ist der Wilde satt, so ist er mit der ganzen Natur zufrieden und jedermanns Freund.“236 Die deshalb einsam vagabundierenden Urmenschen trafen eher zufällig aufeinander und benötigten hierbei keine Sprache: Die Männer und die Weiber vereinigten sich zufällig, je nach dem Zusammentreffen der Gelegenheit und Begierde, ohne daß das Wort ein dringender Dolmetscher für die Dinge gewesen wäre, die sie sich zu sagen hatten. Sie verließen sich mit gleicher Leichtigkeit.
|| 233 Jean-Jacques Rousseau: Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen. [Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, 1755]. In: derselbe: Über Kunst und Wissenschaft. Übers. und hrsg. von Kurt Weigand. Hamburg: Meiner, 1955. S. 61– 269; S. 71–73. 234 Jean-Jacques Rousseau: Essay über den Ursprung der Sprachen, worin auch über Melodie und musikalische Nachahmung gesprochen wird. [Essai sur l’origine des langues. Où il est parlé de la mélodie et de l’imitation musicale, 1781]. In: derselbe: Musik und Sprache. Übers. und hrsg. von Dorothea Gülke. Wilhelmshaven: Heinrichshofen, 1984. S. 99–168; S. 104. 235 Jean-Jacques Rousseau: Über den Ursprung der Ungleichheit. S. 73. Damit wendet sich Rousseau sowohl gegen Thomas Hobbes, der in seinem Leviathan (1651) den Urzustand des Menschen als ‚Krieg aller gegen alle‘ (bellum omnium contra omnes) charakterisiert, als auch gegen Condillac, der wie vor ihm u.a. bereits Aristoteles und Locke eine naturgegebene Geselligkeit des Menschen annimmt. 236 Jean-Jacques Rousseau: Über den Ursprung der Ungleichheit. S. 113.
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[...] Sobald die Kinder die Kraft hatten, selbst ihre Nahrung zu suchen, zögerten sie nicht, ihrerseits ihre Mutter zu verlassen.237
Folglich ist nach Rousseau nicht die Notwendigkeit gesellschaftlichen Austausches der Ursprung menschlicher Sprache, sondern der spontane affektive Ausdruck des einzelnen Menschen: Die erste Sprache des Menschen, die allgemeinste, kraftvollste und die einzige, die er nötig hatte, bevor er eine Versammlung überreden mußte, ist der Schrei der Natur [cri de la nature]. Da dieser Schrei nur durch eine Art Instinkt in dringenden Fällen ausgestoßen wurde, so beim Ruf nach Hilfe in großen Gefahren oder zur Linderung bei heftigen Schmerzen, wurde im normalen, von gemäßigteren Gefühlen beherrschten Leben nicht viel Gebrauch davon gemacht.238
Der cri de la nature ist die Keimzelle menschlicher Sprache – der Ort ihrer historischen Entfaltung ist allerdings der gesellschaftliche Kontext. Gleichzeitig ist Sprache aber auch die Voraussetzung für gesellschaftliche Entwicklung, sie ist die „erste soziale Einrichtung […], das erste Element der Kultur.“239 Im Zweiten Discours aber auch im Essay über den Ursprung der Sprachen entwirft Rousseau drei Etappen (terme) der Gesellschafts- und Sprachentwicklung. Die erste Etappe der Menschheitsentwicklung ist: Das Zeitalter des Wilden (l’homme sauvage) und die natürlichen Zeichen (cri de la nature, langage d’action). Der wilde Mensch habe sich hauptsächlich durch erjagtes Wild ernährt und so in einer ersten vorrationalen Begriffsbildung ein Verständnis von anderen Lebewesen in Bezug zum eigenen Körper entwickelt (z.B. größere und kleinere, schnellere und langsamere Lebewesen). Dies ist nach Rousseau der Ursprung der Selbstwahrnehmung, mit ihr war es dem homme sauvage möglich, auch Seinesgleichen zu erkennen, und zwar nicht nur aufgrund des Aussehens, sondern vor allem durch ähnliches Verhalten. So sei es möglich gewesen, gleiche Interessen zu erkennen und entsprechend erste temporäre Interessensgemeinschaften zu bilden. Für derartige ‚Horden‘ sei keine besondere Sprache vonnöten gewesen: „Es ist leicht zu verstehen, daß ein derartiger Verkehr keine differenziertere Sprache als die der Krähen oder der Affen erforderte, die sich fast auf die gleiche Art zusammenrotten. Unartikulierte Schreie, viele Gesten und einige Lautnachahmungen mußten lange Zeit die überall verständliche
|| 237 Jean-Jacques Rousseau: Über den Ursprung der Ungleichheit. S. 143–145. 238 Jean-Jacques Rousseau: Über den Ursprung der Ungleichheit. S. 153f. 239 Anneke Meyer: Zeichen-Sprache. Modelle der Sprachphilosophie bei Descartes, Condillac und Rousseau. Würzburg: K&N, 2008. S. 193.
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Sprache bilden.“240 Diese ersten affektiven Laute sind rein expressiv und besitzen keine Bedeutungsebene. Die zunehmende technische Geschicklichkeit habe es dem Menschen ermöglicht, primitive Behausungen zu verfertigen, in denen schnell Familien beisammen wohnten. „Das war die Epoche einer ersten Umwälzung, welche die Ansiedlung und die Absonderung der Familien zuwegebrachte. […]. Jede Familie wurde eine Gesellschaft im kleinen.“241 Die zweite Etappe stellt das Zeitalter des Barbaren (le barbare) und die ikonischen Zeichen (les expressions des tropes; le langage figuré) dar. Die Familie als erste dauerhafte Gesellschaftsform stellt auch den Nährboden bereit, auf dem aus den unartikulierten Lauten die ersten Sprachformen gebildet wurden. Man sieht hier etwas besser, wie der Gebrauch der Worte unmerklich im Schoß jeder Familie entstand und sich vervollkommnete. Man kann ferner vermuten, wieso verschiedene besondere Ursachen die Sprache ausbreiten und ihre Ausbildung beschleunigen konnten, indem sie die Sprache nötiger machten. Große Überschwemmungen oder Erdbeben umgaben bewohnte Gegenden mit Wasser und Abgründen. Umwälzungen des Erdballs lösten große Teile des Kontinents los und schnitten sie als Inseln ab. Man versteht, daß unter den sich so nahe gebrachten und zum Zusammenleben gezwungenen Menschen sich ein gemeinsames Idiom bilden mußte […].242
Im Umgang der Familien untereinander entstanden nicht nur erste gesellschaftliche Konventionen, sondern auch Eitelkeit und Wettstreit. Von nun an hätten nicht mehr allein Eigenliebe und Mitleid das Handeln des Menschen geprägt, sondern auch eine usuell geprägte Moral. Mit Gesang und Tanz bildeten sich erste Formen müßigen Zusammenkommens heraus. Im Zweiten Discours wertet Rousseau diese zweite Entwicklungsstufe als die bestmögliche: Es „mußte diese Periode der Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten, da sie die richtige Mitte zwischen der Lässigkeit des primitiven Zustandes und der ungestümen Aktivität unserer Selbstsucht hielt, die glücklichste und dauerhafteste Epoche werden. […] Es war der beste [Zustand, M.I.] für den Menschen.“243 Infolge dessen konnten sich erste Verbalsprachen entwickeln: „Die Erde ernährt den Menschen; während aber die frühesten Bedürfnisse sie vereinzelt haben, führen spätere Bedürfnisse sie zusammen, und diese erst sind es, über die sie sprechen, die sie veranlassen zu sprechen.“244 Während die cris de la nature den Affekten entspringen und folglich nur in einer konkreten, die Affekte hervorrufenden Situa|| 240 Jean-Jacques Rousseau: Über den Ursprung der Ungleichheit. S. 199. 241 Jean-Jacques Rousseau: Über den Ursprung der Ungleichheit. S. 199ff. 242 Jean-Jacques Rousseau: Über den Ursprung der Ungleichheit. S. 203. 243 Jean-Jacques Rousseau: Über den Ursprung der Ungleichheit. S. 209. 244 Jean-Jacques Rousseau: Über den Ursprung der Ungleichheit. S. 128.
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tion entstehen, sind die Lautzeichen der ersten Familien- und Tribalsprachen Schöpfungen, die unabhängig von einem entsprechenden Affekt intentional gebraucht werden können. Notwendig dafür ist die Fähigkeit – das ist der zweite Unterschied zu den cris de la nature –, Gesten und Laute hervorzubringen, die aufgrund ihrer Ähnlichkeit Ausschnitte der Wirklichkeit darzustellen vermögen. Damit ist das Prinzip der sprachlichen Repräsentation, wenn auch in engen Grenzen, entwickelt. Laute und Gesten repräsentieren die Wirklichkeit vermöge einer Ähnlichkeit zwischen Bezeichnendem und bezeichnetem Gegenstand (Gesten sind Abbildung visueller, Laute akustischer Phänomene).245 Diese „gemeinsame[] Wurzel von Zeichen und Bezeichnetem“ habe bei Rousseau auch eine moralische Dimension, so Anneke Meyer: „Die Einheit von Zeichen und Bedeutung garantiert für Rousseau die moralische Integrität der natürlichen Sprache: Es kann keine Willkür, keine Selbstsucht dazwischen treten und sich falscher Zeichen bedienen.“246 Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit fallen dadurch in Eines. Wie Rousseau im Essay über den Ursprung der Sprachen erläutert, war diese Sprachform eine in allen Aspekten poetische Sprache: Mit den ersten Lauten formten sich die ersten Artikulationen oder die ersten Töne je nach Art der Leidenschaft, die sie beherrschte. […]. [D]ie Leidenschaft bringt alle Organe zum Sprechen und veranlaßt die Stimme zur Entfaltung all ihrer Möglichkeiten. Also haben Verse, Melodien und Wort einen gemeinsamen Ursprung. Rings um die Brunnen […] stellen sich die ersten Unterhaltungen zugleich als die ersten Lieder dar; die periodisch wiederkehrenden und rhythmisch gegliederten Wiederholungen, der melodiöse Charakter der Betonungen ließen Dichtung und Musik zusammen mit der Sprache entstehen, oder noch genauer: das alles war – in diesen glücklichen Klimazonen, in diesen glücklichen Zeiten, da die einzigen dringenden Bedürfnisse, die die Menschen einander näherbrachten, die des Herzens waren – eine einzige Sprache. […]. Die Poesie wurde vor der Prosa entdeckt; das hat so sein müssen, weil die Leidenschaften sprachen, bevor die Vernunft sprach.247
Sprache, Dichtung und Musik sind in den ersten ikonischen Zeichen noch untrennbar vereint. Rousseau weist jedoch darauf hin, dass diese Einheit nicht mit einem gesungenen Vortrag in den neuzeitlichen Sprachen verglichen werden könne. Auch Sprache, Dichtung und Musik waren zunächst eins und spalteten || 245 Zur Entwicklung von natürlichen, ikonischen und arbiträren Zeichen bei Rousseau siehe Raymund Wilhelm: Die Sprache der Affekte. S. 82f. 246 Anneke Meyer: Zeichen-Sprache. S. 180. 247 Jean-Jacques Rousseau: Essay über den Ursprung der Sprachen. S. 138. Mit den „glücklichen Klimazonen“ (ces heureux climats) und den „glücklichen Zeiten“ (ces heureux temps) bezieht sich Rousseau einige Absätze später auf die südlichen Mittelmeerregionen und die Zeit des antiken Griechenlands.
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sich erst später künstlich auf. Dem neuzeitlichen Menschen muss diese Einheit von Klang, Ton, Rhythmus und Bedeutung jedoch fremd bleiben, „weil wir nichts Entsprechendes kennen“248. Die dritte Etappe bezeichnet Rousseau als das Zeitalter des zivilisierten Menschen (l’homme civil) und ordnet ihm die arbiträren Zeichen zu (les signes institués). Auslöser für eine zunehmende Degeneration des glücklichen Zustands waren die Entwicklung der Kulturtechniken von Ackerbau und Metallbearbeitung.249 Die existenzsichernde Bewirtschaftung von Pflanzen erforderte nicht nur metallene Gerätschaften, sie erforderte ebenso den Schutz des Erwirtschafteten und damit eine rudimentäre Regelung von Besitz. Die Verfertigung von Werkzeugen führte zur arbeitsteiligen Struktur der Gesellschaften, was den Tauschhandel hervorgebracht habe. Unter diesen Voraussetzungen erhielt Besitz eine über die Möglichkeit hinausgehende Bedeutung, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Ungleichheit und soziale Differenzierung waren die Folge. Die geistige Entwicklung des zivilisierten Menschen ist für Rousseau eine Kulturfolge dieser negativen Entwicklungen: Alle unsere Fähigkeiten sind also jetzt entwickelt, Gedächtnis und Einbildungskraft sind im Spiel, die Selbstsucht ist geweckt, der Verstand ist tätig, der Geist hat bald den Gipfel der ihm möglichen Vollendung erreicht. Alle unsere natürlichen Eigenschaften finden ihre Verwendung, Rang und Schicksal jedes Menschen sind festgelegt, nicht allein in Bezug auf die Güter und die Macht zu schaden und zu nützen, sondern auch in Bezug auf den Geist, die Schönheit, die Kraft oder die Gewandtheit und im Bezug auf Verdienst oder Talente. Da diese Eigenschaften allein Achtung verschaffen konnten, mußte man sie entweder besitzen oder vortäuschen. Man musste sich um des Vorteils willen anders zeigen als man wirklich war.250
Die Notwendigkeit, Mitmenschen täuschen zu können, erforderte eine Sprache, die eine Täuschung allererst zuließ, in der Wahrheit und Wahrhaftigkeit folglich nicht mehr identisch waren – es entstanden die signes institués. Um den Unterschied zu den cris de la nature und der langage figuré zu verstehen, sind zwei semiotische Differenzierungen Rousseaus wichtig. Zunächst ist das der Unterschied von natürlichen und künstlichen Zeichen, dann der Unterschied von
|| 248 Jean-Jacques Rousseau: Essay über den Ursprung der Sprachen. S. 139. 249 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Über den Ursprung der Ungleichheit. S. 213.; „Das erste Mehlgebackene, das gegessen worden ist, signalisierte das Zusammenrücken der menschlichen Gattung. Als die Menschen seßhaft zu werden begannen, machten sie etwas Erde im Umkreis ihrer Hütte urbar […].“ Jean-Jacques Rousseau: Essay über den Ursprung der Sprachen. S. 124. 250 Jean-Jacques Rousseau: Über den Ursprung der Ungleichheit. S. 219–221.
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abbildenden (ikonischen) und nicht-abbildenden Zeichen.251 Die cris de la nature sind nach Rousseaus Verständnis natürlich, jedoch nicht-abbildend, denn ein Schrei ähnelt nicht dem Schrecken, dessen spontaner Ausdruck er war. Die ikonischen Zeichen sind künstlich-konventionell, aber abbildend, denn Laute ähneln den repräsentierten Phänomenen. Die signes institués schließlich sind weder natürlich noch abbildend in ihrer Repräsentation. Dies sei, so Rousseau, der Entwicklung der Menschheit geschuldet, die eine flexiblere Sprache erfordert habe. Erst die signes institués ermöglichten einen überredenden und manipulativen Sprachgebrauch. Wie bereits bei Smith und Condillac wertet auch Rousseau diesen Entwicklungsschritt als Gewinn an begrifflicher Präzision und zugleich als Verlust von ästhetischer Lebendigkeit: In dem Maße, in dem die Bedürfnisse wachsen, die gesellschaftlichen Angelegenheiten komplizierter werden und Kenntnisse sich ausbreiten, verändert die Sprache ihren Charakter; sie wird exakter und verliert an Emotionalität. Sie ersetzt Gefühle durch Gedanken und spricht nicht mehr zum Herzen, sondern zum Verstand. Dadurch verwischen sich die Akzente, während die Artikulationen wichtiger und allgemein die Sprache genauer und klarer wird, aber auch schleppender, stumpfer, kälter.252
Was die Philosophie beförderte, schadete der Dichtung: „Seit es in Griechenland von Sophisten und Philosophen wimmelte, hat man dort keine überragenden Dichter und Musiker mehr gesehen. Man pflegte die Kunst des Überzeugens und verlernte diejenige, die Herzen zu bewegen.“253 Rousseau würdigt zwar die Zunahme an Genauigkeit und Deutlichkeit und hat hierbei auch die Mathematik im Blick: „Es wäre leicht, allein aus Konsonanten eine Sprache zu formen, die in der Schrift überaus deutlich wäre, die man aber nicht sprechen könnte. Die Algebra hat etwas von dieser Sprache.“254 Doch der Gewinn an Präzision und Genauigkeit wiegt für ihn den gravierenden Verlust von affektivem Potenzial, von ästhetischer Qualität, die in der Einheit von Musik, Dichtung und Sprache bestanden habe, bei Weitem nicht auf: „Das Studium der Philosophie und die Fortschritte des Denkens raubten der Sprache, indem sie deren Grammatik ver-
|| 251 Vgl. Raymund Wilhelm: Die Sprache der Affekte. S. 82–85. 252 Jean-Jacques Rousseau: Essay über den Ursprung der Sprachen. S. 108. 253 Jean-Jacques Rousseau: Essay über den Ursprung der Sprachen. S. 156. 254 Jean-Jacques Rousseau: Essay über den Ursprung der Sprachen. S. 119. Bereits einige Seiten vorher legt Rousseau dar: „Wenn man spricht, äußert man seine Gefühle; wenn man schreibt, äußert man seine Ideen. Beim Schreiben ist man gezwungen, alle Worte in der allgemeinen Bedeutung zu benutzen; der Sprechende hingegen variiert die Bedeutung durch Betonungen, er legt sie so fest, wie es ihm gefällt; weniger um Eindeutigkeit sich kümmernd, legt er mehr in die Kraft des Ausdrucks“ (S. 113).
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vollkommneten, jenen lebendigen, leidenschaftlichen Tonfall, der sie zuvor so sanglich hatte erscheinen lassen.“255 Gesellschaftliche wie sprachliche Entwicklung sind gleichzusetzen mit der Entfremdung des Menschen von einem positiv gezeichneten Urzustand. Rousseaus Beitrag zur diskursiven Formierung von Mathematik, Physik, Philosophie und Dichtung ist die Grundannahme, die Ursprachen seien poetische Sprachen gewesen. Poetische und musikalische Qualitäten sind für ihn nicht, wie Condillac dies entwirft, durch die Sprachentwicklung für den referenziellen Zweck obsolet gewordene Aspekte der Sprache, die anschließend ästhetisch genutzt werden können. Vielmehr war Sprache von Anfang an ‚Dichtersprache‘, die dann auf eine ‚Vernunftsprache‘ reduziert wurde: „Man möchte uns die Sprache der ersten Menschen als eine Sprache von Mathematikern [des langues de géomètres] hinstellen; wir aber sehen, daß es eine Sprache von Dichtern war [des langues de poètes].“256 Für die diskursive Formation des 18. Jahrhunderts ist diese Feststellung von zentraler Bedeutung, denn – wie Raymund Wilhelm beobachtet –, wird [b]ei Rousseau […] die Opposition géomètre/poète konsequent auf die Sprache bezogen; sie erlaubt die Unterscheidung zweier gegensätzlicher Sprachtypen. Die Gegenüberstellung der langue de géomètres und der langue de poète[s] geht dabei unmittelbar aus der zentralen These der Anteriorität der Affekte vor dem Verstand und mithin des Sprachursprungs aus den Leidenschaften hervor.257
Ein ganzes Bündel an Merkmalen, die sich im historischen Verlauf entwickeln, trennen beide Sprachtypen: Lautung, Artikulation, Morphologie, Semantik, Syntax, Stilistik. Zuerst habe man nur in „poetischen Bildern“ (Metapher und Metonymie) gesprochen, Sprache in ihrer höchsten Entwicklung sei schließlich durch Polyvalenz, Polysemie und Synonymie, durch Vokallaute und geringe Artikulation geprägt gewesen.258 Indem Gesang, Dichtung und Sprache eins waren, waren auch Gesang, Rhythmisierung, Intonation und tonaler Klang ineinander verwoben. Anstelle von Logik und Grammatik wurde diese Sprache von Harmonie, Wohlklang und Onomatopoesie dominiert. Sie war „gefühlvoll und gegenständlich“, ihre „Töne [waren] sehr wandelbar […], so daß man […] singen würde anstatt zu sprechen“, „sie würde überreden, ohne zu überzeugen,
|| 255 Jean-Jacques Rousseau: Essay über den Ursprung der Sprachen. S. 153. 256 Jean-Jacques Rousseau: Essay über den Ursprung der Sprachen. S. 104. 257 Raymund Wilhelm: Die Sprache der Affekte. S. 163f. 258 Jean-Jacques Rousseau: Essay über den Ursprung der Sprachen. S. 104–106.
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und beschreiben, ohne zu begründen“259. Maßgeblich für Rousseaus Differenzierung von langues de géomètres und langues de poètes ist die jeweilige Funktion. Stehen bei der langue de géomètres die präzise Repräsentation der Ideen im Zentrum, ist es bei der langue de poètes zusätzlich das Erwecken von Affekten, Emotionen und Wohlklang. Ähnlich wie Diderot spricht Rousseau der poetischen Sprache gleichzeitig eine darstellende Repräsentationsfunktion (Verstand) und eine sinnliche Affektfunktion (Seele) zu: „Die Töne einer Melodie wirken auf uns nicht nur als Töne, sondern als Zeichen unserer Bewegungen und Gefühle. Nur so ist es möglich, daß sie in uns die in ihnen ausgedrückten Gefühle erregen und wir deren Darstellung erkennen.“260 Rousseaus Dichtungsideal, das er anhand der langue de poète entwickelt, kontrastiert mit seiner negativen Bewertung zeitgenössischer Dichtung, die er als Ausdruck dekadenter Entfremdung beschreibt: „Die Zeitverschwendung ist ein großes Übel. Noch schlimmere Übel haben Literatur und Künste im Gefolge. So den Luxus, der wie sie aus Müßigkeit und Eitelkeit stammt. Der Luxus kommt selten ohne die Wissenschaften und Künste vor, aber sie nie ohne ihn.“261 Er hält aber eine Rettung der Dichtung und ihrer poetischen Sprache prinzipiell dann für möglich, wenn die musikalisch-affektiven Sprachaspekte mit den begrifflich-referenziellen Sprachaspekten synthetisiert würden. Der Mensch besitzt drei Arten von Stimmen: die artikulierte oder Sprechstimme, die melodische oder Singstimme, die pathetische oder akzentuierte Stimme, die der Sprache der Leidenschaften dient und Gesang und Wort beseelt. Das Kind besitzt diese drei Stimmen genauso wie der Erwachsene, [...]. Die Musik, in der diese drei Stimmen am besten vereint sind, ist vollkommene Musik.262
Rousseau versucht sprachgeschichtlich und sprachtheoretisch die vermeintlich übermächtige Position von Mathematik und Physik, als deren Manifestation er die entseelten Sprachen der Neuzeit ausmacht, zu relativieren. „Nicht die Geometrie, sondern die Dichtung, die Musik, der unmittelbare Gefühlsausdruck
|| 259 Jean-Jacques Rousseau: Essay über den Ursprung der Sprachen. S. 105. 260 Jean-Jacques Rousseau: Essay über den Ursprung der Sprachen. S. 145f. 261 Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung über die Frage: Hat der Wiederaufstieg der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen? [Discours sur cette question: Le rétablissement des sciences et des arts a-t-il contribué à épurer les mœurs?, 1750]. In: derselbe: Über Kunst und Wissenschaft. Übers. und hrsg. von Kurt Weigand. Hamburg: Meiner, 1955. S. 5–61; S. 34. 262 Jean-Jacques Rousseau: Émile oder Über die Erziehung. [Émile ou De l’éducation, 1762]. Übers. und hrsg. von Martin Rang. Stuttgart: Reclam, 1980. S. 321.
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bilden den Maßstab für die menschliche Sprache.“263 Mit Rousseaus Bemühen, der Sprache wieder Gefühl und sentiment einzuhauchen, lag, wie Cassirer konstatiert, „der Weg zur Epoche der ‚Empfindsamkeit‘, zum Sturm und Drang, zur deutschen und französischen Romantik offen“264.
4.3 Immanuel Kant (1724–1804) Dass Immanuel Kant in einer Untersuchung sprachtheoretischer Positionen des 18. Jahrhunderts erscheint, mag zunächst erstaunen, denn seine Philosophie zeichnet sich gerade durch ein „Schweigen zum Problem der Sprache“265 und eine allgemeine „Verdrängung“266 der Sprachthematik aus. Doch gerade diese ‚Sprachblindheit‘ bewirkte paradoxerweise einen positiven Impuls für die Sprachreflexion im ausgehenden 18. Jahrhundert: Johann Georg Hamann und Johann Gottfried Herder werteten die Vernachlässigung sprachtheoretischer Aspekte in Kants Philosophie als eklatantes Defizit, dem sie auf je eigene Weise durch eine Neukonzeptionierung des Verhältnisses von Denken und Sprechen zu begegnen versuchten (vgl. Kap. II.4.4 und II.4.5).
|| 263 Raymund Wilhelm: Die Sprache der Affekte. S. 170. 264 Ernst Cassirer: Das Problem Jean-Jacques Rousseau. S. 483. Cassirer schreibt weiter: „Das Spezifische und das Eigentümlich-Neue, was Rousseau seiner Zeit gegeben hat, scheint darin zu bestehen, daß er sie von der Herrschaft des Intellektualismus befreit hat. Den Kräften des reflektierenden Verstandes, auf denen die Kultur des achtzehnten Jahrhunderts beruht, setzt er die Kraft des Gefühls entgegen; gegenüber der Macht der betrachtenden und zergliedernden ‚Vernunft‘ wird er zum Entdecker der Leidenschaft und ihrer elementaren Urgewalt. Es war in der Tat ein völlig neuer Lebensstrom, der damit in die französische Geistigkeit eindrang, und der all ihre festen Formen aufzulösen und ihre sorgsam aufgerichteten Grenzen zu überfluten drohte. Weder die französische Philosophie noch die französische Dichtung des achtzehnten Jahrhunderts, war bisher von diesem Strom berührt worden. Denn auch die Dichtung hatte es seit langem verlernt, die elementare Sprache des Gefühls und der Leidenschaft zu sprechen. […] Noch deutlicher tritt diese Erstarrung im Gebiet der Lyrik zutage. Die ursprüngliche lyrische Empfindung schien, vor dem Auftreten Rousseaus, in Frankreich fast völlig versiegt, selbst der Name und die Eigenart der lyrischen Gattung schien von der französischen Ästhetik vergessen.“ Ernst Cassirer: Das Problem Jean-Jacques Rousseau. S. 479f. 265 Jürgen Villers: Kant und das Problem der Sprache. Die historischen und systematischen Gründe für die Sprachlosigkeit der Transzendentalphilosophie. Konstanz: Hockgraben, 1997. S. 229. Obwohl Kant ein begeisterter Leser Rousseaus war, geht er auf dessen sprachtheoretische Überlegungen nicht näher ein. 266 Dimitrios Markis: Das Problem der Sprache bei Kant. In: Dimensionen der Sprache in der Philosophie des deutschen Idealismus. Hrsg. von Brigitte Scheer und Günter Wohlfart. Würzburg: K&N, 1982. S. 110–154; S. 118.
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Kants Sprachblindheit erklärt sich zum Teil aus der Grundkonzeption seiner Erkenntnistheorie. Sein transzendentalphilosophischer Ansatz ist gewissermaßen ein erkenntnistheoretischer Lösungsversuch „der Grundlagenkrise der Philosophie der Neuzeit“267, der nichts Geringeres als die „Synthese von Rationalismus und Empirismus“268 zum Ziel hat. Die Spannung zwischen den beiden Positionen entzündete sich an der Frage, ob die menschliche Erkenntnis nun der Erfahrung und damit der sinnlichen Wahrnehmung oder den geistigen Fähigkeiten und Kenntnissen entspringe. Die Antwort Kants ist diplomatisch: „Unsre Erkenntniß entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüths, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Receptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe) […].“269 Sinnlichkeit (bzw. Rezeptivität) und Verstand (bzw. die Spontaneität der Begriffe) können nur gemeinsam Erkenntnis hervorbringen, denn durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser im Verhältniß auf jene Vorstellung (als bloße Bestimmung des Gemüths) gedacht. Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unsrer Erkenntniß aus, so daß weder Begriffe ohne ihnen auf einige Art correspondirende Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe eine Erkenntniß abgeben kann. [...]. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.270
Damit mittels der Sinne überhaupt etwas wahrgenommen werden kann, bedarf es nach Kant der ‚Formen der Anschauung‘: Raum und Zeit. Sie sind Vorstellungsformen a priori. Die Einbildungskraft bildet die über die Sinne empfangenen Wahrnehmungen zu Vorstellungen; der Verstand wiederum bildet aus den Vorstellungen durch die Kategorien (Quantität, Qualität, Relation, Modalität) empirische Verstandesbegriffe. Die Kategorien nennt Kant auch ‚reine Verstandesbegriffe‘; ‚rein‘ sind Verstandesbegriffe, wenn sie „von allem Empirischen der Erscheinungen abstrahirt“271 sind. Sie werden wie beispielsweise die Kausalität nicht unmittelbar aus der Erfahrung, sondern durch Abstraktion gewonnen
|| 267 Jürgen Villers: Kant und das Problem der Sprache. S. 367. 268 Gottfried Gabriel: Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Von Descartes zu Wittgenstein. Paderborn: München,h, 1998. S. 70. 269 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Prolegomena. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1. Aufl. 1781). In: derselbe: Werke. Akademie Textausgabe. Bd. 4. Berlin: De Gruyter, 1968. S. 47. 270 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl. 1781). S. 47f. 271 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl. 1781). S. 75.
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und stellen demnach formale Bedingungen der Erfahrung dar. Kant nimmt dabei eine weitere wichtige Unterscheidung vor, wenn er zwischen Ding an sich und Erscheinungen trennt. Das Ding an sich ist der Erkenntnis nicht zugänglich, es ist „ein Etwas = x, wovon wir gar nichts wissen, noch überhaupt (nach der jetzigen Einrichtung unseres Verstandes) wissen können“272. Die Erscheinungen, also die durch Einbildungskraft gebildeten Vorstellungen, sind folglich die eigentliche Grundlage der Erkenntnis.273 Wer eine Antwort auf die Frage sucht, welchen Stellenwert Kant der Sprache in seinem erkenntnistheoretischen Entwurf gibt, muss sich auf eine intensive Suche begeben. Jürgen Villers, der eine derartige Untersuchung vorgenommen hat, kommt zu einem ernüchternden Befund: Lediglich an zwei Stellen – keine davon findet sich in den drei Kritiken – thematisiert Kant explizit Sprache und sprachliche Bezeichnung.274 In der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1796/97, publiziert 1798) charakterisiert er immerhin allgemein das Bezeichnungsvermögen, die ‚facultas signatrix‘: Das Vermögen der Erkenntniß des Gegenwärtigen als Mittel der Verknüpfung der Vorstellung des Vorhergesehenen mit der des Vergangenen ist das Bezeichnungsvermögen. – Die Handlung des Gemüths diese Verknüpfung zu bewirken ist die Bezeichnung (signatio), die auch das Signalisieren genannt wird, von der nun der größere Grad die Auszeichnung genannt wird.275
Das Bezeichnungsvermögen ist die Fähigkeit, sinnliche Vorstellungen miteinander zu verbinden. Das Sprachvermögen wiederum ist „das Vermögen, Vorstellungen nicht mit ihrem Gegenstande unmittelbar, sondern mittelst einem
|| 272 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl. 1781). S. 163. 273 Kant möchte damit zwei Probleme lösen: Einerseits die mit dem Empirismus verknüpfte Frage nach der Sicherheit objektiver Erkenntnis von Gegenständen der Welt, andererseits die durch den Rationalismus aufgeworfene Frage, wie Denken und Sein in eine Entsprechung kommen können. So „verwandeln sich in der Transzendentalphilosophie die Dinge (als Erscheinungen) in Produkte eines vorstellenden Bewußtseins, das diesen Gegenständen im Prozeß des Vorstellens seine eigenen Gesetzmäßigkeiten vorschreibt, die es dann nachträglich an den Dingen bloß wieder abzulesen braucht.“ Jürgen Villers: Kant und das Problem der Sprache. S. 367. 274 „Kant beschäftigt sich mit Sprache, nachdem die eigentliche philosophische Arbeit getan ist.“ Jürgen Villers: Kant und das Problem der Sprache. S. 9. Die folgenden Überlegungen folgen im Wesentlichen den in Villers’ versierter Untersuchung dargelegten Ergebnissen. 275 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: derselbe: Werke. Akademie Textausgabe. Bd. 7. Berlin: De Gruyter, 1968. S. 117–334; S. 191.
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stellvertretenden zu verknüpfen, d.i. zu bezeichnen“276. Dieses Stellvertretende sind laut Kant arbiträre Sprachzeichen. Das arbiträre sprachliche Zeichen stellt nicht eine Verbindung zwischen Gegenstand und Vorstellung oder Bezeichnendem und Bezeichnetem her, sondern ist zunächst nur Stellvertreter einer Vorstellung von einem Gegenstand im Bewusstsein. In der Erkenntnis begleitet „das Zeichen (Charakter) den Begriff nur als Wächter (custos).“277 Das Zeichen (auch das sprachliche Zeichen) ist ‚Gegenbild‘ des Begriffs und „das Gegenbild oder Gegenstück correspondirt einem Hauptbilde“278, d.h. einem Begriff. Sprachliche Zeichen sind folglich defizitäre Repräsentationen zweiter Ordnung, „weil worte nicht die ganze Idee ausdrüken könen, [sondern] bey Empfindungen stehen bleiben“279. Trotz dieser Schwäche ist Sprache das geeignetste Instrument, das der Kommunikation menschlicher Erkenntnis zur Verfügung steht: Alle Sprache ist Bezeichnung der Gedanken, und umgekehrt die vorzüglichste Art der Gedankenbezeichnung ist die durch Sprache, dieses größte Mittel, sich selbst und andere zu verstehen. Denken ist Reden mit sich selbst [...], folglich sich auch innerlich Hören [...]. Aber auch die, so sprechen und hören können, verstehen darum nicht immer sich selbst oder Andere, und an dem Mangel des Bezeichnungsvermögens, oder dem fehlerhaften Gebrauch desselben (da Zeichen für Sachen und umgekehrt genommen werden) liegt es, vornehmlich in Sachen der Vernunft, daß Menschen, die der Sprache nach einig sind, in Begriffen himmelweit von einander abstehen […].280
Wenn Kant Sprache in dieser Weise als ein lediglich sekundäres Repräsentationssystem begreift, befindet er sich in unmittelbarer Nähe zu den frühen rationalistischen und empiristischen Positionen. Das stellt allerdings, so Villers Urteil, in den 1790er Jahren und „gegenüber dem Reflexionsstandard, den die philosophische Tradition im Empirismus wie im Rationalismus erreicht hatte, eindeutig einen Rückschritt dar“281. Kants Unzeitgemäßheit ist umso rätselhafter, wenn man bedenkt, dass er die zentralen sprachphilosophischen Positionen des 18. Jahrhunderts rezipiert haben musste und in regem Austausch mit Hamann und Herder stand, die ihn beständig auf die Dringlichkeit aufmerksam
|| 276 Immanuel Kant: Anthropologie. In: derselbe: Handschriftlicher Nachlass. Akademie Textausgabe. Bd. 15. Berlin: De Gruyter, 1969. S. 134. 277 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. S. 191. 278 Immanuel Kant: Metaphysik. In: derselbe: Handschriftlicher Nachlass. Akademie Textausgabe. Bd. 18. Berlin: De Gruyter, 1967. S. 51. 279 Immanuel Kant: Anthropologie. S. 343. 280 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. S. 192f. 281 Jürgen Villers: Kant und das Problem der Sprache. S. 230.
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machten, der Sprachthematik in der Kritik der reinen Vernunft größeren Raum zugeben.282 Kant war weder uninformiert noch ahnungslos, vielmehr steht die Vermutung im Raum, dass es ihm schlichtweg unmöglich war, Sprache in sein erkenntnistheoretisches Gebäude zu integrieren, da sie das Fundament seiner Philosophie, das in dem Dogma einer Dichotomie von Rezeptivität und Spontaneität besteht, aufzulösen drohte. Das Dogma der Dichotomie verschärft ja das dualistische Postulat der Symmetrie der Erkenntniskräfte dahingehend, daß die Erkenntnis nicht nur aus zwei gleichgewichtigen, sondern darüber hinaus noch strikt voneinander geschiedenen Erkenntniskomponenten bestehen soll […], und dies impliziert stets, […] daß es kein weiteres Erkenntniselement geben darf, weil dieses dann als vermittelndes Drittes sofort die zugrundegelegte Dichotomie aufweicht. […].283
Kants Sprachblindheit ist systembedingt, sie bringt ihn in theoretische Nöte, denen er bisweilen mit kuriosen Lösungen wie etwa einer merkwürdigen Aufspaltung sprachlicher Zeichen begegnet: Er erläutert, dass, insofern Sprachzeichen Gegenbilder sind, sie der Sinnlichkeit angehören, insofern sie aber Gegenbilder von Begriffen (also nicht Gegenständen der äußeren Wirklichkeit) sind, dem Verstand zuzuordnen sind. Unwillkürliche-natürliche Zeichen (z.B. Gebär-
|| 282 Die Kant-Forschung versucht die Diskrepanz zwischen dem, was als Kants Kenntnis- und Reflexionsstand rekonstruiert wurde, und der Verdrängung der Thematik in den Kritiken auf unterschiedliche Weise zur erklären. Eine knappe Zusammenfassung verschiedener Erklärungen gibt Jürgen Villers: Kant und das Problem der Sprache. S. 277f. 283 Villers führt an der angegebenen Stelle fort: „Mit diesem Dogma der Dichotomie der Erkenntniskräfte hat Kant sich dann aber das systematische Problem eingehandelt, zeigen zu müssen, wie es ihm in der Folge gelingen kann, ohne auf ein vermittelndes Medium wie die Sprache zurückgreifen zu dürfen, Rezeptivität und Spontaneität zu verbinden. Im kritischen Geschäft nahm Kant drei Anläufe, sein Grundproblem der Verbindung von Sinnlichkeit und Verstand zu lösen, ohne es zu einem letztlich befriedigenden Abschluß bringen zu können.“ Villers erläutert anhand der Untersuchungen der Deduktionen, des Schematismus-Kapitels und der Erörterung des Erfahrungsurteils in den Prolegomena, „in welche Probleme und Aporien Kant durch sein Ausblenden der Sprache gerät: Einerseits weichte jeder Versuch einer Vermittlung durch ein Drittes, sei es die Einbildungskraft in der A-Deduktion oder die schematisierende Einbildungskraft im Schematismus-Kapitel, die zugrundegelegte Dichotomie auf, indem das Vermittelnde zu einer eigenständigen dritten Erkenntniskraft auszuwachsen drohte, die Rezeptivität und Spontaneität in sich aufzunehmen schien, andererseits führte Kants Verdrängung der Einbildungskraft und sein Beharren auf einem durchgehenden Dualismus von Rezeptivität und Spontaneität in der B-Deduktion zur Intellektualisierung der Sinnlichkeit (d.h. ungewollt zum Rückfall in den Rationalismus) und in den Prolegomena zur Annahme eines besonderen, nicht mehr weiter erklärbaren Bereichs sprachvorgängiger Intentionalität (das Apriori der Intentionalität), dessen Existenz Kant nur mehr postulieren, nicht mehr erklären konnte. […].“ Jürgen Villers: Kant und das Problem der Sprache. S. 375.
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den) sind dann aufgrund ihrer sinnlichen Qualitäten Elemente der Sinnlichkeit, willkürlich-arbiträre Zeichen (also Sprachzeichen) sind Elemente des Verstandes (gerade diese Aufspaltung sprachlicher Zeichen wird u.a. von Hamann angegriffen werden). Die Tatsache, dass Sprache und Sprachvermögen sich nicht ohne weiteres in Kants erkenntnistheoretische Konzeption einfügen lassen, hat auch Auswirkungen auf seine Ästhetik und damit auf sein Verständnis von Poesie und Rhetorik. Deutlich wird dies an folgender Stelle der Kritik der Urteilskraft, an der Kant die Künste ebenfalls mittels des dualistischen Schemas Sinnlichkeit– Verstand beschreibt. Poesie und Rhetorik werden hier zwar als ‚redende Künste‘ bezeichnet, aber bemerkenswerterweise nicht über die ‚Rede‘, d.h. ihre Sprachform oder ihren Sprachgebrauch charakterisiert. Die redenden Künste sind Beredsamkeit und Dichtkunst. Beredsamkeit ist die Kunst, ein Geschäft des Verstandes als ein freies Spiel der Einbildungskraft zu betreiben; Dichtkunst, ein freies Spiel der Einbildungskraft als Geschäft des Verstandes auszuführen. Der Redner also kündigt ein Geschäft an und führt es so aus, als ob es bloß ein Spiel mit Ideen sei, um die Zuhörer zu unterhalten. Der Dichter kündigt bloß ein unterhaltendes Spiel mit Ideen an, und es kommt doch so viel für den Verstand heraus, als ob er bloß dessen Geschäft zu treiben die Absicht gehabt hätte. Die Verbindung und Harmonie beider Erkenntnisvermögen, der Sinnlichkeit und des Verstandes, die einander zwar nicht entbehren können, aber doch auch ohne Zwang und wechselseitigen Abbruch sich nicht wohl vereinigen lassen, muß unabsichtlich zu sein und sich von selbst so zu fügen scheinen; sonst ist es nicht schöne Kunst. [...]. Der Dichter [...] verspricht wenig und kündigt ein bloßes Spiel mit Ideen an, leistet aber etwas, was eines Geschäftes würdig ist, nämlich dem Verstande spielend Nahrung zu verschaffen und seinen Begriffen durch Einbildungskraft Leben zu geben [...].284
Sprachliche Aspekte finden lediglich zu Beginn des Paragraphen 51 der Kritik der Urteilskraft Berücksichtigung, wenn Kant eine mögliche Einteilung der schönen Künste in Analogie zu den drei ‚Ausdrucksarten‘ (Wort/‚Articulation‘, Gebärde/‚Gesticulation‘ und Ton/‚Modulation‘) entwickelt. Dem Wort entsprechen die redenden Künste (Poesie und Rhetorik), der Gebärde die bildenden Künste und der Modulation die darstellenden Künste sowie die Musik. Interessant ist, dass Kant in einer kleinen Anmerkung auch eine alternative Klassifikation entwirft: „Man könnte diese Eintheilung auch dichotomisch einrichten, so daß die schöne Kunst in die des Ausdrucks der Gedanken, oder der Anschauungen und diese wiederum bloß nach ihrer Form, oder ihrer Materie (der Empfin-
|| 284 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: derselbe: Werke. Akademie Textausgabe. Bd. 5. Berlin: De Gruyter, 1963. S. 165–486; S. 321.
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dung) eingetheilt würde.“285 In beiden Ordnungsschemata kommt der Poesie eine herausgehobene Stellung zu, da sie mit Gedanken (ästhetischen Ideen) und nicht mit Anschauungen in Relation gesetzt wird und sowohl arbiträre Sprachzeichen als auch nicht natürlich-abbildende Zeichen verwendet. Über diese beiden Klassifikationen hinaus reflektiert Kant die Bedeutung von Sprache kaum noch. Insofern ist Thomàš Hlobils Frage berechtigt, inwieweit Kants Konzeption der Poesie als ‚redende Kunst‘ überhaupt schlüssig ist.286 Statt über die sprachliche Form oder den Sprachgebrauch charakterisiert Kant Dichtung, indem er ihr eine eigene Art von Ideen, die ‚ästhetischen Ideen‘, zuordnet. Ästhetische Ideen sind ein Pendant zu den Ideen der Vernunft. Kants Trennung zwischen Verstand und Vernunft ist im 18. Jahrhundert singulär. Während der Verstand Begriffe der Erfahrung (Erfahrungsbegriffe) und Begriffe der Formen der Erfahrung (Kategorien, reine Verstandesbegriffe) bildet, bildet die Vernunft auf höherer Ebene Begriffe, die die Erfahrung als Ganzes umfasst. Diese Vernunftbegriffe nennt Kant ‚Ideen‘. Beispiele solcher Vernunftbegriffe sind die Idee eines absoluten Weltanfangs, die Idee der Unendlichkeit der Welt oder die Idee letzter, unteilbarer Elemente. Ideen sind transzendental und übersinnlich, insofern sie nicht wie die Kategorien Formen konkreter Erfahrung sind, sondern die „Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten“287 ins Verhältnis setzen und so quasi den Ordnungsrahmen bilden, in dem Erfahrungen nachträglich ihren Platz finden. Der Verstand setzt die empirischen Wahrnehmungen in Relation zueinander und ordnet sie, die Vernunft wiederum leitet das nichtempirische Erkennen. Vernunftbegriffe oder Ideen fungieren als Regulativ des Verstandes, genau wie der Verstand als Regulativ für die Anschauungen wirkt.288 Daraus folgt allerdings, dass den Vernunftideen keine Anschauung, also kein ‚Gegenstand in den Sinnen‘, korrespondieren kann. Vernunftbegriffe oder Ideen sind Begriffe ohne Anschauung. Ästhetische Ideen beschreibt Kant nun komplementär dazu als Anschauungen ohne Begriffe:
|| 285 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 321. 286 „Was poetry really an art of speech for Kant?“ Tomàš Hlobil: Immanuel Kant on Language and Poetry: Poetry without Language. In: Kant-Studien 89 (1998). S. 35–43; S. 35. 287 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl. 1781). S. 251. 288 „Die Vernunft bezieht sich niemals geradezu auf einen Gegenstand, sondern lediglich auf den Verstand und vermittelst desselben auf ihren eigenen empirischen Gebrauch, schafft also keine Begriffe (von Objecten), sondern ordnet sie nur und giebt ihnen diejenige Einheit [...]. Die Vernunft hat also eigentlich nur den Verstand und dessen zweckmäßige Anstellung zum Gegenstande;“ Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl. 1781). S. 427.
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Geist in ästhetischer Bedeutung heißt das belebende Princip im Gemüthe. [...]. Nun behaupte ich, dieses Princip sei nichts anders, als das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen; unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann. – Man sieht leicht, daß sie das Gegenstück (Pendant) von einer Vernunftidee sei, welche umgekehrt ein Begriff ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann.289
Beide, Vernunftbegriff und ästhetische Idee, transzendieren auf je eigene Weise sichere Erkenntnis, die im Zusammenwirken von Rezeptivität und Spontaneität, Anschauung und Begriff besteht. Während bei der Bildung eines Verstandesbegriffs/einer Idee logische Attribute von Verstandesbegriffen abstrahiert werden, gehen ästhetische Ideen gerade aus solchen Vorstellungen hervor, die zwar nicht Bestandteil der Begriffsbildung, aber dennoch mit den Begriffen verknüpft sind – Kant nennt sie ästhetische Attribute: Sie sind „diejenigen Formen, welche nicht die Darstellung eines gegebenen Begriffs selber ausmachen, sondern nur als Nebenvorstellungen der Einbildungskraft die damit verknüpften Folgen und die Verwandtschaft desselben mit andern ausdrücken, Attribute (ästhetische) eines Gegenstandes […].“290 Kant illustriert diese Überlegung so: So ist der Adler Jupiters mit dem Blitze in den Klauen ein Attribut des mächtigen Himmelskönigs oder der Pfau der prächtigen Himmelskönigin. Sie stellen nicht wie die logischen Attribute das, was in unsern Begriffen von der Erhabenheit und Majestät der Schöpfung liegt, sondern etwas anderes vor, was der Einbildungskraft Anlaß giebt, sich über eine Menge von verwandten Vorstellungen zu verbreiten, die mehr denken lassen, als man in einem durch Worte bestimmten Begriff ausdrücken kann; und geben eine ästhetische Idee, die jener Vernunftidee statt logischer Darstellung dient, eigentlich aber um das
|| 289 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 313f. Wie Villers feststellt, ist die Gegenüberstellung von Vernunftbegriffen und ästhetischen Ideen nicht so evident, wie Kant an dieser Stelle suggeriert. Denn die Formulierung ‚ästhetische Idee‘ erscheint geradezu paradox, da Ideen sich per definitionem einer sinnlichen Darstellung entziehen. Drei Gründe führt Kant nach Villers an, warum diese Anschauungen dennoch so genannt werden: „(1) Weil sie keine theoretische Erkenntnis verschaffen […]. (2) Weil sie zu etwas Transzendentem streben und ‚so einer Darstellung der Vernunftbegriffe (der intellectuellen Ideen) nahe zu kommen suchen‘ […]. (3) Weil ihnen genausowenig der adäquat korrespondierende Begriff gegeben werden kann, wie den Vernunftideen die adäquat korrespondierende Anschauung […].“ Jürgen Villers: Kant und das Problem der Sprache. S. 352. 290 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 315.
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Gemüth zu beleben, indem sie ihm die Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen eröffnet.291
Ästhetische Attribute sind durch die Einbildungskraft assoziativ eng an Begriffe geknüpfte Nebenvorstellungen, die an die Stelle einer logischen Darstellung treten können. Im Beispiel dienen Adler und Pfau als poetisches Symbol der Erhabenheit bzw. ‚Majestät der Schöpfung‘. Sie können auf diese Weise eine Vernunftidee symbolisieren, wo eine direkte sprachliche Bezeichnung des Vernunftbegriffs an seine Grenzen stößt. Analog entwickelt Kant die Funktionsweise ästhetischer Attribute. So wie die symbolischen Attribute Adler und Pfau die allegorische Gottesdarstellung begleiten, sind auch ästhetische Attribute den Begriffen beigestellt oder ‚unterlegt‘. Sie sind Nebenvorstellungen ihrer Darstellung – bei der Begriffsbildung ignoriert sie der Verstand, für die Einbildungskraft besitzen sie aber ein enormes Potenzial. Denn die Einbildungskraft kann aus den ästhetischen Attributen Vorstellungen gewinnen, die die Erscheinungen der realen Welt übersteigen. Diese ästhetischen Vorstellungen, die sonst unanschaulich per definitionem sind (z.B. die Idee ‚unsichtbares Wesen‘) oder für die sonst kein Beispiel gefunden werden kann, können dann als sinnliche Darstellungen solcher Begriffe dem Verstand oder gar der Vernunft ‚vorgespielt‘ werden. Diese fiktionalen Darstellungen affizieren und stimulieren damit Verstand und Vernunft, wie Kant in der folgenden Passage der Kritik der Urteilskraft näher erläutert. Die Einbildungskraft (als productives Erkenntnißvermögen) ist nämlich sehr mächtig in Schaffung gleichsam einer andern Natur aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche giebt. [...]. Der Dichter wagt es, Vernunftideen von unsichtbaren Wesen, das Reich der Seligen, das Höllenreich, die Ewigkeit, die Schöpfung u. d. gl., zu versinnlichen; oder auch das, was zwar Beispiele in der Erfahrung findet, z. B. den Tod, den Neid und alle Laster, imgleichen die Liebe, den Ruhm u. d. gl., über die Schranken der Erfahrung hinaus vermittelst einer Einbildungskraft, die dem Vernunft=Vorspiele in Erreichung eines Größten nacheifert, in einer Vollständigkeit sinnlich zu machen, für die sich in der Natur kein Beispiel findet; und es ist eigentlich die Dichtkunst, in welcher sich das Vermögen ästhetischer Ideen in seinem ganzen Maße zeigen kann.292
Die ästhetische Idee ist somit reicher als jeder Begriff und weist über die ‚Schranken der Erfahrung‘ hinaus; dafür aber ist sie vage und nicht eindeutig benennbar. Während auf Verstandesseite die Begriffsbildung rekonstruierbaren Regeln folgt, bleibt unklar, wie die Einbildungskraft ästhetische Ideen aus den
|| 291 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 315. 292 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 314.
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ästhetischen Attributen gewinnt. Nach Kant muss das auch unklar bleiben, da es sich bei der Schöpfung ästhetischer Ideen durch das Genie um einen individuell-subjektiven Prozess handelt. Zwar folgt auch er gewissen Regeln – denn sonst wäre das Kunstwerk „ein bloßes Product des Zufalls“293 –, aber die Regeln sind freie Regeln der Assoziation. Sie steuern nicht präskriptiv den Produktionsvorgang, sondern können nur rezeptiv aus dem Kunstwerk rekonstruiert werden. Die assoziative Regel der Einbildungskraft „kann in keiner Formel abgefaßt zur Vorschrift dienen; denn sonst würde das Urtheil über das Schöne nach Begriffen bestimmbar sein: sondern die Regel muß von der That, d. i. vom Product, abstrahirt werden, an welchem andere ihr eigenes Talent prüfen mögen […]. Wie dieses möglich sei, ist schwer zu erklären.“294 Selbst das hervorbringende Genie kann nicht beschreiben, „wie es sein Product zu Stande bringe […], oder wissenschaftlich anzeigen“295. Mit der Differenz zwischen logischen Attributen/Begriffen/Ideen einerseits und ästhetischen Attributen/ästhetischen Ideen andererseits ist die Demarkationslinie zwischen Naturwissenschaften, Mathematik, Logik und Dichtung bei Kant benannt. Dichtung wird in Abgrenzung von den genannten Bereichen als nicht-rational, als nicht-begrifflich und als nicht-regulierbar charakterisiert.296 Anschaulicher wird der dichterische Umgang mit ästhetischen Ideen und deren sprachlicher Darstellung anhand zweier Beispiele, die Kant anführt. Zunächst paraphrasiert er ein Gedicht Friedrichs II.: Laßt uns aus dem Leben ohne Murren weichen und ohne etwas zu bedauern, indem wir die Welt noch alsdann mit Wohltaten überhäuft zurücklassen. So verbreitet die Sonne, nachdem sie ihren Tageslauf vollendet hat, noch ein mildes Licht am Himmel; und die
|| 293 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 310. 294 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 309. 295 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 308. 296 „So kann man alles, was Newton in seinem unsterblichen Werke der Principien der Naturphilosophie, so ein großer Kopf auch erforderlich war, dergleichen zu erfinden, vorgetragen hat, gar wohl lernen; aber man kann nicht geistreich dichten lernen, so ausführlich auch alle Vorschriften für die Dichtkunst und so vortrefflich auch die Muster derselben sein mögen. Die Ursache ist, daß Newton alle seine Schritte, die er von den ersten Elementen der Geometrie an bis zu seinen großen und tiefen Erfindungen zu thun hatte, nicht allein sich selbst, sondern jedem andern ganz anschaulich und zur Nachfolge bestimmt vormachen könnte; kein Homer aber oder Wieland anzeigen kann, wie sich seine phantasiereichen und doch zugleich gedankenvollen Ideen in seinem Kopfe hervor und zusammen finden, darum weil er es selbst nicht weiß und es also auch keinen andern lehren kann.“ Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 307–308.
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letzten Strahlen, die sie in die Lüfte schickt, sind ihre letzten Seufzer für das Wohl der Welt.297
Kant erläutert anschließend, wie er die Anreicherung einer Vernunftidee durch eine ästhetische Idee begreift: Er trennt die zitierten Verse in zwei Teile. Der erste Satz entfalte die Vernunftidee ‚einer weltbürgerlichen Gesinnung‘: der Mensch als Bürger der Erde, der um seine Sterblichkeit weiß und sie annimmt. Der zweite Satz reichere die Vernunftidee mit einer ästhetischen Idee an, nämlich mit der Anschauung der untergehenden Sonne. Mit dem zweiten Beispiel ist Kant offenbar bemüht zu zeigen, dass nicht nur eine ästhetische Idee eine Vernunftidee bereichern kann, sondern auch, dass „ein intellectueller Begriff […] zum Attribut einer Vorstellung der Sinne dienen, und so diese letztere durch die Idee des Übersinnlichen beleben [könne]; aber nur, indem das ästhetische, was dem Bewußtsein des letztern subjectiv anhänglich ist, hiezu gebraucht wird.“298 Er zitiert hierfür in leicht modifizierter Form ein Gedicht Johann Philipp Withofs: „Die Sonne quoll hervor, wie Ruh aus Tugend quillt.“299 Wieder teilt Kant den Vers in zwei Teile, jedoch diesmal mit vertauschter Besetzung der Positionen: Die ästhetische Idee der aufgehenden Sonne im ersten Halbsatz wird durch den Vergleich mit dem Wesen der Tugend im zweiten Halbsatz begrifflich näher bestimmt. Beide Beispiele machen deutlich, wie Kant die rätselhaft-unanaschauliche Regelhaftigkeit des dichterischen Kunstwerks offenbar als metaphorische Darstellung versteht.300 Die Analogie zwischen der ‚Spanne eines Lebens‘ und dem || 297 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 315. 298 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 316. 299 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 316. Im Original lautet der Vers: „Die Sonne quoll hervor, wie Ruh aus Güte quillt […].“ vgl. Hans G. Gadamer: Gedicht und Gespräch. Überlegungen zu einer Textprobe Ernst Meisters. In: derselbe: Ästhetik und Poetik II. Hermeneutik im Vollzug. Tübingen: Mohr, 1993. S. 335–346; S. 335. 300 Villers weist auf, dass die von Kant beschriebene Funktionsweise ästhetischer Ideen (ebenso wie die symbolische Darstellung von Vernunftideen) generell analog zur Funktionsweise des metaphorischen Sprachgebrauchs beschrieben ist (ohne dass Kant jedoch den Begriff ‚Metapher‘ verwendet): Erstens werden ästhetische Ideen nach Analogie gebildet, indem sie verschiedene Vorstellungen verbinden oder vernetzen und so „ein unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen“ (Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 315.) eröffnen. Zweitens streben sie nach einer anschaulichen Darstellung der Vernunftideen, obgleich die sinnliche Darstellung per definitionem nicht möglich ist. Drittens ermöglichen sie keine theoretische (also begriffliche und damit sprachlich eindeutig formulierbare) Form von Erkenntnis, d.h. sie führen nicht zur Bildung neuer Begriffe und Ideen, regen aber die Vorstellungsbildung und Vorstellungsverknüpfung an und bereichern so in Verstand und Vernunft die Begriffe. Anders als sein Zeitgenosse Sulzer, der anhand der metaphorischen Begriffsbildung die Einbildungs-
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‚Sonnenumlauf eines Tages‘, zwischen dem ‚Tod des Menschen‘ und dem ‚Untergang der Sonne‘ sowie zwischen dem ‚Hervorquellen der Sonne‘ und dem ‚Hervorscheinen der Ruhe als Ausdruck der Tugend‘ ist nicht willkürlich, sondern metaphorisch motiviert. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Kant Dichtung primär über das Konzept der ästhetischen Idee definiert und sprachliche Aspekte vernachlässigt. Tomáš Hlobil hinterfragt daher, ob Kant tatsächlich Dichtung als sprachliche Kunst auffasst: „This [the concept of aesthetic ideas, M.I.] allowed him to conceive poetry not as art of language, but as an art of representations involving aesthetic ideas which do not depend on language at all.“301 Der vorbegriffliche Charakter ästhetischer Ideen hat außerdem eine negative, sprachtheoretische Implikation. Denn da einer ästhetischen Idee der Einbildungskraft kein „bestimmter Gedanke, d. i. Begriff [des Verstandes], adäquat sein kann“, kann sie folglich auch „keine Sprache völlig erreich[en] und verständlich machen“.302 Der durch eine ästhetische Idee freigesetzten „Gedankenfülle“ ist „kein Sprachausdruck völlig adäquat“303. Die dichterische Symbolisierung – Kant nennt sie an anderer Stelle Hypotyposis304 – ist eine letztlich nicht restlos dechiffrierbare Repräsentation. Die sekundäre Funktion poetischen Sprachgebrauchs stellt die Musikalität und der Wohlklang dar, welche Poesie über alle anderen Künste erhebt: „Die Poesie gewinnt […] nicht nur den Preis über die Beredsamkeit, sondern auch über jede andere schöne Kunst: über die Malerei (wozu die Bildhauerkunst gehört) und selbst über die Musik […], weil jene doch auch zum Verstande, diese aber blos zu den Sinnen reden.“305 Der besondere Reiz der Dichtung scheint darauf zu beruhen, so Kant, dass jeder Ausdruck der Sprache im Zusammenhange einen Ton hat, der dem Sinne desselben angemessen ist; daß dieser Ton mehr oder weniger einen Affect des Sprechenden bezeichnet und gegenseitig auch im Hörenden hervorbringt, der denn in diesem umgekehrt auch die Idee erregt, die in der Sprache mit solchem Tone ausgedrückt wird; und […] so
|| kraft dem Verstand gleichwertig zur Seite stellt, und in Widerspruch zu Hamann, der gerade auf der Bildlichkeit bzw. Figürlichkeit der menschlichen Erkenntnis insistiert, betont Kant den „defizitären Aspekt metaphorischer Sprachverwendung […], der sich besonders im Vergleich mit logisch eindeutig bestimmten Grenzbegriffen […] zeigt“ und beharrt auf einer strikten Trennung von Vorstellungs- und Bezeichnungsvermögen. Jürgen Villers: Kant und das Problem der Sprache. S. 353 und S. 360. 301 Tomàš Hlobil: Immanuel Kant on Language and Poetry. S. 42. 302 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 313f. 303 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 326. 304 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 351. 305 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. S. 247.
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[ist] wie die Modulation gleichsam eine allgemeine jedem Menschen verständliche Sprache der Empfindungen […].306
An dieser Stelle der Kritik der Urteilskraft scheint nun überraschenderweise eine gewisse Ähnlichkeit zu jenen doppelten semiotischen Prozessen der Dichtung auf, die bereits Diderot und Rousseau beschrieben haben. Dichtung repräsentiert sprachliche Ideen und affiziert gleichzeitig die Sinne, sie adressiert und stimuliert gleichzeitig Verstand, Einbildungskraft und Sinne. Die poetische Sprachform allein ist wie Musik nur eine „Sprache der Affecte[]“, die mittels einer „mechanischen Association“ Stimmungen und Erscheinungen auszudrücken vermag, sie allein kann weder Verstandes- noch Vernunftbegriffen ein geeignetes „Vehikel“ liefern.307 Erst in der Verbindung von sinnlich-klanglichen mit mentalen Verstandesaspekten kann schöne Kunst entstehen. Da Kant Musik und poetische Form als „allgemeine jedem Menschen verständliche Sprache der Empfindungen“308 begreift, erhält diese Argumentation vordergründig eine anthropologische Fundierung. Es bleibt aber völlig offen, welchen (notwendigen) Anteil und welche Funktion die poetische Sprache bei der Hervorbringung ästhetischer Ideen hat. Dichtung ist für Kant also primär eine eigene Form sinnlicher Erkenntnis. Mit der Unterscheidung von ästhetisch-vorbegrifflicher und logisch-begrifflicher Erkenntnis „verfestigt [er] […] die Trennung der Poesie von den Wissenschaften.“309 Während sein Versuch „einer reinen, von der Sinnlichkeit der Sprache gereinigten Vernunft geradezu zum entgegensetzten Ergebnis“310 führt, also das Problem aufwirft, Sprache plausibel zwischen den zwei Erkenntnisvermögen zu verorten, wird Sprachlichkeit im Bereich der Dichtung auf ihre akustische Dimension reduziert.311
|| 306 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 328. 307 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 328f. 308 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 328f. 309 Waldemar Fromm: An den Grenzen der Sprache. S. 421. 310 Jürgen Villers: Kant und das Problem der Sprache. S. 364. 311 Immanuel Kants Philosophie wird in Michel Foucaults Die Ordnung der Dinge ins Zentrum des epistemologischen Bruchs um 1800 gestellt. Sie bildet sozusagen einen der Angelpunkte zwischen Klassik und Moderne (vgl. Achim Geisenhanslüke: Foucault und die Literatur. Eine diskurskritische Untersuchung. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1997. S. 122.). Kants „Kritik [ist] die Schwelle unserer Modernität“ so Foucault (in: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991. S. 299), da in ihr der klassische Begriff des Wissens, im Sinne eines die Wirklichkeit repräsentierenden Tableaus, abgelöst werde durch einen modernen Begriff des Wissens, dessen Grundlagen, Bedingungen und Kausalitäten zuallererst gelegt werden müssten. Abgesehen davon, dass Foucaults Kant-Rezeption an sich kritisiert werden kann, ist es bemer-
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4.4 Johann Georg Hamann (1730–1788) Wie Immanuel Kant war auch Johann Georg Hamann mit den zentralen sprachphilosophischen Positionen des 17. und 18. Jahrhunderts vertraut, er vertritt jedoch sprachphilosophisch eine völlig abweichende Position.312 Sprache ist nach Hamann nicht nur unhintergehbare Voraussetzung des Denkvermögens und damit menschlicher Erkenntnis, sie ist auch das vermittelnde Element zwischen sinnlichen und begrifflichen Erkenntnisvermögen – ein wichtiges Element, das seiner Ansicht nach in Kants Kritiken völlig unberücksichtigt bleibt. Aufgrund der Unhintergehbarkeit kann Hamann die sprachliche Bedingtheit aller Wissenschaften behaupten und ihre Erkenntnis sprachrelativistisch bewerten. Seine Argumentation stützt sich dabei auf eine Sprachursprungstheorie, die eindeutig dem poetischen Sprechen und damit der Dichtung nicht nur historische Priorität vor dem begrifflich-referenziellen Sprechen zuspricht, sondern auch deren natürliche Erkenntnis höher als wissenschaftliche Erkenntnis einstuft. Hamann stellt bereits 1781 in seiner Rezension der Kritik der reinen Vernunft die zentrale Frage nach den Grundpfeilern, auf denen Kant sein erkenntnistheoretisches Gebäude errichtet hat. In den sinnlichen Erscheinungen und den apriorischen Anschauungsformen macht er die zwei fundamentalen Elemente in Kants Transzendentalphilosophie aus, die er allerdings alleine nicht für tragfähig erachtet. Der ‚empiristische‘ Einwand Hamanns ist, dass das eigentliche Ziel nicht die Erkenntnis der Erscheinungen, sondern die der Wirklichkeit – also der
|| kenswert, dass die für das Foucault’sche Denken so wichtige Sprachproblematik an dieser Stelle ausgeklammert wird. 312 Er rezipierte u.a. Locke, Hume, Burnet, Harris, Condillac und Rousseau, selbstverständlich auch Leibniz, Adelung, Sulzer. Aber Hamann nahm auch an zeitgenössischen Diskussionen der Sprachphilosophie aktiv teil, er reagiert unmittelbar auf Johann David Michaelis’ Preisschrift Beantwortung der Frage von dem Einfluß der Meinungen in die Sprache und der Sprache in die Meinungen (1760), ebenso auf Herders Preisschrift Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) und las Karl Philipp Moritz’ Kleine Schriften die deutsche Sprache betreffend (1781). Besonders auffällig sind auch die Parallelen zu Vicos Sprachtheorie. Hamann erstellt eine deutsche Übersetzung von Humes Treatise of Human Nature für Kant, während dieser an der Kritik der reinen Vernunft arbeitet. Als er im Jahr 1781 die fertige Kritik der reinen Vernunft in Händen hält, muss er enttäuscht feststellen, dass Kant mit dem ‚Ding an sich‘ anders als Hume den Verstand gegen jede empirische Wirklichkeit abschottet. Hamann rezensiert nicht nur die Kritik der reinen Vernunft, er tritt in den folgenden Jahren in intensive, theoretische Auseinandersetzung mit Kants Texten und prägt in einem Brief an Herder für diese Beschäftigung das Wort ‚Metacritik‘; 1784 schickt er ebenfalls Herder seine kritischen Überlegungen unter dem Titel Metakritik über den Purismus der Vernunft.
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Dinge an sich – sein sollte, die durch Kants Trennung aber unmöglich werde. Er nimmt auch Kants zweiten Grundpfeiler ins Visier und stellt die Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnis a priori: „Was und wie viel kann Verstand und Vernunft, frey von aller Erfahrung, erkennen? Wie viel darf ich mit der Vernunft, wenn mir aller Stoff und Beistand der Erfahrung genommen wird, etwan auszurichten hoffen?“313 Hamanns Antwort lautet, dass die Vernunft nichts ‚einfach so‘ erkennen kann. Seiner Einschätzung nach leiste Kant nicht das, was zu leisten er beanspruche und lege mit Sinnlichkeit und Rezeptivität zudem eine völlig naturwidrige Trennung menschlicher Erkenntnisvermögen vor: Sind prius und posterius, Analysis und Synthesis nicht natürliche correlata, und zufällige opposita, beyde aber, wie die Receptivität des Subjects zum Prädicat, in der Spontaneität unserer Begriffe gegründet? Entspringen Sinnlichkeit und Verstand; als die zween Stämme der menschlichen Erkenntnis, aus einer gemeinschaftlichen aber uns unbekannten Wurzel, so daß durch jene Gegenstände gegeben, und durch diesen gedacht (verstanden und begriffen) werden: wozu eine so gewaltthätige, unbefugte Scheidung desjenigen, was die Natur zusammengefügt hat? Werden nicht beyde Stämme durch diese Dichotomie oder Zwiespalt ihrer transcendentalen Wurzel ausgehen und verdorren?314
Hamann legt den Finger in die Wunde, wenn er fragt, aus welcher der beiden Erkenntnisquellen Kant die Erkenntnis dieser Aufspaltungen schöpfe, also die Opposition von Begriffen a priori und a posteriori, von analytischen und synthetischen Urteilen sowie von Rezeptivität und Spontaneität. Und er fragt weiter, ob es sich dabei nicht um „natürliche correlata, und zufällige opposita“315 handle, die selbst der freien Spontaneität entsprängen. Die Beantwortung dieser Fragen sei aufgrund der Selbstbezüglichkeit der Vernunft in diesem Punkt problematisch, denn die Vernunft sei bei der Klärung ihres eigenen Erkenntnisfundaments Erkenntnissubjekt und zugleich Erkenntnisobjekt. Sie müsse in gewisser Weise ihre Erkenntnis voraussetzten, um ihre Erkenntnis erkennen zu können. Hamann identifiziert hierin ein altes Dilemma, das einem jahrhundertealten, dogmatischen Vernunftpurismus geschuldet sei. Drei Facetten kritisiert er an diesem Purismus: Den Ausschluss von Überlieferung und Tradition aus der Erkenntnistheorie, die Abwertung der sinnlichen Erfahrung und schließlich
|| 313 Johann G. Hamann: Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant. In: derselbe: Sämtliche Werke. Bd. 3. Hrsg. von Josef Nadler. Wien: Herder, 1951. S. 275–280; S. 277. 314 Johann G. Hamann: Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant. S. 278. 315 Johann G. Hamann: Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant. S. 278.
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die Ignoranz gegenüber der Sprache in ihrer Bedeutung für Denken und Erkennen.316 Der „höchste und gleichsam empirische Purismus“ ist nach Hamann die Verkennung der Sprache, denn sie sei „das einzige erste und letzte Organon und Kriterion der Vernunft, ohne ein ander Creditiv als Ueberlieferung und Usum“317. Kants Sprachignoranz führe dazu, dass er die widernatürliche Aufspaltung von Rezeptivität und Spontaneität, von Vorstellung und Begriff nicht als sprachlich bedingt erkennen könne. Die mangelnde Sprachreflexion ist für Hamann außerdem die Ursache, warum Kants Versuch scheitern muss, die Metaphysik in Präzision und Gewissheit an dem Maßstab der Mathematik zu auszurichten. Während nämlich die Begriffe der Mathematik, auch jene idealen Begriffe wie ‚ausdehnungsloser Punkt‘, stets durch „empirische Zeichen und Bilder bestimmt […] [sind], misbraucht die Metaphysik alle Wortzeichen und Redefiguren unserer empirischen Erkenntnis zu lauter Hieroglyphen und Typen idealischer Verhältnisse[…]“318. Mit der Entlehnung mathematischen Vokabulars werde der Anschein erweckt, dass auch die Transzendentalphilosophie Kants in ihrer Terminologie und Begriffsbildung stets eine nachvollziehbare Überprüfung erlaube, ohne diesen Anspruch je einzulösen319; dieser Makel ziehe sich „von der Stirne bis in die Eingeweide der ganzen Wissenschaft“320. Nicht nur Kants Lösungsansatz ist aus dieser Perspektive betrachtet unhaltbar, sondern bereits die Frage erweist sich als falsch gestellt. Kants Ausgangsfrage war ja: „[W]as und wie viel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen?“321 Nachdem begriffliche Erkenntnis nach Hamanns Verständnis immer schon sprachlich und damit auch historisch bedingt ist, lautet seine Antwort auf Kants ‚Hauptfrage‘ ganz lapidar: ‚nichts‘. Die eigentliche Hauptfrage ist für Hamann,
|| 316 Die Grundannahme, dass die reine Vernunft unabhängig von Überlieferung, Erfahrung und Sprache zu denken und zu beschreiben sei, lässt sich nach Hamann selber nicht rechtfertigen und muss deshalb dogmatisch mit „Troz“, „Katholicismo“ und „Despotismo“ die Sinnlichkeit und Verstand als alleinige Grundlage ihrer „willkührliche Analysin […] [und] Synthesin des dreimal alten Sauerteigs“ festlegt werden. Johann G. Hamann: Metakritik über den Purismus der Vernunft. In: derselbe: Sämtliche Werke. Bd. 3. Hrsg. von Josef Nadler. Wien: Herder, 1951. S. 281–289; S. 284. 317 Johann G. Hamann: Metakritik über den Purismus der Vernunft. S. 284. 318 Johann G. Hamann: Metakritik über den Purismus der Vernunft. S. 285. 319 Vgl. Johann G. Hamann: Metakritik über den Purismus der Vernunft. S. 285. 320 Johann G. Hamann: Metakritik über den Purismus der Vernunft. S. 285. 321 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl. 1781). S. 11.
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wie das Vermögen zu denken möglich sey? – Das Vermögen, rechts und links vor und ohne, mit und über die Erfahrung hinaus zu denken? so braucht es keiner Deduktion, die genealogische Priorität der Sprache vor den sieben heiligen Functionen logischer Sätze und Schlüsse und ihre Heraldik zu beweisen. Nicht nur das ganze Vermögen zu denken beruht auf Sprache, […] sondern Sprache ist auch der Mittelpunct des Misverstandes der Vernunft mit ihr selbst […]. Laute und Buchstaben sind also reine Formen a priori, in denen nichts, was zur Empfindung oder zum Begriff eines Gegenstandes gehört, angetroffen wird und die wahren, ästhetischen Elemente aller menschlichen Erkenntnis und Vernunft.322
Sprache ist demnach die unhintergehbare Grundlage menschlicher Vernunft und Erkenntnis: „Ohne Sprache hätten wir keine Vernunft“323. Der Mensch kann nur aufgrund von und in Sprache denken, jeder Denkprozess ist von Anfang an ein Zeichenprozess, Denken und Sprechen sind eins. Die Herausforderung aller sprachtheoretischen Ansätze, die Denken und Sprache identifizieren, ist zu erklären, wie der Mensch in den Besitz von Sprache und Vernunft kam, ohne vorher über Gedanken oder Zeichen zu verfügen. Wie vor ihm bereits Vico beantwortet Hamann diese Frage theologisch. Er greift auf eine der neuplatonisch-christlichen Logoslehre ähnliche Überlegung zurück: Gott, der Geist, offenbart sich seinen Geschöpfen, den Menschen, in seinem Wort; Gott lässt sich auf eine den Geschöpfen verständliche Weise zu ihnen herab (Kondeszendenz). Diese Anrede des Menschen zeigt sich in zweifacher Weise: in Gottes Taten (seiner Schöpfung) und in seinen Worten (in denen Jesu Christi und in denen der Bibel). Die Schöpfung der Welt begreift Hamann mit dem Buch Genesis als eine sprachliche Hervorbringung, Sprache ist also der Welt vorgeordnet: „Rede, daß ich Dich sehe! – Dieser Wunsch wurde durch die Schöpfung erfüllt, die eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist.“324 Sabine Marienberg fasst Hamanns Position vor diesem Hintergrund pointiert zusammen: In Ansehung der christlichen Schöpfungsgeschichte entsteht Sprache nicht in der Welt, sondern Welt beginnt umgekehrt mit und durch Sprache. Darüber hinaus ist die Welt für Hamann nicht nur sprachlich geschaffen, sondern sprachlich verfaßt, insofern er nämlich
|| 322 Johann G. Hamann: Metakritik über den Purismus der Vernunft. S. 286.; Kant selbst stellt diese Frage in der Kritik der reinen Vernunft, verwirft sie dort aber auf der Suche nach der zentralen erkenntnistheoretischen Fragestellung. Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl. 1781). S. 11f. 323 Johann G. Hamann: Zwei Scherflein zur neusten Deutschen Literatur. In: derselbe: Sämtliche Werke. Bd. 3. Hrsg. von Josef Nadler. Wien: Herder, 1951. S. 229–241; S. 231. 324 Johann G. Hamann: Aesthetica in nuce. Eine Rhapsodie in kabbalistischer Prose. In: derselbe: Sämtliche Werke. Bd. 2. Hrsg. von Josef Nadler. Wien: Herder, 1951. S. 195–217; S. 198.
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Schöpfung als eine explizit an die Menschheit gerichtete Sprachhandlung versteht, eine als Anrede gedachte Entäußerung Gottes. Der Mensch als Teil der Schöpfung steht keiner unbegriffenen und furchterregenden Natur gegenüber, die ihn zur verarbeitenden Semiotisierung zwingt, sondern sieht sich mitten hineingestellt in eine ihn ansprechende, potenziell unendlich zeichenhafte Welt. Da Natur selbst sprachlich ist, findet sich bei Hamann, im Gegensatz zu Vico, keine strikte Trennung zwischen einer prinzipiell nicht wahrhaft zu erkennenden Natur auf der einen und der menschlichem Verstehen zugänglichen Geschichte auf der anderen Seite.325
Die Korrespondenz des Schöpfergottes mit seinem vernunftbegabten Geschöpf ist einerseits Kommunikation und andererseits Wesensähnlichkeit: „Alles Göttliche ist aber auch menschlich; weil der Mensch weder wirken noch leiden kann, als nach der Analogie seiner Natur […].“326 So kann Hamann die Frage, wie der Mensch die umgebende Wirklichkeit erkennen kann, leicht beantworten: Welt und menschliche Erkenntnisfähigkeit sind füreinander geschaffen, der Mensch muss nicht erst eine bestimmte Fähigkeit entwickeln, er hat sie qua Schöpfung: „Diese communicatio göttlicher und menschlicher idiomatum ist ein Grundgesetz und der Hauptschlüssel aller unserer Erkenntnis und der ganzen sichtbaren Haushaltung.“327 Freilich ist die ‚Schöpfungssprache‘ keine Verbal-, sondern eine Bildsprache: Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder. In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit.328 Jede Erscheinung der Natur war ein Wort, – das Zeichen, Sinnbild und Unterpfand einer neuen, geheimen, unaussprechlichen, aber desto innigern Vereinigung, Mittheilung und Gemeinschaft göttlicher Energien und Ideen. Alles, was der Mensch am Anfange hörte, mit Augen sah, beschaute und seine Hände betasteten, war ein lebendiges Wort; denn Gott war das Wort. Mit diesem Worte im Mund und im Herzen war der Ursprung der Sprache so natürlich, so nahe und leicht, wie ein Kinderspiel; […].329
Die ursprüngliche Bildsprache der Seele, in der Gott sich zum Menschen herablässt, bezeichnet Hamann in der Aesthetica in nuce als ‚Engelsprache‘. Sie ist göttliches Geschenk, jenes aller Erfahrung vorgängige und doch mit und in || 325 Sabine Marienberg: Vico, Hamann und die sprachliche Verfaßtheit der Welt. In: Die Gegenwärtigkeit Johann Georg Hamanns. Hrsg. von Bernhard Gajek. Frankfurt a. M., New York: Lang, 2005. S. 367–379; S. 375. 326 Johann G. Hamann: Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache. In: derselbe: Sämtliche Werke. Bd. 2. Hrsg. von Josef Nadler. Wien: Herder, 1951. S. 25–33; S. 27. 327 Johann G. Hamann: Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung. S. 27. 328 Johann G. Hamann: Aesthetica in nuce. S. 197. 329 Johann G. Hamann: Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung. S. 32.
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jeder Erscheinung Anwesende, das Erkenntnis erst ermöglicht – sie ist Code und Botschaft gleichermaßen. So kann Hamann auf jede Art von ‚eingeborenen Ideen‘ verzichten. Von der Engelsprache ist es nach Hamann nur noch ein kleiner Schritt zur Entwicklung einer Verbalsprache. Die an dieser Stelle aufscheinende Streitfrage, ob nun die Verbalsprache eine göttliche oder menschliche Hervorbringung sei, beantwortet er vermittelnd mit ‚sowohl als auch‘. Insofern der Schöpfer die Sprachwerkzeuge im menschlichen Körper anlegte und auch ihren zweckdienlichen Gebrauch intendierte, sei die Sprache göttlichen Ursprungs; insofern jede verbalsprachliche Äußerung auf das Sprachvermögen des Menschen abziele, sei sie menschlichen Ursprungs.330 Und so wie sich Gott in seiner Schöpfung herablasse und den Geschöpfen zeige, müsse sich die Seele des Menschen herablassen, um in einer Verbalsprache die Gedanken zu äußern: „Das unsichtbare Wesen unserer Seele offenbart sich durch Worte. [...]. Ist es nicht eine Erniedrigung für unsere Gedanken, daß sie nicht anders als sichtbar gleichsam werden können, als in der groben Einkleidung willkürlicher Zeichen […].“331 Wenn der Mensch sich verbalsprachlich ausdrückt, übersetzt er die ‚Engelsprache‘ in ‚Menschensprache‘: „Reden ist Übersetzen – aus einer Engelsprache in eine Menschensprache, das heißt, Gedanken in Worte, – Sachen in Namen, – Bilder in Zeichen […].“332 Die Bildlichkeit bzw. ‚Figürlichkeit‘ stellt, das tertium comparationis zwischen Engelsprache und Menschensprache dar.333 Die poetische, bildliche Darstellung Gottes in der Welt spiegelt sich in der ersten lautlichen Darstellung der Gedanken und damit in den Verbalsprachen. „Da sich unsere Denkungsart auf sinnliche Eindrücke und die damit verknüpfte Empfindungen gründet; so läßt sich sehr wahrscheinlich eine Übereinstimmung der Werkzeuge des Gefühls mit den Springfedern der menschlichen Rede vermuthen.“334 Ihrem Ursprung nach ist die Menschensprache aufgrund der Bildlichkeit zuerst eine poetische Sprache und erst später eine Sprache arbiträrer Zeichen: „Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts; wie der Gartenbau, älter als der Acker: Malerei, – als Schrift: Gesang, – als Deklamation: Gleichnisse, – als Schlüsse: Tausch, – als Handel. Ein tiefer Schlaf war die Ruhe unserer Urahnen; und ihre || 330 Vgl. Johann G. Hamann: Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung. S. 27. 331 Johann G. Hamann: Briefwechsel. Bd. 1. Hrsg. von Arthur Henkel und Walther Ziesemer. Wiesbaden: Insel, 1955. S. 393f. 332 Johann G. Hamann: Aesthetica in nuce. S. 199. 333 Helmut Weiss: Johann Georg Hamanns Ansichten zur Sprache. Versuch einer Rekonstruktion aus dem Frühwerk. Münster: Nodus, 1990. S. 136. 334 Johann G. Hamann: Versuch über eine akademische Frage. In: derselbe: Sämtliche Werke. Bd. 2. Hrsg. von Josef Nadler. Wien: Herder, 1951. S. 118–126; S. 123.
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Bewegung, ein taumelnder Tanz.“335 Bei der Entwicklung der Sprache unterscheidet Hamann drei Arten von Zeichen336: 1. Die poetische oder kyriologische Übersetzung von Engel- in Menschensprache. Nach Hamann handelt es sich hierbei um die ursprüngliche Sprachform, die – wie bereits ausgeführt – Parallelen zur Kondeszendenz Gottes in Form der Natur aufweist. Die Natur ist „Exempel allgemeiner Begriffe, die GOTT der Kreatur durch die Kreatur“337 offenbart; ähnlich scheint die poetische Übersetzung allgemeine Begriffe bildhaft-metaphorisch auszudrücken. 2. Die historische, symbolische oder auch hieroglyphische Übersetzung. Diese Art der Übersetzung wird in Analogie zur Offenbarung Gottes durch in der Heiligen Schrift entwickelt: „Der hieroglyphische Adam ist die Historie des ganzen Geschlechts in symbolischer Rede.“338 Hamann vergleicht explizit die Erschaffung des Menschen mit der dramatischen Dichtkunst. Die Bibel enthalte „Exempel geheimer Artickel, die GOTT durch Menschen dem Menschen hat offenbaren wollen“339. Die Übertragung scheint im Fall der symbolisch-hieroglyphischen Übersetzung weniger metaphorischen als mehr metonymischen Charakter zu haben. Die Ähnlichkeit besteht nicht zwischen zwei kategorial unterschiedenen Bereichen (Schöpfung – Schöpfer), sondern zwischen Teil und Ganzem (ein Mensch/Adam – Menschengeschlecht). 3. Die philosophische oder charakteristische Übersetzung. Diese Art des Redens bzw. Übersetzens unterscheidet sich von den beiden vorangehenden durch die Arbitrarität der verwendeten Zeichen. Sie stellt abstrakte Gegenstände und Sachverhalte mit abstrakt-begrifflicher Sprache dar. Allerdings ist die Arbitrarität von Bezeichnetem und Bezeichnendem, die Verknüpfung
|| 335 Johann G. Hamann: Aesthetica in nuce. S. 197. 336 Hier bezieht sich Hamann auf Johann G. Wachters (1663–1757) triadisches Schriftentwicklungsmodell, das dieser in Naturae et scripturae concordia (1752) entwirft. Wachters Klassifizierung soll in seiner dreifachen Gliederung die unterschiedlichen Grade der Motivation schriftlicher Zeichen abbilden: Ersten ‚kyriologische Schriftzeichen‘ sind demnach einfache Abbilder von Gegenständen, zweitens ‚symbolische‘ bzw. ‚hieroglyphische Schriftzeichen‘ sind ebenfalls Abbilder, jedoch von Abstrakta, so dass die Abbildung mit einer Übertragung einhergeht, drittens ‚charakteristische Schriftzeichen‘ sind arbiträre Zeichen. Hamann überträgt die Klassifikation auf Sprache im Allgemeinen und betont so ihren generell bildlichen Charakter, auch für jene Sprachfelder, die durch ihre Arbitrarität von Bezeichnetem und Bezeichnendem geprägt sind; vgl. Helmut Weiss: Johann Georg Hamanns Ansichten zur Sprache. S. 142. 337 Johann G. Hamann: Aesthetica in nuce. S. 204. 338 Johann G. Hamann: Aesthetica in nuce. S. 200. 339 Johann G. Hamann: Aesthetica in nuce. S. 204.
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eines „willkührlichen und gleichgiltigen […] Wortzeichens mit der Anschauung des Gegenstandes“340, nur a priori gegeben. Da abstrakte philosophische Begriffe nicht einer empirischen Anschauung entspringen können, werden sie zuallererst sprachlich gebildet, dem „Verstande […] vermittelst des Wortzeichens als vermittelst der Anschauung selbst mitgetheilt, eingeprägt und einverleibt […]“341. Durch welche Worte diese Prägung geschieht, ist arbiträr; im Anschluss daran – also a posteriori – sind die Begriffe „nothwendig[] und unentbehrlich[]“ an das Wortzeichen gebunden.342 Hamann trennt in allen drei genannten Sprachen die Ausdrucks- und Inhaltsseite. Aufgrund dieser Doppelnatur vermögen Sprachzeichen die bei Kant künstlich getrennten Pole der Erkenntnis (Sinnlichkeit und Verstand) ganz natürlich zu verbinden: Wörter haben also ein ästhetisches und logisches Vermögen. Als sichtliche und lautbare Gegenstände gehören sie mit ihren Elementen zur Sinnlichkeit und Anschauung, aber nach dem Geist ihrer Einsetzung und Bedeutung, zum Verstand und Begriffen. Folglich sind Wörter sowohl reine und empirische Anschauungen, als auch reine und empirische Begriffe: empirisch, weil Empfindungen des Gesichts oder Gehörs durchs sie bewirkt; rein, in so fern sie ihre Bedeutung durch nichts, was zu jenen Empfindungen gehört, bestimmt wird.343
Die Bildlichkeit der poetischen Sprachform bezieht sich primär auf die Inhaltsseite und darin ist sie der Engelsprache ähnlich. Sie erscheint auch deswegen als natürlichste Übersetzung der Gedanken, da sie den Verstand grundlegend prägte: Die älteste Sprache war Musik und nebst dem fühlbaren Rhythmus des Pulsschlages und des Othems in der Nase, das leibhaftige Urbild alles Zeitmaaßes und seiner Zahlverhältnisse. Die älteste Schrift war Malerey und Zeichnung, beschäftigte sich also eben so frühe mit der Oekonomie des Raums, seiner Einschränkung und Bestimmung durch Figuren. Daher haben sich die Begriffe von Zeit und Raum durch den überschwänglich beharrlichen Einfluß der beyden edelsten Sinne, Gesichts und Gehörs, in die ganze Sphäre des Verstandes, so allgemein und notwendig gemacht, als Licht und Luft für Aug, Ohr und
|| 340 Johann G. Hamann: Aesthetica in nuce. S. 288. 341 Johann G. Hamann: Aesthetica in nuce. S. 288. 342 Johann G. Hamann: Aesthetica in nuce. S. 288. 343 Johann G. Hamann: Metakritik über den Purismus der Vernunft. S. 288.
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Stimme sind, daß Raum und Zeit war [wenn, M.I.] nicht ideae innatae, doch wenigstens matrices aller anschaulichen Erkenntnis zu seyn scheinen.344
Wer die Urformen der Erkenntnis verstehen möchte, muss die poetische Sprache verstehen lernen. Die poetisch-kyriologische Sprache ist dabei nicht nur eine Übersetzung einer fertig entwickelten Erkenntnis, die anhand eines hermeneutischen Prozesses, also der Entzifferung der Engelsprache, gewonnen wurde, sondern wirkt direkt und grundlegend auf die Möglichkeit zu denken, zu erkennen und zu verstehen ein. Daher kann Helmut Weiß Hamanns Ansatz als Sprachrelativismus bezeichnen, denn „die Gegenstände konstituieren sich im menschlichen Geist erst durch die sprachlichen Zeichen“345. Die philosophischcharakteristische Sprachform erscheine dagegen als künstliche und zum Teil problematische Sprachform, da sie jeglicher Bildlichkeit und damit der sinnlichen Überprüfbarkeit entbehre und so zu Fehlurteilen führen könne. Die poetische Sprache ist Hamanns Blaupause für die Charakterisierung von Dichtung. Klang, Rhythmus und Reim stiften über die Sinnlichkeit des Menschen sekundär eine Ähnlichkeit zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem. Auch wenn Hamann die Abwendung der zeitgenössischen Poeten von Reim und Metrum beklagt346, ist offensichtlich die Bildlichkeit der Rede Drehund Angelpunkt seines Dichtungsverständnisses, das er sowohl unter Berücksichtigung der antiken poeta vates-Tradition als auch hinsichtlich einer göttlich-poetischen Offenbarung der Bibel entwickelt.347 Dichtung ist erkennende Offenbarung, nicht offenbarende Vernunft. Die Bildlichkeit der Poesie bedarf jedoch ebenso wie die göttliche Offenbarung einer hermeneutischen Auslegung. Der Prozess des Verstehens ist nicht nur eine Decodierung, sondern zugleich eine Tätigkeit der Auslegung. Aber anders als viele seiner Zeitgenossen sieht Hamann in diesem Umstand einen großen Vorteil. Während nämlich die bildliche Bedeutung eine gewisse Allgemeingültigkeit habe, müssen arbiträre Sprachzeichen zum Zweck eindeutiger Repräsentation stets konventionell präzisiert werden. Zur Illustration greift auch er auf den Münzen-Topos zurück: „Die Wörter haben ihren Werth, wie die Zahlen von der Stelle, wo sie stehen und ihre Begriffe sind in ihren Bestimmungen und Verhältnissen, gleich den || 344 Johann G. Hamann: Metakritik über den Purismus der Vernunft. S. 286. 345 Helmut Weiss: Johann Georg Hamanns Ansichten zur Sprache. S. 151. 346 „Der Geburtstag eines Genies wird, wie gewöhnlich, von einem Märtyrerfest unschuldiger Kinder begleitet – Man erlaube mir, daß ich den Reim und das Metrum mit unschuldigen Kindern vergleichen darf, die über unsere neueste Dichtkunst einer drohenden Lebensgefahr ausgesetzt zu seyn scheinen.“ Johann G. Hamann: Aesthetica in nuce. S. 214. 347 Vgl. Helmut Weiss: Johann Georg Hamanns Ansichten zur Sprache. S. 153f.
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Münzen nach Ort und Zeit wandelbar.“348 Geldmünzen und Wechselscheine haben genau wie Worte nie einen universellen Wert, vielmehr wird dieser stets in einem zu berücksichtigenden Kontext ausgehandelt. Vor allem der rationalistischen Tradition attestiert er, dies nicht ausreichend berücksichtigt zu haben, da sie „den bisher gesuchten allgemeinen Charakter einer philosophischen Sprache als bereits erfunden, im Geiste geträumt“349 habe. Hamann charakterisiert Dichtung aber nicht nur durch die bildliche Sprachform, sondern auch über eine eigene Sprachfunktion. Den drei Sprachformen entsprechend unterscheidet er in Kleeblatt hellenistischer Briefe (1762) drei Stände der Gelehrsamkeit: den Poeten, den Geschichtsschreiber und den Philosophen. Der Geschichtsschreiber richte den Blick auf die Vergangenheit, bedürfe dazu aber der Kenntnis der Gegenwart. Insofern sei er auf Philosophie und Poesie angewiesen, denn Zugang zur Gegenwart geben sowohl Poesie als auch Philosophie – die eine auf synthetische, die andere auf analytische Weise. Sowohl Philosoph als auch Dichter arbeiteten an und mit der gegenwärtigen Natur. Für die diskursive Formation von Wissenschaften und Dichtung ist nun Hamanns Gewichtung beider Zugänge interessant. Die Dichtung übertrumpfe nämlich die Philosophie insofern, als sie dem, was Hamann als Natur qua göttlicher Kondeszendenz begreift, näher stehe und sie in ihren Darstellungen besser zu fassen vermöge: Poesie ist eine Nachahmung der schönen Natur […]. Die Natur würkt durch Sinne und Leidenschaften. Wer ihre Werkzeuge verstümmelt, wie mag der empfinden? […] Eure mordlügnerische Philosophie hat die Natur aus dem Wege geräumt, und warum fordert ihr, daß wir selbige nachahmen sollen? Damit ihr das Vergnügen erneuern könnt, an den Schülern der Natur auch Mörder zu werden […]?350
Hamann kritisiert Philosophie und Naturwissenschaften noch auch aus einem weiteren Grund. Indem der kyriologische Charakter der Natur verkannt werde, entfremde sich der Mensch von ihr: „[D]ie Natur [wird] stumm und [der] Mensch taub.“351 Explizit richtet er sich hier gegen eine quantifizierende, mathematisierte Naturerforschung, als deren Anwalt er Kant ausmacht. Denn in der Kritik der
|| 348 Johann G. Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. In: derselbe: Sämtliche Werke. Bd. 2. Hrsg. von Josef Nadler. Wien: Herder, 1951. S. 57–82; S. 71f. 349 Johann G. Hamann: Metakritik über den Purismus der Vernunft. S. 288. 350 Johann G. Hamann: Aesthetica in nuce. S. 205f. 351 Oswald Bayer: Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants. Stuttgart: FrommannHolzboog, 2002. S. 312.
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reinen Vernunft erhebt Kant die experimentelle Erforschung der Natur zum Paradigma der empirischen Wissenschaften: Als Galilei seine Kugeln die schiefe Fläche mit einer von ihm selbst gewählten Schwere herabrollen [...] ließ, so ging allen Naturforschern ein Licht auf. Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Principien ihrer Urtheile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nöthigen müsse auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem nothwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf.352
Hamann verwirft die Reduzierung der Natur auf ihre mathematischen Gesetzmäßigkeiten: „Sind aber die Improtüs eines Galilei und Newtons einmal zu ewigen Gesetzen der Natur verklärt: so muthen wir ihrem Schöpfer Selbst zu, sich in den Schranken dieses Sandufers zu halten und trauen ihm weder die Macht noch das Herz [zu], selbige zu übertreten.“353 Er lastet der Naturwissenschaft in ihrer Reduktion den „Verlust eines für die Menschen gegebenen Sinnzusammenhangs der Natur“354 an und mahnt zur erkenntnistheoretischen Demut, welche die Unbegreiflichkeit Gottes, die sich in der Natur zeige, anerkennt: Unser Dasein und die Existenz aller Dinge ausser uns muß geglaubt und kann auf keine andere Art ausgemacht werden. […]. Was man glaubt, hat daher nicht nöthig bewiesen zu werden, und ein Satz kann noch so unumstößlich bewiesen seyn, ohne deswegen geglaubt zu werden. Es gibt Beweise von Wahrheiten, die so wenig taugen als die Anwendung, die man von den Wahrheiten selbst machen kann.355
Da Philosophie, Mathematik und Physik die Natur in ihrem göttlichen Wesen getötet habe, stellt sich für Hamann die Frage: „Wodurch sollen wir die ausgestorbene Sprache der Natur von den Todten wieder auferwecken?“356 Die Lösung ist nach Hamann eine neue Dichtung, die sich auf ihre Ursprünge, also die poe-
|| 352 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl. 1787). In: derselbe: Werke. Akademie Textausgabe. Bd. 3. Berlin: De Gruyter, 1968. S. 1–553; S. 10. 353 Johann G. Hamann: Zwei Scherflein zur neusten Deutschen Literatur. S. 240. 354 Reiner Wild: Überlegungen zu Hamanns Kritik der Naturwissenschaften. In: Johann Georg Hamann und die Krise der Aufklärung. Acta des fünften Internationalen Hamann-Kolloquiums in Münster i.W. (1988). Hrsg. von Bernhard Gajek und Albert Meier. Frankfurt a. M., New York: Lang, 1990. S. 147–160; S. 156. 355 Johann G. Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. S. 73. 356 Johann G. Hamann: Aesthetica in nuce. S. 211.
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tische Sprache, besinnt und die „Blindheit und Trägheit des Herzens“357 heilt. In Klopstock (vgl. Kap. IV.1.3) sieht Hamann einen Dichter, der ihm als „Wiederhersteller des lyrischen Gesanges“ gilt und er lobt in seiner Dichtung den „Archaismus, welcher die rätselhafte Mechanik der heiligen Poesie bey den Hebräern glücklich nachahmt“.358 Damit stehen die zwei Pole der dichterischen Nachahmung fest: „Natur und Schrift also sind die Materialien des schönen, schaffenden, nachahmenden Geistes […].“359 Poesie und Dichtung einerseits, Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften andererseits erscheinen in Hamanns Texten als in ihrer Sprachform (poetisch-kyriologische – philosophisch-charakteristische), nach ihrem Ursprung (natürlich – künstlich), in ihrer Methode (synthetisch – analytisch), ihrem Wirklichkeitsbezug (nachahmend – quantifizierend, reduzierend) und ihrem Charakter (sinnlich – abstrakt) fundamental voneinander geschieden. Poesie und poetisch-kyriologische Sprachform werden der Naturwissenschaft und der philosophisch-arbiträren Sprachform übergeordnet.
4.5 Johann Gottfried Herder (1744–1803) Wie Hamann moniert auch Herder Kants Sprachverdrängung in der Kritik der reinen Vernunft. Anders als sein 14 Jahre älterer Mentor Hamann veröffentlicht Herder seine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft erst relativ spät im Jahr 1799. Sein sprachgeschichtliches und -theoretisches Arbeiten nimmt bereits in den Fragmenten über die Neuere Deutsche Literatur (1766–1768) und besonders prominent in der 1770 verfassten Abhandlung über den Ursprung der Sprache (publiziert 1772)360 Gestalt an. Herder geht das Problem, die Trias Sprache, Erkenntnis und Dichtung theoretisch in Relation zu setzen, ganz anders als Hamann an. Zwar gelten auch ihm Sprache und Denken als eine Einheit, doch liegt dieser Einheit ein anderer Gedanke zugrunde. Herder entwickelt eine Sprachursprungsthese, die nicht theologisch, sondern anthropologisch argumentiert und
|| 357 Johann G. Hamann: Schriftsteller und Kunstrichter. In: derselbe: Sämtliche Werke. Bd. 2. Hrsg. von Josef Nadler. Wien: Herder, 1951. S. 329–338; S. 335. 358 Johann G. Hamann: Aesthetica in nuce. S. 215. 359 Johann G. Hamann: Aesthetica in nuce. S. 210. 360 Im Jahr 1769 lobte die Berliner Akademie einen Preis für die Beantwortung folgender Frage aus: ‚Haben die Menschen, ihrer Naturfähigkeit überlassen, sich selbst Sprache erfinden können? Und auf welchem Wege wären sie am füglichsten dazu gelangt?‘; 1770 reichte Herder seine Abhandlung ein und konnte sich gegen 30 Mitbewerber durchsetzen.
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außerdem erlaubt, eine je eigene Sprachform für Dichtung und Wissenschaften zu postulieren. „Schon als Tier, hat der Mensch Sprache“361 – so liest sich Herders programmatischer Beginn der Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Er übernimmt damit Condillacs und Rousseaus Position, dass bereits rudimentäre Äußerungen von Schmerz, Leidenschaften, Rührung etc. einen sprachlichen Charakter hätten: „Diese Seufzer, diese Töne sind Sprache: Es gibt also eine Sprache der Empfindung, die unmittelbares Naturgesetz ist“ – wenn auch nur „das Naturgesetz einer empfindsamen Maschine“.362 Was Herder allerdings nicht anerkennt, ist eine evolutionäre Genese der menschlichen Verbalsprachen aus den ersten Sprachen der Empfindung. Zwischen den unwillkürlich-natürlichen Zeichen der Tiersprache und den arbiträren Zeichen der Verbalsprachen bestehe ein kategorialer Unterschied, der nicht durch eine graduelle Fortentwicklung erklärt werden könne.363 Um arbiträre Sprachzeichen intentional gebrauchen zu können, sei eine weitere, genuin menschliche Fähigkeit nötig – er nennt diese Fähigkeit ‚Besonnenheit‘ bzw. ‚Reflexion‘.364 Der Mensch beweiset Reflexion, wenn die Kraft seiner Seele so frei würket, daß sie in dem ganzen Ozean von Empfindungen, der sie durch alle Sinnen durchrauschet, Eine Welle, wenn ich so sagen darf, absondern, sie einhalten, die Aufmerksamkeit auf sie richten, und sich bewußt sein kann, daß sie aufmerke. […]. Er beweiset also Reflexion, wenn er nicht bloß alle Eigenschaften, lebhaft oder klar erkennen; sondern eine oder mehrere als unterscheidende Eigenschaften bei sich anerkennen kann: der erste Aktus dieser Anerkenntnis giebt deutlichen Begriff; es ist das erste Urteil der Seele.365
|| 361 Johann G. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. In: derselbe: Werke. Bd. 1. Hrsg. von Ulrich Gaier. Frankfurt a. M.: Klassiker, 1985. S. 695–810; S. 697. 362 Johann G. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. S. 698. und S. 708. 363 „Alle Tiere, bis auf den stummen Fisch, tönen ihre Empfindung; deswegen aber hat doch kein Tier […] den geringsten Anfang zu einer menschlichen Sprache. Man bilde und verfeinere und organisiere dies Geschrei, wie man wolle; wenn kein Verstand dazu kommt, diesen Ton mit Absicht zu brauchen: so sehe ich nicht, wie nach dem vorigen Naturgesetz je menschliche, willkürliche Sprach werde? Kinder sprechen Schälle der Empfindung, wie die Tiere; ist aber die Sprache, die sie von Menschen lernen, nicht eine ganz andre Sprache?“ Johann G. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. S. 708. 364 Die Gleichsetzung von ‚Besonnenheit‘ und ‚Reflexion‘ sorgt zum einen für eine begriffliche Unschärfe und ist zum anderen gerade in der Kritik an Condillac nicht unproblematisch, dessen ‚attention‘ wesentliche Merkmale der Herder’schen ‚Reflexion‘ aufweist. Vgl. dazu Cordula Neis: Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts. Die Berliner Preisfrage nach dem Ursprung der Sprache (1771). Berlin, Boston: De Gruyter, 2003. S. 582f. 365 Johann G. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. S. 722.
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Die Fähigkeit der Besonnenheit erlaubt es also bereits den frühesten Menschen, aus der Flut sinnlicher Wahrnehmungen einzelne markante Empfindungen zu isolieren, dies sind bereits die ersten klaren Ideen. Im Akt der Isolation wird das Merkmal bedeutsam: „Dies Erste Merkmal der Besinnung war Wort der Seele! Mit ihm ist die menschliche Sprache erfunden.“366 Herder imaginiert eine prototypisch-archaische Situation: Ein Mensch trifft zum ersten Mal auf ein Schaf. Er nimmt es in der Vielheit seiner Eindrücke wahr, die Seele findet im Blöken ein markantes Merkmal (da das Blöken den ‚stärksten Eindruck‘ macht) und anerkennt es für sich als innerliches Merkwort. Das Blöken ist somit Name des Schafs, lange bevor des Menschen „Zunge zu stammeln versucht hätte“367. Bei einer weiteren Begegnung mit einem Schaf und durch neuerliches Hören des Blökens werde die wiederholte Empfindung mit dem inneren Merkwort ‚Blöken‘ in Verbindung gebracht und das Schaf wieder-erkannt. Dieser einfach strukturierte Vorgang der Anerkennung und der Wiedererkennung ist nach Herder das Grundprinzip menschlicher Sprache: „Er erkannte das Schaf am Blöken; es war gefaßtes Zeichen, bei welchem sich die Seele an eine Idee deutlich besann – Was ist das anders als Wort?“368 Die Erfindung der menschlichen Sprache erscheint bei Herder als ein semiotischer Selbstzweck des menschlichen Geistes – „schon ohne Mund und Gesellschaft“369. Da das erste Merkwort sowohl Gedanke als auch Zeichen ist, zeigt sich hier deutlich die Einheit von Vernunft und Sprache: „Ratio et Oratio […] Ohne Sprache hat der Mensch keine Vernunft, und ohne Vernunft keine Sprache.“370 Bei der Bildung der ersten Merkworte kommt dem Gehör eine besondere Rolle zu, denn es ist der erste Sinn, welcher die Seele zur „deutlichen Empfin|| 366 Johann G. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. S. 723. 367 Johann G. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. S. 724. 368 Johann G. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. S. 724. 369 Vgl. Johann G. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. S. 725. Herder verschränkt onto- und phylogenetische Sprachentwicklung (siehe auch Georg W. Bertram: Herders antireduktionistische Sprachphilosophie. In: Herder im Spiegel der Zeiten. Verwerfungen der Rezeptionsgeschichte und Chancen einer Relektüre. Hrsg. von Tilman Borsche. München: Fink, 2006. S. 227–246). Jeder Spracherwerb, auch der von Kindern, so Herder, verlaufe so, dass diese immer die Sprache auch miterfänden, „jene [die Eltern] machen diese [die Kinder] nur auf Unterschiede der Sachen, mittelst gewisser Wortzeichen, aufmerksam […].“ Er lehnt entschieden die These ab, nach der die Nachahmung von Tierlauten zu Erfindung von menschlicher Sprache geführt hätte: „So wenig also die Nachtigall singt, um den Menschen, wie man sich einbildet, vorzusingen: so wenig wird der Mensch sich dadurch je Sprache erfinden wollen, daß er der Nachtigall nachtrillert […].“ Johann G. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. S. 741. 370 Johann G. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. S. 727.
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dung wecket – Also gleichsam aus dem dunklen Schlaf des Gefühls wecket: und zu noch feinerer Sinnlichkeit reifet“371. Dort, wo ein Gegenstand keine akustischen Empfindungen hervorriefe, also kein akustisches Gefühl vorhanden sei, muss die Seele nun nicht notwendig ein haptisches oder visuelles Merkmal isolieren, sondern könne durch Analogiebildung ein akustisches inneres Merkwort bilden. Möglich ist dies, weil dem Menschen als „denkendes sensorium commune“372 alle Sinneseindrücke zunächst als Gefühle gegeben werden. Gefühle sind gewissermaßen die mentalen Bausteine der Wahrnehmung und als solche haben sie bereits eine analoge und kompatible Struktur. Herder greift zur Illustration ein Beispiel auf, das bereits Vico (vgl. Kap. II.4.1) gebraucht hat: „Der Blitz schallet nicht: wenn er nun aber ausgedrückt werden soll […], natürlich wirds ein Wort machen, das durch Hülfe eines Mittgefühls dem Ohr die Empfindung des Urplötzlichenschnellen gibt, die das Auge hatte – Blitz! […]. Wir werden gleichsam Gehör durch alle Sinne!“373 Wie aber wird aus dem inneren Merkwort des Individuums ein intersubjektives Kommunikationszeichen? Hier kann der Mensch auf die Tiersprache zurückgreifen: „Da alle Sinne […] nichts als Gefühlsarten einer Seele sind: alles Gefühl aber nach einem Empfindungsgesetz der tierischen Natur unmittelbar seinen Laut hat; so werde dies Gefühl nur im Deutlichen eines Merkmals erhöht: so ist das Wort zur äußern Sprache da.“374 Mit der Tiersprache verfüge der Mensch also bereits über einen natürlichen Zeichenvorrat, um auch die inneren Merkworte lautlich auszudrücken. Es sei die besondere Stellung des Gehörs, die dazu führe, dass zur äußeren Kommunikation von Anbeginn vorrangig akustische Zeichen genutzt worden seien. Dies könne funktionieren, weil zwischen Denken und Kommunizieren eine analoge Struktur bestünde: Vortrefflich daß dieser neue, selbst gemachte Sinn des Geistes gleich in seinem Ursprunge wieder ein Mittel der Verbindung ist – Ich kann nicht den ersten menschlichen Gedanken denken, nicht das erste besonnene Urteil reihen, ohne daß ich in meiner Seele dialogiere, oder zu dialogieren strebe; der erste menschliche Gedanke bereitet also seinem Wesen nach, mit andern dialogieren zu können. Das erste Merkmal, was ich erfasse, ist Merkwort für mich, und Mitteilungswort für andre!375
|| 371 Johann G. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. S. 749. 372 Johann G. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. S. 743. 373 Johann G. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. S. 746f. 374 Johann G. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. S. 746. 375 Johann G. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. S. 733.
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In allen Prozessen ist Ähnlichkeit für Herder das zentrale Kriterium: bei der Bildung des Merkwortes, bei der Analogbildung nicht-akustischer Empfindungen und bei der Bildung von Sprachlauten. Er ist sich aber bewusst, dass sich der Spracherwerb in einer sozialen Gemeinschaft völlig anders als in der imaginierten Schaf-Szene gestaltet. Zwar bleibe die grundlegende Verbindung von Merkwort, Gedanke und Mitteilungswort auch hier erhalten, aber die Abfolge von Eindruck über das distinkte Merkmal bis hin zum Merkwort ändere sich beim sozialen Spracherwerb: „man läßt uns nicht eine Sprache erfinden, sondern lehrt sie uns: man läßt nicht das Tier sich so lange entwickeln […], sondern man erweckt eben Gedanken durch Worte: und diese ersten Wörter, die wir lallen, sind die Grundsteine aller unsrer Erkänntnis.“376 Aus Herders Verständnis des Sprachursprungs erwächst auch seine Kritik an Kants Erkenntnistheorie. Wie Hamann weist er zunächst auf die zirkelhafte Selbstbezüglichkeit der Vernunft bei der Klärung ihrer eigenen Erkenntnisfundamente hin377 und verwirft Kants Konzept eines ‚Dings an sich‘: Woher nun entstand das abenteuerliche Mißverständnis, sich an Noumenen ‚Vorstellungen ohne Gegenstand, Dinge an sich‘ zu denken? Der Ursprung liegt klar am Tage. Da unser Verstand nämlich nicht anders als durch Merkmale, die er in Worten festhält, den Begriff fassen kann: so hat er die Macht, im erfaßten Begriff wieder ein Merkmal, Eins in Vielem, sich besonders anerkennbar zu machen, und durch ein Wort festzuhalten. [… ]. Alle abgezogenen Begriffe also […] haben die Gestalt von Gedanken- oder Verstandeswesen, die sie im rechten Sinne des Worts auch sind, ob sie gleich damit nichts weniger als Vorstellungen ohne Gegenstand, Dinge an sich selbst werden.378
Der Mensch kann aufgrund der Besonnenheit nicht nur in Erscheinungen distinkte Empfindungen anerkennen (z.B. das Blöken des Schafes), er kann auch in Begriffen distinkte Merkmale anerkennen, wie z.B. in den Begriffen ‚Schaf‘, ‚Pferd‘, ‚Hund‘ das Merkmal ‚nicht sprachfähig‘. Der Verstand bildet auf diese Weise Begriffe von Begriffen, also Begriffe zweiter Ordnung. Ihnen entspricht kein realer Gegenstand, d.h. sie haben keine direkte Referenz auf die Wirklich-
|| 376 Johann G. Herder: Über die neuere deutsche Literatur. In: derselbe: Werke. Bd. 1. Hrsg. von Ulrich Gaier. Frankfurt a. M.: Klassiker, 1985. S. 161–650; S. 395. 377 „Wenn aber Vernunft kritisiert werden soll; von wem kann sie es werden? Nicht anders als von ihr selbst; mithin ist sie Partei und Richter. Und wonach kann sie gerichtet werden? Nicht anders als nach sich selbst; mithin ist sie auch Gesetz und Zeuge. Sofort erblickt man die Schwierigkeit dieses Richteramtes.“ Johann G. Herder: Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. In: derselbe.: Werke. Bd. 8. Hrsg. von Martin Bollacher. Frankfurt a. M.: Klassiker, 1998. S. 303–640; S. 319. 378 Johann G. Herder: Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. S. 470.
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keit. Daher ist die Bildung von Begriffen zweiter Ordnung ein riskantes Geschäft und fehleranfällig. Wenn Kant davon ausgeht, dass allen Erscheinungen ein Ding an sich zugrunde liege, ist ‚Ding an sich‘ solch ein Begriff zweiter Ordnung. Kants Missverständnis sei, dass er den Begriff zweiter Ordnung fälschlicherweise als einen Begriff erster Ordnung auffasse und ein real existierendes Ding an sich postuliere. Herder löst nun die Verwirrung wie einst Alexander den Gordischen Knoten: „Phänomenon heißt, was erscheint; Noumenon, was sich der Verstand (νοῦς) denket. Dies denkt er sich nicht hinter und außer, sondern an dem Phänomenon; und damit ist die ganze Verwirrung gehoben.“379 Nicht die Erscheinung, sondern das „Sein ist der Grund aller Erkenntnis. […] Sein ist also auch der Grundbegriff der Vernunft und ihres Abdrucks, der menschlichen Sprache“380. Für Herder sind auch Kants zwei Quellen der Erkenntnis ein Irrtum, er kennt nur ein fundamentales Erkenntnisvermögen, die Besonnenheit oder Reflexion. „Ists wahr, daß wir ohne Gedanken nicht denken können, und durch Worte denken lernen: so giebt die Sprache der ganzen menschlichen Erkenntnis Schranken und Umriß.“381 Mit Hilfe der Ursprungsthese kann Herder eine Alternative zu Kants Erkenntnistheorie entwickeln, die Sprache als produktiven Aspekt integriert. In den Fragmenten über die Neuere Deutsche Literatur (1766– 1768) entwirft er aber zudem eine vier Stufen umfassende Sprachgeschichte.382 1. Die erste Sprachstufe, die menschliche Sprache in ihrer Kindheit, sei noch stark mit der Sprache der Empfindung und mit dem Gefühl verwoben gewesen, insofern in jedem Namen zunächst noch Furcht, Schrecken, Bewunderung und andere Leidenschaften akustisch Ausdruck gefunden hätten. Erst nach und nach hätte der Klang der Worte sich in Nachahmung der Eindrücke (z.B. des Blökens) gewandelt.383 2. Die Jugendzeit der Sprache sei durch eine erste Abstraktion geprägt gewesen: „Man nahm Begriffe, die nicht sinnlich waren, in die Sprache; man nannte sie aber […] mit bekannten sinnlichen Namen; daher müssen die ersten Sprachen bildervoll und reich an Metaphern gewesen sein.“384 Es sei das Zeitalter der Poesie, der poetischen Sprache und der Dichter gewesen.385
|| 379 Johann G. Herder: Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. S. 469. 380 Johann G. Herder: Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. S. 364. 381 Johann G. Herder: Über die neuere deutsche Literatur. S. 557. 382 Johann G. Herder: Über die neuere deutsche Literatur. S. 181–183. 383 Vgl. Johann G. Herder: Über die neuere deutsche Literatur. S. 182 und S. 758. 384 Johann G. Herder: Über die neuere deutsche Literatur. S. 182f. 385 Vgl. Johann G. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. S. 758.
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3.
Mit dem männlichen Alter habe das Zeitalter der ‚schönen Prose‘ begonnen. Die Sprache hätte einen Großteil ihrer poetischen Qualitäten verloen: „Je mehr sie Kunst wird, je mehr entfernt sie sich von der Natur. Je eingezogener und politischer die Sitten werden, je weniger die Leidenschaften in der Welt wirken, desto mehr verlieret sie an Gegenständen. Je [...] mehr bürgerliche und abstrakte Wörter eingeführet werden, je mehr Regeln eine Sprache erhält: desto vollkommener wird sie zwar, aber desto mehr verliert die wahre Poesie.“386 Das sprachliche Mannesalter sei das eines Mittelmaßes zwischen dem schon gemäßigten poetischen Überschwang der Jugendzeit und den noch nicht angelegten „Fesseln einer philosophischen Konstruktion“387 in der letzten Stufe der Sprachentwicklung gewesen. 4. Die letzte Entwicklungsstufe, das hohe Alter der Sprache, sei das Zeitalter der Philosophie und Wissenschaften gewesen. Dieses Zeitalter und die entsprechende Sprachstufe „weiß statt Schönheit bloß von Richtigkeit“388. Die Sprache hätte in dem Maße an Reiz und Reichtum verloren, als sie an Präzision gewonnen habe. Herder verschränkt später in der Metakritik diese vier Stufen der Sprachentwicklung mit einer Systematik der verschiedenen Erkenntnisvermögen des Menschen (Sinne, Einbildungskraft, Verstand und Vernunft).389 Bildeten diese ursprünglich eine Einheit, differenzierten sie sich im Laufe der Menschheitsentwicklung aus und entwickelten komplementäre ‚Logiken‘, denen verschiedene synchrone Sprachformen korrespondierten.390 Die Aufgabe der Einbildungskraft sei hierbei, zwischen Sinnlichkeit und Verstand zu vermitteln, während die Vernunft einer richterlichen Instanz gleichkomme, die den Verstand kontrolliere.391 Verstand und Vernunft folgten im Prinzip derselben Gesetzmäßigkeit (lex
|| 386 Johann G. Herder: Über die neuere deutsche Literatur. S. 183. 387 Johann G. Herder: Über die neuere deutsche Literatur. S. 184. 388 Johann G. Herder: Über die neuere deutsche Literatur. S. 184. 389 Johann G. Herder: Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. S. 483f. 390 Herder prägt die metaphorische Verwendung des Terminus ‚Logik‘ bereits 1764 im Fragment Von der Ode: „Die Logik des Affekts – man verzeihe mir diesen anscheinenden Widerspruch – ist die kürzeste und schwerste aller Logiken im Reich der Wirklichkeit und Möglichkeit. In ihm empfindet man die sinnlichgrößte Einheit, ohne sie mit der Übereinstimmung des Verstandes vergleichen zu können; die wahrste Sinnlichkeit, unter der ein Beweis beinahe bis zum Lächerlichen erniedrigt ist: die rührendste Mannichfaltigkeit ohne Kette des Mathematikers.“ Johann G. Herder: Von der Ode. In: derselbe: Werke. Bd. 1. Hrsg. von Ulrich Gaier. Frankfurt a. M.: Klassiker, 1985. S. 57–99; S. 89f. 391 Vgl. Johann G. Herder: Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. S. 500f.
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intellectus), d.h. sie erkennen in Form wahrer Urteile, die aufgrund von anerkannten Merkmalen gebildet werden. Einbildungskraft und Sinnlichkeit operierten dagegen mit gänzlich anderen Gesetzmäßigkeiten, nämlich denen von Kontiguität und Assoziation. Dennoch siedelt Herder Einbildungskraft und Verstand auf einer Ebene an: Als gegenläufige, komplementäre Vermögen seien sie in ihrem Stellenwert gleichwertig und gleichrangig. Die Verschiedenartigkeit der Vermögen (respektive ‚Logiken‘) erforderten deshalb ebenso verschiedenartige Sprachformen, die in einem gleichermaßen inkommensurablen und reziproken Verhältnis zueinander stünden. Bereits in den Fragmenten Über die neuere deutsche Literatur trennt Herder drei Sprachformen: die Alltagssprache, die philosophische und die dichterische Sprache: Sie laufen in einander, ihre Zirkel durchschneiden sich, und sie haben ganz und gar nicht einen gemeinschaftlichen Mittelpunkt: jede ihren Zweck, jede ihre ausschließende Schönheiten und Fehler: die Sprache des gemeinen Lebens die ihrige: die philosophische Sprache die ihrige: die höchste Dichtersprache die ihrige.392
Herders sprachhistorische Überlegungen und die anthropologisch-erkenntnistheoretischen Reflexionen der menschlichen Vermögen verbinden sich in seiner Bestimmung des Verhältnisses von Dichtung, Philosophie und Wissenschaften: Empfindungen und Worte sind sich so gar entgegen: der wahrhafte Affekt ist stumm, durchbraust unsere ganze Brust inwendig eingeschlossen. Sein erstes Wort, ist ein Begriff; er schwächt sich, wälzt zu klaren Begriffen, zum Selbstgefühl, zum Bewußtsein, zur Vernunft herunter; und die wird jetzt wortreich, sie sagt, was sie nicht mehr empfindet. […]. Die Völker, die am meisten empfinden, sprechen am wenigsten […].393
Mit der Fortentwicklung menschlicher Sprache geht also ein Verlust des unmittelbaren Empfindens und Gefühls einher. Der Verlust sei aber nur die Kehrseite der sprachlichen Vervollkommnung hin zu einer vernunftgemäßen Sprache der Richtigkeit.394 Nur so könne ein für die Wissenschaften taugliches Werkzeug entstehen. Der sprachliche Progress von einer poetischen Ursprache hin zu einer begrifflichen Philosophensprache enthüllt demnach das reziproke Verhältnis zwischen den beiden Polen Sinnlichkeit (Metaphorizität, Bildlichkeit, Klanghaftigkeit etc.) und differenzierter Eindeutigkeit (Begrifflichkeit, Abstraktion, Differenzierung etc.). Die Entwicklung sei unumkehrbar: „[U]naufhaltsam
|| 392 Johann G. Herder: Über die neuere deutsche Literatur. S. 397. 393 Johann G. Herder: Von der Ode. S. 66. 394 Vgl. Johann G. Herder: Über die neuere deutsche Literatur. S. 177.
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strebt jede Sprache darnach, Sprache der Vernunft zu werden.“395 – die poetische Sprache der Jugendzeit gilt Herder als verloren.396 An diesem Punkt nun unterscheiden sich Hamanns und Herders Positionen, denn wo Hamann dazu aufruft, mittels Poesie und Dichtung möglichst nahe an das göttliche idiomatum, die kyriologische Engelsprache zurückzureichen und so „die zerstückte Natur poetisch wieder zusammenzufügen […]“397, verwirft Herder beide Lösungsversuche, die Rückkehr zur Urpoesie und die Nachahmung der Natur. Er relativiert unter sprachtheoretisch Vorzeichen das Mimesis-Prinzip sowohl als Nachahmung der Natur wie auch als Nachahmung der klassischen Dichtung, „[d]a die Nachahmung der Natur gewiß nicht ursprünglich das Wesen der Dichterei gewesen“398. Dichtung ist nach Herder – wie auch nach Klopstock und Lessing (vgl. Kap. IV.1.3) – hauptsächlich Ausdruck innerer Gefühle: „Wir dichten nämlich nichts, als was wir in uns fühlen: wir tragen, wie bei einzelnen Bildern unsern Sinn, so bei Reihen von Bildern unsre Empfindungs- und Denkart in die Gegenstände hinüber und dies Gepräge der Analogie, wenn es Kunst wird, nennen wir Dichtung.“399 Wolfgang Düsing wertet dies als poetologische Wende, in der „die Nachahmungsästhetik […] von einer Ausdrucksästhetik abgelöst wird“400. Da Herder die ursprünglich poetische Sprache unrettbar verloren gilt, muss er die Frage beantworten, mit welchen Mitteln dem Dichter des 18. Jahrhunderts der Ausdruck innerer Gefühle gelingen soll. Die Urform der poetischen Sprache war ungelenk, jedoch hatte sie den Vorteil, die Sinne des Rezipienten direkt zu affizieren – sie sprach „für Auge und Ohr, für Sinne und Leidenschaften.“401 Der
|| 395 Johann G. Herder: Kalligone. Vom Angenehmen und Schönen. In: derselbe: Werke. Bd. 8. Hrsg. von Martin Bollacher. Frankfurt a. M.: Klassiker, 1998. S. 641–964; S. 801. 396 „Ist Poesie die Muttersprache: so ist unsere Prose […] der Knechtschafts Stab und die Kette der Verkaufung aus dem Hause der Mutter in das Egypten der Hagar […]. Unser bürgerliches Volk, die Antipoden der Menschheit, hat seine Muttersprache verlernt, da es aus dem Garten Gottes verstoßen wurde […].“ Johann G. Herder: Dithyrambische Rhapsodie über die Rhapsodie kabbalistischer Prose. In: derselbe: Werke. Bd. 1. Hrsg. von Ulrich Gaier. Frankfurt a. M.: Klassiker, 1985. S. 30–39; S. 31. 397 Ulrich Gaier: Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik. Stuttgart: Frommann-Holzboog, 1988. S. 37. 398 Johann G. Herder: Von der Ode. S. 89. 399 Johann G. Herder: Über Bild, Dichtung und Fabel. In: derselbe: Werke. Bd. 4. Hrsg. von Jürgen Brummack. Frankfurt a. M.: Klassiker, 1994. S. 631–677; S. 642. 400 Wolfgang Düsing: Wandlungen des Literaturbegriffs in der ‚Laokoon‘-Debatte zwischen Lessing und Herder. In: Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Hrsg. von Peter-André Alt. Würzburg: K&N, 2002. S. 63–78; S. 77. 401 Johann G. Herder: Über die neuere deutsche Literatur. S. 182.
Johann Gottfried Herder (1744–1803) | 153
Dichter konnte das Eigentliche der Empfindungen unmittelbar-direkt ausdrücken, da die Zeichen der Ursprachen ja analog zu den Gefühlen gebildet wurden. Dem Dichter im prosaischen Zeitalter ist dieser Weg verstellt: „[D]er Ausdruck durch künstliche Worte setzt eine künstliche Empfindung der Einbildungskraft voraus.“402 Die neuzeitliche Dichtung kann nur auf einem künstlichen Umweg über die Sinne auf die Einbildungskraft oder Phantasie wirken. Der zentrale Begriff, den Herder hierbei verwendet, ist ‚Kraft‘ oder ‚Zauberkraft der Poesie‘.403 Da die Ausdrucksseite, der Sprachlaut oder das Schriftzeichen nicht nachahmend oder abbildend auf das Bedeutete Bezug nehmen, muss das ‚Innere der Worte‘ die Abbild-Funktion übernehmen: „Bei keinem Zeichen muß das Zeichen selbst, sondern der Sinn des Zeichens empfunden werden.“404 Mit ‚Sinn‘ bezeichnet Herder nicht die Bedeutung eines Sprachzeichens oder Wortes, sondern das Zusammenspiel von Zeichen, Worten, Stil und Bildlichkeit: Du mußt den natürlichen Ausdruck der Empfindung künstlich vorstellen, wie du einen Würfel auf der Oberfläche zeichnest; du mußt den ganzen Ton deiner Empfindung in dem Perioden, in der Lenkung und Bindung der Wörter ausdrücken: du mußt ein Gemälde hinzeichnen, daß dies selbst zur Einbildung des andern ohne deine Beihülfe spreche, sie erfülle, und durch sie sich zum Herzen grabe: du mußt Einfalt, und Reichtum, Stärke und Kolorit der Sprache in deiner Gewalt haben […] – wie sehr klebt hier alles am Ausdrucke: nicht in einzelnen Worten, sondern in jedem Teile, im Fortgange derselben und im Ganzen.405
|| 402 Johann G. Herder: Von der Ode. S. 69. 403 „Malerei wirkt im Raume, [...] Musik und alle energische Künste wirken nicht bloß in, sondern auch durch die Zeitfolge [...]. Ließe sich nicht das Wesen der Poesie auch auf einen solchen Hauptbegriff bringen, da sie durch willkürliche Zeichen, durch den Sinn der Worte auf die Seele wirkt? Wir wollen das Mittel dieser Wirkung Kraft nennen […] die Poesie, wirkt durch Kraft. – Durch Kraft, die einmal den Worten beiwohnt, durch Kraft, die zwar durch das Ohr geht, aber unmittelbar auf die Seele wirket. Diese Kraft ist das Wesen der Poesie, nicht aber das Koexsistente, oder die Sukzession.“ Johann G. Herder: Die kritischen Wälder zur Ästhetik. In: derselbe: Werke. Bd. 2. Hrsg. von Gunter E. Grimm. Frankfurt a. M.: Klassiker, 1993. S. 9–441; S. 194. 404 Johann G. Herder: Die kritischen Wälder zur Ästhetik. S. 195. 405 Johann G. Herder: Über die neuere deutsche Literatur. S. 402f. Deutlich zeigt sich hier die Nähe zu Friedrich Gottlieb Klopstocks Formulierung in der Vorrede (1755) zu Der Messias (1748– 1773): „Die letzten und höchsten Wirkungen der Werke des Genie sind, daß sie die ganze Seele bewegen. […] Man fordert von demjenigen, der unsre Seele so zu bewegen unternimmt, daß er jede Saite derselben, auf ihre Art, ganz treffe. Sie bemerkt hier jeden Mißton, auch den feinsten. Wer dieses recht überdacht hat, wird sich oft entschlossen haben, lieber gar nicht zu schreiben. Wem es dennoch glückt, der hat Empfindungen in uns hervorgebracht, die, weder die höchste philosophische Überzeugung, noch die andern Arten der Poesie, verursachen können.“ Fried-
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Dem Dichter hilft der Umstand, dass Wörter nie auf ihren repräsentativen Gehalt reduziert werden können. Da Sprache über lange Zeiträume historisch gewachsen ist, haften dem Innern der Worte naturgemäß noch Aspekte der alten Analogien, der alten Metaphorik wie Konnotate an. Die Sprache einer jeden Nation ist somit „das Vorratshaus solcher zu Zeichen gewordenen Gedanken“406, die zum größten Teil Analogien, Ähnlichkeiten, Assoziationen etc. darstellen. Um Empfindungen auszudrücken bzw. im Rezipienten hervorzurufen, müsse der Dichter es verstehen, die Sprachzeichen so zu formen, dass im Ganzen des Kunstwerks die Analogien, Ähnlichkeiten und Assoziationen entstünden, die den Sinn ausmachten. Im Sinn, so Herder weiter, finde daher eine in der alltäglichen oder philosophischen Sprache unmögliche Verschmelzung von Bezeichnendem und Bezeichnetem statt: Gedanke und Ausdruck! verhält er sich hier wie ein Kleid zu seinem Körper? Das beste Kleid ist bei einem schönen Körper bloß Hindernis. – Verhält er sich, wie die Haut zum Körper? Auch noch nicht genug: die Farbe und glatte Haut macht nie die Schönheit vollkommen aus. Wie eine Braut bei ihrem Geliebten, wenn derselbe seinen Arm um sie geschlungen, an ihrem Munde hanget: Wie zwei zusammen Vermählte […]; ein paar Zwillinge, die zusammen gebildet und erzogen, sich lieben und begleiten wie Shakespears Freundinnen? Diese Bilder sind bedeutend, aber wie mich dünkt, noch nicht vollständig. – Wohl! Es fällt mit ein Platonisches Märchen ein, wie der schöne Körper ein Geschöpf, ein Bote, ein Spiegel, ein Werkzeug einer schönen Seele sei, […] ich setze diese schöne Sokratische Bilder zusammen, und zeige meinen Lesern ein Bild, das Gedanke und Wort, Empfindung und Ausdruck sich zu einander verhalten, wie Platons Seele und Körper.407
Ganz anders verfahre die Philosophie. Sie operiere ausschließlich mit den repräsentierten Gehalten bzw. den Begriffen: „Begriffe aus den gegebenen Worten entwickeln, und deutlich machen: das ist Philosophie.“408 Polysemie, Synonymie, begriffliche Unschärfe gelte es bei diesem Geschäft zu vermeiden: „Jeder deutliche Begriff habe hier also nur einen Ausdruck; hätte er mehr, so wären sie überflüssig, unnütz, oder schädlich.“409 Die philosophische Sprachform sei daher eine anti-dichterische Sprachform, da sie all jene sprachlichen Qualitäten nivelliere und nivellieren müsse, die der Dichter benötige:
|| rich G. Klopstock: Von der heiligen Poesie (Vorrede zu ‚Der Messias‘). In: derselbe: Ausgewählte Werke. Bd. 1. Hrsg. von Karl A. Scheiden. München: Hanser, 1962. S. 997–1010; S. 999f. 406 Johann G. Herder: Über die neuere deutsche Literatur. S. 553. 407 Johann G. Herder: Über die neuere deutsche Literatur. S. 404f. 408 Johann G. Herder: Über die neuere deutsche Literatur. S. 424 und S. 427. 409 Johann G. Herder: Über die neuere deutsche Literatur. S. 632.
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Dichterisch ist diese [die Sprache der Philosophie, M.I.] doch gewiß nicht: sie giebt ihrer innern Würde und Beschaffenheit nach alle Ansprüche auf poetische Sprachschönheiten auf. – Wohlklang der Wörter – Wechsel der Silben – rührender Ausdruck – Schmuck der Bilder – so viel sie anderswo gelten mögen, so gelten sie, wenn man mehr als praeter propter reden will – hier nichts.“410
Die philosophische Sprachform zeichnet sich somit durch Eindeutigkeit, Spracheffizienz und die Reduktion auf den propositionalen Gehalt aus – eine Freude für den Logiker, „[a]ber für das poetische Genie ist diese Sprache der Vernunft ein Fluch […]“411. Die poetische Sprache der Dichtung und die eindeutige Sprache der Philosophie bilden wie bei Condillac die zwei konträren Pole eines Kontinuums (vgl. Kap. II.3.5). Und wie Condillac hält auch Herder eine Sprachform in der Mitte zwischen beiden Extremen für den besten Kompromiss angesichts der Erfordernisse von Philosophie und Dichtung: Die Prose ist uns die einzig natürliche Sprache, und das seit undenklichen Zeiten gewesen – nun sollen wir diese Sprache ausbilden? […] Entweder zur mehr dichterischen Sprache, damit der Stil vielseitig, schön und lebhafter werde; oder zur mehr philosophischen Sprache, damit er einseitig, richtig und deutlich werde; oder wenn es möglich ist, zu allen beiden. Das letzte kann in einem gewissen Grade geschehen; und muß nach unsrer Zeit, Denkart und Notwendigkeit auch geschehen. Alsdenn werden wir zwar von beiden Seiten nicht die höchste Stufe erreichen, weil beide Enden nicht einen Punkt ausmachen können; allein wir werden in der Mitte schweben […].412
4.6 Zusammenfassung weiterer Sprachkonzeptionen Die zuletzt dargestellte, dritte Gruppe sprachtheoretischer Konzeptionen von Vico, Rousseau, Kant, Hamann und Herder zeichnet sich stärker als die untersuchten rationalistischen und empiristischen Konzepte des entsprechenden Zeitraums durch eine Heterogenität ihrer philosophischen Voraussetzungen und Zielorientierungen aus, Rousseau beispielsweise betrachtet Sprache primär als Baustein eines kulturellen wie gesellschaftlichen Regressionsprozesses, während Hamann sie als theologisch-erkenntnistheoretische Grundlage von Welt- und Gotteserkenntnis begreift. Dennoch zeigen sich thematische Schwerpunkte, die der Sprachreflexion im 18. Jahrhundert genuine und neue Facetten hinzufügen. Anhand einiger Stichpunkte soll gezeigt werden, dass sich im 18.
|| 410 Johann G. Herder: Über die neuere deutsche Literatur. S. 631. 411 Johann G. Herder: Über die neuere deutsche Literatur. S. 219. 412 Johann G. Herder: Über die neuere deutsche Literatur. S. 187.
