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German Pages 527 [532] Year 2001
Sprache im Leben der Zeit
Sprache im Leben der Zeit Beiträge zur Theorie, Analyse und Kritik der deutschen Sprache in Vergangenheit und Gegenwart
Helmut Henne zum 65. Geburtstag Herausgegeben von Armin Burkhardt und Dieter Cherubim
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Sprache im Leben der Zeit : Beiträge zur Theorie, Analyse und Kritik der deutschen Sprache in Vergangenheit und Gegenwart ; Helmut Henne zum 65. Geburtstag / hrsg. von Armin Burkhardt und Dieter Cherubim. - Tübingen: Niemeyer, 2001 ISBN 3-484-73030-7 © M a x Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: A Z Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Heinrich Koch, Tübingen
Inhaltsverzeichnis Vorwort
IX
1. Gespräch und Diskurs Claus-Artur Scheier Heideggers Gespräch Sigurd Wichter Kommunikationsebenen und Diskurs
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2. Sprache und Literatur Peter von Polenz Studentensprache im Duellzwang. Nach einem wiederaufgetauchten Manuscripte von Wilhelm v. Polenz (1885)
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Almut Vierhufe „Bluffende Mimikry". Literarische Stil- und Sprachkritik am Beispiel von Gottfried-Benn-Parodien
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Ulla Fix Die Gedichte satzanfang und Sprachvermögen Sprechenkönnen Sprichwenndukannst. (Be)greifbare Beziehungen zwischen Linguistik und Literatur
67
Matti Luukkainen „Das Kunstwahre" und „das Naturwahre". Zur Semantik im literarischen Text
85
3. Sprachkritik und Zeitgeschichte Hiroyuki Takada Kritische Betrachtungen zu Leibniz' Sprachkritik. Was leistet Leibniz „betreffend die Ausübung und Verbesserung" der deutschen Sprache?
105
VI Christine Kaiser „...diese armen Worte eines innigen Dankes". Zu Fritz Mauthners Danksagung anläßlich seines siebzigsten Geburtstags
129
Hans Peter Althaus „Schleeschaak". Ein Tenor im Visier von Karl Kraus
147
Heidrun Kämper LQI - Sprache des Vierten Reichs. Victor Klemperers Erkundungen zum Nachkriegsdeutsch
175
Siegfried Grosse Politisches Zeitgeschehen und die deutsche Gegenwartssprache
195
4. Lexikologie und Lexikographie Dieter Stellmacher Niederdeutsche Schimpfwörterbücher
211
Klaus-Dieter Ludwig Pragmatische Markierungen im „Paul"
219
Hartmut Schmidt Das Reich der Freiheit
235
Jörg Kilian Die Ordnung der Wörter in den Köpfen der Sprecher. Zum Terminus Gruppe in Hermann Pauls Sprachtheorie
261
Peter Braun Augenblicks- und Gelegenheitsbildungen: für eine begriffliche Differenzierung
283
Horst Haider Munske Über lexikalischen Schrott
291
Georg Objartel Semantische Individualisierung. Ansätze zu Goethe
305
vu Jost Schillemeit .Erlebnis'. Bemerkungen eines Literarhistorikers zu einer Wortbildung des 19. Jahrhunderts
319
5. Semantik und Pragmatik Hans-Joachim Behr Von Wodan bis Henne? Überlegungen zur Klassifikation und Pragmatik einiger althochdeutscher und altsächsischer Zauber- und Segensprüche
335
Helmut Rehbock Gewusst, wem! Exzitative Nebensätze zwischen Alltag und Literatur
351
Heikki J. Hakkarainen Minimalistische grammatische und lexikalische Hinweise zur pragmatischen Positionierung von Hörfunkwerbung
375
Herbert Blume Katt och ratta, Katz und Maus. Ungleiche lexikalisch-semantische Strukturen im Schwedischen und Deutschen
389
Eis Oksaar Pragmatische Aspekte des Schweigens. Interkulturelle Betrachtungen
401
Wenliang Yang ,.Drache" oder „Tiger"? Interkulturelle Interferenzen Chinesisch-Deutsch
411
6. Wissenschaftsgeschichte der Germanistik Dieter Cherubim Pathologia linguae. Die „Krankheiten" der Sprache und deren Remedur
427
νπι Armin Burkhardt Jacob Grimm als Politiker
449
Karl Stackmann Edward Schröder an Hermann Paul. Ein Brief „aus Feindesland"
477
7. Anhang Ehren=Dialog
489
Verzeichnis der Schriften von Helmut Henne
493
Verzeichnis der von Helmut Henne betreuten Dissertationen und Habilitationen
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8. Tabula gratulatoria
Vorwort
Helmut Henne ist geborener Hesse, wie Jacob Grimm, mit dem er sich immer wieder beschäftigt hat. 1 Mit jenem verbindet ihn, nicht nur biographisch, manches. In anderem freilich unterscheidet er sich auch deutlich von ihm. In beidem, der Ähnlichkeit wie dem Kontrast, lassen sich für seine Persönlichkeit Konturen herausarbeiten. Der Geburtsort Kassel, das Studium in Göttingen und die Lehrzeit in Marburg verknüpfen Helmut Henne zunächst topographisch mit Jacob Grimm, der ja in Kassel zur Schule ging, in Marburg studierte und in Göttingen Universitätslehrer war, wohin wiederum Helmut Henne nach langer, erfolgreicher Hochschullehrertätigkeit in Braunschweig als Mitglied der Akademie der Wissenschaften gleichsam zurückkehrte. Beide, Jacob Grimm und Helmut Henne, waren in Umbruchsituationen ihres Fachs besonders aktiv: Jacob Grimm gilt noch heute als eine der maßgeblichen Gründerfiguren der Germanistik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Helmut Henne gehörte zu den aktivsten und maßsetzenden Nachwuchskräften, die seit der Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts das Programm einer neuen, eigenständigen Teildisziplin des Fachs, der Germanistischen Linguistik, entwickelten und zum Laufen brachten. Jacob Grimms Ziel war immer die Sprachgeschichte, auch wenn er als Wissenschaftler weniger durch seine Geschichte der deutschen Sprache als vielmehr durch seine Deutsche Grammatik und das Deutsche Wörterbuch bekannt wurde. Helmut Henne ist von Ausbildung und Interessenausrichtung her zwar gestandener Mediävist und daher auch, geprägt durch seine Marburger Lehrer Walter Mitzka und Ludwig Erich Schmitt, noch Sprachhistoriker von Grund auf, aber viele seiner Schwerpunkte liegen doch deutlich woanders. Wie bei Grimm richtet sich Helmut Hennes Interesse vor allem auf die Lexik der deutschen Sprache, aber mindestens ebenso auf deren methodologischen „Überbau", die lexikalische Semantik. Und zur Praxis der Lexikographie, die sich in der letzten Zeit in der Überarbeitung des Wörterbuchs von Hermann Paul (des „Kleinen Grimm") bewährte, gehört bei Helmut Henne schon lange die systematische Beschäftigung mit älteren und neueren Wörterbuchkonzeptionen unterschiedlicher Art - eine theoretisch-reflexive Anstrengung, die Jacob Grimm eher scheute. Anders als bei Jacob Grimm richtete sich Helmut Hennes Interesse besonders auch auf die Sprachkritik und die Gegenwartssprache. Hier knüpft er eher an den Spätaufklärer Johann Christoph Adelung an, für den Jacob Grimm wiederum wenig Verständnis aufbrachte, während für Helmut Henne
Zuletzt in: Göttinger Gelehrte. Die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen in Bildnissen und Würdigungen 1751-2001. Göttingen 2001.
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Vorwort
dessen „kritische" Wörterbucharbeit, Grammatik und Stilistik ebenso wie seine „pragmatische" Sprachgeschichte den Anstoß zur historischen Reflexion neuerer Sprachtheorien gaben. Über Jacob Grimm hinaus geht Helmut Hennes Interesse an der germanistischen Sondersprachenforschung und - natürlich - an der modernen Gesprächsanalyse. Und auch für Helmut Hennes großes, seine wissenschaftlichen Arbeiten gleichsam durchleuchtendes Interesse an der modernen deutschen Literatur gibt es bei Jacob Grimm, der eher für altdeutsche Texte schwärmte, keine direkte Entsprechung. Soweit der unvollkommene Versuch einer wissenschaftshistorischen Konfrontation, die zugleich Helmut Hennes beständiges und anregendes Interesse an der Geschichte seines Faches, der Germanistik, und speziell an der germanistischen Sprachwissenschaft ins Gedächtnis rufen soll. Erst auf diesem Hintergrund wird prägnant, was Helmut Henne aus seinem Lebensentwurf machte und was nun im einzelnen und in chronologischer Folge vor Augen gerückt werden soll. Geboren 1936 in Kassel, wuchs Helmut Henne im dörflichen Milieu Südniedersachsens (Vernawahlshausen) auf, was ihm nicht nur praktische Dialektkenntnisse, sondern offensichtlich auch - auf der Basis einer hohen verbalen Intelligenz und einer ungewöhnlichen geistigen Beweglichkeit ein gesundes Durchsetzungsvermögen vermittelte. Nach der Schulzeit in Göttingen begann er das Studium der Germanistik, Anglistik und Philosophie in Göttingen, wo er vorbildliche Lehrer und Gelehrte (Wolfgang Kayser, Albrecht Schöne u.a.) kennen und schätzen lernte. In Marburg, wo er anschließend seine Studien fortsetzte und sein Erstes Staatsexamen für das Höhere Lehramt (1961/1962) absolvierte, fand er dann seine erste wissenschaftliche Heimat an einem der wenigen zentralen Forschungsinstitute für deutsche Sprache, dem Deutschen Sprachatlas, das sich in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts stetig von der traditionsreichen Dialektforschung zur breit ausdifferenzierten und theoretisch begründeten modernen Linguistik hin bewegte und damit zu einer Art Kaderschmiede für junge Linguisten und Linguistinnen wurde, die damals noch durchaus erfolgreich mit dem 1964 neu gegründeten Mannheimer Institut für deutsche Sprache zu konkurrieren vermochte. Der Geist dieser „Gründerjahre" mit der ihm eigentümlichen Verbindung von vielfältig offenen Traditionen (Fringsschule) und grundlegender Infragestellung durch neue Paradigmen (Strukturalismus) hat Helmut Henne geprägt und ihn zum Neuerer mit Bedacht, nicht zum „Legionär des Augenblicks" (E. Oksaar nach Nietzsche) 2 , erst recht nicht zum Trendsetter, sondern zum klugen und erfolgreichen Trendverarbeiter und Trendmacher werden lassen. Günstige Umstände und vielseitige Förderung durch seine Lehrer und Betreuer, erst recht die Konkurrenz und wechselnde Zusam2
Vgl. Eis Oksaar, „Laudatio auf Helmut Henne." In: Henne, Helmut (1996), Sprachliche Erkundung der Moderne. Mannheim-Leipzig-Wien-Zürich, S. 5-9.
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menarbeiten im Kreise vieler junger Gleichgesinnter verstärkten diese Entwicklung. Dazu kamen erste Kontakte mit der fortgeschrittenen modernen Linguistik im Ausland, z.B. auf dem 10. Internationalen Linguistenkongreß in Bukarest (1967), über den Helmut Henne seinerzeit zusammen mit Hans Peter Althaus ausführlich berichtete. Aus einem Seminarthema im Grenzgebiet zwischen Sprach- und Literaturwissenschaft erwuchs das Thema der ersten größeren wissenschaftlichen Arbeit, der Dissertation, die 1964 abgeschlossen und 1966 publiziert wurde: Hochsprache und Mundart im schlesischen Barock. Forschend zu lernen und zu lehren, learning by doing also in optimaler Form, war möglich in Form der Tätigkeit als Hilfskraft, Assistent und Dozent am Forschungsinstitut Deutscher Sprachatlas wie am Germanistischen Institut der Philipps Universität Marburg, für die beide damals in Personalunion Ludwig Erich Schmitt verantwortlich war. Erste wissenschaftsorganisatorische und methodologische Herausforderungen brachte die mehrjährige Tätigkeit als Redakteur der international angesehenen Hauszeitschrift des Deutschen Sprachatlas mit sich, der Zeitschrift für Mundartforschung, an deren Modernisierung unter neuem Titel (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik heißt sie seit 1969) Helmut Henne einen bedeutenden Anteil hatte. Zwei Richtungen vor allem kennzeichneten dann seine wissenschaftliche Profilierung zum Hochschullehrer: die intensive Einarbeitung in das vielfältige Gebiet der neueren Semantik und die Arbeit an übergreifenden Modellen germanistischer Sprachforschung. Ersteres führte zur vielbeachteten Habilitationsschrift von 1970, Semantik und Lexikographie (publiziert 1972), deren doppelte Ausrichtung sowohl für die Arbeit an der strukturellen Semantik wie für das Interesse an der historischen Wörterbuchforschung von Bedeutung war. Letzteres mündete schließlich in eines der ersten maßgeblichen Handbücher der neuen Disziplin Germanistische Linguistik - das von ihm zusammen mit seinen Marburger Kollegen Hans Peter Althaus und Herbert Ernst Wiegand 1973 herausgegebene Lexikon der Germanistischen Linguistik, welches trotz aller Konkurrenz durch mehrere vergleichbare Werke und ungeachtet der rasanten Modernisierung der modernen Linguistik in den 70er Jahren eine ebenso erfolgreiche zweite Auflage (1980) erlebte. Noch von Marburg aus war Helmut Henne mit seinen Kollegen zu einem der wichtigsten Gesprächspartner des Mannheimer Instituts für deutsche Sprache geworden. In Konsequenz dessen übernahm er später dort zentrale Aufgaben als Vorsitzender der Kommission für Fragen der Sprachentwicklung (1989-1991) und vor allem im höchsten Leitungsgremium dieses Instituts, dem Kuratorium (1979-1991). 1971 wurde Helmut Henne auf den neugegründeten Lehrstuhl für Germanistische Linguistik an der Technischen Universität Braunschweig berufen. Hier bot sich ihm nun die Möglichkeit, seine Erfahrungen und Pläne in einen neuen Studiengang und größere Forschungsvorhaben umzusetzen.
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Vorwort
Dieser Aufgabe vor allem blieb er bis zum Ende seiner aktiven Dienstzeit treu, nicht aber ohne in vielfältiger und bedeutender Weise nach außen zu wirken. Nicht alle Gebiete, auf denen Helmut Henne wichtige Beiträge leistete, können hier genannt werden. Die Bibliographie am Ende dieses Bandes vermag jedoch einen Eindruck von der Vielfalt seiner wissenschaftlichen Interessen und Leistungen zu vermitteln. Semantik und Lexikographie waren auch nach seiner Berufung weiterhin die Hauptforschungsgebiete. Viele der wissenschaftlichen Vorträge von Helmut Henne beginnen mit einem Blick in den „Adelung", den „Campe" oder den „Grimm", um das zu behandelnde Thema bedeutungsgeschichtlich und kulturhistorisch zu situieren. So war es auch nicht erstaunlich, daß er, der ja schon in Marburg ältere deutsche Wörterbücher wie die von K. Stieler, E. Steinbach, J.L. Frisch, Johann Christoph Adelung und Joachim Heinrich Campe neu herausgegeben hatte, nun auch zunehmend als Berater für neue lexikographische Großunternehmen (z.B. Etymologisches Wörterbuch, Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, Valenzwörterbücher, Fremdwörterbuch, Rechtswörterbuch, Goethe-Wörterbuch, Duden. Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, Überarbeitung des Deutschen Wörterbuchs) tätig wurde, mit wichtigen Fachleuten Pläne einer neuen, der Tradition wie aktuellen Konzepten verpflichteten Wörterbuchlandschaft diskutierte,3 Tagungen zu lexikographischen Themen unterschiedlicher Art im In- und Ausland (mit-)organisierte oder durch anspruchsvolle Beiträge bereicherte sowie immer wieder mit bedeutenden Vorträgen, Handbuchartikeln oder Diskussionen auf diesem Gebiet hervortrat. Aber er blieb nicht bei dem stehen, was er bisher maßgeblich mitentwickelt hatte - der historischen und strukturellen Semantik. Schon in den Beginn seiner Braunschweiger Zeit fällt das Studium der sprachanalytischen Philosophie, insbesondere des Spätwerks Ludwig Wittgensteins, und die Auseinandersetzung mit der Sprechakttheorie J.L. Austins und J.R. Searles. Frucht dieser selbstverordneten Weiterbildung und Weiterentwicklung ist die Nachschrift der wohl markantesten Vorlesung dieser Jahre (Sprachpragmatik, 1975), die der linguistischen Rezeption der pragmatischen Wende in der analytischen Philosophie, der Weiterentwicklung des (sprech-)handlungstheoretischen Ansatzes und der Begründung einer Gebrauchssemantik auf der Basis einschlägiger Traditionen der alten und neuen Sprachzeichendiskussionen gewidmet ist. Im Gefolge der neugewonnenen Einsichten wird zugleich auch in der linguistischen Arbeit eine neue Richtung eingeschlagen: Aus den offenkundigen Defiziten der klassischen Sprechakttheorie erwuchs nun die grundlegende Beschäftigung mit der Gesprächsforschung, für die Helmut 3
Vgl. seine Berichte in: Zeitschrift für germanistische Linguistik 4. 1976, S. 55-64, 339-349. Seit 1993 ist er zudem Mitglied der Kommission Germanistik, Abteilung Wörterbücher, der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
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Henne, zusammen mit Helmut Rehbock, die erste erfolgreiche Einführung in deutscher Sprache (Einführung in die Gesprächsanalyse, 1979, 4. Aufl. 2001) verfaßte. Wie fruchtbar das in seine Umgebung ausstrahlte, zeigt auch ein von den Beiträgen Braunschweiger Mitarbeiter und Doktoranden getragener Sammelband zur breiten Anwendung der Gesprächsforschung (Gespräche zwischen Alltag und Literatur, 1984), der zudem als Festschrift für das zehnjährige Bestehen des Lehrstuhls (1981) konzipiert worden war. Und es ist bezeichnend für die Weite des Blicks von Helmut Henne, daß damit ebenfalls ein neuer Weg für eine historische Sprachforschung, nämlich zu einer Historischen Pragmatik, skizziert und exemplarisch beschritten werden konnte, ein Weg, den er selbst - und seine Schüler mit ihm - später erfolgreich ausbauen sollten. Noch in die Startphase der Forscher- und Hochschullehrerkarriere in Braunschweig gehören zwei besonders erfolgreiche Unternehmungen, bei denen wiederum die alten Marburger Kollegen, aber auch neugewonnene Mitstreiter (Eis Oksaar, Peter von Polenz, Horst Sitta) maßgeblichen Anteil hatten: die Gründung einer in Aufbau, Zielsetzung und Qualität deutlich gegenüber anderen profilierten neuen Fachzeitschrift (Zeitschrift fiir germanistische Linguistik), die seit 1973 beim Verlag Walter de Gruyter, BerlinNew York, erscheint und schon ihren 29. Jahrgang in Angriff nehmen konnte, sowie die Einrichtung einer Buchreihe (Reihe Germanistische Linguistik), die seit 1975 beim Max Niemeyer Verlag, Tübingen, erscheint und mit bisher 225 Bänden vor allem für den wissenschaftlichen Nachwuchs im Fach ein ideales Darstellungs- und Diskussionsmedium wurde. Beide Unternehmen, deren anhaltender Erfolg sich nicht zuletzt Helmut Hennes editorischer Erfahrung, Sorgfalt und Offenheit verdankt, werden sicher auch in Zukunft, nun aber in den Händen der nächsten Generation, eine wichtige Rolle für die kritische Selbstfindung und Weiterentwicklung des Fachs Germanistische Linguistik spielen. Nicht nur dies, aber dies auch empfahl Helmut Henne als Berater für größere wissenschaftspolitische Aufgaben. So war es nicht erstaunlich, daß man ihn bald als Fachgutachter der DFG (1980-1984) verpflichtete und so mit einer Tätigkeit betraute, deren Last er nicht nur willig trug, sondern die ihm zugleich eine hohe Verantwortung für andere aufbürdete, was er sehr ernst nahm. Andere Verpflichtungen im Rahmen verschiedener Beratungsund Betreuungsaufgaben könnte man anfügen. Doch Helmut Henne hatte nie das Gefühl, bei allem dabei sein zu müssen, auch wenn ihm sicher immer wieder interessante Angebote gemacht wurden. Statt dessen brach er wieder zu neuen Ufern auf, in eine Richtung, die freilich den Insidern des alten Marburger Milieus nicht ganz unmotiviert erschien. Jugendsprache hieß jetzt das Thema, das seit 1980 in vielen Vorträgen und Publikationen anund ausgearbeitet wurde und sich zuletzt in zwei größeren, drittmittelfinanzierten Projekten verdichtete: in der Sammlung und Aufbereitung lexikogra-
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Vorwort
phisch-historischen Materials (Bibliothek zur Historischen deutschen Studenten- und Schülersprache, hrsg. zusammen mit G. Objartel, 1984) und in dem ersten, größer angelegten Versuch einer empirisch-systematischen Erfassung des historischen und aktuellen „Jugendtons" (Jugend und ihre Sprache, 1986), beides Leistungen, deren Ertrag nicht nur auf ein breites Interesse - auch in der Öffentlichkeit - stieß, sondern zahlreiche weitere Arbeiten auf diesem Gebiet innerhalb seines Schülerkreises und darüber hinaus veranlaßte. Es scheint kennzeichnend für die Arbeitsweise von Helmut Henne zu sein, daß er dennoch immer wieder auch auf die alten Themen zurückkam. Semantik und Lexikographie wurden daher weiterhin beackert, dabei vorsichtig methodisch (in Richtung Kognitive Semantik) und stofflich (z.B. Aufarbeitung des DDR-Wortschatzes) aktualisiert, 4 schließlich in Wörterbucharbeit (Überarbeitung des Deutschen Wörterbuchs von Hermann Paul in 9. und 10. Auflage) 5 überführt und damit einer praktischen Bewährungsprobe unterzogen, die von ihm und seiner „Wörterbuchwerkstatt", die zugleich eine gute Ausbildungsstätte für den wissenschaftlichen Nachwuchs war, immer als spannende Herausforderung angesehen wurde. Auch die Geschichte des eigenen Fachs blieb ihm ein besonderes Anliegen und wurde immer wieder durch neue Ansätze bereichert. Für die Spätaufklärer J.H. Campe und J.Chr. Adelung war und ist Helmut Henne ohnehin einer der gefragten Spezialisten; Jacob Grimms und Wilhelm Grimms Wörterbucharbeit wurde in speziellen Studien weiter durchleuchtet, und die Überarbeitung des Wörterbuchs von Hermann Paul wurde ihm schließlich Anlaß für eine größere Revision des Beitrags, den dieser Protagonist der Leipziger Schule und Theoretiker einer historischen Sprachwissenschaft mit breitestem Zuschnitt (Germanische Philologie) und vielseitigem Zugriff (Textphilologie, Prinzipienlehre, Handbuch, Wörterbuch und Grammatik) für die Begründung der modernen Sprachwissenschaft geleistet hatte. Es spricht für die immer wieder bewiesene Fähigkeit Helmut Hennes, Wissenschaft interessant zu machen, daß er dabei Material, Fragestellungen und Ertrag seiner Arbeiten auch gerne für ein größeres Publikum in Vorträgen, Berichten, Interviews, Kolloquien, Ausstellungen und Katalogen zu diesen Ausstellungen aufzubereiten verstand, letzteres zu Ferdinand Grimm, einem der weniger bedeutenden Grimm-Brüder (1988), zu Hermann Paul (1997) und schließlich zu Fritz
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5
Vgl. dafür seine Neufassung des Kapitels „Wort und Wortschatz" in der Duden-Grammatik (5. Aufl. 1995 und 6. Aufl. 1998) sowie seinen Artikel zum Wörterbuch der Staatssicherheit (in: Zeitschrift für germanistische Linguistik 2 3 . 1 9 9 5 ) . Mitherausgeber der 9., weitreichenden und allseits gelobten Neubearbeitung war G. Objartel, wichtigste Mitarbeiterin bei diesem Unternehmen H. Kämper-Jensen.
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Mauthner (1999). 6 Sein Herz aber gehörte und gehört ohne Zweifel der „sprachlichen Erkundung der Moderne", wie er es selbst in seinem Vortrag, anläßlich der Verleihung des Konrad-Duden-Preises an ihn (1996), formuliert hat - was das Interesse an der Literatursprache ebenso wie an der Umgangssprache, am Standard ebenso wie an den verschiedenen Substandardmöglichkeiten, an der nachwirkenden Vergangenheit wie an der konventionsaufbrechenden Gegenwart einschließt. Dies alles nüchtern erfassend, suggestiv beschreibend und reflektierend zu bewerten, ist stets seine Leidenschaft gewesen, die nicht zuletzt auch sein Charisma als Hochschullehrer begründete. Auch durch seine Geradlinigkeit, seine intellektuelle Redlichkeit und durch die Schärfe seiner Argumentation (zuweilen sogar im doppelten Sinne) ist er seinen Schülern stets ein Vorbild gewesen. Doch dies betrifft schon mehr die Persönlichkeit als sein wissenschaftliches Werk. Helmut Henne hat viele nachhaltig gefördert, ja in eigenständigen Auffassungen und Entwicklungen sogar bestärkt und zu eigenen Wegen angeregt. Insofern ist er - in bestem Sinne - nicht schulbildend gewesen. Er hat vielmehr bleibende Spuren bei seinen Studierenden, Schülern, Mitarbeitern und Kolleginnen und Kollegen hinterlassen, die als Anreize wirksam waren, sie herausforderten und dadurch auch, wie wir wissen, auf ihn selbst zurückwirkten. Daß diese Wechselwirkung gelang, zeigen nicht zuletzt die zahlreichen, gemeinsam mit immer neuen und anderen Mit-Arbeitem unternommenen und erfolgreich durchgeführten Projekte. Wir alle, die davon profitierten und immer noch profitieren, werden diese Herausforderung weiterhin von ihm erwarten und wissen uns daher in Dank mit ihm verbunden. Auch diese Festschrift, versehen mit allen unseren guten Wünschen für eine aktive Zeit „danach", soll dafür Zeichen und Erinnerung sein.
Armin Burkhardt
·
Dieter Cherubim
Braunschweig, im Juni 2001
6
Die Ausstellung zu Ferdinand Grimm in der Universitätsbibliothek Braunschweig wurde mit B. Richter, die zu Hermann Paul, die auch außerhalb Braunschweigs an mehreren Orten (u.a. Magdeburg, Göttingen, München) gezeigt wurde, mit A. Burkhardt, die Austeilung zu Fritz Mauthner mit Ch. Kaiser konzipiert.
1. Gespräch und Diskurs
Claus-Artur
Scheier
(Braunschweig)
Heideggers Gespräch 1. 2. 3. 4.
Anfang Logos Funktion Gespräch
1. Anfang Die Philosophie war immer politisch, indem sie von Anfang an Sache des politês war, des Städters, des Gleichen unter Gleichen. Von Anfang an war sie darum auch dialegesthai, erwägendes Gespräch, denn ein Gespräch - mehr als ein bloßer Wortwechsel - ist nur möglich, nicht unbedingt unter Gleichen, doch unter solchen, die sich als Gleiche betrachten angesichts der gemeinsamen Sache. Die von Heidegger schon zu Beginn seines lebenslangen „Gesprächs" mit Hölderlin ausgelegte Gnome Viel hat erfahren der Mensch. Der Himmlischen viele genannt Seit ein Gespräch wir sind Und hören können voneinander. meint geschichtlich gelesen: seit der Erfindung der polis.
2. Logos So haben die Griechen denn auch von früh an nachgedacht über Sprechen, Sprache und Gespräch, und die Philosophie war kaum ihrer kosmogonischen Kindheit entwachsen, als sie entdeckte, daß die Welt selbst Gespräch, nämlich der innerste Beweggrund allen Gesprächs, Urteil, Ur-Teilung, logos, ist. Wie immer danach, aneignend oder abstoßend, Heraklit gelesen wurde, am „logischen" Wesen der Welt gab es in der Tradition des europäischen Denkens nie einen Zweifel, unbeschadet der proteisch-reichen Geschichte des logos, die ebenso eine seines Bestreitens ist, Geschichte im emphatischen Sinn aber genau als sein Selbstbestreiten: Selbst-Kritik. Denn von Anfang an ist er - Heraklits „ewiglebendiges Feuer" - to heayto kinoyn: 'das, was sich selbst bewegt' (Piaton).
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Claus-Artur Scheier
Wäre dem nicht so, wäre schon die frühe Sophistik, die verwandelnd der Platonische Gedanke zu sich kam, nicht möglich gewesen. Sie zuerst entwickelte nicht nur eine Technik, sondern eine Technologie des Gesprächs (weniger freilich eine „Gesprächsanalyse" als eine „Gesprächssynthese": die Rhetorik), und es ist, näher betrachtet, wenig verwunderlich, daß der früheste sprachphilosophische Text, der uns vollständig überliefert ist, der Dialog Kratylos, mit Piatons erstem Lehrer den Denker nennt, der in der radikalen Verwerfung der Erkenntnis des irgend Bewegten, der Natur überhaupt, sich in ein ganz uneuropäisch scheinendes Schweigen zurückzog - wäre nicht eben dies Schweigen deiktisch beredt gewesen: Es weist hinaus über alles Wovon. In Piatons Dialogen - als der philosophischen Kunstgestalt des Gesprächs - und, verdeutlicht, in Aristoteles' Poetik kommt noch etwas an den Tag der Geschichte, was seit seinen kosmogonischen Anfangen unabdingbar zum europäischen Denken gehörte: das nach Pathos, Peripetie und Katharsis bestimmte Tragische, das die frühen peripatetischen Historiker, darin entschlossen über ihren Lehrer hinausgehend, dann auch der Geschichte ansahen und damit noch auf dem Boden der klassischen Philosophie selbst die Möglichkeit des christlichen Gedankens eröffneten. Das Gespräch, das Tragische (und so das Komische), die Geschichte - als die des Urteils - und das Urteil - als das der Geschichte - gehören seither zusammen und sind von den epochalen Gestalten der Philosophie auch immer zusammen gedacht worden. So war dies Denken von Anfang an dialogisch, Denken-im-Gespräch, häufig, und noch im zeitgenössisch-mediengerechten Inverview, in der literarischen Form des Dialogs - um nur an Cicero und Augustinus, Cusanus und Bruno, Shaftesbury und Solger zu erinnern - , aber um nichts weniger dort, wo es auf diese Form um des übersichtlicheren Gangs des Gedankens willen verzichtete. Denn das sprechende philosophische Ich (ein doppelter Pleonasmus), wie es uns zuerst, wo nicht in Homer, doch in Hesiod und Archilochos begegnet, ist allem seinem Sprechen zuvor immer schon Glied der geschichtlich so oder so bestimmten Gemeinde, auch, selbstverständlich, das im retrojizierenden Rückblick gern des Solipsismus verdächtigte Cartesische Ich und das Fichtesche, dem in dieser Hinsicht bereits Jean Paul mißtraute. Aber erst im 19. Jahrhundert war dies Eingebundensein des Ich ins allgemeine Gespräch ursprünglich gefährdet - so sehr, daß Kierkegaard das Christentum nur dadurch glaubte retten zu können, daß er auf den gemeindelosen Christen, den „Einzelnen", und die sich selber hintergehende Sprache, die „indirekte Mitteilung" setzte. Dies, nachdem Feuerbach, offenbar vergeblich, auf die freie „Konversation des Menschen mit dem Menschen" gehofft hatte. Jedenfalls wurden Religion, Politik (die praxis der Religion), Kunst (ihre poiesis) und Wissenschaft (die theôria ihrer Welt) in den Rhetoriken, Poetiken und Methodentraktaten immer begleitet von einer reichen Reflexion über Sprache und Gespräch, aber erst das 18. Jahrhundert begann, aus Gründen, die der Terminus „Vernunft-Gefühl" nur summarisch anzeigen kann, instän-
Heideggers
Gespräch
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dig nachzudenken über den nicht länger theologisch präjudizierten „Ursprung der Sprache". Dies zunächst aufklärerisch-empfindsame, dann idealistisch-romantische Unternehmen vollendet sich in Wilhelm von Humboldts Sprachdenken, der, schrieb Schiller an Goethe am 24. Mai 1803, „mitten in Rom nach dem Übersinnlichen und Unsinnlichen schmachtet, so daß Schellings Schriften jetzt seine heftigste Sehnsucht sind". Denn in der Tat ist Humboldts Einsicht in das Wesen der Sprache ohne den Blick auf Schellings Naturphilosophie und ihre ursprüngliche Dualität kaum in ihrer Tiefe zu würdigen: Es liegt aber in dem ursprünglichen Wesen der Sprache ein unabänderlicher Dualismus, und die Möglichkeit des Sprechens selbst wird durch Anrede und Erwiederung bedingt. (Humboldt 1973, S. 24f.; VI 26)
Daß Humboldt, „dessen tiefdunkle Blicke in das Wesen der Sprache zu bewundern wir nicht ablassen dürfen" - so Heidegger (1959, 268) am Schluß seines Vortrage „Der Weg zur Sprache" - , diese ursprüngliche Einsicht zurückbindet in die metaphysische Tradition (auch das hat Heidegger auf seine Weise herausgestellt), zeigt nicht nur die folgende Bemerkung über Ich, Er (Nicht-Ich) und Du, sondern mehr noch das voraufgehende Axiom: Der Ursprung und das Ende alles getheilten Seyns ist Einheit. Daher mag es stammen, dass die erste und einfachste Theilung, wo sich das Ganze nur trennt, um sich gleich wieder, als gegliedert, zusammenzuschliessen, in der Natur die vorherrschende, und dem Menschen für den Gedanken die lichtvollste, für die Empfindung die erfreulichste ist. (Humboldt 1973, S. 23f.; VI 25)
Das ist noch einmal das seit Heraklit immer neu gedachte Wesen des UrTeils der Welt, als Subjekt sich in seine Prädikate zu entzweien und aus ihnen in sich zurückzukehren, zurückgekehrt zu sein, in ihnen bei sich zu bleiben, der von Hegel so genannte spekulative Satz oder die reine Reflexion. Auf Hegel ist hier zu sehen, weil seine Lehre vom spekulativen Satz sein ganzes „System der Wissenschaft" ist diese Lehre - die genannte metaphysische Tradition zu ihrem geschichtlichen Ende bringt. Denn die „Phänomenologie des Geistes" hatte es unternommen, die metaphysische Semantik in ihrer neuzeitlich-idealistischen Abbreviatur im ganzen auf diese ihre reine Syntax zurückzunehmen, deren Dialektik sich für sich in der „Wissenschaft der Logik" entfaltet, um die Semantik der Realphilosophie daraus nicht länger als (natürlich) gegebene, sondern (begrifflich) produzierte zurückzugewinnen. So erweist das System sich als die einzige Arbeit der Mnemosyne der Metaphysik und bewahrheitet Hegels eingestandene Wahlverwandtschaft mit der Eule der Minerva, nur daß der „einbrechenden Dämmerung" 1820, als er die berühmte Bemerkung in der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts machte, die metaphysische „Nacht des Geistes" bereits gefolgt war in Gestalt von Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung".
Claus-Artur Scheier
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3. Funktion Geschichtlich ist damit die „Darstellung Gottes [...], wie er in seinem ewigen Wesen, vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist" (so die Einleitung in die Wissenschaft der Logik), in die Erinnerung der metaphysischen Syntax, der Traktat von der Methode in einen Traktat von der Sprache umgeschlagen, und nicht nur deren Semantik und die Welt treten auseinander, sondern in der Tat der Gedanke und sein Gegenstand, denn was beide zusammenhielt, war eben jene Syntax des reflexiv sich äußernden, offenbarenden logos. Indem es mit diesem in Wirklichkeit nichts mehr ist, indem der spekulative Satz: Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig. nurmehr als handgreiflicher Widersinn oder bare Tautologie zu verstehen war, ist auch aus Humboldts lichtvollst-erfreulichster Ur-Teilung eine Illusion geworden, und seine Einsicht in das ursprüngliche Wesen der Sprache läßt in einen unerwarteten Abgrund blicken. Wenn seither das, was vernünftig wäre, noch nicht ist, das Bisherige aber widersinnig, dann stehen sich jetzt die begriffeproduzierende Sprache, für sich wirklichkeitslos, und das Faktische, für sich begrifflos, unvermittelt gegenüber. Was beide vermittelte, logisch die Copula, der Grund des Urteils, seine Einheit, wird nicht länger geglaubt, und aus jener Ur-Teilung ist die irreduzible Zweiheit geworden, das systêma - schon bei Schopenhauer - abgelöst vom diastèma, die spekulative Reflexivität von der gegen alle Metaphysik spröden Intentionalität. Freges Begriffsschrift zieht darum nur die geschichtliche Konsequenz, wenn sie das Urteil - S-c-P - ersetzt durch den Satz: f(a). Fast gleichzeitig notiert Nietzsche: „die Gesetzgebung der Sprache giebt auch die ersten Gesetze der Wahrheit" (Nietzsche 1973, S. 371). Freges Übersetzung des Funktionsbegriffs aus der Mathematik in die Logik schien zunächst rein instrumenteller Natur zu sein, aber hier war eine Entscheidung gefallen, mit der das Denken im Innersten der Sprache selbst Abschied nahm von jenem Begriff des Seins, der seit Heraklit und Parmenides den Gang des europäischen Denkens bestimmt hatte. Die reine Funktion, zeigte sich - und dieser Einsicht galt die kritische Arbeit von Wittgensteins Tractatus - , ist als die Syntax (die logische, nicht historische „Grammatik") unsrer Sprache zugleich die unsrer Welt so, daß sie sich wohl z e i g t , aber bei Strafe des Unsinns nimmermehr b e s a g e n läßt. Der „unabänderliche!-] Dualismus", den Humboldt der Sprache angesehen hatte, erwies sich wider den metaphysischen Glauben an die D i a l e k t i k zwischen Syntax und Semantik, an das Sichoffenbaren des logos, vielmehr als der unhintergehbare Hi at zwischen beiden, den Heidegger die „ontologische Differenz" nennen wird.
Heideggers
Gespräch
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Denn das berüchtigte „Sein" ist die existenzial umgedachte Funktion wie das „Seiende" das Argument. Und Heideggers Verdikt über die Metaphysik unterstellt folgerichtig, sie habe das Sein nie als Sein gedacht, sondern stets nur als das höchste und allgemeine Seiende. Damit ist hier nicht zu rechten, nur festzuhalten, daß dieser Vorwurf sich mit dem Wittgensteinschen trifft, der metaphysische Satz bilde die logische Form seines Abbildens ab, oder in linguistischer Terminologie: die Metaphysik mache die Syntax der Signifikanten selbst zum Signifikat. Daraus erhellt schon, daß Heideggers reifes Denken Sprach-Denken ist: „Die Sprache ist das Haus des Seins" (Heidegger 1967b, S. 145), und Derridas „II n'y a pas de hors-texte" (Derrida 1967, S. 227) wird daraus nur die „dekonstruktive" Konsequenz ziehen. Zuletzt ist die diastematische Konstellation des Heideggerschen Gedankens diese: Innerhalb der technischen Welt des Gestells - der geschichtlichen Gegenwart der metaphysischen Seinsvergessenheit - besinnt sich das andersanfängliche Denken auf die mit der nicht unmöglichen Kehre des Seins (noch) entzogene Welt des Gevierts, die ihrerseits in der Vierung beruht, die ihrerseits ereignet ist aus der Enteignis. Gegen den metaphysischen Gegenstand und Bestand denkt es die Dinge, die das Geviert so dingen, wie sie von diesem gegönnt sind. Gegenstand und Ding sind das Seiende in seinem Sein, das vormalige Argument; Gestell und Geviert das Sein des Seienden, die vormalige Funktion. Die Vierung aber ist als der Unter-Schied die „leere Stelle" der Funktion, der Hiat zwischen ihr und ihrem Argument und so das, was Frege und seine Erben von der Funktion fernzuhalten gesucht hatten, weil es die logische Syntax wieder - in allzu gefährlicher Nähe zu Nietzsche (wie zu den zeitgenössischen Ideologien) historisch inquiniert hätte. Darum ist das späte Denken Heideggers nicht länger existenzial, sondern seinsgeschicklich. Sein schicke sich freilich seit langem so zu, daß es sich entzieht, und dies Geschick des Entzugs ist die Versammlung des Stellens, das Wesen der Technik nicht als Ge-spräch, sondern als Ge-stell, wohl auch Sprache, aber rechnende, selber gestellte Sprache, deren „Metalinguistik [...] die Metaphysik der durchgängigen Technifizierung aller Sprachen zum allein funktionierenden interplanetarischen Informationsinstrument" ist (Heidegger 1959, S. 160). Die andere Sprache ist die besinnliche des Gesprächs, in dem, für das, allein Ding, Vierung und Geviert zugegen sind: als rein-sprachlichen Wesens.
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Claus-Artur Scheier
4. Gespräch „Das Sein des Menschen gründet in der Sprache; aber diese geschieht erst eigentlich im Gespräch", heißt es schon in „Hölderlin und das Wesen der Dichtung" (Heidegger 1971, S. 38), und in diesem Sinn sind alle Schriften Heideggers - deutlicher seit den dreißiger, abermals deutlicher seit den vierziger Jahren - Gespräche, nicht so sehr die neuerdings vollständig veröffentlichten „Feldweggespräche" oder das große Rechenschaftsgespräch mit dem Japaner - sie sind mehr Klärungen des „besinnlichen" Denkens in sich selber - , eher die vielen Vorlesungen und Vorträge, Gespräche nicht mit den Hörern (hier müßte eher von Psychagogik die Rede sein), sondern dieses besinnlichen a) mit dem metaphysischen, b) mit dem dichtenden Denken. a) Heideggers unablässiges Gespräch - er selbst nannte es so - mit den älteren Denkern verhält bei aller Genauigkeit im Unfeststellbaren. Das hat die philosophiehistorische Forschung allemal irritiert, die denn auch um (teils gewichtige) Richtigstellungen selten verlegen war, wiewohl keine davon geeignet scheint, den Heideggerschen Gedanken selber zu gefährden: er kann immer wie der Igel im Märchen sagen: Ick biin all hier. Denn offenbar ist es für ihn gar nicht um Historisches zu tun, sondern um eine philosophische Syntax, die allererst vorzeichnet, wie zu lesen sei. Näher bilden die Texte, auf die Heidegger sich bezieht, einen Resonanzraum, aus dem das eigene Denken auf unerhörte Weise widerklingt und sich so erst vernehmen kann, indem es auf das hört, was einst wohl gesagt, aber nie bedacht war (was auch seinen gewagten Umgang mit Etymologien erklärt). b) Das eigentlich „Positive" aber als den „Grundzug des Seins selbst" (Heidegger 1967a, S. 144) erfährt dies Denken nicht im Gespräch mit dem metaphysischen, sondern mit dem dichtenden Denken, namentlich im Gespräch mit Hölderlin. Denn die Dichter sind es, die vor-sagen, was die Besinnung nach-denkt, und Hölderin ist, wie kein andrer, „der Dichter des Dichters" (Heidegger 1971, S. 34). Gleichwohl dürfte gerade dies Gespräch das innerste Rätsel des Heideggerschen Gedankens bergen, bringt es doch eine Rückbindung zur Sprache, die im nachmetaphysischen Denken einzigartig ist, eigentlich nur zu vergleichen mit derjenigen Plotins an Piaton. „Die Einheit eines Gesprächs", heißt es in „Hölderlin und das Wesen der Dichtung", „besteht aber darin, daß jeweils im wesentlichen Wort das Eine und Selbe offenbar ist, worauf wir uns einigen, auf Grund dessen wir einig und so eigentlich wir selbst sind" (Heidegger 1971, S. 39). Denn „Redenkönnnen und Hörenkönnen sind gleich ursprünglich", und worauf der Denker im Zuspruch des Dichters hört, ist der ursprüngliche Zuspruch des Seins selbst, nicht der des, schon sprachlichen, Gevierts als des Seins des Seienden, sondern des Seins als Sein, der Vierung als der ursprünglich gedachten Zeit, des Zeitigens. Die Sprache selbst spricht nämlich „als das Geläut der Stille" (Heidegger 1959, S. 30), und in der Stille übersetzt Heidegger die
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(Parmenideische) Dikê als die „Zeige", wie er die ontologische Differenz, den Unter-Schied zwischen Sein und Seiendem, Welt und Ding wesentlich denkt als den Riß. „Riß ist dasselbe Wort wie ritzen" (Heidegger 1959, S. 252) und so auch wie Schreiben: so daß jegliches Gespräch zuhöchst Gabe einer unvordenklichen Schrift ist, der gemäß Heidegger den logos auslegt als die „lesende Lege" (Heidegger 1954, S. 216). Hier ist nur noch daran zu erinnern, wie dieser nicht erst in Freges Begriffsschrift vorbereitete Gedanke weitergedacht wird in der Differenz von Schrift- und Sprachcharakter des Adornoschen Kunst-Dings und in Derridas écriture. Auch dies wird nicht das letzte Wort sein über das Gespräch. Denn der logos ist to heayto kinoyn. Und wenn Heimat vormals ein ausgezeichneter Ort war, dann hat doch der alte Heidegger, der die seine genugsam bedachte, einen Vortrag unter dem Titel „Sprache und Heimat" mit den denkwürdigen Worten geschlossen (Heidegger 1983, S. 112): Der Titel könne zuletzt „lauten, wie er lauten muß; nicht obenhin: Sprache und Heimat, sondern: Sprache als Heimat" - Gespräch
als Heimat.
Literatur Derrida, Jacques (1967), Grammatologie. Paris. Frege, Gottlob (1879), Begriffsschrift, eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens. Halle/Saale. - (1969), „Funktion und Begriff." In: ders., Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien. Hrsg. und eingeleitet von Günther Patzig. Göttingen, 3. Aufl., S. 18-39. Heidegger, Martin (1954), „Logos." In: ders., Vorträge und Aufsätze. Pfullingen, S. 207-229. - (1959), Unterwegs zur Sprache. Pfullingen. - (1967a), „Piatons Lehre von der Wahrheit." In: ders., Wegmarken. Frankfurt/Main, S. 109-144. - (1967b), „Über den Humanismus." In: ders., Wegmarken. Frankfurt/Main, S. 145-194. - (1971), Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Frankfurt/Main, 4. Aufl. - (1983), Sprache und Heimat. In: ders., Denkerfahrungen. Frankfurt/Main, S. 87-112. Humboldt, Wilhelm von (1973), „Ueber den Dualis." In: ders.: Schriften zur Sprache. Hrsg. von Michael Böhler. Stuttgart, S. 21-29. Nietzsche, Friedrich (1973), „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne." In: ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Dritte Abteilung. Zweiter Band. Berlin-New York, S. 367-384. Wittgenstein, Ludwig (1989), Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus. Kritische Edition. Hrsg. von Brian McGuinness und Joachim Schulte. Frankfurt/Main.
Sigurd Wichter
(Göttingen)
Kommunikationsebenen und Diskurs* 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.
Einleitung Mikrokommunikation Makrokommunikation Verzahnungen Diskurs und weitere Bindungstypen Differenzierungen zum Diskurs: Diskurssorten, Diskursebenen, Diskursmodi Metaphern für den Diskurs Interpretierbarkeit des Diskurses Organisationen Stereotypie Schluß
1. Einleitung Im folgenden sollen einige Komponenten der Modellierung der Kommunikation einer Gesellschaft erörtert werden. Die Überlegungen haben dabei teils recht vorläufigen Charakter, ergibt sich doch mit der Modellierung der Kommunikation einer Gesellschaft ein weites Feld mit intensiver, gleichwohl nicht zu einem Ganzen zusammengeführter Bestellung. Die Komponenten betreffen die sprach- und kommunikationsrelevante Soziologie der Kommunikationsteilnehmer, die Wege bzw. Kanäle der Kommunikation und vor allem Formen der Kommunikation selbst. Im Hinblick auf die Wege der Kommunikation ist auf die Medien abzuheben mit der Unterscheidung von Mikrokommunikation und Makrokommunikation. Anhand von Kommunikationsformen für die Mikroebene wird das Gespräch stellvertretend besprochen; zentral für die Makroebene ist der Diskurs. Die Gruppierungsprinzipien der Organisation sowie die Wissensund eine entsprechende Sprachverteilung zielen auf im weiteren Sinne soziolinguistische Differenzierungen ab.
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Gedankt sei an dieser Stelle dem Linguistischen Kolloquium der Universität Greifswald, dem ich am 30.5.2000 eine Vorfassung des vorliegenden Beitrags vorstellen konnte, für Aufmerksamkeit, Diskussion und Anregungen, ebenso Albert Busch. Unzulänglichkeiten verantwortet natürlich der Verfasser.
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2. Mikrokommunikation Wenn wir einmal von Begriffsradikalitäten absehen, haben wir als kleinste Kommunikationsgruppe die Zweiergruppe. Sie mag sich z.B. im Gespräch zusammenfinden. Wenn wir die Begriffskonventionen der Gesprächsanalyse übernehmen, so gilt für diese Kommunikationsform, daß jeder der Partner hier das Wort ergreifen, jeder der Partner ein Thema vorschlagen kann. Zwei Partner können sich aber auch - in symmetrischer Kommunikation - im Briefwechsel befinden. Dieser mag sich mittlerweise auch per e-mail ergeben. Und eine Zweiergruppe kann natürlich auch asymmetrisch, institutionell oder allgemeiner sozial bedingt, kommunizieren. Was nun für die Zweiergruppe gilt, kann in wesentlichen Merkmalen auf eine Gruppe mit drei, vier, einem halben Dutzend, vielleicht auch einem Dutzend teilnehmenden Partnern übertragen werden. Im Fall der Symmetrie und der Kooperationsbereitschaft ist immer noch ein Gespräch möglich. Das Gespräch ist mittlerweile gut erforscht. Bahnbrechend war hier die Einführung in die Gesprächsanalyse von Henne/Rehbock 1995, zuerst erschienen 1979. Mit den elf „Gesprächsbereichen der deutschen Standardsprache", die Henne/Rehbock aufzählen, kann man durchaus differenzierte Tagesläufe schreiben. Morgens mag es losgehen mit der Position (1), der „persönlichen Unterhaltung" (ebd., S. 30) etwa in der Familie, nicht notwendig immer weltbewegend („Ist der Kaffee schon durchgelaufen?"), aber lokal oft eminent bedeutsam, familienbewegend eben. Für die Position (2), „Feier-, Biertisch-, Thekengespräche", ist es morgens noch etwas früh. Deshalb rücken wir gleich vor auf die späteren Positionen, die wir je nach Beruf nützen: „Unterrichtsgespräche", „Beratungsgespräche" beim Arzt etc., „Amtsgespräche" z.B. im Rathaus, „Mediengespräche, Interviews" z.B. vor Ort oder im Sender oder in der Redaktion, „Gerichtsgespräche", „Kauf- und Verkaufsgepräche" (ebd.) etc. Nun, gegen Feierabend, kommen wir zu den schon vorerwähnten Typen meist entspannterer Art: „arbeitsentlastet", wie Henne/Rehbock (ebd.), schreiben. Überschaubar auf diese Weise noch, wenn wir uns fragen, was am Tage an Kommunikation gewesen ist. Wir können uns daran erinnern. Am Abend, nach getaner Arbeit oder genossener Muße. Und wir können nach kommenden Gesprächen fragen, prospektiv, in verschiedenen Erwartungen. Auch wenn unser Auge nun wohl wollend auf der Kommunikationsform des Gesprächs ruht, so ist im Hinblick auf die Kommunikationsteilnehmer in zeitgenössischen Gesellschaften natürlich nicht zu verkennen, daß der linguistische Aufenthalt im Bezirk des Gesprächs und weiterer Kommunikationssorten mit einer kleinen Anzahl von Teilnehmern nur einen unter mehreren linguistischen Dienstorten betrifft. Denn für einen vollständigen Über-
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blick über die gesellschaftliche Kommunikation sind in eins natürlich auch solche Kommunikationssorten zu berücksichtigen wie Ansprache, Vortrag, Rundfunk- und Fernsehnachrichten, überhaupt die Produkte der elektronischen und der Druckmedien mit ihrem Millionenpublikum. Die durch die Gruppengröße aufgespannte, in sich vielfältig differenzierte Dimension sei in dichotomischer Vereinfachung als Opposition der Kommunikationsebene der Mikrokommunikation und der Kommunikationsebene der Makrokommunikation gesehen. Richten wir nun unsere Aufmerksamkeit auf letztere.
3. Makrokommunikation Wir fassen die Makrokommunikation als komplementär zur Mikrokommunikation auf. Wenn wir im Hinblick auf die Anzahl der Kommunikationspartner gleich zum anderen Extrem übergehen und die Kommunikationsgruppen mittlerer Größe hier unberücksichtigt lassen, dann ergibt sich als Gebiet die Massenkommunikation. Zwar gilt, daß die Komplexität eines Gesprächs in keiner Weise geringzuschätzen ist, aber im Vergleich zu dieser Kommunikationsebene ist die Massenkommunikation doch einer ganz anderen Liga der kommunikativen Komplexität zuzurechnen. Auf der einen Seite steht das, was die Publizistik den „Kommunikator" nennt, eine im übrigen doch etwas merkwürdig individualisierende Suffixbildung. Aber wie auch immer: Festzuhalten ist, daß die Kommunikation auf der einen Seite, auf der aktiven der beiden asymmetrischen Seiten, durch eine Organisation getragen wird, die nur den Eingeweihten zugänglich ist. Doch auch für den Fernerstehenden läßt sich dabei sagen: Die Komplexität z.B. eines privaten Fernsehsenders, der auf auswechselbare Besitzanteile möglicherweise auch internationaler Provenienz gegründet und auf Werbeeinnahmen und Einschaltquoten angewiesen ist, der im Feld der Konkurrenten zurechtkommen muß, selbst in der Öffentlichkeit steht und möglicherweise auf die eine oder andere Weise eine Symbiose mit politischen Gruppierungen eingegangen ist, kann wohl schon prima facie nicht unbedeutend sein. Was auf der anderen Seite der Massenkommunikation, auf der Seite der Rezipienten, passiert, weiß bzw. erfährt, in der jeweils persönlichen Vereinzelung, jeder, wenn auch sicherlich mit unterschiedlicher Einordnungsfähigkeit. Pro Fernsehsender ist die publikumszugewandte Seite dabei überschaubar gehalten. Es ist alles auf die Adressatengruppen, auf das disperse Publikum, abgestimmt mit dem Ziel, mundgerecht zu liefern. Erst die vergleichende Betrachtung der gesamten Gruppe der Sender deutet etwas an von der Komplexität der heimlichen Anstrengungen, quotenbringend die Klientelgruppen zu bedienen und zu erweitern.
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Sigurd
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Um nicht mißverstanden zu werden. Wenn ich die dem Außenstehenden weitgehend entzogene Komplexität des Produktionsprozesses eines Senders Hunziker (1996) differenziert hier die „organisatorischen Ebenen der Medienproduktion" (ebd., S. 37) aus - der kalkulierten Einfachheit der Rezeption gegenüberstelle, so geht es mir hier nicht um irgendeine undifferenzierte Wertung, sondern darum, die Opposition zur Mikrokommunikation herauszuarbeiten. Zu bedenken wären hier sehr große Felder, in Stichworten nach Hunziker (1996) zumindest: die Massenkommunikation - als ein „elementares Funktionsprinzip moderner Gesellschaften" (ebd., S. -
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9), als „orientiert" an den „Koordinationsmechanismen des Marktes" (ebd., S. 8), mit ihrem „Macht- und Einflußgefälle zwischen den bürokratisch durchorganisierten Sendern und den vergleichsweise unorganisierten Empfängern" (ebd., S. 9), als Vermittlung einer „Massenkultur", deren „Inhalte [...] arbeitsteilig und verwertungsorientiert [...] produziert, über anonyme Märkte verteilt und als Massenprodukte konsumiert werden" (ebd., S. 13), mit ihren „Medienwirkungen auf die Individuen" (ebd., S. 23), „auf die Menschen in ihrer alltäglichen Lebenswelt" (ebd., S. 24) und „auf die Gesellschaft als Ganzes" (ebd., S. 25), als „gesellschaftlich unentbehrlich" (ebd., S. 25), in der Spannung zwischen „Widerspiegelung" und „Verzerrung" (ebd., S. 49), mit ihren „Wechselwirkungen zwischen Mediensystem und Gesellschaft" (ebd., S. 98).
Es ergeben sich für mich aus meiner speziellen Frage nach der Opposition zwischen der Makrokommunikation und der Mikrokommunikation für die Charakterisierung der Massenkommunikation u.a. folgende Punkte, die z.T. schon angeklungen sind: 1.
Unidirektionalität Es existieren natürlich Möglichkeiten der Rückmeldung: der Leserbrief, der uneingeladene oder eingeladene Anruf beim Sender, das Recht auf Gegendarstellung; hinzu kommen das Arrangement des Studiopublikums und die Einzeleinladung als Publikumsgast einer Sendung. Diese Zugänge sind im Hinblick auf die Gesamtproduktion des Mediums aber von geringem Gewicht, und die Einräumung der Publizität über das eigene Medium bzw. die Aussprechung einer Einladung ist überdies - bis auf das Recht auf Gegendarstellung - in das Belieben des Mediums gestellt.
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Dagegen ist selbst in asymmetrischen Kommunikationen der Mikroebene die - möglicherweise sanktionierte - Gesprächsschrittübernahme möglich, und auch in einem Vortrag kann man protestieren. Eine Sonderstellung nimmt hier das Internet ein. Zum Teil gibt es hier Mikrokommunikation, bei e-mails, beim Chatten, in Foren und Netzkonferenzen. Zum Teil haben wir Makrokommunikation, sofern Informationen - auch von einzelnen Teilnehmern außerhalb von Organisationen - ins Internet gestellt werden, auf die alle Teilnehmer - und das sind mehr als zwölf - zugreifen können. Die Rückmeldungsmöglichkeiten sind hier zwar sehr viel besser als in den anderen Massenkommunikationen; gleichwohl ändert sich am grundlegenden Status der auch wesentlich quantitativ bedingten Asymmetrie nichts. Ein einzelner kann in einer Gesprächsrunde adressatendifferenziert antworten; bei einer großen Gruppe wären dagegen adressatendifferenzierte Antworten nur über delegierte Rezeption und Produktion möglich, wobei der Kommunikator natürlich auch in der,Maske' einer Person auftreten könnte. 2. Anonymität und mangelnde Adressierungstransparenz in der Kommunikatororganisation Das Identifikationsangebot über den sogenannten anchorman bzw. die männliche oder weibliche Identifikationsfigur bestimmter Sendungen soll der Anonymität entgegenwirken und die Fiktion eines persönlichen Kontakts bzw. eines Ansprechpartners liefern. Die Simulation des Gesprächs offenbart dessen ungebrochene Orientierungsfunktion. 3. Multiplizierte Uniformität der Meinung und des Wissens Die Adressierung ein und desselben Textes in vervielfältigter Form an ein Millionenpublikum führt zur Parallelkommunikation in der Rezeption dieses Textes und zu kommunikativen Adressatenreaktionen, die entweder durchgängig oder gruppenweise einander ähnlich sein werden; d.h. der einzelne wird angesprochen, und in völlig identischer Weise, allerdings seiner sinnlichen Erfahrung und oft seiner Bewußtheit entzogen, sehr viele andere Rezipienten eines großen Publikums auch. Was die Ebene der Mikrokommunikation angeht, so findet die Identität der Exemplare der Vertextung eines Inhalts ihresgleichen nicht in Gesprächen und kaum in der traditionellen Schriftlichkeit, allenfalls in Vervielfältigungen geschriebener Texte aus privatem Anlaß. 4. Machtkonzentration und Kontrolle Das Medium stellt eine eigene Öffentlichkeit her und kann auf sie und die Umgebung einwirken, in verschiedenster Weise, und auch mit verschiedensten Grenzverletzungen. Dabei begrenzen sich die Medien aller-
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dings oft gegenseitig. Auch die mögliche kontrollierende Opposition zur Staatsmacht ist hier zu nennen, symbolisch konzentriert in j e n e m , j ' a c c u s e " des Emile Zola. Die Ziele der Medien sind in der Regel nicht transparent. Es bleibt wohl eine Ambivalenz zwischen auch emanzipatorischem Gebrauch und Mißbrauch der Massenmedien. Für die symmetrische Mikrokommunikation gilt eine solche Asymmetrie natürlich nicht. Zu bedenken sind aber asymmetrische Mikrokommunikationen, in denen der eine Kommunikationspartner einer durchsetzungsfähigen Organisation angehört oder sonst über eine Dominanz verfügt. Im Punkt der Asymmetrie als solcher liegt Verwandtschaft vor; die Felder der möglichen Auseinandersetzung sind jedoch organisationsspezifisch. 5.
Informationsfunktion Was erfahren wir durch die Mikrokommunikation? Durch die Mikrokommunikation erfährt man über die engste Umgebung Wesentliches und Übriges; weiterhin dann etwas aus erster oder zweiter Hand übers Viertel, über das eine oder andere in der Stadt oder Region, über eine Reise, über ein Fachgebiet, über eine Organisation. Die inhaltliche Reichweite der Mikrokommunikation ist an die Kompetenz der einzelnen Partner gebunden. Die elektronische Massenkommunikation zusammen mit Zeitungen und Zeitschriften erst holt umfassende Informationen ins Haus, holt sozusagen die Welt ans Auge und ans Ohr, aktuell, weitreichend und natürlich mehr oder weniger interpretiert. Natürlich gehört zur Welt auch das Private, das eigentlich doch auf die Mikrokommunikation verweist; mittlerweile wird es durch einige Organisationen der Makrokommunikation in besonderer Pointierung entdeckt.
Die Tagesläufe vieler sind durch die elektronischen Medien geradezu getaktet: Nachrichten zu bestimmten Zeiten, desgleichen im Tagesplan weitere Serviceeinheiten (Verkehr, Wetter, Pollenflug), Sendereihen, Serien etc. Die Sichtflächen und Lautsprecher haben sich dauerhaft in unsere absolute Nähe begeben. Und gering sind noch zu veranschlagen die Zeiträume gegenüber den bereits angedeuteten Gedankenräumen, die sich im Benehmen mit der Massenkommunikation gestalten. Wenn wir bisher von Wissen gesprochen habe, so ist damit auch das sprachliche Wissen bis hin zu den kleinen Einheiten gemeint. Der Einfluß gerade der elektronischen Massenmedien einschließlich der Internetkommunikation auf die Kommunikationsformen und die Einheiten der „langue" ist bekanntlich außerordentlich groß und betrifft den Wortschatz mitsamt der Sprüchekultur, die phonetisch-phonologische Ebene, die Textsortengestal-
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tung bis hin zur Satzebene, die Varietätengliederung in Fachsprachen, Dialekte, Jugendsprache. Eine Beschreibung der gesellschaftlichen Kommunikation muß also auf das Miteinander von Mikrokommunikation und Makrokommunikation abheben, und dies um so mehr, als beide Kommunikationsebenen vielfältig miteinander verzahnt sind.
4. Verzahnungen Die Mikroebene behandelt auch die Themen und Informationen der Makroebene. Man geht hier im persönlichen Gespräch darauf ein, während der Zeitungslektüre oder der Rezeption am Fernseher oder zu anderen Rezeptionsgelegenheiten. Was man auf der Mikroebene untereinander austauscht, kann wiederum Anlaß für die Rückmeldung an das Kommunikatorsystem werden. Aber auch wenn diese spezielle Rückmeldung nicht erfolgt: Der große Einfluß auf viele Personen des Publikums im Hinblick auf Wissen und Werten ist kaum zu unterschätzen. Dieser Einfluß der Makroebene auf die Mikroebene setzt sich insofern in einer Art Kreislauf fort, als akkumuliertes Wissen bzw. akkumulierte Einschätzungen der Mikrokommunikation ihrerseits - etwa im politischen Rahmen - für die Makroebene von Belang werden kann. Auf der Kommunikatorseite haben wir u.a. die Kombination von Makroebene und Pseudomikroebene, z.B. in Talkshows oder in Rundfunksendungen mit Hörerbeteiligung, z.B. in Partnervermittlungssendungen. Wir haben mehrere Kreise: die Gesprächsrunde, dann das Studiopublikum oft als lebende Tapete und schließlich das Massenpublikum „draußen im Lande", und vielleicht im gegebenen Fall noch jenes Massenpublikum der Sendung über die Sendung oder der entsprechenden gedruckten Berichterstattung. Und wir haben die Darbietung von fiktiven Mikrokommunikationen qua Spielfilme oder Serienproduktionen, letztere einschließlich gewisser Zuspitzungen, die de facto Realsatiren darstellen mit der vergüteten Jagd nach sehr Privatem. Aber als Verzahnungsbeispiele sind „Big Brother" und all die anderen natürlich richtig schöne Gegenstände für den Wissenschaftler: authentische Unauthentizität in subtiler Vollendung. Die Darbietung des Privaten in den Medien, also von Verhältnissen auf der Mikroebene, betrifft auch die Politik. Man geht täglich mit dem Kanzler oder seinen Ministern um, oder mit sonstigen Spitzenleuten. Man kennt die Falten in den Gesichtern, und kann auch hier nicht umhin, zu sehr Privates zur Kenntnis zu nehmen. Es ist fast so, als ob die große Bühne zum Teil unserem Wohnzimmer ähnelte. Shakehands durch die Mattscheibe.
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Die Verzahnung von Makro- und Mikroebene haben wir prononciert auch in der Werbung. Die Anregungen kommen konzentriert durch die Medien daher. Die ökonomische Umsetzung erfolgt jeweils auf der Mikroebene. War die Werbung erfolgreich, hat man wieder einen bestimmten Umschlag der Mikro- in die Makroebene. Aber ob erfolgreich oder nicht: Die Marktanalysen erheben das Verhalten und fügen es zu einem Profil zusammen, ggf. zu einem neuen Gang in die Werbung und auf den Markt.
5. Diskurs und weitere Bindungstypen Wir haben bisher mit der Mikrokommunikation und der Makrokommunikation und deren Verzahnungen relevante Elemente der Modellierung der gesellschaftlichen Kommunikation betrachtet. Beide Ebenen sind gesellschaftsweit vertreten, die eine lokal, die andere in Zusammenfassungen bis hin zur vielfachen Millionengröße. Aber es gilt: Die Analyse der Ebenen allein macht noch keinen Sinn, führt nicht zum Sinn der Kommunikation. Diesen Sinn, diesen auch, aber diesen vor allem - müssen wir analytisch zum Ausdruck bringen. Wenn ein Bild erlaubt ist: Man stelle sich vor, jemand würde gesprächsweise gefragt, in welch einem Haus er wohne, und jener antwortete: „Das Haus hat 9000 Ziegelsteine, 2000 Dachziegel, 6 Decken, 6 Fußböden, diverse Wände und eine unbeleuchtete Klingel am Eingang." Oder man stelle sich zur Frage „Wie war's denn heute?" als Antwort vor: „Ich hatte fünf Gespräche à 10 Minuten, hörte dabei drei Statements zu je 8 Minuten, produzierte meist Aussagesätze und 37 Abtönungspartikeln; zwischendurch las ich Zeitung." Nun ist es ja nicht so, als wären diese Auskünfte per se sinnlos. Aber es fehlt doch wohl etwas. Aus der Vorgabe der zentralen Berücksichtigung der eigenperspektivischen Kommunikation nun ergibt sich: Der Sinn unserer Kommunikation ist in dem, worüber wir miteinander sprechen, und in dem, wozu, zu welchem Zweck wir miteinander sprechen, in beiden eingeschlossen auch die Konstitution der Beziehungen zwischen den Kommunikationspartnern. Die Sprechakttheorie hat das für ihre kleine Einheit schon formuliert mit den Grundgrößen der Proposition und Ulokution. Auch Textinhalt und Textfunktion können auseinandergelegt werden. Wir sprechen dann und hören dann, wenn wir der Meinung sind, daß für das Ganze, für die Gesprächsrunde oder aber für die Versammlung oder das Gremium oder aber für die lokale oder gar staatliche Öffentlichkeit, daß also für die Angesprochenen unser Redebeitrag oder unser Zuhören von Bedeutung ist, d.h. in irgendeiner Weise etwas bewegen kann in Beziehung auf das
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Ganze. Natürlich gibt es auch die egomane oder gar destruktive Einstellung, aber auch sie ist, in ihrer Weise, einem Ganzen verhaftet. Kommunikation setzt die Interpretierbarkeit des Ganzen voraus, d.h. die Möglichkeit, Äußerungen wechselseitig und im Hinblick auf das Ganze Sinn zu unterstellen. Ein Weg, die gesellschaftliche Kommunikation nicht nur ihren Einheiten und Medien, sondern auch ihrem Sinn und ihrer Interpretierbarkeit nach näher zu erforschen, ist nun m.E. die Diskursanalyse. Wir verstehen dabei unter Diskurs diejenige Kommunikationseinheit, in der alle Texte vereint sind, in denen und mit denen in der Gesellschaft oder in einer größeren Gruppe ein Thema verhandelt wird. Der Diskurs ist die Einbettung der Texte und gleichzeitig deren Abschließung, d.h. der Rahmen für kataphorische und anaphorische Verweise der Texte untereinander, der Rahmen der themenspezifischen Intertextualität. Einen Beitrag zu einem Diskurs nennen wir auch „Diskursschritt" (vgl. auch Wichter 1999). Selbstverständlich dürfen andere Formen der Bindung von Texten und Textteilen dabei nicht übersehen werden. Weitere Bindungen sind etwa gegeben durch die Soziologie der Kommunikationsteilhabergruppen, durch die jeweils verwendeten Varietäten, durch den Zusammenhang einer Biographie, durch das Miteinander-Auftreten verschiedener Themen auf einer Plattform: eine Tagesordnung, eine Zeitungsseite, eine Zeitung überhaupt, eine Nachrichtensendung, eine Kampagne, z.B. ein Wahlkampf, in dem im übrigen aus bestimmter Perspektive nicht die Themen im Vordergrund stehen, sondern der Zweck bzw. die Illokution. Nun ist nicht zu verkennen, daß die Gliederung umfangreicher Gruppen von Texten auch ihre Schwierigkeiten hat, insofern die Ausdrucksseite weniger strikte Vorgaben enthält als bei kleineren Kommunikationseinheiten. Eines der zentralen Probleme der Diskurslinguistik ist hier zu nennen, nämlich die Frage nach der Abgrenzung der Diskurse gegeneinander. Immerhin gibt es auch auf der Ebene des Textes solche Schwierigkeiten. Aber sie sind auf der Ebene der Diskurse ungleich schwerer zu lösen. Allerdings ist eine fehlende perfekte Lösung kein Grund, die Forschung hier auszusetzen. Denn eine der Möglichkeiten ist die, vorderhand jeweils eine lokale, sich auf ein konkretes Thema bzw. ein konkretes Themengebiet beziehende thematische Setzung vorzunehmen, die einen Diskurs konstitutiert und gleichzeitig die Möglichkeit eröffnet, übergeordnete, thematisch weiter gefaßte Textgruppen als Superdiskurs anzunehmen. Analog dazu können Subdiskurse ausdifferenziert werden.
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6. Differenzierungen zum Diskurs: Diskurssorten, Diskursebenen, Diskursmodi Diskurse lassen sich verschiedenen Typen zuordnen, so daß sich Diskurssorten unterscheiden lassen. Und die Binnenstruktur der Diskurse läßt sich ausdifferenzieren, so daß wir innerhalb eines Diskurses Bereiche unterscheiden können. Im Hinblick auf Diskurssorten lassen sich etwa der Normdiskurs und der Produktdiskurs ausdifferenzieren. Ein Beispiel für den Normdiskurs ist der Rechtschreibdiskurs der letzten Jahre, der zu einer partiellen Änderung der Rechtschreibnormen geführt hat. Ein Beispiel für den Produktdiskurs ist der Computerdiskurs, der seit dem Ende der siebziger Jahre immer größere Aufmerksamkeit auf sich zieht und der mittlerweile in ein Produkt der Anwendung, in den Internetdiskurs, in einer Weise übergeht, daß die Frage des Geräts, also des Computers selbst, in den Hintergrund der Selbstverständlichkeit zu rücken beginnt. Beide Diskurssorten haben ihre typologischen Erweiterungen. Der Normdiskurs hat seine Produktseite, insofern die Bekanntmachung der neuen Normen auch eine Frage der Vermarktung darstellt, und diese Marktsituation mit Beginn der Diskussion schon präfiguriert war. Der Produktdiskurs hat insofern seine Normseite, als die neuen Kommunikationsverfahren z.B. Fragen der publizistischen Verantwortlichkeit aufwerfen. Wenn man die mittlerweile immer stärker ausdifferenzierte Typologie der Textsorten orientierend heranzieht - Diskurse bestehen aus Texten - , dann wird deutlich, daß eine Typologie der Diskurse erst am Anfang steht. Dabei ist die Position der Textfunktionen nicht ohne weiteres auf die Diskursebene analog übertragbar, da sich im Diskurs eben Texte verschiedener Funktionen zusammenfinden bzw. gegeneinanderstehen. Wir haben hier eine mit dem Gespräch vergleichbare Situation, in der die Gesprächsteilnehmer z.B. verschiedene Ziele mit der Kommunikation verknüpfen können, gleichwohl im Gespräch zusammenbleiben und aus einer übergeordneten Perspektive heraus einen bestimmten Beitrag für das Ganze in Verfolg einer konsensuellen oder übergeordnet vorgegebenen Zielsetzung leisten, sei es wider Willen oder letzten Endes willentlich. Diese übergeordneten Perspektiven wären auch für Diskurse geltend zu machen, wobei diese - mangels Konsens auf der Objektebene - auch strittig sein könnten. Eine Binnendifferenzierung von Diskursen ist die Auseinanderlegung der primären Diskursebene - Vorgabe, ggf. Originalität, Verbreitung auf der Makroebene - und der sekundären Diskursebene - Nachvollzug, ggf. Anwendung, Kommunikation auf der Mikroebene. Im Hinblick auf die Kommunikationsebenen der Makro- bzw. Mikrokommunikation läßt sich mithin andeutend feststellen, daß die Primärebene
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insofern mit der Makrokommunikation näher verbunden ist, als hier die größere kommunikative Reichweite gegeben ist. Der Modus der Kommunikation liefert eine weitere Binnendifferenzierung. Wir unterscheiden die pragmatische und die fiktionale Linie (vgl. auch Wichter 1999, S. 27lf.), unter möglichem Einschluß einer religiösen Linie. Die Dinge bei letzterer sind ebenfalls recht kompliziert, und nur Vorläufiges und Vergröberndes kann gesagt werden. Theoretisch relevant bei der Analyse der religiösen Linie ist natürlich vor allem die Berücksichtigung der entsprechenden Standortgebundenheit der Diskursteilnehmer, aber auch der Analysatoren. So wie für einige der eine oder andere fiktionale Text den Objektivitätsanspruch besser erfüllen kann als manche pragmatischen Texte, da letztere so die Überzeugung - die Realität nicht sehen sinnigerweise vor lauter realen Bäumen, so werden auch der Objektivitätsanspruch religiöser Texte, also heiliger respective sogenannter ,heiliger' Texte samt aufruhenden Texten, und die Erfüllung dieses Anspruchs verschieden gesehen je nach dem Standort im Spektrum zwischen Für-Wahr-Halten (i.S.v. Glauben) der religiösen Botschaft und Für-Brauch-Halten derselben. Vor allem für den Standort des Für-Wahr-Haltens kommen von zahlreichen Berufsgruppen bearbeitete, vielfältigste Fragen der Textauslegung hinzu: existentielle Fragen für den, der sich - um die Formel zu benutzen - in der Kommunikation „mit dem ganz Anderen" sieht. Die Linie der religiösen Texte zeigt sich also denen, die Brauch unterstellen, also der Brauchseite, anders als denen, die glauben, also der Glaubensseite - womit die zugegebenermaßen etwas sperrig formulierten Namensschildchen verteilt sind. Der Brauchseite zeigt sich die religiöse Linie nämlich als Kette von Texten, die - von dieser Seite aus formuliert - einen lediglich eingebildeten, gleichwohl potentiell sozialwirksamen Objektivitätsanspruch mit sich führen. „Der Glaube kann Berge versetzen" ist aus dieser Sicht sozialpsychologisch zu lesen. Der Glaubensseite - um aus deren Sicht zu formulieren - stellt sich die religiöse Linie natürlich anders dar: Der religiöse Text ist objektiv wahr im Hinblick auf die Dinge bzw. er ist wahr zu machen mit der Durchsetzung des Nachfolge- und Befolgungsanspruchs (in unterschiedlicher Milde bzw. Strenge, die von verzeihender Toleranz bis zur Menschenverachtung reicht). Neben der Frage der Objektivität der sozialen Verbindlichkeit spielt auch die angedeutete Frage nach dem Verschlüsselungsstatus vor allem der (sog.) heiligen Texte bzw. der Auslegung der Texte eine Rolle in den überaus reichen Spielräumen zwischen den verschiedenen Formen des Wörtlich-Nehmens und den verschiedenen Formen des Abstrahierens. Aus der Sicht der Brauchseite, die (qua Ideal minus krumme Wege) den Weltbildaufbau nach Maßgabe der menschlichen Erkenntnisfähigkeit durch-
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führt und sich auch von Erkenntnislücken nicht zu scheinobjektiven Extrapolationen drängen läßt, sind religiöse Texte irrende Texte, Texte eben, die den Objektivitätsanspruch nicht erfüllen. Zusammengenommen: Für die Glaubensseite sind die religiösen, zumal die heiligen Texte wahr (Es gibt Gott bzw. es gibt die Götter samt so verstandener Welt), und sie sind zu Recht wegweisend, wenn die Texte auch manchmal verschlüsselt formuliert sind. Für die Brauchseite sind die religiösen Texte falsch sowie entweder zu Unrecht wegweisend (nicht zu befolgen: nicht wegweisend) oder trotz falscher Basis wegweisend (zu befolgen, aber nicht der postulierten Basis wegen: eingeschränkt wegweisend); die Verschlüsselung ist ein Immunisierungsgeschenk. Stellen wir uns vor, den kleinen Exkurs abschließend, die Gegensätze wären wie folgt zusammengefaßt: (1) Erfüllung des Objektivitätsanspruchs: plus/minus wahr; (2) Sozialwirksamkeit: plus/minus wegweisend bzw. plus/eingeschränkt wegweisend; (3) Formulierungsweise der Texte: minus/plus immunisiert, dann hätten wir mit der Tradition der plus-minus-Notation einen hübschen Spiegel unserer die Diskussion von Milliarden Menschen zusammenfassenden Vergröberungen, gleichzeitig aber auch die Hoffnung auf den katachrestischen, aber nichtsdestominder weiterführenden Keil.