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Jahrhundert abseits der empiristisch-sensualistischen und rationalistischen Pfade ein differenziertes Feld der Sprachreflexion eröffnete. Die Trias Sprache, Denken und Fühlen: In Anlehnung an Wolfert von Rhadens Charakterisierung können drei sprachphilosophische Positionen differenziert werden.413 Kant vertritt demnach ein hierarchisches Differenzprinzip, d.h. zwischen Vernunft und Sprache wird ein distinkter Unterschied angenommen, wobei die Vernunft der Sprache vorrangig ist und letztere nur die ‚Kopie‘ (Kant nennt es ‚Gegenbild‘) und das Instrument des Denkens ist. Rousseaus und Herders Ansatz beruht nach von Rhaden auf einem Unitätsprinzip, nachdem Sprache und Vernunft als zwei Seiten ein und derselben Fähigkeit gelten. Bei Rousseau ist es die dem Menschen natürliche Fähigkeit, Gefühle/Affekte zu artikulieren (cri de la nature), bei Herder ist es die genuin menschliche Fähigkeit der Besonnenheit. Das Unitätsprinzip wird schließlich bei Vico und Hamann noch gesteigert zum Identitätsprinzip, in dem Sprache und Vernunft identisch sind, was auch etymologisch durch das Wort Logos (λογος) legitimiert wird. Bei Vico beruht das Prinzip auf der Identität von ersten Vorstellungen und poetischen Charakteren als Resultat eines göttlichen Impulses, bei Hamann auf der Annahme, dass die Welt bereits als sprachliche Anrede an den Menschen erschaffen wurde und Sprachfähigkeit qua Schöpfung Wesensmerkmal des Menschen ist. Die Trennung von res und verba: Vico, Rousseau, Hamann und Herder gehen davon aus, dass ein ‚natürliches Band‘ (Empfindung, Abbild, Analogie etc.) Bezeichnendes und Bezeichnetes im Sprachursprung einte bzw. die Identität beider sicherte. In diesem Sinne ist die Trennung von realen bzw. mentalen res und arbiträren verba eine künstliche, sekundäre Differenzierung, die entweder als unumkehrbarer Kollateralschaden der Sprachentwicklung akzeptiert wird (Rousseau, Herder) oder als Entfremdung von der göttlichen (Sprach-)Natur der Welt mit poetischen Mitteln rückgängig gemacht werden soll (Hamann). Allein Vico erkennt auch in den konventionellen Zeichen der neuzeitlichen Verbalsprachen noch einen natürlichen, nicht-arbiträren Kern, der eine den Wissenschaften entgegenstehende, mythische Weltsicht eröffnen kann. Die genannten vier Autoren eint in je eigener Ausgestaltung die Annahme, dass zwischen Denken und Sprache, zwischen mentalem Gehalt und Sprachzeichen sowie zwischen Erkenntnis und sprachlicher Form keine klare – oder wenn, nur eine künstliche – Grenze gezogen werden kann. Anders als Rationalismus und Empi|| 413 Wolfert von Rahden: Sprachursprungsentwürfe im Schatten von Kant und Herder. In: Theorien vom Ursprung der Sprache. Hrsg. von Joachim Gessinger und Wolfert von Rahden. Berlin: De Gruyter, 1988. S. 421–467; S. 427f.
Zusammenfassung weiterer Sprachkonzeptionen | 157
rismus bzw. Sensualismus verstehen diese Autoren ‚Denken‘ oder ‚mentale Gehalte‘ umfassender und betonen gleichermaßen oder noch stärker emotive, affektive und vorbewußte Aspekte. Empfindung, Sinn, Gefühl, Affekt und Phantasie werden gegenüber Verstand, Vernunft und Rationalität (in einem engeren, neuzeitlichen Sinn, vgl. dazu Kap. III.4) in ihrer Eigenart und Autonomie als gleichwertig oder sogar höherwertig eingeschätzt. Stets sind sie rationaler Vernunft und rationalem Sprachgebrauch genealogisch vorgängige Bereiche des Denkens und damit prägend für die Natur von Sprache in ihrem Ursprung. Sprachursprung und Sprachentwicklung: Anders als in der rationalistischen, empiristischen oder sensualistischen Sprachreflexion (Condillac ausgenommen) wurde bei Vico, Rousseau, Hamann und Herder Sprache weniger als Instrument der Erkenntnis funktional und synchron beschrieben, sondern viel mehr versucht, Sprache in ihrem umfänglichen Wesen zu erschließen. Zentral ist hierbei, Sprache in ihrem Ursprung, ihrer Genese und ihren Transformationsprozessen zu verstehen. Die genannten Autoren gehen kaum oder gar nicht empirisch vor, sondern rekonstruieren frühe Sprachstufen narrativ durch eine Extrapolation zeitgenössischer Annahmen und Beobachtungen. Durchgängig werden ursprüngliche und frühe Sprachformen als natürlich, sinnlich, abbildend, poetisch und mit Gefühl und Einbildungskraft verbunden charakterisiert. Im Vergleich mit den frühen werden die neuzeitlichen Sprachen als entfremdete, regressive und auf Verstand-/Vernunfttätigkeit beschränkte Sprachformen beschrieben. Die Sprachentwicklung erscheint folglich als ein Verlust poetischästhetischer Qualitäten und als ein zunehmender Gewinn an Genauigkeit, Präzision und Eindeutigkeit. Indem Dichtung und Poesie mit den frühen Sprachstufen verknüpft werden, logisch-rationale Philosophie, Physik und Mathematik dagegen mit den späten Sprachstufen, entsteht auch eine synchrone Polarität zwischen szientistisch-philosophischem Sprachgebrauch (vgl. Rousseaus langue de géomètres) und poetisch-ästhetischem Sprachgebrauch (langue de poètes). Bisweilen, wie etwa bei Hamann, wird diese Polarität nicht nur als unterschiedlicher Gebrauch einer Sprachstufe, sondern im Prinzip als zwei konträre Sprachformen dargestellt. Die Entfremdung der jüngeren Sprachformen von ihrem Ursprung wird zumindest teilweise als Entzweiung von Bezeichnetem und Bezeichnendem in arbiträren Sprachzeichen beschrieben, die einen Schritt des Übersetzens oder Übertragens (vgl. Herder) bei der Artikulation und einen Schritt hermeneutischer Erschließung bei der Rezeption erfordern. Bedeutung und Sinn: Stärker als bisweilen in der rationalistischen Sprachtheorie zeigte sich bei Vico, Rousseau, Hamann und Herder ein Bewusstsein davon, dass selbst dort, wo Sprache als repräsentatives Instrument der Erkenntnis genutzt wird, eindeutige Repräsentation ein von vielen – unter ande-
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rem auch historischen und kontextuellen – Faktoren abhängiger und vor allem vorläufiger Prozess ist. Repräsentation lässt sich demnach nur selten und unter großem Aufwand definitorisch ‚stillstellen‘ und ist keinesfalls einfach gegeben, wie etwa an Baumgartens Äußerung: „[D]er Philosoph stellt seinen Gedanken so dar, wie er ihn denkt“414 ersichtlich wird. Bemerkenswert ist bei den genannten Autoren auch die Annahme, dass neben der repräsentierten Bedeutung selbst bei den Zeichen später Sprachformen ein Rest der ursprünglichen, poetischen Sprache vorhanden ist, der eine zusätzliche semiotische Dimension sprachlicher Zeichen bildet. Diese Dimension wird nicht wie in Rationalismus und Empirismus als zu eliminierendes Hindernis oder Defizit betrachtet, sondern im Gegenteil als Möglichkeit, die Kollateralschäden der Sprachentwicklung poetisch zu kompensieren (Herder) oder gar zu beheben (Hamann). Sprachfunktionen: Aufgrund der bisher genannten Aspekte ergibt sich auch hinsichtlich der Sprachfunktionen eine gewisse Distanz der untersuchten Ansätze zu rationalistischen und empiristisch-sensualistischen Positionen. Zwar beschreiben auch Vico, Rousseau, Hamann und Herder eine mentale Funktion sprachlicher Zeichen, allerdings nicht mehr in Form eines semiotischen Operierens mit Zeichen anstelle oder gemeinsam mit Begriffen/Ideen (vgl. Leibniz’ Merkwort). Referenzfunktion (Wirklichkeitsbezug) und Repräsentationsfunktion fallen – zumindest in den frühen und poetischen Sprachformen – bei den genannten Ansätzen in eins. Sprache stellt die Formen der Erkenntnis a priori bereit (Herder) und sie bedingt die Weltanschauung und Denkweise (Vico). Dadurch kann Sprache in kommunikativer Funktion nicht nur als Kanal repräsentierter Gehalte fungieren, sondern ist immer auch ontologisch mit den kommunizierten Gehalten verbunden und vice versa. Aus dem Sprachverständnis der genannten Autoren ergibt sich aber eine zusätzliche Funktion von Sprache. Mit und in ihr können nicht nur Gehalte repräsentiert und kommuniziert werden, sie erlaubt auch einen sekundär-mittelbaren Ausdruck von Gefühlen, Empfindungen und Affekten.415 Und ähnlich wie bei der direkten Wahrnehmung von Gegenständen oder Sachverhalten können demnach auch beim Hören/Lesen von Sprachzeichen unmittelbar – sprich ohne Reflexion – und unabhängig von Verstand und Vernunft im Hörer/Leser Empfindungen, Gefühle und Affekte hervorgerufen werden. Eine besondere Funktion wurde im Zusammenhang mit Kants Konzept ästhetischer Ideen erkennbar. Im strengen Sinn handelt es sich dabei nicht um eine sprachliche Funktion, aber doch um eine besondere Funktion vor allem poetisch-metaphorischen Sprachgebrauchs. Sie ermöglicht eine || 414 Alexander G. Baumgarten: Meditationes philosophicae. S. 87. 415 Vgl. Wolfgang Düsing: Wandlungen des Literaturbegriffs. S. 76.
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sinnliche Darstellung (Hypotyposis) von ansonsten nicht sinnlich darstellbaren Vernunftideen. Die Grenzen der Sprache: Durch die von Vico, Rousseau, Hamann und Herder vorgenommene Verbindung von Sprache und Denken sind die Grenzen von Sprache und Wirklichkeitserkenntnis mehr oder minder identisch. Bemerkenswert ist hier wiederum die Differenzierung zwischen poetischer Sprache bzw. poetischem Sprachgebrauch und szientistischen bzw. philosophischem Sprachgebrauch. Zwar wird die szientistisch-philosophische Sprache in dem Bereich, in dem sie ihren Ort und ihre Berechtigung hat, nicht grundsätzlich angezweifelt – diesem Bereich (man könnte auch sagen: diesen Diskursen) wird sogar ein höheres Maß an Präzision und Genauigkeit und damit auch Sicherheit der Erkenntnis zugesprochen. Doch sind dessen Grenzen sehr eng gezogen, so dass vieles von dem, was die genannten Autoren als wichtige oder gar wesentliche Aspekte menschlicher Welterschließung erachten, dort keine Berücksichtigung findet und aus sprachlichen Gründen auch nicht finden kann. Im szientistischphilosophischen Sprachgebrauch bleiben essenzielle Dimensionen von Mensch und Welt undarstellbar und unsagbar. Dichtung und poetischer Sprachgebrauch erscheinen im Vergleich dazu weniger präzise, genau und sicher, können dafür aber umfassender und weitreichender Wirklichkeit erfassen. In ihnen kann – etwa nach Vicos, Hamanns und Kants Einschätzung – selbst Transzendentes, empirisch nicht Fassbares eine Darstellung finden (vgl. zum Aspekt des Unbegreiflichen, Undarstellbaren und Unsagbaren Kap. IV.2.2). Sprachgebrauch in Dichtung und Poesie – poetische Sprache: Mit dem letztgenannten Aspekt ist bereits ein Merkmal genannt, das zur Differenzierung von poetischem und wissenschaftlich-philosophischem Sprachgebrauch dient. Als weiteres Charakteristikum genuin poetischer Sprache wurde (wie bereits bei Diderot) auch bei Rousseau und Herder die semiotische ‚Zweidimensionalität‘ genannt. Poetische Sprache hat Bedeutung und Sinn (Herder), entendement und sens (Rousseau). Dichtung und poetischer Sprachgebrauch haben hierdurch nicht nur weitere Grenzen als der rein begrifflich-propositionale Sprachgebrauch in den Wissenschaften und der logisch-rationalen Philosophie, sie sind auch in sich reicher. Metapher, Allegorie, poetisches Symbol, Klang, Rhythmus etc. stellen aufgrund ihrer Verwandtschaft zu den als ursprünglich rekonstruierten, frühen Sprachformen natürliche Sprachaspekte dar. Sie können nicht nur Verstand und Vernunft, sondern auch Einbildungskraft, Sinne und Gefühl direkt affizieren. Da Vico Wirklichkeit stets als anthropomorphisierende ‚Hineindichtung‘ und somit als Produkt menschlicher Hervorbringung begreift, stellt Dichtung noch vor Physik und Mathematik hinsichtlich des verum-certum-
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Kriteriums die zuverlässigere Form der Erkenntnis dar. Damit ist zumindest für Vico die poetische Sprache die ‚eigentliche Erkenntnissprache‘.
Resümee Für die diskursiven Formationen von Physik, Mathematik, logisch-rationaler Philosophie und Dichtung im 17. und 18. Jahrhundert ergeben sich wichtige Implikationen aus den dargestellten sprachtheoretischen Positionen. Zunächst ist erkennbar, dass alle untersuchten Ansätze einen Unterschied zwischen poetisch-dichterischem und begrifflich-propositionalem Sprachgebrauch und damit verbunden auch einen Unterschied zwischen Dichtung und Physik, Mathematik und Logik benennen und beschreiben. Einmal ist dabei der Aspekt Sprache das zentrale Kriterium einer diskursiven Grenzziehung, beispielsweise bei Rousseau, einmal ist sie sekundäres Kriterium, beispielsweise bei Smith und Kant. Als diskursive Differenz verstanden, erscheint damit der sprachliche Unterschied entweder als primäre Differenz auf der Ebene der Darstellungsformen oder als sekundäre Differenz, die aus einer Differenz auf der Ebene der Formationen (z.B. aus der Opposition ‚analytisch-synthetisch‘ bei Baumgarten und Sulzer) oder der Ebene der Gehalte folgt (z.B. im ontologisch defizitären Status von Fiktionen bei Locke und Berkeley). Der Unterschied wird in jeweils verschiedenen Facetten der Sprachtheorie sichtbar. Er zeigt sich in synchronen Überlegungen zu Funktionalität und Charakter des jeweiligen Sprachgebrauchs oder in diachronen Betrachtungen der Sprachentwicklung. Der Unterschied kann dabei als graduelle Differenz zwischen zwei Extrempolen (z.B. bei Condillac und Herder) oder als unüberbrückbare kategoriale Differenz (z.B. bei Rousseau, Herder) beschrieben werden. So erscheinen Physik, Mathematik, logisch-rationale Philosophie und Dichtung bisweilen als kategorisch getrennte Diskurse, bei Hamann wird Dichtung sogar Gegendiskurs zu den philosophisch-wissenschaftlichen Diskursen. Häufig wurde explizit oder implizit eine Wertung in der Konzeptionierung des sprachlichen Unterschieds erkennbar. Erscheint in den rationalistischen Ansätzen, die hauptsächlich erkenntnistheoretische Ziele verfolgen, die poetische Sprache aufgrund mangelnder Genauigkeit, Eindeutigkeit und Klarheit als defizitär, wird sie von empiristisch-sensualistischen Vertretern, die meist ohnehin eine gewisse Skepsis bezüglich der Leistungsfähigkeit von Sprache erkennen lassen, eher als eine mögliche Sprachform neben der begrifflich-propositionalen Sprache akzeptiert (Smith) oder gar gewürdigt (Condillac). Weniger an wissenschaftlicher Erkenntnis orientierte Ansätze wie die von Vico und HaDOI 10.1515/9783110464252-013, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
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mann sehen in dem rational-wissenschaftlichen Sprachgebrauch sogar eine regressiv-defizitäre Sprachform. Wiederum kann die Bewertung des sprachlichen Unterschieds als diskursive Hierarchisierung begriffen werden, die dann in Form einer diskursiven Unterordnung (Berkeley, Hume), einer diskursiven Gleichsetzung (Baumgarten, Meier, Condillac, Diderot) oder einer diskursiven Überordnung (Vico, Hamann) der Dichtung hinsichtlich der wissenschaftlichphilosophischen Diskurse erscheint.
| Teil III: Diskursive Formationen von Physik, Mathematik und Logik
Hinführung Über dem Portal des Observatoriums von Camille Flammarion in Juvisy steht: Ad veritatem per scientiam. Man würde das heute kaum über das Portal einer Universität oder wissenschaftlichen Institution setzen. Weshalb nicht? Offenbar setzt das Wort voraus, daß die Wahrheit, zu der zu gelangen ist, nicht identisch ist mit der Wissenschaft, durch die zu ihr zu gelangen sei. Da ist eine Differenz, hinsichtlich derer unsere Erwartungen außerordentlich vage und ungenau, trotz aller Präzisierungen in der wissenschaftlichen Welt beinahe konfus zu nennen sind. Mit anderen Worten: Wir wissen nicht mehr genau, weshalb wir das ganze gewaltige Unternehmen der Wissenschaft – unabhängig von all den Leistungen, die sie für die Lebensfähigkeit unserer Welt erbringt und die sie für diese unentbehrlich machen – überhaupt unternommen haben. Es ist jene Wahrheit offenbar etwas, was in der Sprache der Wissenschaft selbst, durch die sie erreichbar sein soll, nicht mehr ausgesagt werden kann und wohl auch niemals ausgesagt worden ist.1 Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer
In den Untersuchungen des vorigen Kapitels zeigte sich in den verschiedenen sprachtheoretischen Ansätzen und Positionen die Auffassung, dass Physik, Mathematik, Logik und Dichtung hinsichtlich ihres Sprachgebrauchs bzw. ihrer Sprachform deutlich unterscheidbar sind. In den untersuchten Texten wurden meist eher allgemeine Charakterisierungen wie Präzision, Genauigkeit, Eindeutigkeit, Definition, Künstlichkeit einerseits und andererseits Lebendigkeit, Bildlichkeit, Natürlichkeit, Unmittelbarkeit als Kriterien der Unterscheidung genannt. Ziel dieses Kapitels ist es, näher zu untersuchen, von welchen Sprachformen und Sprachpraktiken konkret die poetische Sprache abgegrenzt und worin der Unterschied beider Diskursbereiche auf wissenschaftlich-philosophischer Seite ausgemacht wurde. Die Sprachthematik sowie ihre diskursspezifische Form und Funktion erschließen sich erst, wenn sie im Kontext von Methodik und wissenschaftstheoretischer Reflektion betrachtet werden. Deswegen sollen mit Mathematisierung, Formalisierung und Symbolisierung je drei thematische Schwerpunkte in den drei Disziplinen Mathematik (speziell Algebra), Physik (speziell Mechanik) und Logik betrachtet werden, denen eine paradigmatische Funktion im diskursiven Ausdifferenzierungsprozess des 18. Jahrhunderts zukommt. Bereits mit Beginn der Frühen Neuzeit avancierte die Mathematik hinsichtlich ihrer logisch-deduktiven Sicherheit, axiomatischen Systematik und sprachlich-symbolischen Präzision zum Leitstern für Philosophie und Naturforschung. Entscheidend war hier nicht nur der aus der Antike übernomme-
|| 1 Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979. S. 82. DOI 10.1515/9783110464252-014, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
166 | Hinführung
ne Gedanke der Axiomatik, sondern auch die relativ junge Entwicklung des operativen Symbolismus und die durch sie ermöglichte Kalkülisierung. Das neuzeitliche Verständnis systematisch-gesicherter Erkenntnis entwickelt sich u.a. anhand des Maßstabs, den die Mathematik in diesen drei Aspekten erreicht hatte und der auch für die sprachliche Darstellung in Physik und Philosophie angestrebt wurde. Die Physik selbst durchlief seit Beginn der Frühen Neuzeit eine revolutionäre Entwicklung, die durch neue Modellierungen empirischer Erkenntnis gezeichnet war. Der Erfolg der neuzeitlichen Physik in den folgenden Jahrhunderten beruhte u.a. auf der Idee der Mathematisierung dieser Erkenntnisse sowie dem metrifizierten bzw. quantifizierten Experiment. Wie Brigitte Falkenburg konstatiert, war diese Mathematisierung von Anbeginn auch mit einer eigenen Sprachauffassung verbunden: Den Beginn der neuzeitlichen Physik markiert eine einheitliche formale Sprach- und Theorieauffassung, die paradigmatisch für die neuzeitliche Physik wurde: nach Galilei ist das Buch der Natur in mathematischen Lettern geschrieben. Die Sprache der Mathematiker ermöglicht in der Naturbeschreibung eine Präzision und Systematizität, die der Exaktheit der durch Galilei begründeten experimentellen Methode korrespondiert. Diese soll umgekehrt sicherstellen, daß es Phänomenklassen gibt, auf denen sich mathematische Strukturen identifizieren lassen. Mathematisierung bzw. Formalisierung führten bei Descartes zu dem Programm einer Universalwissenschaft (mathesis universalis), bei Leibniz darüber hinaus zu dem der symbolischen Kodierung aller Erkenntnis, die jede schlüssige Argumentation mit kombinatorischen Mitteln berechenbar machen sollte und die ein Vorläufer der modernen symbolischen Logik war (ars characteristica). Newton übertrug die axiomatische Methode von Euklids Geometrie auf den Aufbau der Mechanik als mathematischer Naturwissenschaft par excellence.2
Diese am Vorbild der Mathematik ausgerichtete Sprach- und Theorieauffassung hielt sich bis weit ins 19. Jahrhundert hinein und soll in wesentlichen Zügen in Kapitel III.1 thematisiert werden. Die Sprache der Mathematik stellte aber auch das Leitbild der neuzeitlichen Rationalität per se dar. Ihre Präzision und ihre Exaktheit sollten in Methodik (Axiomatik), Formalisierung (Kalkülisierung) und Notation (Symbolismus) die Blaupause für alle Bereiche wissenschaftlicher und damit gesicherter Erkenntnis werden. Sowohl Descartes’ mathesis universalis als auch Leibniz’ ars characteristica waren letztlich erfolglose Versuche der Übertragung und dennoch stellt gerade Leibniz’ Entwurf eines universellen, formali-
|| 2 Brigitte Falkenburg: Das Verhältnis von formalen Sprachen und verbalen Fachsprachen in den neueren Naturwissenschaften. In: Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. HSK Bd. 14.1. Hrsg. von Lothar Hoffmann, Hartwig Kalverkämper und Herbert Wiegand. Berlin, New York: De Gruyter, 1998. S. 910–921; S. 910.
Symbolisierung und Formalisierung der Physik | 167
sierten und symbolisierten Bezeichnungssystems einen wichtigen Schritt für die Entwicklung der formalen Logik dar (vgl. Kap. III.2). Viele Aspekte seines Entwurfs wurden zwar erst im 19. Jahrhundert realisiert (vgl. Kap. III.3), waren aber bereits zuvor Gegenstände philosophischer Diskussionen. Die Jahrzehnte zwischen dem späten 18. und dem frühen 19. Jahrhundert gelten, folgt man Niklas Luhmann, als Zeitraum der modernen funktionalen Ausdifferenzierung. Möchte man den Anteil, den die Physik, Mathematik und Logik an diesem Prozess der Ausdifferenzierung hatten, genauer verstehen, genügt es jedoch nicht, nur das 18. Jahrhundert zu betrachten. Silvio Vietta sieht den Ursprung vieler Modernisierungsprozesse bereits in der Neuzeit angelegt: „Am Anfang der Modernisierungskette steht die Wissenschaftsrevolution der Neuzeit. Sie bildet […] den ‚Start‘ für eine Kettenreaktion folgender Systemrevolutionen.“3 Dieser Feststellung wird im Folgenden Rechnung getragen, indem auch Entwicklungen des 17. Jahrhunderts berücksichtigt werden. Da diese teilweise auf Fluchtpunkte jenseits der Epochenschwelle um 1800 zulaufen, werden vereinzelt auch Entwicklungslinien des 19. Jahrhunderts skizziert. In einem letzten Schritt (Kap. III.4) soll in der Zusammenführung der Ergebnisse eine Charakteristik der neuzeitlichen Rationalität bzw. neuzeitlicher Rationalitätskonzeptionen vorgenommen werden. Hierbei ist eine durch die zuvor untersuchten Entwicklungen bedingte „Monopolisierung des Rationalitäts-Begriffs durch die neuzeitlichen Wissenschaften“4 zu beobachten. Im Begriff der neuzeitlichen Rationalität kristallisieren die unterschiedlichsten Facetten der diskursiven Ausgliederung von poetisch-rhetorischer Sprache und dem Sprachgebrauch in Physik, Mathematik und Logik.
1 Mathematisierung der Physik 1.1 Symbolisierung und Formalisierung der Physik Mit Brigitte Falkenburg kann der Begriff ‚Formalisierung‘ hinsichtlich physikalischer Theorien bestimmt werden als die Übersetzung der klassifikatorischen Begriffe und der Gesetzesaussagen einer Theorie in ein Kalkül, d.h. in ein Symbolsystem, in dem man nach bestimmten Ableitungsregeln
|| 3 Silvio Vietta: Ästhetik der Moderne. Literatur und Bild. München: Fink, 2001. S. 50. 4 Martin Gessmann: Rationalität. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding und Gregor Kalivoda. Darmstadt: WBG, 2005. S. 604–621; S. 608. DOI 10.1515/9783110464252-015, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
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Aussagen aus anderen Aussagen gewinnen kann. Die meisten Kalküle beruhen auf Logik und Mathematik [...].5
Was Falkenburg als ‚Übersetzung‘ physikalischer Theorien bezeichnet, beinhaltet genaugenommen zwei Verfahren. Zum einen ist das die Formalisierung oder auch Kalkülisierung, zum andern die Symbolisierung also die Verwendung künstlicher Symbole. ‚Kalkül‘ (franz. calcul, von lat. calculus ‚Rechenstein‘, ‚Spielstein‘) wird ein „Verfahren der Herstellung von Figuren aus Grundfiguren nach bestimmten Vorschriften, den Grundregeln“6 genannt, es handelt sich um ein System expliziter Regeln zur Formung und Umformung sprachlicher Zeichen und Ausdrücke. Zu den Kalkülen können explizierte Rechenverfahren der Mathematik ebenso gezählt werden, wie Systeme, die grammatisch korrekte Ausdrücke in der Linguistik regeln.7 ‚Symbolisierung‘ bezeichnet die Verwendung künstlich eingeführter Zeichen anstelle von verbalsprachlichen Wörtern und Ausdrücken. Beispiele sind die logographischen Zeichen der Arithmetik und Algebra (1,2,3…, +, –, √1 usw.) oder auch der Logik (∈, , ∀ usw.). Symbolisierung und Formalisierung sind unabhängige Verfahren, denn „man kann auch eine Wortsprache formalisieren […] [f]erner kann man auch die Sprache teilweise oder ganz symbolisieren, ohne zu formalisieren, d.h. ohne syntaktische Umformungsregeln anzugeben“8. Wenn im Folgenden die Formulierung ‚Mathematisierung der Physik‘ gebraucht wird, werden damit hauptsächlich die beiden Aspekte Formalisierung und Symbolisierung bezeichnet (ein dritter Aspekt, der in Kapitel III.1.2 dargestellt wird, ist die Axiomatisierung). Voraussetzung einer gelingenden Formalisierung der Physik ist, dass eine Metrisierung der zu untersuchenden Phänomene möglich ist, d.h. dass die beobachteten Phänomene in Größen übersetzt werden können. Für ein zu untersuchendes Phänomen bedarf es einer Messvorschrift, es muss also eine Anleitung gegeben werden, wie eine Beobachtung mittels eines Verfahrens und einer Messskala als Zahlenwert einer gewissen Einheit erfasst werden kann. Um beispielsweise die Temperatur einer Flüssigkeit als Zahlenwert zu erfassen, bedarf es einer Messvorschrift (Thermometer und dessen Anwendung) und einer Skala (z.B. nach Celsius oder Kelvin). Die metrischen Begriffe können so in mathematischer Symbolik dargestellt, kalkülisiert und in Berechnungen integriert wer|| 5 Brigitte Falkenburg: Das Verhältnis von formalen Sprachen. S. 911. 6 Kuno Lorenz: Kalkül. In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 4. Hrsg. von Jürgen Mittelstraß. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2010. S. 137–138; S. 137. 7 Vgl. Kuno Lorenz: Kalkül. S. 137f. 8 Rudolf Carnap: Einführung in die symbolische Logik mit besonderer Berücksichtigung ihrer Anwendungen. Wien: Springer, 1954. S. 148.
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den. Die Ergebnisse einer Berechnung können anschließend ‚rückübersetzt‘, also inhaltlich interpretiert werden. Die physikalische Theorie legt fest, was die mathematischen Symbole im jeweiligen Kontext bedeuten. Soweit eine naturwissenschaftliche Sprache formalisiert ist, sollen ihre formalen Elemente (d.h. die Elemente ihrer Syntax) die Struktur einer theoretischen Beschreibung festlegen, etwa in Form einer Differentialgleichung; ihre informellen Elemente dagegen, d.h. physikalische Begriffe wie Masse und Kraft, legen die Bedeutung und Referenz der formalen Symbole fest (Semantik). Um zur Phänomenbeschreibung verwendbar zu sein, müssen die Symbole einer formalen Sprache interpretiert werden. Die Interpretation der formalen Elemente einer naturwissenschaftlichen Theorie erfolgt mittels verbaler Fachausdrücke, deren Gebrauch teils auf Vortheorien beruht, teils in die natürliche Sprache eingebettet ist und deren Bedeutung i. a. auf einem komplexen Zusammenspiel von pragmatischen, empirischen und formalen Komponenten beruht […].9
Um eine gelingende Übersetzung bzw. Interpretation zu gewährleisten, muss die Beobachtung von Naturerscheinungen „experimentell standardisiert werden, damit sie zu Phänomenklassen zusammenfaßbar sind, die sich durch Logik und Mathematik beschreiben lassen“10. Die einzelnen Phänomene werden unter Laborbedingungen isoliert, regularisiert und reproduzierbar gemacht. Wie Falkenburg betont, hat diese Quantifizierung des Qualitativen gravierende erkenntnistheoretische Nachteile: Der Preis […] sind Abstraktion (Absehen von den Sinnesqualitäten der Dinge und Behandlung individueller Phänomene als gleichartig) und Idealisierung (Vernachlässigung derjenigen Struktureigenschaften, die unter Laborbedingungen und mittels der spezifisch vorgenommenen Abstraktionen nicht erfaßt werden können).11
1.2 Axiomatisierung der Physik Neben Formalisierung und Symbolisierung ist die Axiomatisierung der dritte zentrale Aspekt der Mathematisierung der Physik. Als modellhaftes Vorbild eines Axiomensystems galten bis ins 19. Jahrhundert hinein Euklids Elemente (ca. 300 v. Chr.). Die Grundidee der von Platon geforderten axiomatisch-deduktiven Methode ist die Darstellung einer Theorie in der Weise, dass die potenziell unendliche Menge an theoretischen Sätzen, die Theoreme, aus einer endlichen Menge von elementaren Grundsätzen, den Axiomen, deduktiv gewonnen wer|| 9 Brigitte Falkenburg: Das Verhältnis von formalen Sprachen. S. 911. 10 Brigitte Falkenburg: Das Verhältnis von formalen Sprachen. S. 912. 11 Brigitte Falkenburg: Das Verhältnis von formalen Sprachen. S. 912.
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den kann. Das altgriechische Wort ‚ἀξιώματα‘ lässt sich am besten mit ‚würdige‘ bzw. ‚anerkannte Sätze‘ wiedergeben.12 Im mathematischen Kontext bezeichnet das Wort ‚Axiom‘ etwas spezieller einen unmittelbar erkennbaren, elementaren Grundsatz, der ohne weiteren Beweis gültig ist. Formuliert werden die mathematischen Axiome mit Grundbegriffen, die nach klassischer Auffassung deskriptiv inhaltlich definiert werden, während sie in der modernen Axiomatik undefiniert festgesetzt bzw. gefordert werden.13 Die axiomatische Methode hatte bei Euklid zunächst eine ordnende Funktion. Das System sollte alle bekannten Sätze auf Axiome zurückführen und eine kohärente Ordnung des mathematischen Wissensbestandes ermöglichen. Der Methode kam aber auch eine erkenntnisökonomische Funktion zu. Wird ein neuer Satz aufgestellt, muss dessen Wahrheit nicht langwierig in allen Aspekten bewiesen werden. Es genügt, ihn aus einem bereits bewiesenen Theorem abzuleiten und so indirekt als wahr zu erweisen. Das ist ein großer Vorteil, denn während Axiome unmittelbar, d.h. ohne Erklärung oder Beweis, als wahr erkannt werden können, ist das bei komplexeren Sätzen nicht der Fall (z.B. ist der Satz ‚die Winkelsumme in einem Dreieck beträgt stets 180°‘ nicht unmittelbar evident). Wenn aber gezeigt werden kann, dass sich ein Satz aus bereits als wahr bewiesenen Theoremen ableiten lässt, so muss er wahr sein, denn aus Wahrem folgt nicht Falsches. Damit beim Ableiten keine Fehler entstehen, muss ferner sichergestellt werden, dass die Methoden der Ableitung korrekt sind. Nicht zuletzt die Sophistik zeigte, dass geschickte Redner aus allgemein anerkannten Grundsätzen unzuverlässige Sätze gewinnen können. Gerade für die Mathematik sollte das ausgeschlossen werden (vgl. Kap III.2.4). Die Axiomatik nach Euklids Vorbild avancierte in der Frühen Neuzeit zu dem Paradigma gesicherter Erkenntnis und damit zum Inbegriff von Wissenschaftlichkeit. Mit ihr sollten die mathematische Ordnung, Ökonomie und Gewissheit auf die Naturforschung übertragen werden. Als mos geometricus wurde die axiomatische Methode auch zum Vorbild philosophischen Argumentierens, beispielsweise für Spinoza (1632–1677), der seine Ethik bezeichnenderweise Ethica. Ordine geometrico demonstrata (1677) nennt.
|| 12 Das Wort ‚ἀξιώματα‘ kann wörtlich mit ‚Geltung‘, ‚Forderung‘ oder ‚Anspruch‘ übersetzt werden. 13 Beispiele derartiger Grundbegriffe sind ‚Punkt‘ definiert als das, „was keine Teile hat“, oder ‚Linie‘ definiert als „breitenlose Länge“. Axiome bei Euklid sind beispielsweise „Was demselben gleich ist, ist auch einander gleich“, „Wenn Gleichem Gleiches hinzugefügt wird, sind die Ganzen Gleich.“ Euklid: Die Elemente. Buch I–XIII. Übers. und hrsg. von Clemens Thaer. Darmstadt: WBG, 1962 [1883/1888]. S. 1 und S. 3.
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Die Mathematisierung ist einer von zwei wesentlichen Aspekten der naturwissenschaftlichen Revolution zu Beginn der Neuzeit. Deutlich wird dies, wenn man sich vergegenwärtigt, dass beispielsweise die Mechanik in der Antike lediglich den Status „einer naturwidrigen ,Überlistungskunst‘“14 hatte und hauptsächlich nach dem trial-and-error-Prinzip technische Gerätschaften hervorbrachte. Zu einer „naturoffenbarenden Wissenschaft“15 bedurfte es neben der Mathematisierung auch einer neuen Grundlage der Gewinnung empirischen Wissens, also des Prinzips der Induktion, sowie eines ganz neuen Verständnisses vom Wesen der Natur. Erst die Annahme, die Natur sei nach mathematischen Gesetzen eingerichtet, ermöglichte eine umfängliche Mathematisierung der Naturerforschung, erst unter dieser Prämisse konnte Physik zur Wissenschaft werden.16 In Galileis Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme (1632) wird die enge Bindung von Physik und Mathematik deutlich: „Man muss es nur gestehen, wer naturwissenschaftliche Fragen ohne Hilfe der Geometrie behandeln will, unternimmt etwas Unausführbares.“17 Die Mathematik eröffne, so fährt Galilei fort, jene Kenntnis der Wirklichkeit, die ansonsten nur Gott in unmittelbarer Anschauung gegeben sei: Um mich […] besser auszudrücken, so erkläre ich, daß zwar die Wahrheit, deren Erkenntnis durch die mathematischen Beweise vermittelt wird, dieselbe ist, welche die göttliche Weisheit erkennt: allerdings aber will ich Euch zugeben, daß die Art und Weise, wie Gott die zahllosen Wahrheiten erkennt, von denen wir nur einige wenige kennen, hoch erhaben über unsere Weise ist. Wir gehen mittels schrittweiser Erörterung weiter von Schluß zu Schluß, während er durch bloße Anschauung begreift.18
Wo Gott alle Wahrheiten unmittelbar schaue, könne sich das menschliche Erkennen nur auf einige wenige Axiome in ähnlicher Weise stützen. Die axiomatische Methode erlaube es jedoch, aus diesem geringen Grundbestand alle anderen Wahrheiten, die nicht evident seien, abzuleiten. Dennoch weiß auch Galilei, dass bei der empirischen Naturforschung keinesfalls die mathematische Wahrheit unmittelbar erkannt wird. Hier steht der Mensch vor der Herausforderung, dass immer wieder Beobachtungen der mathematisch-deduktiven Wahrheit || 14 Helmut Pulte: Axiomatik und Empirie. Eine wissenschaftstheoriegeschichtliche Untersuchung zur mathematischen Naturphilosophie von Newton bis Neumann. Darmstadt: WBG, 2005. S. 11. 15 Helmut Pulte: Axiomatik und Empirie. S. 11. 16 Vgl. Helmut Pulte: Axiomatik und Empirie. S. 11. 17 Galileo Galilei: Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme, das Ptolemäische und das Kopernikanische. [Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo, 1632]. Hrsg. von Roman Sexl. Stuttgart: Teubner, 1982 [1891]. S. 215. 18 Galileo Galilei: Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme. S. 108f.
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zuwider laufen; axiomatisch-deduktive Erkenntnis kann empirisch-induktiver Erkenntnis widersprechen. Für den Forscher stellt sich in solchen Fällen die Frage, ob das axiomatische System oder die Beobachtung revidiert werden muss. Galilei entschied sich für die Gewissheit der Mathematik, denn es ist die „Unvollkommenheit der Materie, die ja allerdings die schärfsten mathematischen Beweise zu Schanden machen kann […]“19. Nach Galilei resultieren Widersprüche der genannten Art aus der Differenz zwischen idealer Mathematik und unvollkommener Natur – bisweilen auch aus einer unvollkommenen Naturbeobachtung. Deswegen muss seiner Einschätzung nach der Forscher von „aller Unvollkommenheit absehen, und […] die Materie als ideal vollkommen annehmen […]“20. Francis Bacon dagegen misstraut eher der Mathematik.21 Er fordert stets eine induktive Modifikation des Axiomensystems, „[d]enn die Auffindung der Prinzipien und wichtigen Lehrsätze, auf denen die Künste beruhen, ist nicht Sache der Dialektik [...]“22. Die Sätze der Beobachtung hält Bacon für sicherer, als alle stimmigen Theoreme und Definitionen. Letztlich sollte sich Galileis Position durchsetzen: Wie er entwirft auch Descartes die Naturforschung primär als mathematisch-quantifizierendes Unterfangen: Ich lasse in der Physik keine anderen Prinzipien gelten als solche, die der Geometrie oder der reinen Erkenntnis (Mathesis abstracta) entnommen sind, und wünsche das auch nicht, weil ich auf diese Weise alle Naturphänomene erklären und sie durch sichere Beweise bestätigt werden können.23
|| 19 Galileo Galilei: Unterredungen und mathematische Demonstrationen über zwei neue Wissenszweige, die Mechanik und die Fallgesetze betreffend. Erster bis sechster Tag. [Discorsi e dimostrazioni matematiche, intorno a due nove scienze, 1638]. Übers. und hrsg. von Arthur von Oettingen. Frankfurt a. M.: Thun, 1995 [1890]. S. 4. 20 Galileo Galilei: Unterredungen und mathematische Demonstrationen. S. 4. 21 „Eine reine Naturphilosophie findet man bisher nicht, sie ist angesteckt und verdorben: in der Schule des Aristoteles durch die Logik, in der Schule Platons durch die natürliche Theologie, in der zweiten Schule Platons, des Proklos und anderer, durch die Mathematik, diese soll die Naturphilosophie eingrenzen, nicht aber befruchten und schöpferisch gestalten. Von einer reinen und unvermengten Naturphilosophie ist Besseres zu erwarten.“ Francis Bacon: Neues Organon. [Novum organum scientiarum, 1620]. Übers. und hrsg. von Wolfgang Krohn. Hamburg: Meiner, 1999. S. 211. 22 Francis Bacon: Neues Organon. S. 177. 23 René Descartes: Die Prinzipien der Philosophie. [Principia Philosophiae, 1644]. Übers. und hrsg. von Christian Wohlers. Hamburg: Meiner, 2005. S. 173f.
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Folglich wurde fehlende Exaktheit eher zu einem Problem der Beobachtung gemacht als zu einem der Theorie.24 Helmut Pulte benennt drei grundlegende Funktionen, die der Mathematik im Kontext der klassisch-mathematischen Naturwissenschaft der Frühen Neuzeit zukamen25: Erstens ermöglichte die Mathematik die quantitative Erfassung und Quantifizierung der beobachteten Gegenstände, zweitens ermöglichte sie die Auffindung und Begründung von Naturgesetzen als Axiome bzw. Prinzipien und drittens ermöglichte sie die Ableitungssicherheit von Gesetzen und damit den Aufbau eines deduktiven Theoriesystems. Aufgrund der ersten Funktion sollte die Sprache der Mathematik zur idealen Sprache der Welterschließung erhoben werden. Nur sie machte die axiomatische Darstellung möglich, wodurch, so Pulte weiter, ein „Evidenztransport“ aus der Mathematik in die Physik vollzogen wurde: Die Prinzipien der KMN [der klassischen mathematischen Naturphilosophie] sind zuerst und vor allem weder normalsprachlich formulierte, empirisch gehaltvolle Aussagen noch metaphysische Festsetzungen, sondern mathematisch formulierte Sätze. […]. Als Prinzipien (oder ,Axiome‘) sind sie allgemein, evident und notwendig. […] Evidenz kommt mathematischen Naturgesetzen in den frühen Programmen (damit meine ich etwa die Zeit von Galilei bis zu Euler und d’Alembert, d.h. etwa bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts) der KMN bereits aufgrund ihrer besonderen mathematischen Darstellungsform zu. […]. Da mathematische Erkenntnis stets als höchstes Evidenzideal fungiert, findet mit der Formulierung mathematischer Naturgesetze ein – oft wenig reflektierter – ,Evidenztransport‘ in die Naturphilosophie statt.26
Dieser Evidenztransport war nötig, da beispielsweise die mechanischen Axiome und Grundbegriffe bei weitem nicht von gleicher Evidenz und Anschaulichkeit waren wie die Axiome und Grundbegriffe der euklidischen Geometrie. So widerspricht gerade Newtons erstes Gesetz (lex prima), also das sog. Trägheitsprinzip, der intuitiv-evidenten Alltagserfahrung, nach der die gleichförmig konstante Bewegung eines Gegenstandes vermeintlich der permanenten Zufuhr von Energie bedarf. Neben der Evidenz garantierte die mathematische Darstellbarkeit auch die Allgemeinheit von Naturgesetzen. Ein durch Beobachtung von endlich vielen Objekten induktiv gewonnenes Naturgesetz wurde dann als allgemeingültig anerkannt, wenn es sich mathematisch formulieren ließ: Wenn zwischen den durch Beobachtung gewonnenen Daten eine hinreichend einfache mathematische Beziehung erkannt und formuliert werden konnte, handelte es sich || 24 Vgl. Helmut Pulte: Axiomatik und Empirie. S. 58. 25 Die folgenden Ausführungen fußen auf den Überlegungen von Helmut Pulte: Axiomatik und Empirie. S. 44–53. 26 Helmut Pulte: Axiomatik und Empirie. S. 46.
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folglich um eine gesetzmäßige Relation. Und schließlich diente die Mathematik meist auch dazu, neben Evidenz und Allgemeinheit die Notwendigkeit der aufgestellten Grundgesetze bzw. Axiome zu erweisen, d.h. es wurde ein Begründungszusammenhang aufgewiesen, in dem das formulierte Gesetz mit mathematischen Mitteln als einzig adäquates Gesetz erwiesen wurde.27 Der Grundgedanke des Evidenztransports war also relativ einfach: Man gestaltet die Physik ebenso axiomatisch wie die Geometrie und erhält ebenso sichere Erkenntnisse. Die Problematik dieses Schlusses wurde lange Zeit ignoriert.28 Die Evidenz der mechanischen Axiome wurde selbst dann noch nicht ernsthaft hinterfragt, als zentrale Grundbegriffe wie z.B. ‚Kraft‘ in der Auseinandersetzung zwischen Cartesianern und Newtonianern zunehmend problematisiert wurden. Nachdem keine Realdefinition des Begriffs ‚Kraft‘ gegeben werden konnte, war der Kompromiss eine nominalistische Deutung: Mathematiker wie Maupertuis und d’Alembert forderten, Kräfte nicht als Erklärungsentitäten aufzufassen […] und den Begriff ,Kraft‘ lediglich als Abkürzung für die jeweils festgestellte Bewegungsänderung zu gebrauchen. Newtons zweites Bewegungsgesetz wird bei ihnen zu einer bloßen Nominaldefinition. […]. Die erkenntniskritische […] Kraftdiskussion bleibt sozusagen an der Oberfläche; sie führt nicht zu einer grundsätzlichen Infragestellung der Allgemeinheit, Sicherheit und der (zumindest von Mathematikern wie Euler und d’Alembert geforderten) Notwendigkeit mechanischer Grundgesetze.29
Wurden also zunächst alle erkenntnistheoretischen und ontologischen Einwände übergangen, um den mathematischen Charakter der Mechanik und damit ihre mathematische Evidenz zu bewahren, sollte sich durch die rasanten Entwicklungen der Mechanik im 18. Jahrhundert bald die Unmöglichkeit eines Festhaltens am Ideal der klassischen Axiomatik zeigen. Waren bereits Newtons Grundbegriffe und Grundgesetze nicht evident, so wurden Sätze jetzt mit den völlig unanschaulichen Mitteln der Differential- und Integralrechnung gewonnen (z.B. das differentielle Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten). Die Axiomatik wurde so zwar an den Methoden und Erkenntnissen des 18. Jahrhunderts neu ausgerichtet, sie erlitt dadurch aber einen fundamentalen Verlust an Anschaulichkeit.30 Das Axiomensystem wurde, wie Pulte konstatiert, gewissermaßen semantisch ausgehöhlt, so
|| 27 Vgl. Helmut Pulte: Axiomatik und Empirie. S. 50. 28 Vgl. Helmut Pulte: Axiomatik und Empirie. S. 46. 29 Helmut Pulte: Axiomatik und Empirie. S. 147. und S. 148. 30 Vgl. Helmut Pulte: Axiomatik und Empirie. S. 193.
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daß die verwendeten Basiskonzeptionen (Aktion, Moment) auf keine erkennbare Art und Weise ontologische Gegebenheiten und kausale Relationen der Natur repräsentieren. […]. Fundamentalismus und Axiomatisierungsverständnis […] werden insofern problematisch, als die Wahrheit der verwendeten analytischen Prinzipien zwar unterstellt, aber nicht einsichtig gemacht wird und diese Prinzipien selber nicht argumentativ begründet werden.31
Folglich entfiel auch die durch Intuition und Evidenz gesicherte Fundierung der Axiome, so dass die Mechanik wie „ein eindrucksvolles ,architektonisches‘ Bauwerk […] ohne Fundament“32 gleichsam in der Luft schwebte. Beibehalten wurde natürlich der deduktive Charakter des axiomatischen Aufbaus, wobei der Ableitungssicherheit durch den Wegfall der Systemfundierung nur mehr eine ordnende Funktion zukam. Diese Entwicklung hätte, so ist zu vermuten, wissenschaftstheoretische Konsequenzen haben können, etwa in Form einer Abkehr von traditionell essentialistischen hin zu konventionalistischen oder instrumentalistischen Interpretationen der Axiomatik. Derartige Umwälzungen blieben bemerkenswerterweise aber aus. Helmut Pulte erklärt das, indem er die Lage der axiomatisierten Mechanik im ausgehenden 18. Jahrhundert als eine uneingestandene, verdrängte Krise beschreibt: [D]er mechanische Euklidianismus [gerät] am Jahrhundertende in eine Krise […], der er sich allerdings nicht bewußt ist und nicht bewußt sein kann, weil er seine zentrale Voraussetzung – Mechanik als Mathematik – nicht problematisiert, sondern perpetuiert und sogar weiter zementiert.33
Problematisch erscheint das unerkannte Begründungsdilemma retrospektiv deswegen, weil „nichts weniger als der klassische Wissenschaftsbegriff, […] auf dem Spiel steht, und es ist dieser traditionelle Wissenschaftsbegriff, der eine formal gewordene Axiomatisierung […] als ,natürlich per Tradition‘ stützt“34 und stützen muss. Ihrer evident-ontologischen Fundierung beraubt lag die Sicherheit der axiomatisierten Mechanik einzig und allein in ihrer Mathematizität begründet. Da die Mechanik als Teil der Mathematik begriffen und die ontologische Fundierung der Mathematik ihrerseits für unerschütterlich gehalten wurde, verließ man sich blind darauf, dass es – wie in allen Teildisziplinen der Mathematik – auch hier einen ontologischen Realitätsbezug geben musste. Bei genauer Betrachtung entpuppt sich das als ein tautologischer „Glaube an die
|| 31 Helmut Pulte: Axiomatik und Empirie. S. 203. 32 Helmut Pulte: Axiomatik und Empirie. S. 281. 33 Helmut Pulte: Axiomatik und Empirie. S. 197. 34 Helmut Pulte: Axiomatik und Empirie. S. 282f.
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intrinsische mathematische Struktur der Natur“35, der, sobald im 19. Jahrhundert die ontologische Fundierung der Mathematik radikal ins Wanken geriet, zum Teil sogar verabschiedet wurde (vgl. Kap. III.2.5). In diesem Sinne distanziert sich Ernst Mach (1838–1916) in Die Mechanik in ihrer Entwicklung (1897) vom Axiomatismus der vorhergegangenen Jahrhunderte: In der That führt diese Sucht zu beweisen in der Wissenschaft zu einer falschen und verkehrten Strenge. Einige Sätze werden für sicherer gehalten, und als die nothwendige und unanfechtbare Grundlage anderer angesehen, während ihnen nur der gleiche oder zuweilen sogar nur ein geringerer Grad der Sicherheit zukommt. […]. Auch die instinctiven Erkenntnisse sind Erfahrungserkenntnisse und können, wie dies schon berührt worden ist, bei plötzlicher Eröffnung eines neuen Erfahrungsgebietes sich als ganz unzureichend und ohnmächtig erweisen. […] Das wahre Verhältniss der verschiedenen Principien ist ein historisches. Eins reicht weiter auf diesem, ein anderes weiter auf jenem Gebiet.36
Es gäbe, so fährt Mach fort, keine Priorität empirischer Sätze nach der Art geometrischer Axiome. Die dem klassisch-axiomatischen Denken inhärente Sicherheit und ihr Certismus werden von Mach als ‚falsche Strenge‘ verabschiedet. Die euklidische Geometrie konnte, wie David Hilbert (1862–1943) feststellen sollte, nicht länger als Vorbild der Mechanik bzw. der Physik fungieren: „Die Euklidische Geometrie ist ein der modernen Physik fremdartiges Ferngesetz […].“37 Axiomatische Systeme wurden nicht mehr als Systeme zur direkten Repräsentation der Natur aufgefasst, sondern – wie David Hilbert, John von Neumann und Lothar Nordheim exemplarisch in Über die Grundlagen der Quantenmechanik (1926/28) ausführen – als ein zu interpretierendes relationales Gebilde, das nicht ontologisch in einem Phänomenbereich fundiert sein sollte.38 Der Grund-
|| 35 Helmut Pulte: Axiomatik und Empirie. S. 281. 36 Ernst Mach: Die Mechanik in ihrer Entwicklung historisch-kritisch dargestellt. Leipzig: Brockhaus, 1897. S. 78. 37 David Hilbert: Die Grundlagen der Physik. In: derselbe: Gesammelte Abhandlungen. Analysis. Grundlagen der Mathematik. Physik. Verschiedenes nebst einer Lebensgeschichte. Berlin: Springer, 1935. S. 258–289; S. 278. 38 „Der physikalische Grundgedanke der ganzen Theorie [gemeint ist die Quantenmechanik, M.I.] besteht darin, daß an Stelle von strengen funktionalen Beziehungen der gewöhnlichen Mechanik überall Wahrscheinlichkeitsrelationen treten. […] Der Weg, der nun zu dieser Theorie führt, ist folgender: Man stellt gewisse physikalische Forderungen an diese Wahrscheinlichkeiten, die durch unsere bisherigen Erfahrungen und Entwicklungen nahe gelegt sind, und deren Erfüllung gewisse Relationen zwischen den Wahrscheinlichkeiten erfordern. Dann sucht man zweitens einen einfachen analytischen Apparat, in dem Größen auftreten, die genau dieselben Relationen erfüllen. Dieser analytische Apparat, und damit die in ihm auftretenden Rechengrößen, erfahren nun auf Grund der physikalischen Forderungen eine physikalische Interpre-
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gedanke war vielmehr, dass zunächst die den beobachteten Phänomenen zugrundeliegenden Relationen analysiert und in die Sprache der Mathematik übersetzt werden sollten, d.h. es sollte „formal nach einer bestimmten Vorschrift jeder mechanischen Größe ein mathematisches Gebilde als Repräsentanten“39 zugeordnet werden. Anschließend müsse ein analytischer Apparat gesucht werden, der genau dieselben Relationen aufweise und innerhalb eines Axiomensystems zu beschreiben erlaube. Das Axiomensystem erhalte hierdurch eine physikalische Interpretation, so dass man aus deduktiv gefolgerten Aussagen über die mathematischen Repräsentanten im System mittels ‚Zurückübersetzung‘ Aussagen über wirkliche physikalische Dinge erhalte. Hilbert, Neumann und Nordheim ist die Trennung von Axiomensystem und dessen realweltlicher Interpretation sehr wichtig: „Es ist schwer, eine solche Theorie zu verstehen, wenn man diese beiden Dinge, den Formalismus und seine physikalische Interpretation, nicht scharf genug auseinanderhält.“40
1.3 Kritik der mathematisierten Physik Die klassisch-axiomatisierte und formalisierte Beschreibung der Natur setzte sowohl einen Schritt der Abstraktion als auch der Idealisierung voraus. Bereits Galilei schrieb: „Denn ich will von aller Unvollkommenheit absehen, und will die Materie als ideal vollkommen annehmen, und als unveränderlich.“41 Die unterschiedlichen Formen der Idealisierung und Quantifizierung, die bisweilen in einen strengen Reduktionismus führen sollten, wurden durchaus auch in-
|| tation. Das Ziel ist dabei, die physikalischen Forderungen so vollständig zu formulieren, daß der analytische Apparat gerade eindeutig festgelegt wird. Dieser Weg ist also der einer Axiomatisierung, wie sie z.B. in der Geometrie durchgeführt worden ist. Durch die Axiome werden die Relationen zwischen den geometrischen Gebilden, wie Punkt, Gerade, Ebene, beschrieben, und dann gezeigt, daß diese Relationen gerade ebenso bei einem analytischen Apparat, nämlich den linearen Gleichungen erfüllt sind. Dadurch kann man wieder umgekehrt aus den Eigenschaften der linearen Gleichungen geometrische Sätze gewinnen. Genau so ordnet man in der neuen Quantenmechanik formal nach einer bestimmten Vorschrift jeder mechanischen Größe ein mathematisches Gebilde als Repräsentanten zu, das zunächst eine reine Rechengröße ist, aus der man aber Aussagen über die Repräsentanten anderer Größen, und dann durch Zurückübersetzung Aussagen über wirkliche physikalische Dinge erhalten kann.“ David Hilbert, John von Neumann und Lothar Nordheim: Über die Grundlagen der Quantenmechanik. In: Mathematische Annalen 98 (1928). S. 1–30; S. 2. 39 David Hilbert u.a.: Über die Grundlagen der Quantenmechanik. S. 2. 40 David Hilbert u.a.: Über die Grundlagen der Quantenmechanik. S. 2. 41 Galileo Galilei: Unterredungen und mathematische Demonstrationen. S. 4.
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nerhalb der Physik kritisch betrachtet. Es gab Forscher wie Johann Wilhelm Ritter (1776–1810), die auf der qualitativ-philosophischen Interpretation der Naturbeobachtungen beharrten und die die induktiv-mathematischen Methoden ihrer Kollegen ablehnten. Alfred N. Whitehead bezeichnet dies als den das 19. Jahrhundert prägenden Konflikt zwischen ‚Mechanismus‘ und ‚Organismus‘: Ein wissenschaftlicher Realismus, der auf dem Mechanismus beruht, geht einher mit dem unerschütterlichen Glauben, daß die Welt der Menschen und höheren Tiere aus Organismen aufgebaut ist, die sich selbst bestimmen. Diese radikale Unvereinbarkeit an der Basis des modernen Denkens erklärt vieles, was in unserer Zivilisation halbherzig und unschlüssig ist […]. Um diese Zeit [1800–1825, M.I.] hatten die beiden Elemente im modernen Denken bereits ihre grundlegende Verschiedenheit offenbart, indem sie zu mißtönenden Interpretationen des Naturverlaufs und des menschlichen Lebens gelangten.42
Doch diejenigen, die eine Alternative zum empirisch-induktiven und mathematisch-formalisierten ‚Mechanismus‘ propagierten, sahen sich mit dem Fortschreiten des 19. Jahrhunderts zunehmend in die Rolle einer sich verteidigenden Randgruppe gedrängt. Die mathematisch-quantifizierte Physik sollte – anders als die um ein holistisches Weltbild bemühte Naturphilosophie – auf dem Weg ihrer technischen Anwendung eine für weite Teile der Bevölkerung sichtbare Legitimation erhalten. Die technische und industrielle Revolution mit ihren Dampfmaschinen und Hochöfen, mit ihren Elektromotoren und Telegraphen immunisierte offenbar den Empirismus bzw. Positivismus und damit auch die Mathematisierung der Physik gegen jeden Zweifel an deren wissenschaftstheoretischer Fundierung. Wenn auch die technischen Anwendungen an sich nicht ernsthaft infrage gestellt werden konnten, so monierten die Kritiker einer mathematisch-formalisierten Physik zumindest den Reduktionismus auf Quantitatives und die damit einhergehende Unverständlichkeit der Wissenschaft. Die hochkomplexen Beschreibungen, so beispielsweise Hamanns Kritik, referierten nicht mehr auf die Natur, sondern auf die idealisierten und abstrahierten Gebilde der Forscher. Natur und Mensch, Erleben und Erklären trete auseinander. Die Natur sei primär ein Sinnlich-Gegebenes, dem man mit Messungen und Zahlen nicht gerecht werde: „Die Natur würkt durch Sinne und Leidenschaften. Wer ihre Werkzeuge verstümmelt, wie mag der empfinden? […] Eure mordlügnerische Philosophie hat die Natur aus dem Wege geräumt […]?“43 Auch Johann
|| 42 Alfred N. Whitehead: Wissenschaft und moderne Welt. [Science and the Modern World, 1925]. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984. S. 94 –96. 43 Johann G. Hamann: Aesthetica in nuce. Eine Rhapsodie in kabbalistischer Prose. In: derselbe: Sämtliche Werke. Bd. 2. Hrsg. von Josef Nadler. Wien: Herder, 1951. S. 195–217; S. 205f.
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Wolfgang von Goethe kritisiert Abstraktion und Quantifizierung im Zeichen der Mathematik: Der Mathematiker ist angewiesen aufs Quantitative, auf alles was sich durch Zahl und Maß bestimmen läßt, und also gewissermaßen auf das äußerlich erkennbare Universum. Betrachten wir aber dieses, insofern uns Fähigkeit gegeben ist, mit vollem Geiste und aus allen Kräften, so erkennen wir, daß Quantität und Qualität als die zwei Pole des erscheinenden Daseins gelten müssen; daher denn auch der Mathematiker seine Formelsprache so hoch steigert, um, insofern es möglich, in der meßbaren und zählbaren Welt die unmeßbare mit zu begreifen. Nun erscheint ihm alles greifbar, faßlich und mechanisch, und er kommt in den Verdacht eines heimlichen Atheismus, indem er ja das Unmeßbarste, welches wir Gott nennen, zugleich mit zu erfassen glaubt und daher dessen besonderes oder vorzügliches Dasein aufzugeben scheint.44
Goethe, der keineswegs die Mathematik als Disziplin pauschal kritisiert, bekämpft jedoch eine alle Bereiche und Phänomene der Naturerforschung umgreifende Mathematisierung. Sein Skeptizismus, ausgelöst auch durch die harsche Kritik an seiner Farbenlehre (vgl. Kap. V.1), zielt meist auf eine vermeintliche Anmaßung seitens der Mathematiker: „Die Mathematiker sind wunderliche Leute; durch das Große, was sie leisteten, haben sie sich zur Universal-Gilde aufgeworfen und wollen nichts anerkennen, als was in ihren Kreis paßt, was ihr Organ behandeln kann.“45 Goethes teils polemische Äußerungen haben allerdings, wie Renatus Ziegler unterstreicht, auch einen wissenschaftstheoretischen Impetus, denn sie zielen auf eine ‚Entmathematisierung‘ der Naturforschung: „Er bekämpft nichts so sehr wie den Ausschließlichkeitsanspruch der angewandten Mathematik auf Gebieten, wo sie in seinen Augen nur eine periphere Bedeutung hat.“46 Seine Skepsis führt Goethe zu einer radikalen Trennung von Physik und Mathematik:
|| 44 Johann W. von Goethe: Ferneres über Mathematik und Mathematiker. In: derselbe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Leopoldina-Ausgabe. Abt. 1, Bd. 11. Hrsg. von Rupprecht Matthaei u.a. Weimar: Böhlau, 1970. S. 367–371; S. 367. 45 Johann W. von Goethe: Ferneres über Mathematik und Mathematiker. S. 370. Als Mathematiker bezeichnet Goethe nicht nur Personen, die ausschließlich reine Mathematik betreiben, sondern alle Forscher – auch Naturwissenschaftler – die sich mathematischer Begriffe und Verfahren bedienen. Vgl. Renatus Ziegler: Goethe und die Mathematik als Kulturfaktoren. Mathematisches Denken im Sinne von Goethe und Steiner als Grundlage der individuellen Autonomie des Menschen sowie des Ideenrealismus. In: Goethes Beitrag zur Erneuerung der Naturwissenschaften. Hrsg. von Peter Heusser. Bern: Haupt, 2000. S. 457–485; S. 460. 46 Renatus Ziegler: Goethe und die Mathematik als Kulturfaktoren. S. 465.
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Als getrennt muß sich darstellen: Physik von Mathematik. Jene muß in einer entschiedenen Unabhängigkeit bestehen und mit allen liebenden, verehrenden, frommen Kräften in die Natur und das heilige Leben derselben einzudringen suchen, ganz unbekümmert, was die Mathematik von ihrer Seite leistet und tut. Diese muß sich dagegen unabhängig von allem Äußern erklären, ihren eigenen großen Geistesgang gehen und sich selber reiner ausbilden, als es geschehen kann, wenn sie wie bisher sich mit dem Vorhandenen abgibt und diesem etwas abzugewinnen oder anzupassen trachtet.47
Im Zuge seiner Arbeiten zur Farbenlehre, speziell in dem Aufsatz Einige allgemeine Chromatische Sätze, weist er dem Mathematiker zwar durchaus eine produktive Funktion im Rahmen der Naturerforschung zu: Der Mathematiker wird dem Physiker beistehen, er wird die Methode prüfen, nach welcher die Versuche geordnet sind, er wird dieses nach den allgemeinen Grundsätzen des Denkens tun und scharf bemerken, ob von dem Einfachen zu dem Zusammengesetzteren fortgeschritten worden, ob in dem Vortrag keine Lücken zu bemerken, und ob das, was als Resultat angegeben wird, auch wirklich aus dem Erfahrenen folgt. Er wird sodann in die Sache hineingehen und alles, was Zahl und Maß unterworfen ist, so rein und einfach als möglich durcharbeiten.48
Die Mathematik hat aber nach Goethes Einschätzung nur eine sekundäre und fachwissenschaftliche Funktion für die Naturforschung und -erkenntnis. Primär und wesentlich wichtiger ist ihm die Anschauung und die kontextualisierte Erfassung der Natur: Zwei Forderungen entstehn in uns bei Betrachtung der Naturerscheinungen: die Erscheinungen selbst vollständig kennenzulernen, und uns dieselben durch Nachdenken anzueignen. Zur Vollständigkeit führt die Ordnung, die Ordnung fordert Methode, und die Methode erleichtert die Vorstellungen. Wenn wir einen Gegenstand in allen seinen Teilen übersehen, recht fassen und ihn im Geiste wieder hervorbringen können, so dürfen wir sagen, daß wir ihn im eigentlichen und im höhern Sinne anschauen, daß er uns angehöre, daß wir darüber eine gewisse Herrschaft erlangen. Und so führt uns das Besondere immer
|| 47 Johann W. von Goethe: Über Naturwissenschaft im Allgemeinen. Einzelne Betrachtungen und Aphorismen. In: derselbe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Leopoldina-Ausgabe. Abt. 1, Bd. 11. Hrsg. von Rupprecht Matthaei u.a. Weimar: Böhlau, 1970. S. 337–366; S. 358. 48 Johann W. von Goethe: Beiträge zur Optik und Anfänge der Farbenlehre 1790–1808. In: derselbe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Leopoldina-Ausgabe. Abt. 1, Bd. 3. Hrsg. von Rupprecht Matthaei u.a. Weimar: Böhlau, 1951. S. 133.
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zum Allgemeinen, das Allgemeine zum Besondern. Beide wirken bei jeder Betrachtung, bei jedem Vortrag durcheinander.49
Die Mathematik ist für Goethe nur ein Hilfsmittel von untergeordneter Rolle, die formale Darstellung stellt für ihn kein notwendiges Element von Wissenschaftlichkeit dar. Mit dieser Einstellung befand er sich, wie er selbst schmerzhaft eingestehen musste, außerhalb der Grenzen einer zunehmend professionalisierten Fachdisziplin, innerhalb derer er nicht als Wissenschaftler anerkannt wurde (vgl. Kap. V.1.3 und Kap. V.1.4). Doch auch innerhalb des sich ausdifferenzierenden physikalischen Diskurses herrschte keineswegs Einigkeit hinsichtlich der Mathematisierung und ihrer sprachtheoretischen Konsequenzen. Während Galilei noch von einer direkten Repräsentation der Wirklichkeit durch ein Axiomensystem ausgehen konnte, wurde gerade im 18. Jahrhundert z.B. durch die Diskussion des Kraftbegriffs eine unmittelbare und anschauliche Repräsentation mehr als fraglich. Vor diesem Hintergrund erhält auch Condillacs Feststellung, „daß man, um zu wahren Erkenntnissen zu gelangen, in der Wissenschaft von vorne beginnen muß, ohne sich von allgemein geltenden Ansichten einnehmen zu lassen“50 eine zusätzliche Bedeutung. Weil sich keine unmittelbar evidenten Grundbegriffe und Axiome finden ließen, wurde keine Reform sondern ein radikaler Neubeginn gefordert. Was hinsichtlich der Axiomatik in der Physik überhaupt erst im 19. Jahrhundert und dann sehr langsam als Problem erkannt wurde, ist eine Tatsache, die vielen Sprachtheoretikern bereits im 18. Jahrhundert bewusst wurde: Eine ontologische Fundierung, wie sie die klassische Axiomatik voraussetzt, kann mit arbiträren Sprachzeichen nicht geleistet werden, denn sie sind in ihrem explikatorischen Gehalt den Phänomenen vorgängig. Der Idealanspruch der klassischen Axiomatik erwies sich in diesem Punkt als ein Irrweg der Physik, die axiomatisierte Naturbeschreibung blieb ein „Bauwerk, […] ohne Fundament“51.
|| 49 Johann W. von Goethe: Physikalische Vorträge. In: derselbe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Leopoldina-Ausgabe. Abt. 1, Bd. 11. Hrsg. von Rupprecht Matthaei u.a. Weimar: Böhlau, 1970. S. 55–180; S. 55. 50 Étienne B. de Condillac: Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis. [Essai sur l’origine des connaissances humaines, 1746]. Übers. und hrsg. von Angelika Oppenheimer. Würzburg: K&N, 2006. S. 262f. 51 Helmut Pulte: Axiomatik und Empirie. S. 281.
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1.4 Entliterarisierung der Physik Zusammen mit dem empiristischen Erkenntnismodell übernahmen viele Physiker, die eine mathematisierte und formalisierte Ausrichtung der Physik forderten, implizit auch eine nominalistische Sprachauffassung, die, wie Jürgen Mittelstraß konstatiert, zu einem gravierenden Missverständnis führte: [Es ist] das psychologistische Missverständnis, wonach erst eine Theorie über ‚innere‘ Vorgänge das Sprechen, nunmehr als etwas bloß Äußerliches aufgefaßt, zu erklären vermag, bzw. die Annahme, daß Wörter nichts anderes als Namen für Ideen (oder Vorstellungen), diese wiederum Bilder von Weltausschnitten sind […].52
Die sowohl in empiristischen wie rationalistischen Sprachtheorien vertretene Trias (Gegenstand, Idee/Begriff, sprachliches Zeichen) sowie die Annahme der Möglichkeit einer mehr oder minder sicheren Repräsentationsfunktion von Sprachzeichen sollte in der Physik weit über das 18. Jahrhundert hinaus Bestand haben. Christian Lavagno stellt fest, dass hier „kein epistemologischer Bruch zwischen der empirischen Hauptströmung der Aufklärung und dem Positivismus festzustellen“53 sei. Das Prinzip einer – im Idealfall eindeutigen – Repräsentation der vorsprachlichen Wirklichkeit wurde daher als Problem wenig oder gar nicht erkannt. Der Positivismus übernahm nicht nur das „Urvertrauen in das sinnlich Wahrnehmbare“54 des Empirismus, sondern auch dessen Vertrauen darauf, dass Sprache das richtige Instrument wissenschaftlicher Darstellung und Kommunikation sei. Mathematisierung und Formalisierung standen, wie Foucault anmerkt, im Zentrum einer Sprachoptimierung, bei der man die wissenschaftliche Sprache neutralisieren und gleichsam glätten wollte, so daß sie, jeder Besonderheit bar und von ihren Unsauberkeiten und Akzidenzien gereinigt – als gehörten sie nicht zu ihrem Wesen –, der exakte Reflex, das metikulöse Doppel, fleckenloser Spiegel einer nicht sprachlichen Erkenntnis werden konnte. Das ist der positivistische Traum von einer Sprache, die genau auf der Höhe dessen gehalten würde, was man weiß.55
|| 52 Jürgen Mittelstraß: Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie. Berlin, New York: De Gruyter, 2010. S. 414f. 53 Christian Lavagno: Rekonstruktion der Moderne. Eine Studie zu Habermas und Foucault. Münster: Lit, 2003. S. 135. 54 Christian Lavagno: Rekonstruktion der Moderne. S. 134. 55 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991. S. 361.
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Es war das Unternehmen dieser Sprachreinigung, das „die Formalisierung oder Mathematisierung in das Zentrum jedes modernen wissenschaftlichen Vorhabens“56 stellte, so Foucault, und das letztlich zu einer weitreichenden Trennung zwischen wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Textverfahren führte. Wolf Lepenies, dessen Argumentation sehr an die Foucaults erinnert, nennt diesen zur Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzenden Prozess die „Entliterarisierung“ der Wissenschaften: „Ich verstehe darunter die Ausgliederung von Traditionen und Theorieprogrammen aus den Wissenschaften, die als literarisch und damit unwissenschaftlich abqualifiziert werden.“57 Als markantes Beispiel dieser Entwicklung führt Lepenies die Rezeption der Histoire naturelle des Comte de Buffon (1707–1788) an. Buffon wurde zunächst in Forscherkreisen hoch gelobt, verlor dann aber seine Reputation, da diese fast ausschließlich auf seinem ‚Talent zur Darstellung‘ gründete. Gerade im Bereich der Darstellungsformen habe sich, so Lepenies, eine grundlegende Umdeutung vollzogen: „hatte man seine [Buffons, M.I.] Schriften ursprünglich […] wegen ihres Unterhaltungswertes gelobt und gelesen, so werden sie nun [im 19. Jahrhundert, M.I.] als ‚romans scientifiques‘ abgetan“ – weniger das „was er sagte“ gab den Ausschlag für diese Umdeutung, als vielmehr „wie er es tat“.58 Der zunehmenden Institutionalisierung der Fächer kam in der Phase der Entliterarisierung eine besondere Bedeutung zu. Mit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts war, wie Lepenies formuliert, „das Amateurstadium der Wissenschaften […] vorbei“59. Die Tendenzen hin zur Professionalisierung der Disziplin zeigten sich u.a. in der Gründung physikalischer Gesellschaften60, im Aufkommen von Fachorganen61 sowie im Erscheinen von Fachlexika (vgl. Kap. III.1.5). Später wurde die Professionalisierung auch durch die naturwissenschaftlichen Fakultäten in den neu- oder wiedereröffneten Universitäten in Ausbildung und Forschung institutionalisiert und durch den Bedarf an gut ausgebildeten Ingenieuren seitens der Industrie
|| 56 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. S. 303. 57 Wolf Lepenies: Über den Krieg der Wissenschaften und der Literatur. In: Merkur 40.6 (1986). S. 482–494; S. 482. 58 Wolf Lepenies: Der Krieg der Wissenschaften und der Literatur. In: derselbe: Gefährliche Wahlverwandtschaften. Essays zur Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart: Reclam, 1989. S. 61–79; S. 63. 59 Wolf Lepenies: Über den Krieg der Wissenschaften und der Literatur. S. 483. 60 1822 wird beispielsweise die Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte als erste Fachgesellschaft im deutschsprachigen Raum gegründet, 1845 folgte die Physikalische Gesellschaft zu Berlin, aus der 1899 die Deutsche Physikalische Gesellschaft hervorging. 61 Ab 1799 erscheinen beispielsweise die Annalen der Physik, ab 1847 die Jahresberichte über die Fortschritte der Physik.
184 | Mathematisierung der Physik
beschleunigt.62 Die naturwissenschaftlichen Disziplinen konnten sich emanzipieren, entwickelten sich zu eigenständigen Fächern und damit auch zu eigenständigen Kommunikationsgemeinschaften. Diese professionellen und institutionalisierten Strukturen erforderten eine standardisierte Kommunikation, einheitliche Formalismen, Termini und Definitionsverfahren. Neuere linguistische Untersuchungen von Fach- und Wissenschaftssprachen berücksichtigen diesen soziologischen Aspekt in der Regel. So definiert Heinz Kretzenbacher ‚Wissenschaftssprache‘ als die Gesamtheit der Phänomene sprachlicher Tätigkeit […], die im kulturellen Handlungsfeld der Wissenschaften auftreten und die zugleich dieses als theoriebildende und -verarbeitende Kommunikationsgemeinschaft sowie als gesellschaftliche Institution entscheidend konstituieren.63
Wie alle Gruppensprachen wirken auch Wissenschaftssprachen im Allgemeinen und somit auch die Fachsprache der Physik im Besonderen stabilisierend und ausgrenzend gleichermaßen. Unter diesem Gesichtspunkt war der Beginn der modernen Episteme historisch auch die Geburtsstunde der Wissenschaftssprache Physik als Fachsprache. Die beginnende Professionalisierung barg generell die Tendenz zur Bildung von Gruppen- oder Diskurssprachen, die zunehmend weniger allgemeinverständlich wurden und sich häufig für andere Diskurssprachen als weniger anschlussfähig erwiesen. Maßstab und Richtschnur der Sprachreflexion in der Physik war hierbei einerseits das Streben nach Präzision, Exaktheit und Struktur – Ziele, die man in der Mathematik mustergültig umgesetzt sah – und andererseits die Pragmatik einer gruppenspezifischen Fachkommunikation. Exemplarisch soll dies anhand des Physikalischen Wörterbuchs von Johann Samuel Traugott Gehler illustriert werden.
|| 62 Alfred N. Whitehead spricht Deutschland in diesem Aspekt der Professionalisierung sogar eine Vorreiterrolle zu: „Aber die vollends selbstbewußte Realisierung der Macht des Professionalismus in allen Bereichen der Erkenntnis, die Möglichkeiten, Profis auszubilden, die Wichtigkeit der Erkenntnis für das Fortschreiten der Technik, die Methoden, mit denen man abstraktes Wissen und Technik verknüpfen kann und die unbegrenzten Möglichkeiten des technischen Vormarschs – die Realisierung all dieser Dinge wurde erst im neunzehnten Jahrhundert umfassend erreicht; und von den verschiedenen Ländern hauptsächlich in Deutschland.“ Alfred N. Whitehead: Wissenschaft und moderne Welt. S. 118. 63 Heinz L. Kretzenbacher: Fachsprache als Wissenschaftssprache. In: Fachsprachen. Ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft. HSK Bd. 14.1. Hrsg. von Lothar Hoffmann, Hartwig Kalverkämper und Herbert Wiegand. Berlin, New York: De Gruyter, 1998. S. 133–142; S. 134.
Gehlers Physikalisches Wörterbuch | 185
1.5 Gehlers Physikalisches Wörterbuch Johann Samuel Traugott Gehler (1751–1795) studierte in Leipzig u.a. bei Johann Heinrich Winckler (1703–1770) Physik, erhielt 1776 die Lehrerlaubnis der Philosophischen Fakultät für das Fach Mathematik und erwarb schließlich 1777 den Doktorgrad der Rechte. Im Jahr 1783 trat Gehler in den Magistrat der Stadt Leipzig ein und beendete damit seine universitäre Tätigkeit. Dennoch blieb er den Wissenschaften – besonders den Naturwissenschaften – interessiert verbunden. Er übersetzte mehrere physikalische und chemische Lehrwerke aus dem Französischen und Englischen ins Deutsche und stand im Austausch mit führenden Wissenschaftlern seiner Zeit.64 Von seinen Studienjahren an war Gehler auch den Künsten und der Literatur zugetan, verfasste selbst Gedichte und war bis 1786 eines der ehrenamtlichen Mitglieder der Direktion der Leipziger Gewandhauskonzerte. Gehler verlor zeitlebens, auch wenn er nicht selbst experimentell arbeitete, nie das intensive Interesse an Mathematik und vor allem an den Naturwissenschaften. Ab 1787 begann er mit der Erstellung eines der ersten systematischen Lexika der Physik in deutscher Sprache.65 An Gehlers Wörterbuch lässt sich sehr gut die für die Sattelzeit postulierte Entliterarisierung und Formalisierung bzw. Mathematisierung der Naturwissenschaften erkennen, da zwischen den Jahren 1825 und 1845 eine elfbändige Neubearbeitung unter dem Titel Johann Samuel Traugott Gehler’s Physikalisches Wörterbuch von ‚professioneller Hand‘, also von größtenteils an Universitäten forschenden Professoren herausgegeben wurde.66 Gehlers eigenhändig herausgegebenes Wörterbuch und die über 30 Jahre später erschienene Neuauflage
|| 64 So stand er im Austausch mit Georg G. Haubold (1714–1772, Professor der Physik in Leipzig), mit dem Mathematiker und Physiker Georg Chr. Lichtenberg (1742–1799), mit dem Mineralogen Abraham G. Werner (1749–1817), dem Arzt, Physiker und Chemiker Friedrich A. C. Gren (1760–1798) und nicht zuletzt mit Alexander von Humboldt (1769–1859). 65 Johann S.T. Gehler: Physikalisches Wörterbuch oder Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre mit kurzen Nachrichten von der Geschichte der Erfindungen und Beschreibungen der Werkzeuge begleitet in alphabetischer Reihenfolge. 5 Bde. Leipzig: Schwickert, 1787–1795. 66 An der Neubearbeitung wirkten mit: Heinrich Wilhelm Brandes (1777–1834), zunächst Professor der Mathematik in Breslau, später Professor für Physik in Leipzig; Leopold Gmelin (1788–1853), Professor der Chemie in Heidelberg; Johann Caspar Horner (1774–1834), ein Mann der Praxis, der u.a. als Astronom von 1803 bis 1808 an der Weltumseglung des Kapitäns Adam von Krusenstern teilnahm; Karl Ludwig von Littrow (1811–1877), Astronom, der die Wiener Sternwarte plante; Georg Wilhelm Muncke (1772–1847), Professor der Physik in Marburg und Heidelberg und Christoph Heinrich Pfaff (1773–1852), jener bereits erwähnte Mediziner, Chemiker und Physiker, der im Austausch mit Johann Wilhelm Ritter stand.
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stellen zwei Momentaufnahmen des Übergangs von klassischer zu moderner Episteme und vom neuzeitlichen zum modernen Wissenschaftsverständnis dar. Die erste Aufnahme zeigt das Bemühen eines gut ausgebildeten Mathematikers und Physikers, alle naturwissenschaftlichen Kenntnisse in ‚alphabetischer Methode‘ zusammenzutragen. Er folgt hierbei seinen französischen Vorbildern Mathurin-Jacques Brisson (1723–1806) und Joseph-Aignan de Lafond (1730– 1810), die jeweils mit ihren Lexika (Dictionnaire raisonné de physique, 1781–1800 und Dictionnaire de physique, 1781) Pionierarbeit geleistet hatten. Die zweite Aufnahme zeigt das Bemühen einer Gruppe von institutionell eingebundenen Forschern, den inzwischen erheblich angewachsenen Bestand physikalischnaturwissenschaftlichen Wissens zusammenzutragen, „um eine Übersicht des Ganzen und eine sichere Grundlage zu gewähren, auf welcher künftige Forscher weiter bauen können, ohne zu oft in den Fall zu kommen, für neu erfunden zu halten, was unlängst nach näherer Prüfung als irrig erwiesen ist“67. Die Herausgeber der Neubearbeitung adressieren also vor allem die forschenden Fachkollegen und sie müssen daher sowohl die fortgeschrittene Mathematisierung als auch den enormen Wissenszuwachs berücksichtigen: 1811 konnte Siméon Denis Poisson (1781–1840) eine mathematische Theorie der Elektrostatik aufstellen; nur drei Monate vergingen zwischen der Entdeckung des Elektromagnetismus im Juli 1820 durch Hans Christian Ørsted (1777–1851) bis zur Mathematisierung des Phänomens durch André-Marie Ampère (1775–1836), Jean-Baptiste Biot (1774–1862) und Felix Savart (1791–1841) im Oktober desselben Jahres; ebenfalls 1820 gelang Augustin Fresnel (1788–1827) eine mathematische Darstellung der Wellenoptik und Joseph Fourier (1768–1830) konnte die Wärmeausbreitung in Festkörpern in einer mathematischen Theorie beschreiben. Beim Verfassen des ersten Bandes seines Physikalischen Wörterbuches im Jahr 1787 konnte Gehler den Erfolg der Mathematisierung in diesen Feldern der Physik selbstverständlich noch nicht antizipieren, doch formuliert er deutlich seine Unzufriedenheit über die nicht-mathematisierte Darstellung der Dictionnaireisten Brisson und de Lafond: De Lafond, dessen übrige Verdienste um mehrere Zweige der Naturlehre ich nicht verkenne, trägt in diesem Wörterbuch, mit Weglassung alles dessen, was nur einigermaßen mit mathematischen Sätzen in Verbindung steht, außer einigen von ihm besonders bearbeiteten Materien, [...] größtens Teils Naturgeschichte, Physiologie und Chemie vor […] und kleidet, wo er selbst spricht, wenig Sachen in viele Worte und ermüdende Declamationen ein. Brisson [...] schreibt zwar weit gründlicher, gedrungner und mit mehrerer Kenntnis al-
|| 67 Heinrich W. Brandes u.a. (Hrsg.): Johann Samuel Traugott Gehler’s Physikalisches Wörterbuch. Bd. 1.1. Leipzig: Schwickert, 1825. S. V.
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ler zur Physik gehörigen Fächer und Hülfswissenschaften; allein entweder Mangel an Bekanntschaft mit neuern Entdeckungen der Engländer und Deutschen, oder Vorliebe zu seiner Nation und zu der Schule, die ihn unterrichtet hat, verleitet ihn allzuoft, bey alten jetzt längst verdrungenen Systemen stehen zu bleiben [...].68
Mit seiner Kritik an Brisson und de Lafond formuliert Gehler implizit auch Ansprüche an eine „dem gegenwärtigen Zustande unserer physikalischen Kenntnisse angemessenere“69 Darstellung und Sprachpraxis. Die mathematische, also die formalisierte Darstellung, deren Fehlen er am Dictionnaire de physique bemängelt, fordert er zwar für ein wissenschaftliches Werk vehement ein, er hält es aber offensichtlich dennoch für nötig, den Abdruck mathematischer Formeln im eigenen Werk vor dem Leser zu rechtfertigen: Mit Vorsatz habe ich, vielleicht wider den Geschmack des gegenwärtigen Zeitalters, an verschiedenen Stellen dieses ersten Theils, mathematische Berechnungen und durch Formeln ausgedrückte Beweise eingerückt, theils weil sich gewisse wichtige Sätze gar nicht anders oder doch nicht kürzer ausdrücken und beweisen lassen, theils auch, um deutlich zu zeigen, daß zu einer wahren und richtigen Kenntnis der Natur die Bekanntschaft mit der höhern Mathematik ganz unentbehrlich sey.70
Im dritten Band verschärft er diese Verquickung von Naturforschung und Mathematik weiter: Aus dem Angeführten ist leicht zu übersehen, daß die Mathematik eine für den Naturforscher ganz unentbehrliche Hülfwissenschaft sey. […] Daher muß die Erfahrung, und die auf Erfahrung gegründete Physik, stets von der Mathematik geleitet werden.71
Dass Gehler einerseits nachdrücklich auf der Bedeutung der Mathematisierung der Physik insistiert, sich andererseits aber noch für den Abdruck mathematisch-formaler Darstellungen rechtfertigt, macht die Schwellenstellung deutlich, die seinem Wörterbuch zukommt. Die bereits für das frühe 19. Jahrhundert selbstverständliche Formalisierung wird hier erst als notwendiger Bestandteil physikalisch-wissenschaftlicher Sprachpraxis etabliert. Schon knapp 30 Jahre später sehen die Herausgeber der Neuauflage keinerlei Veranlassung, die formalisierte Darstellung zu thematisieren oder sie gar zu rechtfertigen – sie ist zum Standard physikalischer Publikationspraxis geworden. Lediglich im Eintrag „Mathematik“ des Lexikons nimmt der Mitherausge|| 68 Johann S.T. Gehler: Physikalisches Wörterbuch. Bd. 1. S. Vf. 69 Johann S.T. Gehler: Physikalisches Wörterbuch. Bd. 1. S. VI. 70 Johann S.T. Gehler: Physikalisches Wörterbuch. Bd. 1. S. VIII. 71 Johann S.T. Gehler: Physikalisches Wörterbuch. Bd. 3. S. 160.
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ber Heinrich Wilhelm Brandes (1777–1834) kurz Bezug auf das Lager der Kritiker einer quantifizierenden Naturforschung: Dagegen sind […] allerdings die Lehren der angewandten Mathematik eher der Möglichkeit des Irrthums und einer schwer zu entscheidenden Unsicherheit unterworfen, und dies hat sogar manche sonst scharfsinnige Physiker zu der Meinung verleitet, dass die Zurückführung der Naturerscheinungen auf mathematische Betrachtung keineswegs so sehr zu empfehlen sey. Diese Meinung zu vertheidigen hat man angeführt […], dass die mathematische Bestimmungen sich doch in den Anwendungen auf die Natur fast immer auf Hypothesen gründen […]. Diese Einwürfe […] sind allerdings nicht ganz ohne Grund, aber doch keineswegs wichtig genug, um den Nutzen der mathematischen Naturforschung in ein ungünstiges Licht zu stellen […].72
Brandes gesteht den Kritikern also durchaus zu, dass konsistente und kohärente mathematische Modelle noch kein Garant für die Richtigkeit einer physikalischen Theorie seien. Der entscheidende Punkt ist allerdings die pragmatische Verteidigung der auf Mathematik basierenden Naturforschung sowie der formalen Elemente in ihrer Darstellung. Brands Mitherausgeber Georg Wilhelm Muncke (1772– 1847) argumentiert im Beitrag ‚Physik‘ unter historischen Vorzeichen ganz ähnlich: „Offenbar fehlte es der Physik an der erforderlichen Schärfe und Bestimmtheit, so lange man in ihr die mathematische Methode anzuwenden versäumte, bis Cartesius und noch mehr Newton zeigten, wie viel sich hierdurch ausrichten lasse.“73 Die erwähnten Aspekte, die Gehler im Vorwort an seinen französischen Vorgängern kritisiert, korrelieren mit den fünf von Peter von Polenz herausgearbeiteten „idealtypischen Merkmalen“ der modernen Wissenschaftssprache: 1) 2) 3) 4) 5)
Sie muß schreibbar bzw. druckbar und damit zitierbar sein […]. Sie muß möglichst explizit sein […] (sog. intersubjektive Verständlichkeit). Sie muß möglichst argumentativ sein, also darf nicht persuasiv oder gar manipulativ sein […]. Sie muß möglichst konsistent, systematisch und widerspruchsfrei sein, um allen Beteiligten optimal planvolles, fehlerfreies Arbeiten zu ermöglichen. Sie muß möglichst ökonomisch sein, also mit möglichst geringem Aufwand an Ausdrucksmitteln (einen möglichst hohen Ertrag erzielen […]).74
|| 72 Heinrich W. Brandes: Mathematik. In: Johann Samuel Traugott Gehler’s Physikalisches Wörterbuch. Bd. 6.2. Hrsg. von Heinrich W. Brandes u.a. Leipzig: Schwickert, 1836. S. 1473–1485; S. 1480. 73 Georg W. Muncke: Physik. In: Johann Samuel Traugott Gehler’s Physikalisches Wörterbuch. Bd. 7.1. Hrsg. von Heinrich Brandes u.a. Leipzig: Schwickert, 1833. S. 493–573; S. 510. 74 Peter von Polenz: Über die Jargonisierung von Wissenschaftssprache und wider die Deagentivierung. In: Wissenschaftssprache. Beiträge zur Methodologie, theoretischen Fundierung und Deskription. Hrsg. von Theo Bungarten. München: Fink, 1981. S. 85–110; S. 86f.
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Peter von Polenz entwickelt die formulierten Merkmale zwar anhand der Wissenschaftssprachen im 20. Jahrhundert, sie korrespondieren aber dennoch mit Gehlers Kritik an de Lafond und der in ihr enthaltenen Forderung nach korrekter Zitation und ökonomischer Sprachverwendung. Wenn Gehler zudem de Lafond „ermüdende Declamationen“75 vorwirft, scheint dies auch eine Kritik an rhetorischer Überschwänglichkeit zu sein, klingt doch im Wort ‚Deklamation‘ die antik-rhetorische Tradition der declamatio, also der rhetorischen Übungsreden mit. Peter von Polenz’ Merkmalen zwei und drei entspricht zudem Gehlers Wunsch nach einer explizit eingeführten Terminologie und nach einer argumentativen Beweisführung. Gehler betont im Vorwort, er habe sich bemüht, die in dieser Wissenschaft vorkommenden Begriffe deutlich zu erklären, die Bedeutung der Worte genau zu bestimmen, bey jedem einzelnen Gegenstande eine kurze Geschichte der darüber vorhandenen Meinungen, angestellten Erfahrungen und daraus gezogenen Folgen und Muthmaßungen beyzubringen, die vornehmsten für gewiß anerkannten Sätze vorzutragen und zu beweisen [...].76
Schließlich fordert Gehler, ähnlich wie von Polenz es im vierten Merkmal formuliert, dass der Naturforscher seine Beobachtungen systematisch und konsistent darlegen solle: „Er wird endlich Ordnung und Methode in seinen Vortrag legen, damit man die Verbindung der Beobachtungen untereinander, und das Licht, das eine auf die andre wirft, besser übersehe.“77 Die Thematisierung und Explikation der Darstellungsform lässt darauf schließen, dass Gehler im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts noch auf keinen für ihn befriedigenden Standard einer wissenschaftlichen Sprachpraxis aufbauen kann, sondern an diesem mit seinem Wörterbuch selbst mitwirkt. Die von ihm geforderten Sprachpraktiken sowie auch die formale Darstellung scheinen in der Neubearbeitung durch Brandes derart selbstverständlich zu sein, dass sie keiner Thematisierung mehr bedürfen. Zwei Aspekte sind im Vergleich der beiden Ausgaben besonders auffällig: Erstens ist der Anteil formalsprachlicher Elemente in der Neubearbeitung erheblich gestiegen. Die Mathematisierung war in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts derart erfolgreich, dass Muncke sogar ein Überhandnehmen des reinen ‚Schreibtischrechnens‘ und der Kalkülisierung in der Physik befürchtete:
|| 75 Johann S.T. Gehler: Physikalisches Wörterbuch. Bd. 1. S. V. 76 Johann S.T. Gehler: Physikalisches Wörterbuch. Bd. 1. S. X. 77 Johann S.T. Gehler: Physikalisches Wörterbuch. Bd. 1. S. 295.
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Seit ihrer [Descartes’ und Newtons, M.I.] Zeit hat man den Werth der Mathematik sehr hoch angeschlagen, und es läßt sich wohl nicht verkennen, daß dieses neuerdings namentlich durch die Franzosen in zu übertriebenem Grade geschehen ist und bis zur Stunde von vielen Deutschen noch geschieht [...]. Wenn man es jedoch redlich mit der Förderung der Naturforschung meint und den gegenwärtigen Zustand der Physik eben so genau als vollständig überblickt, so läßt sich keinen Augenblick verkennen, daß wir für jetzt weit mehr der Beobachtungen und Versuche, als des Calcüls und der geometrischen Formeln bedürfen [...].78
Für Muncke geht es an zitierter Stelle nicht um die Frage, ob die mathematisierte Darstellung der Physik adäquat und probat ist oder nicht, sondern um deren Funktion in und für die empirische Forschung. Auch er begreift Mathematik als Hilfswissenschaft in dem Sinn, dass sie zwar die empirische Beobachtung und das wissenschaftliche Experiment auszuwerten, festzuhalten und zu kommunizieren helfe, diese aber niemals ersetzen könne und dürfe. Anders als etwa bei Goethe ist die mathematische Methode und die mathematische Darstellung hier jedoch ein unabdingbarer Teil der physikalisch-wissenschaftlichen Darstellungsform, die nicht immer adäquat durch eine verbalsprachliche Übersetzung wiedergegeben werden kann. Der mathematische Kalkül sei notwendiges Instrument physikalischer Forschung, doch müssten mathematisch formulierte Erkenntnisse stets aus der Realität gewonnen und an ihr überprüft werden. Der zweite auffällige Unterschied zwischen Gehlers Erstausgabe und der Neubearbeitung durch Brandes ist die Reduzierung historisch-erzählender Abschnitte. Gehler möchte mit seinem Wörterbuch nicht nur den aktuellen Stand der Naturforschung zugänglich machen, sein Anliegen ist auch die historische Entwicklung: Ein großer Theil der Artikel dieses Wörterbuchs ist der Geschichte der Meinungen und Erfindungen gewidmet [...]. Mehrenteils läuft auch alles, was wir von einem physikalischen Begriffe oder Gegenstande sagen, auf eine Erzählung dessen hinaus, was die Menschen bisher über denselben gedacht und erfahren haben, und so ist die Naturlehre selbst größtenteils Geschichte.79
Eine vergleichbare Ausführlichkeit in der Darstellung müssen sich Brandes und die anderen Herausgeber der Neuauflage versagen. Sie berücksichtigen in ihren Beiträgen seltener die historische Perspektive als Gehler, „weil wir selbst fühlen, wie wichtig es sey, daß die einzelnen Theile des Werkes die rasch fortschreitende Wissenschaft in innerer Übereinstimmung und einem nicht zu weit
|| 78 Georg W. Muncke: Physik. S. 510. 79 Johann S.T. Gehler: Physikalisches Wörterbuch. Bd. 1. S. VIIIf.
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ausgedehnten Zeitraume angemessen darstellen“80. Das Beispiel des Physikalischen Wörterbuchs macht erkennbar, wie die Mathematisierung der Physik um 1800 sprachliche Gestalt annahm. Die von Lepenies als ‚Entliterarisierung‘ bezeichnete Tendenz wird somit als durch fachinterne Anforderungen bedingter Prozess erkennbar (vgl. auch Kap. V.1).
2 Formalisierung und Axiomatisierung der Mathematik 2.1 Entwicklung des mathematischen Symbolismus Die Relevanz eines adäquaten mathematischen Symbolismus hat sich in der langen Geschichte der Algebra deutlich gezeigt. Obwohl bereits 2000 Jahre v. Chr. eine Babylonische Algebra bestand, obwohl in Ägypten lineare Gleichungen gelöst wurden und obwohl später in der griechischen Antike ein respektables Niveau erreicht wurde (Lösungen von linearen, quadratischen, kubischen und biquadratischen Gleichungen), entwickelte sich die Algebra bis zum Beginn der Frühen Neuzeit hauptsächlich aus einem Grund sehr schleppend: Es standen kaum adäquate Darstellungsmittel zur Verfügung. Mangels eines noch nicht genügend weit entwickelten Zahlbegriffs und einer uns heute geläufigen Formelsprache konnten die Griechen der klassischen Zeit algebraische Probleme nur in der Sprache der von ihnen weit entwickelten Geometrie formulieren und lösen. [...] Erst gegen Ende der hellenistischen Periode finden sich erste Ansätze einer algebraischen Symbolik in Diophant’s [sic!] ‚Arithmetik‘, vermutlich fußend auf den lange zuvor in Mesopotamien entwickelten Elementen formalen algebraischen Denkens.81
Ähnlich wie für die Naturwissenschaften stellte die Neuzeit auch für die Geschichte der Algebra eine Periode rasanter Entwicklungen dar. Zwar wurde an die geometrische Algebra des Euklid oder die Gleichungstheorie des al-Hawarismi (vermutlich 780–850 n. Chr.) angeknüpft, doch erst die Entwicklung der neuen symbolischen Notation sollte sich als revolutionärer Schritt erweisen.
|| 80 Heinrich W. Brandes u.a. (Hrsg.): Johann Samuel Traugott Gehler’s Physikalisches Wörterbuch. Bd. 1.1. S. IV. 81 Heinz-Wilhelm Alten u.a.: 4000 Jahre Algebra. Geschichte, Kulturen, Menschen. Berlin u.a.: Springer, 2008. S. 66f. DOI 10.1515/9783110464252-016, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
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Im 15. Jahrhundert setzte sich das von den Indern erfundene dezimale Positionssystem flächendeckend durch und löste die Notation in römischen Ziffern ab. Der größte Nachteil der Notation mithilfe römischer Ziffern bestand darin, dass sie lediglich der schriftlichen Fixierung von Zahlen dienten, ein schriftliches Rechnen jedoch nicht erlaubten. Rechenoperationen mussten stattdessen mit dem Rechenbrett (Abakus) oder mit anderen Hilfsmitten vollzogen werden. Hierbei ließ ein Abakus lediglich die Grundrechenarten Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division sowie das Ziehen von Quadrat- und Kubikwurzeln zu. Da an einem Abakus jeweils eine Reihe bzw. ein Stab mit Kugeln einer Position der dezimalen Darstellung entspricht, war die Darstellung von und das Rechnen mit größeren Zahlen nur sehr eingeschränkt möglich.82 Das dezimale Positionssystem in arabischen Ziffern ermöglichte dagegen nicht nur, die mathematische Operation mit ihrer Notation zu vereinen, es brachte, wie Sybille Krämer ausführt, auch eine Veränderung des Zahlbegriffs mit sich, die aus heutiger Sicht revolutionär genannt werden muss: Zahl bleibt nicht länger – wie noch im griechischen arithmos-Begriff – Anzahl, sondern wird zu etwas, das als Referenzgegenstand eines arithmetischen Symbols, mit dem regelgeleitet verfahren werden kann, interpretierbar ist. [...] Eine neue Art kognitiver Gegenstände ist entstanden. Es sind ideelle Gegenstände, die nur nach Maßgabe des operativen symbolischen Verfahrens existieren, durch das sie eingeführt werden.83
Während Kugeln oder Rechensteine eine Anzahl von konkreten Gegenständen abbilden, sozusagen ebenfalls ‚eine Anzahl sind‘, werden Zahlen im dezimalen Positionssystem nur durch Ziffernzeichen symbolisiert. Deutlich zeigt sich dies bei der Ziffer Null, deren das römische Zahlsystem und der Abakus nicht bedurften, denn „fünf Rechensteine weniger fünf Rechensteine ergibt nicht null, sondern keine Rechensteine“84. Ein weiterer Entwicklungsschritt des mathematischen Symbolismus war die Einführung von Symbolen für Rechenoperationen und Größen.85 François Viète (1540–1603) benutzte konsequent Buchstabensymbole für Größen (Vokalma|| 82 In der Regel entsprach eine Reihe oder ein Stab mit Kugeln einer Position (Einer, Zehner, Tausender, Zehntausender usw.), so dass mit den Steinen/Kugeln der Zählwert der entsprechenden Position angegeben werden konnte. Beispielsweise konnte eine Kugel in der ersten Reihe der Zahl 1 entsprechen, drei Kugeln in der zweiten Reihe der Zahl 30 usw. 83 Sybille Krämer: Kalküle als Repräsentation. Zur Genese des operativen Symbolismus in der Neuzeit. In: Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur. Hrsg. von Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagner und Bettina Wahrig-Schmidt. Berlin: Akademie, 1997. S. 111–122; S. 112. 84 Sybille Krämer: Kalküle als Repräsentation. S. 113. 85 Vgl. Heinz-Wilhelm Alten u.a.: 4000 Jahre Algebra. S. 207ff.
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juskeln A, E, I, O, U, Y für gesuchte Größen, Konsonantmajuskeln B, G, D etc. für gegebene Größen) sowie Symbole für Rechenoperationen (die Zeichen + und – für Addition und Subtraktion, Bruchstriche und Klammern86). Anstelle des Gleichheitszeichens gebrauchte er noch die Worte ‚aequabitur‘ oder ‚aequale‘ und das Wort ‚in‘ statt eines Multiplikationszeichens. Die auf Viète zurückgehende Entwicklung der symbolischen Algebra stellt „eine Zäsur [dar], welche die nicht-symbolische, rhetorische Algebra von der symbolischen abzugrenzen erlaubt“87 und welche damit die Selbständigkeit der Algebra als zweiten mathematischen Bereich der Mathematik neben der Geometrie begründete. Ohne sie wären etwa auch René Descartes’ mathematische Leistungen nicht denkbar, denn nur indem er Punkte auf einer Ebene als Zahlenpaare eines Koordinatensystems beschrieb, gelang ihm eine Algebraisierung der Geometrie.88 Geometrische Probleme ließen sich auf diese Weise algebraisch lösen – ihre algebraische Lösbarkeit wurde von Descartes sogar zu einer grundsätzlichen Forderung erhoben. Gleichzeitig wurde, erläutert Krämer, mit der Erfindung der analytischen Geometrie […] algebraische Berechenbarkeit zum Garanten geometrischer Konstruierbarkeit. Die Repräsentierbarkeit einer Figur durch die Formel, die Substituierbarkeit eines Bildes durch eine Schrift, wird zu einem Kriterium geometrischer Existenz.89
Descartes leistete zudem einen eigenen Beitrag zum Symbolismus der Mathematik. Er symbolisierte – wie später üblich – Variablen durch die letzten Buchstaben des Alphabets (x, y, z) und begründete die heutige Potenzschreibweise und das Quadratwurzelzeichen.90 Ohne Formalisierung und ohne analytische Geometrie wäre auch die Entwicklung der Infinitesimalrechnung durch Newton || 86 Viète stützt sich auf Hieronymus Cardanus (1501–1576), auf Simon Stevin (1548–1620), auf die wiederentdeckten Schriften von Diophant und eventuell auch auf Rafael Bombelli (1526– 1571). Vgl. Heinz-Wilhelm Alten u.a.: 4000 Jahre Algebra. S. 284–287. 87 Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. Kalkül und Rationalismus im 17. Jahrhundert. Berlin, New York: De Gruyter, 1991. S. 125. 88 Vgl. Oskar Becker: Grundlagen der Mathematik in geschichtlicher Entwicklung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1975. S. 139f. Vgl. außerdem den Anfang des Geometrie-Abschnitts in Descartes’ Discours: „Alle Probleme der Geometrie lassen sich leicht auf solche Ausdrücke zurückführen, daß es hinterher nur noch nötig ist, die Länge bestimmter Geraden zu erkennen, um sie zu konstruieren. Die gesamte Arithmetik setzt sich nur aus vier oder fünf Operationen zusammen […]. Ich scheue mich nicht, diese Ausdrücke der Arithmetik in die Geometrie einzuführen […].“ René Descartes: Entwurf der Methode. Mit der Dioptrik, den Meteoren und der Geometrie. [Discours de la méthode, 1637]. Übers. und hrsg. von Christian Wohlers. Hamburg: Meiner, 2013. S. 315f. 89 Sybille Krämer: Kalküle als Repräsentation. S. 114. 90 Vgl. Heinz-Wilhelm Alten u.a.: 4000 Jahre Algebra. S. 296.
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und Leibniz kaum denkbar gewesen.91 Beiden Mathematikern gelang unabhängig voneinander die Erstellung eines widerspruchsfreien Kalküls der Infinitesimalrechnung (meist einfach calculus genannt). Mehr noch als Newton betont Leibniz bei seinem Vorgehen die Wichtigkeit einer geeigneten Symbolik: Bei den Bezeichnungen ist darauf zu achten, daß sie für das Erfinden bequem sind. Dies ist am meisten der Fall, so oft sie die innerste Natur der Sache mit Wenigem ausdrücken und gleichsam abbilden. So wird nämlich auf wunderbare Weise die Denkarbeit vermindert. Von solcher Beschaffenheit sind aber die Bezeichnungen, die ich in dem Kalkül der tetragonistischen Gleichungen angewandt habe, und durch die ich oft die schwierigsten Probleme auf wenigen Zeilen löse.92
Leibniz’ weiterentwickelte Notation sollte sich gegen Newtons Fluxionsmethode aufgrund größerer Praktikabilität durchsetzen. Leibniz führte nicht nur das Integralzeichen ∫ (entlehnt von der Majuskel S für ‚summatio‘) ein, sondern auch das Differentialzeichen d, die Indizes, die Determinantenschreibweise, die Schreibweise a:b = c:d (als Darstellung einer Proportion) sowie die Potenzschreibweise variabler Exponenten. Die Errungenschaft des mathematischen Symbolismus wurde von rationalistischer Seite wie von empiristisch-sensualistischer Seite gleichermaßen positiv bewertet. Condillac entfaltet in seiner Fragment gebliebenen Untersuchung Die Sprache des Rechnens (1798) in Anlehnung an seine Sprachentstehungstheorie eine Theorie des natürlichen Rechnens, als dessen Grundprinzip er die Analyse begreift. Dieses Grundprinzip nun liege sowohl dem Rechnen als auch dem Spechen zugrunde: „Jede Sprache ist eine analytische Methode, und jede analytische Methode ist eine Sprache.“93 Die formalsprachliche Darstellung erscheint wie bereits im Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis (vgl. Kap. II.3.5) als organische Weiterentwicklung der natürlichen Verbalsprache. Die symbolische Algebra und damit die Mathematik stellten das vorläufige Ende dieser Entwicklung dar und rückten in die Nähe der ‚reformierten Erkenntnissprache‘:
|| 91 Vgl. Oskar Becker: Grundlagen der Mathematik in geschichtlicher Entwicklung. S. 130. 92 Leibniz in einem Brief 1678 an Tschirnhaus, zitiert nach: Dagobert Krüger: Anmerkungen zur Entstehung und Diskussion mathematischer Termini an Beispielen des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Fachsprache und Terminologie in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von Jörn Albrecht und Richard Baum. Tübingen: Narr, 1992. S. 117–133; S. 123. 93 Étienne B. de Condillac: Die Sprache des Rechnens. [La langue des calculs, 1798]. In: derselbe: Die Logik oder die Anfänge der Kunst des Denkens. Die Sprache des Rechnens. Übers. von Erich Salewski und hrsg. von Georg Klaus. Berlin: Akademie, 1959. S. 119–245; S. 119.
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Die Algebra ist eine gut gebildete Sprache, und sie ist die einzige: nichts erscheint willkürlich in ihr. Die Analogie, die immer festzustellen ist, leitet sichtbar von einem Ausdruck zum anderen. […]. Die Mathematik ist eine richtig abgehandelte Wissenschaft, und ihre Sprache ist die Algebra. Sehen wir also zu, wie die Analogie uns in dieser Wissenschaft sprechen läßt, und wir werden wissen, wie sie uns in den anderen Wissenschaften sprechen läßt. […]. Es soll gezeigt werden, wie man allen Wissenschaften jene Exaktheit verleihen kann, von der man glaubt, daß sie ein ausschließliches Privileg der Mathematiker sei.94
Nach Condillacs sprachhistorischem Modell ist das symbolische Rechnen wesentlich älter als die neuzeitliche Symbolsprache der Algebra. Es beginne mit den ersten Rechensteinen in der menschlichen Frühzeit und stütze sich – wie alle sprachlichen Zeichen – auf Analogiebildung zu natürlichen Zeichen; im Falle des Rechnens seien dies die abgespreizten und angelegten Finger.95 Rechensteine seien an die Stelle von Gegenständen bzw. an die Stelle der ersten Namen getreten. Condillac geht allerdings davon aus, dass Rechensteine auch für unbekannte, erst zu errechnende Werte gesetzt werden könnten, und dies sei der Anfang erster Gleichungen mit unbekannten Größen gewesen. Die Steine seien später mit Buchstaben oder Schriftzeichen markiert worden und schließlich hätten die Zeichen die Steine ersetzt: Hier beginnt die Algebra […]. Durch die Ersetzung der Namen durch Buchstaben wollte man nur die Schlußfolgerungen vereinfachen, und gefunden hat man mehr, als man suchte, nämlich die Lösung mehrerer Probleme in der Lösung einer einzigen. Denn […] [eine Gleichung in symbolischer Form, M.I.] ist ein allgemeiner Ausdruck, der alle ähnlichen Probleme löst, weil a, b und c alle Arten von Zahlen ausdrücken können.96
Ganz ähnlich skizziert Carl Friedrich Gauß (1777–1855) in einem Brief aus dem Jahr 1850 an Heinrich Schumacher die Bedeutung des mathematischen Symbolismus für ein ökonomisches und effizientes Operieren in der Mathematik: Es ist der Charakter der Mathematik der neueren Zeit […], dass durch unsere Zeichensprache und Namengebungen wir einen Hebel besitzen, wodurch die verwickeltsten Argumentationen auf einen gewissen Mechanismus reducirt werden. An Reichthum hat dadurch die Wissenschaft unendlich gewonnen, an Schönheit und Solidität aber, wie das Geschäft gewöhnlich betrieben wird, eben so sehr verloren. […] – Nehmen Sie meinetwegen statt || 94 Étienne B. de Condillac: Die Sprache des Rechnens. S. 119. 95 Der natürliche Ursprung des Zählens ist demnach das Abspreizen der Finger und das entsprechende Addieren und Subtrahieren. Bei großen Zahlen kommt diese Methode jedoch an ihre Grenzen. „Infolgedessen haben sie die Finger durch bequemere Zeichen ersetzt. Solche Zeichen sind zum Beispiel die Steine (cailloux), wovon das Wort Rechnen (calcul) kommt.“ Étienne B. de Condillac: Die Sprache des Rechnens. S. 216. 96 Étienne B. de Condillac: Die Sprache des Rechnens. S. 226.
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obigen Gleichnisses einer Maschine das von Papiergeld. Es kann dies zu großen Arbeiten vorteilhaftest benutzt werden, aber solide ist der Gebrauch nur, wenn ich gewiss bin, es jeden Augenblick in klingende Münze umsetzen zu können.97
Während der hier von Gauß erwähnte Aspekt der Schönheit98 unmittelbar einsichtig ist, bleibt das Kriterium der ‚Solidität‘ zunächst unklar und wird erst durch den Vergleich von mathematischen Symbolen mit Banknoten begreiflich. Bereits Leibniz bemühte den Bereich des Handels als metaphorischen Raum, wenn er sprachliche Zeichen als „Rechenpfennige“ oder als „Wechselzettel des Verstandes“99 bezeichnete. Die ersten offiziell ausgegebenen Banknoten im deutschsprachigen Raum waren die Bancozettel im frühen 18. Jahrhundert. Sie halfen, das Mitführen von größeren Münzgeldmengen zu vermeiden. Möglich wurde der Handel mit Papiergeld durch die rechtliche Sicherheit, jederzeit den Geldschein in entsprechenden Banken gegen Kurantmünzen eintauschen zu können. So ist beispielsweise im Gesetz, die Emittierung von Kassenanweisungen für das Herzogtum Coburg betreffend (22. Januar 1849) Folgendes zu lesen: Die Cassenanweisungen sind dem Metallgelde gleich zu achten und wie dieses bei allen Zahlungen an öffentliche Cassen und aus solchen, so wie im Verkehre des Landes überhaupt zu ihrem vollen Nennwerthe unweigerlich anzunehmen, sofern nicht in einzelnen Fällen die Zahlung in klingender Münze ausdrücklich bedungen worden ist.100
Noch bis ins 20. Jahrhundert war etwa auf den preußischen Reichsbanknoten der Umtausch in Silbermünzen ‚ohne Legitimationsprüfung‘ schriftlich vermerkt und zugesichert. Wenn Gauß nun schreibt, dass der Gebrauch des Papiergeldes wie der mathematischen Zeichensprache nur dann „solide ist […],
|| 97 Brief vom 1. September 1850. Carl F. Gauß: Briefwechsel zwischen C. F. Gauß und H. C. Schumacher. Bd. 6. Hrsg. von Christian A.F. Peters. Altona: Esch, 1865. S. 107. 98 Man muss an dieser Stelle allerdings vorsichtig sein: Gauß liegt nichts ferner, als der Mathematik an sich jede Ästhetik abzusprechen. Das zeigt sich in einem Brief an Sophie Germain (1776–1831) vom 30. April 1807: „Der Geschmack an den abstrakten Zahlen ist äußerst selten, darüber braucht man sich nicht zu wundern: Die reizenden Zauber dieser erhabenen Wissenschaft enthüllen sich in ihrer ganzen Schönheit nur denen, die den Mut haben, sie gründlich zu untersuchen.“ Kurt-Reinhard Biermann: Carl Friedrich Gauß. Der ‚Fürst der Mathematiker‘ in Briefen und Gesprächen. Leipzig: Urania, 1990. S. 72. 99 Gottfried W. Leibniz: Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache. In: derselbe: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Bd. 2. Übers. von Artur Buchenau und hrsg. von Ernst Cassirer. Hamburg: Meiner, 1966. S. 519-555; S. 520. 100 Otto Kozinowski: Das Staatspapiergeld des Herzogtums Sachsen-Coburg. In: Jahrbuch für Numismatik 39 (1989). S. 37–56; S. 52.
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wenn ich gewiss bin, es jeden Augenblick in klingende Münze umsetzen zu können“101, so impliziert dies, dass beim Operieren mit mathematischen Symbolen stets eine begriffliche ‚Deckung‘ der Zeichen gewährleistet sein sollte. Wer mit dem mathematischen Symbolismus operierte, sollte stets angeben können, was genau die Symbole repräsentierten. Nun erschließt sich auch, worauf Gauß abzielt, wenn er meint, die Wissenschaft habe durch die Formalisierung an Reichtum gewonnen, an Solidität allerdings verloren: Solide galt im Zahlungsverkehr eine Kurantmünze, deren Nominalwert durch das geprägte Material (Silber, Gold) gedeckt war. Einfacher und zweckmäßiger gestaltete sich der Gebrauch von Banknoten, der aber ein gewisses Risiko mit sich brachte (z.B. inflationären Wertverfall), da der Wert von Banknoten nur mittelbar durch eine Wechseloption bestand. Ähnlich riskant beurteilt Gauß die formalsprachliche Darstellung der Mathematik, da stets eine ‚Rückübersetzbarkeit‘ in Begriffe und Größen überprüft werden müsse. Die solide Deckung der Mathematik bestehe nur, solange alle Elemente des symbolisierten Kalküls in eine begriffliche bzw. verbalsprachliche Argumentation (rück-)übersetzbar seien. Gauß weist hier auf einen zentralen Aspekt des mathematischen Symbolismus hin, denn anders als beim Operieren mit verbalsprachlichen Ausdrücken ist beim Operieren mit Symbolen nicht eindeutig bestimmt, ob und welche Begriffe, Ideen, Vorstellungen oder Gegenstände sie repräsentieren. Der neuzeitliche mathematische Symbolismus ist keine Notation, die ähnlich verbalsprachlichen Schriftzeichen, Laute sekundär repräsentiert, die ihrerseits mentale Gehalte repräsentieren, es handelt sich vielmehr um ein gänzlich anderes Repräsentationssystem.
2.2 Ontologischer und operativer Symbolismus Mit Sybille Krämer können zunächst zwei Repräsentationsmodelle des mathematischen Symbolismus differenziert werden. Als ‚ontologischen Symbolismus‘ bezeichnet Krämer Modelle, nach denen die symbolisierten Gegenstände ontologisch unabhängig von den sie repräsentierenden Symbolen sind, so dass den Symbolen lediglich ein sekundärer Status zukommt. All jene Positionen, denen die Annahme zugrunde liegt, dass die symbolisierten Gegenstände erst durch eine symbolisierende Bezugnahme hervorgebracht würden, werden von ihr als Positionen des ‚operativen Symbolismus‘ bezeichnet.102 Historisch betrachtet ist
|| 101 Carl F. Gauß: Briefwechsel zwischen C. F. Gauß und H. C. Schumacher. Bd. 6. S. 107. 102 Sybille Krämer: Kalküle als Repräsentation. S. 111.
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nach Krämer der ontologische Symbolismus die Position der griechischen Antike, der operative Symbolismus bildet sich demnach erst mit den formalen Notationen in der Frühen Neuzeit aus: „Der Übergang vom ontologischen zum operativen Symbolismus kann so pointiert werden: Nicht mehr verleihen die Dinge den Zeichen ihre Bedeutung, vielmehr konstituieren die Zeichen die Dinge überhaupt erst als epistemische Gegenstände.“103 Mit der Übernahme des dezimalen Positionssystems einerseits und Cardanos und Viètes Notation andererseits sei, so Krämer, der wesentliche Schritt weg von einer phonetischen hin zu einer kalkülisierten Schrift gemacht worden. Krämer nennt diese auch ‚operative Schrift‘, da sie weniger ein Werkzeug der Kommunikation als vielmehr ein Werkzeug des symbolischen Operierens sei.104 Die operative Schrift hob die symbolische Algebra auf eine neue Entwicklungsstufe, da sie nicht nur bestimmte, sondern auch unbestimmte Gegenstände formal handhabbar machte. So können sich z.B. die Lettern a, b, c usw. nicht nur auf konkrete Gegenstände, sondern wiederum auf formale Zeichen beziehen: „In einer Substitution wird eine Repräsentation einer Repräsentation konstruiert, wodurch sich einige Ausdrücke der Sprache nur indirekt auf die Wirklichkeit beziehen. Statt ein Bild der Wirklichkeit zu sein, beginnt die Sprache das Bild eines Bildes zu bilden.“105 Operative Schriften sind weder phonetische noch logogrammatische, sondern semantographische (speziell ideographische) Schriftsysteme. Ihre Zeichen verweisen nicht auf sprachliche Einheiten wie Phoneme, Silben oder Worte, sondern auf abstrakte Konzepte bzw. mentale Inhalte. Mit der Entwicklung von operativen Symbolsprachen wurden folglich Schriftsysteme etabliert, die mehr und mehr von den Schriftsystemen der europäischen Verbalsprachen abwichen. Das hatte auch Folgen für die Bewertung der Verbindung von Sprache und Schrift, so Krämer: „Mit dem Aufbau von Kalkülen schafft die neuzeitliche Mathematik einen Typus von Schriftlichkeit, der gegenüber der mündlichen Sprache das Primat gewonnen hat.“106 Die zentrale Qualität des mathematischen Symbolismus war seine Funktionalität, die Praktikabilität in der verbalsprachli|| 103 Sybille Krämer: Kalküle als Repräsentation. S. 111. Krämer bezeichnet mit ‚operativem Symbolismus‘ zudem auch die symbolische Notation der neuzeitlichen, symbolischen Algebra. Diese Bezeichnung soll im Folgenden übernommen werden. 104 Die römischen Ziffern beispielsweise erfüllten lediglich eine fixierende und kommunikative Funktion; zum Ausführen von Rechnungen waren sie nur minder geeignet, Rechenoperationen wurden meist mit Abakussen vollzogen. 105 Ladislav Kvasz: Sprache und Zeichen in der Geschichte der Algebra. Ein Beitrag zur Theorie der Vergegenständlichung. In: Journal für Mathematik-Didaktik 29.2 (2008). S. 108–123; S. 116. 106 Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. S. 95.
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chen Kommunikation war dagegen peripher. Er sollte primär der Problemlösung dienen, was die Lesbarkeit bzw. Verbalisierbarkeit verkomplizierte.107 Ein weiterer entscheidender Aspekt unterscheidet ontologischen und operativen Symbolismus: Spätestens mit der von Viète entwickelten symbolischen Algebra wurde eine kategorische Trennung zwischen intrasymbolischer und extrasymbolischer Bedeutung vollzogen (Krämer bezeichnet dies als ‚symbolische Differenz‘), durch die das Operieren mit und die inhaltliche Interpretation von Symbolen in zwei unterschiedliche Verfahren dividiert wurde: Mit Symbolen in dieser Weise operativ zu arbeiten, heißt, das vorgegebene Medium gerade nicht zu verlassen. Anders als bei dem Decodierungsprozeß geht es nicht darum, Symbole durch das zu ersetzen, was sie extrasymbolisch bedeuten, vielmehr darum, Symbole durch rein systeminterne Operationen umzuwandeln. Lösen wir eine Multiplikationsaufgabe im dezimalen Stellenwertsystem, erhalten wir wiederum einen Zahlenausdruck, der mit den Mitteln dieses Systems formuliert ist. […]. Zwar ist nicht ausgeschlossen, daß die formalen Symbole auch interpretiert werden, mithin extrasymbolische Bezüge eingehen: Doch für die Funktion des symbolischen Systems, ein operatives Medium zu sein, bleibt das ohne Belang. Die Regeln zum Formen und Umformen der Symbolkonfigurationen nehmen keinen Bezug auf systemexterne Aspekte: Mit den Symbolen kann interpretationsfrei gearbeitet werden.108
Bereits in arithmetischen Gleichungen musste für ein korrektes rechnerisches Ergebnis nicht geklärt werden, welchen Gegenstand beispielsweise die Ziffer 0 repräsentiert oder welchen ontologischen Status sie hat. In einer algebraischen Gleichung, z.B. in der Gleichung x3 − 15x − 4 = 0, bezeichnet das Zeichen für eine unbekannte Größe, hier ‚x‘, keine konkrete Ziffer oder Zahl mehr, sondern alle möglichen Zahlen und Ziffern, mit denen die Gleichungsform in eine korrekte Gleichung überführt werden kann. Einzelne Ziffern stellen folglich nur noch eine „mögliche Gegenständlichkeit“109 eines derartigen Ausdrucks dar. Die Variablensymbole der neuzeitlichen Algebra erzeugen, wie Krämer ausführt, die Gegenstände, die sie repräsentieren: „‚Gegenständlichkeit‘ und ‚Wirklichkeit‘, verstanden als die Eigenschaft, eine bestimmte Stelle in Ort und Zeit einzunehmen, kommt nur noch den Symbolen, nicht aber mehr den symbolisierten Gegenständen zu.“110
|| 107 Ein geeignetes Beispiel der Entwicklung hin zu einer operativen Notation und weg von einer unmittelbar verbalsprachlichen ‚Lesbarkeit‘ ist die Genese des Wurzelzeichens. Vgl. Ladislav Kvasz: Sprache und Zeichen in der Geschichte der Algebra. S. 121f. 108 Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. S. 92f. 109 Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. S. 140. 110 Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. S. 146.
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Die zeichentheoretischen Konsequenzen der symbolischen Differenz sollten allerdings erst wesentlich später erkannt und akzeptiert werden. Noch Descartes ließ den operativen Symbolismus lediglich als ein Mittel zur Lösung konkreter, anschaulicher Probleme gelten.111 Doch musste auch er im Umgang mit der algebraischen Formalsprache von abstrakten, allgemeinen Größen als Referenz ausgehen und nicht mehr von konkreten Zahlen oder Ziffern. Das bedeutet, dass in Descartes’ Formalisierung die Symbole de facto bereits autonome Gegenstände waren und das obwohl er diese Tatsache, wie Krämer feststellt, nicht anerkennen wollte.112 Auch Leibniz entwarf aufgrund der Auseinandersetzung mit Hobbes und Locke zunächst einen gegenstandsgebundenen Zeichenbegriff (vgl. Kap. II.2.1). Zeichen dienen nach seiner Einschätzung zunächst der Erinnerung, dann der Kommunikation und schließlich auch der Vereinfachung mentaler Operationen, insofern sie als Abkürzungen für andere Zeichen stehen können; in diesem Kontext bezeichnete Leibniz Worten auch als die „Wechselzettel des Verstandes“113. Immer dann, wenn der menschliche Geist sich unmittelbar eine Vorstellung der zu erkennenden Gegenstände bilden könne, träten die Zeichen idealerweise völlig hinter sie zurück und seien nur ein subsidiäres Mittel. Doch in einem wichtigen Punkt ging Leibniz in seiner rationalistischen Zeichentheorie über Hobbes, Locke und selbst Descartes hinaus, nämlich dort, wo er die Erkenntnis von Gegenständen untersuchte, die dem Menschen ausschließlich zeichenhaft gegeben sind, weil seine begrenzte Vorstellungskraft sich weder Vorstellungen noch Begriffe von ihnen bilden kann. Zeichen erlaubten diese Grenze der menschlichen Erkenntnis zu überwinden, da „die Worte nicht nur der Gedanken, sondern auch der Dinge Zeichen“ seien.114 Wo also im semiotischen Dreieck die Vorstellung bzw. der Begriff eines Gegenstandes leer bleiben müsse, da die menschliche Vorstellungskraft sie nicht bilden könne, könnten Zeichen direkt den Gegenstand repräsentieren. Entsprechend unterschied Leibniz zwei Arten der Erkenntnis: die intuitive Erkenntnis bei Gegenständen, von denen eine vorsprachliche Vorstellung gebildet werden kann, und die symbolische oder auch ‚blinde‘ Erkenntnis bei lediglich zeichenhaft erkennbaren Gegenständen. Ein nicht unproblematischer Punkt im Konzept der symbolischen Erkenntnis ist die Tatsache, wie Krämer anmerkt, dass diese Form der Erkenntnis stets und ausschließlich auf den Bereich der Symbole beschränkt bleibt und nie zu den Gegenständen selbst vorzudringen vermag.
|| 111 Vgl. Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. S. 380. 112 Vgl. Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. S. 220. 113 Gottfried W. Leibniz: Unvorgreifliche Gedanken. S. 520. 114 Gottfried W. Leibniz: Unvorgreifliche Gedanken. S. 520.
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‚Symbolische Erkenntnis‘ heißt: Der Gebrauch von Zeichen für das Denken besteht nicht nur darin, die Resultate des Denkens zu kommunizieren oder sie dem Gedächtnis verfügbar zu halten, vielmehr darin, daß das Denken sich gar nicht anders ‚bewegen‘ kann denn im Medium der Zeichen.115
Im Gegensatz zu Descartes befürwortet Leibniz die symbolische Differenz des mathematischen Symbolismus nicht nur, er macht sie für die symbolische Erkenntnis fruchtbar und versucht ihr Prinzip über den Bereich der Mathematik hinaus zu verallgemeinern. Hierzu entwirft er eine Universalsprache der Erkenntnis (lingua universalis), die nichts anderes als ein allgemeiner und universeller operativer Symbolismus sein sollte: Wenn man Charaktere oder Zeichen finden könnte, die geeignet wären, alle unsere Gedanken ebenso rein und streng auszudrücken, wie die Arithmetik die Zahlen oder die analytische Geometrie die Linien ausdrückt, könnte man offenbar bei allen Gegenständen, soweit sie dem vernünftigen Denken unterworfen sind, das tun, was man in der Arithmetik und der Geometrie tut. Denn alle Forschungen, die vom vernünftigen Denken abhängen, würden durch die Umwandlung dieser Charaktere und eine Art Kalkül zustande kommen, was die Erfindung schöner Dinge ganz leicht machen würde. [...]. Zudem würde man jeden von dem überzeugen, was man gefunden oder erschlossen hätte, da es leicht sein würde, den Kalkül zu prüfen, [...]. Und wenn jemand an dem, was ich vorgebracht haben würde, zweifelte, würde ich zu ihm sagen: ‚Rechnen wir, mein Herr!‘ [calculemus, M.I.], und Feder und Tinte nehmend, würden wir uns bald aus der Verlegenheit ziehen.116
Damit Erkenntnisprobleme rechnend erledigt werden können, muss nach Leibniz neben der symbolischen Differenz eine weitere Voraussetzung erfüllt sein: Die extrasymbolische Fragestellung (also inhaltliche Probleme auf der Gegenstandsebene) muss vollends mit intrasymbolischen Verfahren, d.h. rein formal gelöst werden können. „In letzter Konsequenz“, so Krämer, „heißt das, Wahrheitsbeweise auf Richtigkeitsnachweise zurückzuführen […].“117 Da die symbolische Algebra dieses Prinzip bereits umsetzte, gilt sie für Leibniz als Blaupause der neu zu erschaffenden lingua universalis. Anders als Descartes, der in seinem Entwurf einer mathesis universalis – und hier grenzte er die mathesis universalis explizit von der symbolischen Algebra ab – noch eine extensionale Repräsentation der Zeichen forderte, wird der Interpretationshorizont der Zeichen in Leibniz’ logischem Kalkül bewusst offengehalten. Wo Descartes also Wert darauf legte, dass die Symbolik erkennen || 115 Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. S. 381. 116 Gottfried W. Leibniz: Fragmente zur Logik. Hrsg. von Franz Schmidt. Berlin: Akademie, 1960. S. 90. 117 Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. S. 383.
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lassen solle, was sie repräsentiere, funktioniert die ars combinatoria nach Leibniz’ Entwurf gerade deswegen, weil ihre Symbolik nicht auf eine Deutung festgelegt wird und so eine symbolische Lösung als Lösung ganz unterschiedlicher Gegenstandsbereiche Anwendung finden kann. Dass diese Offenheit kein Zufall ist, erläutert Christian Thiel anhand der intensionalen und extensionalen Deutungsmöglichkeiten des Plus-Kalküls: Der Verzicht auf die Nennung von Deutungen ist nur eines der Zeichen dafür, daß Leibniz ganz bewußt den Kalkül als einen allgemeinen formuliert, der verschiedenen Deutungen nicht nur zugänglich ist, sondern einzig um dieser verschiedenen Deutungsmöglichkeiten willen überhaupt aufgestellt wird.118
Aufgrund der Offenheit gegenüber unterschiedlichen Deutungen kann eine Definition symbolischer Ausdrücke im Kalkül nicht durch ihre extrasymbolische Deutung erfolgen. Das ist in Leibniz’ Augen problematisch, da so auch unangemessene Ausdrücke innerhalb des Symbolismus erzeugt werden könnten. Als ‚unangemessen‘ bezeichnet er solche Ausdrücke, denen kein Gegenstand entspricht bzw. entsprechen kann, als ‚angemessen‘ solche Ausdrücke, die regelgeleitet im Kalkül erzeugbar, also kalkülisierbar sind. Die Kalkülisierbarkeit eines Zeichenausdrucks dient Leibniz, wie Krämer ausführt, als Garant dafür, daß dieser Ausdruck tatsächlich eine Bedeutung hat, daß ihm ein wirkliches Referenzobjekt entspricht. Wir sehen also, daß der Zweck, den Leibniz mit der Kalkülisierung verfolgt, in letzter Konsequenz ein nichtformalistischer ist, insofern die Kalkülisierung Gewähr bietet nicht nur für die interpretationsfreie Manipulation der Zeichen, sondern auch für die mögliche Interpretierbarkeit der Ausdrücke, die durch formales Operieren erzeugt werden können. Die technische Herstellbarkeit von Zeichenausdrücken im Kalkül wird zum Garanten von Referenz und damit der möglichen Existenz des Referenzgegenstandes. Sie erweist sich so als eine subtile Form der Herstellung auch der Gegenstände der Referenz.119
Dass Leibniz mit dieser Konzeption eines bedeutungsfreien Operierens mit formalsprachlichen Zeichen ohne feste oder festgelegte extrasymbolische Deutung seiner Zeit voraus war, wird u.a. am Umgang mit Leibniz’ Differentialkalkül ersichtlich, und das sowohl in der von Bernard Nieuwentijt (1658–1718) und George Berkeley (1685–1753) formulierten Kritik, als auch in der produktiven Fortführung durch Guillaume de l’Hopital (1661–1704) und durch die Gebrüder
|| 118 Christian Thiel: Zur Beurteilung der intensionalen Logik bei Leibniz und Castillion. In: Studia Leibnitiana [Supplement] 15.4 (1975). S. 27–37; S. 33. 119 Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. S. 317.
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Bernoulli. Kennzeichnend für den Differentialkalkül war, dass er Regeln für die Operation mit den Symbolen gab, die unabhängig davon Gültigkeit besaßen, welche konkreten Gegenstände die Symbole repräsentieren sollten. Die Richtigkeit der durchgeführten Operationen war also stets unabhängig von der ontologischen Deutung der als Indivisibilien aufgefassten Differentiale. Nur auf diese Weise gelang es Leibniz, wie Krämer folgert, „das Differential zum legitimen Gegenstand regelgeleiteter mathematischer Operationen [zu machen], ohne daß die Frage, ob dem Differential ein Referenzgegenstand entspreche, ob es also für eine wohlbestimmte Größe stehe, überhaupt beantwortet werden muss.“120 Auf diese Weise ließen sich zudem auch Differentiale höherer Ordnung gewinnen, für die Leibniz ansonsten keine anschauliche Deutung geben konnte. Nieuwentijt fordert nun in Analysis infinitorum gerade eine solche ontologische Deutung. Für Differentiale erster Ordnung konnte die noch gegeben werden, indem man sie als unendlich häufige Teilung einer endlichen Größe interpretierte.121 Für die iterative Anwendung und die höhergradigen Differentiale hält Nieuwentijt diese Deutung jedoch für unzulässig, da hierbei zwei infinitesimale Größen so verbunden würden, dass sie zu einer ‚noch unendlich kleineren‘ Größe führten; infinitesimale Größen, deren Verbindung keine finite Größe ergäben, seien aber gleich Null.122 Es ist bemerkenswert, dass Nieuwentijt nicht die mit dem Kalkül gewonnenen Ergebnisse selbst kritisiert – sie waren seiner Ansicht nach über jeden Zweifel erhaben. Was er und später auch Berkeley kritisieren, sind die Leibniz’schen Wege zu den Ergebnissen123: „It must be remembered“, betont Berkeley in The Analyst (1743), „that I am not concerned about the truth of your Theorems, but only about the way of coming at them; whether it be legitimate or illegitimate, clear or obscure, scientific or tentative.“124 Berkeley kritisiert die ‚Gegenstände‘ der Infinitesimalrechnung, die
|| 120 Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. S. 157. 121 Vgl. Sybille Krämer: Zur Begründung des Infinitesimalkalküls durch Leibniz. In: Philosophia Naturalis 28 (1991). S. 117–146; S. 122f. 122 Vgl. Bernhard Nieuwentijt: Analysis infinitorum seu curvilineorum proprietates ex polygonorum natura deductae. Amsterdam: Wolters, 1695. S. 31–33 und S. 281–283. 123 Vgl. Christian Thiel: Grundlagenkrise und Grundlagenstreit. Studie über das normative Fundament der Wissenschaften am Beispiel von Mathematik und Sozialwissenschaft. Meisenheim a. G.: Hain, 1972. S. 11f. 124 George Berkeley: The Analyst. [The Analyst. Or: discourse addressed to an infidel mathematician. Wherein it is examined whether the object, principles, and inferences of the modern analysis are more distinctly conceived, or more evidently deduced, than religious mysteries and points of faith, 1743]. In: derselbe: De Motu and The Analyst. Trans. and ed. by Douglas M. Jesseph. Dorbrecht, Boston, London: Kluwer, 1992. S. 163–221; S. 20f.
204 | Formalisierung und Axiomatisierung der Mathematik
Fluxionen und unendlich kleinen Größen, da sie weder verständlich noch formal widerspruchsfrei eingeführt würden.125 Zwar erkennt er die Möglichkeit eines bedeutungsfreien Operierens mit Symbolen und damit auch die Erzeugung unanschaulicher Gegenstände an (z.B. Differentiale höherer Grade), nachdem er aber zumindest eine mögliche ontologische Deutung der formalsprachlichen Zeichen fordert, hält er alle Differentiale höherer Ordnung für unzulässig: Nothing is easier than to devise Expressions or Notations for Fluxions and Infnitesimals of the first, second, third, fourth, and subsequent Orders, proceeding in the same regular form without end or limit . . . . etc. or dx. ddx. dddx. ddddx. etc. These Expressions indeed are clear and distinct, and the Mind finds no difficulty in conceiving them to be continued beyond any assignable Bounds. But if we remove the Veil and look underneath, if laying aside the Expressions we set ourselves attentively to consider the things themselves, which are supposed to be expressed or marked thereby, we shall discover much Emptiness, Darkness, and Confusion; nay, if I mistake not, direct Impossibilities and Contradictions. […] I admit that Signs may be made to denote either anything or nothing: And consequently that in the original Notation x + 0, 0 might have signified either an Increment or nothing. But then which of these soever you make it signify, you must argue consistently with such its Signification, and not proceed upon a double Meaning: which to do were a manifest Sophism. Whether you argue in Symbols or in Words, the Rules of right Reason are still the same. Nor can it be supposed, you will plead a Privilege in Mathematics to be exempt from them.126
Auch wenn die durch The Analyst verursachte Kontroverse an dieser Stelle nicht weiter dargestellt werden kann, kann festgehalten werden, dass Berkeley mit seiner Kritik den Kern der Leibniz’schen Methode traf. Für Berkeley muss die Klarheit und Eindeutigkeit des formalsprachlich formulierten Differentialkalküls mit den verbalsprachlichen Repräsentanten korrespondieren. Er fordert dieselbe logische Strenge, die im Kalkül herrscht, auch für die verbalsprachliche Darstellung und er lehnt strikt ab, dass die Frage nach inhaltlicher Wahrheit auf die formale Richtigkeit eines ‚calculemus‘ zurückgeführt und ihre Gegenstände lediglich innersymbolisch-generativ definiert werden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sowohl Newton als auch Leibniz die mit den Indivisibilien verbundenen ontologischen Probleme durchaus bewusst waren. Vermutlich war es der Erfolg der Analysis, der die problematische Grundlegung – speziell in Form der unendlich kleinen Größen – aus dem Fokus
|| 125 Vgl. George Berkeley: The Analyst. S. 193f. 126 George Berkeley: The Analyst. S. 169 und S. 176.
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mathematischen Interesses rückte.127 Nieuwentijt wie Berkeley beharrten auf einer denotativen Interpretation, d.h. sie forderten, dass nur reale Gegenstände formalsprachlich repräsentiert werden sollten. Ein angemessener formalsprachlicher Ausdruck sollte an die Repräsentation realer Gehalte und so an die verbalsprachliche Übersetzbarkeit gebunden bleiben. Ebenso lehnte Condillac generativ-innersymbolische Definitionen ab. Als Definitionen ließ er stets nur Realdefinitionen gelten, die seiner Ansicht nach im Grunde überflüssig seien, da sie auf bereits bekannte Gegenstände verwiesen.128 Das eigentliche Instrument der Erkenntnis bleibt für ihn die Analyse von Gegenständen und Ideen: Eine gelungene Definition sei nichts anderes als eine gelungene Analyse. Folglich ist es nach Condillac völlig sinnlos, einfache und unzerlegbare Grundbegriffe in der Mathematik definieren zu wollen: Die Mathematiker machen aus der vorgefaßten Meinung, daß man alles definieren müsse, häufig vergebliche Anstrengungen und suchen Definitionen, die sie nicht finden. Eine solche Definition ist zum Beispiel diejenige der Geraden; denn wer mit ihnen sagt, sie sei die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten, der bringt keine Verbindung zwischen zwei Punkten, der bringt keine Kenntnis über sie, sondern setzt sie voraus. Da nun in der Sprache der Mathematiker eine Definition ein Prinzip ist, darf sie nicht voraussetzen, daß die betreffende Sache bekannt sei. An dieser Klippe scheitern alle Prinzipienreiter zum großen Ärger mancher Mathematiker, die darüber klagen, daß man noch keine gute Definition der Geraden zustande gebracht habe. Sie scheinen nicht zu wissen, daß man etwas Undefinierbares nicht definieren darf. Wenn sich aber die Definitionen darauf beschränken, uns die Dinge nur zu zeigen, was macht es dann aus, ob dies geschieht, ehe wir sie kennen, oder erst nachher? Mir scheint, die Hauptsache ist, daß wir sie kennen. Man wäre
|| 127 Vgl. Christian Thiel: Grundlagenkrise und Grundlagenstreit. S. 11. 128 „Definitionen weisen also auf die Dinge hin, die man analysieren will, und das ist alles, was sie leisten. Unsere Sinne weisen uns ebenso auf die sinnlich wahrnehmbaren Objekte hin, und diese analysieren wir, obwohl wir sie nicht definieren können, Definieren muß man also nur, weil man die Dinge, über die man Schlüsse ziehen will, sehen muß. Kann man dies, ohne zu definieren, so werden die Definitionen überflüssig. […]. Was bedeutet es also, wenn man sagt: Die Definitionen sind Prinzipien? Es bedeutet, daß man die Dinge zunächst einmal sehen muß, wenn man sie studieren will, und zwar so sehen muß, wie sie sind. Nur dies bedeutet es, und doch glaubt man, noch mehr damit zu sagen. Prinzip ist synonym mit Anfang. Und in dieser Bedeutung hat man das Wort zuerst gebraucht. Später aber hat man es infolge des ständigen Gebrauchs gewohnheitsmäßig, mechanisch angewandt, ohne Ideen damit zu verbinden, und so ist man zu Prinzipien gelangt, die der Anfang von nichts sind.“ Étienne B. de Condillac: Die Logik oder die Anfänge der Kunst des Denkens. [La logique, ou Les premiers développements de l’art de penser, 1780]. In: derselbe: Die Logik oder die Anfänge der Kunst des Denkens. Die Sprache des Rechnens. Übers. von Erich Salewski und hrsg. von Georg Klaus. Berlin: Akademie, 1959. S. 1–116; S. 88f.
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aber überzeugt, daß das einzige Mittel, um sie zu kennen, darin besteht, sie zu analysieren, wenn man bemerkt hätte, daß die besten Definitionen nur Analysen sind.129
Condillacs Erklärung folgt einem einfachen Muster. Definitionen, auch mathematische, seien stets sprachliche Repräsentationen real erkennbarer, komplexer Gegenstände und Ideen. Da die Komplexität mathematischer Formulierungen und Probleme rasch angewachsen sei und so das praktische Operieren erschwert habe, sei es aufgekommen, umständliche Redewendungen durch einfache Zeichen zu ersetzen. Die Algebra sei folglich nichts anderes als eine Abkürzungskunst: „Außerdem ist die Algebra zu allen Zeiten das gewesen, was sie heute ist, nämlich die Kunst, beim Rechnen umständliche sprachliche Redewendungen durch unbestimmte Zeichen zu ersetzen […].“130 Wie ist nun aber sichergestellt, dass Symbolismus und Wirklichkeit korrespondieren? Anders als Leibniz, der diese Frage mit der prästabilierten Harmonie der Welt beantwortete, musste der Sensualist Condillac eine alternative Erklärung entwickeln: Sind die Ausdrücke der formalen Algebra lediglich Abkürzungen verbalsprachlicher Formulierungen, so muss das Operieren mit ihnen und das logische Schließen mit Begriffen identisch sein und auf denselben Regeln und Prinzipien beruhen, folgert Condillac in Die Sprache des Rechnens: Wenn nun beim Rechnen die Operationen mit Ideen erfolgen, wird man auch in der Analogie der Ideen die Methoden suchen müssen. Dagegen wird man die Methoden in der Analogie der Zeichen suchen müssen, wenn die Operationen mit Zeichen erfolgen. Ich habe aber gezeigt, daß die Operationen nur mit Zeichen erfolgen; die Algebra ist ein sehr klarer Beweis dafür. In der Tat, wenn man uns eine Gleichung gibt, etwa x + a – b = c, formen wir sie um, ohne wissen zu müssen, was die Buchstaben, aus denen sie gebildet ist, bedeuten. Wenn wir es wissen, denken wir nicht daran, und erst nach Durchführung der Operation ersetzen wir die Buchstaben durch ihre Werte.131
Condillac beschreitet damit den Weg einer indirekten ontologischen Fundierung des operativen Symbolismus, der – wie die gesamte sensualistische Grundlegung der Mathematik – problematisch ist. Eine der großen Herausforderungen waren die imaginären Zahlen oder Größen. Sie brachten nicht nur Sensualisten wie Condillac, sondern auch Rationalisten wie Leibniz in Erklärungsnot. Die Geschichte ihrer Deutung soll daher im folgenden Kapitel nachgezeichnet werden, um die wissenschafts- und sprachtheoretischen Erfordernisse im Umgang mit dem operativen Symbolismus und seiner symbolischen Differenz an einem || 129 Étienne B. de Condillac: Die Logik. S. 90. 130 Étienne B. de Condillac: Die Sprache des Rechnens. S. 239. 131 Étienne B. de Condillac: Die Sprache des Rechnens. S. 241.
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konkreten Beispiel zu illustrieren. Zuvor soll aber die Bedeutung des operativen Symbolismus für die Geschichte der neuzeitlichen Mathematik in wenigen Stichpunkten zusammengefasst werden. Die Entwicklung des neuzeitlichen, operativen Symbolismus war, so zeigte sich, von Anbeginn verbunden mit der symbolischen Differenz, also der Differenz zwischen symbolinterner und symbolexterner Bedeutung formalsprachlicher Zeichen. Hierdurch wurden das Operieren mit und das Interpretieren von formalsprachlichen Zeichen kategorisch voneinander getrennt. Im operativen Symbolismus änderte sich hierdurch de facto der Status formalsprachlicher Zeichen. Sie sind nicht länger sekundäre Repräsentanten primärer Gegenstände, sondern erhalten einen primären Status; sie erzeugen allererst die repräsentierten Gegenstände. Gegenstände können folglich nicht per Realdefinition in den Kalkül eingeführt werden, sondern werden innersymbolisch-generativ erzeugt und erhalten ex post eine inhaltliche Deutung. Im Verhältnis zum ontologischen Symbolismus der Antike stellte sich die Frage nach der Repräsentationsfunktion formalsprachlicher Zeichen, da beim operativen Symbolismus die Gefahr besteht, dass mit seinen Zeichen ‚inhaltsleer‘ operiert wird. Leibniz beantwortete diese Frage mit dem Verweis auf die ‚Richtigkeit‘ innerhalb des Kalküls, da eine intuitive Erkenntnis der meisten mathematischen Gegenstände nicht möglich sei. An die Stelle der intuitiven trat bei ihm die symbolische Erkenntnis, deren Gegenstände nicht durch eine Realdefinition gewonnen, sondern vielmehr regelgeleitet und zeichenbasiert erzeugt werden.132 Dieses formale, kalkülisierte Verfahren hatte, wie Krämer festhält, weitreichende Konsequenzen für die Referenz formalsprachlicher Zeichen: [D]ie Einheit des Gegenstandes [ist] nur noch als Abstraktionsklasse äquivalenter Zeichenausdrücke gegeben. Die ‚Identität‘ des Gegenstandes setzt die Austauschbarkeit der Zeichen, deren Referenzgegenstand er ist, voraus. Dann aber können wir uns mit kalkülisierten Erkenntnisverfahren ausschließlich auf abstrakte Gegenstände, nicht aber auf konkrete Dinge bzw. Individuen beziehen.133
Die Anwendung des Kalküls auf konkrete Fragestellungen erscheint so als nur eine von mehreren möglichen Interpretationen des Kalküls. Berkeley, Condillac und die meisten Empiristen bzw. Sensualisten beharrten jedoch auf einer denotativen Bedeutung aller formalsprachlichen Zeichen. Wo ihrer Einschätzung nach – wie im Falle der imaginären Zahlen – keine Referenz angegeben werden kann, verwerfen sie die im operativen Symbolismus erzeugten Zeichen. Sie || 132 Vgl. Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. S. 385. 133 Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. S. 385f.
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begriffen das Verhältnis von mathematischen Ideen und den sie repräsentierenden formalsprachlichen Zeichen als ein Übersetzungs- oder Decodierungsverhältnis und hielten so letztlich am Prinzip des ontologischen Symbolismus fest. Leibniz’ Ansatz beruht demgegenüber auf der Annahme, dass die inhaltliche Verarbeitung bedeutungstragender Symbole auf eine rein formale Verarbeitung, d.h. auf eine Art Rechnen, zurückgeführt werden könne. Auch diese Rückführung hatte, wie Krämer betont, weitreichende Folgen: Wenn es so ist, daß alle wissenschaftliche Erkenntnis auf symbolische Verfahren angewiesen ist, und wenn erst die Formalisierung dieser Verfahren eine größtmögliche Sicherheit der Erkenntnis garantiert; wenn des Weiteren alle formalisierten Verfahren sich nur auf ideale und abstrakte Konstrukte des Geistes beziehen können, zugleich aber alles, was wirklich existiert, individuell ist, dann können wir mit formalen symbolischen Verfahren keine Erkenntnis gewinnen über die wirklichen Begebenheiten unserer Welt, über das, was sich wirklich zuträgt. Das Ideal einer vollständig kalkülisierten Wissenschaft wird erkauft mit dem Verzicht auf die Erkenntnis dessen, was wirklich existiert.134
Das von Vico erhobene Ideal einer wahren und gleichermaßen sicheren Erkenntnis (vgl. Kap. II.4.1) entwickelte sich unter diesen Voraussetzungen zu einem handfesten erkenntnistheoretischen Problem. Je präziser und weiterentwickelt der Umgang mit dem operativen Symbolismus wurde, desto fragwürdiger wurde den Mathematikern des 17. und 18. Jahrhunderts seine Rückkopplung an die Phänomene der Wirklichkeit.
2.3 Die imaginären Zahlen Die Zeichen des operativen Symbolismus, so lautet Krämers These, erzeugen die Gegenstände, die sie repräsentieren. Ein Beispiel derartiger Gegenstände sind die imaginären bzw. komplexen Zahlen. Der italienische Mathematiker Hieronymus Cardanus (1501–1575) thematisierte in Artis Magnæ (1545) eine negative Lösung quadratischer Gleichungen. Er formuliert folgende Musteraufgabe: Teile 10 in zwei Teile, deren Produkt 40 ist (in heutiger Notation ist das die Lösung der Gleichung x + 10 − x = 40). Die Lösung des Problems bezeichnet Cardanus aufgrund der negativen Radikanden als „impossibilis“135, führt aber dennoch die Lösung aus:
|| 134 Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. S. 387. 135 Girolamo Cardano [Hieronymus Cardanus]: Artis Magnæ, sive de regulis algebraicis liber unus. Nürnberg: Petreius, 1545. S. 66.
Die imaginären Zahlen | 209
Wir teilen 10 in zwei gleichgroße Teile von jeweils 5. Diese quadrieren wir, was 25 ergibt. Subtrahiere 40 von den so gewonnenen 25 […] ergibt einen Rest von –15, die Quadratwurzel dessen, das zu 5 addiert oder subtrahiert [werden muss] ergibt den anderen Teil des Produkts von 40. Dies wird 5 + √−15 und 5 − √−15 sein.136
Anschließend interpretiert Cardanus die Aufgabe geometrisch und fordert dabei auf, sich einen Rest von √−15 ‚vorzustellen‘ (lat. imaginaberis) – vermutlich handelt es sich um jene Formulierung, auf die die Bezeichnung ‚imaginäre Zahlen‘ zurückzuführen ist. Als geometrische Größe verstanden sind Wurzeln aus negativen Zahlen allerdings nicht denkbar, sie wurden für unmöglich erklärt und den ‚reellen Zahlen‘ gegenübergestellt.137 Die Tatsache, dass Gleichungen existierten, die mittels imaginärer Größen korrekt gelöst werden konnten, wurde als irritierend empfunden. Die besagte Gleichung in Cardanus’ Aufgabe etwa ist lösbar, denn multipliziert man 5 + √−15 und 5 − √−15 erhält man 25 – (–15), was 40 ergibt.138 Doch die Vorstellung einer negativen Wurzel erschien Cardanus als ein ‚mentaler Zwang‘.139 Da die Frage unbeantwortet blieb, wie die Wurzel aus einer negativen Zahl ontologisch zu deuten sei, erklärte er die Frage an sich als nutzlos (inutile). Später sollte Rafael Bombelli (1530–1572) zeigen, dass mit imaginären Zahlen sehr wohl sinnvoll – wenn auch nur formal – gerechnet werden kann, z.B. wenn man Gleichungen mittels imaginärer Zahlen zu einem reellen Ergebnis führt (etwa für die Gleichung x3 − 15x − 4 = 0). Auch Leibniz operierte mit ima-
|| 136 Übersetzung M.I. nach der englischen Übersetzung von Richard Witmer: „We divide 10 into two equal parts, making each 5. These we square, making 25. Subtract 40, if you will, from the 25 thus produced, as I showed you in the chapter on operations in the sixth book, leaving a remainder of –15, the square root of which added to or subtracted from 5 gives parts the product of which is 40. These will be 5+√−15 and 5 − √−15.“ Girolamo Cardano [Hieronyus Cardanus]: Ars Magna or The Rules of Algebra. Trans. and ed. by Richard Witmer. New York: Dover, 1993. S. 219. 137 So auch von Descartes: „Außerdem sind weder die positiven noch die negativen Lösungen immer reell, sondern manchmal imaginär, d.h.: Man kann sich sehr wohl immer ebenso viele Lösungen in einer Gleichung vorstellen, wie ich gesagt habe, aber manchmal entspricht den vorgestellten keine Quantität. So kann man sich etwa in dieser Gleichung x³ − 6x²+13x − 10 = 0 zwar Lösungen vorstellen, aber es gibt gleichwohl nur eine reelle, nämlich 2. Die beiden anderen hingegen kann man stets nur imaginär machen, auch wenn man sie in der von mir gerade erklärten Weise vergrößert, verkleinert oder multipliziert.“ René Descartes: Entwurf der Methode. S. 383. 138 Cardano notiert die Lösung allerdings in der Form 5. p. ̷. m. 15 und 5. m. ̷. m. 15, wobei ‚p‘‚plus‘, ‚m‘ ‚minus‘ und ‚ ̷ ‘ ‚radix‘ bezeichnet. Girolamo Cardano: Artis Magnæ, sive de regulis. S. 66f. 139 Witmer übersetzt ‚dimissis incruciationibus‘ mit „Putting aside the mental tortures involved.“ Girolamo Cardano: Ars Magna or The Rules of Algebra. S. 219; Fußn. 5.
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ginären Zahlen. Er fand u.a. die Beziehung + √− + − √− = √ , die nach Heinz-Wilhelm Alten „in seltsamer Weise das Komplexe mit dem Reellen verknüpfte und die die Absonderlichkeiten beim Umgang mit den ‚eingebildeten‘ Zahlen betonte“140. Dennoch blieben selbst Leibniz die imaginären Zahlen ein Wunder der Analysis („analyseos miraculo“), eine Monstrosität der idealen Welt („idealis mundi monstro“) und ein Mischwesen zwischen Sein und Nichtsein („Ens et non-Ens Amphibio“)141 und selbst Leonhard Euler (1707–1783) sollte noch eine „relativ altmodische Erklärung“142 der imaginären Zahlen geben: Weil nun alle möglichen Zahlen, die man sich nur immer vorstellen mag, entweder größer oder kleiner als 0, oder 0 selbst sind; so ist klar, dass die Quadratwurzel von negativen Zahlen nicht einmal unter die möglichen Zahlen gerechnet werden kann. Folglich muß man behaupten, daß sie unmögliche Zahlen sind. Und dieser Umstand leitet auf den Begriff von solchen Zahlen, welche ihrer Natur nach unmöglich sind, und gewöhnlich imaginäre oder eingebildete Zahlen genannt werden, weil sie bloß in der Einbildung statt finden [sic!]. […]. Ungeachtet aber diese Zahlen, als z.B. √−4, ihrer Natur nach ganz und gar unmöglich sind, so haben wir doch davon einen hinlänglichen Begriff, indem wir wissen, dass dadurch eine solche Zahl angedeutet werde, welche mit sich selbst multiplicirt, zum Product −4 hervorbringe; und dieser Begriff ist hinreichend, um diese Zahlen in der Rechnung gehörig zu behandeln.143
Condillac, der eine reale Bedeutung mathematischer Symbole forderte, die er im Falle der imaginären Zahlen nicht gegeben sah, lehnte imaginären Größen kategorisch ab: Es gibt also sogar in der Algebra Ausdrücke, die nichts bedeuten. Sie kommen dort notwendigerweise vor, und demzufolge darf man sich nicht wundern, wenn in allen Sprachen zahlreiche imaginäre Ausdrücke vorkommen, die man für Größen nimmt. Manchmal ergeben die Bedingungen eines Problems als letztes Resultat imaginäre Ausdrücke, Ausdrücke, die sich widersprechen. Und dann kann man sicher sein, daß sie absurd sind und daß die Lösung unmöglich ist.144
|| 140 Heinz-Wilhelm Alten u.a.: 4000 Jahre Algebra. S. 259. 141 Gottfried W. Leibniz: Specimen novum analyseos pro scientia infinitii circa summas et quadratures [1702]. In: derselbe: Mathematische Schriften. Bd. 5. Hrsg. von Carl I. Gerhard. Hildesheim: Olms, 1962 [1899]. S. 350–361; S. 357. 142 Heinz-Wilhelm Alten u.a.: 4000 Jahre Algebra. S. 310. 143 Leonhard Euler: Vollständige Anleitung zur niedern und höhern Algebra. Nach der französischen Ausgabe des Herrn de la Grange mit Anmerkungen und Zusätzen. Hrsg. von Johann P. Grüson. Berlin: Hauk, 1796. S. 72f. 144 Étienne B. de Condillac: Die Sprache des Rechnens. S. 265.
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Erst Gauß fand im frühen 19. Jahrhundert eine befriedigende Deutungsmöglichkeit imaginärer Größen.145 In dem Artikel Theoria residuorum biquadraticorum, commentatio secunda, der 1831 in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen erschienen, beschreibt er die imaginären Zahlen als eine Teilmenge der reellen Zahlen: Der Verf[asser] nennt jede Grösse a + bi, wo a und b reelle Grössen bedeuten, und i der Kürze wegen anstatt √−1 geschrieben ist, eine complexe ganze Zahl, wenn zugleich a und b ganze Zahlen sind. Die complexen Grössen stehen also nicht den reellen entgegen, sondern enthalten diese als einen speciellen Fall, wo b = 0, unter sich. Zur bequemen Handhabung war es erforderlich, mehrere auf die complexen Größen sich beziehende Begriffsbildungen mit besondern Benennungen zu belegen, […]. So wie in der Arithmetik der reellen Zahlen nur von zwey Einheiten, der positiven und negativen, die Rede ist, so haben wir in der Arithmetik der complexen Zahlen vier Einheiten + 1, − 1, + i, − i.146
Gauß interpretiert anschließend die komplexen Zahlen als Punkte auf einer Fläche bzw. Ebene (wörtlich: „Puncte in plano“) analog zu der Vorstellung von natürlichen und rationalen Zahlen als Punkte einer Linie, „so daß wir anstatt einer Reihe von Puncten ein System von Puncten vor uns haben, die sich auf eine zwiefache Art in Reihen von Reihen ordnen lassen, und zur Bildung einer Eintheilung der ganzen Ebene in lauter gleiche Quadrate dienen“147. Mit dieser geometrischen Deutung ist nach Gauß „die Nachweisbarkeit einer anschaulichen Bedeutung von √−1 vollkommen gerechtfertigt, und mehr bedarf es nicht, um diese Größe in das Gebiet der Gegenstände der Arithmetik zuzulassen“148. Gauß weist auf eine Analogie zu den gebrochenen, negativen und irrationalen Zahlen hin, die ebenfalls zunächst nicht als reale Phänomene interpretiert worden seien und schließlich dennoch Eingang in die mathematische Praxis gefunden hätten.149 Mit der geometrischen Interpretation möchte er nachweisen, dass die imaginären Größen kein „inhaltleeres Zeichenspiel“ sind, sondern zumin-
|| 145 Vgl. dazu Heinz-Wilhelm Alten u.a.: 4000 Jahre Algebra. S. 329f. 146 Carl F. Gauß: Anzeige von ‚Theoria residuorum biquadraticorum, commentatio secunda‘. In: Göttingische gelehrte Anzeigen (23. April 1831). S. 169–178; S. 170. 147 Carl F. Gauß: Anzeige von ‚Theoria residuorum biquadraticorum‘. S. 173. 148 Carl F. Gauß: Anzeige von ‚Theoria residuorum biquadraticorum‘. S. 176. 149 „Allein die den reellen Größen gegenübergestellten imaginären – ehemals, und hin und wieder noch jetzt, obwohl unschicklich, unmögliche genannt – sind noch immer weniger eingebürgert als nur geduldet, und erscheinen also mehr wie ein an sich inhaltleeres Zeichenspiel, dem man ein denkbares Substrat unbedingt abspricht, ohne doch den reichen Tribut, welchen dieses Zeichenspiel zuletzt in den Schatz der Verhältnisse der reellen Größen steuert, verschmähen zu wollen.“ Carl F. Gauß: Anzeige von ‚Theoria residuorum biquadraticorum‘. S. 175.
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dest ein „denkbares Substrat“150 haben. Allerdings schränkt er die Reichweite dieser Deutung sogleich ein: Nur ist die Darstellung der imaginären Größen in den Relationen der Puncte in plano nicht sowohl ihr Wesen selbst, welches höher und allgemeiner aufgefasst werden muss, als vielmehr das uns Menschen reinste oder vielleicht einzig ganz reine Beispiel ihrer Anwendung.151
Die geometrische Deutung stellt folglich nicht die eine oder genauer: die einzige Deutung dar. Ihre Funktion ist lediglich nachzuweisen, dass mindestens eine anschaulich-inhaltliche, d.h. extrasymbolische Deutung der imaginären Zahlen existiert. Für das innersymbolische Rechnen mit imaginären Zahlen ist diese Deutung jedoch völlig belanglos: Der Mathematiker abstrahiert gänzlich von der Beschaffenheit der Gegenstände und dem Inhalt ihrer Relationen; er hat es bloß mit der Abzählung und Vergleichung der Relationen unter sich zu thun: insofern ist er eben so, wie er den durch +1 und −1 bezeichneten Relationen, an sich betrachtet, Gleichartigkeit beylegt, solche auf alle vier Elemente +1, −1, +i und −i zu erstrecken befugt.152
2.4 Axiomatisierung und Kalkülisierung der Mathematik Bereits die griechischen Mathematiker des 6. und 5. vorchristlichen Jahrhunderts haben mathematische Zusammenhänge in Sätzen und Aussagen formuliert und hierbei zwei wichtige Entdeckungen gemacht: [Erstens], daß man […] Begründungen für ihre Richtigkeit unabhängig von der Erfahrung liefern kann […]. [Zweitens,] daß man sich manche Begründungen ökonomischerweise schenken kann, wenn man gewisse andere schon hat. Dazu hat man von einer schon akzeptierten Begründung auszugehen und mit zwingenden Schlüssen schrittweise zu der neuen Behauptung überzugehen.153
Man stellte fest, dass nicht jeder Satz notwendigerweise inhaltlich durch den Verweis auf Sachverhalte der Wirklichkeit begründet werden musste, sondern
|| 150 Carl F. Gauß: Anzeige von ‚Theoria residuorum biquadraticorum‘. S. 175. 151 Brief an Moritz W. Drobisch vom 14. August 1834. Carl F. Gauß: Werke. Bd. 10.1. Leipzig: Teubner, 1917. S. 106. 152 Carl F. Gauß: Anzeige von ‚Theoria residuorum biquadraticorum‘. S. 175. 153 Christian Thiel: Philosophie und Mathematik. Eine Einführung in ihre Wechselwirkungen und in die Philosophie der Mathematik. Darmstadt: WBG, 1995. S. 85.
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dass sich die Richtigkeit vieler Sätze aus bereits begründeten Sätzen folgern ließ. Da einige dieser Folgerungen die Eigenschaften von den Gegenständen, über die Aussagen getroffen wurden, völlig unberücksichtigt ließen, können sie aus heutiger Sicht ‚formale Schlüsse‘ genannt werden. Formale oder logische Schlüsse sind ein zentrales Merkmal deduktiver Mathematik, wobei sie lange Zeit lediglich angewandt, nicht aber expliziert wurden. Als einer der ersten reflektiert Aristoteles in seiner Syllogistik formale Verfahren. Zwar rückt die Etymologie das Wort ‚συλλογισμός‘ in die Nähe des mathematischen Begründens, tatsächlich behandelt Aristoteles in seiner Begriffslogik unter diesem Titel jedoch Beweisverfahren, die kaum oder wenig Anwendung in der Mathematik fanden und eher einem argumentativen Kontext entstammen dürften.154 Auch wenn bereits in der antiken Syllogistik die Trennung zwischen den Inhalten von Aussagen und dem formalen Schlussverfahren gezogen wurde, wurden die logischen Grundlagen der Mathematik und damit auch der Axiomatik in Spätantike und Mittelalter nur implizit vorausgesetzt und angewandt. Aristoteles definierte in der Zweiten Analytik ‚Beweis‘ als einen Schluss aus wahren und ersten Sätzen oder aus solchen Sätzen, die ihrerseits aus wahren und ersten Sätzen geschlossen sind. ‚Schluss‘ definierte Aristoteles als das Neue, das mit Notwendigkeit aus bestimmten Annahmen oder Prämissen folgt. [J]edenfalls gibt es ein Wissen durch Beweis […] und unter dem Beweis verstehe ich den wissenschaftlichen Schluß; wissenschaftlich nenne ich ihn, weil wir durch seinen Vollzug das Wissen haben. Wenn nun also das Wissen von der Art ist, wie wir festgestellt haben, dann muß die beweisende Wissenschaft auf wahren, ursprünglichen, unvermittelten, bekannteren und ranghöheren Vordersätzen beruhen. […]. Auf ursprünglichen und unbeweisbaren Vordersätzen muß das Wissen beruhen […].155
Euklid setzte dieses Prinzip in seinen Elementen für das Wissen der Mathematik konsequent um. Die Grundbegriffe (z.B. ‚Punkt‘, ‚Linie‘, ‚Fläche‘ etc.) und die Wahrheit von Axiomen sind nach seinem Verständnis unmittelbar einsichtig und können bzw. müssen nicht bewiesen werden. Die Mathematik erscheint hier als „eine Art Erweiterung der aristotelischen Syllogistik“156, auch wenn Euklid die Ableitungsregeln, die er in den Schlussverfahren anwendete, nicht
|| 154 So kann ‚συλλογισμός‘ mit ‚Zusammen-Rechnen‘ übersetzt werden. Vgl. auch Carl Prantl: Geschichte der Logik im Abendlande. Bd. 1. Darmstadt: WBG, 1957. S. 263–321. 155 Aristoteles: Zweite Analytik. Übers. und hrsg. von Paul Gohlke. Paderborn: Schöningh, 1953. S. 16f. 156 Helmut Pulte: Axiomatik und Empirie. S. 50.
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explizierte. Noch lange nach Euklid herrschte offensichtlich die Annahme, eine Explikation oder gar eine Formalisierung aller im Bereich der Mathematik nötigen Argumentationsmuster/-regeln sei aufgrund ihrer Komplexität nicht möglich. Die Einsicht, dass die Schlussverfahren in einem Axiomensystem ihrerseits formalisiert und methodisch erfassbar waren, wurde erst in der Frühen Neuzeit mit der Entwicklung der symbolischen Algebra und des operativen Symbolismus erkannt: Erst die Einsicht in die Möglichkeit und den Nutzen formaler Operationen in der elementaren Algebra, etwa bei F. Vieta, führte auf die zunächst eher spielerische Vorstellung von der ‚Arbeit‘, die die Buchstaben dabei auf dem Papier gewissermaßen ohne unser Zutun verrichten, und bei Leibniz (auch hier zunächst in utopisch-spekulativer Einkleidung) zu der großen und folgenreichen Idee des Kalküls als eines endlichen Systems von Regeln zur erstmaligen Erzeugung von Zeichenreihen oder zur Umformung gegebener Zeichenreihen (als Prämissen) in eine neue Zeichenreihe (die Konklusion).157
Leibniz begriff die Logik daher als eine mathematische Disziplin und sein Ziel war nichts weniger als ein universeller Logikkalkül (calculus universalis). Die Idee einer Universalsprache des menschlichen Denkens (characteristica universalis) sollte nicht nur eine eindeutige Repräsentation der mentalen Gehalte und Operationen ermöglichen, sondern auch ihre Regeln und Verfahren evident machen. So wie beispielsweise Plus- und Minuszeichen algebraische Operationen darstellen, sollten alle deduktiven Operationen symbolisiert werden, und zwar in einer Art, die ermöglichen sollte, die Wahrheit von Beweisen und Schlüssen wie die Lösung algebraischer Gleichungen schriftlich auszurechnen: „Rechnen wir, mein Herr! [calculemus]“158. Leibniz selbst gelang es jedoch nicht, den Plan einer characteristica universalis umzusetzen. Erst knapp 200 Jahre später wurde mit der mathematischen Logik durch George Boole (1815–1864) und Augustus De Morgan (1806–1871) der Leibniz’sche Ansatz einer formalisierten Logik, die völlig unabhängig von Inhalten und Bedeutungen operiert, wieder aufgegriffen und zumindest partiell realisiert (vgl. Kap. III.3.1). Um das calculemus in der von Leibniz entworfenen characteristica universalis umzusetzen, wäre es nötig gewesen, alle Schlussregeln nicht nur zu explizieren, sondern auch zu formalisieren, d.h. zu kalkülisieren. Zur Formulierung eines Kalküls bedarf es allerdings dreier Bestandteile: Erstens sind das die formalen Grundzeichen oder auch Bausteine des Kalküls; sie stellen das Alphabet einer logisch-formalen Sprache dar. Es handelt sich um
|| 157 Christian Thiel: Philosophie und Mathematik. S. 219. 158 Gottfried W. Leibniz: Fragmente zur Logik. S. 90.
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Zeichen für Variablen, Junktoren, Quantoren, Prädikate usw. Zweitens müssen Formationsregeln expliziert werden, die ganz ähnlich wie die Grammatik einer natürlichen Sprache festlegen, wie aus den Grundzeichen Sätze oder wohlgeformte Ausdrücke gebildet werden können. Drittens sind Transformationsregeln oder Umformungsregeln nötig, die beschreiben, wie Sätze oder Ausdrücke in andere Sätze umgeformt werden dürfen; sie regeln die Gültigkeit des Übergangs von Prämissen zu einer Konklusion. Ein Kalkül beschreibt also gewissermaßen die Syntax einer logischen Sprache. Was im 19. Jahrhundert mit Boole und De Morgan und später durch Gottlob Frege (1848–1925) und Giuseppe Peano (1858–1932) umgesetzt wurde, war die Formulierung eines formallogischen Kalküls der Mathematik: Boole erkannte die Notwendigkeit, die logischen Elemente der Mathematik zu explizieren. Er symbolisierte sie mit algebraischen Zeichen, führte logische Operationen mit ihnen aus und vollzog damit eine Algebraisierung der Logik. Frege schuf die erste umfassende Formalsprache und in der Begriffsschrift (1879) das erste formalisierte logische Axiomensystem des Aussagenkalküls. Peano schließlich versuchte die gesamte Mathematik inklusive ihrer logischen Elemente zu symbolisieren und zu kalkülisieren. Ist die Logik derart ein Teil der Mathematik geworden, können konkrete mathematische Strukturen analysiert bzw. logisch formalisiert und so in eine logisch-formale Darstellung überführt werden. Umgekehrt können Ausdrücke und Sätze des Kalküls unterschiedlich interpretiert werden, d.h. man verfügt über eine formale Struktur, die nicht an eine inhaltliche Interpretation allein gebunden bleibt, sondern die ganz unterschiedliche Probleme zu lösen vermag; oder wie Bedürftig und Murawski formulieren: „Dem semantischen Begriff der Folgerung steht auf der syntaktischen Seite der Begriff der Ableitung gegenüber. Er beschreibt das auf der formalen Seite, was in der Praxis ‚Beweis‘ genannt wird, indem er die Beweisschritte auf elementare logische Schlüsse zurückführt.“159 So fanden im 19. Jahrhundert das Projekt einer sicheren mathematischen Methode, die Axiomatik, und das mehr als 200 Jahre alte Projekt einer Formalisierung dieser Methode in Form eines Kalküls eine konkrete Gestalt.160 Noch ein weiterer Aspekt des neuen Symbolismus der Mathematik ist bemerkenswert. Die Entwicklung des operativen Symbolismus in der Frühen Neuzeit war, wie Krämer betont, eng mit einer Akzentverschiebung in der theoreti|| 159 Thomas Bedürftig und Roman Murawski: Philosophie der Mathematik. Berlin, New York: De Gruyter, 2012. S. 241. 160 Vgl. dazu ausführlich Christian Thiel: Philosophie und Mathematik. S. 221–237.
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schen Konzeption der mathematischen Methode verknüpft. Euklids Systematik diente demnach vor allem dem Zweck, die Wahrheit aller bekannten mathematischen Sätze durch Ableitung aus den Axiomen sicherzustellen, sie stellte damit primär ein methodisches Begründungsverfahren (ars iudicandi) für bereits bekannte Sätze dar. Die neuzeitliche Mathematik seit Viète hatte mehr Interesse an Problemlösungsverfahren, also an Verfahren, die neues Wissen zu generieren erlauben (also eine ars analytice als ars inveniendi).161 Nun war der Anspruch, dass die Methode nicht mehr nur die Begründung bereits bekannter Sätze, sondern auch die Erschließung neuer mathematischer Entitäten und Sätze ermöglichen sollte. Da Descartes die aristotelische Syllogistik lediglich als eine ars iudicandi auffasste, verwies er sie in den Bereich der Rhetorik. „Erkennen ist für ihn das Auffinden neuer Wahrheiten, nicht aber der Nachweis über die Richtigkeit bereits vorliegender Sätze“162, resümiert Krämer. Nicht der Syllogismus erschien Descartes als das geeignete Instrument der Mathematik, sondern die analytische Methode der symbolischen Algebra. Der operative Symbolismus war ihm lediglich ein Mittel zur Lösung konkreter mathematischer Probleme, weswegen er auch stets ein erkennbares Signifikat aller mathematischen Zeichen forderte. Einen ontologisch vorgängigen Status erhielten die operativen Symbole, wie in Kap. III.2.2 dargelegt, erst bei Leibniz und erst im Rahmen eines formalen Kalküls. Der ‚Dingstatus‘ der Zeichen ist, laut Krämer, mit der Konzeption einer autarken Schrift zwar eingeleitet, nicht aber besiegelt. Solche Besiegelung erfolgt erst im Kalkül. Da also, wo nicht nur die stofflichen Bedingungen […] für die Autonomie der Zeichen erfüllt sind, sondern auch die funktionellen: In Kalkülen fungieren Zeichen erst einmal als Elemente eines Systems, gehen ganz auf in der Funktion, die sie innerhalb des Systems innehaben. Erst wo die Zeichen im Rahmen eigenständiger Systeme organisiert sind, nach deren autonomen Regeln gebildet und umgebildet werden, haben sie einen Status errungen, der sie ‚ontologisch‘ selbständig macht gegenüber dem, was sie bezeichnen, wofür sie jeweils stehen. Erst dann aber ist der ‚interpretationsfreie‘ Gebrauch der Zeichen, das formale Umgehen mit ihnen, in aller Konsequenz möglich.163
Der autonome Status des operativen Symbols im Kalkül führte spätestens seit Leibniz zur Aufhebung der alten rhetorischen Trennung zwischen res und verba in der ars characteristica: „Characteres sunt res.“164 Das Operieren mit operativen Symbolen im Kalkül ist ein Operieren mit Gegenständen und die symboli|| 161 Vgl. Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. S. 133f. und S. 140f. 162 Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. S. 184. 163 Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. S. 268f. 164 Vgl. Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. S. 276.
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schen Zeichen stellen eine eigene Wirklichkeit mit eigenen Gesetzmäßigkeiten dar, die sehr unterschiedlich interpretiert werden kann. Dass das Axiomensystem auf Phänomene der Realität Anwendung finden kann, ist nach Leibniz der prästabilierten Harmonie der Welt zu danken. Sein Programm einer rein formalen Logik und damit auch eines universellen operativen Symbolismus wurde zunächst jedoch nicht weitergeführt: „Logik in der Philosophie blieb begrifflich, inhaltlich gebunden und behielt ihre erkenntnistheoretische und ontologische Orientierung.“165 Was tradiert wurde, war Leibniz’ Hoffnung, dass das formale Operieren mit Symbolen sich buchstäblich in die Mechanik einer Rechenmaschine umsetzen lasse.166 Das mechanische Arbeiten sollte „den Geist von der Arbeit der Interpretation […] entlasten, ihn auf das buchstäbliche Manipulieren von Zeichenkonfigurationen beschränken […].“167 Auch bei Condillac findet sich der Topos des mechanischen Rechnens und Operierens: Darum habe ich gesagt, daß alle diese Operationen rein mechanisch sind. […] Zweifellos erhalten wir, wenn wir mit Zeichen operiert haben, dieselben Resultate, als wenn wir mit den Ideen selbst operiert hätten, und das täuscht uns. Aber in der Arithmetik wie in der Algebra denken wir an die Ideen erst, wenn der Rechenvorgang abgeschlossen ist. […] Es ist also erwiesen, daß die Rechenoperationen immer mechanisch sind, gleichgültig mit welchen Zeichen das Rechnen erfolgt. Man wird vielleicht daraus schließen und folgenden Einwand gegen mich zu erheben glauben, daß die allgemeinen Ideen der Metaphysik eigentlich keine Ideen sind, daß sie nur Zeichen sind und daß infolgedessen die Schlußfolgerungen eines Metaphysikers ebenso mechanische Operationen sind wie die Rechenoperationen eines Mathematikers. Das ist richtig. […]. Ich merke, daß beim Schließen die Wörter für mich das sind, was die Ziffern und die Buchstaben für einen Mathematiker beim Rechnen sind, und daß ich mich beim Sprechen und beim Schließen mechanisch an Regeln halten muß […]. Ob man nun bei der Lösung eines mathematischen Problems algebraische Zeichen oder Wörter gebraucht die Operation ist immer dieselbe. Wenn sie nun in einem Falle mechanisch ist, warum sollte sie es nicht im anderen sein? Und warum sollte sie es nicht auch sein, wenn man eine metaphysische Frage löst?168
‚Mechanisches Rechnen‘ meint also auch bei Condillac ein formales Operieren mit Zeichen unter Absehung von Inhalten. Er erweiterte dieses Prinzip über die Mathematik hinaus in alle Bereiche des vernünftigen Argumentierens. Dass das mechanische Rechnen mit Zeichen und das ‚Schritt-für-Schritt-Rechnen‘ mit Ideen und Namen immer zu denselben Ergebnissen führt, liegt nach Condillac in der Tatsache begründet, dass beide Verfahren letztlich sprachbasiert und so || 165 Thomas Bedürftig und Roman Murawski: Philosophie der Mathematik. S. 246. 166 Vgl. Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. S. 287. 167 Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. S. 294. 168 Étienne B. de Condillac: Die Sprache des Rechnens. S. 241.
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durch Analogien verbunden sind. In Die Sprache des Rechnens identifiziert er Sprache und analytisches Verfahren: „Alle Methoden [des Rechnens, M.I.] sind also auf dieselbe Weise gefunden worden […] und die Analogie, die zwischen ihnen besteht, zeigt uns sozusagen immer wieder nur eine Hand, deren Finger gespreizt und angelegt werden.“169 Die symbolische Algebra ist für ihn das Musterbeispiel einer präzisen und zweckmäßigen Sprache. Sein Urteil gründet sich auf der direkten Rückführbarkeit auf natürliche und elementare Rechenoperationen und damit auf die ständig gewährleistete Übersetzbarkeit zwischen formalem und begrifflichem Bereich. Bemerkenswert im Kontext von Condillacs sensualistischer Philosophie ist, dass auch das philosophisch-logische Schließen als ein im Kern stets mechanisches, also als ein auf Rechenoperationen reduzierbares Operieren begriffen wurde. Auch Gauß gebraucht das Wort ‚Mechanismus‘, wenn er die formalisierte Mathematik im bereits zitierten Brief an Heinrich Schumacher charakterisiert: Es ist der Charakter der Mathematik der neueren Zeit […], dass durch unsere Zeichensprache und Namengebungen wir einen Hebel besitzen, wodurch die verwickeltsten Argumentationen auf einen gewissen Mechanismus reducirt werden. […]. Wie oft wird jener Hebel eben nur mechanisch angewandt, obgleich die Befugniss dazu in den meisten Fällen gewisse stillschweigende Voraussetzungen implicirt. Ich fordere, man soll bei allem Gebrauch des Calculs, bei allen Begriffsverwendungen sich immer der ursprünglichen Bedingungen bewußt bleiben, und alle Producte des Mechanismus niemals über die klare Befugnis hinaus als Eigenthum betrachten. Der gewöhnliche Gang ist aber der, dass man für die Analysis einen Character der Allgemeinheit in Anspruch nimmt, und dem Andern, der so herausgebrachte Resultate noch nicht für bewiesen anerkennt, zumuthet, er solle das Gegentheil nachweisen. Diese Zumuthung darf man aber nur an den stellen, der seinerseits behauptet ein Resultat sei falsch, nicht aber dem, der ein Resultat nicht für bewiesen anerkennt, […].170
Gauß weist mit der Hebel-Metapher auf Vorteile und Risiken der formalisierten und symbolisierten Methodik der Mathematik hin. Einerseits erlaubt sie die Vereinfachung, die Erleichterung komplexer und schwieriger Prozesse, so wie ein Hebel erlaubt, große Kräfte durch eine Weguntersetzung auszuüben. Andererseits ermahnt er für die beiden zentralen Verfahren der Analyse und der Interpretation zu besonderer Vorsicht, denn werde ein konkretes mathematisches Problem unter falschen Bedingungen in einen formalen Ausdruck übersetzt, so bleibe trotz formal korrekten Operierens die Fundierung des Kalküls problema-
|| 169 Étienne B. de Condillac: Die Sprache des Rechnens. S. 236. 170 Brief an Heinrich Schumacher vom 1. September 1850. Carl F. Gauß: Briefwechsel zwischen C. F. Gauß und H. C. Schumacher. Bd. 6. S. 107.
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tisch. Ein markantes Beispiel, an dem sich diese Problematik zeigt, ist der Kalkül der Infinitesimal- und Differentialrechnung, denn kaum ein Bereich der Mathematik gibt ein derart eindrückliches Zeugnis der Innovation und Produktivität mathematischer Entwicklungen im 17. und 18. Jahrhundert.171 In Newtons Fluxionsmethode scheint ein seit der Antike tradiertes Konzept auf, das Linien als Bewegung (‚Fließen‘) von Punkten, Flächen als Bewegung von Linien und Körper als Bewegung von Flächen auffasste. Punkte, Linien und Flächen wurden als ‚unendlich kleine Größe‘ oder als ‚Indivisibilien‘ begriffen, allerdings ist heute nicht mehr feststellbar, ob es sich bei den Indivisibilien um ungeachtet der Zenonschen Kritik beibehaltene atomistische Vorstellungen handelt, um Popularisierungen komplizierter, mathematischer wohlbegründeter Näherungsverfahren […], oder um eine als heuristisches Hilfsmittel erfolgreiche und nur darum aufrechterhaltene Fiktion.172
Unabhängig davon führte in der weiteren Entwicklung der Analysis die Rede von ‚unendlich kleinen Größen‘ zu einem krisenhaften Moment, was nicht Newton angelastet werden kann, der selbst darauf hinwies, dass man bei der Verwendung unendlich kleiner Größen „vorsichtig zu Werke gehen“173 müsse. Er verfolgte mit seiner Fluxionsmethode primär die Lösung mechanisch-physikalischer Probleme (Planetenbewegungen, Berechnung von Wurfbahnen, beschleunigte Bewegungsvorgänge). So konnte er eine Kurve etwa als Bewegung eines Körpers (oder Punktes) mit den Koordinatenfunktionen x(t) und y(t) interpretieren, wobei Δt ein bestimmtes Zeitintervall darstellt, in dem ein Körper eine Bahn durchläuft. Indem er das Zeitintervall Δt immer kleiner werden ließ, konnte Newton die genaue Momentangeschwindigkeit eines Gegenstandes zu einem gewissen Zeitpunkt t berechnen, anstatt lediglich eine Durchschnittsgeschwin-
|| 171 Wenngleich sowohl Newton als auch Leibniz an Vorläufer anknüpfen. Vgl. Heinz-Wilhelm Alten und Hans Wußing: 6000 Jahre Mathematik. Eine kulturgeschichtliche Zeitreise. Bd. 1. Berlin: Springer, 2013. S. 428. 172 Christian Thiel: Philosophie und Mathematik. S. 171. 173 Isaac Newton: Abhandlungen über die Quadratur der Kurven. [Ursprüngl. Anhang der Opticks, 1704]. Übers. und hrsg. von Gerhard Kowalewski. Leipzig: Engelmann, 1908. S. 7. Die ‚Flußvorstellung‘ übernimmt Newton von seinem Lehrer Isaac Barrow (1630–1677) – ‚Fluente‘ und ‚Fluxion‘ leiten sich von lat. forma fluens, fluxus formae ab. Mit ‚Fluenten‘ bezeichnet Newton veränderliche Größen, das sind physikalische Größen, die von der objektiv verlaufenden Zeit abhängen; ‚Fluxionen‘ sind Ableitungen, also Geschwindigkeiten; vgl. Oskar Becker: Grundlagen der Mathematik in geschichtlicher Entwicklung. S. 144.
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digkeit über ein endlich großes Zeitintervall zu bestimmen.174 Auch Leibniz wollte zunächst ein ganz konkretes Problem lösen: Im Zentrum des sog. Tangentenproblems stand die Frage, ob es möglich sei, in einem beliebigen Punkt auf einer beliebigen Kurve eine Tangente (Näherungsgerade) zu finden und deren Steigung anzugeben. Er löste das Problem, indem er Steigungsdreiecke mit unendlich kleiner Basis an die Kurven anlegte. Sowohl Leibniz als auch Newton war die ontologische Problematik der Indivisibilien sehr bewusst, vielen der nachkommenden Anwender der Analysis jedoch nicht. Nieuwentijts Kritik am Differentialkalkül umfasste neben der Missbilligung der Verwendung von unendlich kleinen Größen bei Newton auch den Vorschlag, sie durch Größen zu ersetzen, die kleiner als jede gegebene Größe sein sollten. Doch bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts fand sich keine breit akzeptierte Lösung des Problems – es bestand in den Augen der Mathematiker auch kein allzu großer Handlungsbedarf, denn an der Richtigkeit der Ergebnisse zweifelten selbst die größten Kritiker nicht. Die Unsicherheit und Ungenauigkeit im Umgang mit den Indivisibilien war, wie Gerhard Knobloch feststellt, symptomatisch für die Mathematik des 18. Jahrhunderts, der er eine rapide Abnahme der Methodenstrenge attestiert: „Die Mathematiker rechneten mit Zeichen auch dann, wenn der ontologische Status des Bezeichneten nicht geklärt oder nicht definiert war, sogar dann, wenn die Zeichen nach eigener Erklärung nichts Existierendes bezeichneten […].“175 Erst mit Augustin-Louis Cauchy (1789–1857), der die Grundbegriffe der Analysis im frühen 19. Jahrhundert präzise fasste und eine tragfähi-
|| 174 Vgl. Newtons Erläuterungen: „Indem ich nun in Betracht zog, daß in gleichen Zeiten wachsende und wachsend erzeugte Größen je nach der größeren oder kleineren Geschwindigkeit, mit der sie wachsen und erzeugt werden, größer oder kleiner ausfallen, suchte ich nach einer Methode zur Bestimmung der Größen aus der Geschwindigkeit der Bewegung oder des Wachsens, wodurch sie erzeugt werden. Diese Bewegungs- oder Wachstumsgeschwindigkeiten nannte ich Fluxionen, und die erzeugten Größen nannte ich Fluenten, und ich kam […] auf die Fluxionsmethode, die ich hier bei der Quadratur der Kurven benutzt habe. […] Die Fluxionen verhalten sich äußerst genau wie die in äußerst kleinen gleichen Zeitteilchen erzeugten Zunahmen der Fluenten […]. Und ich wollte zeigen, daß es bei der Fluxionsmethode nicht nötig ist, unendlich kleine Figuren in die Geometrie einzuführen. Man kann freilich die Analysis bei beliebigen Figuren durchführen, seien es endliche oder unendlich kleine, die man sich verschwindenden Figuren ähnlich denkt, sowie auch bei Figuren, die nach den Methoden der Indivisibilien für unendlich klein gehalten zu werden pflegen.“ Isaac Newton: Abhandlungen über die Quadratur der Kurven. S. 3 und S. 7. 175 Eberhard Knobloch: Zeichenkonzeptionen in der Mathematik von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert. In: Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. HSK Bd. 13.2. Hrsg. von Roland Posner, Klaus Robering und Thomas Sebeok. Berlin, New York: De Gruyter, 2008. S. 1280–1292; S. 1280.
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ge Definition des Grenzwerts gab, erfolgte eine Rückkehr zur früheren methodischen Strenge. Neben den beiden bisher erläuterten Aspekten – der Fundierung bekannten Wissens und der Lösung konkreter Probleme – bot die Axiomatisierung und Kalkülisierung der Mathematik, wie Christian Thiel darlegt, ein weiteres, erst spät erkanntes Potential: Es bedeutete einen entscheidenden Schritt in der Entwicklung der axiomatischen Methode, als man sozusagen die Fragerichtung umkehrte und nicht mehr nur für schon vorhandene, einer Teildisziplin zugehörige Satzbestände nach ihrer Herleitbarkeit aus geeigneten Axiomen fragte, sondern Systeme von Axiomen, (die man zum Teil durch Variation oder Negation schon bekannter Axiome gewonnen hatte) auf ihre Folgerungen hin befragte. War ein solches Corpus von Folgerungen von großem mathematischen Interesse oder hatte es gar wichtige außermathematische Anwendungen, so ließ sich dieses Vorgehen als eine axiomatische Charakterisierung oder Definition einer neuen Teildisziplin verstehen.176
Ein Beispiel eines durch Variation bzw. Negation erzeugten Axiomensystems sind die nicht-euklidischen Geometrien. Gauß, „offenbar der Erste, der es vermochte, wirklich nicht-euklidisch zu denken“177, später auch Nikolai Iwanowitsch Lobatschewski (1792–1856) und János Bolyai (1806–1860) zeigten, dass Euklids Parallelenaxiom unabhängig von den übrigen euklidischen Axiomen war.178 Sie wiesen nach, dass sowohl geometrische Axiomensysteme mit Parallelenaxiom als auch solche ohne Parallelenaxiom widerspruchsfrei waren. Die nicht-euklidischen Axiomensysteme beschreiben geometrische Wirklichkeiten, die teils von dem abweichen, was als Raumstruktur der menschlichen Erfahrungswelt wahrgenommen wurde und wird. Friedrich Ueberweg (1826–1871) bezeichnete derartige Geometrien 1860 als „géométrie imaginaire“, bzw. als hypothetische[] Geometrie, die mit Hülfe der analytischen Rechnung auf Grund der Gültigkeit der früheren Axiome, aber zugleich der Ungültigkeit des eilften, also der Gültigkeit seines contradictorischen Gegentheils, entworfen wird und eine Reihe von Sätzen enthält,
|| 176 Christian Thiel: Philosophie und Mathematik. S. 208. 177 Thomas Bedürftig und Roman Murawski: Philosophie der Mathematik. S. 253. 178 Die Form des Parallelenaxioms nach der ursprünglichen Fassung lautet: „Wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei geraden Linien einander gleiche (innere) Wechselwinkel bildet, müssen diese geraden Linien einander parallel sein.“ Euklid: Die Elemente. S. 21. Bereits in der Antike herrschte Uneinigkeit, ob es sich hierbei um ein Postulat oder ein Axiom handelt, und bereits in der Antike wurde versucht, es aus den übrigen Axiomen herzuleiten oder zumindest durch ein weniger kompliziertes zu ersetzen.
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welche untereinander widerspruchlos zusammenstimmen, aber der Wirklichkeit nicht entsprechen.179
Richtigkeit und ontologische Referenz, ‚Gültigkeit‘ und ‚Wirklichkeitsentsprechung‘), verum und certum wurden im 19. Jahrhundert von immer mehr Vertretern der mathematischen Zunft als getrennte Dinge betrachtet – und das nicht nur in der Geometrie. Wenn es tatsächlich möglich war, ein widerspruchsfreies Axiomensystem zu erstellen, in dem eines der bis dato für unmittelbar evident gehaltenen Axiome negiert wurde, war dann nicht die Korrespondenz von intrasymbolischer Richtigkeit und extrasymbolischer Wahrheit in allen Axiomensystemen hinfällig? Die Widerspruchsfreiheit eines Systems war, so zeigten es die nicht-euklidischen Geometrien, nicht hinreichend für die Korrespondenz von System und Realität. Diese Einsicht führte dazu, dass fortan das Kriterium der Widerspruchsfreiheit über das Kriterium der Wirklichkeitsreferenz eines Axiomensystems gestellt wurde. Man gab die ontologische Fundierung der Grundbegriffe und Axiome auf, ließ das Kriterium ihrer unmittelbaren Evidenz fallen und begriff sie nur noch als funktionale Elemente innerhalb eines Kalküls. Ein bekanntes Beispiel für diese referenzielle Entkopplung bietet David Hilberts Axiomatik der Geometrie. Die Grundbegriffe führte er explizit als lediglich ‚gedachte Dinge‘ ein: Wir denken uns drei verschiedene Systeme von Dingen: die Dinge des ersten Systems nennen wir Punkte und bezeichnen sie mit A, B, C, …; die Dinge des zweiten Systems nennen wir Geraden und bezeichnen sie mit a, b, c, …; die Dinge des dritten Systems nennen wir Ebenen und bezeichnen sie mit α, β, γ …;180
Hilbert hatte die semantische Entkoppelung, schenkt man einer von Otto Blumenthal überlieferten Anekdote Glauben, mündlich sogar noch etwas pointierter formuliert: „Man muß jederzeit an Stelle von ‚Punkte, Geraden, Ebenen‘ ‚Tische, Stühle, Bierseidel‘ sagen können.“181 Was hier deutlich wird, ist, dass es Hilbert nicht einmal um eine konkrete verbalsprachliche Repräsentation der mathematischen Symbole (A, a, α etc.) geht. Das Axiomensystem, der Kalkül, die mathematischen Symbole stellen ein in sich geschlossenes, völlig autonomes System dar. Eine Anwendung bzw. Deutung mit Blick auf realweltliche Strukturen schließt das nicht aus, aber anders als noch in Debatten um die ima-
|| 179 Friedrich Überweg: Rezension zu J. Delboeufs ‚Prolégomènes philosophique‘. In: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 37 (1860). S. 148–167; S. 165. 180 David Hilbert: Grundlagen der Geometrie. Stuttgart: Teubner, 1956. S. 2. 181 Jürgen Trabant: Traditionen Humboldts. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990. S. 402f.
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ginären Zahlen wurde sie nicht mehr gefordert. Die symbolische Differenz des operativen Symbolismus wurde von und seit Hilbert (an-)erkannt. Gleichzeitig wurden die unmittelbare Gegebenheit mathematischer Gegenstände sowie das Repräsentationsverhältnis mathematischer Zeichen und Ausdrücke grundlegend erschüttert. „Die Wendung der Mathematik zu sich selbst“, formuliert Herbert Mehrtens, „nimmt aus diesem Repräsentationsverhältnis den ‚Gegenstand‘ heraus. Was bleibt, sind Beschreibungen. […]. Es geht um die Sprache in ihrer Formalität, um Zeichen, die zur Beschreibung gesetzt werden.“182 Vor dem Hintergrund einer von inhaltlichen Interpretationen zunächst völlig losgelösten Mathematik, stellte sich die Frage nach dem ontologischen Status der Gegenstände der Mathematik auf ganz neue Weise – eine Frage, der das nächste Kapitel gewidmet ist. Abschließend sollen wesentliche Aspekte der Axiomatisierung und Formalisierung der Mathematik knapp zusammengefasst werden: Erst die Bemühungen um die Axiomatisierung und Kalkülisierung ließen die Notwendigkeit sichtbar werden, die logischen Grundlagen der Mathematik zu reflektieren und zu explizieren. Das ursprüngliche Ansinnen war hier zunächst die Sicherung bekannten mathematischen Wissens, später mehr und mehr die Erschließung neuer Kenntnisse. Die neuzeitlichen Axiomatisierungswie Kalkülisierungsbestrebungen sind ohne die neuzeitliche Formalsprache der Mathematik bzw. die symbolische Algebra nicht denkbar. Die Einführung eines ideographischen Schriftsystems sowie die Symbolisierung von Variablen und Rechenoperationen ermöglichten erst den großen Entwicklungsschub formaler Verfahren in der Algebra, die dann auch Vorbild für die Logik werden konnten. Der mathematische Formalismus und die begrifflich-ontologische Mathematik wurden als zwei Sprachen konzipiert, deren wechselseitige Übersetzbarkeit notwendig gefordert wurde. Primär war die Vorstellung oder der Begriff eines mathematischen Gegenstands, sekundär seine symbolische Darstellung. Dieses Konzept setzt eine denotative Bedeutung auch von formalsprachlichen Zeichen voraus, d.h. es beruht auf der Annahme, dass die symbolisierten Gegenstände gegenüber den sie repräsentierenden Symbolen einen primären Status haben (obwohl es sich, wie Krämer zeigt, de facto um einen operativen Symbolismus handelt; vgl. Kap. III.2.2). Gleichzeitig war die Annahme verbreitet, dass die bezeichneten Gegenstände stets einen realweltlichen Bezug besäßen – ein Konzept, das im Fall der imaginären Zahlen an seine Grenzen stieß. Die symbolische Differenz erlaubt es, innerhalb des Symbolismus und in den Grenzen des Kalküls mit Symbolen derart zu operieren, dass auf völlig korrekte Weise Symbole || 182 Herbert Mehrtens: Moderne, Sprache, Mathematik. Eine Geschichte des Streits um die Grundlagen der Disziplin und des Subjekts formaler Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990. S. 93.
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und Symbolketten abgeleitet werden, die (vermeintlich) keine Bedeutung und keinen realweltlichen Referenten besitzen. Der operative Symbolismus wird so zu einer autonomen Sphäre und gerade in dieser Autonomie liegt seine enorme Produktivität, denn eine korrekte Lösung im Formalismus erlaubt potenziell die Lösung unterschiedlichster Probleme gleichzeitig. Angesichts dieser Autonomie wuchs die Furcht vor ‚symbolischem Wildwuchs‘. Mathematiker wie Berkeley beharrten daher auf dem Kriterium der ontologischen (Be-)Deutung formalsprachlicher Ausdrücke. Leibniz war offenbar der erste, der die symbolische Differenz bewusst als einen Vorteil erkannte. Indem er die ontologische Bindung kappte, konnte er Symbolisierung und Kalkülisierung als universelle Erkenntnisinstrumente entwerfen. Da hierdurch die Symbole und Zeichen einen ontologisch primären Status gegenüber den symbolisierten Gegenständen erhielten, löste er auch das Konzept einer denotativen Bedeutung durch das der Deutung oder Interpretation ab. Im 19. und 20. Jahrhundert wurde – zumindest von einigen Mathematikern – jedes Band zwischen mathematischem Formalismus und ontologischer Deutung aufgehoben. Die Axiomatik verlor ihre realweltliche Fundierung, Grundbegriffe wurden nicht mehr durch entsprechende Realdefinitionen bestimmt und Axiome beruhten nicht länger auf unmittelbarer Evidenz.
2.5 Der ontologische Status mathematischer Gegenstände Die im vorigen Kapitel skizzierten Aspekte der Axiomatisierung und Kalkülisierung der Mathematik trugen neben anderen fundamentalen Entwicklungen des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts dazu bei, dass die Frage nach dem ontologischen Status mathematischer Gegenstände neu bzw. mit neuer Brisanz gestellt wurde. Die Frage an sich war jedoch keineswegs neu, denn bereits Aristoteles kritisierte in seiner Metaphysik Platon für dessen ontologisches Verständnis. Platon habe die mathematischen Gegenstände als ein Mittleres zwischen den Gegenständen der sinnlichen Wahrnehmung bzw. den Sinnendingen einerseits und den Ideen andererseits begriffen. Von den sinnlichen Gegenständen trenne sie, dass sie ewig und unbeweglich seien, von den Ideen, dass sie in einer unbestimmten Vielheit ähnlicher Exemplare (z.B. rechtwinkliger Dreiecke) vorkämen. Eine Idee sei dagegen eine Einheit für sich.183 Aristoteles lehnte diese Sicht ab und vertrat eine nominalistische Deutung: Mathemati-
|| 183 Vgl. Aristoteles: Metaphysik. Übers. und hrsg. von Paul Gohlke. Paderborn: Schöningh, 1961. S. 64–72.
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sche Gegenstände hätten nur eine Existenz an und in den Gegenständen der sinnlichen Wahrnehmung. Man könne die mathematische Beschreibung von beispielsweise Dreiecken als eine Rede über Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung verstehen, die von all jenen Eigenschaften abstrahiere, die für die mathematische Behandlung irrelevant seien.184 Immanuel Kant, um eine dritte Position zu nennen, sah die Gegenstände der Arithmetik und Geometrie prinzipiell durch die reinen Anschauungsformen Raum und Zeit a priori begründet. Er selbst stellte eine philosophische Begründung von Geometrie und Arithmetik zwar in Aussicht, blieb die Ausführung aber schuldig. Die drei genannten Positionen waren Ausgangs- und Anknüpfungspunkt zahlreicher Antworten auf die Frage nach dem ontologischen Status mathematischer Gegenstände. Da eine umfassende und differenzierte Untersuchung der zahlreichen historischen Positionen im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden kann, sollen in Anlehnung an Christian Thiels Einteilung drei Gruppen von Antworten unterschieden werden: Die erste Gruppe bilden Positionen, die den mathematischen Gegenständen einen eigenen, idealen Status zusprechen. Hierbei handelt es sich unter anderem um Positionen, die meist pauschal und etwas unscharf als ‚mathematischer Platonismus‘ oder auch als ‚idealistische Positionen‘ bezeichnet werden. Diese Formen eines ontologischen Realismus begründen meist mathematische Erkenntnis durch Evidenz. Zahlen und Größen gelten ihnen als die eigentlichen Gegenstände der Mathematik, auf die auch geometrische Figuren zurückgeführt werden sollen. Leonhard Euler, Carl Friedrich Gauß und Bernard Bolzano waren Vertreter eines solchen Realismus, der bis ins 19. Jahrhundert hinein die am weitesten verbreitete Position gewesen sein dürfte. Eine zweite Gruppe spricht mathematischen Gegenständen keinen eigenen ontologischen Status zu und begreift sie als durch Abstraktion gewonnene Gemeinsamkeiten von beobachtbaren Gegenständen. Der aristotelische Nominalismus als ein Vorläufer dieser Position fand eine Fortführung etwa bei Condillac oder John Stuart Mill. Auch der gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Logizismus kann dieser Position zugerechnet werden. Er versuchte alle mathematischen Aussagen auf logische Aussagen zurückzuführen. Dadurch wurden die Gegenstände der Mathematik mit solchen der Logik identifiziert und so die Frage nach dem Gegenstand der Mathematik lediglich verschoben.
|| 184 „Daß die mathematischen Gebilde weder wesenhafter sind als die Körper, noch den sinnfälligen Dingen im Sein vorgeordnet, sondern nur begrifflich, noch getrennt für sich bestehen können, ist hinreichend klargelegt.“ Aristoteles: Metaphysik. S. 386.
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Eine dritte Gruppe spricht trotz der Einwände, die etwa von empiristischer Seite vorgebracht wurden, dem mathematischen Gegenstand einen eigenen, allerdings nicht-idealen Status zu, der meist an die Strukturen des Denkens oder an die sie hervorbringenden Handlungen gebunden wird. Diese Deutung fand und findet sich bis heute u.a. in Positionen des Formalismus und Konstruktivismus und begründet die Gegenstände aus den Handlungen der Mathematiker: Er [der Gegenstand der Mathematik, M.I.] besteht im heutigen Formalismus und Konstruktivismus in Kalkülen (formalen Systemen, Formalismen) oder auf solche bezogenen konkreten Handlungen, ‚Gegenständen‘ jedenfalls, die in weit engerer Beziehung zur Tätigkeit des Mathematikers und seinen sichtbaren Handlungen stehen als so entrückt erscheinende ‚ideale‘ Gegenstände wie Zahlen und abstrakte Größe185
Betrachtet man die drei skizzierten Gruppierungen aus einer historischen Perspektive, so wird eine erstaunliche Entwicklung erkennbar. Vor der epistemologischen Wende um 1800 war der Diskurs der Mathematik von der Grundannahme getragen, dass die mathematischen Grundbegriffe und Axiome inhaltlich definiert seien. Diese Grundannahme war unberührt davon, ob den mathematischen Gegenständen ein eigener Status zu- oder abgesprochen wurde. Seit Euklid und bis ins 19. Jahrhundert stellten deskriptiv definierte Grundbegriffe und evidente Grundsätze die Basis der Axiomatik sowohl in platonistischen wie nominalistischen Positionen dar. Positionen der dritten Gruppe waren vor dem Beginn der Moderne quasi nicht anzutreffen. Bedürftig und Murawski betonen vor diesem Hintergrund, wie revolutionär die Entwicklungen der Axiomatik im 18. und 19. Jahrhundert war: Die euklidische Axiomatik war inhaltlich festgelegt. […] Die Mathematik in den Elementen […] fußte […] in der Philosophie. Die euklidische Axiomatik blieb die selbstverständliche Grundlage der Mathematik bis ins 19. Jahrhundert hinein. […]. Gauß und wenig später Bolyai und Lobatschewski gelang das Widersprüchliche, nämlich nicht-euklidische Geometrien, also von der euklidischen verschiedene ‚geometrische Wirklichkeiten‘ anzugeben, die die geometrischen Axiome ohne das Parallelenaxiom erfüllten. Das war, wenn Geometrie aus der Wirklichkeit kommen und sie beschreiben sollte, philosophisch nicht mehr fassbar. Die euklidischen Axiome verloren den Anspruch der Absolutheit. Zugleich trat die Mathematik einen Schritt aus dem Herrschaftsbereich der Philosophie heraus, deren Unterdisziplin sie durch ihre ontologischen Bindungen immer geblieben war. […]. Es gab in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts neben der Geometrie weitere bedeutsame Anlässe, die zu einer neuen Haltung Axiomen gegenüber führten. Wieder Gauß war wesentlich daran beteiligt, dass die komplexen Zahlen durch ihre geometrische Interpretation
|| 185 Christian Thiel: Philosophie und Mathematik. S. 28.
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quasi realen Status bekamen und zunehmend als ‚normale‘ Zahlen akzeptiert wurden. […]. Die Zahlauffassung erweiterte sich so allmählich auf einen Zahlbereich, in dem eine natürliche Anordnung fehlte, wie man sie bis dahin notwendig Zahlen zuschrieb.186
Gauß sah – ganz ähnlich wie Kant – in Zahlen das geistige Produkt eines apriorisch-mathematischen Denkens. Sein Wissenschaftsverständnis brach jedoch mit dem tradierten „Selbstverständnis einer Wissenschaft, die eine natürliche Realität oder eine göttliche Ordnung aufsucht und abbildet“187. Zahlen waren für Gauß lediglich Abstraktionen von Größenverhältnissen und die eigentlichen Gegenstände der Mathematik waren solch abstrakte Relationen von Größen. Richard Dedekind (1831–1916), der 1854 bei Gauß habilitierte, ging noch einen Schritt weiter, indem er in Was sind und was sollen die Zahlen? (1888) den Zahlbegriff von jeglicher anschaulichen Form trennt und damit Kants Position endgültig hinter sich lässt. Indem ich die Arithmetik […] nur einen Teil der Logik nenne, spreche ich schon aus, daß ich den Zahlenbegriff für gänzlich unabhängig von den Vorstellungen oder Anschauungen des Raumes und der Zeit, daß ich ihn vielmehr für einen unmittelbaren Ausfluß der reinen Denkgesetze halte. Meine Hauptantwort auf die im Titel dieser Schrift gestellte Frage lautet: die Zahlen sind freie Schöpfungen des menschlichen Geistes, sie dienen als ein Mittel, um die Verschiedenheit der Dinge leichter und schärfer aufzufassen.188
In ganz ähnlicher Weise erklärte Nikolai Iwanowitsch Lobatschewski die Gegenstände der Geometrie zu Produkten der menschlichen Vorstellungskraft: Die Flächen, Linien und Punkte, wie sie die Geometrie erklärt, sind nur in unsrer Vorstellung vorhanden, während wir die Ausmessung der Flächen und Linien ausführen, indem wir dazu Körper anwenden. […] Wie klein auch die Theile einer Kurve genommen werden mögen, sie bleiben immer krumm, folglich können sie niemals mit Hülfe einer Geraden gemessen werden. Dasselbe muss man von einer krummen Oberfläche sagen, bei der die Theile, wie eng man sie auch begränzen [sic!] möge, niemals eben sind. Andrerseits giebt es in der Natur weder gerade noch krumme Linien, weder Ebenen noch krumme Flächen:
|| 186 Thomas Bedürftig und Roman Murawski: Philosophie der Mathematik. S. 305–307. 187 Herbert Mehrtens: Moderne, Sprache, Mathematik. S. 29. 188 Richard Dedekind: Was sind und sollen die Zahlen? In: derselbe: Gesammelte mathematische Werke. Hrsg. von Robert Fricke, Emmy Noether und Øystein Ore. Braunschweig: Vieweg, 1932. S. 335–391; S. 335.
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wir finden darin nur Körper, so dass alles Übrige von unsrer Einbildungskraft geschaffen und daher blos [sic!] in der Theorie vorhanden ist.189
Die rasanten Entwicklungen des 18. und 19. Jahrhunderts brachten idealistische und empiristische Positionen gleichermaßen in eine ‚produktive‘ Erklärungsnot. Herbert Mehrtens beobachtet, dass mit ihr eine Differenzierung und Diversifizierung philosophisch-ontologischer Positionen in der mathematischen Grundlagenreflexion einhergingen. Historisch könne man, so Mehrtens, eine „Spaltung in zwei ‚Lager‘“ anhand „einer ganzen Reihe von Oppositionen“ wahrnehmen, die als ein „Antagonismus von Moderne und Gegenmoderne“ gedeutet werden könnten.190 Die mathematische Moderne reagiere auf die Frage nach dem ontologischen Status mathematischer Gegenstände, indem sie die inhaltlich-ontologische Bestimmung mathematischer Begriffe und damit auch die inhaltliche Interpretation formalsprachlicher Elemente gänzlich aufgebe. Die Vertreter der mathematischen Gegenmoderne hätten im Gegenzug, so Mehrtens, nach einer Fundierung jenseits ontologischer Entitäten gesucht: Wahrheit und Sinn der Texte bestimmen sich [aus Sicht der mathematischen Modernisten, M.I.] in der Arbeit an ihnen, nicht mehr in der Repräsentation der gegebenen physischen Welt, auch nicht im Bezug auf eine transzendente Ordnung. Dagegen protestiert die Gegenmoderne und sucht den ‚Ur-Grund‘, in dem die Mathematik ‚wurzelt‘ und aus dem sie ihre Wahrheit und ihre Ordnung bezieht. Modern ist auch die Gegenmoderne, weil auch sie Repräsentation und Transzendenz aufgibt. Sie versucht darum, Grund und Anfang in ‚Anschauung‘ und ‚Intuition‘ zu konstruieren.191
Giuseppe Peano ist nach Mehrtens einer der ersten Vertreter der mathematischen Moderne, da er anders als Dedekind und Lobatschewski, die noch ein dünnes Band zwischen mathematischen Gegenständen und nichtmathematischer Wirklichkeit knüpften, auf eine außermathematische Fundierung völlig
|| 189 Nikolai I. Lobatschewski: Neue Anfangsgründe der Geometrie mit einer vollständigen Theorie der Parallellinien. In: derselbe: Zwei geometrische Abhandlungen. Bd. 1. Übers. und hrsg. von Friedrich Engel. Leipniz: Teubner, 1898. S. 67–236; S. 80–82. 190 Herbert Mehrtens: Moderne, Sprache, Mathematik. S. 16. 191 Herbert Mehrtens: Moderne, Sprache, Mathematik. S. 9. Auch Thomas Bedürftig und Roman Murawski charakterisieren die moderne Axiomatik mit ähnlichen Worten: „Das Wesen der neuen Axiomatik gegenüber der alten euklidischen ist es, sich gänzlich von der Wirklichkeit zu lösen. [...]. Begriffe werden axiomatisch auf Grundbegriffe zurückgeführt, die als Symbole repräsentiert sind und im Prinzip keine Bedeutung haben. Die Axiome sind nicht, wie man früher [etwa noch im 17. und 18. Jahrhundert, M.I.] annahm, evidente Wahrheiten, sondern – wieder im Prinzip – formale Sätze aus Zeichen bestehend.“ Thomas Bedürftig und Roman Murawski: Philosophie der Mathematik. S. 217.
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verzichtete: „außerhalb seiner mathematisch-logischen Sprache [gibt es] nichts mehr, auf das Bezug genommen würde.“192 Auch David Hilbert verzichtete in seinen Grundlagen der Geometrie (1899) auf jeden Definitions- und Erklärungsversuch der axiomatischen Grundbegriffe. Gauß, Dedekind, Peano und Hilbert stellt Mehrtens Vertreter der mathematischen Gegenmoderne gegenüber, die eine inhaltlich-ontologische Fundierung mathematischer Begriffe bewahren wollten, so z.B. Felix Klein (1849–1925). In seinem Erlanger Programm (1872) entwarf er eine „eigentliche Geometrie“ mit einer „vollen gestaltlichen Wirklichkeit“ und betonte, dass ein „Modell – mag es nun ausgeführt und angeschaut oder nur lebhaft vorgestellt sein – […] für diese Geometrie nicht ein Mittel zum Zwecke sondern die Sache selbst“193 sei. Gottlob Frege (1848–1925), ein weiterer Vertreter der Gegenmoderne vertrat wiederum eine modifizierte, abgeschwächte Form des Platonismus. Die Gedanken sind weder Dinge der Außenwelt noch Vorstellungen. Ein drittes Reich muß anerkannt werden. Was zu diesem gehört, stimmt mit den Vorstellungen darin überein, daß es nicht mit den Sinnen wahrgenommen werden kann, mit den Dingen aber darin, daß es keines Trägers bedarf, zu dessen Bewußtseinsinhalte es gehört. So ist z.B. der Gedanke, den wir im pythagoreischen Lehrsatz aussprachen, zeitlos wahr, unabhängig davon wahr, ob irgendjemand ihn für wahr hält. Er bedarf keines Trägers. Er ist wahr nicht erst, seitdem er entdeckt worden ist, wie ein Planet, schon bevor jemand ihn gesehen hat, mit andern Planeten in Wechselwirkung gewesen ist.194
|| 192 Herbert Mehrtens: Moderne, Sprache, Mathematik. S. 40. Für die mathematische Logik beschreibt Peano die ‚symbolische Definition‘ wie folgt: „Die hier folgenden Vereinbarungen, die wir mittelst der gewöhnlichen Sprache erklären müssen, stellen Grundbegriffe dar. 1. Die Buchstaben a, b, ... x, y, z bezeichnen beliebige Dinge, die sich ändern, wenn der Satz sich ändert.“; „Kommt man über gewisse Symbole überein, die durch die gewöhnliche Sprache erklärt werden und Begriffe darstellen, die wir primitive oder Grundbegriffe nennen, so läßt sich, wie wir es gethan haben, die symbolische Definition aller Zeichen geben, die in der mathematischen Logik vorkommen.“ Giuseppe Peano: Über mathematische Logik. [Studii di logica matematica, 1897]. In: derselbe: Arbeiten zur Analysis und zur mathematischen Logik. Hrsg. von Günter Asser. Wien: Springer, 1990. S. 10–26; S. 13 und S. 26. 193 Felix Klein: Das Erlanger Programm. Leipzig: Geest & Portig, 1974. S. 75. Klein fährt an angegebener Stelle fort: „In ihr [der Geometrie] gilt es, die räumlichen Figuren nach ihrer vollen gestaltlichen Wirklichkeit aufzufassen und (was die mathematische Seite ist) die für sie geltenden Beziehungen als evidente Folgen der Grundsätze räumlicher Anschauung zu verstehen. Ein Modell – mag es nun ausgeführt und angeschaut oder nur lebhaft vorgestellt sein – ist für diese Geometrie nicht ein Mittel zum Zwecke sondern die Sache selbst.“ 194 Gottlob Frege: Logische Untersuchungen. In: derselbe: Kleine Schriften. Hrsg. von Ignacio Angelelli. Hildesheim: Olms, 1990. S. 342–393; S. 353.
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Die erwähnten Positionen machen deutlich, welch große Unsicherheit hinsichtlich des ontologischen Status von mathematischen Gegenständen in der Mathematik herrschte. Traditionelle ideal-realistische oder empiristische Erklärungen verloren zunehmend an Tragfähigkeit und wurden entweder grundsätzlich abgelehnt oder doch stark modifiziert. Bei Vertretern der mathematischen Moderne, wie Mehrtens sie entwirft, wurde eine ontologische, ja allgemein eine inhaltliche Bedeutung mathematischer Begriffe verneint. Wenn überhaupt, stellten hier nur noch die Handlungen der Mathematiker selber oder das Kalkül als deren Resultat den Gegenstand der Mathematik dar. Der bereits skizzierten Entwicklung der Axiomatik kam hierbei, wie Bedürftig und Murawski festhalten, eine zentrale Bedeutung zu: Die erneuerte axiomatische Methode in der Mathematik ist ganz generell das Verfahren, die Frage nach der Natur der mathematischen Objekte zu vermeiden. Die neue Axiomatik ist sozusagen das Markenzeichen moderner mathematischer Darstellung. Die Frage ‚Was?‘ wird überall zur Frage ‚Wie?‘. […]. Die axiomatische Methode hatte, so können wir sagen, bis vor 120 Jahren noch eine gewisse Bodenhaftung. Sie stammte von Euklid, der Platons und Aristoteles’ Ideen umgesetzt hatte, und verstand die Grundbegriffe inhaltlich, also philosophisch. Axiome waren von der Wortbedeutung her ‚gerechte‘ Forderungen, die eine Evidenz hatten, die aus der Wirklichkeit kam. Die neue Axiomatik – seit Hilberts Grundlagen der Geometrie und durch ihre formale Auffassung in der Logik – hat sich von der Wirklichkeit ‚verabschiedet‘.195
Es ist nicht verwunderlich, dass die ‚Verabschiedung von der Wirklichkeit‘ Konsequenzen für die Konzeptionierung sprachlicher Repräsentation haben musste, wenn man sich vergegenwärtigt, dass im 18. und 19. Jahrhundert zwei Entwicklungen der neuzeitlichen Mathematik kulminierten: Erstens wurde in voller Tragweite die Beschaffenheit eines symbolisierten und formalisierten Axiomensystems erkannt, die Formalsprache der Mathematik wurde als autonomer Zeichenkosmos begriffen, von dem fraglich war, wie er auf Gegenstände der empirischen Wirklichkeit bezogen werden konnte. Albert Einstein sollte später diese Verunsicherung so ausdrücken: „Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.“196 Zweitens wurde der ontologische Status dessen, was bezeichnet wurde – also die Gegenstände der Mathematik – in seinem ontologischen Status strittig. Man operierte und rechnete präziser und klarer als je zuvor mit mathematischen Symbolen und war paradoxerweise || 195 Thomas Bedürftig und Roman Murawski: Philosophie der Mathematik. S. 275f. 196 Albert Einstein: Mein Weltbild. Hrsg. von Carl Seelig. Frankfurt a. M., Berlin: Ullstein, 1988. S. 157.
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weniger als je zuvor in der Lage, sich auf eine philosophische Erklärung dessen, was hierbei ‚eigentlich‘ vorging, zu einigen. Diese Verunsicherung kondensierte in einem markanten Satz des Philosophen und Logikers Bertrand Russell (1872– 1970): „mathematics may be defined as the subject in which we never know what we are talking about […].“197
2.6 Entrhetorisierung der Mathematik Aus den dargestellten Aspekten der Symbolisierung, Formalisierung und Axiomatisierung der Mathematik ergab sich noch eine weitere Konsequenz für die sprachliche Darstellung der Mathematik. In Anlehnung an Theodor Icklers Formulierung soll sie als Tendenz der Entrhetorisierung der Mathematik bezeichnet werden. Ickler stellt mit Blick auf die modernen Wissenschaften fest, dass in ihnen „[r]hetorische Qualitäten […] einer wissenschaftlichen Abhandlung als Fehler angerechnet [werden] […], die unrhetorische Haltung [gehört] zu den wesentlichen Merkmalen der wissenschaftlichen Darstellung“198. Eine ‚unrhetorische Haltung‘ schließt nicht aus, wie Ickler präzisiert, dass in wissenschaftlichen Darstellungen rhetorische Strategien angewandt würden – unter dem Schlagwort rhetoric of science befasst sich seit längerer Zeit ein eigener Zweig philologisch-linguistischer Forschung mit diesem Aspekt. Worauf Ickler Bezug nimmt, ist die Tatsache, dass in wissenschaftlichen und speziell mathematischen Darstellungen Inhalte nie ausschließlich durch rhetorische Darstellungsmittel ohne sachhaltige Substanz plausibilisiert werden dürfen. Zunächst ist es wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass Rhetorik nach antikem Verständnis neben Aspekten der emotionalen Affektion und der sprachlichen Gestaltung mit intellectio, inventio und dispositio durchaus vernunftbasierte Aspekte der Argumentationsstruktur und Beweisführung umfasste; Rhetorik, Dialektik und Logik hatten folglich bedeutende Schnittmengen. Die Differenz zwischen rhetorischer und mathematischer Sphäre wird an der Bedeutungsentwicklung des Wortes ‚ἀπόδειξις‘ deutlich. In der vor-aristotelischen Verwendung konnte es „jede Art von Darstellung, Hinweis, Nachweis,
|| 197 Bertrand Russell: Mathematics and the Metaphysicians. [Recent Work in the Philosophy of Mathematics, 1901]. In: derselbe: Mysticism and Logic and other Essays. Auckland: Floating Press, 1917. S. 74–96; S. 75. 198 Theodor Ickler: Die Disziplinierung der Sprache. Fachsprachen in unserer Zeit. Tübingen: Narr, 1997. S. 197.
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Indiz, Beweis“ bezeichnen.199 Und diese Bedeutung findet sich auch noch in Aristoteles’ Rhetorik, in der er von einer rhetorischen Apodeixis spricht200, womit er allerdings eine gegenüber der Logik bzw. Dialektik defizitäre Form der Beweisführung bezeichnet, die von lediglich wahrscheinlichem Wissen ihren Ausgang nimmt.201 In der strengeren, terminologischen Verwendung bedeutete ‚ἀπόδειξις‘ jedoch ein begründetes Wissen (ἐπιστήμη). Ein Syllogismus galt dann als Apodeixis, wenn seine Prämissen sich durch besondere Sicherheit auszeichneten, wenn sie letzte Prinzipien, also Axiome waren.202 ‚Apodeixis‘ begriffen als epistemischer Auf-, Be- oder Nachweis hatte nun aber, worauf Christian Thiel hinweist, zwei Bedeutungsdimensionen: einerseits ‚mit Gründen dartun‘, andererseits ‚zeigen‘, ‚aufweisen‘ oder ‚vorweisen‘.203 Während die erste Bedeutung den Horizont philosophischen Argumentierens eröffnete, ging die zweite Bedeutung auf die Beweisführung in Geometrie und Arithmetik zurück, die die Wahrheit von Sätzen auch mittels anschaulicher Figuren und Zeichnungen bzw. mit Hilfe von Steinchen buchstäblich sichtbar machte. Aristoteles spielt in der Nikomachischen Ethik auf beide Bedeutungshorizonte an, wenn er die Differenz zwischen Mathematik und Rhetorik expliziert: „es scheint genauso unangebracht zu sein, vom Mathematiker eine Predigt zu verlangen, wie von einem Redner Beweise.“204 Natürlich gesteht Aristoteles auch dem Rhetor die Verwendung von Syllogismen zu, aber in der rhetorischen Rede erfülle sie – und das ist nach Christoph Rapp der entscheidende Punkt – stets einen anderen Zweck: Der Philosoph benutzt den dialektischen Schluß aus prima facie akzeptablen Prämissen, um herauszufinden, zu welchen anderen Sätzen sich diese Prämisse konsistent verhält, so daß er gegebenenfalls einen dieser Sätze verwirft, andere dagegen für die philosophische Erklärung beibehält. Die Idee der Verwendung dialektischer Schlüsse in der Rhetorik ist jedoch eine ganz andere: Um das vom Redner angestrebte Urteil U bei den Zuhörern zu erreichen, muß der Redner eine vom Zuhörer akzeptierte Prämisse P aufsuchen, um U aus P zu deduzieren, weil der Zuhörer U akzeptieren wird, wenn er meint, daß U aufgrund eines von ihm schon akzeptierten Satzes bewiesen worden ist. Eine wahrheitskritische Einstel-
|| 199 Christof Rapp: Apodeixis. In: Wörterbuch der antiken Philosophie. Hrsg. von Christoph Horn und Christof Rapp. München: Beck, 2002. S. 50–51; S. 51. 200 Vgl. Aristoteles: Rhetorik. Übers. und hrsg. von Paul Gohlke. Paderborn: Schöningh, 1959. S. 27–37. 201 Vgl. Matthias Gatzemeier: Philosophie als Theorie der Rationalität. Bd. 1. Hrsg. von Jürgen Villers. Würzburg: K&N, 2005. S. 468–494. 202 Vgl. Ernst Kapp: Der Ursprung der Logik bei den Griechen. Göttingen: V&R, 1965. S. 7f. 203 Vgl. Christian Thiel: Philosophie und Mathematik. S. 90. 204 Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übers. und hrsg. von Paul Gohlke. Paderborn: Schöningh, 1956. S. 19.
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lung zu den verwendeten Prämissen, wird vom Redner nicht eingenommen, solange diese nur bei den Hörern akzeptiert sind.205
Für die Mathematik besaß die ‚wahrheitskritische Einstellung‘ eine entscheidende Bedeutung, denn ihre Ausdrücke und Sätze sollten nicht lediglich auf Akzeptanz und Plausibilität gegründet werden. Um ihre Wahrheit zu prüfen und sicherzustellen, wurden zwei Methoden entwickelt: die analytische und die synthetische Methode. Diogenes Laertios (180–240 n. Chr.) schrieb die Erfindung zumindest der analytischen Methode Platon zu. Bei Pappos von Alexandria (290–350 n. Chr.) findet sich wiederum die klassisch gewordene Bestimmung beider Methoden: Wie aus den Schriften der drei Männer, Euklids des Verfassers der Elemente, Apollonius’ von Pergä und Aristäus’ des Älteren erhellt, dienen Analysis und Synthesis als Mittel [, die Lösungen von vorgelegten Problemen zu finden, M.I.] […]. Die Analysis ist ein Weg, von dem Gesuchten, das als ausgemacht betrachtet wird, mittelst der sich daraus ergebenden Folgerungen zu dem synthetisch Feststehenden zu gelangen; in der Analysis nämlich setzen wir das Gesuchte als bereits vorhanden voraus und sehen zu, woraus dieses sich ergibt, und ferner was diesem letzteren vorausgeht, bis dass wir so zurückschreitend auf etwas schon Bekanntes oder auf das was als Ausgangspunkt dienen kann, kommen. Diesen Weg nennen wir Analysis, gleichsam eine Rückwärtsauflösung. In der Synthesis dagegen schlagen wir den entgegengesetzten Weg ein, indem wir das zuletzt in der Analysis Gewonnene als bereits feststehend hinstellen, das dort Folgende hier als das Vorausgehende naturgemäß ordnen und zueinander in Zusammenhang bringen, und so zuletzt zur Konstruktion des Gesuchten gelangen. Das nennen wir Synthesis.206
Soll die Wahrheit eines Satzes S bewiesen werden, so wird bei der analytischen Methode der Satz S auf grundlegendere Sätze R, Q, P usw. zurückgeführt. Wenn S wahr ist, muss R wahr sein; wenn R wahr ist, muss Q wahr sein usw. Dies wird so lange betrieben, bis ein grundlegender Satz A gefunden wird, der wahr ist. Aus S wird also A gefolgert, da A wahr ist, muss also auch S wahr sein. Das synthetische Vorgehen beginnt mit der sichergestellten Wahrheit des Satzes A und leitet aus diesem B, C … R ab, aus dem schließlich S gefolgert wird. Während die synthetische Methode uneingeschränkt gültig ist, muss bei der analytischen noch die umgekehrte Bedingtheit der Schlussreihenfolge erwiesen werden (also das A B bedingt, B C bedingt usw.). Die Analyse erbringt somit lediglich den Nachweis, dass ein Beweis möglich ist, die Sicherheit des Bewei|| 205 Christof Rapp: Rhetorik und Philosophie in Aristoteles’ ‚Rhetorik‘. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 18 (1999). S. 94–113; S. 107. 206 Pappos von Alexandrien: Der Sammlung des Pappos von Alexandrien siebtes und achtes Buch. Übers. und hrsg. von Carl I. Gerhardt. Halle: Schmidt, 1871. S. 3.
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ses selbst beruht aber stets auf der Durchführung der Synthese. Diese Verhältnisbestimmung sollte sich in der methodologischen Reflexion jedoch wandeln. Nachdem im Mittelalter die analytische Methode kaum methodologische Relevanz für die Philosophie besaß, brachte sie erst wieder Federico Commandino (1506–1575) durch seine Pappos-Übersetzung in die frühneuzeitliche Methodenreflexion ein. Commandinos Zeitgenosse Giacomo Zabarella (1533–1589) griff in Opera Logica (1578) Pappos’ Heuristik auf und ordnete der Tradition folgend die analytische der synthetischen Methode unter: „Methodus resolutiva est serva demonstrativae […].“207 Diese Unterordnung war, wie Volker Peckhaus feststellt, pragmatischen Gründen geschuldet, denn „das Ziel wissenschaftlicher Arbeit [war] die synthetische Lehrbuchdarstellung, die als conditio sine qua non die Analyse voraussetzt“208. François Viète erhob schließlich die Analyse zu der allgemeinen Methode der mathematischen Problemlösung in seiner Isagoge in artem analyticam (1591): „Und so mag die ganze analytische Kunst […] definiert werden als die Lehre des geschickten Findens (Doctrina bene inveniendi) in der Mathematik.“209 Die Synthese – verstanden als ars iudicandi, also als notwendiger Schritt zum Erweis der Wahrheit von Wissensbeständen –, trat mit und nach Viète zunehmend in den Hintergrund.210 Man kann daher die von Sibylle Krämer gebrauchte Bezeichnung „rhetorische Algebra“211 auch mit jener synthetischen Begründungsfunktion verknüpfen, die in der Antike noch dominant war. Die neuzeitliche, symbolische Algebra erscheint dann insofern als ‚entrhetorisiert‘, als ihr Entwicklungsschub hauptsächlich auf der analytischen Methode – verstanden als ars inveniendi – ruhte. Beide Methoden fanden natürlich auch Anwendung in der Naturforschung. Newton skizziert ihre Adaption für die Physik in seiner Optik: Wie in der Mathematik, so sollte in der Naturforschung bei Erforschung schwieriger Dinge die analytische Methode der synthetischen vorausgehen. Diese Analysis besteht darin, dass man aus Experimenten und Beobachtungen durch Induction allgemeine Schlüsse zieht und gegen diese keine Einwendungen zulässt, die nicht aus Experimenten oder aus anderen gewissen Wahrheiten entnommen sind. […] [D]ie Synthesis dagegen besteht da-
|| 207 Giacomo Zabarella: Opera Logica. Coloniae: Zetznerus, 1597. S. 266. 208 Volker Peckhaus: Die regressive Methode. In: Zwischen traditioneller und moderner Logik. Nichtklassische Ansätze. Hrsg. von Werner Stelzner und Manfred Stöcker. Paderborn: Mentis, 2001. S. 65–80; S. 79. 209 François Viète: Einführung in die neue Algebra. [Isagoge in artem analyticam, 1591]. Übers. und hrsg. von Karin Reich und Helmuth Gericke. München: Fritsch, 1973. S. 37f. 210 Vgl. Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. S. 136–140. 211 Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. S. 125.
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rin, dass die entdeckten Ursachen als Principien angenommen werden, von denen ausgehend die Erscheinungen erklärt und die Erklärung bewiesen werden.212
Die analytische Methode verstanden als ars inveniendi darf jedoch nicht, wie Stefanie Buchenau betont, mit der rhetorischen Technik der inventio verwechselt werden: Durch ihre produktive Dimension unterscheidet sich diese ars inveniendi gerade von der alten, der antiken ars inveniendi in der Tradition von Aristoteles und Cicero: In den Augen der neuzeitlichen Philosophen bedeutet inventio nicht lediglich das Auffinden von schon bekannten Argumenten und ars inveniendi nicht wie bei Aristoteles und Cicero die Kunst der Ordnung und Speicherung solcher Argumente mit Hilfe der Topik. Inventio bezieht sich auf die Entdeckung unbekannter Wahrheiten, und ars inveniendi bezeichnet die Logik oder Methode zu ihrer Entdeckung.213
Pappos beschrieb die analytische Methode als „geometrischen Weg“ zur „Lösung[] von vorgelegten Problemen“214. Er gebrauchte das Wort ‚μέθοδος‘ hierbei im Sinne von ‚Weg zu etwas‘ oder ‚Gang einer Untersuchung‘. Viète begriff die analytische Methode bereits weniger als Weg und vielmehr als Technik oder Fertigkeit der korrekten Regelanwendung. Schon der aristotelische Syllogismus war eine Reduzierung auf das Formale, das mit Schematisierungen unter Absehung von Inhalten operiert. Doch wenn Aristoteles in formalen Schlussschemata Buchstaben als Variable einsetzte, repräsentierten diese sozusagen ‚Konstanten‘ und es ergaben sich bei Einsetzung von konkreten Begriffen verbalsprachliche Sätze mit einem konkreten Wahrheitsgehalt. Viète operierte im Symbolismus dagegen mit Schemata in der Form, dass ihre Ausdrücke in Sätze der Formalsprache überführt, ihrerseits wieder nur auf Zeichen referierten. Die von Viète entworfene doctrina bene inveniendi war daher mehr ein operativer ‚Me-
|| 212 Isaac Newton: Optik oder Abhandlung über Spiegelungen, Brechungen, Beugungen und Farben des Lichts [Opticks or a Treatise of the Reflections, Refractions, Inflections and Colours of Light, 1704]. Übers. und hrsg. von William Abendroth. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg, 1983. S. 269. 213 Stefanie Buchenau: Die Einbindung von Poetik und Ästhetik in die Logik der Aufklärung. In: Kunst und Wissen. Beziehungen zwischen Ästhetik und Erkenntnistheorie im 18. und 19. Jahrhundert. Hrsg. von Astrid Bauereisen, Stephan Pabst und Achim Vesper. Würzburg: K&N, 2009. S. 71–84; S. 73f. Bacon, der wie bereits erwähnt, noch die Rolle der Mathematik in der Naturphilosophie gänzlich anders bewertete als Descartes und später Newton, stellt dagegen im Novum organum eine an der rhetorischen Topik orientierte „Topik der Forschungstechnik“ auf, siehe dazu: Wolfgang Krohn: Einleitung. In: Francis Bacon: Neues Organon. Hrsg. von Wolfgang Krohn. Hamburg: Meiner, 1999. S. IX–LVI; S. XXVII. 214 Pappos von Alexandrien: Der Sammlung des Pappos von Alexandrien siebtes und achtes Buch. S. 3 und S. 339.
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chanismus‘ und weniger eine Methode der Beweisführung. Konnte der aristotelische Syllogismus Teil einer rhetorisch geformten Rede sein215, war dies bei der mathematischen ars inveniendi, der neuzeitlichen, analytischen Methode nicht mehr möglich. Und so kann es nicht verwundern, dass Viète sehr entschieden Rhetorik und Mathematik trennte, indem er schrieb: „Denn im Gegensatz zu anderen Disziplinen sind in der Mathematik die Meinung des einzelnen und auch das Urteil nicht frei. Hier […] nützen keine Überredungskünste von Rhetoren und keine Winkelzüge der Advokaten.“216 René Descartes erhob in den Regeln zur Ausrichtung der Geisteskraft (1628) die analytische Methode zu der wissenschaftliche Methode schlechthin217 und das auch, um sich von der Scholastik und ihren formalen Spitzfindigkeiten abzugrenzen. Auch in den Meditationes wird ersichtlich, wie wichtig Descartes die analytische Methode als fundamentale Methode des Denkens und der Argumentation war, wenn er in der zweiten Meditation die eigene Methodik der anschließenden Ausführungen reflektierte: [I]ch [habe] mir vorgenommen […], nur das, was ich streng beweisen kann, niederzuschreiben, und daß ich […] nur die bei den Geometern übliche Methode befolgen konnte, die darin besteht, alles das vorauszuschicken, wovon der fragliche Satz abhängt, bevor man für ihn selbst irgendeinen Schluß zieht.218
Viele Humanisten teilten Descartes’ Argwohn gegen die mittelalterliche Scholastik. Sie kritisierten besonders die scholastische Logik, zum einen weil sie sich in unnützen Formalismen verloren habe, zum anderen weil sie es nicht vermöge, unbekannte Wahrheiten (veritates incognitas) freizulegen.219 Die im Humanismus verbreitete Abkehr von der formalen Syllogistik war verbunden mit einer Neuorientierung der Logik an Platons Dialektik und Ciceros bzw. Quintilians Rhetorik, was in der Folge zu einer Verschiebung der Grenzen zwischen Logik und Rhetorik führte. Auch bei Petrus Ramus (1515–1572) zeigt sich diese Neuausrichtung, wenn er die Logik als ratio (im Sinne von ‚Beweis/vernünftiges Argument‘, ‚Begründung‘, ‚Methode‘) und die Rhetorik ausschließlich als oratio || 215 Vgl. Klaus Petrus: Genese und Analyse. Logik, Rhetorik und Hermeneutik im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin, New York: De Gruyter, 1997. S. 15f. 216 François Viète: Einführung in die neue Algebra. S. 34. 217 Vgl. René Descartes: Regeln zur Ausrichtung der Geisteskraft. [Regulae ad directionem ingenii, 1628]. In: derselbe: Regulae ad directionem ingenii. Cigitationes privatae. Übers. und hrsg. von Christian Wohlers. Hamburg: Meiner, 2011. S. 1–188; S. 23f. 218 René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. [Meditationes de prima philosophia, in qua Dei existentia et animae immortalitas demonstratur, 1641]. Übers. und hrsg. von Christian Wohlers. Hamburg: Meiner, 2008. S. 17. 219 Vgl. Klaus Petrus: Genese und Analyse. S. 16f.
Entrhetorisierung der Mathematik | 237
(im Sinne von ‚Ausdruck‘, ‚Redestil‘) konzipierte: „Ratio & Oratio: illius doctrina dialectica est, huius grammatica, & retorica“220. Beide Bereiche wurden von Ramus also distinkt getrennt, wobei er die methodische inventio der Logik zuordnete und damit die Rhetorik auf die elocutio, also auf die sprachliche Ausformung und Stilistik, reduzierte. Die kritische Prüfung der tradierten Philosophie und die Neuausrichtung der Logik als „Kunst des rechten, durch keine falsch verstandenen formalen Regeln gehemmten vernünftigen Denkens“221 festigte die Verschiebung der methodischen Aspekte in den Bereich der Logik, die nach antikem Verständnis auch noch ein Teil der Rhetorik waren. Während die Rhetorik kulturell in der Renaissance an Bedeutung gewann, wurde sie im wissenschaftlichen Kontext zunehmend bedeutungslos. Die Bedeutungsverschiebung wird auch in Descartes’ Discours erkennbar: Ich schätze die Beredsamkeit sehr und war in die Poesie verliebt, aber ich dachte, die eine wie die andere seien eher Gaben des Geistes als Früchte des Studiums. Diejenigen, die die stärksten Gedankengänge haben und ihre Gedanken am besten verarbeiten, um sie klar und einsichtig werden zu lassen, können immer am besten von dem überzeugen, was sie vorbringen, selbst wenn sie nur Niederbretonisch sprechen und niemals Rhetorik gelernt haben.222
Die Weichen für das 18. Jahrhundert waren hiermit gestellt – die Wissenschaft galt fortan als rhetorisch befreites Gebiet. So schreibt Alexander Gottlieb Baumgarten, dass der Philosoph „beim Darstellen keine oder sehr wenige besondere Regeln zu beachten [habe]. Die Ausdrücke, sofern sie artikulierte Laute sind, kümmern ihn nicht“223. Mit der Ästhetik als Disziplin eröffnete Baumgarten jedoch eine der rationalen Erkenntnis gleichgeordnete Sphäre (analogon rationis), in der die Rhetorik einen neuen Platz finden konnte. Ganz ähnlich grenzte auch Johann Georg Sulzer ratio und oratio voneinander ab. Während die Philosophie inklusive der Mathematik „den Vorrath unsrer Kenntnisse durch erweisliche
|| 220 Petrus Ramus: Rhetoricae distinctiones in Quintilianum. Oratio eiusdem de studiis philosophiae et eloquentiae coniungendis. Paris: David, 1550. S. 13. 221 Wilhelm Risse: Die Logik der Neuzeit. Bd. 2. Stuttgart: Frommann-Holzboog, 1970. S. 5. 222 René Descartes: Entwurf der Methode. S. 7. Zu Descartes’ Rhetorikverständnis vgl. Elisabeth Gutjahr: Cartesianische Wahrheit und Rhetorik. Geltung unter den Bedingungen von attentia und evidentia. In: Rhetorik, Argumentation, Geltung. Hrsg. von Andreas Dörpinghaus und Karl Helmer. Würzburg: K&N, 2002. S. 137–154. 223 Alexander G. Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus [1735]. Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes. Hrsg. und übers. von Heinz Paetzold. Hamburg: Meiner, 1983. S. 87.
238 | Formalisierung und Axiomatisierung der Mathematik
Vernunftschlüsse“224 vermehre, komme der Rhetorik lediglich die Aufgabe zu, das von der Philosophie hervorgebrachte Wissen zu vermitteln – „Dazu aber [müsse] sie nothwendig einen sinnlichen Ausdruck brauchen.“225 Es lässt sich abschließend festhalten, dass im Zeitraum vom Beginn der Frühen Neuzeit über das 17. bis hin zum 18. Jahrhundert die Entrhetorisierung der Mathematik eng mit einem allgemeinen Wandel der Konzeptionierung von Logik und Rhetorik verbunden war. Die methodologischen Aspekte wurden aus der Rhetorik gewissermaßen herausgelöst, so dass sie als Kunst mehr und mehr auf Form, Stil und Ästhetik – also auf die elocutio – reduziert wurde. Der Bereich der inventio – in die Form einer neuzeitlichen ars inveniendi gewandelt – wurde das zentrale Merkmal der neuzeitlichen Logik, die nach Vorbild der neuen Algebra entworfen wurde (vgl. Kap. III.3.1). Gleichzeitig erfuhr das antike Bindeglied zwischen Logik und Rhetorik, die Syllogistik, eine massive Abwertung, gegen die erst Leibniz angehen sollte. Rationalistische wie auch empiristische Sprach- und Erkenntnistheorien trugen ein Übriges dazu bei, dass der Rhetorik jegliche Relevanz für die Gewinnung und Erschließung neuer wissenschaftlicher Erkenntnis abgesprochen wurde. Aus der beiden Positionen innewohnenden sprachkritischen Perspektive betrachtet stellte die auf sprachliche Ausschmückung reduzierte Rhetorik nur eine mögliche Fehlerquelle sprachlicher Verfälschung dar. Wie Peter von Polenz festhält, durchtrennte spätestens Christian Wolff die Bindung von Wissenschaftssprache und Rhetorik: „Er befreite die deutsche Wissenschaftssprache aus der traditionellen Abhängigkeit von Latein, Rhetorik und Poesie, so wie es die Londoner Royal Society gefordert hatte.“226
|| 224 Johann G. Sulzer: Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß der Vernunft in die Sprache und der Sprache in die Vernunft. In: derselbe: Vermischte philosophische Schriften. Leipzig: Weidmann und Reich, 1773. S. 166–198; S. 191. 225 Johann G. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzeln nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Bd. 2. Leipzig: Weidemann und Reich, 1774. S. 1087. 226 Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. 2. Berlin, New York: De Gruyter, 1994. S. 360.
Entwicklungen der neuzeitlichen Logik | 239
3 Formalisierung der Logik 3.1 Entwicklungen der neuzeitlichen Logik In den vorangegangenen Kapiteln wurde bereits mehrfach auf die Bedeutung der Logik für das Entwicklungspotenzial von Physik und Mathematik zu Beginn der Neuzeit verwiesen. Wie in diesen beiden Disziplinen werden auch die neuzeitlichen Entwicklungen der Logik selbst erst durch die Vergegenwärtigung ihrer historischen Voraussetzungen, die im Folgenden knapp skizziert werden sollen, verständlich. Bemerkenswert ist hier bereits die Etymologie des Wortes ‚λόγος‘. Es bezeichnete ursprünglich sowohl die Tätigkeit als auch das Resultat des Sammelns. Überliefert ist aber auch die Bedeutung ‚Zählung‘, von der ausgehend sich vermutlich zwei Bedeutungshorizonte entfalteten: Erstens wurde ‚λόγος‘ später im Sinne von ‚Erzählung‘, ‚Aufzählen‘ (von Tatsachen) und ‚Rede‘ gebraucht, deren Gemeinsamkeit in einer verbalsprachlichen Artikulation liegt. Zweitens wurde an den mathematischen Aspekt von ‚Zählung‘ angeknüpft, so dass ‚λόγος‘ auch im Sinn von ‚Rechnung‘, ‚Berechnung‘, ‚Rechenschaft‘ gebraucht wurde. Für diesen Kontext können auch die Bedeutungen ‚Überlegung‘, ‚Auseinandersetzung‘, ‚Erörterung‘ und ‚Argumentation‘ nachgewiesen werden. Da das entsprechende Verb ‚λέγειν‘ auf das Sprechen begrenzt blieb, dominierte wahrscheinlich für ‚λόγος‘ die Bedeutung ‚vernünftige oder sinnvolle Rede‘ bzw. ‚Gespräch‘.227 Durch die Bedeutungsdimensionen der Wahrhaftigkeit, Rechtfertigkeit und Begründetheit der Rede konnte ‚λόγος‘ als Antonym zu ‚μῦθος‘ gebraucht werden. Deutet man die Entstehung der antiken Philosophie als evolutionäre Entwicklung vom Mythos zum Logos, so kann mit Paul Geyer die Opposition von ‚λόγος‘ und ‚μῦθος‘ mit der Dichotomie von Rationalität und Irrationalität in Verbindung gebracht werden, denn der Mythos zieht noch keine klare Grenze zwischen ‚Rationalem‘ und ‚Irrationalem‘. Deswegen gibt es im mythischen Denken streng genommen nichts Paradoxes. Im Prozess der Rationalisierung schafft der Mensch durch die Logik des Entweder-Oder und durch das Kausalprinzip Ordnung in seiner Welt.228
|| 227 Vgl. Jan Osomer: ‚logos‘. In: Wörterbuch der antiken Philosophie. Hrsg. von Christoph Horn und Christof Rapp. München: Beck, 2002. S. 254–261; S. 254f. 228 Paul Geyer: Das Paradox. Historisch-systematische Grundlegung. In: Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens. Hrsg. von Paul Geyer. Tübingen: Stauffenburg, 1992. S. 11–24; S. 15. DOI 10.1515/9783110464252-017, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
240 | Formalisierung der Logik
Das antike Verständnis des Begriffs ‚λόγος‘ kann als eine allgemeine Kulturtechnik der Rationalisierung betrachtet werden, die sowohl das vernünftige Denken als auch die vernünftige Rede, die Mitteilung oder das sprachliche Argumentieren umfasste. Für jene Tätigkeiten, Regeln und Schemata, die heute allgemein als ‚Logik‘ bezeichnet werden, lassen sich in antiken Texten unterschiedliche Bezeichnungen nachweisen. Platon nannte ‚διαλεκτική ἐπιστήμη‘, meist mit ‚Dialektik‘ übersetzt, die sichere Erkenntnis vom Sein in Form von Begriffsanalyse und -synthese.229 Anders und differenzierter gebrauchte Aristoteles das Wort in seiner ‚Topik‘, also dem fünften Buch des Organon230, indem er es von der ‚ἀναλυτική‘, meist nur als ‚Analytik‘ übersetzt, abgrenzt. Dialektik ist demnach das „Argumentationsverfahren, das lediglich aus überlieferten oder von Sachkundigen für zulässig erachteten Sätzen [und] aus bloß faktisch-zufälligen, nichtnotwendigen Voraussetzungen nur Wahrscheinliches erschließt“ 231. Analytik wiederum ist das methodisch strengere Verfahren, das „aus gesicherten Voraussetzungen gesicherte Folgerungen beweist“232. Das Wort ‚Dialektik‘ wurde ins Mittelalter jedoch ohne die aristotelische Differenzierung tradiert und fungierte so als Bezeichnung der gesamten Logik – ‚logica‘ und ‚dialectica‘ wurden synonym gebraucht. Mit ‚ὄργανον‘ (‚Werkzeug‘) wurde eine dritte Bezeichnung der Logik in hellenistischer Zeit geprägt, eine Bezeichnung, die auf Aristoteles’ gleichnamiges Werk Bezug nimmt. Immer wieder diente sein Organon als Referenzpunkt gerade für die Erneuerung der Logik, so etwa bei Francis Bacon, Johann Heinrich Lambert oder William Whewell.233 Die erste systematische Reflexion und Explikation der Logik leistete Aristoteles, seine Syllogistik gilt als die erste Begriffs-, Satz- bzw. Regellogik234: „[E]r || 229 So im Dialog Philebos: „Sokrates: Offenbar ist sie [die dialektische Kunst] diejenige, welche von jeder bis jetzt genannten [Kunst] Kenntnis hat. Denn daß die das Seiende und das wahre Sein und das seiner Natur nach immer Selbige betreffende Erkenntnis auch weitaus die wahrste sei, davon sollten, meine ich wenigstens, alle durchaus überzeugt sein, welchen auch nur ein bißchen Vernunft anhaftet.“ Platon: Philebos. Übers. von Ludwig Georgii. In: derselbe: Sämtliche Werke. Bd. 3. Hrsg. von Erich Löwenthal. Heidelberg: Fourier, 2001. S. 5–89; S. 77. 230 Vgl. Aristoteles: Topik. Übers. und hrsg. von Paul Gohlke. Paderborn: Schöningh, 1952. S. 23f. 231 Wilhelm Risse u.a.: Logik. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 5. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. Basel: Schwabe, 1980. S. 357–383; S. 357f. 232 Wilhelm Risse u.a.: Logik. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 5. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. Basel: Schwabe, 1980. S. 357–383; S. 357f. 233 Vgl. Wilhelm Risse u.a.: Logik. S. 357–360. 234 Zu der Frage, ob Aristoteles’ Logik bereits als Regellogik aufgefasst werden kann vgl. Günther Patzig: Die Aristotelische Syllogistik. Logisch-philologische Untersuchungen über das Buch A der ‚Ersten Analytiken‘. Göttingen: V&R, 1963 sowie Wolfgang Albrecht und Angelika Hanisch: Aristoteles’ assertorische Syllogistik. Berlin: D&H, 1970. S. 76–85.
Entwicklungen der neuzeitlichen Logik | 241
gibt allgemeingültige Sätze an, d.h. Gesetze der Logik oder Theoreme (solche Sätze sagen aus, was ist: hier wird die ontologische Fundierung seiner Logik sichtbar).“235 Etwa 150 Jahre später formulierten stoische Philosophen eine Aussagenlogik in Form einer Regellogik. Durch Boethius’ (480–525) Kommentar, in dem er aristotelische und stoische Aspekte der Logik vereinte, wurde die antike Logik in die Scholastik des Mittelalters überliefert. Mit der Übersetzung aristotelischer Schriften im 12. bzw. 13. Jahrhundert wurden die Grundlagen der Suppositionstheorie, der Lehre von den consequentiae und des Ausbaus der Formalisierung gelegt. Die mittelalterliche Logik wird üblicherweise in einem Zeitraum vom 11. bis zum 16. Jahrhundert situiert, wobei sie in einigen Aspekten und durch einige Vertreter über diese Zeit hinaus Bestand haben sollte – „in gewisser Weise sogar bis zu G. W. Leibniz“236 und bis zu den „Scholastikern“237 des 16. bis 18. Jahrhunderts. Der Beginn der frühen Neuzeit stellt eine Zäsur in der Geschichte der Logik dar, die, wie Albert Menne betont, nicht als eine kontinuierliche Entwicklung verstanden werden könne.238 Vielmehr seien vier verschiedene Ausformungen der Logik zu trennen, die Menne in Anlehnung an Bocheński239 entwirft. Neben der antiken (aristotelischen und stoischen) und der scholastischen Gestalt unterscheidet Menne die traditionelle Gestalt der Logik, die etwa im Zeitraum von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts vorherrschte, und die moderne, mathematische Gestalt der Logik, die im 19. Jahrhundert (teils unter Rückgriff auf Leibniz’ Entwürfe eines Logikkalküls) entstand. Die Formung der traditionellen, neuzeitlichen Logik erscheint nun deswegen als Zäsur, weil sie von einer radikalen Abkehr von der formallogischen Ausrichtung der Scholastik sowie von einer Orientierung an Ciceros Rhetorik gekennzeichnet gewesen ist. Diese ‚neue‘ weitgehend rhetorische Logik firmierte unter dem Namen ‚Dialektik‘. Die sogenannten Ciceronianer240 gaben sogar die Logik weitgehend zugunsten der Rhetorik auf. Dass nicht auch die aristotelischen Schriften und deren formale Aspekte abgelehnt wurden, ist der humanistischen Verehrung antiker Denker geschuldet. Sie motivierte einerseits die auf das Quellenstudium von || 235 Albert Menne: Zur Logik und ihrer Geschichte. In: Philosophia Naturalis 22 (1985). S. 460– 468; S. 461. 236 Christian Thiel: Logik. In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 5. Hrsg. von Jürgen Mittelstraß. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2013. S. 1–5; S. 4. 237 Vgl. dazu Risses Darstellungen der ‚scholastischen Logik des 16. und frühen 17. Jahrhunderts‘ in Wilhelm Risse: Die Logik der Neuzeit. Bd. 1. S. 294 und S. 308f. 238 Vgl. Albert Menne: Zur Logik und ihrer Geschichte. S. 466. 239 Vgl. Joseph M. Bocheński: Formale Logik. Freiburg, München: Alber, 1956. 240 Vgl. Wilhelm Risse: Die Logik der Neuzeit. Bd. 2. S. 14–78.
242 | Formalisierung der Logik
Aristoteles’ Organon gestützte Kritik an der Scholastik, andererseits führte sie zu einem Rückbezug auf das Organon als Referenz- und Anknüpfungspunkt der neuen Logik. Die Aristoteliker versuchten dabei die ursprüngliche aristotelische Logik hinter den scholastischen Spitzfindigkeiten freizulegen und sie so zu reinigen. Neben aller Kritik an der Scholastik waren die meisten Logiker des 16. Jahrhunderts mehr an einer Neubestimmung und Neubegründung der Logik interessiert, als an bloß schematisch-formalen Schlussschemata. So erfuhr die Logik eine Ausrichtung an allgemein erkenntnistheoretischen, psychologischen und ontologischen Fragestellungen: „Diese Auffassung der Logik als eines sachbezogenen Organon entspricht sowohl der ciceronischen Logikdefinition als ars disserendi wie der peripatetischen als instrumentum.“241 Trotz der Ausdifferenzierung und Diversifikation im Zeitraum vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts erkennt Risse dennoch wesentliche Gemeinsamkeiten: Im Ganzen ist das hier behandelte Zeitalter in der Geschichte der Logik einmalig. Mit bemerkenswerter Lebendigkeit und einfallsreicher Gründlichkeit sucht es nach der inneren Auflösung der mittelalterlichen Scholastik nach einer Reform der Logik von Grund auf. […] [L]etztlich geht es dabei nicht so sehr um den äußeren Vorrang einer der bestehenden Schulen als um das rechte Verständnis der ratio, als des formalen Kernstücks menschlichen Wissens. Denn indem die inhaltlichen Voraussetzungen mittelalterlicher Philosophie weithin fragwürdig geworden sind, ist die formale Lehre der Logik unversehens wieder zu dem geworden, was sie nach Meinung Aristoteles immer hätte sein sollen, das Organon des Wissens, d.h. der letzte formale Prüfstein, an dem sich alles Wissen als echt oder unecht erweisen muß.242
Mit dem Rückbezug auf die Antike und mit den Bestrebungen einer logischerkenntnistheoretischen Erneuerung wurden die Grundsteine des neuzeitlichen Rationalitätsverständnisses gelegt, das auch den Kern der neuzeitlichen Wissenschaftlichkeit bilden sollte. Jürgen Mittelstraß spricht daher von einer ‚zweiten Aufklärung‘, die Aspekte einer antiken ‚ersten Aufklärung‘ aufgegriffen und in deren Zentrum die wissenschaftliche Methodik im Sinne einer ‚Disziplinierung des Denkens‘ gestanden habe: Es sind, mit anderen Worten, in erster Linie eben gar nicht einzelne Sätze, die hier als vorbildlich gelten sollen, sondern vorbildlich ist die methodische Rechtschaffenheit, mit der sie, sofern sich dies zeigen läßt, gewonnen wurden. Fortsetzung dieses Denkens wäre in diesem Sinne nichts anderes als Disziplinierung des eigenen Denkens.243
|| 241 Wilhelm Risse: Die Logik der Neuzeit. Bd. 1. S. 11. 242 Wilhelm Risse: Die Logik der Neuzeit. Bd. 1. S. 13. 243 Jürgen Mittelstraß: Neuzeit und Aufklärung. S. 64.
Entwicklungen der neuzeitlichen Logik | 243
Eine weitere Zäsur der Logikgeschichte stellt die Mitte des 17. Jahrhunderts stattfindende Abkehr von einzelnen Schulen und Paradigmen dar, in deren Folge man sich auf die Vernunft und damit auf das erkennende Subjekt konzentrierte: „Obwohl äußerlich nicht so radikal wie die um 1500 stattgefundene Ablösung der Scholastik durch die humanistische Bewegung, ist dieser Umbruch doch innerlich auf seine Weise mindestens ebenso folgenschwer.“244 Während aber der Humanismus die scholastische Logik vor allem aus didaktischen und pragmatischen Gründen ablehnte, richtete sich nun die Kritik der Logiker direkt gegen die Autoritäten selbst. Abermals war das Ziel eine Erneuerung des logischen Fundaments, ein neuer, keinerlei Dogmen verpflichteter Grundstein sollte das erkenntnistheoretische Gebäude tragen. In der menschlichen Vernunft und ihrer Fähigkeit, die Wahrheit erkennen zu können, meinte man, einen solchen gefunden zu haben. So wird das Subjekt als die alleinige Instanz inthronisiert, von der ausgehend Erkenntnis konzipiert wurde. Erkenntnis galt stets als Erkenntnis durch und für einen Erkennenden. Deutlich tritt diese Ansicht in Descartes’ Meditationes zutage, in denen das skeptische Ich in seinem Zweifel nicht nur über all die überkommenen Wahrheiten zu Gericht sitzt, sondern auch in und aus sich heraus die eigene Selbst- und Welterkenntnis begründen kann. Die Neuausrichtung der Philosophie bedingte auch ein neues Verständnis von Logik als einer „Kunst des rechten, durch keine falsch verstandenen formalen Regeln gehemmten vernünftigen Denkens“, das auf der unerschütterlichen Überzeugung beruhte, „mittels dieses Denkens immer und überall die Wahrheit in der ihr eigenen Gesetzlichkeit begreifen zu können“.245 Als ‚Kunst des Denkens‘ wurde sie auch von Antoine Arnauld (1612–1694) und Pierre Nicole (1625– 1695) im Titel der sogenannten Logik von Port-Royal (Logique ou l’art de penser, 1662) bezeichnet. Logik galt – und hier ist die Logik von Port-Royal nur eines von vielen Beispielen – stets als ein Amalgam von erkenntnistheoretischen, metaphysischen und psychologischen Fragestellungen. Bisweilen trieb diese Auffassung auch Blüten eines überzogenen Psychologismus, weswegen Bocheński ein recht negatives Bild des 17. Jahrhunderts zeichnet. Er sieht in der Psychologisierung den Grund für die bis ins 18. Jahrhundert verbreitete Ablehnung der formalen Logik: Inhaltlich arm, jeder tieferen Problematik bar, mit einer Menge von nicht-logischen Philosophemen durchsetzt, dazu psychologistisch im schlimmsten Sinne des Wortes: so kön-
|| 244 Wilhelm Risse: Die Logik der Neuzeit. Bd. 2. S. 11. 245 Wilhelm Risse: Die Logik der Neuzeit. Bd. 2. S. 5.
244 | Formalisierung der Logik
nen wir zusammenfassen, was wir von der Art der „klassischen“ Logik sagen mußten. […]. In dieser Logik und ihren Vorurteilen gebildet, konnten die modernen Philosophen, Spinoza, die britischen Empiristen, Wolff‚ Kant, Hegel usw., kein Interesse für die formale Logik haben.246
Anders als der logisch-syllogistische Formalismus wurde die mathematische Methode für die Logik im 17. und 18. Jahrhundert durchaus wegweisend, und das, wie Risse festhält, unter verschiedenen Gesichtspunkten, indem die mathematische Methode die Logik teils insgesamt ersetzen, teils in sich festigen soll, und indem sie selbst entweder als bloßer Leitfaden zur übersichtlichen Anordnung der Gedanken oder als strikte Beweismethode schlechthin verstanden ist. Doch wird sie, anders als in der seit dem 19. Jh. aus der Mathematik erwachsenen Logistik, keineswegs eindeutig formalistisch ausgedeutet.247
Die euklidische Axiomatik konnte in ihrem Anspruch an Präzision, begrifflicher Eindeutigkeit und methodischer Strenge als Leitbild einer auf inhaltliches Wissen bezogenen Logik fungieren. Auch Descartes versuchte diesem Leitbild zu folgen und meinte in der Evidenz des cogito ergo sum eine ähnlich gewisse Grundlage menschlicher Erkenntnis gefunden zu haben, wie es die euklidischen Axiome für die Geometrie zu sein schienen. „Insofern können“, resümiert Risse, „die erkenntnistheoretisch-metaphysischen Elemente dieser Logik und die Idee der mathematischen Methode als komplementär verschiedene Erscheinungsformen ein und derselben Denkweise angesehen werden.“248 Die Hinwendung zur Erkenntnistheorie und die mit ihr verbundene Abkehr vom formalen Syllogismus wertet Risse als inneres Anzeichen einer Auflösung der traditionellen Logik, die sich äußerlich in der Nichtbeachtung der aristotelischen Texte spiegle. Begreift man Logik allgemein als „Lehre von der Folgerichtigkeit, ihren Voraussetzungen und Anwendungen“, wie Menne dies tut, so erscheint die traditionelle Gestalt der Logik in der Vermischung von erkenntnistheoretischen, psychologischen und metaphysischen Aspekten ohnehin als „eine Schwundstufe, ein deficienter [sic!] Modus von Logik“249 – Leibniz und viele seiner Nachfolger müssen von dieser allgemeinen Beurteilung sicher ausgenommen werden. Homogen war aber auch die Logik des 17. und 18. Jahrhunderts nicht. In Anleh-
|| 246 Joseph M. Bocheński: Formale Logik. S. 301. 247 Wilhelm Risse: Die Logik der Neuzeit. Bd. 2. S. 6. 248 Wilhelm Risse: Die Logik der Neuzeit. Bd. 2. S. 6. 249 Albert Menne: Zur Logik und ihrer Geschichte. S. 460 und S. 466.
Traditionelle Logik und Rhetorik | 245
nung an Risse und Angelelli können sechs größere Strömungen unterschieden werden250: 1. die rationalistische Lehre der Cartesianer (z.B. Arnauld und Nicole) 2. die an der Mathematik in Methodik, Formalisierung und Symbolisierung orientierte Logik (als deren eigentlicher Begründer Leibniz gelten kann und dessen Nachfolger in gewissem Sinne Lambert und Bolzano waren) 3. die fortbestehende Scholastik des 17. und 18. Jahrhunderts 4. die Aristoteliker des 17. und 18. Jahrhunderts 5. die erkenntnistheoretische Richtung der englischen Empiristen 6. die Aufklärer in Frankreich und Deutschland (z.B. Wolff). Die fortgeführte scholastische Tradition war schnell mit den Entwicklungen in Philosophie und Wissenschaften überfordert, wurde von der cartesianischen Tradition ‚überholt‘ und versank bereits Mitte des 17. Jahrhunderts in der Bedeutungslosigkeit.251 Sie soll daher im Folgenden keine weitere Berücksichtigung finden. Aus ähnlichen Gründen wird auf eine Thematisierung der aristotelischen Schule im 17. bzw. 18. Jahrhundert verzichtet, denn auch sie war relativ unbedeutend und blieb unfruchtbar.252 Die weiteren Strömungen der Logikgeschichte finden in den folgenden Abschnitten eine an Schwerpunkten orientierte Thematisierung, die von der Bestimmung des Verhältnisses von Logik und Rhetorik ihren Ausgang nimmt.
3.2 Traditionelle Logik und Rhetorik Gottfried Gabriel weist auf eine alte Konstante in der Verhältnisbestimmung von Logik und Rhetorik hin: Das Verhältnis von Logik und Rhetorik ist von altersher konfliktgeladen, bedingt durch wechselseitige Gebietsansprüche und deren Folgen: Logisierung der Rhetorik oder Rhetorisierung der Logik, verbunden mit entsprechenden Ausgrenzungen ‚fremder‘ Elemente. Zeiten eines friedlichen Nebeneinanders und erst recht eines produktiven Miteinanders sind selten.253
|| 250 Vgl. Wilhelm Risse u.a.: Logik. S. 369. 251 Vgl. Wilhelm Risse: Die Logik der Neuzeit. Bd. 2. S. 294f. 252 Vgl. Wilhelm Risse: Die Logik der Neuzeit. Bd. 2. S. 386f. 253 Gottfried Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung. Paderborn: Schöningh, 1997. S. 9.
246 | Formalisierung der Logik
Die Rhetorik umfasste in der Antike zunächst jene Bereiche menschlichen Argumentierens, in denen nicht auf sichere Kenntnis von Sachverhalten oder das Wissen von Wahrheiten gesetzt werden konnte, etwa in forensischen, juridischen oder politischen Belangen. Grob können zwei unterschiedliche Positionen der Verhältnisbestimmung von Logik und Rhetorik charakterisiert werden, die beide eine Hierarchisierung vornahmen: Die erste Position, deren Grundannahme es war, dass wahres und gesichertes Wissen prinzipiell möglich sei und dass die Klärung, was wahres Wissen ist, in den Zuständigkeitsbereich der Logik falle, ordnete die Logik der Rhetorik über. Die zweite Position, die die Möglichkeiten sicherer Erkenntnis generell skeptisch betrachtete, ordnete umgekehrt die Logik der Rhetorik unter: „Die Rhetorik soll Logik nicht nur – in den Fällen von deren Nichtanwendbarkeit – kompensieren, sondern insgesamt substituieren.“254 Für die Argumentationsstrategien beider Positionen war der Begriff ‚Wahrheit‘ zentral. Die erste Position knüpfte Wahrheit vor allen Dingen an Regeln, die es erlauben sollten, aus wahren Urteilen, den Prämissen, wahre Urteile, die Konklusionen, zu folgern. Wahrheit wurde damit auf die beiden Wahrheitswerte von Urteilen ‚wahr‘ und ‚falsch‘ eingeengt: tertium non datur. Als wahrheitsfähig galten lediglich Aussagen und Behauptungen. Wie Gabriel darstellt, fand das „Aufbegehren der Rhetorik“ der zweiten, erkenntnisskeptischen Position gegen diesen engen Wahrheitsbegriff auf zwei Ebenen statt. Einerseits wurde die Möglichkeit von Erkenntnis, andererseits der Wert von mit logischen Mitteln gewonnener Erkenntnis angezweifelt: Bezweifelt wird im ersten Fall, daß formale Schlüsse allgemeingültig, Urteile wahr und Begriffe bestimmt sein können. Behauptet wird im zweiten Fall, daß formale Schlüsse unergiebig seien, urteilendes Denken zu beschränkt sei und abstrakte Begriffsbildungen der Wirklichkeit nicht gerecht zu werden vermögen.255
Bei allen Differenzen zwischen den beiden Positionen teilte man doch auch einige Gemeinsamkeiten. Beide Lager strebten letztlich nach einer methodischen Rechtschaffenheit und forderten Begründungen für behauptete Aussagen. Für Logik und Rhetorik wurde dieser Anspruch jedoch jeweils unterschiedlich formuliert. Im Bereich der Logik kristallisierte er in den drei Grundgesetzen, also dem Gesetz vom ausgeschlossenen Widerspruch, dem Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten und dem Gesetz der Identität (Leibniz fügte als viertes Grundgesetz das Gesetz des zureichenden Grundes hinzu), und in den formalen Schlussregeln. In der Rhetorik schlug sich der argumentative Anspruch in der || 254 Gottfried Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. S. 18. 255 Gottfried Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. S. 19.