7. Metaphern für den Diskurs In welcher Weise wird der Diskurs von den Kommunikationsteilnehmern bildlich aufgefaßt, und in welcher Weise läßt er sich wissenschaftlich gewinnbringend bildlich fassen? Anwort auf die erstere Frage kann natürlich nur eine empirische Untersuchung geben. Aber es sei doch vermutet, daß die Anwort eher in der Nähe der Dialogizität liegt als im Bereich des Monologs. Dialogizität liegt etwa den Leserbriefschreibern näher, da sie auf die massenmediale Vorgabe antwortend eingehen und damit u.U. auch auf einen kleinen Dialog mit weiteren Leserantworten. Dialogizität ist auch den Anrufern im Radio näher, die sich - eingeladen durch die Sendung - entsprechend melden. Dialogizität schwebt natürlich auch den elektronischen und Druckkommunikatoren vor, wenn sie das Publikum zur Antwort auffordern, sicherlich nicht immer mit subjektiver Überzeugung von der Dialogizität bzw. überhaupt dem Willen zu ihr, wobei das Internet hier, wie bemerkt, einen eigenen Zuschnitt zu erlangen auf dem Weg ist. Was die wissenschaftlich fruchtbaren Vergleiche angeht, so scheinen mir die auf den Monolog abzielenden Metaphern - in dem Sinne, daß die Gesell-
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schaft einer Erzählung lausche oder daß sie auf jemanden höre - weder den subjektiven noch den objektiven Gegebenheiten zu entsprechen. Es ist natürlich nicht zu verkennen, daß es im Binnenbereich der Diskurse gewisse Asymmetrien gibt, nicht zuletzt gewährleistet durch die sehr wohl bestehenden unidirektionalen Möglichkeiten der jeweiligen Organisationen und kooperierender Massenmedien; man denke an die Öffentlichkeitsarbeit einer - erfolgreichen und selbstbewußten - Regierung oder an die Position von anerkannten Experten. Diese unidirektionalen Kommunikationen sind jedoch - in einer freiheitlichen und international eingebundenen Gesellschaft - oft nur von zeitlich und institutionell begrenzter Reichweite, sei es, daß Kontrahenten mit entsprechendem Gewicht - qua Opposition oder Bürgerbewegung - die Bühne mitbeanspruchen oder daß wissenschaftliche Alternativen oder Gegnerschaften ihr öffentliches Gehör finden und eine neue primäre Diskursebene bilden. Ob der angedeuteten Begrenztheit der Unidirektionalität erscheint es mir angemessener, den Diskurs metaphorisch vom Gespräch her anzugehen als Kommunikationsform des „Gesellschaftsgesprächs". Diskurs als Gesellschaftsgespräch akzentuiert die Dialogizität, die dialogische Ausrichtung bzw. Eingebundenheit der einzelnen Beiträge. Dabei habe ich - als Anbindung - auch im Auge, daß sich ein Gespräch, zumal bei einer größeren Runde - für gewisse Phasen in Subgespräche innerhalb kleinerer Teilrunden aufspalten kann und sich wieder zusammenführen läßt. Anlässe und Gesellungsanregungen gibt es viele, man denke nicht zuletzt an Tagungen mit mehreren Sektionen und Foren samt Couloirgewusel, gar an einen veritablen Tag, oder an die Verhandlungen in Parlamenten usw. Dieses Modell der Gespräche im Gespräch ist für mich diejenige Kommunikationsform der Mikrokommunikation, die der Struktur der Makrokommunikation im Diskurs bildlich am nächsten kommt. Im Gespräch haben wir den Gesprächsschrittwechsel. Das gilt mutatis mutandis auch für den Diskurs, insofern sich makrokommunikativ, auf den verschiedenen Öffentlichkeitsebenen, verschiedene Diskursteilnehmer mit ihren Texten, gesprochen oder geschrieben, in monologischer oder dialogischer Form, zu Wort melden und insofern auch auf mikrokommunikativer Ebene das Thema in der Regel dialogisch verhandelt wird, in der Familie, der Bekanntschaft, dem Arbeitsplatz, der Schulklasse. Ähnliches gilt für die Themenbestimmung. Hier haben wir eine solche von oben, ein agenda setting im Dienste einer Partei oder einer Lobby, aber auch eine Themenbestimmung von Bürgern vor Ort, der je nach Nachdruck ihr makrokommunikatives Gewicht zugestanden werden muß. Wenn die „Erzählungen" als Kommunikationsform beherrschend werden, wenn man tatsächlich eine rein monologische Form der Information und Beeinflussung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene hat, kann man nicht mehr von einer freien Gesellschaft sprechen. Der Monolog als temporäre, zweck-
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gebundene Kommunikationsform auf den verschiedenen Ebenen ist unumgänglich, als alleinige Form j e d o c h steht er gegen die demokratischen Grundlagen.
8. Interpretierbarkeit des Diskurses Es mag bezweifelt werden, ob der Diskurs - wie oben behauptet - interpretierbar ist, d.h. sowohl nach seinen einzelnen Beiträgen als auch nach dem jeweils intendierten bzw. resultierenden Ganzen als sinnvolle Kommunikationseinheit zu unterstellen ist. Eine Bestreitung der Interpretierbarkeit kann sich aus der möglichen Dissonanz vor allem im Bereich des Kommunikationszwecks ergeben. Der eine Beitrag möchte für eine Position werben und etwa zur Nachfolge auffordern, der andere Beitrag vielleicht interessiert sich nicht für positive und negative Einstellungen und legt rein darstellend Fakten aus seiner Sicht dar. Dieselbe Problematik ergibt sich allerdings bereits auf der Gesprächsebene. A u c h hier haben wir die mögliche Dissonanz zwischen den Kommunikationspartnern, im Hinblick auf die Themenwahl, im Hinblick auf die Gesprächsschrittverteilung, und auch im Hinblick auf die grundlegende Frage der Kooperationsbereitschaft trotz thematischer und sonstiger Differenzen. Obwohl die Erfahrung gescheiterter und abgebrochener Gespräche sicherlich nicht selten ist und für den einzelnen manchmal von einschneidender Bedeutung sein kann, hält die Gesellschaft als übergeordnete „Instanz" an der Konvention dieser Kommunikationsform fest, gibt also die Grunderwartung eines sinnvollen und interpretierbaren Ganzen vor. Entsprechendes ist m.E. auch dem Diskurs zu unterstellen. Natürlich sind hier die Wechselbezüge zwischen den Beiträgen in der Regel nicht so eng wie im Gespräch und sicherlich nicht derart, daß jeder Beitrag auf jeden anderen vorliegenden Diskursschritt Bezug nähme, da sich oft sehr viele Personen und Personengruppen sowohl qua Makro- als auch qua Mikrokommunikation über einen längeren, manchmal nach Jahren zählenden Zeitraum an der Diskussion beteiligen, wobei sich jeweils eine Reihe von typologisch relevanten Strukturen ergibt mit den Besetzungen der Primär- und Sekundärebene, der quantitativen und qualitativen Verteilung auf Makro- und Mikrokommunikation einschließlich der j e w e i l i g e n Substrukturen, der Motivation und der Klassifikation der Themen, der Soziologie der Teilhaber und Teilhabergruppen einschließlich ihrer Intentionen etc. A b e r in vielen Fällen ist ein - wie auch immer konfliktreiches - demokratisches Ringen um eine gesellschaftliche Grundverständigung in einer relevanten Frage erkennbar, und Beiträge, die auf konsensuelle Lösungen oder wenigstens auf in konsensuellen Verfahren zu bestimmende Lösungen aus
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sind, unterstellen dem Ganzen einen Sinn. Diskurs- und Gesprächsschritte sind hier analog zu sehen, wenngleich das Ganze eines Diskurses selbstverständlich als sehr viel heterogener aufgefaßt wird als das Ganze eines Gesprächs zwischen wenigen Personen. Natürlich ist es keine individuelle Intention, die einem Diskurs zu unterstellen ist, was im übrigen ja auch für das Gespräch gilt. Die eine gemeinsame Handlung und mithin eine gemeinsam getragene Kommunikation ermöglichende kollektive Intention ist die Gemeinsamkeit zwischen den verschiedenen individuellen Intentionen; die Gemeinsamkeit darf dabei natürlich ein gewisses Mindestmaß nicht unterschreiten.
9. Organisationen Über die gesellschaftliche Kommunikation im eingangs skizzierten Sinn erfahren wir also Wesentliches aus der Diskursanalyse. Der Sammelband von Stötzel/Wengeler (1995) und andere Arbeiten zeugen davon (vgl. Wichter 1999). Was hier weniger oder jedenfalls nicht in wünschenswertem Maß zum Ausdruck kommt, ist die bereits angeklungene Soziologie der Kommunikationsteilhaber in ihrer Bedeutung für die Strukturen der Kommunikation, in umfassender und systematischer Form und unter besonderer Berücksichtigung des staatlichen und wirtschaftlichen Rahmens. Aus unserer Sicht gibt es bislang keine linguistische Teildisziplin, die sich der Kommunikation in dieser Größenordnung spezifisch, umfassend und systematisch annähme. Es geht dabei nicht in erster Linie bzw. in der Hauptkategorisierung um die Zuordnung von sprachlichen Formen und Redefiguren zu Fachsprachen oder Soziolekten oder anderen Varietäten, sondern - tentativ und repräsentativ um einen Aufweis der gesellschaftlichen Kommunikationsgruppen und ihrer Kommunikation im Rahmen des jeweiligen Umfelds und um deren Zweck, Wirkung und Erfolg. Einige vorläufige Überlegungen seien angestellt: Ein Orientierungsgesichtspunkt für die Soziologie der Kommunikationsteilhaber kann dabei, neben anderem, das Gruppierungsprinzip der Organisation sein. Organisationen „sind tendenziell auf Dauer angelegte soziale Einheiten mit institutionellen Regelungen, die das Verhalten der Beteiligten steuern, und mit spezifischen Zielen bzw. Aufgaben, die durch die Mitglieder realisiert werden sollen" (Reinhold 1997, S. 476). Allerdings „wird aus theoretischen Gründen die Zielorientierung als Definitionsmerkmal gelegentlich in Frage gestellt" in Abhebung auf „Koalitionen individueller Akteure" (ebd.). Wir halten an der „Zielorientierung" im definiens fest und sehen Organisationen als wesentlich über ihre - möglichen Modifikationen unterworfenen
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- Zwecke definiert. Die Organisation muß ihre Zwecke in geeigneter Weise verfolgen, um sich selbst zu erhalten. Formen von Organisation sind etwa der Staat und seine Gliederungen nach Ebenen und Sachbereichen, ebenso die Gliederungen der Wirtschaft oder auch die der Kirchen. Eine Konkretisierung findet sich etwa in Benz: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (1989) zu den Sektoren Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und, in interdisziplinärem theoretischem Angang, in Jarren/Sarcinelli/Saxer: Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft (1998), etwa in den Abschnitten „Akteure und Institutionen" und „Probleme politischer Kommunikation auf verschiedenen Handlungsebenen und in Politikfeldern". Das Netz der Organisationen in den angedeuteten Sektoren und auf den verschiedenen Ebenen von der staatlichen bis hin zur kommunalen und subkommunalen Ebene ist aufgespannt. Thema für uns ist die Kommunikation der Organisationen untereinander und mit den ihr zugeordneten Bezugsgruppen: Bürger, Kunden, Patienten, Klienten, Schüler, Studenten, Auszubildende, Leser, Hörer, Zuschauer, Gewerkschaftsmitglieder, Gemeinden, Publika und überhaupt die Öffentlichkeit. Wir unterscheiden hier die o r g a n i s a t i o n s i n t e r n e Kommunikation ohne bzw. mit der Bezugsgruppe, die Kommunikation z w i s c h e n O r g a n i s a t i o n e n und die o r g a n i s a t i o n s e x t e r n e Kommunikation. Das Verbindungsstück zu den Diskursen liefern die Kommunikationszwecke der Organisation. Sie markieren den systematischen Ort im Diskurs nach Inhalt und Funktion. Nun wäre es kommunikationsanalytisch relativ einfach, wenn man nur nach Organisationen gehen müßte. Man hätte deren Zweck, inhaltlich und funktional, und könnte diesen analysieren. Das wäre dann so etwas wie eine Funktionsprüfung oder Evaluation o. dgl. Linguistisch gesehen wäre das allerdings zu einfach gedacht, da weder die Kommunikation innerhalb der Organisation noch die Kommunikation zwischen den Organisationen vollständig durch die Organisationszwecke abgedeckt wäre. Vielmehr ist grundsätzlich mit „Neben-Kommunikationen" (so Baurmann/Cherubim/Rehbock [1981] zum „nichtoffiziellen Schülerverhalten") in einem erweiterten Sinn zu rechnen. Der Tageslauf der Mitglieder erschöpft sich nicht in der reinen Organisationskommunikation, sondern geht darüber hinaus - sei es mit, sei es ohne Konnex zur Organisationskommunikation. Andere Gruppierungsprinzipien bis hin zu privaten Bindungen und privaten, auch individuellen Räumen, die Auto- und Heterodefinition über andere Kriterien als die Vorgaben der Organisation, machen sich geltend bzw. fordern ihr Recht. Die Qualität eines Staates im übrigen, um es leicht überhöht zu sagen, definiert sich geradezu auch über das Maß an respektierter Privatheit. Das Grundgesetz beginnt daher mit den Grundrechten. Wir haben jedoch auf den
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verschiedenen staatlichen Ebenen eine Organisationskommunikation in Form von Wahlwerbung und Wahlentscheidungen der Bürger, im Hinblick auf Legislative und Exekutive, in Form von Information und Beeinflussung der Öffentlichkeit durch die Parteien und Verbände während der Wahlperiode in Wechselwirkungen mit der Reaktion der Öffentlichkeit bzw. ihrer Einzelpublika und in Form von Entscheidungen der Judikative. Die Teilnahme an dieser Organisationskommunikation ist dabei anheimgestellt, wenngleich natürlich erwünscht. Das, was oft komplementär zur Organisationskommunikation, vielfach auch quer zu ihr liegt, ist das Private. Wir haben hier einen eigenen, nicht nur negativ zu den Organisationen und ihren Öffentlichkeiten zu bestimmenden Bereich der Kommunikation vor uns, der in der Regel eben der Mikrokommunikation zuzuordnen ist.
10. Stereotypie Für die Modellierung der Kommunikation einer Gesellschaft ist der Diskurs als Themen verhandlung eine, vielleicht di e zentrale Kategorie, aber natürlich keineswegs die einzige. Im Zusammenhang mit dem Diskurs haben wir auf die Medien der Kommunikation und die mit ihnen gegebenen Besonderheiten abgehoben und die Opposition von Mikro- und Makrokommunikation skizziert. Die Aufmerksamkeit galt dann dem Gruppierungsprinzip der Organisation. Eine weitere, gesellschaftsweit zu unterstellende und kommunikativ relevante Kategorie ist das individuell und kollektiv vorhandene Wissen in seinen spezifischen Verteilungen. Kommen wir in einer letzten Ausführung also zu einem Bereich, der für die Gestaltung von Diskursen von außerordentlicher Relevanz ist, nämlich zur Frage der vorgängigen bzw. resultierenden Wissensverteilung (vgl. auch Wichter 1994). Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß das in einer Gesellschaft akkumulierte kollektive Wissen die Kompetenz eines Einzelnen uneinholbar überschreitet. Der Zuordnungsmodus für das gesellschaftliche Wissen, das ja tradiert, erweitert und modifiziert werden muß, ist die partielle Teilhabe an bestimmten horizontalen Sektoren. Träger des jeweiligen Wissensausschnitts sind vertikal nach Wissensniveaus geordnete Gruppen. Das Wissen ist also im Hinblick auf die gesamte Gesellschaft notwendig ungleich verteilt, unbeschadet möglicher lokaler Gleichverteilungen. Der Wissensvergleich kann über die Klassifikation nach Besetzungstypen erfolgen. Vorgaben für den Vergleich bietet - im Fall der anerkannten Vertikalität - das Expertenwissen. Mit diesem Wissen wird das Wissen nachge-
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ordneter Niveaus verglichen. Als Besetzungstypen für den Vergleich von Wortbedeutungen ergeben sich im einzelnen: - die Gleichbesetzung (die Expertenbedeutung wird reproduziert) - die Näherungsbesetzung (die Expertenbedeutung wird angenähert durch metaphorische oder metonymische Verfahren oder sonst) - die Falschbesetzung (die Expertenbedeutung wird vollkommen verfehlt) - die Nullbesetzung (die Stelle der Expertenbedeutung ist nicht besetzt). Mit diesen Besetzungstypen können weiterhin semantische Merkmale verglichen werden sowie Wortschätze von Personen oder von Personengruppen. Zu unterscheiden ist eine Wissensverteilung ad personam und eine Wissensverteilung ad rem. Die Wissensverteilung ad personam stuft Personen nach ihrem jeweiligen Wissensniveau ein. Die Wissensverteilung ad rem stuft Gegenstände oder Gebiete nach ihrer Bekanntheit ein. Daß eine Person oder Personengruppe über ein höheres Wissensniveau als andere verfügt, hängt mit dem Typus des Kontakts mit dem zugeordneten Wissensgebiet zusammen, über den die Person bzw. Personengruppe verfügt. Eine Rolle spielen hier der Beruf, das private Interesse und weitere, indirekte Beziehungen. Es sind der Gegenstand und die Art der Erfahrung, die zusammen mit der jeweiligen Verarbeitung - das Wissen und insbesondere das sprachliche Wissen konstituieren. Auch die Bekanntheitsverteilung im Hinblick auf die Wissensobjekte ist erwartbar geregelt, insofern die Objekte einen jeweiligen Zugänglichkeitsgrad haben (einfach vs. komplex, der allgemeinen unmittelbaren Erfahrung bzw. nur indirekt zugänglich, einfache bzw. komplexe Voraussetzungshierarchie) und in Bereichen unterschiedlich intensiven Interesses liegen.
11. S c h l u ß
Eckpunkte der Betrachtungen von Komponenten zur Modellierung der gesellschaftlichen Kommunikation waren: 1. die Kommunikationsebenen der Mikrokommunikation und der Makrokommunikation 2. der Diskurs als Realisierung der Eigenperspektiven der Kommunizierenden 3. der Kommunikationsbereich der Organisation
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4. die Asymmetrie der Wissens Verteilung als eine der Kommunikationsvoraussetzungen. Diese Komponenten bilden natürlich nur einen kleinen und, wie gesagt, zumeist recht vorläufig skizzierten Ausschnitt eines Ganzen - eines Ganzen, das, auch linguistisch gesehen, sicherlich nicht ganz ohne Attraktivität sein mag.
Literatur Baurmann, Jürgen/Cherubim, Dieter/Rehbock, Helmut (Hrsg.) (1981), NebenKommunikationen. Beobachtungen und Analysen zum nichtoffiziellen Schülerverhalten innerhalb und außerhalb des Unterrichts. Braunschweig. Benz, Wolfgang (Hrsg.) (1989), Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 1-4. Frankfurt/Main. Henne, Helmut/Rehbock, Helmut (1995), Einführung in die Gesprächsanalyse. Berlin-New York, 3. Aufl. Hunziker, Peter (1996), Medien, Kommunikation und Gesellschaft. Einführung in die Soziologie der Massenkommunikation. Darmstadt. Jarren, Otfried/Sarcinelli, Ulrich/Saxer, Ulrich (Hrsg.) (1998), Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft. Ein Handbuch mit Lexikonteil. Opladen-Wiesbaden. Reinhold, Gerd (Hrsg.) (1997), Soziologie-Lexikon. Unter Mitarbeit von Siegfried Lamneck und Helga Recker. München-Wien, 3. Aufl. Stötzel, Georg/Wengeler, Martin (1995), Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland. In Zusammenarbeit mit Karin Boke, Hildegard Gomy, Silke Hahn, Matthias Jung, Andreas Musolff und Cornelia Tönnesen. Berlin-New York [= Sprache, Politik, Öffentlichkeit 4]. Wichter, Sigurd (1994), Experten- und Laienwortschätze. Umriß einer Lexikologie der Vertikalität. Tübingen [= Reihe Germanistische Linguistik 144]. - (1999), „Gespräch, Diskurs und Stereotypie." In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 27, S. 261-284.
2. Sprache und Literatur
Peter von Polenz
(Trier)
Studentensprache im Duellzwang Nach einem wiederaufgetauchten Manuscripte von Wilhelm v. Polenz (1885) 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Studentensprache gesamtgesellschaftlich Literarisch-Biographisches Die dramatische Handlung Entwicklung des Duellzwangs Sprachliche Rollenregister und Handlungssequenzen Standesgemäße Peinlichkeit
1. Studentensprache gesamtgesellschaftlich Zur reich überlieferten und kommentierten historischen deutschen Studentensprache haben Helmut Henne, Heidrun Kämper-Jensen und Georg Objartel die germanistische Linguistik mit einem sechsbändigen Dokumentationswerk beschenkt (Henne/Kämper-Jensen/Objartel 1984), in dessen Vorwort hervorgehoben wird, daß die historische Studenten- und Schülersprache, über die speziellen soziolinguistischen Bereiche Jugendsprache und Sondersprache hinaus, „ein exemplarischer und zentraler Gegenstand deutscher Sprachgeschichte" ist, da Studenten und Schüler „im 18. und 19. Jahrhundert ein nicht zu übersehender Faktor des kulturellen, wissenschaftlichen und politischen Lebens waren". Bei Studentensprache haben wir es (nach Objartel 1989, S. 201ff.) vor allem im 19. Jahrhundert mit einem „komplexen sozialen und kommunikativen Beziehungsgefüge" in „gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen" zu tun, zumal „die Integration in die bürgerliche Gesellschaft sich als krisenhafter Prozeß gestaltete, der am Ende des Jahrhunderts noch keinesfalls abgeschlossen war", besonders durch die „nationalkonservative Tendenzwende der akademischen Jugend im Kaiserreich". Für diese gesamtgesellschaftliche Perspektive sind neben der Einzelwort- und Sachgruppenlexikographie, neben Herkunfts- und gemeinsprachlichen Verbreitungsanalysen auch pragmatische Textanalysen im Sinne einer „sozialgeschichtlich unterlegten, handlungs- und textorientierten Sprachgeschichte" (ebd., S. 204) erforderlich, und zwar über die internen und halboffiziellen Textsorten des studentischen Vereinslebens hinaus. Welche Rolle haben die verschiedenen Situations- und Rollenregister von Studentensprache nach
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Peter von Polenz
außen hin gespielt? Vor allem in konfliktären Diskursen mit der davon stark, z.T. existenzbedrohend betroffenen nichtakademisch-bürgerlichen Umwelt, besonders in der Zeit, als grundsätzliche Kritik am Duellwesen sich trotz Unterdrückung hervorzuwagen begann.
2. Literarisch-Biographisches Ein solches Beispiel für das Miteinander und Nacheinander mehrerer studentensprachlicher Situations- und Rollenregister im Duellzwang ist mir vor 13 Jahren unversehens mit der Post ins Haus gekommen; es hat seitdem auf die sinnvolle Publikationsgelegenheit einer Festschrift für Helmut Henne gewartet. Es handelt sich um ein 1945/46 verschwundenes, ungedrucktes Manuskript meines Großvaters Wilhelm von Polenz (1861-1903), der in den 1890er Jahren als Romanschriftsteller der sozialkritischen naturalistischen Richtung bekannt wurde (s. Salyámosy 1985), es enthält ein Schauspiel in fünf Akten mit dem Titel Zweikampf. Da der Autor darin moralisch engagiert Kritik an dem in der wilhelminischen Zeit auch in bürgerlichen Akademikerkreisen wirkenden Mensur- und Duellzwang übt, ist anzunehmen, daß ihn im Vorhinein die Erinnerung an den tragischen Tod des ältesten Bruders seines Vaters, des Jurastudenten Wilhelm Ernst von Polenz (18211842), der in Leipzig bei einer Mensur im Corps Saxonia durch Klingenbruch in einem Duell ums Leben kam, zum Schreiben dieses Jugendwerks bewogen hat. Das vorliegende Drama muß um 1885 niedergeschrieben worden sein aufgrund der aktiven Teilnahme des Autors am studentischen Korporationsleben in Berlin. Nach Tagebuchauszügen und Briefen hat sein Bruder Benno von Polenz 1928 in der Zeitschrift Akademische Blätter des „Vereins Deutscher Studenten" (VDSt) Wilhelm von Polenz' Verhalten und seine Erfahrungen während seiner Berliner Studentenjahre dargestellt (B. von Polenz 1928; vgl. Salyámosy 1985, S. 16ff.): Nach Semestern in Breslau (1882/83) nahm er 1883 bis 1885 in Berlin aktiv am Vereinsleben des VDSt teil: als Redner, Organisator, Kritiker und stiller Beobachter. Unter dem Eindruck von Bismarck und Treitschke war er zunächst konservativ und deutschnational eingestellt. In dieser Zeit ist nach einer Tagebuchnotiz die Entstehung von Zweikampf und die Ablehnung von dessen Aufführung im Deutschen Theater bezeugt. Der Name eines der Protagonisten ist Widerspiegelung seiner engen Berliner Freundschaft mit Hermann von Frankenberg (später Stadtrat in Braunschweig). Nach dem kritisch-satirischen Inhalt (jedenfalls in der vorliegenden Fassung) gehört das Stück mehr in die späte Berliner Zeit, in der der Autor zunehmend Kritik am Comment, an Haß und Feindschaft, Antisemitismus, parteiideologischen Kämpfen, Jugendlichkeit
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und Unreife im Vereinsleben übte. Dieser selbstbeobachtete „Umschwung des Denkens und der Lebensauffassung" kann angeregt sein durch seine aufmerksame Teilnahme an einer Sitzung des freisinnigen „Jüdischen Studentenvereins Vielseitig" und durch eine Parisreise. Beziehungen zum sozialkritischen literarischen Naturalismus in Berlin hatte er erst später. In einem Vortrag forderte er 1885 einen sozialkritischen Gegenwartsbezug des Dramatikers: Dieser solle „die Schäden der Zeit und Gesellschaft und die aus ihnen entspringenden Konflikte" darstellen. Die allmähliche Distanzierung von bornierter Konservativität verstärkte sich nach seinem Wechsel an die Universität Leipzig, wo er 1885/86 sein Jurastudium abschloß; er trat aus dem VDSt aus und in den eher demokratischen „Freidenker-Studentenverein Allseitig" ein. Zweikampf ist weder vom Autor selbst noch in den von seinem Bruder Benno 1909/10 posthum herausgegebenen Gesammelten Werken publiziert worden. Auch Miklós Salyámosy (1985) erwähnt es in seiner umfassenden Monographie nicht; er konnte davon auch keine Kenntnis haben, da das Manuskript seit 1945 verschollen war: Nach der „Bodenreform"-Enteignung und Vertreibung unserer Familie und der Plünderung des Hauses im Januar 1946 rettete ein Einwohner von Cunewalde (Kr. Löbau, Sachsen) das Manuskript aus einem Haufen von zur Verbrennung ausgeräumten Sachen. Im Jahre 1987 wurde es mir von dessen Schwiegersohn, Herrn Helmut Winter aus Maintal b. Hanau, freundlicherweise zugeschickt und für das familiäre Wilhelm von Polenz-Archiv überlassen.
3. Die dramatische Handlung Der alternde Gerichtspräsident Steinhausen trägt eine geheimgehaltene MordSchuld seit 25 Jahren mit sich herum: Er hat den Vater des Assessors Frankenberg in einem privaten Ehren-Duell, das durch Nebenbuhlerschaft in bezug auf Frankenbergs Mutter ausgelöst war, unter 4 Augen erschossen. Dieser Duell-Mord wurde auch von der davon betroffenen Frau, zur Aufrechterhaltung von Ehre und Anstand, stets als Selbstmord ausgegeben, also verheimlicht. Nach dem Tod der Witwe bietet Steinhausen dem Assessor an, ihn wie einen Sohn oder Freund in seine Familie aufzunehmen, in der verborgenen Absicht, etwas von seiner Schuld an dem Vaterlosen abzutragen. Frankenberg, der Steinhausens Schuld aufgrund von Andeutungen der Verstorbenen ahnt, nimmt das Angebot zögernd an, um mehr herauszubekommen und ggf. die vermutete Tat zu sühnen. Im Hause des Präsidenten findet Frankenberg freundschaftliches Verständnis bei der ahnungslosen Tochter Agnes, erfährt jedoch Eifersucht und Argwohn von seiten ihres Verlobten, Herrn von Rocken. In zweifacher Weise bricht nun der ständische Duellzwang aufs Neue in die Familie ein: Aufgrund provozierenden Benehmens
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seiner zu Besuch anwesenden studentischen Corpsbrüder Thaler und von Kreysen beleidigt der jugendlich-arrogante Präsidentensohn Fritz den im Hause für den Präsidenten arbeitenden Accessisten (Referendar) Säuberlich, einen Burschenschaftler kleinbürgerlicher Herkunft, der ihn daraufhin zwanghaft zum Duell mit schweren Waffen fordert; und von Rocken treibt seine Eifersucht gegen Frankenberg so weit, daß er ihn zum amerikanischen Duell fordert: Das Würfeln mit ihm über den freiwilligen Selbstmord eines von beiden entscheidet aber gegen den Herausforderer. Säuberlichs Mutter, Witwe eines Oberpostdirektionssekretärs, kann Fritz zwar moralisch zu einem Versöhnungsversuch überreden, aber Säuberlich hält an seiner Forderung nach Satisfaktion fest. Danach eröffnet der Präsident - um Frankenberg vom Versuch eines Ausbruchs aus dem Familienkreis abzuhalten und um die jungen Leute vor erneutem Unheil zu bewahren - ihm seine Schuld am Tod seines Vaters. Daraufhin erklärt Frankenberg das Ergebnis seines Würfelduells mit von Rocken durch Zerreißen der Abmachung für ungültig. Durch Agnes' und des Präsidenten Vermittlung gelingt schließlich die Versöhnung in beiden anstehenden Fällen. Allein mit moralischen Vorhaltungen (falscher Stolz, Eitelkeit, falscher Ehre-Begriff, Wahnsinn, junge thörichte Heißköpfe, sich benehmen wie ein thörichter, unreifer Knabe) wird die Wende herbeigeführt, noch ohne den gesellschaftsgeschichtlichen Hintergrund, der in Polenz' späteren sozialkritischen Romanen und Erzählungen jeweils deutlicher gemacht wird (vgl. Salyámosy 1985).
4. Entwicklung des Duellzwangs Kritik am verbürgerlichten Duellwesen war in der wilhelminischen Zeit ein beliebtes Thema, literarisch und akademisch-publizistisch. Aufgrund zahlreicher Quellen hat Ute Frevert in ihrer Bielefelder Habilitationsschrift die hohe gesellschaftsgeschichtliche Relevanz dieses Themas nachgewiesen (Frevert 1991). Es handelte sich nicht nur um anachronistische Nachäffung adeliger Traditionen im Rahmen der „(Re)feudalisierung" des deutschen Bürgertums (vgl. von Polenz 1999, S. 26ff.; nach Wehler 1995, S. 718ff. u. 1269). Nach Duellstatistiken ging von 1850 bis 1912 die Beteiligung von Adeligen an Duellen auf 14 % in Baden, 19 % in Preußen zurück, die von Bürgerlichen stieg auf 85,9 % in Baden, 70,3 % in Preußen; in der Mehrheit der Fälle duellierten sich immer weniger Offiziere und Beamte, immer häufiger Studenten, in Baden zwischen 1850 und 1912 83,2 % (vgl. Frevert 1991, S. 270). An der Anti-Duell-Bewegung zu Anfang des 20. Jahrhunderts waren Adelige maßgeblich beteiligt. Im Laufe des 19. Jh. verlor der Adel sein Monopol auf Satisfaktionsfähigkeit·, aufstiegsorientierte Schichten des Bürgertums, vor allem Akademiker, Bildungsbürger und das immer bürgerlicher
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werdende Reserveoffizierskorps, entwickelten den Duellzwang zu einem Mittel eigener Standesrepräsentation gegen die Vereinnahmung durch den modernen Staat. Der Duellzwang war in der Frühen Neuzeit als anarchistisches Mittel des Adels gegen das staatliche Gewaltmonopol des fürstlichen Absolutismus entstanden (ebd., S. 28ff.; Laermann 1977, S. 143f.). Mit ähnlicher ständischer Selbstjustiz „legten Bürger im 19. Jahrhundert Widerspruch gegen ,bürgerliche' Verhältnisse und staatliche .Omnipotenz' ein" und beharrten auf der „Herrschaft einer selbständigen persönlichen Ehre und Ehrengesetzgebung" (Frevert 1991, S. 187). In den affirmierenden ebenso wie den kritischen Stellungnahmen zum Duellwesen im 19. Jahrhundert wird eine alternativkulturelle, aber antimoderne Motivation des bildungsbürgerlichen Duellzwangs in vielfältiger Weise deutlich (vgl. ebd., Kap. V und VI): Gegen bloßes Nützlichkeits- und Leistungsdenken des immer mehr staatsautoritären industriegesellschaftlichen „Materialismus" und des staatlichen Gewaltmonopols wird eine repräsentative „heroische Utopie" gesetzt: Handeln statt Schreiben, Redenhalten und Rechnen, autonome Persönlichkeit statt Gemeinwohl, Verdienst statt Dienst, Ehre statt Interesse, Männerbund statt Familie. Vor allem zur Bloßstellung der „nachrückenden", noch moralisch und leistungsorientierten Aufsteiger aus unteren Bevölkerungsschichten in das sich sozial nach unten hin distanzierende Großbürgertum wurde der Zwang zum privaten Ehren-Zweikampf in bestimmten universitätsnahen Gruppensituationen durchgesetzt und vor der normalen (bürgerlichen und staatlichen) Öffentlichkeit durch hochritualisiertes Sprachverhalten und Verschwiegenheit abgeschirmt. Nach Ute Freverts Quellen wurde nach einem stereotypen „Drehbuch", das „allen Beteiligten feste Rollen zuwies", das Duell seit dem 18. Jahrhundert zur narzißtischen „Prügelprophylaxe" und Selbstreflexionssperre zeremoniell entemotionalisiert, in „systematischer Analogie" zur Rolle des Krieges in der gewaltlosen bürgerlichen Gesellschaft. Dieses „Gesellschaftsspiel" verlief in zwei Phasen mit zwei soziolinguistisch sehr unterschiedlichen sprachlichen Rollenregistern: Auf die eher „ungezogene", jugendlich-arrogante Spott- und Beleidigungsphase mit grundsätzlich unverzeihlichen Verbalinjurien (duellauslösende „Codewörter") folgte abrupt der Abbruch der normalen interpersonalen Kommunikation durch den Übergang zu emotionslosen, fest geregelten, nicht mehr argumentativ verhandelbaren Kurzmitteilungen als Einleitung des eigentlichen Duellvorgangs, bei dem dann nur noch fast wortloses, kaltblütig-höfliches Zeremoniell mit Verletzungs- und Tötungswaffen herrscht. In sozialer Distinktion vom verachteten Prügeln von „Schulknaben und Ackerknechten" wurde so der elitesozialen Gewalt „ein würdiges und ästhetisches Gewand übergestreift" (Frevert 1991, S. 197, nach zeitgenössischen Quellen).
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5. Sprachliche Rollenregister und Handlungssequenzen Von den sprachlichen Merkmalen der soziolektalen Rollenregister des großbürgerlichen Duellzwangs sind viele der Dialoge des unveröffentlichten Polenzschen Jugend Werkes Zweikampf geprägt, das mit der typisch frühnaturalistischen Rollen- und Gruppencharakterisierung durch realistisch differenzierten Sprachgebrauch arbeitet. Die mehrphasige Comment- und Duellantensprache ist deutlich abgegrenzt eingebettet in das hochgradig korrekte Bildungsbürgerdeutsch der kritisch einwirkenden Außenstehenden, aber vom Duellzwang leidvoll Mitbetroffenen: des Präsidenten, seiner Tochter Agnes, des Kammerdieners John, des Dienstmädchens, der Mutter Säuberlich (mit deutlich kleinbürgerlichen Tönen im sentimentalen Stil von Trivialromanen) sowie der drei erst im Laufe der Handlung in den Duellzwang Hineingezogenen: Frankenberg, Säuberlich, von Rocken. Diese soziopragmatisch unspezifische, bürgerliche Wohlanständigkeit und Bildung repräsentierende Sprachschicht sei hier kurz angedeutet mit einer Reihe von rekurrenten Wertwörtem: Achtung, Aufwartung, Ehrbarkeit, Erfahrung, Erziehung, Glück, gütig, Häuslichkeit, Herzlichkeit, Hoffnung, liebenswürdig, Mitmensch, Reife, Schönheit, Seele, trefflich, vernünftig, Verpflichtung, Vertrauen, Wahrheit, Wohlbefinden, usw. In diese „heile" Sprachwelt brechen die Corpsstudenten - gleich vom ersten Auftritt an - angeberhaft renommierend mit einem reich bestückten IngroupJargon ein, der ostentativ auch gegenüber völlig Außenstehenden (wie der Mutter Säuberlich und dem Diener John) verwendet wird: Lateinische Wörter und Floskeln als akademische Bildungsflitter: ad loca, in puncto, Studiosus, Exempel statuieren, silentium!, corona, O sancta simplicitas!, in corpora, terminus technicus, species, pater peccavi!, O tempora O mores!. Französisches: traitable, Signalement, Contrage, Rencontre usw. Stark metaphorische, verfremdende Situationswörter: Für die Saufgeselligkeit: Frühkneipe, Kater, ungetaufter Kater, Kater ersäufen, einen Bierjungen saufen, ankontrahieren, Papst, Ocean, heiße Sitzung, Hitze löschen, warm abschwimmen, Salamander reiben, der Landesvater steigt, auf Bierehre! Für die auf das Duell hinführende Fechtkunst: die Klinge fuhren, Schläger, Fechtboden, Pauken, Binden, Bandagen, Waffengang, Paukzeug, Rapiere, Paukkomment, Mensur, Auslage, Deckung, Prim, Terz, Quart, Abfuhr, Contrage, Rencontre usw.
Studentensprache im Duellzwang
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Solidarisierende Personenbezeichnungen: altes Haus, Ihr Herren, mein Alter, Studiosus, ehrlicher Ritter, alter Knabe, alter Junge, Bursch(e), Fuchs, vernünftige Kerls, Staatskerl. Salopp-Umgangssprachliches zur Signalisierung jugendlich-subkultureller Gruppen-Autonomie in Opposition zum korrekten Bildungsdeutsch: rein mit ihnen!, saufen, fressen, verdammt zäh, Halts Maul!, Dreck, Mädel, rausgaffen, büffeln, petzen, rumkriegen, breitschlagen, Köter, futsch, großes Maul haben·, Interjektionen: Hei, ha-ha, hm, he, schwapp, Mensch!, Man los!, Donnerwetter!, alle Wetter! Elliptischer Satzbau (ohne Verb): Noch keine Gelegenheit gehabt - Was Neues? - Wollen ihn trotzdem anbohren - Erzählen! Modische Steigerungsadverbien: großartig, gletscherhaft, pyramidal, köstlich. Ironische Archaismen und Poetizismen: selbiger, besagter, dergleichen, schöne Seele, Frauenzimmer, Empfehle mich, zu Gnaden, einhergehen, des Teufels sein. Den Segen eines Greises auf Ihr junges Haupt! - Was bewog dich? - Daß mich die Schwerenot weghatte! Der studentische Korporationsjargon und seine Funktion werden in parodistischer Weise mit der komischen Figur des Corpsdieners Kresse vorgeführt, der einst sein Studium in Jena verbummelt und verduelliert hatte und nach unbefriedigenden Jahren als Kellner nun als gealterter Ehemaliger mit reichen Mensurerfahrungen und einschlägigen Fach- und Jargonausdrücken burschikos bramarbasiert und der um ihren Sohn besorgten Witwe Säuberlich prahlerisch, zynisch und schonungslos Einzelheiten des Paukkomments erklärt. Gerade wegen all dieser Ingroup-Kenntnisse und Renomajen wird er von den jungen Aktiven als alter Knabe und Gruppenbelustiger anerkannt. Zum Ingroup-Jargon komplementär verhält sich der Sprachgebrauch der Outgroup-Diskriminierung vom Standpunkt der Corpscou/eur-Mentalität: Burschenschaftler, Philister (8mal), stumpfsinniger Philister, elendes Philisterpack, Spießbürger, der Kerl, das Söhnchen, der Flegel, dieser saubere Herr, Sie da! - Mit solchen Leuten kann ich nicht umgehen Wenn sich der Mann danach benimmt - Der Kerl ist noch dümmer als er aussieht - Wer sind Sie, mir dergleichen vorzuwerfen? Der soziolektale Sprachgebrauch zur Signalisierung des übersteigerten, leicht verletzlichen Elitebewußtseins, als Basis für das Beleidigungs- und Duellzwangritual, kreist um den Zentralbegriff Ehre (20mal), ein statisches Persönlichkeitsattribut, das die gesellschaftliche Person an die strengen Ver-
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haltensmuster Unwandelbarkeit, Unnachgiebigkeit und Unversöhnlichkeit bindet: Floskelhaft für Wahrheitsbeteuerung und Versprechen: auf Ehre! meine Burschenehre, auf Ehrenwort! Zur Abwehr seiner möglichen Gefährdung: ohne meiner Ehre zu nahe zu treten, meine Ehre verletzen/schänden usw. (s. unten!). Gegen diese Gefährdung gibt es das militärische Modewort Schneid als Sperrbegriff gegen Nachgeben und Versöhnung: Der Mann hat mehr Schneid gezeigt als ich ihm zugetraut - Ich weiß, daß du einen Bullenschneid besitzt. Gegenbegriffe zu Ehre und Schneid: Versöhnung, kneifen, kleinbeigeben, mehrmals explizit thematisiert: Wie! Kneift dieser saubere Herr Säuberlich? - Wer nicht nachgiebt, der ist stets im Recht - Nur keine Versöhnung, überlaßt dergleichen sentimentalen Mädchen und kleinen Jungen, vernünftige Kerls versöhnen sich nie — Ich nehme nichts zurück, nichts, das wäre gegen den Comment. Der potentiell negative Ausgang eines Ehrenzweikampfs, mit Körperverletzung oder Mord, wird nur nebenbei, nur andeutend, bagatellisierend oder zynisch bezeichnet: Wunden giebt es nicht, Abfuhren, so ist der Terminus technicus - Eine Säbelmensur ist kein Spaß - Gefährlich? Jenachdem, wenn zum Beispiel die Hirnschale verletzt wird, aber das ist selten - Sie sehn, ich bin noch ganzbeinig, o, von mir gezeichnet laufen viele herum, die jetzt nichts mehr von mir wissen wollen - Der Säbel hat schon mancher Mutter Sohn in 's Gras beißen lassen - Wer das Spiel verliert, verfällt somit dem Tode. Der starke Kontrast zwischen burschikosem, fidelem Studentenjargon und eiskalt hochstilisierter Sprache der todernsten Forderungsphase der Duellhandlungssequenz wird makaber überbrückt durch zynisch verharmlosende Bezeichnungen des anstehenden Duells im Munde des ständig provozierenden und antreibenden Corpsbruders Thaler: lappige Contrage - Paukerei - Das wird ja ein köstlicher Spaß. Genau an dem Übergang von Spaß zu bitterem Ernst amüsieren sich in einer satirischen Einlage die beiden Corpsbrüder Thaler und von Kreysen halbstarkenhaft über ein Hundeduell zwischen den Kötern der beiden konkurrierenden Corps, genannt Satan und Hektor: Es verläuft dabei alles ritualgemäß mit Sekundanten um die Ehre ihrer Corps, bis am Ende Hektor in seinem Blute schwimmt, futsch für immer.
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was als großartig, gletscherhaft, pyramidal, als ein köstlicher Witz und ein Spaß, nicht mit einem Faß Bairisch zu bezahlen kommentiert wird. Das im Duellzwang entscheidende, die Unterwerfung unter das Ritual auslösende Handlungsmuster ist die Provokation, die erst über ihr unausweichliches Akzeptieren durch das Opfer zur Beleidigung wird (vgl. Objartel 1984). Diese Ritualeröffnung ist durch einen abrupten Übergang zu sehr förmlichem, stereotypem Sprachgebrauch, ähnlich wie bei Rechtshandlungen oder militärischen Instruktionen, gekennzeichnet: Ich erkläre Ihnen hiermit, daß Ihr Benehmen mir gegenüber unqualifizierbar ist - Ich erkläre Ihnen hiermit, daß Sie ein unverschämter Flegel sind. Ebenso die standesgemäßen Reaktionen auf die Provokation: Meine Ehre ist zutiefst verletzt/gekränkt - Meine Ehre ist verletzt, ich darf keinen Schimpf auf meinen und meines Vaters Namen kommen lassen - Ich fordere Sie hiermit, Ihre Worte mit der Waffe in der Hand zu vertreten - Ich muß auf Satisfaktion dringen - Ich fordere Genugtuung, volle, ganze Genugtuung zu gewähren; ins Biologisch-Metaphorische gesteigert: [...] daß meine Ehre geschändet ist, und daß ich sie rein waschen muß mit meinem oder fremdem Blute - Meine Ehre ist verletzt und nur sein oder mein Blut kann sie wieder rein waschen. Das Ritual endet in einer rein organisatorischen Endphase mit steif-höflicher Ausdrucksweise: Ich stehe zu Ihrer Verfügung - Mir soll niemand nachsagen, daß ich Satisfaktion verweigere - Ich fordere schwere Waffen - Ich wähle Säbel ohne Binden und Bandagen - Darf ich Sie bitten, mein Sekundant zu sein - Nennen Sie Ort und Zeit, Sie sollen mich finden - Ich bitte die Begegnung in den nächsten Tagen anzusetzen. Diese Reduzierung zwischenmenschlicher Kommunikation auf ein eiskaltes Minimum, als Vorstufe zum fast sprachlosen Verlauf des Duellvorgangs selbst, symbolisiert, gesellschaftsgeschichtlich gesehen, den Eintritt des eliteideologisch angepaßten Bildungsbürgers in den Reserveoffiziersstatus und in die - generationenlange ethische Entwicklung verleugnende - Abrichtung der wilhelminisch-bürgerlichen Gesellschaft zu Militarismus und Kriegsbereitschaft (vgl. Frevert 1991, S. 196ff., 233ff.). Zur Einübung in „jederzeit aktivierbare Aggressionsbereitschaft" der Offiziere, mit Einsatz ihres Lebens „auch in Situationen, die sie nicht (mehr) zu durchschauen und für sinnvoll zu halten vermochten", wurde der Duellzwang „zu einem bedeu-
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tenden Transmissionsinstrument der Militarisierung der Gesellschaft" (Laermann 1977, S. 138, 146).
6. Standesgemäße Peinlichkeit Im Unterschied zu Arthur Schnitzlers Leutnant Gusti (s. Laermann 1977, S. 1 lOff.; nach freundl. Hinweis von Ewald Rösch) ist der militärsoziologische Hintergrund in Wilhelm von Polenz' Zweikampf völlig ausgeblendet. Obwohl (oder gerade weil) er damals schon kgl. sächs. Gardereiterreserveoffiziersanwärter war, spielt sich der Duellzwang in diesem Stück ausschließlich zwischen Juristen, Studenten und bürgerlichen Zivilisten ab. Aber im Ubergang vom Studenten- und bildungssprachlichen Vorlauf zum Duellritual kommt die militärische Ausdrucksweise deutlich zum Vorschein. Trotz dieser Vorsicht (zu der wohl auch die NichtVeröffentlichung von Zweikampf gehört) ist es dem Autor jedoch wegen anderer Veröffentlichungen ähnlich ergangen wie Schnitzler. Der von ihm literarisch kritisierte Duellzwang hat ihn selbst später einmal unausweichlich eingeholt. In einem Brief seines literarischen Freundes Ludwig Asch (aus dem Berliner Ethischen Klub der 1890er Jahre) an seinen Bruder Benno von Polenz vom 26. September 1922 ist über die Anfeindungen seitens seiner adeligen Standesgenossen gegen seine den Adel und den Wilhelminismus kritisierenden Zeitungsartikel, satirischen Gedichte und sonstigen sozialkritischen Publikationen zu lesen: „[...] daß eine solche Hetz-Kampagne gegen ihn inszeniert wurde, daß er den Hauptangreifer vor die Pistole forderte. Da hörte die Hetzerei dann auf." Ob dieses Duell wirklich zustande kam, ob dabei j e m a n d das Spiel verloren, eine Abfuhr erhalten hat, gezeichnet wurde oder ins Gras beißen mußte oder ob es wegen Kneifens usw. nicht stattgefunden hat, ist nicht überliefert. So etwas wurde j a aus Anstand immer verheimlicht. In der wilhelminischen Zeit haben sich sogar Professoren wegen ihrer wissenschaftlichen Überzeugungen duelliert, beispielsweise (nach einer germanistischen fama) über Alter, Abhängigkeit und Wert von Handschriften des Nibelungenliedes. O tempora, O mores!
Literatur Frevert, Ute (1991), Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft. München. Henne, Helmut (1986), Jugend und ihre Sprache. Darstellung, Materialien, Kritik. B e r l i n - N e w York.
Studentensprache -
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/Kämper-Jensen, Heidrun/Objartel, Georg (Hrsg.) (1984), Bibliothek zur historischen deutschen Studenten- und Schülersprache. 6 Bde. Berlin-New York. Kämper-Jensen, Heidrun (1985), „Historische deutsche Studentensprache." In: Ermert, Karl (Hrsg.), Sprüche - Sprachen - Sprachlosigkeit. Subkulturelle Formen der Kommunikation am Beispiel der Jugendsprache. Rehburg/Loccum, S. 225-234. Laermann, Klaus (1977), „Zur Sozialgeschichte des Duells." In: Janz, Rolf-Peter/Laermann, Klaus, Arthur Schnitzler. Zur Diagnose des Wiener Bürgertums im Fin de siècle. Stuttgart, S. 131-154. Objartel, Georg (1984), „Die Kunst des Beleidigens. Materialien und Überlegungen zu einem historischen Interaktionsmuster." In: Cherubim, Dieter/Henne, Helmut/Rehbock, Helmut (Hrsg.), Gespräche zwischen Alltag und Literatur. Beiträge zur germanistischen Gesprächsforschung. Tübingen, S. 94-122. - (1985), „Gruppensprachen und Sprachgeschichte. Zur Rekonstruktion studentischer Lebensformen (1770-1820)." In: Stötzel, Georg (Hrsg.), Germanistik - Forschungsstand und Perspektiven. 1. Teil. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984. Berlin-New York, S. 91-106. - (1989), „Akademikersprache im 19. Jahrhundert. Auch als Beitrag zur Erforschung von Vereinssprachen." In: Cherubim, Dieter/Mattheier, Klaus J. (Hrsg.), Voraussetzungen und Grundlagen der Gegenwartssprache. Sprachund sozialgeschichtliche Untersuchungen zum 19. Jahrhundert. Berlin-New York, S. 197-228. Polenz, Benno von (1928/29), „Wilhelm v. Polenz als Student in Berlin." In: Akademische Blätter. Zeitschrift des Kyffhäuser-Verbandes der Vereine deutscher Studenten 43, H. 15-20. Polenz, Peter von (1999), Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. III: 19. und 20. Jahrhundert. Berlin-New York. Salyámosy, Miklós (1985), Wilhelm von Polenz. Prosawerke eines Naturalisten. Budapest. Wehler, Hans Ulrich (1995), Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 3. Bd. München.
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(Trier)
„Bluffende Mimikry" Literarische Stil- und Sprachkritik am Beispiel von Gottfried-Benn-Parodien 1. 2. 3. 4.
Einleitung Robert Neumann und Benn Vom „Kosmet" zum „Sandfloh" - Parodien nach 1945 Peter Rühmkorf und Benn
1. Einleitung In einer Rezension der Statischen Gedichte (1948) preist Friedrich Sieburg Benns Dichtung als Gipfel des zeitgenössischen Parnaß: „Die völlige Losgelöstheit dieser Dichtung macht es unmöglich, sie einzuordnen und ihr in der Gesamtheit der deutschen Lyrik einen Platz zu geben. Sie ist nicht nachzuahmen und sie kann keine Schule machen, da der mühevoll schmerzliche Weg ihrer Klärung an die Grenzen der Ausdrucksmöglichkeiten streift." 1 Der Prognose Sieburgs zum Trotz hat Benns Lyrik nach 1948 wie keine andere in Deutschland „Schule gemacht". Dennoch gilt Gottfried Benn bis heute als umstritten. Die Rezeption seiner Werke erfolgte in zwei Phasen. Während sein Erstlingswerk Morgue (1912) und weitere expressionistische Dichtungen nur einem kleinen Kreis literarisch Gleichgesinnter bekannt waren, wurde Benn erst in den zwanziger Jahren durch den Gedichtband Schutt (1922), Die gesammelten Schriften (1922) und die Gesammelten Gedichte (1927) auch von einem größeren Publikum zur Kenntnis genommen. Nachdem Benn 1938 Schreib- und Veröffentlichungsverbot erhalten hatte, rückte er erst ab 1948 wieder in den Mittelpunkt des literarischen Interesses, nun jedoch unter anderem Vorzeichen, das auch die Bewertungen bestimmte. Die Aufnahme Benns beim Publikum war Ende der vierziger und in den frühen fünfziger Jahren kontrovers. Der resignative Ton des Spätwerks und die Negation jeglichen gesellschaftspolitischen Engagements der Literatur, der an Nietzsche geschulte Nihilismus und Agnostizismus trugen Benn allein aufgrund seines zweifelhaften Verhaltens in den Anfangsjahren des Dritten
Friedrich Sieburg: „Wer allein ist - " (1949), zit. nach Hohendahl (1971, S. 223).
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Reichs den Vorwurf ein, eine inhumane Weltanschauung zu vertreten, mit der er die Bedingungen der besonderen historischen Situation nach 1945 ignoriere und die Literatur außerhalb jeder moralischen Einflußnahme stelle. Der ästhetische Solipsismus und das Programm der absoluten Poesie, das Benn in seiner Marburger Rede „Probleme der Lyrik" (1951) verfocht, wurden ihm als politische Verantwortungslosigkeit und asozialer, destruktiver Pessimismus vorgeworfen. Auf der anderen Seite wurde Benn seit Ende der vierziger Jahre mit wachsender Faszination gelesen. Benns eigene Generation fand in seinem Werk die Anknüpfung an die geistesgeschichtliche Tradition, deren Kontinuität die nationalsozialistische Diktatur zerstört hatte und die nach 1945 eine Orientierungshilfe bot. Die Jüngeren sahen vor allem aufgrund der kunsttheoretischen Prämissen in Benn den Vollender des Expressionismus und den Avantgardisten schlechthin, mit dessen Werk eine neue Epoche moderner deutscher Lyrik beginnen konnte. Benns Dichtung wurde für ganz verschiedene Teile der deutschen Öffentlichkeit zu einer Art Erbauungsliteratur, wie es Erich Kästner bereits 1949 humoristisch unter dem Titel „Marktanalyse" beschrieb: „Der Kunde zur Gemüsefrau: ,Was lesen Sie denn da, meine Liebe? Ein Buch von Ernst Jünger?' Die Gemüsefrau zum Kunden: .Nein, ein Buch von Gottfried Benn. Jüngers kristallinische Luzidität ist mir etwas zu prätentiös. Benns zerebrale Magie gibt mir mehr.'" (Kästner 1998, 2, S. 247)
2. Robert Neumann und Benn Nicht nur Erbauung, Orientierungshilfe und poetische Affirmation standen in dieser Zeit für die Benn-Rezeption. Einen Einblick in die vielfältigen Aspekte der Wirkung gibt der Band Après Aprèslude2, in dem von liebevollspielerischer Nachahmung über pathetische, unfreiwillig komische Andichtungen im typischen Benn-Ton bis hin zu kritischen, sogar polemischen Parodien die unterschiedlichsten Stimmlagen vertreten sind. Die Hommage an Benn, der bereits Anfang der sechziger Jahre als „Klassiker der Moderne" apostrophiert wurde, enthält auch eine der frühesten und gelungensten BennParodien: Robert Neumanns Gegengesang „Frühling". (Vgl. Wallmann 1967, S. 24; Neumann 1932, S. 64) Robert Neumann hat Benn zweimal parodiert. In seiner ersten Parodiesammlung Mit fremden Federn (1927) findet sich in dem Zyklus „Hailoh, hier Kosmos" neben Parodien auf Georg Kaiser, Ernst Toller und Else Lasker-Schüler auch ein Gedicht mit dem bereits vielsagenden Titel „Schleim"
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Wallmann (1967) druckt insgesamt 34 Gedichte an Gottfried Benn ab, die von Else Lasker-Schüler bis zum späten Bertolt Brecht reichen.
Stil- und Sprachkritik
am Beispiel von
Benn-Parodien
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(ebd., S. 67). Die Parodie „Frühling" in dem Band Unter falscher Flagge entstammt den „Sitzungsprotokollen der Preußischen Dichterakademie", in denen Einsendungen über das vorgegebene Thema „Lenz" vorgestellt werden, worunter sich auch Beiträge von Stefan George, Rabindranath Tagore, Theodor Kramer und Bertolt Brecht finden (vgl. hierzu Althaus 1994, S. 43-66). 3 Die originalen Zitate, die Neumann als Versatzstücke in die Benn-Parodien einflicht, verweisen auf direkte Vorlagen. „Schleim" und „Frühling" enthalten zahlreiche wörtliche Übernahmen aus Benns Gedichten „Chaos" (1923) und „Sänger" (1925). Auffallend ist die Menge der Zitate bzw. Zitatbruchstücke aus den Originalen. Neumann arrangiert sie jedoch gemäß der Intention der Textsorte Parodie derart, daß sie aus der ohnehin schwer zu entschlüsselnden Kohärenz von Benns Poesie der parodistischen Karikatur und Komik dienen, wodurch sie eine andere, spöttische und kritische Bedeutung bekommen. Der Grad der Imitation in Neumanns Texten ist verblüffend, und es ist nachvollziehbar, daß das Originalzitat „bluffende Mimikry" (Neumann 1927, S. 67, Strophe 1, V. 2) in „Schleim" bewußt als Hinweis auf die parodistische Technik und auf die semantische Ambiguität von Parodie als 'Neben· und Gegengesang' ausgewählt wurde. Formal schließt sich Neumann eng an die Vorlage an. Wie „Chaos" ist auch „Schleim" nach dem für Benn in den zwanziger Jahren typischen Prinzip der achtzeiligen Strophe mit alternierendem Kreuzreim (ababcdcd) aufgebaut (vgl. hierzu Steinhagen 1969, S. 21f.). Auch inhaltlich erweckt die Anzahl der übernommenen Zitate auf den ersten Blick den Eindruck, es handele sich um einen originalen Benn, oder Neumann habe sich der Form des Cento bedient bzw. sich in einer stilistischen Imitatio geübt. Ein Vergleich mit den Vorlagen ergibt insgesamt zwölf wörtliche Übernahmen von ganzen Versen, Adjektiv-SubstantivKombinationen und einzelnen Wörtern. Selbst der Titel des Gedichts „Der Sänger" ist in die dritte Strophe von „Schleim" zusammen mit weiteren Originalzitaten eingeschmuggelt („Heimlich bleiben sie Sänger / über die Lerchen lieb.") (Neumann 1927, S. 67, Strophe 2, V. 3-4) 4 . Bereits die Überschrift ist eine gelungene Mischung aus Zitat, Anspielung, Assoziation und dient als parodistischer Hinweis auf die gesamte bis 1927 veröffentlichte Lyrik Benns. Neumanns Überschrift „Schleim", die im letzten Vers wiederaufgenommen wird („Schleim bleibt Schleim"), ruft beim Leser nicht nur sofort die seit „Morgue" so typischen Wortfelder um Krankheit, Ekel, Ungemach auf, sondern findet sich auch wörtlich in dem für Benns frühe Welt-
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Benn wurde am 5. April 1932 in die Preußische Akademie der Künste aufgenommen. Den Preis trägt bei Neumann allerdings Brecht davon. Das Zitat „über die Lerchen lieb", das Neumann auswählt, kann als Parodie eines ebenfalls parodistischen Verses Benns gelesen werden, mit dem dieser auf die epigonale Lyrik anspielt. Benn (1988, S. 180): „Der Sänger" (1925), Strophe 3, V. 1-2: „einstmals sang der Sänger / über die Lerchen lieb [...]."
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anschauung häufig zitierten Gedicht „Gesänge" (1913; Benn 1988, S. 47)5, das wiederum unmittelbar an das inhaltliche Pendant „Regressiv" (1927; Benn 1988, S. 203) erinnert. Die beiden direkten Vorlagen dienen somit vor allem als Steinbruch, um stilistische Besonderheiten der gesamten Lyrik Benns parodistisch bloßzulegen. Trotz der formalen und inhaltlichen Nähe zu den Vorlagen gelingt es Neumann, durch kleine, auf den ersten Blick unscheinbare parodistische Kniffe, Benns „zerebrale Magie" zu konterkarieren. In „Schleim" entsteht die Karikatur überwiegend dadurch, daß der typische Fachwortschatz Benns aus Medizin, Pathologie, Astronomie und Mythologie sowie englische Vokabeln gehäuft auftreten, andererseits Fachbegriffe und alltagssprachliche Elemente so kombiniert werden, daß die weltanschauliche Thematik, die in „Chaos" bestimmend ist, inhaltlich auf ein tiefes Niveau herabgesetzt wird. Verstärkt wird die parodierte Stillage der gezielt eingesetzten und arrangierten Zitate und Substitutionen durch den sorgfältig imitierten Rhythmus und den alternierenden Kreuzreim: „Hausse in chaotisch Verschwitzten, / bluffende Mimikry, / großer Run der Gewitzten / auf die Popoesie." (Neumann 1927, S. 67, Strophe 1, V. 1-4) Die Imitation ist auch im Reim so geglückt, daß die Kritik, die sich in den Wörtern „Verschwitzten - Gewitzten" verbirgt, zunächst nicht irritiert, sondern erst die Wortkarikatur „Popoesie" dem Leser das parodistische Verfahren signalisiert. Durch die Reduplikation einer einzigen Silbe zerstört Neumann nicht nur den Sinn des Ausgangsworts Poesie, sondern gibt ihm auch eine neue Bedeutung, die sich zwischen Popo und Poesie bewegt und damit sowohl auf Benns (meist wesentlich obszöneres) Vokabular anspielt als auch die stilistische Qualität der Lyrik infragestellt. Der täuschend echt nachempfundene Ton in „Schleim", die zahlreichen Zitate und die fast unscheinbare Karikatur lassen den Leser die Kritik nicht sofort erkennen. Tatsächlich jedoch ist die ganze Parodie, wenn man sich von der Suggestion des Rhythmus, des Reims und der Assoziationskraft der Worte befreit, als ein kritischer Kommentar zu lesen. Verse wie „Ruchlos vom Kopf zu den Zehen, / lachhaft und sodomit - / aber bei Lichte besehen / bleibt es das alte Lied" (ebd., S. 67, Strophe 1, V. 5-8) zeigen unmißverständlich, daß Neumann den poetischen Stil Benns in der Imitation mit leiser Karikatur verspottet. Auch im Vergleich zu Benns assoziativer Wortmontage bricht Neumann mit der Vorlage, wenn er als Übergang zur zweiten Strophe allein durch die kausale Konjunktion denn auf der Oberfläche des Textes Kohäsion herstellt, die den parodistisch formulierten Vorwurf der vorhergehenden begründet („Denn gonorrhoische Kränke / macht noch kein Weltgericht. / Jeder hält seine Gestänke / gerne für ein Gedicht.") (ebd., S. 67, Strophe 2, V. 1-4). Kritisiert wird in der Karikatur und in den Anspie-
„Gesänge" (1913), Strophe 1, V. 1-2: „Oh, dass wir unsre Ur-ur-ahnen wären. / Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor."
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am Beispiel
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lungen neben Benns individuellem Stil, der sich besonders durch Montagetechnik und exzessiven fremdsprachlichen, vor allem medizinisch-pathologischen Wortschatz auszeichnet, auch die (in Neumanns Augen) vermeintlich innovative Leistung der Lyrik. Allein die Anhäufung von exklusiven, in der Poesie bis dahin fast ungebräuchlichen Vokabeln, die nicht nur provokativ wirken sollen, sondern auch das Verständnis erschweren, ist für Neumann keine Garantie für poetische Qualität. Geschickt geißelt er Benn mit der Kombination von Originalzitaten aus den beiden direkten Vorlagen. Dabei bleibt er zwar ganz in der Sprache Benns, modifiziert jedoch die Übernahmen so, daß bei aller Komik, die daraus entsteht, deutliche Kritik herauszulesen ist. Die Substitution des adversativen Adverbs aber und des Adjektivs impotent reichen Neumann in „Schleim", Benn mit den eigenen Waffen zu schlagen: „Fraß, Suff, Gifte und Gase - / ihrer Bemühungen Ziel / paßt vor den Ausgang der Blase! - / Aber erectil - ? ! / Impotente Zersprenger / mittels Gehirnprinzip - / Heimlich bleiben sie Sänger / über die Lerchen lieb." (Ebd., S. 67, Strophe 2, V. 5 - 8 und Strophe 3, V. 1-4) 6 Neumann selbst (1927/28, S. 439f.) hat in einer kurzen theoretischen Abhandlung über das Phänomen Parodie behauptet, er habe Benn in „Schleim" nicht parodiert. Sein Text bleibe in reiner Imitation verhaftet, im „Wie" (ebd., S. 440) des Originals, ohne dem Wesen einer wahren Parodie gerecht zu werden, ,,eine[r] Form der polemischen Kritik, die die Schwäche des Gegners in formaler, stofflicher, gesinnungsmäßiger Hinsicht mittelbar darstellend übersteigert und [...] manifest macht." (Ebd., S. 440) Wie bei Dichtern müssen Kommentare zum eigenen Werk auch bei Parodisten mit Vorsicht betrachtet werden. Von einer ,„unsublimierte[n] Attacke'" (ebd., S. 440) kann bei „Schleim", aber auch bei der Benn-Parodie von 1932 nicht die Rede sein. „Frühling", bestehend aus vier jeweils vierzeiligen kreuzgereimten Strophen (eine Form, die besonders in Benns früher Lyrik zu finden ist; vgl. Steinhagen 1969, S. 32-34) 7 , trennt sich bereits formal von den beiden Vorlagen und enthält somit auch ein travestierendes Element. Inhaltlich orientiert sich diese Parodie deutlicher als die erste am bis 1932 vorliegenden Werk Benns. 8 Wie in „Schleim" findet sich auch in „Frühling" das typische 6
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Kursive im Original gesperrt. In Benns Gedicht „Chaos" (1923) heißt es: „Fraß, Suff, Gifte und Gase - : / Wer kennte Gottes Ziel / Anders als: Ausgang der Blase / Erectil?" und in „Der Sänger" (1925): „einstmals sang der Sänger / über die Lerchen lieb, / heute ist er Zersprenger / mittels Gehirnprinzip [...]." Benn (1988, S. 150, 180). Kursive im Original gesperrt. Die vierzeilige kreuzgereimte Strophe, die sich bereits in frühen Dichtungen findet, verwendet Benn jedoch vermehrt erst ab 1933, wahrscheinlich hervorgerufen durch eine intensive Beschäftigung mit Stefan George. Das zeigt sich z.B. in Wörtern wie Leda, die auf Benns mythologischen Wortvorrat verweisen (Leda findet sich z.B. in „Kretische Vase" [1917], „Die Heimat nie - " [1925], „Wer bist du - " [1924], „Prolog" [1920/22]), und Kaffeehaus. Vgl. die Gedichte „Nachtcafé" [1912], „Café (Nachtcafé II)" [1912],
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Benn-Vokabular aus Medizin, Kunst, Mythos und Alltagssprache, das Neumann zum Teil normwidrig modifiziert („adipocyre" aus „Adipocir"; Neumann 1932, S. 64, Strophe 1, V. 1; Benn 1988, S. 150, Strophe 2, V. 8 [„Chaos"]), zum Teil durch andere Begriffe aus dem gleichen Sinnbezirk ersetzt („Tizian", „Cimabues", „Aar", „Lues"; Neumann 1932, S. 64, Strophe 3, V. 1-3.) 9 . Besonders geglückt ist die Substitution von „Batrachomyomachie" (ebd., S. 64, Strophe 1, V. 2). Aufgrund der medizinisch anmutenden Silben gelingt es Neumann, in einem Wort sowohl auf die formalen (Wortschatz, Stil) als auch auf die inhaltlichen Besonderheiten (Mythos, Abendland, Kunst) von Benns Lyrik anzuspielen10 und zugleich ähnlich wie mit „bluffender Mimikry" das parodistische Verfahren selbst zu nennen.11 Im Vergleich zu „Schleim" ist der offensichtliche parodistische Kommentar in „Frühling" zurückgenommen. Die Kritik ist weniger transparent, weil Neumann sie hier gemäß seiner eigenen Theorie noch mehr in der Sprache des Opfers tarnt und somit Benn stärker als in der Parodie von 1927 mit den eigenen Waffen angreift. 12 Karikatur und parodistische Attacke verbergen sich nun hinter einer perfekten Camouflage. Die sexuelle Thematik wird nur noch andeutungsweise paraphrasiert. Ganz im Sinne des von der „Preußischen Dichterakademie" vorgegebenen Themas „Der Lenz" dienen Frühlingsmotive als medizinische Metaphern. Im Gegensatz zu Benns Rückgriff auf Antike und Mythos stellt nun ein zum Volkslied avanciertes Gedicht von Emanuel Geibel die Verbindung zur abendländischen Tradition her: „Jünglinge, Kater - das Mühen / läuft auf dasselbe hinaus: / die Gonorrhöen blühen, / die Stirnen schlagen aus." (Ebd., S. 64, Strophe 2, V. 1-4) 13 Schon der erste Vers bietet einen klassischen Stilbruch in Form einer contradictio in adiecto, wenn Neumann „Frühling" mit Tod und Verwesung verbindet
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„Café des Westens" [1913], „Nachtcafé (Nachtcafé III)" [1913] sowie „Nachtcafé I-V" [1917], Im Expressionismus wurde Benn auch als „Kaffeehausliterat" bezeichnet (vgl. Hohendahl 1971, S. 27). Neumann setzt für Syphilis das Synonym Lues, ein Begriff, der in Benns Lyrik nicht einmal vorkommt. Vgl. hierzu die Konkordanz zu Benns Lyrik von Lyon/Craig (1971). Vgl. hierzu Althaus (1994, S. 52): „Die Batrachomyomachie bezog sich [...] nicht auf .tracheo-' und ,myo-', zwei terminologische Bausteine, die Mediziner benutzen, wenn von Luftröhren- oder Muskelerkrankungen die Rede ist, sondern ist der Titel eines altgriechischen Kleinepos in Hexametern, das die Epen Homers parodiert." Die „Batrachomyomachia", der „Froschmäusekrieg", gilt als älteste abendländische Parodie. Das genaue Entstehungsdatum ist in der Forschung umstritten (8.-1. Jhd. v. Chr.). „Parodie schießt auf einen Mann mit der Waffe seiner eigenen Form." (Neumann 1962, S. 554) Ausschlag auf der Stirn gilt Medizinern als ein Symptom der Gonorrhoe. „Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus" von Emanuel Geibel ist bereits im 19. Jahrhundert als Volkslied in aller Munde.
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(„Frühling, adipocyre"; ebd., S. 64, Strophe 1, V. 1), und nur durch die inkorrekte Wortarttransformation die Karikatur andeutet. Die Imitation des Rhythmus, die versübergreifenden Assonanzen und die Wortauswahl verschleiern in „Frühling" fast die Kritik, die Neumann mit wohldosiertem Unsinn transportiert („Aar mit Aortendefekt, / zwischen Leda und Lues / scheidet doch nur der Aspekt."; ebd., Strophe 2, V. 2-4). Die Allusionen auf Mythos und abendländische Kunst werden durch medizinisches Vokabular und derbe Umgangssprache so evoziert, daß Benns kulturpessimistische Weltanschauung inhaltlich herabgesetzt und dadurch kritisch hinterfragt wird: „Was bleibt von Venus, der Putte, / wenn ich sie lyrisch zerstück? / 'ne nymphomanische Nutte! - / Kommt ins Kaffeehaus zurück!" (Ebd., Strophe 4) Neumanns Benn-Parodien sind alles andere als harmlose Nachahmung. Über „Frühling" äußert sich Neumann zwar nicht, doch ist aufgrund seiner theoretischen Überlegungen anzunehmen, daß diese Parodie seiner Definition des Genres mehr entspricht als „Schleim". Die Forderung nach formaler, inhaltlicher und weltanschaulicher Kritik ist erfüllt, dezenter in „Frühling", deutlicher und schärfer in „Schleim". Mit Neumanns eigenen Worten wäre „Schleim" „überdeterminiert" (1927/28, S. 441) und entspräche nicht den Anforderungen an eine in Karikatur und Kritik ausgewogene Parodie. Seine Äußerungen leugnen sogar den Aspekt parodistischer Kritik: „[...] man wird sehen, daß sie [die Parodie] an der Grenze des Möglichen steht. Das Original ist nicht übertrefflich." (Ebd.) Der gelungenen und kritischen Parodie geht es jedoch nicht darum, das Originalwerk zu übertreffen. Einfühlsame Parodisten versuchen, die typischen sprachlich-stilistischen und inhaltlichen Merkmale eines Autors aus dem Werk zu isolieren, formal täuschend zu imitieren und Karikatur, Komik und Kritik wohldosiert in der Manier des Opfers zu tarnen. Betrachtet man die Benn-Parodien unter diesen Aspekten, wird die Aussage Neumanns von seinen eigenen Texten widerlegt. Die Mimikry blufft nicht nur, sondern verblüfft, die Karikatur wird sparsam mit künstlerischen Mitteln eingesetzt. Die stilistische Kritik, die Neumann vor allem an Benns elitärem und gleichzeitig obszönem Wortschatz, aber auch an seiner vermeintlichen poetischen Innovation übt, ist formal wie inhaltlich so verdichtet, daß sie sich manchmal, wie einzelne Verse der Parodien zeigen, nur in einem einzigem Wort oder in der Umstellung originaler Syntagmen offenbaren. Diese virtuose Form der Parodie setzt beim Leser nicht nur ein hohes Maß an Vertrautheit mit dem Original voraus, sondern fordert auch aktives Mitdenken und Assoziationsvermögen, wie bereits der Untertitel von Neumanns Parodiensammlung von 1932 andeutet: „Ein Lesebuch der deutschen Sprache für Fortgeschrittene."
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3. Vom „Kosmet" zum „Sandfloh" - Parodien nach 1945 Die Benn-Rezeption nach 1948 stand historisch unter anderen Vorzeichen. Benns Dichtung wurde nun zunehmend vor dem Hintergrund seines Verhaltens im Dritten Reich gelesen und beurteilt. Die neuen Veröffentlichungen und die breite Rezeption und Wirkung Benns in den fünfziger Jahren zeitigten eine Flut von An- und Nachdichtungen, in denen sich Lyriker unterschiedlichster Provenienz gerade an den „Grenzen der Ausdrucksmöglichkeiten" 1 4 übten, die Sieburg für unübertrefflich hielt. Vers- und Strophenform, Collage- und Zitattechnik, Inhalt und Wortschatz der zeitgenössischen Lyrik beweisen, wie sehr sich die Aufnahme und Verarbeitung Benns zwischen Affirmation und Karikatur bewegten. Die „zerebrale Magie", die Benns Lyrik ausübte, ließ auch die auf Benn verfaßten, ausdrücklich als Parodien verstandenen Gedichte zu einer Gratwanderung zwischen Hommage und Kritik werden. Die formale Anlehnung an Benns Strophen, Rhythmen und Reime und die assoziative Montagetechnik auf der Ebene des Wortschatzes verschleiern oft die parodistische Kritik. Um diese trotz der Imitation transparent zu machen, werden Wortschatz und Wortbildung, Neologismen, Fachvokabular, semantische Inkompatibilitäten und grammatische Regelwidrigkeiten zum Teil derart übertrieben, daß sich die kritischen Aspekte, wenn sie sich nicht in Kommentaren erschöpfen, oft nur noch auf der Ebene unmittelbarer Literaturkritik oder des Kalauers bewegen, wie es z.B. die ersten beiden Strophen von Armin Eichholz' Benn-Parodie „Kosmet am Himmel" (1954) zeigen: „Wer rilkt denn da so expressiv? / Wer röhrt im kafkarierten Wald? / Wer quirlt den Mediziner-Mief / und singt dazu und rülpst und lallt? / Ich bin es, Big Benn! / Lieber mal eine Hure zuviel, sage ich. / Als Kollege von keren hapuch / und als Adlatus von Ixcoçauhqui / soll man im Dunkeln schon tun, was man kann." (Ebd., S. 73) Gegengesänge, die in ihrer Imitation Komik, Karikatur und Kritik vereinen und somit ausdrücklich als Parodien gelten wollen, legten in der zweiten Phase der Benn-Rezeption neben Eichholz auch Wolfgang Buhl (1953), Manfred Bieler (1958), Rolf Schneider (1958) und Peter Rühmkorf (1959) vor. Im Vergleich zu Neumanns reiner Stilkritik versuchen die Parodien nach 1945, nicht nur formal-ästhetische, sondern auch politisch-weltanschauliche Aspekte anzusprechen. Die Häufung von hochspeziellem Vokabular, normwidrige grammatische Konstruktionen, abenteuerliche Neologismen, Stilbrüche, Sprachmischung und Verwendung von Originalzitaten lassen die sprachlich-stilistische Kritik deutlich erkennen. Nun spielen jedoch auch parodistische Kommentare zu Benns Ideologie, den Themen seiner Dichtung, seinen kunsttheoretischen Maximen, zur dichterischen Weiterentwicklung und Rezeption und Wirkung eine Rolle. Die parodistische Kritik 14
Vgl. Anm. 1.
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verläßt die Ebene der Karikatur von inhaltlichen und sprachlichen Besonderheiten des Werks, indem sie nun vermehrt Persönliches, Politisches, Umfeld und Publikum des Dichters attackiert und dadurch überwiegend eine polemisch-satirische Intention enthüllt. Dies zeigt sich in der Verlagerung des Schwerpunktes von einer reinen Stil- zu einer weit schärfer akzentuierten Sprachkritik. Der sprachlichen Prüfung seiner Dichtung hat Benn selbst Vorschub geleistet, indem er sich in seiner programmatischen Rede „Probleme der Lyrik" fast ausschließlich auf formale Aspekte moderner Lyrik bezog. Besonders in seinem Spätwerk hat Benn die Sprachproblematik der Dichtung, der „absoluten Poesie" sowie das in seinen Augen fragwürdige gesellschaftspolitische Engagement zeitgenössischer Literatur in den Vordergrund gestellt. Sprachreflexion und Ausdruckskrise wurden zu zentralen Themen, wie bereits der Titel Statische Gedichte signalisiert, aber auch Gedichte wie „Ein Wort" (1941), „Künstlermoral" (1950), „Wirklichkeit" (1952), „Nur zwei Dinge" (1953), „Worte" (1955) zeigen, die der Sprache ihre kommunikative Fähigkeit und jede Vermittlung von Welterkenntnis absprechen. Benns Sprachauffassung bewegt sich zwischen einem radikalen Nominalismus, mit dem er jeden Zusammenhang zwischen Sprache und Welt leugnet, und einem fast mystisch anmutenden Sprachvertrauen, wenn er nur noch dem Wort, der dichterischen Form und der Sprache die Möglichkeit zugesteht, Sinn und Leben zu stiften („Ein Wort, ein Satz - : aus Chiffern steigen / erkanntes Leben, jäher Sinn" (1941; Benn 1988, S. 304). 15 Gerade nach 1945, als sich die deutsche Sprache insgesamt auf dem Prüfstand befand und sich jede lyrische Stimme vor Adornos Verdikt zu rechtfertigen hatte, mußte den Parodisten die Sprachauffassung Benns und seine wirklichkeitsfremde Definition lyrischer Sprache ein Hauptmovens ihrer Kritik sein. Verstärkt wird deshalb in den Parodien der Eindruck des Elitären und des Hermetischen von Benns Gedichten, indem der Fachwortschatz so stark karikiert und verfremdet wird, daß selbst Fremdwörterbucher und Lexika klinischer Terminologie kaum Aufschluß über Inhalt und Sinn ergeben. Wie schon bei Neumann wird dabei mit der gleichen Mischung aus medizinischem Wortschatz, kunsttheoretischen Bildungsbegriffen und groben umgangssprachlichen Wendungen gespielt, ebenso mit vielen Zitaten, die als parodistisch modifizierte Versatzstücke wiederauftauchen. Um jedoch nicht ihrerseits als Nachahmung von Neumanns Parodien, als obsolet und epigo-
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Daß Benn mit seiner Sprachtheorie auch in der geistesgeschichtlichen Tradition steht, zeigt z.B. Stefan Georges Gedicht „Das Wort" (1958, 1, S. 467): „So lernt ich traurig den verzieht: / Kein ding sei wo das wort gebricht." Ebenso finden sich in Benns Sprachauffassung auffällige Parallelen zu Nietzsche. (Vgl. hierzu Meyer 1989, S. 111-114)
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nal zu erscheinen, versuchen die neuen Parodien, mit dem vorgegebenen Material anders zu operieren. Dreh- und Angelpunkt wurde kritischen Rezipienten besonders Benns zweifelhaftes Verhalten in den Anfangsjahren des Nationalsozialismus: Wie kann ein Dichter, der einst den Nazis das Wort geredet hatte, in der gesellschaftlichen und literarischen Öffentlichkeit nach 1945 noch eine Rolle spielen? Wie muß ein dichterisches Werk betrachtet werden, das in der Verabsolutierung der Form und mit der Negation jedes politischen Engagements sich der Verantwortung und einer eindeutigen Stellungnahme zur jüngsten Vergangenheit entzieht? Gibt es eine bewußte und eindeutige Abkehr von der Sprache und dem gesellschaftsfeindlichen, mythisch orientierten Irrationalismus, den der frühe Benn vertrat und der ihn in die gefährliche Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie rückte? Ist ein moralischer Maßstab bei Kunst und Literatur nach 1945 überhaupt legitim, oder muß die Kunst, wie Benns Theorie fordert, außerhalb jedes historischen und sozialen Bezuges stehen? (Vgl. hierzu auch Holbeche 1981) Unter diesen Voraussetzungen müssen die Parodien gelesen und bewertet werden. Die Aspekte der Stilkritik, die auch nach 1945 noch eine Rolle spielen, sind schnell genannt und unterscheiden sich grundsätzlich nicht von denjenigen in Neumanns Benn-Parodien. Buhls, Bielers und Schneiders Parodien halten sich formal wie Neumanns „Schleim" an die von Benn in den zwanziger Jahren bevorzugte achtzeilige Strophe.16 Auch die neuen Parodien sind mit vielen Originalzitaten und inhaltlichen Anspielungen auf Benns Werk ausgestattet. Gedichttitel und einzelne Verse werden übernommen oder leicht verändert in die Texte integriert, um sie der Kritik anzupassen.17 Das spezifische Fachvokabular wird in den neueren Parodien stärker hervorgehoben. Hatte Neumann noch überwiegend einzelne Wörter original zitiert oder die Begriffe so ausgetauscht, daß sie im Wortfeld von Benns Lexik verblieben („Hausse", „sodomit", „Kränke", „erectil", „adipocyre", „Lues"), wird die Anzahl der Fremdwörter nun nicht nur deutlich erhöht, sondern auch in der Karikatur verstärkt. So finden sich in den Parodien nicht mehr nur die entsprechenden Synonyme, die Neumann bevorzugte, oder wörtlich übernommene Begriffe, sondern ein Vokabular, das von Benns Themen und Wortschatz weit entfernt ist, sogar unsinnige Wortschöpfungen, die nur noch mit
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Vereinzelt findet sich die achtzeilige Strophe auch noch im Werk der vierziger Jahre. Vgl. z.B. „Verse" (1941), „Abschied" (1941), „Gärten und Nächte" (1943), „Überblickt man die Jahre - " (1945), „Quartär" (1946). Die Parodisten greifen dabei auf Früh- wie Spätwerk zurück, wie es ihnen bis zur Abfassung ihrer Texte vorliegt. Aufgrund der Fülle der Anspielungen seien hier nur einige Beispiele genannt. Bei Buhl findet sich „libidinös" (Benn „Gärten"), „Sperma-" (Benn „Widmung"), bei Bieler „Cerebrum" (Benn „Finale"), „Buicks" (Benn „Einzelheiten"), bei Eichholz „Sils-Maria-Wind" (Benn „Dennoch"), „im Dunkeln" (Benn „Stimme").