Traditionelle Logik und Rhetorik | 247
Methodik von inventio und dispositio nieder. Gleich zu Beginn der Rhetorik charakterisiert Aristoteles diesen Anspruch als eine anthropologische Konstante: Die Kunst der Rede [Rhetorik] ist das Gegenstück zur Kunst des Lehrgesprächs [Dialektik]. Beide nämlich haben Gegenstände, deren Erkenntnis bis zu einem gewissen Grade zum Bereich aller Wissenschaften gehört […]. Daher berühren sich in manchem Sinne auch alle [Menschen, M.I.] mit beiden, weil alle bis zu einem gewissen Grad zu prüfen und Rechenschaft abzulegen, zu verteidigen und anzugreifen suchen.256
Von Anbeginn beruhte das spannungsreiche Verhältnis von Logik und Rhetorik auf der für beide Künste prägenden Grundannahme, dass das Gesagte bzw. Behauptete zu begründen und zu rechtfertigen sei und dass Rechtfertigungen und Begründungen nicht willkürlich, sondern nach gewissen Regeln und Kriterien erfolgen müssten. Sowohl Logik als auch Rhetorik setzten folglich ein gewisses Verständnis von Rationalität voraus, so dass in ihrem Spannungsfeld auch die für das abendländische Denken so wichtigen Dichotomien rational/irrational, logisch/unlogisch und begründet/unbegründet ihren Platz fanden. Erst innerhalb dieser Dichotomien ließ sich überhaupt Kritik an unlogischen oder unbegründeten Urteilen oder an Logik und Rationalität formulieren. Paul Geyer beschreibt daher ihre Geschichte als die „eines ziellosen Oszillierens zwischen Perioden klassisch-geschlossener und paradox-offener Denkpraxis“257. Immer wieder habe man versucht, das „Sein in die Logik des Entweder-Oder zu zwingen“258 und immer wieder prangerten Kritiker die „Inadäquatheit logischer Ausdrucksformen“259 an, seien hierbei aber meist selbst rationalen Argumentationsschemata verpflichtet geblieben. Mit Beginn der Frühen Neuzeit ist in diesem Prozess eine Grenzverschiebung zwischen Logik und Rhetorik zu beobachten, die maßgeblich mit der Neuausrichtung der Logik verbunden war (vgl. Kap. III.2.6). Zunehmend mehr wurde Logik – etwa von Rudolphus Agricola oder Petrus Ramus als eine „Erfindungslogik“ konzipiert, die primär „der Entdeckung von veritates incognitas“, also unbekannten Wahrheiten dienen sollte.260 Damit wurde die inventio aus dem Bereich der Rhetorik in den Zuständigkeitsbereich der Logik verschoben und eine für die folgenden Jahrhunderte prägende Dichotomie von ratio und oratio in die Opposition von Logik und Rhetorik hineingetragen. Die Rhetorik
|| 256 Aristoteles: Rhetorik. S. 27. 257 Geyer, Paul: Das Paradox. S. 13. 258 Geyer, Paul: Das Paradox. S. 20. 259 Geyer, Paul: Das Paradox. S. 18. 260 Klaus Petrus: Genese und Analyse. S. 8 und S. 17.
248 | Formalisierung der Logik
wurde ihrer argumentativ-methodischen Anteile beraubt und fast ausschließlich auf Stilistik und sprachliche Ästhetik reduziert. Es erscheint paradox, dass die enorme Aufwertung der Rhetorik durch die Logiker der Renaissance so zu ihrer inneren Aushöhlung führte. Mit Verweis auf Paul Ricœur spricht Gabriel deswegen auch vom ‚zwischenzeitlichen Tod der Rhetorik‘ in der Frühen Neuzeit.261 Auch Descartes reduzierte die Rhetorik auf die sprachliche Vermittlung von Wissen. Elisabeth Gutjahr weist in den Meditationes die traditionell rhetorischen Überzeugungsmittel ethos und pathos nach und begreift auch Descartes’ Evidenzlehre als Fortführung des rhetorischen Konzepts der evidentia: „Das Cogito-Argument expliziert zu neuzeitlichen Bedingungen das rhetorische Konzept der evidentia und bewahrt seine wesentliche Funktion, Hörern oder Lesern den Eindruck der Teilnahme und Zeugenschaft zu vermitteln.“262 Jan-Dirk Müllers These ist wiederum, dass gerade im evidentia-Konzept die Grenzverschiebung zwischen Rhetorik und Logik sichtbar wird: [Das] Evidente [ist] also keineswegs das, was sich unvermittelt als einsichtig und wahr darbietet, sondern was einsichtig scheint. Evidenz ist etwas Gemachtes, das gerade nicht wie etwas Gemachtes aussehen darf, sondern sich als die Sache selbst präsentiert. Evidenz ist ein Effekt von Rhetorik. Hergestellt wird er mittels ‚Verlebendigung‘ der Rede (griech. energeia) und mittels ausmalender ‚Detaillierung‘ des besprochenen Gegenstandes (griech. enargeia). […] ‚Vor Augen stellen‘ hat aber nicht nur eine ästhetische Funktion, sondern dient der Wahrheitssuggestion. Wer als Redner ein Verbrechen, einen Übeltäter, eine Tat seinen Zuhörern ‚vor Augen rückt‘, beansprucht, sie in die Lage zu versetzen, selbst ein sicheres Urteil über das, was wahr oder recht ist, abgeben zu können, denn sie ‚können ja selbst sehen‘. ‚Selbst sehen‘ ist die Basis von Empirie.263
Für den Beginn der Frühen Neuzeit weist Müller nach, dass die beiden Dimensionen der evidentia, also die ästhetisch-rhetorische Anschaulichkeit und die wissenschaftlich-epistemologische Empirie, zunehmend auseinandertraten: „Die wissenschaftliche Abbildung verliert ihren rhetorischen Charakter; sie hat Beweisfunktion.“264 Die Evidenz des Descartes’schen cogito ergo sum suggeriert diese intuitiv erkennbare, d.h. unmittelbare Faktizität: Wahr ist, was klar und deutlich eingesehen werden kann. Das Aufweisen der Grundwahrheiten ist daher weniger mit der rhetorischen evidentia verwandt, als vielmehr mit der
|| 261 Gottfried Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. S. 14. 262 Elisabeth Gutjahr: Cartesianische Wahrheit. S. 146. 263 Jan-Dirk Müller: Rhetorik und Evidentia im Denken der Frühen Neuzeit. In: Mitteilungen des Sonderforschungsbereichs 573 ‚Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit‘ 1 (2006). S. 6–8; S. 7. 264 Jan-Dirk Müller: Rhetorik und Evidentia. S. 8.
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intuitiven Wahrheit der euklidischen Axiome und der mos geometricus. Das Konzept der Evidenz, das ursprünglich ein rhetorisches gewesen ist, wird in den Meditationes also zu einem Aspekt der Logik. Die Dialektik ordnet Descartes dagegen der Rhetorik unter und erklärt beide als für das Handwerk des Philosophen und Wissenschaftlers ungeeignete Mittel: [D]aher ist die gewöhnliche Dialektik insgesamt für diejenigen völlig unnütz, die die Wahrheit von Dingen untersuchen wollen; sie kann nur dazu dienen, zuweilen Leuten bereits erkannte Gründe leichter auseinanderzusetzen und sollte ihren Platz daher nicht in der Philosophie, sondern in der Rhetorik finden.265
Auch die dem cartesianischen Rationalismus verpflichteten Autoren der Logik von Port-Royal, Arnauld und Nicole, stufen die Bedeutung der Rhetorik für Philosophie und Wissenschaft eher gering ein: Im Hinblick auf die Rhetorik haben wir […] erwogen, daß ihre mögliche Hilfe beim Finden von Gedanken, Redewendungen und Ausschmückungen nicht so beträchtlich ist. Der Geist liefert nämlich genug Gedanken […]. Man könnte daher beinahe sagen, es komme nur darauf an, gewisse schlechte Arten des Schreibens und Sprechens, vor allem einen gekünstelten und rhetorischen Stil, gebildet aus falschen und hyperbolischen Gedanken und erzwungenen Figuren, der das größte aller Übel ist, fallenzulassen. […]. Der Abschnitt, in dem von den falschen Schlüssen, zu denen die Beredsamkeit unmerklich verleitet, die Rede ist, stellt nebenbei, indem er lehrt, das niemals für schön zu halten, was falsch ist, eine der wichtigsten Regeln der wahren Rhetorik auf, nämlich eine Regel, die mehr als jede andere den Geist so bilden kann, daß man auf einfache, natürliche und vernünftige Weise schreibt.266
In der empiristischen Tradition ist eine ähnliche Abwendung von der sprachorientierten Rhetorik zu erkennen. Sprache als Instrument sollte sich den Ideen, d.h. der Erkenntnis anpassen; die rhetorische Formung von Sprache konnte nach diesem Verständnis im besten Falle nicht hindern, im schlimmsten Falle verfälschte sie die Inhalte. Der rhetorischen Formung wurde eine natürliche und transparente Sprache gegenübergestellt, für die die Logik zuständig erklärt wurde. So merkt Harris an: „wenngleich [die] Vernunftlehre [logic] allerdings ohne Rhetorik und Dichtkunst bestehen kann, so ist doch diesen letztern eine gesunde und richtige Logik so unentbehrlich, dass sie ohne dieselbe nichts
|| 265 René Descartes: Regeln zur Ausrichtung der Geisteskraft. S. 83. 266 Antoine Arnauld und Pierre Nicole: Die Logik oder die Kunst des Denkens. [Logique ou l’art de penser, 1662]. Übers. und hrsg. von Christos Axelos. Darmstadt: WBG, 1994. S. 17.
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Bessers sind als melodische Kleinigkeiten“.267 Heinrich Plett erklärt diese Form der Rhetorik-Ablehnung seitens der Empiristen so: Als Ursachen […] gelten das Mißverhältnis von res und verba, die Unschärfe der tropischen Diktion, der Gefühlsappell der Affektrede. Demgegenüber postulieren die Stilreformer die Ökonomie, Klarheit und Sachlichkeit des plain style. Seine Wurzeln liegen in der Naturphilosophie Francis Bacons und dem Programm der Royal Society [...].268
Allerdings wurde auch die Logik von vielen Empiristen (vor allem den englischen) kritisch beurteilt, wie Wilhelm Risse darlegt: Die Logik hat in England im 17. und 18. Jahrhundert einen Tiefstand erreicht und nur wenig Interesse gefunden. […] Für die vornehmlich an Sachwissen interessierten englischen Denker ist die formale Logik eine relativ unproblematische Selbstverständlichkeit, und sie bedienen sich ihrer allenthalben. Aber sie reicht ihnen nicht aus für die Begründung einer gegenständlichen Erkenntnistheorie. Aus dieser Situation ist es verständlich, warum die Logik von ihnen praktisch beibehalten und zugleich theoretisch verworfen wird.269
Es war schließlich Leibniz, der formale Schlussverfahren aufwertete und gegen die Kritik der Scholastik verteidigte. Er forderte eine Weiterentwicklung der scholastischen Kunst des Schließens zu einer allgemeinen, formalen Beweismethode: „Wir könnten […] in kurzer Zeit einen großen Schatz von Wahrheiten erschließen, wenn wir bei schriftlich niedergelegten Disputationen die Methode des Disputierens genau befolgen […] würden. […]. Diese Methode könnte sehr viel zum Glück des Menschengeschlechts beitragen.“270 Zwar plädierte Leibniz auch für eine Wiederbelebung der deutschen Beredsamkeit, allerdings war seine rationalistische Sprachkonzeption nicht auf Ausschmückung und rhetorische Wirkung ausgerichtet, sondern auf die an Verstand und Vernunft orientierten Funktionen von Sprache (Merkzeichen, Kommunikationszeichen, operatives Symbol). Kurz gesagt: „Leibniz logisiert die Sprachtheorie. Die mathesis universalis mündet in die analytische Logik. Leibniz glaubt, die deutlichste und
|| 267 Vgl. Harris, James: Hermes oder philosophische Untersuchung über die allgemeine Grammatik. [Hermes, a Philosophical Inquiry Concerning Universal Grammar, 1751]. Übers. von Christian G. Ewerbeck und hrsg. von Friedrich A. Wolf. Hildesheim: Olms, 1987 [1788]. S. 7. 268 Heinrich F. Plett: Rhetorik der Renaissance – Renaissance der Rhetorik. In: RenaissanceRhetorik. Hrsg. von Heinrich Plett. Berlin, New York: De Gruyter, 1993. S. 2–21; S. 12. 269 Wilhelm Risse: Die Logik der Neuzeit. Bd. 2. S. 505f. 270 Gottfried W. Leibniz: Über die neu zu begründende Logik. [De logica nova condenda, ca. 1683–1685]. In: derselbe: Die Grundlagen des logischen Kalküls. Übers. und hrsg. von Franz Schupp. Hamburg: Meiner, 2000. S. 2–15; S. 3f.
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logischste Sprache sei auch die populärste, weil sie die Entstehung der Gedanken nachvollziehbar macht.“271 In der Aufklärung setzte sich die theoretische Grenzverschiebung zwischen Logik und Rhetorik fort. Zusätzlich zur inventio wurde „eine Reihe von traditionell dichterischen und rhetorischen Bereichen und Funktionen“272 der Logik zugeschlagen. Christian Wolffs Überlegungen gaben diesem Prozess jedoch eine neue Ausrichtung. Wolff transformierte die bis dato mathematisch-logische ars inveniendi zu einer Grundlagenmethode für weitere Wissenschaftsbereiche (u.a. auch für die Ethik) und erweiterte sie um eine die unteren Erkenntnisvermögen umfassende ars fingendi. Dies war möglich, weil Wolff Rationalität so weit fasste, dass er „sowohl dem Philosophen als auch dem Nichtphilosophen eine bestimmte empirische, historische und natürliche Form von Logik“273 zuerkennen konnte. Während die rationalistische Tradition ingenium (Witz) und acumen (Scharfsinn) ausschließlich als Merkmale des Philosophen und Mathematikers begriff, sprach Wolff auch Rhetoren und Poeten ein gewisses Maß an ‚Witz‘ zu: Was ich von dem Witze gelehret habe, dienet nicht allein die Redner und Poeten, auch Comödien- und Tragödien-Schreiber, sondern auch selbst die Autoris, welche die Disciplinen und dahin gehörige Sachen beschrieben zu beurtheilen, und bey den Erfindern und ihren Erfindungen hat man auch darauf gesehen.274
Selbst dispositio und elocutio werden bei Wolff in die philosophische Stillehre des Discursus praeliminaris eingebunden, so dass Stefanie Buchenau von einer „Öffnung der Logik für Poetik und Rhetorik“275 spricht. Logische Inhalte wie Wahrhaftigkeit, Wahrscheinlichkeit und Widerspruchsfreiheit sollten demnach so formuliert werden, dass sie auch für Rhetorik und Poetik Anwendung finden konnten. Die Grenzziehung zwischen Logik und Dichtung bzw. Rhetorik wurde hierdurch jedoch nicht aufgehoben oder aufgeweicht, sondern vielmehr zementiert. In Wolffs Nachfolge – etwa bei Baumgarten – wurde stärker der durch die Sinnlichkeit der rhetorischen Sprachform begründete Erkenntnischarakter betont, je mehr allerdings der sinnliche Aspekt der rhetorischen Sprache betont
|| 271 Peter D. Krause: Unbestimmte Rhetorik. Friedrich Schlegel und die Redekunst um 1800. Tübingen: Niemeyer, 2001. S. 351. 272 Stefanie Buchenau: Die Einbindung von Poetik und Ästhetik. S. 73. 273 Stefanie Buchenau: Die Einbindung von Poetik und Ästhetik. S. 75. 274 Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. In: derselbe: Gesammelte Werke. Abt. 1., Bd. 2.1. Hrsg. von Jean Ecole und Joseph E. Hofmann. Hildesheim: Olms, 1983. S. 529. 275 Stefanie Buchenau: Die Einbindung von Poetik und Ästhetik. S. 73.
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wurde, umso weniger Gewicht erhielt ihr propositionaler Gehalt – „die Rhetorik als Disziplin ist […] philosophisch ausgeplündert“276. Übrig blieb eine auf den sprachlichen Ausdruck und den schönen Stil beschränkte Kunst, die philosophisch, erkenntnistheoretisch und wissenschaftlich irrelevant war: Die Rhetorik durchläuft seit der Renaissance eine Entwicklung, die zwischen ihrer Bewertung als Muster für Grammatik und Poetik und […] völliger Verwerfung ihrer Verfahren und Mittel andererseits schwankt. Steht auf der einen Seite die Fundierung des Wahrheitsbegriffs und seine Aufgabe im ‚aptum‘ und die Bestimmung nach der materialen Erkenntnis in Abhängigkeit von formaler Adäquatheit, so steht auf der anderen Seite gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Auffassung, daß selbst für den Fall, daß die richtigen Inhalte vertreten werden, deren rhetorische Aufbereitung abträglich sei. […] Der mit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts einsetzende Niedergang der Rhetorik korreliert unmittelbar mit der Entwicklung hin zu rationalistischer Universalität und Gewißheit der Erkenntnis, sei dies im cartesianisch-rationalistischen Sinn, sei dies in der sensualistischen Gewißheit des Empirismus.277
Zwar gab es auch in der Rhetorik des frühen 18. Jahrhunderts eine Wendung hin zur ‚Sachadäquatheit‘, indem das aptum mehr als Angemessenheit in Bezug auf die sprachlich dargestellten Gegenstände verstanden wurde, so etwa in Friedrich Andreas Hallbauers (1692–1750) Anweisung zur verbesserten Teutschen Oratorie (1725) und Johann Andreas Fabricius’ (1696–1769) Philosophischen Oratorie (1724). Doch handelte es sich hierbei um Nebenschauplätze: [D]ie Hinwendung zu einer ‚philosophischen‘ Rhetorik, die den inhaltlichen Gesichtspunkt in den Vordergrund rückt, könnte den Eindruck erwecken, dass die Rhetorik im 18. Jahrhundert nochmals die fundamentale erkenntnistheoretische Rolle zurückgewinnt, die ihr in der Renaissance zunächst zukam. Doch dieser Eindruck täuscht. Wissenschaft und wissenschaftliche Erkenntnis werden allgemein wie bei Kant oder den Ideologen als direktes Gegenmoment der Rhetorik bestimmt.278
Traditionell wurde die funktionale Bestimmung rhetorischer Rede in dem Dreieck docere, delectare und movere aufgespannt, wobei die belehrende Funktion als intellektuelle, die erfreuende und bewegende als affektive Mittel begriffen wurden. Im 17. und 18. Jahrhundert wurden nun der Rhetorik nicht nur die lo-
|| 276 Gottfried Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. S. 16. 277 Josef Rauscher: Zeichenkonzeptionen in Grammatik, Rhetorik und Poetik von der Renaissance bis zum frühen 19. Jahrhundert. In: Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. HSK Bd. 13.2. Hrsg. von Roland Posner, Klaus Robering und Thomas Sebeok. Berlin, New York: De Gruyter, 2008. S. 1293–1325; S. 1310. 278 Josef Rauscher: Zeichenkonzeptionen in Grammatik, Rhetorik und Poetik. S. 1313.
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gisch-erkenntniserschließenden Aspekte, sondern zudem auch der Bereich der didaktischen Sprachdarstellung entzogen. Es erscheint nicht verwunderlich, dass die Rhetorik auf diese Weise – von allen Aspekten entledigt, die den menschlichen Intellekt adressieren – ausschließlich der sinnlich-affektiven Seite des Menschen zugeordnet wurde. Bemerkenswert ist die funktionale Eingrenzung der Rhetorik, die Bernard Bolzano in seinen philosophischen Tagebüchern vornimmt. Bolzano trennt zwischen dem didaktischen Vortrag (belehrend und sachlich vermittelnd) einerseits und der rhetorisch-poetischen Rede andererseits: „Der didaktische – und nicht didaktische (rhetorische oder poetische) Vortrag unterscheiden sich durch ihren Zweck. Jener will bloß lehren, d.h. den Verstand überzeugen…; dieser den Willen bewegen.“279 Anders als die Poesie sei die Rhetorik an die Wahrheit der Darstellung gebunden, dürfe also keine fiktionalen Elemente einsetzen, und ziele weniger als die Poesie auf das Erfreuen durch den Genuss des Schönen. Doch wie strikt er Rhetorik und Philosophie/Wissenschaft trennt, zeigt sich in einer Anmerkung in seiner Wissenschaftslehre, in der er den rhetorischen Rat diskutiert, in einer Reihe schwacher Beweise den schwächsten in die Mitte zwischen starke Beweise zu stellen und so seine Beweiskraft quasi künstlich zu steigern. [Dieser Rat] bezwecket nicht echte Belehrung, sondern Täuschung, und dürfte sonach schwerlich zu rechtfertigen seyn; in einem Lehrbuche der Logik aber wäre er vollends nicht zu verzeihen. Denn wäre auch dem Redner zuweilen erlaubt, zu täuschen: so kann es doch demjenigen, der uns in einer Wissenschaft unterrichten soll, in keinem Falle verstattet seyn, uns absichtlich irre zu führen, also auch nicht, uns einen Beweis, der wirklich schwächer ist, wie einen, der mehr Sicherheit gewährt, darzustellen.280
Bolzano reinigt die sprachliche Darstellung der Logik von allen rhetorischen Elementen, genauer: Er schließt all jene Formen sprachlicher Gestaltung aus, die ihm als rhetorische galten. Was er und viele Zeitgenossen dabei vernachlässigten, war die Tatsache, dass „auch die Nüchternheit, mit der ein Physiker oder Mathematiker seine Abhandlung schreibt, […] eine eminent rhetorische Kategorie“281 darstellen. || 279 Bernard Bolzano: Philosophische Tagebücher (1811–1817). Teil 1. In: derselbe: Bernard-BolzanoGesamtausgabe. Bd. 16.1. Hrsg. von Jan Berg. Stuttgart: Frommann-Holzboog, 1981. S. 163f. 280 Bernard Bolzano: Wissenschaftslehre Teil 1 (§§579–718). In: derselbe: Bernard-BolzanoGesamtausgabe. Bd. 11.1. Hrsg. von Jan Berg. Stuttgart: Frommann-Holzboog, 1985. S. 105. 281 Volkhard Wels: Melanchthons Lehrbücher der Dialektik und Rhetorik als komplementäre Teile einer Argumentationstheorie. http://opus.kobv.de/ubp/volltexte/2014/6912/ (24. Oktober 2016). S. 12.
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Die hier nur grob skizzierten Entwicklungen der traditionellen Logik kulminierten im 17. und 18. Jahrhundert, so lässt sich zusammenfassen, in einer Absorption wesentlicher rhetorischer Bestandteile (inventio, dispositio und Teile der elocutio). Ihrer methodologischen Anteile entleert wurde die Rhetorik meist auf ihre rein sprachliche Dimension reduziert und konnte so in der Ästhetik der Aufklärung ohne größeren argumentativen Aufwand den sinnlichen Erkenntnisvermögen zugeordnet werden. Wo Rationalität mit logischen Strukturen und philosophisch-wissenschaftlichen Kriterien identifiziert und damit der Begriff ‚Rationalität‘ sehr eng gefasst wurde (vgl. Kap. III.4.2), wurden Rhetorik und Logik als strikt getrennte Techniken betrachtet. Dass die der traditionellen Logik einverleibten Bestandteile der Rhetorik durch Modifikation und Umdeutung nicht länger als rhetorische Verfahren wahrgenommen wurden, zeigen jene Texte, in denen die sprachlich-stilistischen Aspekte einer wissenschaftlichen Darstellung reflektiert wurden. Von Wolff, Baumgarten und Bolzano wurde letztlich eine natürliche und ungekünstelte Form der Klarheit und Verständlichkeit für adäquat erachtet, die explizit von einer rhetorischen Formung abgegrenzt wurde. Dass es sich auch bei der vermeintlich natürlichen Klarheit um eine rhetorische Formung handelt, wurde nicht berücksichtigt. Logik einerseits und Rhetorik und Dichtung andererseits wurden unter diesen Voraussetzungen als einander entgegengesetzte aber komplementäre Denk-, Erkenntnis- und Sprachformen stilisiert. Dies führte in der älteren Forschung häufig zu der Annahme, die rhetorische Tradition ende mit dem 18. Jahrhundert. Gert Ueding beurteilt das als einen gravierenden Fehlschluss: Im 18. Jahrhundert ereignen sich in der Rhetorikgeschichte allerdings Umbrüche so schwerwiegender Art, daß sie häufig als Abschluß der rhetorischen Tradition beschrieben wurden. Genauere historische Forschungen haben diese Auffassung grundsätzlich korrigiert. [...]. Der Geltungsverlust ist dramatisch, daran läßt sich nichts deuteln, er verhindert aber nicht das Weiterleben rhetorischer Theorie unter dem Deckmantel neuer Terminologien und aufgefächert in Disziplinen wie Poetik und Literaturtheorie, Geschichtsschreibung und Pädagogik, Hermeneutik und Psychologie. Statt vom Ende wäre also von einer Transformation der Rhetorik zu reden […].282
Es ist bezeichnend, dass die von Ueding aufgezählten Disziplinen, in denen Teile der Rhetorik weiterhin einen Platz finden konnten, ausschließlich dem Kreis geisteswissenschaftlicher Fächer zuzurechnen sind. Auch für die Logik hat Uedings Diagnose Erklärungskraft. Die bereits im 16. und 17. Jahrhundert
|| 282 Gert Ueding und Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Geschichte – Technik – Methode. Stuttgart: Metzler, 2011. S. 1f.
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integrierten Elemente der klassischen Rhetorik wurden hier nicht als solche wahrgenommen und der rein ästhetisch-affektive Restbestand des rhetorischen Lehrgebäudes wurde strikt von allem, was für die Logik als Disziplin Bedeutung hatte, abgetrennt. In diesem speziellen Sinne kann auch von einer Entrhetorisierung der Logik im ausgehenden 18. Jahrhundert gesprochen werden.
3.3 Traditionelle Logik und Mathematik Für die Entwicklung der Logik seit dem 17. Jahrhundert ist aber nicht nur das spannungsreiche Verhältnis zur Rhetorik von Belang, sondern in ebenso großem Maße die Orientierung an der Mathematik. Die Neuausrichtung der Logik war, wie bereits gezeigt, auch das Resultat einer Indienstnahme für die Gewinnung neuer, sachhaltiger Erkenntnis: Dabei wird entsprechend dem Erfolg naturwissenschaftlicher Methoden auch die L[ogik] an dem Anspruch gemessen, die Entdeckung neuer Wahrheiten zu ermöglichen. Daß dies die Syllogistik nicht zu leisten vermag, darin sind sich Rationalisten wie R. Descartes und Empiristen wie J. Locke einig.283
Rationalisten und Empiristen waren sich allerdings nicht einig, wie dieses Defizit zu beheben sei. Die empiristische Tradition orientierte sich an Bacon und versuchte an den Bedürfnissen der Naturforschung ausgerichtete, induktive Beweisverfahren zu entwickeln. Dass hierfür die Mathematik wesentlich hilfreicher sei als die Syllogistik, betont Thomas Hobbes in Elemente der Philosophie: Auch sind zum korrekten Folgern nicht so sehr Vorschriften als Praxis erforderlich; und viel schneller erlernt es, wer seine Zeit mit den Beweisführungen der Mathematiker zubringt als mit der Lektüre der Vorschriften der Logiker für richtiges Schließen: ganz wie kleine Kinder das Laufen auch nicht durch Vorschriften, sondern durch wiederholtes Gehen lernen.284
Die gesamte empiristische Philosophie und Naturforschung erhielt im 17. Jahrhundert eine mathematische Grundausrichtung, die sich u.a. auch in Hobbes’ Terminologie widerspiegelt: Philosophie ist die durch richtiges Schlußfolgern gewonnene Erkenntnis der Wirkungen bzw. Phänomene im Ausgang vom Begriff ihrer Ursachen bzw. Erzeugungsweisen, und || 283 Wilhelm Risse u.a.: Logik. S. 375. 284 Thomas Hobbes: Elemente der Philosophie. Erste Abteilung. Der Körper. [Elementa Philosophiae. De Corpore, 1655]. Übers. und hrsg. von Karl Schuhmann. Hamburg: Meiner, 1997. S. 64f.
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umgekehrt von möglichen Erzeugungsweisen im Ausgang von der Kenntnis der Wirkungen. [...] Unter Schlußfolgerung verstehe ich aber Berechnung. [...] Man darf also nicht meinen, daß Berechnung, also Schlußfolgerung, nur bei Zahlen vorkäme [...].285
Formale Schlussverfahren wurden selbst im Empirismus durchaus angewandt, sie galten jedoch als selbstverständliche Grundlage wissenschaftlichen Operierens, wurden nicht eigenständig thematisiert und blieben in der empiristischen Erkenntnistheorie ein randständiges Phänomen. John Locke begriff sie beispielsweise als ‚Semiotik‘ im Sinne einer Lehre vom Gebrauch der Zeichen, des Verstehens und der Wissenskommunikation. Sie galt damit als ein für den verstandes-internen Denkgebrauch durchaus nützliches Instrument, für empirische Naturerkenntnis hielt er sie jedoch für abträglich. Einschätzungen wie diese beruhten auf einem Verständnis, nach dem Logik als Formalwissenschaft strikt von allen Sachwissenschaften zu unterscheiden sei. Die Mathematik dagegen wurde einerseits als Quelle inhaltlichen Wissens, sofern sie die quantitative Erfassung primärer Eigenschaften erlaubte, und gleichzeitig als Paradigma für sichere Urteilsbegründung und Argumentation betrachtet, sofern sie sichere Schlussverfahren bereithielt.286 Während der Empirismus sich mit induktiven Verfahren auf die Gegenstände des Erkennens konzentrierte, fokussierte der Rationalismus mehr die Erkenntnisfähigkeit und Erkenntnisbedingungen des menschlichen Bewusstseins. Dies bedingte eine im 16. und 17. Jahrhundert häufig anzutreffende Tendenz rationalistischer Denker, Erkenntnis aus den Fähigkeiten und Gewissheiten des Subjekts zu entwickeln. Dies darf nicht als eine Abkehr von der zu erkennenden Natur missverstanden werden. Vielmehr war die zentrale Fragestellung des Rationalismus, wie das Subjekt sichere Erkenntnis vom Wahren, also auch von der Natur erhalten könne. Scholastik und Syllogistik hatten hierauf – wie auch auf die Frage der Empiristen nach sachhaltiger empirischer Erkenntnis – keine befriedigende Antwort geben können, da sie mehr oder minder auf formale Verfahren beschränkt waren. Die Suche der Rationalisten galt unbezweifelbaren Grundwahrheiten, auf denen anschließend auch die Logik aufbauen sollte: „Statt der Vielzahl der […] formalen Regeln der Logik soll die Angabe eines allgemein verbindlichen methodischen Leitfadens zu ihrer Konstruktion genügen.“287 Descartes wies mehrfach in den Meditationes und in den Principia Philosophiae auf seinen methodischen Anspruch hin: „[U]nd ich gestehe in bezug auf || 285 Thomas Hobbes: Elemente der Philosophie. Erste Abteilung. S. 16f. 286 Vgl. John Locke: Über den richtigen Gebrauch des Verstandes. [Of the Conduct of the Understanding, 1706]. Übers. von Otto Martin. Hamburg: Meiner, 1920. S. 22–25. 287 Wilhelm Risse: Die Logik der Neuzeit. Bd. 2. S. 30.
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sie [die Materie der körperlichen Dinge, M.I.] nichts als wahr zu, das nicht aus solchen allgemeinen Grundbegriffen, deren Wahrheit wir nicht bezweifeln können, so evident hergeleitet ist, daß es als mathematischer Beweis gelten könnte.“288 Denn, so Descartes weiter, die „Wahrheiten der Mathematik können keinen Argwohn mehr hervorrufen, weil sie ganz zuverlässig sind“289. Einmal mehr war es die am Ideal der geometrischen Axiome entwickelte Evidenz mathematischer Grundwahrheiten, die zum erkenntnistheoretischen Leitstern aller strengen Disziplinen erhoben wurde. Auch bei den an Descartes anknüpfenden Philosophen des 17. Jahrhunderts findet sich durchwegs dieselbe Hochachtung gegenüber der Mathematik, aber „die Logik als solche wird nicht grundsätzlich oder insgesamt mathematisiert“290. Der Holländer Arnold Geulincx (1624–1669) beispielsweise fordert zwar in Methodus inveniendi argumenta (1663) eine der Geometrie analoge Darstellung der Logik – mit ihrer Hilfe sollten auch die Theoreme bzw. Lehrsätze der Logik aus Axiomen (communis notio), Definitionen und Postulaten abgeleitet werden.291 Die methodischen Überlegungen (in Anlehnung an die mos geometricus) unterschied Geulincx aber explizit von der Logik. Während die Logik bei der Existenz der Dinge ansetze, sei es Aufgabe einer allgemeinen Wissenschaftsund Methodenlehre die auf Ideen beruhenden Erkenntnisse des Wesens der Dinge zu klären. Die Wissenschaftslehre kläre das allgemeinste Prinzip aller Erkenntnis, nämlich die Feststellung, dass etwas sei – „nihil est aliud, quam quod est“292 –, und erst dann könnten die logischen Grundsätze auf dieser Grundwahrheit aufbauen. Autoren wie Geulincx, Holwarda, Lipstorp, Arnauld oder auch Nicole waren sich in zwei Punkten einig. Sie hielten die scholastische Logik für defizitär und sahen in der mathematischen Methode den Garant sicherer Erkenntnis. Nicht einig war man sich allerdings darin, wie die mathematische Methode in Philosophie und Wissenschaften angewandt werden sollte. Mit Risse lassen sich vier Positionen skizzieren: Nach der ersten, hauptsächlich von den Cartesianern vertretenen Auffassung ist die Mathematisierung in ihrer Anwendung auf die Philosophie und die Wissenschaften rein methodisch. Sie betrifft das äußere, der einprägsamen Übersichtlichkeit wegen eingehaltene
|| 288 René Descartes: Die Prinzipien der Philosophie. S. 173f. 289 René Descartes: Die Prinzipien der Philosophie. S. 39. 290 Wilhelm Risse: Die Logik der Neuzeit. Bd. 2. S. 66. 291 Vgl. Arnold Geulincx: Methodus inveniendi argumenta quae solertia quibusdam dicitur. Leiden: Severin, 1675. S. 1f. 292 Arnold Geulincx: Methodus inveniendi argumenta. S. 6.
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Darstellungsverfahren, nicht die innere Formulierung oder den Lehrinhalt der betreffenden Wissenschaften. Descartes formuliert dieses Programm als more geometrico dispositum. Ohne feste Abgrenzung geht diese methodische Ausdeutung in eine zweite, hauptsächlich von Spinoza vertretene Auffassung über, die mathematische Methode liefere über das bloße Darstellungsschema hinaus die strikte Beweismethode: more geometrico demonstratum. Beide Varianten des mos geometricus wollen die Logik weithin ersetzen. Demgegenüber versucht eine dritte, etwa von Saccherius vertretene Auffassung, die Logik selbst mit der mathematischen Methode vollends zu verschmelzen, derart, daß der traditionelle Lehrbestand der Logik voll beibehalten, aber mittels der mathematischen Methode dargestellt und teilweise auch bewiesen wird. Endlich wurde viertens namentlich von Leibniz die Frage gestellt, ob die äußere, rein methodische Anwendung der Mathematik auf andere Wissenschaften nicht doch unwesentlich sei, und ob man nicht vielmehr die Wissensinhalte selbst, d.h. die Axiome, Definitionen, Lehrsätze usw. als solche, nicht nur deren funktionelle Verknüpfung systematisch mathematisieren müsse, um die Gesetzmäßigkeit der Logik zu begreifen.293
Die drei von Risse zuerst genannten Auffassungen unterscheidet ein wesentlicher Aspekt von Leibniz’ Position, nämlich die Überzeugung, dass zwar „das Darstellungsverfahren der Mathematik […] in der Logik zu übernehmen [sei], nicht [aber] daß die Logik als solche mathematisch sei.“294 Leibniz hat insofern eine herausragende Bedeutung für die Logikgeschichtsschreibung, als er nicht nur eine der Mathematik entnommene Beweismethode für die Logik fruchtbar machen wollte, sondern einen „universalwissenschaftlichen und universalmathematischen Rahmen“295 in Form der scientia generalis aufspannte. Er entwarf sie als ein deduktiv-enzyklopädisches Projekt, das alle Einzelwissenschaften umfassen und alles menschliche Wissen in einem System ordnen sollte. Da solch ein Projekt, wie Leibniz selbst erkannte, die Möglichkeiten eines einzelnen Menschen weit übersteigen würde und die Umsetzung nur innerhalb eines Netzwerks von Forschern möglich wäre, beschränkte er sich auf Skizzen und Entwürfe der neuen Universalwissenschaft. Genaugenommen fallen in seinen Entwürfen die scientia generalis und die Logik in eins und umfassen auch die mathesis universalis sowie die Metaphysik, wie Volker Peckhaus erläutert. „Die mathesis universalis ist also auf die (anschaulichen) Gegenstände der Mathematik bezogen; sie wird aber nicht scharf von der kalkulierenden Logik als Wissenschaft von den allein aufgrund der Form gültigen Schlußweisen getrennt, sondern mit dieser identifiziert.“296 In gewisser Weise rehabilitierte Leibniz also die || 293 Wilhelm Risse: Die Logik der Neuzeit. Bd. 2. S. 134. 294 Wilhelm Risse: Die Logik der Neuzeit. Bd. 2. S. 80. 295 Volker Peckhaus: Logik, Mathesis universalis und allgemeine Wissenschaft. Leibniz und die Wiederentdeckung der formalen Logik im 19. Jahrhundert. Berlin: Akademie, 1997. S. 28. 296 Volker Peckhaus: Logik, Mathesis universalis und allgemeine Wissenschaft. S. 30.
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syllogistische Schlusslehre, auch wenn er stets betonte, dass sie nur einen Teil der Logik ausmachen könne. Der erste erforderliche Schritt zur Realisierung der scientia generalis sollte nach Leibniz die Entwicklung einer künstlichen Symbolsprache (characteristica universalis) sein, die nicht nur die eindeutige Bezeichnung von Wissensgehalten ermöglichen sollte, sondern darüber hinaus die zwischen den Begriffen und Aussagen herrschenden Relationen unmittelbar sichtbar machen müsste. Der zweite Schritt sollte die Formulierung und die Explikation jener Regeln sein, die die korrekte Umformung symbolsprachlicher Ausdrücke festlegen würde. Leibniz entwarf unter Rückgriff auf Vorüberlegungen bei Raimundus Lullus (1235– 1315) mit dem calculus ratiocinator als erster Logiker überhaupt den Begriff eines formalisierten Logikkalküls nach modernem Verständnis. In der lingua universalis sollte jeder einfache Gedanke eindeutig bezeichnet werden und der calculus ratiocinator sollte jedes Problem allein durch formale Zeichenoperationen lösbar machen. Hierdurch wären ars iudicandi und ars inveniendi in einem Logikkalkül vereint worden. Auch Christian Wolff betonte die Wichtigkeit der ars inveniendi, entwarf eine ars characteristica, entwickelte den Gedanken eines Logikkalküls und gestand den mathematischen Wahrheiten uneingeschränkte Gültigkeit zu.297 Weil aber auch er der Überzeugung war, dass die Logik der Mathematik vorgängig sei, musste auch er einräumen, dass die Mathematik die Logik nicht gänzlich ersetzen könne: „Damit ist für Wolff die mathematische Methode letztlich doch nur jene Art der Lehrordnung, welche von den Definitionen über Axiome und Postulate zu den Lehrsätzen fortschreitet, aber nicht mehr eine allmächtige Erkenntnismethode.“298 In der Zeit nach Wolff wurde häufig eine Verknüpfung von Logik und Mathematik angestrebt, doch wie Risse festhält, wurde hierbei und ausschließlich „die mathematische Darstellungsmethode […], nicht die eigentliche Mathematisierung der Logik von innen her verstanden“299. Die Logik blieb ein philosophisches Programm, das weder Formalisierung noch Symbolisierung umsetzte, sie blieb begrifflich wie inhaltlich gebunden und erkenntnistheoretisch ausgerichtet. Kant, der u.a. durch den schriftlichen Austausch mit Lambert mit logischmathematischen Fragestellungen in Kontakt kam, betrachtete die formale Logik als ein seit Aristoteles abgeschlossenes Projekt. Zwar könne die Logik, so Kants Einschätzung, durchaus noch in den Aspekten Genauigkeit, Bestimmtheit und || 297 Vgl. Volker Peckhaus: Logik, Mathesis universalis und allgemeine Wissenschaft. S. 66. 298 Wilhelm Risse: Die Logik der Neuzeit. Bd. 2. S. 583. 299 Wilhelm Risse: Die Logik der Neuzeit. Bd. 2. S. 260.
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Deutlichkeit gewinnen, doch vermöge die Mathematik hierbei keinen Beitrag zu leisten. Eine logische Algebra oder ein universelles Instrument der Erkenntnis sei sie keinesfalls und auch der Gewinnung neuer Erkenntnis könne sie nicht dienen.300 Wenn Kant in Kritik der reinen Vernunft postuliert: „Ich behaupte aber, daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist“301, so ist ihm nicht an einer logisch-rationalistischen Interpretation der mathematischen Methode gelegen. Vielmehr fordert er, dass zu dem empirischen Teil der Naturerkenntnis eine reine, mathematische Form der Erkenntnis hinzutreten solle. Explizit trennt Kant zwischen philosophischer und formaler Logik. Unter ‚formaler Logik‘ versteht er die Syllogistik seit Aristoteles, die allgemeine Verstandesregeln vorgebe, mit ‚philosophischer Logik‘ oder ‚transzendentaler Logik‘ bezeichnete er die für ihn eigentlich relevante Betrachtung von Ursprung, Umfang und objektiver Gültigkeit der Vernunfterkenntnis.302 Kants Konzept der transzendentalen Logik wurde im deutschen Idealismus auf nicht unproblematische Weise rein metaphysisch-ontologischen gedeutet. Georg W.F. Hegel (1770–1831) verwarf alles, was sich nicht in ein derartiges Bild der Logik einfügen ließ, also die formale Logik, die Idee einer algebraischen Logik sowie die Entwicklung einer logischen Symbolsprache. Die idealistische Wendung zur Metaphysik führte dazu, dass die äußerst erfolgreichen Naturwissenschaften keinerlei Anknüpfungspunkte in der philosophisch orientierten Logik fanden: Die bis dahin in dieser Form nicht vorhandene Kluft zwischen Philosophie und Wissenschaften rief bei ihnen [den Naturwissenschaftlern, M.I.] den Eindruck hervor, mit ihren in
|| 300 „Die Logik ist also zwar keine allgemeine Erfindungskunst und kein Organon der Wahrheit – keine Algebra, mit deren Hülfe sich verborgene Wahrheiten entdecken ließen. Wohl aber ist sie nützlich und unentbehrlich als eine Kritik der Erkenntniß, oder zu Beurtheilung der gemeinen so wohl als der speculativen Vernunft, nicht um sie zu lehren, sondern nur um sie correct und mit sich selbst übereinstimmend zu machen. Denn das logische Princip der Wahrheit ist Übereinstimmung des Verstandes mit seinen eigenen allgemeinen Gesetzen.“ Immanuel Kant: Logik. In: derselbe: Werke. Akademie Textausgabe. Bd. 9. Berlin, New York: De Gruyter. S. 1–150; S. 20. 301 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Prolegomena. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1. Aufl. 1781). In: derselbe: Werke. Akademie Textausgabe. Bd. 4. Berlin: De Gruyter, 1968. S. 470. 302 Vgl. Volker Peckhaus: Logik, Mathesis universalis und allgemeine Wissenschaft. S. 116.
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der wissenschaftlichen Praxis entstandenen logischen und erkenntnistheoretischen Problemen bei den Philosophen an der falschen Adresse zu sein.303
Die in der Philosophie beheimateten Logiker zeigten sich nicht gerade reformwillig, so dass dort, wo zur Jahrhundertwende logische Kompetenz benötigt wurde, mit Psychologie, Wissenschaftstheorie und mathematischer Logik gleich drei neue (Teil-)Disziplinen außerhalb der Fachgrenzen der Philosophie entstehen sollten: Die Psychologismusdiskussion kulminierte im beginnenden 20. Jahrhundert in der Herauslösung der Psychologie aus dem Verband der Philosophie. Die Psychologie konstituierte sich nun als eigenständige wissenschaftliche Disziplin. Durch die Methodologie-Debatte wurde die Wissenschaftstheorie aus dem Verband der Logik herausgelöst. Schließlich führte die durch die von Mathematikern vorangetriebene und von den Philosophen weitgehend ignorierte Entwicklung der symbolischen Logik zur Herauslösung eines Teils der formalen Logik aus dem Kompetenzbereich der Philosophie und zur Eingliederung in die Mathematik, wo die Logik für Grundlegungsaufgaben instrumentalisiert wurde.304
Innerhalb der philosophischen Fachgrenzen stellten erst die Arbeiten von Bernard Bolzano, George Boole, Augustus De Morgan (1806–1871) und Ernst Schröder (1841–1902) einen nennenswerten Entwicklungsschritt der Logik dar. Bei ihnen liefen, wie Bedürftig und Murawski festhalten, „die Linien der Geschichte der Mathematik und der Geschichte der Logik zum ersten Mal ineinander“305. Ihre algebraisch-logischen Systeme waren einerseits eine „zunächst unbewußte, erst nachträglich bewußt gemachte Aufnahme des Leibnizschen Programms“306, andererseits stellten sie eine derart revolutionäre Weiterentwicklung der Logik dar, „daß es schwierig ist, sie nicht als eine neue Gestalt der L[ogik] oder als einen Übergang zur modernen L[ogik] zu betrachten“307. Bolzano, Boole, De Morgan und Schröder teilten das Anliegen, die Mathematik logisch zu fundieren. Möglich wurde die hieraus entstandene ‚Algebra der Logik‘, indem die Grundbegriffe nicht mehr intensional durch ein Bündel von Merkmalen, sondern extensional durch Begriffsumfänge bestimmt wurden. In der Notation fanden lediglich die Symbole der Arithmetik und Algebra Anwendung (Zahlen,
|| 303 Volker Peckhaus: Logik, Mathesis universalis und allgemeine Wissenschaft. S. 131. 304 Volker Peckhaus: Logik, Mathesis universalis und allgemeine Wissenschaft. S. 136. 305 Thomas Bedürftig und Roman Murawski: Philosophie der Mathematik. S. 304. 306 Volker Peckhaus: Logik, Mathesis universalis und allgemeine Wissenschaft. S. 302. 307 Wilhelm Risse u.a.: Logik. S. 369.
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Variablen und Operatoren), wodurch logische Gesetze in Form algebraischer Gleichungen dargestellt werden konnten.308 Boole gelang es, in seinem Formalkalkül die Leibniz’sche Idee eines calculus ratiocinator umzusetzen, was nach Bocheński die zentrale Innovationsleistung war: Das Epochemachende besteht hier nicht darin, daß Boole das Rechnen auf die Logik anwenden will, auch nicht darin, daß er den Begriff eines nicht quantitativen Rechnens gebraucht – denn beides wurde schon vor ihm durch Leibniz und Lambert formuliert –, sondern in einer exemplarisch klaren Beschreibung des Wesens des Kalküls, d.h. des Formalismus: dieser ist ein Verfahren, dessen ‚Gültigkeit nicht von der Deutung der Symbole, sondern ausschließlich von den Gesetzen ihrer Kombination abhängt‘. Darüber hinaus weist Boole noch auf die Möglichkeit hin, dasselbe formale System auf verschiedene Weisen zu deuten. Dies legt nahe, daß er die Logik hier nicht als eine Abstraktion aus den faktischen Verfahren denkt – wie [es] alle Logiker vor ihm getan haben –, sondern als eine formale Konstruktion, für welche erst nachträglich eine Deutung gesucht wird. Das ist aber gegenüber der ganzen Tradition, Leibniz eingeschlossen, vollständig neu.309
Es war die ‚Deutungsoffenheit‘ der Boole’schen Algebra (konkret z.B. die Deutung als Klassenlogik wie auch als Aussagenlogik), die deutlich macht, dass endlich die symbolische Differenz eines operativen Symbolismus in vollem Umfang anerkannt wurde. Boole betont in The Mathematical Analysis of Logic, wie wichtig und vorteilhaft es ist, das schlüssige Operieren und die inhaltliche Deutung des Symbolismus voneinander zu trennen: They who are acquainted with the present state of the theory of Symbolical Algebra, are aware, that the validity of the processes of analysis does not depend upon the interpretation of the symbols which are employed, but solely upon the laws of their combination.
|| 308 Wiederum spielte die philosophische, mathematische bzw. ontologische Interpretation der imaginären Zahlen eine Rolle bei der Entwicklung der Algebra der Logik. Die sich hier manifestierende Loslösung von einer ontologisch-inhaltlichen Interpretation des mathematischen Symbolismus (vgl. Kap. III.2.3) stellt einen Schritt hin zur formalen Darstellung der Algebra der Logik dar. George Peacock (1791–1858) betont in Treatise on Algebra (1830), dass die verwendeten Symbole nicht notwendigerweise auf ihre Bedeutung als mathematische Größe bzw. Zahl fixiert werden müssten und unterstreicht damit die besondere Bedeutung der symbolischen Differenz für operative Symbolismen: „It is the admission of this principle, in whatever manner we are led to it, which makes it necessary to consider symbols not merely as the general representatives of numbers, but of every species of quantity, and likewise to give a form to the definitions of the operations of Algebra, which must render them independent of any subordinate science: for in the first place the symbols, whatever they denote, must be unlimited in value.“ George Peacock: A Treatise on Algebra. Cambridge: Deighton, 1830. S. IX. 309 Joseph M. Bocheński: Formale Logik. S. 326f.
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Every system of interpretation which does not affect the truth of the relations supposed, is equally admissible, and it is thus that the same process may, under one scheme of interpretation, represent the solution of a question on the properties of numbers, under another, that of a geometrical problem, and under a third, that of a problem of dynamics or optics. This principle is indeed of fundamental importance […].310
Indem Boole logische Operationen als Repräsentationen mentaler Operationen deutet, vertritt er letztlich eine psychologisch zu nennende Auffassung der Logik.311 Und indem er eine strukturelle Analogie zwischen den mentalen Operationen und den mathematischen Operationen von Arithmetik und Algebra aufweist, kann er die Logik aus der Philosophie herauslösen: „I am then compelled to assert, that according to […] the nature of Philosophy, Logic forms no part of it. On the principle of a true classification, we ought no longer to associate Logic and Metaphysics, but Logic and Mathematics“.312 Logik und Mathematik gelten Boole als zwei Zweige einer Symbolsprache.313 Ernst Schröder vollendete in gewisser Weise die ‚Boole’sche Periode‘ der Logik. Er legte mehr Gewicht auf die Entwicklung einer Universalsprache, mittels derer eine Reform des gesamten Wissenschaftssystems möglich werden sollte. Anders als Boole griff er dabei aber nicht ausschließlich auf den mathematischen Symbolismus zurück, sondern führte auch neue Symbole ein. Logik umfasst bei Schröder alle Regeln des Denkens, insofern es sich auf wahre bzw. wahrheitsfähige Erkenntnis bezieht – also „Geistesoperationen [...], deren Analoga in ihrer Anwendung auf das Reich der Zahlen dem Mathematiker längst geläufig sind.“314 Er unterstreicht, dass Zahlen nicht direkt Repräsentation einer ontologischen Größe oder eines Referenten seien, sondern zunächst nur Konstrukte, die sich im Kontext eines Zahlsystems als Zeichen in einem System bewähren müssten: Es ist die Zahl sozusagen ein disciplinirtes Zeichen, welches nur insofern Werth erhält, als es sich den Eigenschaften gewisser Klassen von wirklichen Dingen anzupassen vermag
|| 310 George Boole: The Mathematical Analysis of Logic. Being an Essay Towards a Calculus of Deductive Reasoning. Cambridge: Macmillan & Barclay, 1847. S. 3f. 311 Vgl. Volker Peckhaus: Logik, Mathesis universalis und allgemeine Wissenschaft. S. 200f. 312 George Boole: The Mathematical Analysis of Logic. S. 13. 313 Vgl. Volker Peckhaus: Logik, Mathesis universalis und allgemeine Wissenschaft. S. 212. 314 Ernst Schröder: Vorlesungen über die Algebra der Logik. Bd. 1. Leipzig: Teubner, 1890. S. IV.
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und dadurch zum Träger dieser Eigenschaften, zum Repräsentanten oder Abbild jener Dinge sich eignet.315
Die Konstruktion der Zahlensysteme gehe, so Schröder, ihrer inhaltlichen Deutung voraus, die wiederum Aufgabe der ‚absoluten Algebra‘ sei. Die ‚absolute Algebra‘ habe „zu entscheiden, welche geometrische, physikalische oder überhaupt vernünftige Bedeutung diesen Zahlen und Operationen zukommen, welches reale Substrat ihnen unterlegt werden kann“316. Die ‚absolute Algebra‘ sollte die logische Grundlagendisziplin der Mathematik sein, die Schröder später zu einem „Grundlegungsprogramm für alle formalisierbaren bzw. mit formalen Mitteln arbeitenden Wissenschaften“317 auszubauen versucht. Bei den von Boole, Schröder und De Morgan entwickelten Formen handelte es sich jedoch nicht um im modernen Sinne formalisierte Logiken, weil in ihnen die Umformungsregeln noch nicht vollständig und lückenlos dargestellt wurden. Das gelang erst Gottlob Frege, dem Begründer des axiomatischen Aufbaus der Logik und der mathematischen Logik. Er verfasst mit seiner Begriffsschrift (1879) den ersten Logikkalkül der klassischen Quantorenlogik. Sein ehrgeiziges Ziel war nicht nur, ausgehend von Leibniz’ Ideal einer lingua universalis die lückenlose Kontrolle mathematischer Beweise zu ermöglichen, sondern auch die logische Fundierung aller arithmetischen und algebraischen Grundbegriffe zu sichern. Da Arithmetik und Algebra durch diese Fundierung de facto zu Teildisziplinen der Logik gemacht wurden, wird Freges Position üblicherweise als ‚Logizismus‘ bezeichnet. Die Frage nach dem ontologischen Status mathematischer Gegenstände beantwortete der Logizismus sehr knapp: die Gegenstände der Mathematik sind Gegenstände der Logik. Hierdurch wurde die Frage allerdings in den Bereich der Logik verschoben, denn, so wurde zu Recht gefragt, was sind die Gegenstände der Logik und welcher Status kommt ihnen zu?318 Frege selbst war um eine Antwort bemüht, die nicht in das Fahrwasser des zur Zeit der Jahrhundertwende um sich greifenden Psychologismus gerät.319 Aus
|| 315 Ernst Schröder: Lehrbuch der Arithmetik und Algebra für Schüler an Gymnasien und Realschulen. Die sieben algebraischen Operationen. Leipzig: Teubner, 1873. S. 293. 316 Ernst Schröder: Lehrbuch der Arithmetik und Algebra. S. 294. 317 Volker Peckhaus: Logik, Mathesis universalis und allgemeine Wissenschaft. S. 282. 318 Vgl. Christian Thiel: Philosophie und Mathematik. S. 18f. 319 „Nein, mit Gefühlen hat die Arithmetik gar nichts zu schaffen. Ebensowenig mit Bildern, die aus Spuren früherer Sinneseindrücke zusammengeflossen sind. Das Schwankende und Unbestimmte, welches alle diese Gestaltungen haben, steht im starken Gegensatze zu der Bestimmtheit und Festigkeit der mathematischen Begriffe und Gegenstände.“ Gottlob Frege:
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diesem Grund trennt er in Der Gedanke (1918) drei Bereiche bzw. drei Reiche: das Reich der Vorstellungen (die dann Gegenstand der Psychologie sind), das Reich der Dinge der Außenwelt (die Gegenstand der empirischen Naturforschung sind) und das Reich der Gedanken. Dem Reich der Gedanken spricht er einen eigenen ontologischen Status zu. So scheint das Ergebnis zu sein: Die Gedanken sind weder Dinge der Außenwelt noch Vorstellungen. Ein drittes Reich muß anerkannt werden. Was zu diesem gehört, stimmt mit den Vorstellungen darin überein, daß es nicht mit den Sinnen wahrgenommen werden kann, mit den Dingen aber darin, daß es keines Trägers bedarf, zu dessen Bewußtseinsinhalten es gehört. So ist z.B. der Gedanke, den wir im pythagoreischen Lehrsatz aussprachen, zeitlos wahr, unabhängig davon wahr, ob irgendjemand ihn für wahr hält. Er bedarf keines Trägers. Er ist wahr nicht erst, seitdem er entdeckt worden ist […].320
Frege betont die Unabhängigkeit der Gedanken vom erkennenden Subjekt und den psychologischen Voraussetzungen des Erkennens. Die logische Analyse sowohl des mathematischen als auch des natürlichen Sprachgebrauchs beziehe sich ausschließlich auf jenes ‚Reich der Gedanken‘, nicht auf die Psyche oder die physikalische Wirklichkeit. In Über Sinn und Bedeutung (1892) unterscheidet Frege zwischen dem Sinn und Bedeutung. Der Sinn eines Wortes ist das, was ausgedrückt wird, die Bedeutung ist der bezeichnete Gegenstand; der Sinn eines Aussagesatzes ist wiederum der Gedanke, während die Bedeutung sein Wahrheitswert ist. In Freges Verständnis sind Axiome und Theoreme der Logik bzw. Mathematik wahre Gedanken, die real existieren. Franz von Kutschera bezeichnet seine Position daher als ‚logischen Realismus‘.321 In der bisher dargelegten Betrachtung der Relationen von Logik und Mathematik wurden Aspekte sichtbar, die bereits im Kontext der Axiomatisierung, Formalisierung und Symbolisierung von Mathematik und Physik Relevanz besaßen: die symbolische Differenz und ihre sprachtheoretischen Implikationen, die ontologische Fundierung und die damit verbundene Entsemantisierung formaler Systeme. Rationalismus wie Empirismus begriffen unter formaler Logik zunächst nur die durch die Scholastik tradierte Syllogistik. Da Vertreter beider erkenntnistheoretischer Positionen (z.B. Descartes und Hobbes) hauptsächlich die erkenntnistheoretische Fundierung und die Gewinnung neuer Erkenntnisse
|| Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl. Hrsg. von Christian Thiel. Hamburg: Meiner, 1988. S. 6. 320 Gottlob Frege: Logische Untersuchungen. S. 353. 321 Vgl. Franz von Kutschera: Zwei Theorien über den Gegenstand der Logik. In: Studium Generale 19.3 (1966). S. 169–175; S. 169.
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im Blick hatten, erschien ihnen die Tradition der formalen Logik als defizitär. Stattdessen erhoben sie die Systematik und Methode der axiomatisierten Geometrie zum Vorbild gesicherter Erkenntnisgewinnung. Einerseits galt es, die mathematische Methodik auf Physik und noch nicht axiomatisierte Bereiche der Mathematik zu übertragen, andererseits sollte sie das Denken und die menschliche Vernunft ganz allgemein disziplinieren. Logik rückte als ‚Kunst des richtigen Denkens‘ damit in die Nähe der Mathematik. Beide Aspekte, Gegenstandsorientierung und Vernunftdisziplinierung, standen in direkter Verbindung zur sprachtheoretischen Trias (Gegenstand, Idee/Begriff, sprachliches Zeichen). Da Erkenntnis als vorsprachliche Korrespondenz zwischen Ideen und Gegenständen der Wirklichkeit aufgefasst wurde, sollte der axiomatische Aufbau dafür sorgen, dass die Struktur der Wirklichkeit in der Struktur der Erkenntnis abgebildet wird. Aus dieser Engführung erklärt sich die große Skepsis, die viele Empiristen und Rationalisten hinsichtlich der semiologischen Implikationen des operativen Symbolismus und hinsichtlich der formalen Logik hatten. Durch beides wurde die Annahme hinterfragt, Erkennen sei ein vorsprachlicher Akt. Die symbolische Differenz machte es notwendig, eine Erklärung zu finden, wie die auf dem Papier formulierten Wahrheiten mit der Struktur der Wirklichkeit übereinstimmen konnten, wo doch die verwendeten Zeichen des Symbolismus nicht einzelne Ideen repräsentierten, sondern jeweils als Stellvertreter vieler mentaler Gehalte, also von Begriffs- und Aussageklassen fungierten. Leibniz nahm mit Blick auf die symbolische Erkenntnis eine direkte Repräsentation von Strukturen der Wirklichkeit durch Strukturen des operativen Symbolismus an, die durch die prästabilierte Harmonie der Welt gesichert sei. Dieser Gedanken ermöglichte es ihm, Wahrheit auf symbolinterne Richtigkeit zurückzuführen. Eine derart formalisierte Wissenschaft – das zeigte sich sowohl in der Darstellung der Axiomatik wie auch in der formalen Logik des 18. Jahrhunderts – verliert jedoch die ontologische Bodenhaftung, da sie, wie Krämer bemerkt, nie eine konkrete Wirklichkeit repräsentieren kann: [M]it formalen symbolischen Verfahren [können wir] keine Erkenntnis gewinnen über die wirklichen Begebenheiten unserer Welt, über das, was sich wirklich zuträgt. Das Ideal einer vollständig kalkülisierten Wissenschaft wird erkauft mit dem Verzicht auf die Erkenntnis dessen, was wirklich existiert.322
Empiristisch-sensualistischen Positionen fiel es schwer, diese Konsequenz zu akzeptieren. Hobbes, Berkeley und Condillac versuchten daher über den Weg
|| 322 Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. S. 387.
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der Abstraktion von sinnlichen Erfahrungen eine Brücke zwischen Zeichen und Welt zu schlagen. Dort allerdings, wo sich die Zeichen und Symbole auf dem Papier ontologisch vermeintlich verselbständigten, wie im Fall der imaginären Zahlen, und der empiristische Brückenschlag ins Leere führte, wurden die sich manifestierenden Phänomene als „absurd“ und „unmöglich“323 verworfen (vgl. Kap. III.2.3). Die symbolische Differenz stellte insofern eine Bedrohung empiristisch-sensualistischer Positionen dar, als sie die Möglichkeit unmittelbarer und vorsprachlicher Erkenntnis von Wirklichkeit fraglich erscheinen ließ. In vollem Umfang zeigten sich die Konsequenzen der symbolischen Differenz in der Formalisierung der Logik im 19. Jahrhundert. Erst hier wurden die Möglichkeiten und Potentiale eines autonomen Symbolismus und Formalismus erkannt und genutzt. Abschließend sollen nun die Aspekte Mathematisierung, Formalisierung und Symbolisierung in einer historischen Rekonstruktion des abendländischen Rationalitätsverständnisses zusammengeführt werden. Die zuletzt angesprochenen Aspekte der sprachlichen und symbolischen Differenz werden hierbei erneut als Dimension der diskursiven Konzeptionierung mit sprachtheoretischen Aspekten verschränkt.
4 Neuzeitliche Rationalität Die in den vorangegangenen Kapiteln dargestellten Entwicklungen in Physik, Mathematik und Logik können den Eindruck erwecken, es handle sich bei Axiomatisierung, Formalisierung, Symbolisierung etc. um sehr spezifische Probleme, die außerhalb der wissenschaftlichen Disziplinen – zumal in der Dichtung – wenig Bedeutung hatten. Eine direkte und unmittelbare Wechselwirkung zwischen naturwissenschaftlichen und ästhetischen Diskursen lässt sich aber dennoch nachweisen – Goethes Farbenlehre soll in Kapitel V.1 ein Beispiel hierfür geben. Größere Relevanz hatten die methodologischen und erkenntnistheoretischen Umwälzungen für das gesamte diskursive Feld des 17. und 18. Jahrhunderts – und damit auch auf Künste und Dichtung – auf eine subtile und indirekte Art und Weise, denn sie standen in enger Relation zu dem, was als ‚neuzeitliche Rationalität‘ bezeichnet werden kann. Rationalität und Rationalitätskonzepte waren sicher kein Produkt der neuzeitlichen Wissenschaften oder des neuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses. Aber die neuzeitliche Auffas-
|| 323 Étienne B. de Condillac: Die Sprache des Rechnens. S. 265. DOI 10.1515/9783110464252-018, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
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sung von Rationalität zeigt sich als eine revolutionäre Verengung und Monopolisierung des in der Antike entstandenen und ursprünglich wesentlich weiter gefassten Rationalitätsverständnisses.
4.1 Ursprünge abendländischer Rationalitätskonzepte Das lateinische Wort ‚ratio‘ diente zunächst der Übersetzung der ganzen Bedeutungsvielfalt des griechischen Wortes ‚λόγος‘ (so etwa bei Cicero) und wies ebenfalls zwei zentrale Bedeutungsdimensionen auf (vgl. Kap. III.3.1): einerseits die sprachliche Diskursivität und Argumentativität des Begründens bzw. Bezweifelns von Geltungsansprüchen, andererseits das Methodische und Systematische mathematischer Operationen.324 Bei Tertullian (ca. 150–220 n. Chr.) ist erstmals die Wortbildung rationalitas nachgewiesen, die in Folge sowohl ‚Vernunftbegabung‘ und den ‚Vernunftgebrauch‘ als auch die ‚Vernünftigkeit des Getanen oder Hervorgebrachten‘ bezeichnen konnte.325 Die Etymologie von λόγος, ratio und rationalitas stellt auch eine Traditionslinie einer Reihe von Konnotationen und Denotationen des Wortfeldes ‚ratio-‘ dar. Eine Facette wird in der Bezeichnung ‚ορθός λόγος‘ bzw. ‚recta ratio‘ für eine richtige handlungsleitende Überzeugung erkennbar, die u.a. Philo von Alexandrien als theologisch-göttliche Einsicht begriff. Eine weitere Facette findet sich in der Lehre der Stoa, in der ‚λόγος‘ das göttliche, ordnende Weltprinzip bezeichnete; in diesem Sinne gebrauchte später auch Seneca das Wort ‚ratio‘. Die Wurzel ‚reri‘ (‚Rechnung‘) erschließt zudem aufgrund der etymologischen Verbindung zum griechischen ‚ῥητός‘ (‚ausgesagt‘, ‚aussagbar‘, ‚aussprechbar‘) einen mathematischen Bedeutungshorizont: „ῥητός meint bei Euklid so viel wie ‚rational‘, ‚quadriert meßbar‘ und ist dem alogos [ἄλογος] entgegengesetzt.“326 Mit dem Wort ‚ἄλογος‘ (wörtl. ‚unaussprechlich‘, ‚unbenennbar‘, ‚unbestimmbar‘) wurden in der Mathematik Strecken und Flächen ohne ganzzahliges Verhältnis bezeichnet. Zahlen wie z.B. √2, die sich nicht als Verhältnis ganzer Zahlen darstellen lassen, wurden dann ‚irrationale‘ Zahl genannt.327 Bei Platon fand, eben|| 324 Das Wort ‚ratio‘ lässt sich übersetzen mit ‚Rechnung‘, ‚Beziehung‘, ‚Vernunft‘, ‚Einsicht‘, ‚Lehre‘, ‚Methode‘, ‚System‘, ‚Theorie‘, ‚Beweggrund‘, ‚Grundprinzip‘, ‚Rechenschaft‘ und kann auf ‚reri‘ (‚glauben‘, ‚rechnen‘) zurückgeführt werden. Vgl. Jan Osomer: ‚logos‘. S. 254f. 325 Vgl. Stefan Gosepath u.a.: Rationalität, Rationalisierung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 8. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. Basel: Schwabe, 1992. S. 52–66. 326 Stefan Gosepath u.a.: Rationalität, Rationalisierung. S. 53. 327 Vgl. Thomas Bedürftig und Roman Murawski: Philosophie der Mathematik. S. 236.
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falls im Kontext der Kommensurabilität von Zahlen, das Wort ‚ῥητός‘ eine allgemeinere, über den mathematischen Kontext hinausreichende Verwendung im Sinne von ‚aussprechbarer Bestimmtheit‘. Quintilian gebrauchte ‚ῥητός‘ in seiner Harmonie- und Verslehre, so dass mit ihm ganz allgemein ein wohlgestaltetes Verhältnis von Phänomenen bezeichnet wurde. In dem hier skizzierten Wortfeld wird ein Verständnis von Rationalität erkennbar, das vermutlich zwischen dem 8. und 5. Jahrhundert v. Chr. im Ostmittelmeerraum eine zunehmende begriffliche Prägung erfuhr.328 Es zeigt sich außerdem im Aufblühen der mit der Schriftlichkeit verbundenen Geschichtsschreibung, in der Etablierung philosophisch-wissenschaftlichen Denkens, in der Ausweitung mathematischer Kenntnisse, in technischen Entwicklungen, in der Annahme eines die Welt vernünftig ordnenden Weltprinzips oder in dem Selbstverständnis des Menschen als vernunftbegabtem Wesen (ζῷον λόγον ἔχον). Die im mathematischen Kontext geführte Diskussion um nicht ganzzahlige Verhältnisse – zunächst bei den Pythagoreern, z.B. Hippasos von Metapont, dann bei Euklid – kann als erste explizite Trennung von Rationalem und Irrationalem in der Opposition von ῥητός und ἄλογος begriffen werden, die bemerkenswerter Weise in ihrem Kern eine Verschränkung von Sprache und Rationalität trug. Aus dem Bereich der Mathematik wurde die Kernopposition rationalirrational später auf die Harmonie- und Symmetrielehre, in politische sowie metaphysische Kontexte übertragen. In der Übertragung zeigt sich, wie Martin Gessmann festhält, der Grundgedanke, „daß sich alle natürlichen Verhältnisse, zu denen kosmologische wie politische gleichermaßen gehören, in ihrer besten Auslegung der Ordnung des Logos fügen“329.
4.2 Verengung des Rationalitätsverständnisses Nach Gessmanns Beurteilung stellt bereits die Substantivbildung rationalitas bei Tertullian eine erste Begriffsverengung des antiken Rationalitätsverständnisses dar: Aussagekräftig ist hier bereits die Übersetzung und Fortschreibung der ‚zóon lógon échon‘Formel zu der des ‚animal […] plenum rationis‘ sowie des ‚animal rationale mortale‘. Während die griechische Urfassung noch eine Konkretion des Menschenwesens in rhetorischen Zusammenhängen vorsieht, erscheint in den lateinischen Übernahmen R[ationalität] als
|| 328 Vgl. Silvio Vietta: Rationalität – eine Weltgeschichte. Europäische Kulturgeschichte und Globalisierung. München: Fink, 2012. S. 9. 329 Martin Gessmann: Rationalität. S. 614.
270 | Neuzeitliche Rationalität
Pendant zum ‚Logos‘ dagegen bereits als feststehendes Definiens, das nur zur wesensmäßigen Abgrenzung gegenüber der animalitas anderer Lebewesen taugt.330
Mit Beginn der Frühen Neuzeit könne, fährt Gessmann fort, eine zweite Begriffsverengung festgestellt werden. Sie habe dazu geführt, dass die anthropologische (Erkenntnisfähigkeit) mit der ontologischen Dimension (die Welt als Produkt göttlicher Ratio) erkenntnistheoretisch verschränkt wurde: In der Neuzeit entscheidend […] wird die Festlegung von R[ationalität] auf eine reine Verfahrensrichtigkeit des Denkens, bei der planmäßig alle kontingenten Kontextbezüge ausgeblendet werden. Wissenserwerb kommt ohne weitere rednerische Vermittlung und Plausibilisierung aus, wo ein jeder in der Lage sein muß, unter methodischer Anleitung von ‚Denkregeln‘ selbst zum richtigen Ergebnis zu kommen.331
So verwundert es nicht, dass sich der erste neusprachliche Textbeleg der Worte „rationall“ bzw. „irrationall“ in einer englischen Übersetzung von Euklids Elemente findet, die der Brite Henry Billingsley 1570 anfertigte.332 Der mathematische Kontext war für die künftige Verwendung des Wortes in den europäischen Sprachen bezeichnend, denn „die begriffsgeschichtliche Tendenz geht in der Folge zunehmend auf das Formale und Konstruktivistische, ja auf das Kalkülmäßige und Funktionale des Terminus [ein].“333 ‚Rationalität‘ bezeichnete nicht länger die Vernunftbegabung oder Vernünftigkeit des Menschen als Menschen, sondern wurde auf wenige, spezielle Formen des Vernunftgebrauchs eingeschränkt, nämlich auf das logische, methodische und an wahrer Erkenntnis ausgerichtete Denken, das sich an Regeln zu halten hatte.334 Die in Kapitel III.3.2 thematisierte Verhältnisbestimmung von Mathematik und Rhetorik sowie die Ausrichtung der Logik an der mathematischen Methodik erweist sich als maßgebliches Element der neuzeitlichen Begriffsverengung, die gleichermaßen Ausdruck einer „Monopolisierung des Rationalitätsbegriffs durch die neuzeitlichen Wissenschaften“335 war: Der Bereich des Rationalen wurde auf die Grenzen der philosophischen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Diskurse fest-
|| 330 Martin Gessmann: Rationalität. S. 611. 331 Martin Gessmann: Rationalität. S. 612. 332 Henry Billingsley: The Elements of Geometrie of the Most Auncient Philosopher Euclide of Megara. London: Daye, 1570. S. 231. 333 Stefan Gosepath u.a.: Rationalität, Rationalisierung. S. 54. 334 So z.B. in Descartes’ Regeln zur Ausrichtung der Geisteskraft an „deren dritte [Regel] bis Leibniz und Locke als das richtige Schließen aus ‚klaren und wahrhaften Prinzipien‘ für den Rationalismus wie den Empirismus grundlegend wird.“ Martin Gessmann: Rationalität. S. 612. 335 Martin Gessmann: Rationalität. S. 608.
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gelegt und beinahe ausschließlich als Fähigkeit geregelten Vernunftgebrauchs begriffen336: „Seit dem Beginn der Neuzeit aber war die Wissenschaft immer das Paradigma von Rationalität überhaupt gewesen.“337 Die Sprachkonzeptionen von Empirismus und Rationalismus trugen, indem sie Denken und Erkennen als vorsprachlich konzipierten, ein Übriges dazu bei, dass aus dem Konzept der Rationalität die sprachlichen bzw. rhetorischen Dimensionen ausgesondert wurden: „Eine Gemeinsamkeit zwischen den Empiristen und Descartes liegt in der Überzeugung oder Annahme, nur was in oder unmittelbar vor dem Geist sei, könne direkt und ohne Schlußfolgerung erkannt werden.“338 Der Anspruch an Unmittelbarkeit war maßgebend für den Ausschluss der auf konventionellen, arbiträren Zeichen und syntaktischen Regeln basierenden natürlichen Sprachen aus dem Erkenntnisprozess und er motivierte auch die Entwicklungsversuche einer Universalsprache. Die enge Bindung an den Vernunftgebrauch deklassierte gleichzeitig alle sinnlichen Wahrnehmungen sowie die ‚sensitive Erkenntnis‘ (Leibniz) als vorrationale Vor- oder Schwundstufe. An Leibniz’ Nouveaux Essais ist die Tatsache bemerkenswert, dass durch die hierarchische Gliederung der Erkenntnisvermögen auch die sinnliche Erkenntnis in ein graduell strukturiertes Konzept integriert wurde. In der Monadologie sprach Leibniz allen sinnlichen Lebewesen eine rudimentäre Form von Erkenntnis zu, im Sinne einer ‚Kenntnis der Wirklichkeit in ihrer Gesetzmäßigkeit‘. Er schränkte diese zugleich aber wieder ein: „Es gibt unter den Perzeptionen der Tiere eine Verknüpfung, die eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Vernunftschluß hat, doch beruht sie nur auf der Erinnerung an die Tatsachen oder Wirkungen, keineswegs aber auf der Erkenntnis der Ursachen.“339 Die
|| 336 Dieses Verständnis zeigt sich auch noch in gegenwärtigen Charaktersierungen des Begriffs ‚Rationalität‘ z.B. bei Rescher: „Man kann mehr oder weniger vernünftig sein – d.h. man kann seine Vernunft in größerem oder kleinerem Maße gebrauchen – aber man kann nicht mehr oder weniger rational sein. Rationalität hat es mit der Fähigkeit, die Vernunft zu gebrauchen, zu tun – und entweder hat man diese Fähigkeit, oder nicht. Optimierung dessen, was man denkt, tut und bewertet ist der Kern von Rationalität. [...] Rationale Intelligenz [...] ist das Überlebensinstrument des homo sapiens.“ Nicholas Rescher: Rationalität. Eine philosophische Untersuchung über das Wesen und die Rechtfertigung von Vernunft. Würzburg: K&N, 1993. S. 2. 337 Herbert Schnädelbach: Einleitung. In: Rationalität. Philosophische Beiträge. Hrsg. von Herbert Schnädelbach. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984. S. 8–14; S. 10. 338 Donald Davidson: Das Problem der Objektivität. [The Problem of Objectivity, 1995]. In: derselbe: Probleme der Rationalität. Übers. und hrsg. von Joachim Schulte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2006. S. 23–48; S. 23. 339 Gottfried W. Leibniz: Auf Vernunft gegründete Prinzipien der Natur und der Gnade. [Principes de la nature et de la grâce fondés en raison, 1714]. In: derselbe: Hauptschriften zur Grund-
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menschliche Vernunft wurde hierdurch als eine Fähigkeit charakterisiert, in deren Zentrum die Erkenntnis von Kausalitäten steht, womit Leibniz eine der vielen Bedeutungsdimensionen des lateinischen Wortes ‚ratio‘, nämlich die des verursachenden Grundes (causa efficiens), aufgriff.340 Kausalität und Deduktion sind nach Leibniz die zentralen Merkmale rationaler Erkenntnis und der conditio humana: Das wahrhaft rationale Schlußverfahren aber hängt von der notwendigen oder ewigen Wahrheit ab, wie es die der Logik, Arithmetik und Geometrie sind, welche eine unzweifelhafte Verknüpfung der Ideen und unfehlbare Folgerungen herstellen. Die Geschöpfe, bei denen sich diese Folgerungen nicht beobachten lassen, werden Tiere genannt, die aber, die diese notwendigen Wahrheiten erkennen, heißen im eigentlichen Sinne vernunftbegabte Geschöpfe, und ihre Seelen werden als Geister bezeichnet.341
Folglich flossen die anthropologische wie die kosmologische Dimension der Rationalität bei Leibniz ineinander und wurden unter dem Schlagwort ‚calculemus‘ gleichzeitig zu einem mathematisch-rechnerischen Konzept geformt. Die neuzeitliche Engführung und Reduktion von Rationalität rief auch Kritiker auf den Plan, unter denen sich u.a. der bereits erwähnte Giambattista Vico befand (vgl. Kap. II.4.1). Vico stellte der rationalistischen Zentrierung der ratio das ingenium des Menschen entgegen. Da er Erkenntnis an die sinnliche Erfassbarkeit und den Akt der Schöpfung bzw. der (Re-)Produktion des Erkannten koppelte, ist für ihn vernunftbasierte Rationalität lediglich ein Teilaspekt von wahrer und sicherer Erkenntnis. Indem er Sprache sowohl genealogisch als auch systematisch der ratio vorordnete, vertrat er eine Rückbindung von Rationalität an Sprachfähigkeit. Auch Rousseau war ein Kritiker erkenntnistheoretischer Rationalitätszentriertheit, da er die letzte Gewissheit nicht in Descartes’ cogito ergo sum finden konnte, sondern im vorrationalen Gefühl (le sentiment de l’existence), das er im Herzen verortete.342 Vorherrschend im 18. Jahrhundert war jedoch eine an der Vernunft orientierte Auffassung von Rationalität. So galt auch Aufklärern wie Christian Wolff Rationalität als die Natur des Menschen: „Rationalitas per corollarium praesens || legung der Philosophie. Bd. 2. Übers. von Artur Buchenau und hrsg. von Ernst Cassirer. Hamburg: Meiner, 1966. S. 423–434; S. 426. 340 Vgl. Hans J. Fahr: Zum Wachsen der Rationalität im physikalischen Naturverständnis. In: Rationalität. Ihre Entwicklung und ihre Grenzen. Hrsg. von Leo Scheffczyk und Karl Narr. Freiburg: Alber, 1989. S. 119–160. 341 Gottfried W. Leibniz: Auf Vernunft gegründete Prinzipien. S. 426f. 342 Vgl. Raymund Wilhelm: Die Sprache der Affekte. Jean-Jacques Rousseau und das Sprachdenken des siècle des Lumières. Tübingen: Narr, 2001. S. 134.
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homini essentialis est.“343 Neben der allgemein aufklärerischen Emphase für die logisch-mathematische Rationalität untersuchte Wolff auch die niederen Erkenntnisvermögen und bezeichnete sie – ähnlich wie Leibniz – als vernunftähnliche Vermögen bzw. als ‚analogon rationalis‘.344 Die Formulierung übernahm wiederum Baumgarten, indem er die Ästhetik als ‚analoge Rationalität‘ charakterisierte, die zwar ebenfalls klar wie die logisch-rationale Erkenntnis, aber nicht deutlich sei. Baumgarten wertete das nicht länger als einen Mangel an Deutlichkeit, sondern begriff es, wie Paetzold darlegt, als eine spezielle Form der Klarheit: Er unterscheidet systematisch extensive und intensive Klarheit. Intensive Klarheit steht im Kontinuum mit der logischen Rationalität. Sie geht aus der analytischen Klarheit der Merkmale eines Gegenstands hervor. Sie liegt dann vor, wenn ein Gegenstand durch Analyse seiner einzelnen Merkmale weiter bestimmt wird. Hier wird also die Klarheit einer Vorstellung gesteigert durch Klarmachung der einzelnen Merkmale. Intensive Klarheit hat ihr Telos in begrifflicher Deutlichkeit. Extensive Klarheit dagegen resultiert aus „der Menge der Merkmale“. Eine Vorstellung ist dann als extensiv klar zu klassifizieren, wenn sie eine Komplexion von Merkmalen enthält, und diese als solche schon einen Gegenstand bzw. Gegenstandsbereich als hinreichend bestimmt erscheinen läßt, ohne daß die Merkmale analytisch streng geschieden sind. Extensive Klarheit verkörpert eine in sich komplette Erkenntnisgewißheit. Sie ist also keine Vorstufe zur Deutlichkeit […].345
Die Logik ist nach Baumgarten also die „ältere Schwester“346 der Ästhetik; wo die Logik sich als Paradigma des Allgemeinen, Abstrakten zeige, sei die Ästhetik das Paradigma des Individuellen, des Speziellen und der einzelnen Merkmale. Er entwarf die sinnliche Erkenntnis (cognitio sensitiva) tatsächlich in einer fast schon pedantischen Analogie zur rational-szientistischen Erkenntnis und war hierbei bemüht, ihr einen gleichermaßen bedeutenden Wahrheitsanspruch zu verleihen (veritas aesthetica). Der Wahrheit der Wissenschaften stellte er die Vollkommenheit der Schönheit zur Seite. In der Forschung wird bisweilen mit Blick auf die Ästhetik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Bezeichnung ‚ästhetische Rationalität‘347 gebraucht. || 343 Christian Wolff: Psychologie rationalis. In: derselbe: Gesammelte Werke. Abt. 2., Bd. 6. Hrsg. von Jean Ecole und Joseph E. Hofmann. Hildesheim: Olms, 1994 [1740]. S. 372. 344 Vgl. Stefanie Buchenau: Sinnlichkeit als Erkenntnisvermögen. Zum Begriff des Vernunftähnlichen in der Psychologie Christian Wolffs. In: Die Psychologie Christian Wolffs. Hrsg. von Oliver-Pierre Rudolph. Tübingen: Niemeyer, 2004. S. 191–206. 345 Heinz Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus. Wiesbaden: Steiner, 1983. S. 14f. 346 Alexander G. Baumgarten: Ästhetik. [Aesthetica, 1750/1758]. Hrsg. und übers. von Dagmar Mirbach. Hamburg: Meiner, 2007. S. 17. 347 Vgl. Heinz Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus. S. 56.
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Damit ist aber nicht ausgesagt, dass der verengte Rationalitätsbegriff von Wissenschaften und Logik auch die Künste im Allgemeinen und die Dichtung im Besonderen umfasste oder dass die z.B. von Baumgarten und Sulzer entworfene sinnliche Erkenntnis ebenso gefasst und konzipiert wurde wie wissenschaftliche Erkenntnis. Vielmehr bezeichnet der Terminus das Bestreben, dem Bereich des Ästhetischen eine der Rationalität analoge Struktur zu geben und ihn dadurch aufzuwerten. Baumgarten beispielsweise trennte begrifflich sehr präzise zwischen Rationalität und Logik einerseits und den ihnen entsprechenden, analogen Elementen einer sinnlichen Erkenntnis andererseits. Auch Vietta betont, dass die Aufwertung der sinnlichen Erkenntnis in Baumgartens Aesthetica „die Nachrangigkeit der sinnlichen Wahrnehmung gegenüber der Logik nicht aufheben, wohl aber zumindest die ‚gnoseologia inferior‘ aufwerten“348 sollte. Gerade die Analogie von logisch-wissenschaftlicher und sinnlicher Erkenntnis markierte nachdrücklich die Grenzlinie, die Ästhetik, Künste und Dichtung von der Rationalität in Logik, Mathematik und Physik trennt. Immanuel Kant kann vor diesem Hintergrund als „Königsdenker der […] Rationalität im Reich der Philosophie“ bezeichnet werden, denn er wendete die Rationalitäts- endgültig als Bewusstseinsphilosophie, „Rationalität also bezieht sich nun nicht mehr primär auf das Verborgene, aber wahre Wesen der Dinge, sondern bezeichnet eine auf die Dinge projizierte Denkmethode […].“349 So formulierte er in der Kritik der reinen Vernunft: Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntniß müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntniß erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntniß richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntniß derselben a priori zusammenstimmt, […].350
Die Wirklichkeit muss sich nach der Vernunft und das bedeutet nach der Rationalität des Menschen richten. Rationalität und Vernünftigkeit kommen zumindest im Bereich der Erkenntnistheorie zu einer Deckung. Wie Baumgartens so ruhte auch Kants Ästhetik auf einer Wesensverschiedenheit sinnlicher und vernünftiger Erkenntnis. Bei Kant war das der Unterschied von begrifflicher und
|| 348 Silvio Vietta: Rationalität. S. 386. 349 Silvio Vietta: Rationalität. S. 66. 350 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl. 1787). In: derselbe: Werke. Akademie Textausgabe. Bd. 3. Berlin: De Gruyter, 1968. S. 1–553; S. 11f.
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ästhetischer Erkenntnis, von Vernunftideen und ästhetischen Ideen.351 Die ästhetische Idee, also eine „Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann“, wird als „Gegenstück (Pendant)“ zur Vernunftidee beschrieben (vgl. Kap. II.4.3). Zwar können ästhetische Ideen die Vernunft anregen, aber eine selbständige Form der Erkenntnis stellen sie nicht dar. Mit der Trennung von rationaler und ästhetischer Erkenntnis ist eine dem neuzeitlichen Rationalitätskonzept inhärente Grenzziehung angesprochen, die auch Vietta beschreibt: [Das Irrationale] ist bei den griechischen Philosophen mit dem Begriff der Aisthesis, d.h. den Sinneswahrnehmungen und auch den Emotionen, verbunden. Das, was bloß mit den Sinnen wahrgenommen werden kann oder ,bloß‘ gefühlsmäßig wahrgenommen wird, gilt in diesem Sinne als ,irrational‘. Dabei kann das Irrationale am Anfang einer rationalen Aufklärung stehen, dann trägt es nach Hegel, der das Thema im Zusammenhang mit der Geometrie behandelt, die ‚Spur der Vernünftigkeit‘ bereits in sich. Im verschärften Sinne ,irrational‘ aber nennen wir nicht Dinge, die vor einer rationalen Aufklärung stehen, sondern solche Urteile, die sich ihr bewusst verweigern und damit einer kaussallogischen Argumentation entziehen. Wer im Zeitalter der rationalen Aufklärung noch im Blitz am Himmel den Schicksalswink Gottes sieht, kann das tun, ignoriert dabei aber die rationale Begründung für solche Elektrizitätsentladungen.352
Begreift man wie Jürgen Mittelstraß Rationalität als „kontrollierbare[] Begründungszusammenhänge“353, so ist das Irrationale dadurch gekennzeichnet, dass es in einem historischen Kontext sich entweder einem solchen Begründungszusammenhang entzieht oder, in einen solchen eingebracht, keine Anerkennung findet. Die neuzeitliche Monopolisierung der Rationalität durch Mathematik, Physik und Logik bedingte so die Ausgrenzung ästhetisch-sinnlicher, metaphysischer und emotionaler Aspekte aus dem Bereich der erkenntnisstiftenden Begründungszusammenhänge. Der Ausschluss war häufig mit einer Abwertung oder Deklassierung des Irrationalen bzw. Vorrationalen verbunden. Für den Rationalismus und Empirismus im 17. und 18. Jahrhundert ist nach Mittelstraß eine Verschränkung von Rationalität und Wissenschaftlichkeit zu beobachten: Ausdruck wissenschaftlicher Rationalität sind nicht so sehr einzelne Theorien oder Theorietraditionen, sondern die diesen Geltung und Eindeutigkeit verleihenden Rationalitätskriterien. […]. Es bedarf also neben der ‚Tatsachenkonformität‘ zusätzlicher Kriterien. Eben || 351 Vgl. Heinz Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus. S. 55f. 352 Silvio Vietta: Rationalität. S. 15. 353 Jürgen Mittelstraß: Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997. S. 14.
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diese sind mit den Rationalitätskriterien gegeben, zu denen nicht nur Widerspruchsfreiheit, Zirkelfreiheit, sprachliche Klarheit, Intersubjektivität und die Reproduzierbarkeit wissenschaftlicher Resultate gehören, sondern etwa auch optimale Anwendbarkeit [...], Einfachheit [...] und Fruchtbarkeit. [...]. Gegensatz einer Theorierationalität in diesem Sinne der genannten Kriterien wäre nicht eine andere Rationalität, sondern Mythos und Irrationalität.354
Die exponierte Stellung, die der Wissenschaftlichkeit im neuzeitlichen Rationalitätsverständnis zukam, bedingte natürlich auch die teils polemisch geführten Ausgrenzungen des Irrationalen, der Affekte und des Sinnlichen. Der Absolutheitsanspruch und Rigorismus konnten jedoch die der neuzeitlichen Rationalität inhärenten Krisenmomente nicht allzu lange überdecken.
4.3 Krisenmomente neuzeitlicher Rationalität Mit dem Anheben der Umbrüche um 1800 kann eine Ausdifferenzierung von philosophischer und positivistisch-naturwissenschaftlicher Rationalität beobachtet werden, die wiederum eine vielfältige Pluralisierung von Rationalitätskonzepten hervorbrachte. Jürgen Mittelstraß diagnostiziert einen „seltsame[n] Plural“, der für die absolutgesetzte ‚Vernunft‘ so nicht gebildet werden könne, nämlich „die Rede von Rationalitäten […]“.355 War ratio ursprünglich die Bezeichnung eines das ganze All umfassenden Prinzips göttlicher Vernunft und Wohlordnung, so wurde nun dieser Anspruch fragmentiert, partikularisiert und ausdifferenziert. Niklas Luhmanns Systemtheorie bietet hier eine interessante Erklärung, indem sie die unterschiedlichen philosophisch-wissenschaftlichen Disziplinen in der funktionalen Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften als soziale bzw. autopoietische Systeme begreift, denen eine Tendenz zur Pluralisierung von Rationalitäten bzw. Rationalitätsformen inhärent ist.356 Nach Luhmann erscheinen die unterschiedlichen Rationalitätsformen als „selbsterzeugte
|| 354 Jürgen Mittelstraß: Der Flug der Eule. S. 248f. 355 Jürgen Mittelstraß: Forschung, Begründung, Rekonstruktion. Wege aus dem Begründungsstreit. In: Rationalität. Philosophische Beiträge. Hrsg. von Herbert Schnädelbach. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984. S. 117–140; S. 117. 356 „Die übliche Rede von ‚Rationalität‘ im Singular ist offensichtlich inkompatibel mit der These, dass die moderne Gesellschaft in verschiedene Funktionssysteme differenziert ist. Funktionale Differenzierung bedeutet Ausdifferenzierung unterschiedlicher systemspezifischer Rationalitätsformen, die zu keiner gesamtgesellschaftlichen Einheit mehr verbunden werden können.“ Wolfgang L. Schneider: ‚Rationalität‘ in Luhmanns Systemtheorie. In: Die Rationalitäten des Sozialen. Hrsg. von Andrea Maurer und Uwe Schimank. Wiesbaden: VS, 2012. S. 65–78; S. 72.
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Ordnungszwänge[]“357 des jeweiligen Systems. Luhmann strebt auf diese Weise, wie Wolfgang Schneider ausführt, eine Explikation des Rationalitätsbegriffs [an], die in der Lage ist, die je unterschiedlichen, weil systemabhängig variierenden Rationalitäten als kontextabhängige Spezifikationen eines einheitlichen Rationalitätsverständnisses erkennbar zu machen. […] Ein einheitliches systemtheoretisches Konzept von Rationalität, das mit diesen Unterschieden kompatibel ist, muss deshalb in der Lage sein, die unterschiedlichen systemspezifischen Formen des rationalen Umgangs mit Unsicherheit auf einen Begriff zu bringen, der expliziert, was Rationalität für die moderne Gesellschaft heißen kann. Möglich ist dies nur durch radikale Abstraktion – und das heißt insbesondere durch Verzicht auf die Angabe von Rationalitätskriterien, weil diese in Abhängigkeit vom jeweiligen Systemkontext divergieren.358
Nimmt man die These der funktionalen Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft ernst, so bedeutet dies, dass für die moderne Episteme seit der Sattelzeit nicht mehr – wie noch für die Zeit des 16. bis 18. Jahrhunderts – ein einziges Rationalitätskonzept rekonstruiert werden kann, das einige Diskurse umfasst und andere wiederum ausschließt. Das betrifft nicht nur die ‚großen‘ Gesellschaftssysteme (Religion, Politik, Wissenschaft, Kunst, Literatur etc.), sondern auch die Binnendifferenzierung der einzelnen philosophisch-wissenschaftlichen Disziplinen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Beispielsweise können die Entwicklung zwischen moderner und antimoderner Mathematik (vgl. Kap. III.2.5), die Entstehung der mathematischen Logik in Abgrenzung zur philosophischen Logik (vgl. Kap. III.3.3), die Ausdifferenzierung von naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlich-hermeneutischer Methodik (vgl. Kap. IV.1) als Aspekte einer solchen Binnendifferenzierung gewertet werden. Rationalität in der modernen Episteme ist dann nicht mehr als ein konkretes Setting spezifischer Rationalitätskriterien zu rekonstruieren, sondern wird als ein formales Rationalitätskonzept, d.h. als System von Begründungszusammenhängen erkennbar, das in den jeweiligen (Teil-)Diskursen mit ganz unterschiedlichen Rationalitätskritierien konkrete Gestalt annahm. Die unterschiedlichen Sets von Rationalitätskriterien werden dabei nicht mehr aus einem metaphysischen, ontologischen, anthropologischen oder einem anderen globalen Fundament abgeleitet, sondern bestimmen sich primär aus dem funktionalen Kontext des Teilsystems.
|| 357 Niklas Luhmann: Die Ausdifferenzierung des Kunstsystems. Vortrag im Kunstmuseum Bern am 19. Dezember 1993 und Gespräch im Kunstmuseum Luzern am 17. Dezember 1993. Hrsg. von Gerhard J. Lischka. Bern: Benteli, 1994. 8. 358 Wolfgang L. Schneider: ‚Rationalität‘ in Luhmanns Systemtheorie. S. 72.
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Die Vorstellung wissenschaftlich-rationaler Erkenntnis im 17. und 18. Jahrhundert beruhte, wie bereits erläutert wurde, auf zwei aus der Antike übernommenen Dimensionen von Rationalität: Erstens auf der ontologisch-metaphysischen Dimension in Gestalt einer rationalen Ordnung und Gesetzmäßigkeit der Dinge (Gesetzmäßigkeit und Mathematizität der Wirklichkeit) und zweitens auf der anthropologischen Dimension, also der Möglichkeit richtigen, regelmäßen Vernunftgebrauchs (die Kunst des richtigen Denkens). Erst beide Dimensionen zusammengenommen ermöglichen, so die lange Zeit vorherrschende Überzeugung, eine wahre und sichere Erkenntnis der Wirklichkeit. Kants transzendentale Wende und die damit verbundene Zentrierung des menschlichen Erkenntnisvermögens setzten bei einer fundamentalen Kritik der ontologischen Dimension an. Die Pluralisierung und funktionale Differenzierung von verschiedenen Systemen (im Sinne Luhmanns), die in der modernen Episteme eine Vielzahl unterschiedlicher Rationalitäten bedingte, kann als eine Ablösung von der zweiten, anthropologischen Dimension gelten. Da sowohl die ontologische als auch die anthropologische Dimension des neuzeitlichen Rationalitätskonzeptes zunehmend problematisch wurden, kann Wolfgang Schnädelbach für das 19. Jahrhundert insgesamt eine sich „anbahnende Krise des abendländischen Fundamentalrationalismus“359 diagnostizieren, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts voll zum Ausbruch kam. Oskar Spenglers Untergang des Abendlandes (1918), Karl Jaspers’ Die geistige Situation der Zeit (1931) oder Hermann Brochs ‚Zerfall der Werte‘ überschriebene Exkurse in der Schlafwandler-Trilogie (1930–1932) sind Beispiele einer weitverbreiteten Stimmung des erkenntnis-, sprach- und wissenschaftstheoretischen Zerfalls- und Auflösungsprozesses. Irritiert stellte man fest, dass Wahrheit und Rationalität nicht länger als etwas Gegebenes und in der Welt bzw. im menschlichen Geist Vorzufindendes konzipiert werden konnte, sondern dass es sich um etwas Menschengemachtes und damit um etwas kulturell und historisch Bedingtes handelte.360 Neben der theoretischen Relativierung führte ein zweiter Aspekt zur Krise des europäischen Fundamentalrationalismus. Es war dies die schmerzliche Erkenntnis, dass jeder Form der Rationalität ein eigenes Moment des Irrationalen innewohnt; Vietta spricht von der „Teilblindheit der Rationalität“361. Pries die Aufklärung noch die Allmacht der Rationalität als höchste Form des menschlichen Vernunftgebrauchs, zeigte das 20. Jahrhundert die Schrecken der modernen, autonomisierten und absolut gesetzten Rationalität: „Aufklärung schien“, || 359 Herbert Schnädelbach: Einleitung. S. 12. 360 Vgl. Jürgen Mittelstraß: Forschung, Begründung, Rekonstruktion. S 135. 361 Silvio Vietta: Rationalität. S. 15.
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wie Helmuth Kiesel schreibt, „für die zwanziger Jahre aufzugehen in Manipulation und Mobilisation, schien nur noch ein Mittel zu sein für private ‚Gewinnsucht‘ und ‚öffentlichen Imperialismus‘ [...].“362 Theodor W. Adorno und Max Horkheimer geben dieser Skepsis vor dem Hintergrund zweier Weltkriege, des Holocaust und der Entwicklung der Atombombe in Die Dialektik der Aufklärung (1947) einen markanten Ausdruck: Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriff eben dieses Denkens […] schon den Keim zu jenem Rückschritt [enthält], der heute überall sich ereignet. Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksaal.363
Mit der Einsicht, dass der zweckrationale Vernunftgebrauch es einigen Regierungen dieser Erde ermöglicht hatte, die Menschheit gleich mehrfach auszulöschen, wurde in aller Konsequenz deutlich, „daß Vernunft und Ratio auseinandertreten“364 konnten.
Resümee Die vorangegangenen Untersuchungen sollten verdeutlichen, wie eng in Physik, Mathematik und Logik die Sprachpraxis sowie das Sprachverständnis mit Methodik, Formalisierung und Symbolisierung der Disziplinen verschränkt waren. Als zentraler Aspekt zeigte sich jeweils die Disziplinierung der Sprache im Zeichen von Erkenntnisgewinn, Erkenntnissicherung und Erkenntnisdarstellung. Die diskursiven Formationen in den drei untersuchten Disziplinen soll abschließend in fünf Stichpunkten rekapituliert werden. Mathematisierung und Quantifizierung: Für die mathematisierte Physik zeigte sich, dass eine mathematische Darstellung nur hinsichtlich quantifizierbarer Aspekte von Wirklichkeit bzw. Natur für möglich erachtet wurde. Die Quantifizierung setzt notwendig eine Abstraktion und Idealisierung der beobachteten Phänomene voraus. Legitimiert wurde dieser quantifizierende Zugriff mit der Annahme, dass die Welt bereits eine mathematische Strukturiertheit aufweise || 362 Helmuth Kiesel: Aufklärung und neuer Irrationalismus in der Weimarer Republik. In: Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. von Jochen Schmidt. Darmstadt: WBG, 1989. S. 497–521; S. 497. 363 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004. S. 3. 364 Helmuth Kiesel: Aufklärung und neuer Irrationalismus. S. 513. DOI 10.1515/9783110464252-019, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
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und die Mathematik daher eine privilegierte Sprache der Weltbeschreibung darstelle. Gerechtfertigt wurde der quantifizierende Zugriff u.a. durch die Prognoseleistung und den technischen Zugriff auf die Natur. In der Kritik an der mathematisierten Physik werden zwar meist deren Methode und Ergebnisse akzeptiert, der damit verbundene Anspruch, eine allgemein und allein gültige Welterklärung bzw. Weltdeutung geben zu können, wird jedoch abgelehnt. Der Anspruch schließt nach Einschätzung der Kritiker nicht nur andere Diskursbereiche, wie z.B. die bildenden Künste, sondern auch andere Sprachformen, wie z.B. poetische oder rhetorische Sprachgestaltung, aus den Konzepten von Wahrheit, Erkenntnis, Wissen und Rationalität aus. Kritiker warfen die Frage auf, ob eine durch Axiomatik, Formalisierung und Symbolisierung gezähmte Sprache die Wirklichkeit überhaupt noch umfassend repräsentieren könne oder nicht vielmehr ein reduziertes und schematisiertes Zerrbild der Wirklichkeit zeichne. Diesem Einwand wurde entgegengehalten, dass die mathematisierte Beschreibung von Natur über Axiome und Grundbegriffe bzw. über die Theoreme ontologisch fundiert sei. Am Beispiel der Axiomatisierung der Mechanik wurde jedoch die Herausforderung deutlich, die diese aus der klassischen Axiomatik übernommene Fundierungsthese für eine komplexer werdende Naturforschung im 19. Jahrhundert darstellen sollte. Der Anspruch, mit einer axiomatisierten Darstellung tatsächlich die Wirklichkeit repräsentieren zu können, wurde zunehmend problematisch. Die Ausrichtung an der Mathematik und der mathematischen Darstellungsform führte im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert zu einer Aussonderung all jener Sprachformen, die nicht dem mathematischen Ideal entsprechen konnten – exemplarisch wurde dies an Gehler’s Wörterbuch der Physik dargestellt. Die so ausgesonderten Sprachformen konnten folglich als poetische bzw. rhetorische Sprachelemente firmieren, weswegen mit Lepenies dieser Aussonderungsprozess als ‚Entliterarisierung‘ bezeichnet wurde. Operativer Symbolismus: Der operative Symbolismus zeigte sich als Paradigma einer wohlgeformten Erkenntnissprache nicht nur für Mathematik, Physik und Logik. Die Innovationskraft und Bedeutung des Symbolismus ergab sich aus der Möglichkeit, auf dem Papier ‚mechanisch‘ komplexe Probleme nur durch die Operation mit Zeichen zu lösen. Voraussetzung dafür ist die symbolische Differenz, d.h. die Zeichen des operativen Symbolismus repräsentieren nicht notwendigerweise direkt Ideen oder Begriffe, sondern teils Repräsentationen von Ideen und Begriffen – „Statt ein Bild der Wirklichkeit zu sein, beginnt
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die Sprache das Bild eines Bildes zu bilden“365. Wird die Verbalsprache als sekundäres Repräsentationsinstrument wahrgenommen, erscheint der operative Symbolismus als tertiäres Repräsentationsinstrument, dessen Repräsentationsrelation allerdings – anders als bei verbalsprachlichen Zeichen – nicht immer durch Definitionen fixiert werden kann, weil z.B. Variablensymbole nicht nur ein einziges Signifikat, sondern ganze Klassen von Signifikaten besitzen können. Eine Irritation verursachten solche Entitäten, die nur (oder zunächst nur) in Form von Zeichen und Symbolen im Symbolismus ‚auftauchten‘, ohne dass ihnen ein extrasymbolisches Signifikat zugeordnet werden konnte. Am Beispiel der imaginären Zahlen wurde deutlich, dass derartige Entitäten eine ontologische wie sprachtheoretische Herausforderung darstellten. Die imaginären Zahlen machten die symbolische Differenz sichtbar, die einzig Leibniz als einen Vorteil begriff. Das formalisierte und symbolisierte System des operativen Symbolismus weicht noch in einem weiteren Aspekt von Verbalsprachen ab: Es stellt ein autonomes und geschlossenes System von Zeichen dar, das durch eine Deutung/Interpretation Anwendung auf Phänomene der Mathematik oder Realität findet, d.h. der Realitätsbezug des Systems muss in einem separaten Schritt hergestellt und begründet werden. Die Autonomie des operativen Symbolismus gegenüber der Wirklichkeit wurde im 18. Jahrhundert mehr erahnt, denn erkannt. Entrhetorisierung und Entliterarisierung: Verbunden mit der Axiomatisierung, Formalisierung und Symbolisierung seit Beginn der Frühen Neuzeit wurde eine Tendenz zur Entrhetorisierung von Mathematik, Physik und Logik beobachtet. Durch sie wurden all jene systematisch-methodischen Aspekte, die in der Antike noch Bestandteil der Rhetorik waren, einseitig der Logik zugeordnet, während die Rhetorik als Kunst der reinen Sprachlichkeit aus dem Bereich sicherer Erkenntnis und Rationalität ausgegrenzt und auf ihre sinnlichen bzw. affektiven Aspekte reduziert wurde. In den wissenschaftlichen Diskursen konnte so im 18. Jahrhundert die Annahme entstehen, dass es eine von rhetorischer Formung losgelöste, natürliche Darstellung von Wissen und Erkenntnis gäbe. Mit Blick auf die Wissensbestände der Wissenschaften wurde der Rhetorik lediglich die Funktion der didaktischen Aufbereitung und Vermittlung von wissenschaftlichen Gehalten zugesprochen. Konzeption neuzeitlicher Rationalität: Schließlich wurde die Verengung des Verständnisses von Rationalität vor dem Hintergrund der untersuchten Entwicklungen in Physik, Mathematik und Logik beleuchtet. Hierbei zeigte sich,
|| 365 Ladislav Kvasz: Sprache und Zeichen in der Geschichte der Algebra. S. 116.
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dass die Monopolisierung der Rationalität auch die diskursive Stellung der Künste und der Dichtung betraf. Den strengen Rationalitätskriterien wissenschaftlicher Erkenntnis konnten Künste im Allgemeinen und Dichtung im Speziellen nicht gerecht werden. Dadurch erschienen sie bisweilen an einem Ort jenseits der Rationalität, also im Bereich des Vor- oder gar Irrationalen. Alternativ wurde aber auch versucht, analog zur Rationalität der Vernunfterkenntnis eine genuine Struktur der Künste und der sinnlichen Erkenntnis zu entwerfen. Dass diese Trennung bzw. Ausgrenzung eine besondere Bedeutung auch für die Sprachkonzeption und Sprachpraxis der Dichtung hat, wird im folgenden Teil näher untersucht (vgl. Kap. IV.1 und IV.4). Sprachtheoretische Probleme: Die Entwicklungen in Physik, Mathematik und Logik waren durchzogen von der unterschwelligen Gefahr, dass die einfache Trias von Gegenstand, Idee/Begriff und Sprachzeichen sich als nicht tragfähig erweisen könnte. Beispielsweise die von Hamann und Herder entworfene sprachliche Getränktheit des Denkens stellte solch eine Gefahr dar, denn sie drohte die Absolutheit von Evidenz, Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit wissenschaftlicher Grundwahrheiten zu relativieren. Sprache als eine fundamentale ‚Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis‘ anzuerkennen, hätte bedeutet, das ahistorische und objektive Ideal mathematisch-naturwissenschaftlicher Erkenntnis an sich zur Disposition zu stellen. Eine Gefahr für das dreigliedrige Sprachkonzept war aber auch immer dann gegeben, wenn die repräsentierende Bezugnahme formaler oder symbolischer Systeme auf die Gegenstände von Mathematik, Physik und Logik fraglich wurde. Gezeigt hat sich diese irritierende Fraglichkeit u.a. in der Brüchigkeit des klassisch-axiomatischen Aufbaus der Mechanik und der Geometrie sowie in der Frage nach dem ontologischen Status mathematischer Gegenstände. Beunruhigend war hierbei, dass die komfortable Bedeutungssicherheit, die einer adäquaten sprachlichen Repräsentation im Rationalismus noch zugesprochen wurde, gänzlich zur Disposition gestellt wurde. Empiristisch-sensualistische Positionen konnten mit der Herausforderung zunächst leichter umgehen, führten sie doch alle Erkenntnis und damit auch sprachliche Repräsentationen auf sinnliche Erfahrung zurück. Doch dieser Weg der Fundierung wurde u.a. durch solche Gegenstände fraglich, die – und einmal mehr gaben hier die imaginären Größen ein vielsagendes Beispiel – nur innerhalb des operativen Symbolismus hergestellt werden konnten und nicht durch Abstraktion einer konkreten Erfahrung gewonnen wurden. Erst vor dem Hintergrund der hier ausgeführten Entwicklungen erhellt sich, warum unter literarischen Autoren aus sprachtheoretischen Überlegungen heraus – und das lange vor dem linguistic turn des frühen 20. Jahrhunderts – eine Grundskepsis hinsichtlich der neuzeitlichen Rationalität, dem Absolutheitsan-
Resümee | 283
spruch wissenschaftlicher Methodik oder dem instrumentellen Sprachverständnis aufkeimen konnte. Die diskursive Positionierung von Dichtung und Poesie, wie sie auf der Seite der Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts vorgenommen wurde, untersucht das folgende Kapitel.
| Teil IV: Diskursive Formationen des literarischen Diskurses
Hinführung Naturforscher und Dichter haben durch eine Sprache sich immer wie ein Volk gezeigt. Was jene im Ganzen sammelten und in großen, geordneten Massen aufstellten, haben diese für menschliche Herzen zur täglichen Nahrung und Notdurft verarbeitet, und jene unermeßliche Natur zu mannigfaltigen, kleinen, gefälligen Naturen zersplittert und gebildet. Wenn diese mehr das Flüssige und Flüchtige mit leichtem Sinn verfolgten, suchten jene mit scharfen Messerschnitten den innern Bau und die Verhältnisse der Glieder zu erforschen.1 Novalis: Die Lehrlinge zu Sais Dem Physiker scheint es versagt zu sein, mit dem Dichter von einer grünen Wiese und einem blauen Himmel zu sprechen […]. Die Geisteswissenschaften und die Dichtung unterscheiden sich nicht dadurch von der exakten Erkenntnis, daß sie etwas ausdrücken könnten, was dieser versagt ist (sie können im Gegenteil nur weniger aussagen), sondern dadurch, daß sie nicht nur ausdrücken, sondern zugleich etwas anderes erreichen wollen.2 Moritz Schlick: Erkennen, Erleben, Metaphysik
Nachdem in den vorangegangenen Kapiteln die spannungsreiche Relation von Dichtung und Wissenschaften im 17. und 18. Jahrhundert mit Blick auf die Entwicklungen in Sprachtheorie, Physik, Mathematik und Logik erschlossen wurde, nehmen die folgenden Untersuchungen ihren Ausgang von poetologischen bzw. ästhetischen Diskussionen und Reflexionen. In der rückgreifenden Bezugnahme auf die zuvor entfalteten sprachphilosophischen und wissenschaftshistorischen Entwicklungen werden einerseits selten berücksichtigte Texte, wie z.B. Boccaccios Genealogie, in die Betrachtung einbezogen, andererseits auch neue Perspektiven auf kanonische Texte, wie z.B. Martin Opitz’ Buch von der deutschen Poetery oder Gottscheds Versuch einer critischen Dichtkunst, eröffnet. Aspekte, die in der literaturwissenschaftlichen Forschung als Topoi oder gar Klischees der poetologischen Diskussionen des 17. und 18. Jahrhunderts gelten, werden so neu als Argumente der mit Nachdruck geführten Auseinandersetzungen um die Verhältnisbestimmung von Wissenschaften und Dichtung erkennbar. Zwei Fragen sind für die folgenden Kapitel leitend: Erstens soll erschlossen werden, welche Aspekte bei der Aushandlung der wechselseitigen Verhältnisbestimmung besondere Relevanz hatten – wo und in welchen Aspekten gab es || 1 Novalis: Die Lehrlinge zu Sais. In: derselbe: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Bd. 1. Hrsg. von Richard Samuel. Darmstadt: WBG, 1960. S. 79–111; S. 84. 2 Moritz Schlick: Erleben, Erkennen, Metaphysik. In: Kant-Studien 31 (1926). S. 146–158; S. 149. DOI 10.1515/9783110464252-020, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
288 | Hinführung
Berührungspunkte, Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede, Differenzen und Abgrenzungen zwischen Dichtung, Physik, Mathematik und Philosophie? Zweitens soll untersucht werden, wie die vier Diskurse in diesen Aspekten zueinander positioniert werden – gibt es Hierarchisierungen, Auf- bzw. Abwertungen? Hinsichtlich der beiden Fragestellungen ist im 17. und 18. Jahrhundert eine bemerkenswerte Verschiebung festzustellen, denn während die naturwissenschaftlich-mathematische Forschung seit dem 16. Jahrhundert eine „Kettenreaktion der Revolutionen“3 durchlaufen und sich der überholten Sophismen entledigt hatte, musste erst einige Zeit vergehen, ehe die Dichtung von den seitens der Scholastik und der Theologie vorgebrachten Vorwürfen rehabilitiert war (vgl. Kap. IV.1.1). Erst mit der Querelle des Anciens et des Modernes und endgültig mit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts lässt sich ein Bruch mit der traditionellen, von antiken Grundsätzen geprägten Ästhetik feststellen – im Vergleich vollzog sich „die ästhetische Revolution der Moderne relativ spät“4. Hinsichtlich der Entwicklungen in den Wissenschaften einerseits und den Entwicklungen in Dichtung und Poetik andererseits kann daher eine mehr als 200 Jahre umfassende Phasenverschiebung attestiert werden, deren Konsequenzen erst allmählich erfasst wurden. Die Phasenverschiebung bedingte seit dem 16. Jahrhundert eine zunehmend dynamische Spannung in der diskursiven Verhältnisbestimmung, da aufgrund der verzögerten Emanzipation von antiken Traditionen und angesichts der Innovationskraft der Wissenschaften ein enormer Legitimationsdruck im literarischen Diskurs empfunden wurde, der sich in den poetologischen und ästhetischen Texten der Zeit niederschlug. Für das 17. und 18. Jahrhundert lassen sich nun eine Reihe von Strategien der Relationsbestimmung rekonstruieren, die in den ersten Kapiteln dieses Teils dargestellt werden. Sie reichen von einer analogie- und differenzbasierten Aufwertung (Kap. IV.1.2) über die Autonomiesetzung der Dichtung (Kap. IV.1.3 und Kap. IV.1.4) bis hin zu Konzepten, die Dichtung absolut setzen oder sogar als Gegendiskurs konzipieren (Kap. IV.1.5 und Kap. IV.1.6). Die folgenden Ausführungen (Kap. IV.2 und Kap. IV.3) beruhen auf der in Kapitel I.3.3 entwickelten Systematisierung von Relationsformen/-ebenen. Sie zeigen, wie sich in Dichtung und Poetik mit Blick auf die Sprachproblematik des ausgehenden 18. Jahrhunderts eine gegenläufige Phasenverschiebung ereignet hat.
|| 3 Silvio Vietta: Ästhetik der Moderne. Literatur und Bild. München: Fink, 2001. S. 33. 4 Silvio Vietta: Ästhetik der Moderne. S. 33f.
Konsolidierung von Dichtung und Philosophie | 289
1 Verhältnisbestimmungen von Dichtung und Wissenschaften Die diskursive Bestimmung von Physik, Mathematik und Logik im 17. und 18. Jahrhundert hatte, wie die vorangegangenen Untersuchungen zeigten, eine bis in die Antike zurückreichende Vorgeschichte. Mit Beginn der Renaissance wurde auch eine Rehabilitation der Dichtung vorgenommen. Die teils apologetisch anmutenden Verteidigungen der Dichtung und der Dichter arbeiteten sich, da Philosophie noch die sieben kanonischen Fächer (septem artes liberales) umfasste, nicht an der Relation zu einzelnen Disziplinen ab, sondern versuchte, Dichtung als eine der Philosophie ebenbürtige Kunst (ars) zu etablieren. Im Zentrum dieser Bemühungen um eine Konsolidierung von Philosophie und Poesie bzw. Dichtung standen dabei die Begriffe ‚Wissen‘ und ‚Erkenntnis‘.
1.1 Konsolidierung von Dichtung und Philosophie Als Ziel der Philosophie und der in ihr vereinten Disziplinen galt seit der Antike das begründete Wissen bzw. die gesicherte Erkenntnis (ἐπιστήμη), die von der Wahrnehmung (αἴσθησις), von der Meinung (δὀξα) oder dem Glaubhaften (πίστις) strikt unterschieden wurden. Die Verhältnisbestimmung von Dichtung und Philosophie stand daher in engem Zusammenhang mit dem jeweils vorherrschenden Verständnis von Erkenntnis und Wissen. Bereits die Entstehung der griechischen Philosophie trug, wie Gottfried Gabriel beobachtet, mit der Opposition von Mythos und Logos die Wurzeln einer diskursiven Differenzierung von Dichtung und Philosophie unter dem Aspekt der Erkenntnis in sich: Die Etablierung des Logos im Sinne des propositionalen Wahrheitsbegriffs ist bereits bei Platon nicht nur mit einer Kritik der sophistischen Rhetorik, sondern auch mit einer Absetzung von der Dichtung verbunden. Beide – Rhetorik und Poetik, bzw. Beredsamkeit und Dichtung – erheben Anspruch auf das Erbe des Mythos nach dessen Zerfall und rücken von daher in einen Gegensatz zur Logik. Obwohl Aristoteles versucht hat, die Polemiken in ruhigere Bahnen zu lenken, indem er eine wissenschaftliche Aufteilung in Logik, Rhetorik und Poetik vorgenommen hat, sind die Konflikte bis heute nicht beendet.5
|| 5 Gottfried Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung. München, Paderborn, Wien: Schöningh, 1997. S. 117. DOI 10.1515/9783110464252-021, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
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Aristoteles führt in seiner Poetik die Dichtung bezeichnenderweise nicht auf den anthropologischen Drang zur Erkenntnis, sondern umgekehrt das Lernen auf die bereits bei Kindern beobachtbare Fähigkeit und Lust zur Nachahmung zurück.6 Dichtung sei Nachahmung von menschlichen Handlungen, allerdings nicht von real vollzogenen Handlungen – diese stelle die Geschichtsschreibung dar –, sondern von allgemein denkbaren Handlungen. Aristoteles grenzt also Dichtung von Historiographie ab, indem er nicht das Tatsächliche (das Besondere), sondern das Mögliche (Allgemeine) als Merkmal der Dichtung benennt. Und obwohl sie hierdurch einen ‚philosophischeren‘ Zug als die Geschichtsschreibung erhalte, adressiere sie im Ganzen mehr die Affekte und Leidenschaften als den Verstand.7 Seit der Antike wurden Philosophie einerseits und Dichtung andererseits mit zwei je unterschiedlichen Arten des Denkens assoziiert. Mit Gottfried Gabriel können die beiden Formen des Denkens als ‚logisches Denken‘ und ‚analogisches Denken‘ bezeichnet werden: Als logisch sei […] ein Denken beschrieben, das sich argumentativ auf der Grundlage deutlicher Unterscheidungen vollzieht, d.h. in ‚scharf begrenzten Begriffen‘. Analogisch soll demgegenüber ein Denken heißen, das sich der Übergänge bedient und die begrifflichen Grenzen durchlässig oder ‚porös‘ hält. Logisches Denken drängt auf Unterscheidung des Ähnlichen, analogisches Denken sucht Ähnlichkeiten im Verschiedenen. Logisches Denken drückt sich aus in Definitionen, analogisches Denken in Vergleichen. Auf der Ebene der Begriffe ist entsprechend zwischen logischer und analogischer Begriffsbildung zu unterscheiden.8
Die binäre Gliederung in zwei Denkarten, in Verstand und Herz, findet sich auch in Horaz’ De arte poetica wieder. „Sinnbelehrend [prodesse] will Dichtung wirken oder herzerfreuend [delectare], oder sie will beides geben: was lieblich
|| 6 „Wie es scheint, gab es zwei Entstehungsursachen für die Dichtkunst, und zwar natürliche. Das Darstellen nämlich liegt den Menschen im Blute von Kindheit an, und dadurch unterscheiden sie sich von andern Geschöpfen, daß sie auf Nachahmen versessen sind. Auch das Lernen beruht anfänglich auf Nachahmen, und alle haben ihre Freude an Nachahmungen. […]. Was man nämlich in Wirklichkeit nur ungern sieht, daran hat man seine Freude, wenn man es in möglichst getreuer Nachbildung betrachtet […].“ Aristoteles: Poetik. Übers. und hrsg. von Paul Gohlke. Paderborn: Schöningh, 1959. S. 59. 7 „Hieraus ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist, zu sagen, was geschehen ist, sondern was geschehen könnte und was nach der Regel oder Notwendigkeit möglich ist.“ Aristoteles: Poetik. S. 69. 8 Gottfried Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. S. 25.
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eingeht und was dem Leben frommt.“9 Mit dem Aspekt des Nützlichen – verstanden als das moralisch Nützliche – werden aber gerade nicht ausschließlich das Gefühl oder die Leidenschaften adressiert, sondern auch der handlungsleitende Verstand. Dichtung ist zwar nicht der Ort, an dem Erkenntnis erschlossen oder deduktiv gesichert wird, aber sie gilt Horaz als eine Erkenntnis bzw. moralische Einsicht vermittelnde Instanz. In Analogie zur den drei rhetorischen Wirkungen prodesse, delectare und movere fordert er eine gemütsbewegende Funktion für die Poetik ein, wenn er schreibt: „Nicht genügt es, daß Dichtungen formschön [pulchra] sind; süß und zu Herzen gehend sollen sie den Hörer ergreifen und unwiderstehlich mitreißen [animum auditoris agunto].“10 Der fälschlich Cassius Longinus zugeschriebene Text Über das Erhabene führt mit dem Erhabenen ein weiteres, dem erkennenden Denken enthobenes Element in die europäische Poetik ein. Das Erhabene wird als eine Macht oder Kraft charakterisiert, die eine gesteigerte affektive Reizung im ansonsten passiven Rezipienten hervorruft, die wiederum jenseits rationaler Erkenntnis verortet wird: Das Großartige nämlich überzeugt die Hörer nicht, sondern verzückt sie; immer und überall wirkt ja das Erstaunliche mit seiner erschütternden Kraft mächtiger als das, was nur überredet oder gefällt, hängt doch die Wirkung des Überzeugenden meist von uns ab, während das Großartige unwiderstehliche Macht und Gewalt ausübt und jegliche Hörer überwältigt; [...] das Erhabene, wo es am rechten Ort hervorbricht, [zerteilt] den ganzen Stoff wie ein plötzlich zuckender Blitz [...].11
Das Mittelalter übernahm die antike Einschätzung, Dichtung diene nicht dem Gewinn gesicherter Erkenntnis. Averroes (1126–1198) begreift Poesie und Rhetorik als Teil der Logik.12 Meist wird Dichtung jedoch wie Philosophie und Geschichtsschreibung als ancilla theologiae bezeichnet, als Dienerin der Theologie und der Gotteserkenntnis.13 Thomas von Aquin (1224–1274) und Roger Bacon (1219–1292) sahen in der Poesie immerhin eine Form der Annäherung an die
|| 9 Horaz: De arte poetica liber. In: derselbe: Sämtliche Werke. Übers. und hrsg. von Wilhelm Schöne. Darmstadt: WBG, 1985. S. 538–575; S. 563. Vermutlich greift Horaz hier eine Forderung auf, die bereits Neoptolemos von Parion zuvor in Abgrenzung zu Eratosthenes formulierte. 10 Horaz: De arte poetica liber. S. 547. 11 Longinus [Pseudo-Longinus]: Vom Erhabenen. Übers. von Otto Schönberger. Stuttgart: Reclam, 2008. S. 5f. 12 Vgl. dazu Sabrina Ebbersmeyer: Homo agens. Studien zur Genese und Struktur frühhumanistischer Moralphilosophie. Berlin, New York: De Gruyter, 2010. S. 38f. 13 Vgl. Arno Schilson: „…auf meiner alten Kanzel, dem Theater“. Über Religion und Theater bei Gotthold Ephraim Lessing. Göttingen: Wallenstein, 1997. S. 24.
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philosophische Wahrheit, obgleich Thomas sie „als die niedrigste aller Wissenschaften“14 einstufte. Mit der Wiederentdeckung, Edition und Neuinterpretation der antiken Poetiken und Rhetoriken begann in der italienischen Renaissance des 14. Jahrhunderts eine Phase der Rehabilitation und Aufwertung. Wichtige Vertreter, die angetreten waren, um zunächst antike Dichter wie Hesiod und Ovid gegen die Vorwürfe der Lüge und der moralischen Verderbtheit zu verteidigen, waren u.a. Alberto Mussato (1261–1321), Francesco Petrarca (1304–1374), Coluccio Salutati (1331–1406) und Giovanni Boccaccio (1313–1375). Ihnen ging es nicht nur um eine Rückbesinnung auf die ästhetischen Ideale der antiken Poetik, sie wollten die antike Dichtung, die aufgrund ihres paganen, ‚heidnischen‘ Inhalts lange Zeit als minderwertig eingestuft wurde, in ihrer Eigenart, Historizität und literarischen Wahrheit rechtfertigen. So betont Boccaccio im 14. Buch der Genealogie deorum gentilium (1350–1367) mehrmals und nachdrücklich den Erkenntnisanspruch der antiken poetae und erhebt die Dichtung aufgrund dieses Anspruchs sogar in den Stand einer Wissenschaft (scientia): Die Poesie ist nicht nur irgend etwas, sondern auch eine verehrenswürdige Wissenschaft [scientia] und – wie häufig im vorhergehenden gesehen wurde und im folgenden deutlich wird – nicht eine wertlose, sondern eine saftvolle Fähigkeit für alle, die aus den Fiktionen mit ihrem Verstand einen Sinn herauspressen wollen.15
Denen, die an Homers und Hesiods Dichtungen kritisieren, sie seien Lügenmärchen und verbreiteten heidnische Irrlehren, attestiert Boccaccio mit dem Verweis auf den allegorischen Gehalt der fictiones einen Mangel an Textverständnis. Sie diskreditierten sich selbst, indem sie sich an der vermeintlich unwahren Oberfläche aufhielten und so die darunter verborgene Fülle der Weisheiten nicht erkennen könnten. Vermöge man aber den Schleier von den Dichtungen zu heben, eröffne sich darunter ein wahrer, geradezu philosophischer Gehalt an Weisheiten. Die Doppelstruktur von einer fiktionalen Oberfläche und einem philosophischen Kern dient Boccaccio auch als Argument gegen die Degradie-
|| 14 August Buck: Poetiken in der italienischen Renaissance. In: Renaissance-Poetik. Hrsg. von Heinrich F. Plett. Berlin, New York: De Gruyter, 1994. S. 23–36; S. 25. 15 Giovanni Boccaccio: Genealogie deorum gentilium – Liber XIV [1350–1367]. In: Boccaccios Apologie der heidnischen Dichtung in den „Genealogie deorum gentilium“. Buch XIV – Text, Übersetzung, Kommentar und Abhandlung. Übers. und hrsg. von Brigitte Hege. Tübingen, Heidelberg: Stauffenburg, 1997. S. 19–152; S. 57.
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rung der Poesie zur ancilla und gegen die Verunglimpfung der Dichter als Pseudophilosophen: Die Dichter sind mitnichten die Affen der Philosophen […], die Ungebildeten täuschen sich; wenn sie die Werke der Dichter richtig verstünden, würden sie nämlich merken, daß diese nicht zu den Affen, sondern zu den Philosophen selbst zu rechnen sind; denn es werden von ihnen ausschließlich entsprechend der Auffassung der Alten Inhalte mit erzählender Hülle bedeckt, die mit der Philosophie übereinstimmen. Außerdem weicht der bloße Nachahmer in nichts von der Spur des Nachgeahmten ab. Dies kann man bei den Dichtern keinesfalls erkennen […].16
In dem Vorwurf, Dichter seien nur ‚die Affen der Philosophen‘, klingt deutlich erkennbar Platons Dichter-Schelte an. In seiner Politeia bezeichnet er Dichter wie Homer als „nachahmende Schattenbildkünstler“, die „die eigentliche Wahrheit nicht erfassen“ könnten und sich nur auf Abbilder von Abbildern von Ideen verstünden.17 An die Stelle des λόγος-basierten Erkennens tritt nach Platon bei den Dichtern die αἴσθησις-basierte Nachahmung. Boccaccio versucht nun den von Platon und Platonikern vorgebrachten Vorwurf zu entkräften, indem er die in der Antike wurzelnde und im Mittelalter christlich überformte allegorische Textinterpretation erkenntnistheoretisch wendet und für die antiken Dichtungen fruchtbar macht. Die Dichter verfolgten zusammen mit den Philosophen dasselbe Ziel, nämlich die Wahrheit, aber sie gelangten, so Boccaccio, doch nicht auf dem gleichen Weg dorthin. Der Philosoph – das ist völlig klar – verwirft auf Grund logischer Folgerungen, was er nicht für wahr hält; auf die gleiche Weise beweist er, was er anstrebt, und zwar so offen [apertissime] er kann. Der Dichter dagegen verbirgt, was er durch Überlegung erkannt hat, unter der Hülle der Fiktion, so kunstreich er vermag, ganz ohne Syllogismus.18
|| 16 Giovanni Boccaccio: Genealogie deorum gentilium – Liber XIV. S. 119. 17 „Wir dürfen also als ausgemacht annehmen, daß alle Künstler in der Nachahmungspoesie, von Homer an gerechnet, in bezug auf geistige Tüchtigkeit und die anderen Gegenstände ihrer Darstellung nur nachahmende Schattenbildkünstler sind und die eigentliche Wahrheit nicht erfassen; sondern, um in dem Beispiel von vorhin fortzufahren, der Maler stellt einen Schuhmacher nur zum Scheine hin, ohne daß er selbst etwas von der Schuhmacherei versteht noch die Leute, für die er ihn darstellt, indem diese nur nach den Farben und Umrissen gucken, nicht wahr?“ Platon: Der Staat. [Politeia]. In: derselbe: Sämtliche Werke. Bd. 2. Übers. von Wilhelm S. Teuffel und Wilhelm Wiegand und hrsg. von Erich Löwenthal. Heidelberg: Schneider, 2001. S. 5–408; S. 375. 18 Giovanni Boccaccio: Genealogie deorum gentilium – Liber XIV. S. 119.
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Die mythologischen Dichtungen wörtlich zu nehmen, hieße sie missverstehen, so Boccaccios Argument, da die fictiones nur die Hülle oder den Mantel (velamentum) darstellten, unter der bzw. dem auf einer anderen Ebene die eigentliche Wahrheit verborgen liege. Hinsichtlich des Wahrheitsgehalts stünde die Dichtung der Philosophie in nichts nach. Sie gilt ihm als vollwertige scientia. Nachahmung (Mimesis) betrachtet Boccaccio als festen und nicht zu tadelnden Bestandteil dieser scientia: „Daß die Dichter in dieser Hinsicht Affen sind, will ich zugeben; ich halte es nämlich für eine höchst ehrenvolle Tätigkeit, sich mit der Kunst an dem zu versuchen, was die Natur in ihrer Macht vollbringt.“19 Dichtung und Philosophie unterscheidet demnach nicht der Wahrheitsgehalt ihrer expliziten oder impliziten Inhalte, sondern vielmehr die Methode (im Sinne von μέθοδος – Weg) der Wahrheitsfindung und Erkenntnisdarstellung. Zwei weitere Differenzmerkmale, die Boccaccio nennt, sind die Darstellungsform und die Produktionskontexte. Der Philosoph ist gewohnt, in Prosa zu schreiben mit wenig Rücksicht auf rhetorischen Schmuck, der Dichter in metrischer Form, ein Stil, der durch mit größter Sorgfalt ausgewählten Redeschmuck gekennzeichnet ist. Ferner ist es Sache der Philosophen, an Schule und Universität zu diskutieren, die Aufgabe der Dichter, in der Einsamkeit zu dichten.20
Der Weg zur philosophischen Wahrheit führe über den Scheideweg des formalen Schlusses bzw. Beweises und finde eine dem Syllogismus entsprechende, offene Darstellung. ‚Apertissime, (‚offen‘, ‚offensichtlich‘, ‚offenkundig‘) kann hier als eindeutig sprachlich repräsentierte Darstellung verstanden werden. Der Weg zur dichterischen Wahrheit entspringe auch der Überlegung (meditando concepit), die sich bei großen Dichtern aus einer göttlichen Begabung (divinus animus) speise, in die die fictiones eingehüllt würden und anschließend eine sprachästhetische Formung (Schmuck, Metrik, Stil) erhielten.21 Der Aspekt der Sprachästhetik sollte in Renaissance und Humanismus der engen Bindung von Poetik und Rhetorik Bestand geben. Die Aufwertung der Dichtung als scientia konnte jedoch nur durch die Trennung von res und verba, von Inhalt und Form sowie von allegorischem Gehalt und fiktionaler Hülle plausibilisiert werden. Auch Julius Caesar Scaligers (1484–1558) Sieben Bücher über die Dichtkunst (Poetices libri septem, postum 1561) ruhen auf diesem Fundament, jedoch kommt – anders als in Boccaccios Poetik – der allegorischen Deutung eine nachgeordnete Funktion zu. Scaliger definiert Dichtung hauptsäch|| 19 Giovanni Boccaccio: Genealogie deorum gentilium – Liber XIV. S. 121. 20 Giovanni Boccaccio: Genealogie deorum gentilium – Liber XIV. S. 119. 21 Vgl. Giovanni Boccaccio: Genealogie deorum gentilium – Liber XIV. S. 24.
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lich durch ihren nachahmenden Weltbezug und ihre sprachliche Gestalt, wobei er ein zeittypisches Sprachkonzept zugrunde legt, nach dem Sprache primär ein kommunikationsorientiertes Instrument ist: „Unsere Sprache ist nämlich durchaus etwas wie ein Fährmann.“22 Bemerkenswert ist die Heuristik der Sprachformen, die Scaliger anhand der kommunizierten Inhalte und der mit ihnen verbundenen Kommunikationsfunktionen entwirft. Hierzu differenziert er die Horaz’schen Wirkungen (prodesse und delectare) in eine Trias von menschlichen Dingen aus: „Alle unsere Angelegenheiten beruhen auf der Gattung des Notwendigen oder des Nützlichen oder des Angenehmen.“23 Anschließend ordnet er ihnen soziale Funktionen im Staat (Soldat, Senator und Bürger), sprachliche Ausdrucksformen und entsprechend die Künste Philosophie, Rhetorik und Erzählkunst zu, wobei er die letztgenannte in Dichtung und Geschichtsschreibung nach Aristoteles’ Vorbild binnendifferenziert.24 Er verleiht seiner Heuristik eine historische Dimension, indem er die sprachlichen Funktionen nach ihrer Genese ordnet. Sprache habe zunächst der pragmatischen Kommunikation über das Notwendige gedient (bitten, befehlen, beraten), dann hätte sich die rhetorische Formung (Maß, Gesetz und Form) entwickelt und schließlich sei der unterhaltsame sprachliche Schmuck (Zier und Bekleidung) entstanden. Anders als in den Darstellungen der Sprachentwicklung bei Condillac, Rousseau, Hamann und Herder erscheint hier Dichtung als Endstufe einer sprachgeschichtlichen Entwicklung und nicht als ihr Ursprung. Alle drei Sprachformen und Disziplinen dienen nach Scaliger einem gemeinsamen Ziel, nämlich der Überzeugung des Hörers bzw. Lesers: Ob aber all diese Arten der Rede – die philosophische, die politische, die dramatische – letztlich dasselbe Ziel verfolgen? Ja, so ist es allerdings. Das Ziel ist nämlich bei allen eins und dasselbe, die Überzeugung, da jede Rede, wie wir sagten, über einen Sachverhalt oder über die Gesinnung des Sprechers belehrt. Das Ziel der Belehrung aber ist das Wissen.25
Um Poesie auf einer Stufe mit den artes der Philosophie, Rhetorik und Geschichtsschreibung, stellen zu können, stellt Scaliger sie auf nicht unproblematische Weise unter ein gemeinsames Prinzip (Überzeugung durch Belehrung) und richtet sie auf ein gemeinsames Ziel aus (Wissen und Erkenntnis). Dass
|| 22 Julius C. Scaliger: Poetices libri septem [1561]. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Bd. 1. Übers. und hrsg. von Luc Deitz. Stuttgart: Fromann-Holzboog, 1994. S. 59. 23 Julius C. Scaliger: Poetices libri septem. Bd. 1. S. 58.: „Res omnes nostrae necessarii aut utilis aut delectabilis genere comprehenduntur“. 24 Vgl. Julius C. Scaliger: Poetices libri septem. Bd. 1. S. 46. 25 Julius C. Scaliger: Poetices libri septem. S. 63.
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Philosophie und die in ihr vereinten Wissenschaften primär neues Wissen erschließen und erst sekundär Wissen didaktisch vermitteln, wird hierbei ebenso vernachlässigt wie die Frage, welcher Art das Wissen der Dichtung sei. Anders als Boccaccio begreift Scaliger es nicht als eine verschlüsselte Tiefenschicht unterhalb der fiktionalen Oberfläche, die hermeneutisch erschlossen werden muss. Er verortet das Wissen der Dichtung in ihrer Handlung, was, wie er selbst eingesteht, dem philosophischen Verständnis zuwiderläuft. Er rechtfertigt diese Erweiterung des Wissensbegriffs wie folgt: Doch von Wissen spricht man nicht nur auf eine Weise. Entweder handelt es sich wirklich und uneingeschränkt um Wissen, um eine Überzeugung des Verstandes, die auf einer Schlußfolgerung aus notwendigen Sätzen beruht; oder aber es ist Wissen in einem weniger strengen Sinn, wie wenn wir sagen: „Ich weiß, daß Elissa sich wegen der Abreise des Aeneas das Leben genommen hat.“ Obwohl dies erfunden ist, läßt es dennoch, da es für wahr gilt, im allgemeinen Sprachgebrauch die Bezeichnung ‚Wissen‘ zu. Die Überzeugung einerseits besteht darin, daß der Verstand der Rede zustimmt. Die Form der Überzeugung ist die Wahrheit – eine unumstößliche oder eine zweifelhafte. Ihr Ziel ist der Erfolg einer Einsicht oder einer praktischen Handlung. Die Wahrheit ihrerseits besteht in der Übereinstimmung von Rede [verba] und Sache [res].26
Scaliger kann fiktionalen Dichtungen eine Form des Wissens zusprechen, indem er Wahrheit sprachtheoretisch als Korrespondenz von res und verba konzipiert. Möglich ist dies nur, da unter die res nach traditionellem rhetorischem Verständnis auch mentale Gehalte, Vorstellungen, Begriffe usw. subsumiert wurden, so dass auch fiktive Figuren und Handlungen zu ihnen gerechnet wurden. Diese Undifferenziertheit der res stellt allerdings ein Problem für Scaligers Fiktionalitätskonzept und damit für das Wissen von Dichtung dar, denn anders als philosophische oder rhetorische verba, die mentale Gehalte repräsentieren und gleichzeitig auf reale Gegenstände referieren, ist ein Wirklichkeitsbezug fiktionaler Aussagen nicht gegeben. Scaliger versucht sich aus dem argumentativen Dilemma durch einen rhetorischen Kunstgriff zu retten, indem er exemplarisch an der Aeneis zu zeigen versucht, wie auch Dichtung eine Realitätskopplung, d.h. eine Korrespondenz von res und verba aufweisen kann. Nach Scaliger liege eine solche Korrespondenz in dem Satz ‚Ich weiß, daß Elissa sich wegen der Abreise des Aeneas das Leben genommen hat‘ vor. Der mit der Aeneis vertraute Zeitgenosse wusste natürlich, dass Vergil die Abreise des Aeneas als Grund für Elissas Suizid nennt. Die Wahrheit des von Scaliger angeführten Satzes kann jedoch nur dann als propositionale Aussage aufgefasst werden, wenn sie in
|| 26 Julius C. Scaliger: Poetices libri septem. S. 63.
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Bezug zur Diegese und nicht zur historischen Wirklichkeit gesetzt wird.27 Der Unterschied des Wahrheitsgehaltes propositionaler und fiktionaler Aussagen erweist sich – und das übergeht Scaliger stillschweigend – als ein kategorialer und nicht als ein gradueller Unterschied. Nur indem er diesen Unterschied verschleiert, kann er Philosophie und Dichtung gleichermaßen dem Prinzip von Wissen und Erkenntnis unterstellen. Scaliger kommt erneut bei der Differenzierung von Geschichtsschreibung und Dichtung auf die fiktiven Gehalte fiktionaler Erzählungen zurück, wobei er sich erkennbar an Aristoteles’ Poetik zu orientieren versucht: Obwohl nun aber beide [Geschichtsschreibung und Dichtung, M.I.] […] gleichermaßen die Funktion des Erzählens erfüllten, geschah es dennoch, daß man nur der erstgenannten Art den Namen Historie gab, da sie zur Darstellung dessen, was geschehen ist, nur jener einfachen Sprachform bedurfte. Die zweite dagegen nannte man Dichtung, da sie durch Wörter nicht nur die Dinge wiedergab, die vorhanden waren, sondern auch die, die nicht vorhanden waren, als ob sie es seien, und da sie auch vergegenwärtigte, wie sie sein könnten oder müßten. Deshalb ging die Dichtung ganz in der Nachahmung auf.28
Diese Stelle konterkariert die Charakterisierung des durch dichterische Erzählungen vermittelten Wissens, die Scaliger mit dem Aeneis-Beispiel gibt, denn es spielt nach Aristoteles gar keine Rolle, ob die fiktionale Darstellung mit einer historischen Wahrheit korrespondiert. Wichtig ist nur, dass ihre propositionalen Gehalte unter gewissen Bedingungen wahr sein könnten. Nicht die sprachlichen Repräsentationen, also die verba, sind dem Kriterium der Möglichkeit und Notwendigkeit unterworfen, sondern die res (verstanden als die Diegese und die Handlung der Dichtung) müssen als möglich gedacht werden können. Scaligers Beispielsatz müsste dann wie folgt reformuliert werden: ‚Ich weiß, dass die Tatsache, dass X sich wegen der Abreise des Y das Leben genommen hat, nicht der Fall ist, aber der Fall sein könnte‘. Scaliger grenzt stillschweigend gerade jene Formen wahrer fiktionaler Aussagen aus dem Bereich der Dichtung aus, die er zuvor im Aeneis-Beispiel als ihr Muster skizziert hat. Diese Diskrepanz zwischen den beiden Passagen der Poetices libri septem entsteht dadurch, dass Scaliger offenbar zunächst die Würde und Bedeutung der Dichtung rehabilitieren möchte, indem er sie gleichrangig mit Philosophie und Rhetorik unter dem
|| 27 Die Aussage ‚Ich weiß‘ meint also nicht ‚Ich weiß, dass die Tatsache, dass Elissa sich wegen der Abreise des Aeneas das Leben genommen hat, der Fall ist‘, sondern ist im Sinne von ‚Ich weiß, dass die Tatsache der Fall ist, dass Elissa sich wegen der Abreise des Aeneas das Leben genommen hat, vom Erzähler der Aeneis erzählt wird‘ zu verstehen. 28 Julius C. Scaliger: Poetices libri septem. S. 61.
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Dach des Wissens platziert und sie so – ganz ähnlich wie Boccaccio – als Bestandteil der artes inthronisiert. Wo er jedoch ihre Eigenständigkeit gegenüber den anderen Disziplinen konzipiert, fällt er hinter seine eigene Argumentation zurück und legt der Dichtung nicht mehr ein tatsächliches Korrespondenzprinzip von res und verba zugrunde, das zuvor die Rede vom Wissen der Dichtung legitimiert hatte, sondern stützt sich auf Aristoteles’ Konzept des Möglichen und Notwendigen. Wie wichtig es Scaliger ist, den Wert der Dichtung zu betonen, wird außerdem durch eine semantische Zuspitzung deutlich, die er bei der Charakterisierung der dichterischen Funktion vornimmt: „Der Dichter belehrt nämlich auch, und unterhält nicht nur, wie manche meinten […].“29 Scaliger verwendet hier nicht das von Horaz gebrauchte ‚prodesse‘, sondern den Neologismus ‚doctio‘.30 Damit wird indirekt der Funktionsradius von Dichtung über den Bereich des moralisch Hilfreichen hinaus auf den Bereich der Wissensvermittlung und Bildung im Sinne einer ars unterstrichen.31 Das bei Boccaccio und Scaliger erkennbare Bemühen, Dichtung mit Blick auf die Aspekte Wissen und Erkenntnis gegenüber ihrer mittelalterlichen Abwertung zu rehabilitieren, ist auch in folgenden Jahrhunderten noch zu beobachten. Sprechend ist beispielsweise der Titel von Philip Sidneys (1554–1586) An Apology for Poetry (postum 1595). Sidney betont besonders den didaktischen
|| 29 Julius C. Scaliger: Poetices libri septem. S. 61. 30 Der Übersetzer von Scaligers Poetik, Luc Deitz, merkt zu dem Wort ‚doctio‘ in einer Fußnote an: „[D]ie doctio – das Wort ist offenbar eine Neubildung Scaligers – besteht sowohl in der sittlich–moralischen als auch in der intellektuellen Belehrung.“ Julius C. Scaliger: Poetices libri septem. S. 48. 31 Der Neologismus doctio kann dem Wortfeld um das lateinische Verb docere zugeordnet werden und befindet sich dadurch in semantischer Nähe zu doctrina und disciplina. Eine derartige Verbindung ist bezeichnend, wenn man den Bedeutungshorizont von doctrina oder disciplina betrachtet: „Wie der korrespondierende Terminus doctrina gehört disciplina in das Wortfeld von Unterweisung, Schule (vgl. doctor – discipulus). Seine antike etymologische Herleitung aus discere ist unzutreffend, zutreffend ist die Herleitung von doctrina aus docere. Das in der Antike entfaltete Bedeutungsspektrum der beiden zum Sprachbereich der gesamten Latinität gehörenden Termini bleibt in seinem Grundbestand gleich und erfährt in Spätantike und Mittelalter zusätzliche Erweiterungen; der Grundbestand ist reduzierbar auf die drei Hauptbedeutungen Vorgang, Inhalt, Ergebnis einer Ausbildung, die primär Wissen vermittelt. Im Rahmen der hier in erster Linie zu betrachtenden zweiten Hauptbedeutungen dienen beide Termini seit Cicero, synonym mit ars, zur Bezeichnung des von den Griechen übernommenen Bildungskanons im ganzen.“ Gabriel Jüssen und Gangolf Schrimpf: Disciplina, doctrina. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 2. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. Basel: Schwabe, 1972. S. 256–261; S. 256.
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Wert von Dichtung, durch den auch er die Poesie in den Stand einer der Philosophie ebenbürtigen Kunst erhoben sieht: For the question is, whether the feigned image of Poetry, or the regular instruction of Philosophy, hath the more force in teaching. Wherein, if the Philosophers have more rightly shewed themselves Philosophers, than the Poets have attained the high top of their profession. [...] It is, I say again, not the fault of the art, but that by few men that art can be accomplished.“32
Im Jahr 1578 unterteilt Giacomo Zabarella (1533–1589) in Opera logica die Logik in einen allgemeinen und einen besonderen Teil. Zu dem besonderen Teil der Logik zählt er bemerkenswerterweise auch Rhetorik und Poetik. Allerdings trennt er sie strikt von den drei Disziplinen der Dialektik, der Sophistik und der ars demonstrativa. Rhetorik und Poetik könnten, so Zabarella, nur bedingt als ein Werkzeug der Philosophie gelten, da ihre Belehrung ausschließlich moralischer Natur sei.33 Volkhard Wels weist darauf hin, dass man Zarbarella hier aufmerksam lesen müsse, da er genau zwischen Poetik und Poesie trenne, so daß nicht die Dichtung selbst, die nur eine Anwendung von Regeln ist, ein Teil der Logik (und damit Teil einer wissenschaftlichen Disziplin) sein kann, sondern nur die Poetik. In genau demselben Sinne sei die Dichtung auch nicht ein Teil der Rhetorik, nur weil sie sich […] rhetorischer Formen bediene. Nicht durch die Nachahmung logischer Formen werde die Dichtung zu einem Teil der Logik, sondern indem sie selbst, als ganze, Ausdruck einer argumentativen Absicht sei, und zwar in exemplarischer Form […].34
Zwar bediene auch die Rhetorik sich der exempla, aber die Dichtung verwende ausschließlich exempla und keine enthymemata wie die Rhetorik. Zudem erschienen die exempla in der Dichtung sinnlich und anschaulich, d.h. im Rezipienten entstünde ein visuelles Bild, während die Rhetorik auf die sprachliche
|| 32 Philip Sidney: The Defence of Poesy. Glasgow: Urie, 1752 [1595]. S. 32f. 33 Vgl. Giacomo Zabarella: Opera Logica. Coloniae: Zetznerus, 1597. 71f. und Volkhard Wels: Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit. Berlin, New York: De Gruyter, 2009. S. 35f. 34 Volkhard Wels: Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit. S. 36. Die hier von Wels übersetzte Stelle lautet im Original: „Poetica vero quum omisso instrumento praetipuo usum alterius doceat, exigua & obscura logicae pars est: nam dimisso enthymemate, tota in usu exempli tradendo occupatur: non equidem illa exempla intelligo, quae ab interlocutoribus proferutur, possunt quippe etiam enthymemata dicere, de quibus nulla praecepta in Poetica arte traduntur: sed hominum mores, & affectiones, & actiones, quae in poematibus introducutus, exempla sunt, quae imitanda, vel euitanda spectatoribus proponuntur, ficta quidem a poetis, tamen apta ad mores hominum corrigendos.“ Giacomo Zabarella: Opera Logica. S. 95.
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Form beschränkt bleibe. Nach Wels’ Interpretation liegt der exemplum-Dichtung Zabarellas eine induktive Struktur zugrunde: Mit dem exemplum als Gegenstand der Poetik bediene sich die Dichtung einer Kurzform der Induktion, wobei der Grund für die Verkürzung darin bestehe, daß beim Zuhörer eine Handlung hervorgerufen werden solle. Während die vollständige Induktion aus den Einzelfällen auf die allgemeine Regel schließt, geht das exemplum noch einen Schritt weiter und schließt von dieser allgemeinen Regel wieder auf einen Einzelfall zurück. [...] Die ganze Dichtung stelle deshalb die Prämissen eines exemplum dar, aus denen der Zuhörer oder Zuschauer eine Schlußfolgerung für sein eigenes Verhalten ziehen müsse.35
Da Zabarella das rhetorische exemplum in der Dichtung verwirklicht sieht, ordnet er sie als ‚dunklen‘, ‚unklaren‘ und ‚unbedeutenden‘ Teil der Logik zu („Poetica […] exigua & obscura logicae pars est“36). Mit Blick auf die moralische Ausrichtung fordert er zudem eine neue Heuristik der Künste und schlägt vor, künftig Rhetorik und Poetik aus dem Organon auszugliedern und der Moralphilosophie unterzuordnen.37 Zabarellas Überlegungen einer Neuordnung der kanonischen artes ist symptomatisch für seine Zeit. Mit der klaren Abkehr von der mittelalterlichen Scholastik in Renaissance und Humanismus trat die Rhetorik, wie bereits erläutert (vgl. Kap. III.3), zunächst an die Stelle der scholastischen Dialektik. Poetik, Geschichtsschreibung und Moralphilosophie wurden neu neben die Fächer des Triviums gestellt, so dass sie zusammen einen Kreis von fünf studia humanitatis bildeten: Grammatik, Rhetorik, Geschichte, Dichtkunst und Moralphilosophie.38 Das brachte einerseits eine Aufwertung der Poetik, andererseits eine Abwertung naturwissenschaftlicher Forschung mit sich. Es ist bezeichnend, dass die naturwissenschaftlichen und technischen Innovationen der Renaissance fernab der Universitäten in den Werkstätten Italiens entwickelt wurden. Die treibenden Kräfte der Forschung und Entwicklung waren nicht Akademien und Gelehrte, sondern die Handwerker und Tüftler des Festungsbaus, des Kriegswesens und der Seefahrt – kurz: Vertreter der artes mechanicae. Erst später wurde das praktische Wissen der Werkstätten mit dem theoretisch-mathematischen Wissen der
|| 35 Volkhard Wels: Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit. S. 37. 36 Giacomo Zabarella: Opera Logica. S. 95. 37 Vgl. Volkhard Wels: Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit. S. 38. 38 Einen Überblick über den Fächerkanon gibt Gunter E. Grimm: Letternkultur. Wissenschaftskritik und antigelehrtes Dichten in Deutschland von der Renaissance bis zum Sturm und Drang. Tübingen: Niemeyer, 1998. S. 11–65.
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Universitäten verschränkt.39 Bei Forschern wie Leonardo da Vinci und Galileo Galilei entwickelte sich ein handwerkliches Selbstbewusstsein (Gunter Grimm spricht von einem „Sonderbewußtsein“40), das sich aus der Gewissheit speiste, dass für Erkenntnis und Wissenschaft die Beobachtung, die Erfahrung, das Experimentieren und das Entwickeln bedeutender waren als das Studium der artes in den Akademien und Universitäten. Sie begründeten gewissermaßen ein „Gegenmodell“41 von Wissenschaftlichkeit, Erkenntnis und in letzter Konsequenz auch von Rationalität, in dem Rhetorik und Dichtung keinen Platz mehr fanden (vgl. Kap. III.4). Während die Dichtung in der Renaissance einerseits durch ihre Aufnahme in den Kreis der studia humanitatis eine enorme Aufwertung erfuhr, wurde ihr Status als Erkenntnis generierende und vermittelnde Kunst seitens der praktischen und empirischen Naturforscher stark relativiert. Die Instanzen, die Dichtung zu scientiae und Dichter zu philosophis nobilitiert hatten, besaßen für die naturwissenschaftliche Forschung nur eine sehr eingeschränkte Autorität: Die humanistische Auffassung von Homer als dem „Ozean alles Wissens“ (Poliziano) oder von Vergil als dem Muster aller Naturnachahmung (Scaliger) gehörte mit der Einsetzung von Empirie und Mathematik als Wissenschaftsmethode ebenso wie die scholastische Disputation zu den überholten Positionen, die auf Autorität statt auf Erfahrung und Vernunft basierten. Galileis Modell einer Trennung wandte sich auch gegen die aristotelische Komponente der Rhetorik (Wahrheitsvermittlung) als Wissenschaftsmethode. Dagegen begünstigte die Trennung die (quintilianische) Komponente der Affekterregung: movere bleibt aus naturwissenschaftlicher Perspektive ein legitimes Reservat von Poesie und Rhetorik; docere jedoch nur im Sinne einer Wissensvermittlung, nicht eines Erkenntnisgewinns. 42
Es lässt sich also festhalten, dass der Zeitraum vom 14. bis zum 16. Jahrhundert durch eine Aufwertung der Dichtung und durch eine Konsolidierung ihres Verhältnisses zur Philosophie geprägt war. Ziel war es, Dichtung und Poesie in den erweiterten Kanon der septem artes aufzunehmen und so neben Rhetorik und Grammatik zu einer Teildisziplin der Philosophie zu erheben. Mit Boccaccios Genealogie und Scaligers Poetices libri septem wurden exemplarisch zwei Strategien dieser Konsolidierungsbemühungen betrachtet. In deren Zentrum stand die These, dass Dichtungen genauso Wahrheit, Wissen und Erkenntnis vermit-
|| 39 Vgl. Wilhelm Kamlah: Die Wurzeln neuzeitlicher Wissenschaften und Profanität. Wuppertal: Abendland, 1948. S. 16. 40 Gunter E. Grimm: Letternkultur. S. 25. 41 Gunter E. Grimm: Letternkultur. S. 25. 42 Gunter E. Grimm: Letternkultur. S. 33.
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teln könnten wie philosophische Abhandlungen. Wesentliche Argumente waren erstens Aristoteles’ Postulat, die Poesie sei ‚philosophischer‘ als die Geschichtsschreibung, und zweitens die antike Dichotomie von res und verba. Durch diese Konzentration auf Inhalte spielten Sprachlichkeit und Sprachform nur eine Nebenrolle. Die Bemühungen um eine Konsolidierung des Verhältnisses von Dichtung und Philosophie fanden mit der Aufnahme der Poesie in den universitären Kanon der studia humanitatis ein erfolgreiches Ende. Auch wenn mit diesem Erfolg die Dichtkunst als rehabilitiert galt, war für die künftige Verhältnisbestimmung von Dichtung und Wissenschaften wenig gewonnen, denn zeitgleich entstanden in Physik und Mathematik völlig neue Fach- und Forschungsbereiche jenseits des humanistischen Fächerkanons und es waren eben diese neuen Formen der Wissenschaft, die in den folgenden Jahrhunderten das Verständnis von Erkenntnis, Wissen und Rationalität nachhaltig prägen sollten. Die Wissenschaftsrevolutionen des 17. Jahrhunderts fanden gerade nicht in den studia humanitatis, sondern in der Mechanik, der Optik, der Algebra, der Analysis, der Logik usw. statt (vgl. Teil III). Vielleicht war es die alte Geringschätzung der artes mechanicae, die dazu führte, dass die enormen Leistungen der ‚neuen Wissenschaften‘ vor allem bei Dichtern lange Zeit nicht entsprechend gewürdigt wurden. So griff man in der Poetik dort, wo Dichtung und Wissenschaften in den poetologisch-ästhetischen Reflexionen in Bezug zueinander gesetzt wurden, auf die tradierten Argumentationsmuster der Renaissance zurück und ignorierte, dass es sich hierbei um Anachronismen handelte. Erst in der Querelle des Anciens et des Modernes realisierten viele Autoren, dass die bereits in der Renaissance problematisch gewordene Strategie, Dichtung und artes bzw. studia humanitatis als ebenbürtige Erkenntnis- und Wissensdiskurse darzustellen, ihre Tragfähigkeit verloren hatte. Es musste eine neue Strategie der diskursiven Verhältnisbestimmung entwickelt werden.
1.2 Verhältnisbestimmung durch Analogien und Differenzen Da die ersten deutschsprachigen Barockpoetiken Adaptionen lateinischer Renaissancepoetiken waren, findet sich meist auch in ihnen das Konzept eines geschlossenen Fächerkanons wieder. Auch sie stellten die Dichtkunst ausschließlich in ein Verhältnis zu den artes liberales bzw. zu den anderen Disziplinen der studia humanitatis und ließen dabei die Relationen zu den neuen Bereichen in Naturwissenschaft und Mathematik unberücksichtigt. Martin Opitz (1597–1639) verweist in seinem Buch von der deutschen Poetery (1624) explizit auf Boccaccios Genealogie und Scaligers Poetices libri septem. Wie Boccaccio beginnt Opitz mit einer Rechtfertigung der antiken mythischen
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Dichtungen und verteidigt sie als erste, verborgene Theologie und Philosophie, die im allegorischen Gewand zeitlose Wahrheiten präsentiere. Auch er folgt hierbei der Trennung von res und verba und vergleicht diese mit der Dualität von „Cörper“ und „Seele“43. Opitz erklärt die heidnisch-mythische Fiktionalität der ‚alten Fabeln‘ dadurch, dass die ersten Dichter dem unverständigen Volk Gottes „unbegreiffliches Wesen“44 nur verhüllt in mythische Erfindungen darstellen konnten. Er greift zwar Boccaccios Argumentation auf, gebraucht sie aber nicht, um Dichtung in ihrem Wahrheitsgehalt als der Philosophie gleichwertigen Erkenntnisdiskurs darzustellen. Das Argument der allegorisch verhüllten Weisheit dient ihm vielmehr dazu, den Ursprung und die Genese der Poesie anthropologisch zu erläutern. Wenn Opitz auf das aristotelische Mimesis-Prinzip Bezug nimmt, interpretiert er es – wie zuvor Scaliger – als Mittel der Überredung, Unterrichtung und Belehrung: [U]nd soll man auch wissen, das die gantze Poeterey im nachäffen der Natur bestehe und die dinge nicht so sehr beschreibe wie sie sein als wie sie etwan sein köndten oder sollten. […] Dienet also dieses alles zue uberredung und unterrichtung auch ergetzung der Leute; welcher der Poeterey vornemster zweck ist.45
Vor diesem Hintergrund erscheint ihm auch der Vorwurf ungerechtfertigt, der Poet würde „die andern künste und wissenschafften von welchen man recht nutz und ehren schöpffen kann gemeiniglich hindan setze[n]“46. Mit Verweis auf Homer, Platon, Parmenides und andere Autoritäten der antiken Dichtung zeichnet er das Ideal eines gelehrten Dichters: Wer ein „getichte von [der] beschreibung der Welt […] und […] [der] natur der dinge“47 verfassen möchte, sollte demnach auch in den anderen Künste verständig sein, sowohl in den septem artes liberales als auch in artes mechanicae. In diesem Sinne kann Opitz erklären, dass die Dichtkunst alle anderen Künste umfasst: „So ist auch ferner nichts närrischer als wann sie meinen die Poeterey bestehe bloß in ihr selber; die doch alle andere künste und wissenschaften in sich helt.“48 Das an den artes entwickelte Konzept der gelehrten Barockdichtung, sorgte für eine bis ins 18. Jahrhundert prägende Trennung von Kunstpoesie und Volksdichtung:
|| 43 Martin Opitz: Buch von der deutschen Poetery. In: derselbe: Gesammelte Werke. Bd. 2.1. Hrsg. von George Schulz-Behrend. Stuttgart: Hiersemann, 1978. S. 331–416; S. 348. 44 Martin Opitz: Buch von der deutschen Poetery. S. 344. 45 Martin Opitz: Buch von der deutschen Poetery. S. 350. 46 Martin Opitz: Buch von der deutschen Poetery. S. 346. 47 Martin Opitz: Buch von der deutschen Poetery. S. 348. 48 Martin Opitz: Buch von der deutschen Poetery. S. 347.
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Die deutsche Literaturproduktion spaltet sich in die zwei feindlichen Lager der gelehrten, für die Kenner bestimmten Kunstpoesie und der volkstümlichen Dichtung, die zwischen programmatisch-satirischer Opposition und reaktionärer Propagierung altdeutscher Ideale schwankt und erst in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts einen neuen Aufschwung erlebt.49
Die Trennung war auch für die diskursive Formation von Dichtung und Wissenschaften bedeutsam, denn immer dort, wo in den folgenden 150 Jahren Dichtung als souveräner Diskurs neben Physik, Mathematik, Logik und anderen Disziplinen etabliert wurde, hatte man hierbei ausschließlich die Kunstpoesie im Blick. Die Rückbesinnung auf die volkstümliche Dichtung etwa bei Herder oder später in der Romantik muss in diesem Kontext programmatisch erscheinen. Gerade in der natürlichen Poesie und ihrer ungekünstelten Sprache meinte man die Reste jener ursprünglichen poetischen Sprachen zu finden, die es erlaubten, Dichtung als einen autonomen oder gar absoluten Diskurs zu begreifen, der die Wirklichkeitserkenntnis und -deutung der Wissenschaften zu transzendieren vermochte (vgl. Kap. IV.2.2). Im Barock bezog sich das Konzept der gelehrten Kunstpoesie jedoch noch auf Realienwissen und auf das Auffinden von Illustrationen, Metaphern und Gleichnissen. Der funktionalisierte Bezug auf die artes gründet, wie Gunter Grimm konstatiert, nicht in einem Interesse an wissenschaftlichem Fortschritt: Die Stagnation der Dichtung wie der Wissenschaft und beider Absinken zum ‚Gebrauchtwarenlager‘ sind unausweichliche Konsequenz technischer ‚Finde-Kunst‘, die den erreichten Wissensstand festschreibt und ihn in ein Arsenal beliebig abrufbarer Formeln überführt.50
Erst mit Descartes begann eine neue Ausrichtung der Poesie und Poetik – zunächst in Frankreich später auch im deutschsprachigen Raum. So wendet beispielsweise Nicolas Boileau (1636–1711) Descartes’ Rationalismus in seinem Lehrgedicht L’Art poétique (1674) poetologisch. Gleich im ersten Abschnitt entwirft Boileau eine dem rationalistischen Sprachverständnis korrespondierende, sachhaltig motivierte Korrespondenz von Inhalt und Form des Gedichts: Sei es, daß man einen komischen, sei es, daß man einen erhabenen Stoff behandele – immer muß der Sinn mit den Reimen übereinstimmen. Nur scheinbar liegt der Sinn mit dem Reim im Widerstreit, denn der Reim ist ein Sklave und hat zu gehorchen. […] [M]ühelos unterwirft er sich dem Verstand und – weit entfernt, ihn zu behindern – dient
|| 49 Gunter E. Grimm: Letternkultur. S. 247. 50 Gunter E. Grimm: Letternkultur. S. 249.
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er ihm und schmückt ihn aus. Wenn man ihn allerdings vernachlässigt, dann begehrt er auf, und der Sinn muß ihm nachlaufen, um ihn einzuholen. Haltet euch also an die Vernunft! Sie allein verleiht an euren Werken Glanz und Ruhm.51
Mit der Parole ‚aimés donc la raison!‘ relativiert Boileau einerseits die Rolle „sinnloser Begeisterung“52, also die auf Platon und Cicero zurückgehende Vorstellung eines furor poeticus, andererseits richtet er die Dichtung neu an der menschlichen Vernunftfähigkeit aus. Beide Aspekte haben Konsequenzen für den poetischen Sprachgebrauch: „[S]eid schlicht,“ fordert Boileau, „aber doch kunstvoll, erhaben ohne Dünkel und anmutig ohne Schminke!“53 Eine vernünftige Dichtung folge dem maßvollen Weg der Mitte, der zwischen den Extremen der Derbheit volkstümlicher Dichtungen und der Manieriertheit barocker Kunstpoesie verlaufe.54 Aus Vernunftgründen lehnt Boileau ebenso den barocken Umgang mit antiken Vorbildern ab. Zwar empfiehlt auch er das Studium der alten Dichter mit Blick auf die handwerkliche Schulung angehender Poeten, doch inthronisiert er die Vernunft als letzte Instanz, die das Übertreten tradierter Regeln und Normen erlauben könne.55 Unangetastet bleiben die von Horaz formulierten Wirkungen der Literatur, auch wenn Boileau das Angenehme und Unterhaltende auf neue Art und Weise in den Dienst des Nützlichen stellt: Dichter hört auf meine Worte! Wollt ihr, daß eure phantasievollen Dichtungen allseits geliebt werden? Dann müßt ihr in euren gelehrten Abhandlungen [savantes leçons] das Angenehme [plaisant] mit dem Gediegenen und Nützlichen [le solide & l’utile] verbinden. Der erfahrene Leser wendet sich ab von unnützen Vergnügen, denn er will aus der Zerstreuung Nutzen ziehen.“56
Das Wesensmerkmal einer gelehrten Dichtung ist für Boileau die Wahrheit, allerdings nicht im Sinne eines philosophischen Wissens, wie es Boccaccio oder Scaliger entworfen hatten, sondern im Sinne einer erbaulichen, nützlichen und wahrhaftigen Wirkung. Die Vernunft ist hierbei die zentrale Fähigkeit in Produktion wie Rezeption, denn es ist die Vernunft, die es dem Dichter ermöglicht, eine Wahrheit in seine Dichtungen zu legen, und es ist die Vernunft, die es dem Leser ermöglicht, diese Wahrheit wieder zu entschlüsseln.
|| 51 Nicolas Boileau [Despréaux]: L’Art poétique [1674]. Die Dichtkunst. Übers. von Ute Arnold. Stuttgart: Reclam, 1967. S. 7. 52 Nicolas Boileau: L’Art poétique. S. 7. 53 Nicolas Boileau: L’Art poétique. S. 11. 54 Vgl. Nicolas Boileau: L’Art poétique. S. 24. 55 Vgl. Nicolas Boileau: L’Art poétique. S. 71. 56 Nicolas Boileau: L’Art poétique. S. 72.
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Boileaus Konterpart in der Querelle des Anciens et des Modernes war Charles Perrault (1628–1703). In seiner Abhandlung Le cabinet des beaux artes (1690) grenzt er, wie Robert Jauß festhält, die schönen Künste deutlich von den artes liberales ab: Eine so klare Scheidung zwischen Künsten und Wissenschaften, die in einer ungebrochen von der Antike durch das Mittelalter bis über die Renaissance hinaus bestehenden Bildungstradition fehlte oder gar nicht gesucht wurde, ist [...] als Ergebnis des systematischen Vergleichs zwischen antiker und moderner Kultur anzusehen, wie er erst in der französischen Querelle von Perrault ausgeführt wurde.57
Mit den vierbändig erschienenen Dialogen Parallèles des anciens et des modernes (Vergleich zwischen den Alten und den Modernen, 1688, 1690, 1692, 1697) trat er gegen das Paradigma der imitatio veteris mit dem Argument an, dass die Moderne in Wissen, Kenntnissen und Fähigkeiten der Antike generell weit überlegen sei. Das Lager der Modernes verstand – anders als das gegnerische Lager –, die revolutionären Entwicklungen in den artes mechanicae und in den ‚neuen‘ Naturwissenschaften für ihre Argumentation fruchtbar zu machen. Paradigmatisch zeigt sich für Perrault der Fortschritt in der Entwicklung komplexer Maschinen. Ebenso bemüht ist er, auch den Fortschritt der Dichtung zu erweisen. So deklassiert der Abbé, Perraults Vertreterfigur der Modernes, im ersten Dialog die antiken technischen ‚Erfindungen‘ wie Dach, Boot, Webstuhl etc. („cette gloire de la premiere invention n’est pas si grande qu’on se l’imagine“), weil sie letztlich nur Nachahmungen von wesentlich genialeren („plus ingenieuse“) Strukturen und Phänomenen in der Natur gewesen seien.58 Dagegen lobt der Abbé die planmäßige, auf naturwissenschaftlichen Kenntnissen beruhende Erfindung einer Maschine zur Herstellung von Strümpfen („la plus excellente machine“), die viele Arbeitsschritte („mille operations“) blind und schnell ausführen könne.59 In den Dialogen ist Perrault bemüht, die technische inventio aus der traditionellen, antiken Verknüpfung mit der imitatio naturae zu befreien und so auch die poetisch-rhetorische inventio von der Bindung an die imitatio veteris zu emanzipieren.60 „Doch liess [sic!] sich“, kommentiert Sabine Klein, || 57 Vgl. Robert Jauß: Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der ‚Querelle des Anciens et des Modernes‘. In: Charles Perrault: Parallèles des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences. Hrsg. von Max Imdahl u.a. München: Eidos, 1964. S. 8–64; S. 43. 58 Charles Perrault: Parallèles des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences. 4 Bde. Hrsg. von Max Imdahl u.a. München: Eidos, 1964 [1688, 1690, 1692, 1697]. S. 120 [Bd. 1. S. 75f.]. 59 Charles Perrault: Parallèles des anciens et des modernes. S. 120 [Bd. 1. S. 76f.]. 60 Vgl. Robert Jauß: Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion. S. 50.
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dieser Vorsatz nur teilweise durchführen. Zu begründen vermochte Perrault das Gesetz des Fortschritts wohl für die Wissenschaften und die mechanischen Künste, nicht aber für die ‚schönen‘ Künste: Im Ergebnis von Perraults Parallèles laufen erstmals eine rationalistische (technische) und eine ästhetische Moderne systematisch auseinander.61
Der Streit um die Vorbildlichkeit der Antike und die Fortschrittlichkeit der Moderne hatte sich ohnehin wenige Jahrzehnte später mehr oder minder erübrigt.62 Für die Verhältnisbestimmung von Wissenschaften und Dichtung ist jedoch bedeutsam, dass erst durch die Querelle überhaupt die Tatsache ins Blickfeld vieler Dichter gerückt wurde, dass sich seit Längerem eine tiefe Kluft zwischen dem naturwissenschaftlichen, mathematischen und technischen Erkenntnisstand und der Entwicklungsstufe der Dichtung eröffnet hatte. Die von Boccaccio, Scaliger und anderen Vertretern der Renaissance entwickelte Argumentationsstrategie der Konsolidierung, in deren Zentrum die Begriffe ‚Wahrheit‘, ‚Wissen‘ und ‚Erkenntnis‘ standen, ließen sich mit Blick auf die konkreten technischen Innovationen von Maschinen und Konstruktionen nicht ohne weiteres übertragen. Es erschien unmöglich, Dichtung und all die anderen Künste zusammen mit den ‚neuen‘ Wissenschaften unter ein gemeinsames Prinzip zu subsumieren. Die Unterschiede zwischen den beaux artes und den sciences waren inzwischen zu groß geworden.63 Erst jetzt wurde die Dringlichkeit und die Notwendigkeit bewusst, dass das Verhältnis der „gerade erst für eigenständig ausgemachten ‚schönen Künste‘“64 zu den mathematischen, naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen neu zu klären war. Es galt das Wesen, die Funktionen und Ziele einer zeitgemäßen Dichtung zu bestimmen. Einen solchen Versuch der grundlegenden Neubestimmung der Dichtung nimmt Jean-Baptiste Dubos (1670–1742) in Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture (Kritische Betrachtungen über die Poesie und Mahlerey, 1719) vor. Er betont hierbei die affektiven und emotiven Aspekte der beaux artes: „Die beyden Künste der Poesie und Mahlerey erhalten niemals mehr Beyfall, als wenn es ihnen gelingt, schmerzhafte Empfindungen in uns zu erregen“, eine „Gemüthsbewegung, welche von Natur [aus] ganz maschinenmäßig in uns ent-
|| 61 Sabine Kleine: Mimesis und Imagination. In: Die Wende von der Aufklärung zur Romantik 1760–1820. Epoche im Überblick. Hrsg. von Horst Glaser und György Vajda. Amsterdam: Benjamin, 2001. S. 443–460; S. 445. 62 Vgl. Robert Jauß: Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion. S. 9. 63 Vgl. Robert Jauß: Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion. S. 43f. 64 Sabine Kleine: Mimesis und Imagination. S. 445.
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steht“.65 Als anthropologische Grundlage dieses ‚Mechanismus‘ gelten Dubos die natürliche Sympathie- und Empathiefähigkeit des menschlichen Herzens. Seine Annahme ist, dass die Nachahmung rührender Gegenstände und Ereignisse den Menschen ebenso affizieren können wie die Gegenstände und Ereignisse selbst. Für Gemälde und Zeichnungen plausibilisiert er diese Wirkung durch die Ähnlichkeit der nachahmenden Abbildung. In Dichtungen, die ja arbiträre Sprachzeichen verwendeten, werde dieselbe Wirkung durch einen poetischen Stil erreicht, der auf einer sprachlichen Bildlichkeit beruhe: Die Poesie des Styls besteht darinn [sic!], daß man allen Dingen, die man redend einführt, interessante Sentiments beylegt, und dasjenige figürlich ausdrückt, und in rührenden Bildern darstellt, was nicht fähig seyn würde, uns zu rühren, wenn es schlechthin im prosaischen Style gesagt wäre. Diese ersten Ideen, welche in der Seele entstehen, wenn sie lebhaft gerührt wird, und die man gemeiniglich Sentiments nennt, rühren allemal, wenn sie auch mit simpelsten Worten ausgedrückt werden. Sie reden die Sprache des Herzens.66
Die Affektion durch poetische Nachahmungen sei allerdings weniger ‚tiefgehend‘. Grund hierfür sei, dass das menschliche Herz zwar durch Fiktionen ebenfalls berührt werde, die Vernunft aber die Nachahmung als nicht real erkenne und so die Wirkung selbst negativer Affekte in etwas Angenehmes verwandelt würde: Weil aber der Eindruck, welchen die Nachahmung verursacht, nicht so tief geht, als der Eindruck, den der Gegenstand selbst gemacht haben würde; weil er nicht ernstlich ist, da er sich nicht bis auf die Vernunft erstreckt, die sich in dergleichen sinnlichen Empfindungen nicht hintergehen läßt [...] weil endlich dieser Eindruck nur den sinnlichen Theil der Seele lebhaft rührt, so verlischt er auch bald wieder.67
Das Konzept der Rührung (toucher) gewinnt Dubos im Rückgriff auf Horaz’ movere, er wendet es aber unter empiristischen Vorzeichen (Dubos und Locke waren persönlich bekannt) gegen eine rationalistisch ausgerichtete Poetik. Mit der Empfindung (sentiment) führt er einen Aspekt in den literarischen Diskurs ein, der im 18. Jahrhundert für die Verhältnisbestimmung von Dichtung und Wissenschaften eine bedeutende Funktion erhalten sollte. Nach Dubos’ Verständnis ist die Empfindung das zentrale, von Dichtung und Poesie adressierte Vermögen. Die Vernunft ist dagegen der nur beigestellte ‚Affekt-Wächter‘, der die
|| 65 Jean B. Dubos: Kritische Betrachtungen über die Poesie und Mahlerey. Erster Teil. [Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture, 1719]. Kopenhagen: Mummische Buchhandlung, 1760. S. 1 und S. 13. 66 Jean B. Dubos: Kritische Betrachtungen. S. 259. 67 Jean B. Dubos: Kritische Betrachtungen. S. 27.
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Nachahmungen auf ihren Realitätsgehalt hin prüft und so die Reichweite der Rührung reguliert. Die Vernunft hat nicht mehr – wie noch bei Boileau – die Aufgabe, die Wahrheit der Dichtung zu entschlüsseln, nach Dubos bedarf es auch nicht mehr einer gelehrten Kunst- und Regelkenntnis, um Poesie verstehen zu können. Vielmehr könne jeder Mensch aufgrund seiner natürlichen Anlagen von einem Gedicht unmittelbar gerührt werden. Der für die rationalistisch ausgerichtete Poetik wichtige Aspekt des prodesse, also die Vermittlung und Darstellung von Wahrheiten und Wissen, entfällt folglich bei Dubos: „Man ließt [sic!] sie [die Dichtung, M.I.] nicht wie andere Schriften, um Unterricht daraus zu schöpfen.“68 Das sentiment ist eine ‚analogische Form des Denkens‘69, das auf Ähnlichkeit und Analogie von Wahrnehmung und Nachahmung, von Empfindung und Gefühl beruht. Mit den über die Einbildungskraft hervorgerufenen Gefühlen bzw. Leidenschaften und dem sentiment sind somit distinkte Merkmale von Dichtung eingeführt, die Dubos und weitere Ästhetiker nutzen, um ein Profil von Analogien und Differenzen für das Verhältnis von Dichtung und Wissenschaften zu erstellen. Die Analogie von Dichtung und mechanischen Künsten besteht demnach in ihrer Doppelstruktur von sinnlicher Wahrnehmung und Vernunft, das differenzierende Moment ist das, was sie hervorbringen (Empfindungen – Ideen), sowie der jeweilige Sprachgebrauch (bildlicher Stil – referenzielle Repräsentation). Aufgrund der Ausrichtung an dem „sinnlichen Teil der Seele“ sowie an der emotiven Wirkung bezeichnet Sabine Kleine Dubos’ Ästhetik als „sensualistische Ästhetik“70. Im deutschsprachigen Raum zunächst wenig beachtet, wurde diese Form der Ästhetik später intensiv von Bodmer, Breitinger, Lessing und Klopstock rezipiert. Einen weiteren Ansatz der Neubestimmung des Verhältnisses von Dichtung und Poesie im Zuge der Querelle formuliert Charles Batteux (1713–1780). Wie Boileau war auch Batteux ein – wenn auch gemäßigter – Anhänger der Anciens. Seine Antwort auf die Frage nach den Grundlagen der Künste im Allgemeinen und der Dichtung im Besonderen ist ein der mathematischen Axiomatik analoger Aufbau. In Les Beaux-arts réduits à un même principe (Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz, 1746) führt Batteux aus: Die Regeln haben sich durch die Beobachtungen vervielfältigt, welche über die Werke angestellt worden sind. Sie müssen dadurch wieder einfacher werden, daß man eben diese Beobachtungen auf allgemeine Grundsätze zurückleitet. Wir wollen die Naturkündiger nachahmen [les vrais Physiciens] […]. Sie sammeln Erfahrungen, und gründen hernach || 68 Jean B. Dubos: Kritische Betrachtungen. S. 271. 69 Vgl. Gottfried Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. S. 25. 70 Sabine Kleine: Mimesis und Imagination. S. 447.
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ein Lehrgebäude [systême] darauf, das dieselben in Grundsätze [principe] zusammen faßt.71
Der erste und fundamentalste Grundsatz aller schönen Künste, das erste ‚ästhetische Axiom‘, ist nach Batteux das Prinzip der Nachahmung: Dichtung ist Nachahmung der schönen Natur (belle nature). Die Rückführung auf einen ersten, unhintergehbaren Grundsatz gibt ihm die Möglichkeit einer neuen Heuristik analog zum Kanon der artes bzw. scientia. Nachdem es unmöglich geworden war, alle Künste und Wissenschaften unter ein inhaltlich bestimmtes Prinzip, wie das der Erkenntnis oder des Wissens (vgl. Boccaccio und Scaliger), zu vereinigen, nutzt Batteux die formale Analogie der Reduzierbarkeit auf ein zugrunde liegendes Prinzip: Man kann sie [die Künste und Wissenschaften, M.I.] in Absicht auf die Endzwecke, welche sie sich vorsetzen, in drey Arten eintheilen. Einige haben zu ihrem Gegenstande die Bedürfnisse des Menschen, den die Natur, sobald er einmal gebohren ist, sich selbst überlassen zu haben scheint. [...] Daraus sind die mechanischen Künste entsprungen. Andere haben das Vergnügen zum Gegenstande. Diese haben nirgends, als in dem Schooße [sic!] der Freude und derjenigen Empfindungen, welche Überfluß und Ruhe hervorbringen, gebohren werden können. Man nennt sie vorzüglich die schönen Künste. Dergleichen sind die Musik, die Poesie, die Malerey, die Bildhauerkunst, und die Kunst der Stellungen und Geberden, oder die Tanzkunst. Die dritte Gattung enthält die Künste, welche die Nutzbarkeit und die Anmuth zugleich zum Gegenstande haben. Dergleichen sind die Beredsamkeit und die Baukunst. Durch das Bedürfniß sind sie entsprossen, und der Geschmack hat sie vollkommen gemacht.72
Nachahmung und Vergnügen sind die distinkten Merkmale der schönen Künste, die Batteux anschließend aufgrund der Nachahmungsart weiter differenziert: Die Poesie ahmt entweder Handlungen nach (Dramen) oder sie ahmt Empfindungen nach (Lyrik).73 Während die Nachahmung von Handlungen an Aristoteles’ Poetik anknüpft, muss Batteux die Nachahmung von Empfindungen durch Sprachlaute || 71 Charles Batteux: Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. [Les Beaux-arts réduits à un même principe, 1747]. Übers. von Johann A. Schlegel. Leipzig: Weidmann, 1759. S. XXVII. 72 Charles Batteux: Einschränkung der schönen Künste. S. 3f. 73 „Die lyrische Poesie könnte, als eine besondere Gattung, für sich betrachtet werden; [...]. Sie läßt sich natürlicher Weise unter die Nachahmung ziehen; ja sie muß so gar nothwendiger Weise darunter gezogen werden; bloß mit einem einzigen Unterschiede, der sie besonders kenntlich macht, und von den andern aussondert; und dieser Unterschied ist ihr absonderlicher Gegenstand. Die andern Dichtungsarten haben die Handlung zum Gegenstande. Die lyrische Poesie ist ganz den Empfindungen geheiligt; diese sind ihre Materie, ihr wesentlicher Gegenstand.“ Charles Batteux: Einschränkung der schönen Künste. S. 204f.
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sprachtheoretisch neu begründen. Er greift hierbei Überlegungen zum Sprachursprung auf, die in ähnlicher Weise bereits in Teil II dieser Arbeit thematisiert wurden. Anders als Scaliger begreift Batteux Dichtung nicht als Endstufe einer Sprachentwicklung, sondern hinsichtlich ihres emotiven Gehalts und ihrer emotiven Wirkung – ähnlich wie Vico – als eine ursprüngliche und natürliche Sprachform: Man gehe auf den Ursprung der Dichtkunst zurück. Ist die Poesie nicht ein Gesang, welcher Freude, Verwunderung, Dankbarkeit einflößt? Ist sie nicht ein lebhafter Ausdruck des Herzens [n’est-ce pas un cri du cœur], ein schneller Ausbruch seiner Empfindungen, wobey die Natur alles, und die Kunst nichts thut?74
Den von Batteux geprägten Gedanken eines ‚cri du cœur‘ greift Rousseau nur wenige Jahre später in Form des ‚cri de la nature‘ auf und gründet auf ihn die Entstehung von Sprache an sich (vgl. Kap. II.4.2). Rührung, Gefühl und Leidenschaften werden bei Batteux zu zentralen Momenten der Poesie auf Produktions- und Rezeptionsseite. Anders als Dubos muss er diesen Mechanismus nicht über Stil und Bildlichkeit von Sprachzeichen legitimieren, sondern kann ihn als eine natürliche, emotive Bindung von Laut und Gefühl bzw. Leidenschaft darstellen. Entsprechend kann er an anderer Stelle auch eine „Sprache des Verstandes [langue de la raison]“ und eine „Sprache des Herzens [langue du cœur]“ unterscheiden.75 Sowohl das Konzept des cri du cœur als auch die langue du cœur unterstreichen, dass Poesie und Dichtung eine andere Art von Sprachlichkeit besitzen als Mathematik, Physik und Logik. Sie zeichne sich durch Natürlichkeit und Musikalität aus, sie vermöge einen „Wohlklang“76 zu erzeugen, der unmittelbar und direkt Gefühle und Leidenschaften errege: „Ich sehe keine Schilderey, keine Gemälde darinnen. In ihr ist alles nichts als Feuer, Gefühl, Trunkenheit.“77 Batteux’ Ästhetik setzt also auf andere Weise als Dubos’ Ästhetik Dichtung und Wissenschaften in ein Verhältnis. Zunächst beruht seine Klassifikation der Künste auf einer formalen Analogie – sie sind funktional über einen Endzweck und ein entsprechendes Prinzip definiert. Allen Künsten und Wissenschaften ist also eine gewisse Funktionalität gemein. Die konkrete Bestimmung der Zwecke und Prinzipien differenziert Batteux: Erstens durch das Nützliche, zweitens durch das Angenehme und drittens durch die Kombination von Nützlichem und Angenehmem. Da Batteux Dichtung und Künste als Nachahmung der schönen Natur begreift, bezeichnet Sabine Kleine seine Ästhetik als || 74 Charles Batteux: Einschränkung der schönen Künste. S. 193. 75 Charles Batteux: Einschränkung der schönen Künste. S. 225. 76 Charles Batteux: Einschränkung der schönen Künste. S. 209. 77 Charles Batteux: Einschränkung der schönen Künste. S. 193.
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„idealistische Ästhetik“78. Batteux’ idealistische Ästhetik und ihr Antipode, die sensualistische Ästhetik Dubos’, sollten „im Lauf des Jahrhunderts zu den zwei grossen [sic!] – gegensätzlichen – ästhetischen Schulen“79 im deutschsprachigen Raum avancieren: zunächst in der Entwicklung und Auseinandersetzung um eine deutschsprachige Kunsttheorie und Ästhetik (Gottsched, Bodmer, Breitinger, Baumgarten, Lessing), später in der Formierung der Genieästhetik (Herder, der frühe Schiller, der frühe Goethe). Die Dringlichkeit einer neuen Verhältnisbestimmung zwischen Dichtung und Wissenschaften, die während der Zeit der Querelle in Frankreich gesehen wurde, adaptierte auch die deutschsprachige Aufklärung. So waren Wolff, Baumgarten und Meier bemüht, die schönen Künste bzw. die Dichtung so in Relation zu den ‚strengen Wissenschaften‘ zu setzen, dass ihre Bedeutung, ihre Dignität und ihr Status noch unterstrichen wurden. Sie gaben der theoretischen Konzeption der schönen Künste jedoch eine völlig neue Ausrichtung. Anders als z.B. Perrault begnügten sie sich nicht damit, die Erfolge der neueren Dichtung argumentativ mit denen der Technik und Mechanik auf eine Stufe zu stellen. Sie versuchten gleich jene Elemente, die die Physik und Mathematik erfolgreich gemacht hatten, auch in Dichtung und Poetik zu implementieren: In die sprachlich-literarischen Wissenschaften fanden sowohl die empirische als auch die logizistische Methode Eingang. In allen philosophischen, rhetorischen und poetologischen Werken des ersten Drittels des 18. Jahrhunderts spielten Beobachtung bzw. Erfahrung und deduktive Beweisverfahren eine konstitutive Rolle.80
Die Künste und speziell die Dichtung sollten endgültig nicht mehr als ‚defizitäre Schwestern‘ oder ‚rückständige Mägde‘ der Wissenschaften gelten. Christian Wolff forderte daher eine ‚Vernunft-Kunst des Wahrscheinlichen‘, deren Ähnlichkeit zur Logik als ‚Kunst des Denkens‘ oder des rechten Vernunftgebrauchs offensichtlich ist. Wolff, Baumgarten und Meier stellten mit der Neuausrichtung die Weichen für eine „Verwissenschaftlichung des Dichtens“81, die sich auch bei Poetikern wie Gottsched, Bodmer und Breitinger zeigt. Nicht nur konkrete naturwissenschaftliche Gehalte sollten in Dichtungen einfließen, sondern vor allem die hohen Ansprüche, die Maßstäbe und die Systematik von Physik, Mathematik und Logik. Dass derartige Übertragungs- und Analogisierungsversuche durchaus problematisch waren und theoretische wie argumentative Heraus|| 78 Sabine Kleine: Mimesis und Imagination. S. 446. 79 Sabine Kleine: Mimesis und Imagination. S. 447. 80 Gunter E. Grimm: Letternkultur. S. 264. 81 Gunter E. Grimm: Letternkultur. S. 264.
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forderungen mit sich brachten, soll im Folgenden anhand von Gottscheds, Bodmers und Breitingers Poetik dargestellt werden. Johann Christoph Gottscheds (1700–1766) Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1729) kann, wie Gunter Grimm herausgearbeitet hat, als eine der konsequentesten Umsetzungen der Wolff’schen Philosophie im Bereich der Poetik gelten: Trotz verschiedener Inkonsequenzen zeigt das System der Critischen Dichtkunst, daß Gottsched sich am Ideal einer mathematisch-logischen Philosophie orientiert. ‚Wahrheiten‘ müssen mit demonstrativischer Gewißheit bewiesen werden. […] Logik, Vernunft, Denkvermögen und Regelkenntnis charakterisieren Gottscheds Gelehrsamkeitsideal.82
Die Neuausrichtung, die Gottsched in Abgrenzung zu Opitz und zu den Barockpoetiken vornimmt, ist kein radikaler Bruch mit der Tradition. Ihm ist mehr an einer behutsamen Synthese von Prinzipien der Wolff’schen Philosophie, der wissenschaftlichen Rationalität und den traditionellen, humanistischen Normen der Poetik und Rhetorik gelegen. Als Verehrer der Poesie des französischen Klassizismus übernimmt er von Batteux das Nachahmungsprinzip als Grundprinzip der Dichtung. Die Nachahmung trenne Dichtung und Geschichtsschreibung, aber auch Dichtung und Rhetorik: Bey dem allen ist es nicht zu leugnen, daß nicht, nachdem Urtheile des großen Aristoteles, das Hauptwerk der Poesie in der geschickten Nachahmung bestehe. Die Fabel selbst, die von andern für die Seele eines Gedichtes gehalten wird, ist nichts anders, als eine Nachahmung der Natur. Dieß wird sie nun durch die Aehnlichkeit mit derselben, und wenn sie diese hat, so heißt sie wahrscheinlich. Die Wahrscheinlichkeit ist also die Haupteigenschaft aller Fabeln; […].83
Das Mimesis-Prinzip ist eines der traditionellen poetologischen Elemente, das Gottsched beibehält. Seine Neuausrichtung besteht hierbei in dem durch die empirischen Wissenschaften modifzierten Verständnis davon, was Naturnachahmung sein sollte, denn „der Aufstieg der empirischen Wissenschaften hat die Natur als inhaltliche Größe verabsolutiert“84. So wie die Physik ihre Naturgesetze aus der Naturbeobachtung gewinnt, möchte Gottsched auch die Regeln der
|| 82 Gunter E. Grimm: Letternkultur. S. 250. 83 Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. In: derselbe: Ausgewählte Werke. Bd. 6.1. Hrsg. von Joachim Birke, Brigitte Birke und Philipp Mitchell. Berlin, New York: De Gruyter, 1973. S. 141. 84 Gunter E. Grimm: Letternkultur. S. 266.
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schönen Künste und der Dichtung als natürliche bzw. naturgegebene Gesetze verstanden wissen: Die Regeln nämlich, die auch in freyen Künsten eingeführet worden, kommen nicht auf den bloßen Eigensinn der Menschen an; sondern sie haben ihren Grund in der unveränderlichen Natur der Dinge selbst; in der Uebereinstimmung des Mannigfaltigen, in der Ordnung und Harmonie. Diese Gesetze nun, die durch langwierige Erfahrung und vieles Nachsinnen untersuchet, entdecket und bestätiget worden, bleiben unverbrüchlich und feste stehen […].85
Im Zitat klingen die Kriterien der Evidenz, Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit an, die die Mechanik an ihre Grundgesetze anlegte (vgl. Kap. III.1.2). Wenn man das große Interesse Gottscheds am französischen Rationalismus und an zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Fragestellungen berücksichtigt, verwundert es nicht, dass er die schönen Künste und ihre Regeln ähnlich sicher fundieren möchte, wie dies für die Geometrie und die Mechanik durch den axiomatischen Aufbau versucht wurde. Der mathematisierten und axiomatisierten Beschreibung der Natur lag von Anfang an die Überzeugung zugrunde, dass die Natur selbst in der Sprache der Mathematik verfasst und nach ‚Maß und Zahl‘ eingerichtet sei. Überraschend ist, dass Gottsched genau diese Annahme als Argument für die Evidenz, Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit der poetischen Regeln anführt: Die Schönheit eines künstlichen Werkes beruht nicht auf einem leeren Dunkel; sondern sie hat ihren festen und nothwendigen Grund in der Natur der Dinge. Gott hat alles nach Zahl, Maaß und Gewicht geschaffen. Die natürlichen Dinge sind an sich selber schön: und wenn also die Kunst auch was schönes hervorbringen will, so muß sie dem Muster der Natur nachahmen. […] Alle diese Künstler [Baumeister, Maler und Musiker, M.I.], wenn sie […] geschickte Leute sind, werden haarklein zu zeigen wissen, was für eine natürliche Nothwendigkeit in dem allen steckt, und uns den Grund ihrer Regeln, in der Empfindung und gesunden Vernunft, entdecken. In der Beredsamkeit und Poesie geht es nicht anders. Kann hier gleich das Verhältniß nicht mit Zahlen und Linien ausgedrücket, mit Zirkel und Lineal abgemessen, und so handgreiflich gemacht werden, als in den andern Dingen, wo man durch Hülfe der Meßkunst alles sehr ins Licht setzen kann: so folgt doch deswegen noch nicht, daß hier alles willkührlich sey.86
Sichert die Grundannahme, dass die Natur nach ‚Zahl, Maaß und Gewicht‘ geschaffen wurde, in den Wissenschaften die Wahrheit mathematisch formulierter Gesetze, so soll sie nach Gottsched auch die regelgemäße Schönheit der Künste
|| 85 Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 174. 86 Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 183f.
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sicherstellen.87 Mechanik, Geometrie, schöne Künste und Dichtungen eint, so Gottscheds Argument, eine auf der Natur der Dinge beruhende Gesetzmäßigkeit. Problematisch ist das Argument aufgrund der Tatsache – und dessen ist sich Gottsched bewusst –, dass im Unterschied zu Mechanik und Geometrie in Dichtung und Poetik die Gesetzmäßigkeiten nicht messend, d.h. nicht quantifizierend und empirisch überprüfbar gewonnen werden können: „Kann hier das Verhältniß nicht mit Zahlen und Linien ausgedrücket, mit Zirkel und Lineal abgemessen […] werden.“88 Zudem fallen hier die beiden Aspekte von Anwendung und propositionaler Explikation der Gesetzmäßigkeiten auseinander, Dichtung ahmt die Gesetzmäßigkeit der Natur nur nach, wendet sie also praktisch an, während die Poetik sie expliziert und gerade nicht anwendet. Gottsched lässt diese Differenz unberücksichtigt und richtet sein Augenmerk auf die Nachahmung der Natur, die er mit Batteux als Nachahmung von Mustern deutet.89 Die poetischen Muster sind nach Gottsched „Harmonie, Ordnung, Abmessung und Verhältniß“90 der Dinge und er nennt damit nicht von ungefähr vier Begriffe, die auch der historische Bedeutungshorizont des griechischen λόγος und des lateinischen ratio umfasst (vgl. Kap. III.4). Gottsched ist bemüht, weitere Analogien zwischen den Wissenschaften und der Dichtung nachzuweisen. Hier wie dort sichere die sinnliche Empfindung die empirische Verankerung, hier wie dort sei das menschliche Vernunftvermögen die leitende Fähigkeit. Der zweite Aspekt wirft jedoch einige Fragen auf. In Logik, Mathematik und Physik stellt die Vernunft die deduktiv-logische Richtigkeit des theoretischen Systems sicher. Kann es aber einen Vernunftgebrauch oder gar eine logische Deduktion im Bereich der schönen Künste geben? Gottscheds Antwort ist ambivalent. Bei der induktiven Gewinnung der Grundregeln in der Poetik als theoretische Reflexion auf poetische Texte sieht er sehr wohl die Vernunft am Werk: „Regeln der Kunst […] [werden] aus der Vernunft und Natur hergeleitet.“91 Zweitens dient die Vernunft zur Kontrolle der abstrakt gebildeten Regeln und dem Nachweis ihrer Stimmigkeit.92 Drittens ist sie hilfreich bei der Bildung des Geschmacks.93 Viertens findet die Vernunft in der ästhetischen Metareflexion (z.B. über die Bedingungen und Möglichkeiten des Ge-
|| 87 Vgl. Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 184f. 88 Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 184. 89 Vgl. Charles Batteux: Einschränkung der schönen Künste. S. 7. 90 Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 184. 91 Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 144. 92 Vgl. Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 176. 93 Vgl. Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 180.
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schmacks) Anwendung.94 Insgesamt benötige daher der Dichter „so wohl, als ein andrer Mensch, ja noch mehr, als alle, die sich ins Schreiben mischen, eine gesunde Vernunft, richtige Begriffe von Dingen, und eine große Kenntnis von Künsten und Wissenschaft“95. Gottsched bezieht sich hier hauptsächlich auf Aspekte der poetologischen Theorie. An anderer Stelle verneint Gottsched jedoch die Frage, ob es einen Vernunftgebrauch oder gar eine logische Deduktion im Bereich der schönen Künste geben könne und zwar mit Blick auf die Produktion und Rezeption von Dichtung; beides sei nicht Sache der Vernunft, sondern des Geschmacks. Dies begründet Gottsched mit dem erkenntnistheoretischen Status von Dichtung, da „der […] Geschmack […] [es] nur mit klaren, aber nicht ganz deutlichen Begriffen der Dinge zu thun hat; und nur solche Dinge von einander unterscheidet, die man nach der bloßen Empfindung beurtheilet“96. Die Schönheit einer Dichtung, ihre Harmonie, ihr Wohlklang, und ihr Takt zeigen sich nicht in ihrer Abstraktion, sondern sind nur sinnlich erfahrbar. Der Geschmack ist auf jene Aspekte bezogen, die kein Teil der Vernunfterkenntnis sind, da sie nicht klar-deutlich erkannt werden können. Die Vernunft richtet sich umgekehrt auf jene Aspekte, die für das Geschmacksurteil keine Relevanz besitzen. Gottsched entwirft Vernunft und Geschmack als Antipoden und charakterisiert durch sie die Differenz zwischen Künsten und Wissenschaften: Von dem metaphorischen Geschmacke unsrer Seelen bemerket man, daß man sich dieses Wortes fast ganz allein in freyen Künsten, und in etlichen andern sinnlichen Dingen bedienet: hergegen wo es auf die Vernunft allein ankommt, da pflegt man dasselbe nicht zu brauchen. Der Geschmack in der Poesie, Beredsamkeit, Musik, Malerey und Baukunst; imgleichen in Kleidungen, in Gärten, im Hausrathe u.d.gl. ist sehr bekannt. Aber niemals habe ich noch vom Geschmacke in der Arithmetik und Geometrie, oder in andern Wissenschaften reden hören, wo man aus deutlich erkannten Grundwahrheiten die strengesten Demonstrationen zu machen vermögend ist.97
Neben dem Geschmack führt Gottsched mit dem Witz ein zweites Differenzmerkmal ein, das er unter Bezug auf Horaz als ‚Gemütskraft‘ bestimmt, „welche die Aehnlichkeiten der Dinge leicht wahrnehmen, und also eine Vergleichung zwischen ihnen anstellen kann“98. Wie der Geschmack stellt auch der Witz ein der Vernunft entgegengesetztes Vermögen und ein Element der genuin poetischen Denkart dar: || 94 Vgl. Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 169. 95 Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 424. 96 Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 172. 97 Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 171f. 98 Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 152.
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[A]lso müssen wir auch zum andern sehen, was denn nunmehro die poetische Art zu denken von der prosaischen unterscheidet? Die Vernunft kann und soll es nach dem vorigen nicht seyn: was wird es denn wohl anders, als der Witz oder der Geist seyn können? Und in der That macht diese Gemüthskraft, nachdem sie bey einem stärker, als bey dem andern ist, einen großen Unterscheid in den Gedanken. […]. Dergleichen Geister nun nennet man poetische Geister, und durch diese reiche Gemüthskraft unterscheidet sich ihre Art zu denken von der ordentlichen, die allen Menschen gemein ist.99
Geschmack und Witz sind in Gottscheds Nachahmungspoetik die zwei zentralen künstlerischen Fähigkeiten des Dichters. Der Geschmack hält den poetischen Geist in „den Schranken des Regelgemäßen“100 und garantiert die Schönheit der Dichtung; der Witz stellt durch Vergleich die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Nachahmung und dadurch die Ähnlichkeit von Nachahmung und Nachgeahmtem sicher, er garantiert die Wahrscheinlichkeit der Dichtung. Auch Geschmack und Witz können als ‚analogische Denkformen‘101 bezeichnet werden, die aber letztlich ‚vernünftige‘ Prinzipien umsetzen. Folglich begreift Gottsched beide Fähigkeiten als „natürliche Gaben“102, die erst durch eine umfassende Kenntnis der Wissenschaften und Künste ihre Bildung an eben jenen vernünftigen Prinzipien erhalten. Wie bereits bei Batteux und Dubos, bei Wolff und Baumgarten beruht auch Gottscheds Verhältnisbestimmung von Wissenschaften und Dichtung auf einem Wechselspiel von Analogien und Differenzen. Die Analogien werden von Gottsched allerdings im Bereich der Dichtung überhaupt erst nach dem Vorbild der Wissenschaften konstruiert. Es handelt sich um die Aspekte der ‚natürlichen Gesetzmäßigkeiten‘, der Evidenz, Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit und der logischen Vernünftigkeit. Die Differenz zwischen Künsten und Wissenschaften, die Gottsched benötigt, um Dichtung als einen eigenständigen Diskurs zu konzipieren, erscheint ebenfalls konstruiert. Er entwickelt sie hinsichtlich der jeweils nötigen Vermögen: Vernunft, Witz und Geschmack. In seiner Grundanlage vermochte Gottscheds Konzept das zu leisten, was es leisten sollte. Es erbrachte einerseits den Nachweis, dass Wissenschaften und Dichtung hinsichtlich ihrer Fundierung, ihres Aufbaus und ihrer Regelkonsistenz gleichwertige Diskurse sind, andererseits entwickelt es eine diskursive Souveränität der Dichtung. Wie fragil das Konzept ist, zeigt sich in der Entschiedenheit, mit der Gottsched die Frage bejaht, ob die Vernunft auch eine
|| 99 Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 426f. 100 Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 158. 101 Vgl. Gottfried Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. S. 25. 102 Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 152.
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Funktion in Dichtung und Poesie besitze. Denn beließe er es bei den zwei Vermögen Witz und Geschmack, die er strikt von der Vernunft unterscheidet, hätte das zur Folge, dass Dichtung eine ‚Kunst der Unvernunft‘ wäre. Dies wäre jedoch ein gravierendes Defizit, denn wie sollte Dichtung ohne Beteiligung der Vernunft die durch die Wissenschaften aufgestellten Ansprüche und Maßstäbe in den Aspekten Methodik, Fundierung und Gesetzmäßigkeit erfüllen können? Gottsched muss folglich nachweisen, dass Witz und Geschmack sich innerhalb der Schranken des Vernünftigen bewegen, obwohl sie von der Vernunft unabhängige Vermögen sind. Das Bindeglied zwischen den unvernünftigen Vermögen und den vernünftigen Regeln ist der „von der Schönheit eines Dinges nach der bloßen Empfindung […] urtheilende Verstand […]“103. Der Verstand ist also die Brücke zwischen der Schönheit im konkreten Gedicht und der abstrakten Schönheitsregel, zwischen Dichtung und Poetik und schließlich auch zwischen Witz, Geschmack und Vernunft. Auf diese Weise kann Gottsched die Analogien zwischen Dichtung und Wissenschaften plausibilisieren und gleichzeitig ihre Differenzen legitimieren. Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) verfolgt mit seiner Aesthetica (1750–1758) ein ganz ähnliches Anliegen wie Gottsched, seine Argumentation ist jedoch eine völlig andere. Baumgarten entwickelt eine alle schönen Künste umfassende „Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis“, die er synonym auch als „Theorie der freien Künste, untere Erkenntnislehre, Kunst des schönen Denkens“ oder als „Kunst des Analogons der Vernunft“ (analogon rationis) bezeichnet.104 Gerade die letztgenannte Bezeichnung ist programmatisch, denn bereits in den ersten Paragraphen der Aesthetica wird die ‚Kunst des schönen Denkens‘ in Analogie zur Logik entwickelt, die er als ‚ihre ältere Schwester‘ bezeichnet. Drei Merkmale charakterisieren die Kunst des schönen Denkens, sie ist 1) Theoretisch, lehrend, allgemein […] indem sie Regeln vorgibt, 2) heuristisch hinsichtlich der Sachen und der zu denkenden Dinge […], hinsichtlich der lichtvollen Ordnung als Methodologie […], 3) hinsichtlich der Zeichen des schön Gedachten und Angeordneten, als Semiotik […].105
Ästhetik wird hier als eine theoretische, reflektierende Disziplin beschrieben, deren Gegenstand die schönen Künste sind. Die schönen Künste selbst unterscheidet Baumgarten von Logik, Mathematik und Physik durch die Deutlichkeit || 103 Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 174. 104 Alexander G. Baumgarten: Ästhetik. [Aesthetica, 1750/1758]. Hrsg. und übers. von Dagmar Mirbach. Hamburg: Meiner, 2007. S. 11. 105 Alexander G. Baumgarten: Ästhetik. S. 18.
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der von ihr betrachteten Vorstellungen: „Die Sinnliche Erkenntnis ist […] die Gesamtheit der Vorstellungen, die unter der Deutlichkeit verbleiben.“106 Deutlich erkennbar referiert Baumgarten hier Leibniz’ Hierarchisierung der Erkenntnisvermögen (vgl. Kap. II.2.1), die zunächst eine Unterordnung der schönen Künste unter Philosophie und Wissenschaften impliziert. Wie sich im Folgenden zeigen wird, ist aber gerade die Gleichordnung von Künsten und Wissenschaften Baumgartens Ziel. Er steht nun vor der Herausforderung, die Abwertung der unteren Erkenntnisvermögen (Sinne, Einbildungskraft und Gedächtnis) zu relativieren, ohne die Hierarchie an sich in Frage zu stellen: Bei demjenigen, der schön denken will, werden die bedeutenderen unteren Vermögen, und zwar als natürlich entwickelte, erfordert. Diese können nun allerdings nicht nur mit den höheren, natürlich entwickelten bedeutenden oberen Vermögen zugleich bestehen, sondern sie werden für jene auch als unerläßliche Bedingung erfordert. Daher ist es ein Vorurteil: Daß von Natur aus die Schönheit des Geistes mit den ernsteren Gaben des Verstandes mäßigen Begreifens und Schließens in Widerstreit stehe, insofern diese als von der Natur empfangene angeboren sind.107
Baumgarten ist sehr darum bemüht, den alten Vorwurf aus der Welt zu schaffen, untere und obere Erkenntnisvermögen stünden ‚in Widerstreit zu einander‘, denn eine derartige Diskrepanz hätte fatale Konsequenzen für sein Konzept der ‚Vollkommenheit des Kunstwerks‘: „Der Zweck der Ästhetik ist die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis als solcher. Dies aber ist die Schönheit.“108 Die Schönheit beschreibt Baumgarten als eine Übereinstimmung verschiedener Entitäten auf drei Ebenen: Erstens als Übereinstimmung von Gedanken und Erscheinungen, zweitens als Übereinstimmung von Ordnungen oder Strukturen (sowohl als innere Konsistenz als auch in Übereinstimmung mit den Sachen) und drittens als Übereinstimmung der Zeichen, „da wir Bezeichnetes nicht ohne Zeichen vorstellen“109. Der Ort der ‚Wahrheit im Schönen‘ ist in der zweiten Form der Übereinstimmung angesiedelt. Hier beschreibt Baumgarten die Schönheit als eine besondere Form von Wahrheit, als ästhetische Wahrheit, die ein Analogon der metaphysischen bzw. logischen Wahrheit ist: Die metaphysische Wahrheit der Gegenstände ist uns bekannt als deren Übereinstimmung mit den allgemeinsten Grundsätzen, [...]. Denn die Vorstellung des metaphysisch Wahren in irgendeinem Gegenstand, insoweit sie in einem gewissen Subjekt vollzogen wird, ist
|| 106 Alexander G. Baumgarten: Ästhetik. S. 21. 107 Alexander G. Baumgarten: Ästhetik. S. 35. 108 Alexander G. Baumgarten: Ästhetik. S. 21. 109 Alexander G. Baumgarten: Ästhetik. S. 23.
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diejenige Übereinstimmung der Vorstellungen mit den Gegenständen, welche die meisten als logische Wahrheit, andere als geistige Wahrheit des Verhältnisses, der Entsprechung und der Übereinstimmung bezeichnen, während sie die metaphysische Wahrheit die materielle Wahrheit nennen.110
Baumgarten konstruiert den Zusammenhang der drei Wahrheiten durch Subordination. Er bezeichnet mit ‚objektiver Wahrheit‘ jene Wahrheit der Sachen selbst, die allein Gott zugänglich ist. Sie spiegelt den „gegebene[n] Zusammenhang alles Seienden ‚in mundo perfectissimo‘, der als solcher in seiner Gesamtheit dem menschlichen Erkennen verborgen bleibt“111. Die ‚logische Wahrheit‘ wiederum ist der kleine ‚subjektive‘ Teil der objektiven Wahrheit, der dem beschränkten Erkenntnisvermögen des Menschen zugänglich ist.112 Die ‚ästhetische Wahrheit‘ ist schließlich der Teil der objektiven Wahrheit, der über die unteren Erkenntnisvermögen gewonnen wird: Ich glaube nämlich, daß es völlig klar ist, daß die […] objektive Wahrheit […] bald hauptsächlich durch den Verstand beobachtet wird […] und bald, entweder einzig oder hauptsächlich, durch das Analogon der Vernunft und die unteren Erkenntnisvermögen, und dann als ästhetische Wahrheit! 113
Die ästhetische oder ‚ästhetikologische Wahrheit‘ bezeichnet Baumgarten als verworrene (confusa) Form der Erkenntnis, wobei hier die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ‚confusus‘ – ‚zusammengegossen‘ oder ‚verbunden‘ – anklingt. Die ästhetische Wahrheit beruht nicht auf der Erkenntnis distinkter Merkmale, sondern ist eine ‚vielsagende Vorstellung‘, d.h. in ihr werden viele Merkmale verbunden. Alexander Aichele bündelt Baumgartens diffuse Beschreibungen zu einer kompakten Definition der ‚ästhetischen Wahrheit‘: Die für die Schönheit konstitutive ästhetische Wahrheit ist also ein arationales Phänomen, das zwar zu Bewußtsein kommt, aber nicht begrifflich deutlich wird, sondern den schönen Gegenstand als ein aus Vielem bestehendes Ganzes klar vorliegen läßt – also als dasjenige, was er realiter ist und sich solchermaßen dem Zugriff des Begriffes verschließt. Die ästhetische Wahrheit einer Erkenntnis kann demgemäß nicht demonstrativ bewiesen
|| 110 Alexander G. Baumgarten: Ästhetik. S. 403. 111 Alexander Aichele: Die Grundlegung einer Hermeneutik des Kunstwerks. Zum Verhältnis von metaphysischer und ästhetischer Wahrheit bei Alexander Gottlieb Baumgarten. In: Studia Leibnitiana 31.1 (1999). S. 82–90; S. 84. 112 „Man könnte die metaphysische Wahrheit die objektive, die Vorstellung des objektiv Wahren in einer gegebenen Seele die subjektive Wahrheit nennen, oder wir wollen dieselbe mit den meisten die logische Wahrheit nennen […].“ Alexander G. Baumgarten: Ästhetik. S. 403f. 113 Alexander G. Baumgarten: Ästhetik. S. 403f.
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werden. Genauso wie die zwar demonstrierbare, aber auf Abstraktion angewiesene und damit die veritas realis notwendig verfehlende logische Wahrheit bleibt sie im Verhältnis zur metaphysischen Wahrheit ‚wahrscheinlich‘. Als wahrscheinlich zeigt sie sich, sofern sie nicht den ‚allgemeine[n] Sätze[n]‘ widerspricht, ‚wo die wissenschaftliche Demonstration schon lange aufgehört hat‘. Versuchte man eine solche Demonstration der Schönheit eines Gegenstandes und brächte dessen verschiedene Merkmale zur Deutlichkeit, verließe man sogleich das Feld der ästhetischen Erkenntnis.114
Baumgarten modelliert logische und ästhetische Wahrheiten als gleichermaßen beschränkte und komplementäre Wahrheitsformen. Beide Formen erscheinen im Vergleich zur göttlichen Wahrheit defizitär, in ihrem defizitären Status aber sind sie gleichwertig und analog. Bei einer genauen Prüfung erweist sich die Bezeichnung ‚ästhetische Wahrheit‘ jedoch als ein rhetorisch-terminologischer Kunstgriff. Besonders deutlich tritt das dort zutage, wo Baumgarten den Realitätsbezug fiktionaler Dichtungen thematisiert. Sein Ausgangspunkt ist hierbei das klassische semiotische Dreieck. Die Sprachzeichen einer Dichtung repräsentieren Vorstellungen, Ideen und Begriffe, die ihrerseits Gegenstände repräsentieren. Nimmt man nun Baumgartens Beschreibung der ästhetischen Wahrheit in den Blick, so erfasst diese lediglich eine der zwei Repräsentationsrelationen, nämlich nur die Repräsentation der Gegenstände durch Ideen und Vorstellungen. Für ästhetische Vorstellungen, die sich z.B. auf visuell wahrnehmbare Gegenstände und Sachverhalte beziehen (z.B. die Vorstellung eines Sonnenuntergangs), ist Baumgartens Konzept der ästhetischen Wahrheit auch durchaus nachvollziehbar. Gerade für Vorstellungen und Ideen, die während der Lektüre einer fiktionalen Dichtung in der Vorstellung des Rezipienten entstehen, verliert das Konzept jedoch seine Plausibilität. Die Vorstellungen von Zentauren oder von Eurydikes Schatten im Hades repräsentieren ja keine beobachtbaren Sachverhalte oder Personen. Das Problem liegt in Baumgartens rationalistischer Erkenntnis- und Sprachtheorie (vgl. Kap. II.2.2) begründet. Da er Wahrheit und Erkenntnis als grundsätzlich vorsprachlich begreift, sind genaugenommen nur mentale Inhalte (Ideen, Begriffe, Vorstellungen) wahrheitsfähig. Sprachzeichen repräsentieren diese Gehalte sekundär und können daher genauso eindeutig und adäquat auch ‚falsche‘ Ideen repräsentieren. Für fiktionale Texte ist die Repräsentationskette Gegenstand → Vorstellung → Sprachzeichen nicht ohne weiteres übertragbar, da die Sprachzeichen in fiktionalen Texten nicht notwendig Ideen repräsentieren, die nur wahr oder falsch sind – Vorstellungen wie die eines Zentauren oder die von Eurydikes Schatten im Hades stehen nicht in Bezug zu einer konkreten || 114 Alexander Aichele: Die Grundlegung. S. 87.
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Wahrnehmung oder einer realen Person. Um die Trias von Gegenstand, Vorstellung und Sprachzeichen dennoch auch für fiktionale Dichtungen beibehalten zu können, muss Baumgarten im semiotischen Dreieck an die Stelle der Gegenstände (Referenten) das Konstrukt einer „Welt der Dichter“115 setzen, die alle fiktiven und erdachten Gegenstände umfasst. Ideen, Vorstellungen oder Begriffe, die die Gegenstände der ‚Welt der Dichter‘ repräsentieren, unterscheidet Baumgarten von Vorstellungen, Ideen und Begriffen, die sich auf die reale Welt beziehen. Was der Dichter mit seinem Text repräsentiert, nennt Baumgarten ‚poetische Erdichtung‘. Nur durch die Konstruktion einer alternativen Repräsentationskette (Gegenstände der Welt der Dichter → poetische Erdichtungen → poetische Sprachzeichen) kann Baumgarten eine Übereinstimmung zwischen ‚poetischer Erdichtung‘ und der ‚Welt der Dichter‘ beschreiben, die annähernd als analogon der philosophisch-rationalen Wahrheit in Frage kommt. Die Konstruktion weist allerdings eine gravierende Schwachstelle auf. Während die Welt der Physiker, der Philosophen und Mathematiker jedem kritischen Leser einer wissenschaftlichen Abhandlung zugänglich ist, um beispielsweise Thesen und Beobachtungsergebnisse, kurz: die Wahrheit eines Texte, zu überprüfen, so ist die ‚Welt der Dichter‘ dem Leser eines Dramas nicht zugänglich. Sie bleibt der Wahrnehmung Dritter entzogen. Doch was ist eine Wahrheit wert, deren Wahrheitsgehalt nur postuliert, aber nicht überprüft werden kann? Baumgarten ist sich vermutlich dieses Problems bewusst, denn er versucht die ästhetische Wahrheit durch den Verweis auf ihre Bezogenheit auf die Lebens- und Erfahrungswelt des Lesers zu untermauern: „Eine poetische Erdichtung, die eine neue Welt […] schafft, […], ist ganz und gar unbekannt.“116 Folgt man Baumgartens Argumentation, so ist die Vorstellung eines Zentauren die Kombination zweier ‚wahrheitsfähiger‘, lebensweltlicher Vorstellungen (Mensch und Pferd). Doch wie kann die Wahrheit von fiktionalen Handlungen bewertet werden? Hier nun bleibt Baumgarten nichts übrig, als die Wahrheit der Dichtung nach altem Vorbild über die Kriterien des Möglichen und Notwendigen auf das Niveau der Wahrscheinlichkeit herunter zu transponieren. Eine Dichtung ist in ihrer Handlung folglich dann wahr, wenn sie im Rahmen des in der Lebenswelt Möglichen, Notwendigen und Wahrscheinlichen verbleibt.117 Für die Verhältnisbestimmung von Dichtung, Physik, Mathematik und Logik ist das von großer Bedeutung, denn Baumgarten konterkariert mit der Zurücknahme des Wahrheitsanspruchs sein zu Beginn der Aestetica entwickeltes Konzept zweier gleichwertiger Wahr|| 115 Alexander G. Baumgarten: Ästhetik. S. 491. 116 Alexander G. Baumgarten: Ästhetik. S. 495. 117 Alexander G. Baumgarten: Ästhetik. S. 497f.
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heitsformen. Gleichwertig und analog erwiesen sich logische und ästhetische Wahrheit nur in ihrem subordinierten Verhältnis zur göttlichen, objektiven Wahrheit. Baumgarten schränkt die Wahrheit ästhetischer Gebilde später radikal ein – strategisch geschickt, nachdem er die Gleichwertigkeit von logischer und ästhetischer Erkenntnis entwickelt hat: Die ästhetische Wahrheit ist also ihrem hauptsächlichen Sinn nach Wahrscheinlichkeit, jener Grad der Wahrheit, der, auch wenn er sich nicht bis zur vollständigen Gewißheit erhebt, dennoch nichts an bemerkbarer Falschheit enthalten mag.118
Die ‚Wahrheit der Dichtung‘ entpuppt sich letztlich doch wieder als Wahrscheinlichkeit und gefährdet dadurch Baumgartens analogon-Konzept grundlegend.119 Heinz Paetzold wertet es daher als einen letzten erfolglosen Versuch, das enggeführte Verständnis abendländischer Rationalität so auszuweiten, dass neben Wissenschaften und Philosophie auch Dichtung und schöne Künste einen angemessenen Platz darin gefunden hätten: Ästhetische Rationalität – so lautet die These Baumgartens – partizipiert an diskursiver Rationalität, präformiert sie, ist aber gleichwohl von dieser unterschieden. […]. Bei alle dem kann indessen nicht übersehen werden, daß die Baumgartensche Ästhetik letztlich nicht in der Lage ist, das Verhältnis von szientifischer und ästhetischer Rationalität philosophisch verbindlich zu klären. Baumgarten schwankt zwischen einer Position, welche die ästhetische Rationalität als Propädeutik der Wissenschaften deutet, und einer anderen, welche die ästhetische als szientifisch nicht überholbare Rationalität sui generis interpretiert. […]. Systematisch indessen verbirgt sich in diesem Umstand ein Defizit: Baumgarten verfügt über keine entfaltete Theorie der Wissenschaften.120
Im rückblickenden Vergleich der bisher thematisierten Verhältnisbestimmungen von Wissenschaften und Dichtung werden bereits erste Entwicklungslinien erkennbar. War die Renaissance noch bemüht, die Dichtung aus ihrer dienenden Funktion gegenüber der Theologie und Philosophie zu befreien, von dem platonischen Vorwurf der Lüge zu rehabilitieren und das Verhältnis von Dichtung und Philosophie zu konsolidieren, standen die Autoren der Querelle und der Aufklärung aufgrund der rasanten Entwicklungen in den Naturwissenschaften und der Mathematik vor einer neuen Herausforderung. Bei Dubos, Batteux, Gottsched und Baumgarten wurde das Bemühen erkennbar, Dichtung mithilfe || 118 Alexander G. Baumgarten: Ästhetik. S. 463. 119 Ursprünglich plante Baumgarten, einen weiteren, semiotischen Teil der Aesthetica zu verfassen, in dem – so kann spekuliert werden – eventuell die durch die Modellierung entstandene Widersprüchlichkeit aufgelöst oder zumindest thematisiert worden wäre. 120 Heinz Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus. Wiesbaden: Steiner, 1983. S. 53f.
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von Analogien und Differenzen als einen ebenbürtigen, gleichwertigen und souveränen Diskursbereich neben Physik, Mathematik und Logik zu etablieren. Man kann in diesen Bemühungen jenes Phänomen erkennen, das Foucault als die für die klassische Episteme typische „Anordnung in geordneten Tableaus von Identitäten und Unterschieden“121 bezeichnet. Der theoretische Drahtseilakt bestand darin, die verschiedenen Analogien und Differenzen auszutarieren. Es war notwendig, dass beide Diskursbereiche einerseits vergleichbar gemacht werden mussten, um nachweisen zu können, dass Dichtung genauso wichtig, bedeutend und leistungsstark war wie Naturwissenschaften, Mathematik oder Logik, während andererseits ihre Wesensverschiedenheit betont werden musste, um Dichtung in ihrer Eigenart und Eigengesetzlichkeit davor zu bewahren, wieder zum Appendix rationaler Welterkenntnis degradiert zu werden. Bereits zur Mitte des 18. Jahrhunderts wurden zunehmend Stimmen laut, die die Plausibilität der auf Analogien und Differenzen basierenden Verhältnisbestimmung hinterfragten und teilweise sogar überschritten.
1.3 Überschreitung des Analogie-Differenz-Verhältnisses Im deutschsprachigen Raum kann eine Relativierung der Analogie-DifferenzBestimmung bereits ab den 1740er Jahren und parallel zu Gottsched und Baumgarten beobachtet werden. So kritisierten die Schweizer Breitinger und Bodmer Gottsched dort, wo er Witz und Geschmack zu genuin dichterischen Fähigkeiten stilisiert, um Differenzmerkmale zu erhalten, mit denen er Dichtung von den vernunftbasierten Wissenschaften abgrenzen kann. Gellert wiederum entwarf in seinen Briefstellern die Idee einer natürlichen Ausdruckssprache, die jenseits von vernünftigen Regeln und Gesetzen eine unmittelbare Affizierung ermöglichen sollte. Und schließlich überschreiten auch Lessing und Klopstock mit ihren Entwürfen einer „Ausdrucksästhetik“122 das klassische Tableau von Analogien und Differenzen sowie das rationalistische Repräsentationsparadigma. Johann Jakob Breitinger (1701–1776) und Johann Jakob Bodmer (1698–1783) waren wie Gottsched zwar den aufklärerischen Idealen verpflichtet, doch anders als er gaben sie den Affekten ein wesentlich größeres Gewicht:
|| 121 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. [Les mots et les choses, 1966]. Übers. von Ulrich Köppen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991. S. 107. 122 Wolfgang Düsing: Wandlungen des Literaturbegriffs in der ‚Laokoon‘-Debatte zwischen Lessing und Herder. In: Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Hrsg. von Peter-André Alt. Würzburg: K&N, 2002. S. 63–78; S. 77.
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Mit der Aufwertung des Affekts hängt eine […] Besonderheit der schweizerischen Poetik zusammen, die sie gravierend von der objektzentrierten Poetik Gottscheds unterscheidet. Während dieser der Dichtung selbst die Qualitäten zuspricht, suchen die Schweizer die Qualitäten an der Wirkung zu erkennen, und zwar nicht […] an der intendierten, sondern an der tatsächlichen Wirkung. Die Erregung von Affekten wird zur ersten Aufgabe der Dichtung. Der Dichter wendet sich der Darstellung gemütbewegender Stoffe zu.123
Breitinger entwirft in seiner Critischen Dichtkunst (1740) eine „Sprache der Leidenschaften“, die auf die „Rührung der Einbildungskraft zielet“ und auf die „Bewegung des Herzens losgehet“, indem sie den Leser „auf eine unschuldige Weise durch den Schein der Wahrheit und Würklichkeit [betrieget]“.124 Die ‚Sprache der Leidenschaften‘ und ihr Wirkspektrum können sicherlich noch nicht als Wende hin zum Subjektivismus verstanden werden125, entscheidend ist aber, dass hier ein kleiner Bereich der Dichtung entworfen wird, der sich gänzlich dem Bereich der Vernunft und Rationalität entzieht. Nicht die Regelkenntnis, nicht der Geschmack, nicht der Witz, sondern die Natur, die Affekte und die Gefühle bringen die ‚Sprache der Leidenschaften‘ hervor: [S]o ist hingegen diese [die Sprache der Leidenschaften, M.I.] eine allgemeine Gabe der Natur; wer den Trieb und die Hitze einer Leidenschaft in seiner Brust fühlet, der darf sich nicht lange besinnen, was für einen Schwung er dem Ausdruck geben wolle, die Natur wird ihm auf der Stelle mit den Gedanken auch die Wörter einflössen, und seine Rede in dem Munde also formieren, wie sie seiner Regung gemäß und gleichsam eigen ist.126
Damit ist sowohl ein Vermögen als auch eine Wirkung benannt, die ohne Frage jenseits der von Gottsched entworfenen Analogie-Differenz-Beziehung zwischen Dichtung, Physik, Mathematik und Logik, aber auch jenseits von Baumgartens Dichotomie (logischer und ästhetischer Wahrheiten) angesiedelt ist. Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769) kritisiert ebenfalls Gottscheds Poetik. Anders als dieser begreift Gellert ‚Geschmack‘ als Regulativ von Ingenium und Witz. Geschmack stelle die Ausgewogenheit zwischen den etablierten Regeln und den Affekten her. In seiner Schrift Briefe, nebst einer praktischen Abhand|| 123 Gunter E. Grimm: Letternkultur. S. 291. 124 Johann J. Breitinger: Critische Dichtkunst worinnen die poetische Malerey in Absicht auf den Ausdruck und die Farben abgehandelt wird, mit einer Vorrede von Johann Jacob Bodmer. Bd. 2. Hrsg. von Paul Böckmann und Friedrich Sengle. Stuttgart: Metzler, 1966 [1740]. S. 352. 125 Vgl. Gunter E. Grimm: Letternkultur. S. 291: „Man kann zwar noch nicht soweit gehen, wie man es früher in der Forschung getan hat, daraus zu schließen, die Poetik der Schweizer repräsentiere einen frühen Status der Subjektivität, wohl aber bereitet die Betonung des movere den Boden für den späteren Subjektivismus“. 126 Johann J. Breitinger: Critische Dichtkunst. Bd. 2. S. 355.
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lung von dem guten Geschmacke in Briefen (1751) schränkt er die Reichweite einer systematischen Regelpoetik im Allgemeinen ein, denn er betont, dass es „in der Poesie gewisse Schönheiten giebt, die nicht durch Regeln erklärt werden können, […] die sich durch keine Methoden lehren lassen“127. Es ist bezeichnend, dass Gellert mit seiner Unterweisung im Briefschreiben gewissermaßen eine Poetik zum Privatgebrauch verfasst. Der Brief war einerseits eine Vorstufe bürgerlicher Öffentlichkeit128, andererseits der Ort, an dem sich das Subjekt gerade hinsichtlich seiner Innerlichkeit und Emotionalität sprachlich artikulieren konnte. Ein Anliegen Gellerts ist es daher, eine möglichst natürliche Sprache der Innerlichkeit für die Briefschreibenden zu entwickeln: Ob gleich alle Briefe natürlich seyn sollen: so müssen es doch die am meisten seyn, in welchen ein gewisser Affekt herrscht. Wenn man also dem andern seine Traurigkeit, sein Mitleiden, seine Freude, seine Liebe, in einem hohen Maaße zu erkennen geben, oder in ihm selbst die Empfindungen erwecken will: so lasse man sein Herz mehr reden, als seinen Verstand; und seinen Witz gar nicht. Man wisse von keiner Kunst, von keiner Ordnung in seinem Briefe. Der Beweis dieser Regel liegt in den Affekten selber. Wer recht gerührt, recht betrübt, recht froh, recht zärtlich ist, dem verstattet seine Empfindung nicht an das Sinnreiche, oder an eine methodische Ordnung zu denken.129
Der bürgerliche Privatbrief ist nach Gellerts Darstellung ebenso mit einer Wirkabsicht verbunden wie die rhetorische Rede oder die poetische Dichtung. Dichtung und Privatbriefe haben gemein, dass in ihnen Inhalte mit sprachlichen Mitteln authentisch, plausibel und glaubhaft dargestellt werden müssen. Der Briefschreiber wird daher von Gellert angehalten, Verstand und Witz beiseite zu lassen und nur dem Affekt und den Emotionen zu folgen. Sie sollen möglichst unmittelbar ihren Weg in die Worte finden. Das Kriterium der sprachlichen Natürlichkeit verbürgt also die Authentizität der dargestellten Innerlichkeit. Dabei ist sich auch Gellert bewusst, dass selbst eine derart natürliche Affektsprache inszeniert ist: Gut! Wer eigennützig genug ist, sich zu verstellen, oder wer dazu gezwungen ist, der behält doch allemal in seinen Briefen die Pflicht, den Charakter zu beobachten, den er vorstellen will. Er wird sich doch erinnern können, wie er selbst, oder andre, bey dergleichen Gelegen-
|| 127 Christian F. Gellert: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. In: Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Texte, Kommentare, Essays. Hrsg. von Angelika Ebrecht. Stuttgart: Metzler, 1990. S. 56–98; S. 91. 128 Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004. S. 115–121. 129 Christian F. Gellert: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung. S. 85.
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heit im Affekte zu reden pflegen. Diese Sprache muß er nachahmen, wenn man nicht sein kaltes und verstelltes Herz entdecken soll; allein er muß sie nicht übertreiben.130
Auch wenn Gellerts Überlegungen außerhalb des Bereichs der traditionellen Poetik liegen und sich an den privaten Briefschreiber wenden, kann hier dennoch ein Aspekt beobachtet werden, der für die Ausdifferenzierung des literarischen Diskurses in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Bedeutung erlangen sollte. Gellert entwirft hier – ähnlich wie Batteux – eine ‚Sprache des Herzens‘131, die jenseits der klassischen poetischen Regeln und jenseits von Vernunft und Witz verortet ist. Neben Bodmer, Breitinger und Gellert überschreitet auch Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) die auf Analogien und Differenzen basierende Verhältnisbestimmung von Dichtung und Wissenschaften. Mit Dubos betont er eine die Leidenschaften affizierende Wirkung des Dramas und erhebt sie sogar zur zentralen Funktion der Tragödie: „Ich setze also den Zweck des Trauerspiels in die Erregung der Leidenschaften, und sage: das beste Trauerspiel ist das, welches die Leidenschaften am heftigsten erregt, nicht das, welches geschickt ist, die Leidenschaften zu reinigen.“132 Hier im Briefwechsel über das Trauerspiel (1755– 1775) klingt bereits die prominente Umdeutung des aristotelischen eleos und phobos-Gedankens an, die Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie (1768– 1769) ausführlich entfaltet. Demnach verfehlt eine Tragödie dann ihre Wirkung, wenn sie Leidenschaften so darstelle, dass der Zuschauer nur rezipierend wahrnehme. Lessing fordert stattdessen ein aktives Mitleiden: Ich frage nicht, ob ihn der Poet so weit bringt, daß er diese Leidenschaften in der spielenden Person billiget, sondern ob er ihn so weit bringt, daß er diese Leidenschaften selbst fühlt und nicht bloß fühlt, ein andrer fühle sie? Kurz, ich finde keine einzige Leidenschaft, die das Trauerspiel in dem Zuschauer rege macht, als das Mitleiden.133
Lessing verlangt gerade nicht, dass die Tragödie den Zuschauer von Leidenschaften reinigt, sondern dass sie in ihm die Leidenschaft erregt und so eine moralische Veränderung jenseits der Theatertüren bewirkt. Im siebzehnten Literaturbrief tadelt er den französischen Klassizismus und Gottscheds Verehrung || 130 Christian F. Gellert: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung. S. 86. 131 Gellert war ein enger Freund Johann A. Schlegels, der Batteux’ Les beaux arts réduits à un même principe 1751 ins Deutsche übersetzte. 132 Gotthold E. Lessing: Briefwechsel über das Trauerspiel mit Mendelssohn und Nicolai. In: derselbe: Werke und Briefe. Bd. 3. Hrsg. von Conrad Wiedemann. Frankfurt a. M.: Klassiker, 2003. S. 662–736; S. 664. 133 Gotthold E. Lessing: Briefwechsel über das Trauerspiel. S. 669.
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desselben genau in diesem Punkt.134 Die Erregung von Leidenschaften ist deswegen so zentral für die moralische Wirkung des Dramas, weil sie die unteren Erkenntnisvermögen adressiert, denen Lessing mehr ‚Wirkung auf den Willen‘ zuspricht als den oberen: Alle unsere Urteile gründen sich entweder auf einen deutlichen Vernunftschluß, oder auf eine undeutliche Erkenntnis, welche man in Sachen, die die Wahrheit angehen, Einsicht, in Sachen aber, die die Schönheit betreffen, Geschmack zu nennen pflegt. Jener stützt sich auf eine symbolische Erkenntnis, auf die Wirkungen der obern Seelenkräfte; diese hingegen auf eine intuitive Erkenntnis, auf die Wirkung der untern Seelenkräfte. Es ist Ihnen bekannt, daß öfters der Geschmack oder die Einsicht […] mit der symbolischen Erkenntnis streiten könne, ja, daß die erstere öfters einen größern Einfluß in unsern Willen hat, als die letztere. […]. Die theatralische Sittlichkeit gehört nicht vor den Richterstuhl der symbolischen Erkenntnis. Wenn der Dichter, durch seine vollkommen sinnliche Rede, unsre intuitive Erkenntnis von der Würde und Unwürde seiner Charaktere überzeugen kann, so hat er unsern Beifall. Wir verdunkeln gern die deutlichen Vernunftschlüsse, die sich unsrer Illusion widersetzen; so wie wir uns vermittelst der Illusion in ein ander Klima, in andre Umstände, und unter andre Menschen versetzen, um die Stärke der Nachahmung recht nachdrücklich zu fühlen.135
In den letzten beiden Sätzen zeigt sich eine Distanz zu Dubos. Dieser hatte ja der Vernunft eine regulative Funktion bei der Rezeption von Nachahmungen zugesprochen. Nachahmungen erzeugen Leidenschaften im Zuschauer, die aber, da man sie durch die Beurteilung der Vernunft nur als Nachahmungen rezipiert, nicht so ‚tief ins Herz‘ gehen, wie die Leidenschaften, welche die Gegenstände direkt verursachen, so Dubos. Wenn Lessing nun schreibt, „[d]ie ästhetische Illusion ist wirklich im Stande, die obern Seelenkräfte auf eine Zeitlang zum Schweigen zu bringen […]“136, räumt er der Vernunft diese Funktion nicht mehr ein, was einen zentralen Aspekt der Nachahmungsästhetik berührt. Beim Rezipieren wird die Vernunft zum Schweigen gebracht, um die Realitätsillusion nicht zu stören. Beim Betrachten eines Dramas sehe der Zuschauer nicht die Nachahmung, sondern das Nachgeahmte selbst, er nehme das Repräsentierende als das Repräsentierte wahr, so dass die Repräsentation zu einer wahrgenommenen Pseudo-Präsenz wird: [D]ie Nachahmung [ist] nur dann erst zu ihrer Vollkommenheit gelangt, wenn man sie für die Sache selbst zu nehmen verleitet wird; so kann z. E. von den nachgeahmten Leiden-
|| 134 Vgl. Gotthold E. Lessing: Briefe, die neueste Literatur betreffend. In: derselbe: Werke und Briefe. Bd. 4. Hrsg. von Gunter E. Grimm. Frankfurt a. M.: Klassiker, 1997. S. 453–777; S. 500. 135 Gotthold E. Lessing: Briefwechsel über das Trauerspiel. S. 688. 136 Gotthold E. Lessing: Briefwechsel über das Trauerspiel. S. 709.
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schaften nichts wahr sein, was nicht auch von den wirklichen Leidenschaften gilt. Das Vergnügen über die Nachahmung, als Nachahmung, ist eigentlich das Vergnügen über die Geschicklichkeit des Künstlers […].137
Lessing überschreitet also die auf Analogien und Differenzen beruhende Verhältnisbestimmung von Dichtung und Wissenschaften in zwei Aspekten: Erstens durch die an der schweigenden Vernunft vorbeigehende Illusionserzeugung, die das Repräsentierende unmittelbar als Repräsentiertes wahrnimmt, und zweitens durch die ebenso von der Vernunft abgekoppelte, emotive und affektive Wirkung. Auch wenn Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) und Lessing in der Forschung häufig als „Antipode[n]“138 dargestellt werden, lassen sich gerade in diesen beiden Aspekten auch Ähnlichkeiten in ihren poetologischen Ansätzen erkennen. Klopstock betont wie Lessing die illusionserzeugende Wirkung der Dichtung. So schreibt er in Die Sprache der Poesie (1758): „Denn die Abschilderung der Leidenschaften ist dasjenige, was in einem guten Gedichte herrschen soll.“139 Aber auch ihm geht es weniger um die Nachahmung und mehr um die Erregung der Leidenschaften im Zuhörer, wie er in der Vorrede zu Der Messias (1780–1781) ausführt: Aber sein [des Dichters, M.I.] Zweck geht weiter, als eine Kraft der Seele, indes daß die andern schlummern, nur zu erregen, sie sanft zu unterhalten, und ihr einen stillen Beifall abzulocken. Eine Absicht, welche auch Meisterstücke hervorgebracht hat! Er bringt uns […] mit schneller Gewalt dahin, daß wir ausrufen, uns laut freuen; tiefsinnig stehnbleiben, denken, schweigen; oder blaß werden, zittern, weinen.140
Die Erregung der Leidenschaften kann bei einer gelungenen Dichtung nach Klopstock zu einer Erhebung und Anregung auch des Verstandes und sogar der gesamten Seele führen: Ist es das Herz, so der Poet angreift, wie schnell entflammt uns dies! Die ganze Seele wird weiter, alle Bilder der Einbildungskraft erwachen, alle Gedanken denken größer. Denn obgleich einige Leidenschaften eine gewisse ruhige Art zu denken ganz unterbrechen, so feuert uns doch überhaupt das bewegte Herz an, schnell, groß und wahr zu denken. Welche neue Harmonie der Seele entdecken wir dann in uns! Mit welchem ungewohnten
|| 137 Gotthold E. Lessing: Briefwechsel über das Trauerspiel. S. 717. 138 Gunter E. Grimm: Letternkultur. S. 303 139 Friedrich G. Klopstock: Von der Sprache der Poesie. In: derselbe: Ausgewählte Werke. Bd. 1. Hrsg. von Karl A. Schleiden. München: Hanser, 1962. S. 1015–1026; S. 1020. 140 Friedrich G. Klopstock: Von der heiligen Poesie (Vorrede zu ‚Der Messias‘). In: derselbe: Ausgewählte Werke. Bd. 1. Hrsg. von Karl A. Schleiden. München: Hanser, 1962. S. 996–1009; S. 1001.
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Schwunge erheben sich die Gedanken und Empfindungen in uns! Welche Entwürfe! welche Entschlüsse!141
Für die poetologische Beschreibung der die Leidenschaften erregenden Dichtung modifiziert Klopstock – wie schon Lessing – das Nachahmungsprinzip. Nach Klopstock soll Dichtung die fiktionalen Gehalte so darstellen, dass der Leser das Dargestellte als ‚Fastwirklichkeit‘ rezipiert und die Zeichenhaftigkeit der Darstellung dabei ‚vergisst‘: Es gibt wirkliche Dinge, und Vorstellungen, die wir uns davon machen. Die Vorstellungen von gewissen Dingen können so lebhaft werden, daß diese uns gegenwärtig, und beinah die Dinge selbst zu sein scheinen. Diese Vorstellungen nenn ich fastwirkliche Dinge. […] Der Zweck der Darstellung ist Täuschung. Zu dieser muß der Dichter den Zuhörer, sooft er kann, hinreißen, […].142
Wie die dichterische Illusion bei Lessing wird auch die Darstellung bei Klopstock als eine Pseudo-Präsenz aufgefasst, die den Rezipienten darüber hinweg täuschen soll, dass gerade repräsentierende Zeichen gelesen, gehört oder gesehen werden.143 Die täuschende Wirkung beruhe, so führt Klopstock in Von der Darstellung (1779) aus, auf verschiedenen Merkmalen der poetischen Darstellung.144 Voraussetzung einer gelingenden Täuschung sei die Authentizität, die Ernsthaftigkeit und die Anteilnahme des Dichters bei der Produktion – kurz: seiner Innerlichkeit. Die dichterische Darstellung müsse der wahrhafte Ausdruck der dichtenden Seele sein: „Schwer ist jenes genau Wahre, weil der Dichter sich gefreut haben muß, wenn sich der Zuhörer freuen, und geweint, wenn
|| 141 Friedrich G. Klopstock: Von der heiligen Poesie. S. 1003. 142 Friedrich G. Klopstock: Von der Darstellung. In: derselbe: Ausgewählte Werke. Bd. 1. Hrsg. von Karl A. Schleiden. München: Hanser, 1962. S. 1031–1039; S. 1031f. 143 „Der Dichter bringt mich, durch seine mächtigen Künste dahin, daß ich zu der Zeit, da ich ihn lese, oder auch noch länger, vergesse, daß es ein Gedicht ist.“ Friedrich G. Klopstock: Von der heiligen Poesie. S. 997f. 144 „Das Angeführte trägt das Seinige zur Darstellung bei; aber hervorgebracht wird sie durch folgendes […]. 1. ‚Durch Zeigung des Lebens, welches der Gegenstand hat.‘ […] 2. ‚Durch genau wahren Ausdruck der Leidenschaft.‘ […] 3. ‚Durch Einfachheit und Stärke.‘ […] 4. ‚Durch Zusammendrängung des Mannigfaltigen.‘ […] 5. ‚Durch die Wahl kleiner, und doch vielbestimmender Umstände.‘ 6. ‚Durch eine Stellung der Gedanken, daß jeder da, wo er steht, den tiefsten Eindruck macht.‘ 7. ‚Durch Innerlichkeit, oder Heraushebung der eigentlichen innersten Beschaffenheit der Sache.‘ […] 8. ‚Durch Ernst. Der Dichter hat eine solche Überzeugung von der Wahrheit und Wichtigkeit seiner Gegenstände, daß man sieht, er rede vielmehr um ihrent willen, als aus Neigung zu gefallen.‘ […] 9. ‚Durch herzlichen Anteil des Dichters an dem, was er sagt.‘“ Friedrich G. Klopstock: Von der Darstellung. S. 1033–1035.
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er weinen soll.“145 Der dichterische Ausdruck bleibt zwar an die Sprache gebunden, aber in ihrer Musikalität, ihrer Rhythmik und ihrer Bildlichkeit sieht Klopstock die Möglichkeit, die von ihm geforderte Unmittelbarkeit der Empfindung zumindest ansatzweise herzustellen. Als höchste Form der Poesie gilt ihm nicht nur die Nachahmung der Natur, sondern auch die Nachahmung der Religion in ihrer Rede vom Transzendenten, einem Bereich, der sich der vernünftigen Erkenntnis per definitionem entzieht: Der Verfasser des heiligen Gedichts ahmt der Religion nach; wie er, in einem nicht viel verschiedenen Verstande, der Natur nachahmen soll. Obgleich die Offenbarung, in Absicht auf die Lehren fürs Herz, nur auf dem Wege der Natur fortgegangen war; so ist doch ihr Mittel uns von neuem glückselig und tugendhaft zu machen, weit über die Natur erhaben. Das heilige Gedicht ist auf einem viel höhern Schauplatze. Der Plan der Offenbarung ist seine erste Regel.146
Wenn Klopstock Dichtung als Ort der Offenbarung des Transzendenten beschreibt, überschreitet er endgültig jene Grenze, die Baumgarten in der Aesthetica gemeinsam für Dichtung und Wissenschaften zieht. Denn als analogon bleibt die Kunst des schönen Denkens ja an die ratio und deren menschliche Beschränkung gebunden. Klopstock begreift Dichtung dagegen in seiner höchsten Form als die Möglichkeit, einen Blick ins Jenseits dieser Grenze zu werfen. In diesem Punkt trennt er in Die deutsche Gelehrtenrepublik (1774) sehr entschieden zwischen dichterischer Darstellung und philosophischer bzw. wissenschaftlicher Abhandlung: Darstellung und Abhandlung (dieß möchte einigen vielleicht noch nicht recht bekant seyn,) sind nicht wenig von einander unterschieden. Abhandlung ist gewönlich nur Theorie, und wo sie es nicht ist, da ist sie doch von der Darstellung gleich weit entfernt. Die Art des Vortrags, die zum Exempel ein Naturforscher zu der Beschreibung einer gehabten Erfahrung wählt, gränzt wenigstens sehr nah an den Vortrag der Abhandlung; Darstellung hat Theorie. Sie beschäftigt, bey der Hervorbringung, die ganze Seele; Abhandlung nur das Urtheil.147
Wissenschaft bzw. Philosophie adressieren die Vernunft (‚das Urtheil‘), während Dichtung die ganze Seele affiziert – Wissenschaft und Philosophie haben und sind zugleich Theorie, Dichtung hat Theorie, ist aber Darstellung, die ihre || 145 Friedrich G. Klopstock: Von der Darstellung. S. 1032. 146 Friedrich G. Klopstock: Von der heiligen Poesie. S. 1004. 147 Friedrich G. Klopstock: Die deutsche Gelehrtenrepublik. Bd. 1. In: derselbe: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 7.1. Hrsg. von Helmut Riege. Berlin, New York: De Gruyter, 1999. S. 9.
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Theorie und ihren Zeichencharakter vergessen lassen soll. Klopstocks Poetik überschreitet mit diesem Grundgedanken das Tableau der Identitäten und Unterschiede, das Gottsched und Baumgarten entwerfen. Bei Gellert, Lessing und Klopstock wird eine für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts typische Tendenz erkennbar, Dichtung poetologisch weniger in Abhängigkeit zu Wissenschaften und Philosophie heteronom zu bestimmen und mehr ihre autonome Charakteristik zu betonen. Dies mag damit zusammenhängen, dass der in der Querelle geführten Debatte um den Fortschritt in Dichtung und Wissenschaften zunehmend weniger Relevanz zukam. Die Emanzipation von den ästhetischen und poetologischen Idealen der Antike verringerte offenbar die durch die neuzeitliche Phasenverschiebung sichtbar gewordene Rückständigkeit der Dichtung in den Augen der Zeitgenossen. Erst indem die poetologischen Ideale von den Mustern der Naturwissenschaften, Mathematik, Logik und rationalen Erkenntnis gelöst wurden, konnte, wie Jörg Schönert feststellt, das Konzept der ‚schönen Literatur‘ entstehen: Unkenntnis und Verachtung der Wissenschaften seien der wahre Ursprung der Poesie, so heißt es bereits um 1740 bei Pelloutier. Das ist zugleich als Zurückweisung jener frühneuzeitlichen Auffassung von der Wissensaneignung und -verarbeitung zu verstehen, der das ungebildete ‚ingenium‘ nur als Laster galt, das der Kontrolle in der Einübung des vorliegenden, gelehrten Wissens bedarf. So bildeten ‚memoria‘ und ‚iudicium‘ so lange das Gegengewicht, bis mit der Etablierung der modernen Einzelwissenschaften ganz anders geartete Normen für die Erhebung und Speicherung von Wissen durchgesetzt werden. Erst unter diesen Bedingungen einer veränderten Ordnung des Wissens und der Wissenschaften kann die Rede von der ‚schönen Literatur‘ im Sinne einer philosophisch begründeten ‚Lehre vom Schönen der Kunst‘ gerechtfertigt werden, kann der ‚Poesie‘ ein Anspruch auf Wahrheit zugedacht werden, der nicht mehr im Rahmen eines wissenschaftlich gesicherten Wissens zu prüfen war.148
Bodmer, Breitinger, Gellert, Lessing und Klopstock überschritten die Parallelisierung von Rationalität, Wissenschaftlichkeit, Poetizität und Ästhetik ohne jedoch die auf Analogien und Differenzen basierende Argumentationsstruktur grundlegend zu hinterfragen. Sie modifizierten die von Batteux oder Dubos übernommenen Denkfiguren, sodass ein Bild des Verhältnisses von Wissenschaften und Dichtung entstand, das beide nicht mehr als zwei Schwestern zeigt. Die Illusions-, die Gefühls- und die Ausdrucksästhetik unterwanderten zentrale Aspekte, auf denen das Analogie-Differenz-Konstrukt der Aufklärer
|| 148 Jörg Schönert: Neue Ordnungen im Verhältnis von ‚schöner Literatur‘ und Wissenschaft (1770–1830). In: Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Hrsg. von Karl Richter. Stuttgart: M&P, 1997. S. 39–47; S. 40.
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gebaut war. Kategorien wie Schönheit und Wahrheit wurden dem intersubjektiven Raum entzogen und im Subjekt verortet, so Ekaterini Kaleri: Es ist offenkundig, daß […] im Grunde […] schon durch die Lokalisierung der ästhetischen Wahrheit ausschließlich auf der Ebene der bloßen Vorstellung […] der ästhetische Diskurs sich de facto von der erkenntnistheoretischen Problematik entfernt. Durch die Begründung des Fiktiven im Konzept der möglichen Welten wird zwar die erkenntnistheoretische Verankerung der Ästhetik aufrechterhalten. Doch Schönheit wird im Fall der ästhetischen Wahrheit der poetischen Erdichtungen nicht nur von logischer und rationaler, wissenschaftlicher Erkenntnis drastisch abgekoppelt, sondern letztlich auch vom natürlichen sensitiven Zugang zur realen Welt.149
Die anschließenden poetologischen Diskurse der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lösten Dichtung und Poesie weiter aus ihrer Analogiebindung hinsichtlich wissenschaftliche Methodik, Systematik, Erkenntnis oder Rationalität. Sie stellten Dichtung als einen autonomen Diskurs dar.
1.4 Autonomisierungstendenzen des literarischen Diskurses Das griechische Wort ‚αὐτονομία‘ birgt in seinen beiden Teilen αὐτός (‚selbst‘) und νόμος (‚Gesetz‘) bereits die Wurzel des Gedankens, der für die Poetik und Ästhetik des ausgehenden 18. Jahrhunderts prägend werden sollte. Es war die Auffassung, dass Kunst und Dichtung ein eigen- oder selbst-gesetzlicher Bereich der menschlichen Kultur sei, also ein Bereich, dessen Regeln, Strukturen, Wesen und Funktionen nicht aus einem anderen Bereich ableitbar seien. Immanuel Kants Ästhetik stellt einen wesentlichen Schritt in Richtung einer solchen Autonomieästhetik dar, denn er entwirft mit den ästhetischen Ideen ein Pendant der Vernunfterkenntnis und begreift insbesondere die Dichtung als ein zweckfreies Spiel mit Ideen (vgl. Kap. II.4.3). In der Kritik der Urteilskraft ordnet Kant diejenigen „Beurtheilungen, die man ästhetisch nennt, die das Schöne und Erhabene der Natur oder der Kunst betreffen“150, der Urteilskraft zu, die er „in der Ordnung unserer Erkenntnißvermögen zwischen dem Verstande und der
|| 149 Ekaterini Kaleri: Ästhetische Wahrheit. Transformation der Erkenntnistheorie in der Ästhetik Georg Friedrich Meiers. In: Geschichte der Hermeneutik und die Methodik der textinterpretierenden Disziplinen. Hrsg. von Jörg Schönert und Friedrich Vollhardt. Berlin, New York: De Gruyter, 2005. S. 365–402; S. 390f. 150 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: derselbe: Werke. Akademie Textausgabe. Bd. 5. Berlin: De Gruyter, 1963. S. 165–486; S. 169.
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Vernunft [als] ein Mittelglied“151 ansiedelt. Damit grenzt er alles Ästhetische, alle Künste und auch die Dichtung aus dem Kreis der Erkenntnis im engeren Sinne aus, setzt sie aber dennoch in eine Beziehung zu Verstand und Vernunft: Denn ob sie [die ästhetischen Beurteilungen, M.I.] gleich für sich allein zum Erkenntniß der Dinge gar nichts beitragen, so gehören sie doch dem Erkenntnißvermögen allein an und beweisen eine unmittelbare Beziehung dieses Vermögens auf das Gefühl der Lust oder Unlust nach irgend einem Princip a priori, ohne es mit dem, was Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens sein kann, zu vermengen, weil dieses seine Principien a priori in Begriffen der Vernunft hat.152
Das Revolutionäre in Kants Bestimmung des Ästhetischen liegt nach Heinz Paetzold in der Spannung zwischen Transzendenz- und Wirklichkeitsbezug: Kant grenzt also einerseits das Ästhetische von den anderen wesentlichen Aktivitäten der Menschen ab: Ästhetisches läßt sich nicht auf szientifische Rationalität oder auf Moralität reduzieren. Andererseits bestimmt er es in seinem Verhältnis zu ihnen: Ästhetisches ist also nur sinnvoll mit Blick auf ,Theorie‘ und ‚Praxis‘ zu diskutieren. […]. Ästhetische Rationalität transzendiert die wissenschaftliche Vernunft, indem sie das kategorial umgrenzte Universum gegenständlicher Erkenntnis überschreitet.153
Kants ästhetische Idee bleibt damit einerseits unterhalb der szientistischen Rationalität angesiedelt, da sie Anschauungen nur vorstellt. Andererseits baut sie auf der szientistischen Rationalität auf, insofern sie Verstand und Vernunft voraussetzt. Man könnte daher, wie Paetzold fortfährt, Kants Ästhetik als Kritik eines empiristisch-sensualistischen, wie auch eines rationalistischen Ansatzes interpretieren. Kants Theorie […] will weder das Schöne in den Begriff auflösen (Rationalismus), noch das Schöne in der Immanenz der Empfindung aufgehen lassen (Empirismus, Sensualismus). Vielmehr sucht seine Theorie das Moment ästhetischer Rationalität, worin diese an der Logizität der Begriffe partizipiert, ohne in sie auflösbar zu sein, mit jenem Konträren des Sinnlichen […] auszubalancieren.154
Die Sprachlichkeit von Dichtung tritt in diesem fragilen Konstrukt völlig in den Hintergrund, sie ist lediglich ein Teil dessen, was Kant unter dem ‚Angenehmen‘ subsumiert. Dichtung kann ein Symbol des Sittlich-Guten geben, da das Sittlich-Gute ein Vernunftbegriff ist und da den Vernunftbegriffen „schlechter-
|| 151 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 168. 152 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 169. 153 Heinz Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus. S. 56 und S. 71. 154 Heinz Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus. S. 96.
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dings keine Anschauung angemessen gegeben werden kann“155. Schönheit ist symbolische Darstellung des Sittlich-Guten, die auf einer Analogie beruht, in welcher die Urtheilskraft ein doppeltes Geschäft verrichtet, erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz andern Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden.156
Auf diese Weise hinterfragt Kant die belehrende, moralische Funktion von Dichtung, also das maßgebliche Paradigma der aufklärerisch orientierten Poetik. Er begreift das Ästhetische als ‚Zweckmäßigkeit ohne Zweck‘, als rein formale Zweckmäßigkeit, die sich „auf das Verhältnis von Objekt und Subjekt bezieht“ und „die Harmonie von Natur und Freiheit, den Endzweck vernünftigen Denkens“ 157 repräsentiert. Dichtung soll demnach nicht einen moralischen Willen, sondern ein ‚uninteressiertes und freies Wohlgefallen‘ bewirken: Das Angenehme, das Schöne, das Gute bezeichnen also drei verschiedene Verhältnisse der Vorstellungen zum Gefühl der Lust und Unlust […]. Man kann sagen: daß unter allen diesen drei Arten des Wohlgefallens das des Geschmacks am Schönen einzig und allein ein uninteressirtes und freies Wohlgefallen sei; denn kein Interesse, weder das der Sinne, noch das der Vernunft, zwingt den Beifall ab. Daher könnte man von dem Wohlgefallen sagen: es beziehe sich in den drei genannten Fällen auf Neigung, oder Gunst, oder Achtung. […] Alles Interesse setzt Bedürfnis voraus, oder bringt eines hervor; und als Bestimmungsgrund des Beifalls läßt es das Urtheil über den Gegenstand nicht mehr frei sein. [...] [D]enn wo das sittliche Gesetz spricht, da giebt es objectiv weiter keine freie Wahl in Ansehung dessen, was zu thun sei […] [Hervorh. M.I.].158
Kant modifiziert mit der Zweckfreiheit einen weiteren wichtigen Aspekt im Gleichgewicht der auf Analogien und Differenzen beruhenden aufklärerischen Verhältnisbestimmung von Wissenschaften und Dichtung. Wolff, Baumgarten oder Meier versuchten gerade durch die Ausrichtung auf einen jeweils konkreten und gewichtigen Zweck eine funktionale Analogie zwischen ratio und analogon rationis zu konstruieren. Kant hingegen stellt den inhaltlich definierten Zwecken der Wissenschaften (Erkenntnisgewinn, Wahrheitsnachweis, technische Anwendung) eine ‚Zweckmäßigkeit ohne Zweck‘, ein freies Spiel entgegen. Friedrich Schiller (1759–1805) adaptiert wesentliche Aspekte der Kant’schen Poetik und Ästhetik und auch er kann, wie Goethe, dessen Poetik in einem ei|| 155 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 351. 156 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 352. 157 Heinz Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus. S. 95. 158 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 209.
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genen Kapitel untersucht werden soll (vgl. Teil V), als ein Vertreter der poetologischen Autonomisierungstendenz gelten. Besonders die theoretischen Schriften der 1790er Jahre zeigen Züge einer poetologischen Autonomisierung (z.B. die Kallias-Briefe an Christian G. Körner, 1793; Über Anmut und Würde, 1793; Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 1793/1795; Über naive und sentimentalische Dichtung, 1795/1796). Bereits in den Kallias-Briefen greift Schiller Kants ‚Zweckmäßigkeit ohne Zweck‘ und das ‚uninteressierte Wohlgefallen‘ auf. Während Kant sie aber vor allem auf die Wahrnehmung des Subjekts bezog, denkt Schiller sie vom schönen Gegenstand und der Dichtung her. Er befreit das Kunstwerk einerseits von einer konkreten zweckrationalen oder moralischen Instrumentalisierung, andererseits von der vom Subjekt abhängigen Affektwirkung. Das Schöne habe, wie Schiller in Über Anmut und Würde ausführt, eine Mittlerfunktion zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, es sei die Übereinstimmung sinnlicher Eindrücke mit einer Vernunftidee: [S]o thut man ganz Recht, das Schöne, objektiv, auf lauter Naturbedingungen einzuschränken, und es für einen bloßen Effekt der Sinnenwelt zu erklären. Weil aber doch – auf der andern Seite – die Vernunft von diesem Effekt der bloßen Sinnenwelt einen transcendenten Gebrauch macht, und ihm dadurch, daß sie ihm eine höhere Bedeutung leiht, gleichsam ihren Stempel aufdrückt, so hat man ebenfalls Recht, das Schöne subjektiv in die intelligible Welt zu versetzen. Die Schönheit ist daher als die Bürgerin zwoer Welten anzusehen[…]; sie empfängt ihre Existenz in der sinnlichen Natur, und erlangt in der Vernunftwelt das Bürgerrecht. Hieraus erklärt sich auch, wie es zugeht, daß der Geschmack, als ein Beurtheilungsvermögen des Schönen, zwischen Geist und Sinnlichkeit in die Mitte tritt, und diese beyden, einander verschmähenden Naturen, zu einer glücklichen Eintracht verbindet […].159
Schiller vergleicht die drei möglichen Relationen von Sinnlichkeit und Vernunft mit historischen Herrschaftsformen: Herrschten die Sinne über die Vernunft, gleiche das einer ungeregelten ‚Pöbelherrschaft‘ (Ochlokratie), herrsche die Vernunft über die Sinne, gleiche das einer Monarchie. Stünden aber beide Vermögen in einem harmonischen Miteinander, sei dies wie ein guter Rechtsstaat, in dem die Freiheit in einer bedachten Balance zwischen Anarchie und ‚gesetzlichem Druck‘ entstehe.160 Das Schöne ist für Schiller nicht mehr nur eine Angelegenheit der unteren Erkenntnisvermögen, vielmehr ist es ihm der umfassende Ausdruck von Harmonie zwischen Neigung und Pflicht, zwischen Sinnlichkeit und Vernunft einer ‚schönen Seele‘. Dort, wo Dichtung eine derartige Seele || 159 Friedrich Schiller: Über Anmut und Würde. In: derselbe: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 20. Hrsg. von Benno von Wiese u.a. Weimar: Böhlau, 1962. S. 251–308; S. 260. 160 Vgl. Friedrich Schiller: Über Anmut und Würde. S. 260f.
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darstelle, könne sie sogar das moralisch Gute in eingeschränktem Maße zur sinnlichen Wahrnehmung bringen, obwohl „die moralische Kraft im Menschen keiner Darstellung fähig [ist], da das Übersinnliche nie versinnlicht werden kann.“161 Dichtung kann das Undarstellbare darstellen (vgl. Kap. IV.2.2). In den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen thematisiert Schiller erneut die Kluft zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, beleuchtet sie aber auch aus einem historisch-anthropologischen Blickwinkel. Im sechsten Brief wird das Jugendstadium der Menschheit, die griechische Antike, mit dem Zustand der Menschheit im 18. Jahrhundert kontrastiert. Schiller entwirft für die Antike jenes Bild eines harmonischen Zusammenwirkens von Sinnlichkeit und Vernunft, das er in Über Anmut und Würde zum Merkmal des Schönen erhob: Zugleich voll Form und voll Fülle, zugleich philosophirend und bildend, zugleich zart und energisch sehen wir sie [die Menschen der Antike, M.I.] die Jugend der Phantasie mit der Männlichkeit der Vernunft in einer herrlichen Menschheit vereinigen. Damals, bey jenem schönen Erwachen der Geisteskräfte, hatten die Sinne und der Geist noch kein strenge geschiedenes Eigentum; denn noch hatte kein Zwiespalt sie gereizt, miteinander feindselig abzutheilen […]. Wie ganz anders bei uns Neuern! Auch bei uns ist das Bild der Gattung in den Individuen vergrößert auseinandergeworfen – aber in Bruchstücken, nicht in veränderten Mischungen, daß man von Individuum zu Individuum herumfragen muß, um die Totalität der Gattung zusammenzulesen. Bei uns […] äußern sich die Gemüthskräfte auch in der Erfahrung so getrennt, wie der Psychologe sie in der Vorstellung scheidet, und wir sehen nicht bloß einzelne Subjekte, sondern ganze Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer Anlagen entfalten, während daß die übrigen, wie bei verkrüppelten Gewächsen, kaum mit matter Spur angedeutet sind.162
Als einen wesentlichen Grund für die historische Aufspaltung und Dissoziation der Erkenntnisvermögen sowie der Gesellschaftsteile führt Schiller die Entwicklung der Wissenschaften und die funktionale Ausdifferenzierung an: Die Kultur selbst war es, welche der neuern Menschheit diese Wunde schlug. Sobald auf der einen Seite die erweiterte Erfahrung und das bestimmtere Denken eine schärfere Scheidung der Wissenschaften, auf der andern das verwickeltere Uhrwerk der Staaten eine strengere Absonderung der Stände und Geschäfte nothwendig machte, so zerriß auch der innere Bund der menschlichen Natur, und ein verderblicher Streit entzweyte ihre harmonischen Kräfte. Der intuitive und der spekulative Verstand vertheilten sich jetzt feindlich gesinnt auf ihren verschiedenen Feldern […] und mit der Sphäre, auf die man seine Wirksamkeit einschränkt, hat man sich auch in sich selbst einen Herrn gegeben, der || 161 Friedrich Schiller: Über Anmut und Würde. S. 294. 162 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: derselbe: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 20. Hrsg. von Benno von Wiese u.a. Weimar: Böhlau, 1962. S. 309–412; S. 321f.
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nicht selten mit Unterdrückung der übrigen Anlagen zu endigen pflegt. Indem hier die luxurierende Einbildungskraft die mühsamen Pflanzungen des Verstandes verwüstet, verzehrt dort der Abstraktionsgeist das Feuer, an dem das Herz sich hätte wärmen und die Phantasie sich entzünden sollen.163
Die Aufspaltung von Vernunft, Sinnlichkeit und Einbildungskraft sei insgesamt ein „Vortheil der Gattung“164, da die wissenschaftlichen Erfolge der Neuzeit nur durch Spezialisierung und Ausdifferenzierung erreichbar gewesen seien. Für das einzelne Individuum bedinge sie jedoch einen unversöhnlichen Antagonismus der Vermögen, so dass die volle Entfaltung einer Fähigkeit die Entfaltung der anderen Fähigkeiten massiv einschränke oder gar verhindere. Deutlich zeige sich das in der Opposition von Logik und Dichtung: Aber wird wohl ein solcher, in reinen Verstand und reine Anschauung gleichsam aufgelöster Geist dazu tüchtig seyn, die strengen Fesseln der Logik mit dem freyen Gange der Dichtungskraft zu vertauschen und die Individualität der Dinge mit treuem und keuschem Sinn zu ergreifen?165
Schillers Diagnose der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung von Wissenschaften und Künsten gleicht der Dissoziation der Vermögen im Individuum. Vernunft und Sinnlichkeit, Wissenschaften und Künste sind nicht nur fragmentiert, sie befinden sich sogar in einem Wettstreit um die ‚Alleinherrschaft‘.166 Die wissenschaftliche Erkenntnis in Gänze erlange die Menschheit nur als Gattung, nicht jedoch im Individuum. Das sinnlich Schöne wiederum erlange nur der Einzelne, da es auf einer individuellen Zueignung gründe. Schiller entwirft im Kontrast zu den von ihm bedauerten Verhältnissen seiner Zeit die Utopie eines ‚Staats des schönen Scheins‘. In diesem Staat werde, so Schiller, [k]ein Vorzug, keine Alleinherrschaft […] geduldet, soweit der Geschmack regiert und das Reich des schönen Scheins sich verbreitet. Dieses Reich erstreckt sich aufwärts, bis wo die Vernunft mit unbedingter Nothwendigkeit herrscht und alle Materie aufhört; es erstreckt sich niederwärts, bis wo der Naturtrieb mit blinder Nötigung waltet und die Form noch nicht anfängt […]. Aus den Mysterien der Wissenschaft führt der Geschmack die Erkenntnis unter den offenen Himmel des Gemeinsinns heraus und verwandelt das Eigentum der Schulen in ein Gemeingut der ganzen menschlichen Gesellschaft. In seinem Gebiete muß auch der mächtigste Genius sich seiner Hoheit begeben und zu dem Kindersinn vertrau-
|| 163 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. S. 322. 164 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. S. 322. 165 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. S. 327. 166 Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. S. 322.
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lich herniedersteigen. […]. Hier also in dem Reiche des ästhetischen Scheins wird das Ideal der Gleichheit erfüllt […].167
Schiller greift in Über naive und sentimentalische Dichtung nochmals seine Zeitdiagnose auf und wendet sie poetologisch. Da dem antiken Dichter die Wirklichkeit noch als ein harmonisches Ganzes begegnet sei und sein Denken wie Wahrnehmen ungetrennt gewesen wären, hätte er in seiner Dichtung diese Wirklichkeit auch unmittelbar nachahmen können. Eine solche unmittelbare Nachahmung nennt Schiller ‚naive Dichtung‘. Aufgrund der individuellen, kulturellen und gesellschaftlichen Fragmentierung bzw. Entfremdung sei es unmöglich, in der Neuzeit noch ‚naiv‘ zu dichten. Gleichwohl bleibe die naive Dichtung ein wachzuhaltendes Ideal: Wendet man nun den Begriff der Poesie, der kein andrer ist, als der Menschheit ihren möglichst vollständigen Ausdruck zu geben, auf jene beyden Zustände an, so ergiebt sich, daß dort in dem Zustande natürlicher Einfalt, wo der Mensch noch, mit allen seinen Kräften zugleich, als harmonische Einheit wirkt, wo mithin das Ganze seiner Natur sich in der Wirklichkeit vollständig ausdrückt, die möglichst vollständige Nachahmung des Wirklichen – daß hingegen hier in dem Zustande der Kultur, wo jenes harmonische Zusammenwirken seiner ganzen Natur bloß eine Idee ist, die Erhebung der Wirklichkeit zum Ideal oder, was auf eins hinausläuft, die Darstellung des Ideals den Dichter machen muß.168
Diese hier skizzierte Form der Dichtung bezeichnet Schiller als ‚sentimentalische Dichtung‘, da sie gleichermaßen den naiven Urzustand und seinen Verlust erinnert und betrauert. Da die Natur nicht mehr unmittelbar nachgeahmt werden könne, sondern der Dichter nur auf seine Eindrücke der Natur zurückgreife, trete er als Mittler zwischen Natur und Rezipienten: „[N]ur auf jene Reflexion ist die Rührung gegründet, in die er [der Dichter, M.I.] selbst versetzt wird und uns versetzt. Der Gegenstand wird hier auf eine Idee bezogen, und nur auf dieser Beziehung beruht seine dichterische Kraft.“169 Schillers Zeitdiagnose fällt folglich deswegen so negativ aus, weil er sie im Kontrast zu einer überhöhten Imagination der griechischen Antike entwickelt. Die zeitgenössischen Formen der Philosophie, der Wissenschaften, der Dichtung und der Künste deutet er vor dieser Folie als jeweils einseitige, defizitäre Teilbereiche, auch wenn er als Mediziner ihre Leistungen, Erfolge und Notwen-
|| 167 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. S. 411–413. 168 Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: derselbe: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 20. Hrsg. von Benno von Wiese u.a. Weimar: Böhlau, 1962. S. 413– 503; S. 437. 169 Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. S. 441.