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phonetischen Parallelen spielen. Der vermeintliche Fachwortschatz entpuppt sich als reiner Unsinn. So lehren z.B. Pschyrembel und Fremdwörterbuch, daß es zwar Dermatologen und Kardiologen gibt, kaum aber „Endologen" (Schneider 1958, S. 12, Strophe 1, V. 5); Wort- und Begriffserklärungen für Sphären, Rizinus und Transzendenz sind zu finden, nicht aber für „rizo-sphärisch" (Buhl 1953, S. 9, Strophe 3, V. 5) und „transmundan" (ebd., V. 4). Vermehrt werden auch die Begriffe, die Körperliches, Geschlechtliches und Sexualpathologisches benennen oder assoziieren. Die wiederholte Nennung von Gonorrhoe, gonorrhoisch, Gonokokken, Syphilis und Schleim in unterschiedlichen Komposita erinnern an Neumanns Wortauswahl. An Neumanns Parodien orientieren sich sogar einzelne parodistische Kniffe, wie Buhls „Gonorrhohö" (ebd., V. 8) (vgl. Neumanns „Popoesie"), Bielers (1958, S. 67, Strophe 1, V. 8) „Magenschleim" und Schneiders (1958, S. 12, Strophe 1, V. 4) „Schleimmakel". Vor allem der Titel von Schneiders Parodie „Dermatophilus Penetrans" (ebd., S. 12) erinnert an Neumanns gelungene formale und inhaltliche Anspielungen mit „Batrachomyomachie". Dermatophilus penetrans ist der medizinische Begriff für einen Blutsauger ('Sandfloh'), der Menschen und Tiere befallen kann. Als parodistischer Titel dient er jedoch der Assoziation und dem Spiel mit Polysemie: Derma (griech. 'Haut') verweist natürlich auf Benns medizinische Spezialisierung, und penetrans ruft im Zusammenhang mit Benn automatisch neben 'durchdringend, aufdringlich' auch die sexuelle Bedeutung auf. Eichholz nutzt ein anderes parodistisches Verfahren. Er isoliert den erotisch-sexuellen Wortschatz aus verschiedenen Gedichten Benns und reichert ihn mit eigenen Wortschöpfungen aus verschiedenen Begriffsfeldern an. Erst durch die asyndetische, gehäufte Aneinanderreihung ohne jeden erkennbaren Kontext fallen dem Leser die Obszönität und die unsinnige Mischung des Vokabulars ins Auge: „Lyrik ohne das Cachesex / mit Syphilis und Krebsgewächs / mit Menschheitshintern, Hodenquallen, / Hurenschnauzen, Hexenkrallen, / mit Einstein, Freud und Alfred Weber, / mit Radarpsalmen, Mythen-Treber, / mal en français, mal auch in griechisch, / mal physisch, psychisch, psychophysisch, / urban in jedem Fall und böse, / antikes Neon im Gekröse, / mal trunkene Flut, mal bloß Destille / da biste stille." (Eichholz 1954, S. 73f.) 1 8 Die meisten wörtlichen und karikierten Zitate sind auf den Wiedererkennungseffekt beim Leser, auf spielerische Imitation und eine flache, unverfängliche Komik ausgelegt. Die stilistische Kritik am übermäßigen Gebrauch von Fachbegriffen, obszönen und abstoßenden Vokabular hatte bereits Neumann parodistisch gegeißelt. Sie war schon in den zwanziger Jahren
„Menschheitshintern", „Hodenquallen", „Hurenschnauzen", „trunkene Flut" sind Originalzitate bzw. -titel („Prolog 1920"; „Ball"; „Nachtcafé III"; „Trunkene Flut").
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in literarischen Kreisen als Benns Spezialität bekannt. 19 D i e Schwierigkeit, Stil und Sprache Benns nachzuahmen, ohne dabei selbst epigonal zu sein und gleichzeitig noch in gelungener Komik treffsichere Kritik zu üben, wie es die ernsthafte Parodie verlangt, meistern nicht alle Autoren, die ihre Texte ausdrücklich als distanzierende Nachahmung verstanden wissen wollen. Oft erweist sich die intendierte „bluffende Mimikry" als mißlungen, und die Imitation erliegt unfreiwillig Benns suggestivem Wortzauber. S o liest sich Manfred Bielers „Verlust" trotz einiger, freilich sehr konstruiert wirkender Stilbrüche und Wortkombinationen eher w i e ein etwas schnoddriges Totengedicht, w i e ein melancholisch-lächelnder Nachruf auf einen zwar talentierten, doch nicht ganz ernstzunehmenden, überholten Dichter. Und auch Rolf Schneiders „Dermathophilus Penetrans" entbehrt außer dem Wortspiel im Titel jeglicher komisch-kritischen Distanz und parodistischen Finesse. 2 0 Durch die Inkompatibilität verschiedener Begriffe und den offenbaren Stilbruch zwischen Form und niedrigem inhaltlichen Niveau bleiben diese Nachdichtungen so oberflächlich, daß weder ernsthafte Kritik noch Komik entsteht. Armin Eichholz' Parodie „Kosmet am Himmel" (1954) ist ein Beispiel dafür, w i e sehr sich der Rahmen der Benn-Kritik nach 1945 erweitert hat. Eichholz' Parodie erstreckt sich über achtundsechzig Zeilen und wechselt formal zwischen vierzeiligen kreuzgereimten und zwölfzeiligen paargereimten Strophen mit verschiedenen Metren sowie der vor allem im Spätwerk
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„DER BENN ist ein kleiner Lanzettfisch, den man zumeist in Leichenteilen Ertrunkener festgestellt hat. Fischt man solche Leichen an den Tag, so kriecht gern der Benn aus After oder Scham oder in diese hinein." (Blei 1922, S. 20; Versalien im Original) Ein Grund für die Zurückhaltung in der parodistischen Kritik Bielers und Schneiders mag auch darin liegen, daß beide Autoren in der DDR lebten. Bielers Parodienband, 1958 im Eulenspiegel Verlag in Ost-Berlin veröffentlicht, enthält neben Parodien auf Benn und Ernst Jünger auch solche auf Johannes R. Becher und Bert Brecht. Die Veröffentlichung harmloser, spielerisch-spöttischer Auseinandersetzungen mit umstrittenen Autoren wie Jünger und vor allem Benn wurde demnach von der Zensur gebilligt, nicht aber eine direkte politisch-weltanschauliche Stellungnahme. Benns Werke durften in den fünfziger Jahren in der DDR nicht verlegt werden. Entsprechend verharmlosend klingt auch das Vorwort von Thomas Mann zu Bielers Sammlung. Ähnlich verhält es sich mit Schneiders Benn-Parodie, 1958 ebenfalls mit verschiedenen anderen Mustern, darunter auch Ernst Jünger, im Berliner Aufbau-Verlag veröffentlicht. Auch die formale Imitation der für Benn nur in den zwanziger Jahren typischen achtzeiligen Strophe und die unverfängliche Auswahl des Wortschatzes verweisen darauf, daß Bieler und Schneider den expressionistischen Benn zur Vorlage wählten. Auf das nach 1948 erschienene neue Werk Benns hätten sie sich aufgrund der staatlichen Zensur nicht beziehen dürfen. Zur Rezeption und Wirkung Benns in der DDR vgl. auch Hohendahl (1971, S. 23).
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verwendeten freien Gedichtform, in der durch unterschiedlich lange Zeilen und Verse, freie Rhythmen und fehlenden Reim die strenge Form verlassen und die Grenze zum Prosagedicht überschritten wird. Immerhin ist Eichholz hierin der einzige Parodist, der sich formal auf die neue Lyrik Benns einläßt, denn die achtzeilige Strophe, deren sich alle anderen Spötter in ihrer Nachahmung bedienen, verweist eher auf den Benn der zwanziger Jahre (vgl. Steinhagen 1969, S. 53-58; 230-271). Die Originalzitate und die Anspielungen auf Benns bis 1954 erschienenes Werk sind allein durch die Länge der Parodie besonders zahlreich. Die parodistischen Hinweise und Zitatversatzstücke wollen beim kundigen Leser Gedichte vom frühen Expressionismus bis zum späten Werk aufrufen. Doch Eichholz versucht, in seiner Parodie zu viele Aspekte anzusprechen. Neben der Stilkritik, die er beabsichtigt 21 , finden sich wiederholt Bemerkungen zu Benns Person und Leben, seiner Dichtungstheorie, seinem Umfeld sowie historisch-politische Seitenhiebe. Theorie und Praxis klaffen in Eichholz' Benn-Parodie weit auseinander, wie die Vorgaben seiner eigenen Parodiedefinition zeigen: „Die heiligsten Gefühle eines Autors und seiner Gemeinde zu verletzen, ohne verletzend zu wirken, literarische Taktlosigkeiten möglichst taktvoll hinzuschreiben und dem anderen in die Herzgegend zu zielen, ohne persönlich zu werden [...]." (Eichholz 1954, S. 7) In „Kosmet am Himmel" erschöpft sich die „clowneske Bestimmung des Typischen" (ebd., S. 8) auf der Ebene des Kalauers, wie bereits die erste Strophe zeigt (vgl. oben, S. 52) 22 , oder die Anspielungen gehen über die parodistische Imitation und Karikatur hinaus, indem sie ausführlich und ironisch ungebrochen kommentiert werden. Persönlich und polemisch wird Eichholz, wenn er versucht, Benns Weltanschauung parodistisch zu entlarven: „Es darf sie nicht stören, / wenn der Sils-Maria-Wind / einige Wurstpellen hinter den Vorhang weht. [...] Sprich nicht zu laut und suche nicht nach Worten! / Hab nicht viel Zeit, bin schließlich Doktor med. / und halte nichts von Menschen und Konsorten." (Ebd., S. 73, Strophe 3, V. 1 - 3 ; S. 74, Strophe 7, V. 1-3) In diesen Versen verstecken sich nicht nur wörtliche Zitate, der Hinweis auf Benns Beruf und seine Affinität zu Nietzsche. Prüft man die Worte genau, erkennt man darin jenen scharfen Vorwurf, den auch Ludwig Marcuse in einem offenen Brief von 1950 formulierte, in dem er bei allem Respekt den Dichter aufforderte, sein Welt- und Menschenbild, vor allem aber auch seine poetische Sprache zu überprüfen. 23 Trotzdem ist Eichholz mit „Kosmet am Himmel" von einer virtuosen Stil-
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So weist er (Eichholz 1954, S. 8) zu seiner Benn-Parodie auf „[...] die Verbindung seines früheren expressionistischen Medizinerjargons mit der leichten Alterswehmut seiner neuen Gedichte" hin. Vgl. auch Eichholz (1954, S. 73, Strophe 4, V. 1-2): „Notizen sage ich? Ein Bauchladen ist es, / mit Lesefrüchten vom Α - a bis Z, z, z!" Vgl. Ludwig Marcuse: „Ein Brief an Gottfried Benn. Januar 1950." In: Hohendahl (1971, S. 235-237).
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imitation und gelungenen Verbindung von Komik und Kritik weit entfernt. Die Länge des Textes und die Fülle der Hinweise, aber auch die mißlungene formale Nachahmung, die sich im bloßen Spiel mit Benns typischem Wortschatz erschöpft, überschreiten die Grenze der Parodie zum bloßen Spiel mit einem berühmten Muster. Wolfgang Buhl legt 1953 mit „Abgangslicht" eine Benn-Parodie vor, die sich durchaus mit Neumanns Spott vergleichen lassen darf. Bereits die Bühnen· bzw. Theatermetapher Abgangslicht als Titel der Parodie kann als Kritik gedeutet werden: Buhl hält Benns Poesie für obsolet und unzeitgemäß. Wie eine Warnung vor dem „Rauschgift von Benns Versen" 2 4 klingt die parodistische Rezeptionskritik, in der die Jünger Benns der unreflektierten Epigonalität bezichtigt werden und Benns Lyrik aufgrund ihrer Hermetik als geistige Umnachtung infolge einer Geschlechtskrankheit gedeutet wird: „Wimmelnde Welteistürmer / oszillieren und schreien, / da blasen sogar die Würmer / auf transmundanen Schalmeien; / rizosphärische Wolken / mehren sich peu à peu: / das also sind die Folgen / der alten Gonorrhohö." (Buhl 1953, S. 9, Strophe 3) Buhls parodistische Kritik ist scharf. Da er sich wie Neumann formal an Benns achtzeilige Strophe und in der Auswahl der Wörter und Begriffe eng an das Originalwerk hält, wirkt der imitierte Benn-Ton beim ersten Lesen zunächst ebenso verblüffend echt wie in „Schleim" und „Frühling". Im Gegensatz zu Eichholz gelingt Buhl nicht nur die formale Täuschung, sondern mit und in der Nachahmung auch die Verdeutlichung seiner Kritik. Anders jedoch als in Neumanns Parodie „Frühling" ist „Abgangslicht" leichter als Parodie zu enttarnen. Fachvokabular, Adjektivsubstantivierung, Anspielungen, Zitate und Kommentare sind so arrangiert, daß sich in einer Paraphrase die Imitation als blanker Unsinn entpuppt: „Schatten und Trübe, geschändet / von blauer Indigestion - / ach, wieder ein Tag verendet / an Hirnstammhypertension; / über Wüste und Kahle, / käsig, atrophisch und schief, / das fahle Mondrituale, / bionegativ." (Ebd., S. 9, Strophe 1) Jede der drei Strophen enthält nicht nur einen anderen thematischen Schwerpunkt, sondern auch ein unterschiedliches Maß an Kritik. Buhl steigert seinen Angriff auf Benn in der Form einer Klimax. In den ersten Zeilen dominiert die Karikatur, die sich jedoch erst zeigt, wenn sich der Leser von der parodierten Sprachmelodie Benns befreit hat und die entsprechenden Fremdwörter und die
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Mit diesen Worten qualifiziert Walter Muschg Benns Dichtung ab („Der Ptolemäer. Abschied von Gottfried Benn [1956]." Zit. nach: Hohendahl [1971, S. 316-329, ebd., S. 316]). Bereits 1948 war Muschg in der ersten Auflage seiner „Tragischen Literaturgeschichte" mit Benn scharf ins Gericht gegangen (vgl. Muschg 1983, S. 275). Hohendahl (1971, S. 65) bezeichnet Muschgs Stellungnahme als den ,,schärfste[n] Verriß, der über Benn geschrieben worden ist."
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ihnen zugeordneten Epitheta als Stilbruch wahrnimmt. 2 5 Die dritte Strophe stellt eine ebenso deutliche wie polemische Absage an die Benn-Epigonen und die Benn-Euphorie der fünfziger Jahre dar. In der zweiten Strophe holt Buhl zum Schlag gegen die in seinen Augen vermeintliche poetische Qualität der Dichtung Benns aus, wenn er Einförmigkeit und mangelnde Weiterentwicklung anprangert. Mit Anspielungen auf das expressionistische Frühwerk, mit Zitaten aus dem neueren Werk und dem Hinweis auf die willkürliche Auswahl von exklusiven Wörtern unterschiedlicher Provenienz spricht er Benns Kunst ab, zeitloses Vorbild zu sein: „Vergessen Unflat und Huren / im stinkenden Klinikbett, / die libidinösen Touren / durch psychophysisches Fett - , / Coldcream statt Spermabrühe, / Seelenamöben statt Ruhr, / aber vergebliche Mühe, / Gonokokken jetzt in der Natur." (Ebd., S. 9, Strophe 2) 2 6 Zwischen den Zeilen der Parodie läßt Buhl die Problematik und Fragwürdigkeit dieser Art lyrischer Sprache durchscheinen. Ihm sind Benns elitäre Begriffe Worthülsen, die beliebig durch modernere ausgetauscht werden können, auch wenn sich die weltanschauliche Thematik im Spätwerk zur elegisch-melancholischen Betrachtung verwandelte.
4. Peter Rühmkorf und Benn In Peter Rühmkorfs Lyrikband Irdisches Vergnügen in g (1997, S. 78) findet sich das „Lied der Benn-Epigonen". 2 7 Der Titel verweist zwar auf die inflationäre poetische Benn-Nachfolge der fünfziger Jahre, doch die Rezeptionskritik spricht Rühmkorf (ebd., S. 78) nur in der ersten Strophe an: „Die schönsten Verse des Menschen / - nun finden Sie schon einen Reim! - / sind die Gottfried Bennschen: / Hirn, lernäischer Leim - / Selbst in der Sowjetzone / Rosen, Rinde und Stamm. / Gleite, Epigone, / ins süße BennE n g r a m m . " W i e Neumann in „Schleim", wie Buhl, Bieler und Schneider verwendet auch Rühmkorf in seiner Parodie die achtzeilige Reimstrophe, die Benn selbst bereits in den vierziger Jahren kritisch betrachtete. 2 8 Der Ge-
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Paraphrasiert hießen die Verse etwa: '(Ein) Schatten und irgendetwas unbestimmtes Trübes sind durch eine blaue Verdauungsstörung mißbraucht worden.' Parodistisch genutzt wird hier besonders die Substantivierung der Ad-
jektive trüb und kahl, der medizinische Fachbegriff Indigestion und die Verwendung von Benns berühmtem Südwort blau. 26
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Deutlich wird in den ersten Versen auf Benns Gedichtsammlung „Morgue" und auf einzelne andere frühe Gedichte, wie z.B. „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke" (1912), angespielt. Eine frühere Version wurde in der Rubrik „Leslies Meiers Lyrik-Schlachthof ' in der Zeitschrift „konkret" im Januar 1958 abgedruckt. Vgl. hierzu Benns Brief an Oelze vom 18. Januar 1945: „.Überblickt man die Jahre' ist eine Karikatur auf G.B. 1928, eine melancholische Karikatur; ich
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brauch des mythologischen, medizinischen und wissenschaftlichen Vokabulars ist bei Riihmkorf jedoch sparsamer. Dafür verweisen Ausdrücke wie „lernäischer Leim" und „Engramm" umso deutlicher auf die Kritik, die mit ihnen transportiert werden soll. Der medizinische und mythologische Wortschatz Benns wird kunstvoll parodiert. Engramm ist der medizinische Terminus für ein im Zentralnervensystem abgespeichertes Erinnerungsbild, das jederzeit reproduziert und wieder aufgerufen werden kann. Lernäisch und Leim korrespondieren auf anderer Stilebene mit der Bedeutung von Engramm: Alle drei verschmelzen zu einem Bild, in dem das Wiederholbare, Festhaftende, Unauslöschliche, aber auch das Unentrinnbare und Bedrohliche dominiert. Die mythisch anmutende Macht von Benns Lyrik ähnelt derjenigen der Hydra von Lerna, die erst Herakles (Rühmkorf?) überwältigte und der sich selbst eingefleischte Gegner nicht erwehren können („Selbst in der Sowjetzone"). Der Titel der Parodie ist jedoch irreführend. Die zweite und die dritte Strophe verspotten nicht die zeitgenössische „Benn-izitis" 29 , sondern rechnen scharf und kompromißlos mit Benn und seiner Dichtung ab. Das parodistische Verfahren ist konstitutiv für Rühmkorfs Dichtung (vgl. hierzu Verweyen 1973). Der Begriff der Parodie ist erheblich erweitert, weil Rühmkorf die Anlehnung an formale Traditionen für die unterschiedlichsten Intentionen verwendet. Neben Stilübung und Kontrafaktur, die berühmte Vorlagen als Medium nutzen, um sie mit neuen, zeitgemäßen Inhalten zu füllen 30 , finden sich rein spielerische Imitationen, aber auch scharfe und kritische Parodien, zu denen das „Lied der Benn-Epigonen" zweifellos gehört. Im Vergleich zu Neumann und Buhl wird die Illusion, es handele sich um einen originalen Benn, durch den Titel und die erste Strophe sofort zerstört. Im Gegensatz zu Buhl, der mit Zitatvariationen Benn eher kommentierend kritisiert, handhabt Rühmkorf die parodistischen Mittel gezielter und kunstvoller. Das zeigt besonders die Wortauswahl. Rühmkorf verwendet auch einige Originalzitate wie z.B. „Sänger" und „lernäisch". 31 Häufiger sind aber Wortkarikaturen, die zwar phonetische und semantische Übereinstimmungen mit Benns Vokabular zeigen, durch leichte Modifikation jedoch so verändert werden, daß sie eine andere, deutlich kritische Bedeutung erhalten. Die Ähnlichkeit mit Neumanns Verfahren ist dabei sicher nicht zufällig. Die
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wog ab, was mit der 8 reihigen Strophe, die mir einmal viel bedeutete u. die soviele Nachahmer fand, heute noch anzufangen sei. Nun, nicht viel! Stumpfsinn u. Tristesse, die heute nicht mehr viel wiegt." (Benn 1977, S. 378; vgl. auch Steinhagen 1969, S. 5 4 - 5 6 ) „Benn-izitis" ist eine Wortprägung von Hans Tietgens in: „Die Literatur, 15. Juni 1952." Zit. nach Reichel (1979, S. 341). Vgl. auch Hohendahl (1971, S. 70). Vgl. hierzu z.B. die „Variationen" auf Hölderlin, Klopstock, Eichendorff und Claudius. Vgl. auch Rühmkorf (1981, S. 145-157). In Benns Gedichten „Betäubung I" (1925) und „Levkoienwelle" (1925) finden sich „lernäische Gebiete" bzw. „lemäisches Gelände".
Stil- und Sprachkritik
am Beispiel von
Benn-Parodien
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scharfe parodistisch-satirische Kritik der zweiten Strophe zeigt, daß es Rühmkorf nicht um eine Variation oder Kontrafaktur, sondern um eine kritische Auseinandersetzung mit Benn geht: „Wenn es einst der Sänger / mit dem Cro-Magnon trieb, / heute ist er Verdränger / mittels Lustprinzip. / Wieder in Schattenreichen / den Moiren unter den Rock; / nicht mehr mit Rattenscheichen / zum völkischen Doppelbock." (Rühmkorf 1997, S. 78, Strophe 1) Doch Rühmkorfs Parodie erschöpft sich nicht in polemischer Kritik. Die Imitation wird zum sprachlichen Kunststück, weil die Anspielungen wie bei Neumann ganz in Benns lyrischer Sprache verbleiben und trotzdem nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig lassen: So steht „CroMagnon" ('Menschen der jüngeren Altsteinzeit') für die Nazis, die politische Verstrickung Benns wird mit der auf Sexuelles anspielenden Redewendung es mit jemandem treiben benannt, und der Vorwurf der ungenügenden Auseinandersetzung Benns mit der Vergangenheit verbirgt sich im Mythos und Sexuell-Obszönen („den Moiren unter den Rock"). Besonders gelungen ist der spielerische Umgang mit Schüttelreim und phonologischer Minimalpaarbildung in „Schattenreichen" und „Rattenscheichen". In der dritten Strophe nutzt Rühmkorf vor allem Polysemie, um seine Kritik parodistisch-hintergründig zu formulieren. Somit überläßt er es dem Leser, die Bedeutungen der Wörter festzulegen. Scheinbar harmlos jongliert Rühmkorf (1978, S. 20) mit Begriffen aus Benns ,,kandierte[r] Romantik" („Flieder", „Möwen", „Muschel", „Reseden") 32 , doch auch die Mehrdeutigkeit von Achtersteven und Tiefe verschleiern kaum die polemische Schärfe der Kritik: „Tränen und Flieder-Möven - / Die Muschel zu, das Tor! / Schwer aus dem Achtersteven / spielt sich die Tiefe vor. / Philosophia per anum, / in die Reseden zum Schluß - : / So gefällt dein Arcanum / Restauratoribus." (Rühmkorf 1997, S. 78, Strophe 3) 33 Daß es sich bei der Benn-Parodie um eine Abrechnung mit dem Dichter und mit der in Rühmkorfs Augen völlig überzogenen Benn-Euphorie handelt, zeigt auch der Platz, den er dem Gedicht in dem Band „Irdisches Vergnügen in g" zuweist. Die Benn-Parodie befindet sich im Kapitel „Volksund Monomanenlieder". Darin steht sie zwischen dem „Lied der Naturlyriker" und „Guter Freunde Nachtlied", einer Hommage an Werner Riegel. Die Imitation der Naturlyrik der fünfziger Jahre ist ebenfalls eine, wenn auch
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33
Tatsächlich finden sich die Wörter Tränen, Flieder, Möwe, Muschel (auch als Bestimmungswort in verschiedenen Komposita) häufiger in Benns Lyrik. Zum Vergleich: Syphilis, gonorrhoisch, aber auch Resede kommen jeweils nur einmal in den Gedichten vor. Vgl. hierzu auch Rühmkorf (1978, S. 1824). Küpper (1982, 1, S. 86) verzeichnet neben der fachsprachlichen Bedeutung auch die umgangssprachliche: „Achtersteven m. Gesäß. Eigentlich Bezeichnung eines (in Fortführung der Kiellinie) über das Schiffsheck hinausragenden Balkens oder Rundholzes. 19. Jh."
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Almut Vierhufe
kaum so scharfe Parodie wie diejenige auf Benn. „Guter Freunde Nachtlied" ist eine Kontrafaktur auf Matthias Claudius' „Abendlied" und nutzt die Vorlage als Folie. Das Gedicht, im Gedenken an einen Freund und f ü r Rühmkorf vorbildlichen Schriftsteller geschrieben, enthält eine Anmerkung, die unmittelbar auf die vorausgehende Benn-Parodie verweist: „Seine [Werner Riegels] kunstvolle Streit- und Diskussionsprosa fand im herrschenden Restauratorium bislang keinen Verleger." (Riihmkorf 1997, S. 79) Die vielfältigen Aspekte, die Rühmkorf in seinen Gedichten durch Rückgriff auf formale Traditionen und inhaltliche Anspielungen berührt, müssen auch bei seiner Benn-Parodie berücksichtigt werden. Die Form ist bewußt epigonal, da die „berühmte Achtzeilerstrophe Benns" (Rühmkorf 1981, S. 154) im Spätwerk bereits von anderen Formen abgelöst worden war. 1959 war auch der Gipfel der Benn-Euphorie schon überschritten. Trotz Rühmkorfs abwechslungsreichem imitatorischen Verfahren, das Parodie nicht nur als 'Gegengesang' versteht 34 , ist in der Benn-Parodie die „ketzerische Dissonanz" (ebd., S. 151) zum Original deutlich spürbar. Das betonten auch die zeitgenössischen Kritiker. 3 5 Rühmkorf war jedoch in seinen poetischen Anfängen ebenfalls, wie er selbst eingesteht, der Magie von Benns Versen erlegen und einer der talentiertesten Epigonen. So ist die Parodie auch eine persönliche Befreiung von der Übermacht eines erdrückenden Vorbilds und kann kaum als „Variation" oder „Zueignung" gelesen werden. Ganz im Sinne von N e u m a n n s Definition (vgl. oben, S. 49) ist das „Lied der Benn-Epigonen" eine wirklich kritische Parodie, eine „wortwörtliche Wiederholung und entschieden[e] Verstellung oder Richtigstellung." (Rühmkorf 1981, S. 151) 36 Das „Lied der Benn-Epigonen", mit dem Rühmkorf nicht zuletzt sich selbst anspricht, dient als Abgesang auf einen einst verehrten, nun jedoch fragwürdig gewordenen Dichter.
34
„Was von solchen Aneignungskünsten ästhetisch zu halten sei, wird wohl auf e w i g umstritten bleiben [...]. Ich [...] habe die unter den meist diskredierend [sie!] benutzten Namen ,Kontrafaktur' und .Parodie' bekanntgewordenen Übertragungsverfahren [...] lieber .Variationen' oder .Zueignungen' genannt - wenn ich nicht gar von .kritischer Tradition' gesprochen habe - , denn daß sie einerseits betont den Anklang sucht und andrerseits gezielt auf Abstand geht, gehört zu den Wesenszügen einer erst mit der literarischen Moderne zu einem eigenen Methodenbewußtsein erwachten Erweckungsbewegung. Und gar nichts anderes ist die .Parodie' in ihren edelsten Erscheinunsgformen." (Rühmkorf (1981, S. 151)
35
Vgl. hierzu Lamping/Speicher (1987, besonders S. 50, 56). Vgl. auch die theoretischen Auseinandersetzungen Rühmkorfs mit Benn in: „Leslie Meiers Lyrik-Schlachthof: Gottfried Benn (1957)" (in: Hillebrand 1987, 2, S. 1 9 23) s o w i e in: „Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen (1962)" (in: Rühmkorf 1978, S. 11-43). Kursive im Original gesperrt.
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Stil- und Sprachkritik am Beispiel von Benn-Parodien
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Rühmkorfs Parodie zeigt in künstlerischer Weise, daß die Auseinandersetzung mit Benns Lyrik in den fünfziger Jahren nicht mehr nur einer reinen Stilkritik verpflichtet war, wie sie Neumann mit „Schleim" und „Frühling" vorlegte. Bei Buhl und stärker noch bei Rühmkorf wird unmißverständlich deutlich, daß Benn für die neue Generation nicht mehr die „Sprache seines J a h r h u n d e r t s " 3 7 schrieb. Im Vordergrund steht daher nicht mehr der Stil Benns, sondern seine lyrische Sprache überhaupt, die den Kritikern unzeitgemäß und deshalb verdächtig erschien. Rühmkorfs „Irdisches Vergnügen in g" spiegelt die gesamte Problematik der deutschen Lyrik nach 1945 und vertritt bei allem Spiel mit der literarischen Tradition den Standpunkt einer littérature engagée, mit der Benn bereits 1932 bei seiner A u f n a h m e in die „Preußische Akademie der Künste" in Konflikt geriet. Nach 1945 stand auch in der parodistisch-kritischen Auseinandersetzung mit Benn und seiner Dichtung der weltanschaulich-politische Aspekt im Vordergrund, der die Sprache Benns auf Angemessenheit und Aktualität prüfte. Die Komik der Parodien, die N e u m a n n s Gedichte enthalten, mußte dabei trotz aller Kunstfertigkeit einzelner Spötter in den Hintergrund treten. Daß auch Neumann dieser Zusammenhang bewußt war, zeigt sein lapidarer Kommentar zum Abdruck von „Schleim" in seiner Parodiensammlung von 1969: „ - Benn - ein sehr bedeutender Dichter, der später auch anders konnte - . " (Neumann 1969, S. 140) 38
Literatur a) Texte Benn, Gottfried (1977), Briefe an F. W. Oelze 1932-1945. Wiesbaden [= Briefe. Hrsg. von Harald Steinhagen u. Jürgen Schröder. Bd. 1.]. (1982), Gedichte in der Fassung der Erstdrucke. Mit einer Einführung hrsg. von Bruno Hillebrand. Frankfurt/Main [= Fischer Taschenbuch 5231]. (1986), Gedichte. 2 Bde. Stuttgart [(= Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. 1.2.]. Bieler, Manfred (1958), Der Schuß auf die Kanzel oder Eigentum ist Diebstahl. Parodien. Berlin. Blei, Franz (1922), Das grosse Bestiarium der modernen Literatur. Berlin. Buhl, Wolfgang (1953), Äpfel des Pegasus. Neue Parodien. Berlin [= D i e Bank der Spötter 3]. Eichholz, Armin (1954), In Flagranti. Parodien. München. (1955), Per Saldo. Glossen zur Zeit. München. George, Stefan (1958), Werke. Ausgabe in zwei Bänden. München-Düsseldorf. Hillebrand, Bruno (Hrsg.) (1987), Über Gottfried Benn. Kritische Stimmen. Bd. 1: 1 9 1 2 - 1 9 5 6 . Bd. 2: 1 9 5 7 - 1 9 8 6 . Frankfurt/Main [= Fischer Taschenbuch 5 2 5 8 ; 5259],
37 38
So lautet Walter Jens' (1962, S. 208) Urteil über Benns Stil und Sprache. Kursive im Original.
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Almut
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Hohendahl, Peter Uwe (Hrsg.) (1971), Benn - Wirkung wider Willen. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Benns. Frankfurt/Main [= Wirkung der Literatur. Deutsche Autoren im Urteil ihrer Kritiker 3], Kästner, Erich (1998), Werke. Bd. 2. München. Lamping, Dieter/Speicher, Stephan (Hrsg.) (1987), Peter Rühmkorf. Seine Lyrik im Urteil der Kritik. Bonn [= Sammlung Profile 30]. Neumann, Robert (1927), Mit fremden Federn. Parodien. Stuttgart. - (1927/28), „Zur Ästhetik der Parodie." In: Die Literatur 30, S. 439-441. - (1932), Unter falscher Flagge. Ein Lesebuch der deutschen Sprache für Fortgeschrittene. Berlin u.a. - (1969), Vorsicht Bücher. Parodien - samt einem Lese-Leitfaden für Fortgeschrittene. München u.a. Rühmkorf, Peter (1978), Strömungslehre I. Poesie. Reinbek bei Hamburg [= das neue buch 107]. - (1981), agar agar - zaurzaurim. Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen Anklangsnerven. Reinbek bei Hamburg. - (1997), Irdisches Vergnügen in g. Fünfzig Gedichte. Leipzig. Schneider, Rolf (1958), Aus zweiter Hand. Literarische Parodien. Berlin. Wallmann, Jürgen P. (Hrsg.) (1967), Après Aprèslude. Gedichte auf Gottfried Benn. Zürich.
b) Sekundärliteratur Alter, Reinhard (1981), „Gottfried Benn - zwischen Weimarer Republik und Bundesrepublik." In: Hüppauf (Hrsg.), „Die Mühen der Ebenen". Kontinuität und Wandel in der deutschen Literatur und Gesellschaft, 1945-1949. Heidelberg, S. 331-359. Althaus, Hans Peter (1994), Auf den zweiten Blick. Robert Neumanns Parodien als Spiegel der Literatur. Trier [= Trierer Schriften 2]. Hillebrand, Dieter (Hrsg.) (1979), Gottfried Benn. Darmstadt [= Wege der Forschung 316]. Hohendahl, Peter Uwe (1980), „Gottfried Benns Poetik und die deutsche Lyriktheorie nach 1945." In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 24, S. 369-398. Holbeche, Brian (1981), „Die Lyrik Gottfried Benns im westdeutschen literarischen Leben der 50er Jahre - Rezeption und Einfluß." In: Hüppauf (Hrsg.) (1981), „Die Mühen der Ebenen". Kontinuität und Wandel in der deutschen Literatur und Gesellschaft, 1945-1949. Heidelberg, S. 307-330. Hüppauf, Bernd (Hrsg.) (1981), „Die Mühen der Ebenen". Kontinuität und Wandel in der deutschen Literatur und Gesellschaft, 1945-1949. Heidelberg. Jens, Walter (1962), Statt einer Literaturgeschichte. Pfullingen, 5. Aufl. Küpper, Heinz (1982), Illustriertes Lexikon der deutschen Umgangssprache. Bd.l. Stuttgart. Lyon, James K./Inglis, Craig (1971), Konkordanz zur Lyrik Gottfried Benns. Hildesheim-New York. Meyer, Theo (1989), „Affinität und Distanz. Gottfried Benns Verhältnis zu Nietzsche." In: Glaser, Horst Albert (Hrsg.), Gottfried Benn: 1886-1956. Referate des Essener Colloquiums zum hundertsten Geburtstag. Frankfurt/ Main u.a. [= Akten internationaler Kongresse auf den Gebieten der Ästhetik und der Literaturwissenschaft 7], S. 99-127.
Stil- und Sprachkritik
am Beispiel von
Benn-Parodien
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Muschg, Walter (1983 ['1948]), Tragische Literaturgeschichte. München. Reichel, Peter (1979), „Artistenevangelium. Zu den theoretischen Grundlagen von Werk und Wirken des späten Gottfried Benn." In: Hillebrand, Dieter (Hrsg.), Gottfried Benn. Darmstadt, S. 313-349 [zuerst in: Weimarer Beiträge 19, 1973, S. 128-160]. Ridley, Hugh (1990), Gottfried Benn. Ein Schriftsteller zwischen Erneuerung und Reaktion. Opladen. Steinhagen, Harald (1969), Die Statischen Gedichte von Gottfried Benn. Die Vollendung seiner expressionistischen Lyrik. Stuttgart [= Veröffentlichungen der deutschen Schillergesellschaft 28]. Verweyen, Theodor (1973), Eine Theorie der Parodie. Am Beispiel Peter Rühmkorfs. München [= Kritische Information 6].
Ulla Fix
(Leipzig)
Die Gedichte satzanfang und Sprachvermögen Sprechenkönnen Sprichwenndukannst (Be)greifbare Beziehungen zwischen Linguistik und Literatur
1. 2. 3. 4. 4.1. 4.2.
5.
.Metapoesie' .Wortsammler und Wortbewahrer' .Unterwanderer der Normalsprache' Analysen satzanfang Sprachvermögen Sprechenkönnen Sprichwenndukannst Schlußbemerkung
Wulf Kirsten satzanfang den Winterschlaf abtun und die Wunschsätze verwandeln! saataufgang heißt mein satzanfang. die entwürfe in grün überflügeln meiner Wortfelder langsamen wuchs.
inständig benennen: die leute vom dorf, ihre ausdauer, ihre werktagsgeduld. aus wortfiguren Standbilder setzen einer dynastie von feldbestellern ohne resonanznamen.
im Überschwang sich erkühnen zu trigonometrischer Interpunktion! ans licht bringen die biografíen aller sagbaren dinge eines erdstrichs zwischenein.
den redefluß hinab im Widerschein die hafergelben flanken meines gelobten lands, seine rauhe, rissige erde nehm ich ins wort.
Ulla Fix
68 welt
unmittelbar
in reichweite weit, unmittelbar wie griffiges mehl. eine rechtschaffene frühe, zeile für zeile ins feld gebückte rübenfraun. erdige töne, frontal, lichtlebig, die eingemeindete stille, ein apfelbaum in flor,
ruchbar schlier und schlempe. 1 die gerste gilbt im dresdner hinterland klangfiguren, lebensgeister, die sich brüsten, tatbestände auf gut glück. in aller frühe auf die dörfer, weg nach Lotzen: weit unmittelbar. 2
Uwe Kolbe Sprachvermögen Sprechenkönnen Sprichwenndukannst Strauch Baum Sturm Gelächter Wir Objekte Substantive Sätze
Vernunft Ausverkauf Wahnsinn Ordnung Sicherheit Leben Aufstieg Karriere Schweigen Loch Arschloch Wut Lob Gelöbnis Haß Labsal Labbrigkeit Realität
Sinn Sinnlichkeit Widersinn Lüge Lüglichkeit Notlüge Wahrheit Wahrhaftigkeit Zeitunglesen Macht Mächtigkeit Ohnmacht Glaube Beglaubigung Hoffnungslosigkeit Sätze Substantive Objekte Wir Lachen Stürmen Bäumen Straucheln 3 Sein Dasein Kunst
1.,Metapoesie' D i e G e d i c h t e satzanfang (1970) von W u l f Kirsten und Sprachvermögen. Sprechenkönnen. Sprichwenndukannst (1980) von U w e K o l b e begleiten m i c h seit ihrer V e r ö f f e n t l i c h u n g . In Seminaren u n d Publikationen bin ich gelegentlich auf sie eingegangen. Gefesselt hat m i c h das T h e m a Sprache, d a s beide Gedichte bestimmt; g e f a n g e n g e n o m m e n hat mich aber e b e n s o die B e h a n d l u n g dieses T h e m a s , der g a n z eigenwillige S p r a c h g e b r a u c h . 4 E i n Drittes w a r und ist mir an diesen Gedichten wichtig: Sie lenken den Blick
1 2 3
4
Schlier = 'Schlick, Schlamm'; Schlempe = 'Viehfutter'. Die beiden Gedichte sind erschienen in dem Band satzanfang. Gedichte (1970). Das Gedicht ist erschienen in dem Band Hineingeboren. Gedichte 1975-1979 (1980). Um diesen noch mehr zu verdeutlichen, habe ich dem Gedicht satzanfang ein zweites Gedicht von Kirsten (weit unmittelbar) an die Seite gestellt.
Die Gedichte satzanfang und Sprachvermögen
.
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auf die auf sich selbst verweisende Funktion literarischer Sprache, und dies geschieht, so scheint es mir, und so ist es auch nachweisbar, in voller Bewußtheit. Auf ganz verschiedene Weise, aber mit derselben Intensität sind diese Texte Ausdruck der Sprachreflexion ihrer Autoren und damit einmalig und typisch zugleich. Sie stehen für den literarischen Diskurs des 20. Jahrhunderts, den wir als sprachreflexiv und sprachkritisch zu bezeichnen gewöhnt sind (vgl. Henne 1996, S. 29), und sie stehen in der Art, wie Sprachreflexion und - immanente - Sprachkritik betrieben wird, für sich selbst. Der Hintergrund meiner Überlegungen ist das Wissen darum, daß sich die Dichtung im 20. Jahrhundert dieser selbstverweisenden Funktion der Sprache in besonderem Maße bewußt ist, ja daß diese Funktion von Dichtern geradezu wissenschaftlich reflektiert wird. „Sprache wird zum Thema; es entsteht eine Metapoesie" (Eggers 1984, S. 123). „Alle diese Lyriker kennen ja Humboldt, Saussure und Wittgenstein." (Weinrich 1968, S. 45) Nicht wenige haben Bühler, Jakobson, Mukarovsky gelesen, was sich nicht nur in ihren essayistischen, sondern auch in ihren poetischen Werken widerspiegelt. Aber auch ohne solche Lektüre ist der Anreiz zur Reflexion über das Werkzeug Sprache, ein Instrument, das man nicht ungebrochen verwenden kann, immer da. 5 Wie sich linguistische Erfahrungen und sprachphilosophische Überlegungen in den beiden Gedichten selbst wiederfinden lassen, will ich an ausschnittweisen Analysen der Texte vor dem jeweiligen kulturhistorischen Hintergrund zeigen. Was die Gedichte (mir) zu sagen haben, wird wohl bei der Analyse deutlich werden. Kirsten und Kolbe - beide gehen vom Wort aus. Aber sie tun es auf verschiedene Weise. Wulf Kirsten ist ein Wortsammler und -bewahrer, Uwe Kolbe ein Unterwanderer der regulierten Normalsprache.6 Bei beiden stellen wir das Zurücktreten der Syntax gegenüber neuen Relationen fest, Relationen, die durch die semantischen Beziehungen der Wörter des Textes geschaffen werden. Wir haben es also mit einer Wortgrammatik zu tun. (Vgl. Weinrich 1968; Fix 1998). Kirstens Bekenntnis dazu lautet: „Wie das Gedicht auf Grundworten ruht, so wird es auch von der Lexik her gebaut. Im Wort selbst liegt der Anfang der Poesie [... ]" (Kirsten 1970, S. 96). Uwe Kolbe bekennt: „Die Grenze des Sinnlichen, des Etymologischen, des Wortes, der Sprache selbst, die interessiert mich sehr." (Kolbe 1986, S. 92) „Die veränderte Bedeutung eines Wortes müßte sich eigentlich aus dem 5
6
Eggers (1984, S. 126ff.) beschreibt das an der „späteren" experimentellen Literatur der „Grazer", nicht aber an der zur Zeit der Veröffentlichung schon formierten „Prenzlauer Berg Schule". Nach Heißenbüttel (1980, S. 755): „Unterwanderung der regulierten Normalsprache".
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Kontext erhellen, durch den Raum, den das Gedicht selbst aufbaut." (Ebd., S. 90) Kirsten (vgl. 1997, S. 73) bezieht sich ausdrücklich auf Mallarmé und Baudelaire als Väter der Moderne, bei denen er auch seine Wurzeln sieht. Kolbe thematisiert diesen Bezug, soweit ich sehe, nicht ausdrücklich. Aber auch auf ihn trifft zu, was Heißenbüttel (1966, S. 219) schreibt. „Es scheint heute etwas in Vergessenheit geraten zu sein, daß Literatur nicht aus Vorstellungen, Bildern, Empfindungen, Meinungen, Thesen, Streitobjekten, .geistigen Gebrauchsgegenständen' usw. besteht, sondern aus Sprache, daß sie es mit nichts anderem als mit Sprache zu tun hat." Eggers beschreibt die Folgen der Besinnung auf Sprache und der „linguistischen" Behandlung von Sprachelementen aus literaturwissenschaftlicher Sicht in der folgenden Weise: Für die Literatur belangvoll sind nicht nur die wesentliche Instabilität der Einzelwortbedeutungen und die vielfältigen Erscheinungen der Polysemie, sondern auch die Fragen, die den Feldwert der Lexeme, d.h. der lexikalischen Worteinheiten (paradigmatische Dimension) sowie deren Bedeutungsaktualisierung und Sinneffekt im Textverband (syntagmatische Dimension) betreffen. Die Literatur hebt als Folge semantischer Besinnung die Verbannung einiger Bereiche des Gesamtvokabulars aus ihrer Sprache auf; sondersprachlichen und Jargonausdrücken wird Zugang gewährt; für Einheiten anderer Sprachen eröffnet sich sogar die Lyrik [...]. Die vordergründige Unvereinbarkeit syntaktisch verbundener Bedeutungseinheiten verlangt oft vom Leser, der sich den Sinn erschließen möchte, kühne Sprungleistungen über Klüfte hinweg, die ihm früher nicht zugemutet worden wären. (Eggers 1984, S. 114)
Diese Beschreibung trifft bei aller Verschiedenartigkeit der Dichtung für Kirsten wie für Kolbe zu. Die Offenheit der Bedeutung, ihre Beziehungen in einem Bedeutungsfeld, die Aufnahme von Sondervokabular - das sind Phänomene, die beide Autoren kennen und die sie zu nutzen wissen - nur auf verschiedene Weise, die ich mit den „Etiketten" Wortsammler und -bewahrer und Unterwanderer der Normalsprache zu fassen versucht habe in dem Bewußtsein, daß dies nur vereinfachende Zuordnungen sein können. Um den Sinn dieser „Etikettierungen" verstehen zu können, sind Einblicke in die Biographien und Arbeitsweisen der so Bezeichneten angebracht.
Die Gedichte satzanfang und Sprachvermögen
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2.,Wortsammler und Wortbewahrer' Wulf Kirsten wurde 1934 in Klipphausen/Sachsen geboren. Sein Vater war Steinmetz und bearbeitete ein Stück Land. Diese bäuerlich-handwerkliche Welt seiner Herkunft gab Kirsten den Stoff und die Worte für seine Gedichte. Kirsten war als Hilfsarbeiter auf einer Baustelle und als Buchhalter und Sachbearbeiter tätig. 1960 machte er das Abitur und studierte dann in Leipzig Germanistik und Slavistik. In den Jahren 1962 bis 1965 war er freier Mitarbeiter beim Wörterbuch der obersächsischen Mundarten an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Von 1964-1987 arbeitete er als Verlagslektor im Weimarer Lektorat des Aufbau-Verlags, Berlin und Weimar. Seit 1987 ist er freiberuflich tätig. Er war Stadtschreiber in Salzburg, Dresden und an anderen Orten. Von den vielen Preisen, die er bekommen hat, seien nur die folgenden genannt: Literatur- und Kunstpreis der Stadt Weimar 1983, Johannes-R.-Becher-Preis 1985, Peter-Huchel-Preis 1987, Heinrich-Mann-Preis 1989, Preis der Stadt Weimar 1994, ElisabethLanggässer-Preis 1994, Deutscher Sprachpreis der Henning-Kaufmann-Stiftung 1997. Die Stadt Weimar dankte ihm 1994 mit Worten, die seine Leistungen treffend erfassen: Wulf Kirsten ist der eigenständigste poetische Landschafter in der deutschen Gegenwartsliteratur. Er hat dem Landschaftsgedicht, nach Lehmann und Loerke, Hüchel und Bobrowski, durch die ihm eigene Gedächtnistreue, Sperrigkeit und Musikalität ein neues Gepräge gegeben. Sprachreichtum und ein seltener Worternst, Handwerkergenauigkeit und Bildintuition zeichnen seine künstlerische Arbeit aus. [...] Ein Chronist geschichtlich geprägter Landschaft, der zerstörten wie der unzerstörten, ein lyrischer Wanderer, Künstlerporträtist, ist er ein Meister bewahrender Erinnerungsarbeit und ein Erneuerer unserer Literatursprache aus dem Geist der Erde bei Meißen. (Begründung des Weimar-Preises 1994)
Das, was Wulf Kirsten für Germanisten besonders interessant macht, ist der ganz spezifische Gewinn, den er aus seinem Studium der Germanistik in Leipzig und aus seiner Arbeit für das Obersächsische Wörterbuch von 1962-1965 gezogen hat. Kirsten ist in diesen Jahren als Wortsammler in die Dörfer um Meißen gegangen und hat anhand eines Fragebogens der Arbeitsstelle Wörterbuch der obersächsischen Mundarten Mundartwortschatz festgehalten. Kirsten über jene Zeit 7 : Von der Fringsschen Schule der Leipziger Dialektgeographen inspiriert und geradezu enthusiasmiert, verkehrte sich diese landläufige Ansicht, der ich da aufgesessen war [negative Bewertung „abgesunkenen" Kulturguts, U.F.], ins blanke
Da Kirsten und Kolbe in den alten Bundesländern sicher weniger bekannt sind, sollen sie hier etwas genauer vorgestellt werden. Daher die ausführlichen Autorzitate.
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Ulla Fix Gegenteil. Ich erlebte im Selbstversuch, wie man sich mit einer neuen Sprache verproviantieren kann. Und da es mir völlig abgeht, mich meiner meißnischen Herkunftsmundart literarisch zu bemächtigen, [...] drehte ich den Spieß um, nahm, was nur irgend möglich und im Begeisterungsüberschwang der Wiederentdeckung auch ein Weniges darüber hinaus, in die Hochsprache, in meine Sprache, ohne darauf aus zu sein, die Herkunft dieses umfunktionierten Wortschatzes zu verwischen. Mitte der sechziger Jahre, von Mundartenkunde und Wortbildungslehre, die auf Henzen fußte, angestachelt, begann ich wortbewußter, sprachkritischer zu lesen und zu leben, Fundbücher anzulegen, Fachsprachen auszugrundtoffeln, als gelte es, Erzadern zu schürfen. Alles, was sich außerhalb der Belletristik fand, wurde auf Wort und Wendung gelesen. So zum Beispiel ein Abriß über die Sprache der Oberlausitzer Steinbrecher, eine Berufsgeschichte zu Steinmetzarbeit und Steinmetzgeist, zur botanischen Kunstsprache, zur Regionalgeschichte und immerfort als ewigwährendes Exerzitium Lutherdeutsch aus der allzeit griffbereiten Bibel. (Kirsten 1997, S. 71f.)
U w e Pörksen stellt in seiner Laudatio zur Verleihung des Weimar-Preises 1994 zwei Überlegungen an, die das Verständnis f ü r das, was Kirsten wollte und will, vertiefen. Die eine ist als Frage formuliert, die Pörksen (1994, S. 21) auch gleich selbst beantwortet: „War Kirstens Lyrik vielleicht auch die Antwort auf die öffentliche Sprache in diesem Land?" Mit anderen Worten: Hat die eigene unverbrauchte Sprache Kirstens dem formelhaften, sinnentleerten öffentlichen Sprachgebrauch in der D D R den Spiegel vorgehalten? Und die Antwort lautet bei Pörksen: „Ich vermute, alles, was hier Dichtung war, war Antwort". Das trifft es. Jede eigene Sprache mußte als Ausbruch aus der verordneten Sprachwelt der Mächtigen verstanden werden, zumal eine von solch individueller Kraft. Kirsten äußert sich in dem Aufsatz „Gegensprache im Gedicht" zu diesem Thema: Unter den Verhältnissen, wie sie in der DDR in den sechziger Jahren herrschten, ging es erst einmal darum, sich als Individuum mit einem eigenen Programm zu behaupten, sich selbst zu bestimmen und damit abzusetzen von der Doktrin, die einredete, Teil einer Masse zu sein, Kollektivum. Das Schloß ein, gegen einen Jargon anzuschreiben, ein gebetsmühlenartig heruntergeleiertes, zu Tode gerittenes Verlautbarungsdeutsch, in dem jede Formulierung in einer Alchimistenküche gebraut und abgesegnet worden sein mußte. Aber es blieb ein Spielraum, auch wenn in dieser Voliere nur Narrenfreiheit zu gewinnen war. Diesen Spielraum galt es auszuschöpfen bis zur Grenze des eben noch Geduldeten, Hingenommenen. Gegensprache zu einer Kunstsprache hin, die darauf aus ist, in Bildern und Gleichnissen zu sprechen, die Doppelbödigkeit der Sprache auszuloten [...]. Alles in allem wurde damit ein Prozeß eingeleitet, der darauf abzielte, sich freizusetzen, was auch einschließt, sich zu befreien, von Angst und Einschüchterung. (Kirsten 2000, S. 129f.) Die andere Feststellung Pörksens bezieht sich auf die meißnische Heimat Kirstens und auf das Meißnische als Sprachform. Es ist ein Hinweis auf die Bedeutung dieser Sprachlandschaft für die Geschichte unserer Sprache: Das Meißnische als Grundlage der neuhochdeutschen Verkehrssprache, Luthers
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A u s g l e i c h s s p r a c h e , aus Gottscheds Sicht das Sprachvorbild für alle Deutschschreibenden. Das, was Gottsched aus dem Meißnischen als Sprachvorbild ausmerzen wollte, das Lokale, Provinzielle, Fachliche, so Pörksen (1984, S. 25), kommt mit Kirsten wieder ins Blickfeld. Eine Anreicherung mit Wirklichkeits- und Sprachmaterial wird geboten. Kirsten geht dabei so weit, die dem heutigen Sprachteilnehmer unbekannten Dialektund Fachwörter in einem dem Gedichtband beigegebenen Glossar zu erläutern. Eine Welt voll weitergetragener Namen und Begriffe, aufgeschnappt von den Kutschern und Hofeweibern oder von deren Kindern. Wie sollte ich in meiner Einfältigkeit ahnen, welchen Wert diese Wortfelder einmal bekommen würden, daß daraus Gedichte hervorgehen würden? Der erlebte und gelebte Wortschatz hat mich getragen wie das Wasser den Schwimmer, als ich nach mehr oder weniger absichtslosen Anläufen, darauf verfiel, die Kindheitslandschaft könnte auch für mich ein Thema sein. (Kirsten 1987, S. 37) Aber nicht die Idylle wird, wie man es nach dieser Äußerung vermuten und befürchten könnte, gezeichnet. Es geht um das ganz reale Leben in Natur und menschlicher Gemeinschaft: Ich hatte es nie darauf abgesehen, das rustikale Idyll einer Heilen-Welt-Parzelle zu zimmern und aus der Welt herauszumauern. Ich habe das soziale Gefüge in meinen Gedichten nicht ausgespart und die Sympathien für meinesgleichen darin zu erkennen gegeben, es läuft so ziemlich alles auf Chronik und Lebensbericht hinaus. (Ebd.) Ich lasse an dieser Stelle noch einmal Kirsten selbst mit einer programmatischen Äußerung zu Wort kommen: Die Landschaft wird entworfen in einem Zyklus von Gedichten, die auf einander zugeordneten Grundworten basieren. Diese Grundworte sind jeweils Bilder, die Ausblicke geben wollen. Ein Gedicht soll ins andre hinüberreichen. Angedeutete Bilder werden in einem anderen Gedicht wieder aufgenommen und in den Mittelpunkt gerückt. [...] Mit jedem Grundwort ist ein Erlebnisinhalt verbunden: etwas Alltägliches ist zum Erlebnis geworden, weil es in vielfachen Variationen gesehen wurde. Diese optische Erfahrung muß ins Wort eingelebt sein und beim Schreiben noch einmal eingelebt werden. Das Grundwort ist ein lexikalisch umzusetzender Erfahrungswert, der etwas über das Verhältnis zu den Dingen sagt, die den Menschen umgeben. Wie das Gedicht auf Grundworten ruht, so wird es auch von der Lexik her gebaut. Im Wort selbst liegt der Anfang der Poesie, nur darf es nicht bei sinnarmen Konstellationen bleiben. In die Gedichte geht (je nach Gegenstand) Wortgut aus dem bäuerlichen Lebensbereich ein, das nur so weit regional eingefärbt ist, als es sich mühelos in die Hochsprache nehmen läßt. Gerade aus dieser „vom Saft des Populären genährten" Zwischenschicht profitiert die Sprache. Sie gibt der sprachlichen Gestalt das Kolorit. Insgesamt ist dieser Bereich aber nur eine sprachliche Quelle neben anderen. Wichtig ist, daß aus der Sprache, wie immer sie auch zusammengesetzt sein mag, die Wirklichkeit hervorgeht. Sie wird nachgezeichnet in dem guten Glauben, ich könnte Einfluß
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nehmen auf mich und vielleicht auch auf andre. Die Landschaft steht pars pro toto für eine Welt, in der die Lebensbedingungen auf die Erhaltung der menschlichen Existenz angelegt sind. (Kirsten 1970, S. 96)
3.,Unterwanderer der Normalsprache' Uwe Kolbe gehört einer jüngeren Generation als Kirsten an. Er wurde 1957 in Berlin geboren, also in eine andere Zeit und in ein anderes Umfeld. Später wird sich in Ostberlin die sogenannte Prenzlauer-Berg-Szene etablieren, eine Gruppe von Künstlern, die den Traditionen, auch denen der herkömmlichen Sprache, nicht mehr trauen und ihr den Versuch einer eigenen Sprache entgegenstellen. Kolbes Eltern waren Binnenschiffer, so daß er in den ersten Jahren seines Lebens keinen festen Bezugsort hatte. Vom siebenten Lebensjahr an wohnte er jedoch in Berlin. Nach dem Abitur leistete er seinen Militärdienst ab und war Gelegenheitsarbeiter. Danach lebte er als freischaffender Schriftsteller, zunächst in Berlin Prenzlauer Berg, seit 1987 in Westdeutschland. Von da an ist er viel gereist. Franz Fühmann betrachtet er als seinen Mentor, der ihm auch zur ersten Öffentlichkeit verhalf. Immer wieder wird Kolbe besondere Sprachlust bescheinigt. Seine Wurzeln sieht er auch im deutschen Expressionismus, begründet durch seine früheste Lektüre, die von Kurt Pinthus herausgegebene Anthologie Menschheitsdämmerung, und durch seine Kindheit in Berlin, das für ihn das Sinnbild des Expressionismus ist, auch noch in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Zugleich ist der Prenzlauer Berg, wo er lebte, eben der Ort, an dem sich gerade in den achtziger Jahren jüngere Künstler niedergelassen haben, die sich auf keinen Kompromiß mehr einlassen wollen und deren gemeinsames Band ihr Verhältnis zur Sprache ist. Gerhard Wolf stellt sie in einem Aufsatz mit dem Titel „Wortlaut - Wortbruch - Wortlust. Papenfuß und andere. Zu einem Aspekt neuer Lyrik" (1988) vor. Ihre Psychogramme sind noch nicht geschrieben, aber daß diese Generation der um die Mitte der fünfziger Jahre Geborenen einen Konflikt aufreißt, der oft geleugnet wird, indem sie die Verhältnisse nicht aus ihren Realitäten, sondern aus ihren Äußerungen und Verlautbarungen heraus konstatieren, die geläufigen Wörter für sich neu buchstabieren - es wird an ihren Arbeiten sichtbar. Man mag sie leugnen, mißachten, als Dichtung verwerfen, als Warnung überhören. Ihre Zeichen - sprachlich, graphisch und musikalisch intoniert, oft in seltener Kommunikation miteinander - sind authentisch; mit ihnen kündigt sich eine andere Seh- und Empfindungs- und Denkweise an [...]. (Ebd., S. 366)
Absage an Inhalte und Formen also, denen man nichts mehr zutraut. Uwe Kolbe spricht, so Wolf, von den „verschiedenen Grammatiken", die seine
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Sprache von der der anderen trennen, und er versteht „Grammatik als Sprach-Lehre, der er selbst nicht mehr zu folgen bereit ist" (ebd., S. 369). Kolbe sucht nach einer Vermittlung zwischen der Normalsprache und seiner eigenen, nutzt die herkömmlichen grammatischen Strukturen, um vor diesem Hintergrund „die Sinngrammatik des Deutschen zu knacken" (Kolbe 1986, S. 91). Wie für Kirsten ist auch für ihn der Aspekt des politischen, ideologischen Mißbrauchs der Sprache von entscheidender Bedeutung: Ich sehe die deutsche Sprache auch so [als mißbraucht, U.F.]. Es wurde mit ihr gemacht: wilhelminische Ideologie, Zertrümmerung als Rettungsversuch in den zwanziger Jahren, Nazi-Ideologie. Dann kam das Neue, ex oriente lux, es ging dann wieder sehr schrecklich her mit der deutschen Sprache als Sprache einer eingesetzten Ideologie - der eines Suchens, natürlich, eines ursprünglich revolutionären Wollens. Wie sie dann aber auf den Transparenten erschien, war es einfach pervers, unecht, verlogen. Damit sind wir aufgewachsen. Da gibt es einfach einen Ekel. (Ebd.)
Das Ursprüngliche, das, was er dem pervertierten Sprachgebrauch entgegensetzen kann, sind für ihn die Wörter: „Die Grenze des Sinnlichen und des Etymologischen, des Wortes, der Sprache selbst, die interessiert mich sehr." (Ebd., S. 92) Er zieht Konsequenzen, wie sie Eibl (1980, S. 751) als charakteristisch für die Moderne darstellt: „Nicht die Relation des Wortes zur Wirklichkeit ist mehr wichtig, sondern die Relation des Wortes zu dem, der es spricht oder hört, als Stimulans für Evokation und Assoziation." Daraus ergibt sich die besondere Bedeutung der im Text aufgebauten semantischen Relationen. Die „Steigerung der Evokationskraft des Einzelwortes" (Eggers 1984, S. 115), verbunden mit der Destruktion des syntaktischen Gefüges, und die dadurch erreichte Vagheit einer Wortgrammatik sind kennzeichnend auch für Kolbes Gedichte (vgl. Heißenbüttel 1980, S. 755f.). Vor dem Hintergrund der biographischen Anmerkungen und der knapp angedeuteten poetologischen Standpunkte der beiden Autoren sollen nun Ausschnitte aus den Gedichtanalysen vorgestellt werden.
4. Analysen 4.1. satzanfang Kirstens Sprach- und Wortbewußtsein und sein zentrales Thema - die Beschreibung eines Naturraums als menschlicher Lebens- und Arbeitsraum werden in dem Gedicht satzanfang in besonderem Maße erfaßbar (vgl. Haufe 1986, S. 120). Aus dem Mit- und Ineinander von Wörtern, die Sprachliches meinen, und solchen, die Landschaft und Dörfliches bezeichnen, kann man ablesen, wie seine Wirklichkeit und Welt sich hier fügen, wie Spre-
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chen und Landschaft sich (für ihn) gegenseitig bedingen. „Das Grundwort ist ein lexikalischer Erfahrungswert, der etwas über das Verhältnis zu den Dingen sagt, die die Menschen umgeben [...]. Wie das Gedicht auf Grundworten ruht, so wird es auch von der Lexik her gebaut." (Kirsten 1970, S. 96) In dem Sinne versteht man die Wörter wort und feld, verknüpft zu Wortfelder, die Gruppe entwürfe in grün und den Satz saataufgang heißt mein satzanfang nur, wenn man erkennt, daß sich hier Bedeutungen durchdringen, daß im Beispiel Wortfelder wort von Landschaft und feld von Sprache nicht zu trennen ist. (Vgl. Fix 1989, S. 299) Ich lese das Gedicht satzanfang als Programmgedicht. Es geht darum, Wirklichkeit in Worte zu fassen und sie auf diese Weise zu bewahren. Wirklichkeit - das sind für Kirsten die Landschaft und das Dorf mit seinen Bewohnern. Sprechen und Landschaft bedingen sich. Kirsten kann nicht sprechen ohne Landschaft, und Landschaft existiert erst dann, ist in ihrer Existenz erst gesichert, wenn über sie gesprochen wird. Mit der Überschrift satzanfang wird das Programmatische deutlich: Es soll gesprochen werden. Kennzeichnend für den Verlauf des Textes ist, daß zwei Welten, die ich >Dingwelt< (Natur, Dorf) und >Nennwelt< (Sprachlich-Gedankliches) nennen möchte, merklich und unmerklich ineinander übergehen. So wird die von Kirsten ins Blickfeld gerückte Abhängigkeit - besser Bedingtheit - der beiden Welten nahezu ikonisch verdeutlicht. Wichtig ist zudem, daß das Gedicht mit einem Wort aus der >Dingwelt< beginnt: Winterschlaf und mit einer Wendung aus der >Nennwelt< endet: nehm ich ins wort. Erst sind die Dinge da, dann kann man sie bewahrend ins wort nehmen. Bemerkenswert auch, daß die Dinge im Laufe des Gedichts zunehmend beschrieben, nicht mehr nur genannt werden. Die Wortmächtigkeit wächst, der Vorsatz des ins wort nehmens wird umgesetzt, und die Fähigkeit dazu nimmt im Verlauf des Schreibens immer mehr zu. Der Lektüreweg führt den Leser, den vielfachen Verschränkungen von Sprache und Wirklichkeit nachgehend, von einem Wort oder einer Wortgruppe der >Dingwelt< zu einer Äußerung aus der >Nennwelt< und von dieser wieder zurück in die >DingweltDingwelt< Winterschlaf saataufgang.. entwürfe in grün langsamer wuchs trigonometrische licht... biographien... dinge eines erdstrichs zwischenein leute vom dorf einer dynastie von feldbestellern redefluß Widerschein die hafergelben flanken meines gelobten lands seine rauhe rissige erde
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>Nennwelt< Wunschsatz satzanfang Wortfelder Überschwang Interpunktion ans licht bringen —> biographien aller sagbaren dinge inständig benennen aus wortfiguren Standbilder setzen—> ohne resonanznamen redefluß Widerschein —*
nehm ich ins wort.
Den Winterschlaf abtun, diese metaphorische Anleihe an die Natur, die Übertragung eines Bildes aus der >Dingwelt< auf die >NennweltDingweltNennwelt< - thematisiert, wobei für die Verbindung der beiden Substantive bezeichnenderweise das Verb heißen gewählt wird, ein Verb des Benennens (ahd. heizzan 'auffordern, nennen')· Natur und Schreiben werden gleichgesetzt. Die Natur soll durch Benennen sprachlich „dingfest" gemacht werden. Das ist das Programm. Im weiteren Verlauf des Gedichtes folgt die Auffächerung dessen, was das Programm mit sich bringt. Die Rede ist von den entwürfen in grün, die den Frühling nach dem Winterschlaf assoziieren, die uns das noch nicht Fertige der erwachenden Natur vor Augen führen, die zugleich aber auch zeigen, daß alles schon angelegt, d.h. existent ist. Die >Dingwelt< steht vor uns, gleichzeitig wird aber mit dem Wort entwürfe die geistige Welt hereingeholt. Beiden, der Natur und dem Vorsatz des Sprechens über die Natur, ist das Wachsen und Werden gemeinsam. Zugleich aber überflügelt die Natur, die Wirklichkeit, das Vermögen des Menschen, sie in Worte zu fassen: der Wortfelder langsamen wuchs. Die Not des Schreibens wird auf diese Weise angesprochen. In dem Kompositum Wortfelder begegnet uns nun zum erstenmal das auch äußerlich faßbare (ikonische) Ineinander von >Dingwelt< und >NennweltDingwelt< und für die >Nennwelt< hervor: nehm ich ins wort.
4.2.
Sprachvermögen Sprechenkönnen Sprichwenndukannst
Es ist, als hätte Kolbe nicht nur Mallarmé, sondern auch Bühler und Jakobson aufmerksam gelesen und deren Ideen in seinem Text umgesetzt. Man kann dieses Gedicht wie ein magisches Quadrat und auch diagonal lesen. Der Text gibt die Elemente und überläßt es dem Leser, die Verbindungen zwischen ihnen herzustellen. Die Aufhebbarkeit des Zusammenhangs von Inhalt und Form, die Möglichkeit, alte Bedeutungsbeziehungen aufzuheben und neue Relationen herzustellen, d.h. die Ersetzung paradigmatischer durch neue, sinnstiftende syntagmatische Beziehungen (vgl. Eggers 1984, S. 114), prägen den Text. Der Redesinn setzt sich gegen die Wortbedeutung durch. [...] Die neue Literatur geht darin weiter [als die traditionelle Poesie, U.F.], indem sie durch Destruktion des syntaktischen Gefüges eine lineare Sinnintegration geradezu verhindert, so daß es dem Einzelwort möglich wird, seine ursprüngliche Kraft des Bedeutens zu entfalten. [...] Fraglich ist jedoch in jedem Falle, ob und wie die Gesamtheit der Bedeutungskomponenten aus der Latenz abgerufen, also gleichzeitig aktualisiert werden soll und kann. (Ebd., S. 115f.)
Dichtung tritt hier als Wortkunst auf, wie Jakobson sie versteht. Wir finden alle Jakobsonschen Prinzipien der linguistischen Konzeption der Poesie (vgl. Holenstein 1974, S. 9ff.) umgesetzt. Da ist zunächst das phänomenologische Prinzip: Der Text verlangt die völlige Einstellung auf den Ausdruck. Der Eigenwert der sprachlichen Mittel wird betont, d.h. das Medium zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Die Einstellung auf das sprachliche Medium als solches macht dessen Gegenstandsbezug nicht zunichte, sondern mehrdeutig. Die lautlichen und grammatischen [und die lexikalischen, U.F.] Ähnlichkeits- und Kontrastbeziehungen, die ein Gedicht zu einer Einheit verklammern, ziehen auf der semantischen Ebene Sinnverlagerungen und Sinnüberlagerungen nach sich. (Ebd., S. 1974, S. 10)
Das strukturalistische Prinzip, auf der Wortebene umgesetzt, macht die Wortfolge dieses Gedichts, der ein syntaktisches Gefüge im strengen Sinne des Wortes völlig fehlt, erst zum Text, macht es zum Gedicht. Es wird das Äquivalenzprinzip, wie Jakobson es sieht, von der paradigmatischen auf die syntagmatische Ebene übertragen. Die Ähnlichkeitsbeziehungen im Paradigma werden durch neu gestiftete Gleichwertigkeitsbeziehungen auf der
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Ebene des konkreten Textes ersetzt. Dadurch, daß der Text dem Prinzip des parallelen Aufbaus folgt, wird eine neue Art von Äquivalenzrelation geschaffen. Wir finden synonyme Parallelismen, antithetische Parallelismen und Umstellungen oder auch nur Unterbrechungen paralleler Strukturen. Dies sind die Mittel, mit denen Relationen hergestellt werden. Daß einiges aus den strukturellen Analogien herausfällt, daß die Parallelismen unterbrochen werden, muß man als Prinzip erkennen und verstehen. Parallelismen wie Unterbrechungen der Parallelität machen in vielfältiger Anwendung und Modifikation das Gedicht aus. Die Dekonstruktion der syntaktischen „Ordnung" wird ausgeglichen durch semantische Beziehungen auf der syntagmatischen wie auf der paradigmatischen Ebene. Dem Rezipienten eines solchen grammatikarmen, aber assoziationsreichen Textes wird viel Freiheit gegeben, zugleich wird ihm aber auch ein hohes Maß an Verantwortung für die Sinnherstellung zugewiesen. Entscheidend ist in einem solchen Falle, abgesehen von der Bereitschaft, sich auf einen so gearteten Text einzulassen, was der Rezipient an Voraussetzungen für die Rezeption, was er also an Text- und Kulturwissen mitbringt (vgl. dazu Fix 1998, S. 167ff.). Das heißt, daß das (Jakobsonsche) hermeneutische Prinzip - das Einzelne sei nur vom Ganzen her und das Ganze nur vom Einzelnen her zu verstehen in einem solchen Gedicht, da keinerlei Beziehung syntaktisch ausgedrückt wird, besonders wichtig ist. Kolbe (1986, S. 92) dazu: Es wurmt mich sehr, wenn ich den Vorwurf des Hermetischen bekomme. Ich setzte voraus, daß jemand, der einem mitteleuropäischen Text begegnet, sich dessen bewußt ist und daß er seine fünf Sinne beieinander hat, schmecken, riechen, hören kann, lieben kann. Wenn er dann den Wissens- oder Bildungskontext nicht hat, gibt es trotzdem die Möglichkeit, es sinnlich zu erfahren. Es sind ja nicht konstruierte, gedankliche Gebäude oder Allegorien für etwas, sondern beinahe visuelle Dinge. Das ist mir sehr wichtig. Ich will ja nicht behaupten, sondern ich will nur sagen: Ich sehe das und das. Durch den Kontext des Gedichtes sage ich natürlich, wie ich es sehe.
Auch das futuristische Prinzip Jakobsons tritt dem Leser hier in aller Deutlichkeit entgegen: Dichten als handwerkliches Befolgen von Verfahren, von denen ein besonders wichtiges das Verfremden ist. Neue Wörter werden gebildet. Ungewöhnliche Ausdrücke werden in gewöhnlichen Zusammenhängen genutzt. Ausdrücke aus der Stilschicht des Vulgären tauchen in gehobener Sprechweise auf. Die systematische Anwendung der vier genannten Prinzipien, die gekonnte Anwendung durchschaubarer Verfahren ist das, was bei Jakobson als das wissenschaftliche Prinzip gilt. In unserem Fall betrifft diese gekonnte Anwendung das Hervorheben des Eigenwerts der Mittel, das Erzeugen von Mehrdeutigkeiten und von neuen Sinnkonstellationen. Dies soll im folgenden in einem notwendigerweise knappen Ausschnitt aus
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der Analyse des Textes - Titel, Anfangs- und Schlußzeilen sowie Aufbauprinzip des mittleren Teils - gezeigt werden. 8 Die Überschrift des Gedichtes besteht aus drei in drei Zeilen angeordneten Wörtern, deren Charaktere sich auffällig unterscheiden. Während Sprachvermögen ein usuelles, eindeutig als Substantiv erkennbares Wort ist, ist die Sachlage bei Sprechenkönnen unklar: Substantiv oder Verb, Begrifflichkeit oder Prozeß? Man kann es nicht eindeutig entscheiden. Das Wort der dritten Zeile schließlich - Sprichwenndukannst - kann analog zu Rührmichnichtan, Vergißmeinnicht, Schlagetot als Zusammenrückung mit Verbform gelten, eine Art der Wortbildung, der Expressivität zugeschrieben wird und die Imperativische oder drohende Funktion haben kann (vgl. Fleischer 1976, S. llOff.). In der Wortbildung selbst läge hier also ein Element der Wortgrammatik. Denkt man sich das Wort lautlich realisiert, so hat man wohl die Vorstellung von etwas hastig oder heftig Hervorgestoßenem. Im ganzen bildet der Titel eine Gedankenkette, die vom Vorhandenen, Statischen (Sprachvermögen) zum Betonen der Modalität des Tuns (Sprechenkönnen) bis zur Einschränkung des Tuns im Fall der hevorgestoßenen Beschwörungsformel (Sprichwenndukannst) reicht. Die ersten beiden und die letzten beiden Zeilen des Gedichts zeigen inhaltliche Zusammengehörigkeit und analoge Strukturierung. Drei Wortfelder lassen sich feststellen: das Wortfeld >NaturMenschSpracheMenschen< zu und denken dabei an sein Ausgeliefertsein oder ordnen wir es als linguistische Kategorie dem Feld >Sprache< oder beidem zu? Die Zusammenhänge zwischen den drei Gruppen werden so verdeutlicht. In den beiden Schlußzeilen, die zusammen mit den Anfangszeilen chiastisch aufgebaut sind, geht es analog und doch anders zu: Die Wörter der Wortfolge Sätze Substantive Objekte Wir scheinen hier deutlicher einander zugeordnet zu sein: selbstbestimmt sprechen zu können oder ausgeliefert und Objekt zu sein - beides sind Erscheinungsformen menschlicher Existenz. Stammgleiche Wörter drücken nun Prozesse aus. Die Wörter, die ehemals dem Feld >Natur< zuzuordnen waren, werden nun zu Verben, die menschliches Verhalten ausdrücken. Stürmen ist hier wohl bildlich aufzu-
Andere Aspekte - vor allem das Herauspräparieren und Ordnen der Möglichkeiten einer Wortgrammatik - werden in Fix (1998) gezeigt.
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fassen, als 'etwas im Sturm nehmen', Bäumen als Aufbäumen, eine desubstantivische Ableitung, die 'sich gegen etwas wehren' assoziieren soll. Straucheln schließlich ist zu verstehen als 'Fehltreten, sich etwas zuschulden kommen lassen' (ahd. struhhon - 'über einen/unter einen Strauch fallen') 9 , in die Gefahr kommen zu scheitern, was aber nicht unbedingt wirkliches Scheitern bedeuten muß. Die Botschaft könnte also sein, daß man auf die Gefahr des Scheiterns hin ein Risiko auf sich nehmen, daß man, über Sprachvermögen verfügend, moralisch verpflichtet ist, sich mitzuteilen. Damit endet das Gedicht bezeichnenderweise. Die mittleren zwölf Zeilen des Gedichts bilden das eigentliche magische Quadrat, das in beliebige Richtungen gelesen werden kann. Aus Platzgründen ist es nicht möglich, genauer darauf einzugehen. Nur soviel: Die Quergruppen bestehen analog zum Titel aus jeweils drei Wörtern, die nach einem erkennbaren Prinzip angeordnet sind: Das erste Wort der Gruppe bezeichnet jeweils (fast durchgehend) so etwas wie Grundkonstellationen menschlicher Existenz: Sinn, Lüge, Wahrheit, Macht, Glaube, Sein, Vernunft, Ordnung. Konsequenterweise muß man sich dann fragen, ob die weiteren Anfangswörter Aufstieg, Loch, Lob, Labsal ebenso einzuordnen sind oder Widerspruch hervorrufen sollen. Die mittleren Wörter der Querreihen drücken jeweils eine aus der anfangs genannten Kategorie abgeleitete menschliche Eigenschaft aus. Das Übergeordnete wird auf den Menschen bezogen, in den Bereich menschlicher Verantwortung gestellt: Sinnlichkeit, Lüglichkeit, Wahrhaftigkeit usw. Auch da wird es interessant, wenn das Prinzip im verfremdenden Sinne unterbrochen wird: z.B. bei Ausverkauf, Karriere, Arschloch. Zweifellos sind das Stellen im Text, die durch den Bruch der Analogie provozieren sollen. Die jeweils dritten Wörter der Quergruppe fungieren im Sinne des antithetischen Parallelismus. Ein Gegensatz zum ersten Wort der Gruppe wird ausgedrückt: Sinn - Widersinn, Macht - Ohnmacht, Vernunft - Wahnsinn. Hat man dieses Prinzip erst einmal akzeptiert, kommen interessante Sinnkonstellationen zustande: Lüge Notlüge, Wahrheit - Zeitunglesen, Ordnung - Leben. Am interessantesten scheint mir in diesem Kontext die Dreiergruppe Sein - Dasein - Kunst zu sein, die sich in der Mittelachse des Gedichtes befindet. Denkt man sich Sein als die übergeordnete, gleichsam philosophische Kategorie, Dasein als das auf die individuelle menschliche Existenz bezogene Wort und Kunst als Gegensatz zu Sein und Dasein, so wird im Zusammenhang mit der Titelzeile Sprichwenndukannst und mit der Schlußzeilen (Wir?) Lachen Stürmen Bäumein Straucheln ein Bekenntnis zur menschlichen Verpflichtung, sich (künstlerisch) mitzuteilen, ablesbar.
Hier könnte das etymologische Interesse, das Kolbe für sich reklamiert, eine Rolle gespielt haben.
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5. Schlußbemerkung Sprache wird von Kirsten wie von Kolbe als reflektiertes Instrumentarium und als Gegenstand der Dichtung behandelt, Sprechen als moralische Verpflichtung angesehen. Für Sprachwissenschaftler, die sich wie Helmut Henne nicht mit der Beschreibung und Erklärung sprachlicher Sachverhalte begnügen wollen, sondern die, als Experten, die Verantwortung gegenüber der Sprache und dem Gebrauch, den wir von ihr machen, hervorheben, können diese Gedichte vielleicht eine im wahren Sinne des Wortes schöne Bestätigung sein.
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Matti Luukkainen (Turku)
„Das Kunstwahre" und „das Naturwahre" Zur Semantik im literarischen Text
1. 2. 3. 4.
Kunst und Geschichte Zur semiotischen Basis literarischer Texte Zur Wahrheit der Literatur - am Beispiel Christa Wolfs Christa Wolf als Chronistin
1. Kunst und Geschichte „Literaten sind Chronisten, wenn sie wirkliche Dichter sind", stellt der Jubilar in einem Beitrag von 1993 fest, in dem er dem literarischen Sprachgebrauch am Beispiel von Arno Schmidt und Botho Strauß nachgeht (Henne 1993, S. 104). Den Ausgangspunkt darin bildet der zentrale Gedanke Arno Schmidts, daß die moderne Literatur „sich die möglichst getreue Abbildung innerer Vorgänge unter gleichzeitiger Einwirkung der Außenwelt vorgesetzt hat". Das besondere Werkzeug eines Schriftstellers ist die Sprache. Weil keine Literatur in einem Vakuum entstehen kann 1 , reflektiert auch die Sprache im literarischen Werk ihr gesellschaftliches Umfeld. Die Verarbeitung der Zeitgeschichte mit Hilfe der Sprache ist das Dauerthema gerade bei vielen der größten deutschen Gegenwartsschriftsteller wir brauchen uns in diesem Zusammenhang nur Namen wie Heinrich Boll, Siegfried Lenz, Günter Grass oder Christa Wolf zu vergegenwärtigen. Nach einer bekannten Aussage von Boll (1961, S. 354) sind die Dichter „immer betroffen" - gerade sie, obwohl „sie sich scheinbar in der Unveibindlichkeit ästhetischer Räume bewegen", kennen den Punkt, „wo die größte Reibung zwischen dem einzelnen und der Geschichte stattfindet". Auch Wolfs Werk geht bewußt - wie sie selbst immer wieder hervorhebt - von der persönlichen Erfahrung „mit dem Leben" aus, „der unvermittelten Realität einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Gesellschaft" (Wolf 1986, S. 774). Im folgenden werden unter Berücksichtigung des oben Festgestellten einige Überlegungen zu der komplizierten Frage nach dem Wirklichkeitsbezug im literarischen Text angestellt. Es geht folglich um die Semantik im Vgl. die Aussage von Günter Grass auf der Buchmesse Gotenburg 1994 (zit. bei Luukkainen 1997, S. 2).
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literarischen Text. Wir schneiden also die Problematik an, die schon Goethe (vgl. O.J., S. 79) in einem in Gesprächsform verfaßten Aufsatz mit dem Titel Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke erörtert hat, indem er den Begriff das Kunstwahre dem Begriff das Naturwahre gegenübergestellt hat. Als Anschauungsmaterial dient das Werk Christa Wolfs. Zunächst jedoch einiges zum theoretischen Rahmen, in den die Überlegungen eingebettet sind. Der Ansatz ist stilsemiotisch orientiert. Besonderes Augenmerk wird auf die Beziehung zwischen der Sprache der Dichtung und der Sprache der Wirklichkeit gerichtet (wobei Wirklichkeit zunächst etwas ungenau als Gegensatz von Fiktion verstanden wird).
2. Zur semiotischen Basis literarischer Texte Das vielfach zitierte, modifizierte und kritisierte Kommunikationsmodell von Jakobson (1972) bildet nach wie vor eine angemessene erste Interpretationsbasis für Texte verschiedenster Art. 2 Wegen seiner hierarchischen Struktur und Flexibilität wird es unterschiedlichen Kommunikationssituationen gerecht. Je nach den Bedingungen der Kommunikationssituation legt der Sender den Akzent auf die referentielle, emotive, konative, metasprachliche, phatische oder poetische Funktion der Sprache - eine oder mehrere Funktionen sind jeweils dominant, die anderen sind subsidiär. Ebenso verfährt der Empfänger und interpretiert den Text aufgrund seines ideellen und aktuellen Standorts, seiner individuellen Lebenserfahrung und seiner aktuellen Lebenssituation jeweils anders. Selbstverständlich ist dieser Gesichtspunkt besonders relevant bei der Sprachkunst (Poesie), deren Charakteristikum gerade - wie weiter unten im einzelnen zur Sprache kommt - in der Vieldeutigkeit, in der Polyvalenz besteht. 3 Überdies lassen sich anhand des Jakobsonschen Modells die verschiedenen Zeichen funktionen getrennt analysieren, wie im Fall des vorliegenden Beitrags die phatische und die referentielle Funktion, d.h. der Einfluß des Ausdruckskanals und die Relation zum außersprachlichen Kontext. In einer weiteren Anwendung des Jakobsonschen Modells können die sechs darin enthaltenen Funktionen als die Aspekte WAS-WO, WER, WOZU, WOMIT, WODURCH und WAS-WIE bezeichnet werden (vgl. Luukkainen 2000a, S. 261 f.; 1997, S. 69ff.). In dem vorliegenden Beitrag kommt es - wie bereits angedeutet wurde - auf die Aspekte WODURCH und WAS-WO an, weil den Schwerpunkt der Betrachtung einerseits die 2
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Zur Kritik siehe besonders Coseriu (1994); zur Bewährung vgl. z.B. Heintz (1978). Zur Erklärung der Polyvalenz im literarischen Text siehe besonders Schmidt (1999).
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Sprachkunst als Kanal der Botschaftsvermittlung und andererseits der außersprachliche Kontext, die Referenz in der Außenwelt bilden. Das Modell gilt gleichermaßen für literarische wie für nicht-literarische Texte. In seiner Kritik gegenüber Jakobson macht Coseriu (1994, S. 147f.) allerdings einen strikten Unterschied zwischen Sprachkunst und den (seiner Ansicht nach im Gegensatz dazu kommunikativ orientierten) Texten des Alltags und der Wissenschaft. Er bezeichnet die Sprache der Dichtung als totale Sprache, die Sprache des Alltags und der Wissenschaft nur als deren Modalitäten, als Abweichungen davon. Jakobsons Modell suggeriere, „daß die Kommunikation das Grundlegende an der Sprache sei" und daß auch in poetischen Texten „etwas mitgeteilt" werde und folglich Kommunikation stattfinde (vgl. ebd., S. 82ff.; vgl. auch Luukkainen 1997, S. 71ff.): Die Dichtung ist nicht dazu da, um vom anderen aufgenommen und verstanden zu werden; das ist für die Bestimmung der Dichtung völlig unwesentlich. Kein Dichter würde, wenn er als Dichter ein moralisches Subjekt ist, plötzlich anders schreiben, wenn er feststellen muß, daß ihn niemand versteht. Er wird vielmehr so schreiben, als sei er das einzige Subjekt überhaupt. Denn die Dichtung ist die Tätigkeit eines Universalsubjekts, der Dichter nimmt die universelle Subjektivität auf in dem Augenblick, in dem er dichtet. Er ist dann nicht mehr ein Sprecher unter anderen, sondern er realisiert das Sprechen absolut - nicht relativ zu bestimmten Umständen oder Anlässen. (Ebd., S. 83f.)
Wenn wir die Argumentation Coserius in die Begrifflichkeit Jakobsons umsetzen wollen, stellt sich also heraus, daß Coseriu in der Dichtung den Nachdruck auf die emotive Funktion legt und die konative gänzlich ausklammert. Anders sieht den Zeichencharakter der Sprache Anderegg (1997, S. 53f.). Das Stichwort bei ihm ist gerade die Relationierung. Er geht davon aus, daß die Sprache ein Medium ist, „mit dessen Hilfe nicht nur Sprecher und Hörer zueinander in Beziehung treten, sondern beide überdies sich mit der sie umgebenden Welt in ein Verhältnis setzen". Dies sei aus dem Stil des Textes direkt ablesbar: Die Art und Weise des Sprachgebrauchs zeugt von der Art und Weise, wie ein Sprecher oder Schreiber sich zu seiner Umwelt, zu seinem Adressaten verhält, sie verrät, wie er sich jene Wirklichkeit bildet, um die es im jeweiligen Text oder Sprechakt geht. Wenn es die eigentümliche Leistung der Sprache ist, dergestalt Relationierungen zu vollziehen, d.h. wirklichkeitsbildende Beziehungen herzustellen, so läßt sich das stilistische Merkmal auffassen als ein Zeichen, welches auf die im Gebrauch der Sprache je wieder neu vollzogene Relationierung zwischen Sprecher und Adressat und der sie umgebenden Welt hinweist. (Ebd., S. 53f.)
Weil Coseriu die Sprache der Dichtung im Gegensatz zur Sprache der Wirklichkeit als „Sprache schlechthin" ansieht, lehnt er den Teilaspekt „poetische Funktion der Sprache" in Jakobsons Modell strikt ab. Coseriu (1994, S. 79ff.) zufolge erweckt dieser den Eindruck, daß ein poetischer
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Text offenbar nur dann vorliege, „wenn nicht das Was, sondern das Wie der Mitteilung im Vordergrund" stehe, und daß das „Poetische eines Textes [...] in der technischen Perfektion seiner Gestaltung" bestehe. Er argumentiert weiter: Es kann jedoch nicht der geringste Zweifel daran bestehen, daß dem nicht so ist, daß wir es in der Dichtung auch, und sogar an erster Stelle, mit einem besonderen Inhalt zu tun haben, daß sich die Dichtung nicht auf die Gestaltung, auf das Wie des Gesagten reduzieren läßt. In der Dichtung hat nämlich die besondere Vollkommenheit der Gestaltung, dieses Sich Konzentrieren auf die Form des Textes, eine sekundäre Funktion. (Ebd., S. 81) A u c h hier sieht Anderegg (1977, S. 84f., 9 0 f f . ) die Verhältnisse umgekehrt. Ihm zufolge gilt nur in der Sprache der Wirklichkeit das hauptsächliche Leserinteresse d e m Mitgeteilten, dem Inhalt der Aussage. Der Leser interessiere sich w e n i g e r für die Sprache selbst, d.h. für die Art und W e i s e der Mitteilung, für den Stil der Aussage. Demgegenüber p f l e g e man einen Text als Fiktion zu bezeichnen, „dessen Z w e c k nicht mehr in der Mitteilung über Gegenstände und Sachverhalte liegt, w e l c h e als außerhalb der Sprache bestehend zu begreifen sind". Für die Verhältnisse im Bereich der Dichtung gelte also folgendes: Hier interessiert sich der Leser nicht für die außerhalb der Sprache bestehenden Sachverhalte, sondern für die Sprache selbst, für die Sprache um ihrer selbst willen. Ein solches Interesse an der Sprache um ihrer selbst willen läßt sich nicht oder nicht nur mit dem Hinweis a u f , be wußte Begleiterscheinungen', auf Wohlklang, Reim oder Rhythmisierung erklären. Wenn der Leser bei der Sprache selbst verweilt, wenn er nicht über sie hinaus nach den gemeinten Sachverhalten fragt, so vor allem, weil die Art und Weise ihres Gebrauchs Sinn vermittelt, weil die Wahrnehmung des Stils sich als erhellend erweist: Der Leser interessiert sich für die im Stil faßbare spezifische Relationierung. Eine Sprache, die das auf die Relationierung ausgerichtete Interesse des Lesers zu befriedigen vermag, kann als dichterisch bezeichnet werden. (Ebd., S. 85) Ebenso folgert Gauger (1995), daß der besondere Zeichengebrauch des literarischen Textes zum Inhaltlichen wird, also im Sinne von Anderegg „Sinn vermittelt": Das Spezifische des literarischen Texts liegt darin, daß in ihm die Verschränkung von Was und Wie bis zur völligen Untrennbarkeit gehen kann, was sich dramatisch in der Übersetzung zeigt: sie kann nahezu unmöglich sein, eben weil das Materielle eines Texts so zu ihm gehören kann, daß es von ihm nicht abziehbar ist. (Ebd., S. 17) Und ferner: Stil ist ein Wie, anders ist der Begriff nicht zu fassen. Zu diesem Wie gehören aber auch - und im Literarischen auf jeden Fall - Elemente, die dem Was zuzu-
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rechnen sind. Demzufolge gibt es im Literarischen auch kein reines Was. Und dies markiert - ich sage es bewußt gegen bestimmte modische Sperenzien - den abgrundartigen Unterschied zum wissenschaftlichen Reden, wie es sein sollte. (Ebd., S. 19)
Zusammenfassend läßt sich unter Vereinung der bis jetzt vorgetragenen Gesichtspunkte folgern, daß im literarischen Text im Unterschied zu einem nicht-literarischen Text das Wie gleich wichtig ist wie das Was und zumindest teilweise auch als Was fungiert. Hinzu kommt aber, und zwar als entscheidendes Merkmal der literarischen Texte, ihre interpretative Vieldeutigkeit, ihre Polyvalenz, wie sie Christopher Schmidt (1999, S. 52ff.) in seiner Dissertation kürzlich verdienstvoll dargelegt hat. Dann liegt der Schwerpunkt der Betrachtung auf dem Was, auf dem Verhältnis zwischen dem literarischen Text und der Wirklichkeit, auf der Semantik des literarischen Textes also. Überdies eröffnet sich hier im Vergleich zu Jakobson und anderen eine neue Dimension der Wirklichkeit - neben die textexterne tritt die textinterne Wirklichkeit (vgl. ebd., S. 67ff.). Beim Vorgang der literarischen Kommunikation ist gerade die letztgenannte von entscheidender Bedeutung. Wir können allerdings in diesem Zusammenhang noch einmal auf Goethes Argumentationen über die Wahrheit des Kunstwerks hinweisen: Anwalt: Wir sprachen vorher der Oper eine Art Wahrheit ab; wir behaupteten, daß sie keineswegs das, was sie nachahmt, wahrscheinlich darstelle; können wir ihr aber eine innere Wahrheit, die aus der Konsequenz eines Kunstwerks entspringt, ableugnen? Zuschauer: Wenn die Oper gut ist, macht sie freilich eine kleine Welt für sich aus, in der alles nach gewissen Gesetzen vorgeht, die nach ihren eignen Gesetzen beurteilt, nach ihren eignen Eigenschaften gefühlt sein will. (Goethe o.J., S. 79)
3. Zur Wahrheit der Literatur - am Beispiel Christa Wolfs Aus einer Analyse des Spannungsverhältnisses zwischen Eingrenzbarkeit und Unbegrenztheit ergibt sich bei Schmidt der Begriff der metaphorischen Funktion der Literatur, die es ermöglicht, einen thematischen Rahmen aufzubauen, der in seiner Abstraktion noch nicht auf einzelne Referenten in Zeit und Raum festgelegt ist. Schmidt (1999, S. 56f.) argumentiert wie folgt: Auch in nicht-fiktionalen Redesituationen werden metaphorische Wahrheiten ausgesprochen. Jedoch sind diese in dem Sinne referentiell festgelegt, daß sie sprachkonventionell geregelt sind. Die metaphorische Wahrheit fiktionaler Texte liegt in der Möglichkeit, innerhalb des Rahmens, innerhalb dessen ein Text
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Matti Luukkaineri ,wahr' sein kann, an verschiedene Momente in Zeit und Raum anschließbar zu sein, ohne daß die eine Anschließbarkeit die andere(n) ausschließt.
Aufgrund der Ergebnisse seiner Analyse kann Schmidt also folgern, daß bei der Beurteilung der Überzeugungskraft eines Interpretationsresultats das Augenmerk weniger auf die Wahrheit des Ergebnisses im Sinne eines überindividuell geltenden Wirklichkeitsbezugs gerichtet werden soll als vielmehr auf die Wahrheit im Sinne einer kohärenten Gestaltung des Resultats von der Textanalyse bis zum Horizontanschluß auf die Frage nach der internen Motivierung des Ergebnisses im Bereich der Analyse. Dieser Umstand, der gleichermaßen dem Vorgang der Textproduktion durch den Sender wie dem der Textrezeption durch den Empfänger gilt, ist natürlich besonders relevant auch im Rahmen der Fragestellung des vorliegenden Beitrags. Bei der Erörterung der Grenze zwischen Texten mit „dichterischer Qualität" und solchen mit „sachlicher Qualität" weist Anderegg (1977, S. 84ff.) auf sog. „Mischformen" hin. Zwischen den beiden Polen gebe es „nicht wenige Übergangsformen, Texte, die weder der einen noch der anderen Seite eindeutig oder ausschließlich zugeordnet werden können" (ebd., S. 87f.). Als „echte Mischformen" bezeichnet er z.B. das literarische Tagebuch und den Essay. Zu den Mischformen zähle auch der Großteil des mittelalterlichen Schrifttums, z.B. die Chroniken, die „ihre Aktualität weder der im heutigen Sinne sachlichen Information, noch etwa bloßer Unterhaltsamkeit, wohl aber ihrer spezifischen Relationierung, ihrer wirklichkeitsbildenden Funktion verdanken." Die Unterscheidung zwischen „dichterischer Sprache" und „Wirklichkeitssprache" als „nicht-dichterischer Sprache" dürfe also nicht so gedeutet werden, daß die erstere sich nicht mit der Wirklichkeit befaßt. Es gebe in der Literaturgeschichte zahlreiche Beispiele für Fälle, in denen es dem Leser überlassen bleibe, zu welcher Gattung er ein Werk zählen will. Die einen läsen Goethes Dichtung und Wahrheit um der Sache willen, „als einen autobiographischen und historisch informativen Bericht", die anderen „in erster Linie als Dichtung, in Hinblick also auf die stilistische Relationierung" (ebd., S. 87). In bezug auf Christa Wolf ist kein scharfer Unterschied zwischen ihren belletristischen und essayistischen Texten zu machen (vgl. z.B. Stephan 1991, S. 131). Daraus folgt, daß bei ihr auch die Unterscheidung zwischen „Autor" und „Erzähler" bzw. „Schriftsteller" und „Chronist" an Relevanz verliert. Sie selbst hat folgendes zu ihren Texten geäußert: Ich hatte nämlich erfahren - ich kann wohl sagen: überraschend und gegen meinen eigenen beträchtlichen Widerstand - , was es bedeutet, erzählen zu müssen, um zu überwinden; hatte erlebt, daß der Erzähler (aber ist das Wort noch am Platze? der Prosaautor also) gezwungen sein kann, das strenge Nacheinander von Leben, .Überwinden' und Schreiben aufzugeben und um der inneren Authentizität willen, die er anstrebt, den Denk- und Lebensprozeß, in dem er steht, fast ungemildert (Form mildert aber immer, das ist ja eine ihrer Funktionen) im Ar-
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beitsprozeß mit zur Sprache zu bringen, künstliche Kategorien fallenzulassen, Hohlformen, in die sich das noch rohe Material, durch den Autor fast schon unbewußt gelenkt, in erschreckender Zwangsläufigkeit ergießt. (Wolf 1986, S. 778)
Bei der Frage nach der Grenzziehung zwischen poetischen und nicht-poetischen Texten müssen wir noch einmal auf Coseriu zurückgreifen und auf den Ausgangspunkt der herkömmlichen Semiotik hinweisen, wo drei grundlegende Relationen unterschieden werden: Zeichen vs. Denotat, Zeichen vs. Benutzer und Zeichen vs. Zeichen (vgl. Spillner 1995). Indem Coseriu (1994, S. 76ff.) die poetische Funktion der Sprache im Sinne von Jakobson - wie sich oben herausstellte - ignorieren will, mißt er der letzten der drei eben genannten semiotischen Relationen in diesem Zusammenhang keine autonome Bedeutung bei. Weil er die drei schon im Bühlerschen Modell enthaltenen Zeichenaspekte Darstellungsfunktion (Jakobson: referentielle Funktion), Ausdrucksfunktion (Jakobson: emotive Funktion) und Appellfunktion (Jakobson: konative Funktion) ausreichend findet, betrachtet er die Jakobsonschen Begriffe phatische und metasprachliche Funktion als entbehrlich. Daß die Entscheidung von Coseriu im ganzen nicht vertreten werden kann, läßt sich am Beispiel der Texte Christa Wolfs nachweisen. Der Beachtung des phatischen Aspekts muß bei dieser Autorin eine große Relevanz beigemessen werden, weil die Belletristik mangels freier Presse und Ausdrucksfreiheit schlechthin in der DDR den einzigen Kanal bot, über die aktuelle gesellschaftliche Situation kritisch zu reflektieren. Die fiktionale Sprache mit ihren offenen Referenzen, wie sie oben definiert wurde, ermöglichte ein Spiel mit der Zensur und den Behörden, im Rahmen dessen die Grenzen erprobt werden konnten. Aufschlußreich ist die folgende Passage in einem Brief von Christa Wolf an Günter Grass 1993: Ich habe dieses Land geliebt. Daß es am Ende war, wußte ich, weil es die besten Leute nicht mehr integrieren konnte, weil es Menschenopfer forderte. Ich habe das in Kassandra beschrieben, die Zensur stocherte in den Vorlesungen herum; ich wartete gespannt, ob sie es wagen würden, die Botschaft der Erzählung zu verstehen, nämlich, daß Troja untergehen muß. Sie haben es nicht gewagt und die Erzählung ungekürzt gedruckt. Die Leser in der DDR verstanden sie. (Wolf 1994, S. 262f.)
Nach der vom Biermann-Prozeß ausgelösten Verbitterung war im Schaffen Wolfs die Periode „Flucht hinter die Maske der Geschichte" gefolgt, während derer neben dem in Troja angesiedelten Text Kassandra auch das Werk Kein Ort. Nirgends, entstand, dessen Handlung im Künstlermilieu der Frühromantik um die Jahrhundertwende 1800 spielt (vgl. Luukkainen 1997, S. 26ff.). Beide Texte handeln von der Einschränkung der Möglichkeit der Selbstverwirklichung - eine Analogie zu der zeitgenössischen Situation der
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realen Autorin ist unverkennbar, wie auch die Autorin selbst in dem Interview Schreiben im Zeitbezug im Dezember 1989 zugestanden hat: In den siebziger Jahren, als ich keine Möglichkeit mehr sah, mich hier politisch zu betätigen, habe ich versucht, in der Geschichte zu finden, wie sich deutsche Intellektuelle in solchen ausweglosen Zeiten verhalten haben. (Wolf 1993, S. 142; vgl. dazu auch Luukkainen 1997, S. 29ff.)
Gerade in den Texten der DDR-Autoren ist auch der metasprachliche Aspekt von Belang, weil ein besonderer semiotischer Kode entwickelt werden mußte, um die Botschaft zwischen den Zeilen ausdrücken zu können. Die metasprachliche Reflexion und Sprachkritik ist für Christa Wolf ohnehin typisch, nicht zuletzt auch als philosophisches Problem. (Vgl. dazu Jäger 1989; siehe auch Luukkainen 1997, S. 48ff.; 2000a, S. 263ff.) Für Wolf ist die Verarbeitung der Zeitgeschichte bewußt eine Sache der Poesie. Aus dem Prinzip des Poetischen folgt, daß die Ja-Nein-Fragen dabei ausgeschlossen sind, weil alles auf einem „immensen Möglichkeitsreservoir" beruht. 4 Wie die Kunst beruht also auch der Weltlauf auf einer pluralistischen Grundlage. Angeregt durch ein metaphysisches Gespräch mit dem Physiker Hans Peter Dürr überträgt Wolf in ihrem Tagebuch am 27.9.1991 dessen naturwissenschaftliche Beispiele auf die jüngste Geschichte Deutschlands: Mich erfaßt jetzt die gleiche Aufregung wie an jenem Vormittag vor sechs Wochen, als wir in unserer Berliner Veranda saßen und Dürr das Wort Erwartungshorizont ins Spiel brachte: Es bilde sich ein Erwartungshorizont, der das Ereignis herbeiführe; dort, wo die Erwartung am dichtesten sei, werde das Ereignis mit einiger Wahrscheinlichkeit passieren - aber sicher sei das keineswegs. Ein poetisches Prinzip, sagte ich, und er: Warum nicht. Einmal werden Wissenschaft und Poesie vielleicht wieder zusammengehen. Unwillkürlich übertrage ich seine naturwissenschaftlichen Beispiele auf Geschichte, auf Ereignisse die ich erlebt habe: Haben wir nicht alle im Herbst '89 die zum Ersticken dichte Konsistenz unseres gemeinsamen Erwartungshorizonts gespürt. Mußte diese Dichte nicht „das Ereignis" hervorbringen, aus sich herausschleudern? Körperlich fühlten wir uns hineingerissen in eine unglaubliche Konzentration von Energie, die noch wenige Wochen, ja Tage vorher nicht vorhanden gewesen war. (Wolf 1994, S. 108)
Mit ihrem Sprachzweifel, der Schwierigkeit, das „Eigentliche" in Worte zu fassen, hängt zusammen, daß Wahrheit und Wirklichkeit zwei Begriffe bilden, die Wolf von Anfang an beschäftigen (vgl. Luukkainen 1997, S. 50ff.; 292ff.). In der Terminologie Jakobsons stimmen nach Wolf das Denotat und die Nachricht, der referentielle und poetische Aspekt also, nicht restlos überein. Noch in dem „Hexenkessel", in den sie im Zuge des Literaturkriegs 4
Vgl. auch das oben zur Polyvalenz des poetischen Textes im Modell von Schmidt (1999) Gesagte.
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nach der „Wende" geriet, macht dies einen wesentlichen Bestandteil ihrer metasprachlichen Reflexion aus (vgl. ebd., S. 45ff.). Sie betrachtet sich als multiples Wesen, das sich aus mehreren Wirklichkeiten zusammensetzt, die sich nicht sprachlich in Einklang bringen lassen und ein Gefühl der Unaufrichtigkeit erzeugen, wie sie in einem Brief an Efim Etkind 1992 schreibt: Was mich, wenn ich mich vom Druck dieser Kräfte etwas frei machen kann, wirklich beschäftigt, ist diese verdammte Wahrheitsfrage, auf die Sie in Ihrem Brief zielgerichtet zusteuern: ,Über die Leichtigkeit zu lügen und die Unmöglichkeit, die Wahrheit zu sagen'. Oder: Wie kommt es, daß, je näher man an ,die Wahrheit', das heißt, an sich selber, die multiplen Wesen in sich und besonders an jenes Wesen herangeht, mit dem man sich am wenigsten identifizieren möchte: Wie kommt es, frage ich, daß sich in den Text, der sich auf die Spur dieses Wesens und seiner Wahrheit begibt, auf dem Weg vom Kopf über die Hand bis aufs Papier immer ein Hauch von Unaufrichtigkeit einschleicht? (Wolf 1994, S. 197) D i e s e Wahrheitsfrage kennzeichnet schon das von Wolf 1976 publizierte Werk Kindheitsmuster (1979). Der Enttäuschung als Folge der Vorgänge um die Biermann-Ausbürgerung war im Schaffen W o l f s die Periode der „Suche und Verarbeitung" vorausgegangen, der auch Kindheitsmuster angehört (vgl. Luukkainen 1997, S. 25ff.; Stephan 1991, S. 119ff.). Es handelt sich um eine Zeitchronik im wahrsten Sinne des Wortes, in der Wolf sich schon traute, das damals in der D D R noch als „radioaktiv" empfundene Thema, die Zeitspanne des Dritten Reichs, in der sie ihre Kindheit erlebt hatte, sprachlich-literarisch zu verarbeiten (vgl. Wolf 1986, S. 785). W o l f s Satz in Kindheitsmuster: „Auffallend ist, daß wir in eigener Sache entweder romanhaft lügen oder stockend und mit heiser belegter Stimme sprechen" (1979, S. 18) hat Heinrich Boll 1979 zu folgenden Überlegungen über die Geschichtsdarstellung durch Schriftsteller veranlaßt: Es wäre zu fragen, ob „romanhaft" und „lügen" wirklich übereinander gehören und ob sich im „heiser und mit belegter Stimme sprechen" nicht auch eine Art „romanhaft zu lügen" verbergen kann. Ist die Intonierung nicht auch eine Möglichkeit, an etwas vorbeizusprechen? Es gibt ja Formen der Heiserkeit, des Stokkens, auch des Stotterns, die wohlinszeniert sind. (Boll 1989, S. 95f.) Und Boll fährt fort: Die verfluchte, immer wieder und immer wieder mit Recht gestellte Frage: Wie war das denn nun wirklich? ist nur zu beantworten in der Literatur als Ganzem, als über Jahrzehnte sich ausbreitendem Versuch, der viele Variationen, viele Intonationen, unzählig viele Ausdrucksformen hat - von der „romanhaften Lüge", die keine ist, bis zum Erzählen mit heiser belegter Stimme. Von der Blechtrommel bis zu Kindheitsmuster und Heimatmuseum - immerhin beträgt der Altersunterschied zwischen Günter Grass, Siegfried Lenz und Christa Wolf nur zwei, drei Jahre - gibt es sehr viele literarische Möglichkeiten, Erinnerung und Geschichte aneinander und auch in Gegensatz zueinander zu bringen, und es sollte
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Matti Luukkainen keiner von dem oder jenem Autor verlangen, was ein anderer Autor leistet. Man kann den einen dem anderen vorziehen, aber die Antwort auf die Frage: Wie war es denn wirklich? kann nicht nur von einem gegeben werden. Weder von einem Historiker noch von einem Autor, der die Historie ergänzt. Christa Wolf tut es auf ihre Weise: umsichtig, sorgfältig, aufrichtig - ohne „romanhafte Lüge" - und wenn sie Kindheitsmuster dennoch „Roman" nennt, so unterstellt sie sich selbst gewiß nicht Lüge, sondern vielleicht Ratlosigkeit, Hilflosigkeit angesichts eines Themas, das ein Autor ohnehin niemals ganz, sondern eben nur auf seine Art und immer nur annähernd angehen kann.
W i e Henne (1993, S. 100) am Beispiel von Arno Schmidt festhält, erfolgt in literarischen Chroniken im G e g e n s a t z zu Geschichtsbüchern die „Rückspiegelung" der Welt notwendig von einem „Standpunkt", weil sie „aufgrund eigener, ja existentiell durchlittener Erfahrungen die Zeitläufte in Sprache fassen". Dies stimmt einerseits mit dem obigen Böll-Zitat überein, andererseits mit dem oben dargelegten Modell Schmidts, nach dem es im literarischen Werk stets, sei es auf der Ebene des Produzenten oder des Rezipienten, auf den Horizont ankommt. Eine Chronik im eigentlichen Sinne des Wortes ist Henne zufolge „eine Geschichtsdarstellung nach der Zeitfolge, also ein Geschichtsbuch, das die Begebenheiten der Zeit chronologisch erzählt". Zu der Form der Darstellung der Zeitereignisse im literarischen Werk hat auch Christa Wolf (1993, S. 140) entsprechend Stellung genommen: Warum ich diese Form gebrauche? Weil ich dabei am meisten über mich erfahren kann, denke ich. Ich komme dem näher, wenn ich assoziiere, versuche, mir Analogien bewußt zu machen, nicht chronologisch vorzugehen und mir bestimmte Fragen zu stellen - obwohl das natürlich auch schmerzhafter und abstrengender ist. Es sind meine Fragen, die das Buch strukturieren, und nicht die Ereignisse. Oben wurde darauf hingewiesen, daß bei Wolf die Grenze zwischen belletristischen und essayistischen Texten unscharf ist. Die Schwierigkeit der Grenzziehung gilt auch für die Bücher mit Chronikcharakter, weshalb die Autorin selbst bei Genrebezeichnungen schwankt. 5 Stephan (1991, S. 131) argumentiert dazu wie folgt: Kindheitsmuster - ein Roman also? Ein „nobler Essay"? Autobiographie? Bekenntnis- oder Erinnerungsbuch? Christa Wolf verzichtet wie zuvor schon bei Nachdenken über Christa T. und Till Eulenspiegel und wenig später wieder bei Kein Ort. Nirgends, auf eine Genrebezeichnung. Und dies mit gutem Grund. Denn zur Bewältigung einer Vergangenheit, wie sie hier zur Debatte steht, mag es in der Tat nötig sein, die verschiedensten literarischen Register gleichzeitig zu ziehen. Geschlossenheit erhält Kindheitsmuster ohnehin auf andere, beständigere Art: durch jene persönliche Betroffenheit der Autorin, die als AusgangsBei Kindheitsmuster war in der Ausgabe des Aufbau-Verlags die Genrebezeichnung gestrichen, spätere Ausgaben fügen wieder Roman hinzu.
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punkt und Grundlage des Erzählens immer sichtbar bleibt, auch dort, wo die subjektive Konfession der Aufarbeitung des objektiven historischen Materials Platz macht.
Wie schon Nachdenken über Christa T. operiert auch Kindheitsmuster mit zwei Zeitebenen: der der Nelly Jordan zwischen 1933 und 1945 sowie der der erwachsenen Erzählerin samt deren noch kaum fünfzehnjähriger Tochter Lenka Anfang der 70er Jahre. Wilke (1991, S. 169) bringt in ihrer Analyse des Geschichtsverstehens in Kindheitsmuster das Buch mit der „eigentlichen" Geschichtsschreibung in Verbindung, indem sie feststellt, daß es ein Modell darstelle, das der „Erkenntnis der Verstrickung von Zeitgeschichte und Vergangenheit Rechnung tragen will". Das Buch sei gleichzeitig anregend und problematisch, weil es wegen seiner „Technik der Analogiebildung von vergangenem Material mit zeitgenössischen Geschehnissen" (ebd.) in die Nähe des sogenannten Historikerstreits kommt, der unter anderem zwischen Ernst Nolte und Jürgen Habermas geführt wurde. Es läßt sich Wilke zufolge fragen, ob die Geschichtsschreibung des Dritten Reichs im Zusammenhang mit vergleichbaren Phänomenen der Gegenwart erfolgen soll, „um größere Bezugslinien herausarbeiten zu können" (ebd., S. 171), oder ob solche analogisierenden Verfahren eine entlastende Position einnehmen, wie sie bei Heidegger nachweisbar sei, der „die Folgelasten der Technologisierung (Ernährungsindustrie, Wasserstoffbomben usw.) in völlig undialektischer Weise den Konzentrationskammern und Vernichtungslagern gegenübergestellt" (ebd., S. 175) habe. Doch werde Wolf durch ihre dialektische Methode vor den „Abgründen der heideggerischen Position" (ebd.) bewahrt, obwohl ihr Gestus gefährlich in deren Nähe rücke. Allerdings ist sich offensichtlich auch Wolf der Problematik der genannten Art der Geschichtsschreibung bewußt, d.h. der Verstrickung der Wirklichkeiten zweier Zeitebenen. Zwar beginnt das 8. Kapitel von Kindheitsmuster wie folgt: Der Hang zur Authentizität nimmt zu. Nachmittags um vier schon die Lampe, verfluchter Herbst. Mit dem Herbst fangen Kriege an. Im August 64, als die US-Luftflotte ihre ersten Bomben über Vietnam abwarf, ging uns auf eingeschliffenen Nervenbahnen eine Alarmwarnung zu: Krieg! (Wir meinten: Krieg bei uns.) Die Jahre 56, 61, 68 und dieses Jahr 73 stützen die Theorie der Herbstkrisen, während andere Jahre sie widerlegen ... Die Tonbandstimme eines ermordeten Präsidenten. Das Bild des in den Trümmern seines verwüsteten Hauses aufgebahrten Dichters. Um 16 Uhr 30 mitteleuropäischer Zeit ist es in Chile 11 Uhr 30 vormittags. Wer dies in frühestens drei Jahren liest - wird sich anstrengen müssen: Wer war Corvalán? Einer der vielen, denen wir nicht haben helfen können?
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Matti Luukkainen Einer jedenfalls, der in diesen Wochen nicht nach einem Buch, nach beschriebenem Papier greifen würde, sondern, wenn er könnte, nach dem Gewehr. (Wolf 1979, S. 221 f.)
Danach folgt jedoch die für Wolf typische metatextuelle Reflexion, in der zaudernd nach dem Zweck bzw. der Moral der Darstellung dieser Art gefragt wird: Das und die Befürchtung, die zunimmt, erklärt die Pause zwischen den Kapiteln: Die Beschreibung der Vergangenheit - was immer das sein mag, dieser noch anwachsende Haufen von Erinnerungen - in objektivem Stil wird nicht gelingen. Der Doppelsinn des Wortes vermitteln. Schreibend zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit vermitteln, sich ins Mittel legen. Heißt das: versöhnen? Mildern? Glätten? Oder: Eins dem anderen näherbringen? Der heutigen Person die Begegnung mit jener vergangenen möglich machen, vermittels geschriebener Zeilen?
4. Christa Wolf als Chronistin Z u m Abschluß noch ein paar Bemerkungen zur Authentizitätsfrage bei Wolf, auf die auch sie selbst im obigen Zitat hinweist. Wie viele andere ihrer Texte ist auch Kindheitsmuster mit der folgenden Anmerkung versehen: Alle Figuren in diesem Buch sind Erfindungen der Erzählerin. Keine ist identisch mit einer lebenden oder toten Person. Ebensowenig decken sich beschriebene Episoden mit tatsächlichen Vorgängen. Der Zweck von Erklärungen dieser Art hat in der Sekundärliteratur und den Rezensionen zu manchen Spekulationen veranlaßt, nicht nur deshalb, weil sie offensichtlich - wie gerade hier - der Wahrheit widersprechen, sondern auch, weil die Autorin selbst sie später relativiert hat. Auf die Frage von Therese Hörnigk (1989, S. 7f.), ob man Kindheitsmuster Authentisches entnehmen könne, antwortete die Autorin: Das kann man; ich sage das, obwohl ich damit der weit verbreiteten Gewohnheit Vorschub leiste, Autorenleben und Buch für deckungsgleich zu halten. Das Milieu, das ich in Kindheitsmuster beschrieben habe, ist authentisch, die äußeren Umstände, unter denen ich aufgewachsen bin, kann man schon daraus „abziehen". Ich denke ja übrigens, daß auch die Personen in einem literarischen Sinn „authentisch" sind - was aber eben nicht heißt, daß sie genau so waren, wie ich sie beschrieben habe; nicht nur, daß ich vieles erfunden habe: Der Blick eines Kindes und sehr jungen Mädchens prägt auch Erinnerungen, die zwar vielleicht besonders deutlich und scharf sind, aber doch nicht allen Verzweigungen in der Welt der Erwachsenen gerecht werden. (Ebd.)
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Naturwahre"
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Sowohl das ältere Werk Kindheitsmuster als auch der zum Spätwerk gehörende Text Sommerstück sind als literarische Chroniken einer Zeit zu verstehen, von der die Autorin - jeweils in unterschiedlicher Weise - schmerzlich geprägt wurde. Erste Fassungen von Sommerstück entstanden bis 1982/83, parallel zu Kein Ort. Nirgends, der Text wurde jedoch noch 1987 für den Druck überarbeitet und erst 1989 veröffentlicht. Wie Kein Ort. Nirgends spiegelt Sommerstück die Desillusion der Intelligenz in einer Gesellschaft wider, in der den Künstlern die Selbstverwirklichung verwehrt war nur spielt sich die Handlung in Sommerstück offen in der Gegenwart ab, in den letzten Jahrzehnten der DDR also, in den trostlosen Jahren nach der Biermann-Ausbürgerung (vgl. Luukkainen 1997, S. 29f.; Stephan 1991, S. 185ff.). Während in Kindheitsmuster, der in der Zeitspanne der „Suche und Verarbeitung" entstandenen Chronik, wegen des ungeheuren noch unbewältigten Stoffes keine objektive Schilderung der Wirklichkeit gelang (siehe oben) und in Kein Ort. Nirgends die Reflektion der Zeitgeschichte nur hinter der „Maske der Geschichte der fernen Vergangenheit" geschehen konnte (siehe oben), ist Sommerstück also in der Wirklichkeit der Gegenwart angesiedelt. Wo es in Kein Ort. Nirgends auf ein Spiel mit der Zensur ankommt, handelt es sich in Sommerstück um ein Spiel mit der Wirklichkeit und ein Spiel mit dem Leser. Das Werk stellt eine kunstvolle Mischung von Fiktion und Wirklichkeit, „Erfundenem" und „Ereignetem" dar. Mit derselben auf Nichtübereinstimmung mit der Wirklichkeit hinweisenden Anmerkung wie Kindheitsmuster ist Sommerstück versehen. Dies ist besonders verwirrend, weil sich das Buch augenscheinlich auf reale Geschehnisse bezieht und seine Figuren mit realen Personen unschwer identifizierbar sind (vgl. u.a. Stephan 1991, S. 191ff.). In dem oben schon genannten Interview Schreiben im Zeitbezug von 1989 hat Wolf dies direkt zum Ausdruck gebracht: Was in Sommerstück beschrieben ist, habe ich in den Jahren nach 1975 erlebt. Es war eine neue Erfahrung, dieses Leben auf dem Lande, der Freundeskreis um uns herum. Eine Erfahrung, die viele Menschen in dieser Zeit machten; es war deutlich geworden, daß die politische Macht keine kritische Mitarbeit dulden würde. [...] In diesen Gruppen haben damals viele Menschen in der DDR ihre Integrität bewahrt und sich freigedacht. Das Buch ist für viele ein Stück der Beschreibung ihres eigenen Lebens, wie ich jetzt weiß. Ich glaube auch, daß es sogar eine Vorankündigung der späteren Ereignisse ist, denn es schildert, warum es so nicht weitergehen konnte. Ich zögerte sehr, es zu veröffentlichen, weil es mein persönlichstes Buch ist. Ich hatte auch Hemmungen gegenüber meinen Freunden, obwohl ich sie alle in dem Buch verändert und viel dazuerfunden habe. Es ist keine Person so, wie sie sich wahrscheinlich selber sieht oder wie andere sie sehen. (Wolf 1993, S. 147ff.)
98
Matti Luukkainen
Daß in dem Buch reale Personen vorkommen, hat die Leser und Kritiker selbstverständlich sofort zu dem Spiel „who is who?" inspiriert (vgl. Firselling 1995; 1996, S. 174ff.). Es war leicht zu erkennen, daß sich unter anderem hinter den Figuren Ellen und Jan, Steffi und Josef, Irene und Clemens, Luisa und Antonis und Bella die Personen Christa und Gerd Wolf, Maxi und Fred Wander, Helga Schubert und Johannes Helm, Carola und Thomas Nicolau und Sarah Kirsch verbergen. Firsching zufolge hätte Sommerstück nicht das gleiche kritische Potential gewonnen, wenn am Geschehen rein literarische Figuren beteiligt gewesen wären: „So aber sind ein Teil der Figuren als Anteile einiger benennbarer Personen miteingeflossen, so daß Wirklichkeitspartikel die Erfindung durchsetzen." (Firsching 1996, S. 176f.) Andererseits wird durch erfundene Namen der Eindruck eines Symbolcharakters für eine ganze Generation hergestellt - Firsching deutet sogar auf die Möglichkeit hin, daß bei Ellen unter Umständen mit dem Namen Nelly aus Kindheitsmuster gespielt wird, „der bei Ersetzung des ,y' durch ,e' rückwärts gelesen den Namen Ellen ergibt." Bei Sarah Kirsch, die ebenfalls (wie übrigens auch Maxi Wander und Helga Schubert) eine Chronik über denselben Sommer geschrieben hat, treten die Figuren mit ihren realen Namen auf (Kirsch 1988, S. 60f.; vgl. Firsching 1996, S. 182; Stephan 1991, S. 192). Wie bereits angedeutet, ist das Spiel in vielfacher Weise ein Schlüsselwort in Sommerstück, in ihm wird an zentraler Stelle ein Rollenspiel gespielt (vgl. Wolf 1989, S. 144ff.) - dies verleiht dem Werk auch den Titel. Vor allem geht es durchweg um ein Spiel zwischen Erfindung und Wirklichkeit (vgl. Firsching 1996, S. 169ff.). Zu diesem Spiel gehört auch die Anmerkung der Autorin, die Figuren und die beschriebenen Episoden seien eine Erfindung der Erzählerin (dabei spielt natürlich auch das Motiv mit, die Intimität von realen Personen zu schützen). Hinzu kommt ein Spiel mit der Literatur, ein „literarischer Wechselgesang". Wie Firsching (vgl. 1996, S. 177ff„ 181 ff.; 1995, S. 116ff.) ausführlich darlegt, enthält Sommerstück zahlreiche kunstvoll erarbeitete direkte oder indirekte Anspielungen auf die Texte realer Personen, die im Buch als Figuren auftreten. Den Figuren im Sommerstück werden auch Elemente unter anderem aus Werken von Gorkij oder Tschechov beigelegt. So werde zum Beispiel Irene „zu einem Amalgam aus der Schriftstellerin Helga Schubert und der Figur Olga Alexejewna aus Gorkijs Sommergäste". Ein Verfremdungseffekt dieser Art biete „den realen Personen einen Schutzraum vor voyeuristischem Leseinteresse". Durch die „Fiktionalisierung der Fiktion" entstehe Distanz. 6
Zur künstlerischen Aufbereitung real lebender Personen vgl. insb. Luukkainen (2000b, S. 170f.).
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„Das Kunstwahre" und „das Naturwahre" A u f die Frage der Interviewerin in Schreiben
im Zeitbezug,
ob die
Freunde es nicht arrogant fänden, sie aus ihrem Innern darzustellen, hat Wolf (1993, S. 150) wie folgt geantwortet: [...] sie haben sehr verschieden darauf reagiert, einige tolerant, andere konnten es nicht akzeptieren. Aber die innere Beschreibung wird ja andauernd gespiegelt und gebrochen durch den Blick der andern. In dem Buch steht der Satz, daß wir dieser Zeit nur gerecht werden würden, wenn jeder seine Beschreibung davon geben könnte. [...] Übrigens gestehe ich mir das Recht, über andere zu schreiben, nur zu, wenn ich am schonungslosesten mit mir selbst umgehe. Wolf greift also auf die Aussage zurück, die Boll anläßlich des Erscheinens von Kindheitsmuster zur Behandlung der Zeitgeschichte anhand der Sprachkunst gegeben hatte: Die Antwort auf die Frage „Wie war es denn wirklich?" könne „nicht nur von einem gegeben werden" (siehe oben). Christa W o l f s Sommerstück legt uns Zeugnis davon ab, daß eine Chronik der Zeit gleichzeitig ein großes Kunstwerk sein kann. Dies hat, im Gegensatz zu manchem anderen Rezensenten, Peter von Matt (1989) in einer sehr feinen und verständnisvollen Rezension festgehalten. 7 Hier wird an die Semantik des literarischen Texts in einer W e i s e herangegangen, w i e sie auch im vorliegenden Beitrag über das Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion angestrebt wurde: Klatsch oder Kunst - das ergibt eine falsche Alternative. Entscheidend ist gerade das seltsame Tauchen und Steigen durch unterschiedliche Wirklichkeitsebenen, in das uns dieses Buch überall und auf immer wieder andere Art versetzt. Das Sommerstück lesen heißt Erfahrungen des Schwebens, des Gleitens und Entgleitens machen, wie man sie so leicht, so heiter und so traurig und verstörend noch selten angetroffen hat. Ein erlösender Wirklichkeitsgewinn, das fast wimmernde Glück, endlich einmal im ganz Eindeutigen zu leben, wird in dem Moment, wo es sich auf den Leser überträgt, auch schon wieder zur gläsernen Phantastik. Der feste Boden, den man zu betreten meint, aufatmend wie der schiffbrüchige Odysseus, beginnt zu schwanken, und schließlich wird alles Leben zu einem schwindligen Durchgang durch schieiernde Räume. Auch von Matt stellt die Frage, ob die Autorin eine Grenze überschreitet, den geschützten Raum der Intimität verletzt. Der Leser nehme Teil am innersten Nachsinnen von Leuten, die man mit Namen und Adresse kennt und auch kennen soll und von denen man doch weiß, daß sie genau so nie gedacht und empfunden haben, daß die Worte, die ihnen durch den Kopf gehen, zuletzt doch Christa Wolfs Worte sind. Auf keinen Fall gehe die Autorin jedoch zu weit, denn:
Beispiele für eine Literaturkritik der gegenteiligen Art sind u.a. die Rezensionen von Zahlmann (1989) und Meyer-Gosau (1990).
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Matti Luukkainen Sie täte es - wenn das Ganze nicht von Anfang an so durchsichtig wäre. Hätte sie die Figuren und die Ereignisse zu verschlüsseln versucht, dann gäbe sie jetzt tatsächlich Ärgernis. So aber ist alles einsehbar als ein hochentwickeltes Geschehen der Kunst.
Zweifelsohne müssen wir der Autorin Christa Wolf bei dem recht geben, was sie dem oben zuletzt angeführten Zitat in Schreiben im Zeitbezug noch hinzugefügt hat: „Ich glaube, daß das Interesse, wer hinter den einzelnen Personen steht, inzwischen schon weitgehend verblaßt ist, und daß das literarische Interesse hervortritt." (Wolf 1993, S. 150) Das „Kunstwahre" und das „Naturwahre" müssen auseinandergehalten werden. Sperlinge, die „nach des großen Meisters Kirschen flogen", waren dessen nicht fähig. Ihnen fehlte die Bildung (Goethe o. J., S. 80).
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„Das Kunstwahre"
und „das
Naturwahre"
101
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3. Sprachkritik und Zeitgeschichte
Hiroyuki Takada
(Osaka)
Kritische Betrachtungen zu Leibniz' Sprachkritik Was leistet Leibniz „betreffend die Ausübung und Verbesserung" der deutschen Sprache?*
1. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6. 3. 3.1. 3.2. 4. 4.1. 4.2. 5. 5.1. 5.2. 6.
Einleitung Leibniz' „Gedancken" zum Wortschatz Kultivierende Funktion der Sprache „Reichthum" des Wortschatzes Recycling und Innovation des Wortschatzes „Einbürgerung" im Wortschatz „Register" des Wortschatzes Schriftliche Gestalt von Wörtern Leibniz' „Gedancken" zur Syntax Desinteresse am Satzbau „Fremde" Syntax: Latinismus Leibniz' Sprachpraxis Didaktisierter Wortschatz Unüberschaubarer Satzbau Post-Leibnizsche Entwicklung der Sprachpraxis Eingedeutschte Termini Eingebürgerte Termini Bedeutung und Nachwirkung von Leibniz' „Gedancken"
1. Einleitung Nachdem die sprachpatriotische Strömung im 16. Jahrhundert deutschen Boden erreicht hatte, änderte sich die Bewertung der Muttersprache in Deutschland. Gerade über das Deutsche erhielten die Deutschen einen wesentlichen Teil ihrer Identität. Im 17. Jahrhundert beschäftigten sich dann Gelehrte und Adlige - allen Unbilden des Dreißigjährigen Krieges zum Trotz - als Mitglieder von „Sprachgesellschaften" mit der Pflege ihrer Muttersprache. Dennoch war im ausgehenden 17. Jahrhundert das Deutsche als Kultursprache *
Die Entstehung dieses Beitrags ist durch ein Forschungsstipendium der Alexander-von-Humboldt-Stiftung für 1999 und Forschungszuschüsse des Japanischen Kultusministeriums (Monbusho Kagakukenkyuhi Hojokin) für 1999 und 2000 gefördert worden.
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Hiroyuki
Takada
weniger entwickelt als die Kultursprachen in den großen Nachbarländern. Von dieser sprachkulturellen Situation in Deutschland handelte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) in seiner auf deutsch verfaßten sprachkritischen Schrift „Unvorgreiffliche Gedancken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der Teutschen Sprache" (verfaßt um 1697, veröffentlicht 1717 1 ) mit 114 Paragraphen. Er richtete hier mit praktischen Vorschlägen den Appell an seine gebildeten Zeitgenossen, Maßnahmen zur Sprachverbesserung zu ergreifen. Neben der Bemühung um eine „lingua universalis" vergaß Leibniz also die Pflege seiner eigenen Muttersprache nicht. In der Forschung wird bis heute die Meinung vertreten, daß Leibniz' Programm zur Sprachpflege „über allen bisherigen Bemühungen von deutschen Sprachgesellschaften, Literaten und Grammatikern des 17. Jahrhunderts steht" (Suchsland 1977, S. 34) und seiner Zeit „mit einer Fülle klarer Einsichten vorausgeeilt ist" (Gipper/Schwarz 1974, S. 2021). Was ist aber konkret neu an Leibniz' Konzept, und wo stößt es an seine Grenzen? Zur Beantwortung dieser Fragen werde ich im vorliegenden Beitrag - entsprechend dem Hinweis von Helmut Henne (1966), Leibniz' Pläne „sollten einmal im Vergleich zu den offiziellen Poetiken und Grammatiken vorgeführt werden" (ebd., S. 55) - Äußerungen von Leibniz in seinen „Unvorgreifflichen Gedancken" mit denen der damals wichtigsten Grammatiker Justus Georg Schottelius (1663) 2 , Johannes Bödiker (1690) und Kaspar Stieler (1691) konfrontieren. Dabei soll zugleich Leibniz' praktische Spracharbeit berücksichtigt werden, um zu prüfen, welche Fortschritte oder Rückständigkeiten die vom Philosophen selbst praktizierte deutsche Sprache aufweist. Schließlich soll exemplarisch geprüft werden, ob sich das Deutsche nach dem Tode des Philosophen tendenziell so entwickelte, wie es dieser in seinem Programm angeregt hatte. Nimmt Hugo von Hofmannsthal in seiner Anthologie Wert und Ehre deutscher Sprache (1927) Leibniz nur zufällig unter die „wahren Gewährsmänner" (ebd., S. 11) über das Geheimnis der Sprache auf 3 ? 1
2
3
J. Georg Eccard veröffentlichte diese Schrift aus Leibnizens Nachlaß in: Illvstris Viri Godofr. Gvilielmi Leibnitii Collectanae Etymologica [...]. Hannover 1717 (Nachdruck: Hildesheim 1970). In der vorliegenden Arbeit werden Leibnizens Äußerungen nach dieser Ausgabe zitiert. Ich teile die Behauptung von Schmarsow (1877, S. 40) nicht, Leibnizens Gedanken wären wegen der „Uebereinstimmungen in allen praktischen Vorschlägen [ . . . ] Entlehnungen aus Schottels Ausführlicher Arbeit"; die Übereinstimmungen zwischen den beiden sind vielmehr Gemeingut der damaligen Sprachgelehrten: vgl. Schulenburg (1973, S. 139). Leibniz gilt hier nämlich als einer der zwölf bedeutendsten Sprachbeflissenen Deutschlands neben Justus Georg Schottelius, Justus Moser, Christoph Martin Wieland, Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang von Goethe, Jean Paul, Wilhelm von Humboldt, Johann Gottlieb Fichte, Ernst Moritz Arndt und Jacob Grimm.
Leibnizens
Sprachkritik
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2. Leibniz'„Gedancken" zum Wortschatz 2.1. Kultivierende Funktion der Sprache Leibniz beginnt seine „Unvorgreifflichen Gedancken" mit dem folgenden prägnanten Diktum: Es ist bekandt, daß die Sprach ein Spiegel des Verstandes, und daß die Völcker, wenn sie den Verstand hoch schwingen, auch zugleich die Sprache wohl ausüben, welches der Griechen, Römer und Araber Beyspiele zeigen. (Leibniz 1717, § 1) Hier weist der Philosoph auf zwei - miteinander zusammenhängende - wesentliche Charakteristika der Sprache überhaupt hin, die ich in Anlehnung an Suchsland (1977, S. 36f.), Schräder (1990, S. 32) und Gardt (1999, S. 198) „repräsentativ-kognitive" und „kommunikativ-gesellschaftliche" Funktion der Sprache nennen möchte. Die Sprache spiegele zum einen als „Wechsel-Zeddel" (§ 7) den Verstand, oder anders formuliert, die Sprache stelle „einen sonderbahren Probierstein der Gedancken" (§11) dar, wobei die Theorie der Übereinstimmung von Sprache und Denken sich auf Leibniz' Hypothese der prästabilisierten Harmonie stützt und sich auf Schottelius (1663, S. 187) berufen kann, für den die Wörter ebenfalls „Abbildungen unserer Gedanken" sind. Zum anderen füge die Sprache, die das Denken vermittle, so Leibniz (1717, § 4) „die menschlichen Gemüther" zusammen. Das Schicksal eines Volkes hänge deshalb von der Sprache ab. Auch dieses später von Humboldt fortgeführte Verständnis von national integrierender Sprache ist ein Allgemeingut der Zeit. Aus De ratione communi omnium linguarum et literarum commentarius (Zürich 1548) von Theodor Bibliander (1504-1564) zitiert Schottelius (1663, S. 74) denn auch die Formulierung, die Sprache sei „ein Band und Werkzeug Menschlicher Einigkeit". Wenn die Deutschen ihren Intellekt „hoch schwingen" wollten, sollte ihre eigene Sprache „ausgeübt" und „verbessert" werden. Es gebe dessenungeachtet eine tiefe Kluft zwischen dem Deutsch sprechenden Laien einerseits und den Gelehrten und Hofleuten andererseits (vgl. Pörksen 1983, S. 111), die „sich des Lateins oder anderer fremden Sprachen [...] fast allein und in so weit zu viel beflissen" (§ 10) hätten. In dieser „Mehrsprachigkeit" ist „eine gesamtgesellschaftliche Kommunikation [...] kaum möglich." (Alikajew 1987, S. 57) Die Annahme einer fremden Sprache verursache im allgemeinen „den Verlust der Freyheit und ein fremdes Joch" (§ 21), wodurch „nothwendig auch die Teutschen Gemüther nicht wenig Verdunckelung empfinden müssen" (§ 22). Im Verständnis der „repräsentativ-kognitiven" und „kommunikativ-gesellschaftlichen" Funktion der Sprache fordert Leibniz, daß die Deutschen das Deutsche gebrauchen und ausbauen sollten. Um „von den Errungenschaften des menschlichen Geistes zu profitieren" (Winter
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1969, S. 227), sollte die Muttersprache „für alle Wissenschafften, Künsten und Geschaffte" (§ 8) dienen. Bei Schottelius (1663, S. 398) findet sich die Formulierung: „Lingua culturae capax, incultu suorum manet inculta" 4 . Eben zur Förderung der intellektuellen Sprachfähigkeit und der kulturellen Entwicklung in Deutschland schlägt Leibniz vor, eine öffentliche „Anstalt" oder Akademie einzurichten, deren Hauptziel schließlich „der Flor des geliebten Vaterlandes Teutscher Nation" (§31) sei.
2.2. „Reichthum" des Wortschatzes Als „drey gute Beschaffenheiten bey einer Sprache", an denen deren Kultiviertheit zu messen sei, verlangt Leibniz „Reichthum, Reinigkeit und Glantz" (§ 56). Der Reichtum der Sprache hängt für ihn davon ab, ob sich jede Sache mit einem W o r t benennen läßt: Reichtum ist das erste und nöthigste bey einer Sprache und bestehet darin, daß kein Mangel, sondern vielmehr ein Uberfluß erscheine an bequemen und nachdrucklichen Worten, so zu allen Vorfälligkeiten dienlich, damit man alles kräfftig und eigentlich vorstellen und gleichsam mit lebenden Farben abmalen könne. (Leibniz 1717, § 57)
Die zentrale Einheit der Sprache stellen, wie Leibniz bestätigt, nicht Sätze oder Texte, sondern Wörter dar: Der Grund und Boden einer Sprache, so zu reden, sind die Worte, darauff die Redens-Arten gleichsam als Früchte herfür wachsen. Woher dann folget, daß eine der Haupt-Arbeiten, deren die Teutsche Haupt-Sprache bedarff, seyn würde, eine Musterung und Untersuchung aller Teutschen Worte [...]. (Ebd., § 32)
Dieser Sprachbegriff ist im 17. Jahrhundert bei den Grammatikern der germanischsprachigen Länder vorherrschend (vgl. Blume 1978), nach Schottelscher (1663, S. 42) knapper Formulierung: „die Wörter aber machen ja die Sprache". Mit Hilfe von Wörtern, die „den Sachen antworten [entsprechen]", könne man die Sachen leichter erkennen und besser verstehen. Man brauche Wörter oder „Zeichen" (§ 5), um „unsern Gedancken selbst zu helffen" (§ 5): „es muß die Erläuterung ungemeiner Worte auch die Erkänntniß unbekandter Sachen mit sich bringen" (§ 40). Anders gesagt, falsch abgebildete Zeichen „führen zu falschen Annahmen über diese Wirklichkeit." (Gardt 1999, S. 197)
'Die Sprache ist der Kultivierung fähig. Bei ihrer Vernachlässigung bleibt die Sprache unkultiviert' [Übers, vom Verf., H.T.].
Leibnizens
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Was den Reichtum der Sprache angeht, begnügen sich die Grammatiker im Prinzip mit dem Hinweis, daß die deutsche Sprache „vollkommen/und zu alle dem/was zureden/gnugsam" (Schottelius 1663, S. 146) sei: Die Erfahrung hat es hergegen längst bezeuget/ daß die Deutsche Sprache zu Eröffnung eines jeden Gedancken und Meynung/ zu aller Notdurft [...] so reich an Worten/ daß man nicht noht hat/ aus Lateinischer oder andern Sprachen zu entlehnen/ damit man rund/zierlich und verständlich schreiben und reden könne. (Bödiker 1690, S. 235) Dazu kömmt/ daß in so vielen Sachen/ als Berkwerken/ Jagrechten/ Schiffarten/ Handwerkskünsten/ Büchsenmeisterei/ Kriegskünsten/ etc. Die Teutsche Sprache/jhre eigene Wörter hat/ welche nicht also nach frömder Art/ und frömden Wörtern können gerichtet und gebrauchet werden. (Schottelius 1663, S. 100)
Einer ähnlichen Bemerkung begegnen wir zwar auch bei Leibniz: Das Deutsche sei in den alltäglichen Dingen und Bereichen wie „Kunst- und Handwercks-Sachen [...], Ertz und Bergwercken [...] Jagt- und Wäid-Werck, [...] der Schiffahrt und dergleichen" (§ 9) lexikalisch schon genügend reich, was widerspiegele, daß die Deutschen konkrete Sachen ohne Probleme richtig erkennen könnten. Der Philosoph fügt aber hinzu, daß die deutsche Sprache an abstrakten Wörtern, vor allem an wissenschaftlichen Termini arm sei, weil die deutschen Gelehrten in diesen Bereichen fast ausschließlich Fremdsprachen gebrauchten: Es ereignet sich aber einiger Abgang [= Mangel] bey unserer Sprache in denen Dingen, so man weder sehen noch fühlen; sondern allein durch Betrachtung erreichen kan; als bey Ausdrückung der Gemüths-Bewegungen, auch der Tugenden und Laster, und vieler Beschaffenheiten, so zur Sitten-Lehr und Regierungs-Kunst gehören; dann ferner bey denen noch mehr abgezogenen und abgefeimten Erkänntnissen [...]. (Leibniz 1717, §10)
Damit die Deutschen mittels ihrer eigenen Muttersprache die Wissenschaften auf europäisches Niveau erheben könnten, seien „die Technica oder Kunst-Worte" (§ 39) „allmählig anzureichern" (§ 12). Die so ausgebaute Sprache sei ja „geradezu Voraussetzung für intellektuelle und zivilisatorische Entwicklung, sowohl des einzelnen wie der Gesellschaft." (Gardt 1999, S. 193) Schon als 20jähriger verlangt Leibniz 1666, daß man das Deutsche in das Rechtsleben und die anderen Wissenschaften einführen solle (vgl. Korninger 1958, S. 12). Christian Thomasius (1655-1728) beginnt denn auch 1687, also kurz vor der Entstehung der „Unvorgreifflichen Gedancken", in seinen Vorlesungen an der Universität die deutsche Sprache zu benutzen 5 . Obwohl auch Schottelius den Tag erwartet, an dem ,jedes Stükke der WisThomasius benutzt allerdings dennoch viel Latein und Französisch, vgl. dazu von Polenz (1994, S. 359f.) und Alikajew (1987, S. 62).
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senschaften gemählig auf Teutsch bekant werden müchte" (Schottelius 1663, S. 99), läßt sich bei Leibniz der Gedanke der nationalen Erziehung ausdrücklicher erkennen: Deutsche Terminologie werde „zu einer allgemeinen Wissens-Lust (oder Curiosität) und zu fernerer Oeffnung der Gemüther in allen Dingen nicht wenig dienen" (§ 55).
2.3. Recycling und Innovation des Wortschatzes Als Mittel zur Bereicherung des Wortschatzes im Sinne der Kulturförderung nennt Leibniz 1 ) die Sammlung nicht üblicher, aber guter Wörter, 2) die Wiederherstellung guter alter Wörter, 3) die Anerkennung unentbehrlicher fremder Wörter und zuletzt 4) die wortbildnerische Neubildung. Wörtlich schreibt er nämlich: Solches könte geschehen durch Auffsuchung guter Wörter, die schon vorhanden aber ietzo fast verlassen, mithin zu rechter Zeit nicht beyfallen, wie auch ferner durch Wiederbringung alter verlegener Worte, so von besonderer Güte; auch durch Einbürgerung (oder Naturalisirung) frembder Benennungen, wo sie solches sonderlich verdienen, und letztens (wo kein ander Mittel) durch wolbedächtliche Erfindung oder Zusammensetzung neuer Worte, so vermittelst des Urtheils und Ansehens wackerer Leute in Schwang gebracht werden müsten. (Leibniz 1717, § 63)
Noch nicht durchgesetzte gute Wörter ließen sich aus den Schriftstellern des 17. Jahrhunderts gewinnen; Leibniz nennt u.a. Martin Opitz, Johann Wilhelm von Stubenberg und Philipp von Zesen (§ 65). Zur Wiederbelebung vergessener alter guter Wörter nützlich seien hingegen die Scrifften [sie!] des vorigen Seculi, die Wercke Lutheri und anderer Theologen, die alten Reichs-Handlungen, die Landes-Ordnungen und Willkühre [= Erlasse] der Städte, die alten Notariat-Bücher, und allerhand geistliche und weltliche Schriften. (§ 66)
Man solle an die Tradition anknüpfen. Die Vorstellung eines sozusagen lexikalischen Recyclings zum Fortschritt des Wortschatzes äußern die Grammatiker nicht ausdrücklich, obwohl auch ihnen bekannt ist, daß „viel Stammwörter der alten Sprache verlohren" (Bödiker 1690, Bl. A7V) und deshalb „bey den Deutschen unbrauchbar" (ebd., S. 127) sind. In bezug auf die Beurteilung neuer Wortbildungen spielt auch bei Leibniz der Begriff der Analogie, dessen Verbreitung die deutsche Grammatik
Leibnizens
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dem Grammatiker Schottelius verdankt 6 , eine wichtige Rolle: „Es bestehen nun die neuen Worte gemeiniglich in einer Gleichheit mit den alten, welche man Analogie, das ist, Ebenmaß, nennet" (§ 74). Falls aber der Gebrauch dem „Sprach-Grund oder der Analogie" (§ 109) widerspricht, dann ist für Leibniz der Gebrauch doch „der Meister" (§ 109). Die Bevorzugung des Sprachgebrauchs unterscheidet aber den Philosophen prinzipiell von den Grammatikern. Bei Nichtübereinstimmung von Analogie und Gewohnheit wird der normative Grammatiker jedoch den deskriptiven Philosophen „überspielen" (Henne 1975, S. 19). Für die Grammatiker gilt insgesamt die Ausschöpfung der theoretischen M ö g l i c h k e i t der Wortbildung viel mehr als deren W i r k l i c h k e i t (vgl. dazu näher Takada 1998, S. 143f.). Die Erweiterung des Wortschatzes mittels Wortneubildung stellt Leibniz an das Ende seiner Vorschläge, und zwar mit dem Vorbehalt, „wo kein ander Mittel [ist]" (vgl. das obige Zitat aus § 63). Auch diese Relativierung der Wortbildung unterscheidet Leibniz von den Grammatikern. Für die letzteren ist das Wortbildungsvermögen am wichtigsten in der Epoche, in der „das Deutsche zu einer relativ starken ,Wortbildungssprache' wurde." (Von Polenz 1994, S. 280f.; vgl. dazu ausführlicher Hodermann 1891) Indem man die Sprache nicht nach dem Flexionsreichtum, sondern nach der Kompositionsfähigkeit bewertet, kann man die Überlegenheit des Deutschen als W o r t b i l d u n g s s p r a c h e gegenüber dem Lateinischen als F l e x i o n s s p r a c h e behaupten. Die lateinische Sprache könne z.B. deutsche Zusammensetzungen wie Schiffholz, Bauholz, Laufholz nur mit umständlichen Mehrwortbenennungen wie lignum navis, lignum aedificii, lignum currens wiedergeben (vgl. Schottelius 1663, S. 77). Auch Bödiker (1690) betont, die deutsche Sprache könne „sehr artig die Nomina substant. zusammensetzen [...]; da die Lateinische muß zwey/ drey Wörter setzen" (ebd., 141). Vor dem Mißbrauch der Wortbildung „nach jedes Einfällen" wird allerdings bei Schottelius (1663, S. 397) ausdrücklich gewarnt.
2.4. „Einbürgerung" im Wortschatz Leibniz diagnostiziert in seinen „Gedancken" detailliert, daß der „Mischmasch" von fremden Wörtern „abscheulich überhand genommen" (§ 20) und Deutschland „mit einer Wasserfluth überschwemmet" (§ 25) hat und schildert die zeitgenössische Situation: In Staats-Schrifften, so die Angelegenheiten und Rechte hoher Häupter und Potentzen betreffen, ist es nun dahin gediehen, daß man nicht nur des Lateinischen, sondern auch des Frantzösischen und Welschen [= Italienischen] sich schwerlich allerdings entbrechen [enthalten] kan, dabey doch eine un6
Zur Verbreitung des Terminus Analogie
vgl. näher Takada (1998, S. 49ff.).
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gezwungene und ungesuchte Mässigung wohl anständig seyn dürffte, wenigstens solte man sich befleissen, das Frantzösische nicht an des Teutschen Stelle zu setzen, wenn das Teutsche ebenso gut, wo nicht besser, welches ich gleichwohl gar offt bemercket habe. (Leibniz 1717, § 90) Der Philosoph, der zugleich zugibt, daß „mit diesen, Frantz- und Fremdenzen [sie!] auch viel Gutes bey uns eingeführet worden" (§ 27) sei, warnt aber vor extremem Sprachpurismus, „allzu grosse[r] Scheinreinigkeit" (§ 16); er empfiehlt sogar im Gegenzug, „einigen guten Worten der Ausländer das Bürger-Recht zu verstatten" (§ 15): Hat es demnach die Meynung nicht, daß man in der Sprach zum Puritaner werde, und mit einer abergläubischen Furcht ein fremdes, aber bequemes Wort, als eine Todt-Siinde vermeide, dadurch aber sich selbst entkräffte, und seiner Rede den Nachdruck nehme. (Leibniz 1717, § 16) Leibniz kennt die Mißerfolge der „Rein-Dünckler" (§ 17) in Frankreich, Italien und Deutschlands. Sie hätten „den Stein auf einmahl heben wollen, und alles Krumme schlecht zu machen gemeinet" (§ 19). Der Gedanke der „Einbürgerung" (§ 68) oder „Naturalisirung" (§ 97) von notwendigen Fremdwörtern als Mittel zur Wortschatzerweiterung wird schon bei Schottelius (1663, S. 1272f.) ausdrücklich formuliert: [...] also können und müssen wir auch sothane/ in den Teutschen Sprachbaum nohtwendig (weil ein neu ding benahmet wird) eingepropfte/ oder durch zuleßigen gebrauch eingeimpfte/ oder aber durch das Herkommen fest eingezweigte Wörter/ Teutschem nachruhm ohn schaden/ nunmehr fein behalten und sothane Teutsch genaturalisirte Wörter mehr bekant und beliebt/ und die Sprache selbst dadurch Wortreicher werden lassen.
2.5. „Register" des Wortschatzes Nach den Methoden, den Wortschatz „in ein Register zu bringen", unterscheidet Leibniz die Wörterbücher in „Lexika oder Deutungsbücher" und „Nomenciatoren oder Nahm-Bücher" (§ 77), d.h. mit den heutigen Termini: die semasiologischen und onomasiologischen Wörterbücher. Angesichts der „Manchfeltigkeiten" (§ 33) des Wortschatzes unterscheidet er die Wörter, die „durchgehends in Schrifften und Reden wackerer Leute üblich" (§ 33) sind, „von den Kunst- und Land-Worten, auch fremden und veralteten" (§ 33). Diesem weiten Spektrum von Wortschatzverständnis entsprechend konzipiert der Philosoph drei Sorten von Wörterbüchern (§ 33): das Wörterbuch der allgemeinen üblichen Wörter („Sprachbrauch"), das der Fachwörter („Sprach-Schatz") und das der alten und provinziellen Wörter („Sprachquell"):
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Es ist zwar auch an dem, und verstehet sich von selbsten, daß die wenigsten derer so an Verbesserung der Sprache arbeiten wolten, sich des Alt-Fränckischen und des ausser Teutschland in Norden und Westen gleichsam walfahrenden Teutschen Sprach-Restes, so wenig als der Wayd-Sprüche [= Redensarten] der Künstler und Handwercker, und der Landworte des gemeinen Mannes, anzunehmen haben würden [...]. Alleine es gehöret doch gleichwol dieses alles zur vollkommenen Ausarbeitung der Sprache [...]. Diesem ist das herrliche Werck des hochgelehrten Menage [= eines französischen Lexikographen], wie es nun vermehret, beyzufügen, welcher den Ursprung der Worte untersucht, und also auch das Veraltete, auch zu Zeiten das Bäurische, herbey gezogen. (Leibniz 1717, § 34f.)
Diese drei Wörterbücher sollen nicht nur der Kodifizierung des Wortschatzes dienen, sondern „sie wären ein Mittel zur Bereicherung der zeitgenössischen deutschen Sprache." (Henne 1966, S. 54) Auch Schottelius (vgl. 1663, S. 176) erwähnt zwar, daß mundartliche Wörter bei der Verfertigung des „vollkommenen" Wörterbuchs nicht übergangen werden dürften, dabei ging es ihm aber nicht um den lexikalischen Ausbau, sondern um die lexikographische Aufnahme. Leibniz kann sich also den Vorschlag der Aufnahme der alten Wörter, der „ L a n d w o r t e des g e m e i n e n M a n n e s " und sogar unter Umständen des „Bäurischen" (§ 34) als Verdienst anrechnen. Die meisten deutschen Sprachgelehrten im 17. Jahrhundert haben die Vorstellung, alle Dialekte seien durch „die befreite unacht/ unbedacht und unbetrachtete Ungewisheit der gemeinen Rede" oder „nach aller Beliebung des Pöbels" (ebd., S. 166) verzerrt und verderbt: Die gemeine altages Rede/ welche nicht allein nach jedes Landes Mundart verändert und verzogen wird/ sondern die auch nur allein ein kleines Stükk oder Teihl unpolirter Wörter ist/ [...] kan und sol auch ja nicht hinderen oder misgönnen/ die rechten Mittele zuerwehlen. (Ebd., S. 145)
Den Grammatikern liegt die Vorstellung fern, das Deutsche durch mundartliche Wörter zu bereichern. Bei Schottelius gilt das alte Deutsch auch als verworren (vgl. von der Schulenburg 1937, S. 10): Es sei „nach Belieben und Einfallen [...] geendigt/ und dadurch noch bis ietzo fast unvernemlich gemacht worden" (Schottelius 1663, S. 175) 7 . Sie hegen ein tiefes Mißtrauen gegen die „Pöbelrede" (ebd., S. 167) und „die in den Teutschen Dialectis sich befindende mannigfaltigen Enderungen und Ungewisheiten" (ebd., S. 158). Der Vorschlag zur Aufnahme alter, mundartlicher und umgangssprachlicher Wörter läßt sich - entsprechend Leibniz' „Reinigkeits-"Verständnis - wieder als Warnung vor extremem Sprachpurismus interpretieren. In Schottelius' Horrendum Bellum Grammatieale Teutonum antiquissimorum (1673) wird die Sprache von Otfried als „unrichtig" beurteilt: „Dieses ist [ . . . ] durch Unart und Unacht der Mund=Arten bestäubert und erfrömdet/ Dan: Allo ziti thio tho zin [ . . . ] heisset recht und numehr wieder alle zeit die do sein [...]." (Ebd., S. 88).
Hiroyuki Takada Bei der Beurteilung der „Reinigkeit" des Wortschatzes geht es bei Leibniz aber nicht nur um die Fremdheit, sondern auch darum, ob die Wörter „veraltet" bzw. „Land-Worte gewisser Provientzen Teutschlandes" (§ 84) oder „die niederträchtige, offt etwas Gröbliches andeutende Worte [sind], die der Pöbel braucht" (§ 82). Obwohl man schon seit den 40er Jahren vor allem im Kreis der „Fruchtbringenden Gesellschaft" über ein „vollständiges" deutsches Wörterbuch viel diskutiert (vgl. dazu Henne 1975, S. 14ff.; Takada 1998, S. 139ff.), stellt diese klare Unterscheidung somit einen originellen Gedanken von Leibniz dar. Auch zur Verfertigung der Wörterbücher verlangt Leibniz eine Zusammenarbeit vieler Fachleute „durch kräfftige Hülffe und nahe Zusammensetzung" (§51): Welche Personen dann, weil einer allen nicht gewachsen, die deutliche Nachrichtungen durch gewisses Verständniß unter einander zusammen bringen könten, und dazumahl in grossen Städten die beste Gelegenheit dazu finden würden. So auch wohl vor sich gehen dürffte, wenn einige Beförderung von hoher Hand nicht ermangeln solte. (Leibniz 1717, § 52)
2.6. Schriftliche Gestalt von Wörtern Damit sich „wohlgemachte" deutsche Neubildungen leichter durchsetzen könnten, sollen sie nach Leibniz im Anfangsstadium zusammen mit den originellen Wörtern stehen, die die Bedeutung von Neubildungen erläutern, „biß man deren endlich mit der Zeit gewohnet worden, da solche Vorsorge nicht weiter nöthig" (§ 92): So könte man sich auch zum öfftern dieser Vermittelung mit Nutzen bedienen, daß man das Teutsche Wort mit dem fremden versetzte, und eines zu des andern Erklärung brauchte, da denn auch eines des andern Abgang so wohl an Verständligkeit, als an Nachdruck, ersetzen könte. (Leibniz 1717, § 91)
Schottelius, der dieses Verfahren theoretisch nicht ausdrücklich erwähnt, schreibt nicht selten: in das Selbstendige (Substantivum) und in das Beistendige (Adjectivum) (1663, S. 232), die eintzele/ (singularis numerus) (ebd., S. 550) und das unendige Zeitwort (verbum modi infinitivi) (ebd., S. 735). Dem Philosophen zu Folge soll man hingegen halb eingebürgerte Wörter fremden Ursprungs zur Beschleunigung ihrer Einbürgerung nicht mehr zur Unterscheidung von einheimischen Wörtern mit lateinischen Buchstaben, sondern in der üblichen Frakturschrift schreiben (vgl. § 100):
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Damit aber solches besser zu Werck zu richten, miiste man gewisse, noch gleichsam zwischen Teutsch und Fremd hin und her fladdernde Worte einmal vor alle mal Teutsch erklären, und künfftig nicht mehr zum Unterscheid mit andern Buchstaben, sondern eben wie die Teutschen schreiben. (Leibniz 1717, § 96)
3. Leibniz' „Gedancken" zur Syntax 3.1. Desinteresse am Satzbau Zu der „Reinigkeit" der Sprache soll nach Leibniz' Definition außer der Reinheit des Wortschatzes auch die grammatische Richtigkeit gehören. Leibniz spürt aber offensichtlich kein Bedürfnis, die Grammatik weiter zu erläutern. Was die Grammatik angeht, so ist der Philosoph - anders als gegenüber dem Wortschatz - recht optimistisch, denn der Sprachgebrauch ist für ihn „der Meister" (§ 109): Das ander Theil der Sprach-Reinigkeit besteht in der Sprach-Richtigkeit nach den Reguln der Sprach-Kunst [= Grammatik]; Von welchem auch nur ein Weniges allhie gedencken will; Denn ob wohl darin ziemlicher Mangel befunden wird, so ist es doch nicht ohnschwer solchen mit der Zeit zu ersetzen, und sonderlich vermittelst guter Überlegung zusammengesetzter tüchtiger Personen ein und andern Zweiffels-Knoten auffzulösen. (Leibniz 1717, § 102)
Während bei seinen Zeitgenossen Bödiker und Stieler - ansatzweise auch bei Schottelius - die Augen auch auf syntaktische Konstruktionen gerichtet sind und die Grammatiker deshalb die Sprache nicht mehr als bloße Summe der Wörter betrachten, stellt die Sprache bei Leibniz immer noch im wesentlichen einen gesamten „Wort"-Schatz dar. Infolgedessen fehlt bei Leibniz der Begriff der Verständlichkeit, den die anderen Sprachgelehrten von syntaktischen Gefügen fordern. So muß man beispielsweise bei der Endstellung des Finitums im eingeleiteten Nebensatz 8 nach Schottelius, zum Zwecke der Verständlichkeit oder Übersichtlichkeit der Konstruktion, zuweilen Glieder ausklammern: Zu dem/ welches auch affectirt wird/ daß man das Zeitwort gar zu weit hinten schraube/ und ein langes gemenge darzwischen setze/ solches ist gleichfals misbräuchlich/ wird auch dardurch die rechte bewegende Art samt der deutli-
Eine Zunahme der absoluten Endstellung im Nebensatz läßt sich nach Ebert (1986, S. 105, 108ff.) im allgemeinen vom 14. bis 17. Jahrhundert feststellen: Seit dem 16./17. Jahrhundert herrscht „dieses Prestigemuster" vor.