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digkeit schätzt und anerkennt. Er kritisiert die Naturwissenschaftler dafür, dass sie bisweilen die szientistische Wirklichkeitsdeutung für absolut erklärten und ihnen aus dem Blick gerate, dass wissenschaftliche Erklärungen nur einen mittelbaren, modellhaften Zugriff auf Natur darstellten: „Kommt es nicht daher, weil der Philosoph immer von Gesetzen und rationalen Principien, die Natur aber immer von blinden Gewalten und von der That ausgeht?“170 Schiller wird nicht müde zu betonen, dass die in viele Teildisziplinen fragmentierte Wissenschaft nur eine Erkenntnis stiften kann, die auf die jeweiligen die Gegenstandsbereiche und Methoden beschränkt bleibt. So wie die sentimentalische Dichtung müssen folglich auch die Wissenschaften stets ihre Limitierung und ihre Defizite reflektieren. In Schillers Zeitdiagnose ist die Verhältnisbestimmung von Dichtung und Wissenschaften durch eine Gemeinsamkeit geprägt, nämlich durch eine gleichermaßen beklagenswerte Lage der Beschränktheit. Dort, wo Schiller über die künftige Wiederherstellung der antiken Harmonie nachdenkt, verschiebt sich allerdings das Verhältnis. In der Rezension zu Bürgers Gedichten spricht er der Dichtung – und nur der Dichtung – das Potenzial zu, die verlorengegangene Ganzheit von menschlichen Fähigkeiten und damit auch die gesellschaftliche Ganzheit künftig wiederherzustellen: Bei der Vereinzelung und getrennten Wirksamkeit unsrer Geisteskräfte, die der erweiterte Kreis des Wissens und die Absonderung der Berufsgeschäfte notwendig macht, ist es die Dichtkunst beinahe allein, welche die getrennten Kräfte der Seele wieder in Vereinigung bringt, welche Kopf und Herz, Scharfsinn und Witz, Vernunft und Einbildungskraft in harmonischem Bunde beschäftigt, welche gleichsam den ganzen Menschen in uns wieder herstellt. Sie allein kann das Schicksal abwenden, das traurigste, das dem philosophierenden Verstande widerfahren kann, über dem Fleiß des Forschens den Preis seiner Anstrengungen zu verlieren und in einer abgezognen Vernunftwelt für die Freuden der wirklichen zu erstreben.171
Schiller stellt seinen Zeitgenossen jedoch ein schlechtes Zeugnis aus. Bislang sei von dichterischer Seite aus nichts für die Wiedervereinigung der separierten Vermögen und Individuen erreicht worden:
|| 170 Friedrich Schiller: Notizen aus dem Nachlass. In: derselbe: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 26. Hrsg. von Benno von Wiese u.a. Weimar: Böhlau, 2001. S. 89–95; S. 90. Es handelt sich bei dem zitierten Text um eine vermutlich in den 1790er Jahren entstandene Notiz, die mit ‚Methode‘ überschrieben ist. 171 Friedrich Schiller: Über Bürgers Gedichte. In: derselbe: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 22. Hrsg. von Julius Petersen u. Gerhard Fricke. Weimar: Böhlau, 1958. S. 245–264; S. 245.
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Dazu aber würde erfodert, daß sie [die Dichtkunst, M.I.] selbst mit dem Zeitalter fortschritte, dem sie diesen wichtigen Dienst leisten soll; daß sie sich alle Vorzüge und Erwerbungen desselben zu eigen machte. Was Erfahrung und Vernunft an Schätzen für die Menschheit aufhäuften, müßte Leben und Fruchtbarkeit gewinnen und in Anmut sich kleiden in ihrer schöpferischen Hand. […]. Dies aber setzte voraus, daß sie selbst in keine andre als reife und gebildete Hände fiele. Solange dies nicht ist, solange zwischen dem sittlich ausgebildeten, vorurteilfreien Kopf und dem Dichter ein andrer Unterschied stattfindet, als daß letzterer zu den Vorzügen des erstern das Talent der Dichtung noch als Zugabe besitzt, so lange dürfte die Dichtkunst ihren veredelnden Einfluß auf das Jahrhundert verfehlen, und jeder Fortschritt wissenschaftlicher Kultur wird nur die Zahl ihrer Bewunderer vermindern.172
Solange die Dichtung nicht ihrer Aufgabe nachkomme, eine Ganzheit zu stiften oder zumindest idealisch darzustellen, sinke ihre Relevanz mit dem „Fortschritt wissenschaftlicher Kultur“173. Schillers Klage impliziert aber, dass ein alternativer Weg denkbar ist. In seinem Gedicht Die Künstler (1788) weist er Dichtung als panhumane Größe aus, die sowohl die organische Einheit aller Vermögen als auch aller Stände umfasst.174 Wo er die Utopie einer kommenden Zeit beschreibt, erscheint Dichtung als ein das menschliche Dasein in allen Facetten umfassender und allen Wissenschaften übergeordneter Diskurs, in dem die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen überhaupt erst zu ihrer wahren Existenz gelangen. Kant und Schiller lösten sich bei ihrer Verhältnisbestimmung von Wissenschaften und Dichtung, so kann festgehalten werden, völlig von dem in der Querelle bzw. Aufklärung propagierten Konzept, nach dem Dichtung stets in Abhängigkeit von Wissenschaft, Vernunft und Rationalität durch ein Tableau von Analogien und Differenzen bestimmt wurde. Bei beiden Autoren übersteigt
|| 172 Friedrich Schiller: Über Bürgers Gedichte. S. 246. 173 Friedrich Schiller: Über Bürgers Gedichte. S. 246. 174 Vgl. Schillers Gedicht Die Künstler (1788): „Wenn auf des Denkens frey gegebnen Bahnen / der Forscher jetzt mit kühnem Glücke schweift / und, trunken von siegrufenden Päanen, / mit rascher Hand schon nach der Krone greift; / wenn er mit niederm Söldnerslohne / den edeln Führer zu entlassen glaubt, / und neben dem geträumten Throne / der Kunst den ersten Sklavenplatz erlaubt: / verzeiht ihm – der Vollendung Krone / schwebt glänzend über eurem Haupt. / Mit euch, des Frühlings erster Pflanze, / Begann die seelenbildende Natur, / Mit euch, dem freud’gen Erntekranze, / Schließt die vollendende Natur.“ Friedrich Schiller: Die Künstler. In: derselbe: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 2.1. Hrsg. von Norbert Oellers. Weimar: Böhlau, 1983. S. 383–396; S. 393f. Vgl. auch Barthold Pelzer: Schillers ‚Die Künstler‘. Ein Gedicht im Spannungsfeld unterschiedlicher Erkenntnismodi, Kunst – Geschichte – Wissenschaft. In: Wissenschaft, Technik, Kunst. Interpretationen, Strukturen, Wechselwirkungen. Hrsg. von Eberhard Knobloch. Wiesbaden: Harrassowitz, 1997. S. 165–181.
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die Dichtung in der ‚ästhetischen Einstellung‘, wie Paetzold konstatiert, „das Universum szientifischer Rationalität. […] Der Funktionskreis instrumenteller Vernunft wird transzendiert“175. Noch einen Schritt weiter gingen die Autoren des deutschen Idealismus. Sie stellten die alte, heteronome Verhältnisbestimmung geradezu auf den Kopf. Bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und August Wilhelm Schlegel beispielsweise wird das Ästhetische, speziell die Poesie, nicht nur zu einem autonomen, sondern zu einem absoluten Diskurs.
1.5 Absolutsetzung des literarischen Diskurses Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) unternimmt in Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (1794/1795) den Versuch, die Dualismen Kants (Sinnlichkeit und Vernunft, praktische und theoretische Vernunft, Ding an sich und Erscheinung etc.) in einem gemeinsamen Prinzip aufzuheben. Dieses Prinzip soll der subjektivistisch verstandene Geist sein, den Fichte auch die ‚produktive Einbildungskraft‘ oder ‚Schöpferin des Bewusstseins‘ nennt. Er setzt den erkennenden Geist als ein Absolutum, das schöpferisch sowohl Form als auch Inhalt der Vorstellungen hervorbringt und damit die Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft begründen soll176: „Es wird demnach hier gelehrt, dass alle Realität – es versteht sich für uns, […] – bloss durch die Einbildungskraft hervorgebracht werde.“177 Der Verstand begegne diesen Schöpfungen als einem Gegebenen, als dem Nicht-Ich und somit als etwas Fremdem. Im allgemeinen, naiven Verständnis erscheine die Wirklichkeit dem Subjekt also als etwas Vorgängiges. In der philosophierenden Reflexion könne das Subjekt sich über seine eigene Naivität jedoch erheben – nicht als Mensch, sondern als spekulativer Philosoph (also rein theoretisch) – und die durch die eigene Einbildungskraft erzeugte Gemachtheit des Wirklichen erkennen. Zwischen erlebendem Wahrnehmen einer gegebenen Wirklichkeit und dem rein theoretisch-reflektierenden Erkennen der Gemachtheit der Wirklichkeit herrsche dementsprechend eine tiefe Kluft, über die nur eine einzige Brücke führe: Das Ästhetische. „Auf dem gemeinen Gesichtspunct erscheint die Welt als gegeben, auf dem transzendentalen
|| 175 Heinz Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus. S. 427. 176 Vgl. Reinhard Loock: Schwebende Einbildungskraft. Konzeptionen theoretischer Freiheit in der Philosophie Kants, Fichtes und Schellings. Würzburg: K&N, 2007. S. 187. 177 Johann G. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre 1794. In: derselbe: Johann Gottlieb Fichte’s sämmtliche Werke. Abt. 1, Bd. 1. Hrsg. von Immanuel H. Fichte. Berlin: Veit, 1845. S. 85–328; S. 227.
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gemacht (alles in mir), auf dem ästhetischen erscheint sie als gegeben, so als ob wir sie gemacht hätten und wie wir selbst sie machen würden.“178 Fichte spricht der Dichtung in seinem Ansatz besondere Bedeutung zu. Sie ist erkennbares Sinnbild der menschlichen Doppelnatur, insofern sie vom Menschen geschaffen wird und doch dem Menschen als Gegebenes gegenübertritt. Dichtung macht erlebbar und damit sinnlich erkennbar, was sonst durch die Kluft zwischen Erleben und Reflexion kategorisch getrennt ist. Dichtung vermag demnach das zu leisten, was keiner theoretisch-reflektierenden Disziplin und keiner Wissenschaft möglich ist. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) übernimmt zwar wesentliche Aspekte von Fichte, kritisiert ihn aber gerade hinsichtlich seiner Darstellung des Ästhetischen. Fichte erkenne noch nicht die zentrale, alles entscheidende Funktion der Kunst für die Philosophie, so Schellings Einschätzung im System des transzendentalen Idealismus (1800).179 Welche Schlüsselfunktion dagegen Schelling selbst dem Ästhetischen zuspricht, wird deutlich, wenn man das ‚System‘-Programm in Gänze berücksichtigt. Sein Grundanliegen ist es, das menschliche Wissen als ein System zu entwerfen, in dem alle Teilbereiche auf ein gemeinsames, grundlegendes Prinzip zurückgeführt werden können. Die Ähnlichkeit zu axiomatischen Fundierungsversuchen ist augenfällig – den gesuchten Grundsatz des Wissens bezeichnet er als ‚Postulat‘.180 Da Schelling ‚Wissen‘ als Identität von Vorstellung und vorgestelltem Objekt definiert181, gilt es für ihn nachzuweisen, wo eine derartige Identität tatsächlich gegeben sein könnte. Er möchte also „einen Punkt […] finden, in welchem das Objekt und sein Begriff, der Gegenstand und seine Vorstellung ursprünglich, schlechthin und ohne alle Vermittlung Eins sind.“182 Er findet ihn in der intellektuellen Selbstanschauung des produktiven Ichs, also in der Reflexion auf die eigene Ich-Setzung des erkennenden Ichs. Hierbei sind, ähnlich wie bei Fichte, zwei Kräfte im Ich wirksam: das unendliche Hervorbringen und das anschauende Erkennen. Das Hervorbringende schränke zunächst im Unendlichen die Erkenntnisgegenstände ein, die dann dem Schauenden als Gegebenes || 178 Johann G. Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo. Kollegnachschrift K. Chr. Fr. Krause 1798/99. Hrsg. von Erich Fuchs. Hamburg: Meiner, 1994. S. 244. 179 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Paetzolds Darstellung der Schelling’schen Ästhetik. Vgl. Heinz Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus. S. 119. 180 Vgl. Friedrich W.J. von Schelling: System des transzendentalen Idealismus. In: derselbe: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 1. Hrsg. von Karl F.A. Schelling. Stuttgart, Augsburg: Cotta, 1858. S. 327–635; S. 376. 181 Er formuliert: „daß an den Dingen nichts anderes ist, als was wir an ihnen vorstellen.“ Friedrich W.J. von Schelling: System des transzendentalen Idealismus. S. 346. 182 Friedrich W.J. von Schelling: System des transzendentalen Idealismus. S. 364.
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selbst vorgestellt würden. Empfinden sei daher die Anschauung von derartig Begrenztem als objektiv Gegebenes. In der theoretisch-philosophischen Reflexion – Schelling nennt sie auch ‚intellektuelle Anschauung‘ – werde das Objektive als Hervorbringung, d.h. als Begrenzung des Unendlichen, durch das eigene Ich erkannt. In diesem Akt könne die sonst verborgene Identität von Subjekt und Objekt erfasst werden. Die philosophische Reflexion der eigenen Empfindung nennt Schelling ‚produktive Anschauung‘.183 In der produktiven Anschauung werde, so führt er aus, dem Subjekt philosophisch-reflektierend bewusst, was zuvor nur unbewusst gewesen sei, nämlich dass das objektiv Gegebene eine eigene, unbewusste Hervorbringung sei. Das oberste Prinzip des Wissens umfasse nicht nur die Identität von Subjektivem und Objektivem, sondern auch die Identität von Unbewusstem und Bewusstem. Da dieses oberste Prinzip des Wissens nicht selbst ein objektiv Gegebenes sein könne – sonst wäre es dem Ich bereits bewusst und müsste nicht bewusst gemacht werden –, entziehe es sich der intellektuellen Anschauung. Es müsse postuliert werden, da ihm zunächst jegliche Realität fehle. Real und unmittelbar angeschaut und damit auch als wahr begriffen wird das oberste Prinzip, so Schelling, erst in der dritten Form der Anschauung, der ‚ästhetischen Anschauung‘: Wie soll nun aber dieses absolut Nichtobjektive doch zum Bewußtseyn hervorgerufen und verstanden werden, was nothwendig ist, wenn es Verbindung des Verstehens der ganzen Philosophie ist? Daß es durch Begriffe ebensowenig aufgefaßt als dargestellt werden könne, bedarf keines Beweises. Es bleibt also nichts übrig, als daß es in einer unmittelbaren Anschauung dargestellt werde, welche aber wiederum selbst unbegreiflich, und da ihr Objekt etwas schlechthin Nichtobjektives seyn soll, sogar in sich selbst widersprechend zu seyn scheint. […] Diese allgemein anerkannte und auf keine Weise hinwegzuleugnende Objektivität der intellektuellen Anschauung ist die Kunst selbst. […] Das Kunstwerk nur reflektirt mir, was sonst durch nichts reflektirt wird, jenes absolut Identische, was sonst im Ich schon sich getrennt hat; was also der Philosoph schon im ersten Akt des Bewußtseyns sich trennen läßt, wird, sonst für jede Anschauung unzugänglich, durch das Wunder der Kunst aus ihren Produkten zurückgestrahlt. Aber nicht nur das erste Princip der Philosophie und die erste Anschauung, von welcher sie ausgeht, sondern auch der ganze Mechanismus, den die Philosophie ableitet, und auf welchem sie selbst beruht, wird erst durch die ästhetische Produktion objektiv [Hervorh. M.I.].184
Die Kunst und das Ästhetische haben bei Schelling eine „Schlüsselfunktion für die Philosophie“185. Wie die Philosophie nehme auch die Kunst von der ‚unend-
|| 183 Vgl. Friedrich W.J. von Schelling: System des transzendentalen Idealismus. S. 399. 184 Friedrich W.J. von Schelling: System des transzendentalen Idealismus. S. 624–625. 185 Heinz Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus. S. 124.
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lichen Entzweiung‘ von Subjektivem und Objektivem, von Unbewusstem und Bewusstem ihren Ausgang, allerdings könne sie in einem endlichen Objekt den unendlichen Gegensatz veranschaulichen und aufheben. Möglich sei dies, da sie – anders als die Philosophie und Wissenschaften – nicht auf der Begrifflichkeit und den Differenzierungen der Vernunfttätigkeit beruhe, sondern auf dem ‚Dichtungsvermögen‘, das der Einbildungskraft entspringe. Das Dichtungsvermögen kann – und das ist ‚das Wunder der Kunst‘–, das Unendliche in einem endlichen Produkt zeigen.186 Schelling meint damit nicht eine konkrete Dichtung, sondern vielmehr die quasi-platonische Idee einer Urdichtung, die im Zusammenspiel aller Dichtungen entstehe.187 In diesem Sinne begreift Schelling auch Dichtung als etwas, in dem „die Objektivität selbst nur durch das Ganze ihrer Dichtungen hervorzubringen“188 ist. Da Schelling Kunst als das „einzig wahre und ewige Organon […] der Philosophie“189 bezeichnet, lässt sich sein Ansatz als „ästhetischer Absolutismus“190 bezeichnen, denn die „Philosophie bleibt – das ist die provozierende These Schellings – in ihrer Entfaltung von Wahrheit auf die Kunst angewiesen“191. Die ästhetische Anschauung vollzieht objektiv das, was die intellektuelle Anschauung nur subjektiv vorstellen und postulieren kann. Damit dies möglich ist, müssen Kunst, Philosophie und Wissenschaften bei allen Unterschieden aber doch gemeinsame Urprinzipien haben. Schelling führt das nicht nur ontogenetisch auf die Vermögen des Subjekts zurück, sondern sieht es durch die phylogenetische Entwicklung der Menschheit bestätigt: Die mythischen Erzählungen verkörpern für ihn die besagte Einheit des Bewussten und des Unbewussten, des Subjektiven und des Objektiven. Sie sind darüber hinaus auch der Ursprung von Philosophie, Wissenschaft und Kunst. Gleichzeitig scheint in der mythischen Dichtung aber auch die Möglichkeit einer utopischen Wiedervereinigung auf. Poesie als ein Ort, an dem intellektuelle und ästhetische Anschauung künftig eine Vereinigung finden können. Deutlich klingt dabei im folgenden Zitat die romantische Ästhetik Friedrich Schlegels an, auf dessen Rede über die Mythologie192 Schelling explizit verweist:
|| 186 Vgl. Friedrich W.J. von Schelling: System des transzendentalen Idealismus. S. 625f. 187 Vgl. Friedrich W.J. von Schelling: System des transzendentalen Idealismus. S. 627. 188 Friedrich W.J. von Schelling: System des transzendentalen Idealismus. S. 627. 189 Friedrich W.J. von Schelling: System des transzendentalen Idealismus. S. 627f. 190 Heinz Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus. S. 119. 191 Heinz Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus. S. 427. 192 Schlegels Rede über die Mythologie wurde erst nach der Drucklegung von Schellings SystemSchrift publiziert, Schelling kannte aber das Manuskript.
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[S]o ist, um noch diesen Schluß daraus zu ziehen, zu erwarten, daß die Philosophie, so wie sie in der Kindheit der Wissenschaft, von der Poesie geboren und genährt worden ist, und mit ihr alle diejenigen Wissenschaften, welche durch sie der Vollkommenheit entgegengeführt werden, nach ihrer Vollendung als ebenso viel einzelne Ströme in den allgemeinen Ocean der Poesie zurückfließen, von welchem sie ausgegangen waren. Welches aber das Mittelglied der Rückkehr der Wissenschaften zur Poesie seyn werde, ist im Allgemeinen nicht schwer zu sagen, da ein solches Mittelglied in der Mythologie existirt hat, ehe diese, wie es jetzt scheint, unauflösliche Trennung geschehen ist. Wie aber eine neue Mythologie, welche nicht Erfindung des einzelnen Dichters, sondern eines neuen, nur Einen Dichter gleichsam vorstellenden Geschlechts seyn kann, selbst entstehen könne, dieß ist ein Problem, dessen Auflösung allein von den künftigen Schicksalen der Welt und dem weiteren Verlauf der Geschichte zu erwarten ist.193
Schelling begreift die Poesie zugleich als absoluten Ursprung und als allumfassendes Ende aller Wissenschaften, aller Philosophie. Speziell der mythologischen Poesie traut er zu, nicht nur die ursprüngliche Identität und das Unendliche darzustellen, sondern auch Mensch und Welt in ein lebendiges Verhältnis zu bringen.194 In diesem Punkt setzt, wie Sabine Müller festhält, seine Kritik der zeitgenössischen Naturwissenschaften an: Schelling wirft der reduktionistischen Wissenschaft vor, mit einem entleerten und entseelten Materiebegriff zu operieren, gemäß dem die Materie nur das Mittel menschlicher Zwecke und totes Material sei, dem die Form bloß äußerlich aufgedrückt sei. Die wahre Idee der Materie dagegen sei in Wahrheit beseelt und ideell bestimmt.195
Schelling kritisiert explizit die quantifizierende und experimentelle Methode, den Empirismus sowie den zweckrationalen, technischen Zugriff auf die Natur196: „[D]iese Erkenntnißart, die wir mit Einem Wort den Empirismus nennen können, [...] ist falsch, dem Princip nach, und eine ewig und unversiegbare
|| 193 Friedrich W.J. von Schelling: System des transzendentalen Idealismus. S. 629. 194 Vgl. Friedrich W.J. von Schelling: System des transzendentalen Idealismus. S. 629–632. 195 Sabine Müller: Programm für eine neue Wissenschaftstheorie. Würzburg: K&N, 2004. S. 94. 196 Er kritisiert die „Kunst zu isoliren und die Natur unter künstlich veranstalteten Verbindungen und Trennungen zu beobachten“ sowie den „praktische[n] Brauchbarkeits- und Nützlichkeitsgeist der Zeit […].“ Friedrich W.J. von Schelling: Abhandlungen, Recensionen aus dem kritischen Journal der Philosophie. In: derselbe: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 1. Hrsg. von Karl F.A. Schelling. Stuttgart, Augsburg: Cotta, 1859. S. 1–296; S. 98 und S. 121. Vgl. auch Sibille Mischer: Der verschlungene Zug der Seele. Natur, Organismus und Entwicklung bei Schelling, Steffens und Oken. Würzburg: K&N, 1997.
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Quelle des Irrthums.“197 Ebenso verwirft er die vermeintliche Strenge der formalen Logik und Syllogistik.198 Er diagnostiziert und beklagt ganz wie Schiller eine durch die Entwicklung der Menschheit bedingte Fragmentierung von Wissenschaften und Künsten. Auch er begreift die Gegenwart als defizitären Zustand, an dessen Überwindung Idealismus und Poesie gemeinsam arbeiten müssten. Die Existenz der funktional ausdifferenzierten Diskurse gilt es nach Schelling künftig in einem absoluten Diskurs, der mythischen Poesie, zu vereinigen. Die Absolutsetzung modifiziert Schelling später in der Philosophie der Kunst (1803– 1804) zwar leicht, sie sollte aber in der Frühromantik dennoch zu einem Leitmotiv der poetologischen Verhältnisbestimmung von Dichtung und Wissenschaften avancieren. Resümiert man mit Paetzold die Positionen von Fichte und Schelling, so zeigt sich eine erhebliche Distanz zur Aufklärung. Überblickt man die weitere Entwicklung der Ästhetik in der Philosophie des deutschen Idealismus, so fällt auf, daß der eine von Baumgarten der Ästhetik zugesprochene Problembereich, nämlich die Theorie sinnlicher Erkenntnismodalitäten, nahezu vergessen worden ist. Die nachfolgende Ästhetiktradition hat sich vielmehr stärker auf die Belange einer Philosophie der Kunst – so beispielhaft bei Schelling und Hegel – konzentriert.199
Eine ähnliche Distanz zur Ästhetik der Aufklärung wird in August Wilhelm Schlegels (1767–1845) ästhetischen Vorlesungen bereits auf der Ebene der Terminologie deutlich. Schlegel kritisiert die Bezeichnung ‚schöne Künste und Wissenschaften‘, da die Wissenschaften nicht Kunst und wiederum die Künste nicht Wissenschaft sein könnten: Theorie der schönen Künste und Wissenschaften. Dieser Zusatz ist unschicklich, schöne Wissenschaft ist in sich widersprechend. Denn Wissenschaft ist ein System, oder ein geordnetes Ganzes von Wahrheiten, deren jede mit Notwendigkeit aus der vorhergehenden herfließt. Alle Wissenschaft ist also ihrer Natur nach strenge, der Schein von Spiel und Freyheit, der bey allem Schönen wesentlich Statt finden muß, ist bey ihr gänzlich ausgeschlossen. Unstreitig ist es nur eine ungeschickte Übersetzung von belles lettres, und die beyden schönen Wissenschaften sollen die Poesie und die Beredsamkeit seyn. Unterdes-
|| 197 Friedrich W.J. von Schelling: Ferne Darstellungen aus dem System der Philosophie. In: derselbe: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 4. Hrsg. von Karl F.A. Schelling. Stuttgart, Augsburg: Cotta, 1859. S. 333–510; S. 343. 198 Vgl. Andreas Hetzel: Die Wirksamkeit der Rede. Zur Aktualität klassischer Rhetorik für die moderne Sprachphilosophie. Bielefeld: transcript, 2011. S. 177–186. 199 Heinz Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus. S. 426.
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sen mag doch diese nunmehr fast veraltete Benennung die verkehrte Forderung begünstigt haben.200
All jene Aspekte der Physik, Mathematik und Logik, die Batteux, Gottsched und andere Theoretiker in den Bereich von Dichtung und Künsten transferieren wollten, sind für Schlegel kategorisch trennende Merkmale. Systematisierung, Axiomatisierung, Evidenz, Notwendigkeit und Allgemeinheit von Wahrheit – all das schließen „Spiel und Freyheit“201 aus. Schlegel kritisiert aber nicht nur die Verwischung der Grenze zwischen Wissenschaften und Künsten, er erkennt auch in der Bezeichnung ‚schöne Künste‘ ein erkenntnistheoretisches Missverständnis der rationalistischen Schule in der Tradition von Leibniz und Wolff. Baumgarten verstehe, moniert Schlegel, ‚die schöne Kunst‘ als eine Analyse des untern (sinnlichen) Erkenntnißvermögens, als Gegenstück zu der des oberen oder der Logik. Wie diese den richtigen Gebrauch der Vernunft, sollte jene das gleiche für die unteren Erkenntnißkräfte lehren: eine kann es aber eben so wenig als die andre. Das ganze Misverständniß beruht auf der falschen Ansicht der Sinnlichkeit im Wolfischen System, […]. Die Wolfische Schule läugnete nämlich die Anschauung, indem sie dieselbe für ein verworrenes Denken ausgab, also für etwas bloß negatives, für eine Beschränkung des Denkens. Kant hat sie in ihre Rechte wieder hergestellt.202
Schlegel kritisiert nicht nur das Tableau der Identitäten und Differenzen, sondern ganz allgemein die Wissenschafts- und Vernunftgläubigkeit der Aufklärung. So gelten ihm Newtonianismus und Mechanik als ein Holzweg der Naturforschung.203 Er deklassiert die mathematische Naturerforschung, denn „die mathematischen Erklärungsarten [haben] alles ertödtet, und die mathematischen Physiker, die alles durch den bloßen Calcul ausmachen wollten, sind wiederum Maschinen dieser ihrer Maschine geworden.“204 Dem tötenden Mechanismus stellt August Wilhelm Schlegel ganz im Sinne des Idealismus den Organismus entgegen, der in Natur wie Kunst alle Teile als ein organisches, gewachsenes und zusammenwirkendes Ganzes begreift. Höchster Ausdruck des Organismus und der Freiheit sei die Kunst, die gerade nicht ihre Regeln aus der Natur oder
|| 200 August W. Schlegel: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (Berlin 1801–1804). In: derselbe: Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Bd. 1. Hrsg. von Ernst Behler. München, Paderborn, Wien: Schöningh, 1989. S. 181f. 201 August W. Schlegel: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. S. 181f. 202 August W. Schlegel: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. S. 182. 203 Vgl. Johannes Bierbrodt: Naturwissenschaft und Ästhetik 1750–1810. Würzburg: K&N, 2000. S. 40. 204 August W. Schlegel: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. S. 518.
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den ihr äußerlichen Zusammenhängen gewönne: „Wenn die Kunst ein absoluter Zweck des Menschen ist, so müssen wir ihr Gesetz im menschlichen Geiste aufsuchen. Das Gesetz der Kunst ist autonomisch, sie bildet sich selbst das Gesetz.“205 Schlegel insistiert auf dem autonomen, unabhängigen und damit von den zeitgenössischen Formen der Naturwissenschaften kategorisch geschiedenen Charakter der Kunst. Sie könne weder moralisch noch erkenntnistheoretisch instrumentalisiert werden und sei der ‚letzte Zweck‘ des Menschseins. Schlegel definiert mit Kunst und Dichtung das absolute Ziel des Menschen: Die Kunst ist Zweck des Menschen an sich, (wobei die Vernunft nicht weiter fragen kann, wozu?) letzter Zweck. Von einem Kunstwerke kann kein anderer Zweck gefordert werden, als der, welcher im Wesen (in der Wesenheit) desselben ist. Auch wenn es von niemand betrachtet wird, ist die Kunst für den Künstler Selbstzweck für sich gewesen!206
Gerade aufgrund ihrer Zwecklosigkeit transzendiere Dichtung – und hier ist Schlegel nahe an Schellings Philosophie – die philosophische Reflexion und lässt noch jenseits der höchsten Speculation des Philosophen Seherblicke thun, welche den Geist, eben da, wo er, um sich selbst anzuschauen, allem Leben entsagt hatte, wieder in die Mitte des Lebens zurückzaubern. So ist sie der Gipfel der Wissenschaft, die Deuterin, Dollmetscherin jener himmlischen Offenbarung, wie […] eine Sprache der Götter.207
Anders als Gottsched und Baumgarten müssen sich die Romantiker nicht mehr an den Erfolgen von Physik, Mathematik und Logik abarbeiten, um die Würde und Dignität der Dichtung zu sichern. Sie revidieren vielmehr gerade die heteronome Bestimmung von Dichtung und Künsten. Auch Friedrich Schlegel kritisiert wie sein Bruder, August Wilhelm, die empirischen Naturwissenschaften in ihrem vermeintlich allumfassenden Welterklärungsanspruch.208 Hierzu bedient er sich der idealistischen Philosophie, der zeitgenössischen Erkenntnistheorie und auch der Wissenschaftstheorie „in einer derart eigentümlichen Weise209, dass die entlehnten Begriffe und Termini im Kontext seiner Überlegungen oft paradox oder gar hermetisch wirken. Seine Ablehnung von Rationalismus, szientistischer Rationalität, axiomatischer Systematisierung und formaler Logik ist noch radikaler als die seines Bruders Au-
|| 205 August W. Schlegel: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. S. 129. 206 August W. Schlegel: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. S. 1. 207 August W. Schlegel: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. S. 388. 208 Vgl. Johannes Bierbrodt: Naturwissenschaft und Ästhetik 1750–1810. S. 43. 209 John Neubauer: Symbolismus und symbolische Logik. Die Idee der ars combinatoria in der Entwicklung der modernen Dichtung. München: Fink, 1978. S. 49.
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gust Wilhelm. War der im eigenen Schreiben durchaus um Systematik, Widerspruchsfreiheit und argumentative Klarheit bemüht, gibt Friedrich Schlegel – bewusst und reflektiert – diesen Anspruch auf210: Er feiert die Unverständlichkeit als produktive Kraft211, verwirft die Logik als Grundlage vernünftiger Argumentation212 und propagiert das Fragment als Muster künstlerischer Autonomie213. Sein Anliegen ist – und hier bricht er mit Fichte –, die Opposition von philosophischem Rationalismus und Idealismus zu überwinden. Gleichzeitig flüchtet er sich gerade nicht in einen blinden Irrationalismus, so dass HarmPeer Zimmermann Schlegels Philosophie als einen Rationalismus beschreiben kann, der so selbstbewußt und gelassen geworden ist, daß er die Welt und das Denken loszulassen und sie einem ‚kühnen Chaos‘ zu überantworten vermag. Dieser romantische Rationalismus sieht es geradezu als Attribut seiner Freiheit an, Fehler zu machen, nicht recht zu haben, inkonsequent zu sein, sich vom Unerwarteten, Augenblicklichen, Kontingenten korrigieren zu lassen.214
Für die Verhältnisbestimmung von Dichtung und Wissenschaften ist die Frage, wie sich frühromantische Autoren gegenüber dem philosophischen Rationalismus und der szientistisch geprägten Rationalität positionieren, zentral. Wie Zimmermann weist auch Remigius Bunia zu Recht auf die rationalistischen Züge vieler Fragmente und Texte hin.215 Doch ist hier terminologische Vorsicht geboten, denn es muss zwischen den philosophisch-erkenntnistheoretischen und
|| 210 Vgl. Martin Götze: Friedrich Schlegels „Apologie des Buchstabens“. Zum philosophischen Darstellungsproblem in der Frühromantik. In: Darstellbarkeit. Zu einem ästhetisch-philosophischen Problem um 1800. Hrsg. von Claudia Albes. Würzburg: K&N, 2003. S. 29–52. 211 Vgl. Friedrich Schlegel: Über die Unverständlichkeit. In: derselbe: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe. Bd. 2. Hrsg. von Hans Behler. München, Paderborn, Wien: Schöningh, 1967. S. 363–372. 212 „Die beyden Sätze d[es] Grundes und d[es] Widerspruchs müssen völlig vernichtet werden, als die Gränzen der Empirie.“ Friedrich Schlegel: Philosophische Lehrjahre 1796–1806. In: derselbe: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 18. Hrsg. von Ernst Behler. München, Paderborn, Wien: Schöningh, 1963. S. 1–501; S. 409. 213 „Ein Fragment muß gleich einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel.“ Friedrich Schlegel: AthenäumsFragmente. In: derselbe: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 2. Hrsg. von Hans Eichner. München, Paderborn, Wien: Schöningh, 1967. S. 165–255; S. 197. 214 Harm-Peer Zimmermann: Ästhetische Aufklärung. Zur Revision der Romantik in volkskundlicher Absicht. Würzburg: K&N, 2001. S. 220. 215 Vgl. Remigius Bunia: Romantischer Rationalismus. Zu Wissenschaft, Politik und Religion bei Novalis. München, Paderborn, Wien: Schöningh, 2013. S. 60.
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den ästhetischen Aspekten des Rationalismus differenziert werden. Bunia konstatiert, dass weder Schlegel noch Novalis die ‚cartesianische Methode‘ und folglich auch nicht die Axiomatik adaptierten.216 In diesem Kontext ist eine Diskussion interessant, die um „die Entbehrlichkeit eines höchsten und Einzigen Grundsatzes alles Wissens“217 kreiste und die Anfang der 1790er Jahre im ‚Schülerkreis‘218 des österreichischen Jakobiners Carl Leonhard Reinhold (1757–1823) geführt wurde. Reinhold selbst gründet seine Philosophie auf Prämissen, „die nicht schon zu Beginn, sondern erst in der Folge begründe[t]“219 werden könnten. Die Prämissen sind folglich nicht letztbegründend, sondern werden erst nachträglich als ‚Finalideen‘ im und durch den Gebrauch legitimiert.220 So verwandelt sich, wie Manfred Frank resümiert, das Programm einer Deduktion aus oberstem Grundsatz in eine unendliche Approximation an ein nie ultimativ zur Gewißheit zu bringendes Principium, eben eine Idee. – Bei Reinhold handelt es sich näherhin um die Idee des ‚absoluten Subjekts‘, welches in allen Zügen […] das allein Tätige ist [...]. Aber wer Selbstbwußtsein zu einer regulativen Idee macht, verzichtet darauf, ihm Sein und cartesianische Evidenz zuzulegen.221
Durch Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) fand die Diskussion um die Letztbegründung des Wissens Eingang in die Jenaer Kreise, in denen auch Friedrich Schlegel von ihr Notiz nahm. Jacobi hatte bereits in seiner Schrift Über die Lehre des Spinoza in Briefen an Herrn Moses Mendelssohn (1785) nachgewiesen, dass die Definition von ‚Wissen‘ als ‚begründete Meinung‘ in einen unendlichen Regress führe, wenn nicht ein letzter, also ein nicht deduzierbarer Grundsatz existiere (in der ‚7. Beilage‘ zur zweiten Auflage).222 Einen solchen Grundsatz sieht Jacobi wie Rousseau im ‚Gefühl‘ oder ‚Glauben‘ vorliegen (vgl. Kap. II.4.3). Vor die Entscheidung gestellt, entweder keine Letztbegründung des Wissens oder aber lediglich eine Letztbegründung im Glauben bzw. Gefühl zu haben, entscheiden sich die Frühromantiker mutig für die erste Alternative: „Sie bestreiten
|| 216 Remigius Bunia: Romantischer Rationalismus. S. 73. 217 Manfred Frank: „Alle Wahrheit ist relativ, alles Wissen symbolisch“. Motive der Grundsatz-Skepsis in der frühen Jenaer Romantik (1796). In: Revue internationale de philosophie 50 (1996). S. 403–436; S. 405. 218 Unter anderem diskutierten hier Novalis, Friedrich Niethammer, Franz von Herbert, Johann Erhart, Jens Baggesen, Friedrich Creuzer, Leonard Creuzer und Friedrich Forberg. 219 Manfred Frank: „Alle Wahrheit ist relativ, alles Wissen symbolisch“. S. 408. 220 Vgl. Manfred Frank: „Alle Wahrheit ist relativ, alles Wissen symbolisch“. S. 408. 221 Manfred Frank: „Alle Wahrheit ist relativ, alles Wissen symbolisch“. S. 409. 222 Vgl. Friedrich H. Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an Herrn Moses Mendelssohn. Hamburg: Meiner, 2000. S. 271–293.
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einfach“, konstatiert Frank, „daß es ein unmittelbares Wissen gibt […]. Unser Wissen befindet sich in einem unendlichen Progress ohne festes Fundament.“223 Daher müsse, so Friedrich Schlegel, „die Philosophie wie das epische Gedicht in der Mitte anfangen, und es ist unmöglich […], daß gleich das Erste für sich vollkommen begründet und erklärt wäre.“224 Die Frühromantik lehnt jegliche elementare und absolute Fundierung des Wissens ab und entwirft stattdessen das Modell einer relational bestimmten Wahrheit: „Die Wahrheit ist relativ. [...] Absolute Wahrheit kann nicht zugegeben werden; und dies ist die Urkunde für die Freyheit der Gedanken und des Geistes.“225 Konsequenterweise lehnt Schlegel in den Athenäums-Fragmenten nicht nur Axiomatik und analytische Methode, sondern auch die formallogische Deduktion ab. Logik und Formalismus (im Sinne einer kalkülisierten Wissenschaft) werden hier zu Antipoden von Poetik und Ethik: Die Logik ist weder die Vorrede, noch das Instrument, noch das Formular, noch eine Episode der Philosophie, sondern eine der Poetik und Ethik entgegengesetzte, und koordinierte pragmatische Wissenschaft, welche von der Foderung [sic!] der positiven Wahrheit, und der Voraussetzung der Möglichkeit eines Systems ausgeht. […]Die formale Logik und die empirische Psychologie sind philosophische Grotesken. […] Die Demonstrationen der Philosophie sind eben Demonstrationen im Sinne der militärischen Kunstsprache. Mit den Deduktionen steht es auch nicht besser wie mit den politischen; auch in den Wissenschaften besetzt man erst ein Terrain, und beweist dann hinterdrein sein Recht daran. […] Die notwendigen Förmlichkeiten der Kunstphilosophie arten aus in Etikette und Luxus.226
Die Diskrepanz zwischen Schlegels Ausführungen, seinem Konzept von Wahrheit und Wissen und den Ansätzen des erkenntnistheoretischen Rationalismus oder Empirismus sind augenfällig. Es sei bezeichnend, so Remigius Bunia: dass die Wahrheitsorientierung, mit der wir es hier zu tun haben, mit den früheren aufklärerischen Varianten der Wahrheitsorientierung wenig gemeinsam hat […]. Die Wahrheitsliebe setzt nicht voraus, dass man die Wahrheit um jeden Preis herstellt, sondern man muss dazu bereit sein, dass sie sich einstellt. Das symphilosophische Denken markiert auch hier die Erkenntnis, dass man nicht das Resultat der Wahrheitssuche der Wahrheits-
|| 223 Manfred Frank: „Alle Wahrheit ist relativ, alles Wissen symbolisch“. S. 416. 224 Friedrich Schlegel: Beilagen zu den philosophischen Lehrjahren 1796–1801. In: derselbe: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 18. Hrsg. von Ernst Behler. München, Paderborn, Wien: Schöningh, 1963. S. 505–580; S. 518. 225 Friedrich Schlegel: Transzendentalphilosophie [Jena 1800–1801]. Philosophische Vorlesungen. In: derselbe: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 12. Hrsg. von Jean-Jacques Anstett. München, Paderborn, Wien: Schöningh, 1964. S. 1–106; S. 92f. 226 Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente. S. 176f. und S. 179.
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suche voranstellen kann, da sonst erstens das Ergebnis nicht offen und zweitens ohnehin keine Wahrheit sein wird.227
Wahrheit ist für Schlegel nicht das Resultat eines logisch-deduktiven, mit axiomatischen Prinzipien aus letzten Grundsätzen gewonnenen Prozesses, sondern sie ist selbst ein unendlicher approximativer und dadurch unsicherer und ungewisser Prozess. Das Konzept der ‚Symphilosophie‘ demontiert die singuläre Stellung des rationalistisch-aufklärerischen Erkenntnissubjekts und erklärt den Wahrheitsprozess zu einem kollektiven, kommunikativen Geschehen, das sich aus der Interaktion der Individuen ergibt: „Philosophieren heißt die Allwissenheit gemeinschaftlich suchen.“228 Wahrheit entstehe aus einem Geflecht zentraler Sätze, die sich wechselseitig als wahr erwiesen.229 Es ist offensichtlich, dass Wahrheit nach diesem Verständnis nicht auf den propositionalen Gehalt begrifflich definierter Aussagen reduziert werden kann. Schlegel ist überzeugt, dass „jeder Begriff immer auch etwas Unerklärbares, Unauflösbares, Unbegreifliches enthält […], wozu die geistige Anschauung durchaus notwendig ist“230. Was nicht rein begrifflich-propositional erkennbar ist, kann auch nicht in einer eindeutigen, propositionalen Sprache dargestellt werden. Friedrich Schlegel spricht deswegen von einer „indirekten“ und „symbolischen“ Darstellung der Wahrheit.231 Was er u.a. an der rationalistischen Sprachkonzeption in Über deutsche Sprache und Litteratur (1807) kritisiert, ist die Herabwürdigung der Sprache als reines Kommunikationsinstrument. Das entfremde sie von ihrer ursprünglichen Bestimmung, nämlich der Darstellung des Göttlichen: Im Leben dient sie [die Sprache] die nothdürftigsten Bedürfnisse auszusprechen die geringfügigsten Zwecke zu erreichen – was zu einer göttlichen Darstellung bestimmt [ist,] wird zu einem nützlichen Gewerbe und Werk, zu einem technischen Handwerkszeug herabgewürdigt. […]. Wäre die Sprache immer das was sie ihrer Natur nach seyn sollte, müßte man wirklich gar keine Veränderung mit ihr vornehmen. […]. Die philosophische Sprache soll nur für die Mittheilung seyn […]. Die schriftliche Sprache ist der Philosophie bloß Werk-
|| 227 Remigius Bunia: Romantischer Rationalismus. S. 64. 228 Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente. S. 226. 229 Vgl. Manfred Frank: „Alle Wahrheit ist relativ, alles Wissen symbolisch“. S. 420. 230 Friedrich Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern [Köln 1804–1805]. In: derselbe: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 12. Hrsg. von Jean-Jacques Anstett. München, Paderborn, Wien: Schöningh, 1964. S. 107–480; S. 387. 231 Friedrich Schlegel: Transzendentalphilosophie. S. 93.
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zeug der Mittheilung. Die philosophischen Schriften sind eine geschriebene Rede ein Gespräch freylich ein sehr künstliches geordnetes[.]232
Schlegel kennt den Bedarf einer eindeutig definierten Terminologie in Philosophie und Naturwissenschaften und er respektiert ihn auch: Die Philosophie muß ja oft Dinge ausdrücken wofür es noch gar keine eigentlichen Ausdrücke gibt, […] [sie] bedarf eines Systems uneigentlicher Ausdrücke denen man durch willkürliche Übereinkunft und wissenschaftliche Erklärung eine andere Bedeutung gibt, genauen Zusammenhang des einen mit dem anderen zeigen eigentlich ein System von Ausdrücken aufstellen und was ist dies anderes als Terminologie […] [?]233
Die philosophisch-wissenschaftliche Sprache müsse jedoch, so seine Forderung, strikt auf den Bereich endlicher Phänomene begrenzt bleiben, denn sie vermöge nicht, das Unendliche, Ganze oder Absolute darzustellen. Die Darstellung des Undarstellbaren behält Schlegel der Poesie vor: „Soll die Philosophie die Idee des Unendlichen als das einzige Reelle begründen so wird Philosophie nothwendig zur Poesie führen […].“234 Ganz massiv kritisiert Schlegel die rationalistische Sprachtheorie – und speziell Leibniz (vgl. Kap. III.3.3) – bezüglich der Forderung nach einer Idealsprache: Man hat ein Ideal der Sprache aufgestellt dem B[egriff] der sogenannten Universalsprache, allein was der Idee dieser Universalsprache zu Grunde liegt ist keineswegs ein höheres Ideal der Sprache sondern eine Herabsetzung auf ihren bloß nützlichen Gebrauch und ein Versuch, die Nützlichkeit der Sprache durch ihre Allgemeinverständlichkeit zu vermehren[.] Die Besseren hatten dabey die Mathematik im Sinne suchten das Heil der philosophischen Sprache in der Abstraktion, allein weit entfernt, daß die Philosophie Ursache hätte die Mathematik dieser Zeichen wegen zu neiden […] – weil eben das Streben und Denken sich in diesen mathematischen Formeln nicht fassen läßt, nur die welche vom Seyn ausgehen könnten darauf kommen mathematische Formeln zu wünschen.235
Schlegel – wie viele andere Frühromantiker – steht also hinsichtlich der Methodik (Axiomatik), der Formalisierung (Kalkül), der Symbolisierung und des begrifflich-propositionalen Wahrheitskonzeptes in klarer Opposition zum philosophischen Rationalismus. Wie lässt sich angesichts dieser Feststellung nun
|| 232 Friedrich Schlegel: Über deutsche Sprache und Literatur (1807). In: derselbe: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 15. Hrsg. von Hans Dierkes. München, Paderborn, Wien: Schöningh, 2006. S. 1–144; S. 36 und S. 29. 233 Friedrich Schlegel: Über deutsche Sprache und Literatur. S. 31. 234 Friedrich Schlegel: Über deutsche Sprache und Literatur. S. 31. 235 Friedrich Schlegel: Über deutsche Sprache und Literatur. S. 36f.
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aber Zimmermanns und Bunias These verstehen, es gebe einen ‚romantischen Rationalismus‘? Remigius Bunia begründet seine These wie folgt: Der Rationalismus schränkt Handlungen ein, indem er das, was er sich nicht einverleiben kann, verbietet oder dessen Existenz schlicht leugnet. […]. Der romantische Rationalismus hingegen verleibt sich alles ein, kennt keine Nichtanwendbarkeiten und Grenzen; und er kippt in einen Antirationalismus, weil die Totalität, die er anstrebt, letztlich zu Beliebigkeiten führt. Beide sind aber nicht antagonistische Modelle, weil sie unterschiedliche Ausgangspunkte in ihrem Denken haben, sondern unterschiedliche Formen des Scheiterns an der Annahme, eine geordnete Welt zu finden.236
Bunia attestiert den Frühromantikern, sie blieben „dem aufklärerisch-rationalistischen Erklärungsuniversalismus“237 verhaftet, indem sie zwei rationalistische Grundannahmen übernähmen: Erstens die Annahme, dass das Denken die Welt umfassen, und zweitens, dass die Welt sich sprachlich darstellen lassen müsse. Er nennt die beiden Aspekte das ‚Holismus-‘ bzw. das ‚Äquivalenzaxiom‘.238 Nach Bunia besteht die Gemeinsamkeit von philosophischem Rationalismus und Frühromantik in den geteilten Zielen (geordnete Welt, Erkenntnis der ganzen Welt und ihre adäquate Darstellung) sowie im gemeinsamen Scheitern an diesen Zielen. Das Verdienst der Ansätze von Zimmermann und Bunia ist es, das allzu lange perpetuierte Diktum der Radikalopposition von Romantik und Rationalismus bzw. Aufklärung ins rechte Verhältnis zu rücken. Doch gerade in Aspekten wie der Axiomatisierung, Formalisierung, Symbolisierung bzw. Mathematisierung, die zentral für die szientistische Monopolisierung der neuzeitlichen Rationalität waren (vgl. Kap. III.4), bemühten sich die frühromantischen Autoren um eine tiefgreifende Reform des Rationalitätsverständnisses und stellten sich hiermit auch gegen den philosophischen Rationalismus. In Über die Sprache und Weisheit der Indier (1808) bemüht sich Friedrich Schlegel um eine Historisierung des Verständnisses von Rationalität, Erkenntnis und Wahrheit. Gleich zu Beginn des Abschnitts „Über die Philosophie“ wehrt er sich gegen die empiristische Annahme, das Vernunftvermögen hätte sich allmählich aus der tierischen Natur des Menschen entwickelt. Seinem Verständnis nach hat der Mensch – und hierfür dienen ihm die ältesten überlieferten Mythen als Zeugnis – vielmehr von Anbeginn im Licht göttlicher Offenbarung, also in der Erkenntnis, gelebt. Und so kann er die ersten ‚Denkungsarten‘ auch als ‚philo-
|| 236 Remigius Bunia: Romantischer Rationalismus. S. 30. 237 Remigius Bunia: Romantischer Rationalismus. S. 73. 238 Vgl. Remigius Bunia: Romantischer Rationalismus. S. 76.
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sophische Systeme‘ bezeichnen. Sie sind Systeme, die beweisen, dass auch auf ganz andere als rationalistisch-rationale Weise philosophiert werden könne: Auf dialektische Weise gegen die philosophische Richtigkeit dieses Systems zu streiten, dürfte sich nicht der Mühe verlohnen; denn auf Gründen der Art, auf Demonstrationen, beruht es nicht, hat vielmehr ganz die Form willkürlicher Erdichtung [...]. Ein System kann es aber doch wohl genannt werden, denn es ist tiefer Zusammenhang darin [...].239
Den historischen Weg von der Antike bis zur gegenwärtigen Philosophie beschreibt Schlegel als einen ‚Weg des Vergessens‘. Der Ursprung der Philosophie sei in Vergessenheit geraten, so dass die Philosophie auf jene zeitgenössische Schwundstufe des Rationalismus und Empirismus eingeengt worden sei: Wenn der Begriff des Unendlichen noch vorhanden, die Kunde der alten Offenbarung aber schon verlohren ist, was ist natürlicher, als daß der Mensch alles aus sich selbst zu nehmen glaubt, alles auf eigne Kraft und Vernunft, gründen will? […]. Diese [Verirrungen] häufen sich immer so sehr und so schnell, daß die Philosophie bald skeptisch wird, bis sie endlich, wenn die Verstandeskräfte durch langes Zweifeln hinlänglich geschwächt worden, zu der blos empirischen Denkart herabsinkt, wo der Gedanke der Gottheit, wenn er auch dem Nahmen nach stehen bleibt, doch im Grunde vernichtet wird […] und der Mensch unter dem Vorwand einer vernünftigen Beschränkung auf den allein nützlichen Erfahrungskreis, den höheren Geist [...] als falsches Streben aufgiebt. Das Trostlose dieses letzten Geisteszustandes pflegt einzelne Denker zu wecken, denen es unmöglich bleibt, darin zu verharren, und die also irgend einen Rückweg zur älteren und besseren Philosophie suchen, und so es ihnen Ernst ist, gewiß auch finden. Dieses ist der einfache Gang aller europäischen Philosophie von den ältesten Griechen bis auf die neuesten Zeiten.240
Das „Trostlose“ des zeitgenössischen „Geisteszustandes“ ist für Schlegel der Grund, sich auf den „Rückweg zur älteren und besseren Philosophie“ zu machen.241 Das Ideal der alten Mythen und der natürlichen Philosophie, das er hierbei skizziert, ist nicht eine Rückbesinnung auf Grundwerte des philosophischen Rationalismus, sondern ist die Imagination eines weiten und offenen Rationalitätsbegriffs. Die Ähnlichkeit zwischen dem, was von Zimmermann und Bunia als ‚romantische Rationalität‘ bezeichnet wird, und dem philosophischen Rationalismus zeigt sich bei Friedrich Schlegel nicht als eine Adaption des historischen Rationalismus, sondern als ein Versuch, alle Formen der Welter-
|| 239 Friedrich Schlegel: Über die Sprache und Weisheit der Indier. In: derselbe: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 8. Hrsg. von Ernst Behler. München, Paderborn, Wien: Schöningh, 1975. S. 105–433; S. 201. 240 Friedrich Schlegel: Über die Sprache und Weisheit der Indier. S. 303f. 241 Friedrich Schlegel: Über die Sprache und Weisheit der Indier. S. 304.
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kenntnis, der Philosophie und der Wissenschaften auf einen gemeinsamen Ursprung zurückzuführen. Es sind daher nicht die szientistischen, sondern die mythischen Momente, wie Hans Blumenberg in Arbeit am Mythos festhält, worin sich Rationalismus, Idealismus und Romantik ähneln: Unter den Bedingungen der Neuzeit, die keine Götter und kaum noch Allegorien erfinden kann, heißt das, an Stelle der alten Namen neue abstrakte bis hochabstrakte Titel zu setzen: das Ich, die Welt, die Geschichte, das Unbewußte, das Sein. […]. Solche Totalentwürfe sind gerade darin mythisch, daß sie die Lust austreiben, nach mehr zu fragen und weiteres dazu zu erfinden. Sie geben zwar keine Antworten auf Fragen, nehmen sich aber so aus, als bliebe nichts zu fragen übrig.242
Blumenberg erkennt in dem Wunsch nach einer umfassenden Weltordnung und nach einer adäquaten sprachlichen Darstellung das anthropologische Urbestreben nach Welt- und Kontingenzbewältigung. Das ‚Holismus-‘ und das ‚Äquivalenzaxiom‘ sind folglich keine Alleinstellungsmerkmale des philosophischen Rationalismus. Der Unterschied zwischen Romantik und Rationalismus besteht vielmehr in der Vergessenheit des eigenen mythischen Ursprungs (seitens des Rationalismus) und der bewussten Rückwendung zu diesem Ursprung (seitens der Romantik). Der Unterschied zeigt sich einerseits im Bestreben des Rationalismus, den Mythos in einem erkenntnistheoretischen System ‚zu Ende zu bringen‘, und in der Offenheit der Romantik gegenüber der Nicht-Abschließbarkeit, der Approximation, der Schwebe und der Vorläufigkeit andererseits. Blumenberg betont außerdem, dass alle geschichtlichen Brüche – und speziell der zwischen rationalistischer Philosophie und Romantik – nicht einfach das Verschwinden dessen mit sich bringen, was im Umbruch kritisiert wird: Geschichtliche Zäsuren, Neuanfänge können nicht gesetzt werden, ohne daß der behauptete Unwert dessen, was dem beanspruchten Bruch vorausgegangen war, dem Subjekt des Neubeginns selbst zur Last fällt. […] Sobald die Unbefangenheit des Nullpunkts gewichen ist, verdichtet sich die Frage, was die Menschheit denn zuvor getan und wie sie sich etwa um die Begünstigung ihrer vernünftigen Ausstattung gebracht hätte, um der Emanzipationen so bedürftig geworden zu sein. Romantik und Historismus sind unter diesem Aspekt nicht Erscheinungen der bloßen Reaktion gegen Ungemütlichkeit, sondern Antworten auf die durch das Jahrhundert der Vernunft verschärften Kontingenzbedrängnisse der Neuzeit, die ohnehin genug zu tun hatte, das Mittelalter zu verfinstern und die Querelle mit der Antike zu gewinnen. […] Es gehört zu der von der Romantik gestellten Frage […], ob
|| 242 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984. S. 323.
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die ältesten poetischen Stoffe nicht nur beibehalten, sondern unter gewandelten Bedingungen erneuert werden könnten.243
Schlegels philosophischer „Rückweg zur älteren und besseren Philosophie“244, ist demnach keine naive Regression, sondern erweist sich als ein Richtungswechsel und eine Kurskorrektur. Es sei ein Fehler, so Schlegel an zitierter Stelle, angesichts der Herausforderungen der Zeit, die Philosophie und die Wissenschaften weiter zu mathematisieren, zu formalisieren, zu spezialisieren und so die Distanz zum ursprünglichen, ungeregelten, unsystematischen Denken der Vorgeschichte weiter zu vergrößern. Schlegel fordert stattdessen, die alte ‚Denkungsart‘ durch eine Erneuerung in die neue ‚Denkungsart‘ zu integrieren und zu adaptieren. Die Realisierung erläutert er in Philosophische Lehrjahre und skizziert hierbei eine neue „‚genetische[]‘ Logik“, einen „neuen Syllogismus“245 und eine neue Form von Rationalität. Die Klärung des Verhältnisses von philosophischem Rationalismus und Romantik ist der Schlüssel für die frühromantische Verhältnisbestimmung von Wissenschaften, Philosophie und Dichtung. In dem, was Friedrich Schlegel über den ‚Rückweg‘ schreibt, erweist er sich nämlich durchaus als Realist. Die ‚alte Philosophie‘ imaginiert er – ganz anders als Schiller (vgl. Kap. IV.1.4) – nicht ungebrochen als makelloses Ideal eines goldenen Zeitalters: Das Trugbild einer gewesenen goldnen Zeit ist eins der größten Hindernisse gegen die Annäherung der goldnen Zeit die noch kommen soll. Ist die goldne Zeit gewesen, so war sie nicht recht golden. Gold kann nicht rosten, oder verwittern: es geht aus allen Vermischungen und Zersetzungen unzerstörbar echt wieder hervor.246
Die ältere Forschung hat bisweilen übersehen, wie Manfred Frank betont, dass die frühromantischen Autoren wie Schlegel und Novalis in ihrer tiefgreifenden Erkenntnisskepsis durchaus realistisch in der Beurteilung historischer Verhältnisse waren: „Wenn wir die Frühromantik als eine skeptische Bewegung charakterisieren, definieren wir sie eben damit auch als eine realistische.“247 Schlegel weist in Über die Sprache und Weisheit der Indier mehrfach darauf hin, dass die alten Mythen durchaus fehlerhafte, verzerrte, gebrochene Darstellungen der Wahrheit seien. Man könne aber von ihnen lernen, mit endlichen Mitteln das
|| 243 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. S. 616. 244 Friedrich Schlegel: Über die Sprache und Weisheit der Indier. S. 303f. 245 John Neubauer: Symbolismus und symbolische Logik. S. 105f. 246 Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente. S. 205f. 247 Manfred Frank: „Alle Wahrheit ist relativ, alles Wissen symbolisch“. S. 421.
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darzustellen, was die neuzeitliche Philosophie unter dem Vorwand einer vernünftigen Beschränkung als unerreichbar oder gar als inexistent aus ihrem Horizont ausgeschlossen habe. In der Rede über die Mythologie bezeichnet Ludoviko genau das als „das höchste Heilige“, als „hieroglyphische[n] Ausdruck der umgebenden Natur“, als eine Bildung dessen, „was sonst das Bewußtsein ewig flieht“248. Die Tatsache, dass die alten Mythologien in ihrer Beschränktheit und Unvollkommenheit dies zu leisten vermögen, gibt Ludoviko die Zuversicht, dass eine Erneuerung des Mythos keine Utopie für ferne Zeiten sei, sondern eine Verwirklichung unmittelbar bevorstehe: „Wir haben keine Mythologie. Aber setze ich hinzu, wir sind nahe daran eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen.“249 Schlegels ‚philosophischer Rückweg‘ ist ein poetischer: „Poesie ist der wesentliche Anfang, der innere Kern und die Vollendung jener lebendigen Naturoffenbarung und Weltanschauung.“250 Und nur von diesem kühnen Entwurf her, so Schlegel, lässt sich das Wesen der Poesie bestimmen.251 In der Rede über die Mythologie betont Ludoviko den Unterschied von alter und neuer Mythologie: Denn auf dem ganz entgegengesetzten Wege wird sie uns kommen, wie die alte ehemalige, überall die erste Blüte der jugendlichen Fantasie, sich unmittelbar anschließend und anbildend an das Nächste, Lebendigste der sinnlichen Welt. Die neue Mythologie muß im Gegenteil aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das künstlichste aller Kunstwerke sein, denn es soll alle andern umfassen […].252
So wie die alten Mythen Zentrum, Ausdruck und Gestalt der jungen Menschheit, ihrer Weltweisheit und Weltanschauung gewesen seien, so müsste auch die ‚neue Mythologie‘ Zentrum, Ausdruck und Gestalt der neuen Weltweisheit und Weltanschauung sein. Sie müsste jeweils den neuesten Stand der (Natur-)Wissenschaften und der Philosophie nicht nur berücksichtigen, sondern in sich aufnehmen, die „Mysterien und die Mythologie“ würden so „durch den Geist
|| 248 Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie. In: derselbe: Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe. Bd. 2. Hrsg. von Hans Eichner. München, Paderborn, Wien: Schöningh, 1967. S. 284– 362; S. 312 und S. 318. 249 Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie. S. 312. 250 Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie. S. 315. 251 „Eine Definition der Poesie kann nur bestimmen, was sie sein soll, nicht was sie in der Wirklichkeit war und ist; sonst würde sie am kürzesten so lauten: Poesie ist, was man zu irgendeiner Zeit, an irgendeinem Orte so genannt hat.“ Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente. S. 181. 252 Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie. S. 312.
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der Physik verjüngt sein“, wie Lothario im Gespräch über die Poesie anmerkt.253 In den Athenäums-Fragmenten präzisiert Schlegel diesen Gedanken: Je mehr die Poesie Wissenschaft wird, je mehr wird sie auch Kunst. Soll die Poesie Kunst werden, soll der Künstler von seinen Mitteln und seinen Zwecken, ihren Hindernissen und ihren Gegenständen gründliche Einsicht und Wissenschaft haben, so muß der Dichter über seine Kunst philosophieren.254
Liest man Schlegel an dieser Stelle aufmerksam, so ist klar, dass er Poesie als das bestimmt, was sie künftig sein wird. Entsprechend begreift er Physik, Wissenschaften und Philosophie hier als das, was sie in seinen Augen sein sollten und nicht als das, was sie de facto sind. In diesem Sinne kommentiert Blumenberg Lotharios Rede: „Verjüngung durch den Geist der Physik – das ist nicht die Unterwerfung der Poesie unter den wissenschaftlichen Geist der Neuzeit, sondern eher die Erwartung einer andersartigen Physik […].“255 Die Erneuerung des Mythos entpuppt sich folglich bei genauem Blick als ein umfassendes utopisches Reformprojekt, da die Voraussetzung eine Neuformung aller Wissenschaften und Künste wäre. Hierdurch verliert Schlegels Programm, wie Sabine Müller erläutert, jegliche Relevanz für die tatsächlichen Entwicklungen der Wissenschaften der damaligen Zeit: Da Schlegel sich von Objektivität, Allgemeingültigkeit, Systematik und Logik abkehrt und allein die Subjektivität, die Individualität, das Unbewußte, die Irrationalität, die schöpferische Phantasie, die Freiheit und Spontanität des künstlerischen Schaffens gelten läßt, ist seine Philosophie trotz seiner Bedeutung für die romantische Bewegung für die Romantische Wissenschaft nicht von Belang.256
Es zeigt sich deutlich, dass aus Schlegels Perspektive die Erneuerung des Mythos weder eine poetische Einverleibung der Wissenschaften noch eine szientistische Unterwerfung der Poesie sein soll. Aus diskursgeschichtlicher Perspektive stellt die Erneuerung der Mythologie jedoch de facto die Poetisierung von Philosophie und Wissenschaften dar, sie ist eine Absolutsetzung der Poesie.
|| 253 Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie. S. 350. 254 Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente. S. 209. 255 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. S. 617. 256 Sabine Müller: Programm für eine neue Wissenschaftstheorie. S. 77.
Nachahmung | 361
2 Gegenstände der Dichtung: Ebene der Gehalte Nachdem zentrale Aspekte der Verhältnisbestimmung von Dichtung und Wissenschaften, also der diskursiven Formation, des 17. und 18. Jahrhunderts thematisiert wurden, soll nun unter Rückbezug auf die zuvor entwickelten Überlegungen die Ebene der Gehalte257 auf ähnliche Differenzen und Gemeinsamkeiten hin untersucht werden. Es ist jedoch nicht zu erwarten, dass Themen und Gegenstände identifiziert werden können, die explizit als ‚dichterische‘ bzw. ‚poetische Gegenstände‘ bezeichnet und als solche von wissenschaftlich-mathematischen Gegenständen unterschieden wurden. Die Sachlage ist bereits deswegen komplexer und weniger eindeutig, da der Dichter seit jeher dieselben Gegenstände der Natur beschrieben und besungen hat, die z.B. auch der Naturforscher betrachtete. Dichtung wurde, das zeigen die folgenden Untersuchungen des Begriffs ‚Nachahmung‘, vielmehr durch ein besonderes Konzept der Bezugnahme auf die Gegenstände der Wirklichkeit charakterisiert. Im darauf folgenden Kapitel wird mit dem ‚Unbegreiflichen‘, dem ‚Unvorstellbaren‘ bzw. dem ‚Unerforschlichen‘ ein Bereich beleuchtet, der als dem begrifflich-rationalen Erkennen entrückt galt, der aber in Dichtung eine Darstellung finden sollte. Abschließend sollen jene Aspekte thematisiert werden, in denen Dichtung sich gewissermaßen selbst zum Gegenstand hat; es sollen daher selbstreflexive Momente in Dichtung und Wissenschaften verglichen werden.
2.1 Nachahmung Betrachtet man Boccaccios Apologie der Dichtkunst in der Genealogie, so wird gerade mit Blick auf die allegorische Deutung deutlich, dass er keinen Gegenstandsbereich von dieser Form der Darstellung ausschließt. Der Dichter erscheint ihm auch darin als Philosoph, dass er sich der Welt und Wirklichkeit als Ganzes stellt. Boccaccio entwirft Dichtung folglich als eine alle Themen umfassende Kunst: „In wohlgesetzter Sprache lehrt sie ihre Hörer, welche Sitten den Menschen lobenswert sind, welche Kräfte die Mutter Natur hat, was das wahre Gute ist, auch himmlische Geheimnisse.“258 Natürlich kennt Boccaccio die in der Tradition der Allegorese entwickelte Form der naturwissenschaftlichen Deutung mythologischer Fiktionen259 und er macht sie fruchtbar, um Dichtung als scien|| 257 Vgl. das in Kap. I.3.3 entwickelte Schema. 258 Giovanni Boccaccio: Genealogie deorum gentilium – Liber XIV. S. 49. 259 Vgl. Giovanni Boccaccio: Genealogie deorum gentilium – Liber XIV. S. 275. DOI 10.1515/9783110464252-022, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
362 | Gegenstände der Dichtung: Ebene der Gehalte
tia erscheinen zu lassen. Die allegorische Schichtung von veritas und fictiones erlaubt es ihm, die eigentlich poetische Ebene – die fictiones – hinsichtlich ihres Gegenstandsbereichs unbestimmt zu lassen. Dort, wo die ‚poetische Oberfläche‘ selbst in ihrer Gegenstandsbestimmung thematisiert wird – wie beispielsweise bei Scaliger –, wird sie meist als Nachahmung der Natur begriffen. Aristoteles konzipiert Mimesis ursprünglich als Nachahmung von handelnden Menschen.260 Im Grunde, so Aristoteles, sei das auch das Wesen der Geschichtsschreibung und dennoch ergebe sich aus dem jeweiligen Realitätsbezug eine entscheidende Differenz: Der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich ja nicht durch gebundene oder ungebundene Rede. Man könnte Herodot’s Werk in Verse setzen, und es wäre um nichts mehr Geschichte, ob mit oder ohne Versmaß. Nein, darin liegt der Unterschied, daß der eine uns sagt, was gewesen ist, der andere, was sein könnte. Daher steht die Dichtung der Weisheitslehre auch näher, als die Geschichtsschreibung, und darum auch höher. Denn die Dichtung sagt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung das Einzelne.261
Unter Verweis auf die zitierte Stelle aus Aristoteles’ Poetik unterscheidet auch Scaliger Geschichtsschreibung und Dichtung, die in seiner Heuristik als ‚unterhaltende Künste‘ einen gemeinsamen Platz neben Philosophie und Rhetorik erhalten (vgl. Kap. IV.1.1): Die zweite [unterhaltende Kunst, M.I.] dagegen nannte man Dichtung, da sie durch Wörter nicht nur die Dinge wiedergab, die vorhanden waren, sondern auch die, die nicht vorhanden waren, als ob sie es seien, und da sie auch vergegenwärtigte, wie sie sein könnten oder müßten. Deshalb ging die Dichtung ganz in der Nachahmung auf.262
Scaliger erweitert jedoch Aristoteles’ Nachahmungsbegriff, indem er nicht nur Handlungen, sondern alle möglichen Gegenstände als Gegenstände der literarischen Mimesis zulässt.263 Auch Martin Opitz rechnet „alle[] sachen die wir uns einbilden können / der Himmlischen und jrrdischen / die Leben haben und nicht leben haben“264 zu den ‚Dingen poetischer Erfindungen‘. Dubos und Bat|| 260 Vgl. Aristoteles: Poetik. S. 57f. 261 Aristoteles: Poetik. S. 69. 262 Julius C. Scaliger: Poetices libri septem. S. 61. 263 Vgl. das dritte mit ‚Idea‘ überschriebene Buch der Poetices libri septem. Außerdem Ulrike Zeuch: Aporien in der Literaturtheorie der Frühen Neuzeit. Francesco Robortellos ‚In librum Aristotelis De arte poetica explicationes‘ und die Folgen. In: Mimesis – Repräsentation – Imagination. Literaturtheoretische Positionen von Aristoteles bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Jörg Schönert und Ulrike Zeuch. Berlin, New York: De Gruyter, 2008. S. 181–214; S. 205. 264 Martin Opitz: Buch von der deutschen Poetery. S. 360.
Nachahmung | 363
teux schließen ebenfalls keine Gegenstände aus der dichterischen Nachahmung aus. Bei der Abwägung nachzuahmender Gegenstände leiten sie eher wirkungsästhetische Überlegungen. Dubos z.B. fordert, Dichtung solle solche Gegenstände nachahmen, die eine „wirkliche Leidenschaften in uns erreg[en]“265 können. Gottsched wiederum nimmt eine dreifache Differenzierung der Nachahmung vor: Erstens die „bloße Beschreibung“ und „lebhafte Schilderey“, zweitens die Nachahmung von Affekten, Charakteren und Personen und drittens die Nachahmung von Handlungen („Fabeln“).266 Die drei Kategorien poetischer Nachahmung umfassen die unterschiedlichsten Aspekte des menschlichen Lebens, denn ein „Poet hat ja Gelegenheit, von allerley Dingen zu schreiben. […] Daraus folgt nun unfehlbar, daß ein Poet keine Wissenschaft so gar verabsäumen müsse […].“267 In einem ganz ähnlichen Sinn schreibt auch Baumgarten: Viele Stoffe können dem ästhetischen und dem logischen Horizont gemeinsam sein. Dies deshalb, weil etwas, das in den Wissenschaften untersucht wird, nicht gänzlich aus dem Kreis der Schönheit ausgeschlossen ist, sondern nur insoweit es mit philosophischer und mathematischer Genauigkeit […] erfaßt wird.268
Es waren folglich nicht die Gegenstände und Sachverhalte selbst, sondern die Art und Weise der Betrachtung, der Darstellung und der Erkenntnis dieser Gegenstände, aufgrund der schöne Künste bzw. Dichtung und Wissenschaften als different betrachtet wurden. Lessing schließt zwar in seinen semiotischen Überlegungen in der Laokoon-Abhandlung solche Gegenstände aus der dichterischen Nachahmung aus, die nicht oder nur schwer durch die lineare Abfolge sprachlicher Zeichen nachgeahmt werden können (vgl. Kap. IV.1.3), doch geschieht dies nicht unter Berücksichtigung der Diskursgrenze von Wissenschaften und Dichtung, sondern hinsichtlich der Zeichencodes der jeweiligen Künste. Auch nach Friedrich Schlegels Ansicht umfasst die künftige Poetik als Erneuerung des Mythos alle Aspekte und Bereiche des menschlichen Lebens und der Wirklichkeit, es ist gerade dieser umfassende und transzendierende Aspekt, der sie gegenüber dem reduktionistischen Wirklichkeitszugang der Wissenschaften auszeichnet.
|| 265 Jean B. Dubos: Kritische Betrachtungen. S. 25. 266 Vgl. Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 195, S. 197 und S. 202. 267 Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 154f. 268 Alexander G. Baumgarten: Ästhetik. S. 101.
364 | Gegenstände der Dichtung: Ebene der Gehalte
Im Zeitraum des 17. und 18. Jahrhunderts wurde, sieht man von wenigen Ausnahmen ab, Dichtung poetologisch nicht durch die Ein- bzw. Ausgrenzung spezieller Gegenstandsbereiche und Gehalte definiert. Schiller, Schlegel und die Idealisten begegnen der Spezialisierung und Fragmentierung ihrer Zeit mit Entwürfen, in denen Dichtung sogar künftig alle Gegenstandsbereiche und Diskurse in sich vereinen und umfassen sollte. Für die Naturwissenschaften, die Mathematik und Logik liegt dagegen ein ganz anderer Befund vor. Im Zuge der Mathematisierung, Quantifizierung, Formalisierung und Verengung des Rationalitätsverständnisses wurden immer mehr Aspekte aus dem Radius der mathematisierten, naturwissenschaftlichen Betrachtung und Darstellung ausgegrenzt: Emotionen, Affekte, das Schöne, das Transzendente, ferner jene Gehalte, die der menschlichen Imagination und Phantasie entspringen, vor allem jene Anteile, die keinen potenziellen Wirklichkeitsgehalt beanspruchen können wie z.B. das Phantastische und Wunderbare. Diese Gehalte wurden, das zeigen z.B. Georg W. Munckes Definitionen der Begriffe ‚Physik‘ und ‚Natur‘ in Gehler’s Wörterbuch der Physik (2. Auflage), zu ‚nicht-naturwissenschaftlichen‘ Gegenständen erklärt: Unter Physik […] oder Naturlehre […] versteht man die Lehre von der Natur oder den Unterricht über dieselbe, und zur Bestimmung dessen, was durch diese Ausdrücke bezeichnet werden soll, darf daher bloß die Bedeutung des Wortes Natur näher angegeben werden. Dieser letzte Ausdruck bezeichnet aber den Inbegriff der gesammten [sic!] Außenwelt, und zwar nicht bloß das sinnlich Wahrnehmbare, das Materielle, Körperliche, sondern auch diejenigen Ursachen der mannigfaltigen Veränderungen, die man Kräfte zu nennen pflegt, und diesem Ganzen steht das Geistige oder die Geisterwelt entgegen. Auf den ersten Blick scheint es schwierig, diese beiden Gebiete der Wissenschaften als wesentlich von einander verschieden zu trennen […]. Erst seit Cartesius gewöhnte man sich, das geistige Leben vom Körperlichen und Materiellen streng zu sondern, bis in den neuesten Zeiten Schelling und die Anhänger der Naturphilosophie […] alle Gegenstände des menschlichen Wissens wieder zu vereinigen suchten. Es ist jedoch in mehrfacher Hinsicht von größter Wichtigkeit, die Naturlehre durchaus auf die Grenzen einer Erfahrungswissenschaft zu beschränken, alles davon auszuschließen, was außer derselben liegt, insbesondere aber die Naturforschung nicht bis in das Gebiet des Glaubens, namentlich des religiösen, auszudehnen.269
Die cartesianisch geprägte Dichotomie von Natur und Geist zementierte im Laufe des 18. Jahrhunderts die mindestens ebenso wirkmächtige Dichotomie von Naturwissenschaften und schönen Künsten. Während die Wissenschaften das
|| 269 Georg W. Muncke: Physik. In: Johann Samuel Traugott Gehler’s Physikalisches Wörterbuch. Bd. 7.1. Hrsg. von Heinrich Brandes u.a. Leipzig: Schwickert, 1833. S. 493–573; S. 493–495.
Nachahmung | 365
Monopol sicherer und strenger Naturerkenntnis an sich rissen, wurden den schönen Künsten und vor allem der Dichtung im Gegenzug zugestanden, über jenes „Höhere“ und „Unerkennbare“ zu reden, das der Physiker in der „Bescheidenheit […] der Würdigung der eigenen Kräfte“ anerkannte, auch wenn er diesen Bereich kategorisch von der wissenschaftlichen Erkenntnis ausschloss.270 Damit wurden das Irrationale, das Transzendente, das die menschliche Erkenntnis Übersteigende zu Gegenständen der Theologie, der metaphysischen Spekulation und eben auch der Dichtung erklärt. Silvio Vietta geht sogar so weit, den Bestand derartiger Inhalte zu einem typischen Charakteristikum moderner Literatur zu erklären: „Die literarische Moderne erschließt und erforscht selbstreflexiv und experimentell eben jene Bewußtseinsräume, die die Subjektphilosophie der Vernunft mißachtet und daher vernachlässigt hatte.“271 Dichtung und Künste machten auf diese Weise all jene Gehalte wieder „diskurstauglich“272, die zuvor aus den rational-begrifflichen Diskursen ausgesondert worden waren. Die Ausgrenzung der beschriebenen Gehalte aus Physik, Mathematik und Logik stand außerdem in Verbindung mit der Gründung neuer Disziplinen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Karl Philipp Moritz’ Entwurf einer ‚Erfahrungsseelenkunde‘, die Psychologie, die historische und vergleichende Sprachwissenschaft, die Hermeneutik, kurz gesagt: große Teile der Geisteswissenschaften nahmen die von Muncke als ‚Geisterwelt‘ bezeichneten, nicht-naturwissenschaftlichen Gegenstandsbereiche auf. Die aus Physik, Mathematik und Logik ausgesonderten Gehalte definierten umgekehrt jedoch nicht den ‚Gegenstandsbereich‘ der schönen Künste, denn Planetenbahnen, Geschosse, Zahlenverhältnisse wurden nicht auf analoge Weise als nicht-poetische oder nicht-ästhetische Gegenstände wahrgenommen. Was sollte den Dichter auch hindern, etwa die Schönheit der natürlichen Welt zu
|| 270 „Auf der einen Seite erzeugt dieses Bescheidenheit in der Würdigung der eignen Kräfte, auf der andern aber führt eben die innere Evidenz des wirklich Erkannten zu der festen Überzeugung, daß es noch Höheres, Unerkennbares geben müsse, und beides sichert gleichermaßen gegen das anmaßende und wahrhaft frivole Streben, über alles urteilen, alles entscheiden zu wollen, was auch der Erfahrung nach bei dem ächten Naturforscher nie gefunden wurde. […] Wie bereits oben bemerkt worden ist, da, wo die Kenntniß der Natur aufhört, beginnt der Glaube, und letzterer wird um so ächter, ernster und gewisser, je begründeter die Überzeugung ist, daß die Naturforschung bis dahin nicht gelange und beide daher stets getrennt bleibenmüssen.“ Georg W. Muncke: Physik. S. 522. 271 Silvio Vietta: Ästhetik der Moderne. S. 184. 272 Waldemar Fromm: An den Grenzen der Sprache. Über das Sagbare und das Unsagbare in Literatur und Ästhetik der Aufklärung, der Romantik und der Moderne. Freiburg i. Br.: Rombach, 2006. S. 115.
366 | Gegenstände der Dichtung: Ebene der Gehalte
besingen? Wer sollte dem Maler verbieten, sie darzustellen? Vielmehr wurde der Blickwinkel und die besondere Art des Naturbezugs zum Differenzkriterium erklärt, die z.B. das „Auge des Malers“ von der „mathematische[n] Schärfe“ des Physikers trennt.273 Es ist hierbei vor allem der Topos der Nachahmung, den theoretische Konzeptionen ins Zentrum des künstlerischen und poetischen Wirklichkeitsbezugs stellten. Bereits seit Platon wurde der nachahmende Bezug auf Wirklichkeit unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten als ein Makel der Dichtung aufgefasst. Während Philosophie und Wissenschaften propositionale, wahrheitsfähige Urteile über reale Gegenstände und Sachverhalte artikulierten, könnten, so der auf Platons Skepsis zurückgehende Vorbehalt, dichterische Nachahmungen nur den Schein der Wahrheit haben. Diese Auffassung ist unabhängig von ihrer ästhetischen Bewertung eine persistente Differenz in der Verhältnisbestimmung von Dichtung und Wissenschaften bis ins 18. Jahrhundert hinein: Wo Wahrsein an Propositionalität und gelingende Referentialität geknüpft ist, d.h. an eine Behauptungs- und eine Übereinstimmungsbedingung mit dem „der-Fall-Sein“ von Sachverhalten, und weiterhin als Teil eines Konzepts von theoretischem Wissen verstanden wird, das neben der Wahrheitsbedingung auch eine Überzeugungsbedingung und eine Begründungsbedingung einfordert, da muss Literatur (zumindest im engen Sinn fiktionale) als Kandidat epistemischen Diskurses ausscheiden: Literarische Sätze behaupten nichts in Form von refenziell verifizier- oder falsifizierbaren Propositionen.274
Dem von Urbich hier beschriebenen „refenziellen Defizit“275 wurde poetologisch argumentierend begegnet, indem man Dichtung eine fiktional-faktuale Doppelnatur zusprach, die bereits in Aristoteles’ Mimesis-Konzept angelegt war. Einerseits, so Aristoteles in der Poetik, zeichne die Dichtung aus, dass sie nicht ‚das wirklich Geschehene‘, also auch nicht notwendigerweise wirkliche Personen und Gegenstände darstelle, andererseits sei sie nie völlig frei und willkürlich erfunden. Gerade aufgrund des ontologischen Status der Figuren, Gegenstände und Handlungen könne sie Allgemeines darstellen und sei daher ‚philosophischer‘ als die Geschichtsschreibung: „Zum Allgemeinen gehört, daß man sage, solch ein Mensch pflegt etwas zu tun nach der Regel oder der Notwendigkeit || 273 Heinrich W. Brandes: Farbe. In: Johann Samuel Traugott Gehler’s Physikalisches Wörterbuch. Bd. 4.1. Hrsg. von Heinrich W. Brandes u.a. Leipzig: Schwickert, 1827. S. 39–131; S. 49. 274 Jan Urbich: Der Begriff der Literatur, das epistemische Feld des Literarischen und die Sprachlichkeit der Literatur. Einleitende historische Bemerkungen zu drei zentralen Problemfeldern der Literaturtheorie. In: Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven. Hrsg. von Alexander Löck und Jan Urbich. Berlin, New York: De Gruyter, 2010. S. 9–62; S. 33f. 275 Jan Urbich: Der Begriff der Literatur. S. 33.
Nachahmung | 367
[…].“276 Vor dem Hintergrund seiner nominalistischen Erkenntnistheorie, nach der das Besondere immer eine festgelegte Materialisierung des Allgemeinen ist277, setzt Aristoteles hier das Allgemeine der menschlichen Charaktere als abstrakt-faktualen Referenzrahmen von Dichtung fest. Verhaltensweisen ließen sich durch Beobachtung gewinnen und von diesen tatsächlichen Verhaltensschemata solle der Dichter auch nicht abweichen. Das Konzept der Mimesis ist bei Aristoteles strikt auf allgemeine menschliche Charakterzüge beschränkt, wie Arbogast Schmitt festhält.278 Eine Ausweitung auf die Handlung als Ganzes vollzog sich erst in der Neuzeit: Dass Aristoteles die Wahrscheinlichkeit dessen, was möglicherweise realisiert werden könnte, nicht sucht, kann auch ein Blick auf die Beispiele aus den Tragödien und Komödien seiner Zeit lehren, auf die Aristoteles sich vielfach zur Erläuterung seiner Ansichten stützt. Wie wahrscheinlich ist es, dass es einen Menschen wie den Homerischen Odysseus gibt, dass man eine Geschichte wie Ödipus erlebt?279
Einen erweiterten Nachahmungsbegriff stellte Horaz mit dem für die Neuzeit prägenden Topos ut pictura poesis erit auf. Er sollte den Wirklichkeitsbezug von Dichtung auf eine durch Ähnlichkeit gekennzeichnete, natürliche Repräsentation festlegen. Wie im Gemälde solle, so die neuzeitliche Horaz-Rezeption, das Wirkliche in der Fiktion aufgrund ihrer Ähnlichkeit zur Wirklichkeit erkennbar werden. Gottsched definiert ‚Wahrheit‘ als „Übereinstimmung unsers Erkenntnisses mit den Dingen selbst“ und ‚Falschheit‘ als „Mangel einer solchen Uebereinstimmung“.280 Aufgrund dieser einfachen Korrespondenz ist es Gottsched möglich, die fiktionale „Malerey eines Poeten“281 als ‚wahr‘ in dem Sinne zu bezeichnen, dass sie eine Übereinstimmung mit den natürlichen Dingen in Analogie zu einer Darstellung der bildenden Künste impliziert. Problematisch
|| 276 Aristoteles: Poetik. S. 69. 277 Vgl. Arbogast Schmitt: Was macht Dichtung zur Dichtung? Zur Interpretation des neunten Kapitels der Aristotelischen ‚Poetik‘. In: Mimesis – Repräsentation – Imagination. Literaturtheoretische Positionen von Aristoteles bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Jörg Schönert und Ulrike Zeuch. Berlin, New York: De Gruyter, 2008. S. 65–96; S. 67. 278 Vgl. Arbogast Schmitt: Was macht Dichtung zur Dichtung? S. 68–70. 279 Arbogast Schmitt: Was macht Dichtung zur Dichtung? S. 94. 280 Johann C. Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit, darinn alle philosophische Wissenschaften, in ihrer natürlichen Verknüpfung, in zween Theilen abgehandelt werden, zum Gebrauche akademischer Lectionen entworfen, mit einer kurzen philosophischen Historie, nöthigen Kupfern und einem Register versehen [Theoretischer Teil]. In: derselbe: Ausgewählte Werke. Bd. 5.1. Berlin, New York: De Gruyter, 1983. S. 203. 281 Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 195.
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ist diese auf dem Prinzip der Ähnlichkeit beruhende Analogie allein schon deswegen, weil dem Dichter ein völlig anderes Zeichenrepertoire zur Verfügung steht als dem Maler (vgl. Kap. IV.3.1). Eine weitere Facette des poetologischen Prinzips der Nachahmung wurde aus den zwei Dimensionen des Naturbegriffs entwickelt: natura naturata (als produzierte Gestalt) und natura naturans (als produzierendes Prinzip).282 Scaliger erklärt den Dichter zum alter deus, weil er nicht nur die Schöpfung, also das, was ist, darstelle, sondern das göttliche Schöpfen selbst nachahme, indem er das hervorzubringen vermöge, was nicht ist.283 Ontologisch fundiert wird die dichterische Schöpfungslehre durch Leibniz’ Lehre ‚möglicher Welten‘.284 Baumgarten adaptiert beide Vorstellungen und konstruiert als Referenzrahmen fiktionaler Texte eine fiktive ‚Welt der Dichter‘, die in gewissen Aspekten von der beobachtbaren Lebenswirklichkeit abweichen können (sog. ‚heterokosmische Dichtungen‘, vgl. Kap. IV.1.2).285 Baumgartens Ästhetik steht damit exemplarisch für eine Engführung von Mimesis und Poiesis, die Hans Blumenberg als allgemeine Tendenz der ästhetischen Theorie des 18. Jahrhunderts ausmacht. Hierbei wird die poetische Nachahmung, so hält Blumenberg mit Blick auf Breitingers Poetik fest, geradezu in ihr Gegenteil, nämlich eine poetische Schöpfung des nicht Wirklichen verkehrt: J. J. Breitingers zweibändige ‚Critische Dichtkunst‘ von 1740 ist eine ästhetische Verwertung von Leibniz’ Lehre der möglichen Welten. Der Dichter findet sich in der Lage Gottes vor der Erschaffung der Welt angesichts der ganzen Unendlichkeit des Möglichen, aus der er wählen darf; darum ist – und nun kommt die erstaunlichste Formulierung, die man sich in unserem Zusammenhang erwünschen könnte! – die Poesie eine Nachahmung der Schöpfung und der Natur nicht nur in dem Wirklichen, sondern auch in dem Möglichen. So mächtig ist die in der metaphysischen Tradition verwurzelte Urformel von der ‚Nachahmung der Natur‘, daß ihre Sanktion für die Deutung des menschlichen Werks auch dann nicht entbehrt werden kann, wenn das genaue Gegenteil ihrer genuinen Bedeutung gesagt, ja ‚proklamiert‘ werden soll!286
Das energische Festhalten an dem Konzept der Nachahmung kann als ein Festhalten an der fiktional-faktualen Doppelnatur der Dichtung gedeutet werden.
|| 282 Vgl. Hans Blumenberg: ‚Nachahmung der Natur‘. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. In: derselbe: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Hrsg. von Anselm Haverkamp. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003. S. 9–46; S. 9. 283 Vgl. Julius C. Scaliger: Poetices libri septem. S. 59. 284 Vgl. Hans Blumenberg: ‚Nachahmung der Natur‘. S. 39. 285 Vgl. Alexander G. Baumgarten: Ästhetik. S. 489. 286 Hans Blumenberg: ‚Nachahmung der Natur‘. S. 41.
Nachahmung | 369
Man hoffte, indem man die poetischen Fiktionen an die Wahrscheinlichkeit rückkoppelte, die gewünschte referenzielle Repräsentationsrelation zwischen fiktionalen Handlungen und lebensweltlicher Wirklichkeit theoretisch begründen zu können. Breitinger geht hierbei soweit, dass er dem Dichter zwar zugesteht, auch wunderbare Dinge darstellen zu dürfen, gleichzeitig verlangt er aber, der Dichter solle hierbei auf die Wahrscheinlichkeit des Wunderbaren achten. Das Wunderbare, das Breitinger in Dichtungen zulässt, ist letztlich nichts anderes als das nach logischen Grundsätzen Mögliche: Ich habe an einem andern Orte angemercket, daß in dem weitläuftigsten Verstande alles kan wahrscheinlich genennt werden, was durch die unendliche Kraft des Schöpfers der Natur möglich ist, hiermit alles, was mit denen ersten und allgemeinen Grundsätzen, auf welchen alle Erkenntniß der Wahrheit beruhet, keinem Widerspruch stehet.287
Blumenberg begreift in Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans die fortwährende Auseinandersetzung um den Begriff der Nachahmung als eine grundlegende Konstante der abendländischen Ästhetik: „In der Geschichte unserer ästhetischen Theorie ist diese Disposition, das ästhetische Gebilde aus seinem Verhältnis zur ‚Wirklichkeit‘ zu legitimieren, niemals ernstlich verlassen worden.“288 Zunächst sei, so Blumenberg, dieses Dispositiv ein durch Platon geprägtes Verständnis von Wirklichkeit gewesen, verstanden als „Realität der momentanen Evidenz“289. Wirklichkeit war das, was nach dem Muster der Urbild-Abbild-Relation von Ideen und Gegenständen als real erkennbar galt. Die Frühe Neuzeit erneuere das platonische Wirklichkeitsverständnis, indem sie die poetische Nachahmung vom Realen löst und um das Potenzielle erweitert: Die Kunst sollte sich vielmehr im Raume des von Gott und der Natur nicht Verwirklichten ansiedeln, und hier gab es keine Dualität mehr von vorgegebener Wirklichkeit und nachgestaltendem Werk; vielmehr war jedes sich an dem neuen Wirklichkeitsbegriff messende Werk immer schon die Wirklichkeit des Möglichen [...].290
Der Dichter als alter deus schöpfe, so die Vorstellung der Aufklärer Baumgarten und Gottsched, aber er schöpfe nicht neu aus dem Nichts, sondern nachahmend, indem er die göttliche Vernunft im Akt der Schöpfung imitiere. So wie
|| 287 Johann J. Breitinger: Critische Dichtkunst. Bd. 1. 134f. 288 Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. In: derselbe: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Hrsg. von Anselm Haverkamp. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003. S. 47–73; S. 47. 289 Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. S. 49. 290 Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. S. 62.
370 | Gegenstände der Dichtung: Ebene der Gehalte
Gott sich bei der Erschaffung der realen Welt an Regeln gehalten habe, müsse sich auch der Dichter bei der Erschaffung dichterischer Welten an die gottgegebenen, d.h. natürlichen und vernünftigen Regeln halten.291 Ein regelgeleitetes ‚Nachäffen‘ der Wirklichkeit genügte den meisten Romantikern nicht mehr. Sie hegten den Wunsch eines direkten dichterischen Wirklichkeitsbezugs. Dichtung müsse Welt und Wahrheit in einer ganz neuen Form des Realismus einfangen, so ein wichtiger Gedanke in Friedrich Schlegels Rede über die Mythologie: Der Idealismus in jeder Form muß auf ein oder die andre Art aus sich herausgehn, um in sich zurückkehren zu können, und zu bleiben was er ist. Deswegen muß und wird sich aus seinem Schoß ein neuer ebenso grenzenloser Realismus erheben; und der Idealismus also nicht bloß in seiner Entstehungsart ein Beispiel für die neue Mythologie, sondern selbst auf indirekte Art Quelle derselben werden. Die Spuren einer ähnlichen Tendenz könnt ihr schon jetzt fast überall wahrnehmen; besonders in der Physik, der es an nichts mehr zu fehlen scheint, als an einer mythologischen Ansicht der Natur. Auch ich trage schon lange das Ideal eines solchen Realismus in mir, und wenn es bisher nicht zur Mitteilung gekommen ist, so war es nur, weil ich das Organ dazu noch suche. Doch weiß ich, daß ichs nur in der Poesie finden kann, denn in Gestalt der Philosophie oder gar eines Systems wird der Realismus nie wieder auftreten können.292
Indem die romantische Poetik das Nachahmungs-Prinzip einschränkt, versucht sie Dichtung von dem ‚referenziellen Defizit‘293 zu emanzipieren und endgültig vom Vorwurf des Lügenhaften zu rehabilitieren, wie Blumenberg festhält: Daß die Dichter lügen, wird erst als vollends überwunden erachtet, wenn sie nicht einmal mehr das Gegenteil dieser These in Anspruch nehmen, nämlich ‚die Wahrheit zu sagen‘, sondern bewußt die Enge der Antithese und die Spielregeln von Wirklichkeit überhaupt durchbrechen.294
Wo ein poetischer Realitätsbezug utopisch bleibt, findet die Romantik eine pragmatische Antwort auf die Last der ontologischen Rechtfertigung. Sie kappt den Nachahmungsbezug und weist ihre Dichtungen als eine „eigengesetzliche Welt“295 aus. Novalis etwa lehnt in einem Brief an seinen Bruder Karl im Jahr 1800 beinahe kämpferisch den Nachahmungsgedanken ab:
|| 291 Vgl. Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 174. 292 Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie. S. 315. 293 Vgl. Jan Urbich: Der Begriff der Literatur. S. 33. 294 Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. S. 71. 295 Jan Urbich: Literarische Ästhetik. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2011. S. 162.
Nachahmung | 371
Ja keine Nachahmung der Natur. Die Poësie ist durchaus das Gegentheil. Höchstens kann die Nachahmung der Natur, der Wircklichkeit nur allegorisch, oder im Gegensatz, oder des tragischen und lustigen Effects wegen hin und wieder gebraucht werden. Alles muß poëtisch seyn.296
Einen anderen Weg, mit der Last des ‚referenziellen Defizits‘ umzugehen, beschritten Breitinger, Klopstock und Lessing. Mit der poetologischen Wendung hin zur ‚unschuldigen Betrügung‘ (Breitinger), ‚Täuschung‘ (Klopstock) und ‚Illusion‘ (Lessing) wurde ein Teil des ontologischen Rechtfertigungsdrucks von Dichtung genommen, indem das Mögliche und Wahrscheinliche der Dichtung nicht am Wirklichkeitsbezug, sondern an der Wirkung und damit an der Hervorbringung von Glaubwürdigkeit ausgerichtet wurde. Breitinger bindet daher Wahrscheinlichkeit nicht an ontologische oder wissenschaftliche Standards, sondern an die Meinung des Lesers: „Dieses Wahrscheinliche gründet sich demnach auf eine Vergleichung mit unsren Meinungen, Erfahrungen, und angenommenen Sätzen, nach welchen wir unsren Beyfall einzurichten, und die Glaubwürdigkeit einer Vorstellung zu beurtheilen pflegen […].“297 In Klopstocks Gespräch Von der Darstellung tritt an die Stelle der Nachahmung, die formal noch als Paradigma transportiert, aber letztlich unterwandert wird, das Kriterium der Authentizität des Dargestellten. Dichtung erzeuge Illusion durch eine ‚Wahrheit des Ausdrucks‘: Das Angeführte trägt das Seinige zur Darstellung bei; aber hervorgebracht wird sie durch folgendes: […] Durch genau wahren Ausdruck der Leidenschaft. […] Durch Innerlichkeit, oder Heraushebung der eigentlichen innersten Beschaffenheit der Sache. […] Durch Ernst. Der Dichter hat eine solche Überzeugung von der Wahrheit und Wichtigkeit seiner Gegenstände […] [d]urch herzlichen Anteil des Dichters an dem, was er sagt.298
Unter anderen Vorzeichen thematisiert auch Schiller das ‚Wahr-Scheinliche‘ im 26. Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen: „Auf die Frage ‚In wie weit darf Schein in der moralischen Welt seyn?‘ ist also die Antwort so kurz als bündig diese: in so weit es ästhetischer Schein ist, d.h. Schein, der weder Realität vertreten will, noch von derselben vertreten zu werden braucht.“299 Der ‚falsche Schein‘ ist nach Schiller eine oberflächliche Nachahmung von Realität, die
|| 296 Novalis: Tagebücher, Briefwechsel, zeitgenössische Zeugnisse. In: derselbe: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Bd. 4. Hrsg. von Richard Samuel. Darmstadt: WBG, 1975. S. 327. 297 Johann J. Breitinger: Critische Dichtkunst. d. 1. S. 134. 298 Friedrich G. Klopstock: Von der Darstellung. S. 1032–1035. 299 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. S. 403.
372 | Gegenstände der Dichtung: Ebene der Gehalte
im bloßen Schein verbleibe. Der ‚ästhetische Schein‘ zeige dagegen das Dasein im und durch den Schein: Nicht daß wir einen Werth auf den ästhetischen Schein legen […], sondern daß wir es noch nicht bis zu dem reinen Schein gebracht haben, daß wir das Daseyn noch nicht genug von der Erscheinung geschieden, und dadurch beyder Grenzen auf ewig gesichert haben, dieß ist es, was uns ein rigoristischer Richter der Schönheit zum Vorwurf machen kann. Diesen Vorwurf werden wir solang verdienen, als wir das Schöne der lebendigen Natur nicht genießen können, ohne es zu begehren, das Schöne der nachahmenden Kunst nicht bewundern können, ohne nach einem Zwecke zu fragen – als wir der Einbildungskraft noch keine eigene absolute Gesetzgebung zugestehn, und durch die Achtung, die wir ihren Werken erzeigen, sie auf ihre Würde hinweisen.300
Es ist in Schillers Argumentation die ‚absolute Gesetzgebung‘ der Einbildungskraft, die die Dichtung von ihrer fiktional-faktualen Doppelnatur entbindet und ihr den Referenzrahmen des ästhetischen Scheins gibt. In Über naive und sentimentalische Dichtung macht Schiller deutlich, dass eine direkte Naturnachahmung mit dem Verlust der naiven Dichtung verloren wurde: Da der naive Dichter bloß der einfachen Natur und Empfindung folgt, und sich bloß auf Nachahmung der Wirklichkeit beschränkt, so kann er zu seinem Gegenstand auch nur ein einziges Verhältniß haben […]. Ganz anders verhält es sich mit dem sentimentalischen Dichter. Dieser reflektirt über den Eindruck, den die Gegenstände auf ihn machen und nur auf jene Reflexion ist die Rührung gegründet, in die er selbst versetzt wird, und uns versetzt. Der Gegenstand wird hier auf eine Idee bezogen, und nur auf dieser Beziehung beruht seine dichterische Kraft.301
Die sentimentalische Dichtung kann nach Schillers Verständnis Natur (hauptsächlich die menschliche Natur) nur noch in dem Sinne nachahmen, als sie die Reflexion und damit das noch nicht erreichte Ideal anstrebt bzw. ihr Ausdruck verleiht. Hinzu kommt der von ihm betonte Aspekt der Unnatürlichkeit sprachlicher Repräsentation. Schiller verabschiedet zwar nicht das Nachahmungsprinzip an sich, er weist jedoch auf seine problematischen Aspekte hin. Mit Jan Urbich kann für das 18. Jahrhundert eine gewisse Emanzipation vom antiken Mimesis-Prinzip und seiner neuzeitlichen Adaption festgestellt werden: Dichtung [entwirft] fiktional eine eigengesetzliche Welt, die zur Wirklichkeit in Analogie steht und Realität auf anschauliche Weise sprachlich so vergegenwärtigt, dass in der Einbildungskraft des Rezipienten besonders eindrückliche sinnliche Vorstellungen entstehen
|| 300 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. S. 404. 301 Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. S. 440f.
Nachahmung | 373
– das ist zumindest der breite Konsens der Poetiken des 18. Jh. Wie weit allerdings Wirklichkeit und poetische Nachahmung voneinander entfernt sein dürfen, ist gerade im 18. Jh. hoch umstritten [...]. Erst gegen Ende des Jahrhunderts, bei Karl Philipp Moritz und den Romantikern (August Wilhelm Schlegel, Friedrich Schlegel) wird das Prinzip der ‚Nachahmung der Natur‘ weitestgehend aufgegeben: Das Kunstwerk hat seine Vollendung in sich selbst, nicht darin, wie die Natur auszusehen; seine ‚Schönheit‘ besteht in seiner innern Einheit und Ganzheit, die höchstens in schöpferischer Analogie zur Natur, aber nicht als irgendeine Wiedergabe derselben zu fassen ist.302
Sicherlich ist Erich Kleinschmidt zuzustimmen, dass das „Nachahmungsdenken“ unter den Emanzipationsbestrebungen zwar zurückgedrängt wurde, aber „auch nie ganz verdrängt wird“.303 Erkennbar wird die Zurückweisung u.a. an der bereits aufgewiesenen Modifikation des ut pictura-Gedankens hin zu einem ut musica poesis erit (beispielsweise bei Vico, Diderot, Sulzer und Rousseau, vgl. Kap. II.3 und Kap. II.4). Eine der wichtigsten Modifikationen des Mimesis-Begriffs war nach Urbich außerdem die Überführung in ein Darstellungs-Konzept: Sowohl die Dichtungstheorien der Spätaufklärung und Klassik (Klopstock, Lessing, Wieland, Herder, Goethe), des Idealismus (Schiller, Hegel, Schelling) als auch der Frühromantik (Schlegel, Novalis) haben sich diese Übersetzung von Mimesis [als ‚Darstellung‘, M.I.] zu eigen gemacht und bei allen Differenzen doch erstaunliche inhaltliche Schnittmengen aufzuweisen. [...] [D]er Darstellungsbegriff [betont] die Eigengesetzlichkeit (Autonomie) der poetischen Machart und Wirklichkeit, die sich nur an ihren eigenen Regeln messen muss. Keinesfalls fungiert sie nur als nachträgliche Abbildung eines Realen, sondern erschafft vielmehr Wirklichkeit erst, indem sie sie sichtbar macht. Damit ist die Erschließungsfunktion von poetischer Mimesis bezeichnet, die in den großen Ästhetiken des Deutschen Idealismus dann zum umfassenden Wahrheitsgeschehen erweitert wird.304
Im ausgehenden 18. Jahrhundert wurde versucht, durch die referenzielle Entkoppelung der Dichtung das ontologische Defizit aus der Verhältnisbestimmung von Wissenschaften und Dichtung zu tilgen. Dichtung, verstanden als Schöpfung und als Ausdruck des schaffenden Prinzips, erfuhr eine ontologische Aufwertung gegenüber der rein messenden, quantifizierenden und mathematisierten Naturforschung: „In Dichtung und Literatur wird Wirklichkeit autonom verändert, um in neuer Weise sichtbar zu werden.“305 Die poetische Darstellung
|| 302 Jan Urbich: Literarische Ästhetik. S. 162. 303 Erich Kleinschmidt: Klassik als ‚Sprachkrise‘. Probleme des Sprachbewußtseins um 1800. In: Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. DFG-Symposion 1990. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp. Stuttgart: Metzler, 1993. S. 25–41; S. 26. 304 Jan Urbich: Literarische Ästhetik. S. 163. 305 Jan Urbich: Literarische Ästhetik. S. 164.
374 | Gegenstände der Dichtung: Ebene der Gehalte
galt nicht mehr als Nachahmung der Natur, die die Realität lediglich abbildet, oder als eine Täuschung bzw. Illusion, sondern wurde vielmehr auf die Erfahrungs- und Reflexionswirklichkeit des Subjekts bezogen.306 Hierin blieb die Romantik, wie Blumenberg festhält, dem Konzept „der momentanen Evidenz“307 verhaftet, das sie einer zunehmend unverständlich werdenden Wissenschaft entgegenzuhalten bemüht war. Die Rückwendung auf das erlebende, die Evidenz erfahrende Subjekt bezeichnet Vietta daher als ‚kopernikanische Wende der Ästhetik‘: In Analogie zur kopernikanischen Wende in der Wissenschaft und in der Philosophie kann man in der Frühromantik von einer kopernikanischen Wende der Ästhetik sprechen: Nicht mehr ‚dreht‘ sich die moderne Ästhetik um die Gegenstände der Natur, vielmehr ‚drehen‘ sich diese […] um das neue Zentrum: das ästhetische Subjekt.308
2.2 Unbegreifliches, Unvorstellbares und Unerforschliches In der Wendung hin zur Schöpfung, zur Poiesis und zum Subjektiven wurde Dichtung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Möglichkeit zugesprochen, Gegenstandsbereiche zu erschließen, welche Wissenschaften, Mathematik und Logik explizit entzogen waren. Es handelt sich um jenen nur ex negativo bestimmbaren Bereich, den Georg W. Muncke das „Unerkennbare“309, Friedrich Schlegel das „Unerklärbare[], Unauflösbare[], Unbegreifliche[]“310 und Wolfgang von Goethe das „Unerforschliche“311 nennen. Nachdem das NachahmungsPrinzip relativiert war, konnte sich ein Raum öffnen, in dem diese Gehalte überhaupt erst als Bezugs- und Referenzraum von Künsten und Dichtung wahrgenommen werden konnten. Jean-François Lyotard erkennt in Kant den bedeutenden Kronzeugen dieser ästhetischen Öffnung: [So gibt es] bei Kant den Ort und den Moment für eine negative Ästhetik, für die [Ästhetik] einer Darstellung, deren Mangel gerade fühlen läßt, daß es Nichtdarstellbares gibt. Dieses
|| 306 Vgl. Jan Urbich: Literarische Ästhetik. S. 165. 307 Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. S. 49. 308 Silvio Vietta: Ästhetik der Moderne. S. 66. 309 Georg W. Muncke: Physik. S. 522. 310 Friedrich Schlegel: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern [Köln 1804–1805]. In: derselbe: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 12. Hrsg. von Jean-Jacques Anstett. München, Paderborn, Wien: Schöningh, 1964. S. 107–480; S. 387. 311 Johann W. von Goethe: Maximen und Reflexionen. In: Werke. Hamburger Ausgabe in 14. Bänden. Bd. 12. Hrsg. von Erich Trunz. Hamburg: Wegner, 1956. S. 365–547; S. 471.
Unbegreifliches, Unvorstellbares und Unerforschliches | 375
Paradoxon öffnet, wie man weiß, den Blick für die romantische Ästhetik, für die Schlegelsche Ironie und insbesondere für den Witz eines Jean Paul. […]. Indem Kant die Mangelhaftigkeit der sinnlichen Anschauung oder der Einbildung im Gefühl des Erhabenen aufzeigt, eröffnet er nicht nur den Blick für eine Kunst, die im Begriff ist, die zeitlichräumlichen Formen selbst zu hinterfragen, was die Sorge der Avantgarde sein wird, er gestattet auch und verlangt sogar eine Revision des Schematismus im Aufbau der Erkenntnis.312
Schon Baumgarten thematisiert das Undarstellbare und Unfassbare. Er behandelt sie im Zuge seiner hierarchischen Ordnung niederer und höherer Erkenntnisvermögen aber lediglich als ein Randphänomen.313 Er wertet das Unfassbare ausschließlich negativ als das Nicht-Erkennbare, zu dem die menschliche Erkenntnis keinen Zugang finden könne. Kant dagegen öffnet den Blick für das begrifflich Unfassbare und integriert es in sein Erkenntnissystem, indem er mit dem Begriff ‚Darstellung‘ eine zentrale Brücke zwischen mundus sensibilis und mundus intelligibilis schlägt (vgl. Kap. IV.2.3): „Darstellung ist das Medium, der Transmitter der Einbildungskraft, mit dem sich der Begriff sein Bild verschafft.“314 Das Unfassliche verbirgt sich bei Kant nun in der ästhetischen Idee, die eine spezielle Form der Darstellung ist, nämlich die Darstellung von ‚Nebenvorstellungen‘, verstanden als ‚unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen‘.315 Die ästhetische Idee ist folglich per definitionem nicht-begrifflich und sie bleibt, da nach Kants Sprachverständnis nur das sprachlich genau und präzise gesagt werden kann, was auch auf vorsprachlicher Ebene begrifflich genau fassbar ist, eine Idee, die „keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann“316. Durch die Darstellung sind jedoch beide, Vernunftbegriff und ästhetische Idee, in ihrer Definition als ‚Pendants‘ noch aneinander gekoppelt. [U]nter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann, […]. – Man sieht leicht, daß sie das Gegenstück (Pendant) von
|| 312 Jean F. Lyotard: Grundlagenkrise. Übers. von J. Wagner. In: Neue Hefte für Philosophie 26 (1986). S. 1–33; S. 26. 313 Vgl. Petra Bahr: Darstellung des Undarstellbaren. Religionstheoretische Studien zum Darstellungsbegriff bei A.G. Baumgarten und I. Kant. Tübingen: Mohr, 2004; Waldemar Fromm: An den Grenzen der Sprache. S. 127–147. 314 Petra Bahr: Darstellung des Undarstellbaren. S. 176. 315 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 315. 316 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 313f.
376 | Gegenstände der Dichtung: Ebene der Gehalte
einer Vernunftidee sei, welche umgekehrt ein Begriff ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann.317
Erst Herder löst die definitorische Bindung des Unbegreiflichen an das RationalBegriffliche: „Nicht das Kunstwerk oder dessen Schönheit ist unsagbar, sondern die Erfahrung der Unsagbarkeit hat ihren Grund in der Seele.“318 Seine Sprachgenealogie (vgl. Kap. III.4.5) beruht auf der anthropologischen Grundannahme, dass Sprache und Denken in den ersten ‚Merkworten‘ gemeinsam entstünden. Das innere Merkwort hat einen völlig anderen Charakter als die älteren Konzepte mentaler Gehalte (z.B. Idee oder Begriff), da in ihm von der ersten Anerkennung der Außenwelt bis zur eloquenten Elegie stets Zeichen und bezeichnender Geist untrennbar vereint sind. Das Merkwort bedingt bei Herder daher, wie Waldemar Fromm festhält, auch eine andere Form des Ausdrucks: Diese Qualität ist nicht ohne weiteres sagbar, es reicht nicht hin, eine extensiv klare Rede zu führen, die passende oder ähnliche Merkmale aneinanderreiht. Im Ausdruck ist neben der buchstäblichen Benennung eine zweite Ebene der Signifikation eingeführt, die den Sinn ergibt.319
Die ‚zweite Ebene‘ bleibt erkenntnistheoretisch wie psychologisch unergründbar, da Herder sie als eine Naturanlage – als eine Urkraft – begreift. Er wehrt sich gegen die rationalistische Abwertung der ‚unteren Erkenntnisvermögen‘ und betont, dass die ersten Vorstellungen, die durch Analogie geprägten Gefühlsworte, auch klar und deutlich sind: „Da alle Sinne nichts als Vorstellungsarten der Seele sind: so habe sie nur deutliche Vorstellung: mithin Merkmal, mit dem Merkmal hat sie innere Sprache.“320 Erst bei der Übersetzung von einem Merkwort in ein Mitteilungswort, von innerer Sprache in äußere Sprache könne sich eine abstrakt-begriffliche Sprache entwickeln, die die Lebendigkeit des Ausdrucks für begriffliche Schärfe und Eindeutigkeit eintausche.321 Den phylowie ontogenetischen Ursprung der inneren Sprache kann die philosophische Spätstufe der Sprache nicht benennen, diese Sinnebene entzieht sich ihr. Für die Dichtung bedeutet das, so Waldemar Fromm: „Das Unnennbare ist nicht am Werk, sondern im Produktions- und Rezeptionsprozeß, in der Verwendung der
|| 317 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 313f. 318 Waldemar Fromm: An den Grenzen der Sprache. S. 211 und S. 221. 319 Waldemar Fromm: An den Grenzen der Sprache. S. 227. 320 Johann G. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. In: derselbe: Werke. Bd. 1. Hrsg. von Ulrich Gaier. Frankfurt a. M.: Klassiker, 1985. S. 695–810; S. 746. 321 Vgl. Johann G. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. S. 733.
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Sprache angesiedelt.“322 Da der Sprachentwicklungsprozess unumkehrbar sei und die Worte der Sprache im Mannesalter den Empfindungen „so gar entgegen“323 stünden, gelte es, so Herder, eine bildliche poetische Kraft zu entwickeln, die jener unfasslichen Urkraft ähnlich sei. Gerade die Kraft bewirke wiederum das Unsagbare: „Und dies ist die Kraft, die dem Innern der Worte anklebt, die Zauberkraft, die auf meine Seele durch die Phantasie und Erinnerung wirkt: sie ist das Wesen der Poesie.“324 Die poetische Kraft könne nicht auf dem Weg der Repräsentation von Worten, also in Form einer ‚todten Sprache‘, erreicht werden, sondern über den lebhaften Sinn, der sich erst im Sprachganzen der Dichtung herstelle und als „Gepräge der Analogie“325 Empfindungen in der Einbildungskraft hervorrufe. Schelling entwickelt Kants Konzept der ästhetischen Idee weiter, indem er Ideen als Bewusstseinsformen des Absoluten begreift.326 Im Kunstwerk erhalte das Absolute durch eine Verschränkung des Unendlichen im Endlichen eine Darstellung: „Diese Unendlichkeit muß sich gegenüber dem Verstand dadurch ausdrücken, daß kein Verstand fähig ist sie ganz zu entwickeln, daß in ihm selbst eine unendliche Möglichkeit liegt, immer neue Beziehungen zu bilden.“327 Im Unendlichen des Kunstwerks und der Poesie zeige sich das Göttliche, das Transzendentale, das nicht restlos Verstehbare und damit das eigentlich Unbegreifliche. Nachdem dieses Nicht-Verstehbare dem Verstand nicht begreiflich sei, könne es der Poet auch nicht ‚verständig‘ im Kunstwerk darstellen, sondern sei auf seinen ‚Instinkt‘ angewiesen: „Der Künstler scheint in seinem Werk außer dem, was er mit offenbarer Absicht darein gelegt hat, instinktmäßig gleichsam eine Unendlichkeit dargestellt zu haben, welche ganz zu entwickeln kein endlicher Verstand fähig ist.“328 Das Unendliche könne nicht auf einer referenziell-semantischen Ebene benannt werden, sondern müsse wie in den Mytholo-
|| 322 Waldemar Fromm: An den Grenzen der Sprache. S. 232. 323 Johann G. Herder: Von der Ode. In: derselbe: Werke. Bd. 1. Hrsg. von Ulrich Gaier. Frankfurt a. M.: Klassiker, 1985. S. 57–99; S. 66. 324 Johann G. Herder: Die kritischen Wälder zur Ästhetik. In: derselbe: Werke. Bd. 2. Hrsg. von Gunter E. Grimm. Frankfurt a. M.: Klassiker, 1993. S. 9–441; S. 197. 325 Johann G. Herder: Über Bild, Dichtung und Fabel. In: derselbe: Werke. Bd. 4. Hrsg. von Jürgen Brummack. Frankfurt a. M.: Klassiker, 1994. S. 631–677. S. 642. 326 Vgl. Heinz Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus. S. 159. 327 Friedrich W.J. von Schelling: Philosophie der Kunst. In: derselbe: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5. Hrsg. von Karl F.A. Schelling. Stuttgart, Augsburg: Cotta, 1859. S. 353–736; S. 414. 328 Friedrich W.J. von Schelling: System des transzendentalen Idealismus. S. 619.
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gien in einem „unendlichen Sinn und Symbol[]“329 eine indirekte Darstellung finden. Dies alles gibt dem Unbegreiflichen, dem Mystischen und Undarstellbaren einen anderen Status in Schellings Philosophie: „Schelling eröffnet den mystischen Erfahrungen einen konkreten Grund im Bewußtsein, Kant hingegen zieht für mystische Erfahrungen eine Grenze der Betrachtbarkeit, indem er auf ihren Schein-Charakter hinweist.“330 Friedrich Schlegel erhebt die Darstellung des Unvorstellbaren und Mystischen zu einer anthropologischen Forderung: „Darstellen will und soll [der] Mensch gerade das was er nicht vorstellen kann“331. Das höchste Heilige, die Liebe, das Unendliche sei nicht begrifflich fassbar und könne folglich auch keinen sprachlichen Ausdruck in Form einer Repräsentation finden, man könne es „nur allegorisch sagen“332. Der ästhetisch-poetischen Darstellung des Undarstellbaren, dem ‚poetisch gesagten Unsagbaren‘ bei Schlegel wohnt daher immer auch ein paradoxes Moment inne. Aus diesem Grund fordert er eine sprachliche Darstellung, die sich über die logisch-rationale Sprache erhebt: „Wer Sinn fürs Unendliche hat, […] sagt, wenn er sich entschieden ausdrückt, lauter Widersprüche.“333 Schlegel adaptiert Herders Konzept der ursprünglichen Einheit von Gedanken und Merkwort sowie den darin enthaltenen, nicht-sagbaren Anteil, der nur dem ‚Gefühl‘ zugänglich ist. Dem Gefühl spricht Schlegel die Funktion eines ‚inneren Sinns‘ zu, den er – analog zu den äußeren Sinnen – als perzeptive Größe charakterisiert.334 Dichtung soll demnach weniger die subjektiven und repräsentierbaren Gefühle ausdrücken, sondern vielmehr die Einheit des Einzelnen als sinnlich-geistige Ganzheit bewirken, das Göttliche poetisch darstellen und das Unendliche erahnen lassen. Waldemar Fromm identifiziert in Schlegels Poetik und im frühromantischen Dichtungsverständnis eine Dualität von Unfassbarem bzw. Unsagbarem und Repräsentierbarem bzw. Sagbarem: Die Konzeption von Literatur beruht auf einem ‚autogenen‘ unsagbaren Anteil und einem kommunizierbaren Anteil, der im Kern aus einer anthropologischen Fragestellung entwickelt wird. Literatur ist dann eine Form für einen primären, nicht repräsentierbaren Anteil
|| 329 Friedrich W.J. von Schelling: System des transzendentalen Idealismus. S. 620. 330 Waldemar Fromm: An den Grenzen der Sprache. S. 325. 331 Friedrich Schlegel: Philosophische Lehrjahre 1796–1806. S. 373. 332 Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie. S. 324. 333 Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie. S. 243. 334 Vgl. Waldemar Fromm: An den Grenzen der Sprache. S. 327.
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und einen sekundären, der zwar repräsentierbar, aber nicht das Ziel romantischer Literatur ist, da er aus dem unsagbaren Teil abgetrennt würde.335
Das Unsagbare galt für die Dichter des ausgehenden 18. Jahrhunderts weder als das Noch-Nicht-Sagbare noch als dasjenige, über das, mit Wittgenstein gesprochen, geschwiegen werden muss. In der frühromantischen Ästhetik und Poetik wird das Unfassliche, Unerforschliche, Undarstellbare und Unsagbare zu einem wesentlichen Aspekt poetischen Sprechens und damit indirekt auch Legitimation des literarischen Diskurses, wie Sabine Schneider feststellt: Der Raum des ‚Unsagbaren‘ kann [...] aber auch zu einem verheißungsvollen Zielpunkt für ein anderes, neues Sprechen werden, welches den paradoxen Anspruch, das Unsagbare dennoch sagen zu wollen, zu einem utopischen poetologischen Programm erhebt, das seine Ursprünge wohl nicht zuletzt in den rhetorischen Verfahren der Mystik hat. [...] Schon seit spätestens dem 18. Jahrhundert verbirgt sich hinter dem Programm der Sagbarkeit des Unsagbaren auch eine Strategie der Legitimation des literarischen Sprechens gegenüber anderen Diskursen.336
Das Unbegreifliche und Unsagbare konnte nicht deswegen zu einer poetologischen ‚Strategie der Legitimation‘ werden, weil in den philosophisch-wissenschaftlichen Diskursen keine Formen nicht-propositionaler Erkenntnis vorhanden gewesen wären337, sondern weil diese dort, wie Gottfried Gabriel betont, bis heute keine Anerkennung finden: „Die Anerkennung nicht-propositionaler Erkenntnis ist nach wie vor umstritten.“338 Wie Gabriel weiter ausführt, sind diese nicht-propositionalen Gehalte gerade in den grundlegenden Definitionen der Philosophie verborgen und werfen daher die Frage nach der Bestimmung des Erkenntnisbegriffs auf:
|| 335 Waldemar Fromm: An den Grenzen der Sprache. S. 336. 336 Sabine M. Schneider und Christian Villiger: Das Unsagbare sagen. In: Die Grenzen des Sagbaren in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Sabine M. Schneider. Würzburg: K&N, 2010. S. 7–18; S. 8. 337 „Hier ist der Ort, darauf hinzuweisen, daß wir es mit nichtpropositionalen Erkenntnissen keineswegs nur in der Dichtung zu tun haben, für die wir sie zunächst zur Anerkennung zu bringen suchten, sondern auch in der Philosophie und den Wissenschaften. Deren Grundunterscheidungen bieten, ob sie nun metaphorisch oder nicht metaphorisch artikuliert werden, ein weites Feld von Beispielen für nichtpropositionale Erkenntnisse.“ Gottfried Gabriel: Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft. Stuttgart: Metzler, 1991. S. 222. 338 Gottfried Gabriel: Kennen und Erkennen. In: Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft Kunst und Religion. Hrsg. von Joachim Bromand und Guido Kreis. Berlin: Akademie, 2010. S. 43–55; S. 43.
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Kurzum, die Frage, ob es nicht-propositionale Erkenntnis gibt, läuft letztlich auf die normative Frage hinaus, wie der Erkenntnisbegriff zu bestimmen ist. Von deren Antwort hängt einiges ab, insbesondere das Verständnis der Philosophie selbst. Soweit der philosophische Diskurs in der Begründung von Unterscheidungen und nicht in der Begründung von Aussagen besteht, sind dessen Ergebnisse selbst nicht-propositional. Definitionen sind lediglich grammatisch betrachtete Aussagen, aber keine Aussagen im sprechakttheoretischen Sinne, da für sie die Wahrheitsfrage entfällt.339
Bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert wurde die von Gabriel geschilderte Problematik von literarischer bzw. ästhetischer Seite den Wissenschaften und der Philosophie vorgeworfen. Das zeigt sich z.B. in Herders Kritik an Kants Trennung von ‚Ding an sich‘ und ‚Erscheinung‘ (vgl. Kap. III.4.5). „Woher nun entstand“, fragt Herder provokant, „das abenteuerliche Mißverständnis, sich an Noumenen ‚Vorstellungen ohne Gegenstand, Dinge an sich‘ zu denken?“340 Er enttarnt Kants ‚Ding an sich‘ als eine Begriffsbildung von Begriffen, also als eine Begriffsbildung zweiter Ordnung, und stellt ihm ein anderes ‚Ding an sich‘ gegenüber: „Hinweg das Blendwerk! Wenn Etwas ins Reich der Dinge an sich, d. i. der Wahrheit gehöret: so ists unser Verstand“341, wettert Herder, „es gibt kein anderes; das Ding an sich heißt anerkennbare Wahrheit“342. Gerade die ‚anerkennbare Wahrheit‘ ist nach Herders Verständnis das Unfassliche und Unbegreifliche, das es anzuerkennen gilt. Auch Goethe insistiert auf einem unerforschlichen Anteil in „allen Phänomenen der faßlichen Welt“, so dass das „Wahre […] sich niemals von uns direkt erkennen“ lässt und nur „als unbegreifliches Leben“ wahrgenommen werden kann.343 Goethes Kritik an einem theoriegetränkten und sprachlich verformten Zugriff auf Natur und Wirklichkeit durch die empirischen Naturwissenschaften sowie sein eigener Ansatz eines alternativen wissenschaftlichen wie auch eines poetisch-symbolischen Umgangs mit dem Unbegreiflichen und Unerforschlichen wird in Teil V dieser Untersuchung ausführlich dargestellt (vgl. vor allem Kap. V.2.2).
|| 339 Gottfried Gabriel: Kennen und Erkennen. S. 43. 340 Johann G. Herder: Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. In: derselbe.: Werke. Bd. 8. Hrsg. von Martin Bollacher. Frankfurt a. M.: Klassiker, 1998. S. 303–640; S. 470. 341 Johann G. Herder: Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. S. 473. 342 Johann G. Herder: Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. S. 599. 343 Johann W. von Goethe: Versuch einer Witterungslehre 1825. In: derselbe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Leopoldina-Ausgabe. Abt. 1, Bd. 11. Hrsg. von Rupprecht Matthaei u.a. Weimar: Böhlau, 1970. S. 244–268; S. 244.
Selbstreflexivität | 381
2.3 Selbstreflexivität Mit der Selbstreflexivität soll nach dem Prinzip der Nachahmung und der Thematisierung des Unbegreiflichen und des Unerforschlichen abschließend ein dritter wichtiger Aspekt auf der Ebene der Gehalte der Literatur untersucht werden. Verbunden ist er mit den vorangegangenen Untersuchungen durch den Begriff der Darstellung, der nicht nur in den Poetiken der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine zentrale Kategorie bildete. Jürgen Mittelstraß führt aus, dass „im erkenntnistheoretischen Sinne das Wesen aller ‚Erkenntnis‘ und aller ‚Wahrheit‘ […] die Aneignung des Gegenstandes durch seine Darstellung“344 sei. Freilich wurde dies nicht immer erkenntnistheoretisch berücksichtigt. Es war wie bereits erwähnt Immanuel Kant, der den Begriff ‚Darstellung‘ in die Erkenntnistheorie einführte. Sowohl der erkenntnistheoretische Rationalismus als auch der erkenntnistheoretische Empirismus beruhten noch auf einer (re-)produktiven und abbildenden Repräsentation der sinnlichen Wirklichkeit durch Ideen. Descartes nannte sie Abbilder der Dinge im menschlichen Bewusstsein (imagines rerum), Locke bezeichnete sie als simple ideas. Erst Kant sollte die unmittelbare Bezugnahme der Ideen auf die Wirklichkeit lösen, indem er ‚Idee‘ als Vernunftbegriff a priori fasst, dem– anders als dem Verstandesbegriff – keine objektive Realität zukommen kann und dem folglich keine sinnliche Anschauung angemessen ist. Die Realität und der Erkenntniswert eines Verstandesbegriffs bestehen für Kant darin, dass die Urteilskraft die ihm entsprechende Anschauung aufweisen kann. Diese ‚Versinnlichung‘ nennt er ‚Hypotypose‘, ‚exhibitio‘ oder auch ‚Darstellung‘: „Wenn der Begriff von einem Gegenstande gegeben ist, so besteht das Geschäft der Urtheilskraft im Gebrauche desselben zum Erkenntniß in der Darstellung (exhibitio), d. i. darin, dem Begriffe eine correspondirende Anschauung zur Seite zu stellen.“345 Neben der gewissermaßen direkten Darstellung der Verstandesbegriffe gibt es aber auch eine indirekte, symbolische Darstellung der reinen Vernunftbegriffe: Alle Hypotypose (Darstellung, subiectio sub adspectum) als Versinnlichung ist zwiefach: entweder schematisch, da einem Begriffe, den der Verstand faßt, die correspondirende Anschauung a priori gegeben wird; oder symbolisch, da einem Begriffe, den nur die Vernunft denken und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann, eine solche untergelegt wird, mit welcher das Verfahren der Urtheilskraft demjenigen, was sie im Schematisiren beobachtet, bloß analogisch ist, d. i. mit ihm bloß der Regel dieses Verfah-
|| 344 Jürgen Mittelstraß: Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997. S. 250. 345 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 192.
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rens, nicht der Anschauung selbst, mithin bloß der Form der Reflexion, nicht dem Inhalte nach übereinkommt.346
Besondere Relevanz erhält der Aspekt der Darstellung in Kants Reflexionen zum Schönen und zum Erhabenen, wobei, worauf Claudia Albes hinweist, gerade das Versagen der Darstellungsmöglichkeit zentral ist: Während das spontan sich einstellende Gefühl des Schönen daraus resultiert, daß ein ‚zweckmäßiges‘ Verhältnis zwischen Einbildungskraft und Verstand besteht, ist das Gefühl des Erhabenen aus Lust und Unlust gemischt und bildet somit ein prekäres Bindeglied zwischen Einbildungskraft und Vernunft. Angesichts bestimmter Naturgegenstände [...] versagt das Vermögen der Einbildungskraft, Anschauung und Verstandesbegriffe qua Darstellung in ein harmonisches Verhältnis zueinander zu bringen.347
Die Unlust entstünde, so Kant, aus der Erkenntnis, dass die Einbildungskraft angesichts erhabener Gegenstände es nicht vermöge, in ‚umgekehrter Richtung‘ wie die ‚Versinnlichung‘ eine den Verstandesbegriffen entsprechende Anschauung zu einem Ganzen zusammenzufügen. Die Lust entstünde wiederum auf einer höheren Ebene dadurch, dass in diesem Scheitern die Beschränktheit der Sinnlichkeit und damit die natürliche ‚Bestimmung‘, das ‚Gesetz‘ des menschlichen Erkennens erkenn- und erlebbar werde: Das Gefühl der Unangemessenheit unseres Vermögens zur Erreichung einer Idee, die für uns Gesetz ist, ist Achtung. […]. Unsere Einbildungskraft aber beweiset selbst in ihrer größten Anstrengung in Ansehung der von ihr verlangten Zusammenfassung eines gegebenen Gegenstandes in ein Ganzes der Anschauung […] ihre Schranken und Unangemessenheit, doch aber zugleich ihre Bestimmung zur Bewirkung der Angemessenheit mit derselben als einem Gesetze. Also ist das Gefühl des Erhabenen in der Natur Achtung für unsere eigene Bestimmung, die wir einem Objecte der Natur […] beweisen, welches uns die Überlegenheit der Vernunftbestimmung unserer Erkenntnißvermögen über das größte Vermögen der Sinnlichkeit gleichsam anschaulich macht. Das Gefühl des Erhabenen ist also ein Gefühl der Unlust aus der Unangemessenheit der Einbildungskraft in der ästhetischen Größenschätzung zu der Schätzung durch die Vernunft und eine dabei zugleich erweckte Lust aus der Übereinstimmung eben dieses Urtheils der Unangemessenheit des größten sinnlichen Vermögens mit Vernunftideen, sofern die Bestrebung zu denselben doch für uns Gesetz ist.348
|| 346 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 351. 347 Claudia Albes: Einleitung. In: Darstellbarkeit. Zu einem ästhetisch-philosophischen Problem um 1800. Hrsg. von Claudia Albes und Christine Frey. Würzburg: K&N, 2003. S. 9–28; S. 14. 348 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 257.
Selbstreflexivität | 383
Nur angesichts des Erhabenen können die Notwendigkeit, die Unmöglichkeit und damit die Begrenztheit des menschlichen Darstellungsvermögens bewusst werden. Einzig im Scheitern der sinnlichen Erkenntnis wird die für die Erkenntnis jedes Verstandesbegriffs notwendige Darstellung und das ‚Gesetz‘ menschlicher Erkenntnis selbst erkennbar. „Darstellungsvollzüge sind“, wie Petra Bahr festhält, „unhintergehbar. In ihnen gewahrt das Subjekt nicht nur seine Welt. Es gewahrt in seinen Darstellungen auch sich selbst im Verhältnis zu dieser Welt.“349 Kant beendet damit in gewisser Weise das abendländische Erkenntnisideal der Unmittelbarkeit und Evidenz, wie es sich im Konzept einer direkten Korrespondenz von Ideen bzw. Begriffen und Dingen der Wirklichkeit manifestierte. Er schiebt mit dem Darstellenden eine vermittelnde Instanz zwischen Erkenntnissubjekt, Erkenntnis und Wirklichkeit. Den Vertretern des philosophischen Idealismus erwächst hieraus ein Problem für die Letztbegründung des Wissens. Fichte beschreibt in der Wissenschaftslehre das Wissenssystem als eine umfassende Darstellung allen Wissens (sowohl der ‚Noumenen‘ als auch der ‚Phaenomene‘), das seine Grundlagen im erkennenden Ich berücksichtigen und reflektieren soll.350 Die Darstellung des ‚Ich bin Ich‘, also des Bewusstseins, führt jedoch in einen unendlichen Regress, denn um eine Darstellung des Ichs zu haben, muss stets ein Bewusstsein vorausgesetzt sein. Dieses aber bleibt bei der Selbsterkenntnis auf eine SelbstDarstellung und daher auf die zu erkennende Grundlage angewiesen. In der Sittenlehre (1798) geht Fichte in seiner Betrachtung des freien Ichs daher über die vernünftige Begründung hinweg zur einer ‚Setzung im Glauben‘: „Ich will selbständig sein, darum halte ich mich dafür. Ein solches Fürwahrhalten aber ist ein Glaube. Sonach geht unsere Philosophie aus von einem Glauben, und weiß es.“351 Das Begründungsproblem bestand nur, solange als eine Letztbegründung menschlicher Erkenntnis angestrebt wurde. Eben dieses Bestreben gaben die Frühromantiker auf (vgl. auch Kap. IV.2.1): „Unter explizitem Rückgriff auf den Darstellungsbegriff distanzieren sich die Frühromantiker von den idealistischen Konzepten der Letztbegründung.“352 Da sie mit Herder das Denken in seinem Ursprung als zeichenhaft begriffen, war für sie die Letztbegründung nicht nur ein erkenntnistheoretisches Problem, sondern auch ein semiologisch-sprachliches. Dem Selbstbewusstsein und der Selbstreflexion des Ichs
|| 349 Petra Bahr: Darstellung des Undarstellbaren. S. 301. 350 Vgl. Johann G. Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo. S. 125. 351 Fichte, Johann G.: Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre. Hrsg. von Manfred Zahn. Hamburg: Meiner, 1963. S. 170. 352 Claudia Albes: Einleitung. S. 16.