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chen Meynung verlohren/ weil der Begriff unsers Verstandes also schraubenweis sich nicht ausdehnen läst. (Schottelius 1663, S. 755)
Als syntaktische Eigenschaften gibt Bödiker (1690, S. 234) neben der „Reinlichkeit" und „Zierlichkeit" ausdrücklich die „Deutlichkeit" an: Man solle „im Schreiben alle Dunckelheit der Worte und Redens-Arten vermeiden" (ebd., S. 240). Die Grammatiker weisen an konkreten Beispielen „dunkler", schlechter Sätze auf die Beachtung der Verständlichkeit hin. Nach Bödiker können zwar „die Hülf=Wörter [...] von ihren Grund=Wörtern getrennet werden", der Rahmen soll aber dabei nicht überspannt sein (vgl. auch Stieler 1691, S. 203): Nicht zu weit/ so daß zu viel neue Commata dazwischen kommen. Es ist dunckel und verworren: Ich habe euch allezeit/ weil ihr nehmlich mir/ wenn ich euer Bedurft/ treulich gedienet/ und Euch keine Mühe/ wie groß sie auch gewesen/ verdriessen lassen/ geliebet. (Bödiker 1690, S. 212) 9
Das gleiche wird auch für den Rahmen von Hauptverb und trennbarem Präfix festgestellt: Es sei „in acht zu nemen/ daß man das letzte Vorwörtlein nicht gar zu weit hinaussetze/ und dadurch die Rede tunkel mache" (Stieler 1691, S. 203), wie z.B. in: Ich schrieb das Buch/ so von Sprüchwörtern handelt/ und ich von einem meiner guten Freunde/ vor etlichen Tagen/ entlehnet/ und es länger nicht/ als bis verwichenen Montages behalten dürfte/ auf schön rein Papir/ und mit sonderbarem Fleiße/ daß es eine Lust zu lesen war/ geschwinde/ und ich dergleichen sonst nirgend zu bekommen wüste/ ab. Denn da ist beßer/ daß man sage: Ich schrieb das Buch ab/ welches von Sprüchwörtern handelt/ und/ das ich von einem meiner guten Freunde etc. (Stieler 1691, S. 203) 1 0
Hinter dem Gebrauch der die Grenze der Verständlichkeit überschreitenden Einklammerung langer Nebensätze erkennt Bödiker anscheinend ein s o z i o l i n g u i s t i s c h e s Motiv: „Je komplizierter, desto höher im Rang" (Lötscher 1990, S. 23; vgl. auch von Polenz 1994, S. 273): Solche Schreib=Art verstellet nur unsere Sprache/ und kommet von Leuten her/ die auß Hoheit ihrer Sinnen es also düster machen/ und meynen/ darinn bestehe die Zier der Deutschen Sprachen. Andere verlaufen sich also auß Unwissenheit/ können weder gute Redens=Arten treffen/ noch die Puncta und periodos aneinander hängen. (Bödiker 1690, S. 245)
Die Theoretiker empfehlen deshalb den Gebrauch passender Konjunktionen, worauf
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Hervorhebung durch Fettdruck vom Verf., H.T. Hervorhebung durch Fettdruck vom Verf., H.T.
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bey nahe die ganze Kunst im Schreiben und Reden bestehet; [...] es feiet hieran oft einem großen Doktor und Rechtsgelehrten/ weil mancher sich mehr ürn die Lateinische als teutsche Sprache bekümmert/ in den Schulen aber nicht ein einziges Wort iemals davon gehöret hat [...]. (Stieler 1691, S. 208)
3.2. „Fremde" Syntax: Latinismus A n d e r s als Opitz, der die Kanzlei als „die rechten Lehrerinn der reinen spräc h e " (Opitz 1617, Kap. VII, S. 179) bezeichnet, stellen die G r a m m a t i k e r die Autorität des deutschen Kanzleistils u n d somit des Latinismus als „ständisches P r e s t i g e s y m b o l " (von Polenz 1994, S. 279) der Gebildeten in Frage. Schottelius zitiert die kritische B e m e r k u n g des Geschichtsschreibers Johannes A v e n t i n u s ( 1 4 7 7 - 1 5 3 4 ) über den Latinismus bei den deutschen Gelehrten: Aventinus hat schon fast vor hundert Jahren [...] geschrieben: In verteutschung meiner Cronic brauche ich mich des alten lauteren gewöhnlichen/ jeden verstendigen Teutsches/ denn unsere Schreibere/ bevoraus so auch Latein künnen/ biegen und krümmen unsere Sprache in reden und schreiben/ vermengens/ fälschens/ [...] machens mit grossem Umschweiffe unverstendig/ ziehen gar von jhrer auf die Lateinische Art/ mit schreiben und reden/ daß doch nicht seyn sol. Denn eine jegliche Sprache hat jhren eigenen brauch und besondere Eigenschaft (Schottelius 1663, S. 324) D i e der lateinischen G r a m m a t i k zuzurechnende Kategorie Participium passi v u m futuri ist erst seit A n f a n g des 17. Jahrhunderts in der Kanzleisprache belegt und im ganzen 17. Jahrhundert sehr selten und auf den Kanzleistil beschränkt (vgl. E b e r t / R e i c h m a n n / S o l m s / W e g e r a 1993, S. 328). S o bezweifelt S c h o t t e l i u s in einer A n m e r k u n g z u m Participio p a s s i v o f u t u r i s die V o r b i l d f u n k t i o n d e r „ L a t e i n i s c h e n C o n s t r u c t i o n " f ü r die d e u t s c h e : D e r G r a m m a t i k e r m a c h t darauf a u f m e r k s a m , daß die lateinischen A u s d r ü c k e des Partizips Futur Passiv im deutschen Sprachgebrauch nicht selten denjenigen des Partizips Futur Aktiv entsprechen: Es ist jedoch in Teutscher Sprache nicht unbräuchlich/ daß die participia passiva futuri temporis unterweilen durch die Participia activa praesentis temporis, der Deutung nach/ vorgebracht werden/ alsdan vocula illa zu/ [...] ausgelassen und darunter verstanden/ und durch den Gebrauch [...] es also angenommen und vernehmlich gehalten wird/ als: kraft tragenden Amts, vigore procuranti officij [...]. Es ist auch dieses zuberühren/ daß wir nicht allezeit die Teutschen Redarten und Phrases nach der Lateinischen Construction und Andeutung examiniren können/ [...]. (Schottelius 1663, S. 612f.) A u c h B ö d i k e r betont, d a ß die Deutschen nicht unkritisch „anderer V ö l c k e r J o c h " (Schottelius 1663, S. 90f.) auf sich zu n e h m e n brauchen:
Hiroyuki Takada [...] die Fügung und Satz der Worte [...] hat ihre natürliche Eigenschaft/ darinn sie von andern Sprachen sehr unterschieden. So hat sie auch nicht noht/ andern Sprachen in ihrer Zusammensetzung nachzugehen: Denn das verunzieret nur ihre Zierde. Wie man vor etlich hundert Jahren angefangen/ die Wort nach Art der Lateinischen Sprachen zu lencken/ oder auch zu verbinden/ da hat es der natürlichen Kraft und der Aufnahm dieser Sprache sehr geschadet. (Bödiker 1690, S. 190f.) Diesem Partizip mißt Stieler einen kanzleisprachlichen Wert bei und warnt vor seinem attributiven Mißbrauch: Es ist noch ein leidendes Mittelwort der zukünftigen Zeit in teutscher Sprache mit dem Wörtlein zu/ zu finden/ und wird/ insonderheit in denen Reichsabschieden/ so wol auch in den gerichtlichen Sätzen öfters gebrauchet/ auch bisweilen wol misbrauchet/ indem es die Rede vielmals tunkel machet; [...]. (Stieler 1691, S. 186f.) In diesem Fall handelt es sich somit um Lehnsyntax, die der Lexikalist Leibniz - anders als das Lehn-„Wort" - nicht zur Kenntnis nimmt.
4. Leibniz' Sprachpraxis 4.1. Didaktisierter Wortschatz In der sprachlichen Praxis seiner eigenen Schrift bemüht sich Leibniz, seiner Theorie entsprechend, zur Didaktisierung möglichst deutsche Termini zu verwenden, z.B.: Es ereignet sich aber einiger Abgang bey unserer Sprache in denen Dingen, so man weder sehen noch fühlen; sondern allein durch Betrachtung erreichen kan; als bey Ausdrückung der Gemühts-Bewegungen, auch der Tugenden und Laster, und vieler Beschaffenheiten, so zur Sitten-Lehr und Regierungs-Kunst gehören; dann ferner bey denen nicht mehr abgezogenenen und abgefeimten Erkäntnissen, so die Liebhaber der Weißheit in ihrer Denck-Kunst, und in der allgemeinen Lehre von den Dingen unter dem Nahmen der Logick und Metaphysick auff die Bahne bringen. (Leibniz 1717, § 10) Alleine, es ist gleichwohl an dem, daß in der Denck-Kunst und in der WesenLehre auch nicht wenig Gutes enthalten, so sich durch alle andere Wissenschafften und Lehren ergiesset, als wenn man daselbst [...] von der grossen Muster-Rolle aller Dinge unter gewissen Haupt-Stücken, so man Pudicamente nennet, [hier fehlt m.E. noch das Verb, das die Klammer schließt] (Leibniz 1717, § 12) Es bestehen nun die neuen Worte gemeiniglich in einer Gleichheit mit den alten, welche man Analogie, das ist, Ebenmaß nennet, und so wol in der Zu-
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sammensetzung als Abführung (Compositione & Derivatione) in Obacht zu nehmen hat. (Leibniz 1717, § 74) 1 1
An diesen exemplarischen Zitaten ist zu erkennen, daß es beim Gebrauch von Verdeutschungen unterschiedliche Vorgehensweisen bzw. Darstellungsformen gibt: 1) Die Eindeutschung steht alleine und selbständig: vgl. oben SittenLehr und Regierungs-Kunst in § 10, Denck-Kunst und Wesen-Lehre in § 12), 2) unmittelbar nach der Verdeutschung steht in Klammern das fremdsprachliche originale Heteronym: vgl. sowohl in der Zusammensetzung als Abführung (Compositione & Derivatione) in § 74 und 3) die Eindeutschung wird anschließend mit dem originalen Wort erläutert vgl. Haupt-Stücken, so man Prädicamente nennet und in §12, Analogie, das ist, Ebenmaß und in ihrer Denck-Kunst, und in der allgemeinen Lehre von den Dingen unter dem Nahmen der Logick und Metaphysick in § 74. Die ersten beiden Verfahren entsprechen Leibniz' eigenem theoretischen Vorschlag, deutsche Neubildungen sollten zusammen mit den originalen Wörtern stehen, die ihre Bedeutung erläutern (vgl. oben 2.6.)12. In manchen Fällen mußte Leibniz Termini mit mehreren Wörtern umschreiben, wie z.B. in § 10 die allgemeine Lehre von den Dingen für Metaphysik und die Liebhaber der Weißheit für Philosophen, was nicht unmittelbar zur Bereicherung des deutschen „Wort"-schatzes beiträgt. Nicht folgerichtig ist zudem das Nebeneinander eines Kompositums und einer Wortgruppe für einen Begriff, wie z.B. von Wesen-Lehre (§ 12) und die allgemeine Lehre von den Dingen (§ 10) für Metaphysik. Es ist nicht der Satz oder Text, sondern der Wortschatz, der Leibniz' Stil „aufklärerisch" macht. In den ganzen „Gedancken" klingen belehrend getönte Wörter nach, wie z.B. alles auffgerührte sich wieder gesetzet, und [...] endlich auffgeklähret (§ 22), ein grosses Licht angezündet werden (§ 39) und die Teutschen Gemüther nicht wenig Verdunckelung empfinden müssen (§ 22).
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Bei allen drei Zitaten Hervorhebungen durch Kursivierung vom Verf., H.T. Dem anderen Vorschlag, eingebürgerte Fremdwörter solle man nicht mit lateinischen Buchstaben, sondern in Fraktur schreiben, kann Leibniz in seiner Schrift nicht entgegenkommen, weil hier durchgehend lateinische Buchstaben benutzt sind. Leibniz tritt jedoch eigentlich für die Abschaffung der Fraktur ein (vgl. § 100).
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4.2. Unüberschaubarer Satzbau In der Syntax begegnen uns bei Leibniz nicht selten zu lange Einklammerungen bzw. ein überspannter Satzrahmen, wie z.B. in: Und hat man demnach die Cabbala oder Zeichen-Kunst nicht nur in denen Hebräischen Sprach-Geheimnissen, sondern auch bey einer ieden Sprach nicht zwar in gewissen buchstäblichen Deuteleyen, sondern im rechten Verstand und Gebrauch der Wort zu suchen. (Leibniz 1717, § 8) Und gleichwie ein Rechen-Meister der keine Zahl schreiben wolte, deren Halt er nicht zugleich bedächte, und gleichsam an den Fingern abzehlete, wie man die Uhr zehlet; nimmer mit der Rechnung fertig werden würde·, Also [...]. (Ebd., § 6) 13 Dies entspricht seinem theoretischen Desinteresse an der deutlichen syntaktischen Konstruktion. Sogenannte „Treppensätze", d.h. „Gliedsätze verschiedenen Grades, die in einem Schachtelsatz treppenartig ineinandergeschachtelt sind" (Conrad 1975, S. 278), beeinträchtigen die Übersichtlichkeit des Textes und gefährden somit die textuelle Verständlichkeit. Paragraph 10 z.B. beginnt mit einem Satz, der insgesamt 125 Wörter auf mehreren syntaktischen Stufen umfaßt und deshalb bei der ersten Lektüre nur schwer verständlich ist: Es ereignet sich aber einger Abgang bey unserer Sprache in denen Dingen, so man weder sehen noch fühlen; sondern allein durch Betrachtung erreichen kan; als bey Ausdrückung der Gemüths-Bewegungen, auch der Tugenden und Laster, und vieler Beschaffenheiten, so zur Sitten-Lehr und Regierungs-Kunst gehören; dann ferner bey denen mehr abgezogenenen und abgefeimten Erkäntnissen, so die Liebhaber der Weißheit in ihrer Denck-Kunst, und in der allgemeinen Lehre von den Dingen auff die Bahne bringen; welches alles dem gemeinen Teutschen Mann etwas entlegen, und nicht so üblich, da hingegen der Gelehrte und Hoffmann sich des Lateins oder anderer fremden Sprachen in dergleichen fast allein und in so weit zu viel beflissen; also daß es denen Teutschen nicht am Vermögen, sondern am Willen gefehlet, ihre Sprache durchgehende zu erheben. (Leibniz 1717, § 10) Um diese Unüberschaubarkeit einigermaßen zu mildern, ändert man denn auch in der sprachlich modernisierten Version der „Unvorgreifflichen Gedancken" von Pörksen (1983) den Nebensatz mit Welches in einen Hauptsatz: Das alles ist dem gemeinen Mann etwas entlegen [...]. Hinter diesem wiederholt verschachtelten und allzu langen Textkomplex mag das oben schon erwähnte soziolinguistische Motiv „Je komplizierter, desto höher im Rang" stehen (vgl. 3.1.). Von daher kann Leibniz Bödiker nicht verstehen,
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Bei beiden Zitaten Hervorhebungen durch Kursivierung vom Verf., H.T.
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der meint: „Wer deutlich und beweglich reden will/ muß nicht allzulange Periodos machen." (Bödiker 1690, S. 243f.)
5. Post-Leibnizsche Entwicklung der Sprachpraxis Abschließend will ich ansatzweise prüfen, ob sich die deutsche Sprache nach Leibniz' Tod so entwickelte, wie der Philosoph in seinem Programm gewünscht und angeregt hatte. Zu diesem Zweck sollen die verschiedenen Auflagen der deutschen Übersetzung des „Essais De Théodicée Sur La Bonté De Dieu, La Liberté De L'Homme Et L'Origine Du Mal", die kein anderer als Leibniz 1710 in Amsterdam in französischer Sprache veröffentlichte, nämlich: (Amsterdam 1710: Amsterdam 17201: Amsterdam 17262: Hannover/Leipzig
Original in französischer Sprache) Anonymer Übersetzer Anonymer Übersetzer 17444: J.Ch. Gottsched als Übersetzer 14
im Hinblick auf die Sprache miteinander verglichen werden 15
5.1. Eingedeutschte Termini Schon in der ersten deutschen Übersetzung von 1720' wird versucht, wissenschaftlich-philosophische Termini auf deutsch wiederzugeben, wobei 17201 in Klammern stehende lateinische (nicht französische!) Fachausdrücke die Eindeutschungen begleiten, z.B.:
14
15
Die dritte Ausgabe von 1735 unterscheidet sich sprachlich nicht von der zweiten Ausgabe von 1720 und die fünfte von 1763 ebenfalls nicht von der vierten von 1744, weshalb der Einfachheit halber auf Verweise auf die beiden Ausgaben von 1735 und 1763 verzichtet wird. Untersucht wurden die Paragraphen 1 bis 25.
Hiroyuki
122 1710 raison enchaînement les notions simples au-dessus de... et ... contre âme commune
1720 1 > Vernunfft (Ratio16) > Zusammensetzung (nexus) > die (notiones simplices) einfachen Begriffe > über (supra) und wieder (contra) > die (Anima mundi) Seele der Welt (anima mundi) (§ 9)
Takada
17262/444 > Vernunfft/Vemunft (§ 1) > Zusammenhang ( § 1 ) > die einfachen Begriffe (§ 4) > über und wider (§23) > die Seele der Welt
D i e eingeklammerten lateinischen Termini werden aber - w i e die obigen Beispiele zeigen - nach 1726 2 weitgehend ausgelassen 1 7 . Dieser Änderungsprozeß entspricht gerade d e m Gedanken von Leibniz, daß im Anfangsstadium deutsche Ausdrücke zusammen mit den originalen Bezeichnungen stehen sollen, damit sie sich schließlich eher durchsetzen (vgl. oben 2.6.). D i e noch 1720 1 lateinischen und zum Teil französischen Ausdrücke werden in der zweiten Übersetzung von 1726 weiterhin ins Deutsche übertragen, z.B.: 1710 des termes philosophiques
1720 1 > die Philosophischen Términos
le système de l'harmoniee préétabli opposé objections participation contraire de la conclusion âme universelle capable incompatibilité indispensables l'infinité contradictoires
> das Systema praestabilitae
concilier dissiperait
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harmoniae
> Oppositum > Obiectiones > Participation > Contrarium conclusionis > Anima universalis > capable > Incompatibilitäl > indispensable > die Infinitüt > Contradictoria (§ 3) > conciliixen > dissiphc
17262/444 > die Philosophischen Redens=Arten Redensarten (§ 13) 18 > das Systema!Systema der vorher bestimmenden Harmonie (§ 10) > Gegentheil (§ 2, § 20) > Einwürffe (§ 25) > Theilhafftigwerdung (§ 18) > Gegentheil des Schlusses (§ 22) > eine allgemeine Seele (§ 8) > vermögend (§ 8) > Unverträglichkeit ( § 1 1 ) > unveränderlich (§ 21) > eine unendliche Menge (§ 7) > sich wiedersprechende Sätze > vereinigen (§ 6) > zerstreuen (§ 18)
Zur Unterscheidung von Fraktur und Antiqua soll die letztere in diesem Kapitel durch unterstrichenes Kursiv angezeigt werden. Die Notation Philosophischen soll demnach bedeuten, daß „Philosophi" mit Antiqua, „ischen" in Fraktur gedruckt ist. Noch 1744 4 sind folgende lateinische Termini in Klammern beibehalten: § 3: ein Vermögen zu gehorsamen (potentiam obedientialem): § 7: der leidende Verstand (intellectus passivus): § 7: der wirkende verstand (intellectus actiuus): § 7: den Ausleger (Commentatorem I. Mit „Redens=Arten/Redensarten" soll hier dargestellt werden, daß 1726 2 die schriftliche Gestalt „Redens=Arten" und 1744^ „Redensarten" steht.
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In den meisten Beispielen gibt es hier Wort-für-Wort-Entsprechungen. Allerdings stehen im Falle von Infinitäl und Contradictoria statt eines Wortes mehrere Wörter: „eine unendliche Menge" und „sich wiedersprechende Sätze". Es gibt aber andererseits auch die Fälle, in denen die Übersetzung aus mehreren Wörtern zum Kompositum univerbiert wird: 1710 une vérité de foi praemissae
1720 1 > eine (veritas fidei) Wahrheit des Glaubens > vor den Schluß vorhergehende Sätze
1726 2 > eine Glaubens=Wahrheit (§24) > Fördersätze (§ 25)s
Die Ausdrücke, die 1726 2 noch nicht eingedeutscht sind, werden 1744 4 von Gottsched ins Deutsche übertragen, z.B.: 1710 philosoph théologie object existence de la prédétermination physique des belles lettres de la science moyenne les organes argument application d'épigrammes la métempsycose cause par accident absurdités la circulation la confession le convenable générales
1720>/26 2 > Philosophie > Theologie > Obiectum > Ëri'sientz/Existentz > von der Praedetermination physica > der literarum humaniorwn > von der Scientia media > die Organa > Argument/Argument cation > der Epigrammatum >
Metempsychosin
> eine Causa per accidens > Ahsurdäset/Absurdität >
Circulation/CiTCuia-
tion > Confession/Confeßion > das convenable/conveniente > genera/en/generalen
1744 4 > Weltweisheit (§ 1, § 24) > Gottesgelahrtheit (§ 1, § 4, § 24) > Gegenstand (§ 1) > Wirklichkeit (§ 2) > von der natürlichen Vorherbestimmung (§ 6) > der schönen Wissenschaften (§ 6) > von der mittlem Erkenntniß (§ 6) > die Werkzeuge (§ 7) > Beweis (§ 25), Schlußrede (§ 25) > Anwedndung (§ 20) > der Sinngedichte (§ 9) > Seelenwanderung (§ 8) > eine zufällige Ursache (§13) > Ungereimtheit (§ 2, § 18, § 23) > Kreislauf (§ 11) > Bekenntniss (§ 12) > das bequemste (§ 2) > allgemeinen (§ 17)
5.2. Eingebürgerte Termini Während sich die Übersetzer - wie oben gesehen - immer mehr um die Eindeutschungen kümmern, wird auch die Einbürgerung von Fremdwörtern
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beibehalten oder u.U. gefördert, was mit Leibniz' Gedanken übereinstimmt, man solle kein strenger „Sprachpuritaner" sein. In den folgenden Beispielen deutschen die Übersetzer lateinische Wörter mit morphologischer Assimilation in der Form Doctoribus zu „Doktoren" ein: 1720 1 die Formae Vergötterung (defication) der Mysticorum von den Peripateticis die Philosophia corpuscularis die Formulant concordiae Demonstrationes Modificationes
17262 > die Formen > Vergötterung der > Mysticorum
1744 4 > die Formen (§ 7) > Vergötterung der > Mystiker (§ 9)
> von den Peripateticis
> von den Peripatetikern ( § 1 1 )
> die Philosophia corpuscularis > die Formulant Concordiae > Demonstrationes > Modifikationes
> die Corpuscular= Philosophie (§ 11, § 12) > die Formel der Eintracht (§ 13) > Demostrationen (§ 13) > Modifikationen (§ 9)
Die Tatsache, daß die für die Fremdwörter gebrauchte Schrift mit der Zeit immer öfter von der Antiqua zur Fraktur übergeht, entspricht dem Vorschlag des Philosophen, die betreffenden Wörter zur Beschleunigung der Einbürgerung nicht mehr typographisch hervorzuheben und dadurch als fremde Wörter zu kennzeichnen: 1720 1 logisch metaphysisch geometrisch moralisch Scholastisch demonstrativistisch Metahoren Substantz Enthuasisten Facultät Dispensation Cabalam Svstema
1726 2 > logisch > metaphysisch > geometrisch > moralisch > Scholastisch > demonstrativisch
1744 4 > logisch (§ 2) > metaphysisch (§ 2, § 21) > geometrisch (§ 2, § 3) > moralisch (§ 2) > Scholastisch (§ 13) > demonstrativisch (§ 3, § 5)
> > > > > > >
> > > > > > >
Metaphoren Substantz Enthuasisten Facultät Dispensation Cabbalam Svstema
Metaphoren (§ 10) Substanz (§ 9) Enthuasisten ( § 9 ) Facultät ( § 1 5 ) Dispensation (§ 3) Cabbala (§ 9) Systema (§ 10)
Interessant in dieser Hinsicht ist der Fall, daß das 17201 zu „Ubereinstimmung" eingedeutschte Wort Harmonie nach 17262 wiederhergestellt wird, und zwar geschrieben in Fraktur: 1720 1 (Harmonie)
Ubereinstimmung
17262/444 > Harmonie
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Die eingebürgerten Formen Philosophie und Theologie werden 1744 von Gottsched viel seltener mit „Weltweisheit" (§ 1, § 24) und „Gottesgelahrtheit" (§ 1, § 4, § 6, § 24) übersetzt als beibehalten, und zwar geschrieben in Fraktur.
6. Bedeutung und Nachwirkung von Leibniz' „Gedancken" Aus den voranstehenden Erörterungen können wir nun schließen: Leibniz f a ß t in seinen „Unvorgreifflichen Gedancken" weitgehend die Erkenntnisse der zeitgenössischen Grammatiker z u s a m m e n , die er dann noch verschärft und vertieft. Auf der Grundlage der Einsicht in die „repräsentativ-kognitive" und die „kommunikativ-gesellschaftlichen" Funktion der Sprache hebt der Philosoph aber die Relevanz der Sprache bei der Förderung der Wissenschaft und somit der nationalen Entwicklung viel deutlicher hervor als die Grammatiker seiner Zeit und verbindet dies mit der Hoffnung, daß die Nation durch Ausbildung der Wissenschafts-Terminologie eine allgemeine „Wissens-Lust" entwickeln und so „der Flor des geliebten Vaterlandes" seine Verwirklichung fände; dieser nationalpädagogischen Zielsetzung ist sowohl der Vorschlag der Errichtung einer, Akademie" als auch die detaillierte Konzeption unterschiedlicher Typen von Wörterbüchern zuzuordnen. Leibniz präsentiert jedoch in seinem sprachkritischen Programm - mit einem gewissen Abstand zu den Grammatikern - auch eine Reihe n e u e r E r k e n n t n i s s e . Während nämlich die Grammatiker mit dem lexikalischen Vermögen der zeitgenössischen deutschen Sprache prinzipiell zufrieden sind, will Leibniz die von ihm selbst festgestellten Lücken des Wortschatzes mittels Wiederbelebung bzw. Recycling, Innovation und Einbürgerung der Wörter füllen und damit das Deutsche durch Mitwirkung vieler Fachleute zur Kultursprache ausbilden lassen. Dabei relativiert Leibniz, im Gegensatz zu den Sprachtheoretikern, die Befugnis der Wortbildung und regt statt dessen das Recycling vor allem alter, mundartlicher Wörter „des gemeinen Mannes" an, die für die Grammatiker nur verzerrt und verderbt sind. Mit der Konzentration auf den Wortschatz l ä u f t Leibniz auf der Ebene der Theorie gleichwohl den zeitgenössischen Sprachgelehrten h i n t e r h e r . Dem Lexikalisten fehlt sowohl der Sinn für den übersichtlichen Satzbau als auch die Vorsicht vor der Lehnsyntax mit ihrem Prestigesymbol, dem Latinismus. Leibniz' Sprachp r a x i s entspricht weitgehend seiner eigener Theorie, was durch das Motto „theoria cum praxi" - auch ironischerweise - bestätigt wird: Gebrauch deutscher Termini, Begleitung des originalen Wortes durch eine deutsche Neubildung, überspannter Satzrahmen und gewichtiger „Treppensatz". An den verschiedenen Auflagen der deutschen Übersetzung des „Essais De Théodi-
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cée" läßt sich der Verlauf der morphologischen und schriftlichen Festigung deutscher Termini beobachten. Dieser Prozeß stimmt tendenziell überwiegend mit demjenigen überein, den Leibniz sich vorstellt. Schon drei Jahre nach der Veröffentlichung der „Unvorgreifflichen Gedancken" zitiert Johann Augustin Egenolff (1720) aus dieser Schrift die Paragraphen 9 bis 11 (vgl. ebd., S. 269-273), um das wirkliche und potentielle Vermögen der deutschen Sprache zu bezeugen. Von ihm hören wir also früh ein Echo: Denn ob gleich in einer und der andern der hohen Wissenschaften einige Dinge vorkommen derer Griechische oder Lateinische Benennung durch ein gutes gebräuchliches und die Sache recht natürlich ausdrückendes Teutsches Wort noch biß ietzo weder übersetzet, noch solche Ubersetzung in Brauch genommen worden: So zeiget doch solches mehr nichts, als eine Nachläßigkeit der Teutschredenden, keines weges aber ein Unvermögen und Armuth der Sprache an. Wie denn der Herr Leibnitz selbst in dem folgenden §. der nur angezogenen Schrifft gahr weitläufftig hiervon handelt, und gnugsame Mittel an die Hand giebet, durch welche diesem Mangel mit leichter Mühe könte abgeholffen werden. (Ebd., S. 273f.)
Der Philosoph Christian Freiherr von Wolff (1679-1754) knüpft vor allem an Leibniz' Lob der traditionellen deutschen Fachwörter an, die Wolff durch konsequente Verwendung zu terminologisieren und zu festigen trachtet (vgl. von Polenz 1994, S. 360f.). So verdanken z.B. die folgenden Wörter des allgemeinen Bildungswortschatzes und der Mathematik ihre Durchsetzung Wolff: bestimmen, Umfang, Bedeutung, Gegenstand, Beziehung, Stoff, Widerspruch, Wirklichkeit, Statik, Verständnis, addieren, Quadrat, Nenner, Bewegung, Geschwindigkeit19. Wolffs Wissenschaftsdeutsch erlangte „eine Vorbildfunktion und wirkte auf die Gemeinsprache zurück." (Menzel 1996, S. 266) An einer Rede von Karl Philipp Moritz (1756-1793) in der Königlichen Akademie der Wissenschaften im Jahre 1792 läßt sich ebenfalls eine deutliche Nachwirkung des Leibnizschen Programms erkennen: [...] Da nun aber zu der Bildung einer Sprache wegen der immer zunehmenden Ideenmasse vorzüglich ihre Bereicherung gehört [...]; so muß sie zu sich selber, zu ihren veralteten Ausdrücken, die oft schöner und kraftvoller, als die neuern sind, und zu ihren Mundarten, worin ein Schatz von bedeutenden und ausdruckvollen Zeichen der Gedanken verborgen liegt, ihre Zuflucht nehmen. Dies haben unsre vorzüglichen deutschen Schriftsteller schon mit vielem Glück gethan. (Moritz 1792, S. iv)
Das Deutsche entwickelt sich nach Leibniz' Tod im großen und ganzen genauso, wie es sich der Philosoph mit seinem Appell an die Mit- und Nachwelt gewünscht hatte. Schon 1801 konnte man im Neuen Hannöverischen 19
Vgl. dazu von Polenz (1994, S. 361), Alikajew (1987, S. 63), Paul (1992) und Piur (1903, S. 71, 80).
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Magazin unter der Überschrift „Leibnizens Urtheil über die deutsche Sprache" die folgende Anrufung des Philosophen lesen: Großer, guter Leibnitz! lebtest du jetzt, du würdest nicht mehr Mangel, sondern Ueberfluß an philosophischen Kunstwörtern in unserer Sprache wahrnehmen. (Neues Hannöverisches Magazin 1801, S. 113). Im ausgehenden 19. Jahrhundert war das Deutsche eine voll entwickelte Weltsprache, die in Medizin, Chemie, Philosophie und Theologie „zeitweise sogar über die Grenzen der deutschsprachigen Staaten hinaus wichtig" (Stickel 1999, S. 18) war und zu derjenigen Kultur- und Wissenschaftssprache des Westens wurde, die im Osten seit der Meiji-Ära von den Japanern fleißig gelernt wurde, um „den Verstand hoch [zu] schwingen" (§ 1).
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Hiroyuki
Takada
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Christine Kaiser
(Braunschweig)
„...diese armen Worte eines innigen Dankes" Zu Fritz Mauthners Danksagung anläßlich seines siebzigsten Geburtstags
1. „Fritz-Mauthner-Tag" in Braunschweig: der hundertfünfzigste Geburtstag 2. Fritz Mauthners Weg „von Böhmen über Berlin zum Bodensee" 3. Jubiläum am Bodensee: der siebzigste Geburtstag 4. Die Danksagung des Sprachkritikers 5. Suum cuique
1. „Fritz-Mauthner-Tag" in Braunschweig: der hundertfünfzigste Geburtstag Fritz Mauthners 150. Geburtstag im Jahr 1999 war dem Seminar für deutsche Sprache und Literatur der TU Braunschweig Anlaß, den Journalisten, Schriftsteller, Sprachkritiker und -philosophen durch einen Festakt sowie ein wissenschaftliches Symposion zu würdigen und seiner vielfältigen Arbeit in Form einer Ausstellung zu gedenken. Im Vorfeld hatte es gegolten, unter der wissenschaftlichen Leitung Helmut Hennes den Fritz-Mauthner-Tag, wie er schon 1907 von Christian Morgenstern (1966, S. 332) - allerdings erst für das Jahr 2407 - angekündigt worden war, zu planen und zu organisieren. Die für eine Ausstellung unerläßliche Spurensuche führte in Bibliotheken und Archive, darunter das Deutsche Literaturarchiv Marbach und die Universitätsbibliothek Münster, um einen Teil des in alle Winde verstreuten Nachlasses Mauthners 1 zu sichten und im Hinblick auf seine Bedeutung für die vorgesehenen Themenkomplexe auszuwerten. Parallel hierzu wurde eine kleine Sammlung aufgebaut, die Erstausgaben, Widmungsexemplare, Beiträge Mauthners in Zeitschriften und Sammlungen sowie Bücher aus Mauthners Privatbibliothek umfaßt. Sie wurde, neben den von den Archiven zur Verfügung gestellten Materialien, im Rahmen der Ausstellung, die den Titel
Der Großteil von Mauthners Nachlaß wurde ab Mitte der sechziger Jahre von Wilhelm Restle als Schenkung an das Leo Baeck Institut, New York, übertragen. Vgl. dazu das Schreiben Restles vom 15.1.1973 und seine Erklärung zur Übertragung des Copyrights vom 24.6.1974 (Katalog der Mauthner-Sammlung, Leo Baeck Institut, New York - im folgenden: LBI NY).
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Kaiser
,fritz Mauthners Leben und Werk. Von Böhmen über Berlin zum Bodensee" trug, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und durch einen Katalog dokumentiert (Henne/Kaiser 1999). Die Fülle des Materials und der thematisch, aber auch durch die räumlichen Bedingungen vorgegebene Rahmen führten naturgemäß zu einer strengen Auswahl unter den als Exponate in Frage kommenden Dokumenten. Diese galt es darüber hinaus angemessen zu kommentieren, um ihren Stellenwert in Mauthners Leben und im Kontext seines Gesamtwerkes zu verdeutlichen. Insofern mußte ein Teil der verfügbaren Materialien zunächst unbearbeitet bleiben bzw. wurde im Zuge der Nachbereitung der Veranstaltung überhaupt erst zugänglich. So auch die hier thematisierte Danksagung, die von dem Jubilar Fritz Mauthner anläßlich der Glückwünsche und Würdigungen zu seinem 70. Geburtstag im Jahr 1919 verschickt und zur Veröffentlichung freigegeben wurde. Der 65. Geburtstag Helmut Hennes ist m.E. ein mehr als würdiger Anlaß, Mauthners Dankesworte an dieser Stelle wiederabzudrucken, zu analysieren und zu kommentieren.
2. Fritz Mauthners Weg „von Böhmen über Berlin zum Bodensee" Als Fritz Mauthner in Meersburg am Bodensee die mit dem 27. November 1919 datierte, hier vorliegende Danksagung an Julius Moos unterschreibt, kann er auf eine viele Jahrzehnte währende intensive Arbeit mit und über Sprache zurückblicken. Sein Weg hatte ihn, der am 22.11.1849 als viertes von sechs Kindern des Tuchfabrikanten Emmanuel Mauthner und seiner Frau Amalie in Horzitz bei Königgrätz in Böhmen geboren worden war, nach journalistischen Anfängen in Prag in das Berlin der Gründerzeit geführt, wo er zunächst als Verfasser der parodistischen Studien Nach berühmten Mustern einen „stürmischen Erfolg" 2 feierte und sich als Feuilletonist und Schriftsteller etablierte. Hier entstanden auch seit Anfang der neunziger Jahre Mauthners Beiträge zu einer Kritik der Sprache, eine über zweitausend Seiten starke, dreibändige erkenntniskritische Abhandlung über die Grenzen der Sprache, mit der er 1901/02 das „sprachkritische 20. Jahrhundert" (vgl. Lütkehaus 2000, S. 21) einläutete. Im Jahre 1905 zog sich Fritz Mauthner, nachdem er mit den Totengesprächen öffentlich Abschied vom Journalismus „Fritz Mauthner." [Selbstdarstellung]. In: Schmidt (1924, S. 133). - Der Erfolg der Parodien Mauthners läßt sich u.a. an ihrer Auflagengeschichte ablesen (vgl. dazu Mauthner 1897, S. 5). - Zur Rezeption der Parodien vgl. Vierhufe (1999, S. 205-213). - Hillach spricht gar von einem „spektakulären Erfolg" Mauthners „besonders auf dem Gebiet der Parodie" (vgl. dazu Hillach 1986, S. 24).
Fritz Mauthners
Danksagung
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genommen hatte3, zunächst nach Freiburg im Breisgau und schließlich, vier Jahre darauf, nach Meersburg am Bodensee zurück, um sich ganz seiner sprachkritischen und philosophischen Arbeit zu widmen. Die Ergebnisse seiner Studien veröffentlicht er 1910/11 im Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache und ab 1920 bis zu seinem Tod im Jahre 1923 in vier Bänden unter dem Titel Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande.
3. Jubiläum am Bodensee: der siebzigste Geburtstag Zum Zeitpunkt seines 70. Geburtstags lebt Mauthner - gemeinsam mit seiner zweiten Frau Hedwig, geb. Straub - schon seit einem Jahrzehnt im „Glaserhäusle" in Meersburg. Folgt man den Ausführungen seines Biographen Kühn (1975, S. 266f.), so hatte schon kurz zuvor, mit dem Ende des Ersten Weltkrieges, der Prozeß begonnen, der Mauthner „langsam in Vergessenheit" geraten ließ: „[...] es sind nur noch einzelne, die auf ihn aufmerksam werden oder ihn in Erinnerung behalten", heißt es dort. Und obwohl sein Siebzigster ihm „noch einmal einige Anerkennung" bringt, scheint Fritz Mauthner schon zu diesem Zeitpunkt in der Bedeutungslosigkeit versunken.4 Mauthners psychischen Zustand beschreibt Kühn, mit den Worten: „Er selbst ist ein gebrochener Mann". 5 Daß Mauthner nach seinem Tod am 29. Juni 1923 zunehmend in Vergessenheit geriet, dieser Prozeß noch beschleunigt wurde durch „antisemitische Strömungen und die Herrschaft des Ungeistes von 1933-1945" soll hier keinesfalls in Abrede gestellt werden (vgl. hierzu Henne/Kaiser 1999, S. 1). Für das Jahr 1919, in dem er seinen siebzigsten Geburtstag feiert, geben da3
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So schreibt Mauthner in einem Brief an seine Cousine Auguste Hauschner am 3.12.1905: „Meine .Totengespräche' erscheinen nächste Woche; nicht ganz pünktlich. Ich habe ein schlechtes Gewissen; ärgre mich, daß ich doch diesen öffentlichen Abschied von der Jornalistik nehme." (Briefe an Auguste Hauschner 1929, S. 87) Bei Kühn (ebd.) heißt es: „Mauthners philosophische Laufbahn nimmt ein bemerkenswertes Ende: er leitet philosophische Arbeitsgemeinschaften der 1921 gegründeten Meersburger Ortsgruppe der Kantgesellschaft." Kühn stützt sich dabei auf eine Aussage Mauthners in einem Brief an Auguste Hauschner vom 22.5.1919, ohne allerdings die genaueren Umstände näher zu erläutern, die diesen Worten zugrunde lagen: „Ich habe geistig und körperlich einen Knax weg." - Mauthner bezog sich damit direkt auf die Vorgänge um die Ermordung seines langjährigen Freundes und Weggefährten Gustav Landauer, dessen Tod ihn umso schmerzlicher getroffen haben muß, als die Freundschaft infolge Mauthners national-chauvinistischer Haltung während des Ersten Weltkrieges schwer gelitten hatte und die begonnene Wiederannäherung durch Landauers frühen Tod nun gewaltsam abgebrochen war.
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gegen die zahlreichen öffentlichen und privaten Ehrungen Mauthners eher Grund zu der Einschätzung, daß er sich für jemanden, der einst freiwillig die Ruhe und Abgeschiedenheit der „Schenke am See" gesucht hatte6, immer noch einer eher überraschend großen Bekanntheit und Wertschätzung erfreuen darf. So verzeichnet der Katalog der Fritz-Mauthner-Sammlung des Leo Baeck Instituts in New York im Nachlaß Mauthners mehr als achtzig Zeitungsartikel, die von Ende Oktober bis Ende November 1919 zu Ehren des Jubilars erschienen sind.7 Sie reichen von kürzeren Meldungen, wie beispielsweise der insbesondere den Sprachkritiker Mauthner würdigenden in der Morgenausgabe des Vorwärts vom 22.11.1919, bis hin zu umfangreichen Aufsätzen, in denen Mauthners Person nebst seinem Gesamtwerk eine ausführliche Würdigung erfahren; im Simplizissimus wird Mauthner von Olaf Gulbransson (1919, S. 490) freundschaftlich karikiert, und in der Weltbühne erscheint ein Gelegenheitsgedicht Julius Babs (1919, S. 630), das mit dem Zuruf schließt: „Der ist dem Wort am tieffsten treu,/der es so haßt wie Du!". Des weiteren sind aufgeführt über zweihundert Gratulationsschreiben (Briefe und Karten) sowie 48 Telegramme. 8 Zu den Absendern zählen u.a. die Schriftsteller Julius Bab, Hermann Bahr, Richard Beer-Hofmann und Lion Feuchtwanger, der Naturwissenschaftler Wilhelm Boelsche, der Philosoph Martin Buber, der Journalist Alfred Klaar, der Maler Max Liebermann, der Historiker Alfred Stern und die Literarhistoriker Anton Bettelheim und Eugen Wolff. Letzterer soll, 1886, den Begriff der „Moderne" geprägt haben. Literarische und philosophische Vereinigungen wie die Berliner Kant-Gesellschaft ehren Mauthner mit schriftlichen Glückwünschen, ebenso zahlreiche Verlage und Verbände. Von den Mitgliedern der „Gesellschaft der Zwanglosen" erhält Mauthner überdies eine Ehrengabe in Höhe von 12.600,- RM angewiesen.9 Die Stadt Meersburg verleiht ihm die Würde eines „ E h r e n b ü r g e r s " 1 0 , und im Stadttheater zu Konstanz findet eine Ehrenvorstellung statt, bei der Mauthners bereits 1892 fertiggestelltes Drama „Skandal" erstmals zur Aufführung
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„Die Schenke am See" heißt ein Gedicht, mit dem Annette von Droste-Hülshoff 1841 Mauthners späterem Domizil ein literarisches Denkmal gesetzt hatte. (Vgl. dazu Henne/Kaiser 1999, S. 35) LBI NY, Nr. 100-183 der Abt. F.II.a.-AR-Z.800.3764. LBI NY, Nr. 1 - 2 1 3 u. Nr. 1 - 4 8 der Abt. B.HI.-AR-B.356.3393. Das dreiseitige Schreiben der „Gesellschaft der Zwanglosen" ist unterzeichnet von Georg Bondi, Lilli Lehmann, Rathenau, Siegfried Ochs, Paul Meyer, Otto Pinower und Gerhart Hauptmann. (Vgl. dazu Henne/Kaiser 1999, S. 3 6 40) Im Berliner Tageblatt vom 2.12.1919 heißt es dazu in einer kurzen Meldung: „Fritz Mauthner ist anläßlich seines 70. Geburtstages von seiner neuen Heimat M e e r s b u r g zum E h r e n b ü r g e r ernannt worden. Immerhin ein Beweis, daß die Kinder der Welt den Philosophen auch als M e n s c h e n zu schätzen wissen."
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kommt. (Vgl. dazu Kühn 1975, S. 158f.) Zu einer in Berlin geplanten öffentlichen Feier anläßlich Mauthners Jubiläum dagegen finden sich außer dem Festredner Theodor Kappstein und der Tochter Mauthners keine weiteren Besucher ein. 11 D i e Äußerungen Fritz Mauthners zu seinem 70. Geburtstag, den er in der Rückschau als „still verlaufen" beschreibt 1 2 , sind sehr spärlich: Zunächst eher skeptisch scheint er der Ehrengabe durch die „Gesellschaft der Zwanglosen" gegenübergestanden zu haben, wie einem Brief vom 20.1.1920 an Auguste Hauschner zu entnehmen ist. Erst deren herzliche Fürsprache bewegt ihn schließlich zu einer Annahme dieses, für Mauthners finanzielle Verhältnisse nicht unerheblichen Betrages. Im selben Brief schreibt er, offensichtlich wenig beeindruckt von den Vorgängen anläßlich seines Jubiläums: Daß ich hier zum .Ehrenbürger' ernannt worden bin, daß im Konstanzer Stadttheater eine richtige und feierliche Ehrung (ohne mein Beisein) stattfand, werde ich Dir schon geschrieben haben. Inzwischen habe ich in demselben Theater für die armen Wiener Kinder gelesen. Die Glückwünsche tröpfeln immer noch weiter, banal, ergreifend, dumm, wies kommt. (Briefe an Auguste Hauschner 1929, S. 214) Den am 7. Februar desselben Jahres folgenden Glückwunschbrief anläßlich Auguste Hauschners Siebzigstem beginnt Mauthner mit den Worten: Du hast vor Monaten den dringenden Wunsch ausgesprochen, zum 12.2. [...] mit den feierlichen Redensarten verschont zu werden. Ich kann Dir das umso mehr in diesen Tagen nachfühlen wo der Katzenjammer, wenn überhaupt ein Rausch vorangegangen, unerträglich geworden ist: im Weiteren durch die Folgen der Unterschrift unter den Friedensvertrag, im Engsten auch die Folgenlosigkeit meiner eigenen Geburtstagsfeier, um die ich mich weder so noch so vorher gekümmert hatte. Sogar die Ehrenbürgerschaft von Meersburg hat man mir, damit die groteske Komik nicht fehle, wieder aberkennen wollen. (Ebd., S. 215f.) 1 3
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Kappstein begründet dieses fehlende Echo, das die Veranstaltung fand, zum einen damit, daß Mauthners „Berliner Gemeinde" klein geblieben war, zum anderen mit einem mehrere Tage andauernden Pressestreik. (Vgl. Kappstein 1926, S. 19) An Auguste Hauschner schreibt er am 21.11.1920 aus Wien: „Dein Brief kommt soeben als der erste Gratulant. Ich fürchte, der morgige Tag wird nicht ganz so still verlaufen wie dieser Tag in Meersburg, selbst als mein 70. - abgesehen von Post - vor einem Jahr." (Briefe an Auguste Hauschner 1929, S. 224) Zum „Meersburger Kirchenkampf' und den in diesem Zusammenhang stattgefundenen Versuchen, Mauthner die Ehrenbürgerwürde durch die Stadt Meersburg wieder abzuerkennen (vgl. Bosch 1994, S. 59ff.). - Dagegen ließ es sich die Stadt dreißig Jahre später nicht nehmen, anläßlich des 100. Geburtstages ihres Ehrenbürgers im Jahr 1949 zu einer Jubiläumsfeier zu laden (vgl. dazu: Henne/Kaiser 1999, S. 41-44).
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134 Und am 21.2. heißt es schließlich:
Sehr schwer klangen Deine Worte über Deinen 70. Ich kann mich umso genauer in Deine Stimmung hineinfühlen, als auch bei mir ein saurer Kater allein übrig geblieben ist. Woher? Wofür? Das ist das ewige Kreuz. Und doch ist das Leben stark und schön, wie immer es war. (Ebd., S. 217f.)
4.
Die Danksagung des Sprachkritikers
Die hier faksimiliert vorliegende Danksagung fand sich - lose beigelegt - in einem Exemplar von Mauthners Erinnerungen /. Prager Jugendjahre, das von einem Berliner Antiquariat zum Kauf angeboten wurde. Auf einem leicht nachgedunkelten Blatt weißen Papiers im Format 22 χ 28,5 cm ist der zweiunddreißig Zeilen zählende und in fünf Abschnitte gegliederte Text auf ca. 11 χ 13 cm mittig abgedruckt und von Fritz Mauthner mit der Ortsangabe „Meersburg am Bodensee" unter dem Datum „27. November 1919" mit schwarzer Tinte eigenhändig unterschrieben. Der dazugehörige, dem Blatt beigeklebte Umschlag im Format 12,4 χ 15,6 cm ist von Mauthner, ebenfalls eigenhändig, an Herrn Julius Moos, Überlingen, adressiert, von dem er
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zum 70. Geburtstag eine Glückwunschkarte erhalten hatte.14 In der linken oberen Ecke des Umschlags findet sich der einmal unterstrichene Vermerk „Drucksache". Eine Briefmarke zu 5 Pf trägt einen gut leserlichen Stempel des Postamts Meersburg mit dem Datum 13.12.19. Die Absenderangaben fehlen. Die Spuren auf dem Titelvorsatz der Erinnerungen lassen den Schluß zu, daß das Blatt nebst Umschlag einmal in das Buch eingeheftet worden war, das im übrigen auf dem ersten Vorsatzblatt mit der Widmung „Vom Freunde zum Freunde! Weihnachten 1918!" versehen ist, die nicht aus der Hand Fritz Mauthners zu stammen scheint. Wie dem Katalog der MauthnerSammlung des Leo Baeck Instituts zu entnehmen ist, wird dort ein weiteres Exemplar des Dankschreibens aufbewahrt. 15 Es handelt sich hier insofern um ein Exemplar einer an mehrere Adressaten versendeten Danksagung. Gestützt wird diese Annahme zudem durch den Brief Mauthners an Auguste Hauschner vom 20.1.1920, in dem es heißt: „[...] nicht zu meinen vierhundert Danksagungen noch ein Dutzend besondere, in einigen Fällen recht schwere Danksagungen hinzufügen." (Briefe an Auguste Hauschner 1929, S. 214) 16 Der Text wurde des weiteren, eingeleitet mit den Worten: „Fritz Mauthner dankt seinen Freunden mit folgendem Brief', am 5.12.1919 im Berliner Tageblatt auf Seite 2 der Morgenausgabe vollständig abgedruckt.17 Als mögliche Adressaten der Danksagung kommen insofern - neben Julius Moos, an den das vorliegenden Exemplar gerichtet ist - die Absender der ca. 260 Briefe, Karten und Telegramme nebst den Verfassern der ca. 80 Würdigungen in Zeitschriften und Zeitungen sowie all diejenigen Leserinnen und Leser des Berliner Tageblattes hinzu, die sich von den Dankesworten Mauthners angesprochen fühlen konnten. An wen Mauthner darüber hinaus die von ihm erwähnten vierhundert Danksagungen verschickt haben mag, läßt sich heute nicht mehr rekonstruieren. Möglicherweise sind nicht alle schriftlichen Glückwünsche erhalten, bzw. Mauthner hat - was durchaus denkbar wäre -
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Vgl. dazu: LBI NY, Abt.B.-III.-AR-B.356. 3393, Nr. 108. - In welchem Verhältnis der Empfänger der vorliegenden Danksagung zu Fritz Mauthner stand, war nicht zu ermitteln. Julius Moos, geb. im Juni 1864 in Hechingen, lebte seit April 1916 in der Villa Karola in Überlingen am Bodensee. Im Jahr 1923 war er nicht mehr in Überlingen gemeldet. Unter der Rubrik „Stand/Gewerbe" findet sich der Eintrag „Privat". (Vgl. Meldebuch der Stadt Überlingen, 1914-1924, S. 322) Der Eintrag im Katalog lautet: „Danksagung Fritz Mauthner, Meersburg, 27.11.1919, Druck u eig Unterschr lp" (LBI NY, Abt. B.III.-AR-B.3563393, Nr. 49). Mit den „besonderen" und „schweren" Danksagungen verweist Mauthner auf die oben erwähnte Ehrengabe der „Gesellschaft der Zwanglosen" für die er sich stellvertretend nur bei Eduard Meyer bedanken will. Das Berliner Tageblatt war eine der wichtigsten Zeitungen, für die Mauthner seit seinen journalistischen Anfängen in Berlin geschrieben hatte.
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auch auf mündliche Gratulationen, telefonische Grüße und persönlich überbrachte Geschenke in dieser Form gedankt.18 Die reichhaltige Fülle der Glückwünsche und Würdigungen von Familienmitgliedern und Freunden ebenso wie von weniger nahestehenden Personen, Verlagen und Institutionen mögen den Jubilar Mauthner u.a. dazu veranlaßt haben, anstelle persönlicher Dankbriefe gedruckte Danksagungen zu versenden und diese darüber hinaus veröffentlichen zu lassen. Während drei Jahrzehnte zuvor Theodor Fontane nach den Feierlichkeiten zu seinem siebzigsten Geburtstag in einem Dankbrief an Georg Friedländer vom 28. Januar 1890 noch davon spricht, „3 Wochen lang Briefe bis zur Erschlaffung geschrieben" zu haben (vgl. dazu Fontane 1982, S. 20), hatte ein anderer Zeitgenosse Mauthners, der Jubilar Wilhelm Raabe, Danksagungen drucken lassen, nachdem er anläßlich seines Siebzigsten, eigenen Angaben zufolge, ca. tausend Postsendungen und 216 Telegramme erhalten hatte (vgl. dazu Raabes Brief an Karl Schönhardt vom 29.12.1901, in: Raabe 1975, S. 435). Aber nicht nur die Anzahl der erhaltenen Glückwünsche läßt die Versendung gedruckter Danksagungen in solchen Fällen als durchaus angemessen erscheinen. Weder Mauthner noch Raabe - als Personen der literarischen Öffentlichkeit - mögen jeden ihrer Gratulanten persönlich gekannt haben, und selbst Fontane hatte sich genötig gesehen, zur Vervollständigung seiner persönlichen Dankbriefe bei Georg Friedländer nach den Titel- bzw. Rangverhältnissen zweier Gratulanten anzufragen (vgl. dazu Fontane 1954, S. 120). Die schon aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes (Druck im Blocksatz, Absätze eingerückt) eher formell-distanziert wirkende Form der Danksagung Mauthners setzt weder mit einer Anredeformel ein, noch endet sie mit einer konventionellen Grußformel, wodurch sie sich vom persönlichen Dankbrief aber auch von der Kommunikationsform „Brief' als solcher strukturell unterscheidet.19 Das Fehlen dieser metakommunikativen Elemente, die als Indikator für die zwischen Briefschreiber und -empfanger herrschenden Beziehungen dienen und auf eben dieser Beziehungsebene erste Hinweise darauf geben können, wie der Inhalt des Briefes zu interpretieren ist (vgl. dazu Ermert 1979, S. 104), unterstreicht somit den offiziell-formellen Charakter der
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Bezüglich der Anzahl der Danksagungen besteht eine interessante Parallele zu Theodor Fontanes 70. Geburtstag. Auch dieser erwähnt sowohl in einigen seiner Dankbriefe als auch in seinen Tagebuchaufzeichnungen, „ungefähr 400 Dankbriefe" erhalten bzw. geschrieben zu haben. (Vgl. dazu Fontane 1982, S. 20f. [an Georg Friedländer], S. 31 f. [an Paul Hey se] und Fontane 1995, S. 250) Bei „Kontaktbriefen", die der Herstellung, Pflege, Verbesserung oder Beendigung von sozialen Beziehungen dienen und zu denen insofern auch die „Dankbriefe" zu rechnen sind, gelten Anrede- und Grußformel als obligatorische Bestandteile des Textes. (Vgl. dazu Ermert 1979, S. 168) - Zur formalen Struktur von Briefen vgl. ebd., S. 113ff.
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Auch in meinen Worten des Dankes möchte ich nicht feierlich werden; ich müßte sonst vorausschicken, wie sehr es mich bedrückt, daß ich in dieser Zeit der schweren Not und der furchtbaren Enttäuschung von mir sprechen soll. Ich habe in den letzten Tagen so oft lesen müssen, wie erstaunlich frisch und erschrecklich klug ich als Greis noch bin, daß ich darüber wohl recht sehr müde und recht sehr dumm werden mußte; es ist gut eingerichtet, daß so viel Lob an einen Lebendigen nur alle 70 Janre einmal verschwendet wird, Jubiläen könnten sonst den Charakter verderben. Wenn ich aber auch in Abzug bringe, was die Sitte fordern mag an Anerkennung für Jubilare oder eben Verstorbene, so tönt mir doch aus Telegrammen und Briefen, aus gereimten und ungereimten Aufsätzen Liebe genug und Anhänglichkeit genug entgegen, um in mir ein Dankgefühl anwachsen zu lassen, das zu erleben ich nicht hoffen konnte. Für dieses Erlebnis des ergreifenden und beglückenden Dankgefühls sage ich Dank allen, die es mir geschenkt haben. Und gebe das Versprechen, daß ich im Sinne meiner besten Leser weiter arbeiten will, so lange mir Arbeitskraft beschieden ist. Einige briefliche und öffentlicheAußerungen sprechen ihrBedauern darüber aus, daß meine Beiträge zu einerPhilosophie der Sprache nicht die ihnen gebührende Anerkennung gefunden haben. Ich kann dieses Bedauern nicht recht mitempfinden. Ich habe für meine Person niemals etwas erwartet. Mein Gedanke aber, der Gedanke einer Kritik der Sprache, kann warten. Und mir kann es reichlicher Lohn sein, auch da eine langsame Wirkung zu beobachten. Allen, die in diesen Tagen der deutschen Trauer mir durch freundliche Zurufe und Gaben Freude bereitet haben, gelten diese armen Worte eines innigen Dankes. Meersburg am Bodensee, den 27. November 1919
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Danksagung ebenso wie der Mehrfachdruck. 2 0 Mauthners Verzicht auf eine Anredeformel scheint indes die Redaktion des Berliner Tageblatts dazu bewogen zu haben, als Adressaten des Mauthnerschen Dankes seine „Freunde" explizit zu benennen. Die von Mauthner persönlich versandten Danksagungen dagegen richten sich jeweils an die mit der Adresse auf dem Briefumschlag angeschriebenen Personen. Wer sich von Mauthners „Worten des Dankes" im einzelnen angesprochen fühlen soll, erschließt sich indes erst aus dem Text: Die Absender von „Telegrammen und Briefen", die Verfasser „gereimter und ungereimter Aufsätze", alle, die ihm damit „das Erlebnis des ergreifenden und beglückenden Dankgefühls [...] geschenkt haben", insgesamt alle, „die [ihm] durch freundliche Zurufe und Gaben Freude bereitet haben". Zwar macht Mauthner gleich in der ersten Zeile deutlich, daß es sich bei seinem Schreiben um eine Danksagung handelt, er spricht explizit von „Worten des Dankes", der Dank selber läßt allerdings zunächst auf sich warten. Mauthner beginnt vielmehr, für eine Danksagung wohl eher unüblich, mit einem als Wunsch formulierten textkommentierenden Akt, indem er vorausschickt, wie er nicht danken möchte: „feierlich". Er begründet dies mit der sich aus dem feierlichen Sprechen ergebenden Notwendigkeit, seinen Gefühlen darüber Ausdruck zu verleihen, unter den aktuell herrschenden Bedingungen von sich selber sprechen zu müssen. Wobei er diese Gefühle nichtsdestotrotz sehr wohl benennt: Der Zwang, über sich selbst sprechen zu müssen, „bedrückt" ihn „sehr". Schon mit diesen einleitenden Worten, stellt Mauthner vielfache Bezüge her, die beim Leser sowohl eine bestimmte Erwartungshaltung unterstellen, als auch ein hohes Maß an Hintergrundwissen voraussetzen. Daß er diese Erwartungshaltung bezüglich der Feierlichkeit seiner Dankesworte nicht zu erfüllen gedenkt, erscheint zunächst wie ein Affront. Erst die gewundene Erklärung trägt zur Auflösung dieser, von Mauthner möglicherweise bewußt erzeugten Irritation bei: „in dieser Zeit der schweren Not und der furchtbaren Enttäuschung". Die Empfänger der Danksagung leben im Jahr 1919, die Nachkriegszeit mit all ihren Entbehrungen ist ihr Alltag; und weshalb Mauthner von „Enttäuschung" spricht, ist ebenfalls leicht zu entschlüsseln: Durch den im Juni desselben Jahres unterzeichneten Versailler Vertrag galt Deutschlands Niederlage im Weltkrieg endgültig als besiegelt. 21 Als besonders erniedrigend erachteten weite Kreise, neben den erheblichen Gebietsverlusten und der Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts, vor allem die als ungeheuerlich empfundenen Reparationsforderungen. Mauthner kann insofern von einem allgemeinen Konsens hin-
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Nach Ermert (vgl. 1979, S. 115) sind gedruckte bzw. vervielfältigte Briefe dem offiziellen Handlungsbereich vorbehalten. Daß Mauthner die „Folgen der Unterschrift unter den Friedensvertrag", der am 10.1.1920 schließlich in Kraft getreten war, einen „Katzenjammer" verursachten, geht auch aus dem weiter oben zitierten Brief an A. Hauschner hervor.
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sichtlich seiner Einschätzung der momentanen Gefühlslage „in unserem geliebten armen Vaterlande" 22 ausgehen: „Feierliche", also „Würde und Erhabenheit" zum Ausdruck bringende Worte 23 erscheinen unter diesen Umständen wenig angemessen, was im übrigen auch von den Unterzeichnern des Gratulationsschreibens der „Gesellschaft der Zwanglosen" eingeräumt wird, heißt es doch dort: „Ihr [Mauthners , Waffe der Ironie', d. Verf.] müssen sich auch Ihre alten Freunde beugen, und so sehr Ihnen und ihnen der Sinn für Feierlichkeit fehlt [...]."24 Darüber hinaus wird der Verweis auf die Nachkriegssituation im letzten Abschnitt der Danksagung mit den Worten „in diesen Tagen der deutschen Trauer" wiederaufgegriffen. Diese seinerzeit insbesondere in offiziellen Schreiben üblichen ritualisierten Wendungen bilden somit einen situativen Rahmen, der die Wirkung von Mauthners Bescheidenheitsgestus - vor diesem historischen Hintergrund von sich sprechen zu sollen - garantiert. Mit seinem Absehen vom „Feierlichen" bedient er gleichzeitig den Nimbus des rationalen und damit eher nüchternen Kritikers und Philosophen Fritz Mauthner, der ihn in der Öffentlichkeit umgibt. Bestätigt wird dieses Bild beispielsweise in Theodor Kappsteins (1919, S. 1) Würdigung des Jubilars: „Wie Sokrates, hat Mauthner, mit seinem alten Fontane zu sprechen, keinen Sinn für Feierlichkeit." Die „Waffe der Ironie, die [er] zeitlebens so kraftvoll geschwungen" hat25, zückt Mauthner im zweiten Abschnitt seiner Danksagung. Dies mag nicht weiter verwundern; brachte doch schon Fritz Engel in seinem „Gruß nach Meersburg" seine Verunsicherung darüber zum Ausdruck, dem „kantigen" Fritz Mauthner zum Geburtstag gratulieren zu wollen, eine Klage, die seit der Antike zu den metarhetorischen Topoi in Würdigungen gehört: Fritz Mauthner wird am 22. November siebzig Jahre alt. Es ist üblich, dazu Glückwünsche auszusprechen, ,die von Herzen kommen und zu Herzen gehen'. Nun ist dieser Fritz Mauthner sehr gegen das Uebliche, und wenn man ihm ein Sträusschen überreicht, riskiert man, dass sich um die klügsten Augen, die man je gesehen, dass sich um seinen Mund, hinter dem ehemals schwarzen, jetzt grauen oder weissen Bart, das Lächeln zeigt, das ebenso zu fürchten wie zu lieben ist. (Engel 1919, S. I) 2 6
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So heißt es im Gratulationsschreiben der „Gesellschaft der Zwanglosen" (in: Henne/Kaiser 1999, S. 37-39). Zur Bedeutung von feierlich: vgl. Paul (1992, S. 267). Gratulationsschreiben der „Gesellschaft der Zwanglosen" (in: Henne/Kaiser 1999, S. 37). Gratulationsschreiben der „Gesellschaft der Zwanglosen" (in: Henne/Kaiser 1999, S. 1). Bei Kappstein heißt es dazu: „Er selber war unglaublich schwierig, wollte man ihm eine Ehre oder Freude bereiten." (Kappstein 1926, S. 18)
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Mauthner wird den ihm zugespielten Ball indes gerne aufgefangen haben. Der ironische Plauderstil, in den er verfällt, wenn er im zweiten Abschnitt seines Schreibens davon zu erzählen beginnt, was er anläßlich seines Jubiläums „so oft" zu lesen gezwungen war, ist durchsetzt von Verstärkungswörtern: so „ e r s t a u n l i c h frisch" und „ e r s c h r e c k l i c h klug" soll er „als Greis" noch sein, daß die Gefahr bestanden habe, darüber „recht s e h r müde" und „ r e c h t s e h r dumm" zu werden - gleich zweimal hintereinander sogar die doppelte Verstärkung. Die ihm attestierte Frische und Klugheit scheint die Verdopplung des jeweiligen Gegenteils zur Folge zu haben: von Müdigkeit und Dummheit. 27 Und nur der Umstand, daß solch geballtes Lob so selten, und so verschwenderisch „nur alle 70 Jahre einmal" den „Lebendigen" trifft, hat den „Charakter" vor dem Verderb bewahrt. Daß Mauthner ein „Charakter" ist, hatten ihm anläßlich seines Jubiläums nicht nur Fritz Engel (1919, S. 1), sondern u.a. auch Alfred Klaar (1919, S. 341) bestätigt. Dem zunächst bescheiden seine Person in den Hintergrund setzenden, dann augenzwinkernd-ironisch das Lob zurückweisenden folgt im dritten Absatz der zwar immer noch skeptisch erscheinende, zugleich aber auch von einem „ergreifenden und beglückenden Dankgefühl" erfüllte Mauthner. So kommt er zwar nicht umhin, in einem Nebensatz einzuräumen, daß wohl ein Teil der ihm entgegengebrachten Anerkennung auf das Konto der höflichen Umgangsformen und des rhetorischen Brauchtums gegenüber „Jubilaren und eben Verstorbenen" (sie!) zu buchen ist, die vom Sprachkritiker so höflich umschriebenen „hohlen Phrasen" somit von den aufrichtigen Gefühlen „in Abzug" zu bringen sind. Was jedoch bei Mauthners „Rechenoperation" letztlich unterm Strich übrig bleibt an in unterschiedlichste Formen gekleideter „Liebe" und „Anhänglichkeit", ist genug, um in ihm ein nicht zu erhoffendes „Dankgefühl anwachsen zu lassen", wobei der hier gleich zweifach auftretende Parallelismus es nahelegt anzunehmen, daß ihm die „Liebe" vor allem „aus Telegrammen und Briefen", die „Anhänglichkeit" dagegen eher „aus gereimten und ungereimten Aufsätzen" entgegentönt. Nicht die zahlreichen Würdigungen seines Lebenswerks, auch nicht die seine journalistische, schriftstellerische oder philosophische Arbeit anerkennenden Worte bewegen also den Jubilar in erster Linie; ergriffen und beglückt scheint er durch die ihm damit - implizit oder explizit formuliert - entgegengebrachten Gefühle zu sein. Und nun, nach langer Vorrede endlich, bringt er seinen Dank zum Ausdruck: Indes, Mauthner dankt, ganz konsequent, an dieser Stelle nicht für die Glückwünsche und Aufmerksamkeiten, für die Würdigung und Anerkennung seines Werkes im allgemeinen; er sagt vielmehr - nun doch in „feierlichen" Worten - Dank für das Geschenk, dieses „Dankgefühl" erlebt haben zu dürfen - und nur d a f ü r und nur d e n j e n i g e n , die ihm eben dies ge27
Mauthners tatsächliche Einstellung machen u.a. folgende Worte vom 20.1.1920 deutlich: „Die Glückwünsche tröpfeln immer noch weiter, banal, ergreifend, dumm, wies kommt." (Briefe an Auguste Hauschner 1929, S. 215)
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schenkt haben, wobei Mauthner mit der Anhäufung der Wörter Dank und Dankgefühl sein Hauptanliegen hervorhebt. Aber es bleibt nicht nur beim Dank allein; aus diesem folgt - in unmittelbarem Anschluß - ein Versprechen: so lange weiterzuarbeiten, wie es ihm die eigene Kraft ermöglicht; damit greift Mauthner einen Wunsch auf, der sicherlich nicht nur im Gratulationsschreiben der „Gesellschaft der Zwanglosen" an ihn herangetragen worden sein mag, das nämlich mit den Worten endet: Sie sind über Wünsche erhaben, aber einen dürfen wir für Sie und mit Ihnen hegen, daß es Ihnen noch lange vergönnt sein möchte, in Frische und Rüstigkeit Ihren hohen Zielen nachzustreben. Denn das kommt der ganzen Welt zu Gute. 28
Zu Beginn des Absatzes schien Mauthner die im allgemeinen üblichen Ehrenbezeugungen gegenüber ,,Jubilare[n] oder eben Verstorbenefn]" in eins setzen zu wollen, wozu ihn die Lektüre so manchen Aufsatzes, der anläßlich seines Siebzigsten erschienen war, verleitet haben mag (vgl. beispielsweise: [unbek.] 1919, S. 2.; Engel 1919; Klaar 1919). Der Annahme, er könne sich „aufs Altenteil" zurückgezogen haben, begegnet er dagegen an dieser Stelle mit unmißverständlich deutlichen Worten. Wie zuvor sein Dank, so gilt auch sein Versprechen dabei einem genau eingegrenzten Kreis von Personen: seinen „besten Lesern". Im Vergleich zum flüssig-ironischen Plauderton des vorangegangenen Absatzes, wirkt Mauthners Sprachduktus im mittleren Teil sonderbar ungelenk und gezwungen. Der Einsatz von unmittelbar aufeinander folgenden Infinitivgefügen (anwachsen zu lassen, das zu erleben) ebenso wie von im allgemeinen nur bestimmten Fachtexten bzw. der weniger geplanten mündlichen Kommunikation vorbehaltenen, unter ästhetischen Gesichtspunkten dagegen eher als problematisch einzuschätzenden rekurrierenden bzw. partiell rekurrierenden Mitteln der Textverknüpfung (vgl. dazu Duden 1998, S. 851) (Dankgefühl - Dankgefühl, erleben - Erlebnis) oder auch von Funktionsverbgefügen (in Abzug bringen, das Versprechen geben) führt zu einer immensen Verdichtung. Sie läßt darauf schließen, daß hier der Sprachstilist Mauthner hinter dem Sprachzweifler Mauthner zurücktreten mußte. Es scheint geradezu, als habe ihn der Mut verlassen, als es darum ging, seinen Gefühlen öffentlich Ausdruck zu verleihen. Sein „Sichwinden" verwundert indes nicht: War Mauthner doch schon knapp dreißig Jahre zuvor „seit mehr als 20 Jahren von der Unfähigkeit überzeugt [gewesen], mit Worten Stimmungen auszudrücken", und hatte „gern da [geschwiegen], wo andere Menschen zu sprechen [anfingen]." Und weiter heißt es in seinem Brief an Auguste Hauschner (1929, S. 30f.): „Und gar Briefe! Die menschliche Sprache
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Gratulationsschreiben der „Gesellschaft der Zwanglosen" (in: Henne/Kaiser 1999, S. 39).
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wankt und wackelt wie Flammerie und geschrieben ist sie auch nicht mehr als gefrorener Flammerie." Im vorletzten Absatz seines Schreibens nun wendet Mauthner sich dem in einigen Briefen und Aufsätzen geäußerten Bedauern darüber zu, daß seinen sprachphilosophischen Beiträgen - Mauthner subsumiert an dieser Stelle seine sprachkritischen und -philosophischen Schriften unter die Bezeichnung „Beiträge zu einer Philosophie der Sprache" - „nicht die ihnen gebührende Anerkennung" zuteil geworden sei. So hatte beispielsweise Fritz Engel (1919, S. 1) im Berliner Tageblatt, bezugnehmend auf Mauthners Beiträge zu einer Kritik der Sprache, die rhetorische Frage gestellt: „Eine deutsche Universität hat doch, zum mindesten nach der Revolution, dem Herrn Verfasser den Doktorhut dafür verliehen?", um gleich selber zu antworten: „Seltsam. Von nirgendher vernehme ich ein Ja." Und auch Theodor Kappstein (1919, S. 9) spricht von Mauthner als dem Mann, „den kein Kultusministerium mit dem Professortitel ausgezeichnet, den keine Fakultät mit dem Doktorhut geschmückt hat", fügt allerdings hinzu, daß dieser „solcher Nachhilfe von aussen wahrlich nicht" bedürfe. Mauthners zurückweisende Stellungnahme zu diesen und ähnlichen Äußerungen gerät, im Unterschied zu seinen gewundenen Dankesworten im vorangegangenen Abschnitt, geradezu nüchtern-knapp in ihrer parataktischen Aneinanderreihung, deren Sätze und Wörter zudem auch noch durch drucktechnisch nicht erforderliche Spatien hervorgehoben scheinen: Nicht nur, daß er „dieses Bedauern nicht recht mitempfinden" kann, Mauthner stellt auch unmißverständlich klar, daß er „niemals etwas erwartet" habe, womit er sich offensichtlich auf diese ihm versagt gebliebenen, von Engel und Kappstein vermißten, akademischen Ehren bezieht. Bedenkt man allerdings, wie schmerzlich Mauthner nach dem erstmaligen Erscheinen seiner Beiträge zu einer Kritik der Sprache insbesondere unter dem „Totschweigesystem der meisten Fachleute" gelitten hatte (vgl. dazu seinen Brief an Ernst Mach vom 14.2.1902; in: Haller/Stadler 1988, S. 237)29, und wie wenig ihn der zwar nicht reißende, aber doch stetige Absatz
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Mauthner hatte auf Machs Anerkennung großen Wert gelegt, wie u.a. aus seinem Brief vom 4.12.1901 hervorgeht, in dem er Mach über die Wirkung seiner „Beiträge" unterrichtet: „Sonst zieht mein Buch sehr langsam seine Kreise. Einige junge Himmelsstürmer haben es mit Begeisterung aufgenommen, einige Professoren (Jena, München) sind brieflich sehr warm geworden. Die eigentlich Zünftigen machen mir ethisch und ästhetisch unbändige Komplimente und bekreuzen sich vor dem Grundgedanken. Gerade in Wien ist das Buch besonders niedrig behandelt worden, ganz preßbengelhaft der erste Band in der Neuen Freien Presse. Hoffentlich muß ich nicht hinzufügen, daß ich mit dieser Klage keine Nebenabsicht verbinde. Ihre b r i e f l i c h e Ane r k e n n u n g i s t mir v o n r e i n e r e m W e r t e [Hervorhebung durch Sperrung von der Verf.] als bedrucktes Papier in diesem Markte der Eitelkeit so leicht werden könnte." (Brief an Ernst Mach vom 14.2.1902; in: Haller/Stadler 1988, S. 234f.)
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dieses umfangreichen Werkes ebenso wie die große Anzahl von Rezensionen, die auf die erste Auflage folgten, für die seines Erachtens nicht nur enttäuschend geringe, sondern darüber hinaus im wesentlichen auch an den „Grundgedanken seines Werkes" vorbeigegangene Resonanz aus akademischen Kreisen hatte entschädigen können (Mauthner 1923, Bd. I, S. VIII; vgl. dazu auch Kühn 1975, S. 21 Iff.), dann mögen diese so abgeklärt klingenden Worte Mauthners zumindest auf diejenigen Leser, die sich an seine diesbezügliche Enttäuschung erinnerten, zunächst irritierend gewirkt haben. Dies gilt insbesondere, da Mauthner seine Stellungnahme insofern präzisiert, als er zwischen seiner „Person", für die er „niemals etwas erwartet" haben will, und seinem ,,Gedanke[n]", und zwar dem ,,Gedanke[n] einer Kritik der Sprache", im folgenden differenziert. Letzterer kann nun - und hier begegnet der Leser dem über die Jahre „älter und heiterer" gewordenen Mauthner (1923, Bd. II, Vorwort) - nicht nur „warten", der Beobachtung seiner „langs a m e ^ ] Wirkung" weist Mauthner, ganz bescheiden, einen höheren Stellenwert zu, sie ist ihm „reichlicherer] Lohn", als die von ihm vielleicht insgeheim erhofften, gleichzeitig aber auch verachteten Würden einer akademischen Zunft, die seine Geduld auf eine so harte Probe gestellt hatte. Daß er diese Wirkung schon einige Jahre zuvor hatte beobachten können, läßt sich dem Vorwort der zweiten Auflage des zweiten Bandes seiner Beiträge entnehmen, in dem er, nicht ohne eine gewisse Eitelkeit, feststellt: [...] ich habe die zweite Auflage herausgeben dürfen und habe es erlebt, daß die philosophischen und philologischen Fachmänner mein Buch gern benützen. Sehr viele Fachmänner haben die sprachkritischen Ideen meines Werkes an Kindes Statt angenommen; und wenn einige von ihnen bei dieser Adoptierung den Entschluß gefaßt haben, den Vater dieser Ideen nicht zu kennen, so ist das schlimmer für sie als für mich. Es ist eine der feinsten Freuden, zu beobachten, wie die eigenen Gedanken in fremden und wissenschaftlich guten Köpfen weiterarbeiten. (Edb.) 30
Angekündigt worden war Mauthner diese „langsame Wirkung" seiner Gedanken indes schon kurz nach dem Erscheinen des ersten Bandes der Beiträge von dem von ihm so verehrten Ernst Mach, der ihm auf seine diesbezügliche Klage hin begütigend geantwortet hatte: Ihr Werk wird langsam aber sicher seine Wirkung thun. Die Zunftgelehrten sind etwas schwerfällige Gewohnheitsmenschen. Auf 10-20 Jahre Ueberlegung kommt es ihnen nicht gerade an. Manches, was ein Mensch von lebhaftem Temperament für Bosheit halten möchte, ist grossentheils auf Rechnung dieser Schwerfälligkeit zu setzen. (An Mauthner, 24.12.1901; in: Haller/ Stadler 1988, S. 235)
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Mauthner zitiert diese Worte im Vorwort des dritten Bandes. Dort betont er zudem die Erfolglosigkeit des „Totschweigesystems", dem er sich von Gelehrtenseite ausgesetzt fühlte (vgl. dazu Mauthner 1923, Bd. III, S. V).
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Nicht auf eine l a n g s a m e , sondern vielmehr auch auf eine l a n g a n d a u ernde Wirkung von Mauthners Sprachkritik mag dagegen Christian Morgenstern gesetzt haben, als er 1907, wahrscheinlich zu Mauthners 58. Geburtstag, für das Jahr 2407 einen „Fritzmauthner-Tag" prognostizierte (vgl. dazu Kühn 1975, S. 41f.). (Der fand dann aber doch schon 1997 in Trier und, anläßlich des Mauthner-Jubiläums, 1999 in Braunschweig statt.) Mauthners Danksagung endet schließlich, wie sie begonnen hat: Einer die Nachkriegssituation kalkulierenden, ritualisierten Wendung ordnet Mauthner, in einem Gestus der Bescheidenheit, seine Person in Form des Personalpronomens mir nach und hebt darüber hinaus den defizitären Charakter seiner Dankesworte hervor. Hier meldet sich der Skeptiker ein letztes Mal zu Wort: Die Tiefe seines Dankgefühls können „diese armen Worte" nicht ausloten; sie kann - seines Erachtens - durch Sprache nicht zum Ausdruck gebracht werden.
5. Suum cuique Wer dem Parodisten und Theaterkritiker, dem Schriftsteller und Rezensenten, dem Sprachkritiker und Philosophen Fritz Mauthner zum Siebzigsten gratulieren und ihn ehren wollte, mußte sich vorsehen. Denn in seinen „Worten des Dankes" gebärdet sich Mauthner als der unbequeme Zeitgenosse, der „kantige Charakter", als der er geschätzt wie gefürchtet war (vgl. Engel 1919, S. 1). Mit spöttischer Ironie begegnet er dem Inventar an abgedroschenen Phrasen und leeren Floskeln, dessen sich so mancher Zeitgenosse sei es aus Gedankenlosigkeit, sei es aus Gleichgültigkeit - sowohl Jubilaren als auch „eben Verstorbenen" gegenüber gleichermaßen zu bedienen pflegt; mit nüchterner Entschiedenheit verwahrt er sich gegen das Bedauern über die ihm versagt gebliebene „gebührende Anerkennung"; seltsam geschraubt, aber dennoch mit kaum verhohlener Rührung dankt er dagegen für das Gefühl, das die echten, von herzlicher Zuneigung und freundschaftlicher Verbundenheit zeugenden Glückwünsche bei ihm auszulösen vermochten. Die Danksagung Fritz Mauthners, so r e i c h an offenen wie verdeckten Anspielungen, nähert sich einer öffentlichen Stellungnahme, ist indes aber keinesfalls arm an „Worten eines innigen Dankes" - mögen diese auch den strengen Ansprüchen des Sprachkritikers nicht genügt haben.
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Danksagung
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Christine
Kaiser
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Hans Peter Althaus
(Trier)
„Schleeschaak" Ein Tenor im Visier von Karl Kraus
1. 2. 3. 4. 5. 6.
Der Ruf nach Schleeschaak Singschaupieler und Selbstdarsteller Slezak in der Fackel Kraus' Attacken auf Liebstöckl und Slezak Jargon, Jüdeln und Gemauschel Sprachkritik und Gesellschaftskritik
1. Der Ruf nach
Schleeschaak
Jeden der fünf Akte seines Dramas Die letzten Tage der Menschheit (S 10) läßt Karl Kraus mit einer Szene an der Kreuzung der Wiener Ringstraße mit der Kärntner Straße beginnen. In Extraausgaben der Tagespresse und in flüchtigen Kommentaren der vorüberwogenden Menge erscheinen die Kriegsereignisse wie in einem Zerrspiegel, bis aus den Reihen der Verwundeten, Verstümmelten und Gefallenen kein Laut mehr zu hören ist (ebd., S. 553f.). In die Stille dieses Totentanzes brechen plötzlich von der Oper her donnernde Hochrufe auf „Schleeschaak" ein. Dann fällt eine Tür ins Schloß, und es wird wieder ganz still. Kraus hat diese erste Szene des fünften Aktes mit extremen Kontrasten ausgestattet. Vor dem Spalier der Kriegsopfer geht das Leben weiter, als wenn nichts gewesen wäre. Nach dem Ende einer Aufführung in der Hofoper, dem Treffpunkt der besseren Gesellschaft, wartet das Publikum am Bühnenausgang auf sein Idol und feiert es bei seinem Erscheinen, bis der Wagenschlag geschlossen wird. Die makabre Szene führt drastisch vor Augen, was Karl Kraus schon im Januar 1919 in der Fackel beklagt hatte: „die völlige Negation auch jener letzten Menschlichkeit, die eine Untat verantworten könnte" (F 501, S. 41). 1 Opfern des Krieges Hilfsgüter vorzuenthalten, damit Operettentheater wieder eröffnet werden können, verstand Kraus als Zeichen einer Gesinnung, die „über die wahren Sachverhalte hinwegzutäuschen" bestrebt sei (ebd.). „Das Straßenbild dieser Menschheit", die jubelt, während „es Österreich nicht mehr gibt", empfand er als Fortset-
Parallelstellen zu einzelnen Szenen und Motiven hat Kurt Krolop gesammelt (vgl. Kraus 1978).
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zung der Kriegsbilder. Für diesen Tanz auf dem Vulkan wählte Kraus ein Symbol: „Schleeschaak" (S 10, S. 554).
2. Singschaupieler und Selbstdarsteller Mit dem Ruf nach Schleeschaak war unzweifelhaft der Tenor Leo Slezak gemeint. 2 Als Kraus die Szene veröffentlichte, stand Slezak auf dem Höhepunkt seiner glanzvollen Karriere und galt als Inbegriff eines modernen Singschauspielers. 3 Für Kraus wurde Slezak aber nicht nur deshalb zum Symbol, weil ein Tenor ihn „noch nie an einen Zusammenhang mit Kunst [hatte] denken lassen" (F 679, S. 25), sondern weil Slezak alle landläufigen Vorurteile gegen den „Zufall eines besonders dotierten Kehlkopfs" nachdrücklich bestätigte. 4 Dabei war der kometenhafte Aufstieg des aus kleinen Verhältnissen stammenden Künstlers ein modernes Märchen. 5 Eindrücke von seinen ersten Auftritten in Wien hat Alma Mahler-Werfel (1997, S. 630) in ihrem Jugendtagebuch festgehalten. Slezak wurde einer der wichtig-
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So auch Krolop im Register zu Kraus' Die letzten Tage der Menschheit (Kraus 1978, S. 385) unter dem Stichwort Slezak, Leo. Slezak wird gewürdigt von Jürgen Resting (1986, 1, S. 270-275). Vgl. auch Klinenberger (1910), Leitenberger/Ring (1948), Feilitzsch (1994; 1996). Slezaks Stimme wird als außerordentlich gerühmt. Er soll seine Rollen mit „einer geradezu fieberhaften Intensität" gesungen und seine Vortragskunst mit „triumphalen Spitzentönen" gekrönt haben (Resting 1986, 1, S. 272f.). Sein Repertoire war weitgespannt und umfaßte zahlreiche Partien des lyrischdramatischen Tenorfachs von Mozart bis Wagner, von Verdi bis zu den französischen Komponisten. Später übernahm er auch Operettenpartien wie den Alfred in der Fledermaus und den Ritter Blaubart von Offenbach. Er konzertierte mit Kunstliedern von Schubert bis Richard Strauss und wurde am Abend seines langen Berufsweges als Filmschauspieler und mit volkstümlichen Liedern weithin bekannt. Resting (1986, 1, S. 270f.) spricht davon, der Tenor Slezak sei das Produkt des Satirikers Slezak gewesen. „Seine Witzchen" hätten „den Typus des bornierten Tenors lächerlich gemacht, zugleich aber das Cliché von der notorischen Dummheit des Tenors perpetuiert." Aus diesem Grunde belegt ihn Resting mit den Epitheta „Virtuose und Clown". Slezak, geb. am 18.8.1873 in Mährisch Schönberg, gest. am 1.6.1946 in Rottach-Egern, ist in Brünn aufgewachsen. Nach einer Schlosserlehre kam er zufällig als Choreleve und Statist ans Stadttheater und fiel dabei einem Sänger auf, der ihn ermunterte, seine Stimme ausbilden zu lassen. Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, trat er ins Militär ein. Nach kurzer Gesangsausbildung debütierte er mit dreiundzwanzig Jahren als Lohengrin in Brünn. Über Berlin und Breslau kam er 1901 an die k.k. Hofoper in Wien, hatte aber schon zuvor in Covent Garden als Siegfried gastiert. Er war Mitglied der Wiener Oper bis 1926.
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sten Sänger in der Ära des Hofoperndirektors Gustav Mahler (Kesting 1986, 1, S. 251-282). In welchem Maße Opernsänger und ganz besonders Tenore um 1900 in Wien vom Publikum verehrt wurden, macht die Schwärmerei der jugendlichen Alma Schindler für Slezaks Konkurrenten Erik Schmedes deutlich (Mahler-Werfel 1997, S. 445ff„ 480ff. u. passim). Slezak nutzte das Interesse an seiner Person ganz konsequent und bot, wonach ein an Intimitäten interessiertes Publikum verlangt, ohne sich der Öffentlichkeit jedoch ganz auszuliefern. Nach heutigen Maßstäben war Slezak ein Medienstar, der seinesgleichen suchte. Mit seinem Stammhaus, der Wiener Hofoper, besaß er für seine künstlerischen Ambitionen ein erstklassiges Podium. Dennoch begann er schon früh, seine Möglichkeiten als Opernsänger im In- und Ausland durch Gastspiele zu erweitern. Konzerttourneen, bei denen er anspruchsvolle und leicht verdauliche Kost vortrug, führten ihn ins europäische Ausland und nach Nordamerika. Der öffentlichen Neugier kam Slezak ein Stück weit entgegen und war auch für Journalisten ein dankbares Objekt. So gewährte er bereitwillig Einblick in sein Familienleben und ließ die Leserschaft an den Freuden und Leiden eines singenden Familienvaters teilnehmen (vgl. Slezak in F 381, S. 12; Kraus in F 384, S. 38f.). Er gab Antwort auf journalistische Anfragen und schrieb kleine Beiträge für die Zeitung.6 Auf diese Weise hatte er ein Medium, wenn er sich mit dem Mittel eines offenen Briefes zur Wehr setzen wollte (Slezak 1927, S. 69-80). Slezaks Medienpräsenz nahm Kraus mit den Versen „Intimes, Klatsch und Theaterspott / und Sport und Welt und Skandal / Gespräche mit Slezak und mit Gott / für das Neue Wiener Journal" a u f s Korn (F 622, S. 197). Daß Slezak in späteren Jahren in der Operette ein neues Betätigungsfeld fand und schließlich im Tonfilm als singender Fiaker zur cineastischen Konfektionsware beitrug, zeigt ihn als Virtuosen der künstlerischen Medien. Dazu gehörten auch Gastspiele im Varieté, die jedoch Ausnahmen bleiben sollten (ebd.). Dagegen nutzte Slezak die noch neue Schallplatte und später den Rundfunk mit einer für die damalige Zeit ungewöhnlichen Intensität. Davon zeugen vierhundert Schallplattenaufnahmen (Kesting 1986, 1, S. 271) und Radioübertragungen, bei denen Slezak mit Klavierliedern und als Conferencier auftrat. 7 Schließlich gewann er sich mit autobiographisch gefärbten Plaudereien ein Lesepublikum, das ihm von 1922 bis in die neunziger Jahre treu blieb und seinen vier Büchern Meine sämtlichen Werke (1922), Der Wortbruch (1927), Rückfall (1940), Mein Lebensmärchen
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Einige seiner Antworten auf Rundfragen hat Slezak (1940, S. 87-101) gesammelt. Ausschnitte aus dem von Slezak gesprochenen Text einer Sendung hat Kraus (F 679, S. 20f.) mit den Worten festgehalten, daß sie „hier auch späteren Geschlechtern überliefert" würden. Vgl. dazu die beiden Radio überschriebenen Kapitel (Slezak 1940, S. 69-86; 1948, S. 176-187).
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(1948) und der postumen Ausgabe seiner Familienbriefe (1966) zu Auflagen verholfen hat, von denen andere Autoren nur träumen können. 8 Ob Slezak wirklich so naiv war, wie er sich in der Öffentlichkeit gab, muß bezweifelt werden. Slezaks Humor, vor dem nach den Worten von Karl Kraus „der Sau grausen würde" (F 679, S. 19), ließ ihn in seinen Büchern bisweilen auf das unterste Niveau damaliger Berufshumoristen geraten. Er will witzig sein, wirkt aber bestenfalls witzelnd wie in den folgenden Bemerkungen aus dem Kapitel „Der gute Ton in allen Lebenslagen", bei denen es um Regeln im Verhalten gegenüber einer Tischdame geht: „Alle jüdischen Witze, die du auf Lager hast, mußt du ihr erzählen, aber mit der Pointe so lange warten, bis sie geschluckt hat, weil sie sonst leicht erstickt und ein Todesfall immer einen gewissen Mißton in die Gesellschaft bringt" (Slezak 1927, S. 159). Gereimte Passagen ähneln oft jenen Elaboraten, die von ehrbaren Dilettanten in der Karnevalsbütt vorgetragen werden. 9 Ein Beispiel aus der späten Autobiographie Mein Lebensmärchen möge zur Illustration genügen: „Aus dem Buch erfährst du alles, / Liest von Seligkeit und Dalles, / Fährst nach Ländern überm Meer, / Kurz, du bildest dich gar sehr. / Ist dir ganz erheblich mies, / Nimm mein Buch zur Hand und lies" (Slezak 1948, S. 193). Daß der Zwang, dem Bild vom witzigen Künstler jederzeit entsprechen zu müssen, 10 auch jenseits der Bücher die tollsten Blüten trieb, 8
Von dem ersten Buch Meine sämtlichen Werke wurde 1953 das 276.-287. Tsd. ausgeliefert. Die Taschenbuchausgabe (= rororo 329) erreichte 1980 das 169.-172. Tsd. Das zweite Buch Der Wortbruch wurde mit einer Startauflage von 25 Tsd. veröffentlicht. Im Taschenbuch (= rororo 330) erreichte das Werk 1978 das 144.-147. Tsd. (1978). Diese beiden Bücher wurden 1934 in einem Band zusammengefaßt. Davon war 1949 das 256.-275. Tsd. gedruckt. Das dritte Buch Riickfall erreichte bis 1945 das 87.-96. Tsd, eine Neuausgabe 1952 das 61.-69. Tsd. und das Taschenbuch (= rororo 501) 1979 das 96.-98. Tsd. Die aus dem Nachlaß veröffentlichte Autobiographie Mein Lebensmärchen lag 1962 im 39.-42. Tsd. vor. Mit einer Neuausgabe stieg die Gesamtauflage bis 1971 auf 145 Tsd., die Neuausgabe allein bis 1988 auf 71 Tsd. Das Buch wurde mehrfach als Taschenbuch veröffentlicht. Als dtv-Band erreichte es 1976 das 76.-81. Tsd. und 1988 die 9. Aufl. Als Großdruckausgabe (= dtv 2511) wurde 1984 das 19.-24. Tsd. gedruckt. Die Nachlaßveröffentlichung der Familienbriefe wurde unter dem Titel Mein lieber Bub. Briefe eines besorgten Vaters bis 1981 im 31. Tsd. ausgeliefert. Eine Zusammenfassung der drei zu Lebzeiten veröffentlichten Bücher erschien 1989 unter dem Titel Lachen mit Slezak als Taschenbuch (= rororo 5835), von dem 1991 das 19.22. Tsd. nötig wurde. Als Übernahme (Rottach-Egern 1995) war dieser Band im Jahr 2000 noch lieferbar. Außerdem gab es Ausgaben in Buchgemeinschaften.
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Eine Sammlung enthält das Kapitel Von der Muse geküßt (Slezak 1948, S. 188-194); andere Stücke ebd. (S. 177 u. 199f.). Slezak berichtet (1966, S. 269): „Meine richtige und ganz große Popularität bekam ich erst durch den Film, weil ja in jedem Dorf Filme gezeigt werden, und es war so lustig, wie ich einmal in Berlin durch die Markthallen mit der
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hat Karl Kraus mit dem Protokoll von Slezaks Zwischenmoderation beim Vortrag von Kunstliedern im Rundfunk dokumentiert: Da ich annehme, daß Sie meine verehrten Drahtlosen - im Sinne des RadioDrahtlos - das soll keine versteckte Anspielung auf unseren Dalles sein - da ich also annehme, daß Sie von meinem Gesänge restlos begeistert sind, wage ich es - selbst auf die Gefahr hin, morgen erheblich beleidigende Briefe zu bekommen, Sie noch mit einem Straußliede Ich trage meine Minne, zu erschüttern. (F 679, S. 20).
Das von den Büchern vorgegebene Humorformat wurde von der Buchwerbung nochmals verkleinert. Kraus hat darum den Text einer Annonce im Berliner Tageblatt ungerührt abgedruckt: „Leiden Sie an Verdauungsbeschwerden? Dann lesen Sie die Bücher von Leo Slezak: .Meine sämtlichen Werke' und ,Der Wortbruch'. Sie werden lachen und das wird Ihrer Verdauung gut tun" (F 811, S. 67). Dabei verfügte Slezak über eine gute Beobachtungsgabe, Sinn für Situationskomik, große Schlagfertigkeit, eine gehörige Portion Selbstironie und einen ungewöhnlichen Humor. 1 1 Er war von heiterem, in späteren Jahren leicht melancholischem Wesen, rührend um die Familie besorgt, Freunden gegenüber aufgeschlossen, liebenswürdig und mit Mutterwitz begabt (vgl. Slezak 1948). Intensiver als andere nahm er Personen und Zungenschläge wahr (vgl. Slezak 1922, S. 143f„ 169; 1927, S. 276). Er war sprachbegabt und für fremde Zungen empfänglich, sprach das Tschechische wie das Deutsche, sang italienische Partien in der Originalsprache und wußte sich bis ins hohe Alter auf Englisch zu verständigen (vgl. Slezak 1922, S. 24, 55, 64; 1948, S. 142; 1966, S. 113). 12 Vor allem aber richtete er sein Augenmerk auf Mundarten, die er in seinen Büchern mit ihren komischsten Seiten hervortreten Heß (vgl. Slezak 1922, S. 166, 169, 179; 1927, S. 21, 44, 77, 224, 227; 1940, S. 179, 182; 1948, S. 11, 22, 33, 47, 77). Bei der Darstellung neigte er zur Übertreibung und war, da es ihm offenbar an schriftstellerischen Fähigkeiten und an stilistischen Möglichkeiten mangelte, kritischen Lesern schutzlos ausgeliefert. Ironie und Selbstironie, Wortwitz und hyperbolischer Ausdruck waren oft so dick aufgetragen, daß die Formulierung mißlang und den Autor der Lächerlichkeit preisgab. 1 3 Ein als Schriftsteller
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Marni zu einer Probe Gretels im Theater des Volkes (nebbich) fuhr, da schrien zwei Kistenschupfer auf: ,Ach Leo, mach man' Fez.' " (Slezak 1966, S. 269). Slezaks Bücher legen davon auf nahezu jeder Seite Zeugnis ab. Im Alter beurteilte Slezak seine Fremdsprachenkenntnisse durchaus distanziert: „Nun kommt noch ein geradezu verblüffend scheußliches Englisch dazu, das ich mit einer Chuzbe spreche, welches mir sicher große Anerkennung schafft" (Slezak 1966, S. 244). Besonders mißlungen sind manche Passagen in den Nachworten zu den frühen Büchern (vgl. Slezak 1922, S. 258ff.; 1927, S. 282f.).
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dilettierender Bühnenkünstler mit unzureichender sprachlicher Selbstkontrolle und offenbar auch ohne Hilfe eines erfahrenen Lektors mußte daher zwangsläufig ins Visier der Sprach- und Stilkritik geraten.
3. Slezak in der Fackel Kraus erwähnt den Namen Slezak erstmals Mitte November 1902 (F 121, S. 27). Über mehr als ein Jahrzehnt blieb der Hofopernstar in der Fackel nur eine Randerscheinung (vgl. dazu Öggs Personenregister zur Fackel [1981, S. 435]). Das änderte sich, als Slezak mit einem Brief aus den Ferien Publikumspflege betrieb und nur Banalitäten zu bieten hatte. Die Platitüden druckte Kraus im September 1913 unter der Überschrift „Die Sprache der Welt, in der die Pferde ausgespannt werden" in der Fackel nach (F 381, S. 12). Das ist ein vorausdeutender Hinweis auf die Szene, an deren Ende Kraus sich die wartende Menge unter Hochrufen auf Schleeschaak freiwillig ins Geschirr begeben lassen wird. Und noch ein anderes Thema wird in den Glossen angeschlagen: Slezaks Gebrauch der jüdischen Wörter (vgl. Althaus 2000b). Sie werden derart konzentriert verwendet, daß es Kraus auffällt und er seine Leserschaft mit einem Zitat darauf aufmerksam macht: „Liebster Doktor! Sie wollen ein Feuilleton von mir haben? Sozusagen mit .Schmonzes'? Etwas Erlebtes? Etwas Lustiges? Ja ahnen Sie denn nicht, wie ,mieß' mir ist?" (F 381, S. 12). Nachdem Kraus sein Augenmerk genauer auf Slezak gerichtet hatte, wurde er schon nach kurzer Zeit wieder fündig, diesmal bei einem Beitrag des Ehepaares Leo und Elsa Slezak für eine Sonderausgabe des Breslauer Generalanzeigers mit Erinnerungen an die frühen Jahre am Breslauer Theater. Für die unfreiwillige Komik ihrer Darstellung haben die beiden Verfasser im Gegensatz zu Kraus offenbar kein Gespür gehabt. Kraus druckte den ganzen Text wieder in der Fackel nach. Dabei hob er die stärksten Formulierungen im Druck eigens hervor: „Mein Greterl kam zur Welt - wie selig habe ich sie am Wickeltisch trocken gelegt und bin dann den Tannhäuser singen gegangen" und „Wie strahlend und stolz habe ich selbst den Kinderwagen die Schweidnitzerstraße hinuntergeschoben - ganz aufgebläht von dem Bewußtsein meiner Vaterwürde" (F 384, S. 37). Kraus' Kommentar beschränkte sich auf drei Zeilen: „Aber das ist ja zu zuckrig! Ja aber wer tommt denn da? Ganz aufgebläht! Ja wo ist denn das Tinderwagerl? Ja ist das aber sön, daß man in Österreich persönlichen Themen nicht ausweicht!" (ebd., S. 39). Mit dem Kleinkinderton der Erwachsenen hatte Kraus den Opernstar als kindisch und beschränkt abgetan. Als Slezak einige Wochen später den Abbruch einer Tournee durch Nordamerika mit der Sorge um die Gesundheit seiner in Wien zurückgelassenen Tochter begründete, obwohl der wahre Grund in finanziel-
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len Schwierigkeiten des Veranstalters zu suchen war, 14 nahm Kraus dies noch einmal mit demselben Stilmittel auf die Schippe:, J a wer kommt denn da zurück aus Amerika? Ja was hat denn den Tammersänger bewogen, die Tonzerte abzusagen und nach dem Zusammenbruch der Tanadian National Opera Tompany abzureisen?" (F 395, S. 12). Das Ergebnis dieser kritischen Beobachtungen zur Persönlichkeit und zum Verhalten eines gefeierten Opernsängers kondensierte Kraus schließlich in dem Ruf Schleeschaak, in den er die Menge zu Ende der ersten Szene des fünften Aktes seines Dramas Die letzten Tage der Menschheit ausbrechen läßt. Bis zu diesem Zeitpunkt war Slezak für Kraus in erster Linie ein im Rampenlicht stehender Bühnenkünstler, dessen kleine Schwächen er genüßlich in der Fackel aufspießte, dessen mitmenschliche Seiten er jedoch keineswegs unterschlug (F 399, S. 32). Das änderte sich erst nach dem Erscheinen von Slezaks erstem Buch Meine sämtlichen Werke im Jahr 1922. Nun war Slezak für Kraus nicht mehr allein ein Idol der Öffentlichkeit, das zum Symbol für den Zustand der Gesellschaft taugte, sondern ein Autor, an dem Kraus die Dämonie des Banalen entdecken zu können glaubte. Die Auseinandersetzung in den Jahren 1923 bis 1925, die mit dem Abdruck eines offenen Briefes von Slezak in der Fackel abgeschlossen wurde, macht den sprachkritischen Ansatz und die Stoßrichtung der Gesellschaftskritik von Kraus an einem signifikanten Fall deutlich. Danach taugte Slezak Kraus nur noch zu gelegentlichen Bemerkungen, die sich mehr auf dessen OffenbachVerständnis als auf das publizistische Wirken konzentrierten. 15 Am Ende machte sich Kraus in den Zeitstrophen über Slezak lustig (S 14, S. 285f.).
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Die Details erzählt Slezak (1922, S. 78-88) im Kapitel Pleite. Anfang August 1929 berichtet Kraus (F 811, S. 79) über Offenbach-Aufführungen, an denen Slezak mitgewirkt hat. Im Mai 1930 entrüstet er sich nach einer Aufführung des Blaubart über „die Entehrung des Werkes durch eine von berlinischem Reißertum und neuwienerischem Dilettantismus ausgerüstete Truppe, deren Treiben der Vortragende schaudernd mitangesehen hat" und konstatiert: „Herrn Slezaks Humor war zum Glück nicht vorhanden" (F 834, S. 21).
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4. Kraus' Attacken auf Liebstöckl und Slezak Wo sich Slezak Blößen geben und am Ende Kraus ins Messer laufen würde, war 1913 schon abzusehen. Es dauerte aber noch einmal über ein Jahrzehnt, ehe sich Kraus genauer mit der Art, wie Slezak mit der Sprache umging, auseinandersetzte. Diesmal ging es um mehr als um Trivialitäten aus dem Leben eines Bühnenkünstlers oder stilistische Albernheiten. So wie Robert Neumann Literaturwerke unterhalb eines gewissen Niveaus nicht mehr parodierte, sondern nur noch zitierte (Neumann 1962, S. 551-563, bes. S. 559), brauchte Kraus einzelne Äußerungen von Slezak nur unkommentiert abzudrucken, um den Urheber bloßzustellen. Mit dem Phänomen, das Kraus nun kritisierte, war das jedoch anders. Hier ging es nicht um das Sprachmittel an sich, sondern um seinen Gebrauch. Es war dasselbe Mittel, das auch Kraus immer wieder verwendete, doch unterstellte Kraus Slezak eine völlig andere Intention. Mit der aber mußte er sich gründlich auseinandersetzen. Der Ausgangspunkt für den polemischen Angriff im Jahr 1923 ( (F 622, 5. 57-64) war eine Eloge des Journalisten Rudolf Holzer16 auf den Wiener Musik- und Theaterkritiker Hans Liebstöckl,17 den Kraus als einen seiner „Lieblinge" betrachtete, die er nur anzuschauen brauche, um sie zur Satire werden zu lassen (F 632, S. 88). Mit Liebstöckl hatte sich Kraus bereits seit fast einem Vierteljahrhundert auseinandergesetzt. Im Januar 1900 nannte er ihn einen „gesinnungstüchtigen Mann", der „in liberalen, antisemitischen, regierungsfeindlichen, oppositionellen, zionistischen, autonomistischen, centralistischen, jüdisch- und deutschnationalen Blättern" schreiben könne und sich als Musikkritiker „öfter schon gleichzeitig in dem einen Blatt gegen, in dem anderen für Mahler ausgesprochen" habe (F 29, S. 29). Der Vorwurf, sein Mäntelchen nach dem Wind zu hängen und für Geld jede gewünschte Meinung zu vertreten, wog schwer. Kraus erneuerte ihn beiläufig, als er Liebstöckl 1912 attestierte, „seltsam aus treudeutscher Gesinnung und einem beweglichen Geiste zusammengesetzt" und „in allen seinen 16
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Österreichischer Journalist und Schriftsteller, geb. am 28.7.1875 in Wien, gest. am 17.7.1965 in Wien (vgl. Ögg 1981, S. 202). Österreichischer Journalist, geb. am 26.2.1872 in Wien, gest. am 24.4. 1934 in Wien, war als Leitartikler und Feuilletonist für folgende Zeitungen tätig: Neues Wiener Tagblatt, Extrablatt, Sonn- und Montagszeitung und die Stunde. Liebstöckl wurde 1925 Chefredakteur der Bühne, dann Herausgeber und Chefredakteur des Neuen Illustrierten Extrablattes und Redakteur der Sonn- und Montagszeitung (alle Angaben nach: Österreichisches Biographisches Lexikon 1972, S. 201); Ögg (1981, S. 278), nennt andere Lebensdaten, die aber offensichtlich falsch sind. In Buchform erschienen von Liebstöckl u.a.: Mittelmeerreise. Eindrücke von der Fahrt des österreichischen Flottenvereines auf der „Kaiser Franz Joseph 1. " der „Austro-Americana" vom 8.-22. V. 1912 (1913), Von Sonntag auf Montag. Ausgewählte Theaterfeuilletons (1923), Die Geheimwissenschaften im Lichte unserer Zeit (1932).
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Äußerungen [...] von der tragischen Sehnsucht des arischen Kritikers, auch einmal so jüdeln zu können wie die Herren Kollegen", bestimmt zu sein (F 595, S. 53). Daß Liebstöckl sich töricht und herablassend über Nestroy geäußert hatte, mußte Kraus, der sich für dessen Werk einsetzte, erbittern. Solche Äußerungen rechnete er immer wieder der Kategorie „Schmonzes" zu.18 Schon 1907 hatte er eine „Einführung in den Jargon" gegeben, weil er ironisch unterstellte, der Jargon werde in den Zeitungsredaktionen bald selbstverständlich sein (F 216, S. 27). Damit aber waren nicht nur jüdische Spracheigentümlichkeiten gemeint, sondern auch unredliche journalistische Haltung und nachlässiger Sprachgebrauch, wie sie Kraus an bestimmten Wiener Zeitungen und besonders bei jüdischen Journalisten immer wieder auffielen. Als gesinnungslos mußte ihm daher gelten, wer wie der „trotz vielfachen Anläufen zum Jargon unverkennbare Arier Liebstöckl" (F 613, S. 73) sich aus Geld- oder Geltungssucht einer Haltung und deren sprachlichen Ausdrucks bediente, ohne durch Herkunft und mangelnde Bildung dazu gezwungen zu sein. Es habe „nie eine größere Ödigkeit sich im Weltraum aus[ge]breitet, als wenn ein Christ zu jüdeln anfängt", bekannte Kraus 1924 auch im Blick auf Liebstöckl, dem er zugleich bescheinigte, eine Ausnahme zu sein (F 613, S. 73), jedoch als „Arier die fremde Mundart übertrieb[en]" zu haben (F 732, S. 40). So konnte Kraus Liebstöckls Verwendung jiddischer Wörter immer wieder ironisch in Erinnerung rufen. 1923 bemerkte er: „Ich glaube, man nennt das in diesen Kreisen - um sicher zu gehen, müßte ich Liebstöckl befragen - : sich benachezen" (F 613, S. 173). 1927 wies er bei dem Ausdruck Anerkennung ironisch darauf hin, daß Liebstöckl dafür Kowed19 sagen würde (F 751, S. 102). Daß Liebstöckls Stil von Kraus angemessen erfaßt worden war, wurde von Holzer eher unfreiwillig bestätigt, als er Liebstöckl bescheinigte, „ein
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Dazu einige Beispiele: In Die letzten Tage der Menschheit läßt Kraus den Hofrat Schwarz-Gelber sagen: „die ganze Schmonzeswirtschaft gefällt mir nicht" (S 10, S. 315). In Literatur oder Man wird doch da sehn, der Abrechnung mit Franz Werfel, legt Kraus dem Vater folgende Aussprüche in den Mund: „Auf Tachles kommt es an und nicht auf Schmonzes" (S 11, S. 19) und „Nur tuts mir leid, daß soviel Tüchtigkeit / auf Schmonzes wird verwandt anstatt auf Tachles" (ebd., S. 21). In dem Heft Warum die Fackel nicht erscheint heißt es mit Verweis auf die Satire Literatur: „Der Schmonzes sind genug gewechselt, / laßt mich auch endlich Tachles sehn" (F 890, S. 260), und in den Zeitstrophen formuliert Kraus noch einmal pressekritisch: „es schmusen Interviews die Schmöcke, / mit Schmonzes wird die Welt geschmückt" (S 14, S. 519). Kowed 'Ehre'; kowedschapper, kowedhascher 'einer, der großen Wert auf Ehrenposten und dgl. legt'; kowedschaute 'einer, der sich zum Narren macht, um Ehren zu bekommen'; bekowed, bekowetig 'würdig; ehrbar; anständig; wohlhabend; gemütlich'; schlau (oder schlo) bekowed 'unwürdig' (Weinberg 1969, S. 73).
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glühender Deutscher" zu sein (F 622, S. 60), der „die malerische und bildnerische Kraft des Jargons und des typisch-jüdischen Witzes als Ausdrucksmittel für seinen besonderen Leserkreis erkannt" habe (ebd., S. 61). Kraus entgegnete lakonisch, „der glühende Deutsche" Liebstöckl verdanke „dem Jargon sein Weiterkommen" (ebd., S. 60). In welchen Formen sich der Jargon darbot, zeigte Kraus an Holzers Laudatio auf: „Liebstöckl, der Zyniker, ist gottestreu, gottergeben - ein schwerblütiger deutscher Denker, ein Kenner der Wissenheiten um die Musik, ein deutscher Adam voll deutscher Sachlichkeit, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit. Jüdeln, Kasuistik, Dialektik, die ,Drehs' - alles Maske, Maske, Maske!!" (Ebd., S. 61) Das bezog sich offenbar auf die Feuilletons im allgemeinen, aber auch auf eine Betrachtung wie die über „Mystik des Alltags" (Liebstöckl 1923), die Kraus veranlaßte, Liebstöckl das Gütesiegel „der bekannteste Mystiker" aufzudrücken (F 697, S. 143). Er sei mit, jeder Art Mystik vertraut, von aller östlichen Weisheit erfüllt, in den Veden orientiert wie im Talmud" und lasse „kein Theaterfeuilleton ohne ein paar Schmonzes aus dem Sanskrit vorübergehen" (F 622, S. 59). Da Liebstöckl „beständig zwischen dem Heiligsten und dem Profansten ehin und eher" vermittele, schienen „diese Kontraste geradezu zu dem Eindruck zu verschmelzen, daß er Laotselachs erzählen wolle" (ebd., S. 59). Seinen Lesern starre, wenn Liebstöckl vor ihnen „den Schleier der Maja" hebe, „direkt Tat-twam-asi's Ponem entgegen" (ebd.). Wenn Kraus den journalistischen Stil Hans Liebstöckls hier mit dem Mittel der contradictio in adiecto in kühnen Wendungen wie „Schmonzes aus dem Sanskrit", der Kontamination von Laotse und Lozzelach20 in „Laotselachs" und „Tat-twam-asi's Ponem" mit Anklang an Asisponem21 bloß satirisch zuspitzte, war er bei einem anderen Vorwurf weniger zimperlich. Er betraf die Äußerung Liebstöckls, er habe, als der Schauspieler Heinrich Eisenbach im Sterben lag, die Aufgabe gehabt, ihn „vorzubereiten", aber „nicht an sein Ende geglaubt". Eisenbach sei gestorben, ohne daß er, Liebstöckl, „ihn .vorbereitet' hätte" (F 622, S. 59f.). Kraus stieß sich daran, daß Liebstöckl den Eindruck erweckte, er habe Eisenbach jenen Dienst erwiesen, „den dem sterbenden Katholiken der Priester erweist" (F 622, S. 59).22 Dies im Zusammenhang mit dem Sterben eines Schauspielers der jüdischen Possenbühne zu behaupten, war ebenso gedankenlos wie der nachlässige Um-
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Loizes, haloizes 'Anekdoten, Schwanke' (Bischoff 1901, S. 64). Als Lozelach bezeichnete Sammy Gronemann (1998, S. 24) im Jahr 1927 jüdische Witze, „die oft genug nur in zweifelhaftes Deutsch oder unmögliches Jüdisch transponierte Ladenhüter des Weltanekdotenantiquariats" darstellten. Friedrich Torberg (1976, S. 264) erinnert an den antisemitischen Gebrauch dieser Witze in Veröffentlichungen wie „100 pikfeine Lozelach vün Unsere Lajt". AssespSnem 'frecher Mensch', gebildet aus asses 'Frechheit' und ponem 'Gesicht' (vgl. Weinberg 1969, S. 49). Vgl. den armen Sünder zum tode vorbereiten (Grimm 1951, 12/11, Sp. 892).
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gang mit dem Bedeutungs- und Fügungspotential des Wortes vorbereiten. Um es ganz deutlich zu machen, führte Kraus den Lesern der Fackel den Unterschied eigens vor Augen: „Der Laie kapiert erst allmählich, daß Liebstöckl also doch nicht die Aufgabe hatte, Eisenbach [...] auf den Tod vorzubereiten, sondern nur die, seinen Tod oder vielmehr den Nachruf vorzubereiten" (F 622, S. 60). Kraus hielt Liebstöckl aber nicht nur diese Gedankenlosigkeit vor, sondern wies auch darauf hin, daß dieser das in den Nachrichtenredaktionen übliche „schauerliche Ritual", einen Menschen noch vor seinem Tode als Gestorbenen zu betrachten, wie ein Pathologe mit „Gründlichkeit obduziert" habe (ebd.). Auch dies hielt er für „eine Angelegenheit des Jargons", den er jedoch als den „entsetzlichsten" ansah (ebd.). Seitdem Kraus erlebt hatte, wie ein Journalist der todkranken Schauspielerin Annie Kalmar von einer Zeitungsnotiz, in der jener ihr baldiges Ableben vorhersagte, Abdruckbelege ans Krankenlager übersandte (Kalmar 1999, S. 58f.), ließ er bei solchen Angelegenheiten jede Rücksicht fallen. Diesem von Holzer gelobten Feuilletonisten Hans Liebstöckl stellte Kraus den „Kammersänger Slezak" an die Seite. Er jüdele bereits so, „als ob das bei einem geborenen Schlosser selbstverständlich wäre" (F 622, S. 60). Als Beweis für das Jüdeln genügte Kraus ein einziges Zitat: „Zerspringen Sie, wenn Sie mir derartige Schmonzes erzählen, ich kenne meine Brünner und Sie werden sie mir nicht vermiesen" (ebd., S. 61). Zusätzliche Belege konnte Kraus sich sparen, nachdem er schon 1913 die Verbindung von Schmonzes und mies in einem Brief von Slezak kommentarlos in der Fackel dokumentiert hatte (F 381, S. 12) und Slezak sich in seinen unlängst erschienenen autobiographischen Plaudereien (1922, S. 141) mit der Fähigkeit gebrüstet hatte, jüdeln zu können. Kraus bestätigte Slezak, er versäume „keine Gelegenheit, diese Kunstfertigkeit zu zeigen" (F 622, S. 60), verzichtete aber auf weitere Beispiele, die sich in Slezaks Buch leicht hätten finden lassen, 23 vielleicht in der Hoffnung, die kritischen Anmerkungen in der Fackel würden ihre Wirkung nicht verfehlen. Als er sich in dieser Erwartung getäuscht sah, nahm er sich Slezak 1925 als einen der , Jargonclowns" noch einmal gesondert vor (F 679, S. 19-26, das Zitat S. 23). Bei diesem zweiten Angriff zielte Kraus vor allem auf Slezak, doch war Liebstöckl stets mitgemeint. Wenn auch live gesprochene Moderationstexte im Rundfunk nicht auf die Goldwaage gelegt werden dürfen, ist heute doch unfaßbar, auf welchem Jahrmarktsniveau Slezak das Publikum auf Lieder von Schubert und Richard Strauss glaubte einstimmen zu müssen: Ich singe heute zum ersten Male Radio. [...] Mein Trost ist, falls es schief gehen sollte, daß mir niemand etwas an den Kopf werfen kann, daß der trauli-
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Slezaks erstes Buch lag 1923 im 20.-31. Tsd. vor und war interessierten Lesern daher leicht zugänglich.
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che Hörer wehrlos ist. [...] Da habe ich dann für alle Fälle das wonnige Gefühl, daß ich fabelhaft gesungen habe - außerdem kann ich mich auf falsche Luftströme, miese Atmosphäre oder geplatzte Radiowellen ausreden - eventuell auch auf eine unrichtige Behandlung Ihres Empfangsapparates. Ein Glücksfall - lateinisch - Mezzie! (F 679, S. 20) Äußerungen dieser Art unterliefen Slezak nicht nur bei seinen Moderationen, sondern auch dann, wenn er sich die Formulierung überlegen konnte w i e bei einem Brief, den er an Liebstöckl gerichtet hatte und der dann veröffentlicht wurde. Dort hieß es: Ich weiß jetzt, warum Du durchaus einen Artikel für die Bühne von mir willst. Weil mein literarischer Stern neben dem Deinen erbleichen und in ein belämmertes Nichts zusammenschrumpfen soll. Raffinierter Generalschriftleiter - wenn Du nicht mein Vorgesetzter wärest - und meine künstlerischen, phänomenalen, von Genialität durchsetzten, zum Himmel stinkenden, bravourösen Leistungen - zu beurteilen hättest - und ich nicht auf Deine Rachmone angewiesen wäre, würde ich Dich lieblos mit Unrat bewerten. So muß ich schweigend mein Geblödel Dir zu Füßen legen und Deinen Wünschen willfahren - als Schriftsteller neben Dir eine nebochantielle Erscheinung zu bilden. Als Abonnent Deines Bilderbuches kann ich nicht umhin, Dir meine Verehrung zu zollen. Mache Schabbes davon, Liebling! (F 679, S. 21f.) A n dem für Slezak typischen Geschwätz, das dennoch in solchem Zuschnitt in den Büchern nur selten zu finden ist, erregte Kraus nicht so sehr der infantile Gestus als der Gebrauch von jiddischen Ausdrücken. Slezak glaubte offenbar, mit einer derartigen Zurichtung seiner Texte den Erwartungen des Publikums gerecht zu werden. Den Brief Slezaks an Liebstöckl, in dem die Stilzüge in gesteigerter Form auftreten, nannte Kraus darum ironisch ein „Kabinettsstück" (F 679, S. 21). Er war in höchstem Maße decouvrierend. V o n den jiddischen Wörtern in Slezaks Mund hatte Kraus nur eine Handvoll mit Zitaten angeführt: mies und Schmonzes (F 381, S. 12), Schmonzes und vermiesen (F 6 2 2 , S. 61), Dalles, Mezzie, mies, nebochantiell, Rachmone und Schabbes (F 6 7 9 , S. 2 0 - 2 2 ) . Mies gab dabei eine Stimmungslage wieder, die für die bedrängte Lage vieler Juden charakteristisch w a r . 2 4 Schmonzes drückte, weil es als wertender Ausdruck die Leistung
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Mies war bis 1945 ein Wort mit zwei verschiedenen Gebrauchszonen. Als jüdischer Ausdruck diente es dazu, schwierige Lebenssituationen durch einen Rückgriff auf die Vätersprache zu bewältigen. Es wurde deshalb in unangenehmen, drückenden oder sogar als bedrohlich empfundenen Augenblicken von Juden häufig verwendet (Belege bei Althaus 2000b, S. 237-239). Die Lexikographen der deutschen Sprache erfaßten diesen jüdischen Sprachgebrauch nicht und sahen mies daher bis nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem als gaunersprachlich an. Slezak verwendete das Wort nicht nur in den von Kraus zitierten Äußerungen, sondern auch in seinen Büchern vorwiegend im jüdischen Sinn. Insgesamt kommt es dort sechsundzwanzigmal vor, davon
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einer anderen Person bezeichnete, eine Geringschätzung aus, die aus einer tatsächlichen oder bloß angemaßten Überlegenheit resultierte.25 Wohl nicht zuletzt deshalb ist Schmonzes ein Wort der Intellektuellen und des Journalismus geworden. 26 Dalles war der zutreffende Ausdruck für die Lebensumstände des jüdischen Proletariats, der gern auch ironisch verwendet wurde. 27 Kraus benutzte Dalles auch, um den Zustand der Gesellschaft zu bezeichnen (S 14, S. 284). „Das Reich hat zwar den Dalles, / doch hoff ich, 's wird schon gehn", ließ er Franz Joseph im Kaiserlied singen (S 9, S. 317; S 10, S. 520). Für Slezak war Dalles eine Situation, in der er sich den allgemeinen Schwierigkeiten zum Trotz noch immer sehr gut eingerichtet hatte (F 679, S. 20). Darum nannte er Dallas in Texas scherzhaft Dalles (Slezak 1922, S. 83), als seine Gage dort mit ungedeckten Schecks bezahlt worden war. Wenn sich Kraus über Slezaks Wortgebrauch mokierte, dann hielt er solchen Umgang mit Wörtern, die bei Juden für bittere Not gestanden hatten, wohl für leichtfertig. Slezak bestätigte das 1939, als er seinen Beauftragten für das Anwesen am Tegernsee als Dallesverwalter bezeichnete (1966, S. 141), und noch nach dem Zweiten Weltkrieg, als er seinen Lesern Seligkeit und Dalles versprach (1948, S. 193). 28 Auch mit Slezaks Benutzung des Wortes Mezzie konnte Kraus nicht zufrieden sein. 29 Insbesondere
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allein vierzehnmal in den Familienbriefen (1966), jedoch kein einziges Mal in dem 1940 erschienenen Band Rückfall. Zu den Floskeln des jüdischen Bürgertums gehörten Schmonzes Berjonzes, Schmonzes Barjonzes, Schmonzes Brienzes. Sie standen für 'Übertreibung, Einbildung, aufgebauschte Wichtigkeit', das Wort Schmonzes für 'Unsinn; närrische, unwichtige Geschichten oder Dinge; dumme Ausreden'. Die Etymologie ist ungeklärt (Nachweise und Belege für die Verwendung des Ausdrucks bei deutschen Juden bei Althaus 2000b, S. 236f.) Kraus berichtet, ein anerkannter Bühnenkünstler habe sich durch die Aufforderung „machen Sie noch ein paar Schmonzes" mißachtet gefühlt (F 679, S. 25), Slezak jedoch versehe freiwillig „Schubert mit Schmonzes" (ebd.). Die Verbreitung des Wortes wurde dadurch begünstigt, daß Relikte des Jüdischen im Bereich der Presse besonders kultiviert wurden. Robert Neumann unterschied bei den Erzeugnissen aus dem österreichischen Kriegspressequartier im Ersten Weltkrieg den offiziellen Kriegsbericht von der Frontstimmungs-Schmonzette. Georg Hermann benutzte den Ausdruck Schmonzetten für Texte, die sich zum Abdruck in Zeitungen eigneten (Nachweise und weitere Belege bei Althaus 2000b, S. 236f.). Jidd. dalles 'Armut' und weitere Ausdrücke bei Weinberg (1969, S. 61). Die Verse waren ursprünglich an Gäste und Patienten eines Sanatoriums gerichtet. Jidd. mezie 'Gelegenheitskauf', auch „verächtliche Bezeichnung für etwas Wertloses" (Weinberg 1969, S. 83). Dem jüdischen Wortgebrauch folgend, nannte Slezak (1922, S. 210) die Umstände beim Erwerb eines Käsestücks eine Mezie. 1939 bezeichnete er den Erwerb eines Lüsters zu einem Spottpreis als Metzie (1966, S. 136). Daß er zur selben Zeit eine Tankfüllung Benzin als Metzie bezeichnete (ebd., S. 145), entsprach wieder mehr der Bedeu-
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Slezaks Clownerien mit dem Ausdruck aus dem jüdischen Handelsleben Ein Glücksfall - lateinisch - Mezzie! (F 679, S. 20) - erregten seinen Unmut. Rachmone und Schabbes wirkten als Wörter, die dem religiösen Wortschatz entstammen, in der von Slezak fabrizierten Textumgebung besonders deplaziert. 30 Nebochantiell war hingegen ein Ausdruck, der als Ableitung von dem nahezu unübersetzbaren nebbich besonders den jüdischen Großstadtjargon repräsentierte.31
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tung des Wortes unter Juden. Bühnenjargon zeigte sich, als Slezak eine Benefizvorstellung zum Vorteil eines Sängers eine Mezzie allererster Ordnung nannte (1948, S. 30f.). Den Ausdruck bei der Nacherzählung einer Oper einzusetzen und zugleich die Übersetzung mitzuliefern - Wo ist da der Vorteil? Die Mezzie? (1927, S. 172) - entsprang dagegen Slezaks Humorkonzept, das wesentlich auf den Prinzipien des Stilbruchs basierte. Da er glaubte, einen guten Scherz gemacht zu haben, verwandte er die Formulierung später noch einmal: Wo ist da der Vorteil, die Mezzie? (1948, S. 162). Jidd. rachmones 'Mitleid, Erbarmen; auch Elend, erbärmlicher Zustand oder Person in solchem Zustand' (Weinberg 1969, S. 91); Schabbes 'Sabbat', ,„mach schabbes davon!' Ausruf der Geringschätzung: 'nun wenn schon! was kann ich damit anfangen!' (d.h. damit kann man die Sabbatbedürfnisse nicht bestreiten)" (ebd., S. 94). Beide Ausdrücke kommen in Büchern und Briefen Slezaks sonst nicht vor. In welchem Maße jidd. nebbich mit seiner Wortfamilie zu Slezaks Sprachschatz gehörte, zeigen erst die postum veröffentlichten Familienbriefe (1966). Dort hat er es als unflektierbares Adjektiv und als Substantiv so oft verwendet, daß es als einer seiner Lieblingsausdrücke gelten kann. In seinen vier Büchern hatte Slezak nebbich strikt vermieden und das Wort nur einmal anklingen lassen, als er sich einen zudringlichen Verehrer als „Subdirektor der Versicherungsgesellschaft .Nebochanzia'" vorstellen ließ (1927, S. 110). In den Briefen sieht man dagegen, daß dieses jüdische Kennwort zu Slezaks alltäglichem Sprachgebrauch im Familienkreis gehörte. Auf einer Reise erlebt er Neujahr auf nebbich hoher See (1966, S. 14), grüßt aus Ägypten als nebbich verwegenefr] Wüstensohn (ebd., S. 18), beklagt, daß ein armer Bräutigam die Braut in seiner - nebbich - Wohnung erwarten müsse (ebd., S. 24), leidet mit einem nebbich Spanier, der „von amore und favore" singt (ebd., S. 36), freut sich an seiner Ehefrau, die stolz auf ihren nebbich feschen Kutscher ist (ebd., S. 56), und ist befriedigt, wenigstens momentan noch vor Geld nebbich zu stinken (ebd., S. 58). Den Spötter kehrt Slezak heraus, wenn er vom Berliner Theater des Volkes (nebbich) (ebd., S. 269) spricht. Für einen Witz schlägt er aus dem Wort Funken, als er einen Juden den Tusch, der anstelle eines verlangten Trompetensignals ertönt, mit den Worten er spielt sich nebbich eine Symphonie kommentieren läßt (ebd., S. 277). Nicht mehr lustig ist es, daß Slezak im Zweiten Weltkrieg Suppe an die nebbich armen Prager austeilen muß (ebd., S. 253) und nach dem Krieg am Krankenlager Besucher empfängt, die dem old sick man nebbich eine Freude machen wollen (ebd., S. 296). Daß Slezak den Ausdruck und seinen Gebrauchshorizont genau kannte, beweisen seine Bemerkungen zur Wortbedeutung und zum Wortgebrauch: „Der Unterschied von Umtam und Nebbich: der Umtam läßt alles fallen, der Nebbich klaubt es nebbich a u f (ebd., S. 66). Sie entsprechen genau
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Nach Ansicht von Kraus warfen sich Liebstöckl und Slezak jüdische Wörter wie Chuzpe, Mezzie und meschugge „gleich Fangbällen" zu (F 679, S. 19). Unter die jüdischen Ausdrücke rechnete Kraus auch das Zerspringen, das ein 'Platzen vor Ärger, Neid oder Zorn' bezeichnete 32 und wiederum im jüdischen Witz die scheinbare Überlegenheit des Unterlegenen zum Ausdruck bringt. Für den „Zerspring-Humor" christlicher „Lustigmacher" wie Liebstöckl und Slezak, bei dem eine Haltung und ein Ausdruck ungeachtet aller gesellschaftlichen Hintergründe adaptiert wurden,33 konnte Kraus kein Verständnis haben (F 679, S. 22). Daß die jüdischen Wörter aber auch in der Fackel vorkamen und dort noch häufiger als anderswo zu finden waren, 34 stellte für Kraus keinen Widerspruch dar. Der Befürchtung, man könne ihm dies vorhalten, trat er dezidiert entgegen. Er male diese Sphäre mit ihren
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dem, was in Wien darüber im Umlauf war (Wehle 1980, S. 63). Unter den Angehörigen der HJ oder des BDM vermutete Slezak (1966, S. 281) nach dem Zweiten Weltkrieg Nebbochanten, die nicht wußten, für welche Sache sie mißbraucht worden waren. Nebbochanten nannte er auch diejenigen Sänger, denen der Titel „Kammersänger" im Dritten Reich nur aus politischen Gründen verliehen worden war (1927, S. 305). Zum Gebrauch des Ausdrucks im Deutschen vgl. Althaus (1999, S. 5-16; 2000a, S. 10-25). Die Bedeutung 'sehr erregt sein; die Beherrschung verlieren' bucht als vorwiegend österreichisch seit dem 19. Jh. Küpper (1984, S. 3158). Kraus zitiert Liebstöckls Bekenntnis „Und wenn sie zerspringen, stamme ich aus einer alten Wiener Bürgerfamilie und bin Katholik!" (F 622, S. 62). Slezak hat zerspringen in seinen Büchern zunächst nicht im jüdischen Sinn gebraucht (1922, S. 226). Einzelne Vorkommen zeigen jedoch, daß Slezak Vorbehalte gegen den Ausdruck schon 1927 wieder aufgegeben hatte (1927, S. 11, 21, 177). Bemerkenswert ist seine Äußerung „ich zersprang täglich und brodelte vor Wut", die sich in dem 1940 [!] erschienenen Band Rückfall findet (ebd., S. 150) und dem Kenner zeigt, daß der Autor sich auch zu dieser Zeit eines jüdischen Ausdrucks bediente. Reichen Gebrauch machte Slezak davon erst im Lebensrückblick (1948, S. 121 u.ö.). Hier finden sich die Synonymenrelation zerspringen - platzen (ebd., S. 177) und Kontexte, aus denen die jüdische Sonderbedeutung ersichtlich wird (ebd., S. 131, 134). Kraus hat Bedeutung und Gebrauch des Ausdrucks von Anfang an in der Fackel herausgestellt. 1899 spricht er davon, daß „die Opposition des sich wehrenden Geldsacks immerdar ihren adäquatesten Ausdruck in einem kreischenden .Zerspring!'" finde (F 19, S. 31). 1912 zitiert er eine polemische Äußerung von Theodor Reik, der mit dem Kraus in den Mund gelegten Satz „Hier zerspringe ich, ich kann nicht anders" behauptete. Kraus' publizistische Arbeit sei Ausdruck seines Judentums (F 357, S. 53). 1920 nennt Kraus „Z. A. Spring" ein Beispiel für „schnurrige Inkognitos" (F 531, S. 72). Der „,Zerspring'-Humor" ist eine feste Größe in Kraus' Koordinatensystem (F 679, S. 22; F 759, S. 15). Kraus hat auf diesen Sprachgebrauch 1921 in einer redaktionellen Notiz (F 561, S. 88) einmal ausdrücklich hingewiesen und dabei die Wörter Chuzpe, Gewure, Mezzie, Rebbach, Nebbich, Ponem, Asis-Ponem und Tineff eigens hervorgehoben.
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eigenen Farben und müsse sich daher notgedrungen der .jüdischen Ekelworte" bedienen (F 679, S. 19-26). Daß Liebstöckl und Slezak die jüdischen Ausdrücke in so auffälliger Weise gebrauchten und auch Holzer mit ihnen hantierte, erschien Kraus als Anmaßung. Holzer gab sich dabei Blößen, die es Kraus leicht machten, ihn der Lächerlichkeit preiszugeben. Wenn Holzer von der „Pointenkraft des Lozzelachs" faselte (F 622, S. 62), konnte ihn Kraus darauf hinweisen, „daß Lozzelach ein Plural ist" (ebd.). Wer aber Singular und Plural verwechselte, war über die Anfangsgründe wohl kaum hinausgelangt. Kraus sagte Liebstöckl nach, sich „im Jargon" zu übernehmen, so daß nach dem Urteil von Fachleuten „beim Jüdeln sein Können leider doch hinter dem redlichen Wollen" zurückbleibe (F 622, S. 62f.). Diese Einschätzung verleitete Kraus zu Nadelstichen, wobei die Spitzen gegen Liebstöckl feiner waren als die gegen Holzer oder Slezak. 1923 erfand Kraus den jiddisch klingenden Ausdruck sich benachezen und rief Liebstöckl zum Richter über Wortbedeutung und Wortgebrauch auf (F 613, S. 173). Die subtile Frechheit bestand darin, daß Liebstöckl, da es diesen Ausdruck im Jiddischen nicht gab, genötigt war, entweder seinen Freunden gestehen zu müssen, die Bezeichnung nicht zu kennen, oder aber eine Kompetenz vorzuspiegeln, die er nicht besitzen konnte. 35 Auch in einem anderen Fall demonstrierte Kraus überlegene Vertrautheit mit der Sprache. Einen Rätselausdruck, der 1915 die Zensur passiert hatte (F 668, S. 42f.), wandte er 1925 auf eine „Lobreportage" von Liebstöckl an, die er einen „der verbroigtesten Loibusche" nannte (F 676, S. 19f.). Hinsichtlich der Bedeutung dieses Ausdrucks hatte er bereits festgehalten, es handele sich um „einen mehr durch persönliche Verhatschung, mehr durch Ohnmacht und eigenes Ungeschick als durch das Geschick oder die Macht der Verhältnisse hervorgerufenen Pallawatsch" (F 668, S. 42f.). Ein Kenner der Wiener Verhältnisse hätte den Ausdruck aus ostjüdischem in deutschen Lautstand rückgeführt und über die Form verbrauchtestes Lob als Bezeichnung für eine abgeschmackte Lobhudelei erkannt.36 Der Eindruck einer jiddischen Formulierung entsteht nicht nur durch die Lautgestalt, sondern auch durch das slaw. Diminutivum in Loibusch und die Assoziation zu jidd. broiges, 'zornig'. 37
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Weinberg (1969, S. 65, 86) nennt näches 'Freude', nachesfiir die Wilden 'grobe Belustigung', góiennaches 'unjüdisches Vergnügen' und benaches 'ruhig'. Die sprachgeographische Verteilung von ostjidd. oi im Verhältnis zu westjidd. au, ou, δ zeigt Franz J. Beranek (1965, Karte 57). Weinberg (1969, S. 92) führt die unter deutschen Juden gebräuchlichen Formen brauges, brauches, broges, broches mit den Bedeutungen 'zornig, beleidigt; nachtragend' auf.
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Hatte Kraus auf diese Weise Liebstöckl mit schwer zu durchschauenden Mitteln vor Augen geführt, daß sein Können hinter dem Wollen zurückbleibe (F 622, S. 62f.), so konnte er bei Slezak zu einem derberen Ausdruck greifen. Er attestierte ihm „Chammersängertum" (F 679, S. 23) und nannte ihn damit Chammersänger. Das war sowohl eine Anspielung auf die tenorale Aspiration der anlautenden Fortis als auch auf hyperkorrekte Schreibung nach bairisch-österreichischer Aussprache, die Wörter wie China mit anlautendem Verschlußlaut kennt. Slezak hat dies ungewollt mit der Schreibung Chovet für Kowed bestätigt.38 Vor allem aber war es eine Substitution von Kammer durch jidd. chammer 'Esel' , 39 Was es für Kraus bedeutete, jemanden Chammer zu nennen, machen die folgenden Verse deutlich: „'s gibt im politischen Leben / viel Trübsal und Jammer. / Doch nichts Ärgeres eben / als wenn ein Jud ist ein Chammer" (S 14, S. 515). Nun war aber Slezak kein Jude, sondern ein Christ, der sich des jüdischen Registers bediente und gerade deshalb von Kraus verachtet wurde.
5. Jargon, Jüdeln und Gemauschel In der Auseinandersetzung mit Liebstöckl und Slezak benutzte Kraus mit Jargon, Jüdeln und Gemauschel drei verschiedene Ausdrücke zur Bezeichnung der kritisierten Sprachformen. Unter Jargon verstand man damals in erster Linie den jüdischen Jargon und dachte dabei an das Jiddische als die jüdische Volkssprache. Dies meinte Kraus, wenn er von den „vielfachen Anläufen zum Jargon" sprach, die der „unverkennbare Arier Liebstöckl" unternommen habe (F 613, S. 73). Bei den Jargonclowns (F 679, S. 23) waren jiddische Ausdrücke das Material, mit dem die Humoristen vor Publikum jonglierten. Wenn Kraus mit einer Bemerkung Holzers festhielt, Liebstöckl habe „die malerische und bildnerische Kraft des Jargons" als Stilmittel kultiviert (F 622, S. 61), zielte er auf jene sprachlichen Besonderheiten, die das Jiddische auszeichneten und sich in der Sprache deutscher Juden relikthaft erhalten hatten (vgl. dazu Althaus 2000b). Als Jargon bezeichnete Kraus da-
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Slezak hat das Wort nicht in seinen Büchern, sondern nur in Briefen benutzt und dann nach Gehör geschrieben. Dabei gebraucht er es sehr distanziert und ironisch, wenn von Ansehen und Ehre die Rede ist: „Chovet über Chovet" (1966, S. 94), „Wenn die Leute wüßten, wie wenig ich für Chovet übrig habe" (ebd., S. 267), „Was sind Ehrungen hier auf dieser Welt, da kommt eine andere Regierung, ein anderes System, und man wird wegen dieser Ehrung ins Kriminal gesteckt, ist mit seinem Chovet auf einmal ein Schwerverbrecher" (ebd., S. 267). Weinberg (1969, S. 54) gibt als Bedeutung außerdem 'grober, gemeiner, auch dummer Mensch' an.
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neben aber auch Formen des journalistischen Sprachgebrauchs, wie sie für bestimmte jüdisch dominierte Presseorgane typisch waren. In diesem Sinne sprach er davon, daß „der Jargon in den Wiener Redaktionen bald obligat sein" werde (F 216, S. 27) oder daß eine moralisch verwerfliche journalistische Haltung „eine Angelegenheit des Jargons" sei (F 622, S. 60). Wenn Kraus Liebstöckl einen ,,Virtuose[n] des Jargons" nannte (ebd.), war beides evoziert. Wollte Kraus den Akzent auf die Haltung legen, die hinter dem Sprachgebrauch aufschien, dann nannte er Gemauschel die Weitergabe von Informationen unter der Hand oder zum eigenen Vorteil und forderte „Schluß mit dem Gemauschel" (F 679, S. 24). Auch Anton Kuh (1987, S. 244) sah in der ,,wienerische[n] Unart des Mauscheins" ein unangemessenes Reden und Schreiben in der Öffentlichkeit. Dazu zählten auch offenkundige und versteckte Manipulationen in der Presse (vgl. Althaus 1997, S. 155). Als Jiideln (vgl. Kirschner 1929, Sp. 408f.) bezeichnete Kraus den Gebrauch des jüdischen Registers entweder durch Juden, die die verachteten Sprachformen noch benutzten oder sogar zur Schau stellten, oder durch Christen, die sich seiner bemächtigten (F 622, S. 60; 679, S. 19). Schon im 19. Jahrhundert war Jüdeln, das Sprechen wie ein Jude, zur sprachlichen Charakterisierung und später zur gesellschaftlichen Diffamierung benutzt worden.40 Friedrich Torberg (1976, S. 247 u. 250) unterschied „nuancenreichen Jargon" und „plumpes Gejüdel", das in Wiener antisemitischen Witzblättern zu einem „Möchtegern-Gemauschel" mutierte. In der Wiener Gesellschaft war das Jüdeln um 1900 trotz oder gerade wegen seiner antisemitischen Untertöne en vogue. Alma Schindler hatte sich das jüdische Register durch Beobachtung unbewußt angeeignet und entdeckte plötzlich, daß sie „vortrefflich jüdeln" konnte (Mahler-Werfel 1997, S. 138). Als sie ihre sprachlichen Fähigkeiten im Familienkreis ausprobierte und durch jüdische Mimik und Gestik unterstützte, erzielte sie durch die „treffliche Copie" einen großen Lacherfolg (ebd.). Später wandte sie dies im Kreise junger Künstler und Kunstfreunde als Abendunterhaltung zwischen Nachtmahl und Gesellschaftstanz an und „jüdelte dermaßen, dass ihnen vor Lachen nicht gut wurde" (ebd., S. 383). Daß das Jüdeln jedoch nicht nur Heiterkeit verbreitete, sondern einen durchaus anderen Hintergrund besaß, war ihr bekannt. Kompositionen von Goldmark nannte sie „eine durchaus jüdisch, unreine Musik" (ebd., S. 476)41 40
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In Enthüllungsschriften wie dem Band Die geheime Geschäftssprache der Juden (1897) oder fiktiven Lehrgesprächen eines Pseudonymen Ernst Stußlieb (1892) wurden antisemitische Vorurteile durch eine am Jüdeln orientierte Zurichtung der jüdischen Sprechweise aufgerufen. Im Manuskript steht eine durchaus jüdisch, unreine Musik. Das in spitze Klammern gesetzte e haben die Herausgeber interpoliert und damit die Formulierung entschärft, die ohne das Komma als eine durchaus jüdisch unreine Musik zu lesen wäre.
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und hielt fest, es „jüdelt mir zu viel in seiner Musik" (ebd., S. 500). Erschienen ihr Leute „etwas gar zu jüdisch", ging sie deutlich auf Abstand (ebd., S. 488). Sie wollte nicht „als Jüdin geboren sein" (ebd., S. 599). Die Beobachtung eines jungen jüdischen Arbeiters, der „im denkbar jüdischsten Jargon, in denkbar jüdischster Sprache" vor seinen Kollegen redete, veranlaßte sie, von einer „degenerierten Rasse" zu sprechen (ebd., S. 594). Diese von einem latenten Antisemitismus gekennzeichneten Notizen im Tagebuch eines jungen Mädchens sind ein Zeichen dafür, wie stark die antisemitische Stimmung um 1900 in Wien gewesen ist. Mit dem Jiideln ließen sich also sowohl humoristische als auch antisemitische Effekte erzielen. Dies wurde für die verschiedensten Genres genutzt, für Witzsammlungen und Parodien, das jüdische Theater und das Kabarett (Althaus 1997, bes. S. 47-75). Anton Kuh (1987, S. 441) schätzte die „skeptisch-zwanglose Sprache des Jüdelns", wie er sie bei Heinrich Eisenbach als dem bedeutendsten Künstler der jüdischen Possenbühne verkörpert sah. Solchen Vorbildern scheint Slezak nachgeeifert zu haben, nicht nur sprachlich, sondern wie Alma Schindler auch gestisch. Nach eigenem Bekunden unterließ er es erst beim Militär, „mit den Händen zu reden" (Slezak 1922, S. 21). Dafür lernte er bald, jüdische Witze auch in Fremdsprachen zu erzählen (ebd., S. 54) und attestierte sich, „bereits in drei Sprachen jüdeln" zu können (ebd., S. 141). Noch nach dem Zweiten Weltkrieg, als das jüdische Register durch den Mißbrauch im Nationalsozialismus für Christen tabuisiert war und auch von Juden peinlich vermieden wurde (Althaus 2000b, 5. 226), bekannte er nach dem Besuch amerikanischer Juden, er habe sich „wieder einmal richtig ausjüdeln können" (Slezak 1966, S. 256). Daß dies als kritiklose Nutzung eines Sprachregisters gelten mußte, das seit dem 19. Jahrhundert und ganz besonders im Dritten Reich zur Diffamierung und zur Hetze verwendet worden war (vgl. Althaus 1997, S. 195-226), kam ihm nicht in den Sinn. Max Frisch, der 1949 in seinem Stück Als der Krieg zu Ende war die Figur eines jiddisch sprechenden Juden als eines Mittlers zwischen Russen und Deutschen einführte, hatte für die Konnotationen mehr Gespür. Er verfügte darum in einer Anmerkung zur Aufführungspraxis, auf keinen Fall dürfe das Jiddische „durch sogenanntes ,Jüdeln' ersetzt werden" (Frisch 1962, S. 396).
6. Sprachkritik und Gesellschaftskritik Wenn das Jüdeln bei Liebstöckl und Slezak nur Verkleidung mit Mitteln der Sprache gewesen wäre, hätte Kraus es bei einigen Bemerkungen belassen können. Da es ihm aber als Zeichen für den Zustand der Gesellschaft erschien, benutzte er die Gelegenheit, um warnend seine Stimme zu erheben. Jüdeln als Vehikel des Humors war nach 1900 bereits stark antisemitisch
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belastet. Für die Einschätzung und Bewertung dieses Sprachmittels war aber nach Kraus' Auffassung entscheidend, wer sich seiner bediente (F 343, S. 21). Die Benutzung des jüdischen Sprachregisters durch Slezak verstand Kraus als Versuch, „die Grenzen der Natur zu erweitern" (F 622, S. 60). Slezak sei bemüht, „sich ganz gehen zu lassen und einen recht ungebundenen Juden darzustellen" (ebd., S. 60f.). Wie „die Herrschaft jüdeln" zu können, betrachte man in Wien als Humor. Das sei „in diesem Slezak mit einer Übertriebenheit entwickelt, die wieder als solche ihrer Lachwirkung sicher" sein könne (F 679, S. 19). Daß Liebstöckl und Slezak sich entschlossen hätten,, jüdeln zu lernen", sei jedoch „der Selbstpogrom eines zu jedem kulturellen Widerstand unfähigen Ariertums" (ebd.). Zu diesem Gedanken mochte Kraus durch eine Groteske angeregt worden sein, die Salomo Friedländer 1922 unter dem Titel Der operierte Goj als Seitenstück zu Oskar Panizzas grotesker Erzählung Der operirte Jud' veröffentlicht hatte.42 Während Panizza die Assimilationsbemühungen des deutschen Judentums als ein Unterfangen darstellte, bei dem selbst das Mittel der Operation versage, führte Friedländer vor Augen, wie sich ein Christ auf diese Weise freiwillig in einen Juden verwandeln ließ. Kraus bezeichnete die Mimikry als „strategischen Rückzug", bei dem Liebstöckl und Slezak die Juden in Sicherheit wiegten, „um im günstigen Moment mit dem wildesten Antisemitismus loszubrechen" (F 679, S. 19). Dazu leisteten allerdings die Juden Vorschub. Sie hätten es gern, „wenn ein Andersgläubiger in ihrer Mundart" rede (F 622, S. 61) und hörten ihr „Idiom am liebsten von einem korpulenten Bauchredner arischen Ursprungs gesprochen" (F 679, S. 19). Liebstöckl, der dem Publikum „im Gewände des jüdischen Humors" entgegentrete (F 622, S. 58), sei darum bei den Juden „wie's Kind im Haus" (ebd. 57). Er mute als ,,wurzelechte[r] Arier [...] wie der Setzkastenkobold jüdischer Zeitungen" an und sei berufen, „unter den witzigen Hausjuden" zu agieren, doch dürfe man ihn nicht „mit dem Typus des Redaktionschristen" verwechseln, „der gerade wegen seiner Unassimilierbarkeit gehalten" werde (ebd., S. 63). Kraus spielte dabei auf den Ausdruck Renommiergoi an, für den auch Paradegoi gesagt wurde, und der als „einzelner Nichtjude in einem jüdischen Verein [oder] Geschäft" anzutreffen war (Weinberg 1969, S. 65). Slezak bemühte sich, beide Rollen zu spielen. Im Rückblick nannte er sich einen „großen Sangesgoi" der Metropolitan Opera in New York, dem es die „größte Freude" bereiten würde, dort wieder einmal „so recht von Herzen jüdeln" zu können (Slezak 1966, S. 239). Wenn das jüdische Register nicht so belastet gewesen wäre, hätte dies als der Versuch gelten können, die Gräben zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und kultureller Bindung zu überwinden. In der aufgeheizten Situation zwischen dem Ende des Kaiserreichs und dem Herannahen des National42
Beide Texte jetzt in Panizza (1981, S. 265-292 u. 279-292).
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Sozialismus nahm Kraus jedoch vor allem die Verstellung wahr, die hinter der jüdischen Sprachmaske aufschien (F 622, S. 61). Er befürchtete, daß Slezak und Liebstöckl nur so täten, „als wären sie nicht Arier, und die Juden auslach[t]en, die ihnen hereinfallen" (ebd.). In seiner Auffassung, daß er es mit Wölfen im Schafspelz zu tun habe, fühlt sich Kraus durch eine Bemerkung Holzers in der Eloge auf Liebstöckl bestätigt, in der es hieß, jener führe „die angenommenen Waffen der Gegner [...] besser [...] als die Echtgeborenen" (ebd.), habe also die jüdischen Ausdrücke deshalb erlernt, weil er seine jüdischen Auftraggeber auf diese Weise besser überwinden könne. Daß eine jüdische Zeitung sich einen christlichen Redakteur halte, der im sprachlichen Tarnkleid eines Juden mit „Grütze und ,Sechel'" 43 „die jüdischen Journalisten [...] überlisten" solle, erschien Kraus darum als „die äußerste Perversität" (F 622, S. 61). Liebstöckl traute er darum sogar zu, „bei einem Pogrom eine mehr aktive Rolle" zu übernehmen (ebd., S. 63f.). Damit hatte Kraus zum Ausdruck gebracht, was ihn an dem scheinbar harmlosen Gebrauch des jüdischen Registers durch christliche Publizisten vor allem bedrückte. Er sah in der Adaption eines Sprachmittels, das schon seit Jahrzehnten auch zur antisemitischen Agitation verwendet worden war, 44 einen Vorboten kommender Ereignisse, bei denen es nicht mehr bei Spott, Neckerei und übler Nachrede bleiben würde. Daß dabei die Sprache der Juden und ihre Nachäffung durch Christen eine besondere Rolle spielen würden, hatte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer deutlicher abgezeichnet (vgl. dazu Gilman 1993; Althaus 1993; Richter 1995; Gubser 1998). Holzer hatte ausgeführt, daß es sich bei der Nutzung des jüdischen Registers um einen Kniff handele, der Verstellung ermöglichen solle (F 622, S. 60). Nun ging es Kraus darum, Liebstöckl und Slezak die Maske, die Holzer wortreich beschrieben hatte (ebd.), mit den Mitteln der Sprachkritik vom Gesicht zu reißen. Zu diesem Zweck zeigte er auf, daß das Jüdische in der Sprache für Holzer, Slezak und Liebstöckl nicht Ausdruck ihrer Herkunft und Gesinnung, sondern nur ein Mittel zum Zweck war. Er hielt ihnen vor, daß sie die jüdischen Ausdrücke nur als genau kalkuliertes Phänomen des journalistischen Stils oder einer Unterhaltungsschriftstellerei, die sich als humorvoll verstand, angenommen hatten, da sie ihnen nicht als Bestandteil der Muttersprache und als Symptom des Judentums von Kindesbeinen an vertraut waren. Am leichtesten war dies bei Holzer aufzuzeigen, dem Kraus einen elementaren Fehler vorhielt, der niemandem unterlaufen wäre, für den das Jüdische in der Sprache selbstverständlich war. Slezak (1948, S. 180) bestätigte diese Einschätzung noch nach dem Zweiten Weltkrieg dadurch,
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Jidd. sechel 'Klugheit, Verstand' (Weinberg 1969, S. 102). Die Entwicklung von der humoristischen zur antisemitischen Tendenz läßt sich an den unter dem Pseudonym Itzig Feitel Stern veröffentlichten Schriften verfolgen (vgl. dazu Althaus 1997, S. 160-162).
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daß auch er den von Kraus inkriminierten falschen Plural „Lotzelachs" gebrauchte. Bei Liebstöckl mußte Kraus zu subtileren Mitteln greifen, um ihn aus der Reserve zu locken und das Maskenhafte seines jüdischen Sprachgebrauchs nachzuweisen. Er führte ihn durch erfundene Wörter und Formulierungen a u f s Glatteis, versah seine kritischen Anmerkungen beiläufig, aber in durchaus ironischer Absicht mit jüdelnden Floskeln wie „ehin und eher" (F 622, S. 59) und setzte sich explizit und offensiv mit Liebstöckls Intentionen auseinander. Daß Kraus verstanden worden war, zeigte Slezak öffentlich an, als Kraus den Vorwurf, hinter der Maske des Biedermanns sei ein latenter Antisemitismus verborgen, auf Slezak ausgedehnt hatte (F 679, S. 19). Am 29. März 1925 meldete sich der Sänger im Neuen Wiener Journal mit einem offenen Brief zu Wort (F 686, S. 25f.). Er antwortete ironisch auf Kraus' Artikel in der Fackel und Schloß mit einer Versicherung, die Kraus' Unterstellung ad absurdum führen sollte: Über eines möchte ich Sie beruhigen: Sie geben der Befürchtung Ausdruck, daß ich mich eines Tages, trotz meiner jüdelnden' Ausdrucksweise als wütender Antisemit entpuppen werde. Haben Sie keine Bange, im Falle eines Pogroms, den Sie hellseherisch prognostizieren, sollen Sie von mir nichts zu fürchten haben, denn ich habe ja gottlob den von Ihnen so gegeißelten Humor, der mir gestattet, Sie und Ihre von ununterbrochen kochender Empörung durchsetzten Schriften nicht ernst zu nehmen. (F 686, S. 26)
Als Kraus diesen Brief kommentarlos nachdruckte, konnte er noch nicht wissen, daß Slezaks Behauptung, Kraus' Vorhersage eines Pogroms sei völlig aus der Luft gegriffen, bereits acht Jahre später in Deutschland und dreizehn Jahre später auch in Österreich auf schreckliche Weise widerlegt werden würde (vgl. Schmid/Streibel 1990). Bei ihrer antisemitischen Hetze bedienten sich die Agitatoren der Nazis genau jenes Mittels, das Kraus an Liebstöckl und Slezak kritisiert hatte. Vom Kinderbuch (vgl. Bauer 1936; Hiemer 1938) über die Schülerzeitschrift (vgl. Hilf mit! Illustrierte deutsche Schülerzeitung [1933/34 u. 1943/44]) und das Hetzblatt (Der Stürmer [1923-1945]) bis zum Rundfunk 4 5 - überall wurden jüdische Spracheigen-
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Ein Beispiel der antisemitischen Hetze im Radio hat Victor Klemperer im Tagebuch festgehalten: „Im Radio ununterbrochene Judenhetze. In unsinnigster, in würdelosester Weise. Gestern besondere Erbitterung, weil die Amerikaner die Insel Martinique besetzen wollen (oder besetzt haben?). Mauschelndes Gespräch zweier Juden darüber, was sie werden machen für Geschäfte hier und anderwärts, überall in der Welt, auf Kosten der Gojim. Und immer wieder in jeder Meldung, jedem Vortrag, jedem Zusammenhang das Wort jüdisch" (Klemperer 1995, S. 372f.). An diesem Beispiel zeigt sich deutlich die agitatorische Nutzung jüdelnder Spracheigentümlichkeiten in Wortschatz und Syntax.
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tiimlichkeiten in karikierender Zurichtung zur Diffamierung, zur Hetze und zur Erzeugung von Rassenhaß genutzt. 46 Die Folgen sind bekannt. Slezak ließ sich persönlich nichts zuschulden kommen und wurde deshalb auch nach 1945 von jüdischen Verehrern seiner Kunst hochgeschätzt. 47 In Familienbriefen bezog er schon während des Dritten Reichs teilweise sehr dezidiert gegen die Machthaber Stellung (Slezak 1966, S. 122-228 passim). Das ändert aber nichts daran, daß die Einwände von Karl Kraus gegen den kritiklosen Gebrauch des jüdischen Sprachregisters schon in den zwanziger Jahren ihre Berechtigung hatten. Die spätere Entwicklung hat Kraus' hellsichtige Sprachkritik in bedrückender Weise bestätigt. Slezak hatte die Ausstellungen von Kraus sehr wohl zur Kenntnis genommen, fühlte sich aber am Lebensabend noch immer mißverstanden und beharrte darauf, daß er nur Spaß habe machen wollen (Slezak 1948, S. 180). Die von Kraus beanstandeten jüdischen Ausdrücke waren für ihn in erster Linie Teil des KünstlerJargons, zu dessen Gebrauch auch außerhalb des Theaters er sich vollkommen berechtigt fühlte (dazu Althaus 2001). Als wenn aus der Geschichte nichts gelernt werden könnte, hat sich die von Kraus und Slezak ausgetragene Debatte nach 1945 noch einmal in ähnlicher Form wiederholt. An der 1960 erschienenen Sammlung Der jüdische Witz von Salcia Landmann ( 1 3 1988) kritisierte Friedrich Torberg gleich nach Erscheinen, die sprachliche Aufbereitung, die die Autorin für das Material gewählt habe, gleiche jener, mit der bestimmte Witzblätter um 1900 ihr Publikum antisemitisch eingestimmt hätten. 48 Zum Glück hat sich die Gesellschaft der alten Bundesrepublik von der Wiederkehr dieses Sprachmusters in einem sonst gutgemeinten Buch nicht mehr infizieren lassen.