384 | Gegenstände der Dichtung: Ebene der Gehalte
ist, so Friedrich Schlegel, nicht auf philosophisch-propositionale Weise beizukommen, sie sind etwas Unfassliches und etwas Undarstellbares. Schelling hat hier, was die Möglichkeiten gerade auch der Poesie betrifft, noch einen Optimismus erkennen lassen, den die Frühromantiker nicht mehr ungebrochen übernehmen konnten. Daher, so Claudia Albes, „impliziert Schlegels und Hardenbergs Fichte-Kritik ästhetische Verfahren, die ihr eigenes Fehlschlagen beim Versuch, das Absolute einzuholen, immer schon mitreflektieren.“353 Wiederum ist es das Scheitern, das die Darstellung und damit die Erkenntnisgrundlagen in ihren Voraussetzungen, Bedingungen und Grenzen sichtbar macht und machen soll. Poesie und Dichtung müssen dort, wo sie das Höchste, Absolute und Unfassliche darzustellen versuchen, gleichzeitig auch ihr Scheitern an der Darstellung mitreflektieren: „Literatur ist doppelt ausgewiesen, in der Tätigkeit ist sie (sich selbst) denkende Natur und Organ, in der Wahrnehmung und Bewußtwerdung der Tätigkeit ist sie Reflexion.“354 Die Verschmelzung von poetischer Darstellung und poetischer Selbstreflexion formuliert Friedrich Schlegel im 238. Athenäums-Fragment: Es gibt eine Poesie, deren eins und alles das Verhältnis des Idealen und des Realen ist, und die also nach der Analogie der philosophischen Kunstsprache Transzendentalpoesie heißen müsste. […]. So wie man aber wenig Wert auf eine Transzendentalphilosophie legen würde, die nicht kritisch wäre, nicht auch das Produzierende mit dem Produkt darstellte, und im System der transzendentalen Gedanken zugleich eine Charakteristik des transzendentalen Denkens enthielte: so sollte wohl auch jene Poesie […] in jeder ihrer Darstellungen sich selbst mit darstellen, und überall zugleich Poesie und Poesie der Poesie sein.355
Schlegel und die Frühromantiker streben nicht nur eine Poesie an, die ihre Inhalte und Formen selbst reflektiert, sie entwerfen eine zweite Ebene der Selbstreflexion. Der Unterschied erhellt sich, wenn man – Michael Scheffel folgend – zwei Dimensionen der literarischen Selbstreflexion trennt: Selbstreflexion in fiktionalen Erzähltexten kann […] im Sinne von ‚Betrachtung‘ oder von ‚Spiegelung‘ erfolgen. Im Sinne von ‚Betrachtung‘ ist sie auf der Ebene des Erzählens (extradiegetisch) und des Erzählten (intradiegetisch, metadiegetisch, metametadiegetisch etc.), im Sinne von ‚Spiegelung‘ nur auf der des Erzählten möglich und [...] mit einem erzähllogischen Ebenenwechsel zwischen spiegelndem und gespiegeltem Erzählen verbun-
|| 353 Claudia Albes: Einleitung. S. 16. 354 Waldemar Fromm: An den Grenzen der Sprache. S. 330. 355 Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente. S. 204.
Selbstreflexivität | 385
den (intradiegetisch spiegelt extradiegetisch, metadiegetisch spiegelt intradiegetisch etc.).356
Scheffels Klassifikation lässt sich auf die frühromantische Poetologie anwenden, da Schlegel und Novalis ein zeitgleiches intra- wie extrapoetisches Betrachten und Reflektieren fordern.357 In Novalis’ Fichte-Studien klingt hierbei nicht von ungefähr sowohl Kants ästhetische Idee als auch Fichtes ‚Setzung im Glauben‘ an: Das Ich muß sich, als darstellend setzen. / Das Wesentliche der Darstellung ist – was das Beywesentliche des Gegenstands ist / Gibt es eine besondre darstellende Kraft – die blos um darzustellen, darstellt – darstellen, um darzustellen ist ein Freyes Darstellen. Es wird damit nur angedeutet, daß nicht das Obj[ect] qua solches sondern das Ich, als Grund der Thätigkeit, die Thätigkeit bestimmen soll. Dadurch erhält das Kunstwerck, einen freyen, selbständigen, idealischen Karakter – einen imposanten Geist – denn es ist sichtbares Produkt eines Ich.358
Wenn Schlegel fordert, dass Poesie „in jeder ihrer Darstellungen sich selbst mit darstellen, und überall zugleich Poesie und Poesie der Poesie sein“359 solle, und wenn Novalis eine ‚freye Darstellung‘ fordert, in der Objekt (Produkt) und hervorbringendes Ich (Produzierendes) gleichzeitig sichtbar würden, so ist hiermit auch der wesentliche Unterschied zur philosophisch-wissenschaftlichen Selbstreflexivität genannt. Jürgen Mittelstraß zeigt auf, dass „Wissenschaft, in ihrer europäischen Tradition, […] von Hause aus nicht nur objektorientiert, sondern auch selbstreflexiv, auf ein Bewußtmachen des eigenen Vorgehens und Könnens bedacht [ist], und in diesem Sinne philosophieorientiert.“360 Aber anders als die frühromantische Poetologie sind Wissenschaft, Philosophie und Logik darum bemüht, Objektebene und Reflexionsebene, ggf. auch Objektsprache und Metasprache, klar zu trennen. In Anlehnung an Scheffels Unterscheidung von betrachtender und spiegelnder Selbstreflexion könnte man daher die Selbstreflexion wissenschaftlicher Texte als eine ‚spiegelnde Selbstreflexion‘ bezeichnen,
|| 356 Michael Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. Tübingen: Niemeyer, 1997. S. 54. 357 Gemeint ist hier nicht ein allgemeiner und allen künstlerischen Darstellungen gemeiner Spiegeleffekt. Vgl. Manfred Schmeling: Autothematische Dichtung als Konfrontation. Zur Systematik literarischer Selbstdarstellung, Literatur als historischer Prozeß. In: Lili 32 (1978). S. 77–97; S. 81. 358 Novalis: Fichte Studien. In: derselbe: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Bd. 2. Hrsg. von Richard Samuel. Darmstadt: WBG, 1965. S. 29–296; S. 282. 359 Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente. S. 204. 360 Jürgen Mittelstraß: Der Flug der Eule. S. 167.
386 | Sprache und Dichtung: Ebene der Darstellungsformen
da sie den „Ebenenwechsel“361 von Objektdarstellung und Selbstreflexion nicht vollziehen kann bzw. einen solchen Ebenenwechsel nicht toleriert. Die objektwissenschaftlichen Untersuchungen spiegeln die erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Überlegungen wider, diese spiegeln wiederum die einzelwissenschaftlichen Bedingungen und Gegebenheiten wider. In den Wissenschaften besteht das Bedürfnis, Darstellung und Reflexion zu trennen. Der Unterschied von poetischer und wissenschaftlicher Selbstreflexion, also der Unterschied zwischen betrachtender und spiegelnder Selbstreflexion, beruht einerseits auf dem Unterschied von logischem und analogischem Denken362, andererseits auf dem Unterschied von referenziell-begrifflichem und symbolisch-bildlichem Sprachverständnis. Das neuzeitliche Verständnis von Rationalität verlangt nicht nur, die Repräsentationsebenen klar und deutlich zu trennen und zu markieren, es besteht auch auf ihrer Eindeutigkeit. Wenn Poesie, wie Schlegel schreibt, zugleich ‚Poesie und Poesie der Poesie‘ sein soll, so vermag sie dies nur, weil erstens der Mensch analogisch die Gemeinsamkeit von Dargestelltem und Darstellungsvorgang erfassen kann und weil zweitens der symbolisch-bildlichen Sprache der Dichtung die Fähigkeit zugesprochen wird, beide Ebenen gleichzeitig präsent halten zu können. Poesie ist nach frühromantischem Verständnis daher weniger Repräsentation eines ihr vorgängigen Wissens oder Nachahmung der Natur, sondern vornehmlich erfahrbare Präsenz der eigenen Selbstbezüglichkeit. Sie reflektiert in der Darstellung, dass „ihre Darstellungsformen […] den Inhalten nicht nach-, sondern vor- oder zumindest gleichgeordnet“ 363 sind.
3 Sprache und Dichtung: Ebene der Darstellungsformen Basierend auf den vorangegangenen Ausführungen zur diskursiven Formation und zu den Gehalten von Dichtung sowie unter Berücksichtigung der Ergebnisse aus Teil II und Teil III dieser Arbeit soll nun zusammenfassend die Bedeutung der sprachlichen Darstellungsform für die Verhältnisbestimmung von Dichtung und Wissenschaften gebündelt werden.
|| 361 Michael Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens. S. 54. 362 Vgl. Gottfried Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. S. 25. 363 Michael Gamper: Einleitung. In: Literatur und Nicht-Wissen. Historische Konstellationen 1730–1930. Hrsg. von Michael Bies und Michael Gamper. Zürich: Diaphanes, 2012. S. 9–21; S. 21. DOI 10.1515/9783110464252-023, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
Poetische Sprache und Repräsentation | 387
3.1 Poetische Sprache und Repräsentation Dichtung, Poetik und Ästhetik entwickelten sich im 18. Jahrhundert zu den zentralen Orten der Sprachreflexion, an denen nicht nur über die ästhetische Bedeutung, sondern auch über die Möglichkeiten, Grenzen, Funktionen und das Wesen der Sprache im Allgemeinen nachgedacht wurde. In Physik, Mathematik und Logik war es offensichtlich relativ leicht, die Sprachthematik der Thematisierung von Gegenstandsbereichen, Methodik und Erkenntnis unterzuordnen: Die Physik strebt danach die Natur zu erkennen, die Mathematik erkennt die mathematischen Gegenstände (Zahlen, Größen und Relationen), die Logik expliziert die richtige Art des Denkens. Aufgrund dieser Bestimmungen konnte Sprache in Rationalismus und Empirismus als sekundäres Instrument der Repräsentation modelliert werden, da das ‚Eigentliche‘ und die ‚Erkenntnis des Eigentlichen‘, so die meist implizite Annahme, durch die Natur der Dinge und durch die Natur des erkennenden Subjekts bedingt waren und damit vorsprachlich gedacht wurden (vgl. Kap. II.2.5 und Kap. II.3.7). Mit der zunächst zweifachen Trennung von res und verba und später mit der dreifachen Trennung von Gegenstand, Vorstellung und Zeichen lagen Konzepte vor, die einerseits die erkennende Repräsentation der Wirklichkeit, anderseits die zeichenhafte Repräsentation des Erkannten theoretisch erfassen sollte. Wirklichkeit, Wahrheit, Wissen, Erkenntnis, Zeichen und Sprache wurden im Konzept der mehrfach aufeinander bezogenen Repräsentation nahtlos verschränkt. Das auf Repräsentation bezogene Denken war für die Philosophie und die Wissenschaften im 17. und 18. Jahrhundert derart essenziell, dass Foucault es in Die Ordnung der Dinge zum zentralen Merkmal der klassischen Episteme erhebt: Die fundamentale Aufgabe des klassischen ‚Diskurses‘ ist es, den Dingen einen Namen zuzuteilen und ihre Existenz in diesem Namen zu benennen. Während zweier Jahrhunderte bildete der abendländische Diskurs den Ort der Ontologie. Als er die Existenz jeder Repräsentation im allgemeinen benannte, war er Philosophie: Erkenntnistheorie und Analyse der Ideen. Als er jedem repräsentierten Ding den Namen zuteilte, der ihm gemäß war, und im ganzen Gebiet der Repräsentationen den Raster einer wohlgestalteten Sprache anordnete, war er Wissenschaft – Nomenklatur und Taxonomie.364
Sprache habe, fährt Foucault fort, in den Diskursen des 17. und 18. Jahrhunderts stets nur als transparentes Instrument der Benennung und Ordnung funktioniert und nicht in ihrer ‚Festigkeit‘ existiert.365 Und tatsächlich verfolgten rationalisti-
|| 364 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. S. 164. 365 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. S. 76 und S. 115.
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sche und empiristisch-sensualistische Sprachkonzepte, das wurde in Teil II dieser Untersuchung deutlich, meist das Ziel einer funktionalen Sprachverbesserung bzw. Sprachoptimierung – bei Leibniz war dies das ambitionierte Projekt einer neuen und künstlichen Universalsprache (vgl. Kap. II.2.1), bei Condillac eine eher pragmatisch orientierte Erkenntnissprache (vgl. Kap. II.3.5). Stets war das Anliegen, Sprache für die Kommunikation der als vorsprachlich konzipierten Erkenntnisse möglichst transparent zu machen. Besonders eindrücklich expliziert Leibniz dieses Ideal in seinem Entwurf der ars characteristica (vgl. Kap. III.2.2).366 Die ideale Sprache sollte erstens die Dinge und Sachverhalte bzw. die Erkenntnis, die der Mensch von ihnen haben kann, eindeutig benennen. Zweitens sollte sie die Struktur, Verknüpfung und Vernetzung der Ideen so repräsentieren, dass das Wesen der Dinge selbst an den Zeichen unmittelbar ablesbar wird. Drittens sollte Sprache ein formales Operieren ermöglichen, so dass inhaltliche Fragen ‚rechnerisch‘ beantwortet und neue Erkenntnisse ‚mechanisch‘ erschlossen werden können. Alle drei Anforderungen erfüllte lediglich der operative Symbolismus der Mathematik, der deshalb zum Leitbild erkenntnistheoretisch ausgerichteter Sprachkonzeptionen des 17. und 18. Jahrhunderts werden konnte. Obwohl Rationalisten ebenso wie Empiristen Erkenntnis in einem vorsprachlichen Raum ansiedelten, wurden paradoxerweise durch den Traum von einer idealen Sprache Wissen und Sprachlichkeit untrennbar miteinander verknüpft, wie Foucault konstatiert: Das Wissen […] muß eine Sprache herstellen, die wohlgestaltet ist, daß heißt, daß sie analysierend und kombinierend wirklich die Sprache des Rechnens ist. Man kann jetzt die Instrumente definieren, die das Zeichensystem dem klassischen Denken vorschreibt. Es führt die Wahrscheinlichkeit, die Analyse und die Kombinatorik, das ausgewiesene Arbiträre des Systems in die Erkenntnis ein. [...] Es rückt alles Wissen in die Nähe einer Sprache und bemüht sich, allen Sprachen ein System künstlicher Symbole und Operationen logischer Natur zu substituieren.367
Rüdiger Campe geht noch einen Schritt weiter als Foucault, indem er das, was in dieser Arbeit als ‚operativer Symbolismus‘ oder als ‚die Sprache der Mathematik‘ bezeichnet wurde (vgl. Kap. III.2.2), als den zentralen Aspekt der historischen Verhältnisbestimmung von Dichtung und Wissenschaften identifiziert: „In der einander ergänzenden Verschiedenheit der Repräsentation von Zeichen
|| 366 Vgl. Gottfried W. Leibniz: Fragmente zur Logik. Hrsg. von Franz Schmidt. Berlin: Akademie, 1960. S. 90. 367 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. S. 97.
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und Formel konstelliert sich […] das Verhältnis von wissenschaftlichem Diskurs und literarischer Rede seit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts.“368 Gemessen an den Repräsentationsidealen der philosophischen und wissenschaftlichen Erkenntnissprache musste das, was im 17. und 18. Jahrhundert als ‚Sprache der Dichtung‘ bzw. als ‚poetische Sprache‘ entworfen wurde, immer als defizitäre Sprachform erscheinen und zwar aus mehreren Gründen: 1. Die Sprache der Dichtung kann zwar klare, nicht jedoch deutliche Vorstellungen repräsentieren und somit keine vollständigen Begriffe bezeichnen. 2. Bildlichkeit, Metaphorik und Polysemie der poetischen Sprache unterwandern das Ideal einer eindeutigen Repräsentation. 3. Die künstliche Syntax der Dichtung läuft dem zuwider, was als natürliche bzw. logische Ordnung der Dinge und der Gedanken aufgefasst wurde. 4. In Dichtung werden Sprachaspekte aktualisiert, die wie z.B. Metrik und Klang für die Repräsentation von Inhalten als irrelevant angesehen wurden. 5. Im Falle fiktionaler Dichtungen repräsentieren die Sprachzeichen nicht Vorstellungen von konkreten Gegenständen, sondern Vorstellungen mit einem zu klärenden erkenntnistheoretischen Status. 6. Die poetische Sprache lässt sich nicht wie der mathematische Symbolismus bzw. der formalisierte Kalkül auf natürliche Regeln zurückführen. Die auf Analogien und Differenzen beruhende Form der Verhältnisbestimmung von Wissenschaften und Dichtung, die bei einigen Vertretern der Querelle und der Aufklärung nachgewiesen wurde, adaptierte das erkenntnistheoretisch modellierte Repräsentations- und Sprachkonzept. Da vor allem rationalistisch orientierte Poetiken jedoch bemüht waren, die Gleichwertigkeit von Dichtung und Wissenschaften nachzuweisen, mussten sie dem Makel einer defizitären Dichtersprache argumentativ entgegenwirken. Um das erste Defizit, den Mangel an Deutlichkeit der poetischen Sprache, zu entkräften, modifiziert und erweitert z.B. Georg Friedrich Meier das auf Leibniz zurückgehende Konzept der Klarheit. Er unterteilt die klaren Vorstellungen in intensiv-klare und extensiv-klare Vorstellungen. Intensiv-klare Vorstellungen zeigen demnach die wenigen distinkten Merkmale an Gegenständen und führen idealerweise zu vollständigen, deutlichen Begriffen. Extensiv-klare Vorstellungen bleiben dagegen zwar undeutlich, leisten jedoch etwas, das die klar-deutlichen Begriffe nicht zu leisten imstande sind: Sie zeigen möglichst viele Merkmale eines Gegenstandes und stellen ihn in seiner vollen sinnlichen Erschei|| 368 Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer, 1990. S. 84.
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nung und Schönheit dar.369 Meier konzipiert auf diese Weise mit der intensional bestimmten Deutlichkeit und der extensional bestimmten Schönheit zwei gleichwertige aber komplementäre ‚Vollkommenheiten der Erkenntnis‘, an denen er beide Sprachformen ausrichtet. Wo die Sprache der Dichtung am Erkenntnisideal der Deutlichkeit scheitere, könne umgekehrt die Sprache der Wissenschaft und Philosophie das Erkenntnisideal der Schönheit nicht erreichen.370 Das zweite Defizit der poetischen Sprache, dem Mangel an Eindeutigkeit und Präzision, versuchte man abzuschwächen, indem man die didaktische Funktion und die angenehme Wirkung betonte. Johann Georg Sulzer räumt ein, dass Metaphern gemessen am Ideal der Repräsentation zwar ‚dunkel‘ seien, aufgrund ihrer natürlichen Verbindung mit den Ideen spricht er ihnen aber einen besonderen didaktischen Wert zu. Metaphern und Bilder könnten anders als die Fachwörter der Erkenntnissprache „die dunklen Ideen Leuten von geringern Fähigkeiten klar“371 machen. Gottsched wiederum rechtfertigt die „figürliche Rede“ durch ihre Annehmlichkeiten und durch ihre Kraft, die Einbildungskraft anzuregen.372 Er verlangt jedoch, dass die verwendeten Bilder (Metapher, Allegorie, Metonymie) ‚klar‘ sind, d.h. dass die Ähnlichkeit zwischen bildgebendem und bildnehmendem Bereich erkennbar und explizierbar ist.373 Den dritten Mangel, den Mangel einer widernatürlichen Syntax, rechtfertigt Gottsched auf ähnliche Weise durch die affektive Wirkung der poetischen Sprache. Die natürliche Ordnung der philosophischen Sprache könne nicht immer mit demselben Erfolg das Gefühl und die Einbildungskraft affizieren wie die künstlich geformte Sprache der Dichtung.374 Das vierte Defizit ist nur indirekt ein Mangel. Gerade weil klangliche, metrische und die meisten ästhetischen Merkmale der poetischen Sprache keine Relevanz für die begrifflich-propositionale Repräsentation von mentalen Gehalten besitzen, kann Sulzer diesen Aspekt positiv wenden. Er hebt Musikalität, Onomatopoesie und Reim als Mittel hervor, durch die das Angenehme und da-
|| 369 Vgl. Georg F. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Bd. 1. Hildesheim, New York: Olms, 1976 [1754]. S. 55f. 370 Vgl. Georg F. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Bd. 1. S. 8. 371 Johann G. Sulzer: Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß der Vernunft in die Sprache und der Sprache in die Vernunft. In: derselbe: Vermischte philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt. Leipzig: Weidmann und Reich, 1773. S. 166–198; S. 187. 372 Vgl. Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 327, S. 329 und S. 342. 373 Vgl. Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 342f. 374 Vgl. Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 448f.
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mit das Schöne, das Pathetische und das Feierliche dargestellt würden.375 Argumentationen wie diese, die sich in ähnlicher Form auch bei Condillac376 und Diderot377 finden, stützen sich meist auf Horaz’ prodesse et delectare-Diktum und verorten dasjenige, was das Angenehme oder Schmeichelnde ausmacht, auf der Ausdrucksseite sprachlicher Zeichen. Das sprachlich Angenehme wird insofern als eine positive Differenz zur Sprache der Wissenschaften konzipiert. Gegen den fünften Mangel, das ‚refenzielle Defizit‘378, wurden mehrere Argumentationsstrategien entwickelt. Um die Rede von der ‚Wahrheit‘ der Dichtung theoretisch legitimieren zu können, wurde das Konzept der Nachahmung unter großem argumentativen Aufwand u.a. von Baumgarten als eine sprachliche Referenz auf mögliche Welten modifiziert (vgl. Baumgartens Modell der ‚poetischen Erdichtungen‘ bzw. der ‚Welt der Dichter‘379). Eine weitere Strategie war es, nachzuweisen, dass mit Hilfe der Ausdrucksseite des arbiträren Sprachzeichens eine dem referenziellen Sprachgebrauch verschlossene, natürliche Bindung von Bezeichnendem und Bezeichnetem hergestellt werden könne. Gedacht wird diese Bindung als sprachliche Abbildrelation, die dem Prinzip der Ähnlichkeit oder Analogie folgt. Teilweise wurde Schönheit – ganz im Sinne des rhetorischen aptum-Prinzips – als eine Korrespondenz von Form und Inhalt gedacht. Eine schöne Frau solle ein schönes Kleid tragen, so Meier.380 Eine andere Form der natürlichen Sprachlichkeit meinte man durch eine Abbildrelation auf Inhaltseite erreichen zu können. Gemeint ist hier der metaphorische oder metonymische Sprachgebrauch. Nach Sulzer sind „natürliche Zeichen […] die Wörter, welche wirkliche oder metaphysische Aehnlichkeiten zwischen zwo Sachen ausdrücken, davon die eine dem eigentlichen Sinne des Wortes, die andere seinem figürlichen Sinne entspricht.“381 || 375 Vgl. Johann G. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzeln nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden Artikeln abgehandelt. Bd. 4. Leipzig: Weidemann und Reich, 1774. S. 1087. 376 Vgl. Étienne B. de Condillac: Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis. Ein Werk, das alles, was den menschlichen Verstand betrifft, auf ein einziges Prinzip zurückführt. [Essai sur l’origine des connaissances humaines, 1746]. Übers. und hrsg. von Angelika Oppenheimer. Würzburg: K&N, 2006. S. 198. 377 Denis Diderot: Brief über die Taubstummen. [Lettre sur les sourds et muets à l’usage de ceux qui entendent et qui parlent, 1751]. In: derselbe: Ästhetische Schriften. Bd. 1. Übers. und hrsg. von Friedrich Bassenge und Theodor Lücke. Frankfurt a. M.: Europäische VerlagsAnstalt, 1968. S. 27–97; S. 52 und S. 69. 378 Jan Urbich: Der Begriff der Literatur. S. 33. 379 Vgl. Alexander G. Baumgarten: Ästhetik. S. 491–495. 380 Georg F. Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Bd. 1. S. 336. 381 Johann G. Sulzer: Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß. S. 187.
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Dem sechsten Defizit, also dem Vorwurf, die Regeln und Grundsätze der Dichtung seien „willkührlich“382, begegnet Gottsched mit zwei Argumenten. Er muss eingestehen, dass die Regeln der Poesie tatsächlich nicht gleichermaßen mit ‚Zahl und Linien‘ ausgedrückt werden können wie die geometrischen Axiome. Aber da Gott die ganze Welt nach ‚Maß und Zahl‘ eingerichtet habe, ließen sich auch die Regeln der Poetik auf eine ‚natürliche Nothwendigkeit‘ durch ihren Ursprung in der ‚gesunden Vernunft‘ zurückführen.383 Gottsched gebraucht also Galileis Postulat, die Natur sei in mathematischen Lettern geschrieben, als rationalistisches Argument, um die tradierten, poetischen Grundsätze der Antike ex post als Äquivalente der mathematischen Axiome erscheinen zu lassen. Aus empiristisch-sensualistischer Perspektive betrachtet und gemessen am Repräsentationsvermögen der mathematischen bzw. wissenschaftlichen Sprachform erschien die Sprache der Dichtung zwar ebenfalls als eine defizitäre Sprachform, doch wurden die genannten Mängel nicht als so gravierend beurteilt wie auf rationalistischer Seite, da die Möglichkeiten von Verbalsprachen insgesamt negativer bewertet wurden. Für Condillac stellen die fehlende Deutlichkeit und Eindeutigkeit (das erste und zweite Defizit) keinen genuinen Makel der poetischen Sprache dar. Nach seiner Einschätzung dient Dichtung ohnehin nicht dem Zweck der Repräsentation von Erkenntnis, sondern dem Angenehmen und Vergnüglichen.384 Das dritte Defizit, die widernatürliche Syntax, ist für Denis Diderot ebenfalls ein allgemeines Problem der linear strukturierten Verbalsprachen: „Der Geist geht nämlich nicht Schritt für Schritt vor wie der Ausdruck.“385 Mit der „Harmonie des Stils“386 setzt er dem an sachhaltiger Erkenntnis orientierten Ideal der Philosophie ein ästhetisches Ideal entgegen, das auf der Ebene der Syntax ein natürliches und angenehmes Abbild der Welt erzeugen soll.387 Unter empiristischen Voraussetzungen relativiert Dubos das fünfte, referenzielle Defizit der dichterischen Sprache. Eine poetische Nachahmung ist für ihn nicht primär dann gelungen, wenn sie in den Grenzen des Möglichen und Notwendigen bleibt und so eine indirekte Repräsentationsrelation zur Wirklichkeit aufweist. Eine poetische Nachahmung erreicht seiner Einschätzung nach
|| 382 Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 183f. 383 Vgl. Johann C. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. S. 184. 384 Vgl. Étienne B. de Condillac: Versuch über den Ursprung. S. 212f. 385 Denis Diderot: Brief über die Taubstummen. S. 48. 386 Denis Diderot: Brief über die Taubstummen. S. 52 und 69. 387 Denis Diderot: Brief über die Taubstummen. S. 54.
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dann ihr Ziel, wenn sie die ‚Sprache des Herzens‘ spreche, d.h. wenn sie durch poetische Bilder ‚interessante Sentiments‘ vor das innere Auge der Einbildungskraft stelle und so das Herz des Rezipienten anrühre.388 Betrachtet man lediglich die rationalistisch oder empiristisch-sensualistisch ausgerichteten Theorien und Poetiken, so erscheint Foucaults These zunächst durchaus plausibel, das Paradigma der Repräsentation sei im 17. und 18. Jahrhundert derart fundamental gewesen, dass es Sprache völlig absorbiert habe: „Die Sprache hat“, wie er konstatiert, „keinen anderen Ort mehr als die Repräsentation und keinen anderen Wert außerhalb dieser“.389 Was Foucault in seinen Untersuchungen jedoch kaum oder gar nicht berücksichtigt, ist, dass es bereits im 17. und 18. Jahrhundert auch sprachtheoretische Ansätze gab, die das auf der Repräsentations-Trias (Gegenstand, Idee und Zeichen) beruhende Sprachkonzept kritisierten oder ablehnten. Mit Vico, Rousseau, Herder und Hamann wurden in der vorliegenden Untersuchung Vertreter vorgestellt, die Sprache und Denken bzw. Sprache und Affekte auf jeweils eigene, aber immer fundamentale Weise verschränkt oder sogar identifiziert haben (vgl. Kap. II.4). Gerade mit Blick auf die Sprachlichkeit von Dichtung und Poesie wurde sowohl in der erkenntnis- und sprachtheoretisch als auch in der poetologisch ausgerichteten Reflexion eine Erweiterung bzw. eine Überschreitung des klassischen Repräsentationskonzeptes erkennbar: Batteux’ „langue du cœur“390, Rousseaus „langues de poètes“391, Diderots ‚dichterischer Geist‘392, Lessings ‚IllusionsÄsthetik‘393, selbst Kants „Sprache der Affecte“394 und Schillers „ästhetischer Schein“395 – all diese Konzepte weisen in zentralen Punkten über das Paradigma der Repräsentation hinaus. So ersetzt beispielsweise Lessing mit seiner Forderung, die Poesie müsse „schlechterdings ihre willkürlichen Zeichen zu natürli-
|| 388 Vgl. Jean B. Dubos: Kritische Betrachtungen. S. 1–13. 389 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. S. 115. 390 Charles Batteux: Einschränkung der schönen Künste. S. 225. 391 Jean-Jacques Rousseau: Essay über den Ursprung der Sprachen, worin auch über Melodie und musikalische Nachahmung gesprochen wird. [Essai sur l’origine des langues. Où il est parlé de la mélodie et de l’imitation musicale, 1781]. In: derselbe: Musik und Sprache. Übers. von Dorothea Gülke und Peter Gülke und hrsg. von Richard Schaal. Wilhelmshaven: Heinrichshofen, 1984. S. 99–168; S. 104. 392 Vgl. Denis Diderot: Brief über die Taubstummen. S. 53. 393 Vgl. Gotthold E. Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: derselbe: Werke und Briefe. Bd. 5.2. Hrsg. von Wilfried Barner. Frankfurt a. M.: Klassiker, 1990. S. 11–321; S. 123f. 394 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. S. 328f. 395 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. S. 403.
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chen zu erheben suchen“396, das Ideal einer als unmittelbar empfundenen ästhetischen Präsenz weit über die bloße sprachliche Repräsentation. Im Drama, so Lessing, „hören die Worte auf, willkürliche Zeichen zu sein, und werden natürliche Zeichen willkürlicher Dinge“397. Überschritten wurde das Paradigma der Repräsentation bereits durch Batteux. Indem er das Herz und das Gefühl als einen Referenzrahmen der poetischen Sprache begreift, der unter gewissen Voraussetzungen unmittelbar und direkt versprachlicht werden kann (‚cri du cœur‘ und ‚langue du cœur‘), ist für die auf Gefühl und Empfindung ausgerichtete Poesie die Referenz auf Gegenstände der Wirklichkeit und die Repräsentation von Erkenntnis zweitrangig.398 Batteux erschließt mit dem unmittelbaren sprachlichen Ausdruck einen Raum, in den keine optimierte Erkenntnissprache hineinreichen kann. Klopstock entwickelt Batteux’ Gedanken weiter, indem er den „genau wahren Ausdruck der Leidenschaft“399 als erstes Merkmal einer gelingenden poetischen Darstellung anführt. Das ‚genau Wahre‘ des poetischen Ausdrucks lässt sich mit dem klassischen Repräsentationsparadigma nicht mehr adäquat erfassen, da Klopstock es an die Gemeinsamkeit des erlebten und empfundenen Affekts knüpft und nicht an die Repräsentation von Begriffen oder die Referenz auf Gegenstände. Die Ausdrucksästhetik sei, so das Ergebnis von Rüdiger Campes Untersuchung, eine „Verheißung [gewesen], die ,künstlichen Zeichen‘ (der Worte) als ,natürliche Zeichen‘ […] zu gebrauchen.“400 Campe spricht daher der Ausdrucksästhetik zu, mit „der Affektenlehre einen spezifischen Widerstand gegen die Repräsentation (des Zeichens)“401 zu leisten. In der Überschreitung des Repräsentationsparadigmas kann, so auch Jörg Schönerts These, „der ‚Poesie‘ ein Anspruch auf Wahrheit zugedacht werden, der nicht mehr im Rahmen eines wissenschaftlich gesicherten Wissens zu prüfen war“402. Die Sprache der Dichtung galt in diesem Kontext nicht länger als eine defizitäre Form der Repräsentation, sondern vielmehr als eine eigene, ursprünglichere oder gar natürliche Form menschlicher Sprache und Artikulation. Der Möglichkeit einer Bezeichnung durch natürliche Sprachzeichen sollte schließlich Herder ein Ende setzen. Er verortet zwar eine natürliche Affektsprache am Ursprung der Sprachentwicklung, aber er trennt sie kategorisch von den || 396 Gotthold E. Lessing: Briefe von und an Lessing 1743–1776. In: derselbe: Werke und Briefe. Bd. 11.1. Hrsg. von Wilfried Barner. Frankfurt a. M.: Klassiker, 1987. S. 609. 397 Gotthold E. Lessing: Briefe von und an Lessing 1743–1776. 609. 398 Vgl. Charles Batteux: Einschränkung der schönen Künste. S. 193f. 399 Friedrich G. Klopstock: Von der Darstellung. S. 1033. 400 Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. S. 223. 401 Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. S. 75. 402 Jörg Schönert: Neue Ordnungen. S. 40.
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menschlichen Verbalsprachen aufgrund des Merkmals der Arbitrarität.403 Wie Campe feststellt, ist Herder damit der Erste, der eine direkte, auf Ähnlichkeit basierende Mimesis poetischer Sprache verabschiedet: Gewissermaßen gibt Herder hier der Utopie einer Versöhnung von natürlichen und künstlichen Zeichen den Abschied. [...] Herder spricht aus, [...] was die Aufklärungssemiotiker als das nur noch nicht bewältigte Problem bezeichnet hatten: der Affekt hat nicht ein Zeichen.404
Dennoch sieht Herder in den ersten ‚Merkworten‘ eine im Menschen gründende, ursprüngliche und emotionale Verknüpfung: „Zeichen und Bezeichnetes werden über den emotionalen Aspekt miteinander verbunden, durch ihre Verbindung naturalisiert.“405 Der Dichter könne, so Herder, indem er diese Verbindungen nutze, neben der konventionellen Bedeutung einen weiteren quasi-natürlichen Sinn den Dichtungen beilegen, bei dem sich Bezeichnetes und Bezeichnendes, „Gedanke und Wort, Empfindung und Ausdruck […] zu einander verhalten, wie Platons Seele und Körper“406. Auch Hamann überwindet das Paradigma der Repräsentation, indem er „die genealogische Priorität der Sprache“ postuliert und „das ganze Vermögen zu denken […] auf Sprache“ zurückführt.407 Sprache ist nicht ein nachgeordnetes Instrument der Repräsentation, sie definiert und ermöglicht Repräsentation überhaupt erst. Sprache wird unhintergehbare Bedingung von Wirklichkeitsbezug, so dass die natürliche Verbindung von Bezeichnetem und Bezeichnendem, wie Campe resümiert, zu einem Gegenstand philosophischer Spekulation wird: Das Zeichen des Affekts, das so lange als die evidente und ursprüngliche Art des Zeichens gegolten hatte, gehört nicht mehr zu den eigentlich sprachlichen Zeichen. Im 17. Jahrhundert war der Affektlaut wohl ein Zeichen des Affekts gewesen, aber man konnte kein festes Band zwischen den Zeichen und diesem selbst nicht analysierbaren Bezeichneten finden [...].408
|| 403 Vgl. Johann G. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. S. 698 und S. 708. 404 Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. S. 271. 405 Waldemar Fromm: An den Grenzen der Sprache. S. 247. 406 Johann G. Herder: Über die neuere deutsche Literatur. In: derselbe: Werke. Bd. 1. Hrsg. von Ulrich Gaier. Frankfurt a. M.: Klassiker, 1985. S. 161–650; S. 405. 407 Johann G. Hamann: Metakritik über den Purismus der Vernunft. In: derselbe: Sämtliche Werke. Bd. 3. Hrsg. von Josef Nadler. Wien: Herder, 1951. S. 281–289; S. 286. 408 Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. S. 505.
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Welche Auswirkung das „Festhalten am Primat der Idee“409 unter diesen Voraussetzungen für die Autoren der Klassik hatte, zeigt sich an Schillers poetischem Sprachkonzept. Er verwirft solche Auffassungen des Mimesis-Prinzips, die auf einer sinnlichen Nachahmung der Natur durch natürliche oder quasinatürliche Zeichen beruhen, und erkennt die Arbitrarität der poetischen Sprache in vollen Umfang an.410 Klang, Metrik, Reim etc. sind, so seine Schlussfolgerung, beiläufige Eigenschaften arbiträr-konventioneller Sprachzeichen. Sprache könne nicht das konkret Individuelle sinnlich erfahrbar nachahmen, da sprachliche Zeichen und Zeichenketten die Repräsentation ganz unterschiedlicher Gegenstände ermöglichen müssten. Alle Sprachzeichen wiesen folglich einen allgemeinen und vor allem abstrakten Charakter auf: „Das darzustellende Objekt muß also, ehe es vor die Einbildungskraft gebracht und in Anschauung verwandelt wird, durch das abstrakte Gebiet der Begriffe einen sehr weiten Umweg nehmen […].“411 Jede Form der Sprache erweise sich, so Schiller in einem Brief an Körner, als ein dem dichterischen Anliegen widerstrebendes und letztlich defizitäres Medium: Die Sprache stellt alles vor den Verstand, und der Dichter soll alles vor die Einbildungskraft bringen (darstellen) die Dichtkunst will Anschauungen, die Sprache gibt nur Begriffe. Die Sprache beraubt also den Gegenstand, deßen Darstellung ihr anvertraut wird, seiner Sinnlichkeit und Individualität, und drückt ihm eine Eigenschaft von ihr selbst (Allgemeinheit) auf, die ihm fremd ist. Sie mischt […] in die Natur des Darzustellenden, welche sinnlich ist, die Natur des Darstellenden, welche abstrakt ist, ein, und bringt also Heteronomie in die Darstellung deßelben. Der Gegenstand wird also der Einbildungskraft nicht als durch sich selbst bestimmt, also nicht frey, vorgestellt, sondern gemodelt durch den Genius der Sprache, oder er wird gar nur vor den Verstand gebracht, und so wird er entweder nicht frey dargestellt, oder gar nicht dargestellt, sondern bloß beschrieben.412
Der Dichter müsse, fährt Schiller fort, die Arbitrarität durch die Größe seiner Kunst überwinden, indem er ihre Form dem Darzustellenden ähnlich mache. Mit ‚Form‘ bezeichnet Schiller allerdings nicht die Ausdrucksseite der Sprachzeichen, die für ihn nur materielle Erscheinung sind, sondern die durch Worte hervorgerufenen Ideen. Die poetische Darstellung zeichne sich dadurch aus, dass in ihr das Bezeichnende im Bezeichneten aufgehe:
|| 409 Erich Kleinschmidt: Klassik als ‚Sprachkrise‘. S. 35. 410 Vgl. Tomàš Hlobil: Zwei Auffassungen von der Sprache. S. 87. 411 Friedrich Schiller: Brief an Körner vom 28. Februar 1793. In: derselbe: Werke. Nationalausgabe. Bd. 26. Hrsg. von Benno von Wiese u.a. Weimar: Böhlau, 1992. S. 219–229; S. 228. 412 Friedrich Schiller: Brief an Körner vom 28. Februar 1793. S. 228.
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Die Natur der Sprache (eben diese ihre Tendenz zum Allgemeinen) muß in der ihr gegebenen Form völlig untergehn, der Körper muß sich in der Idee, das Zeichen in dem Bezeichneten, die Wirklichkeit in der Erscheinung verlieren. Frey und siegend muß das Darzustellende aus dem Darstellenden hervorscheinen, und trotz allen Feßeln der Sprache in seiner ganzen Wahrheit, Lebendigkeit und Persönlichkeit vor der Einbildungskraft dastehen. Mit einem Wort. Die Schönheit der poetischen Darstellung ist ‚freie Selbsthandlung der Natur in den Feßeln der Sprache‘.413
Mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert habe, so Foucaults Diagnose, die „Repräsentation […] die Kraft verloren“414. Da Schiller an Kants ‚Primat der Ideen‘ mit aller Kraft festhalten möchte (so auch Goethe, vgl. Kap. V.2) verlegt er die poetische Verbindung von Bezeichnendem und Bezeichnetem in einen die Sprache transzendierenden Raum. Erich Kleinschmidt erkennt hierin eine typische Fluchtreaktion der Autoren der Weimarer Klassik angesichts der problematisch gewordenen Frage nach dem sprachlichen bzw. poetischen Ausdruck: Wo liegt die mögliche Ausdrucksgrenze? Gilt es, sie hinauszuschieben um den Preis letztlicher Kryptisierung, oder bedarf es der Orientierung am ‚faßlich‘ Vermittelbaren? Zeitgenössischer Reflex dieses Dilemmas ist die wesentlich von Kant entwickelte Übertragungsidee von der Natur als ‚totaler Darstellung‘. Dadurch rückt eine sprachtranszendente Mitteilungsebene als eine Art Fluchtraum des Sprachbewußtseins ins Blickfeld.415
Statt einer aufmerksamen Haltung gegenüber der Tatsache, dass die auf dem Prinzip der Repräsentation basierenden Sprachkonzepte vor unlösbaren Herausforderungen standen, die auch tiefgreifende poetologische Implikationen hatten, beobachtet Kleinschmidt eine „Abdrängung der Sprachthematik aus allen systematischen Überlegungen der ‚Klassiker‘ zur Poetik“416. Erst die Autoren der Romantik stellen sich der Herausforderung und akzeptieren, dass die sprachliche Repräsentation in eine tiefe Krise geraten war.
3.2 Die Krise der sprachlichen Repräsentation Die Romantiker erkennen mit und nach Herder, dass ein natürliches Band zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem in menschlichen Verbalsprachen nie existiert hat und dass die Hoffnung auf eine eindeutige poetische Repräsentation des Eigentlichen eine Illusion ist. Die Verbalsprache ist nach August || 413 Friedrich Schiller: Brief an Körner vom 28. Februar 1793. S. 229. 414 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. S. 294. 415 Erich Kleinschmidt: Klassik als ‚Sprachkrise‘. S. 28. 416 Erich Kleinschmidt: Klassik als ‚Sprachkrise‘. S. 35.
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Wilhelm Schlegel dort, wo sie lediglich repräsentiert, nur für den ‚logischen‘ bzw. ‚rechnenden‘ Gebrauch des Verstandes nützlich: Wie wir […] sahen, geht die Sprache vom bloßen Ausdruck durch willkührlichen Gebrauch zur Darstellung fort; wenn aber die Willkühr ihr herrschender Charakter wird, so verschwindet die Darstellung, d.h. der Zusammenhang des Zeichens mit dem Bezeichneten; und die Sprache wird alsdann nichts als eine Sammlung logischer Ziffern, tauglich die Rechnungen des Verstandes damit abzumachen.417
Nicht eine Flucht zurück in eine ‚sprachtranszendente Mitteilungsebene‘ gilt ihm als Lösung des Dilemmas, sondern die Erkenntnis, dass die Dichotomie von Repräsentierendem und Repräsentiertem auf einer künstlichen Subjekt-ObjektTrennung beruht. An die Stelle der Repräsentation tritt bei Schlegel das Konzept des ‚ununterbrochenen Symbolisierens‘, dem das Prinzip der ontologischen Verkettung aller Dinge zugrunde liegt: Die gegenseitige Verkettung aller Dinge durch ein ununterbrochnes Symbolisiren, worauf die erste Bildung der Sprache sich gründet, soll ja in der Wiederschöpfung der Sprache, der Poesie, hergestellt werden; und sie ist nicht ein bloßer Nothbehelf unsers noch kindischen Geistes, sie wäre seine höchste Anschauung, wenn er je vollständig zu ihr gelangen könnte. Denn jedes Ding stellt zuvörderst sich selbst dar [...].418
Sprache und Sprachzeichen sind, indem sie ‚zuvörderst sich selbst‘ darstellen, immer selbstreferenzielle Produkte eines Zeichenprozesses und nie lediglich sekundäre Repräsentationen mentaler oder materieller Entitäten. „[D]ie Bezeichnung ist Produkt der Reflexion“, wie John Neubauer konstatiert, „und damit selbst ein Zeichen – für das Bewußtwerden des Geistes. Die Sprache spiegelt also vor allem den Menschen selbst und nicht die ihn umgebende Welt.“419 Die Romantik entwickelt diesen Gedanken aus der idealistischen Vorstellung des schöpfenden und gleichzeitig erkennenden Ichs. In seinen Fichte-Studien schreibt Novalis: Die „Beziehung des Ich auf das Sein ist Darstellung, Gebrauch von Bildern und Zeichen“420. Die wechselseitige Spiegelung des reflektierenden Ichs in der Sprache bzw. die Spiegelung der Sprache im reflektierenden Ich ist eine Denkfigur, die August Wilhelm Schlegel als Grundprinzip des Universums begreift. Jeder Teil des Universums offenbare „sein Innres durch sein Äußres, sein Wesen durch die Er-
|| 417 August W. Schlegel: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. S. 250f. 418 August W. Schlegel: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. S. 250f. 419 John Neubauer: Symbolismus und symbolische Logik. S. 68. 420 Novalis: Fichte Studien. S. 106.
Die Krise der sprachlichen Repräsentation | 399
scheinung ‚Es ist also Symbol für sich selbst‘ […] endlich ist es ein Spiegel des Universums.“421 Die Frühromantiker entwerfen die Möglichkeit einer indirekten sprachlichen Bezeichnung analog zu dem zeichenhaft-spiegelnden Bezug, den jedes Ding zu sich selbst und zum gesamten Universum hat. In der Selbstreferenzialität der Sprache spiegle sich, so Novalis, „das seltsame Verhältnißspiel der Dinge“422. Die Brüder Schlegel und Novalis kennen zwei mustergültige Vorbilder eines solchen seltsamen Spiegel-Spiels: Es sind die Musik und die Mathematik. Neubauer erläutert, wie diese bemerkenswerte Analogie zwischen Dichtung, Musik und Mathematik konzipiert wird: Algebraische Buchstaben entsprechen gewissermassen musikalischen Tönen, insofern beide ohne bestimmte Signifikate in syntaktischen Strukturen (in algebraischen Formeln und harmonischen oder melodischen Tongruppen) aufgehen: Musik ist der Algebra ähnlich. Die Analogie zwischen den musikalischen und algebraischen Zeichen erklärt aber die zweifache Absicht der Romantiker: sie wollen die gesprochene Sprache in eine Tonkombinatorik bedeutungsloser, musikalischer Laute, und die Schrift in eine Kombinatorik unbestimmter algebraischer Buchstaben verwandeln. In beiden Fällen zeigt es sich als ein Hauptanliegen der Romantiker, die Sprache als Signifikans von jeglichem Signifikat zu lösen, sie als strukturimmanente Bedeutung zu definieren.423
Es ist mehr als erstaunlich, dass – während die meisten Mathematiker und Physiker am Ende des 18. Jahrhunderts die Probleme der ontologischen Fundierung der formalisierten Axiomensysteme und der symbolischen Differenz im operativen Symbolismus verdrängten424 – gerade Vertreter der literarischen Romantik wie Novalis erkannten, dass der mathematische Symbolismus kein Sonderfall sprachlicher Repräsentation ist, sondern die Natur aller Sprachformen erkennen lässt: Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei – Sie machen eine Welt für sich aus – Sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll – eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnißspiel der Dinge.425
Gerade dort, wo die poetische Sprache im 18. Jahrhundert am radikalsten als Bezeichnendes ohne Bezeichnetes entworfen wird, erscheint die Sprache der || 421 August W. Schlegel: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. S. 250f. 422 Novalis: Monolog. S. 672. 423 John Neubauer: Symbolismus und symbolische Logik. S. 67. 424 Helmut Pulte: Axiomatik und Empirie. S. 197. 425 Novalis: Monolog. In: derselbe: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Bd. 2. Hrsg. von Richard Samuel. Darmstadt: WBG, 1965. S. 672–673; S. 672.
400 | Sprache und Dichtung: Ebene der Darstellungsformen
Mathematik als poetologisches Vorbild der Poesie. Im freien Spiel der Zeichen spiegle die Poesie, so auch Friedrich Schlegel, erstens sich selbst, zweitens die sie umgebende Welt und drittens das Unendliche: Die romantische Poesie […] kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden. Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen.426
Wo eine direkte Bezugnahme auf Wirklichkeit allgemein für unmöglich erachtet wird, besteht kein Gefälle mehr zwischen der Sprache der Wissenschaften und der Sprache der Dichtung. Beide sind in sich geschlossene selbstreferenzielle Zeichensysteme, die lediglich wiederspiegelnd oder im Symbol die Wirklichkeit zur Darstellung bringen können. Und wieder ist es die Mythologie, in der Friedrich Schlegel das Prinzip der wechselseitigen Symbolisierung mustergültig umgesetzt sieht: Und was ist jede schöne Mythologie anders als ein hieroglyphischer Ausdruck der umgebenden Natur in […] [der] Verklärung von Fantasie und Liebe? Einen großen Vorzug hat die Mythologie. Was sonst das Bewußtsein ewig flieht, ist hier dennoch sinnlich geistig zu schauen, und festgehalten, wie die Seele in dem umgebenden Leibe, durch den sie in unser Auge schimmert, zu unserm Ohre spricht.427
Auch August Wilhelm Schlegel sieht in der mythischen Poesie eine Lösung428 für die Krise der Repräsentation, sie lasse noch jenseits der höchsten Speculation des Philosophen Seherblicke thun, welche den Geist‚ eben da, wo er, um sich selbst anzuschauen, allem Leben entsagt hatte, wieder in die Mitte des Lebens zurückzaubern. So ist sie der Gipfel der Wissenschaft, die Deuterin, Dollmetscherin jener himmlischen Offenbarung, wie […] eine Sprache der Götter.429
|| 426 Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente. S. 183. 427 Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie. S. 318. 428 „Die Krise der Repräsentation wird versuchsweise transzendental gelöst. In der Frühromantik wird ein neues Modell simultaner Informationsverarbeitung entworfen, das auf der Annahme einer zugrundeliegenden Ganzheit beruht, die in unterschiedlichen Ausprägungen sowohl außen, in der Natur, als auch innen zu finden ist; es handelt sich um eine Anthropologie und Psychologie des ‚inneres Lebens‘.“ Waldemar Fromm: An den Grenzen der Sprache. S. 314. 429 August W. Schlegel: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. S. 388.
Resümee | 401
Resümee In den vorangegangenen Untersuchungen wurden grob drei Ansätze der Verhältnisbestimmung von Dichtung und Wissenschaften bzw. Philosophie erkennbar. Renaissance, Humanismus und Barock bemühten sich, Dichtung als ernstzunehmenden Erkenntnisdiskurs zu rehabilitieren und ihr Verhältnis zur Philosophie zu konsolidieren, indem sie Poesie als eine ars in den erweiterten Kanon der septem artes liberales aufnahmen. Die betrachteten Vertreter der Querelle und der deutschen Aufklärung versuchten durch eine Konstruktion austarierter Analogien und Differenzen die Relationen von Dichtung, Naturwissenschaften, Mathematik und Logik als ein geschwisterliches Verhältnisses auf Augenhöhe darzustellen. Eine Herausforderung stellte hierbei die Phasenverschiebung zwischen Dichtung und Wissenschaften dar, aufgrund der ein alle Wissenschaften und Künste umfassender Kanon an Fächern nicht mehr etabliert werden konnte. Da die Naturwissenschaften und die Mathematik sich bereits im 15. bzw. 16. Jahrhundert über den aus der antike tradierten Stand weit hinaus entwickelt hatten, stellte sich die Frage, ob nicht auch in Dichtung und Poetik eine Abkehr von antiken Grundsätzen und Prinzipien denkbar oder gar nötig geworden sei: Erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts löste sie [die Poetik, M.I.] sich mit Hilfe der in die Philosophie transponierten mathematisch-geometrischen Methode Descartes’ vom humanistischen Imitations- und Rhetorik-Modell. Das an seine Stelle gesetzte, auf den Prinzipien der Natürlichkeit, der Ordnung und der Regelhaftigkeit beruhende Modell ließ nur eine ‚wissenschaftliche‘ Paradigmenkritik zu, d h. die Kritik an einer Poesie, die sich noch am humanistischen Paradigma orientierte.430
Dichtung konnte so in den rationalistischen Poetiken der Querelle und der Aufklärung als ein souveräner Diskurs neben Philosophie und Wissenschaften erscheinen. Doch bereits Lessing, Gellert, Klopstock und Herder durchbrachen und überschritten die Analogie-Differenz-Bestimmung in wesentlichen Aspekten. Dichtung wurde bei ihnen „nur durch vermeintlich spezifisch ästhetische oder literarische Kompetenzen und Daseinsbedingungen“431 bestimmt, so dass sie als völlig autonomer Bereich menschlichen Tuns und Erkennens erscheinen musste.432 || 430 Gunter E. Grimm: Letternkultur. S. 33. 431 Jan Urbich: Der Begriff der Literatur. S. 40f. 432 Vgl. Michael Titzmann: Vom ‚Sturm und Drang‘ zur ‚Klassik‘. ‚Grenzen der Menschheit‘ und ‚Das Göttliche‘ – Lyrik als Schnittpunkt der Diskurse. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 42 (1998). S. 42–63; S. 43. DOI 10.1515/9783110464252-024, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
402 | Resümee
Diese Autonomie wurde nicht nur begrüßt. Schiller attestiert seiner Zeit eine bedauernswerte Zersplitterung und Differenzierung, die es zu überwinden gilt. Seine Einschätzung beruht auf einem triadischen Geschichtsmodell, in dem die griechische Antike als Ideal der Ganzheit, Einheit und Harmonie von Kultur und Natur, Verstand und Vernunft, Sinnlichkeit und Ratio imaginiert wird. In ihrer Zeitdiagnose wie auch in ihrem Zukunftsentwurf ähneln sich Schillers, Goethes, Schellings und auch Hegels Ansatz: So sehr sich die Entwürfe Goethes, Schellings und Hegels in ihren Akzenten unterscheiden, eines haben sie gemeinsam: In ihnen verbindet sich die scharfsichtige Diagnose einer geschichtlich bedingten Autonomisierung von ,Wissenschaft‘ und ,Kunst‘ mit der Forderung, beide wieder zu einer Einheit zusammenzuführen.433
Die dargestellten Positionen des deutschen Idealismus (Fichte, Schelling) überhöhten die Autonomie der Dichtung sogar noch, indem sie den Künsten Aufgaben zusprachen, die ihrer Einschätzung nach Verstand, Vernunft und Anschauung – und folglich auch die mathematisierten Naturwissenschaften – nicht erfüllen können: die sinnliche Darstellung des Unendlichen, die Grundlegung der Philosophie und die Selbsterkenntnis des Menschen. Eine Absolutsetzung von Dichtung und Poesie wurde schließlich in den frühromantischen Positionen erkennbar: „Wo die Philosophie aufhört, muß die Poesie anfangen“434, so Friedrich Schlegel. Als anschauliche Spiegelung des Unendlichen, des Absoluten, des ‚höchsten Heiligen‘ trat Dichtung erneut in einen Antagonismus zur szientistischen Rationalität. Allerdings geschah das nicht mehr im Sinne eines Bereichs, der gleichrangig und ebenbürtig neben den Naturwissenschaften oder der Mathematik steht, sondern als utopische Letztbegründung menschlichen Erkennens bzw. als alles umfassende ‚neue Mythologie‘. Unter Rückgriff auf das in Kapitel I.3.3 entworfene Schema der Relationsformen lassen sich die vorangegangenen Erläuterungen schlaglichtartig zusammenfassen: Als relativ persistente Gemeinsamkeit stellen sich auf der Ebene der Formationen die von den untersuchten Vertretern der Querelle und der Aufklärung sowohl in Wissenschaften wie in Dichtung vertretenen Ansprüche und Maßstäbe dar. Die Annahme, dass Dichtung ein den Wissenschaften gleichwertiger
|| 433 Daniel Fulda und Thomas Prüfer: Das Wissen der Moderne. Stichworte zum Verhältnis von wissenschaftlicher und literarischer Weltdeutung und -darstellung seit dem späten 18. Jahrhundert. In: Faktenglaube und fiktionales Wissen. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst in der Moderne. Hrsg. von Daniel Fulda und Thomas Prüfer. Frankfurt a. M.: Lang, 1996. S. 1–22; S. 4. 434 Friedrich Schlegel: Ideen. S. 261.
Resümee | 403
Diskurs sein kann, setzt voraus, dass beiden Bereichen eine analoge Fundierung, Regulierung, Wahrheit und Funktionalität gemein ist. Direkt mit dieser strukturellen Gemeinsamkeit ist jedoch ein Prozess der Differenzierung verbunden, der die konkrete Gestaltung und Umsetzung der ähnlichen Ansprüche und Maßstäbe betrifft. Zu nennen sind hier u.a. das Verständnis von dichterischer Wahrheit als mögliche und wahrscheinliche Nachahmung der Natur, die charakteristische Gesetzmäßigkeit sowie die poetologischen Regeln und ‚Methoden‘ der Dichtung. Als Höhepunkt dieses Differenzierungsprozesses kann die Modellierung der Dichotomie von wissenschaftlich-philosophischer und ästhetisch-sinnlicher Erkenntnis bei Wolff, Baumgarten und Meier bezeichnet werden. Da im Kern des Prozesses das Bemühen stand, den Grenzverlauf zwischen Dichtung und Wissenschaften klar zu definieren, gerät die Rhetorik, wie Gottfried Gabriel zeigt, zwischen die Fronten und wurde so bald vom einen, bald vom anderen Diskursbereich einverleibt bzw. ausgesondert: Wie die Geschichte der Rhetorik zeigt, haben wir es mit einem Dreiecksverhältnis zu tun, das durch wechselnde Allianzen bestimmt ist. Zeitweilig geht die Rhetorik mit der Logik einher und verbindet sich mit dieser zur Dialektik. Dann wird sie von der Poetik angezogen, bzw. – von der Logik verstoßen – in deren Arme getrieben. Schließlich wird sie von beiden verschmäht, sobald sich die Gegensätze Logik und Poetik kompensatorisch anziehen und – etabliert als Wissenschaft und Dichtung eine bürgerliche Ehe der wohlwollenden Duldsamkeit eingehen, in der jeder seiner Wege geht.435
Was Gabriel eine ‚Ehe der wohlwollenden Duldsamkeit‘ nennt, kann diskurstheoretisch als Beschreibung zweier souveräner Diskursbereiche aufgefasst werden, deren Diskursgrenzen in diesem Aushandlungsprozess schließlich wechselseitig anerkannt wurden. Das diskursive Feld im 17. und 18. Jahrhundert weist aber auch einen Bereich relativ persistenter Differenzen auf, denn die Bestrebungen, Dichtung analog zu rational-wissenschaftlichen Diskursen zu formen, zielten ja gerade nicht darauf ab, beide Bereiche in einer gemeinsamen Identität aufzulösen. Aufgrund des Mimesis-Prinzips, der Fiktionalität, der allegorischen Struktur oder der Funktionsbestimmung (prodesse et delectare) wurde Dichtung stets als von Philosophie und Wissenschaften getrennte Kunst beschrieben. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts fand eine Veränderung der diskursiven Verhältnisbestimmung von Dichtung und Wissenschaften statt. Zunächst zeigt sich ein bemerkenswerter Prozess der Kohäsionierung in Poetik und Ästhetik. Bis zur Aufklä|| 435 Gottfried Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. S. 14f.
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rung wurden Dichtung und ‚schöne Künste‘ im deutschsprachigen Raum meist im Rückgriff auf antike Normen und Konzepte definiert – „die maßgebliche ästhetische Theorie [argumentierte] bis weit ins 18. Jahrhundert hinein in der Tat nach der Maßgabe des antiken Schönheitsideals, an deren kanonischer Idealität sie sich orientierte.“436 Opitz und Gottsched erkannten die allgemeinen und notwendigen Regeln der Dichtung bereits in den ältesten Dichtungen, versuchten diese ex post zu legitimieren und unter rationalistischen Vorzeichen zu aktualisieren, während es in den Naturwissenschaften gerade darum ging, neue wissenschaftliche Methoden zu entwickeln. So stellte bereits Bacon im Novum organum scientiarum (1620) nüchtern fest: „Die Verehrung der Antike hat die Menschen verzaubert und sie am Fortschritt in den Wissenschaften gehindert.“437 In der französischen Querelle wurde erstmals ein analoges „Fortschrittsmodell“438 für Dichtung und Künste angedacht. Eine vergleichbare Diskussion ist im deutschsprachigen Raum erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu beobachten, so dass hinsichtlich der Sturm und Drang-Ästhetik wie auch der klassischen Ästhetik „gelegentlich von einer deutschen ‚Querelle des Anciens et des Modernes‘ gesprochen“439 worden ist. Deutlich zeigte sich die Neuausrichtung der Dichtung auch in der romantischen Poetik: Die Romantik folgt keineswegs passiv anderweitig ausgelösten Modernisierungsschüben. In der ihr eigentümlichen Reaktion auf Aufklärung und Klassik wird sie vielmehr aus sich selbst heraus modern, zu einem vorwärtstreibenden Element im Modernisierungsprozeß: innovativ wie die Wissenschaft, aufs Neue versessen, läßt sie einmal gemachte Erfahrungen rasch veralten, zertrümmert überlieferte Dogmen […], indem sie wie die Wissenschaft Geltungsfragen radikalisiert, von Überlieferungen ablöst.440
Ein weiterer Kohäsionierungsprozess zwischen Wissenschaften, Philosophie und Dichtung zeigt sich in den Tendenzen der Autonomisierung und der Absolutsetzung zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Den szientistischen Absolutheitsanspruch fassen Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung wie folgt zusammen:
|| 436 Silvio Vietta: Ästhetik der Moderne. S. 34. 437 Francis Bacon: Neues Organon. [Novum organum scientiarum, 1620]. Übers. und hrsg. von Wolfgang Krohn. Hamburg: Meiner, 1999. S. 84. 438 Silvio Vietta: Ästhetik der Moderne. S. 34. 439 Sabine Kleine: Mimesis und Imagination. S. 453. 440 Hauke Brunkhorst: Romantik und Kulturkritik. Zerstörung der dialektischen Vernunft. In: Merkur 39 (1985). S. 484–496; S. 487f.
Resümee | 405
Als Sein und Geschehen wird von der Aufklärung vorweg nur anerkannt, was durch Einheit sich erfassen läßt; ihr Ideal ist das System, aus dem alles und jedes folgt. Nicht darin unterscheiden sich ihre rationalistische und empiristische Version. Mochten die einzelnen Schulen die Axiome verschieden interpretieren, die Struktur der Einheitswissenschaft war stets dieselbe. Bacons Postulat der Una scientia universalis ist bei allem Pluralismus der Forschungsgebiete dem Unverbindbaren so feind wie die Leibniz’sche Mathesis universalis dem Sprung. [...] Die formale Logik war die große Schule der Vereinheitlichung. Sie bot den Aufklärern das Schema der Berechenbarkeit der Welt. Die mythologisierende Gleichsetzung der Ideen mit den Zahlen in Platons letzten Schriften spricht die Sehnsucht aller Entmythologisierung aus: die Zahl wurde zum Kanon der Aufklärung.441
Ein vergleichbarer Anspruch wurde bis zum Ende des 18. Jahrhunderts für die Dichtung wiederum nicht erhoben. Vielmehr galt es, die ‚Phasenverschiebung‘ zu Naturwissenschaften und Mathematik aufzuholen. Mit den teleologischen Geschichtsentwürfen bei Schiller, Schelling und Schlegel änderte sich das, insofern nun auch für Dichtung und Künste ein absoluter Geltungsanspruch formuliert wurde. Schelling prognostiziert sehr selbstbewusst, „daß die Philosophie […] und mit ihr alle […] Wissenschaften […] nach ihrer Vollendung als ebenso viel einzelne Ströme in den allgemeinen Ocean der Poesie zurückfließen, von welchem sie ausgegangen waren“442. Dies war nicht mehr das Modell einer ‚bürgerlichen Ehe in wohlwollender Duldsamkeit‘443, hier kontrastierte die Begrenztheit von Wissenschaften und Philosophie eine alles umfassende Grenzenlosigkeit der Poesie. Ein Moment der Differenzierung bzw. sogar der Separation von Dichtung und Wissenschaften ist die um 1800 verstärkt aufkommende Kritik an der „Verabsolutierung philosophischer Rationalität“444 und des mit ihr verbundenen Wahrheits- und Erkenntnisverständnisses. Die Ästhetiken und Poetiken der Aufklärung zementierten zunächst die Ansprüche, die im Namen von Vernunft, Rationalität und Wissenschaftlichkeit erhoben wurden. Dies konstatiert auch Jörg Schönert: Solange die Verbindung zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen im Zeichen eines Universalentwurfs gelehrten Wissens geschaffen werden konnte, war ‚Wissen‘ noch in selbstverständlicher Weise von der ‚Poesie‘ aufgenommen und gestaltet worden. Den ‚facultates‘ institutioneller Wissensvermittlung lag seit Entstehung der Universitäten im Mittelalter ein Kanon von Texten zugrunde. Ihre Einübung und Reflexion regulierte die (aris-
|| 441 Theodor W. Adorno und Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004. S. 13. 442 Friedrich W.J. von Schelling: System des transzendentalen Idealismus. S. 629. 443 Vgl. Gottfried Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. S. 14f. 444 Jan Urbich: Der Begriff der Literatur. S. 28.
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totelische) Logik, und im Verhältnis zu dieser Instrumentaldisziplin wurden die Realdisziplinen als angewandte Logik begriffen; Grammatik und Rhetorik lieferten propädeutische Techniken zur Aneignung des Wissens. Die Poesie hatte ihren sicheren Platz in dieser akademisch-gelehrten Welt – nicht nur im Hinblick auf die ‚imitatio‘ klassischer Autoren, sondern auch was die Propagierung des neuen, spezialisierten Sachwissens betraf.445
Die Autoren und Theoretiker des Sturm und Drang, der Klassik, des Idealismus und der Romantik wollten diese Ansprüche nicht länger ungefragt gelten lassen. Sie bemühten sich, wie Silvio Vietta herausarbeitet, um alternative Entwürfe von Rationalität, Modernität, Fortschritt und Entwicklung: Der innere Zusammenhang der literarischen Moderne ergibt sich aus ihrer kritischen Opposition zu einer rationalistischen Moderne, an deren Säkularisations- und Fortschrittsdenken sie gleichwohl teilhat. Nur: die literarische Moderne wollte eine andere Moderne als die der wissenschaftlichen Beherrschung, technischen Nutzung und ökonomischen Ausbeutung der Natur. Sie hatte ein anderes Konzept des Menschen als das der sich selbst begründenden und machtvoll behauptenden Subjektivität. Sie hatte ein Konzept von Gemeinschaft und auch von Politik, das anders war […].446
Die wissenschaftlich-philosophische Rationalität, ihre Quantifizierung, Logik und Erkenntnistheorie wurden daher in vielen Aspekten als inadäquat und unzureichend empfunden. Sie vermochte es nicht mehr, so Blumenberg, der naturwissenschaftlich entmythologisierten Welt eine Sinnstiftung zu entlocken: Kausalität ist in gewisserweise enttäuschend: als ein Prinzip der Verhältnismäßigkeit von Ursache und Wirkung schließt sie Signifikanz aus. Wenn die Verzichte spürbar werden, unter denen uns Wissenschaft Lebensbedingungen gewährleistet, aber Fragen abschneidet, liegt die Mythologie nahe, denn die ‚eigentlich bewegende Frage‘ ist nicht auch notwendig die, von deren Lösung unser pures Existierenkönnen abhängt.447
Es zeigte sich, dass die Kritik szientistischer Rationalität keineswegs direkt in Relativismus und Nihilismus mündete. Stattdessen versuchte man, eine Weitung und Öffnung des durch die neuzeitliche Philosophie verengten Rationalitätsbegriffs zu erreichen. Beispielsweise bemühte sich Friedrich Schlegel darum, Aspekte, die durch Rationalismus und Empirismus ausgesondert wurden, || 445 Jörg Schönert: Neue Ordnungen. S. 39f. 446 Silvio Vietta: Die literarische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard. Stuttgart: Metzler, 1992. S. 10. 447 Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hrsg. von Manfred Fuhrmann. München: Fink, 1971. S. 11– 66; S. 48.
Resümee | 407
in ein neues und umfassendes Verständnis von Rationalität wieder zu re-integrieren. In diesem Sinne stand die frühromantische Ästhetik weder in Fundamentalopposition zum Rationalismus der Aufklärung, noch war sie dessen Verlängerung in Form eines ‚romantischen Rationalismus‘. Vielmehr kann sie mit Hauke Brunkhorst als ein Vermittlungsversuch beschrieben werden: Es gibt also eine Alternative zur Fundamentalopposition von Aufklärung und Romantik. Es ist die Idee ihrer rationalistischen Vermittlung: Vermittlung heißt: Ergänzung, wechselseitige Korrektur der Extreme durch die Extreme hindurch, ohne hinter das Niveau der ‚großartigen Vereinseitigungen, die die Signatur der Moderne ausmachen‘ (Habermas) zurückzufallen. Aufzuheben ist nicht die Vereinseitigung der Wertsphären, ihr Extremismus, wohl aber ihre Verabsolutierung: ihre sekundäre Exklusivität. Produktiv wird der romantische Impuls, der ästhetisch-expressiv radikalisierte Modernismus als ‚Kritik […] an der zum Absoluten gewordenen Rationalität‘, wie Adorno in der Ästhetischen Theorie sagt.448
Allerdings konnten die romantischen Vermittlungsversuche die damaligen wissenschaftlichen Entwicklungen nicht erreichen und blieben wissenschaftshistorisch irrelevant. Einen weiteren Aspekt der Differenzierung bzw. Separierung stellt die mit der Autonomie von Dichtung verbundene Absage an jegliche Funktionalisierung und Instrumentalisierung dar: „Wissen ist Macht“ – die auf Bacon zurückgehende Wendung449 fragt nicht nach der sinnlichen Natur der beobachteten Phänomene. Die Antworten, die der Natur abgenötigt wurden, sollten primär der technischen Anwendung dienen. Eine Entsprechung dieser instrumentellen Funktionalität fand sich im Bereich der Dichtung in den zahlreichen Adaptionen des Horaz’schen prodesse et delectare-Diktums. Wissenschaften, Philosophie und Dichtung sollte die funktionale Ausrichtung noch bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein prägen. Wenn mit dem Beginn der Goethezeit die Literatur sich – als Produkt eines der vielen aus dem Aufklärungsdenken resultierenden Autonomisierungsprozesse – ebenfalls als ‚autonom‘ begreift, dann versteht sie sich nicht mehr (wie noch die Literatur zur Zeit der frühen bzw. der mittleren Aufklärung) letztlich als Applikation von Denkstrukturen, Konzepten, Werten, Normen, die theoretische Diskurse aufgestellt haben, sondern als komplementär
|| 448 Hauke Brunkhorst: Romantik und Kulturkritik. S. 493. 449 „scientia et potentia humana in idem coincidunt, quia ignoratio causae destituit effectum“ [‚Wissen und Macht des Menschen fallen zusammen, weil Unkenntnis der Ursache über deren Wirkung täuscht‘]. Francis Bacon: Neues Organon. S. XVII.
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zu solchen Diskursen (was keine Opposition zu diesen bedeutet, sondern diese sehr wohl präsupponiert) […].450
Sowohl Kants Bestimmung des Ästhetischen als ‚Zweckmäßigkeit ohne Zweck‘, als auch die Zweckfreiheit der Kunst bei Schiller können hier paradigmatisch genannt werden. Aus der Kritik an der szientistischen Rationalität wurde auch in diesem Punkt nicht unmittelbar eine ästhetische Funktionslosigkeit im Sinne des l’art pour l’art abgeleitet. Vielmehr wurde dem instrumentell-technischen Funktionszusammenhang der Wissenschaften ein ganzheitlicher Funktionszusammenhang nach dem Vorbild eines lebenden Organismus entgegengestellt. Die damit verbundene Emanzipation von den ästhetischen und poetologischen Idealen der Antike ließ die zwischen Dichtung und Wissenschaften konstatierte ‚Phasenverschiebung‘ zunehmend geringer werden. Wie die vorangegangenen Ausführungen ebenfalls gezeigt haben, wurden Sprache und Sprachreflexion in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem derart virulenten Thema in Poetik und Ästhetik, dass sie, wie Dirk Oschmann festhält, kein Autor ignorieren konnte: Beinahe jeder Autor aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat sich über Sprache als Fundament der Dichtung oder die unhintergehbar sprachlicher Verfasstheit von Dichtung geäußert: Klopstock, Herder, Moritz ebenso wie Lessing, Schiller, Novalis und andere. Für sie ist das Sosein der Literatur in einem mehr als nur medientheoretischen Sinne durch das Sosein der Sprache allererst erklärbar.451
Die poetische und poetologische Sprachreflexion konnte nicht umhin, poetische Sprachformen und poetischen Sprachgebrauch immer auch in Bezug zu den Sprachkonzeptionen und zu dem Sprachgebrauch in Philosophie, Wissenschaften und Mathematik zu setzen.452 Die kritische Aushandlung des Verhältnisses von Wissenschaften und Dichtung erweist sich so in ihrem Kern als eine Aushandlung diskursspezifischer Sprachformen. Umgekehrt wurden fast alle Konzepte einer poetischen Sprache mit Blick auf die diskursive Abgrenzung von Dichtung und Wissenschaften, Philosophie und Mathematik entwickelt. Es ist bemerkenswert, dass zuerst die ästhetisch-literarische Sprachreflexion in der Zeit um 1800 von einer „Krise der Repräsentation“453 und damit ver|| 450 Michael Titzmann: Vom ‚Sturm und Drang‘ zur ‚Klassik‘. S. 43. 451 Dirk Oschmann: Die Sprachlichkeit der Literatur. In: Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven. Hrsg. von Alexander Löck und Jan Urbich. Berlin, New York: De Gruyter, 2010. S. 409–426; S. 415. 452 Vgl. John Neubauer: Symbolismus und symbolische Logik. S. 68. 453 Waldemar Fromm: An den Grenzen der Sprache. S. 314.
Resümee | 409
bunden von einer ersten tiefgreifenden „Sprachkrise“454 ergriffen wurde. Während im literarischen Diskurs die Sprachthematik zu einer dominierenden Größe avancierte, blieben Physik, Mathematik und Logik von den sprachtheoretischen Erschütterungen weitgehend unberührt. Anlässe zu einer tiefgreifenden Sprachreflexion waren auch in diesen Diskursen durchaus gegeben, wie bereits in Teil III dieser Untersuchung deutlich wurde: Die imaginären Zahlen hatten die Mathematiker mit der Herausforderung konfrontiert, die symbolische Differenz des mathematischen Symbolismus theoretisch zu reflektieren (vgl. Kap. III.2.3), bei den Versuchen einer umfassenden Axiomatisierung waren die Physiker auf die Problematik der ontologischen Fundierung formal-symbolischer Systeme gestoßen (vgl. Kap. III.1.2) und die Formalisierung der Logik lies die Fraglichkeit des logischen Realismus erkennbar werden (vgl. Kap. III.3.3). Physik, Mathematik und Logik verkannten, verdrängten und verschoben jedoch die sprach- und zeichentheoretische Problematik bis weit ins 19. Jahrhundert. Erst Entwicklungen, wie z.B. die Entwürfe nicht-euklidischer Geometrien durch Bolyai, Lobatschewski und Gauß, die vollständige Axiomatisierung der Geometrie durch Hilbert oder auch die Formalisierung der Logik durch Frege erzwangen schließlich eine intensive philosophische Beschäftigung mit dieser Problematik. Es waren die tiefgreifenden Krisenmomente in Physik und Mathematik im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, die dann auch zu einer Sprachkrise der Natur- und Formalwissenschaften und letztlich zu einem allgemeinen linguistic turn führen sollten. Wurde für den Zeitraum vom 16. bis 18. Jahrhundert von einer Phasenverschiebung hinsichtlich der ‚Modernisierung‘ der Dichtung im Vergleich zu Mathematik und Naturwissenschaften gesprochen, so zeigt sich in der Sprachthematik eine reziproke Phasenverschiebung hinsichtlich der tiefgreifenden Sprachkrise für den Zeitraum des späten 18. bis frühen 20. Jahrhunderts. Bemerkenswert ist hierbei, dass seitens der Poesie und Dichtung nicht nur die poetische Sprache oder die Sprache der Dichtung kritisch reflektiert und problematisiert wurde, sondern die Sprachthematik in ihrer gesamten Tragweite durchschritten wurde, also auch in den Aspekten, die erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretische Relevanz besaßen. Dass die tiefgreifenden, sprachphilosophischen Erschütterungen in den Naturwissenschaften, der Mathematik und der Logik keinen nennenswerten Nachhall fanden, liegt in dem Umstand begründet, dass sie zumeist in einer Sprache formuliert wurden, die als nichtwissenschaftlich galt. Genau dieser Umstand war es, der Johann Wolfgang von || 454 Andrea Bartl: Im Anfang war der Zweifel. Zur Sprachskepsis in der deutschen Literatur um 1800. Tübingen: Francke, 2005. S. 361.
410 | Resümee
Goethes Bestreben, mit seiner Farbenlehre eine neue Form von Wissenssprache zu etablieren, zum Scheitern brachte. Seine Sprachkritik und sein alternatives Sprachkonzept, das sich auch in seinem Roman Die Wahlverwandtschaften zeigen, sind Gegenstand des letzten und fünften Teils dieser Untersuchung.
| Teil V: Goethe zwischen Wissenschaft und Dichtung
Hinführung Das Wahre mit dem Göttlichen identisch, läßt sich niemals von uns direkt erkennen, wir schauen es nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen; wir werden es gewahr als unbegreifliches Leben und können dem Wunsch nicht entsagen, es dennoch zu begreifen.1 Johann Wolfgang von Goethe: Versuch einer Witterungslehre Es ist jedoch in mehrfacher Hinsicht von größter Wichtigkeit, die Naturlehre durchaus auf die Grenzen einer Erfahrungswissenschaft zu beschränken, alles davon auszuschließen, was außer derselben liegt, insbesondere aber die Naturforschung nicht bis in das Gebiet des Glaubens, namentlich des religiösen, auszudehnen […].2 Georg Wilhelm Muncke: Physik
Die in den vorangegangenen Kapiteln entfaltete Rekonstruktion der diskursiven Formationen des 17. und 18. Jahrhunderts soll im Folgenden anhand einer textbasierten Untersuchung exemplarisch konkretisiert werden. Hierzu wird eine Debatte in den Fokus gerückt, die in den Jahrzehnten um 1800 stattfand und in deren Zentrum die Frage nach der sprachlichen Darstellung in Wissenschaften und Dichtung stand. Ausgelöst hatte sie Johann Wolfgang von Goethe mit seinem Versuch, in einem Teilbereich der Optik einen der Urväter der neuzeitlichen Physik – Isaac Newton – vom Thron zu stoßen, um einen neuen Ansatz der Farbenlehre zu etablieren. Goethe verfolgte hierbei neben der fachlich bezogenen Argumentation auch allgemeine wissenschafts- und sprachtheoretische Ziele. Er übte nicht nur Kritik am Sprachgebrauch in den wissenschaftlichen Diskursen seiner Zeit, sondern versuchte auch eine ‚neue Wissenssprache‘ zu entwickeln und zu etablieren. Im Vorwort zur 1810 erschienenen Farbenlehre gab Goethe an, dass es die „Hauptabsicht des […] Werkes“ sei, „diese Sprache durch die Farbenlehre […] zu erweitern und so die Mitteilung höherer Anschauungen unter den Freunden der Natur zu erleichtern“3. Die zeitgenössische Debatte um Goethes Lehre der Farben kreiste daher immer auch um sprachliche (Re-)Präsentationsformen und, damit verbunden, um die diskursive Verortung von Gothes Texten. Nicht zuletzt lässt die Debatte aus heutiger Sicht auch die || 1 Johann W. von Goethe: Versuch einer Witterungslehre 1825. In: derselbe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Leopoldina-Ausgabe. Abt. 1, Bd. 11. Hrsg. von Rupprecht Matthaei u.a. Weimar: Böhlau, 1970. S. 244–268; S. 244. 2 Georg W. Muncke: Physik. In: Johann Samuel Traugott Gehler’s Physikalisches Wörterbuch. Bd. 7.1. Hrsg. von Heinrich W. Brandes u.a. Leipzig: Schwickert, 1833. S. 493–573; S. 513. 3 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. Leopoldina-Ausgabe. Abt. 1, Bd. 4. Hrsg. von Rupprecht Matthaei u.a. Weimar: Böhlau, 1955. S. 4f. DOI 10.1515/9783110464252-025, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
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damalige Verhältnisbestimmung von Wissenschaften und Dichtung erkennbar werden.
1 Goethes Zur Farbenlehre In der Thematisierung von Goethes Farbenlehre und ihrer Rezeption soll im Folgenden weniger der fachbezogene Gehalt oder die wissenschaftshistorische Bedeutung untersucht werden, da dies bereits umfassend geschehen ist.4 Stattdessen erfolgt ein Zugang zu Goethes Text über die Kritik seiner sprachlichen Darstellung durch zeitgenössische Physiker. Hierbei wird neben Rezensionen und Fachpublikationen erneut auf die beiden bereits thematisierten Ausgaben von Johann Samuel Traugott Gehlers Wörterbuch der Physik zurückgegriffen (vgl. Kap. III.1.5). Das ist deswegen naheliegend, da die in der Physik um 1800 noch relativ junge Textsorte Lexikon ausdrücklicher als andere Fachpublikationen „spezifische Formen von (Fach-)Sprachwissen reflektiert“5, wie Wolf Klein feststellt. Die Lexika des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts können somit immer auch als Orte diskursiver Selbstvergewisserung betrachtet werden. Bemerkenswert ist, dass die massive Kritik einiger Physiker dazuführte, dass die Farbenlehre – ein deutlich als wissenschaftlicher Beitrag konzipierter || 4 Vgl. hierzu exemplarisch: Gernot Böhme: Ist Goethes Farbenlehre Wissenschaft? In: Alternativen der Wissenschaft. Hrsg. von Gernot Böhme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980. S. 123–153; Martin Carrier: Goethes Farbenlehre – ihre Physik und Philosophie. In: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 12.2 (1981). S. 209–225; Werner Heisenberg: Die Goethesche und Newtonsche Farbenlehre im Lichte der modernen Physik. In: Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft. Zehn Vorträge. Stuttgart: Hirzel, 2005. S. 54–70; Holger Helbig: Naturgemäße Ordnung. Darstellung und Methode in Goethes Lehre von den Farben. Köln, Wien: Böhlau, 2004; Johannes Kühl: Goethes Farbenlehre und die moderne Physik. In: Goethes Beitrag zur Erneuerung der Naturwissenschaften. Hrsg. von Peter Heusser. Bern: Haupt, 2000. S. 409–432; Michael Mandelartz: Goethe, Newton und die Wissenschaftstheorie. Zur Wissenschaftskritik und zur Methodologie der Farbenlehre. www.kisc.meiji.ac.jp/~mmandel/pdf/ mandelartz-goethe-newton.pdf (12. Oktober 2016); Olaf F. Müller: Mehr Licht. Goethe mit Newton im Streit um die Farben. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 2015; Carl F. von Weizsäcker: Goethes Farbentheorie – heute gesehen. In: Zeit und Wissen. München, Wien: Hanser, 1992. S. 976– 986. Eine ausführliche Übersicht der Forschungsliteratur zu Goethes Farbenlehre gibt Manfred Wenzel: Farbenlehre. In: Goethe-Handbuch Supplemente. Bd. 2. Hrsg. von Manfred Wenzel. Stuttgart: Metzler, 2012. S. 81–142; S. 132–142. 5 Wolf P. Klein: Das naturwissenschaftliche Fachlexikon in Deutschland zwischen Renaissance und 19. Jahrhundert. In: Lexicographica. Internationales Jahrbuch für Lexikographie 11 (1995). S. 15–49; S. 35. DOI 10.1515/9783110464252-026, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
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Text – aufgrund der sprachlichen Darstellungsform aus dem wissenschaftlichen Diskurs ausgeschlossen und zu einem „Werke des guten Geschmacks“6, also zu Dichtung erklärt wurde. Allerdings verstieß Goethe, wie eine Skizze seines Sprachverständnisses zeigen soll, keineswegs aus Unkenntnis oder Unvermögen, sondern wissentlich, gezielt und aus programmatischen Gründen gegen die diskursiven Sprachkonventionen der Physik. Wissenschaften und Dichtung berühren sich nach Goethes Einschätzung in der anthropologischen Erfahrung einer Konfrontation mit dem Unerkennbaren bzw. dem Unerforschlichen, das sich stets auch als das Unbenennbare und Undarstellbare erweist. In der gemeinsamen Herausforderung, das Undarstellbare mit den unzureichenden Mitteln der Verbalsprache zur Darstellung zu bringen, überschneiden sich folglich wissenschaftliche und dichterische Sprache. Diese Schnittmenge wird in der vergleichenden Lektüre des 1809 erschienenen Romans Die Wahlverwandtschaften erkennbar.
2 Die zeitgenössische Rezeption der Farbenlehre Goethe begann bereits in den 1770er Jahren, sich intensiver mit Schriften zur Optik zu beschäftigen.7 1790 oder 1791 muss Goethe jenes Erlebnis gehabt haben, das als sogenanntes ‚Prismenaperçu‘ in die Forschungsgeschichte eingegangen ist.8 Er sah hierbei durch ein Glasprisma eine weiße Wand weiß und nicht – wie er aufgrund seiner Deutung der Newton’schen Optik erwartet hatte – als farbiges Spektrum, lediglich farbige Ränder wurden sichtbar. Ausgehend vom Prismenaperçu entwickelte er die These, dass Farbphänomene stets durch das Zusammenwirken von Licht und Finsternis entstünden. 1791/1792 publizierte er die ersten beiden Teile der Beyträge zur Optik9 und verfasste in || 6 Christoph H. Pfaff: Ueber Newton’s Farbentheorie, Herrn von Goethe’s Farbenlehre und den chemischen Gegensatz der Farben. Ein Versuch in der experimentalen Optik. Leipzig: Vogel, 1813. S. VIf. 7 Vgl. Holger Helbig: Naturgemäße Ordnung. S. 67–88 (Kap. ‚Vorgeschichten‘). 8 Zur Frage der Datierung des Prismenaperçus siehe: Manfred Wenzel: „... ich sprach wie durch einen Instinkt sogleich vor mich laut aus, daß die Newtonische Lehre falsch sei.“ – Dokumente und Deutungen zur Datierung von Goethes Prismenaperçu. In: Liber amicorum. Katharina Mommsen zum 85. Geburtstag. Hrsg. von Andreas Remmel und Paul Remmel. Bonn: Bernstein, 2010. S. 541–571. 9 Die Abhandlung Von den farbigen Schatten war als dritter Teil der Beyträge zur Optik für das Jahr 1793 angedacht. Eine Veröffentlichung wurde aber nicht nur aufgrund der Bedenken des Verlegers, sondern auch wegen der teils heftigen Kritik an den bereits erschienenen Teilen DOI 10.1515/9783110464252-027, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
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den folgenden Jahren weitere Aufsätze, Versuche und Fragmente.10 Der zentrale Text der jahrelangen Beschäftigung mit optischen Phänomenen ist die 1810 veröffentlichte Farbenlehre, die drei Teile umfasst: Dem ersten, didaktischen Teil, in dem Goethe seinen ‚Entwurf einer Farbenlehre‘ entwickelt, folgt ein polemischer, in dem er versucht, die Newton’sche Optik zu widerlegen; den dritten Teil bildet eine umfangreiche historische Darstellung. Sowohl die publizierten Teile der Beyträge zur Optik als auch die Farbenlehre wurden teils heftig kritisiert: „Es wird nicht von Dilettantismus gesprochen, obwohl es darauf hinausläuft.“11 Goethe war von diesen negativen Reaktionen persönlich getroffen und fühlte sich missverstanden. Die resignative Einschätzung, die vor allem in Goethes späten Äußerungen zu finden ist, hat bedauerlicherweise auch die spätere Forschung entscheidend geprägt. Sie führte zu der Fehleinschätzung, die Fachwissenschaft hätte kollektiv Goethes Lehre der Farben abgelehnt. Wie bereits zuvor Hermann Bräuning-Oktavio12 und Holger Helbig13 sieht auch Olaf F. Müller in seiner 2015 erschienenen Monographie Mehr Licht die Notwendigkeit, diesen „wissenschaftsgeschichtliche[n] Irrtum“14 zu korrigieren.15 Schließlich fanden sowohl die Beyträge zur Optik als auch die Farbenlehre Eingang in zahlreiche didaktische und enzyklopädische Darstellungen16 der Physik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In Gehlers erster Ausgabe des Physikalischen Wörterbuchs konnten Goethes Beyträge aufgrund der Publikationsfolge noch keine Erwähnung finden (das Lemma ‚Farben‘ be-
|| aufgeschoben. Gleiches gilt für die als vierter Teil der Beyträge geplante Abhandlung Versuch die Elemente der Farbenlehre zu entdecken aus demselben Jahr. Eine Übersicht der zeitgenössischen Reaktionen auf die Beyträge zur Optik gibt Holger Helbig: Naturgemäße Ordnung. S. 129– 131. 10 Für eine ausführliche Übersicht der von Goethe zwischen den Beyträgen zur Optik und der Farbenlehre verfassten Texte vgl. Manfred Wenzel: Farbenlehre. S. 81–142. 11 Holger Helbig: Naturgemäße Ordnung. S. 129. 12 Vgl. Hermann Bräuning-Oktavio: Goethes naturwissenschaftliche Schriften und die Freiheit von Forschung und Lehre. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts. Hrsg. von Detlev Lüders. Tübingen: Niemeyer, 1982. S. 110–215; besonders S. 203f. 13 Vgl. Holger Helbig: Naturgemäße Ordnung. S. 108 –141. 14 Olaf F. Müller: Mehr Licht. S. 233. 15 Müller erwähnt u.a. das gemeinsame Experimentieren mit Johann Wilhelm Ritter, die positive Reaktion Hans C. Ørsteds, die Zusammenarbeit mit Thomas J. Seebeck und die beinahe leidenschaftliche Verteidigung durch Johann Friedrich Christian Werneburg, vgl. Olaf F. Müller: Mehr Licht. S. 230–257. Außerdem gibt Müller eine umfassende Synopse positiver wie kritischer fachwissenschaftlicher Reaktionen (S. 441–451). 16 Vgl. exemplarisch Gustav Suckow: Systematische Encyklopädie und Methodologie der theoretischen Naturwissenschaften. Halle: Schwetschke, 1839. S. 200 und S. 245.
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findet sich im 1789 erschienen zweiten Band). Offensichtlich hielt Gehler aber die Beyträge für so bedeutend, dass er im 1795 erschienenen Supplementband das Lemma erneut aufgreift, nur um Goethes Thesen referieren und diskutieren zu können.17 Zunächst gilt es zu klären, ob und inwiefern die Farbenlehre als ein wissenschaftlicher Beitrag im Diskurs der Physik anerkannt wurde; das ist – mit Foucault gesprochen – die Frage danach, ob Goethe ‚im Wahren‘ gewesen ist. Sie kann nur teilweise bejaht werden. Die zeitgenössischen Fachkreise verstanden, dass Goethe mit dem Anspruch angetreten war, einen Beitrag zur aktuellen Forschung zu leisten. Mit dem Vorwort der Farbenlehre adressierte Goethe das Fachpublikum. Er wollte „die alten Irrtümer“ Newtons und seiner Anhänger „weg[…]räumen“ und dafür einen neuen „Entwurf einer Farbenlehre“ etablieren.18 Das war ein ernstgemeinter Angriff auf den maßgeblich durch Newtons Physik geprägten wissenschaftlichen Konsens um 1800. Namhafte Physiker begannen sofort mit der kritischen, wissenschaftlichen Prüfung, und insofern war die Farbenlehre zunächst ein Diskurselement der Physik. Zu welchem Resultat kamen die Physiker? Das ist – wiederum mit Foucault gesprochen – die Frage, ob Goethe in einem nicht-moralischen Sinn die ‚Wahrheit sagte‘19, also ob seine Lehre innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses für richtig oder falsch gehalten wurde.20 Olaf Müllers Befund ist in diesem Punkt eindeutig: „[…] Goethe hat den Streit [mit Newton, M.I.] verloren – de facto, in den Augen fast aller naturwissenschaftlich Denkende[r].“21 Die meisten zeitgenössischen Physiker stützten ihr Urteil maßgeblich darauf, wie Goethe versuch-
|| 17 Johann S.T. Gehler: Physikalisches Wörterbuch oder Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre mit kurzen Nachrichten von der Geschichte der Erfindungen und Beschreibungen der Werkzeuge begleitet in alphabetischer Reihenfolge. Bd. 5. Leipzig: Schwickert, 1795. S. 385–391. 18 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 4f. 19 Die Differenzierung zwischen ‚im Wahren sein‘ und die ‚Wahrheit sagen‘ führt Foucault in Die Ordnung des Diskurses bezüglich der Mendel’schen Biologie aus. Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France. [L’ordre du discours, 1971]. Übers. von Walter Seitter. München: Hanser, 1974. S. 24f. 20 Die Beantwortung dieser Frage im Allgemeinen liegt keinesfalls auf der Hand, wie Olaf Müllers Untersuchung zeigt. Er hält Teilaspekte in Goethes Zur Farbenlehre auch (oder gerade) aus heutiger Sicht durchaus für erkenntnistheoretisch und wissenschaftlich tragfähig: „Gewiss in ein paar Nebenpunkten hat Newton gewonnen; in ein paar anderen Goethe.“ Olaf F. Müller: Mehr Licht. S. 27. Zu dieser Einschätzung kommt Müller wohlgemerkt aufgrund einer systematischen Untersuchung. Im Kontext dieser Arbeit muss die oben gestellte Frage jedoch historisch auf die Zeit um 1800 fokussiert und folglich historisch beantwortet werden. 21 Olaf F. Müller: Mehr Licht. S. 38.
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te ‚die Wahrheit zu sagen‘. Die Kritik an der sprachlichen Darstellung der Farbenlehre, die im Folgenden in vier Punkten skizziert wird, hatte aber noch weitreichendere Folgen. Sie führte dazu, dass Text und Autor die Wissenschaftlichkeit an sich abgesprochen wurde.
2.1 Kritikpunkt 1: Quantifizierung und Metrifizierung Welchen Stellenwert Metrifizierung und Quantifizierung in der physikalischen Forschung des frühen 19. Jahrhunderts hatten (vgl. Kap. III.1), zeigen Karl Ludwig Littrows Ausführungen zum Lemma ‚Versuch‘ in Gehler’s Physikalischem Wörterbuch (1840): [Man muss ein Naturgesetz] so bald und so genau als möglich auf Maß und Zahl zurückzuführen suchen, d. h. man muß die Erscheinung zu einem Gegenstande der Rechnung machen. Nur wo man messen, wägen, zählen und rechnen kann, ist Hoffnung auf Erkenntniß, und alles vage Hin- und Herreden mit den Worten der gewöhnlichen Sprache führt auf Mißverständniß, auf Unklarheit, auf Abwege. Rechnung ist die Seele der Naturwissenschaften und sie ist, wenn nicht das einzige, doch gewiß das beste Kriterium der Wahrheit.22
Dass physikalische Beobachtungen, Versuche und die aus ihnen gewonnenen Regelmäßigkeiten zunächst verbalsprachlich beschrieben werden, ist vor diesem Hintergrund zwar ein wichtiger, aber eben nur ein erster Schritt auf dem Weg zur Erkenntnis. Zeitgenössische Physiker irritierte an der Farbenlehre, dass Goethe ausschließlich eine verbalsprachliche Beschreibung von Phänomenen23, Beobachtungen und Versuchen wiedergibt und sie nicht ‚so bald und so genau auf Maß und Zahl‘ zurückführt. Unhaltbar wird dieses Verharren im Verbalsprachlichen für Goethes Kritiker dort, wo er versucht, Newtons Optik zu widerlegen. So formuliert Heinrich Wilhelm Brandes in seinen Ausführungen zum Lemma ‚Brechbarkeit‘: Newton hat zuerst die […] ungleiche Brechbarkeit der Farbenstrahlen gelehrt, und seine Versuche [...] geben dem, der einen rein geometrischen Gegenstand geometrisch aufzufassen weiß, den vollkommensten Beweis für die Newtonsche Behauptung. Diese Lehre hatte || 22 Karl L. Littrow: Versuch. In: Johann Samuel Traugott Gehler’s Physikalisches Wörterbuch. Bd. 9.3. Hrsg. von Heinrich W. Brandes u.a. Leipzig: Schwickert, 1840. S. 1813–1857; S. 1829. 23 Theda Rehbock bezeichnet Goethes Zugang zum Phänomen der Farben auch als „phänomenologische Grammatik“. Vgl. Theda Rehbock: Goethe und die ‚Rettung der Phänomene‘. Philosophische Kritik des naturwissenschaftlichen Weltbilds am Beispiel der Farbenlehre. Konstanz: Verlag am Hockgraben, 1995. S. 181–260.
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sich dem Wesentlichen nach von allen Seiten so bewährt […]. Es war daher eine unerwartete Erscheinung, daß von Göthe, der die Entstehung der Farben anders zu erklären suchte, und in geometrischen Untersuchungen ungeübt war, Newton zu widerlegen suchte. Da mir hier unmöglich zugemuthet werden kann, daß ich seine Einwürfe einzeln prüfe, so will ich nur an einem einzigen zeigen, wie nöthig es ist, den Gegenstand strenge und geometrisch aufzufassen, ehe man entscheiden kann, ob selbst die dem Anschein nach gründlichsten Einwürfe das Gewicht haben, das man beim ersten Blicke geneigt ist, ihnen beizulegen.24
Bei dem von Brandes erwähnten Versuch, dessen Durchführung im historischen Teil der Farbenlehre beschrieben wird, führt die unterlassene Quantifizierung bzw. Metrifizierung Goethe zu einer fatalen Schlussfolgerung: In einem Kasten wird ein in den Spektralfarben bemalter Blechstreifen so platziert, dass er zur Gänze von einer Seitenfläche des Kastens verdeckt ist. Anschließend wird der Kasten mit Wasser gefüllt. Durch die lichtbrechende Eigenschaft des Wassers wird der Blechstreifen mit steigendem Spiegel dem Beobachter allmählich sichtbar. Goethe beschreibt seine Beobachtung wie folgt: […] die Reihe der sämtlichen Farbenbilder stieg gleichmäßig über den Rand dem Auge entgegen, da doch, wenn sie divers refrangibel wären, die einen vorauseilen und die andern zurückbleiben müßten. Dieses Experiment zerstört die Newtonische Theorie von Grund aus […].25
Brandes widerspricht vehement: Der Schluß ist ganz richtig, nur fragt sich, wie viel denn dieses Voreilen und Zurückbleiben wohl betragen könne, und ob unser Auge, weil es wenig betragen wird, es zu unterscheiden im Stande sey. Da v. Göthe seinen Versuch nicht mit Angabe der genauen Abmessungen beschreibt, so will ich zuerst eine allgemeine Rechnung führen [...].26
Goethes Schluss geht, so Brandes Verdacht, von einer falschen Prämisse aus, nämlich dass die Brechung mit bloßem Auge erkennbar sein müsse. Er holt im Folgenden das nach, was Goethe unterlässt: Er misst, rechnet und kommt zu dem Ergebnis, dass das ‚Vorauseilen‘ (d.i. die Brechung) des blauen Randes nur
|| 24 Heinrich W. Brandes: Brechbarkeit. In: Johann Samuel Traugott Gehler’s Physikalisches Wörterbuch. Bd. 1.2. Hrsg. von Heinrich W. Brandes u.a. Leipzig: Schwickert, 1825. S. 1111–1127; S. 1122. 25 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Historischer Teil. Leopoldina-Ausgabe. Abt. 1, Bd. 6. Hrsg. von Rupprecht Matthaei u.a. Weimar: Böhlau, 1957. S. 272. 26 Heinrich W. Brandes: Brechbarkeit. S. 1123.
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neun Tausendtel [sic!] eines Zolles betragen [kann], und eine so geringe Vorrückung kann dem bloßen Auge unmöglich bemerkbar seyn. Diese Rechnung mag genügen, um zu zeigen, wie vieler Vorsicht es bedarf, um, selbst bei dem täuschendsten Anschein, seiner Sache gewiß zu werden.27
Die unterlassene Quantifizierung bzw. Metrifizierung wird von Brandes keineswegs als Fauxpas abgetan. Er wertet sie als einen Verstoß gegen die gängige wissenschaftliche Praxis und damit als grundlegendes Defizit an Wissenschaftlichkeit.
2.2 Kritikpunkt 2: Axiomatisierung und Formalisierung Newton ist in den Opticks (1704) um einen deutlich an Euklids Elementen orientierten axiomatischen Aufbau und um eine entsprechende Darstellungsform bemüht. Er beginnt den ersten Teil des ersten Buches mit einer kurzen Programmatik: „Es ist nicht meine Absicht, in diesem Buche die Eigenschaften des Lichts durch Hypothesen zu erklären, sondern nur, sie anzugeben und durch Rechnung und Experiment zu bestätigen. Dazu will ich folgende Definitionen und Axiome vorausschicken.“28 Newton nennt acht Definitionen und acht Axiome29, die das wiedergeben, „was bisher in der Optik festgestellt worden ist“ und was er die „Principien“ der Optik nennt.30 Es folgen zwei Abschnitte mit acht bzw. elf sogenannte ‚Propositionen‘, wobei es sich sowohl um Lehrsätze (also Theoreme im engeren Sinne) als auch um technisch-experimentelle Aufgaben (wie z.B. die Aufgabe, Fernrohre zu verkürzen) handelt, die jeweils durch || 27 Heinrich W. Brandes: Brechbarkeit. S. 1124. Auch Christoph H. Pfaff wiederholt den von Goethe beschriebenen Versuch: „Das Resultat des Versuchs war für uns und andere, die ihn mit uns anstellten, unsicher. Das Urtheil fiel jedoch meistens zu Gunsten der Lehre von der verschiedenen Brechbarkeit aus.“ Christoph H. Pfaff: Ueber Newton’s Farbentheorie, Herrn von Goethe’s Farbenlehre. S. 65. 28 Isaac Newton: Optik oder Abhandlung über Spiegelungen, Brechungen, Beugungen und Farben des Lichts [Opticks or a Treatise of the Reflections, Refractions, Inflections and Colours of Light, 1704]. Übers. und hrsg. von William Abendroth. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg, 1983. S. 5. 29 Die Definitionen betreffen ‚Lichtstrahl‘, ‚Brechbarkeit‘, ‚Reflexionsfähigkeit‘, ‚Einfallswinkel‘, ‚Reflexions- und Brechungswinkel‘, ‚Sinus des Einfalls, der Reflexion und Brechung‘, ‚homogenes Licht‘ und ‚primäre Farben‘. Die Axiome legen u.a. dar, dass Reflexions- und Brechungswinkel eines Lichtstrahls in einer Ebene liegen (Axiom 1) oder dass ein Lichtstrahl beim Übergang von einem dünneren in ein dichteres Medium hin zur Senkrechten der brechenden Oberfläche gebrochen wird (Axiom 3). Vgl. Isaac Newton: Optik. S. 5–15. 30 Isaac Newton: Optik. S. 15.
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mehrere Versuche belegt werden. Die beiden ersten Lehrsätze lauten beispielsweise: „Licht von verschiedener Farbe besitzt auch einen verschiedenen Grad von Brechbarkeit“ und „Das Licht der Sonne besteht aus Strahlen verschiedener Brechbarkeit“.31 Goethe gibt zu Beginn des polemischen Teils der Farbenlehre an, nicht grundsätzlich die axiomatische Darstellungsweise der Opticks zu kritisieren.32 Was er Newton jedoch vorwirft, ist, dass er diese […] Art des Vortrags zu seinem Zweck advokatenmäßig mißbraucht, indem er das, was erst eingeführt, abgeleitet, erklärt, bewiesen werden sollte, schon als bekannt annimmt, und sodann aus der großen Masse der Phänomene nur diejenigen heraussucht, welche scheinbar und notdürftig zu dem einmal Ausgesprochenen passen […].33
Bereits Newtons erste Definition, die Definition des Begriffs ‚Lichtstrahl‘, ist für Goethe ein Abgeleitetes, also eine Abstraktion. Er nennt sie auch eine hypothetische „Fiktion“34. Als heuristisches Instrument – etwa zur Berechnung gewisser Aspekte – toleriert Goethe diese Fiktion zwar, er warnt allerdings davor, „diese Fiktion wieder zum Phänomen zu machen, und mit einem solchen fingierten Phänomen weiter fort zu operieren“35. Newton begehe diesen Fehler, gründe seine Optik folglich auf einer falschen Hypothese und nicht auf empirisch beobachtbaren Phänomenen. An dieser Stelle ist nun weniger Goethes bereits mehrfach untersuchte Wissenschaftskritik von Relevanz36, sondern die damit verschränkte Kritik an Newtons vermeintlichem Missbrauch der Axiomatik:
|| 31 Isaac Newton: Optik. S. 15 und S. 19. 32 „Daß bei einem Vortrag natürlicher Dinge der Lehrer die Wahl habe, entweder von den Erfahrungen zu den Grundsätzen, oder von den Grundsätzen zu den Erfahrungen seinen Weg zu nehmen, versteht sich von selbst; daß er sich beider Methoden wechselweise bediene, ist wohl auch vergönnt, ja manchmal notwendig.“ Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Polemischer Teil. Leopoldina-Ausgabe. Abt. 1, Bd. 5. Hrsg. von Rupprecht Matthaei u.a. Weimar: Böhlau, 1958. S. 2. 33 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Polemischer Teil. S. 2. 34 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 108. 35 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 108. 36 Goethes Newton-Kritik kann, wie Theda Rehbock konzise darlegt, als eine umfassende Wissenschaftskritik begriffen werden. Sie zeigt, dass Newton das Konzept ‚Lichtstrahl‘ einführt, um Farbphänomene überhaupt erst quantifizieren zu können: „Dies ist nun im Fall der Farben besonders schwierig, da sie als qualitative Phänomene nicht direkt meßbar sind. […] Newton legt […] eine Analogie zu mechanischen Phänomenen zugrunde, wenn er das Licht als ein Bündel verschieden brechbarer Lichtstrahlen auffaßt, die sich ähnlich wie eine materielle Substanz nach mechanischen Gesetzen im Raum bewegen, durch Hindernisse abgelenkt (gebrochen), zurückgeworfen (reflektiert) und durchgelassen (absorbiert) werden. […] Die Farben
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Newton hatte durch eine künstliche Methode seinem Werk ein dergestalt strenges Ansehn gegeben, daß Kenner der Form es bewunderten und Laien davor erstaunten. Hiezu kam noch der ehrwürdige Schein einer mathematischen Behandlung, womit er das Ganze aufzustutzen wußte. [...] An der Spitze nämlich stehen Definitionen und Axiome, […] [s]odann finden wir Propositionen, welche das immer wiederholt festsetzen, was zu beweisen wäre; Theoreme, die solche Dinge aussprechen, die niemand schauen kann; Experimente, die unter veränderten Bedingungen immer das Vorige wiederbringen, und sich mit großem Aufwand in einem ganz kleinen Kreise herumdrehen […].37
Goethe bezichtigt Newton, den zweiten vor dem ersten Schritt gemacht zu haben. Statt sorgfältig die einfachsten Elemente der Naturforschung – die Phänomene – gründlich zu beobachten, dann Schritt für Schritt von diesen zu abstrahieren und die Zulässigkeit und Adäquatheit der Abstraktionen, der Definitionen sowie der Axiome zu überprüfen, setze er seine ‚hypothetischen Fiktionen‘ als das Ursprüngliche fest. Seine Axiomatik und folglich seine gesamte Optik sei daher auf einem nicht tragfähigen Grund errichtet. Es sei dies, so Goethe weiter, das Schlimmste, was der Physik […] widerfahren kann […], daß man das Abgeleitete für das Ursprüngliche hält, und da man das Ursprüngliche aus Abgeleitetem nicht ableiten kann, das Ursprüngliche aus dem Abgeleiteten zu erklären sucht. Dadurch entsteht eine unendliche Verwirrung, ein Wortkram […].38
Newton erkläre nicht die Phänomene der Natur, sondern tautologisch seine eigenen Hypothesen. Durch die axiomatische Darstellung verschleiere er dies und erwecke den Eindruck, tatsächlich die Natur der Dinge zu beschreiben. Goethes Vorwurf ist nicht gänzlich abzuweisen, ist in ihm doch jener Aspekt erkennbar, den Helmut Pulte als ‚Evidenztransport‘39 der Mathematik in die Physik bezeichnet hat. Wie bereits untersucht wurde (vgl. Kap. III.1.2), stellt der || werden dadurch indirekt quantifizierbar […].“ Theda Rehbock: Goethe und die ‚Rettung der Phänomene‘. S. 38f. Holger Helbig wiederum legt dar, dass mit Newton ein „methodologischer Wendepunkt“ erreicht worden sei, da er die „auf Bacon zurückgehende Beschränkung auf das Sammeln von experimentellen Beobachtungen“ überwand; Holger Helbig: Natürliche Ordnung. S. 376. Fortan galt es als sicher, mit induktiven und mathematischen Methoden aus der Fülle an empirischen Beobachtungen allgemeine Gesetze abzuleiten und diese Gesetze beispielsweise an die Position von Axiomen in einem deduktiven System zu setzen. Goethe begriff dies als missverstandenen Empirismus und beharrte auf der Evidenz der Phänomene. Vgl. Theda Rehbock: Goethe und die ‚Rettung der Phänomene‘. S. 41–43 und S. 119–120. 37 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Polemischer Teil. S. 3. 38 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 210. 39 Helmut Pulte: Axiomatik und Empirie. Eine wissenschaftstheoriegeschichtliche Untersuchung zur mathematischen Naturphilosophie von Newton bis Neumann. Darmstadt: WBG, 2005. S. 46.
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Wunsch, die verschiedenen Bereiche der Physik nach dem Vorbild der Geometrie zu axiomatisieren, in der Tat eine Herausforderung dar, denn die physikalischen Grundbegriffe (z.B. ‚Kraft‘) und Axiome (z.B. das Trägheitsprinzip) sind nicht gleichermaßen evident wie ihre geometrischen Entsprechungen. Goethe beharrt auf einer realweltlichen Fundierung der Naturforschung und das bedeutet auch auf einer realweltlichen Fundierung des Axiomensystems, die an den Phänomenen und nicht an Abstraktionen orientiert ist. Er wirft damit indirekt die Frage auf, wie Grundbegriffe und Axiome, die ja per definitionem nicht aus Vorhergehendem deduzierbar sind (vgl. Kap. III.2.4), im Bereich der empirischen Physik überhaupt als sicher und wahr gelten können, wenn ihnen die unmittelbare Evidenz geometrischer Gegenstände und Verhältnisse fehlt. Mit einer axiomatisierten Darstellungsform die Natur zu beschreiben, müsse – so folgert Goethe – scheitern, wenn man nicht vorher, wie von uns mit Sorgfalt geschehen, die Farbenphänomene in einer gewissen natürlichen Verknüpfung nach einander aufgeführt und sich dadurch in den Stand gesetzt hätte, eine künstliche und willkürliche Stellung und Entstellung derselben anschaulicher zu machen.40
Goethe fordert, dass der Axiomatisierung, jener an den Erfordernissen der Mathematik orientierten künstlichen Darstellung, eine an den Phänomenen orientierte natürliche Darstellung vorausgehen müsse. Er glaubt, eine solche „naturgemäße[ ] Ordnung“ mit dem Prinzip der „stetigen Reihe“ im didaktischen Teil der Farbenlehre zu geben.41 Zunächst wählt er eine dreifache Einteilung der Farbphänomene: Erstens die physiologischen Farben (genaugenommen eine Physiologie der Farbwahrnehmung), zweitens die physischen Farben (das sind die Phänomene der Optik im engeren Sinn wie z.B. Brechung und Beugung) und drittens die chemischen Farben (Phänomene farbiger Pigmente). Die Ordnung der drei Teile entspricht der Zunahme der Persistenz der Farbphänomene: von der Flüchtigkeit der physiologischen Farben über das zeitlich beschränkte Verweilen der physischen bis hin zur anhaltenden Dauer der chemischen. Das Prinzip der ‚stetigen Reihe‘ strukturiert auch die Versuchsbeschreibungen innerhalb der drei Kapitel. Erst am Ende der Reihungen abstrahiert Goethe von den einzelnen Phänomenen. Das, was er abstrahiert, nennt er ‚Urphänomen‘. Anders als Newtons Naturgesetze sollen die Urphänomene eine kontinuierliche Brücke zwischen Beobachtung und Theorie bilden. Aus diesem Grund ist Goethe sehr darum || 40 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Polemischer Teil. S. 3. 41 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 20.
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bemüht, den Weg der Abstraktion, auf dem sie gewonnen werden, zu explizieren: Das was wir in der Erfahrung gewahr werden, sind meistens nur Fälle, welche sich mit einiger Aufmerksamkeit unter allgemeine empirische Rubriken bringen lassen. Diese subordinieren sich abermals unter wissenschaftliche Rubriken, welche weiter hinaufdeuten, wobei uns gewisse unerläßliche Bedingungen des Erscheinenden näher bekannt werden. Von nun an fügt sich alles nach und nach unter höhere Regeln und Gesetze, die sich aber nicht durch Worte und Hypothesen dem Verstande, sondern gleichfalls durch Phänomene dem Anschauen offenbaren. Wir nennen sie Urphänomene […]. In diesem Sinne halten wir den in der Naturforschung begangenen Fehler für sehr groß, daß man ein abgeleitetes Phänomen an die obere Stelle, das Urphänomen an die niedere Stelle setzte, ja sogar das abgeleitete Phänomen wieder auf den Kopf stellte, und an ihm das Zusammengesetzte für ein Einfaches, das Einfache für ein Zusammengesetztes gelten ließ; durch welches Hinterstzuvörderst die wunderlichsten Verwicklungen und Verwirrungen in die Naturlehre gekommen sind, an welchen sie noch leidet [Hervorh. M.I.].42
Die Darstellung in Form von ‚stetigen Reihen‘ mit anschließender Abstraktion der Urphänomene erweist sich demnach als ‚natürliche Ordnung‘, weil sie den Erkenntnisprozess in seiner Chronologie und Systematik repräsentiert. Gleichzeitig scheinen für Goethe die Urphänomene jene realweltliche Fundierung der empirischen Naturforschung zu garantieren, die er bei Newton vernachlässigt sah. Problematisch an Goethes Alternativentwurf ist, wie Holger Helbig konstatiert, dass das, „[w]as ein Urphänomen genannt zu werden verdient, […] sich nicht eindeutig ausmachen [lässt]“43 und folglich nicht als Fundament eines Axiomensystems dienen kann. Goethe selbst ist das durchaus bewusst: „Ferner ist ein Urphänomen nicht einem Grundsatz gleichzumachen, aus dem sich mannichfache Folgen ergeben, sondern anzusehen als eine Grunderscheinung, innerhalb deren das Mannigfaltige anzuschauen ist.“44 Für ihn ist das jedoch kein Defizit, denn wo der Physiker ein Urphänomen erkannt, bestimmt und beschrieben habe, gelange er ohnehin an die „Grenze seiner Wissenschaft“45. Das Urphänomen ist gewissermaßen das ‚Endprodukt‘ physikalischer Forschung, das dann dem Philosophen (und Mathematiker) zur theoretischen ‚Wei|| 42 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 71. 43 Holger Helbig: Natürliche Ordnung. S. 492. 44 Brief an Christian D. von Buttel vom 3. Mai 1827. Johann W. von Goethe: Briefe 1821–1832. In: Goethes Briefe und Briefe an Goethe. Hamburger Ausgabe in 6 Bänden. Bd. 4. Hrsg. von Karl R. Mandelkow. München: Beck, 1988. S. 231. 45 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 211.
Kritikpunkt 2: Axiomatisierung und Formalisierung | 425
terverarbeitung‘ übergeben wird: „Der Naturforscher lasse die Urphänomene in ihrer ewigen Ruhe und Herrlichkeit dastehen, der Philosoph nehme sie in seine Region auf […].“46 Goethe steht damit quer zu den Entwicklungen seiner Zeit. Während die institutionalisierte Physik die Mathematisierung, d.h. auch Axiomatisierung all ihrer Teilbereiche mit Nachdruck vorantreibt, plädiert er gewissermaßen für eine ‚Entmathematisierung‘ der Kernbereiche physikalischer Forschung: Als getrennt muß sich darstellen: Physik von Mathematik. Jene muß in einer entschiedenen Unabhängigkeit bestehen, und mit allen liebenden verehrenden frommen Kräften in die Natur und das heilige Leben derselben einzudringen suchen, ganz unbekümmert was die Mathematik von ihrer Seite leistet und tut.47
Goethe imaginiert eine Schnittstelle, an der der Physiker dem Mathematiker das Urphänomen übergibt, doch es bleibt fraglich, was dieser mit dem Urphänomen genau unternehmen soll, denn „[e]s erklärt nichts“48, es erlaubt nicht die Deduktion von Theoremen49 und es ist nicht quantifizierbar50. An den zeitgenössischen Reaktionen auf Goethes Darstellung der ‚natürlichen Ordnung‘ wird deutlich, dass seitens der Physik die unterlassene Axiomatisierung als gravierender Mangel gewertet wird. So schreibt Christoph Heinrich Pfaff in Ueber Newton’s Farbentheorie, Herrn von Goethe’s Farbenlehre (1813): „Zum Behuf einer schönen Darstellung mag ein allgemeines Apperçu hinreichen, für die wahre Erkenntnis muß sich die Anschauung zur Construktion erheben.“51 Wie Pfaff weiter ausführt, verhindert gerade Goethes Urphänomen aber eine theoretisch-systematische Darstellung. Nach seiner Einschätzung das Urphänomen gerade nicht das Ursprüngliche und Unmittelbare sondern ein abgeleitetes, das weit entfernt [ist], alle Fälle des Wechselbezugs des Lichts und der trüben Mittel unter sich zu befassen, vielmehr mit manchen ihm gleichsam entgegengesetzten Phänomenen unter einem höhern Gesetze steht.52
|| 46 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 72. Vgl. außerdem: S. 211. 47 Johann W. von Goethe: Über Naturwissenschaft im allgemeinen. Einzelne Betrachtungen und Aphorismen. In: derselbe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Leopoldina-Ausgabe. Abt. 1, Bd. 11. Hrsg. von Rupprecht Matthaei u.a. Weimar: Böhlau, 1970. S. 337–366; S. 358. 48 Holger Helbig: Naturgemäße Ordnung. S. 346. 49 Vgl. Brief an Christian D. von Buttel vom 3. Mai 1827 (Fußn. 44). 50 Vgl. Theda Rehbock: Goethe und die ‚Rettung der Phänomene‘. S. 38–40. 51 Christoph H. Pfaff: Ueber Newton’s Farbentheorie, Herrn von Goethe’s Farbenlehre. S. 28. 52 Christoph H. Pfaff: Ueber Newton’s Farbentheorie, Herrn von Goethe’s Farbenlehre. S. 26f.
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Jakob Friedrich Fries, einer der ersten Rezensenten der Farbenlehre, unterstellt Goethe daher völlige Unkenntnis Axiomatik: Der Fehler ist, daß hier [in der Farbenlehre, M.I.] der Einfluß der Mathematik auf alle erklärende Wissenschaft nicht gekannt, oder nicht beachtet wird. Allerdings ist es vornehmer und bequemer sich an einer lebendigen Ansicht der Welt der Farben zu ergötzen, aber diese [...] dient nur der Unterhaltung, so gut Geschmack und Genie des Componisten dieser zu dienen vermochten. […]. Newton hat [die] Zusammensetzung aus einfachen mathematischen Elementen erklärt. Aber eben diese mathematische synthetische Methode, welche die zusammengesetzten Erscheinungen aus den mathematisch einfacheren ableitet, ist dem Verf[asser] [Goethe] unverständlich geblieben.53
Die Forderung nach einer axiomatisierten Darstellung war kein Selbstzweck, sondern galt als entscheidende Voraussetzung dafür, ob eine Theorie aus bereits bekanntem Wissen neues Wissen abzuleiten erlaubte. Brandes weist konsterniert darauf hin, dass Goethes Farbenlehre dem Wissensstand der Optik kaum Neues hinzuzufügen vermag – vor allem im Bereich der noch ungeklärten Inflexionsphänomene: Was von Göthe über die Beugung sagt, fügt dem Bisherigen nur wenig Neues hinzu. Seine Versuche sind meistens nur Wiederholungen der schon bekannten, und obgleich die Bemerkung, daß man auf das Ausgehen von Lichtstrahlen von dem die Sonne umgebenden hellen Himmel Rücksicht nehmen muß, wahr ist, so erklärt doch weder diese Bemerkung, noch das Hervorbringen der Doppelschatten durch zwei Lichter die mehrfachen Farbenringe […].54
Bernhard Hassenstein und Hans G. Hetzel verallgemeinern dieses negative Urteil in ihrer Untersuchung aus dem Jahr 1992 sogar noch. Sie resümieren, dass Goethes Farbenlehre „keine Basis für zuverlässige theoretische Folgerungen auf noch unbekannte Zusammenhänge [darstelle]; aus Einzelaussagen lassen sich keine verläßlichen weitergehenden Konsequenzen ziehen.“55 Helbig stimmt
|| 53 Jakob F. Fries: Zur Farbenlehre, von Goethe. In: Heidelbergische Jahrbuecher der Litteratur 3.7 (1810). S. 289–307; S. 293 und S. 303. 54 Heinrich W. Brandes: Inflexion des Lichtes. In: Johann Samuel Traugott Gehler’s Physikalisches Wörterbuch. Bd. 5.2. Hrsg. von Heinrich W. Brandes u.a. Leipzig: Schwickert, 1830. S. 681–742; S. 697. 55 Bernhard Hassenstein und Hans G. Hetzel: Zugänge zu Goethes Farbenlehre. In: In der Mitte zwischen Natur und Subjekt. Johann Wolfgang von Goethes „Versuch, die Metamorphose der Pflanze zu erklären“. Hrsg. von Gunter Mann u. a. Frankfurt a.M.: Kramer, 1992. S. 69–80; S. 78.
Kritikpunkt 3: Symbolisierte Darstellung | 427
Hassenstein und Hetzel zu: „Die Anhäufung von redundanten Sätzen zeigt, daß der Erkenntnisfortschritt höchst relativ ist.“56
2.3 Kritikpunkt 3: Symbolisierte Darstellung Ebenfalls kritisiert wurde, dass Goethe in der Farbenlehre keinerlei Gebrauch von der mathematischen Notation macht. In den Augen der Kritiker handelt es sich hierbei nicht um eine Unterlassung, die zu beheben ist, indem man die Beobachtungen und Versuche quantitativ erfasst und dann Goethes Lehre der Farben nachträglich in den operativen Symbolismus der Mathematik übersetzt. Vielmehr begreifen Physiker wie Pfaff die Farbenlehre als nicht mathematisierbares Gebilde: Herr von Goethe lässt sich in der Darstellung der Farbenphänomene nach seiner Ansicht in keine scharfe Bestimmungen ein. Schon darum kann seine Lehre keinen Anspruch auf den Namen einer Theorie machen. Indessen könnte sie [Goethes Farbenlehre, M.I.] bey alle dem noch einer mathematischen Bearbeitung fähig sein, wenn nur die Phänomene und die Bedingungen derselben en gros richtig in ihr aufgefaßt wären.57
Dass Goethe bei der Darlegung seines eigenen Ansatzes auf die mathematische Darstellung verzichtet, irritiert offensichtlich. Die Grenze der wissenschaftlichen Redlichkeit ist für Pfaff jedoch dort überschritten, wo Goethe Newtons Opticks mit einer nicht mathematisierten (und vermeintlich nicht mathematisierbaren) Theorie zu widerlegen versucht: Wenn nun gleich Herr von Goethe in seinem sogenannten didactischen Theile um schärfere messende und berechnende Bestimmung der Phänomene unbekümmert ist, so kann er sich in seinem polemischen Theile dieser nicht ganz entziehen. Hier tritt er nämlich antagonistisch gegen Newtons Fundamentalversuche auf, […]. Hier wird gleichsam auf ihrem eigenen Grund und Boden gekämpft, und auf diesem muß sie sich [Goethes Farbenlehre, M.I.] behaupten können.58
|| 56 Holger Helbig: Naturgemäße Ordnung. S. 251. 57 Christoph H. Pfaff: Ueber Newton’s Farbentheorie, Herrn von Goethe’s Farbenlehre. S. 56f. Pfaff fährt an angegebener Stelle fort: „So war z.B. Franklins Theorie der elektrischen Erscheinungen gleichsam nur ein erstes aber richtiges Aperçu, und es bedurfte nur noch genauerer Versuche, und einer schärferen Bestimmung der Erscheinungen und der sie begleitenden Umstände, um einen Aepinus in Stand zu setzen, sie dem Calcul zu unterwerfen.“ 58 Christoph H. Pfaff: Ueber Newton’s Farbentheorie, Herrn von Goethe’s Farbenlehre. S. 57.
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Auch Brandes erhebt die symbolisierte Darstellung zum Prüfstein einer wissenschaftlichen Theorie, die den Anspruch erhebt, Newtons Optik zu widerlegen bzw. zu ersetzen: [N]ur diejenigen neuen Theorien können hoffen, einst die Stelle der Newton’schen einzunehmen, die eben so [sic!] die Grundlage zur Berechnung achromatischer Fernröhre abgeben können. Von Göthe’s Theorie wird auf diesen Ruhm [...] gewiß nie Anspruch machen, da sie nichts enthält, was je zu rechnenden, genauen Bestimmungen führen könnte […].59
Was die Bedeutung des mathematisch-operativen Symbolismus für die fachwissenschaftliche Darstellung der Physik betrifft, weicht Goethe – wie bei der Beurteilung der axiomatischen Darstellung – grundlegend von der Einschätzung der meisten Physiker seiner Zeit ab. In dem mit ‚Nachbarliche Verhältnisse‘ überschriebenen Abschnitt des didaktischen Teils legt er dar, dass die optischen Farbphänomene „doch eigentlich von jener [der Meßkunst, der Mathematik, M.I.] ganz abgesondert betrachtet werden“ könnten und sollten.60 Die Mathematik wird in der Farbenlehre zu einer nachgeordneten Hilfswissenschaft erklärt, um deren Anschlussmöglichkeiten an die eigene Lehre sich Goethe wenig kümmert. Er antizipiert zwar, dass das Fehlen einer symbolisierten Darstellung Physikern als Defizit seiner Lehre der Farben erscheinen könne, er zieht aber an keinem Punkt in Betracht, dass dieser Mangel den Status der Farbenlehre als wissenschaftlicher Text gefährden könnte.61 Doch in diesem Punkt irrt Goethe. Brandes, Muncke, Fries und etliche weitere Physiker erachten den mathematischen Symbolismus als „ganz unentbehrlich“62 für die Darstellung naturwissenschaftlicher Forschung. Nach ihrem Urteil war Goethe daher kein Wissenschaftler und die Farbenlehre kein wissenschaftlicher Text. Offenbar sahen sie sich aber mit Blick auf Goethes Renommee genötigt, dieses vernichtende Urteil abzumildern, etwa wenn Brandes anmerkt: „[…] man hatte Unrecht, von
|| 59 Heinrich W. Brandes: Farbe. In: Johann Samuel Traugott Gehler’s Physikalisches Wörterbuch. Bd. 4.1. Hrsg. von Heinrich W. Brandes u.a. Leipzig: Schwickert, 1827. S. 39–131; S. 68. 60 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 212f. 61 „Der Verfasser des Gegenwärtigen hat die Farbenlehre durchaus von der Mathematik entfernt zu halten gesucht […]. Aber so mag denn auch dieser Mangel zum Vorteil gereichen, indem es nunmehr des geistreichen Mathematikers Geschäft werden kann, selbst aufzusuchen, wo denn die Farbenlehre seiner Hülfe bedarf, und wie er zur Vollendung dieses Teils der Naturwissenschaft das Seinige beitragen kann.“ Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 212f. 62 Georg W. Muncke: Physik. In: Johann Samuel Traugott Gehler’s Physikalisches Wörterbuch. Bd. 7.1. Hrsg. von Heinrich W. Brandes u.a. Leipzig: Schwickert, 1833. S. 493–573; S. 513.
Kritikpunkt 4: Entliterarisierung und Entrhetorisierung | 429
einem großen Dichter, der die Farben mit dem Auge des Malers betrachtete, zu fordern, daß er mit mathematischer Schärfe den Weg des Lichtstrahls verfolgen solle.“63 Brandes Äußerung spiegelt den allgemeinen Gestus der zeitgenössischen Rezeption durch die Mehrheit der Physiker wider: Man sprach der Farbenlehre aufgrund mangelnder mathematischer Darstellung die Wissenschaftlichkeit ab, lobte dafür aber den „Geschmack und [das] Genie“64 des großen Dichters, die „schöne[] Darstellung“65, den ästhetischen Reiz des „Styls“ und der „Diction“66 sowie den unterhaltend-bildenden Charakter67 der Schrift. Durch diese und ähnliche Äußerungen erfolgte eine diskursive Versetzung: Die Farbenlehre wurde vor allem aufgrund der mangelnden mathematischen Darstellung behutsam, aber entschieden vom Diskurs der Physik ausgeschlossen und anschließend – motiviert durch Goethes Ruf sowie aufgrund des poetischen Stils – für ein Werk der Dichtung erklärt. So resümiert der Mathematiker Johann Friedrich Christian Werneburg (1777–1851) – einer der wenigen fachwissenschaftlichen Fürsprecher Goethes: „Zum höchsten Vorwurf rechnete man v. Göthes Farbenlehre die Vermissung der Meßkunst darin an, und vermaß sich daher dieses […] Werk unter die Werke der schönen Künste zu rechnen.“68 Neben der fehlenden mathematischen Notation ist noch ein weiterer Aspekt dafür ausschlaggebend, dass Goethes Kritiker die Farbenlehre als ästhetischliterarischen Text rezipieren. Es handelt sich um die Abweichung von jenen diskursiven Sprachpraktiken, die in Kapitel III.2.6 dieser Arbeit als Entliterarisierung und Entrhetorisierung beschrieben wurden.
2.4 Kritikpunkt 4: Entliterarisierung und Entrhetorisierung Pfaff beginnt seine Abhandlung Ueber Newton’s Farbentheorie, Herrn von Goethe’s Farbenlehre (1813) zunächst mit einem Lob der ästhetischen Form der Farbenlehre:
|| 63 Heinrich W. Brandes: Farbe. S. 49. 64 Jakob F. Fries: Zur Farbenlehre, von Goethe. S. 293. 65 Christoph H. Pfaff: Ueber Newton’s Farbentheorie, Herrn von Goethe’s Farbenlehre. S. 28. 66 Christoph H. Pfaff: Ueber Newton’s Farbentheorie, Herrn von Goethe’s Farbenlehre. S. VI. 67 Vgl. Jakob F. Fries: Zur Farbenlehre, von Goethe. S. 293. 68 Johann F.C. Werneburg: Merkwürdige Phänomene an und durch verschiedene Prismen. Zur richtigen Würdigung der Newton’schen und der von Göthe’schen Farbenlehre. Mit 8 Kupfertafeln. Nürnberg: Schrag, 1817. S. 3.
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Der erste Eindruck, den dieses Werk auf uns machte, war Bewunderung der Darstellungsart, durch welche ein Theil der Physik gleichsam in das Gebiet der schönen Künste versetzt, und ein blos wissenschaftlichen Discussionen gewidmetes Werk zu dem Range der Werke des guten Geschmacks erhoben wurde. Die Farben selbst, über die Herr von Goethe schrieb, schienen diesem Meister in der Kunst des Styls ihren Zauber geliehen zu haben, und das Colorit seiner Diction war der Wiederschein der glänzenden Phänomene, die nun auch dem Geiste nahe gebracht werden sollten. Aber wir überließen uns nicht lange diesem Zauber. Der Gegenstand war zu ernst, denn es galt die Wahrheit und die Wissenschaft.69
Deutlich erkennbar differenziert Pfaff zwischen einer ästhetischen und einer wissenschaftlichen Darstellungsweise. Hierbei wird der ästhetisch-literarische Stil der Farbenlehre nicht an und für sich kritisiert, als problematisch wird er jedoch dort empfunden, wo in diesem Stil eine wissenschaftliche Theorie bzw. der Angriff auf eine wissenschaftliche Theorie formuliert wird: Es läßt sich über die Farben, über ihre ästhetische Wirkung, über ihre Verwandtschaft mit andern Erscheinungen, über ihr Verhältnis gegen das Sinnorgan viel interessantes sagen, […], wer hat uns schönere Blumen auf diesen Feldern gepflückt, als der geniale Verfasser der Farbenlehre – wer liest nicht mit dem höchsten Genuß die erste und sechste Abtheilung seines Werks […] so wie so manche treffliche Bruchstücke des historischen Theils! Wie ganz anders muß aber unser Urtheil ausfallen, wenn von der wissenschaftlich strengen Darstellung der Phänomene die Rede ist […]! Welch ganz andere Empfindung muß in uns entstehen, wenn wir dem Herrn von Goethe in seiner Polemik gegen Newton folgen, wo wir ihn die Waffen der Sophistik, der Sarkasmen gebrauchen sehen, wo wir die leidenschaftlichste Erbitterung im Widerspiele mit dem ruhigen Ernste eines gründlichen Forschers erblicken, der nur seinen Gegenstand vor Augen hat, und weder rechts noch links sieht; wenn wir endlich auf Machtsprüche stoßen, für die wir vergebens Beweisgründe suchen.70
Beide Aspekte, sowohl die systematische Entwicklung einer neuen Theorie als auch Goethes Kritik an Newtons Opticks, genügen nach Pfaffs Einschätzung nicht wissenschaftlichen Standards. Sophismus, Sarkasmus und der Gebrauch von ‚Machtsprüchen‘ gelten ihm für eine physikalisch-wissenschaftliche Darstellung als unzulässige rhetorische Mittel. Tatsächlich wirft Goethe im polemischen Teil Newton vor, „das Unwahre wahr, das Wahre unwahr zu machen“71 und eine didaktisch irritierende Darstellung „advokatenmäßig [zu] mißbrauch[en]“, um „die Menschen zu verwirren“72. || 69 Christoph H. Pfaff: Ueber Newton’s Farbentheorie, Herrn von Goethe’s Farbenlehre. S. VIf. 70 Christoph H. Pfaff: Ueber Newton’s Farbentheorie, Herrn von Goethe’s Farbenlehre. S. Xf. 71 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Polemischer Teil. S. 8. 72 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Polemischer Teil. S. 2. und S. 185
Kritikpunkt 4: Entliterarisierung und Entrhetorisierung | 431
Er greift aber auch in den beiden anderen Teilen seinen Kontrahenten enthusiastisch mit dem spitzen Florett der Rhetorik an, bezichtigt ihn des „Sophismus“73, des Starrsinns74 und sogar der „Lüge“75. Neben Pfaff kritisiert auch Brandes Goethes Rhetorik: [M]an wird freilich die Härte, mit welcher er [Goethe] sich gegen Newton auslässt, nie ganz entschuldigen können, aber man wird diese Härte doch eher ihm, dem in einer neuen Ansicht Befangenen verzeihen, als dem Haufen der armseligen Nachbeter, die […] dem großen Meister zu gleichen meinen, wenn sie wenigstens die leichte Kunst, den Gegner, den sie nicht verstehen, mit Schmähungen zu verfolgen, ihm abgelernt haben.76
Brandes wirft Goethe und seinen ‚Nachbetern‘ vor, die rhetorische Strategie des argumentum ad hominem anzuwenden, also die rhetorische Diffamierung der Person mit dem Ziel, indirekt die Lehre zu diskreditieren. Ebenso konsterniert reagiert Étienne Louis Malus (1775–1812), ein französischer Rezensent der Farbenlehre, auf Goethes Newton-Polemik. Und auch er hinterfragt indirekt die Wissenschaftlichkeit des Textes und die Redlichkeit seines Autors: Man ist erstaunt Argumente dieser Art in einem physikalischen Werke zu finden; doch nur gar zu häufig wird man gewahr, daß der Verfasser [Goethe] nicht in der Gemüthsstimmung war, welche dem unbefangnen Wahrheitsforscher zukömmt.77
Noch heftiger als für die rhetorischen Ausfälle der Newtonkritik – d.h. die Verstöße gegen eine entrhetorisierte Darstellung – wird Goethe für seine Missachtung der definitorischen Explikation, der terminologischen Eindeutigkeit, Systematik und Konsistenz kritisiert – also für seine Verstöße gegen die Prinzipien einer entliterarisierten Darstellung. Zwei Beispiele sollen dies illustrieren: Goethe lehnt den Newton’schen Ausdruck ‚Lichtstrahl‘ ab und verwirft die ihm zugrunde liegende These, Farben seien verschiedene Teile des weißen Lichts. Stattdessen spricht Goethe von einer ‚Verrückung‘ des Lichts bzw. des ‚Bildes‘ durch mehr oder minder dichte bzw. trübe Mittel (z.B. Wasser oder Glas); hierbei unterscheidet er zwischen ‚Verrückung‘ einerseits und ‚Brechung‘ bzw. ‚Refraktion‘ andererseits. ‚Brechung‘ nennt Goethe die „Abweichung vom
|| 73 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Historischer Teil. S. 262. 74 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Historischer Teil. S. 269. 75 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Historischer Teil. S. 300. 76 Heinrich W. Brandes: Brechbarkeit. S. 1124. 77 Étienne L. Malus: Bericht eines französischen Physikers über Herrn von Göthe’s Werk: Zur Farbenlehre. In: Annalen der Physik 40.1 (1812). S. 103–115; S. 115.