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Folgen der antisemitischen Hetze hat Victor Klemperer notiert: „Vox populi: Eine Gruppe radelnder Jungen, vierzehn bis fünfzehn Jahre, um zehn abends in der Wormser Straße. Sie überholen mich, rufen zurück, warten, lassen mich passieren. ,Der kriegt einen Genickschuß ... ich drück' ab ... Er wird an den Galgen gehängt - Börsenschieber ... und irgendweich Gemauschel'" (Klemperer 1995, S. 398). Vgl. auch das Kapitel Hetze in Althaus (1997, S. 195226). Sein Wohnhaus in Rottach-Egern war auf Anordnung der amerikanischen Militärverwaltung off limits (Slezak 1966, S. 236). „In Sachen jüdischer Witz. ,Wai geschrien!' oder Salcia Landmann ermordet den jüdischen Witz. Anmerkungen zu einem beunruhigenden Bestseller" (jetzt in Torberg [1976, S. 236-268]).
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LQI - Sprache des Vierten Reichs Victor Klemperers Erkundungen zum Nachkriegsdeutsch
1. 2. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5. 4.
Vorbemerkung Das wissenschaftliche Selbstverständnis des Sprachkritikers Klemperer Sprachliche Befunde LQI = LTI LQI - Archiv der Nachkriegsgeschichte Sprache des real existierenden Sozialismus Sprache des Kalten Kriegs Neue Umgangssprache Was LQI ist und nicht ist
1. Vorbemerkung Fred Oelssner [...] bat um einen Artikel für die Einheit, den ich zusagte. ,Ich nenne das LQI', sagte ich lachend, er drohte lachend mit dem Finger u. meinte: ,Von 45-51'(26. 6. 51, S. 181).1 Nachdem Victor Klemperer zwölf Jahre lang LTI - jene durch den Nationalsozialismus bedingte sprachliche Existenzform - notiert hatte, verzeichnet er übergangslos nach dem 8. Mai 1945 „LQI" - die „Sprache des Vierten Reichs". Warum hat Klemperer unter den politischen Bedingungen der SBZ/DDR LQI-Beobachtungen notiert, genauso, wie er LTI-Beobachtungen verzeichnete? Und warum das Kürzel LQI, das in so offenkundiger Weise fatale Kontinuität ausdrückt? Hat er keinen Unterschied zwischen den beiden Systemen gemacht? Die ersten mitgeteilten Beobachtungen zur LQI lassen dies vermuten. Und im Sommer 1945 konnte Klemperer nicht, konnte niemand wissen, welche politische und gesellschaftliche Gestalt der künftige deutsche Staat haben würde. Mußte Klemperer da nicht auch die außersprachlichen Gegebenheiten - die Semiotik des Sozialismus - zunächst als (freilich in bestimmten Hinsichten modifiziertes) Kontinuum empfinden?
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Diesen Fragen wird im folgenden nachgegangen: LQI wird aus den Tagebucheinträgen der Jahre 1945 bis 1959 rekonstruiert, und zwar im Sinn einer durch die spezifische Perspektive Victor Klemperers verformten Variante des Nachkriegsdeutsch. Spezifische Perspektive heißt: Klemperer schreibt bis 1949 unter den Bedingungen der sowjetischen Besatzung, dann unter denen einer sozialistischen Gesellschaftsformation. Und: Klemperer 1935 als Professor der Technischen Hochschule Dresden von den Nazis abgesetzt - strebt die Wiedererlangung seines Ordinariats an. Am 19. Oktober 1945 wird er ernannt. Und: Klemperer gibt seiner Affinität zur KPD - allerdings nach gründlichen Gewissensprüfungen - durch den Eintritt in die Partei Ausdruck, nicht als überzeugter Kommunist, sondern weil er findet: „Sie allein drängt wirklich auf radikale Ausschaltung der Nazis" (20.11.45, S. 146). Am 23. November 1945 wird er Mitglied (vgl. dazu Kämper 2000). Und: Klemperer engagiert sich unverzüglich im Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, 1946 ist er Mitglied der Landesleitung Sachsen, 1947 bis zu seinem Tod Mitglied des Präsidialrates, 1948 bis 1950 hat er den Landesvorsitz. Und: Klemperer kandidiert bei den Abgeordnetenwahlen zur Volkskammer, ab 1950 ist er deren Mitglied. Und: 1952 erhält er den Nationalpreis 3. Klasse für Kunst und Literatur. Kurz: Bei aller Kritik am Staat, in dem er lebt - Klemperer ist bekennender Bürger der SBZ/DDR. Unter diesen Bedingungen - die wahrlich spezifisch zu nennen sind - beobachtet und bewertet Klemperer die Sprache seiner Zeit. Diese Bedingungen geben uns auf, sie als Filter zu berücksichtigen. Eine weitere Bedingung ist zu nennen, die in Klemperers wissenschaftlichem Selbstverständnis begründet ist. Sie soll zunächst skizziert werden.
2. Das wissenschaftliche Selbstverständnis des Sprachkritikers Klemperer Obwohl zeit seines Lebens auch und ab 1945 zunehmend mit Sprache und ihrer Beschreibung beschäftigt - Victor Klemperer verstand sich selbst zuallererst als Literaturwissenschaftler. Einen systematischen und theoretisch und konsequent fundierten Sprachbegriff bei ihm ausmachen zu wollen, hieße deshalb, ihn als professionellen Literaturwissenschaftler zu mißachten. Reine Sprachwissenschaft - das ist zur Zeit seiner wissenschaftlichen Sozialisation Grammatik, Syntax, Lautlehre - ist die als Gesetzeswissenschaft verstandene psychologisch begründete Prinzipienlehre Hermann Pauls und der Junggrammatiker, die Klemperer, obwohl er bei Hermann
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Paul promoviert, nicht kennt.2 Klemperer (1996, 1, S. 360f.) „erstarrt", als Adolf Tobler - um ein Dissertationsthema gebeten - ihm mit Voltaires Ansicht von den Sprachen eine vermeintlich „rein sprachwissenschaftliche Aufgabe" stellt. Indes: Klemperer sucht seinen Standpunkt und findet ihn nach einer längeren Auseinandersetzung mit seinem wissenschaftlichen Bruder Eugen Lerch - beide habilitieren 1919 bei Karl Vossler, beide ringen um die Gunst ihres wissenschaftlichen Vaters. 3 Die Genese von Klemperers Selbstverständnis als Wissenschaftler ist aus seinen in Tagebuch und Curriculum fixierten Kommentaren zu diesem Kampf zu rekonstruieren. Eugen Lerch ist der Grammatiker, der Syntaktiker: „syntaxen [seine private Wortbildung und sein Lieblingswort] ging ihm über alle literarische Beschäftigung"( 1996, 2, S. 281) und „Voßler [...] rühmt Lerchs syntaktisches Können, seine Arbeit über das Futurum" (6.2.19, S. 62). Klemperer hingegen verachtet diese Art von Wissenschaft - „Lerchs Futurjagd u. -Bettelei [...] Flöhe fangen ist geistiger" (6.7.19, S. 143): die inhaltliche Beliebigkeit der zu grammatischen Zwecken gelesenen Literatur, das Mechanische, Schematische des Stoffsammelns, die geistige Leere, das Verharren im Äußerlichen, im Formalen - „sammeln, belegen, bewurzeln - mit einem Worte: breittreten, stumpfsinnig sein, lügen" (ebd.). Der stets verehrte Vossler schlägt sich auf die Seite Lerchs, Klemperer fühlt sich exkommuniziert: Ich bin heute wieder tief deprimiert durch einen Besuch bei Voßler gestern Abend. Ständiges Zwiegespräch Voßlers und Lerchs über linguistische Dinge. Conjunctive, Etymologieen - Lerch benutzt die Bibliothek u. die Erfahrungen Voßlers. Und ich sitze so stumm u. nebensächlich dabei wie Frau Voßler u. ein junger Sohn. Sage ich etwas Literarhistorisches, so werde ich von Voßler u. Lerch sogleich gehackt: sie stehen überlegen auf rein aesthetischen Höhen [...] Lerch sagt von Voßler u. sich: ,Wir Linguisten' (2.4.19, S. 90).
Vosslers abwertende Kommentare zu Klemperers Veröffentlichungen tun ein übriges. Ein spätes Beispiel aus dem Jahr 1928 zeigt deren Härte. Klemperer teilt in seinem Jahresrückblick eine rüde Reaktion Vosslers auf Moderne Lyrik mit: „Ich sei Sammler u. Bibliothekar, unphilosophisch u. im Aesthetischen um ein Jahrhundert zurück" (31.12.28, S. 465). Zweifel an Vosslers wissenschaftlicher Qualität läßt Klemperer daher - menschlich verständlich - bisweilen zu: 2
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1952 lemt er von seinem Kollegen Steinitz: „Daß Hermann Paul (bei dem ich promoviert habe!) individualistische Sprachprincipien gehabt hat - nie habe ich seine Principien gelesen!" (18.4.52, S. 263). Gegen diese ,Famiiiarisierung' hätte Klemperer sicher nichts einzuwenden. Er selbst spricht in seinem Offenen Brief an Karl Vossler (1925, S. 249) von der „sehr naheliegenden Vergleichung des Verhältnisses zwischen Lehrer und Schüler mit dem zwischen Vater und Sohn".
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[Voßler] dreht sich aber doch wohl immer um den einen Gedanken von der Geistigkeit der Sprache, den er wahrscheinlich von Croce hat, u. der zu gewaltsamen Anwendungen führt, wenn er auf die psychischen Extremitäten, die Laute angewandt wird; bis dahinunter scheinen mir die esprits animaux doch nicht zu reichen (1.8.19, S. 162). Klemperer schreibt dies anläßlich seiner Lektüre von Vosslers Positivismus und Idealismus. Abgesehen davon, daß er keine Verbindung zu Humboldt, dessen Sprachtheorie er nicht kennt, herstellt - in einem Eintrag vom März 1924 gebraucht Klemperer sogar die von Vossler verwendete Humboldtsche Formel von der „inneren Form" (10.3.24, S. 794), aber an keiner Stelle erscheint auch nur der Name, außer einmal in touristischem Kontext (25.5.26, S. 262) - , abgesehen davon also ist es wohl dieses Hinabsteigen auf die unterste sprachliche, auf die Lautebene, welches Klemperer nicht einzusehen vermag und welches er als ungeistiges Zählen und Sammeln versteht. Vossler (1904, S. 63) beschreibt die Aufgabe der Sprachwissenschaft als „den Geist als die alleinig wirkende Ursache sämtlicher Sprachformen zu erweisen". „Sämtlicher Sprachformen", damit meint Vossler „von der Stilistik herab zur Syntax und weiter zur Flexions- und Lautlehre" (ebd., S. 10). In der theoretischen Reflexion und zunächst verweigert sich Klemperer dieser Form von Sprachbetrachtung - sein „Bruder" Lerch folgt hingegen diesem Konzept 4 , und da gilt es für Klemperer, sich abzugrenzen. Immer wieder sucht er sich zu beruhigen: „Es läßt mich [...] ganz kühl, daß Voßler meine Methoden immer wieder befehdet. Ich bin auf dem richtigen Wege, nicht er" (26.10.24, S. 887). Der Weg ist gefunden. Klemperer versteht sich nunmehr als „Professor der idealistischen Neuphilologie" (20.5..23, S. 696), der sich „fest auf den Standpunkt des Literarhistorikers u. Aesthetikers stellen [will]": „Wozu mich mühsam mit fremden Linguistenfedern schmücken, die ich mir doch nur verkehrt aufstecke?!" (12.12.25, S. 167). Am Ende ist es natürlich doch die Schule Karl Vosslers, die Klemperer auf den Weg gebracht hat. Dessen Richtung bestimmt eben diese durchaus kritische, schließlich aber doch affirmative Auseinandersetzung mit Vossler und die produktive Konkurrenz zu Lerch. Denn: „Idealistische Philologie" im Vosslerschen und von Klemperer akzeptierten Sinn heißt das: Sprache als geistigen Ausdruck verstehen und damit „Philologie mit der Kultur in Zusammenhang" bringen (12.7.25, S. 75), m.a.W.: die wechselseitige Determinierung von Geist und Kultur, die Reflexion nationaler Eigenart in der Kultur und damit in der Sprache beschreiben. Bereits im Jahr seiner Habilitation formuliert Klemperer seinen Glaubenssatz: „Sprache sei das einzige, worin sich wirklich Volksgeist, Volksseele finde und greifen lasse [...],
Zur Sprachtheorie Karl Vosslers und zu ihrem Einfluß auf Eugen Lerch vgl. Christmann (1974).
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Sprache, das Geistige eines Volkes, den Einzelnen speisend, vom Geist aller gespeist" (24.5.19, S. 118). Kulturgeschichte ist das Lebensthema Klemperers auch in der fortgesetzten Auseinandersetzung mit Eugen Lerch: Ich hospitierte beim Rector, der in der Obersecunda Waither v. d. Vogelweide tradierte. [...] was er ausbreitete u. was seine Jungen an wirklicher .Kulturkunde' wußten, war eine ganze Menge [...]. Mir soll das den Rücken stärken beim Marburger Kulturkunde-Vortrag: ich will dort mit Lerchs eben erschienenem Aufsatz ,Kulturkunde?' [...] abrechnen (11.2.28, S. 414). Der kulturkundliche, an Humboldt (unbewußt) und Vossler (bewußt) ausgerichtete Sprachbegriff Klemperers heißt: Er ist zutiefst und stets überzeugt von der „Wahrheit" der Sprache, von der Möglichkeit einer „guten" und einer „bösen" Sprache. Diese Überzeugung kommt bei der Interpretation der LTI zum Tragen - in den zwölf Jahren Nazi-Herrschaft ist dieser Sprachbegriff fatal und schmerzhaft. Denn der Nationalsozialismus stellt sein wissenschaftliches Credo in Frage: Die Widerspiegelung des Geistes der hier Ungeist ist - in der Sprache, heißt konsequent: „[der Nationalsozialismus ist] eine spezifisch deutsche Krankheit" (Klemperer 1987, S. 61). Andererseits: Deutschtum und Nationalsozialismus zusammenzudenken scheint unmöglich: „Im Jahre 1933 ist dann mein Glaube an das deutsche Wesen, ja an die feste Bestimmbarkeit nationaler Eigenarten, fast bis zum Zusammenbruch erschüttert worden" (1996, 1, S. 287). „Fast" - Klemperer rettet seinen Glauben zu Zeiten, indem er auch erkennen will: „[Hitlers Rhetorik ist] im Kern [...] undeutsch" (1987, S. 61). 5 Nach 1945 - die Grundüberzeugung hält stand: „es gibt gut u. böse, es gibt verlogene u. wahre Sprache", ruft Klemperer 1950 aus (11.1.50, S. 7). Als Indikator für Sprachkritik scheint dieses Paradigma allerdings weitgehend obsolet zu werden. Das Thema Nationalcharakter und Sprache scheint für Klemperer erledigt zu sein. Zumindest erscheint es nicht mehr als Problem - noch nicht einmal in der Reflexion von LQl als fortgeführte LTI. Der Grund: Klemperers Selbstverständnis als bekennender Bürger der SBZ/DDR. Bekennender Bürger des Deutschen Reichs in den Jahren 1933 bis 1945 war er in diesem Sinn nicht - das Problem der Spiegelung von Geist in der Sprache stellt sich ihm wohl nur unter dieser Voraussetzung, daß der Geist zum Ungeist wird. So weit aber wollte Klemperer dann trotz seines Mißtrauens in Hinsicht auf den sozialistischen Staat nicht gehen. Erst am Ende seines Lebens wird er in diesem Punkt unerbittlich. LQl also: Sie ist identisch mit LTI (3.1.), sie ist sprachliches Archiv der deutschen Nachkriegsgeschichte (3.2.), sie ist Sprache des real existierenden Sozialismus (3.3.) und des Kalten Kriegs (3.4.), und sie ist die neue 5
Vgl. hierzu Kämper (1996) und vor allem die von Kristine Fischer (1999) jüngst vorgelegte, sehr akribisch erarbeitete und ertragreiche Editions- und Rezeptionsgeschichte von LTI.
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Sprache einer gewandelten Gesellschaft (3.5.)· All diesen Varianten verleiht Klemperer das Attribut LQI.
3. Sprachliche Befunde 3.1. L Q I = L T I LQI ist zuallererst fortgesetzte LTI - ohne, daß zunächst das neue Kürzel verwendet wird: Aber Ihre Sache ist hundertprozentig (LTI!) sicher (21.6.45, S. 19); seine .unter Beweis zu stellende' (LTI!!) aktive Judenfreundschaft (23.6.45, S. 22). Die ersten Reflexionen zur Sprache des vierten Reiches und die Beobachtung ihrer Identität mit der des dritten - sie scheinen sich weniger voneinander zu unterscheiden als das Dresdner vom Leipziger Sächsisch (25.6.45, S. 26) - folgen kurz darauf. Indes: Sechs Wochen nach der Kapitulation und dem Ende der Nazizeit lassen sich noch keine Grenzen erkennen: der Russe, Verlautbarung (nach Ansicht Klemperers von Hitler aus der österreichischen Militärsprache „eingeschleppt") sowie technischer Wortschatz (die Metapher Schraube des ganzen Werkes i.S.v. 'gemeiner M a n n ' ) verweist Klemperer zunächst in ein ,Zwischenreich der LTI u. LQI" (27.6.45, S. 28). Und dieser Kontinuität von LTI entspräche die institutionelle des Sprachamts, das Vorzeichen heißt jetzt antifaschistisch: Man sollte ein antifaschistisches Sprachamt einsetzen. - Analogieen der nazistischen und bolschewistischen Sprache (4.7.45, S. 38). Seit Oktober 1945 dann notiert Klemperer kontinuierlich - mit einer wohl als Enttäuschung zu bezeichnenden inneren Haltung. 6 Der explizite Bezug zu LTI wird immer seltener hergestellt, zuletzt im November 1954. Der erste Eintrag, in dem Klemperer einen Ausdruck der LTI ohne Kommentar als LQI ausweist, lautet: „,Kreisleitung der KPD' LQI!" (5.10.45, S. 120). Es folgen bis 1959 lexikalische Verzeichnungen zu Wörtern aus der NSZeit. 7 Und: LTI - wir erinnern uns - , das ist auch die Beobachtung von Klemperers „Beobachtungen zur Sprache des .Vierten Reiches' [...] sind nicht zuletzt Ausdruck einer desolaten Erfahrung in der Situation nach dem politischen Bankrott des deutschen Faschismus" (Ehlich 1998, S. 288). „LQI übernimmt LTI mit Haut und Haaren. Sogar Becher [...] schreibt dauernd .kämpferisch'" (15.10.45, S. 127); „Man predigt gegen jeden Militarismus - u. man schlägt mit alledem genau, ganz haargenau so kraß aller Wahrheit u. Reali-
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über- und außersprachlichen Ausdrucksformen, von Symbolen, von rituellen Handlungen. Nach 1945 wird deutlich: Die äußeren Erscheinungsbilder von SBZ/DDR und NS-Staat gleichen sich. Die Identität ihrer Semiotik und ihrer Riten ist offenkundig: Schauderhaft die Identität der LTI u. LQl, des sowjetischen u. des nazistischen, des neudemokratischen u. des Hitlerischen Liedes! (8.11.45, S. 139); [...] war ich [...] Hospitant in der Volksschule [...]. Am interessantesten war mir: das ImChor-Sprechen-lassen. Problem u. Ursprung des Sprechchors (20.1.46, S. 182); Die Gräßlichkeit des Sprechchors geht jetzt ganz offiziell auf die LQl über (9.3.46, S. 210f.); FDJ mit Fahnen und Posaunen u. Pauken in der berühmten archaischen LTI-Haltung (4.10.49, S. 690); Veliki Stalin kommt manchmal dem Heil Heil Hitler in der Form allzu nahe (23.11.49, S. 702); die .Pioniere' (LQl für LTI-Pimpfe) (16.4.50, S. 25); Das Klatschen mit erhobenen Händen ein bisschen nazistisch, HJ. Besonders ein dickes Mäde/ (HJ) in der Reihe vor mir: feierlich langsam (22.7.50, S. 64); Morgens blies, trommelte u. zackte ein Trupp
tät ins Gesicht, wie es, andersherum, aber mit gleichen, ganz gleichen Worten LTI = LQIÜ ausrichten, kämpferisch, wahre Demokratie etc.etc. - , wie das die Nazis taten." (26.10.45, S. 133); „Lß/. .Verwandte u. Bekannte' Roman von Willy Bredel [...] ,Mehr Fanatismus!"' (4.12.45, S. 153); „Lß/. [...] ,[...] aufzuziehen' [...] .fanatischer Einsatz'" (19.12.45, S. 164); „den einzigen Garanten" (23.2.46, S. 202); „Aussaat sei gleich ,nach dem Umbruch' vorzunehmen. Daher also via Bluto, Bauerntum, das beliebte UMBRUCH [...] in meiner Lit.Gesch Bd III 152:,[...] wie Leo Spitzer unter Beweis stellt [...]"' (9.3.46, S. 211); „Zur LTI [...] Kräfteeinsatz" (17.4.46, S. 228); Grotewohls Rede auf dem Parteitag [...] ,Dem planmäßig gelenkten Arbeitseinsatz' [...] Durchaus Übereinstimmung von LTI und LQL" (28.4.46, S. 234); „Frau Rasch [...] sagte mit nazistischen Anführungsstrichen ,Sowjetparadies' [...], der SED-Conférencier [...] sagt: [...] aufräumen mit ,der sogenannten Objektivität' der Wissenschaft! Man könnte verzweifeln." (20.12.46, S. 329); „nur sagte der Mann ein Dutzendmal [...] .Rassegenossen', wo er früher .Glaubensgenossen' gesagt hätte, u. das war wiedermal ein Sieg der LTI." (22.1.47, S. 342); [auf der Kreiskonferenz zur Delegiertenwahl für die Landeskonferenz] „Zwei Worte zur LTI, LQl: ,Offensive' gegen die Not sei zu viel gesagt, man könne nur ,Milderung' ins Programm setzen. Und: ,Das sogenannte .Organisieren' ist nur ein Ausdruck für .stehlen' (Gehört in die zweite Auflage meiner LTI.)" (4.9.47, S. 429); „[...] in allerletzter Zeile taucht die LTI auf: man muß .unbändige Aktivität' entfalten.,, (25.9.49, S. 687); „LTI ist nicht ausgerottet. .Schreiberlinge', .unter Beweis stellen' (Grotewohl!), ein Arbeiter sogar .fanatisch'" (24.7.50, S. 66); „Im Glückwunsch des ZK zu Oelssners 50jähriger Tätigkeit in der Partei [...]: ,Deine Parteitreue, Kampfentschlossenheit, Pflichtbewußtsein und Hilfsbereitschaft sind ein großartiges Beispiel für alle unsere Genossen [...]" (8.1.52, S. 237); „LQl. Die Wendung zum Nationalismus u. Militarismus! In Deutschlands Stimme Artikel von Wilhelm Koenen über ,Die politische Geburtsstunde unseres Vaterlandes', d.h. über die Schlacht im Teutoburger Wald [...]" (17.8.52, S. 307); .„Unter Beweis gestellt' [...] ist nicht mehr auszurotten" (7.2.53, S. 358); „LQI=LTI.,Stadt und Land - Hand in Hand': Devise der Nazis unverändert wiederaufgenommen" (3.11.54, S. 457); „irgendwo sprach er [Becher] von ¿ersetzender Kritik'. Wenn ich .zersetzend' höre, sehe ich das Hakenkreuz." (15.2.58, S. 675).
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Heidrun Kämper vor meinem Fenster, haargenau wie die HJ, trug aber blaue Hemden (30.9.50, S. 91).
LQI ist nicht nur ausdrucksseitige Identität. Klemperer erkennt Analogbildungen, z.B. die der umgangssprachlichen Euphemisierung: „statt demontieren wird wegschaffen gesagt, u. das ist ein Analogon zu holen. LTI LQI" (11.5.46, S. 242). Bis zu seiner schweren Erkrankung, von der er sich nicht mehr erholt, setzt Klemperer seine LQI-Notizen fort, und noch sein vorletzter sprachkritischer Eintrag vom 12. Mai 1959 (sein letzter Eintrag überhaupt datiert vom 29. Oktober 1959, Klemperer stirbt am 11. Februar 1960) verbucht die seit nunmehr vierzehn Jahren beobachtete Kontinuität: LQI: SZ 23.4.59. .Kollegin Schubert, Hortnerin an der 12. Grundschule: in unserm Hort haben wir es in einigen Gruppen erreicht, daß die Kinder schon selbständig arbeiten und das Führen lernen [...]. Unter der Oberaufsicht einer Hortnerin übernehmen die Kinder den Ablauf von der Mittagsmahlzeit an selbst. So versuchen wir, unseren Arbeiter- und Bauernkindern das Führen zu lernen; denn sie sollen ja einmal den Staat leiten.' Reinster Nazismus, in noch schlechterem Deutsch! (12.5.59, S. 745). „Und so ist alles schwankend" - diese Grundbefindlichkeit Klemperers drückt sich auch in seiner Haltung zum sozialistischen Staat und dessen Ausdrucksformen und damit auch in der Einstellung zur Sprache dieses Staates aus. Klemperer hat keine autorisierte LQI hinterlassen, wie er eine LTI hinterlassen hat. Und noch nicht einmal der Plan, eine solche zu schreiben, wird im Tagebuch artikuliert. Abgesehen davon, daß Opportunität und Kalkül Klemperer nicht fremd waren - noch 1952 sieht er zwar „philologische", nicht aber „sachliche" Kontinuität: Vor ein paar Tagen kam wiedermal ein anonymer Brief an mich, ich verriete meine Gesinnung, denn die jetzige Regierung gleiche der Hitlerischen u. ich müßte eine LQI schreiben. LQI stand wirklich in diesem Brief, u. philologisch hat der Mann recht, auch notiere ich ja längst dazu - aber sachlich hat er eben durchaus nicht recht - auch wenn ich mich im Punkte der Literatur beengt u. tyrannisiert fühle (8.1.52, S. 237). Klemperer ist loyaler Staatsbürger der DDR, was ihn allerdings nicht daran hindert, sich bisweilen öffentlich sprachkritisch zu äußern8 - davor, eine
In seinem Beitrag Zur gegenwärtigen Sprachsituation in Deutschland (1953) etwa verweist er - wie er selbst findet „mit schulmeisterlichen Bedenken" (ebd., S. 23) - auf einige „Fehlgriffe" (wie zum mindestens, meines Erachtens nach, unter Beweis stellen), nicht ohne aber zuvor die Sprachveränderungen seiner Gegenwart zu marginalisieren: „In der deutschen Sprache [...] handelt es sich im wesentlichen nur um stilistische Abweichungen und um die Entwicklung eines besonderen ideologischen Sprachgutes auf unserer Seite" (ebd., S. 16).
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LQI zu schreiben, rettet er sich indes mit dem Argument des Inhalts, dem die Form „lediglich" widerspreche. Erst am Ende seines Lebens ist Klemperer auch gegenüber dem Arbeiter- und Bauernstaat unversöhnlich, wohl auch verbittert, erkennt nur noch Kontinuität und Parallelen: Das Ganze, und dieses Ganze concentriert sich immer mehr auf den einen Ulbricht, unterscheidet sich immer weniger von nazistischer Gesinnung u. Methode. Sag Arbeiterklasse statt Rasse, u. beide Bewegungen sind identisch. Tyrannei u. Enge nehmen täglich zu. Glaubenshetze, Jugendweihe, Kampf gegen .ideologische Coëxistenz' gegen ,Fraktionismus', gegen .kleinbürgerliche Überheblichkeit' - all das ist LQI (14.2.58, S. 673).
3.2. LQI - Archiv der Nachkriegsgeschichte In der Chronologie der Einträge ist LQI - neben der Gleichsetzung mit LTI - bald auch ein sprachliches Archiv, welches die besonderen Bedingungen der Nachkriegszeit konserviert.9 Das erste Wort, welches Klemperer ohne Bezug auf LTI mit der Sigle LQI versieht, ist „Umerziehung" (18.9.45, S. 108) - wahrlich ein Schlüsselwort der frühen Nachkriegszeit. Bis 1948 dann verzeichnet Klemperer sprachliche Merkmale, die in ganz Deutschland das Leben in der Nachkriegszeit bestimmen - die durchnumerierten Befehle der Alliierten, das Kurierwesen und das „Versagen des Telefons". Andererseits: Die Spaltung Deutschlands wird sprachlich früh greifbar. Pajok ist (neben von Klemperer nicht verzeichnetem Soli) Ausdruck für die östliche Variante der Care-Pakete und Tauze Kurzwort für Tauschzentrale eine Einrichtung der SBZ, den Mangel der Nachkriegszeit zu mildern.
„Neuerdings auch das jammervolle Warten auf .Pakete' und auf die Pajok-Anweisung. (Thema für LQI oder für ein Feuilleton: Worte mit neuem Inhalt: Der Westen, das Paket)" (18.7.47, S. 408); „.durch Kurier' [...] senden. Zurück zum Mittelalter, auch ein Stückchen L Q I ' " (21.10.47, S. 449); „Befehl" (LQI) 201 u. 2 3 4 (12.11.47, S. 459); „Die T A U Z E (Sing. u. Plural!) = Tauschgeschäft, die jetzt geschlossenen, mich zur Verzweiflung bringenden .Judenläden' zum Goldumtausch." (29.11.47, S. 465); „Tauze (LQI)" (25.1.48, S. 497); „LQI: Luftbrücke" (28.9.48, S. 591); „Anny Kl. mit ihren jämmerlichen Briefen über die Kosten u. Uneinträglichkeit ihrer Häuser (Plural), von denen sie ärmlichst lebt: das erinnert irgendwie an die verarmte Bourgeoisie im Moskau der Bolschewisten. All das gehört in mein Curriculum - vielleicht in einen Band LQI." (28.9.48, S. 592); „Das Versagen des Telefons u. der Wagen (dazu der Post,Courier' ist ein LQI-Wort geworden, [...]): wesentliches Charakteristikum der Epoche." (26.11.48, S. 609).
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3.3. Sprache des real existierenden Sozialismus Deutschland ist gespalten - der vorläufigen Festschreibung 1949 voraus geht ihr sprachlicher Vollzug, und zwar seit der Aufteilung des Territoriums in Besatzungszonen: LQI aus der Sicht Klemperers ist seit 1945 die Sprache des Klassenkampfs, des real existierenden Sozialismus, die Fachsprache der KPD/SED. 1 0 Klemperer verzeichnet zum großen Teil das uns längst be10
„LQI. Enteignung der ,Junker"' (24.9.45, S. 115); „KPD lehnt VERMASSUNG ab [...]. Wir Marxisten-Leninisten" (10.2.46, S. 196); „,Klassenkampf' [...] ,christliche[r] Sozialismus' [...], Compensationsgeschäfte'. All das ist LQI" (12.9.47, S. 432); .„Monopolkapitalismus' [...], Pfeilerwort der LQI [...]. Beachte auch den .wissenschaftlichen Marxismus'" (30.9.47, S. 439); „LQI [...], Monopolherren" (29.11.47, S. 465); .„kleinbürgerlich"', ,„LQI > Marx??'" (9.2.48, S. 504); „Zur LQI: Der verlängerte Arm der SED (KB, DFD, GSS)" (30.5.48, S. 546); ,„Volksbildungswoche' (LQI!)" (5.10.48, S. 593); „Zur LQI: Das Combinat." (13.10.48, S. 597); „LQI Man sagt innerhalb der Partei nicht mehr: eine Frage .anschneiden' sondern stattdessen: anreißen" (5.11.48, S. 605); „Eröffnung des .Freien Ladens' LQI. Fragwürdigste Angelegenheit" (16.11.48, S. 609); „Zur LQI: Kulturschaffende. - Volkssänger (Ernst Busch < Majakowski < Béranger > französ. Cabarettisten)." (24.12.48, S. 616); „LQI: ,Privatverlag' Privatverleger, sagt Weise, verschwinden. Planungen über Gemeinschaften hin." (12.1.49, S. 620); „Alte Intelligenz, Neue Intelligenz" (12.2.49, S. 627); „Im .Freien Laden': HO=Handelsorganisation (LQI)" (28.2.49, S. 630); ,„das Bad der Werktätigen', die man - leider - von den .Berufstätigen' unterscheidet. Oh LQI\" (20.7.49, S. 664); „LQI: Die Partei neuen Typus (sie)" (25.9.49, S. 687); „Romantische LQI: Untertagekarte (ich soll als OdF [Opfer des Faschismus] eine solche bekommen)" (26.12.49, S. 712); „LQI. Schwerpunktbetriebe. Entflechtung" (24.2.50, S. 16); „Lg/: Dialektisch, positiv, positive u. Selbstkritik" (26.10.50, S. 99); „Technische Intelligenz" (21.2.51, S. 142); „LQI. Früher bloß Republik. Jetzt: Vo/forepublik, demokratische Republik, DDR" (25.2.51, S. 143); „LQI: Der Sowjetmensch. Der einfache Mensch. Der Traktorist" (10.3.51, S. 146); „LQI: Planung" (17.3.51, S. 146); „,Selbstverpflichtung' (LQI)" (20.6.51, S. 179); „Frage hinterher, wie ich mich zum .nationalen Kulturerbe' stelle (LQI. - Programmatische ZK-Anordnung)" (22.6.51, S. 179); „eine [Foto-]Serie von Stahlwerkern (LQI)" (6.10.51, S. 214); „LQI. constructiv und sehr neu u. sehr große Parteieleganz'. Rückverklammerung." (26.11.51, S. 228); „LQI: Sonderschicht für den Frieden fahren" (9.12.51, S. 232); „Lg/. Innerpolitische Demokratie, breit entfaltet." (26.10.52, S. 328); „LQI.: Einfache Menschen! - Staatsbewußt!" (24.1.53, S. 355); „neuestes Schlagwort, .Substanz erhalten' [...] (LQI)" (30.5.53, S. 384); ,„Kasernierte Volkspolizei' (LQI)" (2.7.53, S. 392); „LQI [...] literarisch, journalistisch auf jemanden schießen. (,Kaderwelsch!" - Ich stellte in der Paed. Komm, die Frage, ob ,Kader' endgiltig eine Person, einen Einzelnen bedeuten solle. Man schwieg). Von der Linie abweichen, heiße allzuoft antidemokratisch u. antihumanistisch sein" (17.1.55, S. 469); „Lg/: Schlußfolgem. -Ansonsten - Weltweit" (12.4.55, S. 478); „Lg/. [...] Die Werktätigen. H. sagte: schlechte Übersetzung aus dem Russischen. Dort Arbeiter = Roboter. Ein anderes Verbum für die Arbeitenden, das von uns mit .Werktätigen' übersetzt" (25.4.55, S. 481); „LQI. Ein Artikel der S. Z. 20. 8. 55. [...] Hierin der Satz über die einstige Schule (der Kaiserzeit u. der Weimarer Re-
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kannte Vokabular, welches der Sprachgeschichte der Nachkriegszeit genügte, um die Existenz einer Sprache der DDR zu suggerieren. Klemperer selbst ist - zeitgemäß - Anhänger der Theorie von einer östlichen und einer westlichen Variante der deutschen Sprache. 11 Er verzeichnet: Ausdrücke der sozialistischen Planwirtschaft und Arbeitswelt (Kollektiv, Kombinat, Aktivisten, Werktätige - in der von Klemperer bedauerten Abgrenzung von den Berufstätigen - Schwerpunktbetrieb, Dorfwirtschaftsplan, Planung, Stahlwerker und: Traktorist, diese Leitfigur des sozialistischen Menschenbildes, diese Einheit von Mensch und Maschine). Er registriert Leitvokabeln des dialektischen Materialismus (Monopolkapitalismus, alte/neue/technische Intelligenz, dialektisch, positiv, Selbstkritik, Selbstverpflichtung, konstruktiv, bürgerlich, Proletarierkind, Kapitalistenknecht) - bei der Verwendung solchen Vokabulars erkennt Klemperer Zwang und Äußerlichkeit: „LQI. Alles muß marxistisch-dialektisch gesagt, mit den Schlagworten der Doctrin gespickt sein" (25.9.49, S. 687). Klemperer verzeichnet Wörter des sozialistischen Alltags (Volksbildungswoche, Freier Laden, HO, Bad der Werktätigen [i.e. Bad Elster]), des selektiven Geschichtsbewußtseins (nationales Kulturerbe), des Machterhalts (Innerpolitische Demokratie) und der Angst vor dem Verlust der Macht (unterwandern), schließlich die Fachsprache des sozialistischen Systems der DDR (kasernierte Volkspolizei, Kader). Neben den lexikalischen Verzeichnungen interessieren hier die Kommentare des Zeitgenossen, der die Einführung des Vokabulars, welches den Ausdruck der neuen und neu zu lernenden Weltanschauung leistet, unmittelbar erlebt; der erlebt, wie sich ein neues gesellschaftliches System sprachlich etabliert, und der diese Etablierung sprachkritisch begleitet. Implizite Verständnislosigkeit drückt sich aus in dem lapidaren Kommentar „früher nannte man das Collegium", um die Einführung des Fahnenworts Kollektiv (Klemperer schreibt Collektiv) zu bewerten (4.7.47, S. 404). Die Macht der Partei - die der KPD/SED löst die der NSDAP ab, und Klemperer mag mit Beklommenheit die Personifizierung zur Kenntnis genommen haben: „Wiederholt hörte ich [...] man müsse abwarten, wohin einen die Partei stellen werde" (29.11.47, S. 465). Klemperer zieht kulturgeschichtliche Parallelen: „LQI: [...] Aktivisten. Hennecke-Aktivisten < StachanowSystem. Cf. das Ehrgeizsystem der Jesuitenschulen" (16.11.48, S. 608). Der
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publik): ,In der Schule sollte der unbarmherzig herabsausende Knüttel des bürgerlichen Lehrers die Proletarierkinder zu stumpfen Kapitalistenknechten erziehen.' - Der Kader = der einzelne Funktionär etc. Steht jetzt schon im Gesetzblatt der Volkskammer" (24.8.55, S. 505); „LQI. Befreiungskriege (nicht Freiheitskriege) - Unterwandern" (29.11.57, S. 663). Anfang 1950 z.B. verfaßt er einen Artikel und einen Vortrag zum Thema „Sprachzerreißung" (11.1.1950, S. 6 u.ö.).
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sozialistische Wettbewerb der sowjetischen Stachanow-Bewegung 12 und von deren Variante, der Hennecke-Aktivisten der SBZ, scheint ihm vergleichbar mit dem „Ehrgeizsystem der Jesuitenschulen". Auch klassenbewußt, dieses Schibboleth des Sozialismus, wird als LQIsprachlich registriert: Wenn Klemperer einfach notiert „An die Stelle von ,artbewußt' scheint jetzt .klassenbewußt' getreten. LQI" (10.4.49, S. 638f.) oder auch „artgetreu > klassenbewußt: LQI" (18.4.49; S. 641), dann sehen wir: Klemperer kommentiert den Sprachgebrauch seiner Zeit und entlarvt (sie! ein LQI-Wort!) ihn - entweder, indem er historische sprachliche Parallelen zieht oder indem er sprachliche Strategien zur Bewußtseinslenkung aufdeckt: Zur LQI: BEFREIEN. Niemand erobert mehr, jeder .befreit': die .volksdemokratischen' Armeen tun es, die Partisanen haben es getan, u. in Noacks Programmschrift der Neutralregierung will der Westen die Balkanländer durch Kreuzzug befreien. Kreuzzug für das Christentum, für Europa, für die atlantische Kultur (6.9.49, S. 679). Wie in den Jahren 1933 bis 1945 nimmt Klemperer Sprachregelungen zu politischen Zwecken mit der ihm eigenen Sensibilität wahr: LQI. Wie man den Leuten die Aufrüstung schmackhaft macht. Der von der nationalen Front gebrauchte, sanetionierte Ausdruck .nationale Verteidigungskräfte' sei für die Werbung noch zu schroff; man möge bei .Volkspolizei' bleiben, die verstärkt werden müsse - für dieses ,Muß' seien Beispiele zu bringen (14.6.52, S. 292); Gespräche [...] über die .zweite Parteiconferenz'. Die ungeheure Kraßheit des Widerspruches u. der plötzlichen LQI-Änderung. Rede von Frieden, Einheit, ,nachwievorfreienwahlen' - und Beginn des sozialistischen Aufbaus, nationale Streitkräfte u. - vor allem: der Krieg von 1813 war ,ein nationaler Befreiungskrieg'. Vorher waren es ,die ,sogenannten' Befreiungskriege'. Dieses ,sogenannt' kann ich gar nicht genug herausheben. Borges sagte: Gestern noch war es absolut verboten, vom sozialistischen Aufbau unserer Republik zu reden. Wir waren eine .antifaschistisch demokratische Republik', keine, ausdrücklich keine .Volksdemokratie' (11.7.52, S. 299). Werbe- statt Agitationsausschuß, Volkspolizei statt nationale Verteidigungskräfte, antifaschistische demokratische Republik statt Volksdemokratie Klemperer scheint Beispiele aus dem Schulbuch zu liefern: In der Sprachlenkung zu politischen, sprich manipulatorischen Zwecken wird Wirklichkeit sprachlich konstituiert. Hier interessieren die Spuren des sozialistischen Kampfs um den ersten Platz in der Völkergemeinschaft, welcher von Anfang an darauf angelegt war, den Wettbewerb mit dem Kapitalismus zu gewinnen:
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Der Bergarbeiter Stachanow stellte 1935 einen Förderrekord auf, indem er die tägliche Arbeitsnorm um das 14fache überbot.
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187 Den Dorfwirtschaftsplan vorwärts treiben (4.3.51, S. 145); LQI. Vorantreiben [...], Operativ arbeiten (28.5.51, S. 169); weltweit (19.1.53, S. 353); ,Noch'noch besser machen, noch mehr arbeiten, etc. (25.4.55, S. 481).
Im vorliegenden Zusammenhang interessiert der Eintrag, der dokumentiert, daß die Sprachgemeinschaft Grenzen zieht - und das heißt hier, kleinen Alltags-Widerstand leistet: „LQI: hier [VVN-Sitzung] zum erstenmal einfach ,das Heer', ,die Armee' u. nicht mehr die ,Streitkräfte der nationalen Verteidigung'" (20.7.52, S. 302) - das ist Verweigerung im Gewand sprachökonomischer Vereinfachung. Für die LQI notierte Klemperer: „das Gesetz (Strafrechtsergänzung) [sei] ein kluges, großzügiges u. parteiliches Instrument der Rechtsprechung der DDR" - und er kommentiert entsetzt: „Parteiliche Justiz!" (26.1.58, S. 673). Die Grundfesten des Demokraten sind hier erschüttert und seine Lesart von „parteiliche Justiz" stammt aus dem selben Jahr, in dem er bekennt, seit fünf Jahren vom Glauben an den sozialistischen Staat abgefallen zu sein. 13 Abgesehen von lexikalischen Buchungen versucht Klemperer vereinzelt auch, morphologische und phonetische Erscheinungen zu erklären, so z.B. die Verwendung des Präfix ver- in dem neuen Wort verplanen: Noch zur LQI: verplanen: Früher: ich habe mich versprochen; analog also: ich habe falsch geplant. Stattdessen jetzt: ich habe eingeplant, eingearbeitet in einen Gesamtplan, sozusagen verstaut (13.4.51, S. 153f.); so z.B. die Aussprache des sozialistischen Fahnenworts
imperialistisch:
LQI: Impera/i'stisch, die neue Aussprache, nicht mehr Fremdwort, kaum noch mot savant, vielmehr zur neuen Volkswissenschaft gehörend. Der Laut aus dem Wort, das Wort aus dem Zusammenhang des Deutschen erklärt (7.1.50, S. 5). Es sei hier an das Unverständnis erinnert, mit dem Klemperer Vosslers Programm einer idealistischen Sprachbeschreibung begegnete (s.o., S. 177f.): Die Darstellung „sämtlicher Sprachformen" von der Stilistik bis hinab zu Syntax, Flexion und Laut kam für Klemperer ursprünglich nicht in Frage. Er hat - wie es scheint - nunmehr seinen Spott und Widerstand aufgegeben, morphologische und phonologische Auffälligkeiten sind ihm verzeichnenswert geworden. Wenn Klemperer die Sprache seiner Zeit betrachtet, erweist er sich so zugleich als ausgezeichneter Schüler Karl Vosslers.
„Vor 5 Jahren bekam ich von Pieck den Nationalpreis. Damals war ich noch gläubig. Heute [...].. es wissen hier schon einige, wie ich zur Diktatur Ulbricht stehe." (7.10.58, S. 714).
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3.4. Sprache des Kalten Kriegs Die Sonderform des sozialistischen Deutschlands und der sprachliche Kampf um seine Etablierung und Erhaltung in einer Variante der LQI bedingt die in dieser Konstellation begründete Variante der LQI als Sprache des Kalten Kriegs. 14 Seit November 1945 - also sehr früh hierzu der erste Eintrag - wird der Kalte Krieg bei Klemperer sprachlich vemittelt. Aus der Ost-Perspektive, aus derjenigen Sicht, die aus dem westdeutschen Blickwinkel .jenseits des ,Eisernen Vorhangs'" heißt - dieses wichtige Wort des Kalten Kriegs - Eiserner Vorhang - notiert Klemperer nicht. Entsprechend sind „Der Westen!" (14.7.47, S. 407) und „drüben" (26.7.48, S. 568) herausragende Vokabeln, die weniger eine geographische Gegebenheit bezeichnen, als vielmehr ein ganzes Gesellschaftssystem einschließlich seiner Bewertung. Unter dieser Voraussetzung leuchtet ein, daß Klemperer westdeutschen Einfluß auf die LQI vermerkt: „LQI: vom Westen eindringend: ABC-Waffen (atomar, biologisch, chemisch), das ABC des Westens. Modernes Symbol des Weltuntergangs" (30./31.10.54, S. 457). Ob Klemperer ein ,Kalter Krieger' war oder ob der Volkskammerabgeordenete lediglich (und verständlicherweise) dasjenige Gesellschaftssystem, dem er trotz aller Kritik bekennend angehörte, verteidigte, ist hier nicht zu entscheiden.15 Jedenfalls läßt er über den Eintrag ,¿,QI: ,Αη einen Tisch'. In der Weimarer Republik: Round table. Jetzt überall die Spruchbänder, Plakate: Deutsche an einen Tisch! - Bonn hat natürlich nicht geantwortet" (4.3.51, S. 145) die nämliche kolportierte Friedensliebe und Gesprächsbereitschaft der DDR er14
„Frankfurt das deutsche Vichy oder die Vichyregierung" (29.11.45, S. 465); „Bizonesien, milder Bizonien" (29.11.47, S. 465); „Der Philologe aus Göttingen zu uns. Er hat .drüben' (beachte dies Drüben! - LQI) der KP angehört" (26.7.48, S. 568); „LQI: Die Zone. Der Münchener klerikale Verleger: 80 M Honorar. Wie überweisen? [...] Ich zahle Tagescurs der Westmark (erst D-Mark, jetzt, glaube ich, B-Mark, denn D-Mark sagen WIR officiell)" (28.9.48, S. 592); „(der Westen LQI) [...] LQI: Der spalterische .parlamentarische Rat' für [...] Bizonien (Tägl. Rundschau vom Sonntag 3.X)" (5.10.48, S. 594); „[...] LQI-Wort [...] nicht mehr [...] westlichen [...] Besatzungstruppen [...], sondern [...] Interventionstruppen" (25.11.50, S. 106); „amerik. ,Gangster-' (LQI)-Soldaten" (4.3.51, S. 144); „er wird Adenauer ,hinwegfegen' (LQI!) [...], ,Wir lassen uns nicht provozieren' (LQI)?" (17.3.51, S. 146); ,JLQI Diversanten (ganz neu, vorher [...] ,Spalter')" (1.6.52, S. 89); „LQI-Ausbeute Republikflucht, Abwertung, Kalter Krieg, .Wachsamkeit.'" (23.9.55, S. 512); „Lg/. Entschärfen. - Machtblöcke [...] Tauwetter" (20.3.59, S. 741).
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Es sind wohl auch hier Ambivalenz, Schwanken, Unentschlossenheit zu veranschlagen - diese Primärbefindlichkeiten Klemperers: „Moskau muß entscheiden u. beschließen, was Sprache, was Literatur ist. In diesen Dingen herrscht bei uns schroffere Diktatur als im Westen. Aber ich betrachte diese geistige Diktatur als eine vorübergehende - vorübergehend notwendige - u. sich lockernde, u. ich glaube, innerhalb dieser Diktatur sind wir fortschrittlicher u. menschlicher als die Amifreunde." (1.11.52, S. 329).
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kennen, die vom Neuen Deutschland suggeriert wurde. Gleichzeitig aber entlarvt er auch in diesem Kontext die sprachlichen Suggestionstechniken, die als „Propagandasprache" in die Sprachgeschichte des 20. Jahrhunderts eingegangen sind: LQI. Ich kann das Wort einkerkern nicht mehr hören. .Eingekerkerte Patrioten' ist Beruf u. tägliche Zeitungsrubrik (25.12.55, S. 527); Einkerkern - schmachten: politisiert u. abgestumpft: jeder politisch Mißliebige, im Bonner Staat verhaftet u. verurteilt, ist eingekerkert, schmachtet. In gleichem Fall hier: zur gerechten Strafe verurteilt, in Zuchthaus etc. Die gehobene Sprache also im Dienst des Politischen (20.3.59, S. 741).
Wir halten fest: Kontinuierlich trägt Klemperer bis 1959 zum Thema Spaltung Deutschlands seine sprachlichen Beobachtungen ein. Die Spaltung selbst ging ihm auf die Nerven - sieben Jahre nach ihrem endgültigen Vollzug (vgl. den Eintrag zum 1.10.56, S. 582). Anfangs wird sie ihn weniger berührt haben. Er hat seine Wurzeln und auch nach 1945 bis 1949 - also bis zur verfassungsmäßigen Grenzziehung zwischen zwei deutschen Staaten seinen Lebensmittelpunkt in Berlin und in Dresden. Nach 1949 wurde ihm also in dieser Hinsicht nichts genommen. Und den Mauerbau mußte er nicht mehr erleben und kommentieren - wie hätte ein Eintrag zu diesem Ereignis ausgesehen?
3.5. Neue Umgangssprache LQI ist eine von Klemperer selbst nicht abgegrenzte sprachliche Existenzform, eine offene Kategorie. Zwar ist sie ursprünglich aus der Beobachtung einer Kontinuität von LTI entstanden, doch eine - anfangs wohl - erwartete, wohl auch von Klemperer vermutete Beschränkung auf Sprache der Politik, der Propaganda, der Ideologie oder der sozialistischen Gesellschaftsformation ist nicht erkennbar. Denn: LQI ist auch die neue Sprache des täglichen Umgangs, Mode- oder Schlagwörter, die Klemperer auffallen - die nicht neu sein müssen, die nicht unbedingt im politischen Kontext stehen - gehören dazu. 1 6 In dieser LQI-Variante ist die z.T. saloppe Umgangs16
„Beachte überfahren. Taucht jetzt öfter auf. LQI??" (21.8.46, S. 292); „[...] musikalisch .rahmen' (Modewort der LQI.)" (30.8.47, S. 425); „Lß/. Man spricht, ordnet an etc. ,im Landesmaßstab, im Kreismaßstab' usw." (15.10.47, S. 446); „Exlistenzialismus] u. ,genuin' sind die Modeworte - LQI." (25.10.47, S. 451); „.musikalische Rahmung ' (29.11.47, S. 465); „2 vorangehende Scenen des .Augenzeugen' (LQI - das neue Wort für Luce vel Wochenschau)" (10.1.48, S. 491); „seit wann sagt man ,Uni' (LQI)" (29.4.48, S. 533); „[...] des Weimarer Verlages Werden u. Wirken (LQI, diese Doppeltitel)" (10.10.48, S. 595); „LQI: Sanierstelle (Venerologe)" (25.2.49, S. 630); „Eine große Rolle spielt .darüber hinaus'. E. sagt, das habe sie schon in einem Wort geschrieben gesehen."
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spräche, sind z.T. metaphorisch gebrauchte Ausdrücke und Phraseologismen verzeichnet (überfahren, schiefliegen, Wir armen Würstchen, gut ankommen, jmdm. etwas unter die Weste jubeln, Schlußlicht, so weit, so gut, Knüller, das ist schau, Schnulze)·, außerdem Wörter des „Zeitgeistes", des intellektuellen und politischen Diskurses im weiteren Sinn (Existenzialismus, genuin, Text, entlarven, abstrakt, Perspektive, Abwertung, überfordern, ausklammern) sowie Wortwitz (Perlonbier). Ich möchte auch gar zu gern der Kulturgeschichtsschreiber der gegenwärtigen Katastrophe werden. Beobachten bis zum letzten, notieren ohne zu fragen, ob die Ausnutzung der Notizen noch einmal glückt - dieser inzwischen berühmte Ausruf (17.1.42, S. 12) ist Klemperers Generalbaß der sprachkritischen Begleitung seiner Zeit - man muß eigentlich sa(25.9.49, S. 687); „Zur Sprache: Seit wann ist - sogar in meinem Sprachgebrauch - Fahrer für Chauffeur eingebürgert?" (26.12.49, S. 712); „Du liegst schief (Lg/)" (4.6.50, S. 41); „als ,Paten' {der Ausdruck, LQI)" (16.6.50, S. 46); „Wir armen Würstchen [...] ist es LQI?" (24.7.50, S. 65); „Lg/. Schiefliegen. Kleinschmidt sagt: > Börsenjargon. - Traumfabrik (auf Filme)." (20.2.51, S. 139); „In allen modernen Opernkritiken ist immer mehr vom Text als von der so u. so zu deutenden - Musik die Rede." (25.2.51, S. 143);,,„Raststätte' (LQI)" (20.4.51, S. 156); „Dieses ganze .Entfalten' (LQI) einer neuen Kunst [...]" (9.3.52, S. 252); „Zu LQI: wo kommt der ,Barras' her, seit wann existiert er?? Niemand weiß es." (29.5.52, S. 289); „ L g / - Zerfließen des Begriffes .humanistisch'. Grotewohl sagte neulich in der Kammer, aus Stalins Angebot einer friedlichen Zusammenkunft mit Eisenhower könnte Gutes kommen, wenn man in USA nur ,.humanistisch' [sein?] dürfte. Er meint natürlich human. [...] ,Bespielung' (Landbespielung durch Volksbühne, Orte bespielen) Reportage (ist jetzt in den Oberschulen als lit. Begriff zu erklären)." (7.2.53, S. 358); „LQI. [...] entlarven [...] jetzt so beliebt wie entfalten." (14.2.53, S. 359); „abstrakt [auf Malerei bezogen]" (2.3.53, S. 362); „Von einem neuen .Rennrodel', der das alte .Sportgerät' 1953 mattsetzte. Sachs Ztg. 10/1 55. Artikel,Rodeln - ein emstzunehmender Sport?' von Dr. Heyger, Ilmenau." (10.1.55, S. 467); Ausklammern, torpedieren [...] LQI des gestrigen .Seminars'" (5.6.55, S. 488); „Atommeiler (LQI)" (15.11.55, S. 522); „Das neue Modewort, von Lucacz proklamiert: Perspektive'. Ein neues Wort für die Wiederentdeckung der ältesten Selbstverständlichkeit, daß ein Parteiprogramm, ein angehängtes, kein Romanziel u. -abschluß ist." (16.1.56, S. 530); „Alles sei ,gut angekommen' [...] heute Modewort. Ebenso: jem. etwas , unter die Weste jubeln' vel schieben, a) Bühnensprache b) < russisch?" (19.2.56, S. 537); „LQI. Überall als politisches Schlagwort .attraktiv'. H. meint mit Recht < Kabaret- u. Circusplakat: Attraktion." (18.3.56, S. 539); „.Schlußlicht' - aktuellstes Sportwort [...]" (19.8.56, S. 577); „Lg/. Im Abgeordnetenkabinett: Perlonbier, [...] .Perlon - hauchdünn.' - Bei Hans Mayer auf einer Seite: entschärfen, abschirmen." (20.8.56, S. 578); „,So weit, so gut' (Wieder LQI, jeder Journalist gebraucht die Phrase. Stammt sie von Lessing??)" (16.9.56, S. 580); „Beachte für LQI: Abwerbung -überfordern - neuestens [...] .Knüller'" (1.3.57, S. 607); „LQI: Abwürgen - ausklammem (Technik!). ,Das ist schau' (Woher? Seit wann?). Eine Operetten- oder Kino-Schnulze (Woher? Seit wann?)" (3.8.58, S. 698).
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gen: seiner Zeiten, da Klemperer ja Zeitgenosse der Kaiserzeit, der Weimarer Republik, der Nazidiktatur, der Besatzungszeit und nun schließlich auch der DDR-Zeit ist. Er beobachtet seine Umgebung stets auch sub specie linguae. Die Registrierung sprachlicher Gebrauchsweisen gehört zu Klemperers Verständnis seiner Zunft, und er übt mit ihrer Verzeichnung nichts anderes als seine Profession aus. Dem idealistischen kulturkundlichen Philologen ist Sprache ein Spiegel, in dem er den Geist einer Nation, eines Volkes, auch des Denkens ausgedrückt findet (vgl. dazu Kämper 2001).
4. Was LQI ist und nicht ist Halten wir fest: Ebensowenig wie der lexikalische Bestand der LQI begrenzt zu sein scheint, ist auch ihr Platz im kommunikativen Komplex der Gesamtsprache eindeutig festgelegt. Klemperer selbst gibt Zuordnungshinweise, die aufs Ganze gesehen nur eine mehrdimensionale Kategorisierung zulassen. Er unterscheidet z.B. zwischen „allgemeiner LQI" und „Parteisprache": Sprachlich beachte: das Collektiv. Das Aktiv. Das Referat. Der starke Genösse. Im Landesmaßstab. Die Anrede ,Genösse', .Kamerad' (VVN). Wieweit Parteisprache, wie weit allgemeine LQI, wie weit russischer Provenienz? (18.10.47, S. 448).
LQI wäre also eine allgemeine sprachliche Erscheinung, nicht Parteisprache. Dazu paßt, wenn Klemperer „Klischeephrasen", „Funktionärsdeutsch" und „LQI" voneinander trennt: Ich predige bei jeder dieser Ansprachen, wo immer erwogen wird, wie man die Menge fassen kann, immer u. immer wieder: Keine Klischeephrasen! Kein Funktionärsdeutsch. (Und keine LQI! [...]) (9.5.48, S. 535).
Gleichzeitig macht Klemperer den Ursprung der LQI in der Gesellschaftstheorie des staatlichen Gemeinwesens aus, in dem er lebt. Die LQI entspringe dem Marxismus: Marxismus: eine Gesamtphilosophie, keine nur politische oder nur wirtschaftliche Doctrin, das ist jetzt die überall central gestellte Deklaration und Fundamentierung der LQI (31.10.48, S. 601)
- nachdem er bereits zuvor ,,russische[...] Provenienz" (18.10.47, S. 448) vermutet, zu der er dann systematische Beobachtungen mitteilt. 17 Indem „Einfluß der Russen auf LQI beachten. In dem .Lenin' (deutsch im Moskauer fremdsprachlichen Verlag): Volkstümler. Dorfarmut. (Nicht etwa wie französ.
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Heidrun Kämper
Klemperer in dieser Logik der LQI einen Platz im politischen System des real existierenden Sozialismus zuweist, erweist sich LQI als die ostdeutsche Variante der deutschen Sprache - und mit Beklommenheit registriert der am Ende doch wohl naive politische Beobachter und Teilnehmer am politischen Leben in der DDR Abhängigkeiten. Daher ist ihm „interessant, daß man auch im Westen von Schwerpunkten ' spricht; ich hielt das für LQI" (1./2.6.55, S. 489). In dieser Lesart dient LQI dazu, sich aggressiv gegen den politischen Gegner im Westen abzugrenzen. 18 In dieser Lesart ist sie aber auch mit Mißtrauen verzeichneter Ausdruck eines autoritären politischen Systems: LQI-Anzeichen. Es heißt jetzt in jedem Zusammenhang, wo früher ein Beschluß oder Glückwunsch oder Ähnliches: ,das ZK' oder ,das Politbüro' unterzeichnet war: ,das ZK (od. das Politbüro) mit Walter Ulbricht an der Spitze.' [...]. U. gewährte der Süddeutschen Ztg ein Interview, während Grotewohl ,in Urlaub', W. U. allein, nicht die Partei, gratuliert der KPdSU zu irgendetwas (27.2.58, S. 678). Andererseits: Klemperer ordnet einen Beleg aus einer westdeutschen Zeitung ohne Bedenken der LQI zu, scheint keinen Unterschied zu machen zwischen Ost und West - LQI scheint auch ein gesamtdeutsches Phänomen zu sein: LQI. (Technik) ,Aus dem Geigerzähler knattert uns die Wahrheit entgegen.' Ich las das in irgendeiner westdeutschen Zeitung in Tübingen. Feuilleton über neue Untersuchungsmethoden - der Tinte sind radioaktive Salze beigefügt zur Untersuchung einer Schrift (17.7.57, S. 633).
une pauvresse, sondern Landarbeiter oder ländliche Proletarier). Spalterisch von Rußland herkommend??" (16.1.49, S. 620); „Am Schluß - LQI < SU - ,Es lebe der Friede, es lebe [...]"' (2.7.49, S. 662); „LQI: Werktätige. [...] Muß auf russisches Wort zurückgehen. Seit wann im Deutschen? - Auf dem paedagog. Congreß in Leipzig (dieser Tage) wird die Auszeichnung .Verdienter Lehrer' vergeben. Sowjetisches Vorbild." (23.8.49, S. 673); „[...] weil sie das Klassenbewußtsein verloren hatten u. ohne foste politisch-ideologische Basis' waren. Sie ,bezogen trotzkistische Positionen' [...] ,Der Feind conzentriert sich [...] auf kleinbürgerliche Elemente' [...] Dies ist also unverhüllt die Sprache der Bolschewiki, die engste Anlehnung an die SU [...], macht die SED gar nichts als nur einen Befehl der SU ausführen? Und was bestimmt die SU, deren Politik doch die überlegteste ist? Vollkommenes Rätsel. - Sprachliche Seite beachten!!" (3.9.50, S. 80) „Frank [...] erzählte von Kollegenbesuch aus dem Westen u. von der Unmöglichkeit mit ihnen zu discutieren - das sei eine andere Sprache." (8.7.50, S. 55); „Der 17. Juni 53 wurde zum Tag X bestimmt, an dem man von Berlin her die DDR aufrollen wollte. Das faschistische Abenteuer ist gescheitert. (LQI)." (20.6.53, S. 389); „Lß/. Tango-Jünglinge aus Westberlin." (22.6.53, S. 390).
LQI
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Klemperers LQI ist - aufs Ganze gesehen - wie seine LTI eine lexikalische Kategorie. Es sind im wesentlichen Wortschatzerscheinungen, die Klemperer - im pragmatischen Kontext - mitteilt. Als LQI ist von ihm nicht explizit ausgewiesen, was wir die kommunikative Dimension von Nachkriegsdeutsch nennen können. Insofern Klemperers Sprachbegriff auf das Wort oder die Wortgruppe bezogen ist, bleiben sprachliche Erscheinungen jenseits der Wortgrenze ausgeschlossen. Wohlgemerkt - ausgeschlossen von einer expliziten Zuweisung in die LQI-Kategorie. Klemperer notiert akribisch Gespräche, benennt Sprachhandlungen, registriert spezifische kommunikative Konstellationen - ohne sie aber als LQI zu identifizieren. Der für die Nachkriegszeit so typische und Victor Klemperer als Opfer des deutschen Faschismus so unmittelbar angehende Entnazifizierungsdiskurs (vgl. dazu Kämper 1998) etwa bleibt so unmarkiert wie eindringlich von Klemperer dokumentiert. Aus seinem Tagebuch ist das typische Klima zu rekonstruieren, besonders aus den Einträgen der ersten Nachkriegsmonate: dieses ständige „Winseln um Zeugnisse" (18.9.45, S. 109), dieses „plump antastende Anbandeln" - Klemperer ist nunmehr „der einflußreiche Jude" (5.9.45, S. 94), der Leumundszeugnisse ausstellen soll. Was Klemperer 1941 vorausahnt - „Es ist ehrenhaft, jetzt gefangen zu sein, es wird einem künftigen Leumundszeugnis zugute kommen" (23.6.-1.7.41, S. 615) - ist real, der Wert von Leumundszeugnissen ist existentiell. Insofern er uns hier vorführt, daß seit Mai 1945 das deutsche Nachkriegsparadigma festgeschrieben wird: „jeder will nur zwangsweise Pg. gewesen sein" (19.6.45, S. 9) - haben wir ein Dokument verfügbar, welches vor einer Mythologisierung dieses Paradigmas und der Gefahr seiner endlichen Infragestellung schützt. LQI ist fanatisch und zersetzend (LTI), ist Kombinat und Kollektiv, ist Wir armen Würstchen - LQI ist die Sprache der Kontinuität und des Umbruchs, die Sprache eines neuen gesellschaftlichen Systems und dessen Etablierung, die Sprache des Kalten Kriegs und die neue Umgangssprache vermittelt aus der spezifischen Perspektive des bekennenden SBZ/DDRBürgers. LQI ist aber nicht nur die östliche Variante der deutschen Sprache. Klemperers sprachliche Inventur der ersten vierzehn Nachkriegsjahre gibt Anlaß, der Vorstellung von einem gesamtdeutschen Sprachgeschichtsbild näher zu treten.
Literatur Christmann, Hans Helmut (1974), Idealistische Philologie und moderne Sprachwissenschaft. München. Ehlich, Konrad (1998), LTI, LQI,...' Von der Unschuld der Sprache und der Schuld der Sprechenden." In: Kämper, Heidrun/Schmidt, Hartmut (Hrsg.)
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Heidrun Kämper
(1998), Das 20. Jahrhundert. Sprachgeschichte - Zeitgeschichte. Berlin-New York, S. 275-303. Fischer, Kristine (1999), Victor Klemperers ,LTI. Notizbuch eines Philologen.' Ein Kommentar. Masch. Diss. Kiel. Kämper, Heidrun (1996), „Zeitgeschichte - Sprachgeschichte. Gedanken bei der Lektüre des Tagebuchs eines Philologen." In: Zeitschrift für germanistische Lingusitik 24, S. 328-341. - (1998), „Entnazifizierung - Sprachliche Existenzformen eines ethischen Konzepts." In: dies./Schmidt, Hartmut (Hrsg.), Das 20. Jahrhundert. Sprachgeschichte - Zeitgeschichte. Berlin-New York, S. 304-329. - (2000), „Sprachgeschichte - Zeitgeschichte. Die Tagebücher Victor Klemperers." In: Deutsche Sprache 28, Heft 1, S. 25-41. - (2001), „Zum Kultur- und Sprachkonzept bei Victor Klemperer." In: Siehr, Karl-Heinz (Hrsg.), Victor Klemperer in der Schule. Materialienbuch. Berlin. Klemperer, Victor (1925), „Offener Brief an Karl Vossler." In: Jahrbuch für Philologie, Jg. 1, Heft 1 , S. 245-268. - (1953), Zur gegenwärtigen Sprachsituation in Deutschland. Berlin. - (1987), LTI. Notizbuch eines Philologen. Köln, 4. Aufl. - (1995), Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Bd. 1: Tagebücher 1933-1941, Bd. 2: Tagebücher 1942-1945. Hrsg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer. Berlin. - (1996), Curriculum vitae. Erinnerungen 1881-1918. 2 Bde. Hrsg. von Walter Nowojski. Berlin. - (1996), „Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum." Bd. 1: Tagebücher 1918-1924, Bd. 2: Tagebücher 1925-1932. Hrsg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser. Berlin. - (1999), „So sitze ich denn zwischen allen Stühlen." Bd. 1: Tagebücher 19451949, Bd. 2: Tagebücher 1950-1959. Hrsg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser. Berlin. Vossler, Karl (1904), Positivismus und Idealismus. Heidelberg.
Siegfried Grosse (Bochum)
Politisches Zeitgeschehen und die deutsche Gegenwartssprache 1. 2. 3. 4.
Wie weit reicht die deutsche Gegenwartssprache? Sprachliche Folgen der politischen Teilung Deutschlands Die Sprache der Wende und Wiedervereinigung Zur heutigen Situation
1. Wie weit reicht die deutsche Gegenwartssprache? Die jüngste Periode der deutschen Sprachgeschichte trägt die Bezeichnung Deutsche Gegenwartssprache. Sie beginnt nach allgemeiner Übereinkunft mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dauert bis heute an, obwohl seit 1945 mehr als 55 Jahre vergangen und sogar Jahrhundert- und Jahrtausendgrenzen überschritten worden sind. Die deutsche Sprache hat seither manche phonologische, morphologische, grammatikalische, stilistische und vor allem viele lexikalische Veränderungen erfahren. Mit jedem Jahr wird der Zeitraum des sprachwissenschaftlichen Gegenwartsbegriffes größer, während zugleich seine semantische Überzeugungskraft abnimmt. Denn für immer mehr Sprachteilhaber liegt das Kriegsende weit vor der eigenen Geburt, so daß sich die reale Gegenwart für sie anders darstellt als die virtuelle der sprachwissenschaftlichen Terminologie. Wenn ich Studierende der Germanistik frage, auf welche Zeitspanne sie die Sprache der Gegenwart in die Vergangenheit auszudehnen vorschlagen, da man Entwicklungen nicht punktuell am Hier und Heute, sondern nur über einen längeren Zeitraum hin vergleichend beobachten und analysieren kann, kommt stets die Antwort: auf höchstens 5 Jahre; denn sie würden z.B. bei der Teilnahme an Festen ihrer ehemaligen Schulen immer wieder feststellen, wie fremd und sogar teilweise nicht mehr verständlich ihnen die aktuelle Schülersprache geworden sei. Nun wird man eine so schnelle Veränderung wie in der von Moden geprägten Jugendsprache in anderen Wortständen kaum beobachten können. Das Tempo des Wandels verläuft in den einzelnen Wort- und Bedeutungsfeldern mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Welchen Weg soll man also zwischen diesen beiden extremen Varianten des Begriffs Gegenwartssprache einschlagen? Zwischen dem starren
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sprachwissenschaftlichen Terminus mit der längerfristigen Gültigkeit und der spontanen Entscheidung für eine kurze Zeitspanne, die engagierte Sprachbenutzer und künftige Lehrende treffen? Es spräche manches dafür, den Terminus Gegenwartssprache als Kennzeichen einer sprachlichen Epoche von einer fixen Jahreszahl als Anzeichen des Beginns oder von einer bestimmten Menge sprachlicher Veränderungen zu lösen und statt dessen einen gleitenden Zeitraum von etwa 80 Jahren zu wählen. Das wäre die Spanne der erhöhten heutigen Lebenserwartung. Dann wäre Gegenwart innerhalb des Neuhochdeutschen ein generationsumgreifender Terminus, der die lebende Kommunikationsgemeinschaft meint, in der man mit- und gegeneinander spricht, hört, liest, schreibt und zu den Texten Bilder produziert und rezipiert. Das geschieht sowohl innerhalb der gegebenen sozialen, bildungsorientierten, politischen, regionalen, altersbedingten und fachspezifischen Grenzen, als auch über diese hinweg. Damit entstünde zunächst eine wertfreie (vielleicht sogar recht heterogene) Arbeitsbasis für eine spätere ordnende Systematisierung, die mit dem gleitenden zeitlichen Rahmen natürlich nicht gegeben ist. Oder aber man wartet, bis die germanistische Sprachwissenschaft eine neue Periodisierungszäsur einführt. Diese wäre eventuell denkbar, wenn die Menge der eingetretenen sprachlichen Veränderungen groß genug erscheint, um eine neue Orientierungsmarkierung begründen und benennen zu können, was man sich z.B. nach dem abgeschlossenen Vereinigungsprozeß der europäischen Staaten und den damit verbundenen sprachlichen Auswirkungen vorstellen könnte. Die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte zeigt einen mehrfachen Paradigmenwechsel in der Wahl der Gliederungskriterien. Die Abgrenzungen zwischen dem Alt- und dem Mittelhochdeutschen erfolgen auf Grund sprachlicher Veränderungen in der Lautung und Schreibung (z.B. Volltonigkeit der Endsilben; Monophthongierung/Diphthongierung). Allein diese beiden ersten Stufen der deutschen Sprachgeschichte werden nach Kriterien des überlieferten sprachlichen Erscheinungsbildes eingeteilt. Alle jüngeren Periodisierungsgrenzen richten sich nach außersprachlichen Fakten. Schon zu Beginn der Frühen Neuzeit haben sich die phonologischen Formen so verfestigt, daß man sie nicht mehr als Zäsur sprachlicher Orientierungsübersichten verwenden kann. So werden Beginn und Ende des Frühneuhochdeutschen mit historischen Daten, dem Regierungsantritt Karls IV. und dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, gekennzeichnet. Das sind zweifellos zwei bedeutsame Ereignisse, mit allerdings sehr unterschiedlichen Auswirkungen auf die Sprachentwicklung. Sie sind wichtige politische Zeichen der Zeit und haben deshalb einen punktuellen Signalcharakter. Aber eine unmittelbare Auswirkung auf die durative sprachliche Entfaltung geht von einem perfektiven historischen Datum zunächst nicht aus, gleich
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ob es ein biographischer, weltgeschichtlicher oder literarischer Anlaß ist oder als Zentenarmarke einen Jahrhundertwechsel markiert. Mit Namen oder Daten lassen sich stichwortartig Assoziationsfelder öffnen, wie dies z.B. im Fall Luthers für das Frühneuhochdeutsche immer wieder geschieht, aber man kann nicht den breiten Entwicklungsfluß der Sprache beschreiben. Ungeachtet dieser Feststellung versucht man, die bis heute andauernde und inzwischen 350 Jahre zählende Periode des Neuhochdeutschen nach nichtlinguistischen Gesichtspunkten zu gliedern, nämlich mit Einteilungskriterien und Termini, die bald geistes- oder literaturwissenschaftlich begründetet sind (Aufklärung, Klassik), bald politisch (Bismarckzeit) oder mit neutralen Zeitangaben (19. Jahrhundert). Diese Zäsuren entsprechen dem jeweiligen Sachverhalt der sprachlichen Entwicklung kaum. Die Übernahme der entlehnten Terminologien hat stets zur Folge, daß nur kleine sprachliche Teilmengen erfaßt werden, die sich auf eine begrenzte Anzahl von gattungsspezifischen Textsorten und Stilarten beziehen. Auch die neutralen Zeitangaben helfen dem Germanisten nicht. So wird z.B. das 19. Jahrhundert mit gutem Grund als Untersuchungszeit für die deutsche Sprache nicht von 1800 bis 1900 gemessen, sondern von der Französischen Revolution bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Die knappen Hinweise mögen daran erinnern, daß Jahreszahlen problematische Grenzmarkierungen im sprachwissenschaftlichen Gefilde sind. Sie gewinnen nur dann an Überzeugungskraft, wenn sich an ihnen eine Reihe von sprachlichen Veränderungsansätzen bündelt. Das Ende des Zweiten Weltkrieges ist zweifellos eine solche Zäsur von besonders schwerwiegender Bedeutsamkeit und Tragweite für die deutsche Geschichte und Sprachgemeinschaft gewesen. Denn 1945 treffen zahlreiche sehr unterschiedliche Ereignisse zusammen, die alle auf die deutsche Sprache nachhaltig eingewirkt haben: 1.
2.
3.
Die nationalsozialistische Gewaltherrschaft endet. Damit verliert das politisch-ideologische Vokabular der straff geführten Staats-, Partei-, Militär- und Verwaltungsapparate und der angegliederten Organisationen seine Geltung. Es wird von einem Tag zum anderen historisch. Die heutige Wiederbelebung einzelner Wörter und Sachen im Sprachgebrauch von politisch rechts orientierten Gruppierungen ist eine neuere Entwicklung. Der Krieg ist zu Ende; es gibt keine Kampfhandlungen mehr, über die berichtet und geredet wird Die Soldaten kehren heim zu ihren Familien, von denen sie seit Jahren getrennt waren. Konzentrations- und Gefangenenlager entlassen die Inhaftierten in die Gesellschaft. Österreich und die Tschechoslowakei werden wieder selbständige, von Deutschland unabhängige Staaten.
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Polen erhält eine neue Westgrenze, die Oder-Neiße-Linie. Es gewinnt im Westen Land hinzu, das bisher zu Deutschland gehört hatte, und verliert im Osten polnisch besiedelte Gebiete an Rußland und die Ukraine. Das polnische Staatsgebiet wird von Osten nach Westen gerückt.
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In Verbindung mit der unter 3. und 4. genannten neuen Festlegung der Staatsgrenzen setzen große Migrationsbewegungen ein. Im Zuge von Flucht und Umsiedlung verlassen 12 Millionen Deutsche ihre angestammten Wohnsitze und ziehen nach Westen, wo sie in Gebieten mit einer ihnen fremden Regionalsprache ansässig werden. Ihre eigene, mitgebrachte Mundart geht in der dritten Generation in der neuen Heimat auf. Diese Völkerwanderung verändert das Bild der deutschen Mundartlandschaft erheblich. Seine heutige Ausdehnung und Qualität kennt man längst nicht mehr so gut wie die Dialekte am Ende des 19. Jahrhunderts, als der Deutsche Sprachatlas entstand. Es gibt zur Zeit keine aktuelle Vermessung und Beschreibung der deutschen Dialekte und Regionalsprachen. Zu den 12 Millionen Umsiedlern sind in den folgenden Jahren noch etwa 4 Millionen Emigranten aus der DDR hinzugekommen.
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Das Land wird von den vier Siegermächten besetzt, was zu neuen Fremdsprachenkontakten im Alltag und in den Schulen mit Englisch, Amerikanisch, Französisch und Russisch führt. Einige Jahre später kommt es zu Sprachkontakten mit den Immigranten (Italiener, Portugiesen, Spanier, Jugoslawen, Türken, Rußlanddeutsche). In der ehemaligen DDR ist der Einfluß der russischen Sprache auf das Deutsche sehr gering geblieben und überhaupt nicht mit der Auswirkung des Englischen auf das Deutsch in der Bundesrepublik zu vergleichen. Die Presse- und Rundfunkzensur, mit der die Nationalsozialisten das gesamte Land von der Außenwelt abgeschnitten hatten, gibt es nicht mehr, so daß erstmals wieder die Äußerung der freien Meinung und ein Nachrichtenaustausch über die Landesgrenzen hinweg möglich werden. Und schließlich existieren von 1949 bis 1989 zwei deutsche Staaten: die Deutsche Demokratische Republik und die Bundesrepublik Deutschland. Sie sind politisch diametral nach Osten und Westen in zwei unterschiedliche politische Systeme eingebunden.
7.
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Alle acht nur kurz skizzierten Phänomene beginnen im Jahr 1945 und wirken weit in die folgenden Jahre hinein. Sie haben Einfluß auf die politischhistorische Entwicklung der Gesellschaft und damit auch auf den Sprachgebrauch. So sind sie gleichsam die spezifischen zeitgeschichtlichen Spuren in der deutschen Sprachgeschichte, die in anderen europäischen Sprachen z.B. als Folge des Ost-West-Konfliktes nicht in dieser Weise beobachtet werden können.
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Dazu kommen die vielen allgemeinsprachlichen, unpolitischen Veränderungen des Wortschatzes, der den seit 1945 wegen des Kriegsstaus an Geschwindigkeit zunehmenden Wandel von Leben und Welt zu erfassen hat, damit man sich verständigen kann. Die Neologismen sind mit ihrer ungleichmäßigen Fluktuation des Kommens und Gehens (denn viele haben eine nur kurze Lebensdauer) eine tägliche Herausforderung für die sprachliche Kreativität einer jeden Kultursprache. Der deutschen kommt hierbei ihre erstaunliche Elastizität in der Wortbildung zustatten (Zusammensetzungen, Ableitungen, Konversionen, Entlehnungen aus fremden Sprachen, Klammerformen, Abkürzungen, Kunstwörter). Diese Veränderungen muß jede Sprache mit den ihr eigenen Mitteln und Möglichkeiten zu gestalten versuchen. So kann man als beobachtender Augenzeuge lernen, wie schwierig es ist, die komplexen und komplizierten Strömungen des sprachlichen Wandels, den man selbst erlebt, zu erkennen. Sie sind in den schriftlichen und (soweit existent) mündlichen Texten in unterschiedlicher Frequenz belegt. Man hat sie bei einem jeden Versuch der ordnenden Systematisierung voneinander zu trennen und zugleich auf andere Weise wieder miteinander zu kombinieren, damit ihre wechselseitige Wirkung fixiert werden kann. Dabei erschwert die fehlende zeitliche Distanz des Betrachters die Analyse und den ordnenden Überblick.
2. Sprachliche Folgen der politischen Teilung Deutschlands Im folgenden wende ich mich der politischen Teilung und der nach 40 Jahren wieder erfolgten Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu, um nach den damit verbundenen sprachlichen Folgen zu fragen. Denn aus dem Bündel der genannten politischen Entwicklungen nach 1945, deren Auswirkungen auf die Sprache alle interessant sind, hat die germanistische Sprachwissenschaft im Osten wie im Westen mit anhaltendem Interesse und besonderer Aufmerksamkeit vorrangig die Sprache in den beiden deutschen Staaten beobachtet und beschrieben. Die anderen Aspekte traten dagegen in den Hintergrund. Man sah in der befohlenen staatlichen Teilung eine Art Laborsituation, in der man beobachten konnte, ob die politische Grenzziehung und vor allem die Behinderung persönlicher Kontakte zwischen den Bewohnern eines Sprachgebietes zu sprachlichen Sonderentwicklungen und Verständigungsschwierigkeiten, ja vielleicht gar zu einer Zweisprachigkeit führen können. Über die Auswirkungen der Wiedervereinigung auf die gemeinsame Kommunikationsbasis in Rede und Schrift, die - wie man annehmen könnte - jetzt einen umgekehrten Prozeß eingeleitet hat und even-
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tuell entstandene Trennungslücken wieder schließt oder Entwicklungen rückgängig macht, hört man wenig. Über Phonologie, Morphologie, Syntax, Textgrammatik und letztlich sogar über die Graphematik (etwa bei der Diskussion um die Rechtschreibreform) hat es zwischen den auf beiden Seiten profilierten und zeitweise auch miteinander konkurrierenden ,Sprachgermanistiken' kaum grundlegende Meinungsverschiedenheiten gegeben. Diese stellten sich in der Sprachphilosophie und -theorie und in der Pragmatik (z.B. in der Methodik des Unterrichtsfaches Deutsch als Fremdsprache) ebenso ein wie in der Darstellung von Wortschatz und Semantik. Die Auswahl der Textquellen und Belege und die Definition der Lemmata sind stets für Interpretationen und Deutungen offen und deshalb ideologieanfällig. Veränderungen lassen sich am Wortschatz am eindrucksvollsten sichtbar machen. Dabei haben beide Seiten die Position der politischen Befangenheit nie zu überwinden vermocht. Die östliche Seite, deren Manuskripte vor der Publikation die Zensur zu durchlaufen hatten, argumentierte im Unterschied zur westlichen stets sehr viel homogener. Der westliche Beobachter hatte vor allem die politisch motivierten sprachlichen Veränderungen im Blick. Er übersah dabei leider oft, wieviel sich auch im eigenen Bereich laufend änderte: im Sprachgebrauch des vielfältigen Parteiensystems, in der Form der innenund außenpolitischen Kommentare, in der verbalen Darstellung und Behandlung des Gegners und des Verbündeten. Das sind Gebiete, auf denen jetzt, in einer Zeit der politischen Entspannung und der Entideologisierung, sorgfältige Einzeluntersuchungen nachgeholt werden sollten. Die Unterschiede zwischen Ost und West werden bei der Definition abstrakter Lemmata besonders deutlich. Das umfangreiche und sehr sorgfältige Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, begründet von Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz, von dem seit 1964 drei Bände erschienen waren, mußte nach 10 Jahren in der Einleitung zum 4. Band die verordneten Grundsätze einer neuen politisch gelenkten Lexikographie erläutern: In der Bundesrepublik [...] sucht die Monopolbourgeoisie durch eine gewaltige Konzentration und Akkumulation des Kapitals und mit Hilfe der Ideologie des Antikommunismus die historisch überlebte kapitalistische Gesellschaftsordnung zu konservieren und ihren Macht- und Einflußbereich im Innern und nach außen zu erweitern. In Folge dieser gegensätzlichen gesellschaftlichen Entwicklungen sind bedeutsame sprachliche Unterschiede zwischen der sozialistischen DDR und der staatsmonopolistischen BRD entstanden. [...] Die tiefgreifendste Veränderung in der Lexik beider Gesellschaftsordnungen ist durch die Bedeutungsdifferenzierung ein und desselben Zeichens entstanden. Diese Differenzierung betrifft vor allem den ideologiegebundenen Teil des Wortschatzes, der gleichzeitig der Allgemeinsprache, besonders deren politischem Bereich, und dem gesellschaftswissenschaftlichen Fachwortschatz angehört. (Klappenbach/Steinitz 1974, S. 1).
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Unter dieser Prämisse wird parteilich verstanden als 'bewußt für den Sozialismus Partei ergreifend'. Von diesem Vorwort an stehen die ideologischen Bedeutungen der Begriffe wie z.B. Arbeit, Demokratie, Freiheit, Fortschritt, Gesellschaft, Sozialismus am Beginn der jeweiligen Artikel; danach folgen die Angaben zum allgemeinsprachlichen Gebrauch. Die politischideologische Bedeutung bleibt nicht fest, sie kann durch Parteitagsbeschlüsse neu definiert und damit politisch gelenkt werden (oft in bewußtem Kontrast zur Lexikographie der Bundesrepublik). So entstehen metasprachliche Ebenen unterschiedlicher Höhenlagen, auf denen sich nur die jeweils Kundigen, die den Code beherrschen, verständigen können. Eine ergiebige Quelle für gelenkte Bedeutungsveränderungen ist das 536 Seiten starke Wörterbuch der Staatssicherheit (1993). Als Beispiel stehe der Artikel zum Lemma Betreuer. Personen aus den verschiedensten Institutionen, Einrichtungen und Bereichen der sozialistischen Gesellschaft, die zur Gewährleistung und Vervollkommnung von Ordnung und Sicherheit für die ständige Begleitung und Betreuung von Bürgern anderer, besonders nichtsozialistischer Staaten und Westberlins, welche sich zeitweilig in diesen Institutionen, Einrichtungen und Bereichen aufhalten, eingesetzt werden. - B. unterliegen auf Grund der Tatsache, daß sie gegenüber den Bürgern anderer Staaten und Westberlins als Repräsentanten von Institutionen, Einrichtungen und Bereichen der sozialistischen Gesellschaft fungieren und in Ausübung ihrer Tätigkeit auch den Einflüssen und Vertretern des imperialistischen Systems ausgesetzt sind, festgeschriebenen Prinzipien ihrer Auswahl und Überprüfung. - Verantwortlich für die Auswahl, Überprüfung und den Einsatz der B. sind die jeweils zuständigen staatlichen Leiter der Institutionen, Einrichtungen und Bereiche. - Auf Grund ihrer Stellung und funktionellen Pflichten sind die B. für die inoffizielle Zusammenarbeit mit dem MfS [=Ministerium für Staatssicherheit] zum Erkennen und zur Verhinderung feindlicher und anderer, die Institutionen, Einrichtungen und Bereiche schädigenden Aktivitäten durch Bürger, vor allem nichtsozialistischer Staaten und Westberlins, besonders geeignet. (Ebd., S. 56)
In dieser Fassung ist Betreuer ein Euphemismus für 'politischer Überwacher, dessen Auftraggeber die Staatssicherheit ist'. Die Bedeutungsverdrehung des zentralen Adjektivs treu zum Gegenteil, dem Verrat, ist infam. Außerdem gibt der Text einen Eindruck vom spröden Stil der staatlichen Verwaltungssprache. Substantive, denen nachgeordnete Genitive oder Präpositionalverbindungen folgen, erhöhen den Abstraktionsgrad der Aussage und erschweren ihre Lesbarkeit. Hubertus Knabe spricht in der Einleitung von „der bürokratisch-verquasten Sprachwelt der Staatssicherheit" (ebd., S. VII). Welchen Einfluß dieses Wörterbuch auf den allgemeinen Sprachgebrauch gehabt hat, läßt sich nicht feststellen, aber die unmittelbare Wirkung wird nicht groß gewesen sein. Denn es war eine als GVS [= Geheime Verschlußsache] eingestufte Dienstvorschrift, die nur die Leiter der operativen Dienststellen einsehen durften. Jeder andere hatte einen Antrag zu stellen.
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Außerdem befand sich die Sammlung im Prozeß der ständigen Korrektur und Abänderung, was die Publikation hinausschob. Das Wörterbuch ist eine umfassende Stichwortdokumentation, welche den gesamten Radius „der sogenannten politisch-operativen Arbeit des MfS beschreibt und damit auf relativ knappem Raum einen Einblick in Selbstverständnis und Methoden des DDR-Geheimdienstes verschafft" (ebd., S. VII). Und damit wird auch die Fachsprache des Geheimdienstes mit dem besonderen Kennzeichen ihrer semantischen Doppeldeutigkeit sichtbar. Neben den Wortständen mit den besonderen ideologischen Bedeutungsvarianten hat es im Lexikon beider deutscher Staaten zahlreiche Unterschiede gegeben, die z.B. Manfred W. Hellmann (1992) am Institut für deutsche Sprache mit großer Sorgfalt rechnergestützt aus östlichen und westlichen Zeitungstexten über einen größeren Zeitraum hin erhoben und in drei Bänden publiziert hat. Daß es sich dabei nicht nur um die fachsprachlichen Terminologien der staatlichen Organisation handelt (Bundeskanzler - Vorsitzender des Staatsrates, Bundestag - Volkskammer, Deutsche Bundeswehr - Deutsche Volksarmee, Deutsche Bundesbahn (-post) - Deutsche Reichsbahn (-post) etc.), haben kürzlich Marianne Schröder und Ulla Fix gezeigt, die den Allgemeinwortschatz der DDR-Bürger nach Sachgruppen geordnet und linguistisch kommentiert hatten, um ein Lehrbuch für den nichtmuttersprachlichen Unterricht herauszugeben, als diesen Plan die Situation der Wende durchkreuzte. Zum Glück haben die beiden Leipziger Germanistinnen nicht den Mut verloren, sondern aus der Not eine Tugend gemacht. Sie präsentieren die gesammelten Belege in einem kleinen Wörterbuch als Allgemeinwortschatz, wie er 40 Jahre lang in der DDR gebräuchlich gewesen ist (Schröder/Fix 1997). Dort gibt es viele Begriffe, die Westdeutschen fremd sind und von ihnen auch nicht alle ohne den dazugehörigen Kontext verstanden werden wie z.B Objektleiter, womit der 'Leiter einer staatlichen Gaststätte' gemeint ist. Andere Begriffe sind ihnen zwar fremd, aber durchaus verständlich, z.B. Kältemöbel, tiefgefrostet, Null-Fehler-Produktion, außerunterrichtlich, Mehrzweckkleidung, Lehrfacharbeiter. Was heute noch vom unpolitischen Alltagswortschatz der DDR 10 Jahre nach der „Wende" in Gebrauch ist, kann man vermutlich nicht leicht feststellen. Wenn es die Sache oder das Ereignis noch gibt, dem die Bezeichnung gilt, dann ist der Gebrauch gesichert, wie z.B. beim Wort Jugendweihe, die in den neuen Bundesländern nach wie vor sehr viel üblicher ist als die Konfirmation. Kollektiv scheint weiterhin geläufiger zu sein als Team. Die besonders extensive Aufnahme anglo-amerikanischen Wortguts hat die deutsche Sprache im Westen sehr viel stärker gekennzeichnet als im Osten, wo naturgemäß die westlichen Einflußmöglichkeiten auf die Presse, den Funk und das Fernsehen weitgehend unterbunden wurden. Aber die
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Medien haben mit ihren Sendungen die Grenzen trotzdem überschritten. Westfernsehen und Rundfunk sind zwar verbotene, aber doch viel genutzte Informationsquellen gewesen. Zeitungen und Literatur konnten ganz anders kontrolliert und zurückgehalten werden. Aber Funk und Fernsehen besitzen die Möglichkeit, die Sprache und ihre Inhalte unbemerkt zu transferieren. Man wird heute nicht mehr feststellen können, wie auf diese Weise die sprachlich ungleichen Gewichtungen zwischen West und Ost für einen großen Teil der Bevölkerung ausgeglichen worden sind. Nachrichten- und Werbesendungen, Talk-Shows, Kommentare, Spiel- und Kulturfilme, literarische Rezensionen und kulturelle Informationen, kurzum: die gesamten Rundfunk- und Fernsehprogramme haben mit allen ihren Textsorten, ohne es zu wollen, den Effekt eines Fernunterrichts für den Gebrauch des bundesrepublikanischen Gegenwarts-Deutsch gehabt, selbst wenn das die Hörer und Zuschauer nicht so empfunden haben. Es dürfte schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein, Umfang und Frequenz des aktiven und passiven Sprachgebrauchs messen zu wollen. Peter von Polenz (1999, S. 563) meint, die Menge des von der staatlichen Lenkung in der Semantik beeinflußten Vokabulars habe sowohl unter den Nationalsozialisten als auch in der DDR nicht mehr als 5 % des Gesamtwortschatzes betragen. Von welcher Grundgröße aber soll man ausgehen, um die Prozentanteile zu berechnen, vom Gesamtwortschatz oder vom Vokabular des alltäglichen Gebrauchs, das allerdings, individuell bedingt, einen sehr unterschiedlichen Umfang hat? Die nationalsozialistische Herrschaft dauerte 12 Jahre, die kommunistische 40. Das Deutsche Reich und die Deutsche Demokratische Republik unterschieden sich in der Größe der Fläche und in der Zahl ihrer Bewohner erheblich voneinander. Zwischen den beiden politischen Perioden haben sich der Umfang und die Einflußmöglichkeiten der Medien wesentlich verändert und vergrößert (das Fernsehen spielte vor 1945 noch keine Rolle). Es treffen also mehrere Tatsachen zusammen, die einen meßbaren Vergleich erschweren. Und dann läßt sich die wahre Frequenz einzelner Begriffe (man denke nur an Führer und sozialistischer Fortschritt), die außerordentlich häufig und dicht sein kann, nicht feststellen. Vermutlich weckt sie mit ihrer nachhaltigen Haftung beim Rezipienten den Eindruck, das politische Vokabular müsse einen umfangreicheren Anteil am Gesamtwortschatz eingenommen haben als nur fünf Prozent. Der von erfahrenen Sprachwissenschaftlern geschätzte Anteil am gesamten Sprachvolumen ist während der beiden verhängnisvollen politischen Perioden offenbar klein geblieben, um so erschreckender ist die jeweils breite und dauerhafte Wirkung, die beide Regentschaften verbreitet haben.
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3. Die Sprache der Wende und Wiedervereinigung Die Vereinigung von Bundesrepublik und DDR im Jahr 1990 hat wie jedes bedeutsame zeitgeschichtliche Ereignis eine neue Nische im Vokabular unserer Sprache geschaffen und gefüllt. Dieter Herberg, Doris Steffens und Elke Tellenbach (1997) haben die Schlüsselwörter der Wendezeit in einem Wörterbuch zum öffentlichen Sprachgebrauch zusammengestellt. Die Autoren haben die computergespeicherten Datenmengen der im Institut für Deutsche Sprache angelegten Textkorpora nutzen können. Das Wörterbuch beruht auf einer sehr breiten und vorzüglichen Beleggrundlage: auf zwei Textkorpora: dem Wendekorpus der DDR mit 1632 Texten und 1,5 Millionen Wortformen und dem der Bundesrepublik mit 1755 Texten und 1,8 Millionen Wortformen. Es handelt sich um Texte des öffentlichen Sprachgebrauchs mit einer jeweils wendebezogenen Thematik, die während der 18 Monate zwischen Anfang 1989 (Massenflucht, Montagsdemonstrationen, 40. Jahrestag der DDR) und Ende 1990 (das geeinte Deutschland) erschienen sind. Aus ihnen wurden Schlüsselwörter exzerpiert, das heißt: Wörter, die nicht isoliert sind, sondern Nachbarn, Gegenwörter und Konkurrenten haben (vgl. ebd., S. 3). Von den 1376 aufgenommenen Wörtern sind 304, also knapp ein Viertel, Komposita. Damit verringert sich die Anzahl der Einzellexeme. Substantive sind am häufigsten belegt, alle anderen Wortarten kommen wesentlich seltener vor. Bei den Komposita stehen die Staíi'-Zusammensetzungen mit 167 an der Spitze (außerdem gibt es noch 23 Komposita mit Staatssicherheit als erstem Glied). Die Liste reicht von Stasiabgeordneter bis Stasizuträger. Die zweithäufigsten Komposita beginnen mit Reform- (94), dann folgen mit 84 Belegen Einigungs-, Vereinigungs- und WiedervereinigungsBezeichnungen. Bildungen mit Mauer- gibt es 23 und mit Wende- 29. Die Lemmata werden in 16 Kapiteln präsentiert, in denen die politischen Veränderungen jeweils unter differenzierten Aspekten mit dem Vokabular und seinen Belegstellen dokumentiert und semantisch analysiert werden. Die Kapitelüberschriften geben die Stationen der Vereinigung wieder, zum Beispiel Bezeichnungen für das Verlassen der DDR durch DDR-Bürger als eine Massenerscheinung der frühen Wendezeit (Kap. 2), die Mauer als Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten (Kap. 4), der runde Tisch eine außerparlamentarische Institution in der DDR (Kap. 7), die Bezeichnung Akte (Kap. 9), die Treuhand-Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums (Kap. 11) und die Bezeichnungen für die Bewohner der beiden deutschen Staaten bzw. für die Bewohner des vereinten Deutschlands in den alten und neuen Bundesländern (Kap. 16). Das Wörterbuch beginnt im ersten Kapitel mit den Bezeichnungen für die politischen Ereignisse im Herbst 1989 und für die damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen in der DDR: Erneuerung, Reform, Revo-
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Gegenwartssprache
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lution, Veränderung, Umbruch, Umsturz, Umwälzung, Wandel, Wandlung, Wende. Wende hat sich als Begriff durchgesetzt, weil seine Bedeutung übergreifend und allgemein eine politische Richtungsänderung bezeichnet. Revolution, Umbruch, Umsturz und Umwälzung sind vor allem auf die Beseitigung der bestehenden Ordnung gerichtet. Dagegen sind Reform, Veränderung, Wandel und Wandlung unspezifische Bezeichnungen. Diese Schlüsselwörter sind keine Synonyme, sondern eigenständige Bedeutungsträger mit einer semantischen Abstufung. Schon 1953 war in der DDR der Terminus Wende gebräuchlich, als man den Versuch unternahm, einen liberalen Kurs zu steuern. In der Bundesrepublik sprach man von Wende, als 1982 die CDU/F.D.P.-Koalition mit Helmut Kohl als Kanzler die sozialliberale ablöste. Im Oktober 1989 wurde Wende zuerst von Egon Krenz, d.h. von der neuen SED-Führung, gebraucht. Die semantisch graduellen Unterschiede in den Bezeichnungen zeigen z.B. die Vokabeln und Wendungen, die das Verlassen der DDR durch DDR-Bürger (Herberg/Steffens/Tellenbach 1997, S. 91) bezeichnen. Das Wörterbuch gibt dazu das folgende Wortfeld an: fliehen, flüchten, Flucht, Flüchtling; übersiedeln, Übersiedlung, Übersiedler; ausreisen, Ausreise; die DDR verlassen; weggehen, Weggang; weglaufen; wegmachen; wegrennen, wegziehen, Wegzug; abwandern, Abwanderung; Exodus; ausbürgern, Ausbürgerung; der DDR den Rücken kehren; in den Westen gehen; auswandern, Auswanderung; ausweisen, Ausweisung; abhauen; Abstimmung mit den Füßen; davonlaufen; türmen; rübergehen, rübermachen; ausreißen, Ausreißer; aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen, Entlassung a. d. Staatsbürgerschaft d. DDR flitzen.
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Auch ohne Einbeziehung der Kontextbelege, die auf 54 Seiten folgen, sind einige Beobachtungen möglich: Das gesamte Wortfeld enthält keine Neologismen. Alle Wörter sind seit langem auch ohne die Beziehung zur politischen Spannung zwischen den beiden deutschen Staaten gebräuchlich gewesen, wenn man sagen wollte, daß jemand einen bestimmten Bereich verläßt. In ihrer unterschiedlichen Form und Ausprägung verbindet sie die gemeinsame Bedeutung, die das Verlassen des sozialistischen Staatsgebietes meint, zu einem neuen Wortfeld. Die jeweilige Situation und die ost- oder westpolitische Einstellung des Sprechers bestimmen die Wahl des gemäßen Wortes aus der Anzahl der bedeutungsähnlichen Varianten. So dürften riibermachen, wegmachen, abhauen, türmen und flitzen der gesprochenen Sprache angehören, wogegen die Abstimmung mit den Füßen wohl eine Metapher der Medien ist. Auch die Nuancierung zwischen amtlicher Version (aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen) und persönlicher Einschätzung der Abwanderung (fliehen, flüchten) wird deutlich. Dieses Migrationsvokabular ist in seiner Vielschichtigkeit vermutlich in den 18 Wendemonaten mit besonders hoher Frequenz belegt; aber vorhanden war es mit den speziellen Bedeutungen in den Köpfen und Gesprächen von dem Zeitpunkt an, als die Grenzüberschreitungen erschwert und die Familienzusammenführungen behindert worden sind. Mit der Zunahme von Absperrung und Isolation wuchs die Verklärung der Bundesrepublik als eines begehrten, aber schwer erreichbaren Landes, und damit nahmen die Pläne zu, die DDR zu verlassen. Es handelt sich also nicht um einen wendespezifischen Wortschatz, sondern um eine neue Bedeutungsnische, die zur Zeit der „Wende", als die Grenzen anfingen, porös zu werden, besonders stark frequentiert wird.
4. Zur heutigen Situation Ein großer Teil des Wendewortschatzes zählt nach 10 Jahren nicht mehr zum aktiven Sprachgebrauch. Er ist historisch geworden und wird in den Darstellungen der Ereignisse um die Jahre 1989 und 1990 zu finden sein. Das bedeutsame Ereignis der politischen Wende hat, soweit man heute zu urteilen vermag, für die Bewohner der neuen Bundesländer, der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, sehr viel mehr und einschneidendere sprachliche Veränderungen mit sich gebracht als den westlichen Landsleuten, man denke nur an die Terminologien des bundesrepublikanischen Staatsapparates, an die behördlichen Verwaltungsvorgänge und an die vielen anglo-amerikanischen Fremdwörter der Alltagssprache. An die Stelle des weggefallenen Vokabulars sind neue Wortstände getreten, die man zwar schon gekannt hat, die aber eine andere Relevanz bekommen, wenn ihre
Politisches Zeitgeschehen und deutsche Gegenwartssprache
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Geltung sich verändert. Es ist z.B. etwas anderes, wenn man das Vokabular der Demokratie als distanzierter Beobachter liest oder hört, als wenn man es mit allen Konsequenzen praktiziert. Die Veränderung der Sprach- und Handlungsprozesse und das Tempo, mit der sie sich vollzogen hat, stellen hohe Lern- und Orientierungsanforderungen an die Bevölkerung der ehemaligen DDR. Das wird von den Bewohnern der alten Bundesländer zum großen Teil entweder nicht bemerkt oder unterschätzt und deshalb leider nur selten mit hilfreichem Verständnis gestützt.
Literatur Bergmann, Christian (1999), Die Sprache der Stasi. Ein Beitrag zur Sprachkritik, Göttingen. Berning, Cornelia (1960/1963), „Die Sprache des Nationalsozialismus." In: Zeitschrift für deutsche Wortforschung 16, S. 1-118 u. 178-188; 17, S. 83-121 u. 171-182; 18, S. 108-118 u. 160-172; 19, S. 92-112. Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen des MfS zur „politisch-operativen Arbeit". Hrsg. vom Beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Reihe A 1/93. Berlin 1993. Duden. Deutsches Universalwörterbuch. Hrsg. und bearbeitet vom Wissenschaftlichen Rat und den Mitarbeitern der Dudenredaktion unter der Leitung vom Günther Drosdowski. Mannheim-Wien-Zürich 1989, 2., völlig neu bearb. und stark erw. Aufl. Grosse, Siegfried (1999), „Die Sprache der Wende." In: Klussmann, Paul Gerhardt/Hoffmann, Frank (Hrsg.), Das Epochenjahr 1989 in Deutschland. Dokumentation. Bochum [= Kleine Schriften aus dem Institut für Deutschlandforschung, Reihe Β Nr. 2], S. 97-109. Hellmann, Manfred W. (1992), Wörter und Wortgebrauch in Ost und West. Ein rechnergestütztes Korpus-Wörterbuch zu Zeitungstexten aus den beiden deutschen Staaten. 3 Bände. Tübingen [= Forschungsberichte des Instituts für Deutsche Sprache Mannheim. Bd. 69. 1-3]. Henne, Helmut (1986), Jugend und ihre Sprache. Berlin-New York. - (1995), „Hassen, Legendieren, Abschöpfen. Das Wörterbuch der Staatssicherheit." In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 23, S. 210-214. Herberg, Dieter/Steffens, Doris/Tellenbach Elke (1997), Schlüsselwörter der Wendezeit. Wörterbuch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989-1990. Berlin-New York [= Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 6]. Polenz, Peter von (1999), Deutsche Sprachgeschichte. Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Band III. 19. und 20. Jahrhundert. Berlin-New York. Schröder, Marianne/Fix, Ulla (1997), Allgemeinwortschatz der DDR-Bürger, nach Sachgruppen geordnet und linguistisch kommentiert. Heidelberg [= Sprache, Literatur und Geschichte 14]. Wörterbuch der Deutschen Gegenwartssprache. Hrsg. von Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz. 6 Bände. Berlin 1961-1977.
4. Lexikologie und Lexikographie
Dieter Stellmacher
(Göttingen)
Niederdeutsche Schimpfwörterbücher 1. 2. 3. 4. 5.
Einleitung Verfasser Umfang Aufbau Schluß
1. Einleitung Unter der Überschrift „Scheit- und Schimpfwörterbücher" sind in Lemmer (1967) vier Titel verzeichnet, der älteste ist das Fluch-ABC von G. Albrecht (Dortmund 1664), der jüngste das Neue Schimpfwörterbuch von Emil Stahl (München 1920). Knapp zwanzig Jahre später nennt Seibicke (1985) 15 einschlägige Titel und resümiert: „das Ergebnis der [...] Sammlung und Durchsicht [fällt] mager aus" (ebd., S. 132). Von den mehr als 3000 Seiten des HSK-Bandes Wörterbücher nimmt der Beitrag „Das Schimpfwörterbuch" nur ganze drei Seiten ein (Seibicke 1990). Nach dem Umfang dieser Veröffentlichungen geurteilt, scheint es sich bei Schimpfwörterbüchern um wenig übliche Nachschlagewerke zu handeln, eher um Kuriosa denn um Lexika, die man sich anschafft und ratsuchend gebraucht. Diesem Anschein entgegen steht eine auffällige Produktion solcher Wörterbücher im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, die sich oft mehrerer Auflagen erfreu(t)en, z.B. Hans-Jörg Koch Wenn Schambes schennt. Ein rheinhessisch-mainzer Schimpf-Lexikon mit fast 2000 Spott-, Uz- und Gassenwörtern (Alzey 1. Auflage 1975, 6. Auflage 1985) oder Thaddäus Troll Schwäbische Schimpfwörterei (Stuttgart, 1. Auflage 1987, 3. Auflage 1990). Vorausgegangen sind diesen Büchern so genannte Schimpfkalender, die für jeden Tag ein Schimpfwort bereithalten (siehe dazu Seibicke 1985, S. 127ff.). Auch mit Bezug auf das Niederdeutsche gibt es solche Schimpfwörterbücher, fünf an der Zahl und alle aus den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts: Schuster (1991), Schepper (1992), Wille (1994), Goltz (1995), Nissen (1996). Diese Wörterbücher sollen Gegenstand meiner kleinen Untersuchung sein, wobei ich folgendes prüfen werde: Verfasser, Umfang, Aufbau (Vorwort, Wörterverzeichnis) und Zweck. Vorher ist aber noch zu bestimmen, was denn unter schimpfen zu verstehen ist. Zunächst: schimpfen ist etwas anderes als beschimpfen. Dieses ist personenorientiert (Personen-
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Dieter
Stellmacher
schelte), jenes kann auch monologisch erfolgen, z.B. er schimpft vor sich hin (etwa beim Autofahren). Pragmatisch gesehen handelt es sich in beiden Fällen um Sprechakte: Illokutionen (Perlokutionen) und Propositionen, wobei für die Einträge eines Schimpfwörterbuches die Propositionen mit ihren satzteilartigen Sequenzen kennzeichnender sind als Illokutionen im Satzwert (vgl. hierzu Searle 1971, S. 40ff.). Das personenorientierte Beschimpfen wird oft als ein Beleidigen empfunden. Die Rechtsprechung versteht unter einer Beleidigung die Behauptung von Pflichtverletzungen und die Aberkennung sozialer Eigenschaften 1 . Soll das absichtsvoll sprachlich erreicht werden, kann man Schimpfwörter (Schimpfnamen) und Texte (Satzteile, vollständige Sätze, Satzfolgen) wählen. Der Herausgeber eines Schimpfwörterbuches (treffender wäre die Bezeichnung Beschimpfwörterbuch) muß sich bei der Gestaltung seines Wörterverzeichnisses entscheiden, ob er nur (Schimpf-)Wörter oder auch (Schimpf-)Sätze aufnehmen will. Es ist darauf hingewiesen worden, daß das Beschimpfen auch ein Sprachspiel ist. Hermann Bausinger (1986, S. 356) hat das anschaulich an der Begegnung eines Tübinger Professors mit einem Weinbauern geschildert. Da dieses Spiel einer expressiven Lexik bedarf, ist es verständlich, daß in den Wörterverzeichnissen der (deutschen) Schimpfwörterbücher der dialektale Wortschatz stark vertreten ist 2 . Stehen Sprechern zwei Sprachen zur Verfügung (zwei Standardsprachen oder die Standardsprache und ein Dialekt), dann kann eine dieser Sprachen bei der Realisation von Schimpf-Sprechakten bevorzugt werden, weil sie im Vollzug dieser Sprechakte eine niedrigere Hemmschwelle zu überwinden hat. Aus diesem Grunde wird z.B. in Südtirol eher auf italienisch als auf deutsch geschimpft (vgl. Mall/Plagg 1990, S. 233). Schon eine flüchtige Durchsicht der im Buchhandel erhältlichen Schimpfwörterbücher zeigt, daß unter „Schimpfwort" sehr Verschiedenes verstanden wird: „garschtiche Wörter" wie Kraftausdrücke, vulgäre Bezeichnungen und Mundartliches. So überrascht es nicht, daß jedes (großlandschaftliche) Dialektwörterbuch auch ein partielles Schimpfwörterbuch darstellt, was ich am Niedersächsischen Wörterbuch gezeigt habe (Stellmacher (1992)). Bei der nachfolgenden Erörterung des Aufbaus der niederdeutschen
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Siehe Strafgesetzbuch §§ 185 (Beleidigung), 186 (Üble Nachrede), 187 (Verleumdung) nach: Strafgesetzbuch und Nebengesetze. Erläutert von Herbert Tröndle und Thomas Fischer. München 1999 (Beck'sche Kurz-Kommentare). Soweit ich sehe, ist das nicht der Fall bei den im letzten Jahr in Mode gekommenen Wei'c/iei-Beschimpfungen; hier wird ein Nomen agentis zur ironischen Bezeichnung eines Gegenbildes zum starken Mann gebraucht, z.B. Polizistengrüßer, Süß frühstücker, Winterreifenaufzieher. Diese Wortspiele bedienen sich der Standardsprache (siehe Brennecke 2000), obwohl sich auch in Dialekten solche Bildungen finden, vgl. z.B. niederdeutsch Glattschnacker, schwäbisch Schprichmacher.
Niederdeutsche Schimpfwörterbücher
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Schimpfwörterbücher wird dieser lexikologische Aspekt eine wichtige Rolle spielen.
2. Verfasser Alle Verfasser der aktuellen niederdeutschen Schimpfwörterbücher sind der sogenannten niederdeutschen Szene zuzurechnen. Darunter wird ein vor allem kultureller Bereich verstanden, in dem die niederdeutsche Sprache das Ziel literarischer, sprachpflegerischer, künstlerischer und wissenschaftlicher Bemühungen ist, wobei für die Wissenschaft gilt, daß die niederdeutsche Sprache, Literatur und Kultur zwar ihr Objektbereich ist, aber nicht ihr Aktionsraum. Die Angehörigen dieser Szene kennen sich über vielfache Kontakte recht genau, wie sich überhaupt diese Szene „durch einen relativ hohen Grad an Organisation und Institutionalisierung" auszeichnet (Wirrer 1983, S. 124). Für das älteste der hier behandelten Wörterbücher, das ostfriesische Schimpfwörterbuch, zeichnet der Leeraner Buchhändler und Verleger Theo Schuster verantwortlich. Er wurde 1931 in Leer geboren und betreibt einen der wichtigsten Verlage für das niederdeutsche Schrifttum. Für seine Verdienste um das Niederdeutsche erhielt Theo Schuster im Jahre 2000 den Fritz-Reuter-Preis der Hamburger Stiftung F.V.S. Rainer Schepper, der Verfasser des westfälischen Schimpfwörterbuches, wurde 1927 in Münster geboren. Von Beruf Lehrer hat sich Schepper besonders um den Nachruhm des westfälischen Priester-Dichters Augustin Wibbelt (1862-1947) verdient gemacht. Auch als freier Autor, Publizist und Rezitator tritt Schepper hervor. Das Ostfälische ist die Heimatsprache des aus Brunsen bei Einbeck stammenden Friedrich Wille, der 1925 geboren wurde. Beruflich war er als Industriekaufmann, Stellmacher und Gemeindeangestellter tätig. Seit 1978 widmet er sich dem Niederdeutschen als Autor und Übersetzer; seine hier erbrachten Leistungen wurden 1999 mit dem Niedersächsischen Verdienstorden am Bande gewürdigt. Das Hamburger Schimpfwörterbuch hat mit Reinhard Goltz, 1953 in Hamburg-Finkenwerder geboren, einen professionellen Dialektlexikographen zum Verfasser. Der seit 1985 für das Preußische Wörterbuch tätige Redakteur setzt sich auch im weiteren Sinne kulturell für das Niederdeutsche ein. Er ist Träger des Conrad-Borchling-Preises der Hamburger Stiftung F.V.S. (mit diesem Preis wurde 1984 seine Dissertation über die Sprache der Finkenwerder Hochseefischer ausgezeichnet). Peter Nissen, geboren 1957 im nordfriesischen Bordelum-Uphusum, war einige Jahre Dramaturg am Hamburger Ohnsorg-Theater und ist zur Zeit als
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freier Journalist und Texter tätig (Mitbetreiber einer „Textmanufaktur"). Neben dem Niederdeutschen engagiert sich Nissen auch für das Friesische. 1996 erhielt er zusammen mit Reinhard Goltz und Holger Jansen den Niederdeutschen Literaturpreis der Stadt Kappeln.
3. Umfang Die fünf niederdeutschen Schimpfwörterbücher gehören der Zahl ihrer Stichwörter nach zu den kleineren Handwörterbüchern. Keines überschreitet die Zahl von 2000 Einträgen, die wenigsten Stichwörter enthält das westfälische Schimpfwörterbuch (664 Lemmata), die meisten das Hamburger (1915 Lemmata). Dazwischen liegen das schleswig-holsteinische mit 1893 Einträgen und das ostfriesische mit 1174 Stichwörtern. Bei dem ostfälischen „Schimpfwuurtböok" bereitet die Auszählung der aufgenommenen Stichwörter Schwierigkeiten, weil Wille sein Material nicht alphabetisch präsentiert, sondern nach Sachgruppen wie De Anrede bai'η Schimpen, De Frage, Unreale Bestrafungsvorrsläge, Reale Bestrafungsvorrsläge usw. In den abschließenden Kapiteln De Schimpwure werden 688 ostfälische Schimpfwörter registerartig vorgestellt.
4. Aufbau Die Schimpfwörterbucher bestehen aus einem kurzen Vorwort (das im Vergleich zum Gesamtumfang am umfänglichsten in Schepper [1992] ist, am knappsten in Nissen [1996]), dem alphabetischen Wörterverzeichnis (mit Ausnahme von Wille [1994]) und Illustrationen. Die Vorworte, auch als „Vorbemerkungen" oder „Warnungen" bezeichnet, bemühen sich um eine Gegenstandsbestimmung des (Be-)Schimpfens, charakterisieren die regionale, wortgeographische Zuständigkeit und geben die Schimpfquellen an. Am nachhaltigsten vor einer unbedachten Schimpferei warnt Wille, den deutlichsten Aufruf, Schimpfen zu lernen („learning by doing") unternimmt Goltz. Die ironischste Bevorwortung leistet sich Nissen, der seinem Wörterbuch deshalb auch eine „Warnung" vorausschickt („Kein Mensch braucht ein Schimpfwörterbuch"). Alle Vorbemerkungen erzeugen eine gewisse Spannung auf das, was auf den nachfolgenden Seiten geboten wird - das ist für ein Produkt der kommerziellen Lexikographie wichtig. Benutzungshinweise, ausführliche Quellenverzeichnisse sowie Angaben zu Abkürzungen u.ä., die alle in den Vorworten großer Wörterbücher
Niederdeutsche
Schimpfwörterbücher
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auftreten, fehlen hier weitgehend. In der vorliegenden Form erfüllen die Vorworte aber die ihnen zugedachte Textfunktion. Den Hauptteil der Wörterbücher bilden die Wörterverzeichnisse. Der Nomination entsprechend enthalten sie überwiegend Substantive. Adjektive werden in größerer Zahl von Schepper vermerkt, auch von Goltz. Die meisten Adjektive, „passige Eigenschaftswure vorr Schimpwuren", nennt Wille, denn: „Vorr jedet Schimpwuurt höört mööglichst en Eigenschaftswuurt" (Wille 1994, S. 51). Verben gibt nur Schepper an. Die substantivischen Schimpfwörter lassen sich mehreren Gruppen zuordnen: a) unveränderliche Übernahmen von Tierbezeichnungen: Aap, Beest, Eekster (Schuster 1991); Gaus, Hahn, Wulf (Schepper 1992); Bäre, Hamster, Katte (Wille 1994); Farken, Hai, Oß (Goltz 1995); Ilk, Koh, Kreih (Nissen 1996); b) übertragene Berufsbezeichnungen: Dragoner, Dreguner 'resoluter Mensch, meistens Frau', Ketelböter, 'Kesselflicker, -heizer, Lärmmacher, Schreihals', Peer(de)koper 'Freier' (Schuster 1991); Danzmester 'Allotriatreiber', Pape 'Pfaffe', Pillendreiher 'Apotheker' (Schepper 1992); Afkate, Bessenbinner, Nachtwächter (Wille 1994); Bibelhusoor 'Pastor', Bookschoster 'Buchverleger', Darmstrieker 'Geiger' (Goltz 1955); Paap 'Pfaffe, seltsamer Heiliger', Peerdoktor '(Tier-)Arzt', Slachter 'Chirurg' (Nissen 1996); c) Nomina agentis: Bullenbieter 'ungehobelter Mensch', Freier 'Nimmersatt', Mundjeproter 'Schmeichler' (Schuster 1991); Draohttrecker 'Langweiler', Flitzenfänger 'erfolgloser Mensch', Haugmieger 'Angeber' (Schepper 1992); Kunjenierer, Prasser, Spielverdarver (Wille 1994); Fisematentenmoker 'Spaßmacher, Lügner', Grashiipper 'unerfahrener Mensch', Kacker 'Widerling, Geizhals' (Goltz 1995); Klookschieter 'Besserwisser', Mitsnacker 'Päderast, Anstifter', Pisser 'schlechter Kerl' (Nissen 1996); d) nominale Wortgruppen: Luus un Pluus 'Lumpengesindel' (Schuster 1991); Hengest-Kärl 'Schürzenjäger' (Schepper 1992); Bier-Helmke 'Helmke, der (zu) viel Bier trinkt' (Wille 1994); Lütt-un-Lütt-Weert 'unerfahrener Schnaps- und Bierverkäufer' (Goltz 1995); Fief-PennsKeerl 'verachtenswerter Kerl' (Nissen 1996);. e) Satznamen: Sitt-up-de-Socken 'Faulenzer' (Schuster 1991); Spring-upde-Kist 'leichtfertiger Mensch' (Schepper 1992); Trampinpott (Wille 1994); He-lücht 'Fremdenführer' (Goltz 1995); Griep-in-Lehm 'Töpfer' (Nissen 1996): f) Reihenbildungen mit Personennamen, z.B. dem männlichen Vornamen Jan: Jan Bangbüx 'Angsthase', Jan-bito 'nichtssagender Mensch', JanDiivel 'gefährlicher Mensch', Jan-Flegel 'unhöflicher Mensch', JanGöök 'Hanswurst', Jan-Goosmors 'allzu gutmütiger Mensch', Jan-Gört
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Dieter Stellmacher 'alberner Mensch', Jan-Grammiet 'Schwarzseher', Jan-Hagel/JanLapp/Jan-Rapp 'Pöbel', Jan-Hinnerk 'Trottel', Jan-Klump 'Langweiler', Jan-Krodde 'Lackaffe', Jan-Swarm 'Herumtreiber', Jan un allemann 'Pöbel', Jan-Unriist 'unruhiger Mensch', Jan-van-feern 'Feigling' (Schuster 1991); Jan Blaff 'Schreihals', Jan Blaufink 'Possenreißer', Jan Braß 'Großmaul', Jan Daddel/Jan Dutt 'einfaltiger Mensch', Jan Dwars 'Querkopf, Jan Fummel 'Nichtsnutz', Jan Fuulsnuut 'Verleumder', Jan Giez 'Geizhals', Jan Hogel un sein Moot 'Gesindel', Jan Knall-de-Döör 'wenig zurückhaltender Mensch', Jan Kladder-in de Mast/Jan Moot 'Leichtmatrose' (Goltz 1995); Jan-Allerlei 'Allerweltskerl, Witzbold', Jan-Blaufink 'Betrunkener', Jan-Brass 'Aufschneider', Jan-Dörchnatt 'Taps (einer, der die Hose naß gemacht hat)', Jan-Dumm 'Einfaltspinsel', Jan-Gatt 'Dummkopf, Jan Giez 'Geizhals', Jan-Gootbloot 'leichtgläubiger Mensch', Jan-Hagel-un-sien Maat/Jan-Hagel-unsien-Ploog/Jan Kachel-un-sien Maat/Jan-Rapp-un-sien-Maat/Jan-un-Allemann 'Pöbel, Gesindel', Jan-Humpelbeen/Jan-Karjuckel 'verwachsener Mensch', Jan-Kachel-ut-Egenbiittler-Holt 'Mann, der sich lächerlich macht', Jan-Klook/Jan Plietsch 'Schlauberger', Jan-Maat 'Matrose' (Nissen 1996). Solche namenbezogenen Schimpfwörter ähneln den Bezeichnungen für typisierte Helden im Volksmärchen (Dummhans, Starker Hans) (in all diesen Fällen liegt eine Deonymisierung des Eigennamens vor, der als nominales Erstglied einer Wortverbindung zu einer neuen semantischen Wertung verhilft; ähnliche Bildungen gibt es auch mit den Namen Hans, Hein, Peter; in den west- und ostfälischen Schimpfwörterbüchern sind diese Bildungen nicht belegt);
g)
h)
besondere Wortbildungen: im Hamburgischen und Schleswig-Holsteinischen gibt es eine Reihe von Schimpfwörtern mit /-Suffix: Aiki 'Gelegenheitsarbeiter, Halbstarker' 3 , Flabbi 'schäbiger Mensch', Flunki 'leichtfertiger Mensch', Gecki 'eitler Mensch', Grandi 'Nicht-Seemann, Werftarbeiter', Huuli 'Radaumacher, Hooligan', Kuli 'Matrose' (Goltz 1995); Idi 'Idiot', Lopi 'unfähiger Mann', Löti 'Klempner' (Nissen 1996); die meisten der in den Schimpfwörterbüchern verzeichneten Einträge sind Pragmatisierungen bestimmter Appellative und - in geringerem Umfang - von Namen (s.o.); Wörter wie die folgenden, es sind die jeweils beiden ersten und beiden letzten der hier behandelten Schimpfwörterbücher, werden in einem Sprechakt des (Be-)Schimpfens eingesetzt und erfüllen die ihnen zugedachte Aufgabe: Aantjebitt 'schnatternde Damengesellschaft', Aantjefliiggt 'laut dahinziehende Mädchenschar', Ziepeier 'weinerliche Person', Ziepel-Trien/Trientje 'Heulsuse' (SchuAiki ist sondersprachlicher Herkunft, es handelt sich um die so genannte Kettelkloppersprache (siehe dazu Stellmacher 1981, S. 71 f.).
Niederdeutsche
Schimpfwörterbücher
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ster 1991); ächten 'hinten', Ächstte/Ächterdeel/Ächterpand 'Gesäß, Hintern', Wööstbrake 'Draufgänger', Wuoddelbuil 'im Wachstum Zurückgebliebener' (Schepper 1992); Aas, Aaslock, Zosse, Züppel (Wille 1994); Achterloder 'Homosexueller', Adder 'hinterlistiger Mensch', Zwetsch 'dummes Mädchen', Zwickel 'eitler Mann' (Goltz 1995); Aalversuper 'unfähiger Mensch', Aap/Aapkatt/Aapekatt/Apenkopp/ Apenoog/Apenoors 'Affe, eingebildeter Mensch', Zuckertähn 'Naschkatze', Zwetsch 'dummes Mädchen' (Nissen 1996).
5. Schluß Wer schimpfen will, erhält in allen untersuchten Wörterbüchern nach den alphabetischen Wörterverzeichnissen noch spezifizierte lexikalische Aufstellungen (wie man einen Herrschsüchtigen beschimpfen kann, einen Liederlichen, oder wie man auf bestimmte körperliche Merkmale anspielt), Verzeichnisse von einschlägigen Redensarten, Flüchen, Spottrufen. Am systematischsten geht hierbei Wille vor, der eine regelrechte Sprachlehre des Schimpfens ausbreitet, in der einzelne Satzteile aufgeführt sind, so daß sich der Interessierte den richtigen Schimpf zusammenstellen kann, z.B. Sei da hinnen, wat sali'η dat beduien, Sei sind doch de lichtsinnigste Bolzenkopp, dei haier in'η Dörpe rümmerlöppt. Wenn das gesessen hat, kann die Reaktion erwartet werden, z.B. Sei het doch keine Grütte in'η Koppe, ek schatte ne wat. So kann es weitergehen. Der vorsichtige ostfälische Wörterbuchverfasser meint aber auch, man solle es nicht zu weit treiben, denn: „Wenn richtiget Schimpen oder Denken over andere Luie ösch sümst befraien soll, söo sali richtiget Loff andere befraien, vorr allen von falschen Verdächtigungen" (Wille 1994, S. 17). Schimpfwörter bieten also nicht nur bannich defiige Wörter und verquere Schnacks4, sondern viel mehr, wenn man sich die Mühe macht, diese lexikographischen Kuriositäten als ,,Anti-Pathos-Breviere" ernster zu nehmen, als sie es vielleicht selbst beabsichtigen.
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So die Untertitel für das Mecklenburgisch-Vorpommersche Schimpfwörterbuch und das Niedersächsische Schimpfwörterbuch, die im Mundartverlag Michaela Naumann, Nidderau, 1993 in der dortigen deutschen „Schimpfwörterbuchreihe" erschienen sind. Dieser Reihe vergleichbar ist die Serie der „Dirty Words" im Freiburger Belchen Verlag; hier erschien der Band Dirty Words Plattdeutsch im Jahre 2000.
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Dieter Stellmacher
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Klaus-Dieter Ludwig (Berlin)
Pragmatische Markierungen im Paul 1. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 3. 4.
Vorbemerkung Markierungsprädikate im Deutschen Wörterbuch von Hermann Paul 1. Auflage 1897 Auflagen 1908 bis 1935 Auflagen 1956 bis 1961/Ost und 1966 bis 1981/West Auflage 1992 Die Markierungspraxis im Paul Schlußbemerkung
Es ist auch unvermeidlich, dass das Sprachgefühl des Lexikographen eine grosse Rolle spielt Hermann Paul (1894)
1. Vorbemerkung Hermann Paul äußerte diesen Gedanken über das Sprachgefühl in seinem Vortrag Ueber die Aufgaben der wissenschaftlichen Lexikographie mit besonderer Rücksicht auf das deutsche Wörterbuch auf der Sitzung der philosophisch-philologischen und der historischen Classe der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften zu München am 3. Februar 1894. Er weist auf „eine Quelle" hin, „die jeder Bearbeiter eines Wörterbuchs seiner Muttersprache zur Hand hat": „Das ist das eigene Sprachgefühl. [...] Allein das eigene Sprachgefühl ist doch auch nichts Willkürliches, sondern etwas unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen Gewordenes", sagt Hermann Paul. Es ist für den Lexikographen insofern wichtig, als es „bei dem Verstehen und Beurteilen der Beispiele überall mitspricht." (Zit. nach Henne/ Kilian 1998, S. 139) Hierbei geht es Paul insbesondere um die Darstellung der usuellen Bedeutung der Wörter und Wortverbindungen im Wörterbuch. Er macht gleichzeitig darauf aufmerksam, daß man „freilich seinem Sprachgefühl gegenüber Behutsamkeit anwenden muss, dass man namentlich sich durch dasselbe nicht zu vorschnellen Verallgemeinerungen verführen lassen d a r f ' (ebd., S. 140).
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Klaus-Dieter Ludwig
Rund 70 Jahre später weisen Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz im Vorwort des Wörterbuches der deutschen Gegenwartssprache im Zusammenhang mit der „ s t i l i s t i s c h e n C h a r a k t e r i s i e r u n g des deutschen Wortschatzes", die ein „Hauptanliegen" dieses Wörterbuches ist, ebenfalls auf das Sprachgefühl hin: „Die Schwierigkeit bei dieser Aufgabe liegt in dem subjektiven Element, das bei der stilistischen Einschätzung eines Wortes nicht auszuschalten ist. Das Sprachgefühl ist nicht bei allen Menschen gleich, so daß es zu Schwankungen in der stilistischen Beurteilung des Wortschatzes kommen muß." (Vorwort, Bd. I, 1964, S. 011; vgl. dazu auch Henne 1982) Wenn im folgenden die Verwendung p r a g m a t i s c h e r M a r k i e r u n g e n von lexikalischen Einheiten in Hermann Pauls Deutschem Wörterbuch untersucht wird, so sollen darunter Angaben verstanden werden, die im weitesten Sinne Hinweise zum Gebrauch lexikalischer Einheiten oder bestimmter Bedeutungen von Lexemen geben sollen, die in diesem lexikographischen Werk verzeichnet sind. Wenn man die vier DDR-Auflagen den bisher neun (demnächst zehn) gesamtdeutschen bzw. bundesrepublikanischen Auflagen hinzurechnet, sind seit 1897 dreizehn Auflagen des Deutschen Wörterbuchs erschienen. Ich möchte hierbei insbesondere die Markierungen lexikalischer Einheiten ins Blickfeld rücken, die in der gegenwärtigen deutschen Lexikographie den Stilschichten/Stilebenen einerseits und den Stilfärbungen/Gebrauchsangaben andererseits zugeordnet werden (vgl. z.B. WdG, HWb, Duden-GWb, Duden-UWb). Zwei Fragen sollen im Mittelpunkt der Untersuchung stehen: 1. Welche Hinweise findet man in den Vorworten zu den in Frage kommenden Markierungsprädikaten in den bisher erschienenen Auflagen des Deutschen Wörterbuches von Hermann Paul oder: welche Markierungsprädikate werden im Paul verwendet? 2. Wie ist die Markierungspraxis im Pauli
2. Markierungsprädikate im Deutschen Wörterbuch von Hermann Paul Überprüft man die Vorworte in den bisher erschienenen Auflagen des Paul, so stellt man fest, daß in den zwölf von 1887 bis 1981 herausgegebenen Auflagen keine oder nur sehr wenige Informationen speziell über die Markierungspraxis zu finden sind. Das ist insofern nicht verwunderlich, als die pragmatische Markierung der im Paul kodifizierten Lexeme nicht zum „Hauptanliegen" dieses lexikographischen Werkes gehört. Im Paul sind pragmatische Markierungen „eher als deskriptive Informationsangebote im Sinn einer explanativen Bedeutungsbeschreibung, denn als präskriptiv auf
Pragmatische
Markierungen im Paul
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den Sprachgebrauch ausgerichtete Normvorgaben zu verstehen." (KämperJensen 1991, S. 778) Was finden wir zu unserem Anliegen in den Vorworten und auch in den jeweiligen Abkürzungsverzeichnissen?
2.1. 1. Auflage 1897 In der Vorrede (28. Oktober 1896) zur ersten Auflage seines Wörterbuches (1897) nennt Paul zunächst die Benutzer, für die das Deutsche Wörterbuch gedacht ist: „Das Werk wendet sich an alle Gebildeten, die ein Verlangen empfinden, ernsthaft über ihre Muttersprache nachzudenken" (ebd., S. III), wobei er in „erster Linie" an das „Bedürfnis der Lehrer gedacht" hat, „die Unterricht im Deutschen zu erteilen haben" (ebd.). ,Auch dem fremdsprachlichen Unterricht könnte es bei richtiger Verwertung wesentliche Dienste leisten." (Ebd.) Was die Auswahl des aufzunehmenden Wortschatzes angeht, so wollte sich Paul „auf diejenigen Eigenheiten beschränken, die auch in die Umgangssprache der Gebildeten und die lokale Schriftsprache hineinragen" (ebd., S. IV). Es war nicht seine Absicht, „die ungeheure Masse des mundartlichen Wortschatzes aufzunehmen" und auch in bezug auf fachspezifische Lexeme weist Paul auf seine Entscheidung hin, sich „auf dasjenige zu beschränken, was irgendwie in die allgemeine Sprache hinreicht" (ebd.). Die „Angaben über die Verbreitung eines jeden Ausdrucks" konnten „keine sehr genauen sein teils, weil es an den dazu nötigen Erhebungen fehlte, teils, weil dazu eine Umständlichkeit erforderlich gewesen wäre, die sich mit der gebotenen Raumbeschränkung nicht vereinigen ließ" (ebd.). Und weiter lesen wir in der Vorrede hinsichtlich sprachgeographischer Angaben: Wenn ich einen Ausdruck als nordd., oberd. usw. bezeichne, so soll damit nicht immer gesagt sein, daß er auf dem ganzen angegebenen Gebiete gebräuchlich ist; um ausdrücklich hervorzuheben, daß dies nicht der Fall ist, habe ich öfters den Zusatz landschaftlich gemacht, eine Bezeichnung, die mitunter auch für sich allein gewählt werden mußte. (Ebd.)
Wie ähnlich lauten da Hinweise, die man in den Vorworten bzw. Benutzungshinweisen allgemeiner einsprachiger Wörterbücher der deutschen Gegenwartssprache findet, so z.B. in Hinblick auf die Kodifizierung fachspezifischen Wortgutes im Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (Vorwort, Bd. I, 1964, S. 016): Entscheidend für die Aufnahme fach- und sondersprachlicher Wörter sind ihre Verbreitung und Gebräuchlichkeit. Ein fachsprachliches W o r t , das einem großen Kreis von Sprechern bekannt ist, findet im Wörterbuch Eingang.
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Entsprechend liest man in den Hinweisen für den Benutzer des Handwörterbuches der deutschen Gegenwartssprache (1984, S. VIII): Der Anteil der einzelnen Fachwortschätze an der Lexik der Allgemeinsprache ist recht unterschiedlich. Dem trägt das Handwörterbuch Rechnung, indem es bei der Stichwortauswahl besonders die Fachgebiete berücksichtigte, die in unserem Alltag eine besondere Rolle spielen. Im Zusammenhang mit der „Kennzeichnung der räumlichen Zuordnung" heißt es im WdG (Vorwort, Bd. I, 1964, S. 015): Grundsätzlich werden rein mundartliche Ausdrücke nicht aufgenommen. Es gibt aber viele regional beschränkte Wörter, die weithin bekannt sind, verstanden und in der Literatur angewandt werden. Sie erhalten bei gesicherter Zuweisung zu nur e i n e m Sprachraum die entsprechende Kennzeichnung (z. B. b e r l i n i s c h , süddeutsch), bei Ausbreitung über mehrere verschiedene Sprachräume den Hinweis l a n d s c h a f t l i c h (landsch.). Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, daß „vielfach der Hinweis landschaftlich oder der Großraum süddeutsch genügen muß", dies also gewissermaßen eine Notlösung darstellt, da ein „eingehenderes Studium der regionalen Verteilung" (ebd.) am Rande der eigentlichen Aufgabe dieses Wörterbuches liege. Was die stilistischen Angaben zu lexikalischen Einheiten betrifft, lesen wir in der Vorrede zum Paul (1897, S. V): Wo der Sprachgebrauch schwankend ist, habe ich mich bemüht, das Nötige zur richtigen Beurteilung beizubringen. Die Unterschiede zwischen Schriftund Umgangssprache und zwischen den verschiedenen Stilarten und Redeweisen habe ich hervorzuheben gesucht. Das Abkürzungsverzeichnis (ebd., S. VII) gibt keine Auskunft über Markierungsprädikate, die dazu dienen, Unterschiede „zwischen den verschiedenen Stilarten und Redeweisen" hervorzuheben.
2.2. Auflagen 1908 bis 1935 Die beiden folgenden, ebenfalls zu Lebzeiten Hermann Pauls erschienenen Auflagen (1908 und 1921) enthalten in den Vorreden keine besonderen Hinweise auf die Praxis der Markierung lexikalischer Einheiten. Die zweite vermehrte Auflage (1908) enthält einen Abdruck der Vorrede zur ersten Auflage und in der kurzen Vorrede zur zweiten Auflage (17. Juni 1908, S. VI) u.a. den Hinweis darauf, daß „das Werk [...] etwa um ein Fünftel des Umfanges der ersten Auflage gewachsen" sei, daß „viel reichlicher als bei der ersten Ausarbeitung eigene Sammlungen" hätten verwertet werden können,
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„nicht mehr die gleiche Zurückhaltung in Bezug auf die Mitteilung von Etymologieen beobachtet" sei, „nun alle Stammwörter aufgenommen" seien und im „übrigen [...] der Grundcharakter des Werkes gewahrt worden" sei. In der dritten Auflage (1921) teilt Paul in einer ebenfalls sehr knappen Vorrede (ebd., S. IV) mit: In der dritten Auflage ist die Einrichtung der zweiten beibehalten. Nur ist manches berücksichtigt und ist eine Anzahl von Zusätzen hinzugekommen [...].
Die nach dem Tode von Hermann Paul (29.12.1921) von Karl Euling bearbeitete vierte Auflage (1935) enthält einen Auszug aus der Vorrede Pauls zur ersten Auflage, und Euling betont lediglich in seinem drei Sätze umfassenden Vorwort u.a.: Den Charakter des Buches, wie ihn Paul in der Vorrede zur 1. Auflage umschrieben, hatte auch die 4. Auflage zu wahren: Geändert wurde, wo es galt, dem heutigen Stande des Wissens Rechnung zu tragen. (Ebd., S. V)
2.3. Auflagen 1956 bis 1961/Ostund 1966 bis 1981/West Nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik vier „Parallelausgaben" des Deutschen Wörterbuches von Hermann Paul (vgl. Köstler 1997, S. 60ff.). Die in Halle publizierten Ausgaben wurden von Alfred Schirmer bearbeitet, die in Tübingen erschienenen von Werner Betz. 1956 erschien zunächst eine von Alfred Schirmer bearbeitete Fassung in zwei Halbbänden, die wie schon in der vierten Auflage einen Auszug aus Hermann Pauls Vorrede zur ersten Auflage wiedergibt (ebd., S. III f.) und ein kurzes Vorwort zur fünften Auflage (ebd., S. V) enthält, in dem Alfred Schirmer darauf hinweist, daß „an der übersichtlichen Darstellung der Bedeutungsentwicklung, wie sie Hermann Paul namentlich vieldeutigen Wörtern, besonders auch den Präpositionen und Partikeln gewidmet hat, so wenig wie möglich geändert" wurde, die „etymologischen Hinweise [...] etwas erweitert" und die „Zahl der eingebürgerten Fremdwörter [...] erhöht" wurden. Es schließt: Möge somit das Paulsche Wörterbuch auch in seiner neuen Gestalt bleiben, was es bisher war: eines der besten Hilfsmittel zum Verständnis der Entstehung und Entwicklung der neuhochdeutschen Schriftsprache von Luther bis zur Gegenwart. (Ebd.)
Die folgenden DDR-Auflagen (6. Auflage 1959; 7. Auflage 1960, 8. Auflage 1961) sind gegenüber der 5. Auflage unverändert.
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Ludwig
Hinweise zu stilistischen Markierungen finden sich in den Vorworten der genannten Ausgaben nicht. Werner Betz legte 1966 in der Bundesrepublik die 5., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage vor, in der einleitend ebenfalls einige Passagen aus der Vorrede zur ersten Auflage (1897) abgedruckt sind. Betz weist in seiner Einführung Zur fünften Auflage daraufhin, daß die „Neubearbeitung [...] auf der bewährten und vielfach anerkannten Eigenart des Paulschen Wörterbuches" aufbaut und zugleich versucht, „mehr als eine Generation nach Paul, das Wörterbuch im Paulschen Sinne weiterzuführen und auszugestalten." (Ebd., S. V) Was die Ausgestaltung angeht, so bemerkt Betz: Die Umgangssprache wird noch stärker berücksichtigt, wie es auch ihrem ständigen Vordringen in neue Anwendungsbereiche entspricht. (Ebd.)
Er macht darauf aufmerksam, daß zugleich „ein besonderes Interesse der Sprache Goethes" gilt (ebd., S. V f.), die „Paulschen Bedeutungsgeschichten" erweitert und wichtige „Neubildungen und Neuverwendungen der letzten Jahrzehnte" aufgenommen wurden (ebd., S. VI). Was die pragmatischen Angaben betrifft, so finden wir hierzu die folgenden Bemerkungen (ebd.): Auch die Stilebene der Wörter wurde je nach Notwendigkeit noch häufiger angegeben. Die wortgeographischen Hinweise wurden vermehrt und nach Möglichkeit noch bestimmter gefaßt. Das Hauptziel des Buches bleibt nach wie vor im Sinne von Hermann Paul die Bedeutungsgeschichte und damit zugleich ein sehr modernes Ziel: die diachronische und synchronische Semantik des Deutschen.
In dieser Neubearbeitung finden wir im Abkürzungsverzeichnis (ebd., S. Vllff.) erstmals Hinweise auf stilistische Markierungen, die in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern des Deutschen Stilschichten entsprechen, nämlich: D. gehob. poet. U. umgspr. vulg.
(dichterischer, gehobener Sprachstil) (gehobener Sprachstil) (poetisch) ( Umgangssprache, umgangssprachlich) ( umgangssprachlich) (vulgär)
1968 erschien die sechste von Betz bearbeitete Auflage als Studienausgabe, die gegenüber der 5. Auflage unverändert blieb. Die 7., durchgesehene Auflage wurde 1976 publiziert, in der Betz in den Bemerkungen Zur sechsten und siebten Auflage (ebd., S. VI) vermerkt:
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Die Neuauflage führt das Buch im lang bewährten und vielfach neuerkannten alten Paulschen Sinn und im Geist der fünften Auflage weiter: die lebendige Sprache in ihrer weiten Bedeutungsvielfalt - auf das vermutlich Bleibende und Interessante gefiltert - wird festzuhalten versucht, Diachrone und synchrone Semantik des Deutschen, ergänzt, gestützt nach Möglichkeit durch Syntax, Morphologie, Etymologie und Geschichte überhaupt, versuchen auch weiterhin Auskunft über Schichten und Gebrauch der deutschen Wörter zu geben. Also auch hier ein Hinweis auf Schichten und Gebrauch der Wörter und im Abkürzungsverzeichnis dieselben Markierungsprädikate wie in der 5. und 6. Auflage angeführt. 1981 erschien die 8., unveränderte Auflage.
2.4. Auflage 1992 1992, nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, erschien die 9., vollständig neu bearbeitete Auflage von Helmut Henne und Georg Objartel unter Mitarbeit von Heidrun Kämper-Jensen. In den Hinweisen Zur Einführung (ebd., S. IXff.) wird, wie bereits in den vorhergehenden Auflagen, auf folgende Tatsache hingewiesen: Die Neubearbeitung des Deutschen Wörterbuchs von H. Paul folgt den Vorgaben des Begründers: Das Werk ist einbändig und wählt insofern aus. Es stellt, von literarischen Belegen getragen, den semantischen Wandel des Wortschatzes dar und ist somit ein historisches Bedeutungs- und Belegwörterbuch. Es wendet sich an alle, die hinter der Sprache deren Geschichte und literarischen Gebrauch suchen; mithin auch an die, welche professionell mit Sprache befaßt sind, vor allem an die Lehrer des Deutschen und insbesondere an die Gymnasiallehrer, die Sprachgeschichte und sprachhistorische Reflexion zu ihrer Aufgabe rechnen. (Ebd., S. IX) Im Zusammenhang mit Erläuterungen zum Artikelaufbau finden wir erstmals einen Hinweis auf die sog. Stilschichten und Stilfärbungen, die das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache als stilistische Bewertungskategorien verwendet, die Phänomene, die unser zu untersuchendes Problem betreffen: Zu einem traditionell-wertenden Schema zur Kennzeichnung von Stilschichten und Stilfärbungen konnten wir uns nicht entschließen. Eine solche Kennzeichnung ist für die ältere Zeit oft fragwürdig und wirkt für die Gegenwart leicht normativ. Wir setzen vielmehr auf die Einsicht, die sich aus der Sprachkenntnis und Beleglage ergibt. Die dabei verwendeten und im Wörterbuch erklärten Beschreibungsbegriffe wie »literarisch«, »gehoben«, »umgangssprachlich«, »derb« geben also nicht eine normative Systematik wieder; sie spüren vielmehr besonderen Verwendungsweisen und deren Wandel nach. (Ebd., S. XI)
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Im Abschnitt Stilistische Angaben (ebd., S. XV) der Hinweise für den Benutzer (ebd., S. XIVf.) wird nochmals auf Stilschichten und Stilfärbungen Bezug genommen: Angaben zu Stilschichten und Stilfärbungen sind sparsam eingetragen [...]. »Gehoben« (»geh.«), »umgangssprachlich« (»ugs.«), »literarisch« (»literar.«) oder »derb« sind Beschreibungsbegriffe, die überdies im Wörterbuch erklärt sind. (Ebd., S. XV) Während die genannten „Beschreibungsbegriffe" im Wörterbuch erscheinen, kommen weder Stilschicht noch Stilfärbung als Lemmazeichen in dieser Neubearbeitung vor. Der Unterschied, der zwischen Stilschichten und Stilfärbungen besteht (vgl. z.B. WdG und HWb, das Stilebenen und Stilfärbungen unterscheidet), wird gewissermaßen vorausgesetzt. Im Abkürzungsverzeichnis der 9. Auflage (1992, S. XVIff.) sind folgende Markierungsprädikate angeführt, die in Gegenwartswörterbüchern zu den Stilschichten bzw. Stilebenen gezählt werden: bildungsspr., Bildungsspr. (bildungssprachlich, Bildungssprache) dichter, (dichterisch) geh. (gehoben) poet, (poetisch) ugs., Ugs. (umgangssprachlich, Umgangssprache). Zu nennen sind auch die Beschreibungsbegriffe »literarisch« (»literar.«) und »derb« als stilistische Angaben, die in den Hinweisen für den Benutzer (s.o.) angeführt worden sind. In einem Werkstattbericht zum neuen „Paul" hat sich Helmut Henne (1988, S. 813ff.) zum „Stichwort Umgangssprache" geäußert und in diesem Zusammenhang auf die innere Differenzierung des Begriffs Umgangssprache und dessen Verwendung als stilistische Markierung im Wörterbuch aufmerksam gemacht (vgl. ebd., S. 819ff.). Die folgenden im Abkürzungsverzeichnis des Paul von 1992 genannten Markierungen werden in aktuellen Wörterbüchern Stilfärbungen zugeordnet: euphem. (euphemistisch) bzw. verhüll, iron, (ironisch) neg. wert, (negativ wertend) scherzh. (scherzhaft).
(verhüllend)
Verwendet wird im Wörterverzeichnis z.B. auch das Markierungsprädikat abwertend, das jedoch in den Benutzungshinweisen nicht eingeführt wird, z.B.:
Pragmatische Markierungen im Paul
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Frack [...] abwertend >schäbiges Kleidungsstücke ein alter F. (GWb) Frauenzimmer [...] heute allg. abwertend Hellseher [...] abwertend [...] man braucht kein H. zu sein (WdG) [...] Schwarte [...] übertr. abwertend >altes Buch< [...]. Erstmals findet man in den Benutzungshinweisen der 9., vollständig neu bearbeiteten Auflage auch genauere Ausführungen zur Kennzeichnung der räumlichen Zuordnung und der fachsprachlichen bzw. sondersprachlichen Kennzeichnung lexikalischer Einheiten - Kennzeichnungen, die ebenfalls den pragmatischen Angaben zuzuordnen sind. Im Abschnitt Sprachgeographische Angaben (1992, S. XV) lesen wir: Wir unterscheiden die Ebene der Literaturdialekte bzw. Mundarten, z.B. niederdeutsch (»nd.«), ostmitteldeutsch (»omd.«) oder bairisch (»bair.«), die der landschaftlichen bzw. großstädtischen Umgangssprache (z.B. »südwestdt.«, »westmitteld.« oder »berlin.«) und die der Schrift- bzw. Standardsprache (z.B.»nordd.« oder »bes. südd.«). Mundarten und Umgangssprachen sind hier vor allem als Quellen der Literatur- und Schriftsprache interessant. Besonderheiten der deutschen Sprache in Österreich und in der Schweiz sind mit »österr.« bzw. »Schweiz.« vermerkt; die Angabe »DDR« verweist auf Besonderheiten, die vielfach historisch zu werden beginnen. Im Abschnitt Angaben zu Kommunikationsbereichen (ebd.) wird auf die Fachgebietszuweisungen von Lexemen in diesem Wörterbuch aufmerksam gemacht: Berufs-, fach- und wissenschaftssprachliche Besonderheiten werden, sofern sie für die allgemeine Sprachentwicklung wichtig sind, unter Bezeichnungen wie »Jägerspr.«, »seem.«, »Rechtsspr.«, »theol.«, »philos.«. »ehem.« oder »techn.« angesprochen. Analoges gilt für gruppensprachliche Eigentümlichkeiten (z.B. »rotw.«, »studentenspr.« oder »soldatenspr.«) wie für spezielle Entwicklungen in einzelnen Kommunikationsbereichen der öffentlichen Standardsprache (z.B. »polit.«, »sportspr.«, »bildungsspr.«). Es wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es auch hier „weniger um systematische als vielmehr um historische Aspekte" geht.
3. Die Markierungspraxis im Paul Wenn im folgenden ausgewählte Beispiele für die stilistische Markierung von lexikalischen Einheiten im Paul angeführt werden, so beziehe ich mich hierbei insbesondere auf die 9., vollständig neu bearbeitete Auflage von 1992. Kehren wir zunächst zu den Stilistischen Angaben in dieser Auflage zurück. In den Hinweisen ßr den Benutzer (vgl. ebd., S. XV) wird daraufhin-
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gewiesen, daß die zu den stilistischen „Beschreibungsbegriffen" gehörenden Angaben im Wörterbuch erklärt sind. Die in Frage kommenden Erklärungen im Wörterverzeichnis lauten: gehoben: „[...] 1.1 >gewählt< In der gehobenen Sprache des Redners und Dichters [...], in dieser Bed. stilistische Kennzeichnung" [...]; umgangssprachlich: „Die Abi. umgangssprachlich ist jeweils den Teilbedd. [von Umgangssprache] zuzuordnen." Dies sind unter Umgangssprache: „3.1 >gemeinsprachl. Wortschatz unterhalb der gehobenen und »normalen« und oberhalb der saloppen Stilschicht< [...] 3.2 >landsch. o. regionale Kennzeichnung der Wörter, die keine überlandsch. Form (z.B. Rotkohl u. Blaukraut) habenregional< o. >landsch.< o. genauere Kennzeichnung, z.B. >norddt.< (3.1) und (3.2) fallen oft zusammen"; Literarisch erscheint im Wörterverzeichnis als Sublemma mit dem entsprechenden Eintrag unter Literatur, „literarisch »nach einem vereinzelten Frühbeleg« (Pfeifer ) im 16. Jh. üblich erst im 18. Jh. (1759 Le.; W/H), literarische Kenntnisse (1781 Musäus; FWb) hier wohl nach Bed. (2) von Literatur". Der entsprechende Eintrag zu Literatur lautet: „2 >Gesamtheit der Texte< Was man die Litteratur eines Volkes nennt, ist der Inbegriff der Werke, die es in seiner Sprache besizt (1773 Garve; ebd.); diese Bed. bleibt bis heute erhalten und wird durch Kontext und Situation, z.B. medizinische L., spezifiziert; L. wird zu Anfang des 19. Jhs. zur »Abbreviatur« [...] für 3 >schöne Literatur< [...]"; derb: „[...] >kräftig, grob< (1600 eine derbe maulschelle-, PBB[H] 97, 218]; [...] bei Goe. meist positiv >kraftvoll, tüchtig< (»typisches G-sches Urteilswort« GoeWb) [...]". Derb wird z.B. im HWb und Duden-GWb als Stilebenenkategorie verwendet, im WdG als Stilfarbungskategorie. Außer diesen in den Benutzungshinweisen expressis verbis genannten stilistischen Angaben finden wir im Abkürzungsverzeichnis z.B. auch bildungsspr. (bildungssprachlich), dichter, (dichterisch), poet, (poetisch), die in den Benutzungshinweisen nicht auftauchen, in allgemeinen synchronen Wörterbüchern aber zu den stilistischen Angaben gehören. Die im Wörterverzeichnis des Paul hierzu gegebenen Erklärungen dieser „Beschreibungsbegriffe" lauten: bildungssprachlich: Es erfolgt ein Hinweis darauf, daß Bildungssprache „wohl erst nach 1945 (Brockh./Wahrig 1980)" entstanden ist, „lebendig in der „Abi. bildungssprachlich (ebd.) (die vor allem der stilist. Charakterisierung dient) >
Pragmatische Markierungen im Paul
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einer Sprachschicht zugehörig, die sich durch gelehrte Begrifflichkeit, Fremdwörter und Redewendungen v.a. griech. u. lat. Herkunft auszeichnete Oberhalb dieser [normalspr.] Schicht ist eine Ausdrucksweise anzusiedeln, die gewisse Kenntnisse und eine gute schulische Ausbildung voraussetzt und die im Wörterbuch mit »b.« gekennzeichnet wird ( 2 UWb 9) (konservieren, ï Konversation). " Während bei bildungssprachlich darauf verwiesen wird, daß dieses Adjektiv „vor allem der stilist. Charakterisierung dient", finden wir unter den Sublemmata dichterisch und poetisch keinen Hinweis auf den Gebrauch dieser Adjektive zur stilistischen Charakterisierung. Unter Dichtersprache findet man: „[...] >von Dichtern bewußt geformte, gepflegte Sprache< sche, italienische D., vgl. Literatursprache".
mittelhochdeut-
Der Eintrag zu Literatursprache lautet: „1 >Sprache der schönen Literatur, der Dichtung< [...] 2 >Schrift- und Hochsprache< [...]". Unter poetisch steht u.a. die Bedeutungserläuterung „>dichterisch, literarisch< [...]". Erwähnt sei schließlich auch der Marker vulgär, der als Kategorie der Stilschichten/Stilebenen z.B. im WdG, HWb, Duden-UWb oder Duden-GWb verwendet wird. In der 9. Auflage des Paul von 1992 taucht vulgär weder in den Benutzungshinweisen noch im Abkürzungsverzeichnis auf, kommt aber im Wörterverzeichnis vor, z.B. als Eintrag unter dem Lemma keifen: keifen [...] lexikographisch markiert »vulg.« (Frisch), »im gemeinen Leben und der vertraulichen Sprechart« (Ad. 1775); >Unwillen, Mißfallen äußernordinär, unfein, pöbelhaft< [...]." Wie die stilistischen Angaben zu bestimmten lexikalischer Einheiten in den bisher erschienen 13 Auflagen des Paul aussehen, soll anhand einer tabellarischen Übersicht gezeigt werden:
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Tabelle 1 : Beispiele für stilistische Markierungen im Paul Lemmabeispiele
1. Aufl. 1897
Aar
als edlere, vorzugsweise poetische Bezeichnung
Aas
Gebrauch als Schimpfwort nicht verzeichnet 0
Angesicht(s. Gesicht) Antlitz
jetzt nur in feierlicher Rede
2., verm. Aufl. 1908 nur als edlere, vorzugsweise poetische Bezeichnung
3. Aufl. 1921
4. Aufl. 1935
nur als edlere, vorzugsweise poetische Bezeichnung
nur als edlere, vorzugsweise poetische Bezeichnung
häufig als Schimpfwort
häufig als Schimpfwort
häufig als Schimpfwort
nur in gehobener Sprache jetzt nur in feierlicher Rede
nur in gehobener Sprache jetzt nur in feierlicher Rede
nur in gehobener Sprache jetzt nur in feierlicher Rede
Arsch
Arschloch bescheißen ficken
Fläz flennen Furz greinen
klauen kotzen Maulaffe Sabber
0
-
-
-
Ó
Ó
0
0
0 „reiben"; daraus ist die allgemein verbreitete obscöne Bedeutung entstanden nordd. vulgär „Flegel" vulgär, verächtlich für „weinen"
0 „reiben"; daraus ist die allgemeine obscöne Bedeutung entstanden
0 „reiben"; daraus ist die allgemeine obscöne Bedeutung entstanden
0 „reiben"; daraus ist die allgemeine obszöne Bedeutung entstanden
nordd. vulgär „Flegel" vulgär, verächtlich für „weinen"
nordd. vulgär „Flegel" vulgär, verächtlich für „weinen"
nordd. vulgär „Flegel" vulgär, verächtlich für „weinen"
0 vulgär verächtliche Bezeichnung für „weinen"
0 vulgär verächtliche Bezeichnung für „weinen"
0 vulgär verächtliche Bezeichnung für „weinen"
vulgär verächtliche Bezeichnung für „weinen"
—
vulgär „sich erbrechen" Scheltwort nordd. vulgär „ausfließender Speichel"
-
vulgär „sich erbrechen" Scheltwort nordd. vulgär „ausfließender Speichel"
-
—
vulgar „sich erbrechen" Scheltwort nordd. vulgär „ausfließender Speichel"
vulgär „sich erbrechen" Scheltwort nordd. vulgär „ausfließender Speichel"
Scheiße 0 Schwein vögeln Wanst
Schimpfwort für einen unreinlichen Menschen als gemeiner Ausdruck für den Begattungsakt immer mit verächtlichem Nebensinne
-
-
-
Schimpfwort für einen unreinlichen Menschen als gemeiner Ausdruck für den Begattungsakt immer mit verächtlichem Nebensinne
Schimpfwort für einen unreinlichen Menschen als gemeiner Ausdruck für den Begattungsakt mit verächtlichem Nebensinne
Schimpfwort für einen unreinlichen Menschen als gemeiner Ausdruck für den Begattungsakt mit verächtlichem Nebensinne
0 - kein Eintrag, - = ohne Markierungsprädikat („Nullmarkierung").
Pragmatische
Markierungen
Lemmabeispiele
im Paul
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5.AuflJ Ost 1956 nur edlere, vorzugsweise poetische Bezeichnung
5. AufU West 1966 nur als edlere, vorzugsweise poetische Bezeichnung
7. Aufl./ West 1976 nur als edlere, vorzugsweise poetische Bezeichnung
Aas
häufig als Schimpfwort
häufig als Schimpfwort
häufig als Schimpfwort
Angesicht(s. Gesicht) Antlitz
nur in gehobener Sprache jetzt nur in feierlicher Rede
nur in gehobener Sprache jetzt nur in feierlicher Rede früher hat man das Wort durchaus unbefangen gebraucht 0
nur in gehobener Sprache nur in feierlicher Rede früher hat man das Wort durchaus unbefangen gebraucht 0
Aar
Arsch -
9. Aufl. 1992 in der 2. H. d. 18. Jhs. wird Λ. >Adler< poet, wiederbelebt; heute veraltet grobes Schimpfwort heute gehoben wie Antlitz Wort des gehobenen Stils früher durchaus unbefangen gebraucht; derb ugs. den Arsch zukneifen >sterben< heute meist Schimpfwort ugs. derb ugs. geschlechtlich verkehren
Flegel< ugs. verächtlich >weinen
weinen jammern
stehlen
sich erbrechen< heute ugs. Scheltwort nordd. md. ugs. >ausfließender Speichel
feister Mensch