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Gesetz des geradlinigen Sehens“78 und sie bezeichnet in der Regel die Wirkung eines Mittels auf das Gesehene (das ‚Bild‘). Das Resultat der Brechung ist die Verrückung eines Bildes zu einem ‚Nebenbild‘. Wo dies zu Farberscheinungen führe, so Goethe, liege dies nicht, wie Newton behaupte, daran, dass allein das Licht ‚aufgebrochen‘ werde, sondern an der „Bewegung des Dunklen gegen das Helle, des Hellen gegen das Dunkle“79. Es bedürfe daher zur Farbentstehung durch Verrückung immer einer Grenze zwischen Hellem und Dunklem. Diese Differenzierung zwischen ‚Verrückung‘ und ‚Brechung‘ ist zeitgenössischen Physikern nicht plausibel. Brandes beispielsweise hält sie für reine Wortspielerei: Das was Göthe sagt, ist […] nichts anders, als die Newton’sche stärkere Brechbarkeit. Denn wenn ein Nebenbild dem Hauptbilde bei der Verrückung vorauseilt, so ist es um mehr als dieses verrückt; da nun v. Göthe den Ausdruck Verrückung statt Brechung, Refraction, anwendet, so sage ich mit gleichem Rechte, das Nebenbild ist mehr gebrochen, als das Hauptbild.80
Goethes semantische Modifikation des Wortes ‚Brechung‘ ist kein Einzelfall, immer wieder variiert er die Bedeutung von terminologisierten Bezeichnungen.81 Problematisch an diesen und weiteren Modifikationen ist nach Helbig, dass „Übernahme und Umdefinierung […] stillschweigend [erfolgen]. Dies ist nach heutiger Ansicht ein Verstoß gegen die Regeln wissenschaftlicher Kommunikation.“82 Dadurch, dass Goethe etablierte Fachtermini abweichend gebraucht, provoziert er das Miss- oder Unverständnis zeitgenössischer Physiker. Auch die von Goethe selbst eingeführten Ausdrücke (z.B. ‚Urphänomen‘ oder ‚Polarität‘) werden nicht explizit definiert. Was Uwe Pörksen bereits für die Texte zur Metamorphose feststellt, gilt daher auch für die Farbenlehre: Goethe vermeide, so Pörksen, „den Aufbau einer streng begrifflichen Terminologie; der
|| 78 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 74 79 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 112. 80 Heinrich W. Brandes: Farbe. S. 71f. 81 Holger Helbig weist eine ähnliche Modifikation für den Terminus ‚Spektrum‘ nach: „Goethe hat den Begriff Spektrum seiner Konzeption eingegliedert. Die terminologische Verschiebung ist fein, aber folgenreich. Die konzeptuelle Verbindung zwischen den beiden Wortverwendungen bei Newton, daß die Farben des Spektrums (zumindest teilsweise [sic!]) in einem Bild, das als Spektrum bezeichnet wird, enthalten sein müssen, ist verloren gegangen. Von nun an kann auch ein schwarzer Fleck als Spektrum bezeichnet werden. Und es versteht sich von selbst, daß es sich dabei keinesfalls um das Ergebnis einer Refraktion handeln muß.“ Holger Helbig: Naturgemäße Ordnung. S. 454. 82 Holger Helbig: Naturgemäße Ordnung. S. 456.
Kritikpunkt 4: Entliterarisierung und Entrhetorisierung | 433
Umgang mit eindeutig definierten, kontextinvarianten, abstrakten Zeichen wäre bei ihm gar nicht denkbar.“83 Stattdessen wende Goethe, so Pörksen weiter, ein „Verfahren der fortgesetzten Einkreisung durch Synonyme“84 an, wodurch Begriffsinhalte bewusst offen und unbestimmt gehalten würden. Diese Verfahren mussten bei zeitgenössischen Physikern auf große Skepsis stoßen. Sie erschienen ihnen als „dunkle Rede“85 in „versteckten Ausdrücken“86, denen es an „Einfachheit und Schärfe“87 fehle. Ratlos fragen sie, warum Goethe „sich mit Ausdrücken begnügt, die einem mathematischen Physiker immer als höchst unbefriedigend erscheinen müssen“88. Als ebenso unwissenschaftlich gilt Goethes Kritikern die bildlich-metaphorische, teils anthropomorphe Sprache Goethes, wie das folgende Beispiel zeigt: Goethes zentrales Anliegen ist der Nachweis, dass Farbphänomene stets und ausschließlich im Zusammenwirken von Licht und Dunkelheit entstünden. Licht und Nicht-Licht bezeichnet Goethe nun als ‚Polarität‘, in der die Farben dadurch entstünden, dass sich das Gelbe bzw. Blaue jeweils zu dem einen oder anderen Pol hin ‚entscheide‘:
|| 83 Uwe Pörksen: „Alles ist Blatt“. Über Reichweite und Grenzen der naturwissenschaftlichen Sprache und Darstellungsmodelle Goethes“. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 11 (1988). S. 133–148; S. 144. 84 Uwe Pörksen: „Alles ist Blatt“. S. 140. 85 Heinrich W. Brandes: Farbe. S. 53. 86 Heinrich W. Brandes: Farbe. S. 71. 87 Pierre Prévost: Versuch, die verschiedene Brechbarkeit des farbigen Lichtes im Wasser unmittelbar sichtbar zu machen; in Beziehung auf Herrn von Göthe’s Farbenlehre. [Gekürzte Übers. des Vortrags: Quelques remarques d’optique (30.7.1812). In: Bibliothèque Britannique 53 (1813). S. 18–36]. In: Annalen der Physik 49.4 (1815). S. 393–404; S. 393. 88 Heinrich W. Brandes: Farbe. S. 68. Selbst in Lemmata wie dem von Brandes verfassten Lemma ‚Mathematik‘, in denen man keinen Bezug zu Goethes Farbenlehre erwarten würde, wird dieser implizit für den wissenschaftlichen Texten inadäquaten Sprachgebrauch getadelt: „Ein andres Beispiel [gelungener Mathematisierung, M.I.] kann Newton’s Theorie der Farbenzerstreuung geben. Er begnügte sich nicht, ohnehin zu sagen, es bilden sich bei der Brechung rothe und blaue Ränder, sondern er nahm die Hypothese einer für jeden Farbenstrahl der Größe nach verschiedenen, aber gleichen Gesetzen folgenden Brechung an, und wenn dann das Gesetz der Brechung, dass das Verhältniss für die Sinus des Einfallswinkels und des gebrochenen Winkels constant sey, für jeden einzelnen Strahl statt fand, so ließen sich hierauf genau zu berechnende Folgerungen gründen, an welche gar nicht zu denken wäre, wenn man etwa [hier spielt Brandes implizit auf Goethe an, M.I.] in unmathematischen Worten dem rothen Liechte eine mindere Geneigtheit, den geraden Weg zu verlassen, beigelegt hätte.“ Heinrich W. Brandes: Mathematik. In: Johann Samuel Traugott Gehler’s Physikalisches Wörterbuch. Bd. 6.2. Hrsg. von Heinrich W. Brandes u.a. Leipzig: Schwickert, 1836. S. 1473–1485; S. 1481.
434 | Die zeitgenössische Rezeption der Farbenlehre
Entstehen der Farbe und sich entscheiden sind eins. Wenn das Licht mit einer allgemeinen Gleichgültigkeit sich und die Gegenstände darstellt, und uns von einer bedeutungslosen Gegenwart gewiß macht, so zeigt sich die Farbe jederzeit spezifisch, charakteristisch, bedeutend. 696. Im Allgemeinen betrachtet entscheidet sie sich nach zwei Seiten. Sie stellt einen Gegensatz dar, den wir eine Polarität nennen und durch ein + und ein – recht gut bezeichnen können. Plus. Minus. Gelb. Blau. Wirkung. Beraubung. Licht. Schatten. Hell. Dunkel. Kraft. Schwäche. Wärme. Kälte. Nähe. Ferne. Abstoßen. Anziehen. Verwandtschaft Verwandtschaft mit Säuren. mit Alkalien.89
Das Konzept der Polarität entnimmt Goethe der wissenschaftlichen Rede über Phänomene des Magnetismus. Für ihn stellen die einzelnen ‚Polaritätsphänomene‘ wie Magnetismus, Elektrizität und Farbe eine Reihe an Besonderheiten dar, von denen er meint, ein Urphänomen der Polarität abstrahieren zu können. Die einzelnen Phänomene stehen auf einer vorsprachlichen Ebene in einem symbolischen Verhältnis zum Urphänomen. Sprachlich wiederum wird das Urphänomen durch die aufgelisteten Antonyme und die Zeichen + und – symbolisiert. Jede Opposition (z.B. Gelb–Blau) symbolisiert einen Teilaspekt des Urphänomens, so dass durch die Analogien zwischen den verschiedenen Oppositionen das Wesen des Urphänomens in Gänze aufscheint. Da er mit derselben Begrifflichkeit nun aber Phänomene der Optik beschreibt – wiederum ohne sie für den neuen Phänomenbereich explizit zu definieren – werden Ausdrücke wie z.B. ‚Plus‘ und ‚Minus‘ zu Metaphern. Johann T. Gehler lehnt aus diesem Grund den Terminus ‚Polarität‘ im Bereich der Optik ab: „[M]an reicht mit der bisherigen Theorie [Newtons] ohne Mühe aus, und findet in dem Gedanken, die Farbensäume als zwey entgegengesetzte Pole zu betrachten, eine bloße Metapher.“90
|| 89 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 205. 90 Johann S.T. Gehler: Physikalisches Wörterbuch. Bd. 5. S. 533.
Goethes Sprachskepsis | 435
Berücksichtigt man die in Kapitel II untersuchten sprachtheoretischen Positionen, so kann es nicht verwundern, dass aus fachwissenschaftlicher Perspektive betrachtet „Goethes Sprachgebrauch hochgradig unbefriedigend“91 erscheinen muss. Häufig wird hierfür die Erklärung angeführt, dies sei dem Umstand geschuldet, dass der Dichter Goethe keine Kenntnis der in der Physik geltenden sprachlichen Konventionen habe. Dass diese Erklärung zu kurz greift, wird deutlich, wenn man Goethes Sprachverständnis näher untersucht.
3 Goethes Sprachverständnis und Sprachkritik 3.1 Goethes Sprachskepsis In seiner Zeichenkonzeption beharrt Goethe ganz ähnlich wie Schiller (vgl. Kap. IV.1.4) auf dem „starre[n], von Kant nur noch akzentuierte[n] Festhalten am Primat der Ideen, den Inhalten des Bewußtseins vor aller Versprachlichung“92. Auch seinem Sprachverständnis liegt der „‚Werkzeug‘-Charakter der Sprache“93 zugrunde. In diesen Aspekten ist Goethe nah an den Traditionen der empiristischen und rationalistischen Sprachphilosophie. Allerdings fließen in viele seiner sprachtheoretische Äußerungen, wie Andrea Bartl rekonstruiert, bei genauer Betrachtung auch Aspekte von Rousseaus, Herders und Hamanns Sprachtheorie ein.94 Besonders in Texten, die Goethe ab den 1790er Jahren verfasst,
|| 91 Holger Helbig: Naturgemäße Ordnung. S. 443. 92 Erich Kleinschmidt: Klassik als ‚Sprachkrise‘. Probleme des Sprachbewußtseins um 1800. In: Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp. Stuttgart: Metzler, 1993. S. 25–41; S. 35f. 93 Erich Kleinschmidt: Klassik als ‚Sprachkrise‘. S. 30. 94 Vgl. für eine allgemeine Darstellung des Goethe’schen Sprachverständnisses: Andrea Bartl: Im Anfang war der Zweifel. Zur Sprachskepsis in der deutschen Literatur um 1800. Tübingen: Francke, 2005. S. 101–184. Bartl weist darauf hin, dass Goethe „sich zwar ‚mit dem Allgemeinen der Sprache‘ durchaus beschäftigt [hat], allerdings nie länger zusammenhängend oder systematisch. Es fehlt von Goethe ein umfassender Essay (oder auch eine wissenschaftliche Untersuchung) zu Wesen und Ursprung der Sprache und trotz persönlicher Kontakte zu Herder, den Gebrüdern Humboldt, Schlegel und Grimm hat Goethe nie detailliert an einer Debatte zu Herkommen und Entwicklungsstufen von Sprache teilgenommen.“ S. 129f. Siehe auch HansDetlef Bänsch: Semiologische Paradoxien in Goethes Sprach- und Dichtungsverständnis. Essen: Blaue Eule, 1986; Alan Corkhill: Zum Sprachdenken Goethes in beziehungsgeschichtlicher Hinsicht. In: Neophilologus 75.2 (1991). S. 239–251; Wolfgang Düsing: Herders Sprachtheorie und die Dichtung des jungen Goethe. In: Herder-Jahrbuch 5 (2000). S. 33–56; Josef Mattausch: Sprache. In: DOI 10.1515/9783110464252-028, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
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werden zudem feine Differenzen zu allen genannten Positionen erkennbar: Anders als Vertreter des Rationalismus „mißtraut [Goethe] grundsätzlich dem Medium Sprache“95. Gleichzeitig verwirft er die von Herder beschriebene Durchdringung von Denken und Sprechen: „Durch Worte sprechen wir weder die Gegenstände noch uns selbst völlig aus. Durch die Sprache entsteht gleichsam eine neue Welt, die aus Notwendigem und Zufälligem besteht.“96 Goethe wendet seine Sprachskepsis immer wieder in eine Kritik am gängigen Sprachgebrauch in den Wissenschaften. Konkret kritisiert er die definitorische Fixierung, mit welcher sprachliche Ausdrücke für die Formulierung abstrakter Gesetze tauglich gemacht würden. Die semantische Fixierung entkopple die Wörter von der Realität der Phänomene. Auf diese Weise schiebe sich allzu leicht das Bezeichnende vor das Bezeichnete und unterminiere die empirische Fundierung der Naturforschung: „Jedoch wie schwer ist es, das Zeichen nicht an die Stelle der Sache zu setzen, das Wesen immer lebendig vor sich zu haben und es nicht durch das Wort zu töten.“97 Der mathematisch-operative Symbolismus als tertiäres Repräsentationssystem potenziere dieses Problem zusätzlich, denn die Vorliebe für die Anwendung von Formeln macht nach und nach diese zur Hauptsache. Ein Geschäft das eigentlich nur zu Gunsten eines Zweckes geführt werden sollte, wird nun der Zweck selbst, und keine Art von Absicht wird erfüllt.98
Goethe verurteilt weder Begriffsdefinitionen noch den operativen Symbolismus der Mathematik an und für sich, er erkennt ihren Nutzen für spezielle, fest umgrenzte Bereiche der Naturforschung an, nämlich innerhalb formalisierter und symbolisierter Theorien wie beispielsweise der Mechanik. Doch sind sie für ihn theoriegetränkte Formen des Sprachgebrauchs. Sein Anliegen ist es daher, der Theoriebildung eine weitgehend neutrale Sprache der Phänomene vorzuschal-
|| Goethe-Handbuch Bd. 4. Personen, Sachen, Begriffe L–Z. Hrsg. von Hans-Dietrich Dahnke, Carina Janßen und Regine Otto. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2004. S. 1003–1005. 95 Erich Kleinschmidt: Klassik als ‚Sprachkrise‘. S. 35. 96 Johann W. von Goethe: Symbolik. In: derselbe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Leopoldina-Ausgabe. Abt. 1, Bd. 11. Hrsg. von Rupprecht Matthaei u.a. Weimar: Böhlau, 1970. S. 56– 57; S. 56. 97 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S.222. 98 Johann W. von Goethe: Über Mathematik und deren Missbrauch so wie das periodische Vorwalten einzelner wissenschaftlicher Zweige. In: derselbe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Leopoldina-Ausgabe. Abt. 1, Bd. 11. Hrsg. von Rupprecht Matthaei u.a. Weimar: Böhlau, 1970. S. 273–283; S. 277.
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ten, die er im Symbolabschnitt seiner Physikalischen Vorträge (1805–1806) so charakterisiert: Verba valent sicut nummi [Worte haben Wert wie Geld, M.I.]. Aber es ist ein Unterschied unter dem Gelde. Es gibt goldne, silberne, kupferne Münzen und auch Papiergeld. In den erstern ist mehr oder weniger Realität, in dem letzten nur Konvention. Im gemeinen Leben kommen wir mit der Sprache notdürftig fort, weil wir nur oberflächliche Verhältnisse bezeichnen. Sobald von tiefern Verhältnissen die Rede ist, tritt sogleich eine andre Sprache ein, die poetische. Indem wir von innern Verhältnissen der Natur sprechen wollen, bedürfen wir gar mancherlei Bezeichnungsweisen.99
Goethe bemüht in der zitierten Passage den traditionellen Geld- oder Rechenpfennig-Topos der Sprachtheorie und entwirft davon ausgehend ein DreiSchichten-Modell, das sich wie folgt darstellen lässt: – oberflächliche Verhältnisse – Alltagssprache – arbiträr-konventionelle Zeichen – tiefere Verhältnisse – poetische Sprache – Zeichen mit ‚mehr Realität‘ – innere Verhältnisse der Natur – mancherlei Bezeichnungsweisen Bei den ‚mancherlei Bezeichnungsweisen‘ handelt sich u.a. um drei Arten von Symbolen, in denen Bezeichnetes und Bezeichnendes erstens durch Identität, zweitens durch Analogie oder drittens durch „innere Verwandtschaft“100 verbunden sind.101 Die drei Symbolarten werden durch sprachliche Beispiele illustriert, die auf klangliche Aspekte abzielen (‚Knall‘, ‚knallen‘, ‚mein‘ – ‚dein‘ – ‚sein‘ usw.). Der Symbolabschnitt legt die Schlussfolgerung nahe, dass Goethe für die adäquate Darstellung von Naturphänomenen eine Sprache fordert, die sowohl konventionell-arbiträre als auch ikonische Zeichen umfasst. Dies impliziert auch eine Passage im Vorwort der Farbenlehre: Denn wie ein gutes Theaterstück eigentlich kaum zur Hälfte zu Papier gebracht werden kann, vielmehr der größere Teil desselben dem Glanz der Bühne, der Persönlichkeit des Schauspielers, der Kraft seiner Stimme, der Eigentümlichkeit seiner Bewegungen, ja dem Geiste und der guten Laune des Zuschauers anheim gegeben bleibt; so ist es noch viel mehr der Fall mit einem Buche, das von natürlichen Erscheinungen handelt. Wenn es ge-
|| 99 Johann W. von Goethe: Symbolik. S. 57. 100 Johann W. von Goethe: Symbolik. S. 57. 101 Eine vierte Art von Symbolen – „die von der Mathematik hergenommen sind“ – wird zwar gleichwertig aufgeführt, unterscheidet sich aber von den drei anderen, da sie zum einen „bloß auf Anschauungen ruht“ (d.h. arbiträr-konventionell ist) und da sie zum anderen „in der Sprache nicht[ ] vorkomm[t]“. Johann W. von Goethe: Symbolik. S. 57.
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nossen, wenn es genutzt werden soll, so muß dem Leser die Natur entweder wirklich oder in lebhafter Phantasie gegenwärtig sein.102
Der Verweis auf das Potenzial des theatralen Codes erinnert an Lessings Überlegungen zu natürlichen Zeichen (vgl. Kap. IV.1.3), durch die das Bezeichnete nicht nur repräsentiert, sondern zugleich präsent gemacht werde. „Eigentlich“, so fordert Goethe, müsse auch der Physiker die Naturphänomene dem Leser in dieser Art vor Augen stellen.103 Er ist sich jedoch bewusst, dass mit dem Theatervergleich lediglich das utopische Ideal einer naturwissenschaftlichen Sprache skizziert ist, da dem Naturforscher keine dem theatralen Zeichenrepertoire vergleichbaren Mittel zur Verfügung stehen; selbst grafische Illustrationen nennt er an zitierter Stelle „unzulängliche Surrogate“104. Ist aber das Ideal einer „Natursprache“105, in der Bezeichnendes und Bezeichnetes identisch sind, unerreichbar, so gilt es, sich diesem Ideal mit den im Symbolabschnitt genannten Prinzipien der Identität, Analogie und Ähnlichkeit anzunähern.106 Uwe Pörksen hat die Realisierung dieser sprachlichen Prinzipien in Goethes naturwissenschaftlichen Texten untersucht und charakterisiert sie wie folgt: Statt eines semantisch fixierten „prägnanten Wortes“ entfaltet Goethe „dynamische semantische Felder“ und etabliert ein „Verfahren der fortgesetzten Einkreisung durch Synonyme“; er transformiert das Modell der Begriffsdefinition in ein Denkmodell, „das geeignet ist, heterogene Kontinua, den Übergang des || 102 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 9. 103 Die angestrebte Verschmelzung von Bezeichnendem und Bezeichnetem findet bereits im vorsprachlichen Raum selbst statt und zwar im Urphänomen. Thomas Fries fasst Goethes Gedanken in diesem Aspekt treffend zusammen: „Der Gegensatz von Bedeutendem (das phänomenale Objekt) und von Bedeutetem (die Natur im Objekt) soll sich ja in den Urphänomenen aufheben: diese sind – unter den entsprechenden deduktiven und induktiven Voraussetzungen erkannt – Bedeutendes und Bedeutung zugleich; und damit sind in ihnen auch weitere Gegensätze wie vorher–nachher oder Ursache–Wirkung aufgehoben. Thomas Fries: Die Wirklichkeit der Literatur. Drei Versuche zur literarischen Sprachkritik. Tübingen: Niemeyer, 1975. S. 58f. 104 Im Vorwort funktionalisiert Goethe den Theatervergleich im Stil einer captatio benevolentiae zur Entschuldigung „jener Unvollständigkeit und Unvollkommenheit […], welche unser Werk mit allen Werken dieser Art gemein hat“ (er bezieht sich hier vor allem auf den Gebrauch illustrativer Tafeln). Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 9. 105 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 4. 106 Robert Stockhammer weist darauf hin, dass Goethes Analogiebegriff auf einem „absichtsvollen Mißverständnis“ beruht, da er sich u.a. auf die Annahme stützt, zwischen Erfahrung (Sinneswahrnehmung) und Idee (Begriff) könnte überhaupt ein Verhältnis der Analogie bestehen. Robert Stockhammer: Symbol. In: Goethe-Handbuch. Personen, Sachen, Begriffe L–Z. Hrsg. von Hans-Dietrich Dahnke u.a. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2004. S. 1030–1033; S. 1031.
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Einen in das Andere, beweglich zu halten“. Er wechselt zwischen verschiedenen derartigen Denkmodellen und erreicht so sprachliche Polyperspektivität; er nutzt die Mittel der „paradoxen Formel“, der Metapher, des Vergleichs, der Analogie und der Anthropomorphisierung.107 Durch diese Verfahren macht Goethe die „Sprache […] als Annäherungsinstrument sichtbar und relativiert“108 sie zugleich. Die besondere Relevanz der sprachlichen Darstellung betont Goethe in der Vorrede der Farbenlehre: Man hat ein Mehr und Weniger, ein Wirken ein Widerstreben, ein Tun ein Leiden, ein Vordringliches ein Zurückhaltendes, ein Heftiges ein Mäßigendes, ein Männliches ein Weibliches überall [in der Natur, M.I.] bemerkt und genannt; und so entsteht eine Sprache, eine Symbolik, die man auf ähnliche Fälle als Gleichnis, als nahverwandten Ausdruck, als unmittelbar passendes Wort anwenden und benutzen mag. Diese […] Natursprache auch auf die Farbenlehre anzuwenden, diese Sprache durch die Farbenlehre […] zu erweitern und so die Mitteilung höherer Anschauungen unter den Freunden der Natur zu erleichtern, war die Hauptabsicht des gegenwärtigen Werkes [Hervorh. M.I.].109
Nimmt man diese Programmatik ernst, so muss die Farbenlehre nicht nur als Beitrag zur physikalischen Forschung gelesen werden, sondern auch als paradigmatisch konzipiertes Beispiel einer sprachlichen Darstellungsform, deren Anwendung in allen Bereichen und Disziplinen der Naturforschung Goethe anvisiert. Die Relation von wissenschaftlichem Gehalt, Methode und sprachlicher Darstellung erhält hierdurch höchste Priorität, denn, so Goethe, „Gehalt ohne Methode führt zur Schwärmerei; Methode ohne Gehalt zum leeren Klüngeln; Stoff ohne Form zum beschwerlichen Wissen, Form ohne Stoff zu einem hohlen Wähnen.“110 Da Sprache für Goethe zuallererst „ein Werkzeug, zweckmäßig und willkürlich zu gebrauchen“111 ist, muss sich die Form sprachlicher Darstellung konsequent an dem jeweils zu erreichenden Zweck ausrichten. In Wissenschaft wie in Dichtung ergibt sich hierbei die Herausforderung, dass ihre höchsten Ziele dem menschlichen Forschen und Erkennen entzogen sind. Das Unerforschliche und das nicht Erkennbare sind zugleich auch das nicht Darstellbare.112
|| 107 Uwe Pörksen: „Alles ist Blatt“. S. 137–142. 108 Uwe Pörksen: „Alles ist Blatt“. S. 140. 109 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 4. 110 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Historischer Teil. S. 616. 111 Johann W. von Goethe: Ferneres über Mathematik und Mathematiker. In: derselbe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Leopoldina-Ausgabe. Abt. 1, Bd. 11. Hrsg. von Rupprecht Matthaei u.a. Weimar: Böhlau, 1970. S. 367–371; S. 368. 112 Vgl. Andrea Bartl: Im Anfang war der Zweifel. S. 136.
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3.2 Das Unerforschliche und das erkenntnisstiftende Symbol Ein in Goethes Texten häufig aufscheinender Aspekt ist jener Punkt, an dem der Mensch mit grundlegenden, elementaren Gegebenheiten konfrontiert ist, die seinem Verstehen nicht unmittelbar zugänglich sind oder sich diesem sogar entziehen. Der Mensch erscheint als Teil einer natürlich-materiellen und sozialkulturellen Wirklichkeit, mit deren Erscheinungen er zunächst alltäglichen Umgang pflegt. Häufig inszeniert Goethe vor diesem Hintergrund irritierende Momente, die diese Selbstverständlichkeit punktieren und zu einem grundlegenden Fragen, Staunen, Ergründen der Umstände führen. Das bereits erwähnte Prismenaperçu stellt einen solchen Moment im Bereich der Naturforschung dar. Aber auch Goethes literarische Texte halten derartige Momente bereit. In den Wahlverwandtschaften beispielsweise ist es die Anwesenheit des Hauptmanns, die bei Eduard und Charlotte (und nicht nur bei diesen) zu einer Thematisierung und einem Hinterfragen menschlicher Zweisamkeit führt. Hier wie dort lösen derartige Momente einen Prozess aus, in dessen Verlauf die Einsicht Gestalt gewinnt, dass dem, was zu erkennen gewünscht wird, nicht mit einfachen Kausalerklärungen beizukommen ist. Es ist, wie Eberhard Buchwald formuliert, die anthropologische Grunderfahrung, „an die Grenze des Unbegreiflichen gelangt zu sein, vor dem Geheimnis zu stehen […]“113. Goethes erkenntnistheoretischer Skeptizismus kann im Horizont der in Kapitel IV.2.2 erläuterten Aspekte des Unbegreiflichen und des Unfassbaren verortet werden. Er selbst formuliert diesen Aspekt in Versuch einer Witterungslehre (1825): Das Wahre mit dem Göttlichen identisch, läßt sich niemals von uns direkt erkennen, wir schauen es nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen; wir werden es gewahr als unbegreifliches Leben und können dem Wunsch nicht entsagen, es dennoch zu begreifen. Dieses gilt von allen Phänomenen der faßlichen Welt […].114
Das Wesen, die Natur und die Wahrheit der Dinge lassen sich nicht unmittelbar und begrifflich erkennen, auch wenn ein zutiefst menschliches Streben nach gerade dieser Erkenntnis verlangt115: „Sie [die Natur, M.I.] hat keine Sprache || 113 Eberhard Buchwald: Goethe über die Natur. In: Physik – Gleichung und Gleichnis. Vorträge und Aufsätze über Physik. Mosbach: Physik-Verlag, 1967. S. 9–43; S. 23. 114 Johann W. von Goethe: Versuch einer Witterungslehre 1825. In: derselbe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Leopoldina-Ausgabe. Abt. 1, Bd. 11. Hrsg. von Rupprecht Matthaei u.a. Weimar: Böhlau, 1970. S. 244–268; S. 244. 115 In diesem Sinne weist Goethe gleich zu Beginn der Farbenlehre die Frage danach zurück, was das Wesen des Lichts sei: „Ob man nicht, indem von den Farben gesprochen werden soll,
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noch Rede, aber sie schafft Zungen und Herzen durch die sie fühlt und spricht“116, heißt es im Fragment Die Natur. Und in der Farbenlehre schreibt Goethe: So spricht die Natur hinabwärts zu andern Sinnen, zu bekannten, verkannten, unbekannten Sinnen; so spricht sie mit sich selbst und zu uns durch tausend Erscheinungen. […]. So mannigfaltig, so verwickelt und unverständlich uns oft diese Sprache [der Natur, M.I.] erscheinen mag, so bleiben doch ihre Elemente immer dieselben.117
In beiden zitierten Passagen scheint auf, wie Goethe Naturerkenntnis konzipiert: Sie ist das Bemerken von Ähnlichkeiten und Analogien in einer Reihe von Erscheinungen, die im gegenseitigen Vergleich der Phänomene das erkennbar machen, was Goethe das Urphänomen nennt. Das Urphänomen und die beobachtbaren Phänomene verhalten sich auf einer vorsprachlichen Ebene zueinander wie Symbol und Symbolisiertes auf sprachlicher Ebene. Das Urphänomen bezeichnet nicht unmittelbar, sondern verweist nur mittelbar „im Abglanz, im Beispiel, Symbol“118, es ist ein Produkt des anthropomorphisierenden Blicks auf die Natur. Durch das erkenntnisstiftende Symbol vermag sich der Mensch, so Gerhard Neumann, die Welt zumindest zeichenhaft anzueignen: || vor allen Dingen des Lichtes zu erwähnen habe, ist eine ganz natürliche Frage, auf die wir jedoch nur kurz und aufrichtig erwidern: es scheine bedenklich […]. Denn eigentlich unternehmen wir umsonst, das Wesen eines Dinges auszudrücken. Wirkungen werden wir gewahr, und eine vollständige Geschichte dieser Wirkungen umfaßte wohl allenfalls das Wesen jenes Dinges. Vergebens bemühen wir uns, den Charakter eines Menschen zu schildern; man stelle dagegen seine Handlungen, seine Taten zusammen, und ein Bild des Charakters wird uns entgegentreten. Die Farben sind Taten des Lichts, Taten und Leiden. In diesem Sinne können wir von denselben Aufschlüsse über das Licht erwarten.“ Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 3. Mit seiner Beurteilung ist Goethe nahe an der Einschätzung zeitgenössischer Physiker. Das Wesen der Farbe ist demnach nichts, was durch eine abstrakte Idee, einen abstrakten Begriff oder einen sprachlichen Ausdruck bezeichnet werden könnte. So schreibt Gehler (Lemma „Farbe“): „Die Farbe, als Erscheinung betrachtet, ist bloß Sache des Gesichts, die sich durch Worte nicht erklären läßt; will man sie aber als Wirkung einer physischen Ursache definiren [sic!], so muß man schlechterdings eine oder die andere Hypothese einmischen. Man kann alsdann nicht sagen, was Farben sind, sondern nur, wofür sie dieser oder jener Naturforscher halte.“ Johann S.T. Gehler: Physikalisches Wörterbuch. Bd. 2. Leipzig: Schwickert, 1789. S. 131f. Vgl. zu diesem Aspekt auch: Holger Helbig: Naturgemäße Ordnung. S. 411f. 116 Johann W. von Goethe: Die Natur (aus dem Tiefurter Journal). In: derselbe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Leopoldina-Ausgabe. Abt. 1, Bd. 11. Hrsg. von Rupprecht Matthaei u.a. Weimar: Böhlau, 1970. S. 3–5; S. 4. 117 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 3f. 118 Johann W. von Goethe: Versuch einer Witterungslehre 1825. S. 244.
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Durch das „symbolische“ Verfahren läßt sich die Dialektik von Begreifbarem und Unbegreiflichem zwar nicht lösen, aber doch zulänglich darstellen. Das Symbol ist die höchste denkbare Metempsychose: In ihm verwandelt sich Ich in Welt, Welt in Ich – Erkenntnis wird auf entschiedene Weise als Kunst betrieben.119
In der Konfrontation mit dem Unbegreiflichen, dem Unfassbaren, dem Unerforschlichen berühren sich Dichtung und Wissenschaften, so dass Neumanns Formulierung auch in ihrer Umkehrung zutreffend ist: Kunst wird auf entschiedene Weise als Erkenntnis betrieben. Dichtung und Wissenschaften sind auf das symbolische Verfahren angewiesen, sowohl im Akt der vorsprachlichen ‚Phänomenaneignung‘ als auch in der sprachlichen Darstellung durch erkenntnisstiftende Symbole: „Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so, daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe.“120 In der Farbenlehre sind es die „Taten und Leiden“121 des Lichts, in den Wahlverwandtschaften die ‚Taten und Leiden‘ der Figuren, die dem Leser in Reihungen vor Augen stellen sollen, was nicht sprachlich benannt werden kann. Das erkenntnisstiftende Symbol verweist einerseits auf das Unerforschliche und hält zugleich dessen Unerforschlichkeit bewusst.122 Möglich wird das durch ein Wechselspiel von Besonderem und Allgemeinen: „Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeinere repräsentiert, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen.“123
4 Goethes Die Wahlverwandtschaften Ausgehend von Goethes Sprachverständnis und dem Konzept des erkenntnisstiftenden Symbols lassen sich Ähnlichkeiten und Parallelen zwischen Goethes wissenschaftlichen und literarischen Texten nachweisen. Im Folgenden soll
|| 119 Gerhard Neumann: Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe. München: Fink, 1976. S. 680. 120 Johann W. von Goethe: Maximen und Reflexionen. In: Werke. Hamburger Ausgabe in 14. Bänden. Bd. 12. Hrsg. von Erich Trunz. Hamburg: Wegner, 1956. S. 365–547; S. 470. 121 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 3. 122 An diesem Punkt sind, wie Robert Stockhammer konstatiert, „Affinitäten des G[oethe’]schen Symbolbegriffs zu Kantischen Theoremen“ erkennbar – besonders zu dessen Konzept der ästhetischen Idee. Robert Stockhammer: Symbol. S. 1031. 123 Johann W. von Goethe: Maximen und Reflexionen. S. 471. DOI 10.1515/9783110464252-029, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
Das Unerforschliche der ‚fast magischen Anziehungskraft‘ | 443
dies anhand der bereits untersuchten Farbenlehre und des etwa zeitgleich in den Jahren 1808/1809 entstandenen Romans Die Wahlverwandtschaften (1809) geschehen.
4.1 Das Unerforschliche der ‚fast magischen Anziehungskraft‘ Im thematischen Zentrum des Romans steht das weite Spektrum menschlicher Beziehungen, ihr Entstehen und Vergehen, ihr Wesen und ihre Ordnung im Kontext gesellschaftlicher Konventionen. Goethe spannt ein Beziehungsnetzwerk auf, „in dem freier Wille und naturgegebene Notwendigkeit ein Spannungsfeld bilden und einander durchkreuzen.“124 Die Figuren ringen in ganz unterschiedlichen Konstellationen darum, das Rätsel von Zuneigung, Liebe und Leidenschaft zu verstehen und zu erklären. Bereits in der Anlage des Romans werden in der Reihenbildung unterschiedlicher Paarkonstellationen Korrespondenzen zu den ‚stetigen Reihen‘ der Farbenlehre erkennbar. An die Freundschaft zwischen Eduard und dem Hauptmann reiht der Erzähler die fürsorgliche Zweisamkeit zwischen Charlotte und Ottilie. Es folgt die Annäherung zwischen Charlotte und dem Hauptmann, worauf Eduards Zuneigung zu Ottilien erwächst usw. Auffällig ist, dass die wechselnden Beziehungskonstellationen im Roman häufig als ‚Versuch‘ und ‚Experiment‘ bezeichnet werden.125 Intradiegetisch ist damit zunächst das Erproben einer bestimmten Gruppenzusammensetzung benannt. Dem Leser werden dadurch aber auch Versuche im Sinne eines Experiments vorgeführt.126 „Man kann den Text tatsächlich im Sinne einer naturwis-
|| 124 Uwe Pörksen: Goethes Kritik naturwissenschaftlicher Metaphorik und der Roman „Die Wahlverwandtschaften“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 25 (1981). S. 285–315; S. 306. 125 Charlotte weist beispielsweise Eduards Bitte, den Hauptmann aufzunehmen, mit den Worten ab: „Meine Einrichtung ist gemacht, dir in allem entgegenzukommen, nur für dich allein zu leben; laß uns wenigstens eine Zeitlang versuchen, inwiefern wir auf diese Weise miteinander ausreichen.“ Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. Hamburger Ausgabe in 14. Bänden. Bd. 6. Hrsg. von Erich Trutz u.a. Hamburg: Wegner, 1955. S. 246. Als Charlotte und Eduard sich schließlich darauf einigen, sowohl den Hauptmann als auch Ottilien zu sich zu holen, wird in den Worten des Ehemanns wiederum der Versuchscharakter erkennbar: „Nimm Ottilien, laß mir den Hauptmann, und in Gottes Namen sei der Versuch gemacht!“ (S. 252). 126 Vgl. Aura Heydenreich: Wahl, Verwandtschaft, Versuch(ung). Wissensordnungen und narrative Beobachtungsexperimente in Johann Wolfgang Goethes Wahlverwandtschaften. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 56 (2012). S. 126–154.
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senschaftlichen Versuchsanordnung als Beziehungsexperiment lesen“127, wie Christine Lubkoll feststellt. Erprobt werden hierbei nicht nur verschiedene Beziehungskonstellationen, sondern auch verschiedene Deutungsmodelle zwischenmenschlicher Anziehung und Bindung. Beispielsweise lobt Ottilie in einem Tagebucheintrag die „Freiwillige Abhängigkeit“ als den „schönste[n] Zustand“128 der Liebe und betont damit die Autonomie des liebenden Subjekts. Charlotte entwickelt dagegen eine deterministisch anmutende Deutung: „Indem uns das Leben fortzieht,“ versetzte sie, „glauben wir aus uns selbst zu handeln, unsre Tätigkeit, unsre Vergnügungen zu wählen, aber freilich, wenn wir es genau ansehen, so sind es nur die Plane, die Neigungen der Zeit, die wir mit auszuführen genötigt sind.“129
Die unterschiedlichen Beziehungen werden durch topographische Muster beschrieben (z.B. Nähe – Ferne oder ein besetzter Platz130), in Analogie zu materiellem Besitz gestellt131, mit einem Tanz zweier Partner132, mit Gärprozessen unterschiedlicher Ingredienzien133 und mit der Verbindung verschiedener Zutaten in einem Teig134 verglichen. „Am Ende hat“, so resümiert Lubkoll, „keine der erprobten Beziehungen Bestand.“135 Gleiches kann von der Vielzahl der im Roman erprobten Deutungsmodelle festgestellt werden. Die Protagonisten verkennen die wahren Motive ihrer Mitmenschen (z.B. Charlotte, wenn sie sich fragt: „[W]arum konnte ich den Eigensinn eines Mannes nicht von wahrer Liebe unterscheiden?“136), sie schätzen den eigenen Handlungsspielraum falsch ein (z.B. Eduard: „[W]ir sind Herr […], die Verhältnisse zu unserm Glücke zu leiten.“137) und sie stellen immer wieder fest, dass keines der Deutungsmodelle „ganz auf unsern Fall paßt“138. Das Verhältnis zwischen Experiment und Deu|| 127 Christine Lubkoll: Wahlverwandtschaft. Naturwissenschaft und Liebe in Goethes Eheroman. In: Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes „Wahlverwandtschaften“. Hrsg. von Gabriele Brandstetter. Freiburg: Rombach, 2003. S. 261–278; S. 263. 128 Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 397. 129 Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 417. 130 Vgl. Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 342, S. 360 und S. 389. 131 Vgl. Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 249 und S. 397. 132 Vgl. Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 289. 133 Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 290. 134 Vgl. Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 306. 135 Christine Lubkoll: Wahlverwandtschaft. S. 268. 136 Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 460. 137 Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 450f. 138 Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 276.
Das Unerforschliche der ‚fast magischen Anziehungskraft‘ | 445
tung ist kausal: Die Beziehungsexperimente scheitern, weil die handelnden Figuren kein Modell entwerfen können, dessen Verständnis sie zu einem souveränen Agieren befähigt. Liebe, Leidenschaft, zwischenmenschliche Anziehung und Abstoßung bleiben unerforschlich. Das meistdiskutierte Deutungsmodell, das im Roman etabliert und erprobt wird, stellt die titelgebende Metapher der chemischen Wahlverwandtschaft dar. Es handelt sich um ein Konzept, das die Reaktionen chemischer Stoffe durch deren Affinität untereinander zu erklären sucht. Die Bezüge zu den chemischen Arbeiten Étienne François Geoffroys (1672–1731), Pierre Joseph Macquers’ (1718– 1784), Tobern Bergmans (1735–1784) und Claude-Louis Berthollets (1748–1822) sind bereits hinreichend aufgezeigt worden.139
|| 139 Vgl. Jeremy D. Adler: Eine fast magische Anziehungskraft. Goethes „Wahlverwandtschaften“ und die Chemie seiner Zeit. München: Beck, 1987. S. 140–216; Christoph Hoffmann: „Zeitalter der Revolutionen“. Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘ im Fokus des chemischen Paradigmenwechsels. In: DVjs 67.3 (1993). S. 417–450. Auch Christine Lubkoll rekonstruiert die Geschichte des Konzepts und dessen Eingang in Goethes Roman: „Eine wichtige Grundlage der Diskussion bildeten minutiös ausgearbeitete Tabellen, die das Phänomen der chemischen Verwandtschaft typologisch veranschaulichten. Die erste Aufstellung von Etienne François Geoffroy erschien bereits 1718 und bestimmte alle weiteren Systematisierungsversuche des 18. Jahrhunderts. Goethe informierte sich u.a. in Pierre Joseph Macquers Dictionnaire de Chymie aus dem Jahre 1766, das den Forschungsstand übersichtlich zusammenfaßte und die Geoffroysche Tabelle übernahm; die Erörterung der Verwandtschaftstypen im vierten Kapitel des Romans und auch die gewählten Beispiele gehen – von einigen sinnfälligen Abweichungen abgesehen – auf Macquer zurück. Während Macquer den neutralen Begriff rapports verwendete, etablierte Tobern Bergman, der exponierteste Vertreter der Verwandtschaftstheorie, mit seiner Schrift De attractionibus electivis (1775) den Begriff der ‚Wahlverwandtschaft‘. Auf Bergman geht nicht nur der Titel des Goetheschen Romans, sondern auch das Buchstabenmodell ADBC für die Reaktion der ‚doppelten Wahlverwandtschaft‘ im vierten Kapitel zurück. Alle drei genannten Theoretiker waren Vertreter des qualitativ orientierten Forschungsansatzes. Dieser wurde jedoch gegen Ende des Jahrhunderts durch quantifizierende Untersuchungen widerlegt, welche die endgültige Wende der Chemie zur exakten Naturwissenschaft einläuteten. Zu nennen ist zunächst Antoine Laurent de Lavoisier, der mit seiner Oxidationstheorie (1789) die Kategorie des ‚spezifischen Gewichts‘ in die Debatte einführte; vor allem dann aber Louis Berthollet, der mit seinen Recherches sur le lois de l’affinité aus dem Jahre 1801 die Theorie der chemischen Verwandtschaft auf völlig neue Füße stellte.“ Christine Lubkoll: Wahlverwandtschaft. S. 264f.
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4.2 Die Wahlverwandtschaft als erkenntnisstiftendes Symbol Entfaltet wird der Bezug zu dem chemischen Modell der Wahlverwandtschaft im vierten Kapitel des ersten Teils im sogenannten ‚chemischen Gespräch‘, in dem Eduard und der Hauptmann Charlotte das Konzept erläutern. Bereits Christoph Hoffmann hat auf die Parallelität zwischen der inhaltlichen Struktur des ‚chemischen Gesprächs‘ und der wissenschaftlichen Darstellung in Johann Friedrich August Göttlings Handbuch der theoretischen und praktischen Chemie (1798) hingewiesen.140 Den von Hoffmann beschriebenen Aufbau weist bemerkenswerterweise auch der entsprechende Eintrag in Gehlers Wörterbuch der Physik (Bd. 4, 1791) auf141: 1. Eigenbezug von Körpern („Kohäsion“)142 2. „Mischungsverwandtschaft“ (Gehler) bzw. „Verbindungsverwandtschaft“ (Göttling), also die Verwandtschaft zwischen unterschiedlichen, aber affinen Substanzen (wie z.B. „Wasser mit Wein vermischt“)143 3. „Vermittelnde Verwandtschaft“, also die über ein Zwischenmittel hergestellte Verwandtschaft zweier nicht affiner Körper144
|| 140 „Neben den biographischen Fakten spricht für Göttlings Handbuch als Hauptquelle des ‚chemischen Gesprächs‘ vor allem die Tatsache, daß Aufbau und Beispiele des entsprechenden Abschnitts weitgehend identisch im Vortrag des Hauptmanns wiederkehren. Zuerst führt er den Begriff des Eigenbezugs der Körper – ihrer Kohäsion – ein, daran schließen die Beispiele für Verbindungsverwandtschaften an, die auch bei Göttling genannt werden. Darauf folgt die Diskussion der Wahlverwandtschaften.“ Christoph Hoffmann: „Zeitalter der Revolutionen“. S. 424. Vgl. Johann F.A. Göttling: Handbuch der theoretischen und praktischen Chemie. Erster systematischer Theil. Jena: Akademische Buchhandlung, 1798. S. 62–73. 141 Dass Goethe den entsprechenden Eintrag kannte, ist naheliegend, da er Gehlers Physikalisches Wörterbuch (1. Ausgabe) mehrfach in der Farbenlehre zitiert. 142 Vgl. hierzu: Johann S.T. Gehler: Physikalisches Wörterbuch. Bd. 4. Leipzig: Schwickert, 1791. S. 473–482; S. 474; Johann F.A. Göttling: Handbuch der theoretischen und praktischen Chemie. Erster systematischer Theil. S. 64; Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 271f. Anders als Göttling gebraucht Gehler die Bezeichnung „mechanische Verwandtschaft, Aggregatsverwandschaft [sic!] (affinitas aggregatorum)“ und führt das ebenfalls im Roman verwendete Tropfenbeispiel an. 143 Johann S.T. Gehler: Physikalisches Wörterbuch. Bd. 4. S. 474 [parallele Stellen in: Johann F.A. Göttling: Handbuch der theoretischen und praktischen Chemie. Erster systematischer Theil. S. 66; Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 272.]. 144 Vgl. Johann S.T. Gehler: Physikalisches Wörterbuch. Bd. 4. S. 475; Johann F.A. Göttling: Handbuch der theoretischen und praktischen Chemie. Erster systematischer Theil. S. 65; Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 272.
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4. „Wahlverwandtschaften“, bei denen das Hinzufügen einer bzw. zweier Substanzen eine bestehende Verbindung trennt, wobei differenziert wird zwischen der „einfachen Wahlverwandtschaft“ (mit drei Bestandteilen – eine Trennung und eine neue Bindung) und der „doppelten Wahlverwandtschaft“ (mit vier Bestandteilen, d.h. zwei Trennungen und zwei neue Bindungen)145 Goethe weist in der Selbstanzeige des Romans darauf hin, dass die Bezeichnung ‚Wahlverwandtschaft‘ eine doppelte Übertragung erfahre: Zunächst sei sie in der Chemie ein „ethische[s] Gleichniss[ ]“, das Erscheinungen der Natur mit menschlichen Verhältnissen in Analogie bringe. In der Romanhandlung werde sie dann als „chemische Gleichnisrede“ wiederum auf menschliche Beziehungen rückübertragen.146 Bisweilen wurde daher das chemische Konzept der Wahlverwandtschaft (nach Geoffroy, Macquer und Bergman) häufig als das erkenntnisstiftende Symbol des Romans aufgefasst. Jüngere Forschungsbeiträge zu den Wahlverwandtschaften haben diese Lesart jedoch plausibel widerlegt.147 Die intradiegetisch u.a. von Eduard vorgenommene Rückübertragung erweist sich aus mehreren Gründen als nicht tragfähiges Deutungsmodell, wodurch auch extradiegetisch die Funktion als erkenntnisstiftendes Symbol unterwandert wird: Erstens finden sich in der Figurenrede des Romans Signale, die eine unreflektierte Rückführung der Metapher ‚Wahlverwandtschaft‘ problematisieren. Bereits zu Beginn des ‚chemischen Gesprächs‘ entgegnet Eduard Charlotte, die bei dem Stichwort ‚Verwandtschaft‘ assoziativ an ihre Vettern denkt: „Es ist eine Gleichnisrede, die dich verführt und verwirrt hat“; später merkt wiederum Charlotte an, dass der Vergleich „nicht ganz auf unseren Fall paßt“.148 Die ver-
|| 145 Vgl. Johann S.T. Gehler: Physikalisches Wörterbuch. Bd. 4. S. 467f.; Johann F.A. Göttling: Handbuch der theoretischen und praktischen Chemie. Erster systematischer Theil. S. 68-72; Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 273f. 146 Johann W. von Goethe: Selbstanzeige im Morgenblatt für gebildete Stände vom 4. September 1809. In: Werke. Hamburger Ausgabe in 14. Bänden. Bd. 6. Hrsg. von Erich Trunz. Hamburg: Wegner, 1955. S. 621. 147 Vgl. hierzu: Jeremy D. Adler: Eine fast magische Anziehungskraft. S. 140–216; Christoph Hoffmann: „Zeitalter der Revolutionen“. S. 417–450 und Christine Lubkoll: Wahlverwandtschaft. S. 261f. 148 Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 270 und S. 276. Wenn im Gesprächsverlauf eine Parallelisierung zwischen dem chemischen Konzept und der konkreten Konstellation (Charlotte, Eduard, Hauptmann – später auch Ottilie) vollzogen wird, begreifen die Gesprächspartner das meist auch als rhetorische Strategie ihres Gegenübers. Eduard sieht in
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wendete Übertragung der doppelten Wahlverwandtschaft und die symbolisierte Darstellung durch Eduard (A–B + C–D) ist, wie Christoph Hoffmann unter Verweis auf Göttlings Notation zeigt, tatsächlich ‚unpassend‘.149 Zweitens bleibt im ‚chemischen Gespräch‘ eine Form der chemischen Verwandtschaft, nämlich die ‚verwickelte Verwandtschaft‘, unerwähnt. Nach Gehler werden damit die Fälle bezeichnet, in denen „sich mit zween schon verbundenen ungleichartigen Stoffen noch ein dritter zu einem homogenen Ganzen vereiniget, welches nur geschehen kann, wenn alle drey fast gleich stark mit einander verwandt sind, wie z.B. Gold, Silber und Kupfer.“150 Übertragen auf die Figuren des Romans ergäbe sich hieraus eine moralisch fragwürdige Dreierkonstellation. Die Möglichkeit einer ménage à trois, wie sie Christian F. Gellert in Das Leben der schwedischen Gräfin von G… (1747/1748) darstellt, wird im Roman jedoch nicht einmal in Betracht gezogen.151 Dass Goethe diese durch das chemische Modell eröffnete Analogie nicht entfaltet, kann als schwaches Indiz || Charlottes Analogiebildung eine „Schalkheit“, mit der sie ihn ermahnen wolle, sich nicht ihrer „anmutigen Gesellschaft“ zu entziehen (S. 274f.). Er selbst nutzt das Beispiel der doppelten Wahlverwandtschaft, um „eine Lehre zum unmittelbaren Gebrauch“ (S. 276) für Charlotte abzuleiten, also Ottilie vom Internat zurück ins Schloss zu holen. 149 Besonders deutlich wird dies an der vom Hauptmann verwendeten Buchstaben-Notation (die auf Bergman zurückgeht). Bedeutsam ist hierbei die Abweichung von Göttlings Darstellung: Die Namen werden den Buchstaben (A–B + C–D) so zugeordnet, dass das Reaktionsergebnis (im Roman A–D + B–C statt wie bei Göttling: A–C + B–D) die gleichgeschlechtlich-affine Paarung Charlotte(A)–Ottilie(D) und Eduard(B)–Hauptmann(C) legitimiert und gleichzeitig den doppelten Ehebruch verschleiert. Die Verschleierung kann allerdings, wie Hoffmann festhält, „die Abweichung nicht völlig erklären“. Christoph Hoffmann: „Zeitalter der Revolutionen“. S. 426. Für ihn stellt die „Differenz zur Norm [die gängige Form der symbolischen Darstellung, M.I.] […] die Gültigkeit der Gesetze der Wahlverwandtschaft für die Verhältnisse der Personen auf jeden Fall von Anfang an in Frage“ (S. 426). 150 Johann S.T. Gehler: Physikalisches Wörterbuch. Bd. 4. S. 475. Göttling zählt diese Form chemischer Verwandtschaften zu den sogenannten ‚Verbindungsverwandtschaften‘ und führt sie nicht gesondert auf. 151 Das von Gehler genannte Kriterium einer dreifachen, fast gleich starken ‚Affinität‘ in der Trias Eduard–Charlotte–Hauptmann wäre gegeben. Das Aussparen der ‚verwickelten Verwandtschaft‘ im Roman erklärt sich, wenn man Lubkolls Rekonstruktion der Typologie zeitgenössischer Liebesdiskurse in den Wahlverwandtschaften folgt (vgl. Christine Lubkoll: Wahlverwandtschaft. S. 269–278). Sie zeigt auf, wie sich die unterschiedlichen Liebesdiskurse im elften Kapitel des zweiten Teils überlagern und hierin mit dem vierten Kapitel des ersten Teils in Korrespondenz stehen: „Fünf Beziehungstypen überlagern sich also in der nächtlichen Szene: der außereheliche Code des amour passion; das asexuelle Freundschaftsmodell; die bürgerliche Institution der Ehe; die romantische Liebe; und schließlich der Mechanismus der Idealisierung, der die Paradoxie der abwesenden Anwesenheit fortschreibt.“ (S. 277). Eine ménage à trois kann in dieser Typologie keinen Platz finden.
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dafür gewertet werden, dass das Konzept ‚Wahlverwandtschaft‘, wie es von Eduard bzw. dem Hauptmann dargestellt wird, nicht als extradiegetisches, erkenntnisstiftendes Symbol für den gesamten Roman konzipiert ist. Drittens hatte die Bezeichnung ‚Verwandtschaft‘ zum Zeitpunkt der Romanveröffentlichung in der traditionellen Affinitätslehre bereits ihren metaphorischen Gehalt verloren. Es handelte sich, anders als Goethe dies in der Selbstanzeige suggeriert, nicht mehr um ein ‚ethisches Gleichnis‘, sondern um einen definierten Terminus, wie Gehler bereits im Wörterbuch 1791 darlegt.152 Schlechterdings aber darf man in diesen Worten nicht mehr, als Benennungen erwiesener Phänomene, suchen. Die Ursache, warum der Eßig das Laugensalz ergreift, und die Kalkerde losläßt, so wie der Mechanismus, durch welchen diese Veränderungen bewirkt werden, bleiben noch immer unerforschliche Räthsel, […]. Dieser Ausdruck sagt doch im Grunde nichts mehr, als daß es geschehe. Er bringt nur das Phänomen in Verbindung mit andern durch ähnliche Erfahrungen bewiesenen, und giebt also höchstens eine Erklärung aus den Gesetzen, nicht aus den Ursachen […] und mehr, als dieses, in dem Begriffe von Verwandschaften [sic!] suchen, heißt sich mit einem leeren Wahne täuschen.153
Gehler warnt also explizit davor, aus dem Terminus unter Bezug auf seine ursprüngliche Metaphorik eine wissenschaftliche Erklärung des Phänomens abzuleiten. Viertens war die traditionelle Form des chemischen Verwandtschaftsmodells, wie sie der Hauptmann darlegt, bei Erscheinen der Wahlverwandtschaften eine „bereits überholte[] Typologie“154. Nicht nur Charlotte, auch der Leser des Romans wird darauf hingewiesen, dass die im ‚chemischen Gespräch‘ gegebene Darstellung nicht mehr zeitgemäß sein könnte.155 Der informierte Leser wusste um die revolutionäre Neuformulierung der Affinitätslehre in Berthollets Recherches sur le lois de l’affinité (1802). Ihm zufolge ist, laut Hoffmanns Darstellung, [n]icht die spezifische Attraktion sondern die ‚chemische Masse‘ – das Produkt von Affinität und eingesetzter Quantität – […] das entscheidende Kriterium für die Bindefähigkeit eines Stoffes. Nach dieser These kommt es bei Reaktionen zwischen drei und mehr Stoffen nicht zu einer vollständigen Vereinigung zwischen zwei Stoffen unter Ausschluß der übri-
|| 152 Und dass Goethe mit dieser Tatsache vertraut war, zeigt Hoffmann auf: Christoph Hoffmann: „Zeitalter der Revolutionen“. S. 420–434. 153 Johann S.T. Gehler: Physikalisches Wörterbuch. Bd. 4. S. 474. 154 Christine Lubkoll: Wahlverwandtschaft. S. 262. 155 Der Hauptmann gibt zu bedenken, dass seine Darstellung auf dem beruht, „‚[…] wie ich es etwa vor zehn Jahren gelernt, wie ich es gelesen habe. Ob man in der wissenschaftlichen Welt noch so darüber denkt, ob es zu den neuern Lehren paßt, wüßte ich nicht zu sagen.“ Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 270.
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gen – der Sachverhalt, den der Begriff ‚Wahlverwandtschaft‘ bezeichnet –, sondern die Stoffe teilen ihre Bindekraft gegeneinander nach Maßgabe ihrer chemischen Masse auf.156
Da durch Berthollets Modell quantitative Aspekte Eingang in die Affinitätslehre fanden, ist eine Rückübertragung in der Form, wie sie im ‚chemischen Gespräch‘ vorgenommen wird, nicht mehr möglich. Denn auch Berthollet weist auf die Gefahr hin, den chemischen Terminus metaphorisch zu gebrauchen: Der Ausdruck Wahlverwandtschaft selbst verleitet nothwendig zu einer falschen Vorstellung: denn er setzt eine vollständige Vereinigung eines Stoffes mit einem zweiten, in der Gegenwart eines dritten, voraus: da doch unter diesen Umständen nichts als eine mancherlei Bedingungen untergeordnete Theilung seiner Wirksamkeit erfolgen kann.157
Berücksichtigt man diese vier Aspekte, wird ersichtlich, dass die Bezeichnung ‚Wahlverwandtschaft‘ in ihrem metaphorischen Gebrauch ausschließlich von einzelnen Figuren und nur intradiegetisch als erkenntnisstiftendes Symbol erprobt wird. Nicht zuletzt die an das ‚chemische Gespräch‘ anschließende Handlung führt dem Leser vor Augen, dass Eduards Rückübertragung und damit die Vorstellung einer wechselnden ‚vollständigen Vereinigung‘ diese Prüfung nicht bestehen kann: „Die Vorstellungen, die im ‚chemischen Gespräch‘ entwickelt werden, lassen sich mit der ‚Wirklichkeit‘ des Textes nicht einmal mehr ansatzweise in Übereinstimmung bringen“158, resümiert daher Hoffmann. Doch mit der intradiegetischen Erprobung ist Goethes Verwendung der Bezeichnung ‚Wahlverwandtschaft‘ im Roman nicht erschöpfend beschrieben. Jeremy Adler159 und Hoffmann zeigen, dass der chemische Terminus jenseits des verloschenen metaphorischen Gehalts auf der Ebene des discours seine Wirksamkeit entfaltet, und zwar in Form des Berthollet’schen Neuansatzes der Affinitätslehre: Dafür fließt an verschiedenen Stellen die Wendung, die Berthollet dem Konzept der Affinität gab, in die Konzeption des Romans ein. Das Zeitalter der ‚Quantitäten‘, das in der Chemie vor Berthollet Antoine-Laurent Lavoisier mit seiner Interpretation des Oxydationsvorgangs eingeläutet hatte, begann nun auch in der Historie der Menschen.160
|| 156 Christoph Hoffmann: „Zeitalter der Revolutionen“. S. 418. 157 Claude L. Berthollet: Untersuchungen über die Gesetze der Verwandtschaft [Recherches sur le lois de l’affinité, 1801]. Übers. von Ernst G. Fischer, hrsg. von Wilhelm Ostwald. Leipzig: Engelmann, 1896. S. 71. Vgl. hierzu auch Christoph Hoffmann: „Zeitalter der Revolutionen“. S. 423. 158 Christoph Hoffmann: „Zeitalter der Revolutionen“. S. 433. 159 Vgl. Jeremy D. Adler: Eine fast magische Anziehungskraft. S. 203. 160 Christoph Hoffmann: „Zeitalter der Revolutionen“. S. 433f.
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Statt einer vollständigen Vereinigung der Figurenpaare zeigt die Romanhandlung, um Berthollets Worte zu zitieren, „eine mancherlei Bedingungen untergeordnete Theilung […] [der] Wirksamkeit“161 von Zuneigung, Freundschaft und Eros. Auf der Ebene des discours wird nicht der Versuch einer Rück-Übertragung vorgenommen, sondern Berthollets neues Konzept strukturbildend adaptiert. Es ist gerade die Differenz zwischen der überholten chemischen Metapher und dem neu definierten Terminus, die eine Spannung zwischen histoire und discours erzeugt Und in dieser Differenz wird der Ausdruck ‚Wahlverwandtschaften‘ nun doch auf eine subtile Weise als erkenntnisstiftendes Symbol erkennbar: Durch den Roman wird, wie Lubkoll feststellt, ein fundamentaler „Paradigmenwechsel sichtbar gemacht und bewußt reflektiert“162, der sowohl die Chemie als auch den Liebesdiskurs um 1800 umfasst. Weder ist das chemische Konzept hierbei ein erkenntnisstiftendes Symbol für menschliche Verhältnisse noch die menschliche Verwandtschaft ein erkenntnisstiftendes Symbol in der Chemie. Vielmehr symbolisieren die zeittypischen Umbrüche in beiden Diskursen einen allgemeinen und viel weitreichenderen Paradigmenwechsel der Sattelzeit. Der Ausdruck ‚Wahlverwandtschaft‘ kann, da er im Roman mit der Umbruchssemantik beider Diskurse aufgeladen wird, als „wahre Symbolik“ fungieren, die im „Besondere[n] das Allgemeinere“ einer von Revolutionen gezeichneten Periode „repräsentiert“.163 Dass diese Symbolik bisweilen übersehen wurde, ist dem Umstand geschuldet, dass Goethe sie nicht expliziert. Stattdessen setzt er wie in der Farbenlehre auf die „lebendig augenblickliche Offenbarung“164 des erkenntnisstiftenden Symbols. An diesem Punkt wird eine Schwachstelle in Goethes Symbolkonzept deutlich, auf die auch Robert Stockhammer hinweist. Goethe konzipiert das erkenntnisstiftende Symbol als ahistorischen Repräsentanten und verstellt so „den Blick für Konventionen, die nur deshalb keine mehr zu sein scheinen, weil sie auf eine lange Tradition ihres Gebrauchs zurückgehen“165. Das erkenntnisstiftende Symbol, wie Goethe es konzipiert, muss jedoch dann seine erkenntnisstiftende Funktion verlieren, wenn der Bedeutungshorizont, den es evoziert, einem Wandel unterworfen ist und damit die nur impliziten Analogien eines sprachlichen Ausdrucks durch eine neue Semantik überlagert werden. Der Ausdruck ‚Wahlverwandtschaft‘ verlor seine offenbarende Kraft, als die chemische
|| 161 Claude L. Berthollet: Untersuchungen über die Gesetze der Verwandtschaft. S. 71. 162 Christine Lubkoll: Wahlverwandtschaft. S. 262. 163 Johann W. von Goethe: Maximen und Reflexionen. S. 471. 164 Johann W. von Goethe: Maximen und Reflexionen. S. 471. 165 Robert Stockhammer: Symbol. S. 1031.
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Affinitätslehre (auch in Berthollets modifizierter Form) durch John Daltons (1766–1844) neues Atommodell in den 1810er Jahren in Gänze verworfen wurde.166 Ein Brief aus dem Jahr 1826 zeugt davon, dass Goethe dieser Zusammenhang schmerzlich bewusst geworden sein muss: „Jahrzehnte haben wir uns mit Berthollet in den Wahlverwandtschaften abgemüdet, die man jetzt so wenig als meinen Roman will gelten lassen.“167 Während das überholte chemische Konzept durch die explizite Erwähnung im ‚chemischen Gespräch‘ (also auf der Ebene der histoire) bis heute erkennbar bleibt, verblasste durch Daltons Neukonzeption der nur implizite Bezug zu Berthollets älterem Modell auf der Ebene des discours sehr schnell. Mit ihm verschwand auch die Spannung zwischen histoire und discours – die ‚Wahlverwandtschaft‘ als Symbol eines allgemeinen Paradigmenwechsels büßte ihre ‚offenbarende Kraft‘ ein.168 Ein ähnliches Schicksal ereilten das in der Farbenlehre gebrauchte Symbol der Polarität und die Rede von der ‚Entscheidung‘ des Lichts (vgl. Kap. V.2.4) durch die Entdeckung ultravioletter bzw. infraroter Strahlung. Friedrich Wilhelm Herschel (1738–1822) bemerkte 1800, dass jenseits des roten Lichts und für das Auge unsichtbar die höchste Temperatur eines Spektrums gemessen wird. Johann Wilhelm Ritter folgerte aus Herschels Entdeckung, dass auch jenseits des violetten Lichts bis dahin noch nicht nachgewiesene Anteile des Lichts || 166 Bereits in der Auseinandersetzung über die Natur der Affinität zwischen Berthollet und Joseph Louis Proust (1754–1826) stellte sich die Frage, was eine chemische Verbindung überhaupt sei. Eine Frage, die sich, wie Ursula Schmidt unter Bezug auf Thomas S. Kuhn konstatiert, nicht alleine mit Hilfe der Affinitätstheorie beantworten ließ: „Fraglich ist […], was als Verbindung überhaupt gelten soll. Darauf gibt aber die Affinitätstheorie keine richtige Antwort. In ihrem Rahmen werden Verbindungen darüber identifiziert, daß die miteinander zusammengebrachten Stoffe so verbunden sind, daß ein Betrachter die verschiedenen Bestandteile nicht unterscheiden kann und sie sich nicht durch physikalische Operationen trennen lassen.“ Ursula Schmidt: Der Verbindungsbegriff im Übergang von der Affinitätstheorie zur Atomtheorie Daltons. In: Die Sprache der Chemie. 2. Erlenmeyer-Kolloquium zur Philosophie der Chemie. Hrsg. von Peter Janich und Nikolaos Psarros. Würzburg: K&N, 1996. S. 65–76; S. 76. Schmidt fährt fort: „Erst Dalton vollzieht den entscheidenden Schritt, der das Problem zum Verschwinden bringt: Er kann die Kontroverse deshalb für sich […] entscheiden, weil er von vornherein anders damit umgeht, als Berthollet und Proust es tun. Was sie noch als eine Frage ansahen, über die Beobachtung und Erfahrung zu entscheiden hätten, behandelt er als ein Konstitutionsproblem. […]. Dalton […] führt eine neue Bestimmung des Verbindungsbegriffs ein“ (S. 68). 167 Goethe an Kaspar von Sternberg, 19. September 1826. In: „Die Wahlverwandtschaften“. Eine Dokumentation der Wirkung von Goethes Roman 1808–1832. Hrsg. von Heinz Härtl. Berlin: Akademie, 1983. S. 323. 168 Die Funktion des Konzeptes lässt sich, wie Lubkolls Untersuchung belegt, diskursgeschichtlich rekonstruieren, sie ist jedoch nicht mehr unmittelbar, wie dies Goethe von einem erkenntnisstiftenden Symbol fordert, offenbar und ersichtlich.
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vorhanden sein mussten und wies diese 1802 mittels Silberchloridpapier nach. Zwar beruht, wie Helbig betont, auch Ritters Suche auf dem Prinzip der Symmetrie169, doch kann weder die ultraviolette noch die infrarote Strahlung in das Spektrum zwischen den ‚Polen‘ Gelb und Blau integriert werden170. Ritter vermutet, dass diesseits A wie jenseits B, im Prismaspectrum Stralen vorkommen, die unsichtbar, und nur aus Wirkungen erkennbar seyen; dass beyde, wie sie verschieden und sich entgegengesetzt sind dem Orte nach, es auch in ihren Wirkungen bleiben; und dass zuletzt die unsichtbaren Strahlen jeder Seite, im Grunde nur gesteigerte Fortsetzungen der sichtbaren Stralen jeder Seite seyen.171
Problematisch ist hierbei nicht nur, dass das Spektrum sich weit über die von Goethe vorgenommene Polarisierung von Gelb (bzw. Violett) und Blau (bzw. Rot) hinaus erstreckt. Da er seine Lehre der Farben an die sinnliche Beobachtbarkeit der Phänomen knüpft, muss er die von Herschel und Ritter entdeckten Phänomene unberücksichtigt lassen: „Weder Infrarot noch Ultraviolett werden von Goethe in der Farbenlehre explizit erwähnt. Das ist an und für sich schon Zeichen genug […].“172
4.3 Sprachreflexive Momente Anhand des Ausdrucks ‚Wahlverwandtschaft‘ lässt sich noch eine weitere Parallelität zwischen Goethes literarischen und seinen wissenschaftlichen Texten nachweisen. Es handelt sich um das sprachreflexive Moment, das sowohl der Farbenlehre als auch den Wahlverwandtschaften inhärent ist. ‚Wahlverwandtschaft‘ ist, wie Thomas Fries erläutert, „eine Metapher für die Metapher“, die „den zugleich arbiträren (das Vergleichen) wie notwendigen (die Vergleichbarkeit selbst) Charakter der Metapher fest[hält]“173 und so den gesamten Roman zu einem „Bild für das Bild“ und gleichzeitig zu einer Reflexion über „die Wirklichkeit als Wirklichkeit des Bildes, als Wirklichkeit der Metapher, als Wirklich-
|| 169 Vgl. Holger Helbig: Natürliche Ordnung. S. 368f. 170 Vgl. Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 205. 171 Johann W. Ritter: Bemerkungen zu Herschel’s neueren Untersuchungen über das Licht; vorgelesen in der Naturforschenden Gesellschaft zu Jena, im Frühling 1801. In: Physischchemische Abhandlungen in chronologischer Folge. Zweyter Band mit Kupfern. Leipzig: Reclam, 1806. S. 81–107; S. 85f. 172 Holger Helbig: Natürliche Ordnung. S. 403. 173 Thomas Fries: Die Wirklichkeit der Literatur. S. 100f.
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keit des Zeichens“174 macht. Bereits im ‚chemischen Gespräch‘ wird das verführende und verwirrende Potenzial von Bild, Metapher und Zeichen einerseits benannt und andererseits inszeniert. Obwohl Eduard explizit auf die Verwirrung stiftenden Aspekte der Metapher hinweist, begeht er selbst den Fehler, vor dem er warnt: Er nimmt „umstandslos die Identifizierung von Gleichnis und Verglichenem, von Symbol und Sache vor, kennt die Differenz von Metapher und Begriff nicht […]“175. Im Verlauf der Handlung wird deutlich, wie verhängnisvoll diese Identifikation für Eduards Realitätswahrnehmung wird. Durch Charlotte wird dagegen ein reflektierter Sprachgebrauch figuriert, der um die Konventionalität sprachlicher Zeichen176 weiß. Sie weist auf die „semantisch inkongruent[en]“177 Bestandteile des Kompositums ‚Wahlverwandtschaft‘ hin, das eine paradoxe Kombination von Freiheit (‚Wahl‘) und Naturnotwendigkeit (‚Verwandtschaft‘) vornimmt.178 Sie bewahrt die nötige Distanz zum Spiel sprachlich motivierter Ähnlichkeiten: Diese Gleichnisreden sind artig und unterhaltend, und wer spielt nicht gern mit Ähnlichkeiten! Aber der Mensch ist doch um so manche Stufe über jene Elemente erhöht, und wenn er hier mit den schönen Worten Wahl und Wahlverwandtschaft etwas freigebig gewesen, so tut er wohl, wieder in sich selbst zurückzukehren und den Wert solcher Ausdrücke bei diesem Anlaß recht zu bedenken.179
Anstatt ‚wieder in sich selbst zurückzukehren‘ und die Beziehung von Sachverhalt, Idee/Begriff und sprachlichem Zeichen auf ihre Adäquatheit hin zu prüfen, verliert Eduard sowohl die realen Umstände als auch den realitätsschaffenden Charakter sprachlicher Ausdrücke aus dem Blick. Zu Recht erscheint daher als die „[…] eigentliche ‚durchgreifende Idee‘ des Romans […] die Warnung vor einer blinden Gleichsetzung natürlicher und sittlicher Ordnungen, vor der dilet-
|| 174 Thomas Fries: Die Wirklichkeit der Literatur. S. 130. 175 Elisabeth von Thadden: Erzählen als Naturverhältnis, ‚Die Wahlverwandtschaften‘. München: Fink, 1993. S. 143. 176 „[…] so ist es mir eigentlich nur um den Wortverstand zu tun; denn es macht in der Gesellschaft nichts lächerlicher, als wenn man ein fremdes, ein Kunstwort falsch anwendet. Deshalb möchte ich nur wissen, in welchem Sinne dieser Ausdruck eben bei diesen Gegenständen gebraucht wird.“ Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 271. 177 Uwe Pörksen: Goethes Kritik naturwissenschaftlicher Metaphorik. S. 306. 178 „‚Verzeihen Sie mir,‘ sagte Charlotte, ‚wie ich dem Naturforscher verzeihe; aber ich würde hier niemals eine Wahl, eher eine Naturnotwendigkeit erblicken, und diese kaum; denn es ist am Ende vielleicht gar nur die Sache der Gelegenheit.“ Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 274. 179 Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 275.
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tantischen Übertragung (noch nicht einmal abgesicherter) naturwissenschaftlicher Paradigmen auf ‚sociale Verhältnisse‘ […]“180. Eduard verengt das semantische Feld ‚Verwandtschaft‘ auf die formale Darstellung der chemischen Wahlverwandtschafts-Bindungen, wie Göttling sie im Handbuch der theoretischen und praktischen Chemie notiert, und versucht mit allen Mitteln eine Bindungskonstellation nach dem Muster A–C + B–D zu erzwingen. Der metaphorische Gehalt des Ausdrucks, der diese Analogie zwischen Chemie und menschlichen Beziehungen ermöglichte, gerät ihm hierbei in Vergessenheit, die ideographisch gebrauchten Buchstaben treten (ähnlich wie bei der Gravur auf Eduards Glas) an die Stelle der Personen – die Zeichen treten an die Stelle der Dinge und Menschen.
4.4 Dynamische semantische Felder und Variationen Die von Eduard vorgenommene semantische Verengung wird mit Variationen innerhalb des Wortfelds und des Lexemverbandes ‚verwandt‘ kontrastiert, die narrativ der Erzählinstanz zugeordnet werden. Ein Beispiel ist die Beschreibung des neugeborenen Otto: Den Gesichtszügen und der ganzen Form nach glich das Kind immer mehr dem Hauptmann, die Augen ließen sich immer weniger von Ottiliens Augen unterscheiden. Durch diese sonderbare Verwandtschaft und vielleicht noch mehr durch das schöne Gefühl der Frauen geleitet, welche das Kind eines geliebten Mannes, auch von einer andern, mit zärtlicher Neigung umfangen, ward Ottilie dem heranwachsenden Geschöpf soviel als eine Mutter oder vielmehr eine andre Art von Mutter [Hervorh. M.I.].181
Ein weiteres Beispiel einer semantischen Variation stellt die Charakterisierung des Verhältnisses zwischen Ottilie und dem jungen Architekten dar: Das persönliche Verhältnis Ottiliens zum Architekten war ganz rein und unbefangen. Seine angenehme und tätige Gegenwart hatte sie wie die Nähe eines ältern Bruders unterhalten und erfreut. Ihre Empfindungen für ihn blieben auf der ruhigen, leidenschaftslosen Oberfläche der Blutsverwandtschaft; […] [Hervorh. M.I.].182
In beiden Kontexten leistet der sprachliche Ausdruck das, was die (Rück-)Übertragung des überholten chemischen Konzepts durch Eduard nicht leisten kann:
|| 180 Christine Lubkoll: Wahlverwandtschaft. S. 262. 181 Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 445. 182 Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 389.
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Die Bezeichnung stellt eine Analogie zwischen einer vertrauten Beziehung (Mutter/Vater–Kind, Bruder–Schwester) und einer im Text zunächst nicht näher bestimmten Beziehung (Ottilie/Hauptmann–Otto, Architekt–Ottilie) her. Die Erzählinstanz befolgt hierbei einen Grundsatz, den Goethe in der Farbenlehre für den Naturforscher mit folgenden Worten formuliert: Am wünschenswerthesten wäre jedoch, daß man die Sprache, wodurch man die Einzelheiten eines gewissen Kreises bezeichnen will, aus dem Kreise selbst nähme; die einfachste Erscheinung als Grundformel behandelte, und die mannichfaltigern von daher ableitete und entwickelte.183
In den oben zitierten Romanpassagen werden die verwendeten Verwandtschaftsbezeichnungen (Mutter, Bruder) dem Kreis sozialer Verhältnisse entnommen und wieder innerhalb des Kreises sozialer Verhältnisse angewandt. Der Aspekt der Wahl, wie er sich in der paradoxen Metapher der ‚Wahlverwandtschaft‘ zeigt, wird dabei bezeichnenderweise nicht aktualisiert. Die beschriebenen Beziehungen erwachsen vielmehr aus Gegebenheiten, die dem Zugriff der Beteiligten entzogen sind: Die Ähnlichkeit zwischen Otto, Ottilie und dem Hauptmann ist ein nicht manipulierbares, physiologisches Faktum und die geschwisterliche Ebene zwischen Ottilie und dem Architekten ergibt sich aus dem Umstand, dass in Ottilies „Herzen […] kein Raum mehr [war]“184. Eine weitere semantische Variation findet sich im elften Kapitel des zweiten Teils. Hier wird die bereits zitierte Beschreibung des kleinen Otto durch den Erzähler mit dem metaphorischen Gebrauch des Wortes ‚Verwandtschaft‘ durch den Reisebegleiter des englischen Lords kontrastiert: Auch er [der Begleiter] gab wiederholt zu erkennen, daß man […] die Sache [d.i. Ottilies Abneigung, einen bestimmten Weg im Park zu betreten, M.I.] nicht aufgeben, ja vielmehr nur desto ernsthafter und gründlicher untersuchen müßte, da sich gewiß noch manche Bezüge und Verwandtschaften unorganischer Wesen untereinander, organischer gegen sie und abermals untereinander offenbaren würden, die uns gegenwärtig verborgen seien [Hervorh. M.I.].185
Der Begleiter ist u.a. aufgrund der „Pendelschwingungen“186, die er durchzuführen bemüht ist und die an Ritters187 sideristische Pendelversuche erinnern, deut-
|| 183 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 222. 184 Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 390. 185 Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 444. 186 Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 443.
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lich als Vertreter des Mesmerismus zu erkennen, jene auf Franz Anton Mesmer (1734–1815) zurückgehende Naturtheorie, deren Entwicklung Goethe mit skeptisch-anerkennender Ambivalenz verfolgte.188 Wie bereits im ‚chemischen Gespräch‘ wird durch die Figurenrede des Begleiters ein intertextueller Verweis vorgenommen. Die Rede von den ‚Verwandtschaften organischer gegen organische Wesen‘ weist große Ähnlichkeit zu Formulierungen in den Vorlesungen Gotthilf Heinrich von Schuberts (1780–1860) auf, die unter dem Titel Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808) veröffentlicht wurden und mit denen Goethe vertraut war.189 „Magnetismus und Elektrizität (Mesmerismus) einerseits und Chemie (‚Wahlverwandtschaft‘ usw.) andererseits bilden für Schubert“, so Matías Martínez, „als komplementäre Pole zusammen den umfassenden Rahmen für Veränderungen in der organischen Welt [...].“190 Schuberts Ansatz beruht auf einem für das 18. Jahrhundert typischen Verständnis der hierarchischen Struktur der Natur, die Pörksen als „Stufenleiter der Natur“ bezeichnet. Die einzelnen Stufen (Flüssiges, Festes, Mineralisches, Organisches, pflanzliches Leben, tierisches Leben, menschliches Leben) wurden hierbei als die „Glieder einer Kette der Naturwesen […] [mit] lückenlosen Übergängen“ gedacht.191 Goethe wies die Vorstellung eines lückenlosen Kontinuums bereits 1789 in einem offenen Brief an Karl L. von Knebel entschieden zurück. Demnach müsse der Naturforscher
|| 187 Vgl. Johann W. Ritter: Der Siderismus. Neue Beyträge zur nähern Kenntniss des Galvanismus und der Resultate seiner Untersuchung. Bd. 1.1. Tübingen: Cotta, 1808. 188 Vgl. zu Goethes Bewertung des Mesmerismus Matías Martínez: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens. Göttingen: V&R, 1997. S. 57–68. „Goethe erkannte die Phänomene des Magnetismus als real an, blieb jedoch gegenüber den vorgebrachten Erklärungen, die die Phänomene in übergreifende Theorien einzubinden suchten, skeptisch.“ (S. 63f.) Zur Bedeutung des Mesmerimus für den Roman Die Wahlverwandtschaften vgl. außerdem Jeremy D. Adler: Eine fast magische Anziehungskraft. S. 182–187. 189 Etwa an folgender Stelle, an der Schubert mineralische Farbphänomene erläutert: „Die schönsten Farben, von dem Purpurroth der Granaten oder dem Rosenroth des Rubins bis zu dem schönsten Grün des Schmaragds, treten im Steinreich blos durch die Einmischung der Metalle auf. Das Brennbare, im Phosphor oder einigen diesem nahe verwandten Metallen, im Arsenik und Zink, dann im Schwefel, im Kohlenstoff, der wenigstens im gesäuerten Zustand gefunden wird, begleiten die Metalle von ihrem Entstehen in dem älteren Urgebirge, bis zu ihren letzten und jüngsten Bildungen, und bezeugt auch hierdurch ihre chemische Verwandschaft [sic!] mit dem Organischen.“ Gotthilf H. Schubert: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft. Dresden: Arnold, 1808. S. 200. 190 Matías Martínez: Doppelte Welten. S. 59. 191 Uwe Pörksen: Goethes Kritik naturwissenschaftlicher Metaphorik. S. 287.
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mit Pedantismus[ ] darauf halten, daß die großen eingeschlagenen Merkpfähle nicht verrückt werden, welche, wenn sie auch nur willkürlich eingeschlagen waren, ihm doch dazu helfen müssen, das Land zu messen und auf das genaueste zu kennen. […] [D]ie Gipfel der Reiche der Natur sind entschieden von einander getrennt und aufs deutlichste zu unterscheiden. Ein Salz ist kein Baum, ein Baum kein Tier; hier können wir die Pfähle feststecken, wo uns die Natur den Platz selbst angewiesen hat.192
Vor diesem Hintergrund kommen der Rede von der ‚Verwandtschaft organischer gegen unorganische Wesen‘ im Roman drei Funktionen zu: Erstens verweist sie auf einen weiteren (para-)wissenschaftlichen Kontext und bringt damit eine zusätzliche Antwortmöglichkeit auf die Frage nach dem Unerforschlichen menschlicher Bindungen ins Spiel. Zweitens wird in diesem Kontext abermals ein metaphorischer Gebrauch des Wortes ‚Verwandtschaft‘ thematisiert und kritisiert, der – wie bereits die ‚chemische Wahlverwandtschaft‘ – die Grenze zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Sphäre in unzureichender Weise überschreitet. Hierbei wird die Grenze zwischen den unterschiedlichen ‚Reichen‘ verwischt, da die Analogie nicht zwischen Beziehungsverhältnissen innerhalb einer Sphäre zu denen innerhalb einer anderen hergestellt wird, sondern eine Affinität zwischen Wesen unterschiedlicher Naturstufen unterstellt. Drittens wird dadurch, dass der Kontextverweis und die Metapher narrativ als Figurenrede des Begleiters inszeniert werden, markiert, dass es sich um eine bedingte und nur relativ gültige Perspektive handelt.193 Goethe selbst gebraucht in seinen wissenschaftlichen Texten die Wörter ‚verwandt‘ und ‚Verwandtschaft‘ ebenfalls metaphorisch, ist dabei aber penibel um die Einhaltung zweier Grundsätze bemüht: Erstens darf hierbei lediglich eine semantische Übertragung von einer höheren Stufe (menschliche Verwandtschaften) auf eine niedere Stufen (z.B. auf die Ähnlichkeit von Farbphänomenen194) vollzogen werden; gegen diesen Grundsatz verstößt Eduards Rück-
|| 192 Johann W. von Goethe: Naturlehre. In: derselbe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Leopoldina-Ausgabe. Abt. 1, Bd. 11. Hrsg. von Rupprecht Matthaei u.a. Weimar: Böhlau, 1970. S. 27–32; S. 28. Vgl. auch: Uwe Pörksen: Goethes Kritik naturwissenschaftlicher Metaphorik. S. 286f. 193 Es ist bezeichnend, dass durch die Pendelversuche erneut Ottilies Kopfschmerzen auftreten, so dass Charlotte eine weitere ‚Behandlung‘ ablehnt, „weil sie nicht gemeint [sic!] war, in ihrer Umgebung etwas zuzulassen, wovor sie immerfort eine starke Apprehension gefühlt hatte.“ Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 445. 194 Diese Verwendung liegt z.B. im Paragraphen 228 der Farbenlehre vor: „Bei einer jeden Erscheinung der Natur, besonders aber bei einer bedeutenden, auffallenden, muß man nicht stehen bleiben, man muß sich nicht an sie heften, nicht an ihr kleben, sie nicht isoliert betrachten, sondern in der ganzen Natur umhersehen, wo sich etwas Ähnliches, etwas Verwand-
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Übertragung im ‚chemischen Gespräch‘. Zweitens darf der metaphorische Gebrauch eines Wortes nur auf Sachverhalte innerhalb einer Hierarchiestufe (eines ‚Reiches‘) der Natur bezogen werden und nicht gleichzeitig Phänomene unterschiedlicher Stufen in Beziehung zueinander setzen; gegen diesen zweiten Grundsatz verstoßen der Begleiter des englischen Lords im Roman sowie die Vertreter des Mesmerismus.195 Am Beispiel des Wortfeldes ‚verwandt‘ wird deutlich, dass Goethe im Roman auch jene Semantik entfaltet, die seinen eigenen Grundsätzen des Sprachgebrauchs widerspricht, um ihre Adäquatheit fiktional zu erkunden und zu reflektieren. Auf frappante Weise ähnelt die polyperspektivische Inszenierung im Roman dem Verfahren des „Wechsel[s] der Denkmodelle“196 in Goethes wissenschaftlichen Texten, wie Uwe Pörksen erläutert: Analoges gilt für die systematische Anthropologie der Wahlverwandtschaften. Die Menschen sind zwischen die Pole Freiheit und Notwendigkeit gespannt wie die Farben zwi-
|| tes zeigt: denn nur durch Zusammenstellen des Verwandten entsteht nach und nach eine Totalität, die sich selbst ausspricht und keiner weitern Erklärung bedarf.“ Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 85. 195 Wie wichtig Goethe diese ‚Grenzwahrung‘ ist, zeigt eine Passage in der Einleitung zur Farbenlehre: „Das Auge hat sein Dasein dem Licht zu danken. Aus gleichgültigem tierischem Hülfsorgan ruft sich das Licht ein Organ hervor, das seines Gleichen werde; und so bildet sich das Aug am Lichte fürs Licht, damit das innere Licht dem äußeren entgegentrete. Hierbei erinnern wir uns der alten ionischen Schule, welche mit so großer Bedeutsamkeit immer wiederholte: nur von Gleichem werde Gleiches erkannt […]. Jene unmittelbare Verwandtschaft des Lichtes und des Auges wird niemand leugnen, aber sich beide zugleich als eins und dasselbe zu denken, hat mehr Schwierigkeit. Indessen wird es faßlicher, wenn man behauptet, im Auge wohne ein ruhendes Licht, das bei der mindesten Veranlassung von innen oder von außen erregt werde [Hervorh. M.I.].“ Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 18. Besonders für die physiologischen Farben, die „das Fundament der ganzen Lehre machen“ (S. 25), muss Goethe argumentativ begründen, dass das menschliche Auge das beste zur Verfügung stehende ‚Instrument‘ des Naturforschers ist. Hierfür entwirft er eine Art morphologische Korrespondenztheorie zwischen Reizendem (Lichtquelle/Sonne) und Organ (Auge). Um die Wahrnehmungen des Auges als zuverlässige Erkenntnisquelle zu sichern, postuliert er eine Wesensgleichheit bzw. „Verwandtschaft“ zwischen Sonne und Auge. Die „Schwierigkeit“ an dieser Verwandtschaft ist, dass die Sonne als Himmelskörper einer anderen Stufe der natürlichen Hierarchie – also einem anderen ‚Reiche der Natur‘ – angehört als das Auge, das ein lebendiges Organ ist. Goethe muss sich daher eines argumentativen Kunstgriffs bedienen und „behauptet“, das Auge sei selbst eine Lichtquelle: „wenn das Organ einen mechanischen Anstoß erleidet, so springen Licht und Farben hervor“ (S. 19). Durch diese Wesensgleichheit/ähnlichkeit zwischen Sonne und Auge wird auch der metaphorische Gebrauch des Wortes ‚Verwandtschaft‘ zu legitimieren versucht. 196 Uwe Pörksen: „Alles ist Blatt“. S. 140.
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schen Licht und Finsternis. Die Vermengung der Sphären wirkt hier als Verführung. Wo die Reiche nicht in der Sprache auseinandergehalten werden, sind auch die Grenzen im Verhalten der Personen verwischt.197
4.5 Das Verfahren der fortgesetzten Einkreisung Neben der Variation semantischer Felder und dem Wechsel der Denkmodelle wird in den Wahlverwandtschaften auch das von Pörksen beschriebene „Verfahren der fortgesetzten Einkreisung durch Synonyme“198 (und Antonyme) erkennbar. Dieses Verfahren wird deutlich in der tabellarischen Übersicht des Vokabulars sichtbar, mit dem im Roman amouröse Beziehungen charakterisiert werden: ‚Einigung‘; ‚Einung‘ vs. ‚Scheidung‘ ‚Verbindung‘ vs. ‚Trennung‘ ‚Zusammensein‘ vs. ‚Verlassen‘ ‚Neigung‘ vs. ‚Abneigung‘ ‚Anziehungskraft‘ vs. ‚abstoßende Strenge‘ ‚Empfänglichkeit‘ vs. ‚Abweisen‘ ‚verwandt‘, vs. ‚fremd‘ ‚vertraut‘ vs. ‚entfremdet‘ Die sprachliche Darstellung des Romans kreist fortlaufend um die Frage, was Zuneigung, Liebe und Leidenschaft zwischen zwei Menschen ist und was sie motiviert, ohne jedoch das umkreiste Phänomen begrifflich zu fixieren und dadurch endgültig zu erklären. Daher beschreibt Pörksens Charakterisierung der wissenschaftlichen Sprache Goethes auf treffende Weise auch die Gestaltung des Romans hinsichtlich dieses Aspekts: Die verschiedenen Ausdrücke stützen und verdeutlichen einander, zugleich wird aber durch das Variieren jeder einzelne relativiert, als nicht endgültig abgelöst, ergänzt. Es wird fortgesetzt neu interpretiert. Dadurch bleibt der Begriffsinhalt unbestimmt offen. Der Eindruck eines vagen, die Sache offen haltenden Sprechens entsteht. Die Sprache wird als Annäherungsinstrument sichtbar und relativiert.199
Eine andere Form der ‚fortgesetzten Einkreisung‘ sind Ottilies Tagebucheinträge, die in aphoristischem Stil sowohl die Thematik als auch deren sprachliche
|| 197 Uwe Pörksen: Goethes Kritik naturwissenschaftlicher Metaphorik. S. 315. 198 Uwe Pörksen: „Alles ist Blatt“. S. 140. 199 Uwe Pörksen: „Alles ist Blatt“. S. 140.
Das Verfahren der fortgesetzten Einkreisung | 461
Darstellung reflektieren.200 Besonders in der vierten Aphorismengruppe201 wird, wie Gerhard Neumann darlegt, eine Alternative zur begrifflich fixierten Rede aufgewiesen: Die Sätze 16, 17 und 18 sprechen gemeinsam die „erkenntnistheoretische“ Fragestellung des ganzen Romans aus: Wie gelingt die richtige, die aufschließende Deutung bestimmter Zeichen — an denen dieser Roman reich ist wie kein anderer sonst. In Analogie zum gesellschaftlichen Takt, der „Höflichkeit des Herzens“, entwickelt der Erkennende ein Verfahren zarter Empirie, die solche zwischen Zwang und Freiheit angesiedelten Phänomene zu interpretieren vermag. Diese Interpretation erfolgt nicht durch Begriffe, sondern durch das Bild. Ihr Instrument ist nicht die Logik, sondern der Reflex des Spiegels. Solches Erkennen ist nicht definierend, sondern vergleichend.202
Diese Art des Erkennens beruht auf der aktiven Rezeption des Lesers: „Der Satz ist nur die halbe Wahrheit, der Leser ist aufgerufen, sie in lebendiger Auseinandersetzung zur ganzen zu machen.“203 Hier schließt sich der Kreis zu jener bereits zitierten Äußerung Goethes in der Farbenlehre, nach der auch eine naturwissenschaftliche Darstellung „kaum zur Hälfte zu Papier gebracht werden kann“ und „dem Geiste und der guten Laune des Zuschauers anheim gegeben bleibt“204. Sowohl die Wahlverwandtschaften als auch die Farbenlehre zeichnen sich dadurch aus, dass sie an entscheidender Stelle das Unaussprechliche und Undarstellbare sprachlich ein- bzw. umkreisen und damit dem Rezipienten die Aufgabe stellen, selbst das Zentrum des dargebotenen Zirkels in einem Prozess vergleichender Abwägung zu erschließen. Elisabeth von Thadden konstatiert daher zu Recht, dass Naturforschung und Roman eine ganz ähnliche Lektüre erfordern. Der Roman Die Wahlverwandtschaften ist demnach ein literarischer Text, der die disparaten ‚Phänomene […] als Text erst anschaulich [zu] machen unternimmt. Er erfordert eine der Naturforschung insofern ähnliche Lektüre, als im Lesen ebenfalls fortgesetzt Synthesen zu bilden, Differenzen zu markieren, Bezüge
|| 200 Vgl. hierzu Gerhard Neumann: Ideenparadiese (vor allem Kap. 5: Goethe). S. 604–736. 201 Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 396–398. 202 Neumann: Ideenparadiese. S. 701. Neumann bezieht sich im angeführten Zitat auf folgende Sätze aus Ottilies Tagebuch: „(16) Es gibt kein äußeres Zeichen der Höflichkeit, das nicht einen tiefen sittlichen Grund hätte. Die rechte Erziehung wäre, welche dieses Zeichen und den Grund zugleich überlieferte. (17) Das Betragen ist ein Spiegel, in welchem jeder sein Bild zeigt. (18) Es gibt eine Höflichkeit des Herzens; sie ist der Liebe verwandt. Aus ihr entspringt die bequemste Höflichkeit des äußern Betragens.“ Johann W. von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. S. 397. 203 Neumann: Ideenparadiese. S. 606. 204 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 9.
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herzustellen sind, vergangene Phasen dieses Textes, aber nicht weniger auch andere vergangene Texte und wissenschaftliche Deutungen der Welt, Theorien und Bildbestände zu erinnern sind, um im ‚Gegenwärtigen das Vergangene‘ zu sehen.205
Die hier beschriebene Ähnlichkeit resultiert aus Goethes Überzeugung, dass Naturwissenschaft und Dichtung gleichermaßen auf den Vermögen der Einbildungskraft, der produktiven Phantasie, des Vergleichens, der Reflexion und Ironie beruhen. Hierbei handelt es sich, wie Michael Böhler feststellt, um Vermögen, welche ein Großteil der wissenschaftlich tätigen Zeitgenossen Goethes „eher der dichterischen Begabung zuschreiben und in der Wissenschaft sogar für verderblich halten“206.
Resümee Grundsätzlich betrachtete Goethe Naturwissenschaften und Dichtung als zwei distinkte Bereiche menschlichen Weltzugangs, allerdings nicht, wie Michael Böhler betont, aufgrund einer prinzipiellen Inkompatibilität der beiden [Bereiche, M.I.] und ihrer Methoden, sondern [er] hält ihre Verschiedenheit für eine Frage des historischen Entwicklungsprozesses. Dabei geht er – wohl unter schillerschem Einfluß – von einer Dreiphasen-Entwicklung des erkenntnis- und wissenschaftshistorischen Prozesses aus, an dessen Ursprung die Poesie stand, von der sich die Wissenschaft abspaltete, und der auf ein Drittes hinlaufe, wo sich Wissenschaft und Poesie „auf höherer Stelle“ erneut wieder begegneten. Die jetzige Situation, in der Dichtung und Wissenschaft streng getrennte und scheinbar unvereinbare Tätigkeitsbereiche sind, ist also eine Zwischenphase, in der beiden, der Wissenschaft wie der Poesie, entschieden an etwas mangelt.207
Überschneidungen zwischen Wissenschaften und Dichtung ergaben sich für Goethe durch die gemeinsamen Mängel, d.h. in der Konfrontation mit der Unerforschlichkeit und Undarstellbarkeit der eigentlichen Erkenntnisgegenstände sowie in der Angewiesenheit auf eine grundsätzlich als defizitär erachtete Verbalsprache. An der zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Praxis kritisierte er, dass sie diesen Mangel nicht (an-)erkannte. Die Tendenzen der Quantifizie|| 205 Elisabeth von Thadden: Erzählen als Naturverhältnis. S. 148f. 206 Vgl. Michael Böhler: Naturwissenschaft und Dichtung bei Goethe. In: Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration. Hrsg. von Wolfgang Wittkowski. Tübingen: Niemeyer, 1984. S. 313–340; S. 331. 207 Michael Böhler: Naturwissenschaft und Dichtung bei Goethe. S. 327 DOI 10.1515/9783110464252-030, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
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rung, Formalisierung, Symbolisierung und Entrhetorisierung bzw. Entliterarisierung haben in seinen Augen die Naturforschung in eine ungesunde Schieflage gebracht, durch die Theorien, Erklärungen, Begrifflichkeiten und Ausdrücke an die Stelle einer vorurteilsfreien Empirie getreten sind. All das manifestiert sich für ihn in einem eingeschränkten, fixierten und abstrakten Sprachgebrauch, bei dem das Bezeichnende mit dem Bezeichneten unzulänglich vertauscht wird, also der Sprachkosmos seine Rückkopplung an die Phänomene verliert und auf diese Weise wirkliche Naturerkenntnis verhindert. Goethe verfolgte mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten immer auch ein über den fachwissenschaftlichen Inhalt hinausreichendes Anliegen. Einerseits bemühte er sich, die Begrenzung und Limitierung von Erkenntnis und Sprache zu thematisieren und präsent zu halten, andererseits wollte er diesen Mängeln mit adäquaten Mitteln begegnen. Neben den wissenschaftstheoretisch-methodologischen Aspekten einer möglichst theoriefreien Phänomenologie und der auf Analogiebildung beruhenden Urphänomene waren dies vor allem Mittel der sprachlichen Darstellung. Seine Kritik an den sprachlichen Konventionen der Naturwissenschaft war mit einer Reformbestrebung verbunden, deren exemplarische Umsetzung Goethes Text selbst darstellen sollte. Dem axiomatisierten Aufbau stellte er eine natürliche Ordnung der Reihung gegenüber, dem operativen Symbolismus eine anschauliche Verbalsprache, der Begriffsdefinition die Ein-/Umkreisung durch Synonyme bzw. Antonyme, der distinkten Differenzierung von Termini ein heterogenes Wortkontinuum und der monothetischen Darstellung einen Wechsel von Denkmodellen. Auch in dem, was Goethe als Ziel einer gelungenen Darstellung begriff, überschneiden sich Dichtung und Naturwissenschaften. So wie der „Dichter […] angewiesen ist auf Darstellung […] [und die] Höchste derselben ist, wenn sie mit der Wirklichkeit wetteifert, das heißt, wenn ihre Schilderungen durch den Geist dergestalt lebendig sind, daß sie als gegenwärtig für jedermann gelten können“208, so müsse auch der Naturforscher, „dem Leser die Natur entweder wirklich oder in lebhafter Phantasie gegenwärtig“209 machen. Die adäquaten Mittel hierzu sind die Metapher, der Vergleich und allen voran das erkenntnisstiftende Symbol. Die in den vorhergehenden Abschnitten aufgezeigten Parallelen zwischen der sprachlichen Darstellung der Farbenlehre und der Wahlverwandtschaften sind daher weder verwunderlich noch zufällig, da Goethe zu den
|| 208 Johann W. von Goethe: Maximen und Reflexionen. S. 510. 209 Johann W. von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. S. 9.
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„mancherlei Bezeichnungsweisen“ der Naturforschung explizit auch solche der „andre[n] Sprache“ zählte, die er selbst als „poetische“ bezeichnete.210 Für Physiker wie z.B. Brandes, Pfaff, Muncke, Fries und Malus war dagegen die Diskursgrenze zwischen Dichtung und Wissenschaft gleichzeitig eine Grenze sprachlicher Formen. Die Wissenschaftlichkeit von Forschungsbeiträgen wurde von ihnen an ein Sprachverständnis bzw. einen Sprachgebrauch geknüpft, der das Ideal einer axiomatisierten, formalisierten und symbolisierten Fachwissenschaft anstrebt und hierzu rhetorische und literarische Mittel zurückstellt bzw. aussondert. In einem derartigen Dispositiv musste die Farbenlehre, obwohl sie als „ein blos wissenschaftlichen Discussionen gewidmetes Werk“ erkannt wurde, aufgrund „des Styls“ und des „Colorit[s] seiner Diction“ zu einem „Werk[ ] des guten Geschmacks“, d.h. zu einem Werk der Dichtung erklärt werden.211 Der deutlich erkennbar als wissenschaftlicher Forschungsbeitrag intendierte Text wurde mit argumentativen Mitteln aus dem Diskurs der Physik ausgeschlossen und dem Diskurs der Dichtung zugeordnet – und dies hauptsächlich aus Gründen, die in seiner sprachlichen Gestalt liegen. Indirekt verweist auch Thomas Fries auf diese Verschiebung, wenn er konstatiert, dass Goethes Farbenlehre, die wir als sein naturwissenschaftliches Werk par excellence begriffen haben, […] nicht in ihrer Zielsetzung, sondern an der nicht möglichen Wirksamkeit gescheitert [ist], welcher Mangel wohl auf einer falschen Einschätzung der ideellen Gegnerschaft und der von ihr geschaffenen Faktizität beruht.212
Diese ‚Faktizität‘ wird vor dem Hintergrund der vorigen Untersuchung als eine durch Mathematisierung, Formalisierung, Entrhetorisierung und Entliterarisierung gezeichnete diskursive Sprachkonvention erkennbar, deren diskursprägende Macht Goethe offenbar unterschätzte. Bei Erscheinen der Farbenlehre und der Wahlverwandtschaften besaß sie bereits eine derartige Unabdingbarkeit, dass Goethes methodologische und sprachtheoretische Reformversuche wirkungslos bleiben mussten. Da seine wissenschaftlichen Beiträge sich aber dieser Sprachkonvention bewusst widersetzten, gingen sie kaum in Fachdiskurse ein; Goethe fand, wie er selbst resigniert in Der Verfasser teilt die Geschichte seiner botanischen Studien mit (1837) feststellte, kein Gehör im wissenschaftlichen Diskurs:
|| 210 Johann W. von Goethe: Symbolik. S. 57. 211 Christoph H. Pfaff: Ueber Newton’s Farbentheorie, Herrn von Goethe’s Farbenlehre. S. VIf. 212 Thomas Fries: Die Wirklichkeit der Literatur. S. 87.
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Seit länger als einem halben Jahrhundert kennt man mich, im Vaterlande und auch wohl auswärts, als Dichter und läßt mich allenfalls für einen solchen gelten; daß ich aber mit großer Aufmerksamkeit mich um die Natur in ihren allgemeinen physischen und ihren organischen Phänomenen emsig bemüht und ernstlich angestellte Betrachtungen stetig und leidenschaftlich im stillen verfolgt, dieses ist nicht so allgemein bekannt, noch weniger mit Aufmerksamkeit bedacht worden.213
Die Debatte um Goethes Farbenlehre und deren sprachliche Darstellung erscheint als symptomatisches Beispiel für den sich über das 18. Jahrhundert erstreckenden Prozess der Differenzierung bzw. des Separierens zwischen Dichtung und Wissenschaften auf der Ebene der Darstellungsformen. Goethe nahm diesen Prozess – ähnlich wie Schiller und Friedrich Schlegel – schmerzlich wahr, hielt ihn jedoch für einen revidierbaren. So entwarf auch er die Utopie einer künftigen Vereinigung von Poesie und Wissenschaft: [N]irgends wollte man zugeben, daß Wissenschaft und Poesie vereinbar seien. Man vergaß daß Wissenschaft sich aus Poesie entwickelt habe, man bedachte nicht daß, nach einem Umschwung von Zeiten, beide sich wieder freundlich, zu beiderseitigem Vorteil, auf höherer Stelle, gar wohl wieder begegnen könnten.214
Wie Pörksen feststellt, unterschätzte Goethe wie viele literarische Autoren seiner Zeit die Persistenz, die die sprachlich bedingte Diskursdifferenz für das kommende Jahrhundert bewahren sollte: Hier versucht […] ein Autor [Goethe, M.I.], sich der Richtung, die das zeitgenössische Denken genommen hat, entgegenzustemmen und ein anders zu bestellendes Feld zu erschließen. – Die neuere Naturwissenschaft ist über ihn hinweggegangen und zwar seit dem Vormärz mit atemberaubender Geschwindigkeit. Die Geschichte der Abstraktion, der Mathematisierung, ist die Gegengeschichte zu Goethes Versuchen.215
|| 213 Johann W. von Goethe: Der Verfasser teilt die Geschichte seiner botanischen Studien mit. In: derselbe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Leopoldina-Ausgabe. Abt. 1, Bd. 10. Hrsg. von Rupprecht Matthaei u.a. Weimar: Böhlau, 1964. S. 319–338; S. 337. 214 Johann W. von Goethe: Morphologie. Schicksal der Druckschrift. In: derselbe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Leopoldina-Ausgabe. Abt. 1, Bd. 9. Hrsg. von Rupprecht Matthaei u.a. Weimar: Böhlau, 1954. S. 65–72; S. 67. 215 Uwe Pörksen: „Alles ist Blatt“. S. 145.
Schluss und Ausblick Seit Charles Percy Snow das Diktum der two cultures prägte, wurden nicht selten die funktionale Ausdifferenzierung der Sattelzeit, die Industrialisierung und der Siegeszug des Positivismus als Wurzeln und Ursachen der vermeintlich so tiefen Spaltung zwischen literarischem und wissenschaftlichem Diskurs benannt. In diesem Sinne erklärt Hans Magnus Enzensberger die ‚allergischen Reaktionen‘ vieler Dichter im 20. Jahrhundert als Resultat des vorangegangenen Jahrhunderts: Es spricht alles dafür, daß das große Schisma zwischen den Naturwissenschaften auf der einen, den Künsten und den Humaniora auf der anderen Seite eine typische Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts ist. Die fortschreitende Spezialisierung des Wissens […], die Ausbildung des wissenschaftlichen Jargons und der Sieg des Positivismus sind Ursachen und Symptome dieser Entwicklung zugleich.1
Mit Blick auf die Ergebnisse der vorangegangenen Untersuchungen kann Enzensbergers Einschätzung einerseits zugestimmt werden. Die wechselseitige Verhältnisbestimmung zwischen Dichtung und Wissenschaften war und ist, wenn auch keine ‚Erfindung‘, so doch eine fragile Konstruktion, an der fortwährend und von ganz unterschiedlicher Seite gearbeitet wurde und wird. Andererseits muss die von Enzensberger vorgenommene historische Fokussierung allerdings wesentlich erweitert werden. Die Genese der diskursgeschichtlichen Relation von Wissenschaften und Dichtung kann bis in die Frühe Neuzeit zurückverfolgt werden. Hierbei wird deutlich, dass bereits die dem 19. Jahrhundert vorausgehenden rund 200 Jahre die Voraussetzungen schufen, unter denen eine Rede von den ‚zwei Kulturen‘ überhaupt erst denkbar wurde. Außerdem zeigt sich, dass im 17. und 18. Jahrhundert Wissenschaften und Dichtung keineswegs lediglich dichotomisch und konträr zueinander positioniert wurden. Vielmehr lassen sich durchaus Bemühungen finden, beide Diskursbereiche gerade aufgrund ihrer Ähnlichkeiten, Analogien und Gemeinsamkeiten zueinander ins Verhältnis zu setzen. Die diagnostizierten Phasenverschiebungen sind ein wichtiger Auslöser bzw. Motor für die untersuchten erkenntnistheoretischen, methodischen, poetologischen und sprachtheoretischen Reflexionen. Im Zuge der revolutionären Entwicklungen in Physik, Mathematik und Logik veränderte sich das Verständnis von Erkenntnis, Rationalität und Wissen-
|| 1 Hans M. Enzensberger: Die Poesie der Wissenschaft. Ein Postskriptum. In: derselbe: Die Elixiere der Wissenschaft. Seitenblicke in Poesie und Prosa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004. S. 261–276; S. 266f. DOI 10.1515/9783110464252-031, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
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schaftlichkeit so grundlegend, dass eine Neuorientierung der Dichtung im diskursiven Gefüge unausweichlich wurde. Auf wissenschaftlicher Seite wurden durch Quantifizierung, Formalisierung und Symbolisierung zunehmend Elemente aus den Erkenntnisprozessen und der Erkenntnisdarstellung ausgesondert, die dann als poetische, rhetorische oder allgemein ästhetische Charakteristika der Dichtung und den Künsten zugesprochen werden konnten. Der enorme Erkenntnisfortschritt und die technischen Erfolge verschafften den Naturwissenschaften, der Mathematik und der Logik zusehends eine Art Monopolstellung der Weltdeutung, die ihre Maßstäbe, ihre Methodik und ihre Darstellungsformen legitimierten. Angesichts der rasanten Entwicklungen musste man auf literarischer Seite gegen Ende des 17. Jahrhunderts feststellen, dass zwischen Wissenschaften und Dichtung ein Entwicklungsgefälle entstanden war, dem durch die in Renaissance und Humanismus mühsam austarierte Konsolidierung von Dichtung und septem artes liberales nicht mehr beizukommen war. Es entstand die dringliche Notwendigkeit, unter den veränderten Voraussetzungen Dichtung und Poesie so in Relation zu den Wissenschaften und ihren Erfolgen zu setzen, dass ihr abweichender Entwicklungsverlauf und ihre Andersartigkeit weder ihre Legitimität noch ihre Dignität berührten. Da Dichtung – und das unterscheidet sie von den anderen ‚schönen Künsten‘ – ebenso wie Wissenschaften, Mathematik und Logik grundlegend auf Sprache angewiesen ist, avancierte die Sprachreflexion zu einem zentralen Moment der diskursiven Verhältnisbestimmung. Aufgrund der Phasenverschiebung und den divergenten Entwicklungen findet sich hier bei den allermeisten Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts die Grundannahme, dass Dichtung und Wissenschaften hinsichtlich ihrer Sprachlichkeit, ihrer Sprachentwicklung oder ihrer Sprachpraxis deutlich voneinander unterschieden werden können. Am markantesten ist vermutlich Rousseaus strikte Trennung zwischen langues de géomètres und langues de poètes. Um gleichermaßen Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen einer rationalen Sprache der Erkenntnis und einer ästhetischen Sprache der Dichtung zu beschreiben, wurden ganz unterschiedliche sprachtheoretische und sprachgeschichtliche Argumente ins Feld geführt. Einige Ansätze, wie z.B. der Condillacs, charakterisierten die poetische Sprache als mehr oder minder artifizielles Bei- und Endprodukt einer langen, an Erkenntnis orientierten Sprachentwicklung, andere Ansätze, wie z.B. der Rousseaus, sahen wiederum die Wurzeln der poetischen Sprache im Ursprung aller Sprachentstehung und Gesellschaftsentwicklung. Im untersuchten Zeitraum wurde ferner hinsichtlich der Darstellungsformen in Naturwissenschaften, Mathematik und Logik die Tendenz zu einer Entliterarisierung bzw. Entrhetorisierung sichtbar, die sich ungebrochen bis in die
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Zeit der Jahrhundertwende um 1900 fortsetzen sollte. Dass auf diese Weise die Konzepte von Erkenntnis, Wahrheit und Rationalität mit einer am Ideal des mathematischen Symbolismus orientierten Sprachkonzeption verschränkt wurden, erschien manchem Dichter als eine Herausforderung, denn gemessen an diesen Idealen musste die poetische Sprache als eine defizitäre Repräsentationsform erscheinen. Man sah die Gefahr, dass Dichtung so aus allen Wissens-, Erkenntnis- und Rationalitätsdiskursen ausgeschlossen und auf das rein Angenehme und Schmeichelnde reduziert werden sollte. Die rationalistisch geprägten Poetiken der Aufklärung entwarfen daher analoge Erkenntnis- und Sprachideale für Dichtung und Poesie, die wiederum die Wissenschaften mit ihren sprachlichen Darstellungsformen nicht erreichen konnten. Die Autoren der Klassik und der Frühromantik begegneten dieser Herausforderung auf eine andere Weise. Sie akzeptierten die funktionale und sprachliche Ausdifferenzierung nicht und kritisierten die Erkenntnis- und Sprachideale der Wissenschaften. Sie taten das vor allem dort, wo der Geltungsanspruch wissenschaftlicher Methodik und Erkenntnisformen absolut gesetzt wurde und hierdurch wichtige Aspekte der Wirklichkeit aus dem Blick gerieten. Goethe forderte in diesem Sinne eine Entmathematisierung der Naturforschung und wollte mit der Farbenlehre selbst einen Beitrag zu einer neuen phänomenorientierten Wissenssprache leisten. Schiller beklagte die Fragmentierung der ursprünglichen Einheit von Philosophie und Poesie als notwendiges Übel der Menschheitsentwicklung, kontrastierte sie jedoch mit der Idee einer künftigen Wiedervereinigung auf höherer Stufe. Und Friedrich Schlegel imaginierte die Verjüngung aller Wissenschaften im Zeichen einer neuen, poetischen Mythologie. Die vorgestellten Alternativentwürfe scheiterten einerseits aufgrund ihres utopischen Charakters, andererseits auch deswegen, weil sie aufgrund der Professionalisierung und Institutionalisierung in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen nur wenig oder kein Gehör fanden. Wo Adorno und Horkheimer für das 19. und 20. Jahrhundert eine ‚sprachliche Arbeitsteilung‘ zwischen Wissenschaften und Künsten diagnostizieren, beschreiben sie daher indirekt auch die im 18. Jahrhundert angelegten Tendenzen der Abschottung seitens der Wissenschaften und die gescheiterten Annährungsversuche seitens der Dichtung: Als Zeichen kommt das Wort an die Wissenschaft; als Ton, als Bild, als eigentliches Wort wird es unter die verschiedenen Künste aufgeteilt, ohne daß es sich durch deren Addition, durch Synästhesie oder Gesamtkunst je wiederherstellen ließe. Als Zeichen soll Sprache zur Kalkulation resignieren, um Natur zu erkennen, den Anspruch ablegen, ihr ähnlich zu sein. Als Bild soll sie zum Abbild resignieren, um ganz Natur zu sein, den Anspruch ablegen, sie zu erkennen. […] Die gängige Antithese von Kunst und Wissenschaft, die beide als Kulturbereiche voneinander reißt, um sie als Kulturbereiche gemeinsam verwaltbar zu machen, läßt sie am Ende als genaue Gegensätze vermöge ihrer eigenen Tendenzen inei-
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nander übergehen. Wissenschaft, in ihrer neopositivistischen Interpretation, wird zum Ästhetizismus, zum System abgelöster Zeichen, bar jeglicher Intention, die das System transzendierte: zu jenem Spiel, als welches die Mathematiker ihre Sache längst schon stolz deklarierten. Die Kunst der integralen Abbildlichkeit aber verschrieb sich bis in ihre Techniken der positivistischen Wissenschaft. Sie wird in der Tat zur Welt noch einmal, zur ideologischen Verdoppelung, zur fügsamen Reproduktion. Die Trennung von Zeichen und Bild ist unabwendbar. Wird sie jedoch ahnungslos selbstzufrieden nochmals hypostasiert, so treibt jedes der beiden isolierten Prinzipien zur Zerstörung der Wahrheit hin.2
In der Beurteilung der funktionalen und sprachlichen Differenz wird damit ein wesentlicher Unterschied zwischen Wissenschaften und Dichtung erkennbar. Während im literarischen Diskurs die Aufspaltung in Wissenschaften und Künste meist beklagt und eine Annährung oder gar eine Wiedervereinigung erhofft wurde, wurde die zunehmende Spezialisierung und Differenzierung in den wissenschaftlichen Diskursen durchwegs positiv als Zeichen des Fortschritts gewertet. Naturwissenschaftler – speziell Physiker – tendierten zu einer Verhältnisbestimmung im Zeichen der Divergenz, während die meisten literarischen Autoren ein Verhältnis der künftigen Konvergenz anstrebten. Von diesem Befund ausgehend können künftige Untersuchungen eine Perspektive auf die literaturhistorische Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts eröffnen. Erinnert sei beispielsweise an die poetologische Ausrichtung der Dichtung an der Naturwissenschaft durch den literarischen Naturalismus. „Die Basis unseres gesammten modernen Denkens bilden die Naturwissenschaften“, schreibt 1887 Wilhelm Bölsche in Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie und er fährt fort: Die Erscheinungen der Natur selbst haben uns allmählich das Bild einer unerschütterlichen Gesetzmässigkeit alles kosmischen Geschehens eingeprägt […]. Das vornehmste Object naturwissenschaftlicher Forschung ist dabei selbstverständlich der Mensch geblieben, und es ist der fortschreitenden Wissenschaft gelungen, über das Wesen seiner geistigen und körperlichen Existenz ein ausserordentlich grosses Thatsachenmaterial festzustellen, das noch mit jeder Stunde wächst, aber bereits jetzt von einer derartigen beweisenden Kraft ist, dass die gesammten älteren Vorstellungen, die sich die Menschheit von ihrer eigenen Natur auf Grund weniger exacter Forschung gebildet, in den entscheidendsten Puncten über den Haufen geworfen werden. Da, wo diese ältern Ansichten sich während der Dauer ihrer langen Alleinherrschaft mit andern Gebieten menschlicher Geistesthätigkeit eng verknotet hatten, bedeutete dieser Sturz nothwendig eine gänzliche Umbildung und Neugestaltung auch auf diesen verwandten Gebieten. Das bekannteste Beispiel hierfür ist die Religion […]. Ein zweites Gebiet aber, das auch wesentlich in Frage
|| 2 Theodor W. Adorno und Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004.
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kommt, ist die Poesie. Welche besondern Zwecke diese auch immer verfolgen mag und wie sehr sie in ihrem innersten Wesen sich von den exacten Naturwissenschaften unterscheiden mag, […] ganz unbezweifelbar hat sie unausgesetzt, um zu ihren besondern Zielen zu gelangen, mit Menschen und Naturerscheinungen zu thun […]. Eine Anpassung an die neuen Resultate der Forschung ist durchweg das Einfachste, was man verlangen kann.3
Rund 40 Jahre später geißelt Robert Musil das naturalistische ‚Kopieren des Lebens‘ (vor allem bei Zola) als fehlgeleitete Adaption naturwissenschaftlicher Maßstäbe. Aber auch er sieht die unausweichliche Notwendigkeit, die Dichtung an den Naturwissenschaften und ihren Ergebnissen auszurichten: Die Lösung war falsch –, Zola hatte sich eine sehr unvollständige Vorstellung vom Wesen der Naturwissenschaft gemacht und diese noch dazu unrichtig übertragen – aber die Problemstellung war richtig; denn die Anpassung an das naturwissenschaftliche Weltbild kann der Literatur nicht erspart bleiben und ein gut Teil ihrer heutigen Gegenstandslosigkeit geht darauf zurück, daß sie sich dabei verspätet hat.4
Trotz allen Aufspaltungen und ‚Schismen‘ gab es weiterhin Autoren, die für eine – teils auch wechselseitige – Annäherung der ‚zwei Kulturen‘ eintraten und diese sowohl poetologisch als auch wissenschaftstheoretisch reflektierten. Nicht selten griffen sie in ihren Überlegungen Gedanken aus dem 17. und 18. Jahrhundert auf. Gerade die sprachskeptischen und sprachkritischen Ansätze dieser Zeit sollten sich für Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als fruchtbare Anknüpfungspunkte erweisen. So entwickelte etwa Hermann Broch seine Symboltheorie der Dichtung im Rückgriff auf romantische Zeichen- und Sprachkonzepte.5 Möglich war dies, weil die Sprachreflexion innerhalb des literarischen Diskurses gegen Ende des 18. Jahrhunderts grundlegende Fragen an das Phänomen Sprache stellte und so – weitgehend unbemerkt von Naturwissenschaft, Mathematik und Logik – wesentliche Aspekte der Sprachkrise um 1900 und des linguistic turn vorwegnahmen. In diesem Sinn kann für die Dichtung und Poetik der Sattelzeit eine reziproke Phasenverschiebung konstatiert werden. Autoren wie Herder, Hamann, Novalis, Friedrich und August Wilhelm Schlegel rea|| 3 Wilhelm Bölsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Aesthetik. Leipzig: Reissner, 1887. S. 3–5. 4 Robert Musil: Zu Kerrs 60. Geburtstag [22. Dezember 1913]. In: derselbe: Gesammelte Werke. Bd. 8. Hrsg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1978. S. 1180–1186; S. 1183. 5 Vgl. Manuel Illi: Signal und Sigel. Hermann Brochs sprach- und symboltheoretische Reflexionen zwischen Romantik und Neopositivismus. In: Wertbilder: Auflösungsprozesse und Erlösungsutopien. Hermann Broch und die Romantik. Hrsg. von Paul-Michael Lützeler und Doren Wohlleben. Berlin, New York: De Gruyter, 2014. S. 87–104.
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lisierten zu einem Zeitpunkt, zu dem man in den Wissenschaften noch ein ungebrochenes Vertrauen in das Repräsentationsinstrument Sprache hatte, dass Sprache unhintergehbares Instrument der Wirklichkeits- und Theoriekonstruktion ist. In ihrem Ringen um eine adäquate poetische Darstellung des Undarstellbaren waren sie mit jenen paradoxen Limitierungen der Sprache konfrontiert, die in Physik, Mathematik und Logik erst rund hundert Jahre später durch tiefgreifende Paradigmenwechsel und Krisenmomente sichtbar wurden und die schließlich, wie Werner Heisenberg schreibt, „dazu geführt [haben], daß die Physiker, wenn sie über das atomare Geschehen reden, […] nur wie die Dichter versuchen im Geist des Hörenden durch Bild und Gleichnis gewisse Bewegungen hervorzurufen“6. In diesem Sinne möchte die vorgelegte Arbeit auch die Untersuchung ähnlicher Phänomene im 19. Jahrhundert und in der literarischen Moderne anregen.
|| 6 Werner Heisenberg: Sprache und Wirklichkeit in der modernen Physik. In: Gestalt und Gedanke. Jahrbuch der Bayerischen Akademie der schönen Künste. Bd. 6. Hrsg. von der Bayerischen Akademie der schönen Künste. München: Oldenbourg, 1960. S. 32–62; S. 51.
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Register Adorno, Theodor W. 279, 405, 407, 469 Agricola, Rudolphus 247 Alembert, Jean le Rond d’ 91, 173–174 Ampère, André-Marie 186 Aristoteles 33, 77, 92, 107–108, 112, 213, 224–225, 230, 232, 235, 240–242, 247, 259, 289–290, 295–298, 302, 310, 313, 362–363, 366–367 Arnauld, Antoine 36, 243, 249, 257 Averroes 291 Bachelard, Gaston 1 Bacon, Francis 172, 240, 250, 255, 404–405, 408 Bacon, Roger 291 Batteux, Charles 64, 92, 309–312, 315, 317, 323, 327, 333, 348, 363, 393–394 Baumgarten, Alexander Gottlieb 38, 50–53, 55, 58, 62, 84, 90, 98, 158, 237–238, 251, 273–274, 312, 317–324, 325, 331– 332, 335, 347–349, 363, 368–369, 370, 375, 391, 403 Bergman, Tobern 445, 447–448 Berkeley, George 44, 71–74, 79–80, 97, 160, 202–205, 224, 266 Berthollet, Claude-Louis 445, 449 Biot, Jean-Baptiste 186 Blumenberg, Hans 165, 357–358, 368–370, 374, 407 Boccaccio, Giovanni 292–296, 298, 302, 305, 307, 310, 361 Bodmer, Johann Jakob 61, 309, 312, 324, 332 Boileau, Nicolas 304–306, 309 Bölsche, Wilhelm 470 Bolyai, János 221, 226, 409 Bolzano, Bernard 225, 245, 253–254, 261 Bombelli, Rafael 193, 209 Boole, George 214, 261–264 Brandes, Heinrich Wilhelm 186–191, 418– 420 Breitinger, Johann Jakob 61, 309, 312, 324– 325, 333, 368–369, 371 Brisson, Mathurin-Jacques 185–187 Broch, Hermann 278, 471
Buffon, Georges-Louis Leclerc, Comte de 183 Cardano, Girolamo/Hieronymus Cardanus 198, 208–209 Cauchy, Augustin-Louis 220 Cicero 94, 236, 241, 298, 305 Commandino, Federico 234 Condillac, Étienne Bonnot de 83–91, 94, 97– 98, 106, 111, 118–119, 145, 155, 160, 181, 194–195, 204–208, 210, 217–218, 225, 266, 295, 388, 391 Dalton, John 452 De Morgan, Augustus 214–215, 261–264 Dedekind, Richard 227–229 Descartes, René 5, 34–36, 44, 63, 70, 99, 112, 166, 172, 190, 192–194, 200–202, 216, 236–238, 243, 248, 256–258, 265, 271–272, 304, 381, 402 Diderot, Denis 91–98, 111, 119, 132, 159–161, 391–392 Diogenes Laertios 233 Dubos, Jean-Baptiste 96, 307–312, 317, 324, 327–328, 332, 362 Einstein, Albert 230 Enzensberger, Hans Magnus 467 Euklid 169–170, 191, 213, 216, 221, 226, 230, 233, 244, 268–270, 420 Euler, Leonhard 173, 210, 225 Fabricius, Johann Andreas 252 Fichte, Johann Gottlieb 342–343, 347, 350, 383, 385, 402 Fleck, Ludwik 1 Foucault, Michel 4–5, 9–15, 17–18, 24–25, 29, 132, 182–183, 324, 387–389, 393, 397, 417 Fourier, Joseph 186 Frege, Gottlob 215, 229, 264, 409 Fresnel, Augustin 186 Fries, Jakob Friedrich 426, 428, 464
DOI 10.1515/9783110464252-033, © 2017 Manuel Illi, publiziert von de Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 Lizenz.
498 | Register
Galilei, Galileo 166, 171–173, 177, 181, 301, 392 Gauß, Carl Friedrich 195–197, 211–212, 218, 221, 225–227, 229, 409 Gehler, Johann Samuel Traugott 6, 185–191, 414, 416, 434, 446, 448–449 Gellert, Christian Fürchtegott 324, 326–327, 333, 402, 448 Geoffroy, Étienne François 445, 447 Geulincx, Arnold 257 Gmelin, Leopold 185 Goethe, Johann Wolfgang von 6, 179–181, 190, 267, 312, 335, 374, 380, 402, 413– 465, 469 Göttling, Johann Friedrich August 446–449, 455 Gottsched, Johann Christoph 60, 312–318, 324–325, 327, 332, 348, 363, 367, 369, 390–392, 404 Hallbauer, Friedrich Andreas 252 Hamann, Johann Georg 120, 123, 133–144, 148, 152, 155–161, 178, 282, 393, 395, 435, 471 Harris, James 78–81, 97–98, 249 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 244, 260, 275, 347, 373, 402 Heisenberg, Werner 414, 472 Herder, Johann Gottfried 120, 123, 144–155, 156–161, 295, 304, 312, 373, 376–380, 383, 393, 395, 402, 408, 435, 471 Herodot 102, 362 Herschel, Friedrich Wilhelm 452 Hesiod 292 Hilbert, David 22, 176–177, 222–223, 229– 231, 409 Hippasos von Metapont 269 Hobbes, Thomas 44, 99, 112, 200, 255, 266 Homer 129, 292, 301, 303, 367 Hopital, Guillaume de l’ 202 Horaz 92, 290–291, 295, 298, 305, 308, 316, 367, 391, 408 Horkheimer, Max 279, 405, 469 Horner, Johann Caspar 185 Hume, David 74–78, 79–80, 97–98, 161
Jacobi, Friedrich Heinrich 351 Jaspers, Karl 278 Kant, Immanuel 21, 54, 120–132, 134, 140, 143, 149, 156, 225, 227, 244, 252, 260, 274–275, 278, 334–336, 341, 348, 374– 375, 380, 381–383, 385, 393, 397, 408, 435, 442 Klein, Felix 229 Klopstock, Friedrich Gottlieb 144, 152–153, 309, 325, 329–333, 371–373, 394, 402, 408 Koselleck, Reinhart 4 Lafond, Joseph-Aignan de 186–189 Lambert, Johann Heinrich 240, 245, 259, 262 Lancelot, Claude 36 Lavoisier, Antoine Laurent de 445, 450 Leibniz, Gottfried Wilhelm 36, 37–42, 50, 54, 59, 64, 84, 99, 158, 166–167, 193–194, 196, 200–204, 206, 209, 214–215, 216, 220, 224, 238, 241, 244, 246, 250, 257– 259, 262, 264, 266, 271–273, 281, 348, 354, 368, 388–389, 390, 405 Leonardo da Vinci 301 Lessing, Gotthold Ephraim 152, 309, 312, 325, 327–330, 332, 364, 371, 373, 393, 402, 408, 438 Littrow, Karl Ludwig von 185, 418 Lobatschewski, Nikolai Iwanowitsch 221, 226–227, 409 Locke, John 5, 36–44, 71–73, 79, 160, 200, 255–256, 270, 308, 381 Luhmann, Niklas 4, 9–12, 167, 276–278 Lullus, Raimundus 259 Lyotard, Jean-François 374 Mach, Ernst 176 Macquer, Pierre Joseph 445, 447 Malus, Étienne Louis 431, 464 Maupertuis, Pierre-Louis de 174 Meier, Georg Friedrich 53–61, 84, 98, 161, 312, 336, 389–391, 403 Mesmer, Franz Anton 457 Michaelis, Johann David 133 Mill, John Stuart 225 Moritz, Karl Philipp 133, 365, 373, 408
Register | 499
Muncke, Georg Wilhelm 186–191, 364, 374, 413, 428, 464 Musil, Robert 471 Mussato, Alberto 292 Neumann, John von 176–177 Newton, Isaac 4, 166, 173–174, 188–190, 193–194, 204, 219–221, 234, 348, 413– 435 Nicole, Pierre 243, 249, 257 Nieuwentijt, Bernard 202–205, 220 Nordheim, Lothar 176–177 Novalis/Friedrich von Hardenberg 20, 287, 351, 358, 370, 373, 385–386, 398–400, 408, 471 Opitz, Martin 302–303, 313, 362, 404 Ørsted, Hans Christian 186 Ovid 292 Pappos von Alexandria 233–235 Parmenides 303 Peacock, George 262 Peano, Giuseppe 215, 228 Pelloutier, Simon 332 Perrault, Charles 306–307 Petrarca, Francesco 292 Pfaff, Christoph Heinrich 425, 427–431, 464 Philo von Alexandrien 268 Platon 33, 107, 154, 169, 224, 230, 233, 236, 240, 268, 289, 293, 303, 305, 324, 366, 369, 405 Poisson, Siméon Denis 186 Proust, Joseph Louis 452 Pseudo-Longinus 291 Quintilian 236, 269, 301 Ramus, Petrus 236, 247 Reinhold, Carl Leonhard 351 Ritter, Johann Wilhelm 178, 185, 416, 452– 453, 456 Rousseau, Jean-Jacques 16–17, 110–120, 132, 145, 155–161, 272, 295, 311, 351, 373, 393, 435, 468 Russell, Bertrand 231
Savart, Felix 186 Scaliger, Julius Caesar 16–17, 107, 294–299, 301–303, 307, 310, 362, 368 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 343– 348, 364, 373, 377–378, 384, 402, 405 Schiller, Friedrich 89, 312, 337–342, 358, 364, 371–373, 393, 396–397, 402, 408, 435, 462, 465 Schlegel, August W. 342, 347–349, 373, 398–399, 400, 472 Schlegel, Friedrich 19–20, 345, 349–360, 363, 370, 373–374, 378, 384–386, 399– 400, 403, 405–407, 465, 471 Schlick, Moritz 287 Schröder, Ernst 261–264 Schubert, Gotthilf Heinrich von 457 Sidney, Philip 298 Smith, Adam 81–83, 90, 94, 97–98, 117, 160 Snow, Charles Percy 1, 467 Spengler, Oskar 278 Spinoza, Baruch de 36, 170, 244, 258, 351 Sulzer, Johann Georg 61–67, 67, 98, 237– 238, 274, 373, 390–392 Tertullian 268–269 Thomas von Aquin 291 Ueberweg, Friedrich 221 Vico, Giambattista 99–110, 136, 147, 155– 160, 208, 272, 311, 373, 393 Viète, François 192–193, 198–199, 216, 234– 236 Werneburg, Johann Friedrich Christian 416, 429 Whewell, William 240 Whitehead, Alfred N. 178, 184 Winckler, Johann Heinrich 185 Wolff, Christian 38, 48–51, 58, 64, 238, 244, 251, 254, 259, 272–273, 312–313, 317, 335, 348, 403 Zabarella, Giacomo 234, 299–300